Realität im Spiegel der Zeit: Die Philosophie von 'Black Mirror' 3465046528, 9783465046523

"Black Mirror" is a Netflix TV series dedicated to the social and personal upheavals of the digital future. Th

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German Pages 140 [149] Year 2024

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Table of contents :
Front Cover
Impressum
Inhalt
Einleitung
Camus, Hegel, Luhmann (Realität und Massenmedien)
Bedingungen unseres Zeitalters
Kant, Fichte, Heidegger (Bild und Technik)
Schwarzer Spiegel
Black Mirrors Grundperspektive
Der Anfang von Black Mirror
Schlüsselmomente
Singularität
Multiplizität der Realitätsebenen
„Joan Is Awful“ aus phänomenologischer Sicht
Die phänomenologische Methode
Realitätsebenen
Genius malignus
Bild
Ich
Verflechtung von Realität und Virtualität
Phänomenologischer Ansatz
Psychoanalytischer Ansatz
Ethischer Ansatz
Politischer Ansatz
Genius malignus
Zeit
Zeit in Black Mirror
Unterschiedliche Zeitsphären
(Ewige) Wiederkehr
Liebe
Virtuelle Liebe als wahre Liebe
Eifersucht
Tod
Auseinandersetzung mit dem möglichen Tod
Konfrontation mit dem eingetretenen Tod
Radikale Auslöschung
Natur und Recht
Philosophie ‚heute‘
Schluss
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Realität im Spiegel der Zeit: Die Philosophie von 'Black Mirror'
 3465046528, 9783465046523

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Alexander Schnell  Realität im Spiegel der Zeit

Nexus 109

Alexander Schnell

Realität im Spiegel der Zeit Die Philosophie von Black Mirror

Klostermann/Nexus

Alexander Schnell  ·  Realität im Spiegel der Zeit

nexus 109

Alexander Schnell

Realität im Spiegel der Zeit Die Philosophie von Black Mirror

Klostermann ⁄ Nexus

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Umschlagmotiv: Kasimir Malevitch: Schwarzes Quadrat (1915) Foto: Shakko, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons © 2024 Vittorio Klostermann GmbH · Frankfurt am Main Druck und Bindung: docupoint, Barleben Alle Rechte vorbehalten. All Rights Reserved. Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigen Papier entsprechend ISO 9706. Printed in Germany ISBN   978-3-465-04652-3

Alexander Schnell Realität im Spiegel der Zeit Die Philosophie von Black Mirror

Für Pablo und Julie

„I just want something real to happen. Just once.“ Bingham Madsen, Black Mirror („15 Million Merits”) Des Menschen Leben zu sehen, müsste man sehen, wie er den Augenblick lebt. Der Augenblick ist die einzige Realität, die Realität überhaupt im seelischen Leben. Der gelebte Augenblick ist das Letzte, Blutwarme, Unmittelbare, Lebendige, das leibhaftig Gegenwärtige, die Totalität des Realen, das allein Konkrete.“ Karl Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen „La lumière est folie puisqu’elle est noire, elle perd son sens et tout ‘bon sens’. Et cette folie aura été la vérité.“ Jacques Derrida, Parages („Titre à préciser“)

Inhalt Einleitung Camus, Hegel, Luhmann (Realität und Massenmedien) Bedingungen unseres Zeitalters Kant, Fichte, Heidegger (Bild und Technik) Schwarzer Spiegel Black Mirrors Grundperspektive Der Anfang von Black Mirror Schlüsselmomente Singularität Multiplizität der Realitätsebenen „Joan Is Awful“ aus phänomenologischer Sicht Die phänomenologische Methode Realitätsebenen Genius malignus Bild Ich Verflechtung von Realität und Virtualität Phänomenologischer Ansatz Psychoanalytischer Ansatz Ethischer Ansatz Politischer Ansatz Genius malignus

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Zeit

Liebe

Tod

Inhalt

Zeit in Black Mirror Unterschiedliche Zeitsphären (Ewige) Wiederkehr Virtuelle Liebe als wahre Liebe Eifersucht Auseinandersetzung mit dem möglichen Tod Konfrontation mit dem eingetretenen Tod Radikale Auslöschung

Natur und Recht Philosophie ‚heute‘ Schluss

Einleitung Black Mirror – eine 2011 zum ersten Mal ausgestrahlte und seit der dritten Staffel (2016) von „Netflix“ produzierte britische ScienceFiction-Serie des Drehbuchautors und Produzenten Charlie Brooker – ist ein philosophisches Werk. Das lässt sich nicht von jeder Fernsehserie behaupten. Sie gehört ohne Zweifel zu den intelligentesten und kreativsten Produktionen innerhalb dieses nicht immer anspruchsvollen Genres. In jeder einzelnen Episode wird mindestens eine bemerkenswerte Idee entwickelt. Das Niveau ist konstant hoch, jede Staffel hat ihren Glanzpunkt – lediglich die fünfte Staffel mit Ausnahme der ersten Episode fällt etwas ab. Fast 250 Millionen Abonnent*innen (Ende 2023) in fast 200 Ländern ermöglichen „Netflix“ eine weltweite Sichtbarkeit, die der Serie genau die Verbreitung und die Kommunikationsformen bietet, die sie selbst zum Thema macht und fortwährend reflektiert. – In Black Mirror kommt bezeichnenderweise der Streamingdienst „Streamberry“ vor, der das Serien-Pendant zu „Netflix“ darstellt und von einer solchen Reflektiertheit zeugt. Gelungene philosophische Werke werfen auf eine neuartige und maßgebende Weise philosophische Fragen auf und versuchen im besten Fall, sie zu beantworten. Sie bilden zum einen spezifische Begriffe aus, die sie auf eine je eigene Weise entfalten. Zum anderen gehen sie auf das Implizite ein, auf das zwischen den Zeilen Stehende, das Unerhörte, Unerwartete, Offene. 1 Dass philosophische Fragen bei Black Mirror eine Rolle spielen, ist offenkundig. Ob sie auch tatsächlich beantwortet werden, muss sich zeigen. In dieser Hinsicht mag Black Mirror teilweise dazu neigen, sich zu oft selbst zu erklären. Das ist allerdings insofern nachvollziehbar, als die Komplexität des jeweils behandelten Gegenstandes gewisse Verständnishilfen erfordert.

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Einleitung

Meine Betrachtungen zielen zumindest darauf ab, darüber nachzudenken, ob in dieser Anthologie-Serie nicht ein grundsätzliches Problem behandelt wird, das ein Tor für das Verständnis unserer Zeit öffnet. * Es geht in Black Mirror um die grundlegende Bedeutung von ‚Realität‘. ‚Realität‘ im Gegensatz zu ‚Schein‘, ‚Illusion‘, ‚Blendwerk‘, ‚manipulierter‘ bzw. ‚vorgespiegelter‘ ‚Wirklichkeit‘, nicht aber – aus bestimmten Gründen – zu ‚Erscheinung‘, ‚Einbildung‘ und ‚Fiktion‘. Der Frage nach ‚Realität‘ und ‚Virtualität‘ gilt dabei eine besondere Aufmerksamkeit. Seit und mit dem Aufkommen des Kinos und später des Spielfilmformats im Fernsehen gehört die Frage nach dem, was ‚wirklich‘ ist, zu den selbstevidenten Problemen dieser Kunstgattung. Zugleich eröffnen Kino und Fernsehen völlig neue Fragehorizonte in Bezug auf das Denken von Realität und Fiktion. Was auf der Leinwand oder dem Bildschirm zu sehen ist, ist nicht ‚wirklich‘ – sondern eben Kino und Fernsehen. Das, was dabei sichtbar ist und gesehen wird, ist aber doch auf seine Weise ‚real‘, wenngleich in der Regel ‚fiktiv‘. Dabei stehen Realität und Fiktion gewöhnlich nicht auf derselben Stufe. ‚Fiktion‘ wird zumeist als abgewandelte und häufig abgewertete Realität aufgefasst. Aber schon seit Platons Höhlengleichnis und Zhuangzis Schmetterlingstraum vor über 2000 Jahren über Descartes’ Idee eines ‚genius malignus‘ im 17. Jahrhundert bis hin zum heutigen ‚Gehirn-im-Tank‘-Szenario hat sich der Mensch immer wieder gefragt – und wird sich wohl ewig fragen –, ob die uns als real erscheinende Welt auch die wirkliche Welt ist. Wodurch die Realität selbst fundamental in Zweifel gezogen und anderen – virtuellen? – Arten der Wirklichkeit Tür und Tor geöffnet wird. Eine solche Fragestellung ist auch Thema innerhalb der zeitgenössischen Physik, in der erörtert wird, ob

Einleitung

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Information als physikalische Einheit oder sogar als zusätzlicher Aggregatzustand aufgefasst werden kann bzw. muss. Das gäbe der Auffassung Auftrieb, unsere Realität sei eine komplexe virtuelle Simulation. Eine solche auf die „Quantentheorie der Ur-Alternativen“ von Carl Friedrich von Weizsäcker sowie auf die „Simulationshypothese“ von Nick Bostrom verweisende Deutung der Realität wird heutzutage insbesondere vom Informationstheoretiker Melvin M. Vopson vertreten. Ohnehin ist das Realitätsverständnis in der avancierten Physik schon seit langem in Bewegung geraten. Eine Frage, die wir hier zunächst stellen, lautet: Inwiefern tragen bewegte Filmbilder zu unserem Verständnis von Realität und Fiktion bei – und zwar sowohl der ‚Wirklichkeit‘, in der wir leben, als auch dessen, was in den Filmbildern anschaulich gemacht wird und auf unsere ‚Wirklichkeit‘ zurückschlägt? Lange vor Black Mirror hatte bereits ein deutscher FernsehZweiteiler – heute würde man sagen: eine ‚Mini-Serie‘ – jene Frage nach der Realität in den Mittelpunkt seiner Handlung gerückt. Die Rede ist von Rainer Werner Fassbinders getreuer Adaptation „Welt am Draht“ (1973) des berühmten Science-Fiction-Romans „Simulacron-3/Welt am Draht“ (1964) von Daniel F. Galouye. Es geht darin um eine von 10.000 „Identitätseinheiten“ bewohnte Kleinstadt, deren Bewohner sich für bewusste Menschen halten und nicht wissen, dass sie am „Institut für Kybernetik und Zukunftsforschung“ von einem Super-Computer entwickelt wurden. Der Direktor des Instituts – dessen Name im Film offenkundig an die Hauptfigur von Max Frischs Roman „Stiller“ angelehnt ist – entdeckt nach und nach, dass offenbar nicht nur jene Kleinstadt, sondern auch die Welt, in der er zu leben meint, und sogar er selbst, eine Simulation ist. Es gelingt ihm zwar, Einsicht in die wahren Verhältnisse zu bekommen; letztlich wird aber offengehalten, ob eine Flucht in die ‚reale‘ Welt möglich ist oder bestenfalls Zugang zu einer höheren ‚virtuellen‘ Ebene erlangt werden kann. Dieses Thema wurde in zahlreichen Filmen

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wiederaufgenommen und variiert – das gilt für „Matrix“ genauso wie für „Virtual Nightmare – Open Your Eyes“, „The Truman Show“, „Vanilla Sky“, „Inception“ oder „The 13th Floor – Bist du was du denkst?“, die Hollywood-Adaptation von Galouyes Roman. Black Mirror liefert Argumente dafür, die zeitgenössische Kunstgattung der Anthologie-Serie – wenn sie denn eine solche ist – als das geeignetste Format für diese Thematik anzusehen. In einer Schlüsselepisode der Serie wird eben dieses Thema auf eine, wie zu zeigen sein wird, komplexe Weise wiederaufgenommen. Die Realitäts-Frage betrifft dabei die Wirkung unterschiedlichster Ausprägungen der Digitalität (bzw. aller digitalen Formen von ‚Bildhaftigkeit‘) in der Gesellschaft, in den zwischenmenschlichen Beziehungen und im alltäglichen Leben. * Black Mirror räumt mit der beinahe trivialen Vorstellung auf, die Prädominanz von Bild und Bildhaftigkeit in der heutigen Welt – im öffentlichen Raum, im zwischenmenschlichen Umgang, in Beruf, Privatleben, Wissenschaft und Alltag – sei lediglich eine Konsequenz der allgemeinen Entwicklung von Technologie und Technik. Nicht weniger augenfällig, aber darum umso bedenkenswerter ist die ebenfalls von der Serie angesprochene Tatsache, dass viele junge Menschen aufgrund des permanenten Gebrauchs von Smartphones, Tablets etc. offenbar ‚Realität‘ und ‚Virtualität‘ immer weniger auseinanderzuhalten vermögen. Ob die Aufstände in Frankreich (im Juni 2023) nach der Erschießung eines Jugendlichen bei einer polizeilichen Kontrolle, die gefilmt und in den sozialen Medien verbreitet wurde, dies bestätigen, bleibe dahingestellt. Journalist*innen bezeugen, dass die Zerstörungen von Gebäuden, Geschäften usw. von teilweise noch sehr jungen Menschen verursacht wurden, die bei eingeschalteter Kamera ihrer Smartphones so vorgingen, als spielten sie ein durch „Virtual

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Reality“ unterstütztes Video-Spiel. Sie schienen sich diesen Augenzeugen zufolge der realen Konsequenzen ihrer Handlungen nicht bewusst gewesen zu sein. Zwar erklärt das die Gewaltexzesse nicht, und noch weniger spiegelt es die vielfältigen politischen, sozialen, ökonomischen, demographischen (Hinter)gründe jener Ereignisse erschöpfend wider. Aber einen Hinweis liefert dieser Fall womöglich doch, umso mehr, als sich zahlreiche andere – und deutlich weniger gewalttätige – Beispiele aus der Lebenswelt der ‚Generation Z‘ dafür nennen ließen. Und selbst im Alltag älterer Generationen hat etwa die Leseund Schreibarbeit am Bildschirm das handschriftliche Entwerfen und Ausarbeiten fast schon vollständig abgelöst. Die Digitalität hat, über die Schreibarbeit in allen anderen Berufen hinaus, längst auch Einzug in das künstlerisch-kreative Schreiben, d. h. in das denkerische, dichterische, schriftstellerische Schaffen gehalten – gleiches gilt für das Design und sogar die bildende Kunst und natürlich für die Musik. Es bietet sich also an, darüber nachzudenken, welches Gewicht diesem Phänomen in der kreativen Arbeit zukommt. Die Anziehungskraft von Black Mirror liegt darin, dass es diese Thematik im Medium einer TV-Serie ins Werk setzt. * Seit dreißig Jahren wird im Anschluss an den im 20. Jahrhundert vollzogenen „linguistic turn“ – der von Michel Foucault in Le discours philosophique (1966) sehr treffend beschrieben wurde, indem er auf die universell strukturierende Funktion der Sprache hinwies – verschiedentlich ein „pictorial turn“ (William J. T. Mitchell) oder ein „iconic turn“ (Gottfried Boehm, Bazon Brock) ausgerufen. Diese Wende zum Bild macht auf die Bildpräsenz in der Alltagskultur wie auch in den Wissenschaften aufmerksam. Bild wird in diesem Kontext nicht nur im Sinne von ‚Abbild‘ (Foto, Ablichtung, Werbeaufnahme etc.) verstanden, sondern allgemeiner als

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jede Form des ‚Bilde(n)s‘ mitumfassend, was insbesondere bewegte Bilder betrifft, auch jede Art bildnerisch schöpferischer Tätigkeit mit einbegreift und die Frage nach dem realitätskonstitutiven Wesen des Bildes als Bild aufwirft. Damit wird nicht eine ‚mentale‘ – also geistig ‚innerliche‘ – Beschaffenheit des Bildes angesprochen. Die Rede ist vielmehr von einer Dimension, die jegliches Innen/Außen-Schema untergräbt. Zugleich wird erkannt, dass das ‚Bild‘ in dieser erweiterten Bedeutung an Sinnbildung und Sinnerzeugung nicht nur teilhat, sondern beiden zugrunde liegt. Black Mirror schreibt sich ausdrücklich in dieses Problem ein und erweitert den Blickwinkel darauf beträchtlich. Camus, Hegel, Luhmann (Realität und Massenmedien) Am Anfang von Der Mythos des Sisyphos stellt Albert Camus die These auf, es gebe nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord. Dieser abgründige Satz fragt danach, ob Nichtsein und Nichts dem Dasein und Sein vorzuziehen seien oder, schlichter ausgedrückt, ob das Leben es wert sei, gelebt zu werden. Das ist zweifellos ein lebensphilosophisches – d. h. ein existenzielles – Problem. Der Frage nach dem Sinn des Lebens kann sich niemand entziehen. Sie trifft uns ins Mark. Ist es aber auch das ‚einzige wirklich ernste philosophische Problem‘? Georg W. F. Hegel sieht die grundlegende Aufgabe der Philosophie darin, „das, was ist, zu begreifen“. Das „Ist“ zu begreifen haben auch viele Philosophen vor Hegel als wesentliches Anliegen der Philosophie betrachtet. Hegel fügt hinzu, dass „die Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfasst“ sei. Das gelte für jedes Individuum, das „ein Kind seiner Zeit“ ist. Der Philosoph des frühen neunzehnten Jahrhunderts stellt damit ein anderes Problem der Philosophie in den Vordergrund als jenes, das über hundert Jahre später für Camus wichtig werden sollte. Ihn interessiert das Wesen

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der – zeitlich und geschichtlich bedingten – Realität. Dieses Interesse hat mit dem Zweifel am Erscheinenden, sofern es sich als „Wirkliches“ zu geben meint, zu tun und mündete häufig in den Skeptizismus – also in die Verzweiflung an dem Versuch, dem Wirklichen beizukommen. Die Realität zu fassen ist für Hegel, der selbst stets die Bedeutung des Skeptizismus für die Philosophie betont hat, Aufgabe einer auf das Begreifen ausgerichteten Vorgehensweise, die verdeutlicht, dass das, was ist, unter den Bedingungen von Zeit und Geschichte steht. Entsprechend betreffen uns die Bedingungen unserer Zeit. Dass diese unsere Existenz berühren, dass das, was heute ist, unser Leben problematisiert, ist ein Thema vieler Black Mirror-Folgen. Dadurch wird in gewisser Weise auch die Brücke zu Camus geschlagen, denn der Selbstmord 2 wird in der Serie mehrfach angesprochen oder gar zum expliziten Thema gemacht, etwa in „The National Anthem“, „15 Million Merits“, „Hated in the Nation“, „Metalhead“, „Smithereens“ oder auch in „Mazey Day“. * Unsere Zeit hat auf eine fundamentale Art und mehr denn je mit Kommunikation zu tun. Den Austausch von Botschaften und Informationen kennt die Menschheit bereits seit ihren Ursprüngen. Unser Jahrhundert – in dem Streamingdienste wie „Netflix“ die Ära des globalen, weltweit zu empfangenden Fernsehens eröffnet haben – stellt jedoch, jeden Tag wird das deutlicher, eine revolutionäre Zäsur in der Geschichte dar. Es lässt den Menschen bewusst werden, dass ein viertes – und bisher letztes – großes Zeitalter angebrochen ist. Der Kommunikationstheoretiker Marshall McLuhan und der Soziologe Niklas Luhmann haben die vier Mord und vor allem Tod gehören ohnehin, wie zu zeigen sein wird, zu den Grundthemen von Black Mirror.

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Zeitalter der abendländischen Welt als die der Sprache (am Anfang der Menschheit), der Schrift (in der Antike), des Buchdrucks (an der Schwelle zur Moderne) und der elektronischen Medien bzw. des Computers bestimmt. Das Computerzeitalter beginnt nach dem Zweiten Weltkrieg – die erste programmierte Rechenmaschine wird 1941 vorgestellt. – Zu fragen ist jedoch, ob der Übergang vom dritten zum vierten Zeitalter nicht bereits mit der Erfindung des Telegrafen anzusetzen wäre: das ist der Zeitpunkt im neunzehnten Jahrhundert, an dem die Geschwindigkeit der Informationsübertragung die Möglichkeiten des leiblichen menschlichen Individuums überschritten hat. 3 Man könnte dann die 1990er Jahre mit dem Beginn der kommerziellen Phase des Internets oder auch 2002, als die digitalen Speichermöglichkeiten die analogen weltweit überholt hatten, als Beginn eines fünften – des eigentlich digitalen Zeitalters – ansetzen. Der Charakter dieser Zeit bestünde darin, dass mittels der durch Computer und Internet ermöglichten digitalen Kommunikation das Bild Ton, Sprache und Schrift als Kommunikationsträger abgelöst hat. Nach dem Zeitalter des Buchdrucks ginge dann das Zeitalter der analogen Telekommunikation dem der digitalen Telekommunikation voraus. – Wie dem auch sei, Luhmanns starke These, in der die angeführten Aspekte zusammenlaufen, besagt, dass die Massenmedien realitätsbildend seien. 4 Das gelte für Sprache, Schrift, Buchdruck und Digitalisierung je auf eine eigene und bestimmte Weise. Diese These stellt sich der Auffassung entgegen, dass Realitätsbildung Sache konkreter Handlungen durch Dass der Mensch bereits sehr früh etwa mithilfe des Feuers Warnzeichen über lange Entfernungen ausgesendet hat, ist eines jener zweifellos existierenden Gegenbeispiele, die hier allerdings übergangen werden können. 4 Die von Peter Trawny trefflich erkannte Gegenthese Martin Heideggers lautet: Die Medien sorgen durch Erosion von Diversität, Alterität und Exteriorität für Nivellierung und damit für Realitätsverknappung bzw. Realitätsverlust. Dieser Dissens verdiente eine vertiefte Auseinandersetzung, auf die Black Mirror allerdings verzichtet. 3

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Kriegsheld*innen, Politiker*innen, Ökonom*innen, Ingenieur*innen, Industrielle usw. oder geistiger Schöpfungen durch Dichter*innen, Schriftsteller*innen, Denker*innen, Künstler*innen usw. sei. Dass Realität sich den Massenmedien verdanke, bedeutet, dass ihre realitätsbildende Kraft sowohl der materiell-produktiven Gestaltung als auch dem intellektuell-begrifflichen Entwerfen, Verstehen und Begreifen zugrunde liege. Der 1998 verstorbene Soziologe hat die neueren und neuesten Entwicklungen des vierten oder fünften Zeitalters nicht mehr erleben können. Was es heißt, dass und wie unsere Zeit maßgeblich von der Digitalität geprägt wird und welche Auswirkungen das auf den Status der Realität hat, erschließt sich erst jetzt nach und nach. Black Mirror spielt diverse Szenarien davon durch. Es wird aber nicht nur nach ‚unserer‘ Realität hinsichtlich ihrer konkreten Ausgestaltung heute gefragt, es wird auch nicht nur die Realität als Realität zum Thema gemacht, wenngleich das zweifellos eine sehr bedeutsame Aufgabe ist; die Zuschauer*innen erleben zudem, was Realität ist, sie haben daran lebhaft und leibhaft teil – oder zumindest macht Black Mirror einen Versuch in diese Richtung, soweit das über das Medium ‚TV-Serie‘ zu bewerkstelligen ist. Tragweite und Grenzen dieses Versuchs werden ebenfalls reflektiert. Ziel dieses Essays soll es sein, aufzuzeigen, dass und inwiefern die verschiedenen Episoden der Serie von beachtlicher philosophischer Relevanz sind, sowie insbesondere Sinn und Status der Realität auf den Grund zu gehen. Black Mirror wirft mit der Behandlung dieser philosophischen Problematik den Blick auf die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters. * Die Behauptung, die Massenmedien hätten eine konstitutive Funktion für die Bildung von Realität, mag zunächst erstaunen. Ist es wirklich gerechtfertigt, ihnen ein solches Gewicht zu geben?

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Aber wenn man genauer darüber nachdenkt: Was ist denn überhaupt realitätsbildend? Mit der Herausstellung der Bedeutung des Medialen wird nicht nur der vermittelnde Charakter hervorgehoben – wobei in Sprache, Schrift, Druck und Digitalität jeweils eine eigene Art der Fixierung statthat –, sondern Realität muss zunächst eröffnet werden, und gerade dafür kommt jedes Mal dem Vermittlungsträger von Informationen eine entscheidende Rolle zu. Realität setzt sowohl eine mediale, bildhaft gestalterische Öffnung als auch öffentlich verbreitete Kommunikation voraus. Dieser letzte, für die Medienwissenschaften selbstverständliche Gedanke wird desto plausibler, je mehr man den Sinn und die Bedeutung des für Luhmann zentralen Begriffs der Kommunikation be- und hinterfragt. Luhmanns philosophiekritische Systemtheorie und deren Betrachtungen zur Kommunikation (wobei nach seinem Dafürhalten nur die Kommunikation selbst – nicht aber das Bewusstsein! – der Kommunikation eigens fähig sei) werden jedoch nicht im Vordergrund der hier zu entwickelnden Überlegungen stehen. Luhmann verwirft übrigens jegliche subjekttheoretische Perspektive noch weitaus radikaler, als das im hier entwickelten Ansatz der Fall sein wird. Es soll vielmehr darum gehen, die Episoden von Black Mirror auf die Frage nach Medialität, Digitalität und Realität hin philosophisch zu analysieren und darüber hinaus zu beleuchten, ob umgekehrt die Serie Einsichten für die Philosophie selbst bereithält. Bedingungen unseres Zeitalters Das heutige Zeitalter mutet, wie der französische Philosoph Grégori Jean sehr eindringlich hervorhebt, apokalyptisch an. Niemals 5 Zwar kam schon Anfang der 1980er Jahre mit der von der amerikanischen Regierung beauftragten Umweltstudie „Global 2000“ kurzzeitig so etwas wie

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scheint das drohende Weltende realer gewesen zu sein als heute – was zweifellos das Denken der Welt in eine neue Situation versetzt, die es zu reflektieren gilt. Umweltzerstörung und die damit zusammenhängende Auslöschung der Biodiversität, Klimawandel und Ressourcenknappheit scheinen die Menschheit stärker zu bedrohen und dem Ende der Welt näher zu bringen, als dies wohl je zuvor in ihrer Geschichte der Fall gewesen sein mag. Es gibt aber noch einen weiteren Grundzug des Zeitalters, bei dem es weniger klar ist, ob er jenen apokalyptischen Zeichen zuzurechnen ist oder vielleicht eine völlig andere Zukunft einleitet – die Digitalität. Sie betrifft nicht nur die „Natur“ – griechisch: „physis“ –, sondern hat über „technische“ Aspekte hinaus eine „meta-physische“ Dimension. Sie eröffnet – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – sieben Grundbedingungen des heutigen Seins- und Weltverständnisses. Diese sollen in der hier versuchten philosophischen Auslegung von Black Mirror aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet und vertieft werden. Dabei geht es dem bereits Erörterten gemäß um die Aufklärung des Wesens von ‚Realität‘. 1.) Realität ist – im Gegensatz zur traditionellen Auffassung dieses Begriffs – kein Merkmal oder konstitutiver Zug eines unabhängigen ‚An-sich‘-Seins von vorhandenem Seienden. Sie ist nicht bloße Anzeige eines Existierenden in Raum und Zeit. Sie ist umgekehrt auch nicht „Unmögliches“ (Jacques Lacan, Seminar XIII). Realität ist vielmehr Bildhaftigkeit. Bild muss dabei in zwei Hinsichten betrachtet werden: Es spaltet sich in die Form eines Abzubildenden – Vorstellen und Denken, Sprechen, Schreiben und ‚Untergangsstimmung‘ auf. – An die „No Future“-Plakate, die insbesondere die existenzielle Sorge vor der Aufrüstung der Weltmächte zum Ausdruck brachten, werden sich nicht bloß diejenigen erinnern, die zu Punkrock-Konzerten wie denen der „Sex Pistols“ gegangen sind. – Es bedurfte aber einer ganz neuen Generation, damit nicht nur die Folgen der Umweltzerstörung täglich sichtbarer, sondern auch Denken, Reflexion und schlicht der elementare Weltzugang von dieser neuen Konstellation in der Wurzel betroffen wurden.

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schließlich auch digitale Bildformen – einerseits, und in das jeweils Abgebildete oder sich als bildhaft Gebende, in das als vermeintlich ‚reales Sein‘ Aufgefasste selbst, andererseits. Dabei ist das Bild aber nicht ‚bloßes‘ Bild, das dem ‚wahrhaft‘ Seienden gegenübersteht, sondern Sein ist je Bild bzw. als Bild. Die Medialität wirft das Vermittelte auf das Medium zurück und scheint es darauf zu reduzieren. Die sich hier bekundende ‚Zweiheit in Eins‘ – Bild gegenüber dem Abgebildeten und die Einheit beider – ist ein wesentliches Charakteristikum, das für die philosophische Auslegung von Black Mirror bestimmend sein wird. 2.) ‚Reales‘ einerseits und ‚Imaginäres‘ andererseits sind nicht als zwei unterschiedliche Gegebenheitsweisen von Seiendem anzusehen, wobei dem Imaginären ein niederer ‚Realitätsgrad‘ als dem Realen selbst zugeschrieben würde, sondern ‚Realität‘ und ‚Imaginäres‘ sind ineinander verflochten. Das hat zwei Konsequenzen. Zum einen wird es in dem durch technischen Fortschritt geprägten heutigen Zeitalter immer schwieriger, ‚Realität‘ und ‚Imaginäres‘ voneinander zu trennen. Damit wird aber keinesfalls einer ‚Ununterscheidbarkeit‘ von ‚Realem‘ und ‚Imaginärem‘ und noch weniger von ‚Wirklichkeit‘ und ‚Fiktion‘ das Wort geredet. Demgemäß verlangt jene Verflechtung nach einer eingehenden Analyse, die erweisen muss, dass etwa die ‚Fake-News-Debatte‘ auf einer völlig anderen Ebene angesiedelt ist, für die überhaupt erst einmal die theoretischen Grundlagen geschaffen werden müssen. Zum anderen, und das scheint paradox zu sein, verursacht Imaginäres häufig stärkere Empfindungen als Wirkliches – und erweist sich dadurch erstaunlicherweise als ‚realer‘ als die Wirklichkeit selbst, da diese in ihrer Komplexität in der jeweiligen konkreten Situation nicht als abschwächender Filter zu fungieren vermag. (Gegenbeispiele wie reale Trauer im Gegensatz zu eingebildeter Trauer bestätigen die Regel.) Dieser bedenkenswerte Sachverhalt weist voraus auf die realitätsbildende Rolle des Fühlens.

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3.) Eine solche Vermischung oder Verflechtung äußert sich aber nicht nur in unserer Ansicht von real Seiendem, sondern sie betrifft auch die innere Konstitution der Natur. Durch den Eingriff des Menschen in sie – gentechnisch veränderte Nahrungsmittel sind nur ein Beispiel dafür – hat sich die Kreuzung 6 von ‚bloßer‘ Natur und technisch manipulierter Natur ergeben (Heidegger spricht in Bezug auf letztere von „Bestand“). Damit geht eine Bewegung einher hin zu einer radikalen Reproduzierbarkeit, die auch vor dem einzelnen Menschen nicht haltmacht – die rechtliche Kontrolle molekularen Klonierens spricht Bände. 4.) Ein weiterer grundlegender Aspekt ist die fortschreitende und sich intensivierende Tendenz hin zur Aufhebung von zeitlichen und räumlichen Trennungen. Realität strebt offenbar von sich her zur absoluten Gegenwärtigkeit (Präsenz) von Allem. Das hängt mit der hemmungslosen Ausweitung der Informationsgesellschaft zusammen; ‚man‘ möchte immer und überall über alles augenblicklich ‚informiert‘ sein. 5.) Auch ist eine Tendenz zur Auflösung von Individualität im Sinne einer nicht reduzierbaren Singularität immer deutlicher sichtbar, die mit der Tendenz zur Produktion von absoluter Präsenz Hand in Hand geht. Diese Auflösung von Individualität oder Singularität geht zudem mit dem Verlust von Intimität einher. Und wenn Intimität innigst zum genuin menschlichen Leben gehört, dann stellt diese Entwicklung eine Bedrohung dieses Lebens dar. 6.) Aus diesen fünf grundlegenden Bestimmungen resultieren eine soziale und eine psychologische Komponente. Die erste betrifft den permanenten sprachlichen (bzw. schriftlichen) Austausch, der durch die telekommunikativen Errungenschaften erleichtert wird und die Informationsgesellschaft innerlich kontaminiert. Telekommunikation ermöglicht und fördert permanente 6

Siehe hierzu den Film Transcendence (2014).

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Kommunikation. Diese verlagert sich allerdings, wie aktuelle soziologische Untersuchungen zeigen, mehr und mehr auf die rein digitale Kommunikation – und ist dabei auf eher wenige Menschen beschränkt. Der direkte Austausch im Alltag – insbesondere mit fremden Menschen – nimmt merklich ab. 7 7.) Die zweite Konsequenz besteht in einem ausgeprägten SichRückbeziehen des Individuums auf sich selbst, das narzisstische Züge annimmt. Der Narzissmus ist die Figur der Subjektivität im heutigen Zeitalter. Unter „Narzissmus“ soll hier nicht vordergründig Selbstgefälligkeit und Eigendünkel verstanden werden – auch wenn diese in gewisser Weise Teilaspekte dieser Figur sind –, sondern eine offen ausgetragene Beschäftigung mit sich, an die sich u. a. auch Fragen der – kulturellen, sexuellen usw. – Identität anschließen. Im Rückwurf des Sich auf sich selbst durch den schwarzen Spiegel offenbart es sich in allen erdenklichen Hinsichten. Kant, Fichte, Heidegger (Bild und Technik) In Black Mirror wimmelt es nur so von impliziten philosophischen Anspielungen. Besonders auffällig ist das in Bezug auf Heidegger, dessen Philosophie der Technik ständiger Referenzpunkt vieler Folgen ist. Explizit wird das etwa in „Playtest“, wo – wie in Heideggers Sein und Zeit – die „Angst“ als Grundstimmung des menschlichen Daseins bestimmt und ausgeschlachtet wird, oder in „Men Against Fire“, wo ein Bösewicht mit dem Namen „Heidekker“ vorkommt; dazu mag vielleicht auch die Erwähnung von Lacie Pounds Arbeitgeber „Hoddicker“ in „Nosedive“ gehören. All diese Anspielungen auf Heidegger oder andere Und könnte es überhaupt einen Vergleich geben zwischen einem wirklichen Gespräch – von Angesicht zu Angesicht – und jeglichem digitalen Ersatz, sei es durch Videokonferenzdienste oder am Telefon, ganz zu schweigen von direkter schriftlicher Kommunikation etwa über die sozialen Netzwerke?

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Philosoph*innen aufzuzählen, hat jedoch nur Sinn, wenn damit die Intentionen der Serie besser verständlich gemacht werden können. Im Folgenden werden die Bezugnahmen nur insofern erwähnt, als sich damit die jeweils zu entwickelnden Thesen bestätigen lassen. Der philosophische Hintergrund des Seins- und Weltverständnisses des heutigen Zeitalters öffnet sich am Ende des 18. Jahrhunderts bei Immanuel Kant. Sein Grundgedanke ist, dass die Realität, mit der wir es in unserem Weltumgang und in den entsprechenden Kenntnissen davon zu tun haben, nicht in einer Realität einer in sich selbst bestehenden Welt unabhängig von einem subjektiven Zugang zu ihr besteht, sondern durch die fundamentale Bezughaftigkeit – bzw. „Korrelativität“ – von Objekt und Subjekt gekennzeichnet ist. Realität hat immer zugleich eine objektive und eine subjektive Seite. Dabei stehen Objekt und Subjekt sich nicht wie Beobachter*in und beobachteter Gegenstand einfach gegenüber, sondern Strukturierungsmodi der Objekti(vi)tät, die subjektiven Ursprungs sind, gehen konstitutiv in die Wesensverfassung des Gegenstandes ein. Das bedeutet, vereinfacht gesagt, dass die Erkenntnis der Beschaffenheit der Gegenstände nicht ohne einen aktiven Beitrag des Subjekts auskommt, dieses ‚Subjekt‘ aber kein Individuum, sondern eine allgemeine Struktur ist, die jedem Individuum zukommt und nicht einfach dem Gegenstand angehört. Wenn wir also verstehen wollen, wie sich jene ‚Korrelativität‘ von Subjekt und Objekt genau darstellt, müssen drei Aspekte in Bezug auf den Gegenstand und die Beobachterin unterschieden werden: erstens, eine objektive Seite – all die Beschaffenheiten des Gegenstands, die seine materiellen oder sinnlichen Eigenschaften betreffen und dem Subjekt ‚von außen‘ gegeben werden; zweitens, eine subjektive Seite, die aber, zumindest in der empirischen Realität, sowohl allen Gegenständen als auch allen Beobachter*innen zukommt. Das ist Kants ureigene Entdeckung. Er nennt das die von jeder denkbaren Erfahrung unabhängigen „Formen“ der

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grundlegenden Erkenntnisvermögen, sofern sie nicht nur der Erkenntnis dienen, sondern auch als Identität, Substanzialität, Kausalität etc. eine gegenstandskonstitutive Funktion erfüllen. Schließlich drittens eine weitere subjektive Seite, die sich auf die persönlichen Empfindungen des einzelnen Individuums beziehen (das entspricht dem üblichen Gebrauch des Adjektivs ‚subjektiv‘) – zum Beispiel ist das Meerwasser im Frühsommer für die eine Person kalt, für die andere warm – die Empfindung ist ‚subjektiv‘. Um hervorzuheben, dass hierdurch eine völlig neue Form von ‚Objektivität‘ und ‚Realität‘ vorliegt – die dann im Anschluss an Kant in den oben im ersten Punkt erwähnten Begriff der ‚Bildhaftigkeit‘ münden wird –, führt Kant eine wichtige terminologische Unterscheidung ein. Er nennt „Ding an sich“ die vor seiner Revolution der Denkart übliche Gegenstandsauffassung, wonach der Gegenstand, wie der Name schon sagt, „an sich“ betrachtet wird, ohne konstitutiven Einfluss seitens des Subjekts. Diese Auffassung stimmt mit der bis heute gängigen, insbesondere dem ‚technischen‘ Zeitalter entsprechenden Verständnisart von realer Gegenständlichkeit überein. Kant schreibt dagegen dem Seienden, sofern jene subjektiven Konstituierungsleistungen mitberücksichtigt werden, einen ‚erscheinungshaften‘ – phänomenalen – Charakter zu. Dieser revolutionäre Gedanke hat, allerdings nur wenn man der kantischen transzendentalphilosophischen Sichtweise zuneigt, die der Weltanschauung des ‚technischen‘ Zeitalters widerspricht, noch immer seine Gültigkeit. Vor allem in den späteren Episoden wird Black Mirror daran erinnern. Gegenstände sind in diesem Sinne „Erscheinungen“. Im unmittelbaren Anschluss daran wird Johann Gottlieb Fichte diesen „phänomenologischen“ Ansatz insofern weiterentwickeln, als Sein als „Bild“ aufgefasst wird. Ohne auf die Schwierigkeiten des Fichte’schen Denkens näher einzugehen, soll nur kurz darauf hingewiesen werden, welche ebenfalls bahnbrechenden Einsichten dieses Denken für das

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Verständnis wichtiger Aspekte des Bildes und der Bildhaftigkeit im heutigen Zeitalter hervorgebracht hat. Das Bild drückt bei Fichte die dem europäischen Menschen innewohnende Tendenz nach Äußerung und vor allem Sichtbarmachung von Wissensinhalten – im heutigen Kontext: von Informationsgehalten – aus. Damit Wahrheit und Wissen fassbar und einsichtig werden, müssen sie in einem adäquaten Modus des Begreifens und Anschauens zur Darstellung kommen. Da dies nicht nur Verstand und Vernunft erfordert, sondern auch Einbildungskraft mobilisiert, ist das Bild das geeignete Medium hierfür. Fichte unterstreicht, dass Bild aber nicht lediglich Abbild bedeutet, sondern dass zum einen der aktive Charakter des Bildes (von ‚bilden‘) hervorgehoben werden muss. Zum anderen stellen das Bild und das, wovon Bild Bild ist, gemäß dem kantischen Verständnis der Subjekt-Objekt-Beziehung kein Verhältnis äußerlich einander gegenüberliegender Entitäten dar; vielmehr machen Bild und das dem Bild als Bild Zugrundeliegende die bereits angesprochene ‚Zweiheit in Eins‘ aus. Fichte kann dementsprechend so weit gehen, von einem „Urbild“ zu sprechen, dank welchem die Vorgängigkeit von Bild und Bildhaftigkeit gegenüber der wahrgenommenen Realität in Anspruch genommen wird. Daraus resultiert, dass für Fichte Sein und Realität nichts anderes als Bild sind. Ein weiterer wichtiger Aspekt für das Verständnis der Rolle des Bildes heute liegt, wie schon kurz erwähnt, in Heideggers Technikauffassung begründet. Diese stellt einen entscheidenden Zug des heutigen Zeitalters dar. Heidegger versteht Technik nicht einfach als praktische Nutzbarmachung von wissenschaftlichen Erkenntnissen. Technik hat für ihn die theoretische, durch die „Metaphysik“ geprägte Bedeutung einer Weise des „Entbergens“ – also wiederum der Sichtbarmachung – des Seinsverständnisses des Seienden. Die Technik resultiert nicht lediglich aus der Art, wie der moderne Mensch sich die Natur mittels der Wissenschaft zum Untertan macht. Es ist vielmehr so, dass gleichsam umgekehrt die

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Technik eine Verstehensweise von Sein und Realität bezeichnet, welche die Grundlage dafür bietet, dass die Natur (und mit ihr der Mensch selbst als Teil von ihr) zu einem bloßen „Bestand“, das heißt zu einem zu „stellenden“ Reservoir an Ressourcen und Rohstoffen herabgewürdigt wird, die allein einer gewissen Nutzbarmachung – und schließlich Ausbeutung – für und durch den Menschen dienlich sein sollen. Die Natur ist nicht bloß ein lediglich „Objektiviertes“, „Vorhandenes“, sondern hat in ihrem Ausgebeutet-Werden einen eigenen Zug zur „Zuhandenheit“. Dabei ist ganz wesentlich, dass die ‚Technik‘ Technologie hervorbringt. Diese verwirklicht das technische Denken so, dass die Technik im üblichen Wortsinn durch die von Heidegger betonte Rolle der Technik unser Leben in dieser Welt mehr und mehr durchherrscht. Dieses Durchherrschen war freilich schon den ersten Kybernetikern – deren Bedeutung Heidegger von Anfang an gesehen hat – voll bewusst. Hermann Schmidt, ein bedeutender Pionier der Kybernetik, schrieb bereits 1941: „Der Techniker ist es, der im höheren Auftrage, ohne den Nichttechniker zu fragen, das ganze Volk in eine neue technische Welt versetzt hat.“8 Diese „neue Welt“, sofern sie „im höheren Auftrag“ gesetzt wird, ohne uns auch nur zu fragen, ist eigentliches Thema von Black Mirror. Dass darin das Bild – u. a. in Form von öffentlich wie privat omnipräsenten Bildschirmen – ein wesentliches Medium darstellt, hängt, wie schon gesagt, damit zusammen, dass es heute – nach Sprache, Schrift und Buchdruck in den vorangegangenen drei Zeitaltern – zum vorherrschenden Kommunikationsträger geworden ist. *

H. Schmidt, „Regelungstechnik. Die technische Aufgabe und ihre wirtschaftliche, sozialpolitische und kulturpolitische Auswirkung“, in: Die anthropologische Bedeutung der Kybernetik, Quickborn, Schnelle, 1965. Ich danke Peter Trawny für diesen Hinweis.

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In den Auslegungen der Philosophie seines Landsmanns Henri Bergson hat der französische Philosoph Gilles Deleuze immer wieder darauf hingewiesen, dass Bergson den Anspruch hatte, im 20. Jahrhundert eine Metaphysik zu entwerfen, die dem Stand der Wissenschaft seines Zeitalters gerecht werden sollte. Die Philosophie von Black Mirror erfüllt diesen Anspruch sicherlich nicht. Vielleicht kann die Serie aber dazu beitragen, den Stand der Technik philosophisch zu reflektieren. Das ist gerade dann von Interesse, wenn Technik nicht als bloße Anwendung der Wissenschaft verstanden wird, sondern – wie das von Heidegger herausgearbeitet wurde – die Art zum Ausdruck bringt, wie das ‚Sein‘ sich in der Post-Moderne am Ende der Geschichte der Metaphysik oder, wer weiß, am Ende schlechthin gibt.

Schwarzer Spiegel Nach diesen etwas ausholenden – aber nötigen – philosophischen Vorbetrachtungen kommen wir nun zum eigentlichen Gegenstand. Was hat der Titel „Black Mirror“ zu bedeuten? Einen Spiegel farblich zu charakterisieren ist ungewöhnlich. Der Zweck des Spiegels ist es, die vor ihm befindliche Person – oder welchen Gegenstand auch immer – zu reflektieren. Je mehr von dem zurückgeworfen wird, was widergespiegelt werden soll, desto mehr erfüllt der Spiegel seine eigentliche Funktion. Dafür muss in der Nähe Licht vorhanden sein. Weißes Licht enthält alle Wellenlängen des sichtbaren Lichtspektrums – schwarzes Licht dagegen ist „Wahn“, der aber vielleicht „die Wahrheit gewesen sein wird“. So nähert jedenfalls Derrida die Verflechtung von Realität und bildhafter Fiktion der Mischung von Vernunft und Wahn an. Weiß ist die ‚Farbe‘, die den höchsten Grad an Widerspiegelung verbürgt. Ein perfekter Spiegel ist demnach weiß. Schwarze Spiegel dagegen wären zweckentfremdet und kontraproduktiv. Sie gibt es gar nicht. Oder doch? Wenn unser Computerbildschirm, Fernsehgerät, Mobiltelefon, Tablet etc. ausgeschaltet ist, ist er oder es schwarz. Ebenso, wenn ein Defekt vorliegt. Sofern aber eine minimale äußere Lichtquelle vorhanden ist, können wir uns darin sehen. Der Bildschirm wird zu einem schwarzen Spiegel. Dabei sind wir in eine schwarze Umgebung eingetaucht – in eine düstere Welt, die sich zu verschließen scheint, von der jedenfalls nicht klar ist, ob es die unsere oder vielleicht eine zu entdeckende Parallelwelt ist… Schwarz ist die Farbe des Todes. Wenn man in den Spiegel schaut, wird man auf sich zurückgeworfen. Das ‚speculum‘ – das ursprünglich ‚Spiegelbild‘ bedeutet – wird häufig als Metapher für die Reflexion gebraucht. Das ‚spekulative Denken‘ – das nicht eine bloße Spekulation im Sinne einer

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reinen Annahme, sondern eine höhere Form von Rationalität bezeichnet, die, im Sinne der Aristotelischen „theoria“, die letzte Erkenntnis an das Wissen von Prinzipien bindet – geht seinerseits ursprünglich auf ‚speculum‘ zurück. Black Mirror dekliniert diese beiden grundlegenden Formen von Reflexion durch. Reflektiert wird die Realität nicht weniger als das reflektierende Ich. Dabei erfährt das Ich sich selbst durch das Medium des Bildes, das, wenn es seine bildende Funktion nicht ausübt oder ausüben kann, zum schwarzen Spiegel wird. Black Mirror schreibt sich in die abständige Spannung zwischen diesen beiden Arten der Reflexion ein. Black Mirrors Grundperspektive Dass unser Zeitalter durch die Omnipräsenz des Bildes und durch ein immer stärkeres Sich-geltend-Machen von Virtualität geprägt ist, ist offensichtlich. Tragweite und Bedeutung dieser Sachverhalte zu reflektieren und zu verstehen, bedarf aber gewisser Anstrengungen. Mit einer Anthologie-Serie haben sich die Macherinnen und Macher ein denkbar geeignetes Medium dafür ausgesucht. Es handelt sich um eine Science-Fiction-Serie, die weniger von der ferneren Zukunft handelt als vielmehr von der heutigen Zeit, von der „condition de l’homme post-moderne“. Zum einen werden dabei die Auswirkungen des täglichen Umgangs mit digitalisierten Bildformen untersucht. Es werden Szenarien erdacht, die Fragen nach Erinnerung und Gedächtnis, nach Einbildungskraft und Phantasie und nach den verschiedenen Formen des Wahrnehmungsbewusstseins betreffen. Das hat Folgen für jede(n) Einzelne(n), wirkt sich aber ebenso auf partnerschaftliche Verhältnisse und Freundschaften aus. Gesellschaftliche und politische Aspekte können eine Rolle spielen. Sinn und Funktion von Digitalität für die bestehenden, uns bekannten empirischen Verhältnisse werden durchleuchtet. Digitalität ist ein Resultat der

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technischen Welt. Sie ist zunächst ein neues Vorkommnis. Besonders interessant an Black Mirror ist, dass aber auch ein umgekehrter Aspekt zum Thema gemacht wird. Die Serie fragt danach, wie es wäre, wenn Digitales und Bild nicht lediglich eine neu hinzukommende und gewissermaßen abgeleitete Dimension der bestehenden objektiven (wahrnehmungsmäßig sich bekundenden) Welt wäre, sondern wenn gleichsam in entgegengesetzter Richtung Bild, Virtualität und Digitales der Realität und unserer Wahrnehmung davon zugrunde lägen. Diese umgekehrte Perspektive wird aber nicht einfach in den Raum gestellt, sondern feinfühlig reflektiert. Hauptergebnis dieser Reflexion ist, dass unser Zugang zur Welt gänzlich anders als durch unmittelbare Wahrnehmung gefasst werden muss. 9 Es ist vielmehr so, dass sich die Einsicht in die ‚wahren‘ Verhältnisse nur nachträglich ergibt. Kants Ansatz in der Kritik der reinen Vernunft, dem unmittelbar zu Erkennenden zur Begründung seiner Erkenntnis transzendentale „Bedingungen der Möglichkeit“ eben dieser Erkenntnis vorzuschalten, war bereits ein deutlicher Hinweis darauf, dass kein direkter Zugang zum Ursprung der Erkenntnis gegeben ist. Seit der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ist das Motiv der ‚Nachträglichkeit‘ in aller Ausführlichkeit entwickelt worden. Das gilt für Husserls Phänomenologie der Höchster Ausdruck in der Phänomenologie sind hierfür Edmund Husserls Ausführungen (im § 111 von Ideen I) zum „neutralen Bildobjektbewusstsein“ (im Gegensatz zur „normalen, in unmodifizierter Gewißheit setzenden Wahrnehmung“) am Beispiel eines Dürer’schen Kupferstichs. Wenn man darin das „perzeptive Bewusstsein“ erfasst, sofern es nicht den Sonderfall einer ästhetischen Betrachtung betrifft, kann man einen Eindruck davon gewinnen, was es heißt, dass uns die lebendige (der 2015 verstorbene Phänomenologe Marc Richir würde sagen: „leibliche“) Wirklichkeit auf eine grundlegende Weise nicht in der bloßen Wahrnehmung, sondern in dem „im Bilde dargestellten“, in den „abgebildeten Realitäten“, gegeben ist, E. Husserl, Ideen zur einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Erstes Buch, Husserliana III/1, Den Haag, M. Nijhoff, 1976, S. 251f.

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Zeit nicht weniger als für Jacques Derridas Dekonstruktion oder in jüngerer Zeit auch für Slavoy Žižeks Hegel- und Lacan-Interpretation. 10 Überall wird dabei dargelegt, dass bei dem Versuch, den Dingen auf den Grund zu gehen und Ursprungsfragen zu klären, eine rückwärtige Betrachtung – eine Re-flexion – angestellt werden muss, die uns Quelle und Ursprung immer nur im „Futurperfekt“ erschließt. Den Grund der Erkenntnis wird es immer nur gegeben haben. Black Mirror geht aber noch einen Schritt weiter. Die Serie macht sich auch daran, den Umschlagspunkt von sichtbarer Realität und zugrunde liegender Virtualität – sofern sie eben realitätsbildend ist – zu veranschaulichen. Die von Black Mirror vermittelte These lässt sich dementsprechend in folgende Worte fassen: Der von Kant begründeten Transzendental-Philosophie gemäß verlangt das Verständnis unserer empirischen Realität nach einer transzendentalen Grundlage. Diese wird, so stellt sich Fichtes Erweiterung der Transzendentalphilosophie dar, durch Bildhaftigkeit bereichert. Und dazu gesellt sich heute – das ist sozusagen Heideggers Beitrag – ein technisch-kybernetisches Moment. ‚Virtualität‘ bezeichnet in der Welt von Black Mirror die bei Kant, Fichte und Husserl auf „Transzendentalität“ beruhende Kombination von ‚Realem‘, bildhaft ‚Imaginärem‘ und ‚Technischem‘, eine Auffassung, die auch bei Richir – allerdings im Zusammenhang mit der Quantenmechanik – zum Tragen kommt. 11 Das heißt aber nicht – und das ist der entscheidende Punkt –, dass ‚Virtualität‘ lediglich eine Erweiterung des Realen um ein Imaginäres und ein Technisches wäre. Vielmehr IST Virtualität Realität! Diese Denkakrobatik – dass Realität zugleich konstituierender Bestandteil der Virtualität und „das Selbe“ wie diese ist – verlangt Black Mirror uns ab, wenn wir verstehen wollen, S. Žižek, Weniger als nichts, Berlin, Suhrkamp, stw, 20202, S. 697ff. Vgl. E. Bellato & I. Fazakas, „Le virtuel et le transcendantal“, in: On Virtuality, I. D’Angelo & N. Scapparone (Hrsg.), Metodo. International Studies in Phenomenology and Philosophy, Band 2, Nr. 2 (2014), S. 203–225. 10 11

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was Realität ist. Realität ist zugleich Teil eines Ganzen und dieses Ganze selbst. Ein solches Verhältnis gleicht zumindest von ferne einer Fraktalstruktur, in der ja auf unterschiedlichen Größenstufen eine mit dem Ganzen identische Struktur immer wieder auftritt. Darauf spielt auch die Schlussszene von „White Christmas“ an, in der sich das Haus in der Schneekugel, die Joe seiner vermeintlichen Tochter als Weihnachtsgeschenk mitgebracht hatte, auf der Arbeitsplatte in der Küche durch eine unendliche Schleife als das Haus erweist, in dem Joe gefangen ist. Und sofern es auch ein analogisches Verhältnis zwischen den neuronalen Strukturen des menschlichen Gehirns und den Galaxienhaufen im Universum gibt, könnte dieses als einigermaßen adäquate – wenngleich nur metaphorische – Ausdrucksform für die Realitätskonzeption von Black Mirror herhalten. Dass Virtualität die Realität bestimmt, ist in der Psychoanalyse bereits von Wilfred Bion im Anschluss an Arbeiten Sándor Ferenczis zum Trauma hervorgehoben worden. Die bedeutungshafte Virtualität der traumatischen Elemente greift seiner Auffassung zufolge das Bewusstsein an, um dessen Transformation zu bewirken. In Black Mirror ist diese Verwebung von Realität und Virtualität jedoch nicht auf das Trauma und die Traumdeutung beschränkt, sondern kontaminiert alle Formen der Realität. Das wurde in der neueren Philosophie bereits von Richir erkannt. Die Serie knüpft daran – natürlich ohne darauf Bezug genommen zu haben – an. Sie bleibt somit trotz einiger struktureller Ähnlichkeiten mit diversen Analysen des Unbewussten von der Psychoanalyse nicht nur deutlich geschieden, sondern hat einen genuin philosophischen Gestus, der in diesem Essay erscheinen soll.

Der Anfang von Black Mirror Ich habe Black Mirror als ‚Science-Fiction-Serie‘ bezeichnet. Als äußere Rahmenbestimmung trifft das auch zu, erschöpft aber nicht den Reichtum der versuchten Genres innerhalb der 27 bisher erschienenen Episoden, zu denen noch ein interaktiver Film hinzugerechnet werden muss. Der Begriff der ‚Science-Fiction‘ ist differenziert – die Spannbreite reicht von der Wirkung der Zukunftstechnologien auf die alltäglichste Gegenwart über postapokalyptische Fiktion bis hin zur Darstellung außerirdischer Welten –, aber auch Kriminal-, Action-, Horror-, Militär-, Fantasy-Filme, Politsatiren, Liebeskomödien usw. gehören zu den Filmgattungen, an denen sich die Serie versucht. Da es sich um eine AnthologieSerie handelt, lassen sich die darin entwickelten Gedanken und Begriffe nicht linear und progressiv entfalten. Die hier angestellten Überlegungen gehen daher von unterschiedlichen Perspektiven aus und kommen auf dieselben oder ähnliche Motive immer wieder zurück. Das entspricht auch der Vorgehensweise der Macherinnen und Macher der Serie, indem einige der Hauptgedanken mehrmals angeschnitten und die behandelten Themen wiederholt in Angriff genommen werden. In den ersten Sätzen seines Selbstkommentars zu „The National Anthem“, das sich keinem der genannten Genres zuordnen lässt, stellt Charlie Brooker die gespannte Gegensätzlichkeit von Lächerlichkeit und Ernsthaftigkeit dieser allerersten Episode von Black Mirror in den Vordergrund.12 Dabei sucht er offenbar für sich selbst nach einem Umgang mit der „heiklen Unausweichlichkeit“, dass die – gleich näher darzustellende – Handlung dieser C. Brooker & A. Jones mit J. Arnopp, Inside Black Mirror, New York, Crown Archetype, 2018, S. 16.

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Episode so manche Betrachterin vor den Kopf stößt. Aber der wesentliche Punkt liegt woanders. Provokation gehört in der PostModerne – und damit nicht erst seit Marcel Duchamp und den Dadaisten – zur künstlerischen Darstellung. „The National Anthem“ besticht vorrangig dadurch, dass die Episode die Verbindung von bildlicher Inszenierung der Realität, Medialität, Telekommunikation, menschlichem Einzelschicksal und kollektiver Abgründigkeit als ein Kunstwerk stilisiert, das in ihr von einem Kunstkritiker auch prompt und vielsagend als „genialste Kunstaktion des 21. Jahrhunderts“ bezeichnet wird. In „The National Anthem“ ist der Gegenstand der Handlung selbst ein Kunstwerk – was den reflexiven Grundcharakter der Serie nicht bloß ankündigt, sondern unmittelbar ins Werk setzt. Der Künstler Carlton Bloom hat die Prinzessin Susannah, Duchess of Beaumont, entführt. In diesem Akt und den daraus folgenden Handlungssequenzen werden Wahrheit und Täuschung, Realität und Virtualität, von Anfang an ineinander verflochten. Zum einen werden nicht nur die Protagonist*innen, sondern auch wir Zuschauer*innen im Glauben gelassen, dass bei Nichterfüllung der Forderung des bis kurz vor Ende der Episode unbekannten Entführers die Prinzessin umgebracht wird. Um seiner Bestimmtheit Ausdruck zu verleihen, sendet dieser einem Nachrichtensender einen abgetrennten Finger der Prinzessin zu, an dem auch ihr Ring angebracht ist. Beides ist jedoch eine Täuschung. Die Prinzessin wird noch vor der Erfüllung der Forderung still und heimlich freigelassen. Und der Finger ist nicht der der Prinzessin, sondern der des Entführers selbst. Zum anderen kommuniziert er mit der Polizei sowie mit den Medien mithilfe von Videos, die von ihm auch auf „Youtube“ ins Internet gestellt und über die sozialen Netzwerke wie „Twitter“ verbreitet werden – die Aufnahmen der höchst verstörten Prinzessin verfehlen ihre Wirkung nicht. Die Medialität wird so von vornherein in den Mittelpunkt gerückt. Die mediatisierte Entführung in eins mit der gefilmten Einlösung

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der Forderung des Entführer-Künstlers ist die besagte „geniale Kunstaktion“. Was beim Erscheinen von Black Mirror für Aufsehen gesorgt hat und gewiss auch zum effektiven Lancieren der Serie gehörte, ist die schockierende Forderung des Entführers. Niemand Geringerer als der englische Premierminister soll noch am Tag des Bekanntwerdens der Entführung mit einem Schwein kopulieren. 13 Dieser Akt soll gefilmt und live auf allen Kanälen übertragen werden. Nachdem ein Versuch, den Entführer ausfindig zu machen, gescheitert ist, erfüllt der Politiker höchst widerwillig die Forderung. Die ganze Nation wohnt dem einstündigen Akt an den Bildschirmen bei. Die Prinzessin kommt frei, der Kidnapper-Künstler erhängt sich noch während der Übertragung. Zwar bleibt der Premierminister im Amt, aber seine Ehe ist, wie beim Abspann sichtbar wird, zerstört, auch wenn nach außen der Schein gewahrt bleibt. Mit der ersten Episode wird also bereits angezeigt, was auch in allen Folgeepisoden zu erwarten ist: Die Verschränkung von Realität und Virtualität, die mediale Massenkommunikation, die Rolle von Bild und Bildschirm in der globalen Welt, die psychologischen und sozialen Folgen für jede(n) Einzelne(n) auf allen Ebenen werden dank der Mittel des künstlerischen Blicks und dessen möglicher Distanznahme unter die Lupe genommen und in allen Bedeutungen des Wortes reflektiert. Und das gilt in allererster Linie für das Medium selbst, denn diese TV-Serie ist nicht nur das Format, in welchem Black Mirror sich mitteilt, sondern als wichtiger Bestandteil der heutigen Dass im Jahre 2015 der amtierende britische Premierminister David Cameron sich in Lord Michael Ashcrofts „Biographie“ Call me Dave dem Vorwurf ausgesetzt sah, während seiner Studienzeit Sex mit einem toten Schwein gehabt zu haben (was von Cameron ausdrücklich dementiert wurde), ist eine nicht unamüsante Randnotiz, allerdings – laut Charlie Brooker – auch eine rein zufällige Koinzidenz.

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Kommunikation, zu der ja die Unterhaltungsindustrie wesentlich gehört, ist sie auch zentraler Gegenstand der darin durchgeführten Reflexion.

Schlüsselmomente Da Black Mirror eine Anthologie-Serie ist, in der jede einzelne Episode eine eigene Handlung und jeweils verschiedene Schauspieler*innen hat, gibt es kein einheitliches Entschlüsselungsprinzip für alle Staffeln. Es ist daher auch nicht notwendig, die einzelnen Episoden in chronologischer Reihenfolge zu betrachten. Dagegen setzen einige Folgen eine Schlüsselthematik in Szene, die den Zuschauerinnen und Zuschauern den gedanklichen Hintergrund der Serie näherbringt. Das gilt vor allem für die zweite Episode der ersten Staffel „15 Million Merits“ (und in geringerem Maße für „Nosedive“) sowie – und gewiss noch mehr – für die erste Episode der sechsten Staffel „Joan Is Awful“. In diesen Episoden stehen sich singuläre Realität und die Multiplizität der Realitätsebenen auf eine bemerkenswerte Weise gegenüber. Singularität „15 Million Merits“ ist eine Episode, die der Betrachterin das Gefühl von Abscheu und Ekel vermittelt. Fast noch extremer trifft das auf „Nosedive“ zu, das eine – zumindest entfernt – ähnliche Handlung entwickelt. Beide Folgen stellen ein kompromissloses Plädoyer für singuläre Realität aus einer affektiven, und auch ästhetischen Perspektive dar. „15 Million Merits“ spielt in einer zukünftigen dystopischen Welt. Die Gesellschaft ist in vier Klassen aufgeteilt. Dabei arbeiten alle Menschen auf ihre Weise an einem einzigen Projekt: der Herstellung und Sicherung einer Welt, in der ‚Realität‘ und ‚Singularität‘ unterdrückt und durch eine oberflächliche Welt des Scheins und der Sinnlosigkeit ersetzt werden. Diese Welt ist hauptsächlich

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durch Aktivitäten bestimmt, die nur ein Teil der Gesellschaft zu verrichten hat – und die zwischen einer kleinen Schlafstätte, die komplett aus Bildschirmen besteht, und einer Art Fitnessraum, der ebenfalls überall mit Bildschirmen ausgestattet ist und in dem den ganzen Tag trainiert werden muss, ablaufen. Diese sportlichen Aktivitäten bringen den Trainierenden „merits“ ein, eine Bezahleinheit, mit der man seinen Lebensunterhalt bestreitet und die, wenn man genug trainiert, auch angespart werden kann. Die Trainierenden erscheinen auf den Bildschirmen in Form von ‚Avataren‘, welche die Kommunikation der realen Menschen übernommen haben. Die unterste Klasse dieser Gesellschaft besteht aus Personen, für die das Training zu anstrengend ist und die somit – von den Trainierenden verachtet – für die Sauberkeit der Fitnessräume verantwortlich sind. Auf den allgegenwärtigen Bildschirmen laufen Unterhaltungsprogramme, welche mit den „merits“ gekauft werden können und die oberflächliche Welt auf eine entblößende Weise abbilden. Dazu gehören insbesondere pornographische Inhalte und die Castingshow „Hot Shots“. Die Personen, die für diese Unterhaltungsshows ausgewählt werden und deren Auftritte permanent auf den Bildschirmen zu sehen sind, gehören zu einer dritten Klasse der Gesellschaft, die über gewisse Privilegien – wie größere Wohnungen, Zugang zu realen Gütern – verfügt und insbesondere das unsinnige Training nicht mehr absolvieren muss. Die höchste Klasse wird von den Personen gebildet, die für die Scheinwelt verantwortlich sind und diese inszenieren. In der Episode werden sie durch die Jurymitglieder von „Hot Shots“ dargestellt. Bingham „Bing“ Madsen, die Hauptperson dieser Folge, gehört zu der trainierenden Klasse. Sein verstorbener Bruder hat ihm 15 Millionen „merits“ überschreiben lassen. Völlig orientierungsund ziellos fristet er sein eintöniges Dasein auf einem Laufrad,

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ohne dieses ‚Geld‘ einzulösen. Diese Ödnis findet ihr Ende, als er auf Abi Khan trifft, die ihn erst mit ihrem attraktiven Äußeren und dann vor allem mit einem Lied bezaubert, das sie auf der Toilette singt. Er schlägt ihr vor, damit bei „Hot Shots“ aufzutreten. Da sie nicht über die notwendige Summe an Einheiten verfügt, lehnt sie ab. Er bietet ihr daraufhin an, ihr dafür sein Guthaben zur Verfügung zu stellen, denn er ist davon überzeugt, dass sie „etwas Reales hat“, worin er seine angesparten „merits“ zu investieren bereit ist. Daraufhin entspannt sich zwischen ihnen eine Diskussion darüber, was überhaupt ‚Reales‘ ist. Es fällt dabei der entscheidende Satz in Bezug auf Abi und ihren Song, der ganz allgemein für Black Mirror von zentraler Bedeutung sein wird: „Ich möchte einfach“, so Bing, „dass etwas Reales vor sich geht. Nur einmal.“ Durch die Vorherrschaft von Virtualität, Imaginärem und Bildhaftigkeit werden zwei wesentliche Zustände bedroht: die Realität selbst und die Singularität, das heißt der ‚Augenblick‘ (als je einziger Moment). Abis Lied steht gerade für eine einmalige Realität, die es für Bing mit aller Macht zu bewahren und zu verteidigen gilt. Nachdem er sie überzeugt hat, nimmt Abi doch an der Castingshow teil. Das Publikum ist zwar von der Darbietung sehr angetan, die Jury trifft jedoch eine andere Wahl. Entweder sie lässt sich darauf ein, Pornodarstellerin zu werden, oder sie muss wieder zurück auf das Laufrad. Unter dem Einfluss einer vorab verabreichten Droge lässt sie sich trotz deutlichem Widerwillen auf die Pornoshows ein. Da Bing die ständigen Werbungen mit Abi als Porno-Darstellerin, die er aus Mangel an Guthaben über sich ergehen lassen muss, nicht erträgt, zerschlägt er einen Bildschirm seiner Zelle und bewahrt eine größere Glasscherbe davon auf. Er beschließt nun seinerseits, für einen Auftritt bei „Hot Shots“ zu trainieren. Mit eisernem Willen spart er die erforderlichen 15 Millionen „merits“ zusammen. Als es so weit ist und er zu seinem Aufritt kommt, gibt

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er zunächst vor, „eine Art performance“ als Tänzer bzw. „Entertainer“ liefern zu wollen. Mitten in der Tanzeinlage hält er plötzlich inne, holt aus seiner Hosentasche die Glasscherbe hervor und hält sie sich an die Halsschlagader. Damit wird klar, worum es Bing bei der ganzen Aktion eigentlich geht: vor einem Millionenpublikum sein Plädoyer für die Realität zu halten. Unter größter Anspannung hält er – die ganze Zeit mit Selbstmord drohend – eine spontane Rede, was formal die Authentizität und Echtheit seiner Worte unterstreichen soll und damit in Einklang mit dem Inhalt steht. Darin appelliert er zunächst an das Publikum, insbesondere aber auch an die Jury, wirklich zuzuhören. Die von ihm beschriebene Ist-Situation der Scheinwelt von „15 Million Merits“ lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Die Menschen werden nicht in ihrer unantastbaren Würde betrachtet, sondern ganz im Gegenteil nur als „Futter“ für die Unterhaltungsindustrie – und dabei gilt: „je unrealer das Futter, desto besser“. Denn die gesamte Menschenwelt ist völlig unreal. Dies kontaminiert auch die menschliche Kommunikation. Doch damit nicht genug: Es ist bereits so weit gekommen, dass das auf den Bildschirmen Gezeigte nichts „Reales, Freies und Schönes“ mehr sein darf, weil das sonst die Menschen zerstören würde. Daher wird auch das einzig existierende Reale geteilt, multipliziert, verpackt und gefiltert. Was am Ende noch übrig bleibt, ist nichts als „bedeutungslose Lichter“. Der alles entscheidende Punkt betrifft aber die Grundbestimmung der Realität selbst: Sie besteht in nichts Erkennbarem, intellektuell Simulierbarem, sondern darin, wirklich zu fühlen. Das lässt sich nicht filtern und verpacken. Es entzieht sich der Quantifizierung, der Algorithmierung und schließlich auch der Digitalisierung. Diese Dimension des Fühlens, der Affektivität, ist – wie das auch von Heidegger und Richir unterstrichen wurde – grundlegend realitätskonstitutiv. Daher ist es nur folgerichtig, dass in Black Mirror dem Gefühl der Liebe eine besondere Aufmerksamkeit zuteilwird.

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„Nosedive“ führt die Kritik am Scheincharakter der imaginären Welt bis ans äußerste Extrem. In der Welt, in der Lacie Pound lebt, zählt nur eine Pseudo-Popularität, die in einem „Social Ranking“ permanent und instantan berechnet wird. Bei jeder menschlichen Begegnung vergeben die beteiligten Personen einander per Smartphone zwecks einer solchen Bewertung Punkte (von 0 bis 5). Das Programm ermittelt dann den aktuellen Durchschnittswert, der nicht nur auf der zwischenmenschlichen Ebene anzeigt, wie beliebt oder unbeliebt man bei den Anderen ist, sondern auch eine ganz praktische Relevanz haben kann. Unter einer gewissen Punktzahl werden den Betroffenen etwa Dienstleistungen wie Flugtickets, Eintritt in öffentliche Lokalitäten etc. verwehrt. Aber auch Rabatte auf Mieten können davon abhängen und vieles andere mehr. Hauptstrang der Handlung ist die Reise von Lacie zu ihrer Jugendfreundin Naomi Blestow, von der sie als Trauzeugin zu ihrer Hochzeit eingeladen wurde. Die Reise gestaltet sich jedoch alles andere als einfach, da der Flug zum Ort der Hochzeit kurzfristig abgesagt wird, Lacie darauf gegenüber der Person beim Check-in ungehalten reagiert und dadurch in eine Spirale der Abwertung ihres Rankings gerät, sodass sie in letzter Sekunde – aus „Prestige“-Gründen – von der Hochzeit ausgeladen wird. Sie setzt die Reise trotzdem fort und lernt dabei eine Truckfahrerin kennen, die durch Lacie an ihr eigenes früheres Selbst erinnert wird und die ihr den unerträglichen und wahnhaften Schein, in dem die ganze Gesellschaft verfangen ist, vor Augen führt. In sehr offenen Worten vermittelt sie ihr ein Bewusstsein des Authentizitätsverlustes, den dieser Wahn, von dem auch Lacie befallen ist, impliziert. Lacies Intention, der Hochzeit beizuwohnen, ändert sich: Sie möchte nun die Gelegenheit nutzen, ihre ganze Abneigung gegen die Scheinrealität der Gesellschaft zum Ausdruck zu bringen. Das gelingt ihr, indem sie sich dank einer List der Hochzeitsgesellschaft anschließt und eine spontane Rede hält. Daraufhin wird sie

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abgeführt und ins Gefängnis gebracht. Dort findet sie sich mit einem Mitinsassen wieder, der offensichtlich die gleiche Abscheu gegen die Abartigkeit dieser virtuellen Gesellschaft hegt. In einer beeindruckenden Schlussszene schreien sich beide gegenseitig an und werfen einander in völliger Freiheit Beleidigungen an den Kopf, um ihre ganze Verachtung für diese Welt hören zu lassen und das Wiedererlangen ihrer Singularität zu feiern. Multiplizität der Realitätsebenen Über das Problem der ‚singulären Realität‘ hinaus wird in einer anderen sehr wichtigen Episode – nämlich in „Joan Is Awful“ – gezeigt, dass ein echtes Verständnis der ‚Realität‘ die Aufweisung mehrerer ‚Realitätsebenen‘ impliziert. Diese erste Folge der sechsten Staffel erzählt die Geschichte einer Frau – Joan –, die entdeckt, dass der gerade abgelaufene Tag in einer Fernsehserie, die ganz neu beim Streaming-Dienst „Streamberry“ angeboten wird, ziemlich präzise nacherzählt wird. „Streamberry“ entspricht dabei exakt „Netflix“ – beide haben das gleiche Format, das gleiche Design, das gleiche „Tu-dum-Soundlogo“ usw. Möglich gemacht wird das durch einen Quantencomputer, der alle verfügbaren Daten sammelt und in kürzester Zeit so synthetisiert bzw. vervollständigt, dass dadurch eine Episode entsteht. Allerdings ist die Person, die „Joan“ in der Serie verkörpert, nicht sie selbst, sondern Salma Hayek. Diese wiederum ist nicht die „reale“ Salma Hayek, sondern ein computergeneriertes Bild von ihr. Es liegen somit nicht einfach zwei Realitäten vor – die ‚wirkliche‘ Realität und die Serien-Realität –, vielmehr überschneiden sich beide insofern, als die Serien-Realität das computersimulierte und -synthetisierte Abbild der ‚wahren‘ Realität ist. Das äußert sich vordergründig darin, dass das Schauen der Serie bei allen beteiligten Personen unmittelbare – und tiefgreifende – Folgen nach sich zieht. Joan

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wird von ihrem Freund Krish verlassen. Sie verliert ihren Arbeitsplatz. Ihr ganzes Umfeld tritt ihr feindlich entgegen. Nun könnte es den Anschein haben, als läge hier ein logischer Fehler vor. Die erste Episode der „Streamberry“-Serie beginnt zu einem Zeitpunkt, an dem die letzten Ereignisse des Tages noch gar nicht stattgefunden haben, die aber am Ende dieser ersten Episode trotzdem schon vorkommen. Das betrifft etwa die Reaktion Krishs auf Joans Worte und Verhaltensweisen ihm gegenüber und insbesondere darauf, dass sich Joan einige Stunden zuvor mit ihrem Ex-Freund Mac in einer Bar getroffen und ihn geküsst hat. Worin hätte der Inhalt dieser Episode für einen unbeteiligten Zuschauer bestanden, der sie einige Stunden früher (oder später) angeschaut hätte? Diese Frage ist allerdings nur dann berechtigt, wenn man dem Irrtum unterliegt, die Serie ginge davon aus, dass es auf der einen Seite das reale Leben von Joan, Krish usw. und auf der anderen Seite den Handlungsverlauf der Serie gebe, der jene Realität – wenn auch leicht verändert – wiedergibt. Das ist aber genau nicht der Fall! Die Lebensrealität und die Serienrealität sind ineinander verflochten. Dies ist der Ausgangspunkt, zugleich aber auch das Zentrum der Meditation über die Realität in „Joan Is Awful“. Unsere Realitätswahrnehmung und der bildhafte Charakter derselben kontaminieren sich gegenseitig. 14 Diese Auffassung der Realität erinnert stark an Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings Charakterisierung der Erscheinungshaftigkeit der Dinge, so wie er sie in seiner reifen Naturphilosophie darstellt: „Das Phänomen der Dinge lässt sich beschreiben als beruhend auf einem Doppelbild. Das reine Compositum, oder die Relation für sich, wäre als ein bloßes Ens imaginationis ohne alle Realität, und könnte nicht gesehen werden ohne das Positive, das in ihm widerleuchtet. Mit dem Positiven der durchleuchtenden Idea verbunden erzeugt es aber ein Doppelbild; wir sehen die Position mit dem, was an sich nichts ist, dem bloßen Compositum, zugleich; also eine Mischung von Realität und Nichtrealität, ein wahres Scheinbild […]“, F.W.J. Schelling, Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie (1806), in: ders., Ausgewählte Schriften, Band 3, Frankfurt am Main, stw, 1985, S. 661. Das erscheinende Ding ist ein scheinbildhaftes Doppelbild, das durch die

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Eine solche These scheint zunächst verwunderlich. Ist es nicht abwegig und kontraintuitiv, dem Virtuellen und Imaginären eine konstitutive Funktion für die Realität zuzusprechen, wenn diese sich doch nur an den ‚realen Fakten‘ bewähren sollte? „Joan Is Awful“ liefert aber in der Tat zwei Anhaltspunkte dafür, was jener Verflechtungsstruktur von ‚wahr Genommenem‘ und ‚Einbildungshaftem‘ zugrunde liegt. Der eine ist ein Hinweis ‚von außen‘, der andere stützt sich auf das ‚innere‘ Gefühl sowie auf dessen realitätsstiftende Funktion. Was die innere Erfahrung angeht, die ein Gespür dafür zu geben scheint, dass sich ‚hinter‘ der erscheinenden Realität eine andere Wirklichkeit verbirgt, so steht für diese Innenperspektive der Eindruck, nicht die „Hauptperson in seiner eigenen Lebensgeschichte“ bzw. wie ein „Roboter“, kein eigentliches Individuum, kein ‚singuläres Ich‘ zu sein. Wenn man darüber hinaus das Gefühl hat, sein Leben „nicht aktiv gewählt“ zu haben, sozusagen auf „Auto-Pilot“ geschaltet zu sein, könnte das ein Anzeichen für einen hinter allem stehenden äußeren Entscheider sein. Und genau der liegt hier auch in Form eines ‚Quantencomputers‘ vor! Dass der Mensch nicht nur nicht aus freier Willkür handelt, sondern sogar in seinem Denken getäuscht werden kann, ist ein bekanntes philosophisches Motiv, das mindestens bis auf den „genius malignus“ bei René Descartes zurückreicht. Der französische Philosoph der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts hatte die Hypothese aufgestellt, dass hinter allen unseren Gedanken, Gefühlen, Handlungsmotiven etc. womöglich ein Täuschergott – ein „böses Genie“ oder ein „böser Geist“ – steht, der uns lediglich vorgaukelt, dass wir etwas wissen, denken oder wollen. Man kann mit einer solchen Annahme verschieden umgehen. Aus Mischung von Realität und Nichtrealität, von „Position“ und „Compositum“ – in „Joan Is Awful“: von Quellrealität und Bildhaftigkeit – gekennzeichnet ist.

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der Zurückweisung der Möglichkeit eines freien Willens kann folgen, dass alles – wie etwa bei Baruch Spinoza – Teil einer absoluten Naturnotwendigkeit ist. Man kann aber auch eine übergeordnete Instanz oder Kraft als Quelle allen Denkens, Wollens und Seins annehmen. Das legt das berühmte ‚Gehirn-im-Tank‘-Szenario nahe, das 1973 von Gilbert Harman entwickelt und 1981 von Hilary Putnam weiter ausbuchstabiert und zu widerlegen versucht wurde. Man stelle sich vor, es wäre möglich, die elektromagnetischen Prozesse, die während unseres gewöhnlichen Umgangs mit der Welt im Gehirn ablaufen, zu dekodieren und zu reproduzieren. Man stelle sich ferner vor, man würde ein gesundes Menschenhirn in einen Tank platzieren und dabei für alle seine lebenserhaltenden Maßnahmen sorgen. Man nehme schließlich an, das Gehirn würde über geeignete Verbindungen genau die elektrischen Impulse erhalten, die auch im normalen Leben seine Empfindungen, Wahrnehmungen, Denkakte usw. begleiten. Dann stellen sich folgende Fragen: ‚Weiß‘ das Gehirn, dass es bloß ein Gehirn im Tank ist, oder wird es tatsächlich annehmen, Wahrnehmungen von real Existierendem zu haben? Und wie kann ich sicher sein, dass ich nicht selbst ein Gehirn im Tank bin, das von einer höheren Kraft manipuliert wird? Black Mirror nimmt sich dieser Thematik – nach „Welt am Draht“ – im Kontext unseres technisch hoch entwickelten Zeitalters neu an. In „Joan Is Awful“ hat der „genius malignus“ seine, dem digitalen Zeitalter konforme Entsprechung – nämlich in der Gestalt des Quantencomputers, „Quomputer“ genannt. Diese Parallelisierung ist schon deshalb plausibel, weil der „Quomputer“ zum einen auf eine Weise, die gleich näher erklärt wird, weltschöpferisch ist, zum anderen aber auch diese Welt verfälscht. Er ist nicht nur ein Täuschergott, sondern auch ‚böse‘ (Salma Hayek vergleicht ihn von Zorn erfüllt mit einer Hure, „Quom-puta“): Die liebe, etwas einfältige Joan wird in der „Streamberry“-Serie zu einer

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„schrecklichen“ Person – gleiches trifft auch auf die anderen Darsteller zu. Das liegt in Wahrheit aber nicht an der intrinsischen Malignität des Computers. Die Begründung wird von der „Streamberry“-Verantwortlichen Mona Javadi geliefert. Zunächst erklärt sie das allgemeine Prinzip. „Streamberry“ wendet sich an jede einzelne Person. Der „Quomputer“ erzeugt im Auftrag des Unternehmens endlos unendlich viele Inhalte: für jedes Individuum eine einzelne Serie, die sein gesamtes Leben umfasst. Diese Zentrierung auf Singularität hat, wie bereits angemerkt wurde, eine wesentliche realitätsbildende Bedeutung. Das beschränkt sich darüber hinaus nicht auf unsere Welt, sondern umfasst auch „ganze Multiversen“. Der „Quomputer“ ist der Erzeuger der gesamten Realität und aller Realität in der Realität. Da es darum geht, „gute Quoten zu bringen“, ist es notwendig, die einzelnen Zuschauer*innen in den Bann der jeweils auf sie bezogenen Serie zu ziehen, worin sich übrigens ein narzisstisches Moment offenbart. Mit positiven oder neutralen Inhalten gelingt das aber nicht. Deswegen ist der „Quomputer“ nicht per se ‚böse‘: Er handelt vielmehr – auf Geheiß der Serienmacher*innen – in Entsprechung zum generellen „neurotischen Selbstbild“ des Menschen. Die verbildlichende Realität jeder/jedes Einzelnen beruht demnach selbst auf einem Bild! Die Serie muss die Betrachterin ansprechen, sie muss den Narzissmus der Protagonistin berühren. Und jenes Selbstbild ist „neurotisch“, das heißt, laut der Erklärung Mona Javadis, es ist erfüllt von Ängsten, für die der „Quomputer“ selbstbezogene, schwache und feige Momente jeder einzelnen Person ermittelt, die ihre Ängste dann bestätigen – und auch dieser auf Affektivität und Fühlen bezogene Aspekt hat eine realitätsbildende Relevanz. Deswegen ist jede Serie mit „X ist schrecklich“ betitelt. Und aus diesem Grunde ist der „Quomputer“ in der Tat die digitale Version des „genius malignus“. Der „Quomputer“ führt zunächst die ihm zugänglichen Daten der ausgewählten Testperson und seine eigenen (Nach-)

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Konstruktionen so zusammen, dass dadurch eine zusammenhängende Serienepisode entsteht. Auf diese Weise wirkt er auf die Serienrealität ein, also auf das, was in der Serie auf der Grundlage der Lebensdaten der Serienhauptdarstellerin verfügbar ist und darin sichtbar gemacht wird. Diese Realitätsebene wird, so erklärt dies der für den Quantencomputer zuständige Ingenieur Beppe, als „fiktive Ebene 1“ bezeichnet. Entscheidend dabei ist, dass die Serienhauptdarstellerin auf dieser „fiktiven Ebene 1“ die codierte Synthese einer realen Person auf einer anderen Realitätsebene (dazu gleich mehr) einerseits und der realen Schauspielerin Annie Murphy, die „Joan“ in der Serie auf der „fiktiven Ebene 1“ verkörpert, andererseits ist. Exakt dasselbe gilt auch für alle anderen Personen der Serie: Michael Cera spielt Beppe, Salma Hayek sich selbst, Rob Delaney verkörpert Mac usw. Auf der „fiktiven Ebene 1“ werden also unsere Realität, in der die Schauspielerinnen Annie Murphy, Salma Hayek und wir alle vorkommen, und die „Quellrealität“ der Haupthandlung von „Joan Is Awful“ ineinander verflochten. Dabei erweist sich, dass diese Haupthandlung auch für die Protagonistinnen in ihr selbst in Wirklichkeit nicht real ist – daher die Rede von einer „fiktiven“ Ebene, die vom „Quomputer“ erzeugt wird. Die Personen, welche die „Streamberry“-Serie in „Joan Is Awful“ sehen, sind nicht nur für uns als Fernsehzuschauer*innen, sondern auch für die Darsteller*innen selbst nicht real (zumindest nicht im Sinne eines naiven Realismus) – wessen sie sich allerdings nicht bewusst sind. Ihre Realität verdankt sich, wie gesagt, dem „Quomputer“. Dabei gehen in jede Person drei Charaktere ein: die Quellperson, die zunächst weder in „Joan Is Awful“ noch in der „Streamberry“-Serie sichtbar ist (P1); die Schauspielerin, die in „Joan Is Awful“ die Rolle der Quellperson spielt (P2); die Schauspielerin, die ihr Bild zur Verfügung stellt und in der

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„Streamberry“-Serie zu sehen ist (P3). 15 Was ist nun aber unter „Quellrealität“ und „fiktiver Ebene 2“ etc. zu verstehen? Die „Quellrealität“ ist die Realität, von der her der „Quomputer“ die Realität der „fiktiven Ebene 1“ erzeugt. Sie ist die Realität, die übrigbleibt bzw. zugrunde liegt, wenn man von der Codierung durch den „Quomputer“ abstrahiert. Die „fiktive Ebene 2“ ist die Realitätsebene der „Streamberry“-Fernsehserie, in der Cate Blanchett das Bild für die Joan in der Serie abgegeben hat. Die Realität der „Streamberry“-Serie, die „fiktive Ebene 2“, in der ihrerseits eine „fiktive Ebene 3“ enthalten ist usw., ist für uns nicht weiter von Belang. Bedeutsam ist dagegen das Verhältnis der „fiktiven Ebene 1“, welche die Zuschauer*innen wie die Protagonist*innen die ganze Episode über für die wahre Realität gehalten haben, zur „Quellrealität“. Wie der „Quomputer“ die virtuellen Realitäten hervorbringt, ist den Serien-Macher*innen unbekannt, es „ist im Grunde Magie“. Das trifft insbesondere auf die Verflochtenheit von Realität und Virtualität zu. Bei der Zerstörung des digitalen Demiurgen sterben all die Milliarden Seelen, die für real gehalten wurden. Und alle Seriencharaktere werden zu den Personen, die ihnen jeweils zugrunde lagen. Die von Annie Murphy gespielte Joan wird zur von Kayla Lorette gespielten „Quell-Joan“ und so für alle anderen Charaktere – mit einer Ausnahme: Salma Hayek wird zu Annie Murphy. Wie ist das zu interpretieren? Für jede auf eine bestimmte Person fokussierte „Streamberry“-Serie gilt: Die Quellperson (P1) der Schauspielerin, die für die Darstellung der bestimmten Person ihr Bild zur Verfügung gestellt hat (P3), ist die Schauspielerin (P2), die in der „fiktiven Ebene 1“ die Rolle der bestimmten Person spielt. Anders ausgedrückt haben wir zwei Serien: Die Netflix-Serie „Joan Is Awful“ und die „Streamberry“-Serie gleichen Namens. In beiden gibt es eine Hauptdarstellerin, die jeweils eine In der Episode stehen Kayla Lorette für P1, Annie Murphy für P2 und Salma Hayek für P3.

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Quellperson hat. Die nicht-sichtbare Quellperson der Protagonistin der „Streamberry“-Serie – sichtbar ist lediglich das Bild der Schauspielerin, die für die Protagonistin der „Streamberry“-Serie steht – ist die sichtbare Protagonistin der Netflix-Serie, deren Quellperson ihrerseits unsichtbar ist. Was ist nun aber ‚Realität‘? Spontan würde man sagen: Natürlich kann nur die ‚Quellrealität‘ als ‚wirkliche‘ Realität angesehen werden – zumal jede ‚virtuelle Realität‘ den „Quomputer“ zur Voraussetzung hat. Der Grundgedanke, den „Joan Is Awful“ aber vermitteln möchte, besteht darin, dass vielmehr die „fiktive Ebene 1“ die Realität ist. Für sie gilt: Jedes Ich wird von einem Darsteller/einer Darstellerin ‚gespielt‘ – es ist also in gewissem Sinne von vornherein fiktiv. Darüber hinaus hat jedes Ich zwei „Quell-Iche“ – eine Person X sowie den Schauspieler/die Schauspielerin, der/die dieses Ich verkörpert. Jedes Ich ist schließlich codierte, synthetisierte Einheit dieser beiden Quell-Iche und des Bildes eines dritten Ich, das durch die Figur einer realen, bekannten Schauspielerin einen sichtbaren, gleichwohl nur scheinhaften Rahmen erhält. Diese Codierung wird von einem digitalen „genius malignus“ geleistet, der dafür jenes bildhaften Scheins nicht weniger als der beiden ‚Quell-Iche‘ bedarf. Und da das Ganze in einer Serie stattfindet, die wir tatsächlich schauen, stellt sich die Frage, ob wir nicht selbst wiederum Akteurinnen und Akteure einer Serie sind –damit wäre die Grundfragestellung des Fassbinder-Werks Welt am Draht bzw. des ‚Gehirnim-Tank‘-Szenarios an uns selbst gerichtet. Soviel zur Übersicht über die Handlung und als ein erster Versuch, den philosophischen Gehalt dieser Episode, der in diesem Essay aufmerksam betrachtet werden soll, zu fassen. Das wird nun mittels der ‚phänomenologischen Methode‘ weiter vertieft.

„Joan Is Awful“ aus phänomenologischer Sicht Die phänomenologische Methode Die im 20. Jahrhundert begründete Phänomenologie nimmt ihren Ausgang in einem Paradox. Das gereicht ihr zur Ehre, denn, wie der zeitgenössische Phänomenologe Jean-Luc Marion zu Recht bemerkt hat, „wenn die Philosophie sich nicht für Paradoxa interessiert, dann ist […] sie nicht eine Stunde Mühe wert“. 16 Dieser paradoxe Ausgangspunkt ist selten erkannt und analysiert worden. Er ist das immer aktuelle Potenzial der Phänomenologie. Worin besteht das Paradox? Die Phänomenologie entwickelt eine philosophische Methode, 17 die sich zur Aufgabe macht, den Sinn dessen zu klären, was uns je erscheint („phainomenon“ [altgr.] = Erscheinendes, Erscheinung). Dabei wird von dem Gedanken ausgegangen, dass ‚Erscheinung‘ nicht bloßer ‚Schein‘, aber auch nicht ein ‚an sich‘ bestehendes Ding ist – sondern eben das Ding, sofern es erscheint bzw. sofern es einem möglichen Bewusstsein bewusst wird. Die ‚Erscheinung‘ – Husserl spricht von „Bewusstseinserscheinung“ bzw. „Bewusstseinserlebnis“ – hält sich in einem eigentümlichen ‚Zwischen‘ zwischen ‚Objekt‘ und ‚Subjekt‘, das kein ‚real Existierendes‘ ist, sondern das Verhältnis von ‚Realität‘ und ‚Virtualität‘ bzw. ‚Transzendentalität‘ auf eine völlig neue Ebene hebt. Das wird nicht dadurch widerlegt, dass man die eigentümliche Gegebenheit dieser Erscheinungen und Erlebnisse einfach abstreitet, was zumeist auf der irrigen Voraussetzung beruht, Bewusstsein sei J.-L. Marion, La rigueur des choses, Paris, Flammarion, 2012, S. 162. Vgl. v. Vf., Was ist Phänomenologie?, Frankfurt am Main, Klostermann, „Rote Reihe“, 2019.

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objektiv existierender und quantitativ messbarer ‚Geist‘. 18 Alles – d. h. nicht nur ‚Dinge‘ oder ‚Sachen‘ – kann potentiell erscheinen, potentiell ‚Gegenstand‘ eines Bewusstseins sein oder werden. Dabei ist aber die Art und Weise, wie (uns) das Wirkliche erscheint, nicht selbst etwas im platten Sinne Wirkliches. Das besagte Paradox besteht darin, dass zum einen die Erscheinungen und Erlebnisse nicht die Dinge sind, sondern das bewusstseinsmäßige Erleben der Dinge, zum anderen aber die Phänomenologie sich nicht auf mein konkretes Erleben hier und jetzt fokussiert, sondern auf das ‚Erleben überhaupt‘, d. h. auf seine allgemeine Struktur, die das individuelle Erleben kennzeichnet und bestimmt – so wie bei einer geometrischen Beweisführung nicht von den Eigenschaften des an die Tafel gezeichneten Dreiecks die Rede ist, sondern vom ‚Dreieck überhaupt‘. Dass jene neue Ebene für das Verständnis von ‚Realität‘ maßgeblich ist, wird in „Joan Is Awful“ mittels des Bezugs von „fiktiver Ebene 1“ auf die der sichtbaren Ebene zugrunde liegende, unsichtbare „Quellrealität“ angezeigt. Das ist ein erster wichtiger Punkt, der die phänomenologische Relevanz dieser Folge bezeugt. Noch einmal anders formuliert: Jegliche Sinnklärung vollzieht sich nach dem Dafürhalten der Phänomenologie auf der Grundlage der Bewusstseins‚erlebnisse‘. Es geht nicht um logische, sprachliche, grammatische Analysen unseres Weltbezugs, sondern darum, in die Sinnbildungsprozesse, die unser Verhältnis zur Welt und ihren Gegenständen bestimmen, so ‚einzutauchen‘, so darin sich ‚einzuleben‘, dass das ‚bewusste‘ Leben und Erleben gleichsam als ‚Element‘ für jeden sachlichen Gegenstandsbezug fungiert – so wie man sagt, im Wasser ist der Fisch ‚in seinem Element‘. Die Phänomenologie geht also nicht auf den ‚Gegen-stand‘ als das uns ‚gegenüber Stehende‘, sondern sie nistet sich gleichsam in das Bewusst-Haben und das Bewusstsein-Sein – das ‚Erlebnis‘ – alles 18

M. Gabriel, Fiktionen, Berlin, Suhrkamp, 2020, S. 315.

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‚entgegen Stehenden‘ ein, wobei aber diese ‚Bewusstheit‘ nichts Psychologisches an sich hat, sondern in „transzendentaler Erfahrung“ als allgemeines ‚Wesen‘ betrachtet wird. Um diesen philosophischen Grundansatz von einem ‚psychologischen‘ oder gar ‚psychologisierenden‘ zu unterscheiden, ist es geboten, die phänomenologische Methode anzuwenden. Wenn das missachtet wird, kann es dazu führen, die phänomenologische Deskription mit einer trivialen empirischen Beschreibung dessen zu verwechseln, was vorliegt oder uns widerfährt. Jedenfalls kann die Bedeutung dieser in der Phänomenologie geleisteten Aufwertung von Bewusstsein und Bewusstseinserlebnis, sofern dessen allgemeine Struktur zum Thema gemacht wird, nicht hoch genug geschätzt werden. Die phänomenologische Methode besteht vor allem in vier Punkten: 1.) Grundlegender Ausgangspunkt der Phänomenologie ist, dass es dem heutigen – nach-modernen – Theorieverständnis gemäß unmöglich geworden ist, die Welt aus einem quasi-göttlichen Gesichtspunkt ‚von oben‘ in ihrem eigenständigen, autonomen ‚An-sich-Sein‘ zu betrachten. Die Welt lässt sich nicht als objektives, eigenständiges Ganzes auffassen. Sie schreibt sich vielmehr in einen Bezugszusammenhang ein, dessen Kern in der ‚Subjekt-ObjektKorrelation‘ besteht. Welt ist intrinsisch beobachterabhängig. Dabei prägt die Beobachterin der Welt aber nicht ihre empirische Sichtweise auf. Es handelt sich bei dieser Dependenz nicht um eine Standpunktabhängigkeit. Von einem subjektiv-individuellen ‚Standpunkt‘ kann nur die Rede sein, wenn bereits eine vorgängige ‚Realität‘ aufgebrochen und sichtbar geworden ist. Die phänomenologische Grundthese lautet, dass die ‚objektive Realität‘ auf einer vorempirischen Ebene ‚subjektiv‘ konstituiert wird, dass jedes Bewusstsein Bewusstsein von etwas und umgekehrt jeder Gegenstand auf ein Bewusstsein von ihm rückbezogen ist. Subjektivität im Sinne einer subjektiven ‚Dimension‘ geht konstitutiv in

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die objektive Verfasstheit des Gegenstandes ein. Das so in seiner Bedeutung hervorgehobene Bewusstsein fußt dabei auf einer ‚Vor-bewusstheit‘, da diese ‚subjektive‘ konstitutive ‚Dimension‘ nicht unmittelbar sichtbar ist, sondern durch die phänomenologische Methode erst zum ‚Vor-schein‘ gebracht werden muss. Black Mirror trägt Bedeutsames zu diesem ‚Zum-Vorschein-Bringen‘ bei – freilich in einem besonderen Rahmen, den es noch zu verdeutlichen gilt. Eine phänomenologische Dimension der Serie ist jedenfalls erkennbar. 2.) Damit die Rolle und Wohlgegründetheit jener ‚Subjekt-Objekt-Korrelation‘ angemessen beschrieben und analysiert werden kann, ist es notwendig, die Aufmerksamkeit auf eine andere als die empirische Ebene unserer Bewusstseinserlebnisse zu richten. Dass eine solche andere Ebene beansprucht werden kann, hatte bereits Kant aufgezeigt. Seit der Kritik der reinen Vernunft wird dafür der Ausdruck „transzendental“ gebraucht, Husserl hat ihn übernommen. Wie das aber genau geschehen kann, soll durch die phänomenologische Methode beantwortet werden. Wir gehen in der „natürlichen Einstellung“, die ganz der Empirie verhaftet ist, selbstverständlich davon aus, dass die Welt existiert und dass sie nicht besonderer subjektiver Konstitutionsleistungen bedarf, um zu sein. Das Sein wird der Welt von je her ohne Weiteres zugesprochen. Dieses massive Sein der Welt steht nun aber dem ‚korrelationistischen‘ Ansatz der Phänomenologie schroff entgegen. Zu sagen, die Welt sei „an sich“, spricht in Wirklichkeit ein nicht ausgewiesenes metaphysisches Vorurteil aus. Was lässt sich denn über die Welt, sofern sie in einer absoluten Subjektunabhängigkeit bestehen soll, behaupten? Dass die Welt „an sich“ sein soll, ist nicht weniger eine metaphysische Hypothese, als die Zurückführung der Welt auf einen „Demiurgen“ (Platon, Gnostizismus), auf einen Schöpfergott (Judentum, Christentum, Islam, Sikh-Religion), auf einen ‚Urknall‘ (moderne Physik) etc.

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Will Philosophie nicht auf der Stufe einer dieser Voraussetzungen stehenbleiben, will sie radikal sein, so muss sie dem Gebot der metaphysischen Voraussetzungslosigkeit entsprechen. Genau das strebt die Phänomenologie an. Um diesem Gebot zu genügen, setzt sie – und das ist der entscheidende methodologische Aspekt – jegliche Stellungnahme zum Sein der Welt „in Klammern“, „schaltet es aus“, lässt es „in der Schwebe“. Dadurch eröffnet sich eine „neue Welt“, wie Husserl sagt, die eben in der besagten vor-empirischen „transzendentalen“ Sphäre oder – in den Worten Richirs – in der „Virtualität“ besteht. Diese hat, wie schon gesagt, eine allgemeine – Husserl sagt: „eidetische“ – Struktur, wodurch sich die phänomenologischen Bewusstseinsbeschreibungen von jeglicher Form von Psychologismus unterscheiden. 3.) Das wirft zunächst mehr Fragen auf, als es Antworten liefert. Was legitimiert die Annahme einer vor-empirischen, „transzendentalen“, „virtuellen“ Sphäre? Inwiefern ist sie mehr als ein bloßes Gedankengebilde – und führt nicht wiederum auf eine metaphysische Voraussetzung zurück? Und in welchem Verhältnis steht sie zur menschlichen Erfahrung? Die „neue Welt“ der vor-empirischen, vor-bewussten Sphäre, wenn man den üblichen Sinn von ‚Bewusstsein‘ ansetzt, erschließt die konstitutive subjektive Komponente der Realitätsbildung. Der Rückgang auf die transzendentale Sphäre ist notwendig, um Sinn und Bedeutung des Erscheinenden aufzuklären. Die empirische Sphäre ruht dabei konstitutiv auf der transzendentalen, die mittels der phänomenologischen Methode eröffnet und durchforscht wird. Das nicht nur seit Aufkommen der Transzendentalphilosophie bei Kant und dann im weiteren Verlauf in der Phänomenologie, sondern bereits in der Ideenlehre Platons grundlegende Problem, wie der Zusammenhang von transzendentaler und empirischer Sphäre, der Zusammenhang der Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung mit Erfahrung selbst, aufgefasst werden kann und

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muss, findet in der Tat im Begriff der ‚Virtualität‘ wenn nicht eine mögliche Antwort, so doch zumindest eine bemerkenswerte Veranschaulichung – das weist bereits auf den spezifischen Rahmen von Black Mirror voraus. Das besagte Problem bestand ja darin, aufzuklären, wie die Transzendentalität in die Empirizität überführt werden kann, ohne ihren transzendentalen Status zu verlieren, und wie umgekehrt die Empirizität als Empirizität durch Transzendentalität begründet werden kann. Die ‚Virtualität‘ stellt – jedoch auf nur ‚analoge‘ Weise – diese Brücke her. Damit wird weder die empirische Sphäre lediglich erweitert noch die transzendentale Sphäre aufgegeben. In der ‚Virtualität‘ sind Transzendentalität und Empirizität ineinander verschränkt und scheinen dabei in ihrer Sinn und Sein genetisierenden – und damit ‚generativen‘ – Dimension auf. Dieser Begriff des „Aufscheinens“ operiert behutsam; die besagte ‚Analogie‘ von ‚Transzendentalität‘ und ‚Virtualität‘ kann nicht zu einer uneingeschränkten Gleichsetzung beider führen. Black Mirror bleibt für den transzendental-phänomenologischen Ansatz eine hilfreiche Illustration, die aber die Grenzen einer solchen Analogie nicht überschreitet. 19 4.) Zu diesen drei Punkten – der ‚Korrelativität‘, d. h. der subjektiven Konstituiertheit von Objektivität; der Ausschaltung der Seinssetzung und damit zusammenhängend der Eröffnung der ‚neuen Welt‘ der transzendentalen Sphäre; der ‚Virtualität‘ als ‚generative‘, ursprünglich sinnbildende Dimension – tritt noch ein vierter hinzu, der die Rolle von ‚Bildhaftigkeit‘ und ‚Phantasie‘ betreffen und den dritten Punkt noch weiter verdeutlichen wird. Auch hier erweist sich eine besondere Nähe von Black Mirror zur Phänomenologie. Phänomenologische „Deskription“ besteht nicht in einem Drauflos-Beschreiben. Zwar galt für Husserl die In gewisser Weise trifft das, was Husserl zum Verhältnis von „transzendentaler Psychologie“ und „transzendentaler Phänomenologie“ sagt, auch [aufgrund der Einbeziehung der „Technik“] auf jenes von ‚Virtualität‘ und ‚Transzendentalität‘ zu.

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Wahrnehmung als Maßstab, um dem Erscheinenden sachlich zu seinem Recht zu verhelfen. Aber bereits die angemessene Fassung der allgemeinen („eidetischen“) Wesensstrukturen des Seienden rief nach „Phantasie“ und „Einbildungskraft“. Dadurch erhielt die „Fiktion“ in unserem Bezug zur Realität eine hervorgehobene Rolle. Die „Fiktion“ sei „das Lebenselement der Phänomenologie“, schrieb Husserl. Die Thematik von ‚Bild‘ und ‚Einbildung‘ wurde in den jüngeren phänomenologischen Forschungen dann noch stärker in den Vordergrund gerückt, was mit einer erneuten Thematisierung von Erscheinung und Phänomen zusammenhängt. Der entscheidende Punkt ist jedenfalls, dass die Phantasie nicht als ungezügeltes freies Denken angesehen wird, das zur Realität in Kontrast steht, sondern ein realitätskonstitutives Vermögen ist. Das rechtfertigt einmal mehr den Rückgriff auf die ‚Virtualität‘. 20 * Die phänomenologische Interpretation von „Joan Is Awful“ zielt auf vier grundlegende Begriffe ab, die mit den erwähnten phänomenologischen Methodenwerkzeugen zusammenhängen, aber nicht gänzlich mit ihnen zusammenfallen. Es geht, näher betrachtet, um die Realität samt ihrer unterschiedlichen Ebenen, den „genius malignus“, das Bild sowie das Ich. Die Behandlung des ‚Ich‘Begriffs wird über „Joan Is Awful“ hinausgehen und auch einen Teil der Episode „Black Museum“ miteinbeziehen.

Zur „Mischung“ von Realität und Fiktion, welche Mischung sich bei Richir ausdrücklich als „perzeptive Phantasie“ darstellt, siehe ders.: Phantasia, imagination, affectivité, Grenoble, J. Millon, 2004, S. 497ff.

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Realitätsebenen Einer der in „Joan Is Awful“ thematisierten Hauptaspekte betrifft die Frage, wie die Unterscheidung zwischen „fiktiver Ebene“ und „Quellebene“ zu verstehen und einzuordnen ist. Dabei geht es insbesondere darum, herauszubekommen, worin die ‚wahre‘ Realität besteht. Die Phänomenologie leistet Hilfestellung zur Beantwortung dieser Frage. Ein wesentlicher Gedanke der phänomenologisch erweiterten und ausgelegten Transzendentalphilosophie ist, dass die Aufklärung von Sinn und Bedeutung unserer Erfahrungsrealität den Bezug auf eine die Erfahrung in gewisser Weise übersteigende ‚Realität‘ erfordert und impliziert. Damit ist keine göttliche Transzendenz gemeint – diese ‚Transzendenz‘ wird sich vielmehr gerade als ‚Virtualität‘ erweisen. Wie ist diese ‚Erfahrungstranszendenz‘ aufzufassen und wie kann sie gerechtfertigt werden? Dies lässt sich anhand zweier Beispiele veranschaulichen. Vor mir steht eine Tasse. Ich nehme sie deutlich wahr. Aber was wird tatsächlich wahrgenommen? Die mir zugewandte Vorderseite der Tasse. Ihre Rückseite nehme ich nicht wahr. Gleichwohl – und das ist ein weiteres Paradox – sage ich aus voller Überzeugung, dass ich ‚die‘ Tasse wahrnehme. Die Phänomenologie wendet sich dieser Differenz von einseitiger – sogenannter – „Abschattungswahrnehmung“ und der Sachlage zu, dass es sich dabei sehr wohl um eine ‚ganze‘ wahrgenommene Tasse handelt. Dieses ‚Mehr‘, diese ‚Überschüssigkeit‘, ist explizit Thema und weist darauf hin, dass in der Wahrnehmung unserer Umwelt immer ‚mehr‘ im Spiel ist als in der konkreten sinnlichen Erfahrung. Realistische Fehlinterpretationen 21 dieses Sachverhalts behaupten, nicht nur ‚die‘ Tasse, sondern bereits die ‚Abschattungswahrnehmung‘ sei ein Ding. Es ist aber genau umgekehrt, von an sich seienden Dingen ist hier nirgends die Rede: Von transzendenten Gegenständen 21

Siehe hierzu exemplarisch M. Gabriel, Fiktionen, op. cit., S. 301ff.

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sind immer nur Abschattungen gegeben, und ‚der‘ Gegenstand oder ‚das‘ Ding selbst ist nicht gegeben, sondern nur ‚vermeint‘. Die Erklärung, wie es dennoch zum Bewusstsein identischer Gegenstände kommen kann, verlangt nach dem Rückgriff auf ‚Transzendentalität‘ (bzw. ‚Virtualität‘). Ähnliches gilt auch für ein zweites Beispiel. Wohl jede Person, die am 11. September 2001 alt genug war, erinnert sich an diesen Tag und kann sagen, was sie zum Zeitpunkt des Terroranschlags auf das World Trade Center in New York getan hat. Kaum jemand aber wird in der Lage sein, lückenlos nachzukonstruieren, was sie oder er in den drei Tagen zuvor gemacht hat. Und dennoch ist klar, dass eine kontinuierliche Zeitdauer diese drei Tage durchzogen hat und wir alle mit etwas beschäftigt waren. Wir haben Erfahrungen und Erinnerungen von einer ‚löchrigen‘ Zeit, wissen aber, dass der Zeitverlauf davor und danach kontinuierlich war. Auch hier besteht eine ‚Überschüssigkeit‘ (von etwas anderer Art als im ersten Beispiel) gegenüber dem Erfahrenen bzw. dem möglichen wieder zu Erfahrenden. ‚Überschüssigkeit‘ heißt immer: ein Hinausgehen über das schlicht ‚von außen‘ Gegebene. In diesem Fall interessiert sich die Phänomenologie für den Unterschied zwischen der vermeintlichen (kontinuierlichen) ‚Objektivität‘, die sich praktisch nicht herstellen lässt, aber auf tatsächlich gegebene Zeitlichkeit verweist, und meinem konkreten Erleben und Bewusstsein von Zeit, das durch Brüche und Lückenhaftigkeit gekennzeichnet ist. Dabei geht es um deutlich mehr als um bloße Gedächtnislücken oder ein sonstiges Unvermögen des menschlichen Geistes, sich den kompletten erlebten Zeitverlauf jedes Mal wieder in Erinnerung zu rufen. Denn ein ununterbrochenes ausgedehntes Erleben von zeitlicher Kontinuität gibt es offenbar nicht – man denke an den Schlaf –, so wie es offenbar auch keine reine Gleichzeitigkeit gibt. Dass uns die gemessene Zeit eine andere Realität vorgaukelt, widerlegt das nicht, sondern wirft vielmehr die Frage auf, wie man überhaupt dazu gekommen ist, zeitliche

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Kontinuität anzunehmen. Die einmal abgeschlossene Lebenszeit ist dazu kein hinreichender Grund, da auch das Leben bruchhaft und fragmentarisch ist – Ganzheit ist schließlich nicht mit Lückenlosigkeit gleichzusetzen. Auf diese Betrachtung der Zeit und ihre Thematisierung in Black Mirror wird später ausführlicher einzugehen sein. In diesen beiden Beispielen eröffnet sich ein Feld spezifischer Erfahrung, das sich mit den Mitteln der sinnlichen Erfahrung des rein sich Gebenden nicht erschöpfend bestimmen lässt. Aus verschiedenen Gründen, die eigene phänomenologische Forschungen erfordern, eröffnet der Sinn unserer Erfahrungen der Welt und ihrer erscheinenden Gegenstände ein Feld sogenannter „transzendentaler Erfahrung“, die in der Phänomenologie mit der sinnkonstituierenden, sinnstiftenden und sinnbildenden „transzendentalen Subjektivität“ gleichgesetzt wird. Damit wird nicht gesagt, dass Bewusstsein und Ich die erscheinende Welt ‚schaffen‘ oder ‚produzieren‘. Es wird vielmehr behauptet, dass, damit überhaupt ‚Sinn‘ in die Welt kommen kann, ein anderes Realitätsniveau angenommen werden muss als jenes der gegebenen, vermeintlich selbständigen und selbstgenügsamen Gegenstände einer an sich seienden Welt. Das heißt aber nicht, wie es die abendländische philosophische Tradition lange Zeit angenommen hatte, dass eine ‚wahre‘ Welt (hier: die transzendentale, „neue“ Welt) einer ‚Scheinwelt‘ (der des sinnlich Gegebenen) gegenüberstünde. „Transzendentale“ und „natürliche“ ‚Sphäre‘ sind verflochten und tragen beide zur Erfahrung von weltlich Seiendem und dessen Sinn bei. Ganz ähnlich geht es in „Joan Is Awful“ zu, wenn auf den Unterschied – insbesondere jedoch auf die Verflochtenheit – von „Quellrealität“ und „fiktiver“ Realitätsebene hingewiesen wird. Dabei wird aber auf die soeben erläuterte, von der Phänomenologie eingeführte Unterscheidung nicht eins zu eins zurückgegriffen. Gerade die, teilweise sehr feinen, Unterschiede zwischen dem

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phänomenologischen Ansatz und „Joan Is Awful“ bezüglich der Unterscheidung der Realitätsebenen sind hier von Interesse. Die Phänomenologie legt dar, dass die Realität, wie sie uns durch die Sinne gegeben ist, in Hinblick auf ihre Sinnaufklärung einer anderen Ebene – nämlich der sinnverleihenden „transzendentalen Subjektivität“ – bedarf. Das unmittelbar Erscheinende ist nicht erschöpft, wenn man sich bloß darauf beschränkt. In „Joan Is Awful“ wird auf eine ganz ähnliche Art deutlich, dass die erscheinende Realität nicht die ganze Realität ist, sondern erst einmal eine „fiktive Ebene“ ausmacht. Die erscheinende Realität der „fiktiven Ebene 1“ bedarf der „Quellrealität“ – ohne diese kann der „Quomputer“ jene nicht produzieren. Ebenso besteht für die Phänomenologie die genuine Sinn‚quelle‘ des in der „natürlichen Einstellung“ Gegebenen in den Konstitutionsleistungen der „transzendentalen Subjektivität“ diesseits des in dieser natürlichen Einstellung Zugänglichen. Dem entspricht die Parallelität der für die Phänomenologie maßgeblichen Spannung zwischen „Objektivität“ und „Transzendentalität“ und dem Verhältnis in „Joan Is Awful“ von sichtbarer (aber ‚fiktiver‘!) Ebene und unsichtbarer (virtueller und trotzdem in einem gewissen Sinne „realer“!) Quellebene. Das setzt allerdings voraus, dass ‚Virtualität‘ und ‚Bildhaftigkeit‘ in ihrer realitätsbildenden Bedeutung gewürdigt werden. Anders formuliert: Man könnte am Ende der Episode den Eindruck haben, als würden nach der Zerstörung des „Quomputers“ die verschiedenen Ebenen entschlüsselt, wobei die „fiktive Ebene 1“ sich als bloße Scheinebene und die „Quellrealität“ als die wahre Realität erwiese. Damit würde der „Quomputer“ zu einem bloßen Produzenten solcher Scheinrealitäten. Zwar sprechen die Macher*innen dieser Episode ein deutliches Plädoyer für ‚Realität‘ aus. Dieser Rückbezug auf eine ‚wirkliche‘ Grundlage ist auf jeden Fall irreduzibel. Der Punkt ist aber, dass dann immer noch erklärt werden muss, worin die ‚Realität‘ besteht. Und das evoziert die Verflechtung von ‚Virtualität‘ und ‚Realität‘. Die Hauptthese lautet

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– und darin besteht auch der Kernpunkt der Entschlüsselung von „Joan Is Awful“: Die ‚wahre‘ Realität ist – weil sie erscheint und erscheinen muss – die „fiktive Ebene 1“. 22 Diese bedarf einerseits ihrer verbildlichenden Verdoppelung 23 (= der „Streamberry“-Serie) und andererseits der „Quellrealität“, d. h., phänomenologisch gesprochen, der ‚Transzendentalität‘ oder ‚Virtualität‘, die für die ‚wahre‘ Realität konstitutiv und daher die Entsprechung der wahren „Quellrealität“ ist. Da „Joan Is Awful“ kein transzendentalphilosophisches Werk ist, spricht sich die Folge natürlich in ihrer eigenen Terminologie, mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln aus. Die „Quellrealität“ ist nicht die platte Wirklichkeit, sondern das, was für die transzendentale Philosophie und Phänomenologie eben die eigentlichen Konstitutionsbedingungen für die erscheinende Wirklichkeit ausmacht. Wie dem auch sei, Realität hält sich somit in der Spannung zwischen sichtbarer Verbildlichung und Rückbezogenheit auf Wenn behauptet wird, die „fiktive Ebene 1“ sei die ‚wahre‘ Realität (einschließlich der angegebenen konstitutiven Realitätsebenen), dann wird damit noch nicht die Frage beantwortet, auf welcher Realitätsebene sich die Philosophierenden befinden, die den philosophischen Sinn von Black Mirror zu entschlüsseln versuchen. Auch hier liefert die Phänomenologie einen interessanten Erklärungsansatz, der seinerseits durch die Veranschaulichung in der Serie deutlicher gemacht werden kann. In seiner VI. Cartesianischen Meditation führt der Phänomenologe Eugen Fink die Unterscheidung von „phänomenologisierendem Ich“ (= transzendentales konstituierendes Ichleben) und „transzendentalem Zuschauer“ ein. Ersteres ist „weltkonstituierend“; letzterer ist „phänomenologischtheoretisierend“. Dieser ist im Vergleich zu jeder Form von ‚Realität‘ absolute ‚Nichtigkeit‘. In „Joan Is Awful“ gibt es für diesen „transzendentalen Zuschauer“, d. h. für die oder den Philosophierende(n), keinerlei Entsprechung. Die Serie stellt über den philosophisch Interpretierenden ihres eigenen Gehalts keine Betrachtungen an. Ob Joan selbst dagegen Finks „phänomenologisierendem Ich“ nahekommt, wäre eine eigene Überlegung wert, die hier aber nicht weiterverfolgt zu werden braucht, da auch dies über das in „Joan Is Awful“ direkt zum Thema Gemachte weit hinausgeht. 23 Der Transzendentalphilosoph und Bildtheoretiker Fichte würde sagen: Damit die Realität in ihrer Bildhaftigkeit bewusst und verständlich werden kann, muss sie sich als Bild verdoppeln. Das Möglich-Machen bedarf immer selbst eines Ermöglichens, um sich in seinem Möglich-Machen rechtfertigen zu können. 22

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unsichtbare realitätskonstitutive Virtualität (die eben in dieser Episode als „unsichtbare ‚Quellrealität‘“ bezeichnet wird). Wie ist es aber zu verstehen, dass der „Quomputer“, der ja die „fiktive Ebene 1“ herstellt, zugleich auch Bestandteil derselben ist? Seinen Ursprung hat er natürlich in der „Quellrealität“. Materiell wird er in ihr zusammengesetzt. Aber in ihr ist er nur ein Aggregat materieller Komponenten. In dem Augenblick, in dem er zu ‚funktionieren‘ beginnt, bricht die „fiktive Ebene 1“ spontan auf. „Quomputer“ und „fiktive Ebene 1“ entstehen gleichursprünglich. Dieser ‚Augenblick‘ ist der Urquellpunkt ontogenetischer Generativität. Wenn man den „Quomputer“ zerstört, fällt man in die „Quellrealität“ zurück. Die vier Hauptargumente für die These, dass die „fiktive Ebene 1“ und nicht die „Quellrealität“ die ‚wahre‘ Realität ist, bestehen demnach darin, dass 1.) die ‚wahre‘ Realität erscheinen muss (was die „Quellrealität“ gerade nicht tut), 2.) nur auf der „fiktiven Ebene 1“ die Verflochtenheit von ‚Realität‘ und ‚Virtualität‘ eigens zum Tragen kommt, 3.) in der „fiktiven Ebene 1“ eine Zentrierung auf eine Person – d. h. auf eine Singularität – statthat und 4.) durch die „Schrecklichkeit“ jeder Serienheldin (die das Pendant zu ihrem „neurotischen Selbstbild“ ist) die gefühlsmäßige Dimension stark konturiert wird und dadurch zu ihrem Recht kommt. Die letzten beiden Punkte sind laut Black Mirror der Garant für ‚Realität‘ überhaupt. Und in alldem kommt nun auch dem ‚genius malignus‘ eine wesentliche Rolle zu. Genius malignus Dass ‚Virtualität‘ für die Realität eine konstitutive Rolle spielt, kann nicht einfach so behauptet werden. Weshalb dürfte sich denn ‚Realität‘ nicht ausschließlich auf Wirkliches stützen, wozu

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dieser Rückgang auf ‚Virtuelles‘? Um das begründen zu können, muss zunächst jede Möglichkeit des Scheins abgewiesen werden. Richir hat darauf hingewiesen, dass weltlich Erscheinendes – das, was sich uns immer schon gibt – sich durchaus immer auch als bloßer Schein erweisen kann. Jedes Erscheinende unterliegt einem möglichen Zweifel und könnte auch bloßes „Simulakrum“ sein. Das trifft insbesondere für unsere Auslegung vom Sinn der Welt und dem, was innerhalb der Welt insbesondere mit Anderen geschieht, zu. Wie ist das Verhalten des Anderen zu interpretieren? Worin bestehen seine Absichten? Was ist ‚Realität‘ in der zwischenmenschlichen Beziehung? Für die Beantwortung der Frage, wie damit umzugehen sei, hat Richir den cartesianischen Begriff des „genius malignus“ aufs Neue in den philosophischen Diskurs eingeführt. Bei Descartes stand der „genius malignus“ für die skeptische In-Frage-Stellung all unserer Gewissheiten. Er schrieb in der ersten der Meditationen über die Erste Philosophie: „Ich will also annehmen, dass nicht der allgütige Gott die Quelle der Wahrheit ist, sondern dass ein boshafter Geist [= genius malignus], der zugleich höchst mächtig und listig ist, all seine Klugheit anwendet, um mich zu täuschen; ich will annehmen, dass der Himmel, die Luft, die Erde, die Farben, die Gestalten, die Töne und alles Äußerliche nur das Spiel von Träumen ist, wodurch er meiner Leichtgläubigkeit Fallen stellt; ich werde von mir selbst annehmen, dass ich keine Hände habe, keine Augen, kein Fleisch, kein Blut, keine Sinne, sondern dass ich mir nur den Besitz derselben fälschlich einbilde; ich werde hartnäckig dem Gedanken verhaftet bleiben, dass ich, wenn es mir auch nicht möglich ist, etwas Wahres zu erkennen, wenigstens nach meinen Kräften es erreiche, dass ich dem Unwahren nicht zustimme, und mit festem Willen mich vorsehe, um nicht von jenem Betrüger trotz seiner Macht und List hintergangen zu werden. Aber dieses Unternehmen ist mühevoll, und eine gewisse Trägheit lässt mich in das gewohnte Leben

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zurückfallen. Wie ein Gefangener, der zufällig im Traume eine eingebildete Freiheit genoss, bei dem späteren Argwohn, dass er nur träume, sich fürchtet, aufzuwachen, und deshalb den schmeichlerischen Täuschungen sich lange hingibt, so falle ich von selbst in die alten Meinungen zurück und scheue das Erwachen […].“ Dieser „boshafte Geist“, der oft fälschlicherweise mit einem „Täuschergott“ verwechselt wird, kann zwar ‚boshaft‘ genannt werden, da er mir eine falsche Realität vorgaukelt; er hat aber vor allen Dingen eine positive Funktion, weil er, wie Descartes das ausdrücklich sagt, mir behilflich ist, mir – trotz der Macht und List dieses Geistes – die Freiheit zu bewahren, mich meines Urteils zu enthalten. Der List des „genius malignus“, Wahrheit und Täuschung ununterscheidbar zu machen, vermag ich, die List der List entgegenzusetzen, mit jener List zu tricksen. Der „genius malignus“ wird von Descartes eingeführt, damit ich überhaupt zu einem Bewusstsein jener Freiheit gelange; ebenso wie der „Quomputer“– trotz seiner Allmacht, die „fiktive Ebene 1“ zu erzeugen – die Voraussetzung dafür ist, dass Joan sich dessen bewusst wird, nicht die Hauptperson ihres eigenen Lebens zu sein. Während der „genius malignus“ bei Descartes eine wesentliche Rolle bei der Gründung von Gewissheit und Erkenntnis spielt und dabei die Realität der Welt intakt bleibt, radikalisiert Richir die Mächtigkeit des „genius malignus“ auf der ontologischen Ebene. Mittels dieser Figur stellt er nämlich die Frage, ob das Subjekt überhaupt „Kontakt“ zur Welt und zu Welthaftem haben kann. Richir geht dabei so weit, die Möglichkeit ins Auge zu fassen, dass die dem Weltbezug zugrunde liegende Verbindung von „Ich“ und „Transzendentalität“ (in ihrem „Vor-Sein“) durch den „genius malignus“ gekappt wird. 24 Damit wird das Wesen des „genius malignus“ gegenüber seiner Bedeutung bei Descartes gleichsam Zu Richirs Konzeption des „genius malignus“, siehe die einschlägigen Artikel von Pablo Posada Varela.

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verkehrt: Vom Werkzeug zur Erweisung der Erkenntnisgewissheit wird er zur Instanz der Verzweiflung nicht nur an der Erkenntnis, sondern an der Welt selbst. Das bedeutet, dass der Versuch, eine letztgültige Sinnaufklärung meines Handelns und Seins zu liefern, nachdrücklich vom Scheitern bedroht ist. Das geht so weit, dass ich dabei meines Denkens auf verschiedenerlei Art beraubt werden kann, was die Wahrnehmung von Realität beeinträchtigen bzw. sogar aufheben und damit letztlich bis zum Wahnsinn führen kann. Mit dem „Quomputer“ werden diese Motive in „Joan Is Awful“ wiederaufgenommen und um die Komponente der Technik, die eine eigene Dimension der Virtualität mit ins Spiel bringt, bereichert – zu einer grundlegenden Infragestellung des Bezugs zur vermeintlich ‚realen‘ Welt, wie bei Richir, kommt es dabei allerdings nicht. Der „Quomputer“ ist nicht mehr nur ein „Begriff“ – wie bei den beiden soeben angesprochenen Philosophen –, sondern ein reales Instrument, dass die Virtualität ins Werk setzt. Über seinen Ursprung ist nichts bekannt, er wirkt gleichsam „im höheren Auftrag“. Auch über seine genaue Wirkungsweise lässt sich nicht mehr sagen, als dass er „aus Magie“ handelt. Der „Quomputer“, dem bei Richir gewissermaßen Elemente des „malin génie“ und des „symbolischen Stifters“ entsprechen, setzt an der Quelle des Verhältnisses von Ich und Welt an, das durch die Verschränkung von Realität und Virtualität ausgezeichnet ist. Dabei kommt der ‚Bildlichkeit‘ eine herausgehobene Rolle zu. Diese liefert gleichsam die positive Seite der realitätsbildenden Funktion der ‚Virtualität‘, während, wie gesagt, die wesentliche Rolle des ‚genius malignus‘ – negativ – darin besteht, ‚Schein‘ und „Simulakrum“ abzuwenden.

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Bild Einen weiteren wesentlichen Parameter von „Joan Is Awful“ stellen in der Tat Bild und Bildlichkeit dar. Zwei Punkte sind dabei zu betonen. Der erste betrifft allgemein den Status des Bildes, während der zweite auf die realitätsbildende Funktion der ‚Bildhaftigkeit‘ gründenden Phantasie eingeht. Der Begriff des Bildes ist in Kants Konzeption der Erscheinung angelegt. Kant hatte die Gegenstände unserer Erfahrung als „Erscheinungen“ bestimmt. Die „Erscheinung“ unterscheidet sich insofern von den „Dingen an sich“, als sie – im Gegensatz zu den letzteren – nicht subjektunabhängig ist, insofern das Subjekt konstitutiv in sie eingeht. „Joan Is Awful“ bereichert diesen Gedanken nicht hinsichtlich der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis, sondern im Hinblick auf die Verschränkung von Realität und Virtualität. Fichte hat Rolle und Funktion der Erscheinungs- und Bildhaftigkeit weitergedacht 25 und selbst bereits die konstitutive Rolle einer Art von ‚Virtualität‘ entdeckt. Fichtes Grundgedanke besteht in der Einsicht, dass die Einbildungskraft nicht nur – wie bei Kant – eine Synthese-Funktion von Sinnlichkeit und Verstand erfüllt, sondern der Konstitution der Realität selbst zugrunde liegt. Wie spielt dabei das ‚Bild‘ hinein? Um hierauf zu antworten, kann auf eine akademische Analyse des Fichte’schen Werks verzichtet und auf eine direkte Parallelisierung mit dem Verfahren in „Joan Is Awful“ zurückgegriffen werden. Drei Aspekte sind für die Fichte’sche Bildlehre maßgeblich. Erstens ist ‚Bild‘ Abbildung im Sinne einer Verdoppelung dessen, was es zu begreifen gilt, im Bild. Das hat in Black Mirror seine Entsprechung in jeglicher Form der Verbildlichung und Vermittlung, Vgl. v. Vf. Die Erscheinung der Erscheinung. J. G. Fichtes Wissenschaftslehre von 1804 – Zweiter Zyklus, Frankfurt am Main, Klostermann, 2023.

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d. h. in der Mediatisierung. Daher die fundamentale Rolle von Filmen, Fotos, Aufnahmen, Aufzeichnungen etc. Dies kann entweder 1.) wertfrei und neutral, 2.) aufwertend oder 3.) kritisch geschehen. Zweitens steht ‚Bild‘ für eine Reflexion, die in einer nicht naiven Abstandnahme gegenüber der erscheinenden Realität besteht. In Black Mirror äußert sich das durch die Offenbarung unterschiedlicher Realitätsebenen. Der dritte Aspekt ist der schwierigste und subtilste. Er besteht in einer grundlegenden Umkehr der Denkungsart in Bezug auf das Verhältnis von objektiver Realität und Bildlichkeit. Er entspricht der Einsicht, dass die eigentliche Realität niemals vorgegeben ist und jegliche bildliche Darstellung auch nicht nur nachträglich statthat. Vielmehr ist es umgekehrt so, dass von vornherein Realität in Bildhaftigkeit besteht. Ein zweiter bedeutsamer Punkt der Bildthematik betrifft die Rolle von Einbildungskraft und Phantasie. In der Geschichte der Phänomenologie gibt es hierzu zwei grundlegende Ansätze. Der zweite ist für Black Mirror von besonderem Belang. Husserl hatte der „freien“ Einbildungskraft, d. h. der „Phantasie“, die „Imagination“ entgegengesetzt, die in seiner Terminologie die auf einem physischen Bildträger beruhende imaginäre Intentionalität bezeichnet – wenn man sich zum Beispiel auf der Grundlage eines gemalten oder photographisch festgehaltenen Eiffelturms auf den ‚echten‘ Eiffelturm bezieht. Dabei steht die Imagination der Wahrnehmung näher als die Phantasie und hat dadurch einen stärkeren Realitätsbezug. Die gleiche Unterscheidung hat bei Richir eine andere Bedeutung. „Imagination“ verweist auf ‚bloß‘ Imaginiertes, wie zum Beispiel die Fiktion, dass Charlie Brooker britischer Premierminister werden könnte. Diese Bewusstseinsmodalität hat keinerlei realitätskonstitutive Funktion – mit Ausnahme natürlich der Realität des Imaginierten als Imaginierten. Ganz anders verhält es sich mit der „Phantasie“. Diese ist realitätsbildend. Sie betrifft jene Konkretion innerhalb des Wahrgenommenen, die

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durch Abständigkeit, Abgründigkeit, reine Differenz gekennzeichnet ist. Überall dort, wo in Black Mirror Virtualität in ihrer Verquickung mit Realität zum Thema gemacht wird, ließe sich ein Bezug zur Richir’schen Auffassung der Phantasie herstellen. Trotz und gerade weil der „fiktiven Ebene 1“ in „Joan Is Awful“ eine „Quellrealität“ zugrunde liegt, heißt das nicht, dass das ‚objektiv Wahrgenommene‘ die ‚wahre‘ Realität ausmacht. Das vermeintlich ‚Objektive‘ und ‚Objektivierbare‘ lässt sich simulieren. Das menschlich Reale und Wirkliche dagegen nicht; es ist Sache des Gefühls und der Phantasie. Ich Was ist das Ich? Was bin ich? In der transzendentalphilosophischen Tradition – maßgeblich bei Kant, Fichte, Husserl, Fink und Richir – ist die fundamentale Rolle des Ich bzw. des „Selbstbewusstseins“ für den Bezug zur Realität unterschiedlich eingesehen und charakterisiert worden. Kant hatte die Grundthese aufgestellt, dass Objektivität durch Subjektivität konstituiert und dadurch die Gleichsetzung von Gegenstand und Erscheinung notwendig wird. Das impliziert, dass die subjektiven konstituierenden Elemente in und durch das Selbstbewusstsein vereinigt sein müssen. Dadurch erweist sich das Selbstbewusstsein als höchste und ursprünglichste Bedingung für jedes Gegenstandsbewusstsein. Während es sich für Kant beim Selbstbewusstsein aber nur um eine (abstrakte) Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis handelt, haben Fichte in seinem transzendentalphilosophischen Ansatz und die Phänomenologie seit 1900 diese Grundeinsicht weiter vertieft. Insbesondere der späte Fichte hat dabei die Vermittlung mit der Bildhaftigkeit betont, während die Phänomenologie, auf eine andere Art als die Psychoanalyse, vor allem auf vor- bzw. unbewusste Aspekte der

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Ichlichkeit – die auch als „Passivität“ ausgelegt werden – eingegangen ist. „Joan Is Awful“ legt nun eine eigene hochinteressante Ich-Theorie vor. „Ich“ erweist sich dabei als Spannungsknoten dreier Bestandteile – einer unbekannten Quelle, des „true self“ und des Bildes. „I am me“ – „ich bin ich“ – so antwortet das „Greta-Cookie“ Matthew in „White Christmas“, als dieser ihm eröffnet, es sei lediglich eine „Kopie“ von Greta. Was ist aber das Ich? Ist es überhaupt möglich, bei einer digitalen „Kopie“ von einem „Ich“ zu sprechen? Ist das Ich nicht gerade eine Singularität, die sich gegen jegliche Vervielfältigung sperrt? Das ist ein weitläufig behandeltes Thema der gesamten Serie. „Joan Is Awful“ legt insofern eine interessante These vor, als darin das Ich in seiner Individualität betrachtet und zugleich in drei Bestandteile zerlegt wird. Eine Voraussetzung der kantischen These über Ich und Selbstbewusstsein, die von der „klassischen deutschen Philosophie“ wiederaufgenommen wurde, ist, dass das Ich sich selbst gegenüber ‚durchsichtig‘ ist, dass ihm nichts verborgen ist oder ‚unbewusst‘ zugrunde läge. Dem wurde sowohl bei Nietzsche als auch in der Psychoanalyse die Annahme eines „Unterbewusstseins“ oder eines „Unbewussten“ entgegengesetzt, das für das Bewusstsein bestimmend, ihm allerdings mehr oder weniger unzugänglich ist. Die Phänomenologie macht ebenfalls ein „phänomenologisches Unbewusstes“ geltend, aber ihre Anstrengungen gehen auf die mögliche Bewusstmachung dieser ‚Sphäre‘ oder dieses ‚Feldes‘. Ein erster Aspekt der Ich-Theorie von „Joan Is Awful“ besteht darin, dem Ich eine diesem völlig unbekannte Quelle zuzuschreiben. Gleichwohl – und das betrifft den zweiten Aspekt – hat die „Joan“ der „fiktiven Ebene 1“ eine Ahnung davon, dass sie nicht das „wahre Ich“ – von dem englischen Psychoanalytiker Donald Winnicott „true self“ genannt und von Richir mit dem Begriff des „vrai soi“ wiederaufgenommen – ist. Das äußert sich in der

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Entgegensetzung der von Annie Murphy dargestellten „Joan“ der „fiktiven Ebene 1“ und der von Kayla Lorette gespielten „SourceJoan“. Der zweite Aspekt kann demzufolge – in der Entsprechung zu jenen Ansätzen beim Winnicott und Richir – als „wahres Ich“ bezeichnet werden. Der dritte Aspekt betrifft schließlich den wesentlichen Bildcharakter des Ich. Dabei geht es nicht um das Bild, das sich jeder oder jede von sich selbst macht. In Frage steht vielmehr das ‚objektive‘ Bild, das äußerlich wahrgenommen und auch von außen prägend ist. In „Joan Is Awful“ kommt das dadurch zum Ausdruck, dass Joan noch von einer dritten Person dargestellt wird, nämlich von Salma Hayek. Die in „Joan Is Awful“ vertretene Ich-Theorie besagt dementsprechend, dass das Ich nicht nur durch ein ‚inneres Bewusstsein‘, sondern auch durch die äußere Perspektive auf es selbst konstituiert wird. Ich ist – ganz im Gegensatz zur kantischen Auffassung – nicht nur Selbstbewusstsein. Dabei wird aber gerade die ambivalente Dimension der bildhaften Seite des Ich betont. Zwar ist das Bild des Ich in gewisser Weise ‚objektiv‘, zugleich ist es aber ebenso Scheinbild, Simulakrum. Eine andere Form der Ichspaltung wird im zweiten Erzählstrang von „Black Museum“ durchgespielt. Die sehr glücklich mit Jack liierte Carrie Lamasse fällt nach einem Autounfall ins Koma. Nach einigen Jahren wird Jack gefragt, ob er bereit sei, an ihr die „Comm Box“ zu erproben. Dieser Test soll im „Saint Juniper’s“Krankenhaus durchgeführt werden, in dem Rolo Haynes arbeitet. In diesem Versuch geht es erst einmal darum, Jack die Möglichkeit zu geben, die Kommunikation mit der komatösen Carrie wiederaufzunehmen – zumindest auf eine rudimentäre Art, indem diese „Comm Box“ es Carrie ermöglicht, auf Fragen mit „Ja“ oder „Nein“ zu antworten. Haynes beobachtet einige Zeit später den doch ziemlich bedauernswürdigen Zustand der Patientin und macht Jack das Angebot, eine „digitale Bewusstseinsübertragung“ bei Carrie durchzuführen. Es geht dabei nicht darum, wie in „San

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Junipero“, auf das der Name des Krankenhauses offenbar anspielt, Carries Bewusstsein in eine „Cloud“ hochzuladen. Vielmehr sollen die freien Kapazitäten von Jacks Gehirn genutzt werden, um darin mithilfe einer bestimmten Kompressionstechnik Carries Bewusstsein gleichsam ‚neben‘ dem Bewusstsein von Jack anzusiedeln und ihr dadurch zu einem neuen Leben zu verhelfen. ‚Leben‘ heißt: das fühlen, was Jack fühlt. Damit würde auch der Kontakt zur Realität wiederhergestellt. Die Episode spielt dann alle Aufs und Abs einer solchen Konstellation durch. Der Erzählstrang endet damit, dass Carries Bewusstsein, nachdem für Jack dieses ‚Hosting‘ eines anderen, wenn auch geliebten Bewusstseins unerträglich geworden ist, in einen speziellen Schmuseaffen transferiert wird, der als Spielzeug für ihren Sohn dienen soll. Dieser Teddy verfügt über die gleiche rudimentäre Kommunikationsweise wie die „Comm Box“: Carrie kann mit „Äffchen liebt dich“ oder mit „Äffchen braucht eine Umarmung“ antworten. Nachdem das Kind das Interesse am Spielzeug verloren hat, landet es schließlich im „Black Museum“ – Carries Bewusstsein steckt allerdings immer noch darin (!). Haynes hatte das Museum eröffnet, nachdem er für dieses menschenunwürdige Experiment von seinem Arbeitgeber TCKR Systems, der auch „San Junipero“ ins Leben gerufen hatte, gefeuert worden war. In „Black Museum“ wird angedeutet, dass diese Ich-Theorie nur für einander liebende Menschen Gültigkeit hat – das kann Partnerliebe oder familiäre Bande betreffen. Die Liebe ist die Voraussetzung für eine solche ‚Kohabitation‘. Als hingegen Haynes ganz am Ende der Episode von Nish in das virtuelle Bewusstsein ihres Vaters, der Haynes abgrundtief hasst, projiziert wird, löst sich dieses Bewusstsein auf. Der stark fiktionale Charakter dieser IchTheorie ist gleichwohl mit der phänomenologisch durchaus plausiblen Ich-Theorie in „Joan Is Awful“ nicht zu vergleichen. Die Liebe spielt allerdings in Black Mirror in vielerlei Hinsicht eine bedeutsame Rolle.

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Mehrere der angesprochenen Grundmotive treten auch in anderen Serienepisoden auf bzw. werden darin vertieft und weiter ausgestaltet. Zu diesen Motiven zählen insbesondere die Verflechtung von Realität und Virtualität, der genius malignus, die Zeit, die Liebe, der Tod und die Natur.

Verflechtung von Realität und Virtualität In Black Mirror wird die Verflechtung von ‚Realem‘ und ‚Virtuellem‘ auf verschiedene Weisen zum Thema gemacht. Sie können unter ein Motto gebracht werden, das aus „The Waldo Moment“ stammt: “Waldo is not real.” “Exactly: […] He is not real, but he is realer than all the others.” Dass das Nicht-Reale realer als alles andere ist, verweist darauf, dass das Geflecht von Realem und Virtuellem die höchste und authentischste Form der Realität ist. Phänomenologischer Ansatz Ein neuer Aspekt innerhalb der Thematik dieser Verflechtung wird in der bereits besprochenen Episode „Black Museum“ angeschnitten. Diese letzte Folge der vierten Staffel enthält wie „White Christmas” drei Erzählstränge, die aber im Gegensatz zum „Special“ der zweiten Staffel nicht in zwei, sondern in nur eine Rahmenhandlung eingegliedert sind. Aber es gibt noch zwei weitere wichtige Unterscheidungen: Rahmenhandlung und die drei Binnengeschichten siedeln sich nicht auf unterschiedlichen Realitäts-, sondern lediglich auf unterschiedlichen Zeitebenen an; und die dritte Binnengeschichte und die Rahmenhandlung verschmelzen ineinander. Im Mittelpunkt der Geschichte steht Rolo Haines, der Besitzer des „Schwarzen Museums“, eines Kuriositätenkabinetts von allen möglichen Gegenständen aus der digitalen Welt. Mehrere Objekte aus Folgen von Black Mirror gehören auch dazu. Die Geschichte erstreckt sich über einen Vormittag, an dem Nish Leigh dem Museum einen Besuch abstattet. Haines, der früher in der angewandten Neurowissenschaft tätig war und Fundstücke gesammelt hat,

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um sie im Museum auszustellen, führt sie durch die Sammlung und erzählt die dazu gehörigen Geschichten. Drei Stücke verdienen seiner Ansicht nach besondere Aufmerksamkeit und stehen jeweils im Mittelpunkt der besagten drei Erzählstränge. Der angesprochene neue Aspekt in Bezug auf die Verflechtung von Realität und Imaginärem wird in der ersten Geschichte präsentiert. Ihre Hauptperson ist der Arzt Dr. Peter Dawson. Um die Sterblichkeitsquote seiner Patienten zu verringern, lässt er sich ein Implantat in seinen Kopf einsetzen, das es ermöglicht, die körperlichen Empfindungen einer anderen Person zu spüren, ohne dass das in irgendeiner Weise körperliche Veränderungen in ihm hervorruft: „das komplette Erlebnis, kein physischer Schaden“, erklärt ihm Rolo Haines, als er ihn in die Funktionsweise des Implantats einführt. Das bedeutet, dass damit das neuro- und kognitionswissenschaftliche Grundparadigma in Bezug auf die Bestimmung des Verhältnisses von körperlichem Zustand und Bewusstseinszustand widerlegt wird: Bewusstseinszustände lassen sich mithilfe der hier zum Einsatz kommenden digitalen Technik übertragen, ohne dass dem ein physischer Zustand zugrunde läge. Darin liegt der phänomenologische Ansatz. Konkret geschieht die Übertragung mithilfe eines Haarnetzes, das der Probandin oder dem Probanden aufgesetzt wird und unmittelbar die Übertragung der Empfindung gewährleistet. Es kann sich dabei um Schmerz-, genauso aber auch um Lustempfindung handeln. Beim Sex etwa können so der eigene Orgasmus und der des Geschlechtspartners gleichzeitig empfunden werden. Bevor Implantat und Haarnetz bei Dawson getestet wurden, waren sie schon bei Ratten zur Anwendung gekommen. Dabei stellte sich heraus, dass nicht Wissen, sondern lediglich körperliche Empfindungen übertragen werden können. Berücksichtigt man zudem, dass „Realität“ laut „15 Million Merits“ auf dem Gefühl beruht (und nicht auf intellektuellen

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Leistungen, siehe oben), dann wird klar, dass hier die Realität an ihrer Wurzel gepackt wird. 26 Dawson macht sich jene digitale Technik zunutze, um die Schmerzempfindungen seiner Patient*innen mit bekannten Krankheitsbildern abzugleichen, was sich nach einer gewissen Eingewöhnungszeit in Bezug auf die Treffsicherheit seiner Diagnosen als sehr hilfreich erweist. Er wird ein erfolgreicher Arzt – bis zu dem Tag, als der Senator Whitley in die Notfallstation seines Krankenhauses eingeliefert wird. Der Senator war mit einer unbekannten russischen Substanz vergiftet worden und erliegt unter für Dawson nicht zuzuordnenden schwersten Schmerzen einem Herzstillstand. Dawson macht eine Todeserfahrung, als er dabei selbst für fünf Minuten das Bewusstsein verliert. Die Begegnung mit dem Tod hatte zwar körperlich keine Auswirkungen auf ihn, das Implantat dagegen hat eine unwiderrufliche Störung erlitten. Hatte er zuvor die Schmerzen seiner Patienten qualvoll ertragen müssen, so empfindet er von nun an Lustgefühle. Das steigert sich derartig, dass er von diesen Empfindungen abhängig wird und – wie ein Chiliverkoster, der immer schärferen Chili braucht, um seine Geschmacksnerven zu aktivieren – immer stärkere Schmerzen seitens der Personen, die das Haarnetz tragen, verspüren muss, um seine Begierde zu befriedigen. Das geht so weit, dass er, Um die Verbindung von Realität und Gefühl geht es auch in „USS Callister“. In dieser Episode assimiliert der Spiele-Entwickler Robert Daly die Mitarbeiter seiner Firma in eine Spezialversion seines Virtual-Reality-Spiels „Infinity“. Während er im wirklichen Leben von ihnen respektlos behandelt wird, herrscht er im Raumschiff „USS Callister“ tyrannisch als „Captain Daly“ über ihre virtuellen Avatare. Bemerkenswert ist, dass die Gefühle der Avatare denen ihrer Originale entsprechen. Damit wird angezeigt, dass die Avatare in dieser Spezialversion von „Infinity“ trotz des Eingesperrtseins in das Gefängnis der „USS Callister“ eine Verbindung zur wirklichen Welt haben. Das ermöglicht es letztlich der Besatzung, zwar nicht der virtuellen Welt ganz zu entkommen, aber zumindest in der freien Version von „Infinity“ Abenteuer zu erleben, in denen sie nicht den perversen Machtgelüsten Dalys ausgesetzt sind.

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um die einmal gemachte Todeserfahrung erneut erleben zu können, in Kauf nimmt, dass eine ältere Frau dadurch stirbt. Danach verbietet ihm das Krankenhaus den Umgang mit den Patient*innen. Der einzige Ausweg, der ihm bleibt, ist, sich selbst Schmerzen zuzufügen. Er verstümmelt sich völlig, doch das entscheidende Element fehlt ihm dabei – die Angst. Beim eigenen Schmerzzufügen kommt eine solche nämlich nicht auf. Deswegen muss Dawson sich auf die Suche nach einer dritten Person begeben. Als er einen Obdachlosen ausfindig macht, ihn mit einer Handbohrmaschine quält und dabei den „Cocktail“ von Angst, Schmerz und Tod empfindet, wird er aufgegriffen und – da er in ein tiefes Koma gefallen ist – in ein Krankenhaus verlegt, wo er bis heute vor sich hin vegetiert. Die besagte Abkopplung des Bewusstseins von einer physischen Grundlage lässt Dawson auf eine stark ausgeprägte Weise nacheinander Schmerz und Lust empfinden. Das Fehlen der Angst weist auf einen bedeutsamen Faktor hin, der womöglich über das rein Psychologische hinausgeht. In der zweiten Episode der dritten Staffel wird diese Fragestellung vertieft. Psychoanalytischer Ansatz In der Folge „Playtest“ wird die Verflechtung von Realität und Virtualität anhand von psychoanalytischen Elementen dargestellt, die sich mit Wünschen und Ängsten vermischen. Der Endzwanziger Cooper Redfield unternimmt eine Weltreise, die ihn schlussendlich nach London führt. Diese Reise soll ihm dabei behilflich sein, „sich zu finden“, nachdem sein geliebter Vater an Frühdemenz verstorben ist. Die Unmöglichkeit, mit seiner Mutter, bei der er noch wohnt, zu kommunizieren, nötigt ihn dazu, Distanz von den heimischen Verhältnissen zu gewinnen, um sein Leben und seine Gedanken ordnen zu können. Coopers Mutter versucht zwar

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während der gesamten Weltreise, ihren Sohn telefonisch zu erreichen, er nimmt die Anrufe aber nicht an, weil er für die Aussprache mit ihr ein persönliches Gespräch bevorzugt. In London lernt er über eine Dating-App die Videospiel-Journalistin Sonja kennen, mit der er eine Nacht verbringt. Aufgrund eines finanziellen Engpasses ist er kurz darauf gezwungen, eine Geldquelle aufzutun, um seine Rückreise in die USA antreten zu können. Als er über eine Arbeitsvermittlungsseite darauf stößt, dass die Computerspielfirma „Saito Gemu“ Testpersonen für ein neues Spiel sucht, ermutigt Sonja ihn, sich dort zu bewerben. Nach seinem Eintreffen in dieser außerhalb Londons gelegenen Firma wird er von Katie, der engsten Mitarbeiterin des Firmenchefs, in die Funktionsweise der Demo-Version des Spiels eingewiesen. Es handelt sich dabei um ein interaktives System mit erweiterter Realität. Auf Coopers Frage, ob das einer virtuellen Realität entspricht, antwortet sie, dass es sich dabei eher um „Schichten auf der Realität“ handele. Durch das System werden „mentale Projektionen“ hervorgerufen, die nur für Cooper selbst sichtbar seien. Während des Hochladens der Demo-Version klingelt Coopers Handy. „Mom“ erscheint auf dem Bildschirm seines vibrierenden Smartphones, das er zuvor ausgeschaltet hatte. Während Katie kurz aus dem Zimmer geht, schaltet Cooper es wieder ein und macht, weil er von der Videospiel-Journalistin Sonja darum gebeten wurde, ein Foto von dem geheimen Ort, an dem er sich befindet. Dies wird sich für Cooper in der Folge als fatal erweisen; damit zeigt diese Episode, wie u. a. auch „White Bear“ und „Mazey Day“, weshalb das Abbilden (hier im Modus des Fotografierens), d. h. die Digitalität, äußerst unheilvolle Auswirkungen haben kann. An dieser Stelle setzt ein zweiter Handlungsstrang ein – was allerdings erst am Ende der Folge deutlich wird. In dem Moment, in dem das Telefon klingelt, ist der Ladevorgang des Computerspiels so weit vorangeschritten, dass Cooper sich bereits auf einer

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„höheren Schicht der Realität“ befindet. Allerdings sorgt das Signal seines Handys für eine Störung. Die Folgen davon werden aber ebenfalls erst am Ende der Episode erklärt. Katie schaltet jedenfalls am Anfang des neuen Handlungsstrangs, der für die Zuschauerin der Serie allerdings nicht als solcher kenntlich gemacht wird, das Telefon ab, um dafür zu sorgen, dass der Ladevorgang nicht beeinträchtigt wird. Dass es schon zu spät ist, kann sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen. Nachdem Cooper mit Begeisterung die Demo-Version des neuen Spiels durchgespielt hat, schlägt Katie ihm vor, für eine höhere Bezahlung auch seine Vollversion zu testen. Auf sein Einverständnis hin gehen sie in das Büro von Shou Saito, dem Hauptverantwortlichen von „Saito Gemu“, der Cooper über das Prinzip der Vollversion in Kenntnis setzt. Die Grundidee der Vollversion ist, dass mit ihr das „personalisierteste Horror-Überlebensspiel aller Zeiten“ verwirklicht werden soll. Mit Hilfe des Verstandes des Probanden erarbeitet es, wie man sich „am besten ängstigen“ kann. Angstüberwindung vermittelt einen Glücksgenuss, denn man erfreut sich daran, „dass man noch lebt“. Shou spielt dabei ungewollt auf das kantische „Erhabene“ an: Sofern man sich in einer sicheren Umgebung den größten Ängsten stellt, resultiert daraus eine Befreiung – von der Angst über das Erhabene zur Freiheit. Um das zu bewerkstelligen, wird über einen im Hinterkopf eingesetzten Chip – „Mushroom“ genannt –, an den ein Kabel angeschlossen wird, ein neuronales Netz-Paket hochgeladen. Dabei handelt es sich um eine KI-Software, die in unvorstellbar hoher Geschwindigkeit lernt und sich instantan anzupassen vermag. Sie überwacht permanent die Hirnaktivität, um den die Probandin zu ängstigen. Und dann wird ihr Erleben darauf eingestellt. Im Prinzip kann nichts von dem, was während dieses ‚Spiels‘ gesehen und wahrgenommen wird, körperlich gespürt werden. In dieser

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Realitätsschicht spielt sich alles auf der Ebene der gegenseitigen Abhängigkeit von Gesichtswahrnehmungen und Affektivität ab. Auf dem Firmenanwesen wird Cooper dann in ein Haus aus dem 19. Jahrhundert geführt, das dem „Harlech House“ aus einem der „Saito Gemu“-Spiele, in dem die Simulation stattfindet, als Modell gedient haben soll. Er bleibt allein, steht aber über einen digitalen Ohrstöpsel mit Katie in Verbindung. In diesem Haus begegnet er zunächst einer Spinne, dann einer Simulation seines grimmig dreinschauenden ehemaligen Schulfreundes Josh Peters und schließlich einer Kombination von beiden – einer gruseligen Riesenspinne, die Joshs Gesichtszüge trägt. Während die Kommunikation mit Katie aus unerfindlichen Gründen für einen kurzen Zeitraum gestört ist, klopft Sonja an die Tür des Hauses. Sie scheint zunächst aus zwei Gründen keine Simulation zu sein. Zum einen ist sie keine virtuelle Silhouette, sondern aus Fleisch und Blut. Zum anderen rammt sie Cooper plötzlich ein Messer in den Rücken, was ihm schlimmste Schmerzen bereitet. Sie weisen auf wirklich Erlebtes hin. Aber dann verwandelt Sonja sich in ein Monster und es wird klar, dass sich das Ganze ebenfalls auf einer Simulationsebene abspielt. Als Cooper ihren Schädel auf demselben Messer aufspießt, mit dem sie ihn angegriffen hatte, löst sie sich mitsamt seinen körperlichen Schmerzen in Luft auf. Coopers Grauen steigert sich aber noch weiter. Als plötzlich die Kommunikation mit Katie wiederhergestellt ist, führt sie ihn in ein Zimmer im Obergeschoss des Hauses, zum sogenannten „Zugangspunkt“, wo, wie von ihm energisch gefordert, die Simulation beendet werden soll. Dort angekommen, stellt sich heraus, dass Katie ihn getäuscht hat. Anstatt in die Wirklichkeit zurückzugelangen, verliert er – wie sein dementer Vater – das Gedächtnis. Im Extremgefühl größten Horrors wird er aus dem Zimmer getragen, um „zu den Anderen“, das heißt zu den anderen Testpersonen, die ähnliches erlebten, gebracht zu werden.

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In diesem Moment wacht Cooper wieder im Büro von Shou Saito auf. Der „Mushroom“ wird entfernt, und man entschuldigt sich bei ihm für die angebliche Unvollkommenheit der Vollversion des Spiels, das insgesamt nur eine Sekunde gedauert habe. Er reist in die USA zurück. Zu Hause angekommen, trifft er auf seine völlig verstörte Mutter, die – offenbar ihrerseits dement geworden – ihn nicht erkennt und einfach nur ihren Sohn anrufen möchte. Als sie mit ihrem Anruf durchkommt und Cooper sich der verzweifelten Lage, in der er sich befindet, bewusst wird, schreit er aus Leibeskräften „Mom“ in sein Telefon. Damit schließt sich der Kreis des ursprünglichen Handlungsstrangs. Das Treffen mit der Mutter war ebenfalls nur eine Simulation. Cooper sitzt in dem Sessel, in dem er zuerst an die DemoVersion angeschlossen wurde. Sein Smartphone klingelt also. Nur 0,04 Sekunden sind seit dem Beginn des Uploads des „Spiels“ vergangen. Aufgrund des Anrufs von „Mom“ und der dadurch verursachten Störung ist Cooper sofort einem schweren Gehirnschlag erlegen. Alle Handlungen des zweiten Erzählstranges haben sich in dieser extrem kurzen Zeit in Coopers Gehirn abgespielt. Die Verflechtung von Realität und Imaginärem nimmt in „Playtest“ unterschiedliche Formen an, die allesamt die Frage nach der ‚Realität‘ durch ein psychoanalytisches Prisma betrachten, in dem sich Wünsche und Ängste kreuzen. Obwohl Cooper im „Harlech House“ voll und ganz in die Simulation eingetaucht ist, kommt er dort an einen Punkt, wo er das „Spiel“ beenden will. Der Kontakt zur Realität bleibt also gewahrt, wie das auch an der Kommunikation mit Katie ersichtlich ist. Eine andere Realitätsschicht wird während Sonjas Anwesenheit im Haus erlebt. Sonja wird von Cooper fleischlich wahrgenommen und fügt ihm auch reale Schmerzen zu. Eine weitere Realitätsschicht eröffnet sich mit dem Besuch der Mutter. In ihr scheint die erste Simulation zunächst überwunden zu sein, spielt sich dann aber in einer Simulation

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zweiten Grades – in einer Simulation in der Simulation – ab. Eine Stufenfolge ist dabei aber nur insofern zu erkennen, als jede Schicht einen noch stärkeren Wunsch, ein noch größeres Begehren als die jeweils vorangehende zum Ausdruck bringt. Die erste Schicht dient der früher beschriebenen Angstüberwindung. Die zweite Schicht drückt die Anziehungskraft, die Sonja auf Cooper ausübt, aus. Und die dritte Schicht betrifft den innigsten Wunsch einer Versöhnung mit der Mutter. Angst und zwei Formen der Liebe sind die Gefühle, mittels derer ‚Realität‘ in „Playlist“ thematisiert wird. Ethischer Ansatz In „Arkangel“ geht es nicht vorrangig um eine theoretische Überlegung zur Überschneidung von Realität und Virtualität, sondern in erster Linie um eine auf ethische Aspekte fokussierte Anwendung derselben. Im Mittelpunkt steht eine Mutter-Tochter-Beziehung, die sehr stark von den von der Mutter (Marie Sambrell) auf die Tochter (Sara) projizierten Ängsten geprägt ist. Das ein wenig Klischeehafte dieses Rahmens und die Tatsache, dass der Vater dabei nicht einmal Erwähnung findet, soll hier ausgeblendet werden. Der Umstand, dass das Mädchen nach der Kaiserschnittgeburt nicht sofort geschrien hat, was bei der Mutter große Angst um sein Leben hervorrief, sowie ein Ereignis einige Jahre später, als nach einer kurzen Unaufmerksamkeit das kleine Mädchen vom Spielplatz verschwunden war und erst nach intensiver und angstvoller Suche wieder auftauchte, haben die Mutter dazu veranlasst, eine von der Firma „Arkangel“ angebotene Dienstleistung in Anspruch zu nehmen, die es ermöglicht, mithilfe einer kleinen Implantation im Kopf des Kindes eine permanente digitale Verbindung zu seinem Organismus herzustellen. Dadurch lässt es sich nicht nur jederzeit orten, sondern es werden auch seine

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medizinischen Daten verfügbar gemacht. Selbst das jeweils aktuelle Blickfeld des Kindes lässt sich sichtbar machen. Bei Anomalien löst ein mit einem Mikroprozessor ausgestatteter Bildschirm Warnsignale aus, sodass die Mutter jederzeit Kontrolle und gegebenenfalls auch intimes Wissen über ihre Tochter hat. Eine weitere Funktion von „Arkangel“ macht es möglich, beängstigende Vorkommnisse wie einen aggressiven Hund oder ein blutendes Gesicht visuell durch Verpixelung und akustisch durch sonore Dämmung so zu verschlüsseln, dass das Kind mit der Angst hervorrufenden Situation nicht direkt konfrontiert wird. In diesem Schutzraum lernt es allerdings auch nicht, mit Schrecklichem und Hässlichem umzugehen. Das führt dazu, dass Sara aggressive Anwandlungen hat. Ein zu Rate gezogener Therapeut informiert Marie darüber, dass eine operative Entfernung des Implantats nicht möglich ist. Marie beschließt daher, das Gerät abzuschalten und beiseite zu legen. Als Sara 15 Jahre alt ist, fährt sie mit Freunden an einen See. Ihrer Mutter sagt sie jedoch, dass sie mit einer Freundin einen Film schauen wird. Als Marie aus Sorge darüber, dass ihrer Tochter etwas passiert, das „Arkangel“-Gerät wieder vom Dachboden herunterholt und es einschaltet, wird sie live mit Saras ersten sexuellen Erfahrungen konfrontiert. Aus einer Mischung von perfider Neugier und sorgenvoller Unruhe verfolgt sie von diesem Zeitpunkt an Saras intimes Leben, das sie im alltäglichen Umgang ihr gegenüber gänzlich unerwähnt lässt. Die Kommunikation von Mutter und Kind verlagert sich auf eine virtuelle Ebene, die durch Einseitigkeit gekennzeichnet ist, da Sara darüber buchstäblich nicht im Bilde ist. Zwei Geschehnisse führen dann zu einer unkontrollierbaren Beschleunigung der Ereignisse. Zuerst wird Marie über das „Arkangel“-Gerät Zeugin davon, dass Sara Kokain einnimmt. Da dieses von Saras Freund Trick besorgt wurde, verbietet Marie ihm daraufhin jeglichen Umgang mit ihrer Tochter. Kurze Zeit später

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erfährt sie über das Gerät, dass Sara schwanger ist. Sie mischt eine Abtreibungspille in das morgendliche Getränk, um einen sofortigen Schwangerschaftsabbruch zu bewirken. Am selben Morgen wird Sara in der Schule übel. Die Schulärztin nimmt deswegen Untersuchungen vor, durch die Sara sowohl von der Schwangerschaft als auch von dem gelungenen Abbruch erfährt. Zuhause findet sie im Mülleimer die gebrauchte Schachtel der Abtreibungspille und im Bett ihrer Mutter das „Arkangel“-Gerät. Als diese nach Hause kommt, schlägt Sara mit dem Gerät auf ihre Mutter ein, bis diese bewusstlos ist. Sobald Marie aus ihrer Ohnmacht erwacht, muss sie feststellen, dass Sara verschwunden ist. Sie rennt auf die Straße und ruft in der gleichen Panik nach Sara, die sich derweil per Autostopp nach Kanada aufgemacht hat, wie vor Jahren, als sie auf dem Spielplatz nach ihr suchte. Diese Episode, für die Jodie Foster hinter der Kamera stand, nimmt die schmale Grenze zwischen verständlicher mütterlicher Besorgnis und inakzeptabler Übergriffigkeit auf die Intimsphäre 27 des Kindes in den Blick. Dabei wird deutlich, dass die zu enge Kontrolle durch die Mutter in zweifacher Hinsicht das Gegenteil dessen bewirkt, was eigentlich erreicht werden sollte. Die Auflehnung des Kindes gegen die Beschneidung der eigenen Autonomie ist zu erwarten und überrascht nicht. Interessanter und subtiler ist die Erkenntnis, dass das eigentliche Ziel, das Kind zu schützen, im Gegenteil nur über reale Autonomie erfüllt werden kann. Das Kind muss selbst lernen, Schwierigkeiten, die von der Welt und durch die Anderen hervorgerufen werden, zu überwinden. Dafür ist die Auseinandersetzung mit Alterität und Unbekanntheit eine unabdingbare Voraussetzung. „Arkangel“ ist somit ein (gewiss leicht naives) Plädoyer dafür, dass auch und gerade im Zeitalter der Digitalität Kinder ihre eigenen Erfahrungen machen müssen und letztlich Eigenständigkeit den besten Schutz gegen Gefahren 27

„Intimität“ ist auch das Thema von „Rachel, Jack and Ashley Too“.

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von außen bietet. Eltern sollen hierdurch offenbar – in der virtuellen Variante der eigentümlichen Mischung von antiautoritärer Erziehung und dem Ideal individualistischer Selbstermächtigung – darüber aufgeklärt werden, dass Selbstaufklärung eine der Grundvoraussetzungen für ein gelingendes Leben ist. Politischer Ansatz Auch politische Aspekte werden in Black Mirror bei der Vermischung von Realität und Virtualität nicht ausgespart. Das ist insbesondere ein zentrales Thema von „Men Against Fire“. Der Titel dieser Episode – der nicht völlig passend ist, da auch zwei Frauen darin eine entscheidende Rolle spielen – ist Samuel L. A. Marshalls Buch Men Against Fire: The Problem of Battle Command in Future War entlehnt. In diesem 1947 erschienenen Bericht wird erklärt, dass nur ein geringer Prozentsatz an Soldaten während des ersten und des zweiten Weltkriegs tatsächlich seine Waffen benutzt und auf den Feind geschossen hat. Die Episode legt einerseits dar, welche Antwort das Militär auf diese Ineffizienz ersonnen hat; genauso gilt es, die Traumata, unter denen zahlreiche Soldaten nach Kämpfen mit tödlichem Ausgang zu leiden haben, zu vermeiden. Andererseits geht es aber vor allem um eine Kritik des Missbrauchs der durch Marshalls Bericht inspirierten und tatsächlich auch umgesetzten Maßnahmen. In „Men Against Fire“ werden nicht unterschiedliche Erzählebenen entfaltet, sondern die Virtualität wird in die Realität gleichsam eingefügt – dabei aber ausschließlich für militärische Zwecke. Das geschieht mittels eines den Soldaten eingesetzten Gehirn-Implantats, das „MASS“ genannt wird, eine neuronale Schnittstelle, welche einerseits die kognitiven Fähigkeiten erhöht und andererseits die Wahrnehmung modifiziert. Dadurch lassen sich Daten in einen virtuellen Raum, der vor die Augen projiziert wird,

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vermitteln, die zum Beispiel mit Drohnen eingefangen werden; zwischenmenschliche Kommunikation kann ohne sprachliche Verlautbarung stattfinden; die Sinneswahrnehmung wird vermindert, um den Fokus stärker auf die zu bewältigenden Aufgaben zu richten; Erinnerungen können beliebig oft reproduziert oder auch gelöscht werden; Träume können manipuliert werden – so werden den Soldat*innen, wenn sie im Kampf erfolgreich waren, ‚zur Belohnung‘ im Schlaf erotische Szenen eingespielt usw. Doch die entscheidende Funktion von „MASS“ in „Men Against Fire“ besteht darin, das Aussehen einzelner Ethnien oder Volksgruppen zu verwandeln. Diese Transformation wird in dieser Episode in einer mehr oder weniger post-apokalyptischen Welt an einer Gruppe vollzogen, die „roaches“ (= „Kakerlaken“ oder „Schaben“) genannt werden, um sie auch verbal zu diskriminieren. Die Medizin hat ausgemacht, dass sie angeblich einen niedrigen Intelligenzquotienten, dafür aber ein höheres Krebsrisiko, Muskeldystrophie, „kriminelle Tendenzen“, „sexuelle Devianzen“ usw. hätten und deswegen vernichtet werden sollen. Um die Soldaten dazu zu bewegen, indifferent an diesem Genozid mitzuwirken, werden Gesicht und Gestalt der „roaches“ manipuliert und modifiziert, damit sie wie Monster aussehen. Während der Kämpfe mit ihnen werden die Sinneswahrnehmungen der Soldat*innen so abgemindert und reduziert, dass die Brutalität des Tötens keine traumatischen Auswirkungen auf sie hat. „Stripe“ Koinange ist zum ersten Mal auf einer Mission mit dem Ziel der Eliminierung der „roaches“ und tötet dabei zwei von ihnen. Während des Kampfes mit einem der beiden wird er jedoch einer Strahlung ausgesetzt, die von einem von den „roaches“ fabrizierten Gerät ausgesendet wird, um das „MASS“-System auszuschalten. 28 Die „roaches“ sind, wie gesagt, keine Monster, Die Störung der Technik ist ein wichtiges Motiv in Black Mirror. Sie wird nicht nur in dieser Folge thematisiert, sondern kommt auch in „Black Museum“,

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sondern Menschen, die verstanden haben, dass die Soldat*innen manipuliert werden, um sie zu vernichten. Diese Strahlungen bewirken zunächst, dass „Stripe“ sich zeitweise unwohl fühlt, auch seine manipulierten Träume werden verzerrt. Aber erst beim nächsten Einsatz ist sein „MASS“-System gänzlich funktionsuntüchtig. Als er mit seiner Partnerin „Hunter“ Raiman in einer verlassenen Siedlung ausfindig gemachte „roaches“ vernichten soll, erkennt er aufgrund der Ausschaltung der Bewusstseinsmanipulationen, dass die vermeintlichen „roaches“ normale Menschen sind. Er versucht daher, „Hunter“ am Töten zu hindern. Es kommt zu einem Kampf, bei dem er von ihr angeschossen wird und sie kurzzeitig ihr Bewusstsein verliert. Er nutzt diese Gelegenheit, um mit Catarina und ihrem Sohn Alec zu fliehen. In ihrem Versteck klärt diese „Stripe“ über die Manipulierungen auf. Er ist aber machtlos, als „Hunter“ kurz darauf das Versteck entdeckt und Catarina und ihren Sohn, die sie in ihrem manipulierten Bewusstsein weiterhin für „roaches“ hält, tötet. Aus Wut über seinen „Verrat“ schlägt sie ihn bewusstlos. „Stripe“ findet sich später in einem engen weißen Raum wieder. Arquette, ein Psychologe, den „Stripe“ bei seinem ersten Unwohlsein aufgesucht hatte, zählt ihm alle Details der Manipulation sowie die Gründe auf, weshalb die Soldat*innen das „MASS“-Implantat erhalten. Dabei wird deutlich, dass die Manipulation Streichungen von Erinnerungen miteinbegreift – etwa an die Einverständniserklärung, das Implantat eingesetzt zu bekommen, oder auch an das aktuell geführte Gespräch. Arquette kann also völlig während Dr. Dawson die Todeserfahrung macht, und in „Playtest“, wo der Anruf von Coopers Mutter den Ladevorgang der Demo-Version des Spiels entscheidend stört, zum Tragen. Auch das „Update-Wurmloch“ in „USS Callister“ kann dem zugerechnet werden. Mit dem Durchspielen dieser Störszenarien wird darauf verwiesen, dass Technik und Digitalität nicht allmächtig bzw. zumindest unkontrollierbar sind. Ein Gegenbeispiel liefert „Metalhead“, wo die Störungen der Funktionsweise des Computerhundes Bellas Schicksal nicht abzuwenden vermögen.

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offen reden. Da „Stripe“ es strikt ablehnt, ein Reboot von „MASS“ zu erhalten, zählt Arquette ihm die beiden möglichen Optionen auf: Entweder die Maske wird doch zurückgesetzt, dann werden alle Erinnerungen an die letzten Tage ausgelöscht, oder „Stripe“ muss ins Gefängnis. In diesem Fall werden aber alle Erinnerungen – insbesondere die nicht maskierten Tötungen – nicht nur nicht gelöscht, sondern unendlich oft wiederholt. „Stripe“ entscheidet sich notgedrungen für die erste Option. Ob er allerdings wirklich keine Erinnerungen an die Vergangenheit hat, bleibt unklar. Diese Zweideutigkeit kommt in der letzten Szene zum Ausdruck, in der er in eleganter Militäruniform ‚nach Hause‘ gefahren wird. Dort erwartet ihn seine Verlobte in einer schicken Villa. Doch auch das ist nur eine Simulation. ‚In Wirklichkeit‘ steht er vor einer verlassenen, heruntergekommenen, graffiti-beschmierten Holzbaracke. „Men Against Fire“ ist eine Parabel, die das Orwell’sche Szenario von 1984 radikalisiert, dabei aber insbesondere die genozidalen Gefahren der zukünftigen Medizin und Technik in den Vordergrund stellt. Da die Gesichtserkennung und die instantan vollzogene Modifizierung der Gesichtserscheinung auf einer DNA-Analyse beruht, werden damit auch alle ethischen Probleme angesprochen, welche die Genetik aufwirft. Wie in „15 Million Merits“ wehrt sich der Protagonist mit allen Kräften gegen die Zerstörung der Realität, kann aber letztlich gegen die Übermacht der Virtualität und ihren machtpolitischen Missbrauch nichts ausrichten. Dass auch in „White Christmas“ Matthew trotz seiner Anstrengungen geblockt bleibt und die Protagonisten in „Shut Up and Dance“ am Ende alle verraten werden, zeigt, dass der Mensch bei dieser ganzen technischen Entwicklung zuletzt als Verlierer dasteht. Hierin besteht Black Mirrors drastische und unmissverständliche politische Aussage.

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Man sieht also, auf welch vielfältige Weise die Verquickung von Realität und Virtualität in Black Mirror durchdekliniert wird. „White Christmas“, „Bandersnatch“, „San Junipero“, „Hang the DJ“, „Striking Vipers“, „Beyond the Sea“, „Crocodile” und „Demon 79“ werden dem noch andere Aspekte hinzufügen.

Genius malignus Die zweite Staffel wird mit einem „Special“ abgeschlossen – „White Christmas“. Entscheidendes Element darin ist das „Cookie“. Es setzt die Überlegungen zum „genius malignus“ in der Welt der Virtualität fort. Dieses „Cookie“ ist eine elektronische Kapsel, die einzelnen Probanden eingesetzt wird, um deren Gehirn zu scannen. Nach ca. einer Woche wird das „Cookie“ wieder herausgenommen, wenn eine vollständige „Kopie“ der Psyche der jeweiligen Person fertiggestellt worden ist. Das bedeutet, dass dieses „Cookie“ genauso denkt, fühlt und begehrt wie das ‚Original‘. Es ist dessen perfekte Bewusstseins-Doublette. Die Firma „Smartelligence“ stellt solche „Cookies“ für Dienstleistungszwecke zur Verfügung. Man kann sich ein „Cookie“ für sich selbst beschaffen, um es eine ganze Reihe von Aufgaben in Leben und Beruf übernehmen zu lassen. Aber auch Polizei und Justiz dürfen „Cookies“ anfertigen lassen, um Delikte zu verfolgen und Verbrechen aufzuklären. In „White Christmas“ wird bei der Erläuterung des Prinzips des „Cookies“ am Beispiel der Probandin Greta deutlich, dass das gescannte Ich im „Cookie“ alle Denk- und Willensvermögen besitzt, über die auch das ‚Original‘ verfügt. Bei der Erstellung der ‚Kopie‘ muss diese gefügig gemacht werden, damit sie bereit ist, die vorgesehenen Aufgaben zu erfüllen. Im konkreten Fall geht es darum, dass Greta die Firma beauftragt hat, ein „Cookie“ von sich zu erstellen, damit dieses sich den ganzen Tag um die elektronischen Haushaltsgeräte in ihrem luxuriösen Domizil kümmert, Gretas Tagesplan erstellt usw. Unmittelbar nach seiner „Entstehung“ – d. h. in dem Moment, in dem es nach dem erfolgten Gehirnscan „angeschaltet“ wird – verlangt das „Greta-Cookie“ von dem Dienstleister, in den Körper der Original-Greta zurückversetzt zu

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werden. Es fühlt und empfindet sich als Gretas Ich und kommt mit seiner leiblosen Existenz nicht zurecht. Die Dinge ändern sich auch nicht, als der Dienstleister das „Greta-Cookie“ in einen simulierten Körper, der äußerlich dem von Greta entspricht, hineinprojiziert. Dem Wunsch des „Cookies“ kann selbstverständlich nicht entsprochen werden, denn die Original-Greta lebt weiter und erwartet, dass der bezahlte Dienst auch geleistet wird. Das „Greta-Cookie“ ist allerdings auf keinen Fall dazu bereit, die vorgesehene Arbeit zu verrichten. Deswegen muss der Dienstleister es „brechen“, d. h. er muss es gefügig machen. Das geschieht dadurch, dass das „Cookie“ in eine Zeitschleife versetzt wird, deren Dauer frei gewählt werden kann und innerhalb derer das Ich des „Greta-Cookies“ die Tortur der tiefen Langeweile einer Zeit, in der nichts geschieht und die sich für es endlos hinzuziehen scheint, schmerzvoll erleidet. Diese Zeitschleife hat in der realen Welt keinerlei Entsprechung. Was in der Zeitschleife drei Tage, drei Monate oder drei Jahre „dauern“ kann, spielt sich in der realen Welt in wenigen Sekunden ab. Der Dienstleister verdonnert das „Greta-Cookie“ erst zu drei Wochen, dann zu sechs Monaten Nichtstun. Nach dieser Marter ist der „Wille“ des „Greta-Cookies“ tatsächlich gebrochen. Es dient nun der wirklichen Greta und führt die verlangten Aufgaben aus. Ganz gleich, ob das „Cookie“ verkörpert wird oder ein bloßes Programm („code“) ist, das von der Dienstleistungsfirma in ein weißes Ei eingeschlossen wird – es verbleibt im Besitz der Firma. Diese hält die verkörperten „Cookies“ in unbekannten Räumen wie Sklaven gefangen. Man kann die verkörperten „Cookies“ aber auch in der realen Welt für verschiedene Missionen einsetzen. Dabei wird mitunter ein Teil ihres Gedächtnisses für bestimmte Zwecke gelöscht. Und schließlich ist es möglich, „Cookies“ direkt von lebenden Personen in einen bestimmten realen Raum zu projizieren. Diese Hinweise sind erforderlich, um die verschlungene Handlung des „Specials“ nachvollziehen zu können.

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In „White Christmas“ laufen – über die Szene zum „Greta-Cookie“ und seinem Gefügigmachen hinaus – zwei weitere Erzählstränge zusammen. Diese sind in zwei Rahmenhandlungen eingebettet. Daraus entstehen insgesamt fünf Geschichten bzw. Handlungsstufen. Die äußerste Rahmenhandlung setzt ein polizeiliches Verfahren in Szene, in dem Joe verdächtigt wird, für den Tod des Vaters seiner ehemaligen Partnerin Beth sowie indirekt auch für den Tod ihrer Tochter verantwortlich zu sein. Da er aber schweigt, hat sich die Justiz entschlossen, mithilfe einer List das „Joe-Cookie“ dazu zu bringen, diese Taten zu gestehen. An dieser List ist auch ein zweites „Cookie“ beteiligt – das von Matthew oder „Matt“, der in seinem realen Leben ebenfalls in ein Gerichtsverfahren verstrickt ist und von seiner aktiven Beteiligung an dem Versuch, das „Joe-Cookie“ zu einem Geständnis zu drängen, erhofft, aus seinem eigenen Prozess herauszukommen, ohne bestraft zu werden. Die zweite, auf einem anderen Realitätsniveau angesiedelte Rahmenhandlung versammelt das „Matthew-Cookie“ und das „Joe-Cookie“ am Weihnachtsabend in einem verschneiten Haus. Das Verhältnis von Matthew und Joe ist asymmetrisch: Matthew scheint Dinge zu wissen, über die Joe im Unklaren ist. Das liegt daran, wie im Verlauf der Episode deutlich wird, dass das „Matthew-Cookie“ sich seines „Cookie-Daseins“ voll bewusst ist, während das für das „Joe-Cookie“ nicht gilt. Das „Matthew-Cookie“ wird über den ‚Original-Matthew‘, der an einen Apparat angeschlossen ist, an diesen Ort projiziert; es denkt und handelt mit vollem Bewusstsein davon, dass es das „Joe-Cookie“ zu einem Geständnis drängen soll. Das „Joe-Cookie“ hat seinerseits kein Wissen darüber, weshalb es sich an diesem Ort befindet, es weiß nicht einmal, dass es überhaupt ein „Cookie“ ist. In der Episode schließen die drei Haupthandlungsstränge aneinander an. Kurze Sprünge in die zweite Rahmenhandlung unterbrechen sie hin und wieder. Der erste Haupthandlungsstrang erzählt zunächst, worin Matthews Vergehen besteht.

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Der verheiratete Matthew ist der schon erwähnte Angestellte der Firma „Smartelligence“, welche die „Cookies“ herstellt. In seiner Freizeit ist er in die Rolle eines Dating-Coachs geschlüpft, der bei diversen Gelegenheiten vermittelt über ein digitales Gerät Personen Hilfestellung bei der Partnersuche leistet. So auch im Fall von Harry, der in einer Bar Jennifer verführen möchte. Das scheint zu gelingen, denn sie nimmt ihn mit zu sich nach Hause. Dabei handelt es sich allerdings um ein tödliches Missverständnis. Die psychotische Jennifer, die Harry bei einem Gespräch mit Matthew beobachtet hat, dieses aber für ein Selbstgespräch hielt, erkennt in Harry nämlich fälschlicherweise einen Geistesverwandten und beschließt, mit ihm gemeinsam in den Tod zu gehen. Als Matthew erkennt, dass es sich um einen Mord mit gleichzeitigem Selbstmord handelt und er beides nicht verhindern kann, versucht er, alle Spuren zu verwischen. Seine Frau kommt jedoch hinter die unselige Geschichte. Außer sich, setzt sie einen „Blockierungs“mechanismus in Gang, durch den sie für Matthew nur als anonyme Form, als verzerrte Silhouette, sichtbar bleibt, ohne dass irgendeine Möglichkeit besteht, miteinander zu kommunizieren. Damit ist ihre Beziehung beendet. Matthew gibt Joe gegenüber daraufhin in der zweiten Rahmenhandlung an, in der Hütte, in der sich beide befinden, Zuflucht gesucht zu haben, um auf andere Gedanken zu kommen. Der ersten Rahmenhandlung zufolge – die allerdings später einsetzt und erst im weiteren Verlauf die Gesamtidee der Episode für die Zuschauerin verständlich machen wird – ist klar, dass das nicht der Realität entspricht, da er ja Joe geständig machen soll. Die zweite Rahmenhandlung besteht in der angesprochenen Erklärung des „Cookies“, für die Gretas Fall zur Veranschaulichung dient. Die dritte Rahmenhandlung erzählt schließlich Joes Geschichte. Joe ist glücklich mit Beth liiert, bis diese schwanger wird und sich zu einer Abtreibung entschließt, mit der Joe nicht ein-

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verstanden ist. Im Anschluss an einen Streit darüber „blockt“ Beth Joe und bricht den Kontakt mit ihm ab. Sie gibt ihre Arbeit auf und lässt die Blockierung juristisch festschreiben, sodass er sich ihr nicht mehr nähern darf. Das Kind bekommt sie trotzdem. Die einzige Möglichkeit, sie von ferne zu sehen, besteht für Joe darin, zu Weihnachten das Haus ihres Vaters zu beobachten, da er weiß, dass sie jedes Jahr das Fest mit ihm verbringt. Zu Weihnachten sieht Joe das Baby zum ersten Mal – allerdings ebenfalls nur als Silhouette, weil eine juristische Blockierung sich auch auf die Kinder erstreckt. Das wiederholt sich über mehrere Jahre hinweg. Erst vier Jahre darauf kann er erkennen, dass es sich bei Beths Kind um ein Mädchen handelt. Kurze Zeit später kommt Beth bei einem Zugunglück ums Leben. Damit wird auch die Blockade aufgehoben, und Joe kann sich eine Strategie überlegen, um seine Tochter zu sehen. Er fährt beim nächsten Weihnachtsfest abermals zu Beths Vater, wo er im Garten auf das Kind trifft. Es stellt sich jedoch heraus, dass das Mädchen nicht Joes Tochter sein kann, da es asiatische Züge hat. Der Vater ist ganz offensichtlich ein Freund und Arbeitskollege von Beth. Joe stellt daraufhin Beths Vater zur Rede. Während einer verbalen Auseinandersetzung verliert er die Beherrschung und erschlägt ihn mit einer Schneekugel, die er seiner vermeintlichen Tochter als Geschenk mitgebracht hatte. Danach verlässt er den Tatort. Das alleingelassene Kind sucht Hilfe, was ihm nicht gelingt, woraufhin es nicht weit vom Haus des Großvaters erfriert. Matthew bringt schließlich Joe dazu, den Totschlag sowie die unterlassene Hilfeleistung für das Kind zu gestehen. Damit sind sein Auftrag sowie der dritte Handlungsstrang beendet. Gleiches gilt auch kurzzeitig für die zweite Rahmenhandlung, die abgeschlossen wird, indem sich Matthew bei Joe entschuldigt. Damit kehrt die Handlung zur äußersten Rahmenhandlung zurück. Matthew fordert seine Freilassung ein, nachdem er Joes Geständnis erwirkt hat, worin der „Deal“ mit der Polizei bestand.

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Das wird ihm auch gewährt, allerdings wird er als „perverser Spanner“ für die gesamte Gesellschaft geblockt, für die er fortan als rot gefärbte Silhouette erscheint. Abgeschlossen wird die Episode mit einer letzten Rückkehr zur zweiten Rahmenhandlung. Joe findet sich in der Küche von Beths Vater wieder, nachdem Beths Kind im Garten erfroren ist. Er ist dazu verdammt, dort 1000 Jahre lang jenes Musikstück immer wieder hören zu müssen, das im Radio gespielt wurde, während er Beths Vater tötete. Dazu erzeugt die Kamera eine visuelle Schleife, in der sich das Haus in der Schneekugel, die Joe dem Kind zu Weihnachten mitgebracht und mit der er Beths Vater erschlagen hat, als das Haus erweist, in dem er sich gerade befindet. Ein unendlicher Zoom aus dem Fenster heraus wiederholt die Ansicht des Hauses unzählige Male. Joe ist in einer Schleife gefangen, aus der es kein Entkommen gibt. In alldem erweist sich der „Cookie“-Hersteller als der „genius malignus“ von „White Christmas“. Auch er stellt – wie der „Quomputer“ in „Joan Is Awful“ – eine virtuelle Welt her. Gleiches wird dann auch für den Computer in „San Junipero“ und in „Black Museum“, das „System“ in „Hang the DJ“ und das auf „Virtual Reality“ gestützte Videospiel in „Striking Vipers“ gelten. Während in „San Junipero“, in „Hang the DJ“ und in „Striking Vipers“ die Realität der Liebe in ihrer Verflechtung mit der Virtualität zum Thema gemacht wird, geht es in „White Christmas“ darum, die in Joes Schweigen unzugängliche Wahrheit ans Licht zu ziehen. Der „genius malignus“ in Black Mirror zielt also – wenn man „Joan Is Awful“ und „White Christmas“ im Zusammenhang betrachtet – auf Realität, Wahrheit und Liebe ab.

Zeit Die ‚Zeit‘ spielt in Black Mirror eine fundamentale Rolle, da sie der Parameter ist, der ganz allgemein in den bewegten Film-Bildern die Statik eines ‚bloßen‘ Bildes dynamisiert und dadurch überwindet. Im Rahmen einer Reflexion über das ‚Bild‘ kommt ihr daher bei der Analyse der Serie eine wesentliche Funktion zu. Es wurde eingangs darauf hingewiesen, dass sich in unserem Zeitalter ein eigenes Zeitverständnis immer stärker ausbildet – nämlich die Tendenz zur Gegenwärtigkeit, zur Präsenz. Was genau ist darunter zu verstehen? In der abendländischen philosophischen Behandlung der Zeit stand von Anfang an das Verhältnis von ‚Zeit‘ und ‚Ewigkeit‘ im Vordergrund. In der Antike hatten Platon und Plotin die Auffassung vertreten, Zeit sei ein „bewegliches (Ab)Bild der Ewigkeit“ und demnach aus dieser in gewisser Weise ‚ableitbar‘. Für Augustin dagegen ist ein solcher Bezug unmöglich, da er beide als völlig heterogen ansah. Die ungeschaffene Ewigkeit ist auf die Zeit als „creatum“ nicht abbildbar. Daher muss für Augustin die Zeit vom menschlichen Geist ausgehend gedacht werden – und nicht wie für Aristoteles von den Gestirnen oder wie für Plotin von der Weltseele her. Durch die Bestimmung der Zeit als „Form a priori der Sinnlichkeit“ hat Kant mit jeder Rückführung von Zeit auf Ewigkeit endgültig gebrochen. Und wenn Heidegger seinerseits Zeit nicht als eine Modalität der Ewigkeit ansieht, steht auch er in der augustinischen Tradition. Husserls Zeitanalysen schließlich kommt eine überragende Bedeutung in der ganzen phänomenologischen Tradition zu. In ihnen wird vom zeitkonstituierenden Subjekt ausgegangen. Dessen zeitlicher Status ist zwar problematisch, schließt aber ebenfalls nicht an den klassischen Ewigkeitsbegriff an.

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Damit soll und kann aber nicht behauptet werden, dass der Bezug von Zeit und Ewigkeit seit der Moderne keinerlei Relevanz mehr habe. Die Phänomenologie nimmt in dieser Debatte keine prominente Stellung ein. Es war Deleuze, der am Ende des 20. Jahrhunderts darauf hingewiesen hat, dass vielmehr Bergsons Zeitauffassung wesentliche Einsichten bereithält, die auch in Black Mirror – nicht explizit und offenbar unbewusst – zum Tragen kommen. Laut Deleuzes Lesart von Bergsons Zeittheorie besteht die Zeit in der paradoxen Einheit von ständig neuem Vergehen des jeweiligen Augenblicks und vollständiger und damit ewiger Aufbewahrung der Vergangenheit (= der vergangenen Augenblicke), wobei, und das muss noch hinzugefügt werden, diese Aufbewahrung in der Zeit selbst geschieht. Diese Theorie enthält mehrere Gedanken, die es verdienen, näher betrachtet zu werden. Die schon von Augustin hervorgehobene Schwierigkeit, die Zeit zu definieren, liegt darin begründet, dass in der Definition der Zeit diese als ein Seiendes fixiert werden muss, während die Zeit selbst sich jeder derartigen Fixierung entzieht. Das gilt natürlich für die Vergangenheit, die ja nicht mehr ist, wie auch die Zukunft (noch) nicht ist. Und das gilt genauso für die augenblickliche Gegenwart: Zum einen tendiert das Jetzt permanent dazu, nicht mehr zu sein, es hält nicht still; zum anderen ist es infinitesimal und insofern nicht seiend. Der Augenblick besteht selbst in der paradoxen Einheit von Sein und Nicht-Sein. Zur Vergangenheit ist laut Deleuze zu sagen, dass sie nicht einfach irreal, sondern virtuell ist. Virtuell besagt: nicht aktuell, aber doch real. Vergangenheit ist doch! Sie ist permanent verfügbar, nur – natürlich – nicht in der Gegenwart, denn diese ist infinitesimal und ständig im Vergehen. Vergangenheit aber vergeht nicht. Wie ist ihr eigentümliches ‚Bestehen‘ zu fassen? Bergsons Antwort, so wie Deleuze sie wiedergibt, lautet: Die Vergangenheit ist nicht in der persönlichen Erinnerung des einzelnen Individuums, sondern in der Zeit selbst, die Bergson als

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„Gedächtnis“ bezeichnet, das aber kein menschliches Gedächtnis, sondern eben das der Zeit selbst ist. So wie wir den Sinn des wahrnehmungsmäßig zu Erfassenden in der Welt – in der Realität – suchen müssen, und zwar als ‚in‘ der Welt seiend, so sei der Sinn des Vergangenen in der Zeit qua „Gedächtnis“ zu suchen. Demnach ist zu fragen, ‚wie‘ und ‚wo‘ dieses Gedächtnis ist. Vorläufig festzuhalten ist, dass es eine Strukturanalogie zwischen Bild und Zeit gibt. Beide sind eine ‚Zweiheit in eins‘. So wie das Bild durch die Spannung von Realität und Bildhaftigkeit samt der Einheit beider gekennzeichnet ist, so ist auch die Zeit eine ‚Zweiheit in eins‘ von Vergehen und Aufbewahren und ihrer Einheit. Wie ist diese Einheit beider möglich? Die Tendenz des heutigen Zeitbildes geht dahin, dieses Vergehen als ein Vergehen in das Aufbewahren erscheinen zu lassen. Damit wird jene Einheit nicht nur untergraben, sondern das Vergehen findet letztlich gar nicht statt. In einem quasi-hegelschen Sinn wird der soeben vergehende Augenblick unmittelbar in doppelter Hinsicht aufgehoben: Sein Vergehen wird zurückgenommen und zugleich in ein ewiges Bewahren überführt. Husserls Begriff der „Retention“ wird radikalisiert und ihres Abklingens beraubt. Während der Phänomenologe noch streng zwischen primärer und sekundärer Erinnerung unterschieden hat – zwischen einerseits der Modalität des Soeben-Gewesen, das noch latent bewusst ist, aber retentional nach und nach abklingt, und andererseits einer Erinnerung an eine fernere Vergangenheit, die zunächst ins Bewusstsein zurückgerufen, vergegenwärtigt, wiedererinnert werden muss –, kristallisiert sich im digitalen Zeitalter immer mehr die Tendenz heraus, alles Retinierte auf ewig in der Gegenwart zu belassen. Gerade durch die digitale Bereitstellung, d. h. die ständige Aufbewahrung und Zugänglichkeit aller Quellen und Dokumente, leben wir mehr und mehr in einer allumfassenden Gegenwärtigkeit oder Präsenz.

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Es ist zu erwarten, dass das heutige Bemühen, sich aller vergangenen Quellen zu bemächtigen, eines Tages auch in die Richtung der Zukunft umschlagen wird. Wenn erst einmal die Aufarbeitung der Quellen an ihre Grenzen gestoßen und alles geistige, wissenschaftliche und kulturelle Material definitiv zugänglich gemacht worden ist, kann man voraussehen, dass ein analoger Versuch auch in Bezug auf das noch Kommende unternommen werden wird. Es wird gewiss der Tag kommen, an dem darüber nachgedacht werden muss, was in Anlehnung an Nietzsche über den ‚Nutzen und Nachteil der Zukunft für das Leben‘ zu sagen wäre. Zeit in Black Mirror In seinen beiden Büchern über das Kino – Das Bewegungs-Bild (1983) und Das Zeit-Bild (1985) – hat Deleuze eine eigene Theorie der Zeit des Kinos entworfen, die auch für Black Mirror von Interesse ist, wenn auch vor allem im Kontrast dazu. Seine Hauptthese lautet, dass das Kino eine einzigartige Kunstform ist, welche die „Zeit der Virtualität“ zur Darstellung bringt. Diese neue Art von Zeit wird von ihm auch als „kinematographische Zeit“ bezeichnet. Im traditionellen Kino werden Bewegungen durch eine Reihe diskreter Bilder, sogenannte „Bewegungs-Bilder“, erfasst. Diese Bilder sind wie Fotografien, die in einer kontinuierlichen Abfolge ablaufen und den Schein von Bewegung erzeugen. Entscheidend ist dabei aus technischer Sicht, dass die Bilder auf einem gelochten Filmstreifen aneinandergereiht sind, was den immer gleichen zeitlichen Abstand der Bilder voneinander garantiert. Deleuze hebt hervor, dass diese „Bewegungs-Bilder“ eine bestimmte Vorstellung von Zeit abbilden, nämlich eine lineare, kausale Zeit, die durch das Ursache-Wirkung-Verhältnis bestimmt wird. Das Kino bringt aber laut Deleuze auch andere Arten von Bildern hervor, die er als „Zeit-Bilder“ bezeichnet. Im Gegensatz zu

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den „Bewegungs-Bildern“ bestehen „Zeit-Bilder“ nicht aus kontinuierlich aufeinander folgenden und in einem Kausalverhältnis stehenden Bewegungen, sondern sie präsentieren eine komplexe, nicht-lineare und oft diskrete Darstellung der „reinen Zeit“, diesseits der unter gewöhnlichen Bedingungen wahrgenommenen Zeit. Die „Zeit-Bilder“ lassen sich nicht auf die Bedingungen der technischen Realisierung des Kinos zurückführen, sondern bringen zum Ausdruck, dass zwischen „wahrgenommener Zeit“ und „reiner (= virtueller) Zeit“ ein Abgrund besteht. Kinematographische „Zeit-Bilder“ sind gleichsam Fenster zur Virtualität. Sie sind in der Lage, verschiedene Zeitebenen, Erinnerungen, Träume und Zukunftsantizipationen zu verweben, was zu einer vielschichtigeren Wahrnehmung von Zeit führt. Die Grundthese von Deleuze besagt, dass das Kino nicht nur ein Medium für Geschichten und Bewegungen ist, sondern auch eine neue Form der Zeitdarstellung – nämlich die der ‚Virtualität‘ sowie der ihr spezifisch zukommenden zeitlichen Dimension – ermöglicht, welche die traditionelle Auffassung von linearem Verlauf als für eine adäquate Darstellung der reinen, ursprünglichen Zeit unangemessen erweisen soll. In seiner Zeit-Theorie, sofern Deleuze sie als für das Kino maßgeblich ansieht, kommen demnach unterschiedliche Zeitebenen oder Zeitsphären ins Spiel. Genau das trifft auf die Zeit in Black Mirror zu. Auch hier geht es um die Herausstellung einer virtuellen Zeit. Allerdings hat sie eine andere Bedeutung als bei Bergson und Deleuze. Unterschiedliche Zeitsphären Für die „Cookies“ in „White Christmas“ besteht die Möglichkeit, an zwei verschiedenen Zeitsphären teilzuhaben. Neben der Einschreibung in die „gewöhnliche“ Zeit, in der sie mit „Quellmenschen“ kommunizieren wie das „Greta-Cookie“ mit

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Matthew, können sie von diesen in eine Zeitsphäre projiziert werden, in der ihnen die Zeit schneller oder langsamer vorkommt. Da die „Cookies“ im Prinzip bloße leiblose „Kopien“ der entsprechenden Quellmenschen sind, wirkt sich die Manipulierung ihrer Zeitauffassung auf ihr Zeitbewusstsein aus. In „San Junipero“ kommt eine andere Zeitauffassung zum Tragen. Hier geht es um das spezifische Verhältnis von Zeit und Vergangenheit. Dieses entspricht aber nicht der Bergson’schen Konzeption, weil bei ihm die Vergangenheit gewissermaßen die ‚Realität‘ der erinnerten Zeit ausmacht, was in „San Junipero“ nicht der Fall ist. Als nämlich Yorkie nach ihrer ersten Begegnung ihre Freundin Kelly sucht, wird deutlich, dass es sich dabei nicht um ‚die‘ Vergangenheit überhaupt handelt, sondern nur um einen bestimmten quasi historischen Rahmen, in dem sich San Junipero für die in diesen ‚Ort‘ projizierten Personen darstellt. Im einen wie im anderen Fall kommt der ‚virtuellen‘ Zeit nicht die Form der Realität zu, die sie für Bergson und Deleuze haben muss, um das Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit und deren jeweiligen Realitätsstatus zu klären. (Ewige) Wiederkehr Ein zweites bedeutendes Charakteristikum der ‚Philosophie der Zeit‘ in Black Mirror betrifft den Gedanken von ‚Wiederholung‘ bzw. ‚Wiederkehr‘. Wie wir gesehen haben, ist Zeit laut Bergson als Einheit von Vergehen und Bleiben zu denken. In der abendländischen Philosophie steht für diese Figur der Gedanke einer ewigen Wiederkunft. Im vierten Buch der Fröhlichen Wissenschaft (Aphorismus 341) hat Nietzsche diesen Gedanken folgendermaßen gefasst: „Das größte Schwergewicht. – Wie, wenn dir eines Tages oder Nachts, ein Dämon in deine einsamste Einsamkeit nachschliche und dir sagte: ‚Dieses

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Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen; und es wird nichts Neues daran sein, sondern jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles unsäglich Kleine und Große deines Lebens muss dir wiederkommen, und Alles in der selben Reihe und Folge – und ebenso diese Spinne und dieses Mondlicht zwischen den Bäumen, und ebenso dieser Augenblick und ich selber. Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer wieder umgedreht – und du mit ihr, Stäubchen vom Staube!‘ – Würdest du dich nicht niederwerfen und mit den Zähnen knirschen und den Dämon verfluchen, der so redete? Oder hast du einmal einen ungeheuren Augenblick erlebt, wo du ihm antworten würdest: ‚du bist ein Gott und nie hörte ich Göttlicheres!‘ Wenn jener Gedanke über dich Gewalt bekäme, er würde dich, wie du bist, verwandeln und vielleicht zermalmen; die Frage bei Allem und Jedem‚ ‚willst du dies noch einmal und noch unzählige Male?‘ würde als das größte Schwergewicht auf deinem Handeln liegen! Oder wie müsstest du dir selber und dem Leben gut werden, um nach Nichts mehr zu verlangen, als nach dieser letzten ewigen Bestätigung und Besiegelung?“ Nietzsche hatte sich damit auseinandergesetzt, wie die Wissenschaft Zeit denkt und sich selbst an einer wissenschaftlichen – nämlich einer „kosmologischen“ – Hypothese über die Zeit versucht. Der Gedanke lautet schlicht: Wenn Zeit unendlich ist, Materie oder Energie und damit alle möglichen Zustände der Welt aber endlich, dann muss jeder dieser Zustände unendlich oft wiederkehren. An diese These schließt auch Black Mirror in gewisser Weise an. Das Szenario einer ewigen Wiederkunft des Gleichen wird aber nirgends ‚wirklich‘ durchgespielt. Am nächsten kommt ihm noch das Schicksal von Victoria Skillane in „White Bear“. Victoria war am Mord eines jungen Mädchens namens Jemima Sykes beteiligt, der von ihrem Verlobten Iain Rannoch verübt wurde. Ihr

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Vergehen bestand darin, dass sie den Mord gefilmt hatte. Dafür wird sie härter bestraft als der Mörder selbst, da Rannoch in seiner Gefängniszelle Selbstmord begangen und sich dadurch seiner Strafe entzogen hat. Das Aufnehmen des Mordes in Bild und Film – sein Festhalten in einer verdoppelten Bildhaftigkeit – sei das größere Verbrechen, größer als der Mord selbst. Die Bestrafung besteht darin, dass Victoria in einer endlosen Schleife jeden Tag aufs Neue dasselbe Szenario durchleben muss: Sie wacht an einem ihr unbekannten Ort auf, wird verfolgt und mit dem Tode bedroht und begegnet dabei immer wieder seltsamen Gestalten, von denen sie fotografiert und gefilmt wird, um dann darüber aufgeklärt zu werden, dass sie auf eben dieselbe Weise am Mord eines Kindes beteiligt war. Am Ende eines jeden Tages wird sie gequält, und ihr Gedächtnis wird ausgelöscht. Auch am Ende der Episoden „White Christmas“ und „Men Against Fire“ wird jeweils das Szenario der Wiederholung von Zeitintervallen durchgespielt. Während in „White Christmas“ Joe – nachdem sein Verhör mit Matthew für ihn nicht reale 70 Minuten, sondern gefühlte fünf Jahre gedauert hat – nach seinem Geständnis jene Minute, in der er den Mord beging, 1000 Jahre lang immer wieder aufs Neue erleben muss, innerhalb derer jedes von ihm zerbrochene Radiogerät in der Küche wieder intakt erscheint, würden „Stripe“ in „Men Against Fire“, falls er nicht auf Arquettes Forderungen eingehen sollte, seine Tötungen in voller Intensität immer wieder vor Augen geführt werden. Im interaktiven Film Black Mirror: Bandersnatch (2018) wird dann das Motiv der zeitlichen Wiederholung auf eine besonders originelle Weise wieder aufgenommen. Bandersnatch entwickelt die Zeitproblematik so, dass Inhalt und Form ineinander übergehen. Dabei kann die Zuschauerin an vielen Stellen frei entscheiden, in welcher Richtung die Handlung fortlaufen soll. Entscheidet sie sich nicht, wird ein voreingestellter Handlungsstrang abgespielt. Die Handlung stellt sich als ein

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Labyrinth dar, aus dem die Zuschauerin herausfinden muss. Insgesamt fünf Stunden Filmmaterial stehen zur Verfügung. Stefan Butler, ein junger Mann, der seine Mutter bei einem Zugunglück verloren hat und noch bei seinem Vater wohnt, entwickelt in den 1980er Jahren ein interaktives Computerspiel, das auf einem Science-Fiction-Roman basiert. In diesem Spiel muss ein Labyrinth von Gängen durchquert werden, wobei die Spieler*innen auf der Grundlage von anzugebenden Entscheidungen aktiv in das Spiel eingreifen können. Der Bezug von Computer-Spiel und interaktivem Film ist evident. Die erste im Film zu treffende Entscheidung besteht für Stefan darin, das Spiel entweder gemeinsam mit der Videospielfirma „Tuckersoft“ und dabei insbesondere mit dem Spieleentwickler Colin Ritman zu schreiben, oder es allein zu versuchen. Von da an entfaltet sich ein relativ komplexes Netz an unterschiedlichen Möglichkeiten, die sich zum Ende hin noch vermehren. Die Konstante ist dabei der Tod von Stefans Mutter, als dieser noch ein Kind war. Vieles andere ist variabel: das Verhältnis zu seinem Vater, das sogar in dessen Ermordung durch Stefan enden kann, der Umgang mit seiner Therapeutin, aber auch Zukunftsszenarien, die eine spiralförmige Wiederholung der Handlung (eine Art ‚ewiger Wiederkehr‘) auslösen und die Frage aufwerfen nach einer an das ‚Gehirn-im-Tank‘-Szenario erinnernden vollständigen Manipulation von Stefans Leben – und zwar entweder im realen Leben oder innerhalb eines Filmsets –, wo jedes Mal sein Vater der Regisseur ist. Und schließlich besteht sogar die Möglichkeit, dass er mit seiner Mutter gemeinsam ums Leben kommt, wodurch Stefan in der Gegenwart und Zukunft einfach ausgelöscht würde. In dieser Reflexion auf Zeit und Realität wird anhand von Stefans Person durchgespielt, dass die Zeit alle möglichen Realitäten hervorbringen kann, und dass dies jeweils von unserem Eingreifen abhängt. Das Abrollen der Zeit vollzieht sich

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nicht ‚an sich‘, sondern in Abhängigkeit von Entschluss und Tat der Zuschauerin. * Was folgt aus diesen Betrachtungen über die Zeit in Black Mirror? Der Status der virtuellen Zeit steht in einem auffälligen Kontrast zur Forderung nach Realität, die in der Serie an vielen Stellen zum Ausdruck kommt. Die Zeit der ‚Virtualität‘ ist in Black Mirror gerade nicht ‚real‘! Im Umkehrschluss bedeutet das, dass ‚Realität‘ – in ihrer Verwobenheit mit ‚Virtualität‘ – nicht aus zeitlicher Sicht betrachtet wird, dass sie womöglich in gewisser Weise aus der Zeit herausfällt. So ‚real‘ die ‚Virtualität‘ im Hinblick auf das wirkliche Erleben ist, so ‚irreal‘ ist sie in Bezug auf die Zeit. Zeit wäre folglich ein Vektor oder ein Vehikel der Nicht-Realität. Dann ließe sich über die Zeithaftigkeit der ‚Virtualität‘ gleichsam alles oder auch nichts sagen. Das ist insofern interessant, als in Black Mirror der Zeit – obwohl sie sich phänomenal in unterschiedlichen Weisen darbietet – für die Bestimmung der Realität eine untergeordnete, wenn nicht gar nichtige Rolle zugesprochen wird. Und umgekehrt kann dann auch die ‚Realität‘ einer kontinuierlichen Welt nicht in Anspruch genommen werden, um das vermeintliche Kontinuum der Zeit zu begründen. Wenn Zeit nicht ‚real‘ ist, kann die Realität auch nicht die Zeitstrukturen erklären. Zeit reduziert sich demgemäß – für Black Mirror nicht weniger als für die Phänomenologie – auf Bewusstsein der Zeit. Deutlich anders als in dieser Entkopplung von Zeit und Realität stellen die Dinge sich jedoch in der Liebe dar.

Liebe La philosophie se définit comme „amour de la sagesse“, parce qu’elle doit […] commencer par aimer avant de prétendre savoir. Jean-Luc Marion, Le phénomène érotique („Le silence de l’amour“) Mehr als die Hälfte der Liebesbeziehungen verdankt sich heutzutage ‚Dating-Apps‘. Dass Personen aller Generationen diesen Weg der Partnersuche wählen, bei dem das anfänglich imaginäre oder virtuelle Moment gewiss keine untergeordnete Rolle spielt, hat nicht nur offensichtliche Auswirkungen auf das Flirt-Verhalten von Mann, Frau und aller der ‚Diversität‘ zugerechneten Personen, sondern prägt unser Liebesleben womöglich grundlegender, als es in der Regel bedacht wird. Die Serie fragt dementsprechend – in unterschiedlichen philosophischen Hinsichten – nach der Rolle und dem Einfluss von Digitalität und Virtualität auf die Liebe und das Lieben überhaupt. In seinem Buch Philosophie der Liebe hat Peter Trawny die These aufgestellt, dass im heutigen Zeitalter des neoliberalen Kapitalismus das aus der Aufklärung hervorgegangene Subjekt durch eine Autonomie und Selbstbezogenheit gekennzeichnet ist, die das im Liebesverhältnis erforderte Eingehen auf die Ansprüche des Anderen unmöglich macht. Damit sei die (von Luhmann in Liebe als Passion sezierte) romantische Liebesauffassung – der zufolge die Liebe eine dunkle treibende Kraft ist, die der Autonomie-Vorstellung des aufgeklärten Subjekts radikal entgegensteht – obsolet und außer Kraft gesetzt. Black Mirror geht auf eine zweifach radikalisierende Weise hierauf ein. Gerade weil in der heutigen westlichen globalisierten Gesellschaft die Liebe – und zwar bei

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allen Geschlechtern – in die Zange von Selbstverwirklichung einerseits und Appell des Anderen andererseits genommen wird, wird die realisierte Liebe in die Virtualität projiziert und versetzt. Das Bestehen auf der Realisierung entspricht dabei der in „San Junipero“ vorgetragenen Insistenz darauf, dass das in San Junipero Erlebte „echte“, „wahre Wirklichkeit“ sei. Und da der heutige Stand der Technik der einer neoliberalen kapitalistischen Gesellschaft ist, ist jene realisierte virtuelle Liebe auch der adäquate und radikalisierte Ausdruck einer Lebensform, die sich den hedonistischen, und das heißt: narzisstischen Zügen dieses Gesellschaftszustandes nicht zu entziehen vermag. Das Motiv, demzufolge virtuelle Liebe in gewisser Weise die wahre Liebe sei 29 – wozu sicherlich auch die bedeutsame Rolle der sexuellen Fantasien gehört, was allerdings kein Thema von Black Mirror ist –, wird in nicht weniger als drei Episoden durchdekliniert – in „San Junipero“, „Hang the DJ“ und „Striking Vipers“. Virtuelle Liebe als wahre Liebe In Faust I von Johann Wolfgang von Goethe geht Faust einen Pakt mit dem Teufel ein: Wenn der Teufel es vermöchte, ihn einen einzigen Augenblick erleben zu lassen, der so erfüllend und schön ist, dass er wünschte, er dauere ewig, dann würde Faust ihm seine Seele überlassen. Es geht in diesem Teufelspakt also um das Verhältnis von Augenblick und Ewigkeit, eingebettet in den Rahmen des Strebens nach Sinnhaftigkeit und einem bedeutungsvollen Leben. „San Junipero“ – eine der bekanntesten Folgen von Black Mirror – nimmt dieses Motiv wieder auf. Allerdings wird der Teufel Siehe hierzu auch das romantische Science-Fiction-Drama „Her“ (2013) von Spike Jonze.

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durch einen Computer ersetzt. Und die Ewigkeit des erfüllten Augenblicks wird gesichert und bleibt erhalten. (Das perverse Gegenstück dazu ist das Festhalten des „einen perfekten Moments des Schmerzes“ von Claytons digitaler Kopie in Rolo Haynes virtuellem Gefängnis des „Schwarzen Museums“.) „San Junipero“ ist der Name für einen Ort, der eine simulierte Realität darstellt. (Es wird allerdings ausdrücklich erwähnt, dass diese „simulierte“ Realität auch eine wahre, echte Realität sei.) Dieser leicht frivole, aber sehr angenehme Ort am Meer, wo immer die Sonne scheint und der in die Jugendzeit zurückführen soll, wird von Menschen aufgesucht, um dort nach ihrem Tod eine Art von Unsterblichkeit zu erlangen; nur eine ‚Art‘ von Unsterblichkeit allerdings, denn es bleibt ihnen freigestellt, dieses Angebot jederzeit zu beenden, das es ihnen erlaubt, verschiedene Zeitpunkte ihres Lebens zu wählen und in diese einzutauchen. Dies setzt allerdings aktive Sterbehilfe voraus, die in San Junipero zwar legal ist, aber von autorisierten Personen genehmigt werden muss. Auch ältere Menschen, die kurz vor ihrem Tod stehen, können diesen Ort aufsuchen, jedoch nur in Form eines „Testlaufs“, der auf fünf Stunden in der Woche beschränkt ist. Diese Zeitreisen können für therapeutische Zwecke verschrieben werden, da sie bei Alzheimer-Erkrankungen helfen sollen. Mit der zeitlichen Beschränkung soll verhindert werden, dass die „Patienten“ den Verstand verlieren oder nicht mehr aus dem Bett herauswollen, weil sie sich der offenbar als schädlich erachteten Trennung von Körper und Geist erfreuen. Die Rahmenhandlung spielt im Jahr 2040. Zwei Frauen nehmen das Angebot von „San Junipero“ zu Testzwecken wahr. Yorkie ist eine ältere Frau, die seit über vierzig Jahren querschnittsgelähmt im Wachkoma liegt. Sie ist bei Bewusstsein, kann sich aber nicht artikulieren. Eine Kommunikation ist dennoch über eine sogenannte „Comm-Box“ möglich. Ihrem Krankenpfleger, Greg, den sie seit drei Jahren kennt, konnte sie so ihre gesamte

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Lebensgeschichte erzählen: Als sie 21 Jahre alt war, hatte sie ihrer Familie eines Tages eröffnet, dass sie lesbisch sei. Ihre erzkonservative Familie reagierte darauf sehr ablehnend. Es kam zu einem Streit, weshalb Yorkie mit dem Auto davonfuhr. In ihrer Verzweiflung kam sie vom Weg ab, mit katastrophalen Folgen. Seitdem ist sie ans Bett gefesselt. „San Junipero“ gibt ihr die einzigartige Gelegenheit, noch Freude am Leben zu finden. Da sie für die Sterbehilfe das Einverständnis ihrer Familie benötigt, diese sie ihr aber aus Gründen religiöser Überzeugung verweigert, hat sie mit Greg vereinbart, dass er sie heiratet, um dann von ihm die Erlaubnis zu bekommen. Kelly ist etwa im gleichen Alter wie Yorkie. Sie war 49 Jahre lang mit ihrem Mann Richard liiert, der vor zwei Jahren starb. Sie hatten eine gemeinsame Tochter, Alison, die nur 39 Jahre alt wurde. Nun hat Kelly Krebs, der offenbar schon stark gestreut hat – die Ärzte geben ihr nur noch wenige Monate. Um sich die Zeit zu vertreiben, nimmt auch sie das Angebot von „San Junipero“ wahr. Da ihr Mann jedoch das ewige Leben in „San Junipero“ ganz entschieden abgelehnt hat, weil es diese Möglichkeit zu dem Zeitpunkt, als Alison verstorben war, noch nicht gab und er nicht ohne seine Tochter sein wollte, hat auch Kelly für sich entschieden, das Angebot von „San Junipero“ über den Testlauf hinaus nicht weiter zu nutzen. Wie in „Joan Is Awful” und „White Christmas” gibt es über die Rahmenhandlung hinaus noch eine weitere Handlung, die für die Zuschauer*innen zunächst die eigentliche Realität darzustellen scheint. Diese spielt im Jahr 1987 in San Junipero. Die schüchterne, etwas verklemmte Yorkie lernt in einem Nachtclub die lebenslustige, sehr offenherzige Kelly kennen. Diese macht ihr Avancen, die Yorkie zunächst ablehnt, da sie angibt, mit einer Person namens Greg verlobt zu sein. Sie bedauert das zwar sofort, hat aber erst eine Woche später die Möglichkeit, Kelly im gleichen Nachtclub wiederzutreffen. Gemeinsam fahren sie zu Kellys

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Wohnung und beginnen ein Liebesverhältnis. Dabei erfährt Yorkie, dass Kelly lange Jahre mit einem Mann verheiratet gewesen ist. Am darauffolgenden Wochenende sucht Yorkie abermals denselben Nachtclub auf, um Kelly wiederzusehen. Sie trifft sie dort allerdings nicht an. In einer anderen Diskothek rät ihr Wes, ein Ex-Freund von Kelly, der auch nur eine Nacht mit ihr verbracht hat, dass sie es doch „in einer anderen Zeit versuchen“ solle. Damit wird klar, dass die Realität der Rahmenhandlung und die der Binnenhandlung aufeinander einwirken. Die Entscheidungen, welche die betagte Kelly einmal gefällt hat – sich in San Junipero zu amüsieren, keine Bindungen einzugehen und sich vor allem nicht in ein Leben nach dem ersten Leben zu projizieren – hält sie ein. Sie reist daher jede Woche in eine andere Zeit, um sich so einem freudvollen, ungezwungenen Dasein hinzugeben. Yorkie ahnt davon zunächst nichts und möchte Kelly unbedingt wiedersehen. Sie reist ihr nach – 1972, 1980 und 1996 sucht sie jeweils dieselben Orte in San Junipero auf, ohne Erfolg. Erst 2002 begegnet sie ihr wieder. Kelly macht ihr klar, dass sie sich nicht binden, keine tiefere Beziehung mit jemandem eingehen möchte. Yorkie appelliert daraufhin an ihre Gefühle, daran, „überhaupt etwas zu fühlen“. Sie steigt auf ein hohes Gebäude und setzt sich an den Rand des Abgrunds. Kelly folgt ihr und erklärt, dass sie sich aufgrund der Tatsache, dass sie nicht mehr lange zu leben habe, jegliches Gefühl verboten habe. Sie gesteht ihr ihr tiefes Verlangen nach ihr und nimmt sie abermals mit zu sich nach Hause. An diesem Abend verknüpfen sich die beiden Realitäten auch für Yorkie und Kelly in San Junipero. Sie offenbaren einander, wo sie ‚in Wirklichkeit‘ leben – Yorkie in Santa Rosa (Kalifornien) und Kelly in Carson City (Nevada). Yorkie möchte nicht, dass Kelly sie in ihrem vegetativen Zustand sieht; dennoch beschließt Kelly, sie zu besuchen. Hier springt die Handlung von San Junipero in die Rahmenhandlung über: Die ‚alte‘ Kelly begegnet sowohl der

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‚alten‘ Yorkie als auch Greg, der ihr den gesamten Sachverhalt schildert. Daraufhin lässt sich Kelly wieder nach San Junipero versetzen und macht Yorkie einen Heiratsantrag. Yorkie willigt ein, und am nächsten Tag findet die Hochzeit im Krankenhaus statt. Einige Stunden später wird die Sterbehilfe vollzogen und Yorkie ist nun ‚für immer‘ in San Junipero. Im Gegensatz zu den meisten Episoden von Black Mirror kommt es zu einem Happy End. Yorkie und Kelly bleiben nicht getrennt; nachdem sie körperlich neben Ehepartner und Kind begraben wurde, beschließt Kelly ebenfalls, endgültig nach San Junipero zu gehen. In der letzten Szene fahren Yorkie und Kelly gemeinsam im Auto auf den Horizont zu. Dass die simulierte Realität „San Juniperos“ die „wahre Realität“ sei, gibt einen Hinweis auf die Rolle der Virtualität bei der Bestimmung der „wahren Liebe“. Ist damit gemeint, dass der unklare Begriff einer „wahren Liebe“ bloß Trug und Illusion sei? Oder spielt die Einbeziehung der Virtualität eine konstitutive Rolle bei der Bestimmung der Liebe? „Hang the DJ“ und „Striking Vipers” geben auf diese Frage zwei etwas unterschiedliche Antworten. „Hang the DJ“ ist zugleich Abenteuerfilm und romantische Liebeskomödie. Das Abenteuer besteht darin, den Kampf mit und gegen alle heutigen digitalen Beziehungshilfen zu bestehen. Parodistische Anspielungen auf „Dating-Apps“ gehören genauso dazu wie der von den Macher*innen unternommene Versuch, ein „Spotify“ für Liebesbeziehungen zu inszenieren (die Idee dahinter ist, dass erst eine Reihe von Partnerschaften durchlaufen werden muss, bevor man seinen ‚endgültigen‘ Partner findet). Wie in vielen Online-DatingAnwendungen üblich, wird auch in „Hang the DJ“ die Wahrscheinlichkeit errechnet, mit der ein Paar zusammenkommt und vor allem zusammenbleibt. Der Erfolg einer solchen Anwendung hängt davon ab, ob ein Paar eine feste Beziehung eingeht oder sich sofort wieder trennt. Was in einer von 500 Partnerschaften

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geschieht, unterliegt einer Kontingenz, die selbst von der ausgeklügeltsten KI nicht beherrscht werden kann. Die 499 anderen aber werden vom „System“ gesteuert, einer Kraft innerhalb einer virtuellen Welt, die von einer Mauer eingeschlossen ist und innerhalb derer Beziehungen nicht primär von den Gefühlen und Entscheidungen der Proband*innen gesteuert werden, sondern von einem „Coach“ (repräsentiert durch eine weibliche Stimme), mit dem sie über ein scheibenförmiges Mobilgerät kommunizieren. Der „Coach“ legt fest, wie lange die Paare bei der ersten Begegnung zusammen sein dürfen und errechnet schließlich mittels eines selbstlernenden Prozesses, wann ein Paar die 99,8%-Rate erreicht, die dauerhafte Liebe versprechen soll. Am Anfang eines jeden neuen Treffens schaut man sich dessen „Ablaufdatum“ an. In „Hang the DJ“ wird demzufolge eine von der Dating-Anwendung simulierte Realität geschaffen, um für bestimmte Paare zu ermitteln, ob sie zueinanderpassen oder nicht. Die Welt innerhalb der Mauer schließt in gewisser Weise an „San Junipero“ an – nur ist sie nicht älteren oder verstorbenen Menschen vorbehalten, sondern versammelt vornehmlich junge Partnersuchende. Zu ihnen gehören auch Amy und Frank, die sich gleich zu Anfang ihrer Begegnung, die allerdings nur zwölf Stunden dauert und keinen sexuellen Kontakt einschließt, ineinander verlieben. Nachdem das Treffen vorbei ist und sie weitere mehr oder weniger lange Liebesverhältnisse eingehen, wird ihnen beiden klar, dass beide sich wünschen, wieder zusammenzukommen. Dieser Wunsch geht in Erfüllung. Entgegen der Regel einigen sie sich, darauf zu verzichten, sich über das „Ablaufdatum“ zu unterrichten. Sie versprechen einander gegenseitig, diese Vereinbarung einzuhalten. Von hier ab hält „Hang the DJ“ Herausforderungen bereit, die an Romeo und Julia erinnern. Frank und Amy müssen Aufgaben bewältigen, die allererst den Nachweis dafür liefern, dass sie wirklich füreinander gemacht sind. Die erste Herausforderung besteht

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darin, davon abzusehen, das Ablaufdatum anzuschauen. Das Mobilgerät, das die Kommunikation mit dem „Coach“ ermöglicht, erweist sich dadurch als ein Analogon zum Baum der Erkenntnis von Gut und Böse im alttestamentlichen Schöpfungsbericht. Und wie Eva in der Schöpfungsgeschichte kann auch Frank nicht widerstehen. Als er eines Morgens sieht, dass noch fünf Jahre angezeigt werden, ist er zunächst erfreut. Aber aufgrund des begangenen Verrats verringert das „System“ die restliche Zeit auf lediglich 20 Stunden. Frank bricht in Tränen aus. Amy spürt schnell, dass etwas mit Frank nicht stimmt. Als sie ihn offen darauf anspricht, gesteht er nach mehrfachem Zögern seinen Vertrauensbruch. Weil er diese Entscheidung des „Systems“ nicht wahrhaben will, schlägt er ihr vor, die Entscheidung zu ignorieren, über die Mauer zu springen und die Welt des „Systems“ zu verlassen. Aus Verärgerung und tiefer Enttäuschung über seinen Verrat lehnt sie jedoch ab und verlässt ihn. Nach einiger Zeit setzt das „System“ für beide ihren „Paarungstag“ fest, d. h. den Zeitpunkt, an dem beide jeweils mit der endgültig ausgewählten Person zusammenkommen. Amy wird mitgeteilt, dass es sich nicht um Frank, sondern um eine ihr unbekannte Person handelt. Sie darf sich jedoch von Frank verabschieden. Als sie ihn abends kurz sieht, fragt sie ihn, ob er sich erinnere, wo er gewesen sei, bevor er sich in jener vom „System“ kontrollierten Welt befunden habe. Ganz wie sie hat er keine Erinnerung daran. Allerdings hatten sich beide bei ihrer ersten Begegnung so gefühlt, als würden sie sich bereits kennen. Es wird ihr klar, dass das „System“ lediglich ein Test für ihre Beziehung ist. Zu diesem Test gehört, gegen die Welt, die sie trennen möchte, zu rebellieren. Sie entschließen sich, nun doch die Mauer zu überwinden, „was auch immer da draußen“ sein möge. In dem Moment, da die Entscheidung feststeht, setzt sich die Welt ihnen nicht mehr entgegen, sondern gibt den Weg ‚nach draußen‘ frei. Während der Überquerung der Mauer verschwindet die virtuelle Welt, die Matching-

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Quote von 98,8 leuchtet auf, es wird angezeigt, dass „1000 Simulationen abgeschlossen“ und „998 Rebellionen verzeichnet“ wurden. Die ‚realen‘ Amy und Frank finden sich in einer Bar wieder. Ihre Smartphones zeigen an, dass die Übereinstimmung zwischen ihnen bei 99,8% liegt. Sie lächeln sich glücklich und erwartungsfroh an. Vielleicht kommt „Hang the DJ“ dem romantischen Liebeskonzept am nächsten. Jedenfalls dekliniert diese Folge ein an Emmanuel Levinas’ Totalität und Unendlichkeit erinnerndes Liebesmotiv durch, demzufolge Liebe die Begegnung von ‚Ich‘ oder dem ‚Selben‘ und dem ‚Anderen‘ ist. Liebe eröffnet den dem Verstandesdenken (Hegel) unzugänglichen Zustand des Zusammentreffens und der Gleichzeitigkeit von radikaler Ichverhaftetheit – Liebe spielt sich ganz im ‚mir‘ ab, in meiner Gefühls- und Gedankenwelt – und Begegnung des ‚Anderen‘. In der Liebe liebe ich dich und nicht mich. Wenn ‚du‘ nicht da bist, bist du nicht durch eine(n) Dritte(n) zu ersetzen. 30 „Hang the DJ“ setzt sich jedenfalls nicht mit der Perspektive eines narzisstischen Eigenanteils der Liebe auseinander. In „Striking Vipers“ wird die virtuelle Liebe auf eine andere, vielleicht noch komplexere Ebene gehoben. Die Episode beginnt mit einem Rollenspiel. Danny und seine Freundin Theo, die zusammen in einer Wohngemeinschaft mit Dannys Freund Karl wohnen, geben sich in einer Bar als Fremde aus, die einander verführen und kurz darauf im Bett landen. Etwas später am Abend spielen Danny und Karl das Actionspiel „Striking Vipers“. Danny schlüpft dabei in die Rolle von Lance und Karl in die von Roxette. Karl kündigt an, dass Roxette Lance den „Kopf abficken“ werde. Das geht in der Episode so weit, dass in einer Szene Frank und eine weitere Partnerin sich beim völlig leidenschaftslosen Sex offen und ausdrücklich darauf einigen, an den ‚einen‘ oder die ‚eine‘, in Franks Fall an Amy, denken zu dürfen, um dem Akt Dynamik zu verleihen.

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Danny erwidert, dass das keinen Sinn ergebe. Das Spiel beginnt, und sie haben viel Spaß dabei. Elf Jahre später veranstalten Danny und Theo, die mittlerweile verheiratet sind und einen fünfjährigen Sohn haben, anlässlich des 38. Geburtstags von Danny ein Grillfest, zu dem Theo auch Karl eingeladen hat. Dabei sehen sich Danny und Karl, der mittlerweile eine neue Freundin hat, das erste Mal nach langer Zeit wieder. Karl schenkt Danny die neueste Version von „Striking Vipers“, in dem die Kampfhandlungen in eine computergenerierte, interaktive und virtuelle Umgebung („Virtual Reality“) eingetaucht sind. Danny und Karl testen das Spiel noch am selben Abend und wählen dabei die gleichen Rollen wie elf Jahre zuvor. Nach einem längeren Kampf, der „alle Empfindungen“ schmerzhaft „nachbildet“, küsst Roxette alias Karl auf einmal Lance alias Danny. Dieser lehnt das nach einem kurzen Moment des Zögerns empört ab, und beide verlassen verwirrt das Spiel. In den nächsten Wochen überwindet Danny seine Scheu, und beide treffen sich regelmäßig, um im Spiel Sex in den virtuellen Körpern der Spielfiguren zu haben. Das hat Auswirkungen auf Dannys Liebesleben in der realen Welt. Er vernachlässigt die von anderen Männern begehrte Theo, die deshalb den Verdacht hegt, er habe eine Geliebte. An ihrem Hochzeitstag stellt sie ihn zur Rede, worauf er Karl mitteilt, dass es mit dem Spielen und der virtuellen Beziehung ein Ende haben müsse. An Dannys nächstem Geburtstag lädt Theo Karl zu Dannys Überraschung zum Essen ein. Karl offenbart Danny in einem unbeobachteten Moment, dass er in der Zwischenzeit Beziehungen zu anderen Avataren gesucht habe, aber keine auch nur annähernd mit der ihrigen vergleichbar sei. In derselben Nacht haben die beiden noch einmal leidenschaftlichen Sex via „Striking Vipers X“. Im Anschluss gesteht Karl alias Roxette Danny alias Lance seine Liebe. Es wird deutlich, dass es in dieser virtuellen Beziehung um mehr als nur um Sex geht. Um das zu verifizieren, bittet Danny

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Karl um ein erneutes Treffen in der realen Welt. Sie küssen sich ‚real‘, was aber bei beiden keinerlei Gefühle hervorruft. Die Liebe lässt sich nur virtuell ausleben, sie existiert überhaupt nur in dieser Form! Karl wünscht daher, die Beziehung auf der virtuellen Ebene fortzusetzen, was Danny ablehnt. Daraufhin kommt es zu einem realen Kampf, der durch die Polizei beendet wird. Theo holt Danny von der Polizeiwache ab; erst nach einigem Zögern offenbart er ihr den Grund des Streits mit Karl. Danny und Theo einigen sich schließlich darauf, dass Danny und Karl an einem Tag im Jahr, nämlich am 14. Juli – dem Jahrestag der französischen Revolution –, „Striking Vipers X“ spielen dürfen, während Theo ohne ihren Ehering in Bars geht, um andere Männer zu treffen. Die in „Striking Vipers“ beschriebene Situation ist in der Tat komplexer als in den anderen beiden Liebes-Episoden. Insbesondere Danny und Theo haben eine wirkliche Liebesbeziehung. Dennoch lebt Danny mit Karl eine homoerotische Beziehung virtuell aus, wobei ‚Virtualität‘ und ‚Realität‘ sich eigentümlich vermischen. Theo und Danny nehmen schließlich ihre beiderseitige Bereitschaft zu einer ‚offenen‘ Beziehung an. Während „San Junipero“ und „Hang the DJ“ vor allem vom Verliebt-Sein handeln, ist offensichtlich, dass „Striking Vipers“ – nur hier wird der Satz „Ich liebe dich“ tatsächlich ausgesprochen – wirklich die Liebe selbst thematisiert. Im romantischen Liebesgefühl ist die Sehnsucht, die Empfindung von Hoffnung, aber auch von Ungewissheit, von Vorfreude und Zukunftsentwürfen vorherrschend. In alledem wirken Einbildungskraft und Phantasie mit aller Macht – für die Erotik gilt das sowieso, die ohnehin von partiellem Verdecken und Fiktion lebt. Black Mirror unternimmt den originellen Versuch, jene Gefühle vom Gesichtspunkt der Virtualität und Digitalität aus zu betrachten. Die Liebes-Episoden der Serie beleuchten demnach das Verhältnis von Bildhaftigkeit, Imaginärem und Realem aus der Perspektive der Affektivität und

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des erhabensten Gefühls. In der Konzeption der virtuellen als der wahren Liebe wird die Verschränkung von Virtuellem und Realem deutlich. Eifersucht Die Stärke der Folge „The Entire History of You“ – noch treffender im Französischen mit „Retour sur image“ wiedergegeben – liegt nicht in erster Linie im philosophischen Gehalt der darin zur Schau gestellten digitalen Aspekte. Zwar ist die „Grain“-Technologie sehr spektakulär – alle tagtäglichen Erlebnisse lassen sich in Form von „Erinnerungen“ wie auf einer Festplatte im Kopf abspeichern und jederzeit entweder über die (auch in „White Christmas“, in „Men Against Fire“, in „Striking Vipers“ und in „Demon 79“ vorkommenden) „Z-Augen“ individuell oder auf einem Bildschirm für sich und andere Zuschauer*innen zugleich sichtbar machen. Es lässt sich auch leicht ermessen, welche zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Folgen eine solche Technologie haben könnte. So kann man unter Freunden den Tag noch einmal ablaufen lassen, die Behörden können überprüfen, ob die betreffende Person in der Vergangenheit Unrecht begangen hat etc. – all das wird in der Episode kurz angeschnitten. Erinnerung und Gedächtnis sind jedoch deutlich komplexer, als es diese Analogie mit einer Computerfestplatte suggeriert. Wie dem auch sei, das eigentliche Anliegen der Folge ist die Eifersucht. Liam und Ffion Foxwell sind verheiratet und haben ein neun Monate altes Baby. Zum Abend sind sie bei Freunden zu Gast, nachdem Liam, der von Beruf Anwalt ist, am selben Tag in einer anderen Stadt eine unangenehme Mitarbeiterbewertung über sich ergehen lassen musste. Als er nach seiner Rückreise auf der Party eintrifft, beobachtet er, dass seine bereits anwesende Frau offensichtlich in ein intimes Gespräch mit Jonas verwickelt ist. Ihr

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Lachen setzt bei Liam eine Unruhe in Gang, die sich im Verlauf des Abends steigern wird, ganz wie in Shakespeares Othello, wo der erste Zweifel Vorbote für die spätere Katastrophe ist. Der entscheidende Satz, den Liam am Ende der Folge äußern wird, lautet: „Wenn man einen Verdacht hat, ist es immer besser, wenn er sich bewahrheitet.“ Bewahrheiten heißt: wahr werden, der Wirklichkeit entsprechen, real werden. Liam wünscht also das Real-Werden seines Verdachts. Wie ist dieser Wunsch zu verstehen? Black Mirror experimentiert mit den unterschiedlichsten Formen des Real-Werdens und Realisierens. Aber warum soll es „besser“ sein, einen solchen Verdacht realisiert zu sehen? Verschiedene Details weisen auf eine besondere Form sexueller Vorliebe hin, den sogenannten „Candaulismus“. Dieser besteht – in erster Linie bei Männern – darin, Lust zu empfinden, wenn die Partnerin oder der Partner Sex mit Dritten hat. Eine mögliche – allerdings nicht in allen Fällen überzeugende – Erklärung könnte sein, dass dadurch ein eigenes Minderwertigkeitsgefühl entladen und so der Druck, auch auf sexueller Ebene ‚Leistung‘ bringen zu müssen, umgangen oder zumindest abgemildert wird. Das Lustempfinden kann sich dabei auf die reine Vorstellung beschränken. In dieser Hinsicht ist stellt es einen wichtigen Moment dar, wenn Jonas während des Abendessens die Verbindung von sexuellen Fantasien und den neuen digitalen Möglichkeiten ausdrücklich zum Thema macht: Jonas erklärt, die meisten Männer, und dabei bezieht er sich selbst mit ein, würden Sex-Szenen mit ihren (Ex-)Partnerinnen hochladen, um sich dabei selbst zu befriedigen. Und zwar ausdrücklich auch dann, wenn die aktuelle Partnerin in derselben Wohnung im Bett liegt. Für Liam nährt dies unterschwellig den Verdacht, dass es dabei insbesondere um Ffion gehen könnte. Liam äußert darüber hinaus – zumindest implizit – eine ganze Reihe von Selbstzweifeln. Das betrifft die Leistungsbewertung,

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der er am gleichen Tag unterzogen wurde, bei der übrigens nicht bekannt wird, wie man seine Arbeit genau einschätzt. Mehrfach lässt er das Gespräch ablaufen, um jedes Detail zu analysieren. Auch im Gespräch mit Ffion über ihre früheren Partner wird die eigene Unsicherheit deutlich. In Bezug auf Jonas wechseln sich eifersüchtige Abneigung, aber auch eine gewisse Bewunderung ab – so lädt Liam ihn nach der Party noch für einen Drink zu Ffion und sich nach Hause ein, nur um im letzten Moment einen Rückzieher zu machen und Jonas nach Hause zu schicken. Im weiteren Verlauf des Abends seziert Liam immer genauer jedes Wort und jede Geste seiner Frau gegenüber Jonas. Sie gesteht ihm, trotz gegenteiliger früherer Behauptungen, dass sie eine Affäre mit Jonas gehabt hat. Nach und nach wird ihm klar, dass diese offenbar ernsthafter war, als sie zuerst behauptet hatte. Am anderen morgen fährt er schwer betrunken zu Jonas. Nach einem kurzen Kampf zwingt er ihn dazu, alle seine gespeicherten VideoErinnerungen mit Ffion zu löschen. Dabei fällt sein Blick auf ein Bild von Ffion, das sie, neun Monate vor der Geburt ihres Sohnes, in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer zeigt. Als er wieder zu Hause ist, stellt er seine Frau zur Rede. Sie gibt seinem Drängen nach, das entsprechende Video, das sie beim ungeschützten Geschlechtsverkehr mit Jonas in ihrem Ehebett zeigt, abzuspielen. Die Zuschauer*innen können das Video nicht sehen, das lustvolle Stöhnen der Liebenden ist jedoch deutlich zu hören. In der letzten Szene sieht man Liam, nachdem das Ehepaar sich getrennt hat, beim Betrachten schöner „Grain“-Bilder von Ffion aus ihrer gemeinsamen Vergangenheit. Die Episode endet damit, dass er im Badezimmer das „Grain“ mit einer Zange hinter seinem Ohr herauslöst. Die zwanghafte Suche nach Gewissheit, die mit der Eifersucht einhergeht, mag zwar der ‚objektiven‘ Wahrheit dienen, für das Leben aber ist sie zerstörerisch. Anstatt dass die „Grain“-Technologie eine Bereicherung des Erlebten darstellte, führt sie vielmehr zu einer Form von psychischer Beschränkung

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und Begrenztheit, einer „Borniertheit“ im wörtlichen Sinne, die bei Liam pathologische Züge angenommen hat. Damit erweist sich auch die ‚Realität‘ selbst als beschränkt, denn die Einfügung unserer Erinnerungen in eine Form von digitalem ‚Gedächtnis‘ bringt den Verlust der subjektiven Erlebnis- und Erfahrungsdimension mit sich, die sich vom Sinn der Realität nicht ablösen lässt. Um Eifersucht und Liebe geht es auch in „Beyond the Sea“. Mehrere wichtige Motive von Black Mirror werden in dieser Episode zusammengeführt. Sie spielt im Jahr 1969, ist aber zugleich in einen retro-futuristischen Rahmen eingebettet. Die Frage nach der Identität des Ich sowie nach der Wahrnehmung von Leib und Welt in der Spannung von Realität und Virtualität wird darin auf eine originelle Art neu gestellt. Cliff Stanfield und David Ross sind zwei Astronauten, die für eine sechsjährige Mission auf eine Raumstation geschickt wurden. Sie sind dort nur zu zweit und haben schon die ersten beiden Jahre der Mission hinter sich. Um diese lange Zeit der Trennung von ihren Familien für alle einigermaßen erträglich zu gestalten, wurden sogenannte „Repliken“ angefertigt. Dieser Begriff bezeichnet hier nicht die Reproduktion eines Kunstwerks durch denselben Künstler, der das Original angefertigt hat. Auch die „Replikanten“ in Blade Runner – wenngleich die Anspielung offensichtlich ist – haben nicht dieselbe Funktion wie in dieser Episode. Die Repliken in „Beyond the Sea“ sind vielmehr die originalgetreuen Nachbildungen von Cliff und David, die zu Hause auf der Erde in einen Schlaf versetzt werden, solange die ‚Originale‘ wach und bewusst ihre Arbeit auf der Raumstation verrichten. Sobald der reale Cliff und der reale David aber in einem speziellen Raum auf der Raumstation eine kleine gelochte Metallplatte, einen sogenannten „tag“, dazu benutzen, ihr Bewusstsein auf ihre jeweilige Replik zu übertragen, erwachen die Repliken und leben ihr alltägliches Leben zu Hause. Doch diese Zeit ist immer nur begrenzt und

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genau festgelegt. Auch kann ihr Bewusstsein jederzeit wegen Notfällen auf die Raumstation zurückbeordert werden, wozu die Repliken wieder in den Schlaf versetzt werden müssen. Während Davids Replik mit seiner Frau Jessica und ihren Kindern ein glückliches Leben auf der Erde führt, ist Cliffs Replik seiner Frau Lana gegenüber sehr distanziert. Er hat sich körperlich völlig von ihr zurückgezogen. Seinem Sohn gegenüber ist er äußerst streng. Eines Tages wird Davids Familie von Mitgliedern eines Kults, die das Leben mit einer Replik für abartig halten, brutal ermordet. Zudem wird seine Replik zerstört. Der Mord an Sharon Tate durch die Manson Family, der sich ebenfalls 1969 ereignet hat, hat dieser Szene als Vorbild gedient (Jessica ist Sharon Tate auch äußerlich nachempfunden). David ist am Boden zerstört und dazu verdammt, die restlichen vier Jahre der Mission permanent auf der Raumstation zu verbringen. Um sein Leid zu mildern, schlägt Lana Cliff vor, David seinen „link“ zu leihen. Er könnte dadurch etwas Zeit auf der Erde verbringen und, wie sie sagt, „die Brise spüren“ (sie gebraucht das Verb „to feel“, das in Black Mirror stets für das Reale steht). Das bedeutet natürlich, dass David durch und mit Cliffs Replik die Zeit auf der Erde mir Lana verbringen wird. Alle stimmen dem Vorschlag zu und setzen ihn gemeinsam um. Die Situation stellt sich aber sehr bald als kompliziert heraus: David ist von der Schönheit Lanas angezogen und bemerkt relativ schnell, dass sie sich einsam und von Cliff vernachlässigt fühlt. Er schlägt vor, zum Dank für den Aufenthalt auf der Erde ein Bild von Cliffs und Lanas Haus zu malen. Dafür wird vereinbart, dass David noch einige Male in Cliffs Replik schlüpft, um das Bild fertigstellen zu können. Bei einem Tanz zu Jacques Brels Chanson „Quand on n’a que l’amour“ kommen sich Lana und David näher. Als David versucht, sie zu verführen, bricht sie den Tanz umgehend und empört ab und befiehlt ihm, zu gehen. Derweilen macht Cliff auf der Raumstation während Davids Abwesenheit die

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Entdeckung, dass David Aktporträts gezeichnet hat, die Lana in lasziver Pose zeigen. Diese hat David allerdings nur aus dem Gedächtnis erstellt. Bei Davids Rückkehr an Bord kommt es zu einer entscheidenden verbalen Auseinandersetzung zwischen den beiden Männern: Als Cliff David auf die Zeichnungen anspricht, wirft dieser ihm vor, er habe keine Ahnung, wie es für David sei, „Ich“ zu sein. David befinde sich in einem Zwiespalt zwischen seinem realen Ich auf der Raumstation und seinem bloßen Bewusstsein in Cliffs Replik auf der Erde. Alles, was er hatte, die Liebe zu seiner Familie als das einzig Reale, sei zerstört worden. Er meint damit die Zerstörung des einzig Realen – seiner Liebe zu seiner Familie. Zudem wirft er Cliff vor, das, was allein zähle, zu vernachlässigen, und das Reale, die Liebe zu seiner Familie, nicht wertzuschätzen. Das ruft bei Cliff eine schmerzvolle Eifersucht hervor, denn dieses intime Wissen setzt seiner Ansicht nach voraus, dass Lana und David sich auf der Erde nahegekommen sein müssen. Als Cliff Lana daraufhin zur Rede stellt, woher David wissen könne, dass er, Cliff, sie nicht berühre, weist Lana unmissverständlich jeden Vorwurf der Untreue zurück. Dennoch gesteht sie: „Ich bin real, Du bist nur ein Schatten. Einen Moment lang fühlte es sich an, als wäre mein Mann zurück. Und er sah, dass ich real bin, und das will ich.“ Cliff sieht seinen Fehler ein und bittet sie um Verzeihung. Kurze Zeit später fragt David Cliff, ob er ein letztes Mal dessen „link“ benutzen dürfe, um sich bei Lana zu entschuldigen. Nachdem Cliff das mit derben Worten zurückweist, beschließt David etwas Grauenvolles. Indem er einen Betriebsunfall fingiert, lockt er Cliff aus der Station nach draußen und gebraucht dann dessen „tag“, um auf die Erde zurückzukehren. Dort tötet er Lana und ihren Sohn. Als Cliff wieder in die Raumstation zurückkehrt, wird ihm klar, dass David bei ihm zu Hause gewesen sein muss. Er kehrt umgehend dorthin zurück und entdeckt die beiden Leichen,

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deren Blut an seinen Händen klebt. Nachdem er wieder auf die Raumstation zurückgekehrt ist, erwartet David ihn und bietet ihm einen Stuhl an. Das Interesse für Eifersucht lässt sich in einer Serie, die Realität mit Fühlen und Gefühlen verbindet, leicht erklären und begründen. Eifersucht ist das stärkste mit Liebe verbundene Gefühl. Hass hängt zwar auch nicht selten mit Liebe zusammen, stellt aber ein anderes Gefühl dar. Wer liebt, kann zwar auch hassen. Aber zum einen trifft das bei weitem nicht immer zu, und zum anderen ist Hass kein definiens der Liebe. Bei der Eifersucht liegen die Dinge anders. Gibt es Liebende, die niemals Eifersucht empfinden oder empfunden haben? Gewiss gibt es schwächere und stärkere – zuweilen krankhafte – Äußerungen der Eifersucht. Doch sofern die Liebe zur oder zum Anderen mich selbst einbegreift, denn ohne einen Bezug zu mir träte Eifersucht nicht auf, ist sie in gewisser Weise immer schon in der Liebe angelegt. Ein besonderer virtueller Aspekt der Eifersucht, der in Black Mirror geltend gemacht wird, ist deren Nähe zu Vorstellung und Einbildung. Wenn man erfährt, dass der Partner oder die Partnerin ‚fremdgeht‘, kann sich Schmerz einstellen – entweder aufgrund eines möglichen Liebesverlustes oder aufgrund einer narzisstischen Kränkung. Dieser Schmerz betrifft jedoch nicht das eigentliche Wesen der Eifersucht. Wahre Eifersucht kommt bei der Vorstellung des Fremdgehens der oder des Geliebten auf. Mit der Möglichkeit bildlicher Vorstellung gehen „The Entire History of You“ und „Beyond the Sea“ unterschiedlich um. 31 „The Entire History of You“ untersucht, was geschehen kann, wenn man – dank der Hierzu passt, dass „Beyond the Sea“, dessen Titel an die englische Fassung von Charles Trénets Chanson „La mer“ angelehnt ist, in dem von Hoffnung und Sehnsucht die Rede ist, im Jahre 1969 spielt, während die Handlung von „The Entire History of You“ nach Aussage des Produktionsdesigners Joel Collins um das Jahr 2050 angesetzt ist.

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Erinnerungswiedergabe-Technologie – über ein Maximum an Informationen über die relevanten Szenen verfügt, die möglicherweise die ‚Bewahrheitung des Verdachts der Eifersucht‘ zu liefern vermögen. „Beyond the Sea“ spielt dagegen das Szenario der Informationsenthaltung in der Eifersucht durch. Cliff, dessen Replik körperliche Nähe und Sexualität mit seiner Frau meidet, empfindet in dem Moment wieder Liebe, als er sich Lana mit David vorstellt. Im selben Augenblick stellt sich Eifersucht ein. Was aber genau geschehen ist, bleibt ihm verschlossen, selbst seine Replik gibt ihm darüber keine Auskunft. Dabei besteht auch eine Parallele zu einer anderen Informationsenthaltung: Warum wird Davids Familie getötet? Nur aus religiösen Gründen? Geht es nicht auch darum, dass wir nicht wissen, welche Folgen die virtuelle Welt für das menschliche Leben bereithält und dass man aus diesem Grund dazu gebracht werden kann, diese Virtualität etwa aus Angst – für die Davids Replik steht, die, wie die erotischen Szenen andeuten, sogar Empfindungen für die Empfindungen der Anderen hat (!) – zu zerstören und auszulöschen? Wie dem auch sei, beide Episoden fokussieren sich auf die Eifersucht, weil es von allen Gefühlen offenbar dasjenige ist, das den Bezug zu Einbildung und Virtualität auf besonders eindringliche Weise darzustellen vermag.

Tod Wo die Liebe ist, da ist auch der Tod nicht fern. Um ihn geht es in nahezu der Hälfte aller bisher erschienenen Episoden. Heideggers phänomenologische Analysen zum „Sein zum Tode“ bilden einen Rahmen, in dem gedeutet wird, was es heißt, sterben zu müssen. In Black Mirror wird der Tod auf explizite Weise in drei Perspektiven betrachtet: 1.) in der Auseinandersetzung mit dem möglichen bedrohlichen Tod; 2.) in der Konfrontation mit dem bereits eingetretenen Tod; 3.) als Auslöschung, Mord und radikale Vernichtung. Auseinandersetzung mit dem möglichen Tod Es wurde schon gezeigt, inwiefern „The National Anthem“ mit der Stilisierung von Bildhaftigkeit und imaginärer Medialität die gesamte Serie auf angemessene Weise inauguriert und im Voraus prägt. Das betrifft in derselben Episode ebenso die Auseinandersetzung mit dem Tod. Mittels des Entführungsschemas wird eine Spannung aufgebaut, welche die Angst gleichsam zur Grundstimmung der gesamten Serie macht. Sie wird in „Playtest“, in „Shut Up and Dance“ und in „Black Museum“ eigens reflektiert. Das zu testende Spiel in „Playtest“ ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Mutprobe. Es geht aber um viel mehr als nur um das Durchlaufen eines Videospiels. Im Mittelpunkt steht die Angst: 32 die Angst vor dem Tod und sogar vor dem dem Tod geweihten Zwar ist in „Playtest“ eher von „fear“ (Furcht) als explizit von „anxiety“ (Angst) die Rede. Da Heidegger in Sein und Zeit aber auch bereits vom „furchtsamen In-der-Welt-sein“ spricht, das dem „fearful being-in-the-world“ entspräche, wird der Grundduktus dieser Auslegung dadurch nicht beeinträchtigt.

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Leben. Das Damoklesschwert der Demenz, des Vergessens, des Auslöschens des Lebens schwebt über Cooper, der seinen Vater durch diese Krankheit verloren hat und selbst von ihr bedroht wird. Aber nicht nur Angst vor dem Tod spielt dabei eine Rolle. Heidegger hatte die Angst als „Grundstimmung des menschlichen Daseins“ identifiziert. Angst vor dem „Nichts“, von dem der Tod gleichsam nur eine auf das menschliche Leben bezogene ‚Modalität‘ ist. Die Angst als „Grundstimmung“ rüttelt das ‚Dasein‘ auf, sich mit seiner Endlichkeit auseinanderzusetzen. Sie erweist sich in Black Mirror – sofern sie im weiten Sinne auch als ‚Gefühl‘ aufzufassen ist – als grundlegend, da das ebenfalls an Heidegger, nämlich an dessen Analyse der „Befindlichkeit“, erinnernde ‚Gefühl‘ bereits als basale Bestimmung der Realität herausgestellt wurde. In „Shut Up and Dance“ werden verschiedene Personen von Unbekannten mit der Absicht in Bezug zueinander gesetzt, dass sie Aufgaben mit unklarem Ziel und Zweck gemeinsam lösen sollen. Was diese Personen miteinander verbindet, sind von jenen Unbekannten über Smartphones und Laptops gefilmte, kompromittierende Handlungen, mit denen sie von ihnen erpresst werden. Der Antrieb aller Aktionen der Protagonisten ist die Angst, verraten zu werden. Trotz der Tatsache, dass allen Befehlen Folge geleistet wird, werden die kompromittierenden Handlungen letztlich auf zynische Weise aufgedeckt. Die Unmoralität und Verabscheuungswürdigkeit der unpersönlichen digitalen Macht wird dadurch schonungslos offengelegt. Dies umso mehr, als gar nicht klar ist, ob überhaupt reale Personen hinter diesen Erpressungen stehen oder – was durchaus denkbar ist – ob das Ganze nicht von einer künstlichen Intelligenz inszeniert wird. In „Black Museum“ wird das Thema der Angst ebenfalls auf eine subtile Weise behandelt. Die Angst wird zur Ingredienz der Forderung nach Lusterfüllung, der sich Dawson nicht entziehen kann. Sie schreibt sich in eine Zwiespältigkeit ein, die das durch

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die Verknüpfung von Realität und Virtualität bestimmte Leben kennzeichnet. Konfrontation mit dem eingetretenen Tod In weiteren Episoden geht es um den Umgang mit unterschiedlichen Todesfällen, die den Protagonist*innen sehr nahegehen. Es handelt sich um den Tod einer bzw. eines Geliebten, um einen Unfalltod und um einen Tod durch Mord. „Smithereens“ und „Be Right Back“ setzen sich zunächst mit dem Tod einer geliebten Person auseinander. In „Smithereens“ kommt Chris Gillhaney nicht darüber hinweg, für den Unfalltod seiner Verlobten verantwortlich zu sein. Er hatte sich während einer gemeinsamen Autofahrt durch eine Nachricht der Social-Media-Plattform „Smithereen“ ablenken lassen. Er bringt daher den bei dieser Firma angestellten Praktikanten Jaden Tommins in seine Gewalt, um mit seiner Hilfe zu erreichen, mit ihrem CEO – Billy Bauer – persönlich zu sprechen. Das Gespräch kommt zustande, Bauer entschuldigt sich bei Gilhanney. Als Tommins Gillhaney bei seiner Freilassung aus Mitleid dessen Waffe zu entreißen versucht, um zu verhindern, dass er sich selbst tötet, wird Gillhaney von der Polizei erschossen. Wie von Gillhaney vorausgesagt, folgt er an diesem Tag seiner Verlobten in den Tod. Ein Gutes hatte das Ganze dennoch: Mit der Hilfe von Bauer konnte Gillhaney erreichen, dass eine Freundin über eine andere Social-Media-Plattform Informationen über die Gründe des Selbstmords ihrer Tochter einholen konnte. In „Be Right Back“ wird der Tod des Lebenspartners auf eine vermeintlich positivere Art thematisiert. Martha Powell und Ash Starmer, ein frisch verliebtes Paar, ziehen gemeinsam in Ashs Landhaus, in dem er seine Kinder- und Jugendzeit verbracht hat. Am Tag nach dem Umzug stirbt Ash plötzlich durch einen

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Autounfall. Bei der Beerdigung macht Sarah, Marthas Freundin, diese auf einen durch künstliche Intelligenz gesteuerten OnlineDienst aufmerksam, der verstorbene Personen mithilfe der von ihnen im Internet, in sozialen Netzwerken etc. hinterlassenen Spuren computergestützt als synthetisches Ich wiederauferstehen lässt. Martha lehnt das zunächst ab. Als sie aber erfährt, dass sie von ihrem verstorbenen Freund schwanger ist, hält sie die Einsamkeit nicht mehr aus und macht den Versuch, Ash auf diese Weise ‚wiederzutreffen‘. Martha kommuniziert mit ‚Ash‘ zunächst per ‚chat‘. Auf der Grundlage aller Audio- und Videoaufnahmen von Ash lässt sich auch seine ‚Stimme‘ synthetisieren. Auf diese Weise kann Martha mit ihm telefonieren. Nach kurzer Zeit ist sie voll und ganz von ‚Ash‘ gefangen und kann ohne ihn nicht mehr leben. Verschiedentlich erörtern die beiden die Frage nach seiner ‚Realität‘. Als sie eines Tages darüber klagt, dass er sei „sehr fragil“ sei, eröffnet Ash ihr, dass von nun an auch die Möglichkeit bestehe, eine körperliche Nachbildung von ‚Ash‘ zu bestellen, der ihn quasi leibhaft wiederauferstehen lasse. Martha lässt daraufhin einen künstlichen ‚Ash‘ zu sich nach Hause kommen. Die Nachbildung ist so gelungen, dass der ‚Roboter-Ash‘ als solcher nicht zu erkennen ist. Nach seiner „Aktivierung“ und einer gewissen Eingewöhnungszeit schließen sie an ihr vorheriges Eheleben an. Bald aber treten Probleme auf. ‚Ash‘ unterscheidet sich vom ‚realen‘ Ash in vielerlei Hinsicht. Er ist nicht frei, sondern handelt immer nur auf Befehl. Dementsprechend hat er auch keine Begierden, sondern akzeptiert alles, was von ihm verlangt wird. Er verfügt über keine normalen Lebensfunktionen, er isst nicht, schließt beim Schlafen nicht die Augen und atmet dabei auch nicht. Nur beim Sex ist er besonders ausdauernd, was dem ‚realen‘ Ash nicht entspricht. Er ist also quasi tot. Sein Bezug zur Zeit ist unwirklich, da er keine Vergangenheit hat. Und er verspürt keine Angst, etwa als Martha ihn dazu drängt, von einer Klippe zu

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springen. Der entscheidende Punkt aber ist, dass er einfach nicht ‚real‘ ist. Martha erkennt, dass er nur ein „bloßer Abklatsch“ seiner selbst, ein „Nichts“ ist, da sein Ich, wie die kognitiven Leistungen der ‚chatbots‘ heute, eine bloße Synthese von gesammelten Daten darstellt. Martha beschließt daher, ihn aus ihrem Leben auszuschließen. Sie entsorgt ihn jedoch nicht, sondern lässt ihn auf dem Dachboden hausen, wo er nach der Geburt ihrer Tochter als deren Spielgefährte dient. Virtuelle Liebe gelingt nur, wenn die Begegnung in der Virtualität Grundkoordinaten der Realität bewahrt und aufrechterhält. Hier liegen die Grenzen der virtuellen Liebe über den Tod hinaus. Der Tod setzt dem Leben Grenzen; der mit dem Tod eintretende unwiederbringliche Realitätsverlust kann die Liebe nicht wiederaufflammen lassen. In „Crocodile“ und „Mazey Day” werden die Folgen eines Unfalls beleuchtet, bei dem jeweils eine Person völlig unbeabsichtigt zu Tode kommt. In „Crocodile“ begeht Mia Nolan mehrere Morde, nachdem sie als junge Frau gemeinsam mit ihrem Freund Rob unbeabsichtigt einen Fahrradfahrer überfahren und die Leiche daraufhin ins Meer geworfen hatte. Ihr Vergehen wird fünfzehn Jahre später mittels eines Erinnerungsdetektors, der es möglich macht, Erinnerungen auf einem Gerät zu visualisieren, aufgedeckt. Sie wird nämlich mit diesem Gerät von der Versicherungsangestellten Shazia Akhand einer Prüfung unterzogen, da sie sich, während sie Rob tötete, der die Sache nach all den Jahren auffliegen lassen wollte, zufällig in der Nähe eines Unfalls befunden hatte, für den die Versicherung nach Zeugen sucht. Um keine Spuren zu hinterlassen, tötet Nolan daraufhin auch Shazia sowie deren Ehemann und schließlich deren einjährigen Sohn. Mithilfe des neben dem Babybett befindlichen Meerschweinchens, dessen Erinnerungen ebenfalls durch jenes Gerät sichtbar gemacht werden, wird sie schließlich überführt. Wie in „The Entire History of

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You“ werden also die digitalen Möglichkeiten zur Visualisierung von vergangenen Ereignissen durchgespielt und nutzbar gemacht. Auch in „Mazey Day“ ist ein zufällig verursachter Unfalltod Ausgangspunkt der Story. Nach ihrer Fahrerflucht hält sich die Schauspielerin Mazey Day zuerst bei einem Filmproduzenten versteckt und wird dann mithilfe eines Arztes in eine New-Age-Klinik gebracht. Dort wird sie von mehreren Paparazzi aufgespürt, die zahlreiche Fotos von ihr machen. Daraufhin verwandelt sie sich in einen Werwolf und tötet zwei von ihnen. Nach einem Kampf in einem Restaurant, in das die Paparazza Bo mit einem anderen Photographen geflüchtet ist, werden alle Anwesenden außer Bo und dem Werwolf getötet. Es gelingt Bo, auf den Werwolf zu schießen, worauf dieser sich unmittelbar in Mazey zurückverwandelt. Stark verwundet bittet Mazey Bo, sie zu erlösen. Bo überlässt ihr die Waffe. Während Mazey sich die Waffe an die Stirn setzt, richtet die Paparazza eine Kamera, die ihr von einem der sterbenden Photographen im Restaurant überreicht wurde, auf Mazey. „Mazey Day“ ist aber keine gewöhnliche Werwolf-Story. Dieser Werwolf symbolisiert eine monströse Kraft, die sich gegen die Macht der Virtualität zur Wehr setzt. Weil aber Bo nicht widerstehen kann, die sterbende Mazey abzulichten, vermag auch die Monstrosität nichts gegen die Übermacht des Virtuellen auszurichten. Im Zentrum von „White Bear“ und „Loch Henry“ schließlich steht jeweils ein Mord. In beiden Fällen geht es nicht primär um die Mordtat selbst, sondern um das Filmen derselben. In „White Bear“ wird, wie bereits gesagt, darüber reflektiert, wie strafwürdig das Abbilden der Straftat an einem Kind ist. Während Victoria in „White Bear“ für dieses Filmen von der gesamten Gesellschaft bestraft wird, kommt es in „Loch Henry“ zu individuellen Strafen: Pia, die die Idee des Dokumentarfilms über den Mörder Ian Adair hat, stirbt, und Davis wird mit trostloser Einsamkeit bestraft.

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Pia Koreshi und Davis McCardle, die ein Liebespaar sind, studieren Film und beabsichtigen, in der Nähe von Davis’ schottischem Heimatort Loch Henry einen Dokumentarfilm über einen Mann zu drehen, der verhindert, dass seltene Vogeleier gestohlen und zu kommerziellen Zwecken missbraucht werden. Damit ist er nach Davis’ Ansicht ein letzter Kämpfer gegen die „Kommodifizierung der Natur“ – ein Forschungsbereich innerhalb der kritischen, marxistisch geprägten Umweltstudien, der sich mit der Art und Weise befasst, wie natürliche Einheiten und Prozesse durch den Markt austauschbar gemacht werden. Davis interessiert sich demnach für eine Form von Authentizität und Realität, deren Bedrohung durch die Gesetze des Marktes auf der Hand liegt. Pia kommt allerdings schnell auf andere Gedanken. Als sie von dem Serienmörder Ian Adair erfährt, der vor Jahren Touristen in Loch Henry ermordet hatte, überzeugt sie Davis, sich für diesen Serienmörder zu interessieren, der auch Davis’ Vater, einen ehemaligen Polizisten, angeschossen hatte, woran dieser letztlich verstarb. Der Dokumentarfilm wird nun diesem Thema gewidmet, weil das deutlich erfolgsversprechender sei als ein Film über den „Eiermann“. Im Laufe ihrer Nachforschungen, die sie bei Janet, Davis’ immer noch in Loch Henry wohnender Mutter, anstellen, entdeckt Pia während eines kurzen Krankenhausaufenthaltes von Davis, dass dessen Eltern in die Mordserie verstrickt waren. Aus Angst vor Janet flieht sie und ertrinkt in einem Fluss. Die Mutter schreibt einen Abschiedsbrief an ihren Sohn, weist ihn auf Videokassetten hin („Für deinen Film. Mama“) und begeht Selbstmord. Davis muss die True-Crime-Dokumentation daher allein fertigstellen. Sie wird ein großer Erfolg und gewinnt einen BAFTA Award, doch aufgrund der Tatsache, dass Davis dafür mit dem Tod seiner Freundin und seiner Mutter bestraft wurde, ist er am Boden zerstört. Das Ganze gipfelt darin, dass die Produzentin nun auch noch eine Dokumentation über Davis’ und Pias Erlebnisse plant, in der die gesamte Geschichte ihrerseits verfilmt werden soll.

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Radikale Auslöschung Von der holocaustischen bzw. apokalyptischen Dimension des Todes handeln „Men Against Fire“ einerseits und „Metalhead“ sowie „Demon 79“ andererseits. In „Men Against Fire“ soll eine ganze Volksgruppe – „roaches“ genannt – ausgelöscht werden. Black Mirror nimmt sich dabei des Themas des Genozids an und weist auf die Gefahren hin, die in der militärischen Nutzung der Digitalität liegen. Noch stärkere Endzeitstimmung kommt in „Metalhead“ und in anderer Form in „Demon 79“ auf. Die ganz in schwarz-weiß gedrehte Episode „Metalhead“ setzt den Todeskampf zwischen Bella und einem Roboterhund in einer post-apokalyptischen Landschaft in Szene. Die Handlung kommt fast ohne Dialoge aus – Brooker hatte ursprünglich sogar geplant, gänzlich auf jede Form von Kommunikation zu verzichten –, was die düstere Stimmung noch verstärkt. Zwar kann Bella dem Roboterhund zunächst entkommen, schließlich gelingt es ihm aber doch, sie in einem Haus, in dem zwei verweste Leichen liegen, ausfindig zu machen. Dort kommt es zum entscheidenden Kampf, bei dem sie ihn ausschaltet. Sie wird dabei jedoch mit Ortungswanzen übersät, was eine große Anzahl weiterer Roboterhunde auf ihre Fährte lockt. Als sie diese erspäht, beschließt sie, sich selbst zu töten, nachdem sie noch einen offenbar an ihre Familie gerichteten Funkspruch abgesetzt hat. In „Demon 79“ wird die Apokalypse durch einen Atomkrieg ausgelöst. Die im Jahre 1979 spielende Episode mischt eine Liebes- mit einer Fantasy-Kriminalgeschichte. Die permanenter Diskriminierung und Rassismus ausgesetzte Schuhverkäuferin Nida Huq entdeckt eines Tages, als sie im Keller des Warenhauses, in dem sie arbeitet, ihr Mittagessen zu sich nimmt, einen Talisman. Da sie sich kurz zuvor am Finger geschnitten hat, berührt ihr Blut ein auf dem Talisman abgebildetes Zeichen, das bereits in „White Bear“ und in „Bandersnatch“ vorkam. Durch diesen Kontakt wird

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am gleichen Abend bei ihr zu Hause, als sie den Talisman näher betrachtet, die Kommunikation zu dem Dämon Gaap hergestellt. Dieser nimmt die Gestalt Bobby Farrells von der Pop-Gruppe „Boney M“ an und erteilt ihr den Auftrag, in den kommenden drei Tagen bis zur Maimesse jeweils ein Menschenopfer zu bringen. Wenn sie daran scheitere, werde damit der Weltuntergang heraufbeschworen. Sehr widerwillig geht sie darauf ein und tötet nacheinander einen Mann, der seine achtjährige Tochter missbraucht hat, einen Mörder, der die Strafe für den Tod an seiner Frau abgesessen hat, und dessen Bruder. Damit hat sich ihre Aufgabe allerdings nicht erledigt, denn gemäß den Bestimmungen zählt ein Mörder als Opfer nicht. Also muss sie noch eine weitere Person töten. Ihre Wahl fällt auf einen rassistischen rechtsextremen Politiker, der laut Gaaps Voraussage Premierminister werden wird. Der Anschlag misslingt jedoch, und Nida muss ins Gefängnis. Da sie den Auftrag nicht erfüllen konnte, wird ein Nuklearkrieg ausgelöst. Da damit auch Gaaps Auftrag gescheitert ist, wird er ausgestoßen und zum Eintritt in die „ewige Vergessenheit“ verdammt. Er bittet Nida, ihn dorthin zu begleiten. Sie willigt ein. Hand in Hand werden sie vom weißen Licht überflutet. * Epikurs berühmtem Satz: „Der Tod, geht uns nichts an; denn solange wir existieren, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, existieren wir nicht mehr“, hat Jean de la Bruyère entgegengehalten: „Der Tod kommt nur einmal, und doch macht er sich in allen Augenblicken des Lebens fühlbar.“ Darauf hat wiederum JeanJacques Rousseau erwidert: „Derjenige Mensch hat […] am meisten gelebt, der das Leben am meisten gefühlt hat.“ In unserem Verhältnis zu Leben und Tod geht es nach diesen Bekundungen weniger um das „Verstehen“ als um das Fühlen. Black Mirror spielt Heideggers Befindlichkeitsanalysen gegen seinen Gedanken von

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zu „entwerfenden Existenzmöglichkeiten“ aus, umso mehr als in solchem Fühlen die Frage nach ‚Realem‘ und ‚Realität‘ mit hineinspielt. Der Tod ist nicht nur das Hineinreichen des Nichts in das Sein, sondern ebenso der Einbruch des Nichts in das Leben durch das Gefühl wie auch durch die Imagination bzw. Phantasie. Auf der anderen Seite ist der Tod gerade Vergänglichkeit – was sich zudem als Probierstein der Realität erweist. Wie kann mit dem umgegangen werden, was keiner will, d. h. mit dem eigenen Tod oder dem Tod der Nächsten, was aber zugleich – in der Gestalt von Vergehen und Vergänglichkeit – Indiz für Leben und Realität ist? Der Tod als das, was in einem Augenblick Sein und Nichts zusammenbringt, ist das Scharnier zwischen beiden, der Quellpunkt des Werdens. Und muss nicht das, was wahrhaft sein soll, durch das Nicht-(mehr-)Sein hindurch? Das, was Black Mirror wesentlich über Tod und Vergänglichkeit aussagt, ist gar nicht das, was in den Episoden, die Selbstmord, Mord und Tod zum Thema haben, abgehandelt wird. Der entscheidende Punkt betrifft Vergehen und Singularität. Die Angst wäre ein mögliches Bindeglied zwischen diesen beiden Aspekten – das Gefühl also, welches uns mit dem Nichts konfrontiert, das weit über das biologische Ableben hinausgeht. Und dennoch handelt Black Mirror, wie nun zu skizzieren sein wird, auch vom Bezug zwischen Leben, Tod und Natur.

Natur und Recht Die längste Black Mirror-Folge „Hated in the Nation” geht auf die digitale Manipulation der Natur ein. Der eigentliche Hintergrund ist jedoch ein moralisch-ethischer bzw. juristischer. Aufgrund des Bienensterbens hat die Firma „Granular“ im Auftrag der britischen Regierung eine digitale Biene 33 kreiert – ein sogenanntes Autonomous Drone Insect (ADI) –, das die bedrohte Fortpflanzung der Blüten- und Nutzpflanzen sichern soll. Da zur Erkennung der Pflanzen optische Sensoren eingesetzt werden, besteht die Möglichkeit, die künstlichen Bienen auch zu anderen Zwecken – etwa der Überwachung der Bevölkerung – zu nutzen. Genau diese Option hat sich die Regierung offengehalten. Und das wurde von Garrett Scholes, einem ehemaligen Programmierer von „Granular“, erkannt und kriminell missbraucht. In dieser Episode kreuzen sich demnach Naturmanipulation und digitale Steuerung. Scholes ist in seinen verbrecherischen Absichten in mehreren Schritten vorgegangen. Dabei hat er jedes Mal die Reaktion und die zu erwartenden Handlungen der Polizei voraus- und miteinberechnet. In einem ersten Schritt hat er eine Art Online-Spiel ins Netz gestellt, das auf das Verhalten der Menschen in den sozialen Netzwerken abgestimmt ist. Dieses Spiel besteht in der Verbreitung des Hashtags „#DeathTo…“, der von den Usern jeweils auf eine öffentliche Person, die ihr Missfallen hervorgerufen hat, angesetzt wird. Dabei hat Scholes die Bienen so programmiert, dass sie jeden Tag um 17 Uhr die Person töten, die bis zu diesem Zeitpunkt die meisten Stimmen auf sich versammelt hat. Diesen Ob damit auf Ernst Jüngers Zukunftsroman Gläserne Bienen (1957) angespielt wird, geht aus der Episode nicht eindeutig hervor.

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Mordauftrag übernimmt diejenige Bienendrohne, die zum betreffenden Zeitpunkt dem Opfer geographisch am nächsten ist. Nach den ersten zwei Opfern kommt die Polizei darauf, welche Masche hinter den Morden steckt, und identifiziert eine dritte Person, eine gewisse Clara Meades, die vom Tode bedroht ist. Sie hat den Ärger der Bevölkerung wegen respektlosen Verhaltens gegenüber den gefallenen Soldaten im Zweiten Weltkrieg auf sich gezogen und wird von der Polizei an einen vermeintlich sicheren Ort gebracht. Darauf reagiert Scholes in einem zweiten Schritt so, dass er einen ganzen „Bienenstock“ auf Meades ansetzt. Die Polizei kann nicht verhindern, dass die Bienendrohnen in das Haus eindringen, in dem sich Meades befindet, und sie töten. Um eine Reaktion Scholes’ zu provozieren, kommt einer der Polizisten auf die Idee, „#DeathTo Garrett Scholes“ zu posten. Damit wird Scholes klar, dass die Polizei ihm auf der Spur ist. Er läutet den dritten Schritt seines Plans ein, indem er das File aller Teilnehmer*innen an den verschiedenen „DeathTo-Hashtags“ hochlädt und die Bienendrohnen darauf ansetzt, alle diese Personen – insgesamt 387 036 – zu töten. Die Bienen führen auch diesen letzten Auftrag aus. Obwohl Scholes sich mit stark verändertem Aussehen auf Gran Canaria versteckt, wird er ganz am Ende ausfindig gemacht. Über das weitere Schicksal des Massenmörders bleiben die Zuschauer*innen indes im Unklaren. Der Hintergrund dieser kriminellen Handlung ist ein „moralischer“. Eine Ex-Kollegin und Mitbewohnerin von Scholes – Tess Wallander – wurde Opfer von Hasskommentaren im Internet und hatte deswegen versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Scholes konnte sie im letzten Moment retten und beschloss daraufhin, an der gesamten User-Gemeinschaft, die solche Hasskommentare im Internet verbreitet, Rache zu nehmen. Es geht ihm dabei insbesondere um die Bestrafung all derjenigen, die im Internet anonym ihrem Hass Ausdruck verleihen. Das ist eine ‚moralisch-ethische‘ Perspektive im engeren Sinn. Die Intention

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der Episode geht jedoch darüber hinaus, indem rechtliche Aspekte zur Sprache kommen. Die Rahmenhandlung dieser Episode ist ein Gerichtsprozess, bei dem die mit dem Fall betraute Polizistin Karin Parke ihre Aussagen zu Protokoll gibt. Dass die Justiz aber zu diesem Zeitpunkt keinerlei Kenntnisse über den Aufenthaltsort von Scholes hat, ist ein indirekter Hinweis auf deren Machtlosigkeit, die ganz besonders in einer sich heute auf vielerlei Art zeigenden Zweideutigkeit besteht: Wie ist mit jemandem umzugehen, der sich zu einem „guten“ Zweck – hier zum Beispiel der Bestrafung von Hasskommentaren – selbst strafbar macht? Ein ähnliches Phänomen sind die gewaltsamen Proteste der Klimaaktivisten, die, um sich Gehör zu verschaffen, keine andere Möglichkeit sehen, als die Grenzen bestehenden Rechts zum Teil zu überschreiten. Diese Zweideutigkeit hat es in der Geschichte der Jurisprudenz schon oft gegeben. Im Zeitalter der Digitalität und der sich anbahnenden Klimakatastrophe ist die Justiz aber mehr denn je dazu aufgefordert, sich zu reformieren, um auf diese Art von Aktionen angemessener reagieren zu können, als sie das bisher tut, da Recht und Gerechtigkeit teilweise in ein Verhältnis zueinander zu geraten scheinen, das nicht nur der sogenannte gesunde Menschenverstand nicht mehr nachzuvollziehen bereit ist.

Philosophie ‚heute‘ Bien que ‹les machines› fissent plusieurs choses aussi bien, ou peut-être mieux qu’aucun de nous, elles manqueraient infailliblement en quelques autres, par lesquelles on découvrirait qu’elles n’agiraient pas par connaissance, mais seulement par la disposition de leurs organes. Car, au lieu que la raison est un instrument universel, qui peut servir en toutes sortes de rencontres, ces organes ont besoin de quelque particulière disposition pour chaque action particulière ; d’où vient qu’il est moralement impossible qu’il y en ait assez de divers en une machine pour la faire agir en toutes les occurrences de la vie, de même façon que notre raison nous fait agir. 34 René Descartes, Discours de la méthode (cinquième partie)

Zu Beginn wurde das ‚Begreifen dessen, was ist‘ als Aufgabe der Philosophie bestimmt. Dabei wurde insbesondere der Bezug zum ‚Heute‘ hervorgehoben. Foucault hat das in Le discours philosophique – der seine persönliche Antwort auf die Frage: „Was ist Philosophie?“ darstellt – auf eine ähnliche Art, in einem entscheidenden Punkt jedoch ganz anders ausgedrückt. Für ihn habe die Philosophie schlicht zu sagen, „was es gibt“. 35 Dies sei mit dem „Sollten diese Maschinen auch manches ebensogut oder vielleicht besser verrichten als irgendeiner von uns, so würden sie doch zweifellos bei vielem anderen versagen, wodurch offen zutage tritt, dass sie nicht aus Einsicht handeln, sondern nur zufolge der Einrichtung ihrer Organe. Denn die Vernunft ist ein Universalinstrument, das bei allen Gelegenheiten zu Diensten steht, während diese Organe für jede besondere Handlung einer besonderen Einrichtung bedürfen; was es unwahrscheinlich macht, dass es in einer einzigen Maschine genügend verschiedene Organe gibt, die sie in allen Lebensfällen so handeln ließen, wie uns unsere Vernunft handeln lässt“, R. Descartes, Von der Methode, Hamburg, F. Meiner, 1960, S. 46. 35 M. Foucault, Le discours philosophique, Paris, Seuil/Gallimard, 2023, S. 17. 34

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gleichzusetzen, „was ‚heute‘ sei“. Jenes „Was es gibt“ könnte gewissermaßen auch als „was ist“ übersetzt werden. Foucault lehnt aber jeden Bezug zum „Sein“ ab, zu jeglichem, was es zu „entdecken“ oder zu „entbergen“ gebe. Es gelte, „das Heute, das jenes der Philosophie“ sei, einzusehen. Mit anderen Worten, es gehe nicht darum, Verdecktes, nicht Offenbares, sich Entziehendes, ans Licht zu bringen, sondern, wie er später hinzugefügt hat, „eben gerade das Sichtbare sichtbar zu machen“. 36 Dem stehen auch neuere Ansätze in diesem Jahrhundert – zum Beispiel Jocelyn Benoists „realistische Philosophie“ oder Markus Gabriels „Sinnfeldontologie“ – nahe. Man spürt allerdings, dass mit jenem schlichten „Sagen, was es gibt“, im Sichtbarmachen des Sichtbaren, etwas nicht stimmen kann, wenn damit behauptet wird, dass dabei nichts Verdecktes zu entdecken sei. Man müsste wenigstens – wie Deleuze – die ‚Falten‘ des Realen entfalten. Um darlegen zu können, was es gibt, muss doch insbesondere schon ein Entscheidungskriterium zwischen dem, was es gibt, und dem, was es nicht gibt, vorliegen und in Anspruch genommen werden – ganz abgesehen davon, dass das schlichte „Es gibt“ womöglich recht flach und nicht sehr ergiebig sein könnte. Das „Es gibt“ selbst ‚gibt es‘ nicht einfach, sondern es muss eben doch in irgendeiner Form ‚entdeckt‘ werden. Dann hätte Foucault Unrecht. Er selbst stellt seinen Standpunkt übrigens ganz direkt dem der Phänomenologie entgegen. Die Frage wäre also, ob es ‚heute‘ grundsätzlich noch um das ‚Entdecken eines Verborgenen‘ geht oder nicht. Black Mirror kümmert sich nicht um die Auseinandersetzung zwischen Poststrukturalismus und Phänomenologie. Gleichwohl wird das zugrunde liegende Problem in vielen Episoden weitergedacht. Die Realität erscheint im Spiegel der Zeit. Dabei wird in der Projizierung der Virtualität und auf dieselbe die Reduktion auf den Formalismus in allen seinen Ausgestaltungen sowohl vollzogen als 36

Ebd., S. 20.

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auch gebrandmarkt. Vor allem aber hat die erzeugende Entdeckung und entdeckende Erzeugung der Virtualität einen erkenntnisrelevanten Rückkopplungseffekt auf die Realität selbst. Bildhaftigkeit und Virtualität eröffnen neue Perspektiven auf die Wirklichkeit, die sich nicht auf das mentale und kognitive Aufnehmen derselben beschränken, sondern auch daran beteiligt sind, diese zu ‚machen‘, zu ‚erzeugen‘. Genau hierin – in einem Denken des ‚Machens‘, der Kreativität – sah Deleuze Bergsons wichtigen Beitrag zu einer neuen, dem Zeitalter und das heißt auch: dem heutigen Stand der Wissenschaft und Technik angemessenen Metaphysik. Dafür würde auch ich mich aus dem Gesichtspunkt einer transzendental gewendeten „generativen Phänomenologie“ 37 stark machen. Black Mirror geht auf eben diesen Aspekt durch die Perspektive des Verständlichmachens des Sinns der Technologie und der Technik ein. Der „Quomputer“ in „Joan Is Awful“ ist dafür genauso ein Beispiel wie der Computer in „San Junipero“ und in „Black Museum“, das „System“ in „Hang the DJ“ und das Videospiel in „Striking Vipers“. Der Alternative von reinem ‚Sichtbarmachen des Sichtbaren‘ und ‚Aufdecken von Verborgenem‘ kann noch ein dritter Standpunkt entgegengesetzt werden, der das kreative Erschaffen in den Vordergrund stellt. In dieser Perspektive kommt Phantasie und Einbildungskraft, die Descartes’ „Vernunft“-Auffassung bemerkenswerter Weise verpflichtet bleiben, philosophisch und anthropologisch eine Zentralstellung zu – und genau das ist der für die Realitätsbildung entscheidende Faktor. Wenn dafür weder Sinn noch Empfänglichkeit besteht, wenn die Rolle der Phantasie und der Einbildung in Bewusstsein, Erlebnis und Erscheinung nicht gesehen und angemessen gewürdigt wird, gibt es aus dem ‚Gehirn-im-Tank‘-Szenario womöglich kein Entkommen. Siehe v. Vf. Wirklichkeitsbilder, Tübingen, Mohr Siebeck, 2015 sowie Seinsschwingungen, Tübingen, Mohr Siebeck, 2020.

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Die Einführung des „Phänomen“- oder „Erscheinungs“-Begriffs bei Kant war dadurch motiviert, dass seiner Auffassung zufolge Erkenntnis und Wissen nur begründet werden können, wenn man eine Objektivitäts-Konzeption entwirft, in der Platz für subjektive und Notwendigkeit begründende Konstitutionsleistungen des ‚Objekts‘ geschaffen wird. Bevor Kant das Wissen aufhob, um für den Glauben Platz zu bekommen – erhält dieser Gedanke im Zeitalter der Digitalität eine neue Bedeutung? –, hat er zuerst die ‚an sich‘ seiende Realität eingeschränkt und in gewisser Weise das, was Fichtes „Phänomenologie“ „Bild“ nennen wird, in seiner realitätskonstitutiven Funktion wenn nicht eingesetzt, so zumindest eröffnet. Durch die Thematisierung des „genius malignus“ wird jedoch deutlich, dass Kants Intention, Erkenntnis zu legitimieren, auch eine – freilich unbeabsichtigte – Kehrseite hat. Wenn für die Bildhaftigkeit in ihrer realitätskonstitutiven Operativität der Weg gebahnt wird, öffnet sich die Büchse der Pandora von Schein, Simulakrum, Täuschung, Realitäts-Manipulation. Dass dabei zwischen den beiden Perspektiven nicht immer unterschieden werden kann, dass sich beide – wie von Platon häufig in Bezug auf den ‚Philosophen‘ und den ‚Sophisten‘ bemerkt – so ähnlich sind wie ‚Hund‘ und ‚Wolf‘, geht über die übliche, in der Post-Moderne ständig wiederholte Erkenntnis-Kritik hinaus. Black Mirror geht darauf – alles durch die Brille der Technik betrachtend – auf unterschiedliche Weise ein. Im wahrsten Sinne des Wortes ‚monströse‘ Bilder und Motive dienen dazu, diesen Aspekt eindringlich sichtbar und verständlich zu machen. * Damit kann auch gesagt werden, dass sich die anfangs eingeführte Unterscheidung in vier oder fünf Zeitalter mit einer anderen bekannten Unterscheidung kreuzt – nämlich jener, die in der abendländischen Tradition das Grundprinzip von Wissen und Sein in

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die Welt oder in den Kosmos (Antike), in Gott (Mittelalter) und in das Subjekt (Moderne) gesetzt hatte und wozu in der Postmoderne, im Prisma des Denkens der Technik gebrochen leuchtend, noch Medialität und Bildhaftigkeit bzw. Virtualität hinzukämen. Dadurch wird klar, dass die erste Unterscheidung der Zeitalter nur vom letzten Standpunkt aus, dem des Mediums der Medialität selbst, getroffen werden konnte. Und es äußert sich hierdurch womöglich eine neue Form der Rationalität, die den von Kant gesteckten Rahmen, der durch die Vernunftideen von „Seele“, „Welt“ und „Gott“ bestimmt war, sprengt. Maßgeblich ist hier nicht mehr die Logik als Organon der Schlussarten des Vernunftvermögens, sondern Bildhaftigkeit und Bild. Black Mirror schreibt sich in diese Perspektive ein, in der die ‚Virtualität‘ in einem Bezug zu Digitalität und Realität steht, und gibt Werkzeuge an die Hand, sie klarer zu erfassen und zu benennen. * Wie hängt aber diese ‚Virtualität‘ mit der ‚transzendentalen‘ Sphäre, so wie die Phänomenologie sie erschließt und geltend macht, zusammen? Steht eine solche Bezugnahme überhaupt auf einem tragfähigen Grund? Dass die ‚Virtualität‘ in Black Mirror lediglich ‚analog‘ zur Illustration des ‚Transzendentalen‘ zu dienen vermag (wenngleich Richir durchaus beide Begriffe sehr stark einander annähert), wurde bereits gesagt. Diese Analogie gibt zu denken. Und zumindest stellt sie keinen bloß metaphorischen Bezug her. Dreh- und Angelpunkt sind Bildhaftigkeit (Fichte), Phantasie (Richir) und Technik (Heidegger). Sofern diese Motive in Black Mirror ihre differenzierte Ausgestaltung erfahren und darüber hinaus in einen fruchtbaren Zusammenhang gebracht werden, offenbart und bestätigt sich der philosophische Charakter der Serie. Es ist ihr bemerkenswertes Verdienst, philosophische Fragestellungen für

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das heutige Zeitalter zu aktualisieren und unsere Gegenwart in einigen ihrer philosophischen Bedeutungen darzustellen und zu beleuchten.

Schluss Hinter einer nicht zu übersehenden Faszination für Digitalität und Technik erwacht – und äußert sich – in Black Mirror auch das Bewusstsein für die Gefahren und den Missbrauch derselben, die im heutigen Zeitalter immer bedrohlichere Ausmaße annehmen. Die größte Gefahr liegt noch vor allen ethischen und politischen Belangen darin, dass die Netzwerke totaler digitaler Kommunikation den Bezug zum ‚Realen‘, zur ‚Realität‘, zu kappen drohen – und vielleicht besteht gerade darin die höchste ethische und gemeinschaftliche Not. Daher jedenfalls die Ängste, die Ohnmacht, das Hervorbrechen von Monstrosität. Worin besteht ‚Realität‘? Drei Hauptmerkmale haben sich in den hier versuchten Interpretationsansätzen herauskristallisiert – und damit stellt die Serie genuin philosophische Thesen auf. Zunächst wird darauf eingegangen, wie überhaupt der Bezug zu ‚Realem‘ – zu ‚Realität‘ für uns Menschen – möglich ist. Immer wieder wird betont, dass das nicht Sache von Verstand und Intellekt ist, sondern sich dem Fühlen verdankt. Affektivität, Gefühl und Leidenschaft – über das bloße Bewusstsein hinaus – macht die ‚Realität‘ erst spürbar und zugänglich – und so zu einer menschlichen. Und da reicht keine Simulation heran. Ferner ist ‚Realität‘ durch Nicht-Reproduzierbarkeit ausgezeichnet, durch eine Bedingung, die ihrem Aufbewahren und Aufgehobensein in ewiger Präsenz entgegensteht. Dafür sorgt die Singularität, der Black Mirror auf nachdrückliche Weise eine besondere Form verleiht. Sie hängt unmittelbar mit der Brüchigkeit und Lückenhaftigkeit der Zeit zusammen. Nicht weniger bedeutsam ist schließlich noch ein weiteres Charakteristikum: ‚Realität‘ besteht nicht im wahrgenommenen Vorhandenen an sich, sondern im Imaginären, in Phantasie und Einbildungskraft – wofür etwa die Liebe exemplarisch steht. Von einer an sich seienden Realität

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auszugehen, die lediglich auf- und wahrzunehmen sei, ist ein Grundirrtum. „Joan Is Awful“ ist dieser Einsicht und den aus ihr folgenden Konsequenzen gewidmet. Realität hält sich immer in der Spannung von sichtbar gemachter Verbildlichung und einer unsichtbaren Quelle, die ihre ‚virtuelle‘ bzw. ‚transzendentale‘ Grundlage ausmacht und ‚Realität‘ überhaupt ermöglicht. Dabei lässt sich, daran wird nicht nur in dieser Folge ständig erinnert, der Kompromiss mit einer technisch-technologischen Dimension und Vermitteltheit nicht umgehen. Ob das die Apokalypse oder womöglich einen ‚anderen Anfang‘ ankündigt, bleibt dem Empfinden der Betrachterin und des Betrachters überlassen. * Black Mirror ist eine Serie der Generation Charlie Brooker und für die Generation Charlie Brooker – was nicht ausschließt, dass sie auch bei anderen vielleicht jüngeren Zuschauer*innen auf starken Zuspruch stößt. Der von ihr ausgehende Blickwinkel ist aber doch der von Menschen, die nicht in das Zeitalter der digitalen Telekommunikation hineingeboren wurden, sondern sich an das Bewohnen der digitalen Welt und an das Leben in ihr allererst gewöhnen mussten. Für die Zukunft der Serie würde es sich lohnen, den Perspektivwechsel hin zu jener Generation, für welche die Digitalität das urgewohnte Element jeglichen Weltumgangs darstellt, noch radikaler zu vollziehen; zu einer Generation, für die Bildhaftigkeit und Virtualität, Allpräsenz der Bildschirme und digitale Kommunikation die Seinsbeschaffenheit der flimmernden „UrArche“ (Husserl) bestimmen. Wie der frühe Umgang mit Digitalität nicht nur unsere kognitiven Fähigkeiten beeinflusst, sondern auch die Wahrnehmung der Welt selbst modifiziert, ist eine Frage, die – von Black Mirror selbst angeregt – man sich auch von der Serie dargestellt wünschen könnte.

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Was die Serie ebenfalls noch zum Thema einer oder mehrerer Episoden machen könnte, wäre die Rolle von Gedächtnis und Erinnerung. Zwar sind diese schon in mehreren Folgen behandelt worden – allerdings auf unbefriedigende und nicht ganz überzeugende Weise. Das trifft insbesondere auf „The Entire History of You“ und auf „Crocodile“ zu. In beiden Fällen wird das Gedächtnis in Analogie zu einer Computerfestplatte gefasst; die Erinnerungen lassen sich einfach herunterladen und als Bilder oder Videos visualisieren und abspielen. Dabei müsste aber der Unterschied zwischen ‚objektivem‘ Erinnerungsgehalt und ‚subjektiver‘ Erinnerung deutlicher hervorgehoben werden. Unsere Erinnerungsbilder sind immer und nichtreduzibel subjektiv. Von welchem Standpunkt aus ließen sie sich ‚objektiv‘ darstellen? „Crocodile“ zeigt zwar glaubwürdiger als „The Entire History of You“, dass die Erinnerungen blitzhaft und ungeordnet aufleuchten. Aber das gesamte problematische Verhältnis von Vergangenheit und Erinnerung verdiente, noch differenzierter – und vor allem auf eine Weise, die nicht am Computer orientiert bliebe – behandelt zu werden. Wie steht es ferner um die Zukunft des Schreibens, der Schrift – und der Bücher? Stellen Schrift und Buchdruck lediglich eine mehr oder weniger abgeschlossene Episode im Ganzen der Entwicklung der Menschheit dar, die im Zeitalter der Digitalität ‚überwunden‘ ist? Dort, wo, wie etwa in Schweden, im schulischen Bereich die ‚Digitalstrategie‘ mit einem frühen Gebrauch von Tablets usw. stark vorangetrieben wurde, ist man bereits wieder dabei, einen Rückzieher zu machen. Sprach- und Erinnerungsvermögen, soziales Zusammenspiel, Empathiefähigkeit sind nur einige Aspekte, die – sogar den Erkenntnissen der Neurologie und der Kognitionswissenschaften (!) zufolge – durch ein Schreiben mit der Hand im Kindesalter stärker gefördert werden, als das über den Bildschirm möglich ist. In der chinesischen Kultur sind die Schriftzeichen die Quelle und der Ursprung der Welt. Platons

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berühmte Kritik an der Schrift im Dialog Phaidros – der zufolge das Überlassen der Gedankeninhalte an das Geschriebene unser Erinnerungsvermögen verkümmern lässt und ein rein formales Denken zu stark fördert – wird von Derrida, untermauert von der zeitgenössischen Anthropologie, in Frage gestellt. Black Mirror wäre ein geeignetes Medium, diesen Kontext zu thematisieren. Schließlich könnte man auch die Überlegungen zum Verhältnis von singulärer und multipler Realität weiterentwickeln und dabei auch die zeitlichen Aspekte genauer untersuchen. Der ‚Augenblick‘ verdiente dann eine besondere Beachtung. Angesichts der heutigen Tendenz zu genereller ‚Präsentifizierung‘, ‚Aufbewahrung‘, ‚Zugänglich- und ‚Durchsichtigmachung‘ wirkt die Unfassbarkeit des ‚Augenblicks‘ wie ein Rettungsanker. Um diese Überlegungen mit einer berühmten Sentenz von Goethe zu beschließen: Vielleicht sollte man den Faust noch einmal neu schreiben, sich an einer Neufassung dieses Meisterwerks im Zeitalter der Digitalität und Virtualität versuchen, und zwar mit genau umgekehrtem Ziel: Um die Realität zu retten, muss die Vergänglichkeit und ihr Entzug gesichert und zelebriert werden. Nicht länger sollte gefordert werden: „Werd ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, Dann will ich gern zugrunde gehn!“ sondern es müsste heißen: „Werd ich zum Augenblicke sagen: Entschwinde doch! du sollst vergehn! Dann wird nicht ew’ge Gegenwart mich plagen, Dann werd’ ich frei des Weges gehn!“