Zeit im Übergang zu Geschichte: Schellings Lehre von den Weltaltern und die Frage nach der Zeit bei Kant 9783495820841, 9783495490655


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Vorwort
Inhalt
Einleitung: Transzendentale Einheit der Zeit und geschichtliche Pluralität der Zeiten. Ein Konfliktfall um 1800
1. Problemaufriss
2. Inhaltsaufriss und methodische Vorbemerkungen
3. Textgrundlage
Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit. Kants transzendentale Zeitlehre
1. Kants kritische Grundlegung der Zeit
1.1. Form der Anschauung und formale Anschauung
1.2. Die vorreflexive Verzeitlichung der Zeit
1.3. Selbstverzeitlichung: Der ›fließende Punkt der Gegenwart‹
1.4. Die objektive Wirklichkeit der Zeit
2. Das Zeitproblem des transzendentalen Idealismus
2.1. Deutungskonflikt ›Formale Anschauung‹
2.2. Jacobis Kritik des Zeitapriorismus
2.3. Jacobis ›Zeit‹-Kritik als Systemkritik
2.4. Im ›Hohlraum‹ der transzendentalen Zeitanschauung
3. Übergang zum ›historischen Idealismus‹
3.1 Das metaphysische Problem des Anfangs
3.2. Der Neueinsatz der Weltalterlehre: Problem(dis-kontinuitäten)
3.3. Schellings Abschied von den ›Prämissen‹
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs. Schellings genealogische Zeitlehre
4. Schellings geschichtliche Offenlegung der Zeit
4.1. Zeiterfahrung und Zeitreflexion
4.2. Hauptmomente der ›Genealogie der Zeit‹
4.3. Zeit als Akt der Zeitigung
5. Methodologischer Exkurs: Zur offenen Form der Genealogie
5.1. Der Anfang in Hesiods Theogonie
5.2. Konstellation als genealogische Denkfigur
5.3. Κρόνος und Ζεύς: Temporale Übergänge und Zäsuren
6. Nachkantische ›Zeit‹-Revolutionen
6.1. »Umkehrung der Principien« in der Ichschrift
6.2. Verkehrung der Ordnung von Ewigkeit und Zeit in den Weltaltern
6.3. Die Vergeschichtlichung des Absoluten
7. Geschichtliche Zeit und ›ewige Zeit‹
7.1. ›Organismus‹ als Zeit- und Geschichtsordnung
7.2. Entgeschichtlichungstendenzen
7.3. Der »ungereimte Begriff einer ewigen Zeit«: Noch einmal Jacobi
8. Der ›Zeitkern‹ der Weltalterlehre
8.1. Schellings Wiederentdeckung der ›Lebenszeit‹
8.2. Die geschichtliche Doppelerfahrung der menschlichen Freiheit
8.3. Der personale Sinn von Zeit
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt. Schellings Theorie geschichtlicher Zeiten
9. Zeitphilosophische Verschiebungen
9.1. Pluriformität der Zeit
9.2. Das ›ungeheure Recht‹ der Gegenwart
9.3. Szientifisches Zeitregime und personaler Zeitvollzug
9.4. καταστροφή: Der ›Einbruch‹ der Zeit
9.5. Monokratie und Alterität
10. ›Zeit‹-Konflikte: Erfahrungen geschichtlicher Dis-/Kontinuität
10.1. Kants Philosophie des ›Trotz dessen‹
10.2. Geschichtszeichen: Kant und der ›Enthusiasmus‹
10.3. Das ›Entsetzen‹ über den Abgrund der Zeit
10.4. κρίσις und »entschiedene Gegenwart«
10.5. Maria Stuart oder Die temporale Signatur der Unentschiedenheit
10.6. Polychronie und das Problem der Synchronisierung
11. Eigenzeiten der Moderne
11.1. Schellings Rückeroberung ›personaler Zukunft‹
11.2. ›Mitwissenschaft‹ als Zeitgenossenschaft
11.3. Die mitlaufende Differenz der zeitlichen Praxis
Schluss: Schellings Lehre von den Weltaltern und die Frage nach der Zeit bei Kant. Ausblicke auf einen exemplarischen ›Zeit‹-Konflikt der Moderne
Literaturverzeichnis
1. Primärliteratur
a) Schelling:
b) Kant:
c) Jacobi:
d) Fichte:
e) Hegel:
f) Goethe:
g) Schiller:
h) Schlegel:
i) Herder:
j) Weitere Quellen:
2. Forschungsliteratur
Namensregister
Sachregister
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Zeit im Übergang zu Geschichte: Schellings Lehre von den Weltaltern und die Frage nach der Zeit bei Kant
 9783495820841, 9783495490655

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8

BEITRÄGE ZUR SCHELLING-FORSCHUNG

Peter Neumann

Zeit im Übergang zu Geschichte Schellings Lehre von den Weltaltern und die Frage nach der Zeit bei Kant

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495820841

.

B

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Die Weltalter haben immer wieder Anlass zur Diskussion gegeben, ob und inwiefern Schelling die Vernunft einer radikalen Verzeitlichung unterzieht. Um dieser Frage nachzugehen, versucht die Studie, Schellings Lehre von den Weltaltern vor dem Hintergrund von Kants Zeitlehre problemgeschichtlich wie argumentativ zu rekonstruieren. Dabei zeigt sich nicht nur, dass Schelling mit seiner ›Zeit‹Kritik ins Problemzentrum nachkantischer Systemdiskurse vorstößt; auf der Folie eines sich um 1800 vollziehenden Erfahrungswandels wird Schellings Weltalterlehre auch als eine Theorie geschichtlicher Zeiten lesbar.

Der Autor: Peter Neumann, geb. 1987, Studium der Philosophie, Wirtschaftswissenschaften und Politikwissenschaft in Jena und Kopenhagen. Von 2013–2019 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Jena, wo er mit der vorliegenden Studie 2017 promoviert wurde; seit 2019 Forschung und Lehre an der Universität Oldenburg.

https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Peter Neumann Zeit im Übergang zu Geschichte

https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

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BEITRÄGE ZUR SCHELLING-FORSCHUNG

Herausgegeben von Lore Hühn (Freiburg) Philipp Schwab (Freiburg) Paul Ziche (Utrecht)

https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Peter Neumann

Zeit im Übergang zu Geschichte Schellings Lehre von den Weltaltern und die Frage nach der Zeit bei Kant

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49065-5 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82084-1

https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Vorwort

Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um die geringfügig bearbeitete Fassung der Dissertation, die im Herbst 2016 an der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena angenommen und im Sommer 2017 verteidigt wurde. Mit einer so langwierigen, alle Kräfte auf sich ziehenden Arbeit wie der einer Dissertation verhält es sich ganz eigentlich so, wie Goethe es in einem Brief vom 16. Dezember 1808 an Friedrich August Wolf schildert: »Ich hatte mir manches zu arbeiten vorgesetzt, daraus nichts geworden ist, und manches getan, woran ich nicht gedacht hatte; das heißt also ganz eigentlich das Leben leben«. Dass ich dieses Leben so ›ganz eigentlich‹ leben konnte, habe ich Menschen zu verdanken, die im Folgenden auch bedankt sein sollen: Allen voran Prof. Dr. Andreas Schmidt, dessen Freude am kartographischen Philosophieren auch dieser Arbeit über manche Unebenheit hinweggeholfen hat; Prof. Dr. Andrea Marlen Esser, die das Anliegen in jeder Hinsicht unterstützt und freundlicherweise das Zweitgutachten übernommen hat; PD Dr. Burkhard Nonnenmacher, der sich dankenswerterweise des Drittgutachtens annahm. Während der Promotionszeit bot mir das DFG-Schwerpunktprogramm 1688 Ästhetische Eigenzeiten – Zeit und Darstellung in der polychronen Moderne vielfach Gelegenheit zu kritischem Austausch. Hierfür sei den Koordinatoren des Programms, insbesondere aber Dr. Helmut Hühn gedankt. Stellvertretend für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar möchte ich mich bei Corinna Deibel bedanken.

VII https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Inhalt

Einleitung: Transzendentale Einheit der Zeit und geschichtliche Pluralität der Zeiten. Ein Konfliktfall um 1800 . . . . . . . . 1. Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Inhaltsaufriss und methodische Vorbemerkungen . . 3. Textgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 2 9 16

Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit. Kants transzendentale Zeitlehre . . . . . . . . . . . .

23

1. Kants kritische Grundlegung der Zeit . . . . . . . . . . 1.1. Form der Anschauung und formale Anschauung . . 1.2. Die vorreflexive Verzeitlichung der Zeit . . . . . . . 1.3. Selbstverzeitlichung: Der ›fließende Punkt der Gegenwart‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4. Die objektive Wirklichkeit der Zeit . . . . . . . . . 2. Das Zeitproblem des transzendentalen Idealismus . . . . 2.1. Deutungskonflikt ›Formale Anschauung‹ . . . . . . 2.2. Jacobis Kritik des Zeitapriorismus . . . . . . . . . . 2.3. Jacobis ›Zeit‹-Kritik als Systemkritik . . . . . . . . 2.4. Im ›Hohlraum‹ der transzendentalen Zeitanschauung 3. Übergang zum ›historischen Idealismus‹ . . . . . . . . . 3.1 Das metaphysische Problem des Anfangs . . . . . . 3.2. Der Neueinsatz der Weltalterlehre: Problem(dis-)kontinuitäten . . . . . . . . . . . . . 3.3. Schellings Abschied von den ›Prämissen‹ . . . . . .

25 25 32 42 46 51 51 54 59 66 72 72 76 83

IX https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Inhalt

Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs. Schellings genealogische Zeitlehre . . . . . . . . . . . 4. Schellings geschichtliche Offenlegung der Zeit . . . . . 4.1. Zeiterfahrung und Zeitreflexion . . . . . . . . . 4.2. Hauptmomente der ›Genealogie der Zeit‹ . . . . . 4.3. Zeit als Akt der Zeitigung . . . . . . . . . . . . . 5. Methodologischer Exkurs: Zur offenen Form der Genealogie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1. Der Anfang in Hesiods Theogonie . . . . . . . . . 5.2. Konstellation als genealogische Denkfigur . . . . 5.3. Κρόνος und Ζεύς: Temporale Übergänge und Zäsuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Nachkantische ›Zeit‹-Revolutionen . . . . . . . . . . . 6.1. »Umkehrung der Principien« in der Ichschrift . . . 6.2. Verkehrung der Ordnung von Ewigkeit und Zeit in den Weltaltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3. Die Vergeschichtlichung des Absoluten . . . . . . 7. Geschichtliche Zeit und ›ewige Zeit‹ . . . . . . . . . . 7.1. ›Organismus‹ als Zeit- und Geschichtsordnung . . 7.2. Entgeschichtlichungstendenzen . . . . . . . . . . 7.3. Der »ungereimte Begriff einer ewigen Zeit«: Noch einmal Jacobi . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Der ›Zeitkern‹ der Weltalterlehre . . . . . . . . . . . . 8.1. Schellings Wiederentdeckung der ›Lebenszeit‹ . . 8.2. Die geschichtliche Doppelerfahrung der menschlichen Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . 8.3. Der personale Sinn von Zeit . . . . . . . . . . . .

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. 90 . 90 . 94 . 112 . 115 . 115 . 122 . 127 . 136 . 136 . . . . .

147 158 168 168 175

. 189 . 198 . 198 . 203 . 211

Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt. Schellings Theorie geschichtlicher Zeiten . . . . . . . 221 9. Zeitphilosophische Verschiebungen . . . . . . . . . . . 9.1. Pluriformität der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2. Das ›ungeheure Recht‹ der Gegenwart . . . . . . . 9.3. Szientifisches Zeitregime und personaler Zeitvollzug 9.4. καταστροφή: Der ›Einbruch‹ der Zeit . . . . . . . . 9.5. Monokratie und Alterität . . . . . . . . . . . . . .

X https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

222 222 228 236 245 252

Inhalt

10. ›Zeit‹-Konflikte: Erfahrungen geschichtlicher Dis-/Kontinuität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1. Kants Philosophie des ›Trotz dessen‹ . . . . . . . . 10.2. Geschichtszeichen: Kant und der ›Enthusiasmus‹ . . 10.3. Das ›Entsetzen‹ über den Abgrund der Zeit . . . . 10.4. κρίσις und »entschiedene Gegenwart« . . . . . . . 10.5. Maria Stuart oder Die temporale Signatur der Unentschiedenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.6. Polychronie und das Problem der Synchronisierung 11. Eigenzeiten der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1. Schellings Rückeroberung ›personaler Zukunft‹ . . 11.2. ›Mitwissenschaft‹ als Zeitgenossenschaft . . . . . . 11.3. Die mitlaufende Differenz der zeitlichen Praxis . .

258 258 263 270 276 285 289 299 299 309 317

Schluss: Schellings Lehre von den Weltaltern und die Frage nach der Zeit bei Kant. Ausblicke auf einen exemplarischen ›Zeit‹-Konflikt der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . .

327 327 332

Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

353

Sachregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359

XI https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Einleitung: Transzendentale Einheit der Zeit und geschichtliche Pluralität der Zeiten. Ein Konfliktfall um 1800

Was Friedrich Wilhelm Joseph Schelling in der Urfassung der Weltalter von 1811 gegen den »Kantianismus« ins Feld führt, kommt einer Umkehrung der kritischen Philosophie gleich. Waren Raum und Zeit von Kant ins Subjekt verlegt und zu reinen Formen der sinnlichen Anschauung erklärt worden, sollen sie nun wieder in den Objekten selbst vorhanden sein. Schellings Kritik an Kant ist unüberhörbar: Die Zeit sei keine bloße Form unserer Vorstellungen, sie sei eine »innre«, den Dingen »inwohnende Zeit«: Nicht nur dieses oder jenes Ding, z. B. der Weltkörper oder das organische Gewächs; schlechthin jedes hat seine Zeit in sich selbst, ob sie gleich in den hier genannten entfalteter, ausgesprochener ist als in den andern; ja sollte irgend ein Ding durch den hohen Grad seiner Ungeschiedenheit ohne lebendige innre Zeit scheinen, so unterliegt es wenigstens keiner außer sich; kein Ding hat eine äußre Zeit, sondern nur eine innre, eigne, ihm eingeborne und inwohnende Zeit. Der Fehler des Kantianismus in Bezug auf die Zeit besteht darinn, daß er diese allgemeine Subjektivität der Zeit nicht erkennt, daher er ihr die beschränkte gibt, wodurch sie zu einer bloßen Form unserer Vorstellungen wird. (WA I, 78)

Wirft man daraufhin einen Blick in die Critik der reinen Vernunft, wird schlagartig klar, in welche Opposition Schelling sich mit seiner Kritik am »Kantianismus« tatsächlich begibt. Die Zeit, so heißt es bei Kant, sei zwar durchaus »etwas Wirkliches«, nämlich die »wirkliche Form der innern Anschauung«; gerade deswegen könne sie eines aber mit Sicherheit nicht sein: eine Bestimmung, die vom Objekt ausgeht: »Sie [die Zeit, P. N.] ist also wirklich nicht als Objekt, sondern als die Vorstellungsart meiner selbst als Objekts anzusehen« (KrV, A 37/ B 54). Es muss also schon eine besondere Bewandtnis haben, wenn ein Nachkantianer wie Schelling drei Jahrzehnte nach dem Erscheinen der Vernunftkritik offen von einem »Fehler des Kantianismus in Bezug auf die Zeit« spricht und die Statuten der transzendentalen Ästhetik auf eine derartige Weise depraviert. Kein Wort mehr von 1 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Einleitung

›gegebenen Resultaten‹ und ›noch fehlenden Prämissen‹. 1 Schellings Vorstoß widerruft, und das muss zunächst überraschen, die Grundlagen der kritischen Philosophie im Ganzen.

1. Problemaufriss In der Auseinandersetzung mit Kant bzw. dem »Kantianismus« geht es Schelling in der Sache um das, was in der Philosophie von jeher als Realitätsproblem der Zeit diskutiert worden ist und seinen prototypischen Ausdruck in der berühmten Paradoxie des Augustinus gefunden hat, wonach die Frage nach der Zeit zu stellen gar nichts anderes heißt, als immer schon in der Zeit zu sein und mit ihr umzugehen. 2 Eine Antwort auf die Frage, was die Zeit sei, kann, wie Carl Friedrich von Weizsäcker im Anschluss an Augustinus bemerkt hat, dementsprechend auch nur immer wieder deutlich machen, »was wir alle immer schon über die Zeit wissen«. 3 Wie Augustinus scheint Schelling erneut die Realität der Zeit auf ihre unhintergehbare Präsenz, ihre Mitgegenwärtigkeit im denkenden Bewusstsein zurückzuführen, und schlägt dabei doch einen ganz anderen Weg ein als dieser. Denn anstatt dass die Zeit wie bei diesem einer vom Entstehen und Vergehen unabhängigen Seeleninstanz überantwortet wird, ist sie in die Eigendynamik der Dinge selbst eingelassen, und zwar als eine von Ding zu Ding je verschiedene Zeit. Jedes Ding, so lautet die These Schellings, hat seine eigene, je individuelle Zeit. Dass die Zeit in diesem Sinne dingspezifisch differiert, kann als die moderne Reformulierung eines sehr alten Gedankens gelten, bedient Schelling sich doch augenscheinlich einer Formulierung, die auf das alttestamentliche Wort des Predigers Salomo zurückgeht, nach dem ein jegliches Ding seine Zeit habe und alles Vorhaben unter dem Himmel seine Stunde. 4 Nicht nur die ›alte‹, auch die ›neue‹, unsere, die moderne Zeit ist – bricht man das monochromatische Siegel, unter dem sie erscheint – durch eine irreduzible Vielheit von Zeiten gekennzeichnet, durch »unendlich viele Zeiten« (WA I, 81 f.). Auch in ihr bilden die Dinge noch immer ihre eigene Zeit heraus. Schelling ist indes 1 2 3 4

Vgl. F. W. J. Schelling an G. W. F. Hegel, 6. Januar 1795, AA III,1, 16. Vgl. Augustinus, Bekenntnisse, XI, 14. Vgl. von Weizsäcker 1964a, 8. Vgl. Pred 3.1, 1–8.

2 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Problemaufriss

nicht der erste Autor, der in der Schwellenzeit ›um 1800‹ Zeit auf diese Weise relationiert, pluralisiert und individualisiert und damit den Fokus auf die geschichtliche Erfahrung einer irreduziblen Vielheit verschiedener Zeiten und Zeitordnungen lenkt. 5 Es war Johann Gottfried Herder, der in seiner Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft von 1799 bereits einen ähnlichen Vorstoß gewagt hatte. Seinerseits in Auseinandersetzung mit den Grundlagen der transzendentalen Ästhetik Kants begriffen, statuiert Herder, dass »jedes veränderliche Ding das Maß seiner Zeit in sich« habe: »dies bestehet, wenn auch kein anderes da wäre; keine zwei Dinge der Welt haben dasselbe Maß der Zeit« (FA 8, 360). Die in kritischer Absicht verwandte, wenn auch in konzeptioneller Hinsicht durchaus verschiedene Positionierung Herders zeigt an, dass Schellings Invektive gegen den »Kantianismus« weniger unerwartet kommt, als es auf den ersten Blick scheint. Was zunächst bloß an eine der vielen Volten erinnert, die Schelling im Laufe seiner philosophischen Entwicklung vollzogen hat – Volten, die ihm das nicht immer schmeichelhafte Prädikat eingetragen haben, ein echter ›Proteus der Philosophie‹ zu sein –, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als geradezu exemplarischer Fall eines komplexen Erfahrungswandels, der sich an der Schwelle zum 19. Jahrhundert vollzieht und seit Arthur Oncken Lovejoy mit dem Begriff der Verzeitlichung (temporalizing) verschlagwortet wird. 6 Zu den einschneidenden, zeitmodalisierenden Erfahrungen um 1800 gehören – hier bloß stichwortartig – die Erfahrung eines beschleunigten sozialen Wandels, eines tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbruchs und eines umfassenden wissenschaftlichen Aufbruchs. 7 Zeit wird im Zuge dieses komplexen Erfahrungswandels auf einmal anders erfahren. Die Gegenwart, in der man lebt, scheint sich auf irreversible Weise verändert zu haben: Dasjenige nämlich, was sich verändert hat, ist die Struktur der Veränderung selbst. Es ist nicht der bloße Bruch, die Differenz, welche die Erfahrung von Zeit und Gegenwart um 1800 so fundamental anders macht. Unumkehrbar an der erfahrenen Veränderung ist, dass sich die Veränderung permanent vollzieht, dass sie als radikale Diskontinuität ins Denken und in die Lebenswirklichkeit eindringt. Die Zeit der Gegenwart steht nicht mehr bruchlos zur Verfügung: Sie gibt sich über5 6 7

Vgl. Gamper/Hühn 2014. Vgl. Lovejoy 1936. Vgl. Koselleck 1989; Luhmann 1975; Oesterle 2002; Oesterle 1985.

3 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Einleitung

haupt nur noch zu erkennen als geschichtliche Gegenwart, die im Konflikt mit anderen, reagiblen Zeiten steht und damit fortlaufend unter Legitimationsdruck gerät. 8 Schellings nicht weniger als Herders Einlassungen zum Problem der Zeit bei Kant scheinen genau aus diesem historischen Erfahrungswandel heraus motiviert zu sein. Ihre ›Zeit‹-Kritik lässt sich geradezu als Reaktion auf einen historischen Erfahrungswandel verstehen, in dem es zu unterschiedlichen Verzeitlichungsschüben kommt, wobei schon die ›kopernikanische Wende‹ Kants, Zeit nicht mehr als Newton’schen ›Behälter‹, sondern als Grundverfassung menschlicher Subjektivität zu verstehen, als maßgeblicher Anstoß für die folgende Entwicklung einer reflexiven Verzeitlichung der Zeit gelten kann. 9 Auch Kants am Modell der Mathematik und Naturwissenschaften orientierte Zeittheorie reagiert schon auf eine Facette dieses Erfahrungswandels, auf »Erfahrungsdruck« und »Empirisierungszwang« als den Bedingungen, unter denen eine moderne Naturwissenschaft sich nur herausbilden kann. 10 Bereits das Reflexivwerden der Zeit als Form unserer sinnlichen Anschauung, als geregeltes Nacheinander, als Vorstellungsabfolge, ist als erster Schritt in Richtung auf eine radikale Verzeitlichung aller Lebensbereiche zu verstehen. 11 Verzeitlichung zu Ende zu denken, kann für Schelling wie für Herder deshalb nicht bedeuten, die transzendentale Wende Kants in irgendeiner Weise ›rückgängig‹ zu machen. Nichts läge in diesem Fall ferner. Es kann höchstens bedeuten – und gerade hierin liegen die noch zu hebenden Potenziale ihrer ›Zeit‹-Kritik –, dem Zeitregime einer unendlichen, homogenen und kontinuierlichen Zeitabfolge, wie es sich im Anschluss an Kants Konzept einer linearen Zeit herausbildet, eine erfahrungsgesättigte Kritik entgegenzuhalten, die es auf Umfang und Grenzen hin befragt und ihm seinen Ort innerhalb einer Pluralität verschiedener Zeiten und Zeitordnungen zuweist. 12 Genau dafür Vgl. dazu Neumann 2018. Vgl. Sandbothe 1997. 10 Lepenies 1978, 16 f. 11 Vlg. dazu Stockhorst 2006. 12 Unter einem ›Zeitregime‹ lässt sich mit Aleida Assmann ein »Komplex kultureller Vorannahmen, Werte und Entscheidungen, der menschliches Wollen, Handeln, Fühlen und Deuten steuert, ohne dass diese Grundlagen vom Individuum selbst bewusst reflektiert werden«. Jede Zeitordnung, so die implizite Annahme, bringe in der Moderne ihre eigene kulturelle Semantik hervor. Im Fall der kantischen ›Zeit‹ betrifft dies allem voran die kulturelle Praxis des Messens, Rechnens und Vergleichens, also die Fähigkeit zur abtrakten, formalisierten Zeitvorstellung. Im Fall der ›Zeit‹ Schel8 9

4 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Problemaufriss

argumentieren Schelling und Herder letztlich: für eine Eigenzeitlichkeit der Erfahrungswelt, die unterschwellig zur Zeitlichkeit einer am bloßen Reißbrett der Erkenntnis entworfenen Objektwelt verläuft. 13 Insofern hat die Kritik System, spiegeln sich in Schellings und Herders Invektiven erfahrungsgeschichtliche Prozesse der Relativierung, Pluralisierung und Individualisierung von Zeit wider. 14 Worin, so gilt es nun aber zu fragen, besteht das philosophische Problem, auf das die Pluralität verschiedener Zeiten und Zeitordnungen Schelling zufolge eine Antwort sein soll? Worin genau liegt der »Fehler des Kantianismus in Bezug auf die Zeit«, den es durch den Verweis auf ihre »allgemeine Subjektivität« zu korrigieren gilt? Hatte Kant nicht durch den Erweis der transzendentalen Idealität der Zeit Newtons Theorie der absoluten Realität der Zeit zu den Akten der überkommenen Metaphysik gelegt? Und war nicht gerade die Beschränkung der Zeit auf ihre empirische Realität, auf die Schelling anspielt, wenn er von der »beschränkte[n]« Zeit des »Kantianismus« spricht, die Bedingung der Möglichkeit dafür gewesen, den Begriff einer objektiven Erfahrung auf der einen Seite gegen den Skeptizismus Humes zu verteidigen, ohne dabei auf der anderen Seite einem Dogmatismus Wolff’scher Prägung zu verfallen? Was heißt hier aber ›empirische Realität‹? Und wie begründet Kant die transzendentale Idealität der Zeit? Eine transzendentale Deduktion der Zeit hat die Vernunftkritik nicht aufzuweisen, soviel steht dem Buchstaben nach fest. Was es gibt, ist lediglich eine transzendentale und metaphysische Erörterung der Begriffe von Raum und Zeit. Wie aber ›anfangen‹ mit solch einer ›Lücke‹ im System? Hatte dergestalt nicht schon Fichte in der Wissenschaftslehre nova methodo behauptet, dass der Begriff der Zeit entscheidend sei für das »System der Wissenschaftslehre, so wie überhaupt für allen Idealismus« (GA IV,2, 124)? Und kann nicht auch das spätere Votum Schellings aus der Vorlesung über das System der Weltalter von 1827, wonach die Zeit der »Anfangspunkt aller Untersuchung in der Philosophie« zu sein habe, als belastbares Indiz dafür gelten, dass es sich bei der hier angezeigten Frage nach der Realität lings und Herders beträfe dies vor allem die Praxis des Handelns und Erzählens, also das personale Zeit- und Geschichtsdenken (Assmann 2013, 19). 13 Selbst Fichte gelangt in seinem Spätwerk zu der Einsicht, dass sich das »Zeitleben« in einzelne Momente des wirklichen Lebens aufspalte: »Es giebt nicht eine einzige Zeit, sondern es giebt Zeiten, und Zeitordnungen über Zeitordnungen und in Zeitordnungen« (GA I,8, 75). 14 Vgl. Jordheim 2011.

5 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Einleitung

der Zeit um eine Problematik handelt, die der nachkantischen Frage nach den Ermöglichungsbedingungen eines Systems der reinen Vernunft so grundlegend eingeschrieben ist, dass sich »ohne bestimmte Erklärung von der Zeit« nicht einmal ansatzweise eine »verständliche Entwicklung« (Schelling 1827/28, 16) eines solchen Systems wird geben lassen? Wie aber steht es um eine »bestimmte Erklärung von der Zeit« bei Kant? Weither ist es damit anscheinend nicht, schaut man sich in der Critik der reinen Vernunft um: »So fehlt, was Zeit und Raum betrifft, allein schon eine Antwort auf die Frage: Warum gibt es davon ausgerechnet zwei?«. 15 Besieht man sich die Sache also genau und berechnet zudem mit ein, dass Schelling schon immer ein »problemoffenes Gespür« für die entscheidenden Fragen der Transzendentalphilosophie Kants hatte, so wird man auch in diesem Fall feststellen können, dass Schellings Kritik an der Zeitlehre Kants nicht nur einen neuralgischen Punkt der Konzeption selbst berührt, sondern ins Problemzentrum transzendentaler Subjektivitätsentwürfe um 1800 vorstößt. 16 Verbunden mit der Kritik am formalen Vorstellungscharakter der Zeit ist bei Schelling nicht die Forderung nach einer von Kant nicht geleisteten und in diesem Sinne erst nachzuliefernden ›Deduktion der Zeit‹. Im Gegenteil: Eine ›Zeit‹-Deduktion, wie sie der transzendentale Idealismus in Aussicht stellt, würde geradewegs darauf hinauslaufen, die Zeitlichkeit der Subjekte und damit die Zeit zuletzt selbst aufzuheben. Schelling schwebt etwas ganz anderes vor: eine »Genealogie der Zeit« (WA I, 75), eine erfahrungsgesättigte Metaphysik der Zeit- und Weltentstehung. Schelling versucht nicht länger, die Zeit aus einem überzeitlichen Prinzip zu deduzieren. Um dem »geschichtlichen Eigensinn des Urteilens und Handelns« gerecht zu werden, der »Eitelkeit« dessen, was nach Schellings eigenen Worten eines »wahrhaften Zweckes ermangelt« (SW XIII, 7), darf die Zeitlichkeit der Subjekte gerade nicht wieder in die Ewigkeit des Absoluten – sub specie aeternitatis – aufgehoben werden, sondern muss geschichtlich aufweisbar bleiben: mikrogeschichtlich als die Zeit eines je Einzelnen, makrogeschichtlich als die Zeit einer jeweiligen geschichtlichen Gegenwart. 17 Es ist die geschichtliche Erfahrung der Diskontinuität, die Schelling gegen Kant und die metaphysische Tradition geltend macht, 15 16 17

Prauss 2015, 13. Sandkaulen 2004a, 35. Sandkaulen 2011, 272a.

6 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Problemaufriss

eine Form der Zeitpraxis, die nicht mehr die klassische Frage stellt, was Zeit denn nun ›eigentlich‹ sei, sondern im ureigensten Interesse praktischen Handelns und seiner geschichtlichen Aneignung fragt: »[W]as ist gewesen? und was wird sein?« (WA III 1, 191). Als besonders vielversprechend stellt sich Schellings Zeitdenken also in dem Maße heraus, wie es im Versuch einer spekulativen Grundlegung der Zeit auf reale Zeiterfahrungen bezogen bleibt: Schelling liefert zwar eine spekulative Analyse der Zeitentstehung, stößt dabei aber auf eine zeiterzeugende Kraft, welche die abstrakte Frage nach dem Ursprung der Zeit in die konkrete Frage nach dem praktischen Umgang mit ihr transformiert. Die Bestimmung des Begriffs der Zeit erfolgt über die Praxis der Zeit selbst, kann auch nur von dorther, in den gewordenen Strukturen praktischer Selbstverhältnisse wiederum geschichtlich erschlossen werden. Es ist die geschichtliche Erfahrung, die bei Schelling jeder begrifflichen Bestimmung von Zeit zuvorkommt, ein unvordenkliches Geschehen, das von Kants nach dem Vorbild der Mathematik und der reinen Naturwissenschaften entworfene Zeitlehre so wenig berührt wird, dass man meinen könnte, es spiele für das Selbst- und Weltverständnis des Menschen, um das es schließlich auch ihm gehen muss, gar keine Rolle. Dabei prägen gerade geschichtliche Entscheidungen, seien sie individuell oder kollektiv, sei es im Urteils- oder im Handlungsvollzug, unsere eigene Daseinserfahrung, und zwar einerseits als Erfahrungen der Freiheit, andererseits aber auch als Erfahrungen des Ungewissen, Neuen, oft sogar Schrecklichen. 18 Urteilen und Handeln sind, um es mit Hannah Arendt zu sagen, die Tätigkeiten, in denen Menschen auf verschiedene Weise die »personale Einzigartigkeit ihres Wesens« zum Vorschein bringen. 19 Und es sind gerade Erzählungen und keine Deduktionen, in denen das zeitlich entzweite Davor und Danach, der geschichtliche Lebenszusammenhang, die uns zustoßende und (un-)bewältigte Erfahrung dargestellt werden kann. 20 Schelling stellt nun gerade diese geschichtlich hervorgetretene, im Zwiespalt von Alt und Neu sich formierende, von Diskontinuitäten durchzogene Erfahrung ins Zentrum seiner Zeitanalyse: Die Zeit präVgl. Gadamer 1987c. Arendt 1960, 169. 20 Schellings Weltalter-Projekt weist in diesem Punkt überraschende Ähnlichkeiten zu narratologischen Ansätzen in der Philosophie des 20. Jahrhunderts auf, wie man sie beispielhaft bei so unterschiedlichen Autoren wie Agamben, Benjamin, Blumenberg, Ricœur und Rorty findet. Vgl. jüngst dazu auch Hutter 2017. 18 19

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Einleitung

sentiert sich uns von jeher als eine Differenzerfahrung im Vollzug. Der Fokus auf den diskontinuierlichen Vollzug von Zeit zeichnet Schellings Zeitkonzeption dabei im Grunde noch gegenüber einer primär am kontinuierlichen Zeiterleben orientierten Zeitkonzeption à la Bergson aus, mit der sie in kant-kritischer Absicht in anderer Hinsicht zentrale Parameter teilt. 21 Der Fokus auf die geschichtliche Erfahrung ist es, der Schellings Kant-Kritik neben der von Bergson zu einer für die moderne Zeitphilosophie zentralen Streitsache macht und die Fragen in systematischer Hinsicht vorgibt: Aus welcher Zeit bezieht der Mensch sein grundlegendes Selbst- und Weltverständnis: aus der geschichtlichen Zeit, in der wir von jeher urteilend und handelnd begriffen sind, Entscheidungen vollziehen, Verantwortung übernehmen, für uns und für andere, und mit den Folgen dieser Entscheidungen leben müssen, oder aus der rein formalen Zeit, mit der wir rechnend, messend und vergleichend umgehen? Angesichts solcher zentralen Fragen ist es das Ziel der vorliegenden Studie, Schellings ›Genealogie der Zeit‹ im Ausgang von Kants Zeitlehre problemgeschichtlich wie argumentativ zu rekonstruieren und in Auseinandersetzung mit ihr systematisch zu explizieren. Die Antwort, die Schelling auf die strukturellen Defizite der kritischen Zeitlehre zu geben versucht, bewegt sich zwar von vornherein auf einem anderem – spekulativen – Niveau. Das bedeutet allerdings nicht, dass man nicht versuchen kann und sollte, seinen genealogischen Ansatz im Ausgang von denjenigen Problemen in den Blick zu bekommen, die sich, hat man einmal die Folie der Vernunftkritik aufgelegt, im Ausgang von Kant stellen. Vor dem Hintergrund von und in Konfrontation mit Kants kritischer Grundlegung der Zeit verspricht gerade Schellings Zeitdenken einerseits originäre Einsichten in die Zeitkonzeption Kants sowie den tief im Zeitproblem verwurzelten Systemdiskurs um 1800 zu geben, andererseits aber auch bzw. in eins damit eine in gegenwärtigen Debatten oft unterschlagene Dimension, und zwar die Geschichtlichkeit der Zeit bzw. die Zeitlichkeit der Geschichte zu erkunden. Zeit tritt nie singulär auf und ist schon in gar keinem Fall gegeben. Zeit wird immer wieder neu, in Differenz zu anderen Zeiten geschichtlich-praktisch von uns hervorgebracht und widerfährt uns auf irreversible Weise im Prozess der Hervorbringung selbst; ihre Darstellungsform ist die nur selber in der und durch

21

Vgl. Bergson 1889.

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Inhaltsaufriss und methodische Vorbemerkungen

die Zeit zu realisierende Erzählung. 22 Als Kategorie ist Zeit nicht allein der Theoretischen Philosophie zuzuordnen; sie gehört gleichermaßen in den Bereich der Praktischen Philosophie. Zeitverhältnisse sind praktische Verhältnisse geschichtlich-personaler Art. Fluchtpunkt der vorliegenden Überlegungen bildet darum die Konzeption einer personalen Eigenzeit, deren Umrisse es in den Weltaltern im Ausgang von exemplarischen Erfahrungen geschichtlicher Diskontinuität als Kategorie einer handlungs- und erzählungsbasierten Geschichtszeit erstmals herauszuarbeiten gilt.

2. Inhaltsaufriss und methodische Vorbemerkungen Der erste Teil der Studie ist dem vielschichtigen und keineswegs immer stringenten Begründungsgang einer kritischen Grundlegung der Zeit bei Kant gewidmet. Im Zentrum steht dabei das Verhältnis von Form der Anschauung und formaler Anschauung als die unbeantwortete Frage danach, wie die Einheit der Anschauung transzendental zu denken sei. Kant behauptet zwar in der transzendentalen Ästhetik, die Zeit sei nichts anderes als die Form des inneren Sinns, unweigerlich wirft das aber die Frage auf, ob sie damit auch schon die wirkliche Form der sinnlichen Anschauung ist. Was verbürgt, anders gesagt, die objektive Gültigkeit der Zeit in Ansehung der Erscheinung, die Übereinstimmung der formalen Einheit der Anschauung als Form des inneren Sinns mit der transzendentalen Einheit der Apperzeption? Der erste Teil der Studie möchte zeigen, dass Kant mit der Lehre von der formalen Anschauung in der transzendentalen Logik gerade versucht hat, eine Antwort auf diese Frage zu geben, eine Antwort, die dergestalt aber zugleich ins Problemzentrum der kritischen Philosophie hineinführt, insofern sie die Frage nach der von Kant ansonsten so strikt aufrecht erhaltenen kategorialen Unterscheidung von Anschauung und Begriff, Sinnlichkeit und Verstand berührt. Sind die Anschauungsformen von Raum und Zeit in der transzendentalen Ästhetik noch a priori gegeben, weist Kant sie in der dafür einschlägigen Fußnote in § 26 als Gegenstände einer ihre formale Einheit begründenden transzendentalen Synthesis des Verstandes aus. Können Raum und Zeit dieser Lehre zufolge dann aber überhaupt noch a priori gegeben sein oder sind nicht vielmehr – samt 22

Vgl. Gadamer 1986; Hammer 2011; Schmidt-Biggemann 2018.

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Einleitung

dem Mannigfaltigen der sinnlichen Anschauung, das sie enthalten – als Produkte des Verstandes anzusehen? Und wenn das der Fall ist: Würde die verstandesmäßige Bedingtheit der Formen von Raum und Zeit nicht der kategorialen Unterscheidung zwischen Anschauung und Begriff, Sinnlichkeit und Verstand auf eine Art und Weise widersprechen, die das Fundament der kantischen Vernunftkritik im Ganzen untergräbt? Das Anliegen des ersten Teils der Studie ist es nicht, zu einer abschließenden Beurteilung der kritischen Grundlegung der Zeit bei Kant zu kommen. Dies sei anderen Untersuchungen überlassen, die sich dem Zeitproblem bei Kant in singulärer Weise widmen. 23 Anliegen der vorliegenden Studie ist es vielmehr, die problematischen Fragen auf dem Gebiet der kritischen Zeitlehre anzuzeigen und damit den problemgeschichtlichen Weg zu weisen, der Schellings genealogischer Zeitlehre vorausliegt. Hierzu ist neben Kants Vernunftkritik aber auch die radikale Vernunftkritik Jacobis einzublenden. Erst durch sie, so die Überlegung, wird das Motiv deutlich, dass Schelling dazu bewegt, die Blickrichtung in den Weltaltern radikal umzukehren. Die Einbeziehung Jacobis basiert auf der Einsicht, dass Jacobis Denken eine entscheidende Formationsbedingung sowohl des Schellings’chen Denkens wie auch der klassischen deutschen Philosophie insgesamt darstellt. 24 Wo immer es Perspektivverläufe innerhalb der nachkantischen Philosophie nachzuzeichnen gilt, sind die Wege, die Jacobi eingeschlagen hat, Knotenpunkte theoriegeschichtlicher Orientierung. 25 So auch im vorliegenden Fall: Jacobis von Spinoza Ethik aus entwickelte fundamentale Kritik am Typus einer »Metaphysik aus bloßer Logik« (JW 2,1, 388) entzündet sich bei Kant nicht zuletzt auch an der ›Zwitterstellung‹ von Raum und Zeit, Formen der Anschauung und formale Anschauungen zugleich zu sein. Ungeklärt bleibe bei Kant, wie die Zeit überhaupt in die Zeit komme. Ein Problem, das seine Brisanz in der Darstellung Jacobis vor allem dadurch Vgl. Michel 2003. Vgl. Sandkaulen 1990; Sandkaulen 2000. 25 Wie wirkmächtig Jacobis Vernunftkritik von Beginn an für Schelling offenbar gewesen ist, spricht sich in einem Brief an seinen Verleger Perthes aus, in dem es heißt: »Wie mächtig hat er [Jacobi, P. N.] zum voraus in Alles eingegriffen, was unserem Zeitalter indeß wichtig geworden ist; ebendeßwegen glaube ich, daß Er – der Erste, der dieß alles so gewaltig anregte, auch der Letzte seyn wird, der das entstandne Chaos wieder ordnet« (F. W. J. Schelling an F. Perthes, 3. Juli 1798, AA III,1, 172). Vgl. dazu auch Schick 2013. 23 24

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Inhaltsaufriss und methodische Vorbemerkungen

erhält, dass es sich Jacobi zufolge um ein Problem handelt, das theoretisch überhaupt nicht gelöst werden kann: Zeit ist unhintergehbar, präsent nur in Form des Handlungsvollzugs. Hier aber zeigt sich aus Sicht der vorliegenden Studie die Möglichkeit, Licht in Schellings allzu oft bloß als dunkel verschrieener ›Genealogie der Zeit‹ zu bringen. Denn wenn im transzendentalen Idealismus und darüber hinaus ungeklärt bleibt, ob und auf welche Weise ein Anfang der Zeit überhaupt zu denken ist, dann scheint eine ›Genealogie der Zeit‹, welche die Frage nach dem Ursprung der Zeit suspendiert, indem sie die Zeit immer schon aus ihren geschichtlich-praktischen Bezügen zu anderen Zeiten begreift, sich geradezu als Antwort auf das transzendentalphilosophische Problem des Anfangs zu verstehen, wie es auch Jacobi angestachelt durch Spinoza bei Kant gesehen hat. Im Ausgang vom transzendentalen Ansatz Kants lässt sich der genealogische Ansatz Schellings also genau in dem Maße in den Blick nehmen, wie man dessen Kritik am formalen Charakter der Zeit mit der Kritik an der Anfangslosigkeit transzendentalphilosophischen Systemdenkens verbindet. Die ›Zeit‹-Kritik, die Schelling vorbringt, ist – hierin aufs Engste derjenigen Jacobis verwandt – Systemkritik in nuce. Auf Grundlage der im ersten Teil herausgearbeiteten Probleme gilt es im zweiten Teil der Studie, Schellings ›Genealogie der Zeit‹ argumentativ zu rekonstruieren. Leitend für die Rekonstruktion ist das Motiv der Verkehrung: Kants kritische Zeitlehre, die mit dem Anspruch auftrat, radikale Wende der Metaphysik zu sein, wird von Schelling seinerseits gewendet. Die Zeit ist nicht bloß in den Subjekten vorhanden, sie wird vielmehr erst durch die zeitigende Freiheit der Subjekte hervorgebracht. Sind Zeit und Subjektivität aber gleichursprüngliche Prinzipien, dann muss, was sich dergestalt als Verkehrung ihres Verhältnisses beschreiben lässt, sich auch auf der nächst höheren Abstaktionsebene, dem Verhältnis von Ewigkeit und Zeit, niederschlagen. Und genau das ist der Fall: Schelling stellt in den Weltaltern der Ewigkeit die Zeit als eigenständiges Prinzip gegenüber. Die Zeit ist nicht länger von der Ewigkeit als Zeit gesetzt, wie man es von den klassischen Zeitphilosophien von Platon bis zum frühen Schelling erwartet. Das Verhältnis stellt sich geradezu umgekehrt dar: Die Ewigkeit existiert nicht von selbst, sie existiert nur durch den Vollzug von Zeit hindurch. Dementsprechend stellt die Zeit auch keine Privation der Ewigkeit dar. Sie ist vielmehr als eine Provokation derselben zu verstehen. Denn in dem Maße, wie die Zeit der Ewigkeit als ein selbstständiges Prinzip gegenübertritt, ist bereits 11 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Einleitung

in der Ewigkeit eine ›Zeit‹ gesetzt; eine Zeit vor aller Zeit, eine vorgeschichtliche Zeit, die erst dann zur realen, geschichtlichen Zeit wird, wenn sie durch einen Akt der Scheidung in ihre Perioden auseinandergetrieben wird und als Gegenwart im polaren Spannungsfeld von Vergangenheit und Zukunft erscheint. Ob und auf welche Weise Schelling mit einer so verstandenen positiven Verkehrung der Ordnung von Ewigkeit und Zeit auf methodischer Ebene einen Ansatz zur Lösung des von Jacobi aufgeworfenen Problems bereitstellt, wird am Ende des zweiten Teils der Studie zu diskutieren sein. 26 Zu fragen ist vor allem danach, ob es sich bei den Weltalter-Fragmenten tatsächlich um die »Geburtsstunde des historischen Bewußtseins« handelt, wie Wolfgang Wieland betont, oder ob mit Axel Hutter nicht vielmehr davon auszugehen ist, dass das von Wieland anvisierte Projekt einer radikalen Geschichtlichkeit durch die ständige Überblendung von Individual- und Universalgeschichte in den Weltalter-Fragmenten nicht auf halber Strecke steckenbleibt. 27 Auch wenn Hutter betont, dass Schelling bereits in den Weltaltern die für seine spätere Philosophie maßgebliche Grundüberzeugung gewonnen habe, dass der eigentliche Gegenstand der Philosophie Ereignis- oder Geschehenscharakter besitze, wird gegen ihn festzuhalten sein, dass sich die Rede von der geschichtlichen Existenz des Menschen durchaus auch in der Weltalterphilosophie verteidigen lässt; Wielands Ansatz wird dahingehend zu modifizieren sein, dass sich die Zeitanalyse, die Schelling vorlegt, methodisch in noch sehr viel stärkerem Maße von der geschichtlich-konkreten Zeitpraxis herschreiben lässt; die Frage nach der Verfasstheit der Zeit bliebe ohne die Erfahrung geschichtlicher Negativität, des Hineingehaltenseins in Unerörtert muss die Frage bleiben, ob und auf welche Weise das Weltalter-Projekt in der Spätphilosophie fortgesetzt wird. Grundsätzlich plädiert die vorliegende Arbeit mit Aldo Lanfranconi für eine Entdramatisierung der Rede vom ›Scheitern‹. Fruchtbarer für eine Weltalter-Lektüre ist es, die wiederholten ›Umkehrungen‹ in Schellings Denken auf ihre inneren Aporien hin zu befragen. Zur Rezeptionsgeschichte des ›Scheitern‹-Theorems in der Schelling-Forschung nach 1945 vgl. Lanfranconi 1992 sowie ders. 1996. Interessanterweise führt Lanfranconi in diesem Zusammenhang auch ein Zitat von Schelling selbst an, das die Unabgeschlossenheit des Werkes thematisiert und so versucht, ihr eine systematische Pointe zu geben: »Der ein Werk, das in seiner Seele lag, vom ersten verschlossenen Keim bis zur vollkommnen Gestalt ausgebildet, der im Kampf mit einer unbezwinglich scheinenden Natur dennoch zur Klarheit gelangt, der etwa mag urtheilen. Leute ohne geistige Erfahrung können hier nichts richten« (WA I, 102). 27 Wieland 1956, 9; Hutter 1996, 121. 26

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Inhaltsaufriss und methodische Vorbemerkungen

die Geschichte, für Schelling am Ende genauso abstrakt und leblos wie die mechanische Zeitauffassung, gegen die sie sich in systematischer Hinsicht zu behaupten sucht. Insbesondere hier, so wird sich zeigen, ergibt sich die Möglichkeit, Schellings Kritik an Kants Begriff einer rein formalen Zeit aus dem Binnenraum der klassischen deutschen Philosophie herauszulösen und in zeitphilosophischer Sicht als eine Theorie geschichtlicher Zeiten zu reformulieren, die einen Beitrag zur aktuellen Zeit- und Moderneforschung zu leisten vermag. Da Schelling seine Zeitkonzeption selber unter das Motiv des geschichtlichen Neuanfangs gestellt hat, besteht diese Möglichkeit nicht ›auch‹, die Aktualisierung ist ihr von jeher eingeschrieben. Gefragt werden soll im dritten Teil der Studie also danach, ob und auf welche Weise die Kritik, die Schelling in historisch exemplarischer Weise gegen Kant vorbringt, für die gegenwärtige Zeitforschung fruchtbar gemacht werden kann, und was das systematische Interesse umgekehrt wiederum über den historischen Problembestand verrät. Entscheidend, um diesen Schritt zu tun, ist in methodologischer Hinsicht die Einsicht, dass philosophischer Konzeption eine multiple innere Verfassung zukommt, wie Dieter Henrich es formuliert: Auch Werke befindet sich im Werden. 28 Henrich zufolge reicht es nicht allein aus, philosophische Konzeptionen problemgeschichtlich zu motivieren oder argumentativ zu rekonstruieren, um ihre innere Verfasstheit zu verstehen. In den Blick kommen müssen auch jene Potenziale, die dann sichtbar werden, wenn man eine philosophische Konzeption in den systematischen Zusammenhang stellt, in den sie thematisch und methodisch gehört, und sie in dieser Weise historisch dekontextualisiert. Wenige Konstellationen exponieren die Frage nach der Zeitlichkeit und der Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins so beziehungsreich wie die zwischen Schelling und Kant. 29 Als ausgesprochen innovativ stellt sich Schellings ›Zeit‹Kritik nämlich insofern dar, als sie mit einer Theorie individuell verschiedener Zeiten, oder eben: verschiedener ›Weltalter‹, zugleich einen Grundkonflikt der modernen Zeitphilosophie formuliert, den man vorläufigerweise als einen Konflikt zwischen ›linearer Zeit‹ und ›dimensionierter Zeit‹ beschreiben kann. 30 Während Kant nur eine Zeit und aufgrund deren Schematisierung durch den reinen Verstand 28 29 30

Vgl. Henrich 2011, 111. Vgl. Adolphi 2004, 360. Vgl. Sandbothe 2004.

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Einleitung

auch nur einen Modus der Zeiterfahrung kennt, und zwar den der gemessenen, gezählten Zeit, erhebt Schelling die Frage nach der Gleichzeitigkeit von »verschiedenen Zeiten« (SW VIII, 302), also die Frage nach der Pluralität geschichtlicher Zeiten zum Problem der Bestimmung dessen, was Zeit ist. Blickt Kant nach den Bedingungen der Möglichkeit einer objektiven, kontinuierlichen Vorstellungsabfolge, problematisiert Schelling die Ermöglichungsbedingungen einer personalen, von realen Diskontinuitäten durchzogenen Temporalität unseres Daseins. 31 Exemplarisch ist dieser Konflikt in genau dem Maße, wie an einer besonderen, hier historischen Konstellation ein allgemeines, für die Moderne entscheidendes und bis heute unabgegoltenes Problem sichtbar wird, die Frage nach der Einheit der Zeit in der irreduziblen Vielfalt ihrer verschiedenen Zeitformen. 32 Schelling verschärft diesen Konflikt sogar noch einmal, indem er radikal mit der für die klassische Zeitphilosophie einschlägigen Vorstellung bricht, die Zeit könne ihrem Wesen nach überhaupt nur eine einzige – singuläre – Zeit sein, in der das Dasein bloß vorkommt, nicht aber in der es sich als Dasein respektive als Person unter anderen Personen überhaupt erst geschichtlich herausbildet. Zeit steht für Schelling von jeher im Plural ›Zeiten‹: ein Grund, warum es neben Herder gerade der sonst so ›sperrige‹ Schelling ist, der in der neueren Zeit- und Moderneforschung mit großem Interesse zur Kenntnis genommen wird. 33 Was in diesem für die Moderne exemplarischen ›Zeit‹-Konflikt genau unter einer ›linearen‹ und einer ›dimensionierten Zeit‹ zu verstehen ist, und wie sich beide Zeitformen zueinander verhalten, und vor allem: wie Schelling die Zeit überhaupt als Ganze in den Plural setzt, diese und andere Fragen werden unter Rückgriff auf die Ergebnisse des ersten und zweiten Teils im dritten Teil der Studie zu explizieren sein. 34 Die thematische Nähe zu Heideggers Interpretation der Frage nach der Zeit liegt auf der Hand, soll aber in der vorliegenden Studie nur randständig verfolgt werden. Zur Konstellation ›Heidegger–Schelling‹ (unter zusätzlicher Berücksichtigung Jacobis) vgl. insbesondere Sommer 2015, Gadamer 1987b, Iber 1998. 32 Vgl. Brüggemann 2015; Schneider/Brüggemann 2011. 33 Vgl. Gamper/Hühn 2014, 30 f. 34 Es ist erstaunlich, dass es sich hierbei nach wie vor um ein Desiderat der SchellingForschung handelt. Vgl. dazu Sollberger 1996, 318: »Eine nähere Untersuchung zur Zeitkonzeption Schellings hätte zu zeigen, in welcher Weise aus Schellings enger Verknüpfung der Zeit mit Entschiedenheit, Geschichte und Positivität, lagezeitliche Bestimmungen und Zeitmessungen letztlich in modalzeitlichen Bestimmungen begründet sind«. Ob es sich um ein Fundierungsverhältnis von lagezeitlichen und mo31

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Inhaltsaufriss und methodische Vorbemerkungen

Erst wenn man die Positionen Schellings und Kants gegeneinander profiliert, anstatt sie gegeneinander auszuspielen, kann aus der kritischen Distanz, in der sie zueinander stehen, die Reichweite des jeweiligen Ansatzes und seine Grenzen in den Blick kommen und ein Inbeziehungsetzen beider Positionen im Sinne einer geschichtlichen Verschiebung der Problemlage möglich werden. Den methodischen Leitfaden, welcher der Arbeit zugrunde liegt, bildet dementsprechend ein Sichtbarmachen der Strategien, mit denen Kant und Schelling – aus unterschiedlichen Richtungen kommend – jeweils versuchen, dem Realitätsproblem der Zeit angesichts des eingangs beschriebenen historischen Erfahrungswandels gerecht zu werden. Erst durch eine so zu bezeichnende agonale Erhellung der verschiedenen Ansätze kann einerseits die Zeittheorie Kants gegen eine zu vereinseitigende ›Zeit‹-Kritik Schellings verteidigt und andererseits das Zeit- und Geschichtsdenken Schellings für die weitere Zeit- und Moderneforschung fruchtbar gemacht werden. Der Untertitel der vorliegenden Studie zielt in dieser Hinsicht auf ein Doppeltes ab: Die Lehre von den Weltaltern bei Schelling und die Frage nach der Zeit bei Kant sind einander nicht einfach nur entgegenzusetzen, so als hätte man es mit zwei disparaten Zeitmodellen zu tun, die sich problemlos voneinander abgrenzen ließen. Schellings personales Zeit- und Geschichtsdenken gewinnt seine kritische Dimension vielmehr überhaupt erst in dem Maße, wie es in seiner Absetzungsbewegung von Kants linearer Zeitvorstellung zugleich auf diese bezogen bleibt. Dieser agonale Zug macht es zu einer der vielschichtigsten ›Zeit‹-Kritiken der Moderne. Vielschichtig deshalb, weil die geschichtliche Dimensionierung der Zeit, auf die Schelling abhebt, die Herrschaft der Zeit voraussetzt und sie weiter forciert. Die geschichtliche Pluralisierung der Zeit macht die Frage nach ihrer transzendentalen Einheit nur umso dringlicher, wie diese durch jene immer wieder in einen tragischen Konflikt mit sich selbst hineingezogen wird.

dalzeitlichen Bestimmungen handelt, wie Sollberger hier vorschlägt, oder ob nicht der konflikttheoretische Ansatz jedes Begründungsverhältnis von vornherein unterläuft, wird im Gang der Studie eingehender zu prüfen sein.

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Einleitung

3. Textgrundlage Schellings Werk Die Weltalter ist ein Fragment, und zwar in doppelter Hinsicht. Fragment sind die Weltalter nicht nur, weil sie unvollendet geblieben sind. Fragment sind sie auch deshalb, weil der gesamte Umfang des Konvuluts bis heute nicht bekannt ist. Von ursprünglich mindestens zwölf Entwürfen gibt es heute noch drei erhaltene Fassungen: Die Weltalter von 1811, 1813 und 1814/15. Letztere Fassung wurde von Schellings Sohn Karl Friedrich August in den Band VIII der Sämtlichen Werke aufgenommen. Die Fassungen von 1811 und 1813 wurden 1946 von Manfred Schröter veröffentlicht und stammen aus dem im Zweiten Weltkrieg bei einem Bombenangriff zerstörten Münchner Nachlass. Klaus Grotsch hat 2002 zudem in Form einer Vorausedition Manuskripte aus dem Berliner Nachlass herausgegeben. Die aus der Zeit zwischen 1810 und 1820/ 21 stammenden Manuskripte zu den Weltaltern bilden den wohl umfangreichsten Teil des noch erhaltenen Nachlasses; vieles ist noch nicht ediert. Die Ausgangsbedingungen für eine historisch-systematische Rekonstruktion sind demnach denkbar schlecht, und dennoch soll der Versuch gewagt werden, anhand derjenigen Texte, die zur Verfügung stehen, Schellings genealogischen Ansatz Profil zu verleihen. Die Untersuchung wird sich dabei hauptsächlich auf die erste Fassung von 1811 konzentrieren: In keinem anderen Weltalter-Entwurf verankert Schelling die Zeit so ›tief‹ im Absoluten wie hier, in keinem anderen Fragment wird die menschliche Zeiterfahrung methodisch so reflektiert ins Zentrum der Zeitanalyse gestellt. Auch Christian Iber hält in diesem Sinne fest, dass Schelling in keinem anderen Weltalter-Druck so weit gehe, »zur Begründung der Geschichtlichkeit des Absoluten wenigstens der Möglichkeit nach ›im Ewigen schon eine innre Zeit‹ anzunehmen«. 35 Dass die »Genealogie der Zeit« in den beiden anderen Drucken fehlt, heißt nicht, dass Schelling von der genealogischen Methode Abstand genommen hat. Weit gefehlt: Andere mit der ›Genealogie der Zeit‹ in enger Verbindung stehende Konzepte wie der ›Organismus der Zeiten‹ oder die ›Scheidung von sich selbst‹ ziehen sich durch alle drei Entwürfe hindurch, abgesehen davon, dass das Genealogie-Kapitel ohnehin nur diejenigen Momente der Geschichte aufgreift, deren Etappen, Stadien

35

Iber 1994, 209

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Textgrundlage

und Epochen auch an anderer Stelle Erwähnung finden und thematisiert werden. Um nicht missverstanden zu werden: Dass die ›Genealogie der Zeit‹ auch dort, wo nicht in expliziter Weise von ihr die Rede ist, bei Schelling mitgegenwärtig ist, bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass sich der Textverlauf der verschiedenen Fassungen strikt parallelisieren ließe. Es soll nur heißen, dass die in der ersten Weltalter-Fassung entwickelte Konzeption einer ›Genealogie der Zeit‹ sich durchaus auch aus anderen beiden Entwürfen herausdestillieren ließe. Schelling greift sogar in der späteren Philosophie der Offenbarung noch einmal auf den Titel »Genealogie der Zeit« (SW XIV, 108) zurück, sodass Aldo Lanfranconi ausdrücklich zuzustimmen ist, wenn er festhält, dass Schellings genealogische Zeitlehre keineswegs bloß aus dem ersten Weltalter-Druck erschlossen werden kann. 36 Als zentrales Problemfeld einer Philosophie des Absoluten ist sie in der mittleren und späten Phase Schellings notorisch virulent. Insofern können in der vorliegenden Studie neben der ersten Fassung auch die Entwürfe von 1813 und 1814/15 in Maßen zur argumentativen Rekonstruktion herangezogen werden. Für die Entwürfe und Fragmente zum Ersten und Zweiten Buch, die von Manfred Schröter als »Werkstattschutt« herausgegeben worden sind, sowie ausgesuchte Passagen der Spätphilosophie, gilt dasselbe. 37 Recht verstanden ist das Weltalterunternehmen gar nichts anderes als eine großangelegte ›Genealogie der Zeit‹. Wenn im Folgenden also von der ›Genealogie der Zeit‹ – in einfachen Anführungszeichen – die Rede ist, dann ist das genealogische Projekt im Ganzen gemeint, das gleichnamige Kapitel »Genealogie der Zeit« aus der Urfassung von 1811 erscheint hingegen in doppelten Anführungszeichen. Ein weiteres Problem, das sich aus textinterpretatorischer Sicht stellt, zugleich aber ins Zentrum der Zeitlehre Schellings hineinführt, ist die Darstellungsform des Textes. Die Weltalter vergegenwärtigen und inszenieren die Entstehung der Zeit in Form einer Erzählung, die bis in die Vorzeit, den Mythos, zurückreicht. Die Darstellungsform des Mythos hat in der Forschung nicht selten dazu geführt, dem Werk die philosophische Legitimation insgesamt abzusprechen. Und in der Tat: Nicht alle von Schelling veranschlagten Begriffe lassen sich in handfeste, kategoriale Unterscheidungen überführen. Ob es 36 37

Vgl. Lanfranconi 2002, 95. Schröter 1946, 186.

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Einleitung

sich aber deshalb schon um den »naive[n] Ausdruck unmittelbaren seelischen Empfindens« handeln muss, wie selbst Manfred Schröter urteilt, bleibt jedoch fraglich. 38 Wer sich auf die Weltalter einlässt, muss immer auch bereit sein, Übersetzungen zu wagen – in die eine oder andere Richtung –, Bezüge zur philosophischen Tradition herzustellen, ohne welche die Interpretation hinter der systematischen Stoßrichtung des Textes zurückbliebe. Wenig hilfreich erscheint es deshalb, angesichts der bildreichen Sprache Schellings sich reflexartig darauf zu berufen, es könne sich hierbei um nichts anderes als einen »Abfall von der Methodik einer der Rationalität verpflichteten Philosophie« handeln. 39 Wer in der mytho-poetischen Darstellungsweise der Weltalter-Fragmente einen argumentativen ›Abfall‹ erkennen möchte, verkennt, dass der Einsatz des Mythos bei Schelling in aufgeklärter Weise erfolgt. Das originäre Verdienst Schellings besteht darin, »den Schatten, der notwendig zum Licht der Erkenntnis gehört, philosophisch gegenwärtig zu halten«. 40 In diesem Sinne richtet sich die Art und Weise, wie Schelling ›mythologisiert‹, auch nicht gegen den λόγος, sondern gegen eine falsch verstandene Opposition von μῦθος und λόγος, christlichem Offenbarungsglauben und aufklärerischer Rationalität. 41 Beide – Mythos und Logos – gehören schon ihrer ursprünglichen Bedeutung nach zusammen: Beide bedeuten ›Wort‹ und beide sind Teil ein und derselben Sprache, ein und desselben sich in unterschiedlichen Gestalten formierenden Sprachgeistes. 42 Im Hinblick auf dieses dialektische Verhältnis von Mythos und Logos hebt gerade Peter Lothar Oesterreich die Durchdringung von Bildlichkeit und Begrifflichkeit in der Weltalterphilosophie für eine systematische Lektüre der Texte hervor: Der eigentümliche Sprachstil Schellings könne weder als Produkt »naiver Dichtung« noch als »hochreflektierte (post)moderne Kombination mythologi-

Schröter 1946, XVI. Jaeschke 1996, 215. Genausowenig scheint es aber auch angebracht, die bildhafte, von Mythologemen durchdrungene Sprache als Basis für eine Rekonstruktion zu nehmen. So spricht schon Wieland 1956, 23, von der »Unsitte«, Schellings mittlere und späten Schriften aus den Einflüssen Jakob Böhmes erklären zu wollen. Eine solche inhaltliche Annäherung habe eine »denkende Aneignung« der Problematik, die Schelling bis in seine späten Schriften hinein verhandle, für lange Zeit erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht. 40 Gerhardt 2006. 41 Vgl. dazu auch Matuschek 2013. 42 Philippson 1994, 47. 38 39

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Textgrundlage

scher, biblischer oder theosophischer Sprachformen« gelten. 43 Vielmehr bestehe die darstellungs- und erkenntnistheoretische Pointe der Weltalter darin, die kritische Selbstreflexion der Moderne in ihre äußerste Konsequenz zu treiben, die des Erinnerns ihrer eigenen Geschichtlichkeit als des »unaufhebbaren Grundes ihrer rein rationalen Existenz«. 44 Der eigentümliche Sprachstil Schellings entspringe keinem »unüberlegten oder irrationalen Romantizismus«, wie Schelling-Kritiker immer wieder behaupteten, sondern – im Gegenteil – vielmehr der »konsequenten Reflexion historischer Vernunft auf ihre ideale literarische Darstellungsform«. 45 Die Kritik an der mytho-poetischen Darstellungsweise fördert – gegen ihre eigene Intention – gerade dasjenige Motiv zu Tage, aus dem heraus Schelling sich für die Form einer Vergangenheitserzählung entscheidet. Im Gegensatz zu denjenigen Arbeiten, die gegen Schelling vorbringen, dieser lasse sich spätestens im Neuaufbruch der Freiheitsproblematik ab 1809 von seinen Gegnern auf ein Terrain locken, auf dem seine Vernunftphilosophie »manövrierunfähig« werde und nur noch durch die »geflügelten Rosse der Phantasie« fortbewegt werden könne, unternimmt die vorliegende Studie den Versuch, Schellings darstellungstheoretischen Ansatz in dem Maße sachlich begreifbar zu machen, wie sie auf die ursprüngliche Problemlage zurückfragt, aus der heraus sich der Weltalter-Mythos entwickelt, und versucht von dorther, sich Aufklärung über Reichweite und Grenze des Lösungsansatzes zu verschaffen. 46 »Jeder ernst zu nehmende Autor hat Anspruch darauf, daß sein Text zunächst einmal darauf befragt wird, was er mitteilen möchte, und wie er dies tut«, so hat es Wolfgang Wieland einmal in bester hermeneutischer Tradition formuliert. 47 Als Leitfaden für eine argumentative Rekonstruktion des Textes, die das Werk in seiner Darstellungsform ernst nimmt, könnte auch Walter Benjamins Bemerkung aus der Erkenntniskritischen Vorrede seines Trauerspielbuchs, es sei dem »philosophischen Schrifttum« zu eigen, »mit jeder Wendung von neuem vor der Frage der Darstellung zu stehen«. 48 Das hochgradig sensible und nicht zuletzt für den Gang der philosophischen Entwicklung Schellings viel43 44 45 46 47 48

Oesterreich 1997, 73. Oesterreich 1997, 176. Oesterreich 1997, 183. Jaeschke 1996, 215. Wieland 1975, 239. Benjamin 1928, 207.

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Einleitung

fach aufschlussreiche Verhältnis zwischen Erkenntnis- und Darstellungsform verpflichtet jedenfalls zu der von Thomas Buchheim geforderten »Aufbietung geradezu anatomischer Genauigkeit in der Lektüre«, um die Weltalter-Fragmente lesbar zu machen und problemorientiert befragen zu können. 49 Ein letzter Punkt, den es beim interpretatorischen Umgang mit den Weltaltern zu berücksichtigen gilt, betrifft seine Rezeptionsgeschichte. Wo immer das Werk nicht darstellungshalber schon das Etikett des Irrationalismus angeklebt bekommt, ist es mit anderen globalkategorialen Verschlagwortungen versehen und wird vorschnell zum ›Wendepunkt‹ der klassischen deutschen Philosophie erklärt. Großerzählungen wie ›Vollendung‹, ›Aufhebung‹ oder ›Destruktion‹ des klassisch idealistischen Denkens sind Schlagworte, die in diesem Zusammenhang fallen, vom erstaunlicherweise immer noch verbreiteten geschichtsphilosophischen Dreischritt ›FichteSchelling-Hegel‹ einmal abgesehen – Narrative, die heute nur noch begrenzt dazu beitragen können, die Aktualität Schellings und das Bedürfnis, das augenscheinlich nach ihm besteht, gerecht zu werden. Narrative dieser Größenordnung tragen von jeher die Tendenz in sich, die »Vielfalt gleichzeitiger, aufeinander reagierender und konkurrierender Entwürfe in der nachkantischen Philosophie« auszublenden und verstellen deshalb von vornherein die Möglichkeit einer konkreten Verortung Schellings, seiner Positionen und den Übergängen, die zwischen den verschiedenen Phasen seines philosophischen Denkens bestehen. 50 Und deshalb gilt für Schelling dasselbe, was Andreas Arndt einmal in Anbetracht der tiefsitzenden Vorurteile gegenüber der philosophischen Romantik formuliert hat, die in der Sache eben auch nur in der Vielzahl ihrer Erscheinungsformen, als ›Romantiken‹ – im Plural – zu verstehen ist: »Angemessener wäre vielmehr ein ›agonaler‹ Ansatz, der die Streitsache in den Mittelpunkt und die Vielstimmigkeit im Widerstreit über die Grundlegung einer PhilosoBuchheim 1992, 1. Dieses Anliegen ist innerhalb der Schelling-Forschung so neu nicht. So forderte schon Horst Fuhrmans im Vorwort seiner Edition der Grundlegung der positiven Philosophie, es sei mehr denn je an der Zeit, Schelling ›zu buchstabieren‹: »Es ist Zeit, Schelling zu buchstabieren, zurückzufinden zu jenem mühsamen und genauen Interpretieren des von ihm Gesagten, darin nicht einfach grosse Conceptionen – so bedeutsam sie sind und bisher Übersehenes erhellen können – zu versuchen, sondern offen zu sein für all das Tastende und Werdende, das Schellings Spätwerk eigen ist« (Fuhrmans 1972, 6). 50 Arndt 2015, 143. 49

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Textgrundlage

phie nach Kant zu Gehör bringt«. 51 Eben hierin – in der agonalen Erhellung – liegt die Chance für ein tieferes Verständnis seines Denkens: Schellings Philosophie mag nicht ›groß‹ in der systematischen Konsequenz ihrer einzelner Systemgestalten sein. ›Groß‹, das hatte schon Wolfgang Wieland betont, ist Schellings Philosophie im »Reichtum der Erfahrungen sowie in der Unermüdlichkeit und Offenheit des Fragens, durch das jede Antwort und jedes System immer schon überholt ist«. 52 Insofern gehört es zum methodischen Ansatz der vorliegenden Studie, dass sich noch aus den unvollendet gebliebenen und heute nur noch unvollständig erhaltenen Weltalter-Fragmenten originäre Einsichten in das Spannungsgefüge der nachkantischen Philosophie einerseits und dem Konflikt moderner Zeitkonzeptionen andererseits gewinnen lassen. Erst eine vorbehaltlos strenge Konzentration auf die philosophischen Problemgehalte eröffnet für den Interpreten der Weltalter die Möglichkeit, »ein Gelingen inmitten des Scheiterns« zu setzen, das »Gelungene gegen das Scheitern« zu rekonstruieren. 53

Arndt 2015, 144. Wieland 1956, 7. In ähnlicher Weise urteilt auch Weischedel 1969, 34, über Schellings Relevanz: Im Gegensatz zu Hegel, der eine früh gefundene Konzeption sein ganzes Leben durchhalte, werde für Schelling das Erreichte auf jeder Stufe immer wieder von neuem fragwürdig. So fragwürdig, dass er jedesmal am »Abgrund der Problematik« stehe: »Die Unvollendung erwächst ihm so aus der Tiefe des Fragens«. 53 Hutter 1996, 38. 51 52

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Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit. Kants transzendentale Zeitlehre

Es gibt eine für die transzendentale Ästhetik einschlägige Bestimmung dessen, was Zeit ist: Die Zeit, so heißt es bei Kant, sei »nichts anders, als die Form des innern Sinnes« (KrV, A 33/B 49). Die Zeit bestimme das Verhältnis der Vorstellung in unserem inneren Sinn, abseits dieser formalen Verhältnisbestimmung sei sie aber nichts. Sie ist weder etwas, »was für sich selbst bestünde«, noch etwas, das den Dingen als »objektive Bestimmung« anhängt, »mithin übrig bliebe, wenn man von allen subjektiven Bedingungen der Anschauung derselben abstrahiert« (KrV, A 32/B 49). Die Zeit sei für sich genommen nichts als die formale Bedingung des Nacheinanders der Vorstellung im inneren Sinn, der bloße Wechsel des Jetzt. So einschlägig diese Bestimmung der Zeit in kantischer Hinsicht auch sein mag, so fragwürdig bleibt sie am Ende. In dem Maße, wie die Zeit nämlich zu allererst »nichts anders« als die Form des inneren Sinns ist, steht zur Diskussion, ob sie damit auch schon die »wirkliche Form der innern Anschauung« (KrV, A 37/B 53) ist. Hat die Zeit als Form aller Gegenstände, die den Sinnen jemals gegeben werden können, überhaupt Realität angesichts der Möglichkeit empirischer Veränderung und Bewegung? Oder bleibt sie eine bloße Ermöglichungsbedingung von Erfahrung, eine bloße Form des Vorstellungswechsels, die noch nichts über die Form der Gegenstände dieser Erfahrung aussagt? Walter Mesch meldet hinsichtlich dieser und anderer Fragen berechtigte Zweifel an der Ergiebigkeit des kantischen Textes an. So erfahre man auch darüber nichts bei Kant, ob es im Nacheinander der Zeit ebenso ein Zugleich geben könne, ob das Nacheinander nur die Differenz von Früher und Später oder auch den Unterschied von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mit einschließe. Kurzum: »Wir erfahren nichts darüber, wie das Nacheinander der Zeit zu denken ist«. 1

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Mesch 2001, 181.

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Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit

Die folgenden Überlegungen nehmen einen auf den ersten Blick ungewöhnlichen Ausgang: Sie gehen von der Annahme aus, dass Kant die Frage nach der objektiven Gültigkeit der Zeit nicht in der transzendentalen Ästhetik beantwortet, sondern in der transzendentalen Logik. Erst die transzendentale Logik, genauer: die transzendentale Analytik, liefert mit der Lehre von der formalen Anschauung das entscheidende Theorem dafür, eine Sinnlichkeitslehre auf Grundlage der kritischen Philosophie zu entwickeln. Die vorliegende Studie folgt hierin der These Klaus Düsings, dass die verschiedenen Äußerungen Kants zur Zeit in der Critik der reinen Vernunft grundsätzlich kompatibel miteinander seien. In seinem mittlerweile klassischen Aufsatz »Objektive und subjektive Zeit« betont Düsing, dass Kants Theorie freilich nur ganz unvollständig in der transzendentalen Ästhetik enthalten sei und man andere, nicht weniger systematisch wichtige Stelle der anderen Teile zu prüfen habe, die man daraufhin auf einen einheitlichen Argumentationsgang befragen müsse; erst dieser führe die Theorie der Zeit aus, die Kant konzipiert habe. 2 Schon Martin Heidegger hatte in seiner wirkmächtigen Kant-Interpretation von 1929 einen Weg eingeschlagen, der diesem nicht unähnlich ist. Auch für Heidegger werden die Grundlagen der kantischen Zeitlehre nicht in der transzendentalen Ästhetik gelegt, sondern in der transzendentalen Logik: »So, wie die transzendentale Ästhetik am Anfang der Kritik der reinen Vernunft steht, ist sie im Grunde unverständlich. Sie hat nur vorbereitenden Charakter und kann eigentlich erst aus der Perspektive des transzendentalen Schematismus gelesen werden«. 3 Im Unterschied zu Heideggers Deutung geht die vorliegende Studie allerdings von der Vermutung aus, dass sich die transzendentale Ästhetik nicht erst auf der Folie des transzendentalen Schematismus’, sondern bereits von der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe aus einsehbar und begreifbar machen lässt. In jüngster Vergangenheit hat insbesondere Béatrice Longuenesse auf die Wichtigkeit der Unterscheidung zwischen Form der Anschauung und formaler Anschauung in § 26 für eine kritische Grundlegung der Zeit hingewiesen. 4 Auf ihre Interpretation wird dabei zurückzukommen sein. Vgl. Düsing 1980. Heidegger 1929, 140. 4 Vgl. Longuenesse 2000. Für eine erste einleitende Übersicht vgl. auch das Kapitel »Synthesis and Giveness« in: Longuenesse 2005. 2 3

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Kants kritische Grundlegung der Zeit

Für diese auf den ersten Blick in der Tat ungewöhnliche Herangehensweise spricht umso mehr, dass Friedrich Heinrich Jacobi, auf dessen Vernunft- und ›Zeit‹-Kritik im Anschluss an die Ausführung zu Kant ebenfalls einzugehen sein wird, in seiner Schrift Ueber das Unternehmen des Kriticismus, die Vernunft zu Verstande zu bringen von 1802 ausgerechnet auf die Lehre von der formalen Anschauung zu sprechen kommt. Für Jacobi drückt sich gerade hier, in der Intellektualisierung der Anschauungsformen, das »Grundgebrechen« der Vernunftkritik Kants aus, »den Idealismus durch Empirismus, den Empirismus durch Idealismus wieder gut zu machen« (JW 2,1, 269). Gelingt es gleichsam durch Jacobis Kritik hindurch auf das zugrundeliegende Problem zu stoßen, besteht auch die begründete Hoffnung, von hier aus zu zeigen, dass noch Schellings Invektive gegen den »Kantianismus« in den Weltaltern im Grunde eine versteckte Auseinandersetzung mit der Lehre von der formalen Anschauung Kants darstellt.

1. Kants kritische Grundlegung der Zeit 1.1. Form der Anschauung und formale Anschauung Es gehört zu stilistischen Eigenheiten Kants, dass er gerade dort explizit wird, wo man im Grunde nur Raum für Anmerkungen vermutet: in den Fußnoten. Eine dieser berühmt-berüchtigten Fußnoten befindet sich in § 26 der Critik der reinen Vernunft. Was Kant dort in Bezug auf die Anschauungsformen von Raum und Zeit ausführt, überrascht nicht nur, es kehrt die Blickrichtung gleichsam um. Waren Raum und Zeit in der transzendentalen Ästhetik von Kant als diejenigen reinen Formen eingeführt worden, die unseren äußeren und inneren Anschauungen a priori zugrunde liegen, sollen sie nun selbst Anschauungen sein: Raum und Zeit, so heißt es, seien nicht nur Formen der Anschauung, sondern auch formale Anschauungen. Als Formen der Anschauung seien sie uns zwar einerseits a priori gegeben, als formale Anschauungen müssten sie andererseits aber auch a priori vorgestellt werden können. Können die Anschauungsformen von Raum und Zeit gemäß den Richtlinien der Vernunftkritik aber überhaupt zum Gegenstand einer Vorstellung gemacht werden? Oder hieße das vielmehr nicht, Raum und Zeit als Anschauungsformen zu vergegenständlichen? So oder so: Die Unterscheidung zwischen Form 25 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit

der Anschauung und formaler Anschauung hat es offenbar in sich. Dass es intrikat zu werden verspricht, darauf lässt sich bereits insofern schließen, als Raum und Zeit überhaupt in der transzendentalen Logik, genauer: in der transzendentalen Deduktion, verhandelt werden. Was, so ließe sich fragen, haben die reinen Formen der sinnlichen Anschauung überhaupt im Bereich der transzendentalen Logik verloren, die sich doch bekanntermaßen als eine Analytik der Begriffe und Grundsätze versteht und nicht als eine Erörterung über die Anschauungsformen von Raum und Zeit? Und wie so oft, wenn es in der Critik der reinen Vernunft problematisch zu werden verspricht, greift Kant zur Erläuterung auf die Form der Anmerkung zurück. In der Fußnote § 26 heißt es: Der Raum, als Gegenstand vorgestellt, (wie man es wirklich in der Geometrie bedarf,) enthält mehr, als bloße Form der Anschauung, nämlich Zusammenfassung des Mannigfaltigen, nach der Form der Sinnlichkeit gegebenen, in eine anschauliche Vorstellung, so daß die Form der Anschauung bloß Mannigfaltiges, die formale Anschauung aber Einheit der Vorstellung gibt. (KrV, B 160)

Diese Passage darf verblüffen. Waren Raum und Zeit in der transzendentalen Ästhetik als diejenigen Vorstellungen eingeführt worden, die unseren äußeren wie inneren Anschauungen zugrundeliegen, so erwägt Kant in der transzendentalen Logik den Raum (und die Zeit) selbst zum Gegenstand einer Vorstellung zu machen, die er als »formale Anschauung« bezeichnet. Die »formale Anschauung« unterscheidet sich von der aus der transzendentalen Ästhetik bereits bekannten und in deren Erörterungen verankerten »Form der Anschauung« darin, dass, wo jene »bloß Mannigfaltiges«, diese die »Einheit der Vorstellung« selbst gibt. Eine »Einheit«, die, wie es an dieser Stelle in der Fußnote ausdrücklich heißt, auf einer »Zusammenfassung« beruht, einer »Zusammenfassung des Mannigfaltigen […] in eine anschauliche Vorstellung«. Raum und Zeit, so lässt sich als ein erstes Unterscheidungsmoment festhalten, werden von Kant paradoxerweise genau in dem Maße zum Gegenstand einer Vorstellung gemacht, wie es sich dabei überhaupt um Formen der Sinnlichkeit und nicht etwa um Formen des Verstandes handelt. Dies wirft die Frage auf, was Kant zufolge überhaupt eine anschauliche von einer begrifflichen Vorstellung unterscheidet. Und in Anbetracht der Fußnote ist einmal mehr zu notieren, dass sich die Blickrichtung im Vergleich zur transzendentalen Ästhetik umkehrt. 26 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Kants kritische Grundlegung der Zeit

Die Anschauung wird von Kant in der transzendentalen Ästhetik als diejenige Vorstellungsart eingeführt, die eine unendliche Menge von Vorstellung in sich enthält. Anschauungen sind unendlich gegebene Größen (quantum infinitum), deren Besonderheit darin besteht, zwar in Teile zerlegbar zu sein, aber selbst nicht aus diesen Teilen wieder zusammengesetzt werden zu können. Anschauungen bilden ein einheitliches Ganzes. Sie sind unendliche, kontinuierliche, homogene Größen. Im Gegensatz dazu wird der Begriff in der transzendentalen Ästhetik als diejenige Vorstellungsart eingeführt, die eine unendliche Menge von verschiedenen möglichen Vorstellungen unter sich enthält. Der Begriff bildet gewissermaßen das Merkmal, das allen unter ihn zu subsumierenden Vorstellungen gemeinsam ist. Begriffe sind Regeln der Zusammenfassung, und als solche sind sie denjenigen Vorstellungen, die von sich aus schon Einheit sind, entgegenzusetzen. Nichts verbindet Anschauung und Begriff folglich miteinander. Anschauung und Begriff sind zwei kategorial streng voneinander zu unterscheidende Vorstellungsarten. So viel jedenfalls zu der Variante, die Kant in der transzendentalen Ästhetik präsentiert. Aus Sicht der transzendentalen Logik stellt sich nun allerdings heraus, dass die ›unendlich gegebene Größe‹ als hervorgehobene Eigenschaft der anschaulichen Vorstellungsart selbst auf einer Art vorbegrifflichen Vorstellung beruhen muss, nämlich auf der »Zusammenfassung des Mannigfaltigen, nach der Form der Sinnlichkeit gegebenen«. Erst durch sie, so lässt sich die transzendentale Ästhetik vor dem Hintergrund der transzendentalen Logik lesen und verstehen, können Raum und Zeit so gedacht werden, dass jeder bestimmte Raum und jede bestimmte Zeit nur durch die Einschränkungen eines einigen, zugrundeliegenden Raumes und einer einigen, zugrundeliegenden Zeit, sprich: des einen Raumes und der einen Zeit, möglich ist. Das Mannigfaltige des durch die Anschauung sinnlich Gegebenen muss in toto durchlaufen werden, weil es nur so als ein Gleichartiges zusammengefasst werden kann und im selben Zug als Mannigfaltiges für uns unterscheidbar wird. Angezeigt ist damit in mereologischer Hinsicht ein Verhältnis von Teil und Ganzem, bei dem das Ganze seinen Teilen in konstitutiver Weise vorausgehen muss. Mit anderen Worten: Wenn etwas sinnlich gegeben ist, dann muss es qua seines Anschauungscharakters immer schon Teil einer formalen Anschauungstotalität sein. Verschiedene Zeiten können immer nur Teilzeiten ein und desselben Zeitganzen sein, genauso wie verschiedene Räume 27 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit

immer nur Teilräume ein und desselben Raumganzen sein können. Genau aus diesem Grund heißt es schon in der transzendentalen Ästhetik, dass die Anschauung diejenige Vorstellung sei, »die nur durch einen einzigen Gegenstand gegeben werden kann« (KrV, A 32/B 47). Die Anschauung ist im Unterschied zum Begriff, wie Kant an anderer Stelle ausführt, kein Totum, »dessen Zusammensetzung sich der möglichkeit nach auf die Theile gründet«, sondern ein Ganzes, »dessen Theile ihrer Möglichkeit nach schon die Zusammensetzung im ganzen voraussetzen« (AA 17, 293). Erst durch »Zusammensetzung« beziehungsweise, wie es in der Fußnote heißt, durch »Zusammenfassung«, so lässt sich nun also als ein zweites Unterscheidungskriterium festhalten, erhalten die Anschauungsformen von Raum und Zeit diejenige formale Einheit, die ihnen von der transzendentalen Ästhetik bereits zugesprochen wurde. 5 Raum und Zeit mögen unendliche, homogene, kontinuierlich gegebene Größen sein, aber sie sind dies nur in Bezug auf die Funktion einer vorbegrifflichen Synthesis, die ihnen als totalitätsstiftender Akt immer schon vorausgegangen ist. Verfolgt man die eigentümliche Verschränkung von transzendentaler Logik und transzendentaler Ästhetik weiter, sieht man sich unversehens vor einen fundamentalen Problemzusammenhang gestellt. Wenn die Form der Anschauung Kant zufolge auf einer »Zusammenfassung des Mannigfaltigen« beruht, »Zusammenfassung« im Rahmen der Vernunftkritik aber nur als eine Art der »Verbindung« (KrV, A 162/B 201) gedacht werden kann, die ihrerseits auf einem Akt der Selbsttätigkeit des Subjektes beruht, wie können die Anschauungsformen von Raum und Zeit dann überhaupt noch a priori gegeben sein? Mit anderen Worten: Können Raum und Zeit überhaupt noch uneingeschränkt dem Vermögen der Sinnlichkeit zugeschrieben werden, die doch bekanntermaßen das Vermögen der Rezeptivität ist, wenn es eines Aktes der Spontaneität des Subjektes bedarf, um ihre formalen Eigenschaft als Anschauungstotalität transzendental zu begründen? Geht man von der grundsätzlichen Kompatibilität der verschiedenen Äußerungen zur Zeit in der Critik der reinen Vernunft Vgl. dazu die Stelle, auf die sich Fußnote § 26 im Text bezieht: »Aber Raum und Zeit sind nicht bloß Formen der sinnlichen Anschauung, sondern als Anschauungen selbst (die ein Mannigfaltiges in sich enthalten) also mit der Bestimmung der Einheit dieses Mannigfaltigen in ihnen a priori vorgestellt (siehe transz. Ästhet.)« (KrV, B 160). Es ist bemerkenswert, mit welcher Selbstverständlichkeit Kant hier auf die transzendentale Ästhetik verweist, ohne dabei näher auf den systematischen Zusammenhang mit ihr einzugehen.

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Kants kritische Grundlegung der Zeit

aus, dann sollte spätestens an dieser Stelle deutlich geworden sein, dass Kant anscheinend über die transzendentale Logik zu begründen versucht, was Raum und Zeit der transzendentalen Ästhetik nach von jeher schon sind: Formen, in denen das Mannigfaltige der sinnlichen Anschauung für uns gegeben ist. Die Fußnote § 26 macht, anders gesagt, nur konzeptionell deutlich, was konzeptuell qua Anschauungsbegriff in der transzendentalen Ästhetik angelegt ist. 6 Die Unterscheidung zwischen Form der Anschauung und formaler Anschauung kann demzufolge nicht auf eine formale Zweiteilung der kantischen Sinnlichkeitslehre hinauslaufen, auch wenn dies zunächst einmal nahe zu liegen scheint. Auszugehen ist vielmehr von einer Ex-post-Begründung in dem Maße, wie diejenige Vorstellung, die in der transzendentalen Ästhetik als die unseren äußeren und inneren Anschauungen notwendig zugrundeliegende Vorstellung von Raum und Zeit erörtert wird, selbst schon der Einsicht in deren synthetischen Charakter bedarf. Eine Einsicht, die dann erst in der Grund zur Korrektur an der transzendentalen Ästhetik erkennt hingegen Dörflinger 2010. Dörflinger spricht in Bezug auf § 26 von einer »zweiten Zentralstelle« der Raum- und Zeitlehre. Es sei der Punkt, an dem die »zunächst getroffene eindeutige Zuordnung der Raumvorstellung im Ganzen zur Rezeptivität der Sinnlichkeit aufgegeben wird und mindestens wichtige Aspekte dieser Vorstellung nun der anderen, der spontanen Erkenntnisquelle zugeschlagen werden« (Dörflinger 2010, 65). In genau diesem Sinne meint Dörflinger auch einen verborgenen Widerstreit zwischen transzendentaler Logik und transzendentaler Ästhetik bei Kant ausmachen zu können, den er operational dadurch zu fassen versucht, indem er das Verhältnis von diskreter Zeitanschauung und kontinuierlicher Zeiterstreckung in der Vernunftkritik problematisiert. Die Frage, die ihn hierbei leitet, ist, wie sich die Vorstellung zeitlicher Erstreckung mit der Unmittelbarkeit der Vorstellungsart ›Anschauung‹ vertragen mag, wie also die diskrete Zeit der anschaulichen Vorstellung mit der kontinuierlichen Zeit als Abfolge verschiedener Vorstellungsinhalte im inneren Sinn überhaupt übereinkommen können soll. Ob es sich hierbei jedoch tatsächlich um einen handfesten Widerstreit oder nicht vielmehr um eine Perspektivenverschiebung handelt, wird im weiteren Verlauf der vorliegenden Studie zu prüfen sein. Die Korrekturthese, die Dörflinger vertritt, ist indes so neu nicht. Schon Paul Natorp erkannte in der transzendentalen Logik eine ›Berichtigung der Aufstellung der transzendentalen Ästhetik‹, die er von Kant darin verwirklicht sieht, dass nun auch das Mannigfaltige der Anschauung nicht im Voraus, sondern erst durch die Synthesis ›gegeben‹ werde. Bei Natorp 1910, 276, heißt es: »So begreift es sich, daß Zeit und Raum, so sehr immer auf die Existenz bezogen, dennoch nichts enthalten als reine Relationen ohne voraus gegebene Relata; die Relata werden erst gesetzt durch die Relation und fallen daher weg, sobald die Relation wegfällt. Eben damit beweist sich die Setzung dieser Relationen als schlechthin ursprünglich, primitiv, wie es in den bekannten Argumenten Kant vom Raume und der Zeit ausgeführt wird. Als ursprünglich aber können sie ihren Ursprung nur im Denken suchen; es gibt keinen anderen«.

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Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit

transzendentalen Logik – retrospektiv – von Kant eingeholt werden kann. Zwar ist es richtig zu sagen, Raum und Zeit seien uns a priori gegeben. Das Gegebensein des Mannigfaltigen der sinnlichen Anschauung ist aber seinerseits an die Bedingung geknüpft, dass die anschaulichen Vorstellungseinheiten von Raum und Zeit als Produkte einer Tätigkeit aufzufassen sind, die nur von spontaner Subjektivität selbst verrichtet werden kann. Kant drückt sich diessbezüglich in der A-Auflage der Critik der reinen Vernunft einmal erfreulich eindeutig aus: »Wenn ich also dem Sinne deswegen, weil er in seiner Anschauung Mannigfaltigkeit enthält, eine Synopsis beilege, so korrespondiert dieser jederzeit eine Synthesis und die Rezeptivität kann nur mit Spontaneität verbunden Erkenntnis möglich machen« (KrV, A 97). Die Betonung liegt in dieser Passage wohlgemerkt auf dem Partikel »jederzeit«: Jederzeit korrespondiert der Anschauung eines Mannigfaltigen eine Synthesis als der »Synopsis« des durch die Sinnlichkeit Gegebenen. Das Subjekt als Vorstellungskraft ist es, das die Einheiten von Raum und Zeit auf der Basis des Mannigfaltigen der Sinnlichkeit erzeugt und somit für uns bestimmbar sein lässt. Nur auf diese Weise, so lässt sich endlich als drittes Unterscheidungsmoment festhalten, kann das nach der Form der Sinnlichkeit gegebene Mannigfaltige auch für uns gegeben sein. 7 Insofern unterschreitet die Diskussion, ob man es bei der Anschauung mit einer konzeptuellen oder nicht-konzeptuellen Vorstellungsart zu tun habe, von jeher das Reflexionsniveau der kritischen Philosophie. Kants Überlegungen zielen auf die Struktur eines Sowohl-Als-Auch statt eines Entweder-Oder. Das heißt: Kant ist paradoxerweise in dem Maße Konzeptualist, wie es ihm erlaubt, Non-Konzeptualist zu bleiben et vice versa. Die Konzeptualismus-Nonkonzeptualismus-Debatte führt notwendig in ein Dilemma, aus dem sie sich nicht zu befreien weiß, weil sie immer nur wieder den Blick auf die kantische Lösung verstellen kann, die im Text angelegt ist. Dennis Schulting hat jüngst auf dieses interpretative, ganz und gar unfruchtbare Dilemma hingewiesen, indem er die beiden Lesarten mit dem eigentlichen Anliegen der Vernunftkritik konfrontiert hat, eine Passage, die hier ausführlich zitiert werden soll, weil sie die Ziellosigkeit der Debatte, die um Kants angeblichen Non-/Konzeptualismus kreist, auf den Punkt bringt: »[E]ntweder (a) der ›kantianische‹ Nonkonzeptualismus ist wahr, und es gibt unabhängig vom Verstand objektiv gültige Anschauungen, was dann aber im Widerstreit mit Kants Hauptanliegen stünde, nämlich zu beweisen, dass alle objektiv gültigen Anschauungen dem Verstandesvermögen unterliegen; […] oder aber (b) der ›kantianische‹ Konzeptualismus hat Recht, weil sich die Bereiche der Sinnlichkeit bzw. des Verstandes genau überschneiden und es daher keine Kluft […] gibt, was aber Kants Zugeständnis widerspricht, wonach es Anschauungen ohne die Funktionen des Verstandes oder Kategorien geben kann. Dieses Dilemma rührt meines Erachtens aber nicht von einem inhärenten, tiefen Konflikt in

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Kants kritische Grundlegung der Zeit

Die Formen der Sinnlichkeit sind Vorstellungseinheiten, die nicht schon von sich aus das Mannigfaltige enthalten. Denn dass uns jemals bloß Mannigfaltiges gegeben sein könnte, soll durch die Lehre von der formalen Anschauung, durch die Vernunftkritik selbst, ja gerade ausgeschlossen werden. Einen echten Widerstreit scheint es aus der Sicht Kants hier aber gar nicht zu geben: Die Rezeptivität verweist von jeher auf eine sie formierende Spontaneität. In diesem Sinne könnte man die formale Anschauung – metaphorisch zugespitzt – als einen »Schatten der Verstandestätigkeit« bezeichnen, der in seiner Unkörperlichkeit auf dem Feld der Vernunftkritik anzeigt, dass die Formen der Sinnlichkeit als problematische Einheiten zu behandeln sind. 8 Sie bringen nicht schon von sich aus die Qualität einer synoptischen Einheit mit, sondern werden erst durch die Selbsttätigkeit des Subjekts zu eben diesen gemacht. 9 Und wen mag es im vorliegenden Fall wundern, dass gerade der frühe Schelling auf diese Spontaneität zu sprechen kommt. Im Vorwort zur 1795 erschienenen Ichschrift sagt Schelling, dass die kantischen Deduktionen »es auf den ersten Anblik verrathen, daß sie höhere Principien voraussezen«: »So nennt Kant als die einzig möglichen Formen sinnlicher Anschauung Raum und Zeit, ohne sie nach irgend einem Princip […] erschöpft zu haben« (AA I,2, 72). Und man ahnt, dass mit dem hier angesprochenen »Princip« der Zusammenfassungsakt der formalen Anschauung gemeint ist, sodass auch bei Kant letztlich diejenigen höheren Formen in den Blick kommen, die Schelling so vehement einfordert. Raum und Zeit, so Schelling, könnten »unmöglich vor aller Synthesis vorder ›Transzendentalen Deduktion‹ her, sondern ist die unmittelbare Folge eines von außen herangetragenen, wesentlich kantfremden konzeptuellen Schemas, das von vornherein quer zu Kants Anliegen steht« (Schulting 2015, 579 f.). 8 Luckner 1994, 68. 9 Dies scheint auch die Position von Longuenesse zu sein, die dafür argumentiert, dass Kant die Synthesis der Vorstellungseinheiten von Raum und Zeit in der transzendentalen Ästhetik weder thematisieren konnte noch darlegen brauchte: »In the Transcendental Aesthetic, Kant could not mention the ›affection by the understanding‹, nor did he need to mention it. […] Kant did not need to mention it because what is important in the Aesthetic is to show that space and time are originally intuitions (›singular and immediate representations‹) and not concepts (›universal and reflected representations‹), that they are sensible (a form or mode of ordering according to which we receive ›inner’ and ›outer‹ impressions) and not intellectual (a function by which we produce concepts)« (Longuenesse 2005, 66 f.). Anstatt wie Dörflinger von ›Korrekturen‹ zu sprechen, plädiert Longuenesse daher auch für den Begriff des ›rereading‹ bzw. den einer ›added explanation‹.

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Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit

hergehen, und also keine höhere Form der Synthesis voraussezen« (AA I,2, 72). Die Kritik von Seiten Schellings wirft aber einmal mehr die Frage auf, was bei Kant nun eigentlich unter der »Zusammenfassung des Mannigfaltigen, nach der Form der Sinnlichkeit gegebenen« zu versteht ist; hier bedarf es im Folgenden weiterer konzeptioneller Erläuterung. Was Schelling angeht: Auch wenn Schelling das Problem einer höheren Form der Synthesis in der Ichschrift selber noch nicht in den Griff bekommt: Dass er dieses Problem bei Kant erkennt, kann bereits als erster Hinweis auf eine kontinuierliche, in den Weltaltern bloß unter gänzlich anderen Vorzeichen geführte Auseinandersetzung gelesen werden.

1.2. Die vorreflexive Verzeitlichung der Zeit Blickt man auf dem gegenwärtigen Stand der Rekonstruktion zurück auf die Ausgangsposition, so wird deutlich, dass sich die Blickrichtung einer kritischen Grundlegung der Zeit im Vergleich zur transzendentalen Ästhetik umgekehrt hat. Zwar spricht Kant in der transzendentalen Ästhetik von den a priori gegebenen Einheiten von Raum und Zeit, aber erst in der transzendentalen Logik versucht er, diesen Vorstellungseinheiten ein fundamentum in subjectum zu geben. Erst wenn Raum und Zeit zu vorbegrifflichen Vorstellungsinhalten werden können, so die spekulative Überlegung, wird das der Sinnlichkeit Gegebene in diejenige Einheit zusammengefasst, von der die transzendentale Ästhetik angibt, dass sie das Mannigfaltige vor und unabhängig von allen begrifflichen Vorstellungen in sich enthält. Dialektisch formuliert: Das Mannigfaltige der sinnlichen Anschauung kann uns überhaupt nur dann gegeben sein, wenn die Einheit der sinnlichen Anschauung gerade nicht »in der reinen Form der sinnlichen Anschauung zugleich mitenthalten« (KrV, B 129 f.) ist. Denn das hieße – umgekehrt – eine Bestimmung der Einheit anzunehmen, die vom Objekt ausgeht, was erst recht dem Grundgedanken der Vernunftkritik widerspräche. Die Einschränkbarkeit des einen Raumes und der einen Zeit setzt also schon voraus, dass die reinen Formen der sinnlichen Anschauung eine Zusammenfassung des Mannigfaltigen bilden. Denn ein Ganzes, das nicht auf diese Art als Ganzes synoptisch strukturiert wäre, könnte auch nicht in sich die je bestimmten Teile als Einschränkungen seiner unendlich gegebenen Größe enthalten. Folgerichtig heißt es auch im Verlauf der Fußnote § 26, und hier 32 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Kants kritische Grundlegung der Zeit

taucht das von Schelling markierte Problem einer höheren Form der Synthesis auf, dass die Einheit der Anschauung eine Synthesis voraussetzt, die nicht dem Vermögen der Sinnlichkeit, sondern dem des Verstandes angehört. Wie ist das nun aber zu verstehen, wenn die so synoptisierte Einheit nicht hinterrücks ihren Charakter als sinnliche Anschauung verlieren soll? Hebt das fundamentum in subjectum nicht die kategoriale Unterscheidung von Verstand und Sinnlichkeit in dem Maße auf, wie sie die Formen der Sinnlichkeit ›intellektualisiert‹? Kant scheint jedenfalls mit der kreuzweisen Verschränkung von transzendentaler Logik und transzendentaler Ästhetik kein Problem zu haben, wenn er in der Fußnote ausführt: Diese Einheit [die Einheit der Anschauung von Raum und Zeit, P. N.] hatte ich in der Ästhetik bloß zur Sinnlichkeit gezählt, um nur zu bemerken, daß sie vor allem Begriffe vorhergehe, ob sie zwar eine Synthesis, die nicht den Sinnen angehört, durch welche aber alle Begriffe von Raum und Zeit zuerst möglichen werden, voraussetzt. Denn da durch sie (indem der Verstand die Sinnlichkeit bestimmt) der Raum oder die Zeit als Anschauungen zuerst gegeben werden, so gehört die Einheit dieser Anschauung a priori zum Raume und der Zeit, und nicht zum Begriffe des Verstandes (§ 24). (KrV, B 160 f.)

Versucht man sich von der hier angesprochenen Synthesis einen Begriff zu machen, so kann es hilfreich sein, dem letzten Hinweis zu folgen, den Kant an dieser Stelle gibt. Denn mit dem Zusatz »(§ 24.)« verweist Kant auf einen Paragraphen der Critik der reinen Vernunft, der auf einen ganz analogen konzeptuellen Missstand reagiert. Gemeint ist das Kapitel über die transzendentale Einbildungskraft. Mit der transzendentalen Einbildungskraft, der »synthesis speciosa« (KrV, B 151), führt Kant in § 24 ein Vermögen ein, das Sinnlichkeit und Verstand gerade in dem Maße aufeinander beziehen soll, wie es – nach verschiedenen Einstellungen betrachtet – bald diesem, bald jenem Erkenntnisstamm zuzurechen ist. Im Vollzug der transzendentalen Einbildungskraft sollen sich Sinnlichkeit und Verstand als zwei Momente ein und derselben Tätigkeit herausstellen, die analytisch voneinander zu unterscheiden bleiben. Wie lässt sich aber Rolle und Funktion der transzendentalen Einbildungskraft auf der Folie der hier skizzierten Problemlage, der Frage nach den Einheiten von Raum und Zeit, argumentativ rekonstruieren, und wie lässt sich dadurch Aufschluss über den fraglichen Begriff der Synposis bei Kant gewinnen? Kant bestimmt die Einbildungskraft in der Critik der reinen Vernunft als das Vermögen, »einen Gegenstand auch ohne dessen Ge33 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit

genwart in der Anschauung vorzustellen« (KrV, B 151). Einbildungskraft ist so verstanden zunächst einmal ein in sich paradoxes Vermögen: Sie stellt einen Gegenstand anschaulich vor, ohne dass der so vorgestellte Gegenstand dabei irgendwie anschaubar, als Gegenstand der Erfahrung präsent sein müsste. Mit anderen Worten: Die Einbildungskraft ist das Vermögen, einen Gegenstand in der Anschauung hervorzubringen, ohne ihn wirklich hervorzubringen – und gerade darin, einen Gegenstand präsent und absent zugleich zu halten, unterscheidet sich auch die gegenstandshervorbringende Wirkung der Einbildungskraft von der gegenstandserzeugenden Kraft des göttlichen Verstandes. Während der göttliche Verstand durch seine Vorstellungen zugleich die Gegenstände dieser Vorstellungen hervorbringt, stellt die Einbildungskraft Gegenstände vor, ohne sie dadurch schon ›real‹ hervorzubringen. Für den göttlichen Verstand muss immer alles schon zugleich sein: auf einen Schlag; der Unterschied zwischen Möglichem und Wirklichem entsteht erst gar nicht. Für die Einbildungskraft gilt das nicht: Sie generiert und multipliziert im Gegensatz dazu permanent diesen Unterschied, indem die Gegenwart nicht darin aufgeht, was der Verstand als Idee anschaut. Bringt der göttliche Verstand die Gegenstände in der ungebrochenen, gegenwartslosen Einfachheit ideellen Anschauens hervor, kann die Einbildungskraft im Gegensatz dazu gerade als gegenwartsstiftendes Vermögen bezeichnet werden, und zwar in dem Maße, wie zeitliche Gegenwart überhaupt erst dort möglich zu werden beginnt, wo die Fähigkeit zur Abstraktion von der unmittelbaren Gegenwart der Anschauung gegeben ist, sei dieses Anschauen nun rein intellektueller oder rein sinnlicher Art. 10 Vgl. dazu auch Heidegger 1929, 169. Auch Heidegger interpretiert die Einbildungskraft als Vermögen der Zeiterzeugung: »Das reine Einbilden aber, das reines heißt, weil es sich sein Gebilde von sich aus bildet, muß als in sich zeitbezogenes gerade die Zeit allererst bilden. […] Die Zeit als reine Anschauung ist in einem das bildende Anschauen eines Angeschauten. Dies erst gibt den vollen Begriff der Zeit«. Heidegger geht allerdings zu weit, wenn er daraufhin die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft mit der synthetischen Einheit der Apperzeption schlechthin in Eins setzt, obwohl Kant in der Critik der reinen Vernunft bloß davon spricht, dass erstere letzterer gemäß sein müsse, worauf zurückzukommen sein wird: »Die Zeit und das ›ich denke‹ stehen sich nicht mehr unvereinbar gegenüber, sind dasselbe. Kant hat durch den Radikalismus, mit dem er bei seiner Grundlegung der Metaphysik zum erstenmal sowohl die Zeit je für sich als auch das ›ich denke‹ je für sich transzendental auslegte, beide in ihre ursprüngliche Selbigkeit zusammengebracht – ohne diese freilich als solche selbst ausdrücklich zu sehen« (185).

10

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Kants kritische Grundlegung der Zeit

In systematischer Hinsicht lässt sich daraus ersehen, dass es für den mit Einbildungskraft begabten endlichen Verstand eine verzeitlichte Gegenwart geben muss. Die verzeitlichte Gegenwart unterscheidet sich von der unmittelbaren, ewigen Gegenwart des göttlichen Verstandes darin, dass in ihr die modale Unterscheidung zwischen dem, was bloß möglich, und dem, was tatsächlich wirklich ist, selber möglich erscheint. Verzeitlichte Gegenwart ist, mit anderen Worten, an die Form der Möglichkeit überhaupt gebunden, das heißt: an die Form der sinnlichen Anschauung, die sich, wie Kant auch in der Critik der Urteilskraft bekräftigt, von der Form der intellektuellen Anschauung in dem Maße unterscheidet, wie sie uns etwas gibt, »ohne es dadurch doch als Gegenstand erkennen zu lassen« (KU, B 340). Und es ist, wie Kant an dieser Stelle hinzufügt, »dem menschlichen Verstand unumgänglich notwendig, Möglichkeit und Wirklichkeit der Dinge zu unterscheiden« (KU, B 340), weil in der ungebrochenen, gegenwartslosen Einfachheit der intellektuellen Anschauung nicht nur die verzeitlichte Gegenwart der sinnlichen Anschauung aufgehoben wäre, sondern auch die Form des Denkens jeden Bezug zu Gegenständen außerhalb von sich verlieren würde: »Begriffe (die bloß auf die Möglichkeit eines Gegenstandes gehen) und sinnliche Anschauungen (welche uns etwas geben, ohne es dadurch doch als Gegenstand erkennen zu lassen) würden beide wegfallen« (KU, B 340). 11 Aus diesem Verhältnis von göttlichem Verstand und endlichem Verstand lässt sich unschwer erkennen, dass die Möglichkeit von Erfahrung überhaupt in fundamentaler Weise von der Verzeitlichungsleistung der Einbildungskraft abhängig ist. Nicht von ungefährt rückt denn auch gerade das Theoriestück der Einbildungskraft von Fichte über Schelling bis Hegel ins Zentrum des nachkantischen Denkens. 12 Schelling etwa vergleicht den ersten Akt unseres Selbstbewusstseins treffenderweise mit einer Art von ›Erwachen‹ aus dem »Zustand des Todes«: »[W]ir erwachen aus der intellektuellen Anschauung wie aus dem Zustand des Todes« (AA I,3, 94), heißt es in den Philosophischen Briefen über Dogmatismus und Kriticismus. Einschlägig ist auch eine Stelle aus den Ideen zu einer Philosophie der Natur, nach welcher der »erste Philosoph« derjenige gewesen sein muss, der »zuerst fand, daß er sich selbst von äußern Dingen, daß er somit seine Vorstellungen 11 12

Vgl. dazu Neumann 2016. Vgl. dazu Loock 2007.

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Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit

von den Gegenständen, und umgekehrt, diese von jenen unterscheiden konnte« (AA I,5, 72). Die Metaphorik des Todes respektive des Anfangs besagt in diesem Zusammenhang nichts anderes, als dass bei einer Tätigkeit, die sich in sich selbst zurückzöge, vergleichbar einer rein intellektuellen Anschauung des göttlichen Verstandes, begriffliche und anschauliche Vorstellungen zusammenfallen würden. Fasst man die Einbildungskraft hingegen mit Kant als eine Tätigkeit auf, die nicht bei sich bleibt, sondern aus sich herausgeht, der ›Selbstverlorenheit‹ beziehungsweise – mit Schelling zu sprechen – dem ›Tod‹ der intellektuellen Anschauung in dem Maße entgeht, wie sie ein Objekt in der Anschauung vorstellt, ohne sich dadurch schon selbst in diesem Objekt zu verlieren, so hat man es in der Tat mit einem Differenz erzeugenden, Zeit und zeitliche Gegenwart generierenden Vermögen zu tun. Einbildungskraft, so gilt es festzuhalten, ist das Vermögen der vorreflexiven Verzeitlichung. Sie kopuliert das Außerzeitliche mit dem Zeitlichen. 13 Ja, sie ist überhaupt, wie Schelling später im System des transscendentalen Idealismus festhält, das Vermögen, »wodurch wir fähig sind, auch das Widersprechende zu denken, und zusammenzufassen« (AA I,9,1 326 f.), den Widerspruch zwischen Außerzeitlichen und Zeitlichem im Begriff der uns erscheinenden Welt zusammenzufassen, Verstand und Sinnlichkeit in Beziehung zu setzen. Jenseits der temporalen Differenz von Vorstellung und Vorgestelltem, wäre bloß »deskriptive Leere« zu finden. 14 Hat sich die Einbildungskraft als dasjenige Vermögen erwiesen, vermittels dessen der endliche Verstand überhaupt die Möglichkeit der Dinge von ihrer Wirklichkeit unterscheiden und sich so verstanden auf eine zeitliche Gegenwart überhaupt beziehen kann, muss sie mutatis mutandis auch dasjenige Vermögen sein, vermittels dessen sich für den endlichen, menschlichen Verstand überhaupt die Möglichkeit bietet, sich durch Begriffe auf ein anschaulich Gegebenes zu beziehen. Nichts anderes heißt nun aber, von der Einbildungskraft als von einem transzendentalen Vermögen zu sprechen. Ihre transzendentale Funktion besteht mit anderen Worten darin, dass, was immer uns durch die Anschauung gegeben sein mag, bloß sensible, nicht aber intelligible Gegenstände sind. Aus diesem Grund versteht Kant die transzendentale Einbildungskraft auch als das Vermögen, »die Sinnlichkeit a priori zu bestimmen« (KrV, B 152), wobei dasjenige, 13 14

Vgl. Frank 1990, 21. Stolzenberg 2003, 97 f.

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was sie bestimmt, nicht die Gegenstände selbst sind, sondern die Formen, unter denen sie uns erscheinen. An diesem Punkt der argumentativen Rekonstruktion ergibt sich der entscheidende Einsatzpunkt für das eingangs gestellte Problem, wie die Formen der Anschauung eine Synthesis voraussetzen können, die nicht dem Vermögen der Sinnlichkeit, sondern dem des Verstandes angehört, ohne der so erzeugten Einheit hinterrücks ihren Charakter als Form der sinnlichen Anschauung zu nehmen. Versteht man unter jener Synopsis die Synthesis der transzendentalen Einbildungskraft, nämlich als Vermögen, »die Sinnlichkeit a priori zu bestimmen«, dann gehört die ausgeübte Synthesis selbst zwar dem Begriffsvermögen des Verstandes an, aber dasjenige, was da bestimmt wurde, die Form der Anschauung, zählt zum Vermögen der Sinnlichkeit. Dies bedeutet, dass das anschaulich Gegebene von der transzendentalen Einbildungskraft dergestalt zusammengefasst wird, dass es uns als Mannigfaltiges in den bestimmten Formen von Raum und Zeit gegeben ist. So gesehen mögen die Begriffe von Raum und Zeit durch jene »Zusammenfassung des Mannigfaltigen« zwar »zuerst möglich« werden. Sie werden aber nicht etwa als Begriffe »möglich«, sondern in Übereinstimmung mit den Statuten der transzendentalen Ästhetik als Anschauungen »zuerst gegeben« (KrV, B 160). Um den fraglichen apriorischen Gegebenheitscharakter der Anschauung von Raum und Zeit zu bewahren, bedarf es in konzeptioneller Hinsicht einer besonderen Form der Synthesis, und zwar einer solchen, die, wenn sie auch nicht den Sinnen angehört, von Seiten der so synthetisierten Einheit sinnlich bleibt. Die formale Anschauung muss mit anderen Worten nicht allein die Zusammenfassung des Mannigfaltigen als zusammenfassende Tätigkeit, sondern auch die Einheit der Anschauung als gegebenes Produkt sein: zusammenfassende Tätigkeit, insofern es um die Subjektivität der Formen der Anschauung, das Für-uns, gegebenes Produkt, insofern es um das Gegebensein des Mannigfaltigen der Anschaung überhaupt, das Außer-uns, geht. In diesem letzteren Sinne urteilt auch Longuenesse, dass die Anschauungsformen von Raum und Zeit in dem Maße sinnlich bleiben, »in which things are given to us, and not intellectual, the manner in which we think things«. 15 Longuenesse 2000, 216. Um sich gegen den Vorwurf einer Intellektualisierung der Formen der Sinnlichkeit im Gefolge von Kant zu verteidigen, betont Longuenesse an anderer Stelle noch einmal explizit, dass das der Sinnlichkeit Gegebene zwar durch die

15

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Ein entscheidender Einwand könnte an dieser Stelle lauten, dass durch die transzendentale Bestimmung der Sinnlichkeit die kategoriale Unterscheidung von Verstand und Sinnlichkeit nichtsdestoweniger eine Aufhebung erfährt. Auch wenn die Formen der Anschauung dem Vermögen der Sinnlichkeit zuzurechnen bleiben, so erhalten sie ihren spezifischen Formcharakter doch nur durch die Einwirkung des Verstandes. Gegen diesen Einwand ist anzuführen, dass der kategoriale Unterschied von Verstand und Sinnlichkeit durch die transzendentale Bestimmung der Einbildungskraft nicht aufgehoben, sondern – ganz im Gegenteil – überhaupt erst begründet wird. Denn dass die Einbildungskraft die Sinnlichkeit der Form nach bestimmt und den Anschauungsformen von Raum und Zeit eine Gestalt gibt, kann natürlich nicht bedeuten, dass dadurch das Vermögen der Sinnlichkeit selbst hervorgebracht würde. Der Verstand erzeugt hier in keiner Weise den Inhalt, er stellt nur den Zusammenhang innerhalb des Mannigfaltigen der Anschauung her. Der Inhalt bleibt dem Verstand und seinen Leistungen gegenüber »kontingent«. 16 Die aktive Form der Einbildungskraft bestimmt die passive Form der Sinnlichkeit dazu, das sein zu können, was sie aus metaphysischer Perspektive von jeher schon ist, die Fähigkeit des Subjekts, »von Gegenständen affiziert zu werden« (KrV, A 26/B 42). Longuenesse spricht in diesem Zusammenhang von der Form der Sinnlichkeit als einer »merely potential form«, die »only be means of the figurative synthesis« aktualisiert werde. 17 Gerold Prauss, auf dessen Analysen zurückzukommen Spontaneität ›geformt‹ würde, aber nicht als solches ›erzeugt‹: »In my account, it then appears that space and time, as described in the Transcendental Aesthetic, certainly belong to sensibily, but to a sensibility affected (and not generated, a point about which my position differs from that of Fichte!) by spontaneity, that is, by the understanding« (Longuenesse 2005, 66). 16 Michel 2003, 185. 17 Longuenesse 2000, 221. In der jüngeren Forschung hat sich zu der These, die figürliche Einbildungskraft würde Raum und Zeit ›erzeugen‹, eine breite Diskussion entwickelt. Vgl. dazu etwa Pippin 1997. Miriam Wildenauer führt einen Großteil der daraufhin begonnenen Diskussion auf die systematische Verwechslung der Konzepte von Unterscheidung und Trennung zurück: »As far as I can see in all those reactions a conflation of the non-seperation thesis with the non-distinction thesis of intuition and concept is at work« (Wildenauer 2004, 88). Zu behaupten, Raum und Zeit würden durch die transzendentale Einbildungskraft generiert werden, bedeute noch lange nicht, die Unterscheidung von Sinnlichkeit und Verstand aufzuheben, sondern vielmehr ihre Unverbundenheit in der Trennung zu überwinden: »But, surely, two items that cannot be seperated can still be distinguished«. Vgl. dazu die unmittelbare Reaktion von Pippin 2005.

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sein wird, versucht das Verhältnis dergestalt zu begreifen, dass durch die Einwirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit die »Sinnlichkeit zu etwas Sinnlichem« werde, das »Außereinander zu dem je bestimmten eines Nacheinander und Zugleich von Zeit und Raum«. 18 Um die Begründungsleistung versuchshalber umzukehren: Betrachtete man die Form der Sinnlichkeit losgelöst von der Bestimmung durch die transzendentale Einbildungskraft, mit anderen Worten: nähme man die transzendentale Ästhetik beim Wort und isolierte die Sinnlichkeit von allem, »was der Verstand durch seine Begriffe dabei denkt« (KrV, A 22/B 36), so hätte man das Vermögen der Sinnlichkeit zwar operational vom Verstand getrennt, aber nicht der Form nach schon von ihm unterschieden. Insofern kann der Einwand an dieser Stelle auch nicht lauten, durch die Bestimmung der Einbildungskraft würde die kategoriale Unterscheidung zwischen Verstand und Sinnlichkeit aufgehoben werden, da mit der transzendentalen Einbildungskraft überhaupt erst jene Verbindung hergestellt wird, die als fundamentum divisionis für eine kategoriale Unterscheidung von Sinnlichkeit und Verstand in Frage kommt. In diesem Sinne ›wirkt‹ der Verstand auch nicht auf die Sinnlichkeit ein. Der Verstand folgt keiner wie auch immer gearteten Akteurslogik. Sinnlichkeit und Verstand werden vielmehr erst qua notwendig zu denkender Bestimmung durch die transzendentale Einbildungskraft zu den zwei Stämmen der Erkenntnis, als die sie von Kant in der Critik der reinen Vernunft untersucht werden. Jenseits dieser Verbindung wäre die Sinnlichkeit absolute Passivität, und das heißt: für uns soviel als nichts; der Verstand bliebe absolute Aktivität, mitunter alles, aber auch das würde am Ende wiederum bedeuten: für uns soviel als nichts. Hans Blumenberg, der sich der durchgängigen Metaphorizität des hier von Kant ins Spiel gebrachten Einwirkungstheorems bewusst war, merkt dazu in unübertroffener Scharfsinnigkeit an: »Der Verstand ist nicht das Subjekt, welches sich in seinen Handlungen eines Verfahrens bedient, sondern er ist nichts anderes als der Inbegriff dieses geregelten Verfahrens«. 19 Worin, so ließe sich an ein solches Deutungsangebot zurückfragen, stellt sich dieses Verfahren für uns anschaulich dar? Denn die Bestimmung der Sinnlichkeit zu den je bestimmten Formen von Raum und Zeit durch die transzendentale Einbildungskraft ist ja 18 19

Prauss 1990, 320. Blumenberg 2001, 208.

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selbst nur unter der Bedingung möglich, dass wir uns ein Bild von der Bestimmung der Zeit respektive des Raum machen können. Damit das Mannigfaltige ein Mannigfaltiges für uns sein kann, muss auch die Synthesis, die es in eine anschauliche Einheit zusammenfasst, eine Synthesis für uns sein. Eine solche Synthesis nennt Kant in der ersten Auflage der Critik der reinen Vernunft die »Synthesis der Apprehension«: »Denn ohne sie würden wir weder die Vorstellungen des Raumes, noch der Zeit a priori haben können: da diese nur durch die Synthesis des Mannigfaltigen, welches die Sinnlichkeit in ihrer ursprünglichen Rezeptivität darbietet, erzeugt werden können« (KrV, A 99). Dass Kant in diesem Zusammenhang explizit von einer Erzeugung von Raum und Zeit spricht, ist bemerkenswert. Nichts weniger als das schwebt im Grunde auch Schelling vor, wenn er in den Weltalter-Fragmenten die Genealogie eines »Zeit-Erzeugungs-Prozeß« (WA I, 146) zu liefern verspricht. Hier ist es zwar noch nicht an der Zeit, um dem Topos der Zeiterzeugung auf den Grund zu gehen. Die offenkundige Parallele aber kann als weiterer Hinweis dafür gelten, dass Schellings Invektive gegen den »Kantianismus« in der Tat als eine verdeckte Auseinandersetzung mit dem kantischen Problem der formalen Anschauung gelesen werden kann. Was nun die Synthesis der Apprehension angeht, verweist Kant in der transzendentalen Ästhetik darauf, dass man sich von der Zeit überhaupt kein Bild machen könne, zumindest nicht in dem Sinne, dass die Zeit ein äußerlicher Gegenstand sei. Allerdings habe man die Möglichkeit, diesen Mangel durch eine Analogie zu ersetzen, und zwar durch eine »ins Unendliche fortgehende Linie« (KrV, B 50). In der transzendentalen Logik nimmt Kant diesbezüglich wieder einen Perspektivenwechsel vor und ergänzt die Analogie um einen entscheidenden Zusatz. Es handele sich, so heißt es nun, um das Bild einer Linie, »so fern wir sie ziehen, ohne welche Darstellungsart wir die Einheit ihrer Abmessung gar nicht erkennen könnten« (KrV, B 156). Die Betonung liegt an dieser Stelle auf dem Vollzug des Ziehens selbst. Die Linie selbst stellt noch nicht das Bild der Zeit dar, dies wäre ja vielmehr als eine Vergegenständlichung ihrer selbst zu verstehen, sie muss von uns als Linie gezogen werden. Zur Verzeitlichung der Einbildungskraft gehört, wie Hartmut und Gernot Böhme festhalten, »ein inneres Mitmachen, ein Nachzeichnen«: die »Sinnlickeit ist niemals bloß rezeptiv«. 20 Was aber genau macht die geometrische Form der Linie für Kant nun zu 20

Böhme/Böhme 1983, 314.

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einem so ausgezeichneten Analogon der Zeit, wenn man den Zusatz berücksichtigt, dass es sich strenggenommen um das Bild einer Linie handelt, sofern sie von uns gezogen wird? Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, kann es hilfreich sein, den komplexen Charakter der Linie als Punktkontinuum zu berücksichtigen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich eine strukturelle Analogie zwischen dem Verhältnis von Punkt, Linie und dem Ziehen einer Linie und dem von Mannigfaltigem, den Formen der sinnlichen Anschauung und der Bestimmung durch die transzendentale Einbildungskraft. Kants Analogie stellt, mit anderen Worten, anschaulich dar, »daß für die gezogene Linie und Zeit gleichermaßen die Verbindbarkeit, die Verbindung und die Verbundenheit von Mannigfaltigem vorstellbar ist und daß auf diese Weise die Gestaltlosigkeit und Flüchtigkeit, die zur Vorstellung der Zeiten gehört, kompensiert werden kann«. 21 Die folgenden Überlegungen schließen sich eng an die Deutung der Linienanalogie von Gerold Prauss an, der sich in der Art und Weise »eigenen Durchdringens und Zuendedenkens« bewusst über den Buchstaben Kants hinweggesetzt hat, 22 um den Kern von dessen Zeittheorie freizulegen. Die Einheit von – mit Prauss gesprochen – ›Welt und Wir‹ besteht dann und nur dann, wenn sich die Wirklichkeit eines Objekts der Außenwelt als eine »Verwirklichtheit desselben durch uns selber« auf nachvollziehbare Weise darstellen lässt: »allein als dem Erfolg von uns als Wirklichkeit von eigener und eigentümlicher Struktur und Wesenheit, nämlich als Wirksamkeit Intentionalität«. 23 Die Auslegung der Wirksamkeit des Subjekts als Intentionalität hat dabei, wie sich gleich zeigen wird, massive Auswirkungen auf die Zeittheorie beziehungsweise müsste man vielmehr umgekehrt sagen: Die Zeit ist die Form der menschlichen Subjektivität, von der her sich die »Verwirklichtheit« der Objekte der Außenwelt durch uns verstehen lässt, und zwar als eine Art der Subjektgenese – als Selbstverwirklichung im Sinne einer Selbstverzeitlichung. 24 Michel 2003, 186. Prauss 1990, 125. 23 Prauss 1990, 237. Zur Rolle und Funktion der Intentionalität heißt es bei Prauss: »Denn allein durch eine Intention, kurz durch sich selbst als Selbstverhältnis einer Selbstverwirklichung vermögen Sie zu so etwas wie einem Anderen Ihrer selbst ursprünglich überhaupt zu kommen, nämlich auch als Fremdverhältnis einer Fremdverwirklichung sich für sich selbst als solche ein Subjekt auch ein Objekt zu verwirklichen« (235). 24 Vgl. Prauss 1990, 390. 21 22

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1.3. Selbstverzeitlichung: Der ›fließende Punkt der Gegenwart‹ Prauss geht in seiner Interpretation der Linienanalogie davon aus, dass sich die Geometrie der Linie nicht zureichend ohne die Geometrie des Punktes verstehen lässt. Der Punkt gehört als Aufbaustück der Linie zur Linie, sodass jene durch diesen überhaupt erst ihre spezifische Art der Ausdehnung erhält, und zwar als punktartige Ausdehnung. Zu beachten ist hierbei, dass Prauss den Punkt als Aufbaustück der Linie betrachtet und nicht als Teilungspunkt. Betrachtet man die Analogie auf diese Weise, so fällt auf, dass der Punkt, wenn er zu einer Linie ausgedehnt wird, »was er nach dieser Seite seiner Ausdehnung zu ihr als Linie gewinnt, nach der entgegengesetzten wieder verliert, – so als sei hier unermüdlich-unmittelbar Linienfraß am Werk«. 25 Und genau dieser bildlich gefasste »Linienfraß« ist es, der Prauss’ Interpretation zufolge das Ziehen einer Linie im kantischen Sinne zu einer adäquaten Vorstellung von der Zeit werden lässt, weil gerade der ›Fraß‹ auf zwei entscheidende Eigenschaften der Zeit verweist: ihre Kontinuität und ihre Sukzessivität. Einerseits weist der »Linienfraß« auf die kontinuierliche Entstehung zeitlicher Gegenwart durch die transzendentale Einbildungskraft hin, andererseits zeigt er schon an, dass die so gestiftete Zeit nur unter der sukzessiven Aufhebung zeitlicher Gegenwart durch den Vollzug der transzendentalen Einbildungskraft im Raum angeschaut werden kann. Was Kant als ›Linie‹ bezeichnet, ist Prauss zufolge in Wahrheit ein sich bewegender Punkt. Jeder Punkt kommt und geht auf die Weise, dass der Punkt »hier immer wieder ursprünglich entsteht wie auch vergeht und wieder neu entsteht und damit ebenso Punkt im Kontinuum ist wie Kontinuum im Punkt«. 26 Und gerade in diesem Sinne erweist sich nach Prauss auch das Ziehen einer Linie in Gedanken als adäquate und gleichsam notwendig zu bildende Analogie zur Kontinuität und Sukzessivität der Zeit. Genau wie die Linie erst durch das Ziehen derselben erzeugt wird, nacheinander, wird auch die Zeit erst in der transzendentalen Synthesis des Mannigfaltigen der sinnlichen Anschuung erzeugt, und ist doch, wenn man dabei allein auf die »Handlung der Synthesis des Mannigfaltigen« (KrV, B 154) Acht gibt und noch im selben Moment wieder vom Raum abstrahiert, ebenso wenig ein realer Gegenstand zu nennen wie die bloß in Ge25 26

Prauss 1990, 364. Prauss 1990, 367 f.

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danken gezogene Linie. Zwischen Subjekt und Objekt, Bewusstsein und Bewusstem, dem Vollzug und dem, was da vollzogen wird, liegt nicht einmal die Spur von einem Schnitt als Teilung, »und darum erst recht nicht so etwas wie Trennung oder Abstand«. 27 Der ›fließende Punkt der Gegenwart‹ zeichnet weder eine vorgegebene Linie nach noch hinterlässt er eine: Er ist die Kontinuität selbst. Er ist von jeher im Übergang begriffen, ein bewegliches Monogramm der transzendentalen Einbildungskraft. Zeitliche Gegenwart ist nichts anderes als dieser Übergang selbst: ein ens imaginarium im ontologischen Sinne. Folgt man dieser – im philosophischen Sinne – spekulativen Deutung von Prauss, so ist die Zeit bei Kant nichts anderes als das Kontinuum eines sich aktual bewegenden, in Ausdehnung begriffenen Punktes, eine Wirklichkeit, deren Realität darin begründet liegt, dass die Synthesis an den gegenwärtigen Vollzug unseres Denkens selbst gebunden bleibt. Wir erkennen die Zeit in dem Maße, wie wir vom Raum, in den sie ›hineinprojiziert‹ wird, zugleich wieder abstrahieren, und »bloß auf die Handlung Acht haben, dadurch wir den inneren Sinn seiner Form nach bestimmen« (KrV, B 154 f.). Dies bedeutet, dass die Synthesis des Mannigfaltigen durch die transzendentale Einbildungskraft zur synthetischen Einheit der Anschauung nicht anders vor sich gehen kann als durch ein Bewusstsein, das diese Synthesis in der Art und Weise nachvollzieht, dass es im Moment der Hervorbringung eines Objektes schon wieder davon absieht, ein solches Objekt hervorgebracht zu haben, mit anderen Worten: durch ein Vollzugsbewusstsein, das einen Gegenstand in der Anschauung zur Darstellung bringen kann, ohne dass dieser Gegenstand dabei realiter zur Darstellung kommen muss. Dem Vermögen zur anschaulichen Konkretion auf der einen Seite korrespondiert das Vermögen zur begrifflichen Distanzierung auf der anderen Seite. Die figürliche Vorstellung der Zeit hebt die Gegenständlichkeit der Zeit in dem Maße auf bzw. hat diese in dem Maße immer schon aufgehoben, wie sie zugleich vom dergestalten beschriebenen Raum absehen kann. Anschaulich darzustellen ist die Zeit überhaupt nur in dem Maße, wie man im Begriff der Sukzession die räumliche Komponente als problematischen Grenzbegriff denkt. Die geometrische Analogie der Zeit ist so verstanden gerade nicht die eindimensionale Linie, sondern der sich bewegende nulldimensionale Punkt. Abstrahiert man von der Raumgestalt der Linie, so bleibt, wie auch Karin Michel bemerkt, »nur 27

Prauss 2015, 21.

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die Punktbewegung als Repräsentantin für die nach und nach im inneren Sinn bewußt werdende und darin sukzessive Verbindungshandlung selbst zurück«; das Spezifische der Ausdehnung der Zeit besteht also offenbar darin, dass sie bloß als stetige Bewegung des Punktes zur Anschauung gelangt: »In diesem Sinne repräsentiert die Punktbewegung die Zeit als Form oder Weise, in der die Mannigfaltigkeit der Vorstellungen und die daran ausgeübte Verbindungstätigkeit des Verstandes im inneren Sinn bewußt wird«. 28 Das heißt allerdings nicht, wie nun wiederum Prauss zu bedenken gibt, dass die Zeit in Wahrheit »nulldimensional« sei. 29 Gegen Prauss ist festzuhalten, dass, auch wenn die Zeit nur als sich bewegender, nulldimensionaler Punkt zu denken ist, dies nur scheinbar gegen ihre Eindimensionalität spricht. Eindimensionalität und Nulldimensionalität sind im Vollzug der Einbildungskraft vielmehr aufeinander bezogen. Der Punkt fällt sozusagen zwar immer wieder ›hinter sich selbst‹ zurück, weil er sich selbst kontinuierlich vorweg ist, er ›wächst‹ aber eben auch immer wieder kontinuierlich zu einer eindimensionalen Linie heran. Ein systematisches Problem, das sich hieran anschließt, lässt sich folgendermaßen formulieren: Wenn die Formen der Anschauung von Raum und Zeit nur unter der Bedingung möglich sind, dass sie im Vollzug der transzendentalen Einbildungskraft entstehen, dann bedeutet von der subjektiven Realität der Zeit bei Kant zu sprechen, im Grunde von einer zeitlichen Gegenwart auszugehen, die auf den Moment des aktualen Vollzugs beschränkt bleibt, ausdehnungslos, ja immer schon im Übergang begriffen. Zeit erscheint – und hierin würde sich die kantische Zeitlehre kaum von der klassisch aristotelischen Zeittheorie des in sich gespannten Jetztpunktes oder der augustinischen Lehre der distentio animi unterscheiden – als nunc praeteriens, als permanente Selbstaufhebung der zeitlichen Gegenwart, als Zeit im Übergang zum Nichtsein. 30 Die Zeit erschiene als etwas, das, wie Hans Michael Baumgartner kritisch einwendet, in sich selber eine »Tendenz zum Nichtsein (tendentia ad non esse) bzw. zur Selbstaufhebung« besitzt. 31 An dieser Stelle wird deutlich, dass noch ein moderner Philosoph wie Kant ein uraltes philosophische Erbe antritt, insofern die Nähe der Zeit zum alles durchwirkenden Verstand zu28 29 30 31

Michel 2003, 188. Prauss 1990, 382. Vgl. Fischer 2009, 99. Baumgartner 1994, 200.

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gleich ihre Nähe zur entzeitlichten Gegenwart Gottes dokumentiert. 32 In Anschluss an Heideggers Analyse des vulgären Zeitbegriffs könnte man in diesem Zusammenhang auch sagen, die Zeit habe den Charakter des Anwesendheit beziehungsweise das Strukturmoment der Präsenz an sich, auch wenn Heidegger im Gegenzug selber noch nicht den Weg von der Endlichkeit des Daseins zu einer Zeitlichkeit der Geschichte weiterverfolgt hat. Die Stoßrichtung seiner Kritik unterstreicht aber die Bedenken, die sich bezüglich einer Gegenwart der permanenten Selbstaufhebung ergeben: Der Sinn von Zeit erschöpft sich bei Kant im bloßen Gegenwärtigsein und bleibt mit Blick auf die Vollzugsformen der menschlichen Existenz als defizitär zu beurteilen. 33 Im Angesicht dieser Probleme und Dilemmata ist es dann aber auch kaum verwunderlich, dass Kant am Ende der Transzendentalen Logik, in der sogenannten »Tafel des Nichts«, die Anschauungsformen von Raum und Zeit als entia imaginaria ausweist: »die zwar etwas sind, als Formen anzuschauen, aber selbst keine Gegenstände, die angeschauet werden (ens imaginarium)« (KrV, A 291/B 347). Wie ist das nun aber wieder zu verstehen? Sollen die Anschauungsformen von Raum und Zeit trotz ihrer Bestimmung durch die transzendentale Funktion des Verstandes bloß ›imaginiert‹, Fiktionen unserer Einbildungskraft sein? Augustinus, dem ja das Prädikat der Subjektivierung bzw. Psychologisierung der Zeit mit Vorliebe zugesprochen wird, entgeht dem Verdacht des bloß Subjektiven dadurch, dass er die psychische Urgegenwart an das metaphysische Jetzt zurückbindet. Wie aber verhalten sich die Dinge hier bei Kant? Woran bindet er die zeitliche Gegenwart des Vollzugs zurück, sodass die Zeit als »formale Bedingung a priori aller Erscheinungen überhaupt« gelten kann, was nun einmal auch die äußeren Erscheinungen mit einschließt. Im Anschluss an die vollzogene Subjektivierung der Zeit stellt sich für Kant also umgekehrt das Problem, »inwiefern die Zeit Gloy 2008b, 144 f. Vgl. dazu auch eine einschlägige Stelle aus Heideggers Logik-Vorlesung von 1925/ 26: »Das Jetzt ist Gegenwart und wird von Aristoteles bis Hegel so verstanden, daß es besagt: das Jetzt ist das priviligierte Anwesende schlechthin […]. Die unausdrückliche Grundlage der traditionellen (Ontologie) […] ist eine bestimmte Zeitlichkeit, die primär orientiert ist am Gegenwärtigen, was sich extrem ausdrückt in der Fassung des griechischen Erkenntnisbegriffes als reines theorein, als reines Anschauen. Alle Wahrheit dieser (Ontologie) ist Anschauungswahrheit; Anschauen verstanden als Gegenwärtigen« (Heidegger 1925/26, 411 ff.).

32 33

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Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit

nicht bloß eine Vorstellung des Subjekts oder sogar nur ein Imaginarium ist, sondern auch als etwas Reales bestimmt werden bzw. inwiefern die Zeitvorstellung objektive Gültigkeit besitzen kann«. 34 Erst wenn auch auf diese Frage eine Antwort gefunden ist, wird man mit Kant berechtigterweise davon ausgehen können, dass es sich bei der Zeit um die wirkliche Form der inneren Anschauung handelt. Auf dem gegenwärtigen Stand der Rekonstruktion wäre es immer noch möglich, Raum und Zeit, wiewohl sinnlich grundiert, für imaginierte Vorstellungseinheiten zu halten. Raum und Zeit dürfen aber keine bloßen Imaginaria sein, ihnen muss eine äußere, empirische Anschauung korrespondieren können. Zu zeigen ist mithin, dass die subjektive Grundlegung der Zeit gleichermaßen der Ausgangspunkt für die Bestimmung der Zeitlichkeit der Objektwelt ist, dass also der Verstand sich nicht nur von einer Sphäre der Objektwelt verschieden weiß, sondern auch in der Erkenntnis jener Objektwelt zugleich seiner selbst bewusst wird.

1.4. Die objektive Wirklichkeit der Zeit Die vorangegangenen Analysen haben gezeigt, dass die Anschauungsformen von Raum und Zeit als Produkte der transzendentalen Einbildungskraft zu begreifen sind, sobald es um ihre Verfassung als Anschauungstotalitäten geht. Werden Raum und Zeit als anschauliche Vorstellungseinheiten problematisiert, die sie der transzendentalen Ästhetik nach immer schon sind, stellen sie sich als Einheiten einer vorkategorialen Synthesis heraus: Sie tragen die Bestimmung der Einheit noch vor aller kategorialen Synthesis durch die reinen Verstandesbegriffe an sich, weil nur so das Mannigfaltige als sinnlich Gegebenes für uns a priori präsent sein kann. Raum und Zeit sind aktiv vom Subjekt erzeugte Zusammenfassungen des Mannigfaltigen, das passiv durch die Sinnlichkeit gegeben ist. Sie sind formale, von der transzendentalen Einbildungskraft erzeugte Anschauungen. Jede Untersuchung über die Sinnlichkeit hat demgemäß schon zu berücksichtigen, dass die Formen der Rezeptivität selbst nur unter der Bedingung einer Spontaneität des Verstandes als Formen zu denken sind. Das Zentrum der kritischen Grundlegung der Zeit verschiebt sich bei Kant so verstanden durch die Lehre von der formalen An34

Michel 2003, 192.

46 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Kants kritische Grundlegung der Zeit

schauung von der transzendentalen Ästhetik zur transzendentalen Logik. Diese Verschiebung ebnet die Unterscheidung zwischen Verstand und Sinnlichkeit nicht ein, sie macht ihn vielmehr im Begriff einer zeitlichen Gegenwart überhaupt erst möglich. In dem Maße wie die transzendentale Einbildungskraft sich als die geforderte Form einer höheren Synthesis herausstellt, bleiben die so erzeugten Anschauungsformen von Raum und Zeit, samt dem Mannigfaltigen in ihnen, selbst jedoch ohne jede zeitliche Ausdehnung. Zeitliche Gegenwart wird immer nur wieder in permanenter Selbstüberwindung generiert und bekommt in ontologischer Hinsicht einen prekären Charakter. Dass dies auf eine zugegebenermaßen spekulative Zeitontologie hinausläuft, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass Kant am Ende der transzendentalen Logik Raum und Zeit als entia imaginaria ausweist: als ein Seiendes, das gleichermaßen an- und abwesend ist. Zwar betont schon Heidegger in seiner Kant-Deutung, dass der imaginative Charakter von Raum und Zeit nichts »Unerhörtes und Befremdliches« an sich habe: »Das in der Einbildung Gebildete ist ja, wie gezeigt, nicht notwendig ein ontischer Schein«. 35 Dies mag angesichts der Stoßrichtung seiner Interpretation, die Einbildungskraft zur ›gemeinsamen Wurzel‹ von Sinnlichkeit und Verstand zu erklären, allerdings auch kaum überraschen; in dem Maße, wie Sinnlichkeit und Verstand nach Heidegger überhaupt erst aus dem Wirken der Einbildungskraft hervorgehen, spielt es ihr vielmehr in die Hände. Aber auch Karin Michel betont ausdrücklich, dass, so sehr Kant den imaginativen Charakter der Raum- und Zeitvorstellung auch betone, dies gerade nicht darauf hinauslaufe, »daß er der gegenständlichen Vorstellung von Raum und Zeit überhaupt keine Erkenntnisrelevanz zuerkennt«. 36 Im Gegenteil: Jene sei vielmehr in dieser begründet. Zu diskutieren bleibt an dieser Stelle, wie eine kritische Grundlegung der Zeit im Subjekt durch die transzendentale Einbildungskraft sich eigentlich mit der These verträgt, die Zeit habe objektive Gültigkeit in Ansehung der Erscheinungen, sei ›empirisch real‹. Wie können die Anschauungen von Raum und Zeit zum einen die Formen aller inneren und äußeren Erscheinungen sein, wenn sie zum anderen nur imaginativen Charakter haben? Was verbirgt, mit anderen Worten, nicht nur den Begriff einer Erfahrung überhaupt,

35 36

Heidegger 1973, 138. Michel 2003, 180.

47 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit

sondern auch den einer objektiv beschreibbaren Erfahrung zeitlicher Gegenwart. Um diese Frage genauer zu untersuchen, ist auf den Vollzug der transzendentalen Einbildungskraft zurückzukommen: Der Vollzug, so ist zu betonen, bedeutet nicht nur eine Verzeitlichung derjenigen Instanz, die anderenfalls gar nicht in die Zeit hineinragen würde – die ungebrochene, gegenwartslose Einfachheit des göttlichen Verstandes –, er bedeutet zugleich eine Verräumlichung und damit Verwirklichung desjenigen Aktes, der als Grund der Welt der Erscheinungen selbst nicht zur Erscheinung kommen kann und folglich auch nicht von uns erkannt werden könnte, und zwar der Vorstellung des »Ich denke« (KrV, B 131). Der Gedankengang der Vernunftkritik lässt sich wie folgt rekonstruieren: Indem wir im Vollzug der Einbildungskraft Kant zufolge vom Raum abstrahieren und »bloß auf die Handlung Acht haben, dadurch wir den inneren Sinn seiner Form nach bestimmen« (KrV, B 154 f.), unterscheiden wir uns nicht nur von einem die Gegenstände instantan hervorbringenden göttlichen Verstand; wir werden uns zugleich auch unserer selbst bewusst, und zwar als desjenigen zusammenhangstiftenden Subjekts, das wir von jeher schon sind: »Die Zeit ist dasjenige, worin und woran ich mir der Verstandessynthesis bewußt werde«, bringt es Manfred Baum auf den Punkt. 37 So verstanden erscheint mit der Zeit auch die Vorstellung des ›Ich denke‹ in Raum und Zeit, ohne deshalb gleich zu einem Gegenstand der Erkenntnis werden zu müssen. Im Gegenteil: Sie wird lediglich zum Objekt ihres eigenen Denkvollzugs, der an keiner Stelle an ein fixierbares, gegenständliches Ende gelangt. Die Linienanalogie beweist mithin nicht nur, dass die transzendentale Einbildungskraft die Zeit versinnlicht, sie beweist auch, dass das so konfigurierte sinnlich Gegebene der Einheit der transzendentalen Apperzeption, der Vorstellung ›Ich denke‹, gemäß ist. Alle Synthesis, wodurch selbst die Anschauungsformen von Raum und Zeit als nicht-begriffliche Vorstellungen möglich werden, steht folglich unter der synthetischen Einheit des Verstandes, die das in und durch die Formen Gegebene davor bewahrt, bloße Produkte der Imagination zu bleiben. In dem Maße, wie nun aber deutlich wird, dass Raum und Zeit derjenigen Synthesis unterliegen, aus der auch die reinen Verstandesbegriffe, mithin unsere Urteilskategorien entspringen, kommt die eigentliche Pointe der kantischen Überlegungen zur kritischen 37

Baum 1986, 141.

48 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Kants kritische Grundlegung der Zeit

Grundlegung der Zeit in den Blick. Der Grund, Raum und Zeit selbst zum Gegenstand einer Vorstellung zu machen, besteht für Kant in dem Erweis, das noch das Gegebensein des Mannigfaltigen für uns der synthetischen Einheit der Apperzeption unterliegt, jener Einheit, von der es heißt, sie sei der »höchste Punkt« (KrV, B 134) der Transzendentalphilosophie. Denn allein dadurch, dass sie dieser höchsten Form der Synthesis entspricht, kann dasjenige, was uns durch die Sinne gegeben ist, auch zu einem möglichen Gegenstand der Erkenntnis werden. Die Bestimmung der Sinnlichkeit durch die transzendentale Einbildungskraft setzt also voraus, dass sie zugleich derjenigen Einheit korrespondiert, die eine Anwendung der reinen Verstandesbegriffe auf das sinnlich gegebene Mannigfaltige ermöglicht. Denn es sind ja die reinen Verstandesbegriffe, die uns einerseits ein »Bewusstsein der Bestimmung« (KrV, B 154) der Form der Sinnlichkeit durch die Handlung der transzendentalen Einbildungskraft ermöglichen, wie es andererseits auch nur die Erscheinungen in Raum und Zeit sind, in Bezug auf welche die Kategorien Bedeutung haben. Die erste Anwendung des Verstandes auf die Sinnlichkeit muss schon unter der Bedingung stehen, »zugleich der Grund aller übrigen« (KrV, B 152) Anwendungen des Verstandes zu sein. Die synthetische Einheit der Anschauung muss schon derjenigen synthetischen Einheit entsprechen, die ›später‹ durch die Kategorien gedacht wird, denn nur dadurch dass sie ihr gemäß ist, werden die Kategorien in ihrem Gebrauch auf die empirischen Bedingungen von Raum und Zeit beschränkt, die ihnen allein objektive Gültigkeit verschaffen können. Die Frage, ob Raum und Zeit objektive Gültigkeit in Ansehung der Erscheinungen haben, ist in dieser Hinsicht gleichbedeutend mit der Frage, welche die transzendentale Deduktion im Kern zu beantworten versucht, ob nämlich die Formen unserer sinnlichen Anschauung so beschaffen sind, dass sie den kategorialen Formen unseres Denkens von jeher gemäß sind. Der vorgelegten Interpretation zufolge kann also festgehalten werden: Die Synthesis der Einbildungskraft, durch die das Mannigfaltige der sinnlichen Anschauung in eine Vorstellungseinheit zusammengefasst wird, bringt dann und nur dann die spezifisch menschlichen Vorstellungseinheiten von Raum und Zeit hervor, wenn sie zugleich der synthetischen Einheit der Apperzeption gemäß ist, aus denen sich auch die Kategorien speisen. Die Begründung der objektiven Gültigkeit der Zeit in Ansehung der Erscheinung beruht auf dem Erweis ihrer Zugehörigkeit zur Einheit der Vorstellung des 49 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit

›Ich denke‹. Denn dann und nur dann ist die subjektive Begründung der Zeit zugleich der Ausgang für die Bestimmung der zeitlichen Gegenwart der Objektwelt. Der Vollzug der transzendentalen Einbildungskraft leistet aber gerade nicht weniger als dies: Sie bildet die formale Einheit des denkenden Ichs in die Gegebenheitsweise der sinnlichen Anschauung. Die Anschauungseinheiten von Raum und Zeit sind zwar als entia imaginaria aufzufassen, aber gerade nur weil sie imaginäre Gegenstände im Mitvollzug eines denkenden Ichs sind, das sich in ihnen sukzessiv darstellen kann, können sie zugleich auch durch die Kategorien gedacht werden. Auf diese Weise sind Anschauung und Begriff bei Kant vermittelt: eben durch die Lehre von der formalen Anschauung. Eine Kant-Interpretation, welche die Dualität von Anschauung und Begriff hingegen »bloß fixiert«, wie Wilhelm Metz zu bedenken gibt, ohne auch nur in Rechnung zu stellen, »dass der Kantsche Gedankengang gerade die ursprüngliche Vermittlung von Verstand und Anschauung ans Licht bringt«, muss eine solche Lesart freilich »unverständlich« bleiben. 38 Auf diese Weise vermag es die kritische Philosophie zu zeigen, »daß Raum und Zeit diejenige synthetische Einheit vor und unabhängig von allen Begriffen schon an sich haben, die in der transzendentalen Ästhetik erörtert und die nach dem § 20 durch die Kategorien gedacht wird«. 39 Anders formuliert: Der Gegenstand wird »bereits in der Anschauung so gegeben, dass er einer möglichen Rezeption durch den Begriff gemäß ist«. 40 Dass diese Form der Vermittlung, ungeachtet dessen, ob man sie im kantischen Sinne für gelungen hält, letztendlich problematisch bleibt, leuchtet allerdings schlagartig ein. Die transzendentale Idealität der Zeit ist zwar ein notwendiges, aber noch kein hinreichendes Kriterium für ihre empirische Realität: Die Formen der Anschauungen sind den Formen des Verstandes nur gemäß; sie sind keinesfalls in einem anspruchsvollen Sinne mit ihnen identisch. Insofern ist es auch kein Wunder, dass insbesondere die nachkantische Philosophie an der kantischen Raum- und Zeitlehre Anstoß genommen hat. Anstatt aber hier die idealistischen Ansätze einer möglichen Deduktion der Zeit zu verfolgen – das zu tun, käme einem eigenen Projekt gleich –, gilt es im Anschluss an die eingangs geschilderte Problemsituation, sich der Vernunftkritik Jacobis zuzuwenden, dem »Groß38 39 40

Metz 1994, 74. Baum 1986 16. Böhme 1974, 262 f.

50 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Das Zeitproblem des transzendentalen Idealismus

inquisitor« (SW VIII, 411), wie ihn Schelling einmal polemisch bezeichnet hat. 41 In Gegensatz zu allen anderen nachkantischen Deduktionsversuchen verbindet Jacobi seine Kritik an der kritischen Grundlegung der Zeit nämlich von Anfang an mit einer Systemkritik im umfassenden Sinne: Jacobi geht es nicht um die theoretischen Mittel zur Durchführbarkeit eines solchen Projektes, sondern um dessen praktischer Suspension. In dem Maße, wie Jacobi nun aber seine ›Zeit‹-Kritik als symptomatisch für eine Kritik am transzendental-idealistischen Systemdenken als solchem präsentiert, wird deutlich, dass der Begriff der empirischen Realität der Zeit, also die Frage nach den Ermöglichungsbedingungen realer Sukzession zum Kernbestand der nachkantischen Problemgeschichte gehört. Diesen Verdacht gilt es zu erhärten und im folgenden zweiten Kapitel genauer zu untersuchen. Auch und vor allem deshalb, weil, so steht zu vermuten, Jacobis Vernunftkritik hier genau die Sichtachse freischlägt, in der sich für Schelling in den Weltaltern die Frage nach einer Pluralität geschichtlicher Zeiten stellt.

2. Das Zeitproblem des transzendentalen Idealismus 2.1. Deutungskonflikt ›Formale Anschauung‹ Dass Kant die Anschauungsformen von Raum und Zeit im Kontext einer kritischen Grundlegung der Zeit zu entia imaginaria erklärt, ist für die Problemgeschichte der nachkantischen Philosophie von entscheidender Bedeutung. Gerade mit der Grenzstellung von Raum und Zeit als Formen ›Etwas‹ zu sein, als Gegenstände jedoch ›Nichts‹, vermittelt Kant seinen Nachfolgern den Eindruck, eine ›echte‹ kritische Grundlegung der Philosophie, der Formen der Anschauung und der Formen des Verstandes, sei erst noch zu leisten. Aufbruchstimmung liegt in der Luft: Ging mit Kant die »Morgenröthe« auf, so scheint sich die Philosophie mit Fichte schon auf ihren Mittag zuzubewegen; denn wenn »die Morgenröthe einmal da ist, dann muß die Sonne kommen, und auch in die tiefsten Winkel Licht und Leben ausstrahlen, und die Sumpfnebel zerstreuen«, so die vielzitierte Stelle aus

Angezeigt ist mit der ›Deduktion der Zeit‹ gleichwohl ein Forschungsdesiderat. Vgl. Metz 1994, Horstmann 1989, Gent 1954.

41

51 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit

einem Brief Schellings an Hegel. 42 Der ausgesprochene Enthusiasmus über die philosophische Gärung der Zeit geht nicht allein von Schelling aus. Auch Hegel bekennt sich im Briefwechsel mit Schelling emphatisch zu den neuesten philosophischen Tendenzen, die in Jena immer mehr Sichtbarkeit erlangen: »Hölderlin schreibt mir oft von Jena, er ist ganz begeistert von Fichte, dem er grosse Absichten zutraut – wie wohl muss es Kant thun, d. Früchte seiner Arbeit schon in so würdige Nachfolgern zu erblicken – die Erndte wird einst herrlich sein!«. 43 Als besondere Ironie dieser frühidealistischen, ganz und gar nicht im Sinne seines Königsberger Erfinders ersonnenen Überbietungsgeste kann dabei gelten, dass Kant nicht nur den Anlass, sondern ganz nebenbei auch die hermeneutische Maxime geliefert hat, unter der ein solches, selbsternanntes Prämissenprojekt fortan firmiert. Bezugnehmend auf Platon und dessen Ideenlehre bemerkt Kant in seinem kritischen Hauptwerk, »daß es gar nichts Ungewöhnliches sei, sowohl im gemeinen Gespräche, als in Schriften, durch die Vergleichung der Gedanken, welche ein Verfasser über seinen Gegenstand äußert, ihn so gar besser zu verstehen, als er sich selbst verstand« (KrV, A 314/B 370). Was Kant hier gegenüber Platon einräumt, ereilt ihn rücklings in den programmatischen Topoi von ›gegebenen Resultaten‹ und ›noch fehlenden Prämissen‹ selbst. So heftig, dass er in der Erklärung in Beziehung auf Fichtes Wissenschaftslehre darauf beharren muss, die »Critik« sei »allerdings nach dem Buchstaben zu verstehen« (AA 12, 371) und nicht nach dem Geist. Ginge es nach Kant, so machte die gegenüber Platon so freimütig ausgerufene Maxime, einen Autor besser zu verstehen, als dieser sich selbst je hätte verstehen können, gerade vor einem Autor halt – vor ihm, Kant, selbst. Von solchen Bedenken wollen die Nachkantianer nichts wissen. Auch die Kontroverse um eine erst noch zu leistende Deduktion der Zeit zeigt das an: So heißt es bei Fichte etwa, Kant hätte zwar die »Idealität der Objekte« aus der »vorausgesezten Idealität der Zeit« erwiesen: »wir [aber] werden umgekehrt die Idealität der Zeit und des Raumes aus der erwiesenen Idealität der Objecte erweisen« (GA I/2, 335). Vom Insistieren Schellings, der in seiner Ichschrift zu Bedenken gibt, dass Raum und Zeit »unmöglich vor aller Synthesis vorhergehen« können, »und also keine höhere Form der Synthesis 42 43

F. W. J. Schelling an G. W. F. Hegel, 4. Februar 1795, AA III,1, 21. G. W. F. Hegel an F. W. J. Schelling, 16. April 1795, AA III, 1, 25.

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Das Zeitproblem des transzendentalen Idealismus

voraussezen« (AA I,2, 72), war schon die Rede gewesen; sein Anliegen ist es, Raum und Zeit aus eben jener höheren Form der Synthesis als »Formen der Endlichkeit überhaupt« abzuleiten und nicht nur als »Formen der menschlichen Anschauung«, wie Kant es in seinem »Accomodationssystem« (AA I,2, 139) getan hat. Hegel dagegen reagiert in ganz anderer Weise auf das Problem der Grundlegung der Anschauungsformen: Er geht sogar direkt auf das erkenntnistheoretische Problem der formalen Anschauung ein. Verwunderlich oder nicht, aber es ist gerade Hegel, der diesen für die Vernunftkritik Kants ohne Zweifel problematischen Gedanken bereitwillig aufgreift. Hegel würdigt in Glauben und Wissen ausdrücklich die Lehre von der formalen Anschauung, weil sie seinem Verständnis nach ein spekulatives Element in sich trägt. Es handle sich hierbei um einen der »vortrefflichen Puncte, dessen, was Kant über die Sinnlichkeit und Apriorität sagt« (GuW, GW 4, 364). Dass Raum und Zeit nicht bloß Formen der Anschauung, sondern auch in formaler Hinsicht Anschauungen seien, diesen Gedanken Kants könne man, so Hegel, »nicht anders als vortrefflich und einen seiner reinsten und tiefsten nennen« (GuW, GW 4, 364). Hegel kommt in Glauben und Wissen auch deshalb auf die ›formale Anschauung‹ zu sprechen, weil es gerade sein Antipode Jacobi ist, der die ›Zwitterstellung‹ von Raum und Zeit, Formen der Anschauung und Anschauungen zugleich zu sein, als symptomatisch für die »Uneinigkeit des Systemes mit sich selbst« (JW 2,1, 269) erkennt. Jacobi gibt in seiner 1802 erschienenen Schrift Ueber das Unternehmen des Kriticismus, die Vernunft zu Verstande zu bringen unmissverständlich zu verstehen, dass sich gerade in der Lehre von der formalen Anschauung, der Intellektualisierung von Sinnlichkeit, das »Grundgebrechen« der Vernunftkritik Kants ausspreche, »den Idealismus durch Empirismus, den Empirismus durch Idealismus wieder gut zu machen« (JW 2,1, 269). Eine Kritik, die Hegel so entschieden wie polemisch ablehnt: In Jacobis Position komme nur die oberflächliche Reaktion der Reflexionsphilosophie auf das spekulative Denken zum Vorschein. Bei aller Kritik, die Hegel gegen die kritische Transzendentalphilosophie vorbringt, ist es nun also Kant, der gegenüber »Jacobi’s Instinct gegen das vernünftige Erkennen« (GuW, GW 4, 364) verteidigt und wieder ins Recht gesetzt werden soll. So verstanden, und ohne hier im Detail auf den Streit zwischen Hegel und Jacobi einzugehen, liegt in der zunächst vielleicht unscheinbaren, von einigen Kant-Interpreten sogar sträflich vernachläs53 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit

sigten Fußnote § 26 ein echter Deutungskonflikt verborgen. 44 Während Hegel versucht, in der formalen Anschauung das spekulative Moment aufzudecken, um dabei gewissermaßen mit Kant über Kant hinauszukommen, ist es Jacobis Anliegen, deren fundamentale Aporie aufzudecken, um dabei gewissermaßen mit Kant aus Kant herauszukommen. Ein Deutungskonflikt, der nicht zuletzt unterstreicht, wie zentral die Lehre von der formalen Anschauung für die Problemgeschichte der nachkantischen Vernunftdiskussion ist: Für Jacobi und Hegel geht es um nicht weniger als die Frage nach den Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen systemischen Philosophierens. 45 Und wie auch immer man die einzelnen Lösungsansätze am Ende beurteilt, die Kontroverse zwischen Jacobi und Hegel zeigt an, dass die Formen der Anschauung nach einem sie fundierenden Prinzip verlangen, sei es, weil man wie Hegel das Konzept einer systemischen Philosophie in dialektisch-holistischer Weise verfolgt, sei es, weil man wie Jacobi die Einigkeit des Systems mit sich selbst einfordert, um den elastischen Punkt zu finden, auf dem stehend man um willen der personalen Freiheiten aus eben jenem System hinauskatapultiert wird. Kants Lehre von der formalen Anschauung ließe sich in diesem Sinne wohl am besten als eine Problemanzeige verstehen, und zwar dafür, dass sich das Problem der Einheit von Raum und Zeit nicht nur unter theoretischen Vorzeichen stellt, sondern auch als ein eminent praktisches Problem zu begreifen ist, weil es unser Selbstverständnis als temporale Wesen, die sich als handelnde Wesen in einem ständigen Konflikt mit der Zeit befinden, im Kern berührt. Will man sich einen problemgeschichtlichen Weg zu Schellings ›Zeit‹-Kritik in den Weltaltern bahnen, kommt man also nicht umhin, Jacobis wiederholt kritische ›Zeit‹-Interventionen genauer ins Auge zu fassen. Im Zentrum soll dabei Jacobis bereits genannte Abhandlung Ueber das Unternehmen des Kriticismus, die Vernunft zu Verstande zu bringen stehen.

2.2. Jacobis Kritik des Zeitapriorismus Ausgangspunkt der fundamentalen Vernunft- und Kant-Kritik Jacobis bildet die Frage, wie die kritische Philosophie die rigorose Tren44 45

Vgl. dazu Neumann 2017. Vgl. Peter Jonkers 2007; Waibel 2004; Sandkaulen 2000.

54 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Das Zeitproblem des transzendentalen Idealismus

nung von Subjekt und Objekt mit einer Theorie objektiven Wissens vereinbaren könne. Kants Antwort auf den Humeschen Skeptizismus, wonach synthetische Urteile a priori dadurch möglich seien, dass sich die Gegenstände nach unserer Erkenntnis richten, hält Jacobi aus dem Grund für widersprüchlich, weil das Objekt der äußeren Anschauung hier zu einem »problematische[n] Etwas« werde, dem das Subjekt zwar einerseits »nicht beykommen«, das es andererseits aber auch nicht »liegen und blos auf sich beruhen« lassen kann: »Es [das Subjekt, P. N.] kann nicht aufhören, sich in Beziehung auf das Object […] zu beschäftigen, ohne daß es selbst aufhöre zu seyn« (JW 2,1, 268). Weitab also davon, gegen Hume und dessen Skeptizismus die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori erwiesen zu haben, hätte Kant das Erkenntnissubjekt auf ein »problematisches Etwas« hin geöffnet: ein Objekt, das möglich und notwendig sein, für uns aber ein »offenbares Nichts« (JW 2,1, 268) bleiben soll. 46 Mit dieser Zurückweisung der ›Kopernikanischen Revolution‹ steigt Jacobi in seine Kritizismusschrift ein, sie soll ein Indiz für das »Grundgebrechen« (JW 2,1, 269) der kritischen Philosophie als solcher sein. Als symptomatisch für dieses »Grundgebrechen«, der »Uneinigkeit des Systemes mit sich selbst« (JW 2,1, 269), erweist sich Jacobi zufolge nicht zuletzt auch Kants Sinnlichkeitslehre, und hier vor allem die Auffassung, Raum und Zeit seien nicht bloß Formen der Anschauung, sondern auch formale Anschauungen, also selbst Gegenstand einer ›vorbegrifflichen‹ Vorstellung. Raum und Zeit, so heißt es bei Jacobi gegen Kant gerichtet, seien »nach den ausdrücklichen Behauptungen der Vernunftkritik bloße Formen der äußern sinnlichen Anschauung«, und könnten »vermöge dieser Formnatur nie Gegenstände werden«, und dennoch seien »diese nämlichen nicht objective Formen der Anschauung, Raum und Zeit, nach andern Aeusserungen auch Gegenstände, nicht bloße Formen der Anschauung, sondern Anschauungen selbst« (JW 2,1, 270). Worauf Jacobis insistierende Kritik hinausläuft, ist klar, und sollte bereits durch die im kantischen Kontext geäußerten Bedenken deutlich geworden sein. Wenn Kant der Auffassung ist, Raum und Zeit nicht als nur Formen der Anschauung, sondern auch als Gegenstände einer spezifischen Art von Vorstellung behandeln zu können, die er als ›Synthesis‹ bezeichnet, so ist nicht auszuschließen, dass damit auch mutatis mutandis die Fundamente seiner eigenen Vernunftkritik, die kategoriale 46

Vgl. dazu Metz 2004.

55 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit

Trennung von Anschauung und Begriff, Sinnlichkeit und Verstand von selber ins Wanken geraten. Jacobis Strategie besteht nun sozusagen darin, diesen vernunftkritischen Verdacht gegenüber Kant zu erhärten und schrittweise in eine Kritik am systemischen Philosophieren im Allgemeinen zu überführen. Wie Jacobi dabei strategisch vorgeht, zeigt sich unter anderem in folgender Passage, in der er versucht, die internen Widersprüche so gegeneinander zu schalten und ineinander zu verschränken, dass sich das Gesamtprogramm der kritischen Philosophie letztlich von selber ad absurdum führt: Hält man Raum und Zeit für Gegenstände, so ist es ein Irrthum; hält man sie für bloße Formen der Anschauung, so ist es wieder ein Irrthum; hält man sie für beydes zusammen genommen, so ist es wieder ein Irrthum, so ist es ein Widerspruch; es bleibt also kein andrer Ausweg übrig, als sie für Nichts zu halten, wogegen aber die nämliche Kantische Philosophie auf das Feyerlichste protestirt. (JW 2,1, 270 f.)

Jacobis Einwand rührt ans Fundament der kantischen Philosophie. Die ›Zwitterstellung‹ von Raum und Zeit, für Jacobi ist sie Symptom für das sich selbst widersprechende System im Ganzen. Was durch sie, das Form- und Gegenstandsein exemplarisch sichtbar werde, wäre die »Chamäleonsfarbe« des Systems des transzendentalen Idealismus, »daß es halb a priori, halb empirisch seyn, zwischen Idealismus und Empirismus in der Mitte schweben soll« (JW 2,1, 269). Mit anderen Worten: Das von Jacobi diagnostizierte Problem führt über die interne Spannung hinaus, in der sich ›Form der Anschauung‹ und ›formale Anschauung‹ bei Kant befinden. Es kann sich nicht allein um den widersprüchlichen Charakter von Raum und Zeit handeln, der, wie sich gezeigt hat, unter bestimmten Voraussetzungen kritizistisch zu rechtfertigen wäre. Verfolgt man den Gang der Kritik Jacobis weiter, so wird deutlich, worauf seine Kritik im eigentlichen Sinne hinausläuft. Jacobi zufolge hat man es bei der ›Zwitterstellung‹ von Raum und Zeit, Formen der Anschauung und Anschauung zugleich zu sein, gar nicht mit einem Problem zu tun, das auf diese oder jene Weise gelöst werden könnte. Im Gegenteil: Jacobi zufolge hat man es mit einem Problem von ganz anderer Sorte zu tun, und zwar mit einem Problem, das »überhaupt nicht gelöst werden kann« (JW 2,1, 271). Und dieses von Jacobi diagnostizierte Problem besteht darin, dass, solange man versucht, die Möglichkeit der objektiven Gültigkeit von Raum und Zeit auf diejenige Instanz zurückzuführen, aus der auch die rei56 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Das Zeitproblem des transzendentalen Idealismus

nen Verstandesbegriffe entspringen, sprich: die ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption, die Synthesis des Mannigfaltigen »ein ursprüngliches Bestimmen, und ein ursprüngliches Bestimmen ein Erschaffen aus Nichts seyn würde« (JW 2,1, 271). Mit anderen Worten: Das Problem der »Zusammenfassung des Mannigfaltigen« zu den je bestimmten Formen von Raum und Zeit, das schon bei Kant für Irritation gesorgt hatte, läuft für Jacobi geradewegs auf das Problem einer creatio ex nihilo hinaus. Die grundlegende Aporie, die Jacobi hierbei ausmacht, besteht darin, dass, wer eine »reine Synthesis« erklärt, zugleich auch eine »reine Antithesis« zu erklären hätte (JW 2,1, 271). Eine Erklärung, die vom transzendentalen Idealismus aber fatalerweise überhaupt nicht eingeholt werden könne, weil Raum und Zeit als kontinuierliche, homogene, unendliche Größen behandelt würden, die weder entstehen noch vergehen. Jacobis Kritik ist folglich auch gar nicht ausschließlich gegen die kantische Raumund Zeittheorie gerichtet; zumindest erschöpft sie sich nicht darin. Wogegen sie sich wendet, ist die mit dem transzendentalen Idealismus einhergehende Vorstellung, Raum und Zeit würden durch eine ursprüngliche Synthesis ›erzeugt‹ bzw. ›generiert‹ werden können, im und durch den Akt der Reflexion des verständigen Denkens auf sich selbst entstehen. Denn gerade eine so verstandene reflexive Verzeitlichung der Zeit, so versucht Jacobi in systematischer Hinsicht mit Blick auf unsere eigene, zutiefst konfliktuöse Zeitpraxis zu zeigen, führt gerade umgekehrt zu einer radikalen Entzeitlichung der Zeit. Zeit, die qua ursprünglicher Synthesis immer schon die Signatur einer Überzeitlichkeit trägt, verliert jede Form von Individualität, Personalität und Realität, und kann in diesem Sinne noch nicht einmal als Zeit verstanden werden, in der wir urteilend und handelnd begriffen sind. Dies ist nun allerdings ein kapitaler Einwand: Schwerer als die Kritik an der internen Spannung der kritischen Grundlegung selbst wiegt die Kritik am Charakter einer Philosophie, die glaubt, Raum und Zeit durch den Bezug auf eine Synthesis ursprünglich ›erzeugen‹ zu können. Ein solches Erzeugen käme, so der Vorwurf, in letzter Konsequenz einer thetischen Setzung gleich, die sich auf theoretischem Wege überhaupt nicht einholen lässt. Nun hat aber schon die Analyse der transzendentalen Zeitlehre ergeben, dass es Kant in der Formlehre gar nicht um das Gegebensein des Mannigfaltigen selbst geht, weil das Gegebensein selbst nur aus der Perspektive des Für-uns zum Gegenstand einer transzendentalen Reflexion gemacht werden 57 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit

kann. Gleichwohl legt Jacobis Kritik an dieser Stelle etwas entscheidendes offen: Um nämlich dem Verdacht einer creatio ex nihilo zu entgehen, wäre es, so Jacobi, von der kantischen Philosophie nur konsequent gewesen, zu erklären, dass alles nur in der und durch die Vernunft Geltung hätte. 47 Im Hintergrund dieser ›Kritikrichtungsumkehr‹ steht das berühmt berüchtigte Diktum Jacobis – schon 1787 in seiner Schrift David Hume über den Glauben, oder Idealismus und Realismus ausgegeben –, dass der »transzendentale Idealist« den »Mut« haben müsse, »den kräftigsten Idealismus, der je gelehrt worden ist, zu behaupten und selbst vor dem Vorwurf des spekulativen Egoismus sich nicht fürchten, weil er sich unmöglich in seinem System behaupten kann, wenn er auch nur diesen letzten Vorwurf von sich abtreiben will« (JW 2,1, 112). Erst wenn man diese Umkehrung der Kritik vor Augen hat, bekommt man die Pointe der wiederholt kritischen Interventionen Jacobis in den Blick. Ging es für Jacobi zunächst lediglich darum, Kant eines offenbaren Widerspruchs innerhalb seiner eigenen Zeitkonzeption zu überführen, geht es ihm nun um die Folgen, die es nach sich zieht, wenn man den Widerspruch auf die nach Jacobi einzig mögliche Weise zu lösen versucht, nämlich dadurch, dass man ihn gleichsam nach außen stülpt, und so den transzendentalen Idealismus beim Wort nimmt und als einen »spekulativen Egoismus« auslegt. Der Fall ist klar: Der Sieg, den der transzendentale Idealismus davonträgt, der mit ihm verbundene ›Ruhm‹, kann, wie Jacobi deutlich macht, nur »wie der Ruhm des Todes in Beziehung auf das mit dem Leben verknüpfte Ungemach« (JW 2,1, 217) sein. Mit anderen Worten: Auch wenn Kant gegenüber Hume die Möglichkeit einer »Selbstgebärung unseres Verstandes (samt der Vernunft)« (KrV, A 765/B 793) erwiesen hätte, so hätte er damit noch lange keine Theorie objektiven Wissens aufgestellt. Wenn erst einmal die Vernunft dahin komme, sich selbst und ihre Gegenstände zu ›erzeugen‹, könne es sich dabei nur noch um Für Jacobi stellt sich das Problem einer creatio ex nihilo allerdings nicht nur vonseiten des Objekts, also der Frage, wie Etwas aus Nichts entstehen kann. Auch die Vorstellung eines »immerwährenden Daseins des eigentlichen Subjekts an den Erscheinungen« (KrV, A 185/B 228) lässt Jacobi zufolge darauf schließen, dass Kant unter der Hand eine Konzeption der creatio ex nihilo in seiner Vernunftkritik mitführt. Wie gegensätzlich, ja geradezu in sich verkehrt, die Ansichten Kants und Jacobis hierbei ausfallen, lässt sich leicht daran erkennen, dass für Kant das ›unvergängliche Dasein‹ des Subjekts gerade eine Folge aus dem Grundsatz a nihilo nihil fit ist und diesem nicht, wie Jacobis Analyse feststellt, zuwiderläuft.

47

58 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Das Zeitproblem des transzendentalen Idealismus

»Hirngespinste« (JW 1,1, 116) handeln. Hinter Jacobis scharfer Kritik verbirgt sich nichts weniger als die Auffassung, es müsse die kritische Philosophie, weil sie nur als spekulativer Egoismus Bestand haben kann, in einer Art von existenziellem Nihilismus enden. Optiert man für diese Version, dann handelt es sich bei dem zuvor angesprochenen Streit zwischen Jacobi und Hegel um die Stellung der formalen Anschauung gar nicht so sehr um einen Deutungskonflikt inneridealistischer Natur. Bei der Kritik, die Jacobi gegenüber der Vernunftkritik vorbringt, handelt es sich vielmehr, wie Birgit Sandkaulen betont, um einen Konflikt, der »Grundsätzliches« berührt. 48 Es geht um einen die Existenz und die lebendige, personale Zeit des Ichs selbst bedrohenden Widerspruch. Und dieser unheilvolle Widerspruch wird angesichts eines Idealismus virulent, in dem, wie Gunnar Hindrichs es mit Jacobi formuliert, ein Subjekt zu sein heißt, »ein Nichts zu sein, das die Dinge zu nichts macht«. 49 In diesem Sinne aber ist die fundamentale Vernunftkritik, die Jacobi im Namen der Person gegen Kants Lehre von der formalen Anschauung vorbringt, Systemkritik in nuce.

2.3. Jacobis ›Zeit‹-Kritik als Systemkritik Unterscheidet man Jacobis ›Zeit‹-Kritik dahingehend, ob sie das kritische Unternehmen Kants betrifft oder den grundsätzlichen Aufriss einer systemischen Philosophie im Ganzen, so ergibt sich ein breites Spektrum an problematischen Zugängen. Zum einen stellt sich die Frage, ob die kritische Philosophie die Form der Zeit überhaupt in einer ursprünglichen Synthesis widerspruchsfrei zu begründen vermag. Zum anderen aber, und das ist die Kritik, die für Jacobi weit schwerer wiegt, ja den Fluchtpunkt seiner ganzen Vernunftkritik ausmacht, stellt sich die Frage, ob die transzendentale Grundlegung der Zeit, wenn sie denn gelänge, überhaupt dem Begriff dessen gerecht würde, was sie da zu begründen versucht. Die Zeit kann nur gedacht werden als Begriff einer realen Sukzession, eines Davor und Danach,

Sandkaulen 2002, 364. Neben Sandkaulen macht auch Müller-Lauter 1975 geltend, dass sich Jacobis Nihilismus-Vorwurf gegen den transzendentalen Idealismus auf den ganzen Bereich existenzieller Unerträglichkeit erstrecke und nicht bloß methodisch auf das Verfahren einer epistemologischen Destruktion zu beschränken sei. 49 Hindrichs 2006, 121 f. 48

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Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit

einer »würklichen Folge der Dinge«, ein Begriff, der Jacobi zufolge notorisch mit dem »Werden eines Begriffes« (JW 2,1, 50) verwechselt wird und damit überhaupt nicht die konzeptuelle Sprengkraft entfaltet, die er in sich enthält. Was Jacobis Einwand in diesem Zusammenhang genau besagt, wird dann deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass Jacobi – zumindest versuchsweise – annimmt, es könnte tatsächlich so etwas wie eine ›reine Zeit‹ und einen ›reinen Raum‹ geben: eine »reine nicht successive, aller Erfahrung vorhergehende Zeit; jene Zeit, welche die Einheit aller Zeit und ihr Substrat ist« (JW 2,1, 301), ganz im kantischen Sinne. Angenommen also, es gäbe eine reine Zeit und einen reinen Raum nach kantischem Vorbild, die Frage, die sich dann aber umso drastischer stellen würde, wäre, wie ein sich Veränderndes, wie Bewegung überhaupt in die Zeit komme: »So saget denn, wie es zugeht, daß in diesem unbeweglichen unendlichen Meere sich Wellen der Zeit erheben und bilden?« (JW 2,1, 302) Um etwas als real sukzessierend bestimmen zu können, kann das zu Bestimmende nicht selbst zur Funktion der Bestimmung gehören, so muss man Jacobis ozeanische Dialektik zwischen ›unendlichem Meer‹ und ›endlichen Wellen‹ an dieser Stelle verstehen. Das ›unendliche Meer‹ kann die ›endlichen Wellen‹ bloß um den Preis ihrer eigenen Endlichkeit in seinen allumfassenden Begriff aufheben. Im Begriff des Meeres sind die Wellen als Wellen zugleich zunichte gemacht, sie kommen darin als Besonderes nicht mehr vor: »Ich bemerke blos, daß diese Wellen, als etwas der unbeweglichen Natur jenes Meeres Entgegengesetztes, nicht als zugleich mit ihm gegeben denkbar sind« (JW 2,1, 302). Dass die reale Sukzession als Wellenbewegung nicht als zugleich mit der synthetischen Einheit als unbeweglicher Meerestotalität gegeben sein kann, ihr vielmehr unvermittelt gegenübersteht, liegt Jacobi zufolge daran, dass der Begriff der realen Sukzession eine »bestimmende Verendlichung« (JW 2,1, 303) erfordert, eine »Verendlichung«, die vom transzendentalen Begriff einer unendlich sich ausdehnenden Zeit als Substrat aller Zeitbestimmungen von vornherein ausgeschlossen ist. 50 Gegen die Theorie einer reinen, aller Erfahrung vorhergehenden respektive aller Erfahrung subjektiv zugrundeliegenden, kantischen Zeit heißt es bei Jacobi:

50

Vgl. Koch 2013, 76.

60 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Das Zeitproblem des transzendentalen Idealismus

Ja wenn wir es noch dazu versuchten, damit nicht unversucht bliebe, die unendliche leere Zeit durch den unendlichen leeren Raum strömen zu lassen: so kämen uns auch dadurch schlechterdings noch keine Zeiten in die Zeit; noch keine Zeit-bestimmungen, noch kein Mannichfaltiges der Zeit; mit einem Wort, noch gar nichts von allem dem, was ihr mit der Zeit und durch sie a apriori zu besitzen vorgebt. (JW 2,1, 303)

Mit diesem Einwand trifft Jacobi nun aber tatsächlich einen Punkt, der sich, wie Wilhelm Metz sagt, nicht »kantimmanent« auflösen lässt. 51 Ihn aufzulösen, hieße, den höchsten Punkt der Transzendentalphilosophie gleichsam zum ›tiefsten‹ zu machen, bzw. wie Jacobi gesagt hatte, eine »reine Antithesis« zu erklären. Kant hätte Jacobi zufolge zu zeigen, wie das reine Mannigfaltige noch vor jeder Synthesis gegeben sein kann, um im Anschluss von der transzendentalen Einbildungskraft überhaupt synthetisiert werden zu können. Hierbei handelt es sich aber um ein Problem, das mit Blick auf die Endlichkeit des menschlichen Verstandes von Seiten des Kritizismus als Scheinproblem zurückgewiesen werden kann, insofern es als metaphysisches Realitätsproblem ohnehin nicht argumentativ einzuholen ist. 52 Kant räumt dementsprechend in § 21 der Critik der reinen Vernunft auch unumwunden ein, von einer ursprünglich »noch vor der Synthesis des Verstandes, und unabhängig von ihr« gegebenen Mannigfaltigkeit »doch nicht« (KrV, B 145) abstrahieren zu können. Dass uns Mannigfaltiges überhaupt gegeben ist, liege an der »Eigentümlichkeit unseres Verstandes« (KrV, B 145), und zwar diskursiv zu verfahren und nicht intuitiv. Und deshalb handelt es sich, so lässt sich einräumen, bei dem von Jacobi angestoßenen metaphysischen Realitätsproblem auch nicht um ein »Kernproblem« der kritischen Philosophie Kants im engeren Sinne. 53 Wollte man die kantische Philosophie an dieser Stelle verteidigen, müsste man vielmehr sagen, dass in der Zurückweisung dieses Problem ihre eigentliche Pointe besteht: »Denn, wollte ich mir einen Verstand denken, der selbst anschauete […], so würden die Kategorien in Ansehung eines solchen Erkenntnisses gar keine Bedeutung haben« (KrV, B 145). Die Möglichkeit einer »Selbstgebärung unseres Verstandes (samt der Vernunft)« gegen den Skeptizismus Humes zu behaupten, muss für Kant demzufolge auch gar nicht bedeuten, dass der Verstand die Gegenstände seiner Vorstellun51 52 53

Metz 2004, 3. Vgl. Gabriel 2004, 152 f. Pluder 2013, 150.

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Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit

gen selbst hervorbringt. Dies würde die kategoriale Unterscheidung zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit ja gerade wieder aufheben. Es heißt vielmehr, sich von jeder Art der Gegenstandserzeugung zu distanzieren, und damit überhaupt erst dem Begriff eines Gegenstandes Sinn abzugewinnen: »Kurz gesagt: Kants empirischer Realismus besagt, daß wohl die Objektivität des Objekts, nicht aber dieses selbst ein Produkt des Erkenntnisvermögens ist«. 54 Weist man das metaphysische Realitätsproblems nun aber einerseits als Scheinproblem zurück, so kann man andererseits wiederum nicht behaupten, dass das von Jacobi aufgeworfene Problem den Kritizismus nicht doch tangieren würde. Die Frage ist hier nur: in welcher? Weitab davon, dass mit der Anzeige des ›Scheins‹ die Problematik als solche schon verschwinden würde, muss man vielmehr davon ausgehen, dass sie sich nur in einen anderen Kontext verschiebt. In diesem Fall: die transzendentale Dialektik. Das Eingeständnis Kants, vom Mannigfaltigen der Anschauung »doch nicht« abstrahieren zu können, verweist nicht auf ein spezifisch offen gebliebenes Problem der Transzendentalphilosophie, sondern auf die erkenntniskritisch offene Position der Vernunftkritik selbst, die da besagt, dass die menschliche Vernunft das »besondere Schicksal« an sich habe, durch Fragen angegangen zu werden, »die sie selbst nicht abweisen kann; denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft, aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft« (KrV, A VII). Die Geschlossenheit der Erscheinungswelt auf der einen und die Offenheit der Ideenwelt auf der anderen Seite sind für Jacobi Grund genug, das philosophische Modell einer sich selbstbestimmenden Vernunft als solches abzulehnen: Es findet nirgendwo seinen Grund. In Jacobis Augen operiert eine »Philosophie a priori« (JW 2,1, 319) auf einem Gebiet, auf dem sie keine Kompetenzen hat. Hierin liegt auch das Argument, dem philosophischen Idealismus nicht nur eine Tendenz zum existenziellen Nihilismus vorzuwerfen, sondern ihn schlechterdings mit diesem zu identifizieren. Ist eine Philosophie in ihren Fundamenten nämlich Empirismus, »so ist zugleich aller apriorischer Heiligenschein Nihilismus« (JW 2,1, 320). Buchstabiert man Jacobis grundlegende Kritik am bloß scheinhaften Charakter des transzendentalen Idealismus aus, dann lautet der Vorwurf, dass eine Philosophie genau dann »[o]hnmächtig« werden muss, wenn sie 54

Baum 1986, 22.

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Das Zeitproblem des transzendentalen Idealismus

glaubt aus einer »unsinnlichen Hypostasirung der Sinnlichkeit«, einem »unbestimmten Chaos«, eine »begränzte Welt« (JW 2,1, 319) hervorgehen zu lassen, sprich: das »Werden der Dinge selbst« (JW 2,1, 50) doch wieder mit dem »Werden eines Begriffes« zu verwechseln. Alles, so Jacobi, löse sich bei Kant »vor dem Erkenntnißvermögen in ein gehaltloses Einbilden von Einbildungen, objectiv rein in Nichts auf« (JW 3, 89). Während Kant glaubt, allgemeine und notwendige Regeln unserer Erfahrung aufzustellen, sieht Jacobi nur eine »eigenthümliche, zufällige, durch und durch subjective (-sinnliche) Sinnlichkeit« (JW 2,1, 285 f.) walten. Die Sinnlichkeit, so heißt es, gelange zu ihren reinen Formen, »wie mancher zu seinem Amtskleide, ohne zu wissen wie« (JW 2,1, 319). Kants Erklärung, wonach der transzendentale Idealismus ein empirischer Realismus sei, wird durch Jacobi in ihr radikales Gegenteil verkehrt. Allen voran das Ding an sich wirkt auf ihn wie der Rest eines in den Hohlraum des transzendentalen Idealismus eingelassenen transzendentalen Realismus. Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist auch ein Vergleich, den Jacobi bereits in der Epistel über die Kantische Philosophie von 1791 herangezogen hatte. In Analogie zum – zumindest versuchsweise angenommenen – reinen Vermögen der Zeitanschauung heißt es dort über das menschliche Hörvermögen: »Wer das Vermögen zu hören ganz kennte, der könnte alles Wesentliche von der Musik voraussagen, ohne die Erfahrung von wirkliche Tönen und Instrumenten dazu nöthig zu haben; denn in diesem Vermögen hätte er nicht allein die ganze reine Materie, sondern auch die ganze reine Form aller Musik, d. i. alle und jede Musik a priori« (JW 2,1, 127). Jacobi zufolge gibt es zwei Wege aus dem Dilemma heraus: Entweder man tilgt auch die letzten Reste des Realismus und lehrt um den Preis einer systematischen Irrealisierung der Welt den »kräftigsten Idealismus, der je gelehrt worden« (JW 2,1, 112) ist, oder man findet auf dem höchsten Scheitel der Spekulation stehend den elastischen Punkt, von dem auch man durch einen »salto mortale« aus der »transscendentalen Unwissenheit« (JW 2,1, 112) hinauskatapultiert wird. Als fundamental würde sich Jacobis Kritik also nicht in dem Maße erweisen, wie sie versucht, skeptische Einwände gegen die Vernunftkritik Kants vorzubringen. Als fundamental würde sie sich in dem Maße erweisen, wie sie den methodischen Aufriss einer apriorischen Philosophie im Ganzen in Frage stellt und, wie Birgit Sandkaulen herausgestellt hat, jedwede Form erkenntnistheoretischer Erklärung zugunsten einer »instantanen Realitätsgewißheit« prakti63 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit

schen Handelns storniert. 55 Die Stoßrichtung Jacobis vehementer Kritik wäre es dieser Lesart zufolge, die grundlegenden Aporien aufzuzeigen, in die man gerät, wenn man – mit Kant oder Fichte und Schelling nach ihm – am Paradigma einer »Musik a priori« festhält, und die Gewissheit unseres je eigenen Handelns, in diesem – metaphorischen – Fall: des ›Musizierens‹, ignoriert. 56 Eben das ist auch der Grund dafür, dass Jacobi schon in seinen Briefe über die Lehre des Spinoza auf die Frage, ob er wegen seiner Angriffe auf die Vernunftphilosophie ein »vollkommener Skeptiker« geworden wäre, Lessing zur Antwort gibt, er wolle sich bloß aus einer Philosophie zurückziehen, die den »vollkommenen Skepticismus« notwendig mache (JW 1,1, 27 f.). Jacobis Kritik bezieht sich nicht auf ein bestimmtes Vernunftsystem, sei es nun dasjenige Kants, Fichtes oder Schellings, sondern auf alle Vernunftsysteme, insofern der ihnen inhärierende aufklärerische Rationalismus dazu tendiert, die irreduzible Wirklichkeit menschlicher Freiheit unter das Verdikt der Allgemeinheit und Notwendigkeit zu stellen, und damit letztlich die Realität des Menschen als eines freies, personales Wesen zu leugnen. Jacobis Einwand lautet, dass in allen Systemen kein Platz sei für ein Handeln unter Maßgabe der Freiheit. 57 Hinter der sachlichen Differenz zwischen Jacobi und Kant kommt eine methodologische Differenz zum Vorschein, die den Aufriss sysSandkaulen 2007, 197. Zur handlungstheoretischen Interpretation der radikalen Vernunftkritik Jacobis vgl. auch Sandkaulen 2000, 133–169. Des Weiteren vgl. Jaeschke 2004; Jonkers 2012; Koch 2013. 56 Im Anschluss an Sandkaulen 2000 hat auch Oliver Koch versucht, Jacobis ›Unphilosophie‹ als ›alternative handlungstheoretische Metaphysik‹ zu rekonstruieren: vgl. Koch 2013. Koch führt zur Unterstützung seiner Interpretation unter anderem ein Zitat aus Jacobis Dialog David Hume an, wo es von Seiten des ›Ich‹-Parts ganz im Sinne des Zusammenspiels von perceptio und appetitio bei Leibniz heißt: »Die dunkelste Empfindung aber drückt schon ein Verhältniß aus. Und so muß man nicht allein von den Erkenntnissen, die a priori heissen, sondern überhaupt von aller Erkenntnis sagen, daß sie nicht durch die Sinne gegeben, sondern allein durch das lebendige und thätige Vermögen der Seele bewürkt werden könne« (JW 2,1, 91). 57 Es handelt sich hierbei um ein Problem, das Friedrich Schlegel in seiner Rezension der vornehmlich gegen Schelling gerichteten Schrift Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung von Jacobi später einmal als den »Erbfehler« (KFSA 8, 441) der spekulativen Vernunft bezeichnet hat. Dieser »Erbfehler« bestehe darin, die Vernunft ausschließlich in sich selbst zu begründen zu wollen: »Die Vernunft an und für sich bringt es nicht weiter als bis zu einem leblosen Es, dem Ist des Verfassers […], oder dem ewig sich selbst wiederholenden Ich bin Ich. Kein wahrhaftes Du, wie der Verfasser es sucht, kann sie ohne andere Hilfe jemals zustande bringen« (KFSA 8, 450 f.). 55

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Das Zeitproblem des transzendentalen Idealismus

temischer Philosophie im Ganzen betrifft. Jacobi untergräbt die Fundamente der Vernunftkritik in einer Weise, dass jeder Ansatz zur Verteidigung von vornherein zum Scheitern verurteilt ist, weil theoretisch nicht einzuholen ist, was doch nur praktisch ins Werk gesetzt werden kann. Mit anderen Worten: Die Frage nach dem Grund der Realität der Erscheinungen, die Jacobi dem transzendentalen Idealismus in Rechnung stellt, muss sich für diesen immer schon als eine unbeantwortbare, weil nur über die Praxis unseres ursächlichen Handelns aufzulösende Frage herausstellen. Das macht Jacobis Vernunftkritik nicht weniger triftig, zeigt allerdings, dass sich diejenige Kritik, die sich »kantimmanent« nicht auflösen lässt, auch gar nicht in erster Linie gegen Kant selbst richtet, sondern sich in einem sehr viel grundlegenderen Sinne gegen eine Form des Philosophierens überhaupt ausspricht, und zwar gegen die einer Philosophie vor und unabhängig von aller Erfahrung. Die Bewertung von Jacobis Vernunftkritik muss deshalb geradezu umgekehrt ausfallen im Vergleich zu derjenigen, die Wilhelm Metz vorgebracht hatte. Der Ansatz muss lauten: Gerade weil Jacobis Kritik sich »kantimmanent« nicht auflösen lässt, berührt sie einen neuralgischen Punkt derselben. Sie bezieht eine Position, die im toten Winkel des transzendentalen Idealismus liegt, insofern Realität hier den Status eines auf der Seite des Subjekts praktisch-handelnden, auf der Seite des Objekts aber zugleich theoretisch nicht einholbaren, eines notwendig unbegreiflich bleibenden Selbst- und Weltverhältnisses bekommt. 58 Erklärt man sich mit dieser Lesart einverstanden, muss man auch zu dem Schluss gelangen, dass es in letzter Instanz gar nicht so sehr die Vernunftkritik Kants ist, der Jacobi seine ›Unphilosophie‹ als radikale Alternative gegenüberstellt, sondern vielmehr und im eigentlichen Sinne die Metaphysik Spinozas. Nur aus diesem Grund kann Jacobi seinem Widersacher Lessing in den Spinozabriefen ja auch zugestehen, dass die Philosophie Spinozas ihrem Inhalt und ihrer Form zufolge die einzig mögliche – weil konsequent zu Ende gedachte – Philosophie sei: »Es giebt keine andre Philosophie, als die Philosophie des Spinoza« (JW 1,1, 18), so lässt Jacobi seinen Lessing im Gespräch

Vgl. dazu Koch 2013, 122: »Worauf es Jacobi unphilosophisch also ankommt, ist […] die Gleichheit und Instantaneität der zwei dem ›natürlichen Menschen‹ gegebene Gewißheiten zu bewahren, die Systemphilosophien im Versuch, sie noch auseinander zu begründen, auf nur eine reduzieren: der Gewissheit ›ich bin, und es sind Dinge außer mir‹«. Vgl. dazu auch Zöller 1998, 21.

58

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Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit

mit ihm Position beziehen. Dementsprechend gibt Jacobi auf Lessings daraufhin folgende Frage, was denn nun seiner Meinung nach der »Geist des Spinozismus« sei, der Gedanke, »der in Spinoza selbst gefahren [wäre]«, auch ohne Zögern zur Antwort: »Das ist wohl kein anderer gewesen, als das Uralte: a nihilo nihil fit; welches Spinoza, nach abgezogenen Begriffen, als die philosophirenden Cabbalisten und andre vor ihm, in Betrachtung zog« (JW 1,1, 18). Alle Vernunftsysteme, sind sie nur konsequent gedacht, gehen Jacobi zufolge von diesem Grundsatz aus. Alle Vernunftsysteme münden demzufolge auch im Spinozismus, stellen nur verschiedene Variationen desselben dar. Seine eigene Philosophie muss ihm dagegen als ›Unphilosophie‹ gelten, weil sie sich nicht auf diesen Grundsatz beruft, sondern stattdessen im Namen der Person auf die unmittelbare Realitätsgewissheit des Handelns vertraut, auf diejenige Sphäre des menschlichen Daseins, die nach seinen eigenen Worten »nicht allein keiner Gründe bedarf, sondern schlechterdings alle Gründe ausschließt« (JW 1,1 115). Jacobi katapultiert sich gewissermaßen aus dem Immanenzzusammenhang der Vernunft hinaus, indem er eine andere Logik als die des Grundes geltend macht, und zwar die Logik des ursächlichen Handelns. Er bricht mit der systemischen Direktive, nach der allein in der Vernunft »alle Wahrheiten wie in einer Nuß eingeschlossen liegen sollen« (KFSA 8, 457).

2.4. Im ›Hohlraum‹ der transzendentalen Zeitanschauung Wie tiefgreifend Jacobis über die ›Zeit‹-Kritik vermittelte Systemkritik ausfällt, lässt sich daran erkennen, dass die im Grunde gegen Kant und dessen Theorem der formalen Anschauung vorgebrachten Einwände noch Schellings Zeitbegriff im System des transscendentalen Idealismus seiner immanenten Widersprüche überführen. Entscheidend für Schellings Zeitkonzeption ist nämlich gerade die von Jacobi kritisierte methodische Aufhebung der Zeit in der Zeit, die ihr konzeptionelles Pendant bei Kant in der Linienanalogie findet. Jacobis Vorbehalte gegen einen ›apriorischen Heiligenschein‹ treffen diesen nicht weniger als jenen: Mögen die Dinge auch in der Zeit sein, so sind sie doch selbst ohne alle Zeit. Wie treffend dementsprechend Jacobis am Problem der Zeit ansetzende Systemkritik ausfällt, soll im Folgenden auch noch einmal an der Zeitkonzeption von Schellings System des transscendentalen Idealismus in aller Kürze entfaltet werden. 66 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Das Zeitproblem des transzendentalen Idealismus

Schelling bestimmt den Begriff der sukzessierenden Zeit in der Systemschrift als die »Entwicklung einer absoluten Synthesis«: »Die Successionsreihe ist, wie wir wissen, nichts anders, als die Evolution der ursprünglichen und absoluten Synthesis; was also in jener Reihe vorkommt, ist durch jene schon zum voraus bestimmt« (AA I,9,1, 182). In dem Maße, wie nun aber dasjenige, was uns in der Sukzessionsreihe erscheint »schon zum voraus« durch eine »absolute Synthesis« bestimmt ist, jene »absolute Synthesis« aber wiederum eine Handlung sein muss, die, wie Schelling sagt, »außer aller Zeit geschieht«, ›schrumpft‹ die zeitliche Gegenwart der Sukzessionsreihe auf einen »absolute[n] Punct« zusammen. Ein »absoluter Anfang« der Zeit soll zwar in der Zeit gesetzt werden können, gesetzt werden kann er nach Schelling aber nur von einem außerhalb aller Zeit liegenden Punkt: »Insofern kann man sagen, daß jede Intelligenz, nur nicht für sich selbst, sondern objektiv angesehen, ein absoluter Anfang in der Zeit ist, ein absoluter Punkt, der in die zeitlose Unendlichkeit gleichsam hingeworfen und gesetzt wird« (AA I,9,1, 183). Der von Schelling an den Anfang der Zeit gesetzte Widerspruch besteht also darin, dass mit ein und demselben Akt der absoluten Synthesis die Zeit als solche und ein bestimmter Punkt in der Zeit gesetzt werden sollen, dieser bestimmte Punkt in der Zeit damit aber wiederum in spekulativer Hinsicht unabhängig von der Zeit wäre. Mit anderen Worten: Solange der Begriff der Sukzession aus einer ursprünglichen beziehungsweise absoluten Synthesis erklärt wird, kann die reale Sukzession nur die äußere Erscheinung einer Identität sein, die selbst außerhalb aller Zeit steht. Die Zeit ist deshalb, wie Schelling sagt, nur der »Grenzpunkt zwischen der absoluten, ihrer selbst als solchen unbewußten, und der bewußten Intelligenz«. Ist die Zeit aber nur »Grenzpunkt« zwischen Absolutem und Endlichen, so muss sich aus Sicht Jacobis wiederum die Frage aufdrängen, wie von dieser Grenze aus überhaupt die reale Sukzession zu bestimmen wäre. Ist die bestimmte Sukzession der Zeit bereits idealiter in der absoluten Synthesis enthalten, dann muss sie sich – und hier setzt Jacobis fundamentale ›Zeit‹-Kritik im Namen der Person ein weiteres Mal ein – als diese eine bestimmte Sukzession am Ende wieder auflösen. Auch hier könnte man mit Jacobi also wieder fragen, wie die Zeit überhaupt in die Zeit kommt, und ob nach der transzendentalen Bestimmung der »Intelligenz« als eines »absolute[n] Anfang[s] in der Zeit« von dieser nach der Seite der Sinnlichkeit hin betrachtet mehr 67 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit

übrig bleibt als das Empfindungsvermögen einer »Auster« (JW 2,1, 268). 59 Das Ich als absoluter Punkt ist kein anderer ›Punkt‹ als derjenige, von dem schon Kant gesagt hatte, dass er die Grenze bilde, von der aus die Einbildungskraft das Mannigfaltige synthesiere und dergestalt die Zeit hervorbringe. 60 Schelling bezeichnet diesen »absolute [n] Punct« nun als dasjenige, was er für den transzendentalen Idealismus in der Tat ist und dessen Struktur nach auch nur sein kann, als das »Sinnbild der Zeit«: »Denn die Zeit an und für sich gedacht ist nur die absolute Grenze, daher die Synthesis der Zeit mit dem Raum […] nur durch die Linie oder durch den expandierten Punkt ausgedrückt werden kann« (AA I,9,1, 166). Schelling überspringt das Moment der Antithesis geradezu, indem er die Zeit als Evolution einer absoluten Synthesis begreift, die qua Raum nur als »gegenwärtige Zeit« (AA I,9,1 167) fixiert wird, und durch die Unendlichkeit ihrer Produktion als Folge von Objekt zu Objekt erscheint, ungeachtet ihrer intensiven Größen. Der sukzessive Übergang von Vorstellung zu Vorstellung ist durch die absolute Synthesis scheinbar immer schon vollzogen. Ungeklärt bleibt damit aber, warum das absolute Ich überhaupt aus sich herausgeht, warum es sich im Medium endlicher Vorstellungen selbst begründen muss. Zur Erklärung führt Schelling lediglich an, dass sich das Ich »im ersten Moment seines Bewußtseyns schon in einer Gegenwart begriffen« (AA I,9,1, 164) findet, nicht aber woher diese Gegenwart kommt. Gegenwärtig ist uns die Gegenwart, so Schelling, im Modus eines »Selbstgefühls«, eines mentalen ZuDas ganze Zitat ist zu polemisch, um es hier unerwähnt zu lassen: »Wenn unsere Sinne uns gar nichts von den Beschaffenheiten der Dinge lehren; nichts von ihren gegenseitigen Verhältnissen und Beziehungen; ja nicht einmal, daß sie ausser uns (im transcendentalen Verstande) würklich vorhanden sind: und wenn unser Versand sich blos auf eine solche gar nichts von den Dingen selbst darstellende, objektiv platterdings leere Sinnlichkeit bezieht, um durchaus subjectiven Anschauungen, nach durchaus subjectiven Regeln, durchaus subjective Formen zu verschaffen: so weiß ich nicht, was ich an einer solchen Sinnlichkeit und einem solchen Versande habe, als daß ich damit lebe; aber im Grunde nicht anders wie eine Auster damit lebe«. 60 Dafür spricht schon, dass Schelling dem Vermögen der Einbildungskraft von seinen frühesten Schriften an einen hohen Stellenwert als verbindendes Mittelglied zwischen theoretischer und praktischer Vernunft zumisst: »Man darf hoffen, daß die Zeit, die Mutter jeder Entwicklung, auch jene Keime, welche Kant in seinem unsterblichen Werke, zu großen Aufschlüssen über dieses wunderbare Vermögen, niederlegte, pflegen und selbst bis zur Vollendung der ganzen Wissenschaft entwickeln werde« (AA I,3, 102 f.). 59

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Das Zeitproblem des transzendentalen Idealismus

stands, in dem das Ich sich in einen Bewusstseinsmoment zurückgetrieben fühlt, »in den es nicht zurückkehren kann« (AA I,9,1, 163). Genau dies ist der blinde Fleck, den auch Schelling in seiner Konzeption erkennt, um den Preis der Vernunftimmanenz aber nicht erhellen kann und darf. Von einem Vernunftwesen, so sagt er, könne man »an sich so wenig sagen, es habe angefangen zu seyn, als man sagen kann, es habe seit aller Zeit existirt, das Ich als Ich ist absolut ewig, d. h. außer aller Zeit« (AA I,9,1, 88). Gesetzt aber den Fall, dass das Ich, wie hier gesagt wird, »absolut ewig« ist, stellt sich umso mehr die Frage, wie die Sukzession überhaupt in die Zeit gekommen, das Ich sich seiner selbst bewusst geworden ist. Hierauf aber lautet Schellings Antwort, und sie führt direkt in die von Jacobi bereits bei Kant markierte Aporie des Anfangs hinein, ja ist im Grunde nichts als diese Aporie: »Warum das Ich sich seiner ursprünglich bewußt werden müße, ist nicht weiter zu erklären, denn es ist nichts anderes, als Selbstbewußtseyn« (AA I,9,1, 83). 61 So verstanden ist das Problem der ursprünglichen Synthesis bei Kant und Schelling, in genau demselben Maße vorhanden, auch wenn es auf ganz unterschiedlichen Ebenen verhandelt wird: In beiden Fällen verweist die Funktion der Synthesis auf eine überzeitliche Einheit, die immer schon im Hintergrund jeder Form der sukzessiven Reihe steht. Jede Verzeitlichungsleistung der Einbildungskraft ist an ihre Entzeitlichungsfähigkeit gebunden. Schelling verschiebt das Problem – strategisch gesehen – nur auf eine höhere Ebene. Nicht die transzendentale Grundlegung objektiver Zeiterfahrung steht im Zentrum seiner theoretischer Anstrengungen, sondern der Erweis einer freien Handlung, die die Entgegensetzung von Unendlichem und Endlichem von jeher praktisch übergreift. Aus den Briefen von 1795 ist bekannt, dass die kantische Frage, wie synthetische Urteile möglich seien, vom frühen Schelling umformuliert wird zu der Frage: Derselbe strategischen Zug lässt auch in Fichtes Wissenschaftslehre beobachten. Auch seine Version des transzendentalen Idealismus beruht auf der zentralen Annahme eines unhintergehbaren selbstbewussten Ichs. Aus diesem Grund verwirft auch er wie Schelling die allzu leidige Frage: »Was war ich wohl, ehe ich zum Selbstbewußtseyn kam?«. Seine Antwort auf die Frage nach dem allerersten Anfang lautet: »Man kann gar nichts denken, ohne sein Ich, als sich seiner selbst bewusst, mit hinzu zu denken; man kann von seinem Selbstbewußtseyn nie abstrahieren: mithin sind alle Fragen von der obigen Art nicht zu beanworten; denn sie sind, wenn man sich selbst wohl versteht, nicht aufzuwerfen« (GA I,2, 260). Man muss nicht eigens betonen, dass Fichte sich damit dieselben Probleme, mithin Aporien einhandelt wie Schelling.

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Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit

»Wie komme ich überhaupt dazu, aus dem Absoluten heraus, und auf ein Entgegengesetztes zu gehen« (AA I,3, 60). Die Ausgangslage ist – auch wenn Schelling anderes behauptet – zunächst nicht vergleichbar; am Grundproblem transzendentaler Zeitanschauung ändert dies nichts. Vielmehr stellt sich die Frage nach dem Absoluten und seiner Realität im System des transscendentalen Idealismus unter verschärften Bedingungen, weil hier das »Ich selbst« die Zeit ist, und zwar »in Thätigkeit gedacht« (AA I,9,1, 164). Schelling abstrahiert – im Gegensatz zu Kant – noch einmal von allen räumlichen Bestimmungen und fasst die »reine Zeit« spekulativ in ihrer »völligen Unabhängigkeit vom Raum« auf. Damit aber werden alle Phänomene der äußeren Anschauung, mithin alle Stadien und Epochen der sogenannten Geschichte des Selbstbewusstseins zu verschiedenen Reihen eines sich sukzessiv evolvierenden, ewigen Prinzips. Die Frage, die sich hierbei stellt, ist freilich, wie unter diesen Bedingungen das »Ruhende, Permanente« (AA I,7, 82) – kurz: das Beharrliche im Wechsel – überhaupt noch zu erklären ist. Es ist dies eine Frage, die Schelling schon in seinen naturphilosophischen Schriften als das »Hauptproblem« jeden Naturphilosophie benannt hatte: »Die Naturphilosophie hat nicht das Produktive der Natur zu erklären […]. Zu erklären hat sie das Permanente« (SW III, 289). Und eben hier liegt der bereits angesprochene ›Hohlraum‹ der transzendentalen Zeitanschauung, denn dieser Hohlraum wird – ähnlich dem einer Welle – einerseits von ihr erzeugt und mitgetragen, ohne dass die dabei entstehende Bewegung andererseits jemals – gleich einer Welle, die sich eigentlich im Brechen vollendet – kollabieren würde. Das Problem des Permanenten, das Problem von Anfang und Ende, wird durch die im System des transscendentalen Idealismus instanziierte absolute Synthesis also tatsächlich nur auf eine höhere Ebene verschoben, anstatt in seiner aporetischen Struktur von Schelling erkannt. Und gerade weil auch Hegel in Glauben und Wissen die Idee einer absoluten Synthesis gegen Jacobis ›Ketzereien‹ verteidigt, wie zu Anfang des zweiten Kapitels gezeigt wurde, lässt sich notieren, dass überhaupt erst mit Schellings Weltalter-Fragmenten ein Problembewusstsein für Jacobis Einwand und das Zeitproblem des transzendentalen Idealismus entsteht. 62 Die Weltalter kann man geradezu als Versuch verstehen, sich aus der von Jacobi markierten Aporie apriorischer Zeitbestimmung zu befreien. 62

Vgl. dazu Sandkaulen 2000, 144.

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Das Zeitproblem des transzendentalen Idealismus

Mit diesem Versuch, den Schelling in den Weltalter-Fragmenten unternimmt, ist nun auch im Nachdenken über die Zeit in der nachkantischen Philosophie ein systematischer Wendepunkt erreicht. Das Anliegen, das Schelling mit seiner ›Genealogie der Zeit‹ verfolgt, besteht darin, so lässt sich nun sagen, den ›Anfang der Zeit‹ von einem Standpunkt diesseits der absoluten Synthesis zu gewinnen. Schelling vertraut sich der handlungstheoretischen Einsicht Jacobis an, dass diejenige Philosophie, welche die Dinge in bloße Abhängigkeit zum denkenden Subjekt bringt, diese und damit sich selbst unter das Vorzeichen einer schlussendlich ganz und gar entzeitlichten Einheit stellt. Von einer handlungstheoretischen Offenlegung des Realen zu sprechen, bedeutet hingegen, die Zeit in ständiger Beziehung zur geschichtlichen Praxis des Einzelnen zu denken. Zeit befindet sich von jeher im Übergang zu Geschichte. Im bloßen Wechsel der Zeiten regrediert Geschichte hingegen. Dass Schelling über seiner Auseinandersetzung mit Kant und Jacobi zu dieser Einsicht gelangt sein muss, lässt sich in den Weltaltern zeigen. Dafür spricht nicht nur die Bekräftigung, dass sich, wie Schelling sagt, nie eine »verständliche Entwicklung der Wissenschaft« wird denken lassen ohne die »Feststellung« (WA, 224) des Begriffs der Zeit – kein Begriff liege seit so einer langen Zeit in solcher Geringschätzung wie dieser: »u. es liegt der Grund des allgemeinen Mißverstehens aber in nichts anderem als in den ungewissen schwankenden oder völlig irrigen Begriffen von der Zeit. Auch die Wissenschaft kann die freye Bewegung nicht wieder finden, ehe die Pulse der Zeit wieder lebendig schlagen« (WA, 224). Vielmehr gibt Schelling sogar exakt das Problem an, das es in Bezug auf die Frage nach der Realität nun zu klären gilt: Nun entsteht eben hier das große Räthsel aller Zeiten, wie doch etwas ausgehen könne, von dem, was weder nach außen wirkend, noch auch in sich selber etwas ist. Und dennoch ist das Leben nicht bey jener Unbeweglichkeit geblieben und die Zeit ist so gewiß, als die Ewigkeit, ja dem gewöhnlichen Blick ist diese sogar verdrungen vor jener; eine Welt voll Bewegung, voll Widerstreit und Anstrengung aller Kräfte scheint an die Stelle getreten, wo zuvor die höchste Gleichgültigkeit, die ewige Ruhe und Allgenügsamkeit wohnte. (WA II, 51)

Inzwischen sollte es nicht mehr überraschen, dass das »große Räthsel aller Zeiten« mit dem von Jacobi beschriebenen Problem des Anfangs der Zeit übereinstimmt. Zur Debatte steht, wie die Zeit überhaupt in die Zeit kommt, worin der Ursprung des Realen liegt, wenn die Zeit

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Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit

in Wirklichkeit »so gewiß« sein soll wie die Ewigkeit selbst, und ob eine Antwort auf diese Frage im strengen Sinne überhaupt denkbar ist, oder ob sie nicht vielmehr im Medium der geschichtlichen Praxis immer wieder gegeben werden müsste.

3. Übergang zum ›historischen Idealismus‹ 3.1 Das metaphysische Problem des Anfangs Nachdem Jacobis Vernunft- und ›Zeit‹-Kritik rekonstruiert wurde, ist es möglich geworden, die Fragestellung von Schellings ›Genealogie der Zeit‹ aus dem Problemhorizont der kantischen Zeitlehre heraus zu entwickeln. Kant hatte gezeigt, dass die Zeit, um Anschauungsform sein zu können, auf derselben synthetischen Einheit beruhen muss, aus der auch die reinen Verstandesbegriffe entspringen. Jacobi hatte in Reaktion darauf auf der einen Seite kritisiert, dass Raum und Zeit durch eine ursprüngliche Synthesis vergegenständlicht würden, obwohl sie nur Formen der Anschauung seien, und auf der anderen Seite – weit schwerwiegender – vermerkt, dass ein transzendentaler Idealismus, der trotz dieses Widerspruchs daran festhält, ein empirischer Realismus zu sein, auf einem Gebiet operiert, auf dem er schlechterdings keine Kompetenzen besitzt. Jacobis ›Zeit‹-Kritik zielt auf den systematischen Aufriss einer apriorischen Philosophie im Ganzen, der als einziger Ausweg der Weg in den spekulativen Egoismus bleibt. Nicht allein wie synthetische Urteile a priori möglich sind, verlangt Jacobi im nachkantischen Systemdiskurs zu wissen, sondern wie sie überhaupt möglich sein können. Dass sie möglich sein sollen, diese Prämisse versucht Jacobi gerade als zeittheoretische Aporie und unablässige Selbsttäuschung des systemischen Philosophierens aufzudecken. Der Bezug auf Zeitliches, den das synthetische Urteil a priori vorgibt zu haben, kann bestenfalls ein Abglanz der realen Zeitlichkeit der lebendigen, sich entwickelnden Individuen sein. Die Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori wird so verstanden von Jacobi auf die Frage nach der Genese ihrer Möglichkeit hin überschritten und zugleich in eine Aporie überführt: Der Anfang muss, kann aber nicht gedacht werden. Also bleibt nur der Weg, sich aus der Sphäre der zeitlichen Gegenwart zurückzuziehen und die Welt dem Gang der metaphysischen Notwendigkeit zu überlassen. Im Anschluss an Spinozas Grundgedanken, dass eine Phi72 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Übergang zum ›historischen Idealismus‹

losophie, will sie nur konsequent sein, ›more geometrico‹ zu verfahren habe, insistiert Jacobi einerseits auf dieser Forderung, andererseits desavouiert er sie im selben Zug: Er treibt die idealistische Philosophie von innen heraus an einen Punkt, an dem dieser im Grunde nichts übrigbleibt, als sich das ›Nichtwissen‹ ein für alle Mal einzugestehen. 63 Scharf fällt dementsprechend die Kritik aus, die sich am Kritizismus Kants entzündet, mühelos aber auch auf andere Positionen der nachkantischen Philosophie übertragbar ist, nicht zuletzt deshalb, weil Jacobi, denkt man hier nur an Schelling, selbst Impulsgeber so vieler Positionswechsel gewesen ist, wenn auch auf oft widersinnige, die eigentliche Stoßrichtung seiner Kritik torpedierende Weise. Ob und in welcher Hinsicht sich an dieser Grundkonstellation zwischen Metaphysik und Metaphysikkritik etwas durch den Neuansatz Schellings in den Weltalter-Fragmenten ändert, wird im zweiten Teil der Arbeit genauer zu prüfen sein. Wollte die vorliegende Studie in ihrem ersten Teil das Problem aufdecken, auf das die ›Genealogie der Zeit‹ Schellings versucht, eine Antwort zu sein, so kann jetzt als ein erstes Ergebnis festgehalten werden: Das Problem, auf das die ›Genealogie der Zeit‹ als Erzählung der Zeit- und Weltentstehung versucht eine Antwort zu sein, ist das durch Jacobi in kritischer Auseinandersetzung mit den Grundlagen des transzendentalen Idealismus Kants formulierte metaphysische Problem des Anfangs der Zeit und die damit verbundene Problematik des existenziellen Nihilismus. Denn soviel lässt sich an dieser Stelle schon vorausschicken: Schelling ringt in seiner Weltalterphilosophie förmlich um das Problem des Anfangs. Dabei geht er zunächst vom gleichen Problembefund aus wie Jacobi: Ein Anfang der Zeit ist undenkbar, solange man versucht, die Zeit aus einem absoluten Anfang, einer ursprünglichen Synthesis zu ›erzeugen‹. Mit anderen Worten: Die Frage nach der Realität der Zeit bleibt auch für Schelling so lange ungeklärt, wie Realität allein im systemphilosophischen Vernunftzusammenhang verstanden wird. 64 Im Gegensatz zu Jacobi nimmt Schelling nun aber die Aporie einer transzendentalen Grundlegung der Zeit nicht zum Anlass, ein zur Vernunftkritik radikal gegenläufiges Modell zu formulieren. Schelling unternimmt nicht den Versuch, das Mannigfaltige der Anschauung bei Kant für ›nichtig‹ zu erklären, wie es in Jacobis Kritik der Fall ist. Er versucht vielmehr, 63 64

Vgl. Bubner 1995, 49. Vgl. Schmidt-Biggemann 1998, 711.

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Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit

die kantische Vorstellungsart der Zeit auf einen spezifischen Geltungsbereich, den der Mess- und Vergleichbarkeit, einzuschränken und damit den Fokus auf eine geschichtliche Pluralität verschiedener Zeiten und Zeitordnungen zu lenken. In dem Maße, wie die Zeit nicht schon von Ewigkeit her ist, sondern der geschichtliche Umgang mit ihr tatsächlich immer wieder neue Formen hervortreibt und aufkündigt, kehrt Schelling die Blickrichtung gleichsam um: Gefragt wird nicht nach einem absoluten Anfang in der Zeit, sondern nach einem Anfang, der sich bereits vor aller Zeit in der Ewigkeit selbst ereignet hat und seitdem nicht aufhören kann, sich immer noch zu ereignen. 65 Ein neuerlicher Anlauf, der sich in den Weltaltern thematisch durch eine Hinwendung zur geschichtlichen Vorzeit, dem Mythos, zu erkennen gibt und darstellungstheoretisch zu einer Anverwandlung theogoner Erzählstrukturen führt: Der Anfang ist unvordenklich. Die Frage, die Schelling in den Weltaltern zu beantworten sucht, ist die folgende: Wie kann das überzeitlich zu denkende Prinzip einer Philosophie als Wissenschaft mit der Zeitlichkeit der durch sie bestimmbaren Objektwelt übereinstimmen, ohne die besonderen Objekte als besondere Objekte wieder in seinem Begriff dialektisch zur Aufhebung zu bringen. Bezogen auf die eingangs zitierte Kritik an Kants Zeitauffassung: Wie kann die Zeit eine den Dingen »eigne«, ihnen »inwohnende Zeit« sein, sodass nicht »jeder Anfang der Zeit eine schon gewesene voraussetzt« (WA I, 136), wodurch gerade die Zeit, im objektiven Bezug der Vorstellungen untereinander, wieder verlorenginge. Schelling verschiebt so verstanden den Akzent vom Konstitutionsproblem der Zeit auf das Entstehungsproblem der Zeit. Nicht von ungefähr ist in den Weltaltern auch von einem »Zeit-Erzeugungs-Prozeß« (WA I, 80) die Rede. Schelling verschärft das Realitätsproblem der Zeit dadurch zusehends. 66 Hatte Kant noch danach gefragt, ob und auf welche Weise Zeit in Abhängigkeit von unserem Bewusstsein objektive Realität für sich beanspruchen kann und damit die erste ›Umkehr der Denkart‹ eingeleitet, fragt Schelling danach, auf welche Weise unser Bewusstsein geschichtlich überhaupt zu einem Zeitlichen geworden ist und noch in jedem Augenblick dazu wird. Im Gegensatz zum transzendentalen Ansatz der kritischen PhiVgl. Gabriel 2013. In analoger Weise spricht Hühn 1998, 65, in Bezug auf das Freiheitsproblem, das sich für Schelling seit der Freiheitsschrift auch vom Problem des Bösen aus stellt, von einer »erzeugungstheoretische[n] Verschärfung« der kritischen Philosophie Kants.

65 66

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Übergang zum ›historischen Idealismus‹

losophie geht es, wie Susanna Kahlefeld festhält, »nicht mehr darum die erscheinende Wirklichkeit zu ›durchschauen‹, sondern sie genetisch zu begreifen«. 67 Endliche Subjektivität ist für Schelling ihrem Wesen nach bedingt: bedingt durch die Zeit und die Dinge, die sie gleichsam mit der Zeit zusammen hervorbringt: »Das wahre Subject des Menschen ist das Subject der Bewegung und Erzeugung der Dinge und das Spiel davon ist in seinem materiellen Bewußtsein« (Schelling 1827/28, 66). Endliche Subjektivität setzt ihr eigenes Gewordensein voraus, das ihr als unvordenkliches Fundament geschichtlich im Rücken liegt. Im Unterschied zur Transzendentalphilosophie kantischer und fichtescher Provenienz will Schelling, mit anderen Worten, den »von diesen jeweils als unhintergehbar beanspruchten, für alles weitere angeblich fundamentalen Ausgangspunkt alles Wissen- und Erkennenkönnens, aber auch allen sinnvoll und frei Handelnkönnens, noch einmal genetisieren«. 68 Hieß es im System des transscendentalen Idealismus noch, das Selbstbewusstsein sei der »lichte Punkt im ganzen System des Wissens, der aber nur vorwärts, nicht rückwärts leuchtet« (AA I,9,1, 47), so ließe sich in Anlehnung an diese metaphorische Explikation die Verschiebung des Zeitproblems in den Weltaltern auf folgende Weise eintragen: Wenn das Selbstbewusstsein Schelling zufolge der »lichte Punkt« im System ist, der nur »vorwärts« leuchtet, dann gilt es unter genealogischen Aspekten die Spur des Kometenschweifs zu erhellen, den dieser beständig hinter sich herzieht. Und diese Spur führt – so paradox es klingen mag – über die Vergangenheit in die Zukunft hinein; sie versteht sich von dorther. Das Gewordensein der Subjekte liegt ihnen als Immer-noch-Werden voraus. Mit Blick auf Jacobi heißt das aber, dass Schelling nach der »ureigenste[n] Voraussetzung« fragt, die den aus seiner Sicht »abstrakten Dualismus« von Glauben und Wissen bei Jacobi trägt. 69 Ein Dualismus, von dem Jacobi sagt, dass seine ganze Vernunftkritik darauf beruht. 70 Ein Dualismus, der Schelling zufolge aber die Frage nach dem ›wirklichen‹, dem geschichtlichen Anfang bereits im Keim erKahlefeld 1998, 100. Franz 2010, 38. 69 Hühn 1998, 64 f. 70 Vgl. dazu F. H. Jacobi an J. F. Fries, 17. November 1810: »Alles beruht bei mir auf dem unbegreiflichen Dualismus des Natürlichen und Uebernatürlichen, des Erschaffenden und Erschaffenen, der Freiheit und Nothwendigkeit« (abgedruckt in: Henke 1867, 317 f.). 67 68

75 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

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stickt. Hatte Jacobi den gesamten kritischen wie nachkantischen Idealismus unter das Verdikt des existenziellen Nihilismus gestellt, verwirft Schelling nur eine bestimmte Spielart desselben, und zwar den des ›umgekehrten‹ Spinozismus. Prinzipiell hält er am systemischen Idealismus fest, einem Idealismus, den er nun allerdings mehr denn je als einen ›wirklichen‹, sich in der und durch die Geschichte hindurch sich entfaltenden Ideal-Realismus verstanden wissen will und nicht mehr als bloße Identitätsphilosophie nach spinozanischem Vorbild. 71 Schelling versucht damit einmal mehr, wie Thomas Buchheim schon in Bezug auf die Freiheitsschrift herausgestellt hat, »mit von Jacobi verworfenen Mitteln das von Jacobi gestellte höchste Ziel, dessen die Vernunft aber – nach Jacobi – nur in ›Ahnung‹, ›Gefühl‹ und ›Glauben‹ gewiß sein könne, auf nachvollziehbare Weise in Begriffen [zu] realisieren«. 72 Das Problem des Anfangs, das es zu lösen gilt, und das von Jacobi als ein Problem beschrieben worden war, das »überhaupt nicht gelöst werden kann«, um dieses Problem kreist im Grunde noch Schellings gesamte Spätphilosophie. Noch im System der Weltalter kommt Schellings auf sein ambivalente Verhältnis zu Jacobi und dessen ›Unphilosophie‹ zu sprechen. Einerseits sei Jacobi der »geschichtlichen Philosophie« am nächsten gewesen, andererseits habe er sich dabei nur auf das »individuelle Gefühl« verlassen: Die Glaubensphilosophie Jacobis »gab das Gebiet des Wißens ganz auf und brach somit das Band zwischen der Welt des Glaubens und Wißens« (Schelling 1827/28, 59). Ein Blick auf die Problemkontinuitäten und -diskontinuitäten kann zuletzt auch noch einmal die Radikalität des methodischen Neuanfangs der Weltalter akzentuieren helfen.

3.2. Der Neueinsatz der Weltalterlehre: Problem(dis-kontinuitäten) Schellings Vorliebe für das Problem des Anfangs ist bekannt. Ebenso berühmt wie berüchtigt sind aber auch die Volten, die sein Denken, angefangen von den ersten Schriften, immer wieder genommen hat. Vgl. dazu auch Gabriel 2006, 16: »Insofern gibt Schelling das Axiom des Idealismus von der Einheit von Denken und Sein nicht auf, sondern bestimmt es lediglich neu, indem er versucht, einem Primat des Seines im dynamischen Gefüge von Sein und Denken so zu begründen, daß das Sein selbst in seiner Einheit mit dem Denken nicht gänzlich aufgeht«. 72 Buchheim 1997, XIX. 71

76 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Übergang zum ›historischen Idealismus‹

Das Problem des Anfangs ist einer Philosophie des Unbedingten so ausdrücklich eingeschrieben, das verständlich wird, warum Schelling in immer neuen Anläufen versucht hat, ihm konzeptionell auf die Spur zu kommen. Eine wesentliche Schwierigkeit berührt dabei die Frage, inwiefern das Absolute überhaupt aus sich herausgehen und so endliche Realität zu begründen vermag. Wie schwankend Schelling in dieser Frage selbst agiert, kann ein kursorischer Überblick verdeutlichen. Wird in der Ichschrift von 1795 noch an zentraler Stelle behauptet, das absolute Ich gehe niemals aus sich selbst heraus, weil alle Objektivität vielmehr durch die Einschränkung seiner unendlichen Realität entstehe, 73 fragen die Philosophischen Briefe über Dogmatismus und Kritizismus von 1796 schon danach, wie wir dazu kommen können, aus dem Absoluten heraus- und auf ein Entgegengesetztes zu gehen und kehren aufgrund der Unmöglichkeit, genau dies denken zu können, die Blickrichtung einfach um: »Die Philosophie kann zwar vom Unendlichen nicht zum Endlichen, aber umgekehrt vom Endlichen zum Unendlichen übergehen« (AA I,3, 83). Mit der Umkehrung des Wegs vom Unendlichen zum Endlichen geht auch eine Umkehrung des Verhältnisses von Theorie und Praxis einher. Der Begriff des praktischen Postulats steht nunmehr im Zentrum der Überlegungen Schellings: Die Vernunft wollte jenen Uebergang vom Unendlichen zum Endlichen realisieren, um Einheit in ihre Erkenntniß zu bringen. […] Da sie jenes Mittelglied unmöglich finden kann, so giebt sie deßwegen ihr höchstes Interesse – Einheit der Erkenntnis – nicht auf, sondern will nun schlechthin, daß sie jenes Mittelglieds nimmer bedürfe […]. (AA I,3, 83) 74

Nur insofern ist das absolute Ich ja auch das Unbedingte: »Das Ich sezt sich selbst schlechthin und alle Realität in sich. Es sezt alles als reine Idenität, d. h. alles gleich mit sich selbst. Die materiale Urform des Ichs ist demnach die Einheit seines Sezens, insofern es alles sich gleich sezt. Das absolute Ich geht niemals aus sich heraus« (AA I,2, 146). 74 Eine praktische Verschiebung, die schon am Ende der Ichschrift aufleuchtet: »Was für das absolute Ich absolute Zusammenstimmung ist, ist für das endliche hervorgebrachte, und das Princip der Einheit, das für jenes konstitutives Princip immanenter Einheit ist, ist für dieses nur regulatives Princip objectiver Einheit, die zur immanenten werden soll. Also soll auch das endliche Ich streben, in der Welt das hervorzubringen, was im Unendlichen Wirklich ist, und der höchste Beruf des Menschen ist – Einheit der Zweke in der Welt zum Mechanism, Mechanism aber zur Einheit der Zweke zu machen« (AA I,2, 175). 73

77 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

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Eine konzeptionelle Verschiebung, wie sie sich auch noch in der Neuen Deduction des Naturrechts von 1796/97 abzeichnet: »Strebe daher, um ein Wesen zu werden, absolut-frei zu sein, strebe, jede heteronomische Macht deiner Autonomie zu unterwerfen, strebe durch Freiheit deine Freiheit zur absoluten, unbeschränkbaren Macht zu erweitern« (AA I,3, 139 f.). 75 Aber schon in der Darstellung meines Systems der Philosophie von 1801 heißt es wieder, als würde Schelling im Grunde wieder zur Position der frühen Ichschrift zurückkehren, der Grundirrtum aller bisherigen Philosophie habe in der Annahme bestanden, die absolute Identität sei überhaupt aus sich herausgegangen. »Wahre Philosophie«, so Schelling, bestehe in dem Erweis, »daß die absolute Identität (das Unendliche), nicht aus sich selbst herausgegangen seye« (AA I,10, 121), ein Satz, welcher bisher nur von Spinoza erkannt worden sei. Seit der Freiheitsschrift, spätestens aber mit den Weltalter-Fragmenten rückt eine andere, die Blickrichtung gleichsam umkehrende Frage ins Zentrum der Überlegungen Schellings. Es ist die Frage nach der ›positiven‹ Wirklichkeit des Endlichen, die Schelling zunehmend umtreibt und die auf radikale Weise mit der Systemgestalt eines ›ästhetischen Idealismus‹ bricht. Schelling appliziert die Frage nach dem metaphysischen Anfang der Zeit auf die Frage nach dem positiven Grund des Seienden. Das metaphysische Problem des Anfangs, so lässt sich an dieser Stelle notieren, stellt für Schelling gar nichts anderes dar als die Frage nach dem Ursprung des realen Prinzips. 76 Es ist die Frage nach der Möglichkeit des Positiven im Negativen, die Schelling aus der Deckung seiner Identitäts- und Kunstphilosophie herauslockt und in die Position einer unhintergehbaren Geschichlichkeit des Anfangs hineintreibt. Es handelt sich hierbei um eine Frage, die Schelling in den Briefen von 1795 noch als »schlechthin unbeantwortlich« ausgegeben, als »Räthsel der Welt« strikt von sich zurückgewiesen hatte. Denn offenbar setzt doch jede Antwort auf die Frage, warum es das »Gebiet der Erfahrung« überhaupt gibt, schon das »Daseyn einer Erfahrungswelt« (AA I,3, 79) als je geschichtlich voraus. In der Weltalterphilosophie wird die Frage nach dem Anfang aber gerade

Die ›Erweiterung‹ zur absoluten Freiheit ist als eine ›Vernichtung‹ der endlichen, eigenen Freiheit zu verstehen: »Anders ausgedrückt war jene Forderung keine andre als diese: Vernichte dich selbst durch die absolute Causalität, oder: verhalte dich schlechthin leidend gegen die absolute Causalität!« (AA I,3, 85). 76 Vgl. Müller-Lüneschloß 2012, 172. 75

78 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Übergang zum ›historischen Idealismus‹

deshalb – wegen ihrer Anfänglichkeit – ins Zentrum der Analyse gestellt: Die erste Frage wahrer Wissenschaft ist immer noch die, welche schon an den milesischen Thales gerichtet worden, Was das erste Wirkliche, das älteste Wesen sey? Schon der Begriff eines ersten Wirklichen scheint indeß vorauszusetzen, daß Etwas vor allem Wirklichen sey. (Schelling 2002, 173)

Schelling ordnet das Aufgabenfeld klassisch idealistischen Denkens grundlegend neu, indem er die Überzeugung einer »vollkommenen Subjektivität alles Denkens und Erkennens« (AA I,17, 26) in grundlegender Weise kritisiert und schlussendlich suspendiert, insofern ebenda das Endliche »gar keinen positiven Status besitzt und infolgedessen auch gar nicht eigentlich erklärt werden muss«, wie Konstanze Sommer festhält. 77 In deutlicher Distanz zu seinem ursprünglichen Projekt aus der Zeit der Ichschrift, ein »Gegenstük zu Spinoza’s Ethik« (AA I,2, 80) aufzustellen, heißt es nun, ein absolutes Ich, das nach dem Vorbild einer spinozanischen Substanz konzipiert wäre, sei ein »Subjekt-Objekt«, bei dem das Subjekt »ganz verloren« (SW X, 38) ginge. Um es wiederzugewinnen, müsse man sich also von allem Denken emanzipieren. Nur so könne man überhaupt hoffen, die Positivität des Realen in den Blick zu bekommen. Die Frage, die Schelling sich nun also stellt, ist, ob und wie es zu erklären sei, dass das Absolute in der Tat aus sich herausgegangen ist. Was hierbei unter ›Blickrichtungsumkehr‹ genau zu verstehen ist, gilt es anhand des Verhältnisses von Ewigkeit und Zeit im zweiten Teil der vorliegenden Studie herauszuarbeiten. Dort wird ausführlicher auf die grundlegende Aporie einzugehen sein, auf die sich Schelling methodologisch einzulassen hat, und zwar anhand der in den Weltaltern entfalteten Denkfigur der positiven Verkehrung. 78 Trotz Neueinsatzes in der mittleren Phase zeigt der Rückblick auf die Schriften der Frühphilosophie aber auch, dass sich die Problematik im Kern nicht grundlegend ändert. Schellings Systementwürfe nehmen – von den frühesten Schriften an – immer wieder in Angriff, den Anfang der Philosophie zureichend zu gewinnen. 79 Schellings nach 1796 einsetzende Hinwendung zur Natur, Kunst und Geschichte Sommer 2011, 178. Vgl. dazu Oesterreich 2004. Zur Willensmetaphysik der Frühphilosophie im Kontrast dazu vgl. Schmidt 2012. 79 Vgl. Holz 1975, 224. 77 78

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exponiert im Grunde nur das Dilemma einer Philosophie, die, im Versuch ihren eigenen Anfang zu finden, zugleich erkennen muss, dass sie »aus eigener Kraft sich des Absoluten, das heißt des Unterschiedslosen, nicht versichern kann«. 80 Philosophie ist angewiesen auf Darstellungsformen, die über das aristotelische Paradigma des Denkens des Denkens, das wiederum ein Denken ist, – νόησις νοήσεως νόησις – hinausgehen, was in Schellings Fall dazu führt, den Anfang der Philosophie als Geschichte seiner verschiedenen Darstellungsformen zu verzeitlichen. Indem Natur, Kunst und Geschichte der Philosophie zunächst einmal äußerlich sind, sich vom reinen Denken unterscheiden, können sie umgekehrt Epochen seiner transzendentalen Vergangenheit sein. Natur, Kunst und Geschichte sind Medien der Selbstvergegenwärtigung des Geistes, die ihren eigenen geschichtlichen Index haben. Fragt man nach den Problem(dis-)kontinuitäten in der philosophischen Entwicklung Schellings ist auch ein Blick auf die Selbstauskunft des Autors von Interesse. Bei aller Kritik, die Schelling im Zuge seiner philosophischen Entwicklung an seinen eigenen, früheren Positionen immer wieder übt, lässt er nicht erkennen, dass er sie von Grund auf verwerfen würde. Im Gegenteil: Für seine Außendarstellung wie aber auch für den Stil seiner Philosophie insgesamt ist es entscheidend, dass jede neue Phase nur als kritische Reaktion auf die vorangegangene ›gescheiterte‹ Phase präsentiert wird. Ein deutliches Indiz dafür mag etwa auch der Umstand sein, dass Schelling die Freiheitsschrift, gleichwohl sie von vielen Interpreten als Wendepunkt seines Denkens betrachtet wird, zusammen mit seinen frühesten Werken veröffentlicht. Darin vermerkt er, dass die Ichschrift unverändert immer noch den »frischesten Idealismus« präsentiert und die Briefe in Ansehung der Denkweise, gegen die sie sich richten, immer noch ihre »volle Kraft« (AA I,17, 25) haben. Schelling, so scheint es, sieht sich selbst als jemanden, der sich immer tiefer in die Problematik hineinarbeitet und dabei immer kurz vor dem Ziel zu stehen meint. Auch Karen Gloy beschreibt Schellings Weg als ein »immer tieferes Eindringen in die Sache«, wobei auf immer neuen »Metastufen« das Problem, welches nach Schelling von Anfang an besteht, nämlich wie ein Ausgang vom Unbedingten zu denken sei, neu verhandelt werde. 81 Und auch Temilo van Zantwijk verteidigt die Entwicklungs80 81

van Zantwijk 2007, 132. Gloy 2012, 88.

80 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

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logik der Philosophie Schellings als eine konsequente Revision früherer Standpunkte: Zantwijk konstatiert, dass die Entwicklung des Grundansatzes nicht als »Preisgabe des ursprünglichen Projektes« verstanden werden dürfe, sondern vielmehr als »Reform des Ausgangspunktes«, die das ursprüngliche Anliegen Schellings »in gemäßigter Form« zu einem Abschluss habe bringen wollen. 82 Schelling selbst verwahrt sich zumindest auch noch in seiner Berliner Vorlesung von 1841/42 gegen die Kritik, er könne mit der nun auf den Plan getretenen positiven Philosophie von seiner früheren Position abgewichen sein. Gegen das Verdikt einer solchen »Sinnesänderung« führt Schelling vor dem Berliner Auditorium an, er habe schon in den Briefen von 1795 behauptet, »daß, dem Kritizismus gegenüber, auch ein mächtigerer, herrlicherer Dogmatismus sich erhebe«, was nichts anderes als die positive Philosophie sei: »So lange Zeit schreibt sich bei mir die Ahnung einer positiven Philosophie her« (Schelling 1841/ 42, 137). Kein Wort von Widerspruch: Schelling zeichnet das Bild eines Denkers, der sich so konsequent wie vielleicht niemand sonst dem Problembestand der nachkantischen Philosophie zugewendet hat. 83 Nimmt man diese Selbstauskunft beim Wort, dann stellt sich Schellings Denken und Wirken als ein einziger ›Organismus‹ dar. Und es ist bezeichnend für das Verhältnis von Schelling zu Hegel, dass Hegel Schellings Selbstauskunft gerade ins Gegenteil verkehrt. Schellings Philosophie, so heißt es bei Hegel, ist eben nicht als »Folge der ausgearbeiteten Teile der Philosophie« zu verstehen, sondern bloß als eine »Folge seiner Bildungsstufe«. Sie habe eben gerade noch nicht die Stufe eines »in seine Glieder organisiertes wissenschaftliches Ganze[n]« erreicht, stattdessen befinde sie sich noch »in der Arbeit ihrer Evolution« (Ästh. III, TWA 20, 420). Werde man nach einer van Zantwijk 2000b, 260. Vgl. dazu nur die Vorrede des ersten Bandes der 1809 herausgegebenen Philosophischen Schriften: »Indessen sind die dem neunten Briefe enthaltenen Bemerkungen über das Verschwinden aller Gegensätze widerstreitender Principien im Absoluten die deutlichen Keime späterer und mehr positiver Ansichten« (zit. nach SW I/1, 283). Wo aber Schelling genau die »deutlichen Keime« seiner späteren, mehr positiven Ansicht vermutet, will auch nach gezielter Lektüre der Philosophischen Briefe nicht einleuchten. Betont wird von Schelling bloß die durchgehende Negativität der einzelnen Systeme, nicht ihre Verkehrung: »Wer über Idealismus und Realismus, die beiden widersprechendsten theoretischen Systeme, nachgedacht hat, fand von selbst, daß beide nur in der Annäherung zum Absoluten statt finden konnten, daß sie aber beide im Absoluten vereinigt, d. h. als widersprechende Systeme aufhören müssen« (AA I,3, 100).

82 83

81 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

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Schrift gefragt, die seine Philosophie »am bestimmtesten durchgeführt« (Ästh. III, TWA 20, 421) darstelle, so Hegel, könne man keine solche nennen, und so habe sich Schelling auch noch in späteren Darstellungen »in verschiedenen Formen und Terminologien herumgeworfen«: »Es war immer Suche nach einer neuen Form« (Ästh. III, TWA 20, 422). Dass Schelling im Verlauf seiner philosophischen Entwicklung immer wieder auf der Suche nach einer »neuen Form« ist, darin möchte man mit Hegel zumindest übereinstimmen. Eine Suche, die ebenso konsequent wie tragisch verläuft. Vielleicht lässt sich die Kontinuität von Schellings Systementwürfen ja auch gerade deshalb ex negativo aufzuzeigen, und zwar darin, dass sie voranschreiten, »ohne den grundlegenden Widerspruch des Programms selbst zu beheben«, wie Christian Iber anmerkt. 84 Wolfgang Wieland spricht in diesem Zusammenhang von einer »spekulativen Verlegenheit«, in die sich Schelling begebe und die ihn dazu veranlasse, das Verhältnis von Unendlichem und Endlichem auf immer neue, subtilere Weise zu bestimmen. 85 Tragisch gewendet ließe sich also folgender Befund konstatieren: Gerade in dem Maße, wie das organologische Denken versucht, den Zusammenhang von Teil und Ganzem, Absolutem und Endlichen in seiner Totalität zu vergegenwärtigen, verdeckt seine Struktur die Aporie, die gerade jenes Verhältnis von Teil und Ganzem von Grund auf kennzeichnet. Dass Schelling in den Weltaltern neben dem Modell des Organismus auf die Reflexionsfigur der Genealogie zurückgreift, bezeugt einen Sinn für diese Aporien, und es wird sich im Folgenden zeigen, ob sie den Knoten zu zerschlagen vermag, von dem Jacobi gesagt hatte, dass er sich im Grunde überhaupt nicht auflösen lässt. Offenkundig ist, dass Schelling auf ein schwerwiegendes methodologisches Dilemma zusteuert: Die in die Ewigkeit projektierte Zeit soll selbst noch unabhängig von aller sukzessierenden Zeitlichkeit sein. 86 Mit dieser Problemlage befindet man sich in den Weltaltern aber historisch wie systematisch an einer entscheidenden Stelle, nicht nur in Hinblick auf Schellings eigene philosophische Entwicklung. Denn der Anfang der Zeit ›vor‹ aller Zeit bricht mit einer entscheidenden Prämisse, die Schelling bis dato im Ausgang von Kant verfolgt hatte: Die gesuchte höchste Einheit der Transzendentalphilosophie ist von jeher mit einer temporalen Differenz beschlagen. 84 85 86

Iber 1994, 4. Wieland 1975, 251. Vgl. Peetz, 85.

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Übergang zum ›historischen Idealismus‹

3.3. Schellings Abschied von den ›Prämissen‹ Schelling kehrt in den Weltaltern die Denkrichtung ein zweites Mal um. Er fragt nach den Ermöglichungsbedingungen einer Erfahrung, die bis in den Anfang der Zeit zurückreicht. Während es Schelling im Rahmen seiner Transzendentalphilosophie immer noch um die Erinnerung einer transzendentalen Vergangenheit des Selbstbewusstseins ging, versucht er in und mit der Weltalterphilosophie nun, »eine größere Aufgabe zu bewältigen, und zwar die Schöpfung zu erschließen und dem Menschen zugänglich zu machen«. 87 Schelling kehrt die Fragestellung der transzendentalen Grundlegung der Zeit in dem Maße um, wie er versucht, den Anfang der Zeit nicht mehr von der Grenze einer ursprünglichen Synthesis aus zu denken und damit immer schon in die Zeit zu setzen, sondern ihn und damit die Zeit aus der Mitte einer anfänglichen Antithesis, einer »Zeugung« (WA I, 78), hervorgehen zu lassen. Die Zeit ist damit nicht mehr wie klassischerweise im Neuplatonismus von der Ewigkeit abbildhaft als Zeit gesetzt, sondern die Ewigkeit wird erst dadurch zur Ewigkeit, dass Zeit existiert. 88 Der »eigentliche und einzige Zweck der Schöpfung«, so heißt es noch in der Spätphilosophie, kann nicht »gleichsam im Nu« (Schelling 1823/33, 469 f.) ablaufen, er muss äußerlich werden, er muss die Form der zeitlichen Sukzession annehmen, sich in der Geschichte und als epochale Geschichtlichkeit auslegen. Zur Disposition steht für Schelling damit die radikale Anfänglichkeit des sich selbst denkenden Denkens. Was noch zuvor, im System des transscendentalen Idealismus, gegolten hatte, dass »jedes empirische Bewusstsein eine Zeit schon als verflossen voraus[setzt]«, kann nun nicht mehr gelten: »Ist es an dem, (wie es denn allerdings ist), daß jeder Anfang der Zeit eine bereits gewesene voraussetzt: so muss der Anfang der wirklicher Anfang ist, den Ablauf derselben nicht zu erwarten haben, sondern sie muss gleich anfangs vergangen sein« (WA I, 136). Die Frage nach der Realität der Zeit kulminiert bei Schelling im Problem Shestakova 2012, 80. Zur ambivalenten Bezugnahme auf Plotin in den Weltaltern vgl. Beierwaltes 2001. Von wirkungsgeschichtlichem Interesse dürfte sein, dass Maurice Merleau-Ponty auf eine solche Form der ›Umkehrung‹ in seiner am Collège de France gehaltenen Vorlesungen Die Natur eingeht. Im Hinblick auf das Verhältnis von Ewigkeit und Zeitlichkeit heißt es ebenda: »Diese Reziprozität ist möglich, weil wir es nicht mehr mit einer Philosophie des Seins zu tun haben, die das Absolute vom Endlichen unterscheiden kann, sondern mit einer Philosophie der Zeit« (Merleau-Ponty 2000, 76).

87 88

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Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit

eines metaphysischen Dualismus zweier gleichanfänglicher Prinzipien: Ewigkeit und Zeit. Die Frage, die sich bei einer derartigen Revision der traditionellen Zeitphilosophie stellt, ist freilich, auf welche Weise es überhaupt zu denken sei, dass die Zeit der Ewigkeit als ein »selbständiges Principium« (WA, 229) gegenübertritt, sodass sich ihr Bedingungs- und Ordnungsgefüge umkehrt. Schellings ›Genealogie der Zeit‹ kann in diesem Sinne geradezu als Versuch gelten, die Entstehung von Zeit, das heißt: »den Prozess des Werdens selbst empfindsam mitzuinszenieren, das Werden in einer erzählenden Philosophie zu Wort kommen zu lassen«. 89 Und sie tut dies, indem sie den Fokus von der Zeit als bloßer Form unserer Vorstellungen auf die Temporalität von praktischen Entscheidungen verschiebt. Wo die formale Anschauung bei Kant die Zeit als unendliche, kontinuierliche, homogene Größe gibt, sodass bestimmte Quanta der Zeit immer nur wieder Teil ein und derselben Zeit sein können, deren Vorstellung uns ursprünglich gegeben ist, darf der ›wahre‹ Anfang bei Schelling sich gar nicht erst als Anfang zu erkennen geben: »Der Entschluß, der in irgend einer Art einen wahren Anfang machen soll, darf nicht wieder vors Bewußtseyn gebracht, nicht zurückgerufen werden, welches darum schon ebensoviel als zurückgenommen bedeutet« (WA II, 139). Ein Perspektivwechsel, der gegenüber der formalen Bestimmung der Zeit die Praxis der Zeit selbst zum methodischen Leitfaden der spekulativen Zeitanalyse macht. Ein Schritt, der bei Schelling in dem Maße aus Kant und auch seinem eigenem, früheren Prämissenprojekt herausführt, wie die Zeit nicht mehr als etwas Zählbares an der Bewegung (Kant ist hier ganz Aristoteliker) verstanden wird, sondern als Bewegung selbst. Zeit ist Bewegung. Diese Bewegung wird in der Praxis des alltäglichen Lebens unweigerlich miterfahren und ist begrifflich nicht zu bändigen. In der Praxis, die nicht immer bzw. nicht ausschließlich kontinuierlich erfolgt, sondern im Gegenteil durch geschichtliche Auf-, Ab- und Umbrüche gekennzeichnet ist, gibt die Zeit den Blick auf uns selbst als eigenzeitliche Personen frei, die sich nicht anders als aus dem Lebensvollzug selbst bestimmen können, vorausgesetzt man lässt sie auch: »Es konnte schon längst verdienstlich scheinen den Zeitbegriff aufzuhellen; das Scheinbare u. Unwahre abzuthun daß das Wesentliche und Wahre erschiene; wenn überhaupt noch die Zeit wäre die großen

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Schmidt-Biggemann 2014, 20.

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Übergang zum ›historischen Idealismus‹

Gegenstände einzeln, Capitelweis abzuhandeln. Erwünschter ist beym gegenwärtigen Stand der Wissenschaft es gleich in Leben u. That zu sehen« (WA 225). 90 Die Umkehrung der transzendentalen Zeitlehre unterläuft, so scheint es, von jeher die Subjekt-Objekt-Struktur der kantischen Philosophie: Sie invertiert dieses Verhältnis, indem sie die Zeit nicht in die Spannung von Subjekt und Objekt einträgt, sondern die Spannung überhaupt erst aus dem Differenz generierenden Vollzug der Zeit selbst heraus entstehen lässt. Gehört es eigentlich zum genuinen Interesse der nachkantischen Philosophie, Dualismen zu vermeiden bzw. bestehende – kantische – Dualismen zu überbrücken, das heißt: auf einer ›höheren‹ Ebene miteinander zu vermitteln, so entwickelt Schelling in den Weltaltern ein ›positives‹ Verständnis der Dualität, indem er sie als Aktdifferenz in das sich selbst denkende Denken einträgt. Dieser differenztheoretische Ansatz ist auch insofern von systematischem Interesse, weil die Art der Kritik dadurch einen anderen Stellenwert bekommt als den einer bloß immanenten, sozusagen ›parlamentarischen‹ Opposition. Der Standpunkt, den Schelling einnimmt, so muss man festhalten, kommt im kantischen Problemhorizont überhaupt nicht vor. Es handelt sich hierbei um eine, um im Bild zu bleiben, ›außerparlamentarische‹ Opposition. Das entschärft den Konflikt mit Kant einerseits, spitzt ihn mit Blick auf die Philosophie, für die Kants Vernunftkritik nun stellvertretend herhalten muss, andererseits aber auch zu: Denn wenn es stimmt, dass Schelling an einer Erzeugungstheorie respektive Differenztheorie der Zeit arbeitet, dann muss die ›Genealogie der Zeit‹ von ganz anderen Voraussetzungen ausgehen, als dies einer kritischen Philosophie jemals möglich gewesen wäre. Die Inversion der transzendentalen Zeitlehre ist mit dem Abschied vom ursprünglichen ›Prämissenprojekt‹ eins. Wer die Realität der Zeit wie Schelling in den Plural setzt, der zielt auf ›Resultate‹ ganz anderer Art als die kantische Vernunftkritik, dem kann es nicht mehr um eine ›Fundierung‹ der kritischen Philosophie gehen, der hat in Wahrheit schon eine ganz andere, beweglichere Gestalt der Philosophie vor Augen.

Gadamer hat den Zusammenhang von Zeitpraxis und Selbsterfahrung einmal wie folgt expliziert: »In jeder Phase begleitet uns ein Bewußtsein unserer Eigenzeit durch die Jahre, und wahrlich nicht als das Gezählte einer Bewegung, das deren Dauer mißt, eher als eine Horizonterfahrung, in der sich der Horizont unmerklich, aber unaufhöhrlich verschiebt« (Gadamer 1987c, 155 f.).

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Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit

So gesehen blickt man mit Schelling einerseits auf die Anfänge der nachkantischen Philosophie zurück, andererseits spürt man bereits in der Art und Weise, wie Schelling die Fragestellung der kritischen Philosophie von innen heraus radikalisiert, dass das nachmetaphysische Denken in Gestalt von Schopenhauer, Kierkegaard und Nietzsche seine Schatten vorauswirft. 91 Zu tiefgreifend ist die im eigentlichen Sinne kantische Frage nach einem tragfähigen Grund der Philosophie mit der existenzialistischen Frage nach dem Dasein des Menschen im Ganzen verbunden. Schelling ist der erste Autor, der das Problem der Geschichte und der Existenz dergestalt in den Problemhorizont der klassischen deutschen Philosophie einträgt. Vorsichtig ließe sich mit Tilo Wesche behaupten, dass gerade hier – an der Nahtstelle zwischen idealistischer und nachidealistischer Philosophie – eine innere Dynamik zu Tage tritt, die in grundlegender Weise die Philosophie als Disziplin überhaupt kennzeichnet: »Diese baut auf dem Widerspruch zwischen Erkenntnis und der Wirklichkeit des Menschen auf, die sich in Erkenntnis nicht auflösen lässt«. 92 In dem Maße wie Schelling also die Fragestellungen des idealistischen Denkens von innen heraus radikalisiert und die neuzeitliche Subjektivität mit ihrem je geschichtlichen Gewordensein konfrontiert, bereitet er zugleich den Boden für jene nachmetaphysischen Autoren, die in vergleichbarer Weise die Ohnmacht der bloßen Vernunft konstatieren im Angesicht des unverrückbaren ›Dass‹ einer positiven Wirklichkeit menschlicher Freiheit. Regelrecht spürbar werden die Ansätze zu einer so folgenreichen philosophie- wie kulturgeschichtlichen Transformation jedenfalls dann, wenn Schelling mit der ihm eigenen schweren Dramatik zu verstehen gibt, dass gerade er, der Mensch, ihn zur »letzten verzweiflungsvollen Frage« treibe: »warum ist überhaupt etwas? warum ist nicht nichts?« (SW VIII, 7). Die geschichtliche Verschiebung des ProblembewusstZu dieser Einschätzung gelangt auch Heidegger in seiner Vorlesung von 1936 über die Freiheitsschrift: »Schelling ist der eigentlich schöpferische und am weitesten ausgreifende Denker dieses ganzen Zeitalters der deutschen Philosophie. Er ist das so sehr, daß der den deutschen Idealismus von innen her über seine eigene Grundstellung hinaustreibt« (Heidegger 1936, 4). Bemerkenswert ist nicht zuletzt auch, wie Heidegger im Anschluss an diese Beurteilung das ›Scheitern‹ der Freiheitsschrift im Ganzen deutet. Heidegger sagt ausdrücklich, dass das »große Scheitern« Schellings »kein Versagen und nichts Negatives« im eigentlichen Sinne gewesen wäre. Im Gegenteil: »Das ist das Anzeichen des Heraufkommens eines ganz Anderen, das Wetterleuchten eines neuen Anfangs« (Heidegger 1936, 4). Zur vielschichtigen Konstellation Heidegger–Schelling vgl. Sommer 2006. 92 Wesche 2003, 17. Vgl. dazu auch Asmuth 2012. 91

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Übergang zum ›historischen Idealismus‹

seins in Richtung auf die zeitliche Wirklichkeit des Lebens, dieser nicht anders als nachhaltig zu bezeichnende ontologische Schock, hat Schelling von Seiten der Forschung das zweifelhafte Prädikat eingebracht hat, ein »Lebensdenker« zu sein. 93 Zweifelhaft ist das Prädikat deshalb, weil es die Frage nach dem Verhältnis von Leben und Philosophie, das zur Diskussion steht, in dem Maße unbestimmt lässt, wie es die Auflösung der Spannung einseitig in Richtung auf das Leben hin verlagert. Das Problem der menschlichen Freiheit wird damit bestenfalls verschoben. Nicht von ungefähr betont Schelling in seiner Berliner Antrittsvorlesung von 1841 – auch vor dem Hintergrund der politischen Wirren seiner eigenen Zeit –, man könne einer »so mächtige[n] Reaktion von seiten des Lebens« (Schelling 1841/42, 92) nur dadurch beikommen, indem man den »Vereinigungspunkt« suche. Die moralische und geistige Welt drohe ansonsten in »Anarchie« (Schelling 1841/42, 94) zu versinken. Nichts, so resümiert Schelling, sei tragischer, als etwas zu zerstören, wenn man nichts an seine Stelle zu setzen habe.

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Vgl. dazu Schulz 1955, 17 ff.

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Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs. Schellings genealogische Zeitlehre

Schellings Weltalterphilosophie ist bestimmt von einem hochspekulativen Gedanken. Wenn der Anfang der Zeit nicht Anfang sein kann, solange es noch etwas gibt, das seine Herkunft aus einem anderen verrät, muss der ›wirkliche‹ Anfang noch vor dem Anfang liegen, er darf nicht, wie Schelling sich ausdrückt, eine »schon gewesene« Zeit voraussetzen, sondern muss vielmehr »gleich anfangs vergangen seyn« (WA I, 75). 1 Was Schelling dergestalt in den Problemhorizont der nachkantischen Philosophie einführt, ist die antike Frage nach der Einheit und dem Ursprung des Seienden, ein Problem, das, wie zu zeigen sein wird, bis in die archaische Zeit, bis in die hesiodeische Theogonie zurückreicht. 2 Bestand die Stoßrichtung von Schellings Frühschriften allem voran darin, »die Resultate der kritischen Philosophie in ihrer Zurückführung auf die letzten Prinzipien alles Wissens darzustellen« (AA I,2, 70 f.), so kehrt sich die Blickrichtung in den Weltaltern gleichsam um. Nun ist es die Frage nach der ›positiven‹ Wirklichkeit der menschlichen Freiheit, deren Motivlage radikal mit der Systemgestalt des »ästhetischen Idealismus« bricht. 3 An seine Stelle tritt – zaghaft, in seinen Grundzügen aber unverkennbar – die Gestalt eines ›historischen Idealismus‹, dessen methodische Umrisse sich im Verfahren der Genealogie abzeichnen: die Überführung des Modells einer kontinuierlichen Zeit der Vernunft in das einer gebrochenen Zeit der Geschichte. War der erste Teil der Studie der Frage vorbehalten, warum und auf welche Weise sich für Schelling das metaphysische Problem des Anfangs stellt, soll im zweiten Teil nun dem Problemlösungsansatz, wie er sich aus Sicht der Weltalterphilosophie darstellt, im Mittel-

1 2 3

Vgl. von Weizsäcker 1964b, 31. Vgl. dazu auch Reckermann 2011. Hogrebe 1989, 20.

89 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs

punkt der Rekonstruktionsbemühungen stehen. Erforderlich dafür ist zunächst eine argumentative Darlegung dessen, was Schelling in der Urfassung von 1811 als »Genealogie der Zeit« (WA I, 75) ausarbeitet. Erst im Anschluss daran kann und soll danach gefragt werden, ob und auf welche Weise auch das Weltalterunternehmen noch im Horizont derjenigen Philosophie verbleibt, als deren radikale ›Verkehrung‹ es sich versteht. Ungeachtet der Frage nach dem viel diskutierten Verhältnis von Gelingen und Scheitern des Projektes als Ganzem soll abschließend aber auch deutlich werden, dass Schellings Weltalterlehre, sieht man von den zweifellos vorhandenen konzeptionellen Schwächen ab, ein zeit- und geschichtstheoretisches Potenzial ins sich birgt, das es für die aktuelle Zeit- und Moderneforschung zu bergen gilt. Allem voran Schellings Kritik an der chronologischen Zeit, am Zeitregime der Moderne ist hier zu nennen. Auf diese Weise soll der Übergang zum dritten, systematisch orientierten Teil der Studie vorbereitet werden, in dem im herauszupräparierenden Begriff einer personalen Eigenzeit auf die praktische Dimension der ›Zeit‹Kritik Schellings ausführlich einzugehen sein wird. Vor dem Hintergund eines sich um 1800 vollziehenden historischen Erfahrungswandels wird Schellings Lehre von den Weltaltern als eine Theorie geschichtlicher Zeiten lesbar.

4. Schellings geschichtliche Offenlegung der Zeit 4.1. Zeiterfahrung und Zeitreflexion Genealogisches Denken setzt – allgemein gesprochen – die Vernunft aus dem Bereich der ›ewigen‹ Wahrheit heraus. Es setzt Vernunft in eine Relation zu Geschichte. In dem Maße, wie es die grundsätzliche Trennung von Geltung und Genese in Frage stellt, verständigt es sich über eine Sache in seinem Entstehungsprozess. Es thematisiert »Werden, Prozessualität und Geschichtlichkeit und fragt gleichzeitig danach, welche Geltung Aussagen unter den Bedingungen geschichtlicher Prozesse haben«. 4 Genealogisches Denken geht, wie auch Emil Angehrn festhält, »auf den konkreten Werdegang und die Heraus-

Sandkaulen 2009, 9. Zur Genealogie als Form der Vernunftkritik vgl. auch Hindrichs 2009.

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Schellings geschichtliche Offenlegung der Zeit

bildung einer Sache aus den Faktoren, Prozessen und Phasen ihrer Geschichte«. 5 Mit dem genealogischen Verfahren greift Schelling auf eine Denkform zurück, die bis an den Anfang der Philosophie und des Denkens – die Archaik – zurückreicht. Schelling ist, das hat Michael Theunissen immer wieder betont, unter allen archaisierenden Vernunftkritikern der Moderne der einzige, der bis auf Hesiod zurückgeht. 6 Der Sache nach enthält das wohl bekannteste Werk des ursprünglichen Ackerbauers und Schafhirten Hesiod, die Theogonie, eine wesentliche Problemstellung, die auch die Weltalterphilosophie im Kern betrifft: ob und auf welche Weise eine Philosophie des Absoluten mit einer Philosophie des Gewordenseins in Übereinstimmung zu bringen ist. 7 Was Hesiods Theogonie als die Entstehung der natürlichen Welt und göttlichen Mächte aus den beiden Prinzipien Chaos und Gaia beschreibt, das geschieht in Schellings ›Genealogie der Zeit‹ im Ausgang von einer auf dem Boden der kritischen Philosophie gewachsenen Konzeption menschlicher Freiheit. Nichtsdestoweniger wächst aber auch bei Schelling der Dualität der Prinzipien, der Dialektik von Grund und Abgrund eine besondere Rolle zu: Der Anfang geht nicht aus einer Unterscheidung durch Verbindung hervor, sondern – wie bei so vielen Schöpfungsmythen – einer aus Verbindung durch Trennung, und trägt für die so miteinander Verbundenen immer schon den Stempel der Vorzeitigkeit an sich. 8 Sowenig wie Hesiods Theogonie problematisieren Schellings Weltalter damit das Werden als solches, auch nicht das Werden des Werdens, sondern das Gewordensein des Werdens. Sie kommen darin auch mit dem kritisch-genealogischen Denken Nietzsches überein, dass am historischen Anfang der Dinge nicht »die immer noch bewahrte Identität ihres Ursprungs, sondern die Unstimmigkeit des Anderen«, des bereits Gewordenen liegt. 9 Anders als bei Nietzsche aber deckt die genealogische Methode bei Schelling nicht die Geschichte der Irrtümer, Täuschungen und Erfindungen auf, um in dekonstruktiver Absicht die Chimäre des UrAngehrn 2014, 10. Theunissen 1994, 49. 7 Vgl. dazu Schmidt-Biggemann 2006. 8 Zu dieser im buchstäblichen Sinne ›entscheidenden‹ Theoriefigur vgl. Angehrn 1992, 167: »Seinskonstitution ist ursprünglich Trennung, Scheidung der Seinsbereiche, in zugespitzter Form Trennung von Sein und Nichtsein«. 9 Foucault 1987, 71. Zur genealogischen Methode bei Nietzsche und Foucault vgl. Saar 2007. 5 6

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Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs

sprungs zu vertreiben; sie ist, mit anderen Worten, nicht dazu da, um die Offenheit des Anderen kurzerhand in Vielheit und Heterogenität zu zerstreuen. Im Gegenteil: Die genealogische Methode Schellings deckt die Geschichte der Irrtümer, Täuschungen und Erfindungen auf als eine kritische Erinnerung daran, dass dem Menschen ein Prinzip zugestanden werden muss, das »außer und über der Welt« (WA I, 4) ist, und dass dergestalt in die Tiefe der Zeit selbst, in die Vergangenheit, bis in den kosmogonischen Anfang zurückverweist, um nichts, was sich jemals ereignet hat, und sei es auch für die gegenwärtige Zeit noch so unbedeutend, aus dem Blick zu verlieren. In ihrer finalen appellativen Forderung, sich die Geschichte um willen einer offenen Zukunft nicht ›äußerlich‹ werden zulassen, kommt die ›Genealogie der Zeit‹ Schellings deshalb mit der kritischen Geschichtsbetrachtung Walter Benjamins überein, die den Sinn für das Weggeworfene, Alltägliche, Vernachlässigte zu bewahren sucht: Geschichte speist sich von jeher aus dem Nichtrealisierten, dem Unabgegoltenen, dem uneinholbaren Rest. 10 Der Verweis auf Hesiod und die Theogonie ist indessen auch deshalb so entscheidend, weil er die Frage aufwirft, von wessen Genealogie nun eigentlich die Rede ist, wenn von einer ›genealogischen Zeit‹ die Rede ist. Vorderhand klar zu sein, scheint dies keineswegs. Grundsätzlich kommen bei Schelling drei Adressaten in Frage: das Absolute bzw. Gott, das menschliche Bewusstsein oder aber der Geist als die vermittelte und noch immer vermittelnde Einheit zwischen beiden. Und in der Tat sind es alle drei, die sich Schelling zufolge sukzessiv, in der Geschichte entfalten sollen. Jedem ist sein ›Weltalter‹ beschieden: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, so sieht es nicht zuletzt die Einteilung des Werks in seine drei Bücher vor. Allerdings zeigt sich gleich eingangs der genealogischen Herleitung, dass die Frage nach der Zeit methodisch von der Gegenwart aus gedacht wird, also vom Gewordensein der menschlichen Zeiterfahrung. Von ihr nimmt Schellings spekulative Zeitanalyse ihren methodologischen Ausgang. Aus der Mitte der Gegenwart heraus soll sich im Ganzen der Zeitanalyse ein organisches Geflecht aus der Erfahrungsgeschichte des Menschen, der Strukturgeschichte des Absoluten und einer Heilsgeschichte des Geistes entfalten. Die begrifflich-spekulative Bestimmung der Zeit wird, mit anderen Worten, von Anfang an in eine Eine grundlegende Untersuchung zum Verhältnis von Benjamin und Schelling steht bis heute aus.

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Schellings geschichtliche Offenlegung der Zeit

Analyse der menschlichen Zeiterfahrung eingebettet, die unterhalb der Schwelle sogenannter objektiver Zeiterfahrung ansetzt. Von welchen spezifischen Zeiterfahrungen hierbei die Rede ist und welche Funktion ihnen im Strukturganzen der ›Genealogie der Zeit‹ zukommt, wird sich im Folgenden zeigen. Vorausblickend sei hier aber schon angedeutet, dass Schelling die menschliche Zeiterfahrung deshalb zum Ausgangs- und Mittelpunkt seiner Zeitanalyse macht, weil es offenbar bestimmte Zeiterfahrungen gibt, die über sich selbst hinaus auf die prinzipielle Unhintergehbarkeit von Zeit und Geschichte verweisen und damit entscheidende Einsichten in das metaphysischen Problem des zeitlichen Anfangs bereithalten. Strukturell kommt dabei ein Konzept zum Tragen, das Schelling aus der traditionellen theosophischen Literatur aufnimmt und in das zwiespältige, mit sich entzweite Denken der Moderne übersetzt: Es handelt sich um die sogenannte »Mitwissenschaft der Schöpfung« (WA I, 4), also die Möglichkeit eines erfahrungsgesättigten Wissens von den Prinzipien des Anfangs. 11 Insofern kann es hier nicht ausbleiben, der argumentativen Rekonstruktion eine phänomengeleitete Explikation an die Seite zu stellen: Schelling geht es in seiner Zeitphilosophie um das analogische Verhältnis zwischen beiden Polen. Die genealogische Ausdifferenzierung der Zeit in ihre geschichtliche Zeiten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft selbst lässt sich in mindestens fünf »Hauptmomente« (WA I, 75) untergliedern; zur besseren Übersicht seien diese eingangs genannt: (1) Lauterkeit, (2) erste Scheidung, (3) erste Wirksamkeit, (4) zweite Scheidung, (5) gegenwärtige Zeit. Und schon beim Übergang vom ersten zum zweiten Hauptmoment wird sich zeigen, dass die Makrogeschichte der Weltalter tatsächlich von der Mikrogeschichte des menschlichen Selbstbewusstseins dependiert. Die ›Genealogie der Zeit‹ ist bereits in Heißt es im ersten und dritten Weltalter-Entwurf »Mitwissenschaft« (WA I, 4; SW VIII, 200), mit einem ›t‹, taucht in der zweiten Fassung »Mitt-Wissenschaft« (WA II, 112) mit zwei ›t‹: Die ›Mitwissenschaft‹, so soll durch die Anspielung auf die Mitte als Zentrum suggeriert werden, ist zugleich eine Wissenschaft von und aus eben jener ›Mitte‹, in die sich der Mensch geschichtlich gestellt sieht: die Gegenwart. Die menschliche Gegenwart, das ist für Schelling die ›Mitte‹ zwischen einer vorweltlichen Vergangenheit und einer nachweltlichen Zukunft. Während Shestakova 2000, 80 f., in ihrer Deutung auf den griechischen Ursprung des Wortes συνείδησις verweist, geht Sollberger 1996, 318, auf den lateinischen Ursprung con-scientia zurück. Erstere versteht das ›Mitwissen‹ im Sinne eines ›Miterlebens‹, letzterer im Sinne eines ›Wissen von etwas‹. Mit Blick auf die Rolle der Erfahrung bei Schelling ist das ›Miterleben‹ zentral. 11

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Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs

ihrem ersten Anfang auf die Erschließung menschlicher Zeiterfahrungen angewiesen. 12

4.2. Hauptmomente der ›Genealogie der Zeit‹ (1) Lauterkeit: Spekulativer Ausgangspunkt der ›Genealogie der Zeit‹ ist die Unterscheidung zwischen Ewigkeit und Ewigem: Ewigkeit und Ewiges unterscheiden sich Schelling zufolge darin, dass das Ewige schon nicht mehr die »lautere, stille, sondern die reale, wirkende Ewigkeit« (WA I, 75) ist. Was ist im Kontext der Weltalterlehre mit diesem charakteristischen Schon-nicht-mehr-Sein gemeint? Die ›lautere, stille Ewigkeit‹ wird von Schelling als diejenige ontologische Form eingeführt, die übrig bleibt, wenn man von allen Eigenschaften einer Entität absieht. Sie ist die »reine Bloßheit; Abgeschiedenheit von allem, die an nichts hängt, das keine Berührung verträgt, gleichsam eine Jungfräulichkeit, vollkommene Einfalt« (WA III 4, 215). Während allem Seienden Eigenschaften zugesprochen werden können, ist die lautere Ewigkeit das »Unverhüllte, das Bloße, vor dem nichts bestehen kann«: Von dieser lauteren Ewigkeit lässt sich in ontologischer Hinsicht noch nicht einmal sagen, dass sie das Sein eines Subjekts beschreibt, das sich in noch gar keinem Gegensatz zum Objekt befindet, ja, das überhaupt jede Relation von sich ausschließt, weil die lautere Ewigkeit noch nicht einmal Sein ist; sie ist so gut, als sie nicht ist, sie ›ist‹ Sein und Nichts in einem. Es ist diese ontologische Struktur, diese so zu verstehende »völlig[e] Überwirklichkeit« (WA III 4, 215), welche die Lauterkeit auch in zeittheoretischer Hinsicht auszeichnet. Sie ist für Schelling dasjenige, was »schlechthin über der Zeit« (WA I, 137) ist. Die lautere Ewigkeit ist in dem Maße »schlechthin über der Zeit«, wie sie als »vollkommene Einfalt« niemals in die Zeit fallen kann, »ewig außer ihr bleibt« (WA III 3, 208). Die Lauterkeit befindet sich in einem Zustand absoluten Insichgekehrtseins. Sie ist alles und ist nichts. Und so ist es auch mit der Zeit: Die Ewigkeit als solche ist schlechterdings überzeitlich. Vergewissert man sich von hier aus noch einmal der Grundunterscheidung am Beginn zwischen Ewigkeit und Ewigem, so stellt sich die Frage, wie aus einem schlechthin Unanfänglichen, Überzeitlichen, einer absoluten implicatio, eine Wirkung als erster Anfang und erste 12

Vgl. van Zantwijk 2000a, 291.

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Schellings geschichtliche Offenlegung der Zeit

Realität hervorgehen kann. Wie ist es möglich, dass einer Ewigkeit, die über aller Zeit gleichgültig gegen sich selbst und alles andere bleibt, eine Form der Ewigkeit gegenübertreten kann, die mit der ›Wirksamkeit‹ zugleich erste temporale Bestimmungen, einen ersten Realitätsgehalt aufweisen kann? Von der realen, wirkenden Ewigkeit heißt es nämlich, dass sie bereits, wenn auch noch unabgehoben, latent, die Zeitdimensionen von »Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft« (WA I, 75) in sich enthält. Die zu Wirksamkeit gelangte lautere Ewigkeit, so stellt die Sachlage sich dar, ist schon intern zeitlich strukturiert. Und erstaunlicherweise ist hier schon der Punkt erreicht, an dem dasjenige, was spekulativ an den Anfang gesetzt wurde, methodisch nur über die Erschließung der menschlichen Zeiterfahrung eingeholt werden kann. Am Anfang der Frage nach der Entstehung der Zeit steht eine Analyse der menschlichen Zeiterfahrung: »Laßt es uns«, so lautet die methodische Maxime, die sich durch die Weltalter durchziehen, »auch hier wieder menschlich nehmen; vielleicht daß es uns gelingt jenes Verhältnis, das in der Abgezogenheit der Begriffe schwer zu fassen ist, anschaulicher zu erkennen« (WA I, 17). Diese Maxime hat Schelling von Seiten Karl August Eschenmayers den seither vieldiskutierten Vorwurf des Anthropomorphismus eingetragen. Schellings Entgegnung auf Eschenmayer mag hier für sich sprechen, auf sie wird am Ende des zweiten Teils der Untersuchung zurückzukommen sein: »Entweder überall keinen Anthropomorphismus, und dann auch keine Vorstellung von einem persönlichen, mit Bewußtseyn und Absicht handelnden Gott […], oder einen unbeschränkten Anthropomorphismus, eine durchgängige und (den einzigen Punkt des nothwendigen Seyns ausgenommene) totale Vermenschlichung Gottes« (SW VIII, 167). Unter allen menschlichen Zeiterfahrungen ist es bei Schelling eine Zeiterfahrung, die in besonderem Maße hervorragt, in exemplarischer Weise verdeutlicht, warum die Spekulation über die Entstehung der Zeit ihren Ausgang von der Gegenwart der menschlichen Erfahrung zu nehmen hat: Es ist die Erfahrung unserer selbst als eines ›Zeit‹-Konfliktes: Wenn Blitze zucken, wenn Sturm u. Ungewitter Himmel u. Erde zu vermischen drohen, alle Elemente entfesselt toben, oder wenn die Grundfesten der Erde erbeben; oder eine schreckliche Empörung in der menschlichen Gesellschaft entsteht, wenn alte Treue u. Freundschaft sich löst, Gräuel von Gräueln verdrungen werden, und alle Bande sich lösen, dann fühlt der Mensch, daß jener Zustand noch immer vorhan-

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Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs

den, dann wird er ihm unheimlich, wie in grauer Geisterstunde. Denn der Mensch ist hingestellt, die Macht der Liebe aufrecht zu erhalten; so muß die Menschheit im Wahn sich selbst zerfleischen, wie Ungeheuer in der Tiefe. (WA III 4, 218)

Geht man zunächst einmal mit Wolfgang Wieland davon aus, dass es ganz allgemein die Erfahrung unserer selbst ist, die aus der Vielzahl der menschlichen Zeiterfahrungen hervorragt, dann erweist sich als diese anfängliche Selbsterfahrung aber nicht das von diesem beschriebene »Über-sich-selbst-hinaus-sein« des Menschen, sondern im Sinne des Konfliktes und viel konkreter gefasst das ›Außer-sichselbst-Sein‹, die Erfahrung einer anfänglichen, sich selbst noch im Überwinden perpetuierenden Trennung, kurzum: die Erfahrung der Leere, der Unerfülltheit, die Negativität der existenziellen Selbsterhaltung bis hin zu der von Schelling selbst in den Blick gebrachten ›Selbstzerfleischung‹. 13 Ob es sich dabei um eine »schreckliche Empörung in der Gesellschaft« handelt, »alte Treue u. Freundschaft sich löst«, »Gräuel von Gräueln verdrungen werden«, der Widerspruch tritt bei Schelling realgeschichtlich in Kraft, als eine vom Subjekt unabhängige Struktur. Die Zeit ist nicht bloß eine objektiv gültige Form unserer Vorstellung, wie man aus kantischer Perspektive beschwichtigend sagen würde; sie ist ein Widerstand, den es überhaupt erst zu überwinden gilt. Die Zeit erscheint uns, so möchte Schelling sagen, immer schon als »furchtbare Wirklichkeit« (WA III 5, 225), als eine Wirklichkeit im Vollzug, die uns eine »Anstrengung aller Kräfte« abverlangt, und aus deren Sog wir uns permanent loszureißen suchen, auch wenn wir permanent daran scheitern. Mit der Negativität greift Schelling dabei auf eine Denkstruktur zurück, die bereits im Frühwerk angelegt ist, jetzt aber in aller Konsequenz zu Ende gedacht wird. Zwar war auch schon in der Frühphilosophie von einem »harten inneren Kampf« die Rede. Aber der »harte innere Kampf« wird nun als der tragische »Prozeß alles Lebens« verstanden (WA I, 102). Allem Leben, so sagt Schelling schon in den Stuttgarter Privatvorlesungen, »hängt eine unzerstörbare Melancholie an, weil es etwas von sich Unabhängiges unter sich hat« (AA II,8, 156), mit dem es in Wieland 1956, 29 f. Die Figur des Selbstentzugs nimmt auch eine prominente Stelle bei Max Scheler ein, der auf analoge Weise das Phänomen der Selbsterfahrung aus der »Unerfülltheit eines Triebhungers« hervorgehen sieht (Scheler 1928, 219). Bei Schelling wiederum lässt sich darin ein anthropologisch gewendeter Wille zur Selbsterhaltung erkennen, das suum esse conservare Spinozas. Vgl. dazu auch Schmidt-Biggemann 1998, 729. 13

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Schellings geschichtliche Offenlegung der Zeit

Widerspruch gerät. Ohne Widerspruch, so heißt es in den Weltaltern, wäre »kein Leben, keine Bewegung, kein Fortschritt, ein Todesschlummer aller Kräfte«: »Nur der Widerspruch treibt, ja er zwingt zu handeln. Also ist eigentlich der Widerspruch das Gift alles Lebens, und alle Lebensbewegung nichts anderes, denn die versuchte Überwindung dieses Giftes« (WA II, 123). Und obwohl die Menschen im Leben wie im Wissen nichts mehr scheuten als den Widerspruch, so müssten sie am Ende doch am Widerspruch festhalten, »weil eben das Leben selbst im Widerspruch ist«. Mit anderen Worten: In einer Reihe von menschlichen Zeiterfahrungen stoßen wir auf eine Form der Selbsterfahrungen, in der sich fühlbar ein fundamentales Prinzip in uns ausspricht, das des »Grundgesetz[es] des Gegensatzes« (AA II,8, 98). 14 Von diesem ›Grundgesetz‹ ist unser Selbstvollzug, die Gründe, aus denen wir urteilen und handeln, von jeher auf irreduzible Weise durchdrungen: Dasein, das ist für Schelling der Widerstreit zweier gleichanfänglicher Prinzipien, und zwar »eines das vorwärts strebt, zur Entwicklung treibt und eines anhaltenden, hemmenden, der Entwicklung widerstrebenden« (WA II, 122). Mag uns der Zugang zur lauteren Ewigkeit als solcher versperrt sein – Schelling spricht in diesem Zusammenhang von »verdrungen« –, was »gewiß« ist, offen daliegt, für uns zugänglich ist, das ist, was wir unmittelbar erfahren, und das ist, dass wir in einer »Welt voller Bewegung« leben, einer Welt, deren ontologische Struktur der »Widerstreit« und gerade nicht die Gleichgültigkeit der lauteren Ewigkeit ist. 15 Schelling dreht damit Vgl. dazu auch die Überlegungen Baumgartners, der in unverkennbarem Anschluss an Schelling die These aufstellt, der Ursprung der Zeit liege primär in der menschlichen Erfahrung eines Negativen, eines Verlustes: »Vielleicht ist die Zeit in der Tat der Riß im Sein, der die Dauer sprengt, das Vergangene in Natur, Erleben und Geschichte, ja diese Bereiche selbst erst als differente hervorbringt« (Baumgartner 1994, 211). 15 In analoger Weise verfährt Schelling schon in den Stuttgarter Privatvorlesungen. Nachdem er dort die Notwendigkeit eines Widerspruchs in Gott darlegt hat, dass es also etwas in Gott geben müsse, das nicht »Er selber« ist, versucht er die Anstößigkeit dieser Behauptung mit Verweis auf die Erfahrungen des alltäglichen Bewusstseins wieder ins rechte – nicht-seinsollende – Licht zu rücken: »Daß etwas der Art vorgegangen, davon überzeugt uns alles«. Unter den Dingen, die Schelling dort anführt, seien hier nur genannt: »Besonders die Gegenwart des Bösen, und also der Anblick der moralischen Welt. Denn das Böse ist eben nichts anderes als das relativ Nichtseyende, das sich zum Seyenden erigirt, also das wahre Seyn verdrängt« (AA II,8, 142). 14

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die zeittheoretische Aporie von Augustinus kurzerhand um. Geht man von Schelling aus, müsste es nicht wie in dem vielzitierten Augustinus-Zitat heißen: »Was also ist die Zeit? Wenn mich niemand darüber fragt, so weiß ich es; wenn ich es aber jemanden auf seine Frage erklären möchte, so weiß ich es nicht«. 16 Es müsste heißen: ›Wenn mich niemand darüber fragt, so weiß ich es nicht; wenn mich aber jemand auf die Zeit aufmerksam macht, so spüre ich nichts als ihre furchtbare Wirklichkeit‹. Fast könnte man versucht sein, in dieser Art Umkehrung des vielzitierten nescio-Einwandes diejenige phänomenale Evidenz zu erblicken, die der Dichter Hugo von Hofmannsthal vor Augen gehabt haben muss, als er das Libretto zur Operette Der Rosenkavalier schrieb: Die Zeit, die ist ein sonderbares Ding. Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts. Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie […]. 17

Denn es stimmt ja: Die Feldmarschallin Fürstin Werdenberg muss erkennen, dass ihrer Liebe zu dem sehr viel jüngeren Octavian ein interner Widersacher erwachsen ist: die Zeit selbst. Und wie sollte man sich gegen die Zeit als solche schon zu Wehr setzen können, wenn Zeit sich hier zuallererst in der Erfahrung einer Unwiderruflichkeit manifestiert, in der Irreversibilität der Lebenszeit, die sich als unüberbrückbarer Altersunterschied zwischen den beiden zeigt: [S]ie ist um uns herum, sie ist auch in uns drinnen. In den Gesichtern rieselt sie, im Spiegel da rieselt sie, in meinen Schläfen, da fließt sie. Und zwischen dir und mir da fließt sie wieder […]. 18

Insofern ist es nicht nichts, was wir über die Zeit zu sagen wissen. In der Regel, so versucht Schelling zu sagen, wissen wir sehr viel über sie zu sagen, manchmal vielleicht sogar mehr als uns lieb ist. Wenn dem aber wirklich so ist, wenn also wahr ist, dass Zeit sich immer schon als irreduzible Differenzerfahrung zu erkennen gibt, dann muss und kann es diese Differenz Schelling zufolge nicht erst auf der Ebene der Zeitlichkeit geben, sie muss bereits auf der Ebene

16 17 18

Augustinus 1993, 251 (Bekenntnisse, XI, 14). Hofmannsthal 1986, 40. Ebd.

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der Ewigkeit wirksam, gewissermaßen in ihr ›implantiert‹ sein. 19 Bereits im Dunkeln muss, wie Jochem Hennigfeld vermerkt, »ein leuchtender Lebensblick enthalten sein«, ein ›Stachel‹, damit es in umkehrter Richtung zu einer »Entfaltung des Seins« kommen kann. 20 Von diesem Stachel ist zwar nicht klar, wann und wie er ins Fleisch eingewachsen ist, in ganz bestimmten Momenten, Augenblicken existenzieller Negativität, lässt er uns aber unzweifelhaft spüren, dass er da ist. Folglich muss es »wie in allem Lebenden so schon im Urlebendigen eine Doppelheit« (WA I, 50) gegeben haben: Das Daseyn eines solchen ewigen Gegensatzes konnte dem ersten innig fühlenden und bemerkenden Menschen nicht entgehen. Schon in den Uranfängen der Natur diese Zweiheit, nirgends aber im Sichtbaren ihre Quelle findend, mußte er früh sich sagen, daß der Grund des Gegensatzes so alt ja noch älter als die Welt sey; daß, wie in allem Lebendigen, so wohl schon Urlebendigen eine Doppelheit sey, die herabgekommen durch viele Stufen sich zu dem bestimmt habe, was bei uns als Licht und Finsterniß, Männliches und Weibliches, Geistiges und Leibliches erscheint. Daher gerade die ältesten Lehren die erste Natur als ein Wesen mit zwei sich widerstreitenden Wirkungsweisen vorstellen. (SW VIII, 211 f.)

(2) Erste Scheidung: Blickt man von hier aus auf die Ausgangsfrage zurück, wie der lauteren Ewigkeit, von der es hieß, dass sie »über aller Zeit« sei, eine Ewigkeit gegenübertreten kann, die bereits intern zeitlich strukturiert ist, so lässt sich nun festhalten: Auch in der lauteren Ewigkeit macht sich offenbar schon ein Widerspruch bemerkbar. Und dieser Widerspruch äußert sich in Analogie zur menschlichen Zeiterfahrung zum einen als ›Entzug‹, zum anderen aber auch als ›Lust‹, als »ein In-sich-gehen, ein Sich-suchen und Sich-finden, das je inniger desto wonnevoller ist, und die Lust erzeugt, sich zu haben und sich äußerlich zu erkennen« (WA I, 17). Diese aus der Negativität erwachsene »Lust« ist es, welche die Bewegung rekursiv auf sich selber lenkt; an anderer Stelle wird sie von Schelling auch als »Liebe« (WA I, 19) bezeichnet, nicht ohne Grund, wie ein Blick in frühere Schriften zeigt. Die ›Liebe‹ war von Schelling nämlich bereits zuvor, in der Abhandlung Über das Verhältnis des Realen und Idealen in der Natur von 1806, als »unendliche Lust sich selbst zu offenbaren« Vgl. dazu auch AA II,8, 96: »Gott hat dieselben zwei Principien in sich, die wir in uns haben«. 20 Hennigfeld 2002, 15. 19

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(SW II, 362) bestimmt worden. Das »Wesen des Absoluten«, so hieß es, könne von dieser »Lust« nicht verschieden gedacht werden. Denn recht verstanden, sei es nichts anderes als dieses »sich-selber-Wollen«, und zwar ein Sich-selber-Wollen »auf unendliche Weise«: »Das Absolute ist aber nicht allein Wollen seiner selbst, sondern ein Wollen auf unendliche Weise, also in allen Formen, Graden und Potenzen von Realität« (SW II, 362). Nicht anders stellt sich nun auch die Anfangssituation in den Weltaltern dar: Würde aller Widerspruch aufgehoben, gäbe es mithin nichts als die »urerste lautere Wesenheit«, dann wäre die Ewigkeit, wie Schelling sich ausdrückt, »nichts denn ein bodenloser Abgrund« (WA I, 76). Da der Widerspruch aber ›real‹ ist und sich in einer zur Liebe gesteigerten unendlichen Lust Ausdruck verschafft, muss auch die lautere Ewigkeit in eine – wenn auch für sich selbst noch unbewusste – Offenbarungsspannung treten. Und eben hier gelangt man wieder zur Unterscheidung zurück, mit der Schelling seine ›Genealogie der Zeit‹ eröffnet hatte: zur Unterscheidung zwischen einer ›lauteren Ewigkeit‹, die schlechterdings »über aller Zeit« ist, und einer realen, wirkenden Ewigkeit, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bereits »verborgener Weise als Eins gesetzt« (WA I, 75) sind. ›Lust‹ und ›Liebe‹ stehen auf dieser Stufe der Genealogie strukturell für eine Form der Empfänglichkeit, in der sich ein vom ersten Prinzip unabhängiges zweites Prinzip erzeugen kann: eine Hervorbringung, die sich letztendlich aber nur auf »unbegreifliche Weise« (WA II, 137) vollziehen, eine ›Ent-scheidung‹ zwischen beiden stiften kann. 21 Die Genealogie – und das unterscheidet sie in methodologischer Hinsicht von dem Verfahren der Deduktion – erweist sich bereits in ihrem Anfang als Heterogonie, als die Erzeugung eines Anderes. 22 Und weil das so ist, weil es also »keinen Uebergang« (WA I, 77) von der einen Form der Ewigkeit zur anderen gibt, obwohl sie ihrem Wesen nach nichtsdestoweniger ›Eins‹ sind, könnte man in Bezug auf die temporalen Bestimmungen der realen, wirkenden Ewigkeit, das Vgl. dazu auch WA I, 139: »Wer uns entgegenhält, daß wir die Herkunft der Welt durch lauter Wunder erklären, der sagt eben damit das Rechte. Glaubt denn irgendwer, daß die Welt ohne ein Wunder, ja ohne eine Reihe von Wundern habe entspringen können?« Auf den methodischen Status des Wunders wird im methodologischen Exkurs zur Anfangsproblematik in Hesiods Theogonie zurückzukommen sein. Zum Problemzusammenhang von Empfänglichkeit, Duplizität und Scheidung vgl. auch Angehrn 1992. 22 Vgl. dazu Ortland u. a. 1992, 15. 21

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Ineins der drei Zeitdimensionen, von einer Zeit der Latenz sprechen, 23 die sich – nach Analogie des Willens – zwischen einem »Wille, der nichts will« und einem, »der Etwas will« (WA I, 77) herausbildet. Anstatt nämlich sich zu offenbaren, versucht der ›Wille, der nichts will‹ wieder in sich zurückzukehren. Die lautere Ewigkeit, so heißt es an anderer Stelle, »setzt nichts außer sich hinaus oder stößt etwas von sich ab, sondern im Gegentheil sie zieht sich etwas an oder zu«; und weiter: »die That ist nicht ein sich Offenbaren u. gleichsam bloß Machen, sondern im Gegentheil ein sich Bedecken, sich Verhüllen des zuvor nackten u. bloßen Willen« (Schelling 2002, 176 f.). Und so ist es gerade dieses »bewußtlose[…] Suchen«, wodurch sich in der Ewigkeit ein zweiter, ein »selbstständiger Wille« (WA II, 137) erzeugt, eben der ›Wille, der Etwas will‹. Zwischen Erstem und Zweiten bildet sich eine temporale Sukzession, auch wenn sich dieses sukzessive Ordnungsgefüge hier noch nicht als Zeit, als ›reale‹ Gegenwart ausspricht. Der Drang, »sich selbst zu finden und zu genießen« (WA II, 137), geschieht und kann auch nur auf eine unvordenkliche Weise geschehen; der Vollzug selbst bleibt dabei im Dunkeln, woraus er aber wiederum seinen inneren Antrieb generiert, der ihn noch tiefer in sein Suchen hineintreibt. Unter einer Latenzzeit lässt sich mit Schelling also ein Seins- bzw. Willensverhältnis verstehen, das sich zwischen einem aktualen, zur Präsenz gebrachten Gegensatz und einem potenziell noch immer vorhandenen, sich prinzipiell aber entziehenden Gegensatz aufspannt, der sich auf diese Weise weiter multipliziert. Das ›Verborgensein‹ der Zeit unterscheidet sich darin vom ihrem bloßen ›Enthaltensein‹ im Absoluten, dass die Zeit hier nicht nur in potentia existiert, nicht nur möglich ist, sondern immer schon bezogen ist auf eine ›entschiedene‹ Gegenwart, die es noch nicht oder schon nicht mehr gibt. Die Zeit der Latenz bildet mit Thomas Khurana gesprochen eine »Zone der Zeitigung, in der Vergangenheit und Zukunft koexistieren und sich affizieren«. 24 Die Zeit, wie sie sich in ihre geschichtlichen Dimensionen auseinanderlegt, ist in der Ewigkeit

Vgl. dazu auch Frank 1992, 324. Frank spricht in diesem Zusammenhang allerdings fälschlicherweise von einer »virtuellen Zeitlichkeit«. Im Unterschied zum Virtuellen bzw. Möglichen ist das Latente selbst kein logisches Implikat von seinem Entgegengesetzten, dem Aktuellen bzw. Wirklichen. Das Latente liegt dem Aktualen vielmehr – wie hier bei Schelling deutlich wird – auf anderer, praktischer Ebene zugrunde. 24 Khurana 1993, 146. 23

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zwar mitgegenwärtig, verbleibt aber akut, subliminal, ausstehend, in absentia. 25 Auf die Frage, woher der ›ewige Wille‹ bzw. der ›Wille, der Etwas will‹ kommt, was bzw. wer den Anfang macht, lässt sich mit Schelling daher nur antworten: Der zweite Wille nimmt seinen Anfang in der aus einer absoluten Negativität resultierenden Liebe als der unendlichen Lust des ersten, in sich verschlossenen Willens, sich selbst zu offenbaren. Die Liebe dringt »in jener ersten verschlossenen Einheit auf Scheidung« (WA I, 75). Das »erste Wirken der Liebe« ist der »absoluter Anfang« (WA I, 76): Sie ist es, die einen Prozess der Selbstverwirklichung als einer Selbstvergeschichtlichung in Gang setzt: Die drei Zeitdimensionen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind latenterweise bereits vor aller Zeit vorhanden, eben gerade weil sich im Ausgang von der Analyse der menschlichen Zeiterfahrung herausgestellt hatte, dass es im Grunde gar keinen »von aller Beimischung der Zeitbegriffe völlig reinen Begriff der Ewigkeit« (SW VIII, 259 f.) geben kann. Die lautere Ewigkeit ist ein Grenzbegriff für die menschliche Vernunft: Sie ist immer schon mit einer temporalen Differenz beschlagen, eine Form der internen Duplizierung, die sich durch nichts weiter erklären lässt, als durch den Rückgriff auf die menschliche Zeiterfahrung, die Einsicht in die durchgängige Konfliktuösität geschichtlicher Gegenwart. Der Anfang stellt sich bei Schelling als ein gewordenes Verhältnis äquipollenter Willenskräfte heraus hinter das mit Blick auf die eigenen, spürbar negativen geschichtlichen Erfahrungen nicht mehr zurückgefragt werden kann. Es ist diese Figur von Verbindung durch Trennung, die bei Schelling den polysemantischen Ausdruck der Scheidung bekommt, und Der im Grunde erst durch die Psychoanalyse Freuds geprägte Begriff der Latenz kommt in den Weltaltern sogar vor: Schelling verwendet ihn, um auf den Zustand des anfänglichen Eingeschlossenseins hinzuweisen. So gelange der ›wirkende Wille‹ anfangs zwar noch nicht zur äußeren Wirkung, sei aber gleichwohl als »Leidendes, Eingeschlossenes, Latentes« (WA I, 22) bereits vorhanden. Es zeigen sich hier in der Tat große Übereinstimmungen mit Freud, für den der Begriff der Latenz eine Verzögerung in der Ausprägung eines Entwicklungsmerkmals bezeichnet. Interessanterweise hat Freud dabei aber nicht nur die libidinöse Entwicklung des einzelnen Menschen im Blick gehabt, sondern verwendet den Begriff auch zur Bezeichnung universalgeschichtlicher, insbesondere religionsgeschichtlicher Prozesse. Neben Odo Marquard hat sich vor allem Axel Hutter der strukturellen Affinität zwischen Schelling und Freud angenommen und ist den subkutanen Verbindungen nachgegangen. Vgl. dazu insbesondere Hutter 1994a. 25

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die Neuausrichtung gegenüber den strukturgeschichtlichen Ansätzen der Identitätsphilosophie anzeigt. An die Stelle der ursprünglichen Identität rückt die anfängliche Dualität zweier gleichanfänglicher Prinzipien: Ewigkeit und Zeit. Es ist offensichtlich, dass Schelling hier an das Modell des Ungrundes aus der Freiheitsschrift anknüpft, ein ›Grund‹, von dem es heißt, dass er nicht anders sein könne, »als indem er in zwey gleich ewige Anfänge auseinandergeht, nicht daß er beide zugleich, sondern daß er in jedem gleicherweise, also in jedem das Ganze, oder ein eignes Wesen ist« (AA I,17, 172). In der Ewigkeit selbst, so muss man Schellings Figur der Entzweiung verstehen, ist bereits der »erste, aber noch zarteste reinste Dualismus« (WA I, 89) gesetzt. Die Bewusstwerdung der Ewigkeit vollzieht sich nicht erst im weltlichen, sondern – geradezu protogeschichtlich – im vorzeitlichen Raum. Die lautere Ewigkeit ist nur ein Grenzbegriff, in Wirklichkeit ist sie immer schon mit einer ›vorzeitigen‹ Zeitlichkeit beschlagen. Im ersten Außer-sich-Sein beginnt sich die unaktuierte Fülle Gottes, in der »noch nicht einmal die Möglichkeit eines Anfangs« (WA I, 49) vorhanden war, leise aufzufächern und gewinnt erste Konturen, wird Möglichkeit eines Anfangs. Diese durch die erste Zäsur gewonnene Struktur nennt Schelling innerhalb der ›Genealogie der Zeit‹ den »Anfang des Anfangs« (WA I, 75). An anderer Stelle bezeichnet er ihn auch als den eigentlichen »Anfang zur Existenz« (WA I, 17), sodass man hier mit Horst Fuhrmans vorsichtig von einer ersten Stufe der Existenzwerdung sprechen kann: »Der Aufbruch der Ideenwelt ist so die erste Verwirklichung Gottes, die Verleiblichung seiner Fülle«. 26 Dass es sich an dieser Stelle bei Schelling in der Tat um einen wirklichen Dualismus in der Ewigkeit selbst handelt, wird daraus ersichtlich, dass beide Willen, Ewigkeit und Ewiges schlechterdings unabhängig voneinander, kurz: eigenständig sind. Da die Entgegengesetzten nicht auseinander hervorkommen, der eine Wille aus dem anderen nicht deduktiv ableitbar ist, können sie prinzipientheoretisch einander auch nicht den Anfang streitig machen. Beide Seiten bestehen »vollkommen gleichgültig nebeneinander« (WA II, 163). Und doch, so räumt Schelling ein, »kann dieses Princip von der Ewigkeit nicht absolut getrennt; es muß, schon des Gegensatzes wegen, auf andere Weise wieder Eins mit ihr seyn« (WA I, 18). (3) Erste Wirksamkeit: War die Liebe zu Anfang von Schelling bestimmt worden als unendliche Lust sich selbst zu offenbaren, so 26

Fuhrmans 1954, 301.

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beschreibt er sie auf der nächsten Stufe der Genealogie als die Kopräsenz existenziell Gleichartiger. Schon 1809 hatte es in der Freiheitsschrift geheißen, dass darin das »Geheimniß der Liebe« verborgen liege, dass sie solche zu verbinden wisse, »deren jedes für sich seyn könnte und doch nichts ist und nicht seyn kann ohne das andere« (AA I,17, 172). 27 Die Liebe drückt in diesem Fall eine Relation zweier Kräfte, Prinzipien, Willen aus, die zwar ohne einander nicht existieren könnten und auch nicht würden, zwischen denen es aber dennoch keinen Übergang gibt; ihre Abhängigkeit auf der einen Seite hebt ihre Selbstständigkeit auf der anderen Seite nicht auf, eben das macht sie zu existenziell gleichwertigen Prinzipien. 28 Einerseits stehen sie zwar in einer notwendigen Verbindung zueinander, andererseits sind sie aber nicht auseinander ableitbar. Sie sind »der Existenz nach« (WA I, 18), wie Schelling sich ausdrückt, aufeinander bezogen und das bedeutet: der Existenz nach gleichursprünglich. Das besondere an dieser Zweiheit in der Einheit ist nun, und darauf kommt es Schelling mit Blick auf die »Geschichte der Entwicklung des Urwesens« (WA I, 10) und der vorliegenden Untersuchung mit Blick auf die Vergeschichtlichungsthese an, dass sie als ein temporales Selbstverhältnis interpretiert werden kann, und zwar als eines solches, das, auch wenn es selbst noch nicht in der Zeit ist, gleichsam latent bereits wirksam ist. Der ontologischen Latenz korrespondiert eine zeitlogische Latenz. Das Ewige enthält schon eine »innre Zeit«, wenn auch nur der Möglichkeit nach: »denn Zeit entsteht unmittelbar durch Differenziirung der in ihm nicht bloß als Eins, sondern als äquipollent gesetzten Kräfte« (WA I, 77). Von dieser Zeit heißt es zwar, dass sie »keine bleibende, geordnete Zeit«, sondern Auf diese besondere Struktur der Liebe kommt Schelling schon in den Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie von 1806 zu sprechen: »Dies ist das Geheimnis der ewigen Liebe, daß, was für sich absolut sein möchte, dennoch es für sich keinen Raub achtet, es für sich zu sein, sondern es nur in und mit dem andern ist. Wäre nicht jedes ein Ganzes, sondern nur Teil eines Ganzen, so wäre nicht Liebe: darum aber ist Liebe, weil jedes ein Ganzes ist, und dennoch nicht ist und nicht sein kann, ohne das andere« (SW VII, 174). 28 Entscheidend ist also, dass sich die Bestimmung dessen, was Liebe ist, im Prozess der Scheidung selbst verändert. Schon Wieland 1956, 84, weist daraufhin, dass es im Grunde drei Bedeutungen von ›Liebe‹ bei Schelling gibt: (1) Liebe als In-sich-versunken-sein der reinen Lauterkeit, (2) Liebe als unendliche Lust sich selbst zu offenbaren und (3) Liebe als Sich-aus-sich-heraussetzen. Welche Form die Liebe jeweils annimmt, lässt sich nur aus dem spezifischen, genealogischen Zusammenhang heraus rekonstruieren. 27

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»in jedem Augenblick durch neue Contraction, durch Simultaneität bezwungen« werden müsse: »[S]ie ist eben darum auch keine Zeit, die ihren wirklichen Anfang finden, die ausgesprochen, offenbar werden könnte« (WA I, 77), kurzum: eine »anfanglose« Zeit, ein »bodenloser Abgrund«, »da kein Maß anwendbar, kein Ziel und keine Zeit bestimmbar« (WA I, 76). Aber sie ist schon Zeit, eine, wenn man so will, ›vorgeschichtliche‹ Zeit. Ja, der Widerstreit zwischen beiden Kräften, Prinzipien, Willen wäre ohne Rekurs auf ein solches Zeitverhältnis der Latenz überhaupt nicht denkbar. Schelling nennt die in die Ewigkeit eingelassene Zeit die »ewige Zeit« oder auch – analog zur ontologischen Kategorie des Nichtseienden – die »ewige Nichtgegenwart« (SW VIII, 260). ›Ewig‹ ist diese Zeit im doppelten Sinne: Sie ist die Zeit der Ewigkeit, und die Zeit, die, weil sie nicht aus der Ewigkeit herauskommt, ewig im Anfang bleibt. Schelling beharrt deshalb darauf, dass man es bei der ›ewigen Zeit‹ zwar mit dem »Anfang des Anfangs« zu tun habe, aber noch nicht mit dem »wirkliche [n] Anfang« (WA I, 75). Die entscheidende Frage, die sich nun stellt, ist freilich, wie aus der latenten »Möglichkeit einer Zeit« (WA I, 18) die Realität der Zeit hervorgehen kann. Was muss geschehen, damit die »im Ewigen verborgne Zeit« (WA I, 77) aus der Latenz in die Aktualität übergehen und sich ausdifferenziert kann in die geschichtlichen Zeiten von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft? Denn eines ist klar und sollte schon bei der Betrachtung der genealogischen Stufe der ersten Scheidung deutlich geworden sein, dass erst mit dem ›wirklichen‹ Anfang die »ewige Nichtgegenwart« der Ewigkeit überwunden und die bereits virulent gewordene ›innere‹ Zeit als Zeit gesetzt werden kann, solange das aber noch nicht geschehen ist, muss sie als die verborgene Einheit der drei Zeitdimensionen zwangsläufig für ›ontologische Instabilität‹ sorgen. Dieselben Kräfte, die sich in der Ewigkeit als Potenzen des Seins gezeigt haben, müssen und sollen sich – damit Ordnung in die Zeit einkehrt – unabhängig von ihr als Zeit oder besser gesagt: als »Perioden des Werdens und der Entwicklung« (WA I, 45) erweisen. Erforderlich ist nach Schelling eine zweite Scheidung, ein Vollzug, der den ›internen Dualismus‹, der sich in der Ewigkeit befindet, nicht einfach als solchen weiter perpetuiert, sondern in einen zeitlogischen Periodismus transformiert, in eine Ordnung, die die »Simultaneität der Principien in ihr entschieden aufhebt« (WA I, 77) und die Vorgeschichte der Zeit beendet. 29 29

Vgl. dazu auch eine Passage aus der Philosophie der Offenbarung: »Diese vorzeit-

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Was zunächst aber geschieht, lässt sich in struktureller Hinsicht als ›Spiel‹ verstehen und beschreiben. Die Ewigkeit ›spielt‹ gleichsam mit sich selbst, seit sie sich selbst »fühlend geworden« (WA I, 29) ist. Schelling beschreibt diesen Zustand als den Augenblick der »ersten wirkenden Innigkeit« (WA I, 31), vergleichbar mit einem menschlichen Wesen, das »ganz in sich selber und in der höchsten inneren Klarheit, von der Außenwelt aber völlig abgeschnitten ist« (WA I, 30), ein Zustand der »wonnigste[n] Einheit« (WA I, 29), ein Zustand, in dem – je nach Stellung der Willen zueinander – die »Ur-Bilder« entstehen und vorbeiziehen, ›Urbilder‹, hier nicht nur verstanden als intelligible Wesen, sondern als bereits »mit der ersten, zartesten Leiblichkeit« (WA I, 31) überzogene Gestalten. 30 »Unläugbar ist«, so notiert Schelling, »daß in den Zuständen innrer Begeisterung […] immer auch das Physische in ein eignes Verhältnis zum Geistigen trete« (WA I, 31). Geistiges und Leibliches bilden – genau wie die beiden Willen – zwei Seiten derselben Existenz, sodass es auch in liche Ewigkeit, die für sich selbst noch nicht Zeit ist, wird durch die Schöpfung als Vergangenheit, und demnach als eine Zeit gesetzt. Denn mit der Schöpfung fängt eine neue Zeit an (ein neuer Aeon), welche neue Zeit nun Gegenwart ist, und so können wir sagen, daß mit der Schöpfung überhaupt erst Zeit gesetzt ist; denn Zeit ist erst gesetzt, wenn Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gesetzt ist. Es gibt keine Zeit, solang keine Vergangenheit gesetzt ist. Die einzig mögliche Art, sich einen Anfang der Zeit zu setzen, was von großer Wichtigkeit, ist eben, daß etwas, was zuvor Nichtzeit war, als Zeit, demnach als Vergangenheit gesetzt wird« (SW XIV, 109). 30 Man mag sich hier an Goethes ›zarte Empirie‹ erinnert fühlen. Wie weit der wirkungsgeschichtliche Einfluss trägt, bedürfte einer eigenen Untersuchung. Schelling steht während der Arbeit an den Weltaltern in fortlaufendem Kontakt mit Goethe. Schelling berichtet Goethe 1814 etwa von einem Werk, »über dem ich lange gebrütet, des ersten, von dem ich wünsche, Sie möchten es dem ganzen Zusammenhang nach lesen und durchdenken« (F. W. J. Schelling an J. W. v. Goethe, 2. November 1814, Mandelkow 1969, 158). Schelling ist schon allein deshalb im Bund mit Goethe, weil er in der Streitsache mit Jacobi nach Alliierten sucht. Goethe aber bleibt, auch wenn er sich auf die Seite Schellings schlägt, skeptisch ihm gegenüber, was sich nicht zuletzt an der verhinderten Wiederberufung 1816 nach Jena zeigt. Zugespitzt formuliert ergreift Goethe weniger Partei für Schelling als gegen Jacobi, lässt sich in seinem Antwortbrief aber gleichwohl nichts anmerken: Mit Sehnsucht erwarte er das ihm angekündigte Werk: »Ich bin geneigter als jemals die Regionen zu besuchen, worin Sie als in Ihrer Heimath wohnen« (J. W. v. Goethe an F. W. J. Schelling, 16. Januar 1815, Plitt II, 349). In Bezug auf den Streit zwischen Schelling und Jacobi ist von Pauline Gotter das Wort überliefert, Goethe habe seinen, Schellings, ›Gott‹ zwar nicht begriffen, aber Jacobis ›Gott‹ müsse doch ein »kläglicher Gott« (P. Gotter an F. W. J. Schelling, 4. April 1812, FA II,2, 43) sein, weil er in der Natur der sichtbaren Welt nicht zur Anschauung kommen könne.

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diesem Stadium der Wonne und Eintracht wie schon zuvor in der lauteren Ewigkeit zu einer Form der ›gleichgültigen‹ Einheit kommt. Allerdings unterscheidet sich diese spezifische Form der existenziellen Gleichgültigkeit von der Form der lauteren Gleichgültigkeit dadurch, dass sie gleichgültig ist in Bezug auf etwas, das Existierende, wohingegen die lautere Gleichgültigkeit bloß gleichgültig gegen sich selbst war. Die »existentielle Gleichheit« (WA I, 26) ist, mit anderen Worten, eine wirkliche Indifferenz, die ›lautere Gleichheit‹ bloß eine absolute Indifferenz. Der anfängliche Dualismus entpuppt sich als ein ›interner Dualismus‹: intern deshalb, weil es eine übergreifende Struktur gibt, eine Einheit der Einheit und des Gegensatzes, die im Gegensatz zur Identitätsphilosophie aber nicht mehr der Ursprung, sondern vielmehr der Anfang, und zwar nicht einzuholender, absoluter Anfang jenes ›zartesten Dualismus‹. Und diese Struktur bezeichnet Schelling als »ersten wirkenden Willen« (WA I, 22). Allerdings fragt sich mit Blick auf die ›Genealogie der Zeit‹, wie lange ein solches ›Spiel‹ der ungetrübten Eintracht und Wonne aufrechterhalten werden kann. Noch immer ist die lautere Ewigkeit das eigentlich Existierende: »Sie [die Lauterkeit, P. N.] freut sich also wohl eine Weile ihres fühlenden und sich selbst fühlbar gewordenen Lebens […]; bald aber empfindet sie nur inniger und schärfer – durch den Widerspruch mit dem Gegensatz, in den sie versetzt ist – die Einheit ihres eigenen Wesens« (WA I, 34). Und die Frage, um die das gesamte Weltalter-Projekt kreist, ist im Grunde, wie die Offenbarungsspannung, die im Vorwärtsgedrängtwerden und im Zurückdrängen der lauteren Ewigkeit entsteht, aufgehoben werden kann, ohne zugleich die existenzielle Gleichheit, die in den latent temporalen Bestimmungen manifest geworden ist, aufzuheben. Ist es möglich, so ließe sich auch fragen, zwei einander so entgegengesetzte Forderungen miteinander zu vereinbaren: »die Zweyheit soll seyn, und die Einheit nichtsdestoweniger bestehen« (WA I, 55)? Im Zustand des spielerischen Gleichgewichts ist zumindest an kein bleibendes Sein, keine geordnete Zeit zu denken, an nichts Beständiges, keine wirkliche Sukzession. Ein »Umtrieb« macht sich vielmehr rege, eine bis ins Kleinste gehende »rotatorische[…] Bewegung«, ein Taumel, die »erste Form und Offenbarung des eigenen gesonderten Lebens« (WA I, 38). Aber das »Objektive« bleibt, wie Schelling festhält, »beständig, so zu sagen, auf dem Sprung ins Aeußerliche, ohne dahin wirklich gelangen zu können« (WA I, 39). Es bedarf, wie schon angekündigt, einer endgültigen ›Scheidung‹, um jenes »wie wahnsinnig in 107 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

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sich selbst laufende Rad der anfänglichen Geburt und die darinn wirkenden furchtbaren Kräfte des Umtriebs« zu mäßigen. Ein wirklicher Anfang kann nach Schelling nur dadurch gesetzt werden, dass der Widerspruch als Widerspruch zweier Selbstständiger gesetzt wird. Erst durch den konsequenten Rückgang auf den ›Urwiderspruch‹ – Identität und Dualität –, dadurch dass in jedem der Entgegengesetzten die Einheit wieder von neuem erzeugt wird – »denn ein jedes Seyendes verlangt nicht bloß innerlich zu sein, sondern das, was es ist, auch wieder, nämlich äußerlich zu sein« (WA I, 26) – entstehen Zeit und geschichtliche Gegenwart, dadurch dass der Urwiderspruch von neuem erzeugt und damit zugleich in seiner ersten, noch ganz im Verborgenen gebliebenen Gestalt als Vergangenheit gesetzt wird. (4) Zweite Scheidung: Solange aber der Widerspruch nur verzeitlicht, noch nicht aber vergeschichtlicht, der Anfang noch nicht gemacht ist, steigen, wie Schelling nun ausholt, »mächtige, gewaltige und, weil durch die Einheit nicht gemäßigte, ungeheure Geburten« (WA I, 40) auf, die das Ewige »alle Schrecknisse seines eigenen Wesens« (WA I, 41) empfinden lassen, »besinnungslose, rasende Tänze«, wie er nun selber fast schon im Furor schreibt, »begleitet von dem Getöse einer rauhen, theils betäubenden theils zerreißenden Musik« (WA I, 43). Schellings mitunter dramatische Metaphorik ist wohl begründet: Die Gemütszustände zeigen an, dass die der spekulativen Zeitanalyse zur Seite gestellten menschlichen Zeiterfahrungen den genealogischen Stufen entsprechend ihre Gestalt verändern: nach dem Widerspruch, der Lust, der Liebe und der Wonne ist es dieses Mal das Gefühl der »Angst« (WA I, 41), das das Verhältnis der Entgegengesetzten in konkreter Weise zur Anschauung bringen soll: »Nicht mehr in jenem Zustand der Innigkeit oder des Hellsehens, […] brütet das in diesem Widerstreit existierende Wesen wie in schweren, aus der Vergangenheit aufsteigenden Träumen«. Eine Angst, die sich bei Schelling bis zum »Wahnsinn« steigert, weil sie den unauflösbaren Gegensatz im Ewigen nur umso stärker hervortreibt. Ja, der »Wahnsinn« ist in der Genealogie überhaupt der »letzte Zustand des höchsten inneren Streits und Widerspruchs« (WA I, 42), da er in seinem an Besinnungslosigkeit grenzenden Taumel schon wieder der ›Begeisterung‹ gleichkommt, dem antiken ενθουσιασμός, der wie schon im platonischen Ion die Teilhabe an einer die Gegensätze überwölbenden, höheren, gleichsam verborgenen Notwendigkeit bedeutet: Der furor poeticus, die ποιητική μανία ist das dialogische Zugleich von Trunkenheit und Nüchternheit, von »tanzende[m] 108 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Schellings geschichtliche Offenlegung der Zeit

Wahnsinn« und »vernünftigem Bewußtsein«, mit dem Platon bekanntlich die Dichter wie honigschöpfende Bienen in den Gärten und Hainen der Musen umherschwirren ließ, voller Inspiration: 31 Es sagen uns nämlich die Dichter, daß sie aus honigströmenden Quellen aus gewissen Gärten und Hainen der Musen pflückend dieses Gesänge uns bringen wie die Bienen, auch eben so umherfliegend. Und wahr reden sie. Denn ein leichtes Wesen ist ein Dichter und geflügelt und heilig, und nicht eher vermögend zu dichten, bis er begeistert worden ist und bewußtlos und die Vernunft nicht mehr in ihm wohnt. Denn so lange er diesen Besitz noch festhält ist jeder Mensch unfähig zu dichten oder Orakel zu sprechen. 32

Der Wahnsinn ist für Schelling der Zustand eines epistemischen Entrücktseins, der aber gerade dadurch den Blick auf das Wesentliche freigibt, weshalb er von Platon auch als »göttliches Geschenk« bezeichnet wurde: In solche Zustände können wir nur versetzt oder hineingestoßen werden. 33 In solchem Widerfahrnischarakter zeigt sich für Schelling schon der Lösungsansatz für das gestellte Problem, wie ein Anfang der Zeit zu denken sei. Hält man zuvor aber noch einmal inne, so lässt sich festhalten, dass der Widerspruch, ja die gesamte ›innre‹, noch unabgehobene Zeit bei Schelling in der Tat schon ein ganzes Spektrum unterschiedlicher Temporalitätsverhältnisse hervorbringt, auch wenn jede Zeitfiguration für sich genommen noch höchst ›instabil‹ bleibt und, sofern sie sich einstellt, eigentlich immer schon im Übergang zur nächsten Zeitfiguration begriffen ist. Aber jedes der von Schelling genealogisch angeordneten Widerspruchsverhältnisse birgt schon eine gewisse Zeitlichkeit in sich, darauf lässt sich per analogiam mit der menschlichen Zeiterfahrung schließen. So wird Tempo in der wahnsinnig um sich selbst kreisenden Angst anders erfahren als in der auf Ausgewogenheit bedachten Liebe, Dauer in der seligen Wonne anders als in der unersättlichen Sehnsucht, Frequenz im agonalen Konflikt anders als in der friedfertigen Eintracht. Die innere, latente Zeit ist bis zum

Platon, Ion, 533e. Platon, Ion, 534a–534b. Auch der Phaidros hält fest: »Wer aber ohne den Wahnsinn der Musen den Toren der Dichtkunst sich naht, in der Einbildung, seine Fertigkeit werde ja hinreichen ihn zum Dichter zu machen, der bleibt ein Stümper und seine verstandesmäßige Kunst wird völlig verdunkelt von der des in Wahnsinn Verzückten« (Platon, Ion, 245a). 33 Vgl. dazu auch Pieper 2002. 31 32

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Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs

Zerspringen mit Zeitverhältnissen geladen. 34 Wodurch vollzieht sich nun aber die zweite, die für Schelling so maßgebliche »eigentliche Entscheidung« (WA I, 63) – das war die Ausgangsfrage gewesen, die es im Übergang zum vierten Hauptmoment der Genealgoie zu beantworten galt. Wodurch wird endlich der Gegensatz als Gegensatz, der Widerstreit als Widerstreit und also auch die Zeit als vergangene Zukunft gesetzt? Die Ausführungen zu Platon und der antiken Begriffstradition des Enthusiasmus haben es schon anklingen lassen: Die zweite Scheidung vollzieht sich bei Schelling in einem Akt des Von-sich-selber-Lassens, wobei die Rede von einem Akt im Grunde schon wieder irreführend ist, weil das Von-sich-selber-Lassen nicht in gleicher – intentionaler – Weise gewollt werden kann wie das Sich-selber-Wollen. Ja, das Lassen-von-sich, das Geschehenlassen kann im eigentlichen Sinne noch nicht einmal gewollt werden, weil das Wollen selber nur wieder in jenen Umtrieb hineinführen würde, aus dem das widerfahrende Lassen gerade einen Ausweg bieten soll: Es muss geschehen. Der ›wirkliche‹ Anfang wird von Schelling damit als Resultat einer ganz bestimmten Konstellation konzipiert, nicht etwa als Glied einer kontinuierlichen partilinearen Kette. 35 Der Anfang kann nur dann ›wirklicher‹ Anfang sein, wenn er sich als Anfang ereignet, oder wie Schelling sagt: »der Anfang darf sich selbst nicht kennen; welches so viel heißt: er darf sich selbst nicht kennen als Anfang« (SW VIII, 314). 36 Ein solches Geschehenlassen bezeichnet Schelling als »Zeugung«, als eine »Selbstverdoppelung«, als ein »Setzen eines andern außer sich, wobey das Setzende in seiner Ganzheit bleibt« (WA I, 56). Das Moment des Von-sich-selber-Lassens respektive der Zeugung bringt es mit sich, dass die Prinzipien, die in der Ewigkeit als Potenzen des Seins noch unabgehoben zusammenbestehen, nun als Perioden auseinandertreten. Im Gegensatz zur anfangslosen Zeit, die von keiVgl. dazu auch Hennigfeld 1991, 47, der diese Zeitverhältniss skizziert: »Die unterschiedlichen Einstellungen des Menschen zur Zeit manifestieren sich in unterschiedlichen Stimmungen und Gefühlen: Die Sehnsucht kann sich nicht von der Vergangenheit lösen; dem Sehnsüchtigen fehlt die Entschiedenheit zum Handeln. Die Lust ist ganz auf die Gegenwart gerichtet und empfindet schmerzlich das Nicht-mehr und Noch-nicht. Die Liebe ist der Zukunft geöffnet; der Liebende fühlt sich frei von der Macht der Zeit«. 35 Vgl. dazu auch Müller-Wille 2005. 36 Vgl. dazu auch SW VIII, 314: »Der Entschluß, der in irgend einem Akt einen wahren Anfang machen soll, darf nicht vors Bewußtseyn gebracht, zurückgerufen werden, welches mit Recht schon so viel bedeutet als zurückgenommen werden«. 34

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Schellings geschichtliche Offenlegung der Zeit

nem ›wirklichen‹ Anfang weiß, tritt durch die zweite Scheidung nun eine sukzessierende Zeit hervor, weil duch sie ein Vergangenes als Vergangenes gesetzt wird. War anfangs gesagt worden, dass in der realen, wirkenden Ewigkeit bereits die Dimension von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft latent vorhanden sind, so bewirkt die zweite Scheidung nun, dass die Zeitdimensionen aus der bloßen Simultanität heraustreten, und manifest werden als Perioden des Seins. Im Akt der Scheidung verwandelt sich die latente – noch nicht als Vergangenheit gesetzte – Vergangenheit, in eine manifest reale – als Vergangenheit gesetzte – Vergangenheit. 37 Hier erst ist für Schelling ein ›wirklicher‹ Anfang gefunden: Die Zeit differenziert sich in ihre drei geschichtlichen Dimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aus. Eine Scheidung, die in dem Maße die dialektische Struktur von Subjekt und Objekt von jeher übersteigt, wie gerade umgekehrt solche Verhältnisse erst durch die Scheidung des Subjekts von sich selbst als einer Vergeschichtlichung der Zeit möglich werden: »Das Ereignis eröffnet sich selbst seinen Raum und seine Zeit«. 38 Vor der ›realen‹ Scheidung geht alles, wie Schelling sagt, »vor dem Auge des Ewigen vorüber, und er sah wie in einem Blick oder Gesicht die ganze Stufenleiter künftiger Bildungen« (SW VIII, 280). Mit der Scheidung aber erwachen die »Bilder und Gesichte«, die bisher nurmehr wie »Träume oder Visionen« (SW VIII, 281) in der Seele vorübergewandert waren, zu einem eigenen, selbstständigen Leben. Sie treten in die Zeit, und zwar in dem Moment, in dem die Ewigkeit im Von-sich-lassen die Zeit in sich überwindet und dergestalt eine von ihr unabhängige Gegenwart erzeugt. Die lautere Ewigkeit enthält noch nicht von sich aus die Bedingungen möglicher Erfahrung; dass es Erfahrung gibt, muss ihr zustoßen. Erst indem sich der Anfang dergestalt ereignet, »wird es [das schon Vorausgesetzte, P. N.] aus dem Unvordenklichen und Unsagbaren des Indifferenten zur differenten Realität«. 39 Erfahrung ist im eigentlichen Sinne das, »was sich ereignet«. 40 Vgl. Hutter 1994a, 536. Schmidt-Biggemann 2014, 25. 39 Schmidt-Biggemann 2014, 37. 40 Schmidt-Biggemann 1998, 709. Schmidt-Biggemann deutet die Konzeption des Sich-Ereignens als ein ›anfängliches Widerfahren‹, menschliche Erfahrung damit als ›unvordenkliche Passivität‹: »Widerfahrnis ist das, was mit einem passiert, dasjenige, was entgegenkommt, was entgegenspringt. Die Aktivität ist beim Objekt, nicht beim Denken« (708). Vgl. dazu auch ders. 2014, 37: »Entscheidend für das Ereignis ist, dass 37 38

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Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs

4.3. Zeit als Akt der Zeitigung (5) Gegenwärtige Zeit: Tritt man von der argumentativen Rekonstruktion für einen Moment zurück, dann lässt sich im Rückblick auf die Problemgeschichte des nachkantischen Zeit- und Systemdiskurses festhalten, dass sich die Weltalter zweifelsohne als Fortsetzung jener Debatte verstehen lassen, die mit dem Konflikt zwischen Jacobi und Kant auf ihrem vorläufigen Höhepunkt angelangt war: Wie kann der Anfang der Philosophie zureichend gewonnen werden, wenn qua ursprünglicher Synthesis alle Erfahrung immer schon ›Ich‹-förmig ist, wenn also das Reale niemals als Reales, sondern immer schon und ausschließlich durch die Strukturen einer absoluten Synthesis gegeben ist? Stellt sich nämlich jede Erfahrung prinzipiell als ›Ich‹-förmig dar, dann ist die kritische Philosophie gerade außerstande, die »Erfahrung des Wirklichen, des Neuen, des Realen zu bestimmen«, mit anderen Worten, einen zureichenden Begriff von ihrem eigenen Anfang zu gewinnen. 41 Schelling versucht, indem er genau an dieser Stelle konzeptionell mit der Dualität zwei gleichanfänglicher Prinzipien einhakt, eine ganz traditionelle Eigenschaft der Materie zu rehabilitieren: ihre Passivität. 42 Die Materie, so heißt es schon in den Stuttgarter Privatvorlesungen, ist nichts anderes als der »bewußtlose Theil von Gott« (AA II,8, 98). Schelling spricht sich deshalb in der Genealogie dafür aus, dass das Sein eine vom Denken unabhängige ›Urkraft‹ besitzt. Dasjenige Mannigfaltige, das bei Kant noch vor jeder Synthesis gegeben war – im zweiten Deduktionsschritt hatte Kant zugegeben: »wie bleibt hier unbestimmt (KrV, B 145) –, weil es durch die Verstandeshandlung überhaupt erst als Mannigfaltiges für uns gegenes schlechterdings unvordenklich, einmalig und unberechenbar ist – das ist die Dialektik des Anfangs«. 41 Schmidt-Biggemann 2014, 24. Hogrebe 2006, 297, schließt hier seine Theorie der »unbedingten Kreativität« an, die deshalb ›unbedingt‹ heißt, weil sie nicht bloß abbildende Variationen eines bereits Gesehenen hervorbringt, sondern ein genuin Neues schafft, »das es so noch nie gab«. Die Frage der Kreativität wird damit auf das engste mit der ontologischen Frage verbunden, warum überhaupt etwas sei und nicht vielmehr nichts. Dementsprechend radikal sind auch die Konsequenzen, die Hogrebe aus seiner im Anschluss an Schellings Weltalterphilosophie entwickelten Theorie der Kreativität zieht: »Das heißt, daß dieselbe Energie, die unsere Kreativität freisetzt, gerade die ist, die eine Implosion des Bewußtseins bewirken kann« (Hogrebe 2006, 303). 42 Vgl. Kahlefeld 1998, 116.

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Schellings geschichtliche Offenlegung der Zeit

wärtig werden konnte, heißt bei Schelling das »Nichtseyende«, das gegen das »subjectiv Seiende« zwar unterliegt, aber in seiner Funktion als »nichtsubjectiv Seiendes« dennoch latent wirksam ist. Die Rehabilitierung der Passivität der Materie bedeutet also paradoxerweiser gerade ihre Aktivierung. Ein bloß gegebenes Mannigfaltiges, ein vom Verstand isoliertes Mannigfaltiges, ein wie auch immer beschaffenes ›Rohmaterial‹ könnte Schelling zufolge nicht nur nicht zu Bewusstsein kommen, es könnte noch nicht einmal existieren. Stattdessen muss es, folgt man Schelling genealogischer Herleitung, immer schon »innerlich geworden seyn, ehe wir es äußerlich oder objectiv darstellen können« (WA I, 6). In der lauteren Ewigkeit entsteht mit der konzeptionellen Verschiebung eine »dunkle Ahndung und Sehnsucht« und mit ihr zugleich auch der »erste ferne Anfang zur Offenbarung« (WA II, 143). Hatte Kant die Zeit als reine Form der sinnlichen Anschauung verstanden, die uns gegeben ist, insofern wir unsere Vorstellungen sukzessive auf ein gegebenes Mannigfaltiges beziehen, versteht Schelling die Zeit als »Entfaltung des keimhaften, wesentlichen Anfangs«. 43 Die zweite Scheidung vollzieht sich, »damit das Ewige sich durch sie offenbare als Einheit der Einheit und des Gegensatzes« (WA I, 63). Wäre sie nicht, bliebe das Absolute »bewußtlos, blind zusammenziehende Kraft« (WA I, 98). Da es sich nun aber bei dem ›wirklichen‹ Anfang nicht um einen Akt handeln, der in der Zeit geschieht, so wie bei Kant etwa die Zeit in der Synthesis der Apprehension eines selber bereits zeitlich gegebenen Mannigfaltigen entsteht, sondern es sich Schelling zufolge um einen »vorzeitliche[n] Akt« (WA I, 78) handelt, um einen Akt also, durch den die Zeit überhaupt erst als Zeit, und das heißt: als weltliche Gegenwart hervortritt, so kann der Anfang auch nicht bloß einmaliger Anfang sein, er muss sich als Anfang immer wieder ereignen, mit jeder Scheidung muss die Ewigkeit die Zeit immer weiter aus sich entlassen, tiefer in die Vergangenheit zurücktreten, ohne dabei freilich ganz von der Zeit frei werden zu können. Will man in Bezug auf die Prinzipienscheidung von einem Akt der Vergeschichtlichung des Absoluten sprechen, dann gilt es also zu beachten, dass die Vergeschichtlichung sich nicht auf eine bereits bestehende Zeit der Welt respektive des Selbstbewusstseins bezieht. Vergeschichtlichung meint im Falle der Weltalter die Erzeuung

43

Schmidt-Biggemann 2014, 32.

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geschichtlicher Gegenwart aus einer ihr vorausliegenden, ›vorzeitlichen‹ Zeit. Schellings Weltalter nehmen das Projekt der Vernunftkritik Kants beim Wort, das von Jacobi so heftig kritisiert worden war: eine »Selbstgebärung unseres Verstandes (samt der Vernunft)« (KrV, A 765/B 793) zu sein. Zugleich blenden sie in diese Zielrichtung eine Verkehrung der ursprünglichen Ordnung ein: Die ›Selbstgebärung‹ des göttlichen Verstandes lässt die Ewigkeit als das hervortreten, was sie von jeher schon war, aber nur vermittels des Dazwischentretens der Zeit werden konnte. Die Zeit bricht in die Ewigkeit hinein und lässt sie als vergangene, uns strukturell entzogene Gegenwart zur Abhebung kommen. Mit Emmanuel Lévinas ließe sich sagen, bei der Ewigkeit handele es sich um eine »Vergangenheit, die niemals ein Jetzt«, um ein Unvordenkliches, das uns nie wirklich gegenwärtig war. 44 Mit Slavoj Žižek, der die Anfangsproblematik aus psychoanalytischer Perspektive rekonstruiert, müsste man sagen, bei der ›ewigen Zeit‹ handele es sich um den Namen für ein Ereignis bzw. einen Schnitt, »der die Dimension der Zeitlichkeit als die Serie/Abfolge gescheiterter Versuche, ihrer Herr zu werden, aufrechterhält bzw. eröffnet«. 45 Würden wir dem Ereignis »Herr«, würde auch die Dimension der Zeitlichkeit »schlechthin in ein zeitloses ewiges Jetzt implodieren/ kollabieren«: »Zeitlichkeit wird dadurch aufrechterhalten, dass wir daran scheitern, das ›ewige‹ Trauma zu begreifen/symbolisieren/historisieren«. Man muss sich der psychoanalytischen Interpretation der Weltalter sicher nicht anschließen, eines kann sie aber verdeutlichen helfen: Der ›wirkliche‹ Anfang bezeichnet bei Schelling einen Anfang, der nicht von sich aus Anfang sein kann, sondern immer nur Anfang werden kann als sich ereignende Scheidung im Modus eines unbewussten Von-sich-selber-Lassens. 46 In diesem Sinne entsteht nicht nur die Zeit, sondern mit der Zeit zugleich auch die Ewigkeit. Die Ewigkeit tritt, so Schelling, »in die Vergangenheit zurück und erkennt sich als vergangen in Bezug« Lévinas 1983, 258. Žižek 2002, 99. Žižek beschreibt den Akt der Scheidung als das eigentlich ›Unbewusste‹: »›Unbewusst‹ ist nicht primär die Kreisbewegung von Trieben, die in die ewige Vergangenheit ausgestoßen werden, sondern ›unbewußt‹ ist vielmehr der Akt der Entscheidung selbst, vermittels dessen die Triebe in die Vergangenheit ausgestoßen werden« (ebd.). 46 Vgl. dazu auch SW VIII, 314: »So mußte es seyn; dieß höhere Leben wieder in Bewußtlosigkeit seiner selbst versinken, damit ein wahrer Anfang sey«. 44 45

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(WA I, 59) auf die Zeit. Indem die Ewigkeit aber in die Vergangenheit zurücktritt, verhält sie sich gegen die Zeit als Sein, so wie die Zeit sich umgekehrt ihr gegenüber als Seiendes verhält. Im Setzen der Vergangenheit als Vergangenheit erscheint die Ewigkeit in der Gegenwart. Richtigerweise müsste man daher auch sagen, und die Spätphilosophie steht hier Pate: »Eines hilft dem andern, das zu sein, was es ist« (Schelling 1831/32, 55). Hatte sich die ›Genealogie der Zeit‹ in ihrem Anfang als Heterogonie erwiesen, so zeigt sie sich in ihrem Ende, das immer wiederkehrender Anfang ist, als Chronogonie und Kosmogonie. Die Verzeitlichung der Zeit vor aller Zeit resultiert in einem geschichtlichen Vorgang der Zeitigung: Ewigkeit und Zeit treten in ein diskontinuierliches Verhältnis des Vorher und Nachher. Sie sind wie Äonen, die getrennt und verbunden zugleich sind. Wie αἰών und χρόνος bei Schelling strukturell zusammenhängen und welche Folgen das für die Struktur geschichtlicher Gegenwart selbst hat, soll im Folgenden mit Blick auf eine der wirkmächtigsten Genealogien herausgearbeitet werden: die hesiodeische Theogonie. Im Zentrum soll dabei die Konstellation als eine spezifisch genealogische Denkfigur stehen.

5. Methodologischer Exkurs: Zur offenen Form der Genealogie 5.1. Der Anfang in Hesiods Theogonie Um den strukturellen Zusammenhang zwischen Ewigkeit und Zeit bei Schelling in den Blick zu bekommen, ist auf das Problem des Anfangs in der hesiodeischen Theogonie einzugehen. Und verblüffender Weise fällt schon hier, im Anfang selbst, eine entscheidende konzeptionelle Parallele ins Auge: Auch Hesiod lässt den Anfang aus zwei voneinander unabhängigen, selbstständigen Prinzipien hervorgehen: Auf der einen Seite ist da Chaos, die »gähnende Leere des Raumes«, auf der anderen Seite die »breitbrüstige Gaia«. 47 Aus dem Chaos geht Erebos, der »finstere[…] Grund«, und die »dunkle Nacht« hervor, aus Gaia der »sternreiche[…] Uranos«, und aus diesen wiederum neue Gestalten. Die implizite Logik von Hesiods Theogonie, so wird also schon hier, im Anfang selbst, deutlich, folgt keiner deduktiven Methodik. Ganz im Gegenteil: Chaos und Gaia, die am Anfang der theo47

Hesiod, Theogonie, v. 13.

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gonen Gestaltwerdung stehen, sind zwei aufeinander nicht reduzierbare Prinzipien. Mit anderen Worten: »Die implizite Logik von Hesiods Theogonie ist nicht eine der deduktiven oder komplementärkontrastiven Fixierung, sondern eine der bestimmten Differenzen zwischen singulären, nicht auseinander abgeleiteten Wesen«. 48 Mit Emil Angehrn lässt sich in diesem Zusammenhang noch hinzufügen: »Der Beginn der genealogischen Erzählung illustriert die Seinskonstitution als ein Sichlosreißen vom Abgrund, ein sich der Entformung Widersetzen«. 49 So wie also bei Schelling der ›Wille, der nichts will‹ und der ›Wille, der Etwas will‹ in Selbstständigkeit nebeneinander bestehen, obwohl sie ohne einander gar nicht sein könnten, so lässt sich auch Chaos weder aus Gaia noch Gaia aus Chaos ableiten und doch stehen beide als Gegensätze in einem Verhältnis der Abhängigkeit. Ganz analog zur Genealogie Schellings wird auch in der hesiodeischen Theogonie die Konzeption des ersten Anfangs als einer ursprünglichen Setzung von Beginn an unterlaufen: »Unter den irreduzibel nebeneinander stehenden Elementen des Anfangs taugt keines dazu, als ›Ursprung‹ gedeutet zu werden, aus dem alle anderen genealogisch abgeleitet werden könnten«. 50 Auch Paula Philippson arbeitet in ihrer Studie zur Genealogie als mythischer Form heraus, dass sich auf der ersten Stufe des Weltmythos zwei irreduzible, gleichursprüngliche Geschlechterfolgen gegenüberstünden; Chaos und Gaia seien zwei prinzipiell voneinander verschiedene Anfänge, und auch die aus ihnen entstehenden ferneren Nachkommschaften blieben noch wesentlich voneinander verschieden, es fände keine Verschmelzung der Nachkommen, die aus der Verbindung zwischen Erobos und Nacht hervorgehen, mit den Nachkommen der Gaia statt: »[B]eide Stammbäume bleiben vollkommen getrennt«. 51 Sind Chaos und Gaia aber – samt ihrer Nachkommen – wesenhaft voneinander verschieden, wie kann es dann sein, dass sich aus beiden Geschlechtern überhaupt etwas entwickelt? Warum, so könnte man an dieser Stelle mit Schelling einhakend fragen, ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? In diesem Zusammenhang ist es nun aber wiederum von Bedeutung, gerade mit Schelling zwischen der Eigenständigkeit der Geschlechter auf der einen Seite und ihrer relativen 48 49 50 51

Ortland u. a. 1992, 25. Angehrn 1992, 166. Ortland u. a. 1992, 17. Philippson 1944, 13.

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Abhängigkeit auf der anderen Seite zu unterscheiden. Denn Chaos und Gaia werden zwar zunächst als zwei verschiedene, und insofern eigenmächtige Geschlechter eingeführt; während Chaos als das Prinzip der Unordnung gilt, tritt Gaia als ›breitbrüstig‹ auf, als »aller Unsterblichen, die den beschneiten Olymps und den finsteren Tartaros bewohnen«, »niemals wankender Sitz«. 52 Aber schon die entgegengesetzten Epitheta zeigen an, dass es sich bei Chaos und Gaia um polar Entgegengesetzte und damit wieder um wechselseitig voneinander Abhängige handelt: Unform und Form; abgründige Tiefe und feste Begrenzung; vage Todesdunkelheit und hellstes Licht. Das alles besteht nebeneinander und existiert dennoch nicht ohne einander: Mit anderen Worten: Auch wenn Chaos und Gaia prinzipiell verschieden sind, bedeutet das nicht, dass sie ihrer Existenz nach nichtsdestoweniger aufeinander zu beziehen sind. Nicht umsonst ist nach Chaos und Gaia Eros, das verbindende »Liebesbegehren«, die im buchstäblichen Sinne ›entscheidende‹ Macht. 53 Eros, die ›Liebe‹, unterläuft den Gegensatz, bezieht Chaos und Gaia aufeinander, ohne sie ineinander aufzuheben. Auch das im Übrigen wiederum eine Parallele zu Schelling. Systematisch entscheidend für die Anfangsproblematik bei Hesiod ist damit, und Michael Theunissen hat darauf hingewiesen, dass man den Fortgang der Theogonie nicht bloß als Seinsmodifikation verstehen kann, als läge im allerersten Anfang bereits die ganze Konfliktgeschichte des Kosmos beschlossen, das Gegenteil ist der Fall: Die Theogonie erweist sich als unabschließbare, sich in immer neuen geschichtlichen Konstellationen kristallisierender Prozess, dessen Herkunft aber, weil ja auch der Prozess offen ist, noch immer andauert, notorisch ungeklärt bleiben muss: »Nur wer Hesiod auf die Stufe eines ungebrochen mythischen Denkens herabsetzt, wird in die Theogonie einen lückenlosen Generationszusammenhang hineinlesen«, heißt es bei Theunissen, der weiter zu bedenken gibt: »Aber die Diskontinuität zieht eben nach sich, daß die Beziehung zwischen der älteren und der jüngeren Gestalt sich in Dunkel hüllt«. 54 Die Parallelen zu Schelling liegen auf der Hand. Auch in dessen ›Genealogie‹, so hatte sich gezeigt, sind die verschiedenen Gestalten des ersten wirksamen Willens nicht lückenlos auf einen Ursprung zurückzuverfolgen. Die Lauterkeit, aus dem die 52 53 54

Hesiod, Theogonie, v. 13. Ebd. Theunissen 1992, 15.

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beiden Anfänge hervorgehen, ist nur ein Grenzbegriff. Der Anfang hat sich immer schon ereignet, geschieht auf buchstäblich ›wunderbare Weise‹, ja, Schelling gibt sogar zu verstehen, dass die Herkunft der Welt gar nicht anders zu erklären wäre als durch »lauter Wunder« (WA I, 76). 55 Dabei ist aber zu beachten, dass Schelling die Figur des Wunders in den Weltaltern nicht als ein Theologumenon einführt, sondern als ein Philosophem im strengen Sinne behandelt. Das ›Wunder‹ stellt sich bei Schelling als Ausdruck einer methodischen Reflexion auf die Grenzen und Möglichkeiten einer Philosophie als Wissenschaft heraus, darauf, dass es, wie spekulativ man diese Wissenschaft auch erweitert, keine vollständige Reflexion geben kann, »welche die Subjektstelle gleichsam von ihrer Vergangenheit, ihrem Grund her erhellte«. 56 Was allem Denken zuvorkommt, weil es gleichsam den Anfang des Denkens selbst bildet, kann nicht selbst vor das Bewusstsein gebracht werden, sondern kann verständlicherweise nur, nachdem es handelnd hervorgebracht wurde, retrospektiv – als Wunder – erzählt werden. »So früh wir auch kommen mögen«, mag man hier Schelling zitieren, das Denken kommt immer ›zu spät‹. Dem Denken haftet eine unvermeidliche Verspätung an, genau wie die Eule der Minerva ihren Flug bekanntlich »erst mit der einbrechenden Dämmerung« (Rph, TWA 7, 26) beginnt. Die Erzählung ist der einzige Modus, in dem solche Anfänglichkeit vergegenwärtigt werden kann. Mit Michael Hampe könnte man sogar sagen, dass in dem Maße, wie die Erzählung den Anfang der Zeit als ein für die Reflexion unhintergehbares Faktum unserer Praxis in der Tat zur Darstellung bringen kann, keine andere kulturelle Tätigkeit Zeit ernster nimmt als das Geschichtenerzählen. 57 Die Dialektik des AnDass Schelling hier so nahtlos vom antiken Topos der Götterentstehung in den christlichen Topos der Offenbarung übergeht, mag auf den ersten Blick überraschen. Auf methodischer Ebene spiegelt sich darin aber, wie Wolfgang Wieland erkennt, die ›denkende Aneignung‹ einer Problematik wieder, ein Vorgehen, das wirkungsgeschichtliche Verkürzungen bei Schelling auf eine Traditionslinie von vornherein als aussichtslos erscheinen lassen. Schelling geht die Probleme grundsätzlich im Angesicht der gesamten philosophischen Tradition an und versucht sie von dortaus zu durchdringen. Vgl. dazu Wieland 1956, 23. 56 Angehrn 2009, 27. 57 Hampe 2014, 29. Folgt man Hampes jüngster Unterscheidung zwischen einer doktrinären und nichtdoktrinären Philosophie, so wäre Schellings Philosophie letzterer zuzuordnen, indem auch sie primär von der Erfahrung ausgeht, »daß die Welt das Kommen und Gehen von Einzelheiten ist, diese Erfahrung jedoch nicht behauptend und argumentativ sprachlich repräsentiert werden kann« (Hampe 2014, 31). Wo 55

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fänglichen besteht, anders gesagt, darin, »dass das Erste nur als das Zweite gedacht werden kann und dass es als radikal Erstes in diesem Prozess zugleich verdeckt wird«. 58 Schelling spricht in der Philosophie der Offenbarung in diesem Zusammenhang davon, dass es in der ›vorweltlichen‹ Zeit keine Struktur des propositionalen ›Als‹ geben könne. Denn, so heißt es, »jedes als solches Gesetzwerden setzt eine Reflexion – ein Reflektirtwerden –, also schon ein Contrarium voraus« (SW XIV, 106), ein »Contrarium«, das im Falle der lauteren Ewigkeit eine ›unlautere‹ Zeitlichkeit wäre, deren Zustandekommen man doch allererst zu erklären hätte und die deshalb nur als Wunder erschlossen und erzählerisch vergegenwärtigt werden kann. Das allem Denken zuvorkommende Sein ist das »von allem Setzen schon voraus Gesetze, das ehe wir uns bedenken oder uns dessen versehen schon da ist u. den Ort der Unbedingtheit eingenommen hat« (WA III 4, 214). Mit anderen Worten: Die Scheidung, von dem aus die Zeit ihren Anfang nimmt, bleibt ein blinder Fleck in der Konfliktgeschichte des Kosmos, »konstitutiv für das Sehen, ohne diesem zugänglich zu sein«; sie wird aber im Modus des Erzählens in den genealogischen Theorierahmen eingebettet. 59 Unter seinen Zeitgenossen ist Schelling freilich nicht der erste, der mit der These aufwartet, das Hervorgehen der Welt sei nur durch ›lauter Wunder‹ zu erklären. 60 Schon Herder hatte in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit notiert, dass der Zeit- und Weltentstehung ein sagenhafter Offenbarungscharakter beigegeben wäre: »Wer zum erstenmal das Wunder der Schöpfung eines lebendigen Wesens sähe: wie würde er staunen« (FA 6, 270). Von einer solchen wirksamen »lebendige[n], organische[n] Kraft« lässt sich nur sagen: »[I]ch weiß nicht, woher sie gekommen, noch was sie in ihrem Innern sei, aber daß sie da sei, daß sie lebe, daß sie organische Teile sich aus dem Chaos einer homogenen Materie zueigne, das sehe ich, das ist unleugbar« (FA 6, 271). »Unleugbar«, so darf man wohl sagen, und doch nicht zu erklären: In diesem strukturellen Dilemma befinden sich auch Herders geschichtsphilosophischer Entwurf, in einer Zeit zumal, in der – aufgeklärt, rational – nichts mehr verhasst Schelling das ›System des Wissens‹ allerdings wieder gegen die Besonderheit der einzelnen Erscheinungen setzt, da durchziehen auch behauptende, doktrinäre Elemente seine Philosophie; das gilt nicht zuletzt für die Weltalter. 58 Schmidt-Biggemann 2014, 14. 59 Angehrn 2009, 27. 60 Vgl. dazu auch Willer 2005.

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zu sein schien, als noch an Wunderbares und Verborgenes zu glauben. Herder aber kehrt – und Schelling folgt ihm hierin – die Beweislast um: Gerade weil die Zeit- und Weltentstehung nur durch Wunder zu erklären ist, »eben deswegen ist sie wahr« (FA 4, 11 f.). In dieser Umkehrung zeigt sich das ironische Moment der Offenbarung: Weil dasjenige, was sie zu erklären versucht, Zeit und Welt, sich theoretisch nicht erklären lassen, kann umgekehrt eine Theorie, die sich ihrer eigenen Aporien bewusst bleibt, ›wahr‹ sein. Man begegnet hier der von Schelling schon im Grunde mit der Freiheitsschrift so nachdrücklich herausgestellten Unhintergehbarkeit von Realität als eines ›Dunklen‹, der Nachtseite der Existenz. 61 Ein buchstäblich ›Unverständliches‹, mit dem auch die Protagonisten der Jenaer Frühromantik immer wieder methodisch operiert haben. Erstaunen kann deshalb kaum, dass es gerade Friedrich Schlegel ist, der im Essay Über die Unverständlichkeit die Figur des Wunderbaren als eines tief im Sein Verborgenen aufgreift, auch wenn er selbst die daraus resultierende prinzipielle Beschränktheit der Erkenntnis – im Gegensatz zu Schelling und Herder – ins Ironische wendet: Es sei das »Köstlichste«, was der Mensch aufzubieten habe, dass die »innere Zufriedenheit«, wie man allgemein wisse, zuletzt an einen Punkte hänge, »der im Dunkeln gelassen werden muß, dafür aber auch das Ganze trägt und hält, und diese Kraft in demselben Augenblicke verlieren würde, wo man ihn in Verstand auflösen wollte« (KFSA 2, 370). Wie auch immer man das Verhältnis Schlegels zu Schelling an dieser Stelle ausbuchstabiert, deutlich wird, dass sich Schellings Rückgriff auf die Figur des Wunders in der Version, in der er sie in den Weltaltern präsentiert, durchaus als konsequente Reflexion auf die Ermöglichungsbedingungen einer Philosophie als einer erweiterten, sprich: lebendigen Wissenschaft verstehen lässt. 62 Vgl. dazu auch AA I,17, 131: »Ohne dieß vorausgehende Dunkel giebt es keine Realität der Kreatur; Finsternis ist ihr nothwendiges Erbtheil. Gott allein – Er selbst der Existirende – wohnt im reinen Licht, denn er allein ist von sich selbst. Der Eigendünkel des Menschen sträubt sich gegen diesen Ursprung aus dem Grunde, und sucht sogar sittliche Sittten dagegen auf. Dennoch wüßten wir nichts, das den Menschen mehr antreiebn könnte, aus allen Kräften nach dem Licht zu streben, als das Bewußtseyn der tiefen Nacht, aus der er an Dasein gehoben wurde«. 62 Was für die Denkfigur des Wunders gilt, gilt gleichermaßen für die Einbettung der genealogischen Hauptmomente in die mythischen Erzählungen der Antike. Vgl. dazu auch Wieland 1956, 75: »Der Mythos ist für Schelling keine Rückkehr zu ›archaischem Denken‹, sondern steht am Ende einer konsequent vollzogenen transzendentalen Reflexion auf die Subjektivität und ihre Bedingungen, die als Leitfaden ihres 61

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Und genau aus diesem Grund und in diesem Sinne fällt Schelling auch nicht hinter die Errungenschaften der kritischen Transzendentalphilosophie Kants zurück, sondern versucht deren unausgesprochenen Voraussetzungen methodisch Rechnung zu tragen. Die fundamentale Aporie, in die sich eine apriorische Theorie des zeitlichen Anfangs verstrickt, ist nur ein anderer Ausdruck dafür, dass die Bedingung der Möglichkeit, dass sich überhaupt etwas erklären lässt, dasjenige ist, das sich nicht mehr theoretisch erklären lässt, sondern nur noch praktisch unter Beweis gestellt werden kann. Genau dieser Gedanke ist es, den Schelling mit seiner Rede vom Wunder verfolgt und der auch bei Hesiod in der Anfangsproblematik zweier Geschlechter von Beginn an durchscheint. Die genealogische Operation endet nicht in dem Erweis, dass die Welt und die sie prägenden Elemente a priori identisch mit dem ersten Akt der Entzweiung sind. 63 Sie endet vielmehr in der Einsicht in die Unterhintergehbarkeit des zeitlichen Anfangs, ein Anfang, dem retrospektiv nur die Qualität eines Wunders attestiert und der auch nur im Mythos als Anschauungsform einer ›vorgeschichtlichen‹ Zeit erschlossen werden kann. 64 Das damit verbundene Staunen, das überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts, aus dem bei Schelling der Rückgriff auf die Figur des Wunders erfolgt, verdankt sich genau besehen also einer geltungstheoretischen Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung überhaupt. Seiner Form nach ist es mit dem platonischen Erstaunen vergleichbar, dessen temporaler Modus die PlötzRückganges auf die Bedingungen der Möglichkeit alles Zeitverständnisses die menschliche Selbsterfahrung wählte«. Zum literarischen Darstellungsverfahren des Mythologisierens vgl. Matuschek 2012. 63 Vgl. dazu auch Marquard 1987b, 84. Marquard verwendet das Konzept der Genealogie in einem sehr viel weiteren Sinne, wenn er bereits das Deduktionsverfahren der Vernunftkritik als genealogische Operation beurteilt: »Der Rechtfertigungsakt ihrer ›transzendentalen Deduktion‹ besteht in einer genealogischen Operation: gerechtfertigt d. h. ›transzendental deduziert‹ ist die Welt und sind ihre prägenden und apriorischen Elemente genau in dem Maße, in dem sie nachgewiesen werden können als ›identisch‹ mit dem Akt des Selbstbewußtsein d. h. als zugehörig zum Vollzug Ich und als Vollzug dieser Zugehörigkeit«. Umgekehrt stellt Marquard damit aber die spezifischen Problemlösungsansatzkontinuitäten zwischen Kant und Schelling unter Beweis. 64 Philippson 1994, 47. Vgl. dazu auch Angehrn 1992, 176: »Der Mythos ist Ursprungsdenken nicht als Versenkung in den Anfang, sondern indem er von diesem her sowohl die Genese der Gestalt wie die Herausbildung der Ordnung vergegenwärtigt. Der Übergang vom Ursprung über die Gestalt zur Ordnung bedeutet eine Steigerung der Festigkeit wie der Transparenz des Weltverständnisses«.

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lichkeit (τό έξαίφνης) ist. Zumindest legt Schelling umgekehrt gerade das platonische Erstaunen in diesem handlungstheoretischen, zeitund gegenwartsstiftenden Sinne aus: »Erstaunen aber findet nur statt bei Unerwartetem, Geschichtlichem, bei einer That, nicht bei apriorischen Erkenntnißen« (Schelling 1827/28, 63). Auch in der späteren Grundlegung der positiven Philosophie heißt es: »Nur die aus einem unbegreiflichen Willen stammende Tat bringt die Bewunderung hervor« (Schelling 1823/33, 82). 65 Der Anfang ist bei Schelling nicht weniger als bei Hesiod nur über die geschichtliche Praxis konfliktuöser Konstellationen zu gewinnen, im Ausgang von Handlungen, die dabei im Vollzug die Form der Praxis selbst transformieren.

5.2. Konstellation als genealogische Denkfigur Da es sich bei der ›Theogonie‹ Hesiods nun offenbar genauso wenig wie bei der ›Genealogie‹ Schellings um einen lückenlosen Deduktionszusammenhang handelt, stellt sich die Frage, auf welche Weise sich die verschiedenen Verhältnisse, welche die einzelnen Gestalten im konfliktuösen Prozess der Entstehung des Kosmos untereinander eingehen und wieder aufkündigen, angemessen beschreiben lassen. Hierzu ist von Eberhard Ortland und anderen der Vorschlag unterbreitet worden, genealogische Verhältnisse mithilfe der Denkfigur der Konstellation zu erfassen. 66 Es reiche, so der Ansatz Ortlands, nicht aus, genealogische Systeme nach Abstammungslinien zu sichten, vielmehr sei eine Gestalt innerhalb eines solchen Systems allem Vgl. dazu auch Leinkauf 1998, 15, der in jenem platonischen Erstaunen, das die Weltalter durchzieht, schon das Ekstasis-Verständnis der späteren Erlanger Vorlesungen erkennen will: »Ekstasis ist, wie zuvor auch in etwas schwächerem Sinne die intellektuelle Anschauung, wesentliche Tat, die Schellingsche Tathandlung«. 66 Zu den wenigen, die sich aus philosophischer Perspektive mit Hesiod beschäftigt haben, gehört Michael Theunissen. Der Beitrag, auf den im Folgenden Bezug genommen wird, ist in der Festschrift zu seinem 60. Geburtstag erschienen. Davon abgesehen spricht Theunissen 1992, 21, mit Blick auf die Eingangspassagen der Theogonie selber von einer ›Konstellation‹. Neben Theunissen ist auch Karen Gloy hervorzuheben. Auch sie urteilt, dass die Göttergenealogie nur unzureichend verstanden würde, begriffe man sie als Götterchronologie: »Das adäquate mythische Verständnis verlagt jedoch eine andere Interpretation nicht im Sinne einer Chronologie und sukzessiven reihentheoretischen Abzählung und damit einer Abbildung des Urbildes bzw. einer Abbildung der Abbildung des Urbildes usw. im Sinne einer zunehmenden Abschattung, sondern im Sinne einer ewigen Wiederkehr des Gleichen« (Gloy 2006, 110). 65

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voran qualifiziert durch die »relative Nähe von anderen, die ihm als Geschwister zugeordnet werden«. 67 Demzufolge genüge es auch nicht, die Ahnen zu kennen und diese in chronologischer Reihenfolge aufzuzählen, um zu wissen, was es mit dem Wesen einer einzelnen Gestalt auf sich habe, die Konstellation, in der sie stehe, sei entscheidend: »Nur unter Berücksichtigung der Konstellation, in der ein göttlicher Herrscher jeweils steht, kann der für die Theogonie zentrale Mythos von der Sukzession der Götterkönige Uranos, Kronos und Zeus verständlich werden«. 68 Welche Vorzüge ein konstellativer, die jeweilige Situation berücksichtigender Ansatz gegenüber einem methodisch rein deduktiven Vorgehen besitzt, lässt sich mit Blick auf die Theogonie in aller Kürze verdeutlichen: So erscheinen während der Herrschaft des Kronos die Götter immer wieder in anderen Gestalten, ein Zustand der Ungeordnetheit, welcher der hesiodeischen Erzählung zufolge nicht eher ein Ende findet, als bis einer kommt, der die Herrschaft des Kronos in einem ›letzten‹ Moment überwindet. Gemeint ist natürlich kein anderer als der Göttervater Zeus höchstpersönlich. Bis Zeus aber seine Herrschaft errichtet, befindet sich alles, wie es im Übrigen auch Schelling heißt, in einer »kronischen Verwirrung« (SW XII, 662): Gestalten entstehen, Gestalten vergehen, liegen im Streit miteinander: Hesiods Theogonie präsentiert sich geradezu als eine Konfliktgeschichte des Kosmos. 69 Und es ist nicht klar, wie man dieser kronischen Verwirrung jemals Herr werden sollte, wenn man das ungeordnete Verhältnis der Götter untereinander strukturell als Deduktion aus einem ersten Ursprung versteht. Die Entwicklung vollzieht sich situationsgebunden, ist von jeher konfliktbeladen: Denn wer z. B. sieht, wie Hera in manchen aus jener dunkeln Zeit sich herschreibenden Erinnerungen als eins mit Persephone erscheint – auch Polykletes gab ihr den Granatapfell, das Zeichen der Persephone, in die Hand –, wie selbst die hohe Athene nach Creuzers sorgfältiger Zusammenstellungen mit fast allen früheren weiblichen Gottheiten sich verwandt und verwechselt zeigt, der sieht wohl, daß auch die Namengebung und Unterscheidung, welcher zufolge ein jeder Name nur Einer bestimmten Gottheit zukam, die Sache dieses letzten Moments [die Machtübernahme Zeus, P. N.] war. (SW XII, 662)

67 68 69

Ortland u. a. 1992, 22. Ortland u. a. 1992, 23. Zur Methode der Konfliktgeschichte vgl. Hühn 2018b.

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Diese und andere ›Situationen‹ sind es, die das Konzept der Konstellation zu einer spezifisch genealogischen Denkfigur machen. Die Pointe, auf die Schelling hinauswill, ist nämlich, dass die Götterwelt nicht erst durch Zeus entsteht, sondern bereits vor Zeus da ist, »nur eingeschlossen in jene dunkle Geburtsstätte des noch immer auf seiner Einzigkeit und Unauflöslichkeit bestehenden realen Gottes« (SW XII, 661). Ist die Götterwelt aber auch bereits vor Zeus da, latent anwesend in ›vorgeschichtlicher‹ Zeit, so werden die Götter doch erst mit der Machtübernahme des Zeus in Freiheit gesetzt, bekommen sie erst durch ihn eine genealogisch bestimmte Gestalt, ein ihnen allein zugehörendes Amt. Zeus erhebt sie in den Rang »geschichtlicher Wesen« (SW XII, 661), die sie von jeher zwar schon waren, als die sie sich aber noch nicht zu erkennen geben konnten, Zeus selbst eingeschlossen. Auch er wird erst zu dem, der er im Grunde bereits von Anfang war, durch den geschichtlichen Vollzug seines Herrschaftsantritts auf dem Olymp. Die Denkfigur der Konstellation speist sich also im Wesentlichen aus der Überzeugung, dass der Begriff einer Sache nicht ein für alle Mal feststeht, sondern aus der je spezifischen Situation heraus zu erschließen ist, in der sich dieses oder jenes Ding ›gegenwärtig‹ befindet. Dass ein Wesen aber in und aus unterschiedlichen Situationen heraus zu verstehen ist, zeigt an, »daß es sich entzieht, daß es immer noch anders zu bestimmen sein wird als in der gerade gegebenen Beziehung«. 70 Alle theogonischen Verhältnisse erweisen sich in dieser Hinsicht als zeitliche Verhältnisse im tiefengeschichtlichen Sinne: Die Götter sind »nicht etwa erst abstract und außer diesen geschichtlichen Verhältnissen vorhanden«, im Gegenteil: »[A]ls mythologische sind sie ihrer Natur nach, also von Anfang an geschichtliche Wesen«, wie Schelling sagt. Nur muss ihr vollständiger Begriff geschichtlich erst noch entfaltet werden: »Der vollständige Begriff der Mythologie ist daher nicht bloße Götterlehre zu seyn, sondern Göttergeschichte, oder wie die Griechen das natürlich allein hervorhebend sagen, Theogonie« (SW XI, 7). Um an dieser Stelle Ernst Cassirer heranzuziehen, der in seiner Philosophie der symbolischen Formen auf Schellings Philosophie der Mythologie Bezug nimmt: »Durch seine Geschichte erst wird der Gott konstituiert – wird er aus der Fülle der unpersönlichen Naturgewalten herausgehoben und ihnen als ein eigenes Wesen gegenübergestellt«. 71 70 71

Ortland u. a. 1992, 23. Cassirer 1925, 123. Analog zu Schellings Überlegungen heißt es weiter bei Cassi-

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Der systematische Ertrag der Denkfigur der Konstellation gegenüber derjenigen der Deduktion besteht darin, dass an die Stelle einer lückenlos-deduktiven Präsenskonzeption eine situationsgebundene, auf die je aktuelle Beziehung fokussierte Geschichtskonzeption tritt, welche die Vorstellung von Wahrheit als eine ›sprunglose Einheit‹ nachhaltig konterkariert. 72 Die Wahrheit selbst bekommt, um mit Benjamin zu sprechen, einen ›Zeitkern‹. 73 Die Geschichte ist den Göttern sowenig wie den Menschen ›äußerlich‹. Jedes Wesen nimmt in der Genealogie diejenige Stelle ein, die ihm geschichtlich zuteil geworden ist. Das Einzelne ist nicht absolut als Einzelnes, es ist vielmehr so etwas wie die Geschichte seiner Beziehungen zu den Anderen. Je nach geschichtlicher Situation können so »Opposition, Überwindung, aber auch spezifizierende Kontinuität zum Ausdruck kommen«. 74 Mithilfe konstellativen Denkens lassen sich so verstanden genealogische Abfolgen nicht nur mikrologisch beschreiben, sondern auch makroperspektivisch als Folgen unvermittelter, geschichtlicher Umbestimmung verstehen. Konstellative Verhältnisse sind Verhältnisse temporaler Übergänge und Zäsuren. Eine Methode wie die Genealogie, die sich im Aufdecken solcher unvermittelten temporalen Übergänge und Zäsuren versteht, hat, wie Christian Iber im Anschluss an Adornos Negative Dialektik formuliert, die »in den

rer: »Der echte Mythos beginnt erst dort, wo nicht nur die Anschauung des Universums und seiner einzelnen Teile und Kräfte sich zu bestimmten Bildern, zu den Gestalten von Dämonen und Göttern formt, sondern wo diesen Gestalten ein Hervorgehen, ein Werden, ein Leben in der Zeit zugesprochen wird. Erst dort, wo es nicht bei der ruhenden Betrachtung des Göttlichen bleibt, sondern wo das Göttliche sein Dasein und seine Natur in der Zeit expliziert, wo von der Göttergestalt zur Göttergeschichte und zur Göttererzählung fortgeschritten wird, haben wir es mit ›Mythen‹ in der engeren und spezifischen Bedeutung des Wortes zu tun«. 72 Vgl. dazu Benjamin 1928, 213. Benjamins Begriff der Konstellation schließt hier unmittelbar an die Überlegung zum situativ-konstellativen Denken bei Schelling an: »Die Ideen verhalten sich zu den Dingen wie die Sternbilder zu den Sternen. Das besagt zunächst: sie sind weder deren Begriffe noch deren Gesetze« (Benjamin 1928, 214). 73 In den Aufzeichnungen und Materialien zu Benjamins Fragment gebliebenen Passagen-Werk heißt es: »Entschiedne Abkehr vom Begriffe der ›zeitlosen Wahrheit‹ ist am Platz. Doch Wahrheit ist nicht […] nur eine zeitliche Funktion des Erkennens sondern an einen Zeitkern, welcher im Erkannten und Erkennenden zugleich steckt, gebunden. Das ist so wahr, daß das Ewige jedenfalls eher eine Rüsche am Kleid ist als eine Idee« (Benjamin 1927/40, 578). 74 Ortland u. a. 1992, 23.

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Dingen aufgespeicherte Geschichte« freizulegen: »Die geschichtliche Konstellation zu erkennen, in der eine Sache steht, heißt, den geschichtlichen Prozeß zu entziffern, den die Sache als Gewordene in sich trägt«. 75 Blickt man von hier aus auf Schellings ›Genealogie der Zeit‹ zurück, dann lässt sich in der Tat zeigen, wie mit der Denkfigur der Konstellation zu operieren wäre. Denn die Denkfigur der Konstellation erlaubt es auf einmal, das Verhältnis der beiden Willen zueinander besser zu verstehen: Im Verlauf der Genealogie gehen sie unterschiedliche Konstellationen ein. Verharrt der ›Wille, der nichts will‹ einmal in völligem Gleichmut, macht sich ein andernmal eine bewusstlose Sehnsucht in ihm bemerkbar, ein ›Wille, der Etwas will‹; bestehen der ›Wille, der nichts will‹ und der ›Wille, der Etwas will‹ einmal in anfänglicher Eintracht, so sind sie ein anderes Mal in einem agonalen Konflikt verwickelt. Gleichmut und Sehnsucht, Eintracht und Konflikt: Diese und andere Komplementärphänomene sind es, die, weil sie in übergangslosem Wechsel begriffen sind, die Denkfigur der Konstellation zu einem geschichtsanalytischen Instrumentarium machen. Erst wenn man genealogische Verhältnisse als sich situativ einstellende, konstellative Selbstverhältnisse versteht, wird begrifflich überhaupt einholbar, wie zunächst ein protozeitlicher Übergang von der in Gleichgültigkeit verharrenden lautlosen Ewigkeit zur anfangslosen Zeit, und schließlich ein geschichtlicher Übergang von der anfangslosen, Gestalten gleichermaßen hervorbringenden wie verschlingenden Zeit zur geordneten, sukzessierenden Zeit stattfinden kann. 76 Welche unmittelbaren Folgen das für die Struktur der geschichtlichen Zeit hat, soll nun am Kronos-Mythos verdeutlicht wer-

Iber 1994, 376. In der Tat hat auch Adornos Konstellationsbegriff mit der konstellativen Denkform, die offenbar Schellings ›Genealogie der Zeit‹ zugrunde liegt, Entscheidendes gemeinsam. Was Adorno und Schelling teilen, ist die von Iber herausgestellte philosophische Intention, »durch den Begriff hindurch auf das Nichtbegriffliche, Begriffslose, Einzelne, Besondere etc.« (S. 363) zu gehen. Das Einzelne aber zeigt sich, und das ist bei Adorno nicht anders als bei Schelling, auch wenn Iber dies an dieser Stelle nicht eigens ausführt, in seiner »ihn umgreifenden Geschichte«, die gewissermaßen die Ermöglichungsbedingung für die Beschreibung der dem Objekt »immanente[n] Geschichte« (S. 376) bildet. Vgl. Adorno 1975, 163–168. 76 Vgl. dazu auch Coello 2011, 148. Coello macht in Bezug auf Schelling deutlich, dass das Problem des Zugangs zur Zeit gerade als das Problem des Übergangs zu reformulieren ist: Zeit sei nicht schon als solche bei Schelling thematisch, sondern komme überhaupt erst als »Sinn des Übergangs selbst« in den Blick. 75

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den, vor dessen Hintergrund auch Schelling seine Überlegungen zum Anfang der Zeit präsentiert. 77 5.3. Κρόνος und Ζεύς: Temporale Übergänge und Zäsuren Die Epoche der vorgeschichtlichen Zeit ist das Zeitalter Kronos’, des jüngsten Sohns Gaias, der seinen Vater Uranos entmannt, und aus Angst nun selber entmannt und entmachtet zu werden, seine Kinder nach der Geburt verschlingt. Wirft man einen Blick in die Theogonie, dann heißt es: »All diese Kinder verschlang der riesige Kronos, sowie jedes aus dem heiligen Schoß zu den Knien der Mutter hervorkam, wollte er doch, daß kein anderer der herrlichen Uranosenkel die Königsmacht bei den Unsterblichen erlangte«. 78 In den Weltaltern nimmt Schelling auf diesen Mythos Bezug, und er tut dies, indem er ihn auf sein implizites Temporalitätsverständnis hin befragt. So wird das ewige Verschlingen der Neugeborenen bei Schelling zum ewigen Suchen und Nichtfindenkönnen des Anfangs, mit anderen Worten, zum Sinnbild der vorgeschichtlichen Zeit: »Aber zuvörderst ist diese Zeit keine bleibende, geordnete Zeit, sondern in jedem Augenblick durch neue Contraction, durch Simultaneität bezwungen […], muß sie dieselben Geburten, die sie so eben gezeugt, wieder verschlingen« (WA I, 77). So wie also Kronos seine Kinder – bereits im Moment der Geburt – verschlingt, um seine Herrschaft zu schützen, so hat auch die ›innere Zeit‹ die Form eines »unabläßig in sich selbst laufenden Rads der Geburt« (WA I, 77), von nichts beherrscht als sich selbst, eine im wahrsten Sinne des Wortes ›chaotische‹ Zeit, ohne Maß, Form und Gestalt. Erhellend in diesem Zusammenhang sind auch die Ausführungen, die Schelling in der Philosophie der Mythologie zu Kronos gibt: Hier gibt er ausdrücklich zu verstehen, dass es sich bei Es wird zu den Aufgaben der späteren Philosophie der Mythologie gehören, den Übergang von der ›vorgeschichtlichen‹ zur ›geschichtlichen Zeit‹ als die allgemeine Geschichte der Göttervorstellungen der verschiedenen Völker zu erzählen: »Die Mythologien der verschiedenen Völker sind daher selbst nur Momente der allgemeinen Mythologie, d. h. Momente des allgemeinen, Mythologie erzeugenden Prozesses, und werden nur als solche betrachtet. Diese verschiedenen Momente des theogonischen, Mythologie erzeugenden Processes an den successiven Mythologien der Völker nachzuweisen, dieß ist, wie wir schon wissen, der eigentliche Gegenstand einer Philosophie der Mythologie« (SW XIII, 381). 78 Hesiod, Theogonie, v. 39. 77

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der Kronos-Zeit um eine ›vorzeitliche‹ Zeit handelt. Wenn Kronos seine Kinder verschlinge, so sei dies nicht in dem Sinne gemeint, wie die Zeit eben das, was sie hervorbringt, durch ihre Vergänglichkeit wieder zurücknimmt: »Denn Kronos bringt nichts hervor, verschlingt seine Kinder schon in der Geburt, noch eh‹ sie das Licht erblicken, nicht wie die Zeit, welche ihre Kinder gebiert, existieren läßt, und dann wieder verschlingt« (SW XII, 292). Und genau in diesem Sinne sei Kronos »nicht etwa, wie dieß insgemein verstanden wird, Gott der wirklichen Zeit, im Gegentheil ist er der die wirkliche Zeit verneinend, der für sich die Zeit abweisende, nicht in die Zeit wollende«. Und Schelling fährt in seinen Ausführungen fort: »Indem er selbst nicht zur Vergangenheit werden will, hindert er den Aufschluß in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, d. h. in wirkliche Zeit; denn wirkliche Zeit ist nur gesetzt, indem uno eodemque actu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gesetzt werden« (SW XII, 292). Dass die Zeit während der Kronos-Ära noch nicht die ›wirkliche‹ Zeit ist, ist allerdings nicht ihre einzige Bestimmung. Schelling beschreibt die anfangslose Zeit in anderer Hinsicht wiederum auch als eine vollkommene Zeit. Denn eigentlich handelt es sich bei ihr noch um eine Zeit, in der Menschen und Götter in ungestörtem Frieden miteinander leben, um eine Art »goldene[…] Zeit« also, sodass hier zwei entgegengesetzte Zeitmodi zusammenfallen: Auch in der griechischen Fabel folgte der Herrschaft des Uranos, der uranfänglichen himmlischen Wesenheit, die Herrschaft des Kronos, in dessen Natur zwey Vorstellungen verbunden werden, der der ewig gebährenden, ewig verschlingenden Zeit, des unabläßig in sich selbst laufenden Rads der Geburt, und die der goldenen Zeit, welcher zuletzt immer jene Eintracht der Dinge zum Vorbild diente, in welcher sie vor dem Anfang der jetzigen Zeiten zusammenleben. (WA I, 68)

Beides besteht also zusammen: einerseits die ›unruhige‹ Zeit, in der sich schon etwas geregt hat, das – sich selbst noch nicht bewusst – nun darauf wartet, aus der Latenz in die Aktualität überzugehen, andererseits die ›selige‹ Zeit der Wonne, in der Menschen von Göttern noch nicht verschieden sind, der Konflikt zwischen dem Unendlichem und Endlichem noch nicht ausgebrochen ist. Und es ist aufschlussreich zu betrachten, dass Kronos ja auch in der frühgriechischen Epoche als Zeitgott verehrt wird, während er in der römischen Mythologie als Gott der Landwirtschaft fungiert. Seine Attribute Sense, Sichel und Stundenglas bringen exakt zum Ausdruck, dass in dieser Zeit im 128 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

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wahrsten Sinne des Wortes alles auf Messers Schneide steht. Auch die bei Hesiod wiederholten Epitheta bringen diese strukturelle Ambivalenz zum Ausdruck: Mal wird Kronos als ›groß‹, dann wird er wieder als ›krummsinnig‹ beschrieben. Kronos, so scheint es, tritt immer in doppelter Gestalt in Erscheinung, und dieser Dualismus ist in solcher Schärfe ausgeprägt, dass man Kronos geradezu als einen Gott der Gegensätze bezeichnen kann: Auf der einen Seite ist er der »Vater der Götter und Menschen«, auf der anderen Seite aber ist er der »Kinderfresser, der rohes Fleisch Fressende, der Alles-Verschlinger, der sämtliche Götter in sich hineintrinkt und von den Barbaren Menschenopfer verlangt«. 79 Schelling interpretiert diese Doppelaspektivität in den Weltaltern konsequent zeitlich: Schon das Epitheton αγκυλομήτης, ›krummsinnig‹, also ›in sich gekrümmt‹, deutet seiner Ansicht nach auf einen Zustand der Innerlichkeit hin, der zwar äußerlich stumm erscheint, als der einer Selbstbezüglichkeit aber durchaus ein Zeitverhältnis miteinschließt: Kronos sei nicht der »noch überhaupt nicht offenbare Gott«, im Gegenteil: Er sei der »schon äußerliche Gott«, ja sogar der, welcher darauf sinne, »sich in der Äußerlichkeit zu behaupten und die Anmuthung der Geistigkeit abzuweisen« (SW XII, 289). Spätestens mit dem Kampf der Titanen, der Τιτανομαχία, dringe die Theogonie dann aber auf eine ›Entscheidung‹, auf einen Entschluss in dieser von unausgesprochenen Gegensätzen durchdrungenen Zeit: »Unendliches Tosen erhob sich vom schrecklichen Kampf, machtvolle Taten waren zu sehen, und die Schlacht neigte sich zur Entscheidung«. 80 Deutlich wird so, dass auch die Titanen bei Schelling wie bei Hesiod noch ein Geschlecht bezeichnen, »in denen das reale, also wilde, heftige Princip, wiewohl schon ins Geistige erhoben, doch noch immer unüberwunden fortdauert« (SW XII, 618). Und eben weil das reale Prinzip hier noch »unüberwunden fortdauert«, handelt es sich auch noch bei dieser Zeit um eine »schlechthin vorgeschichtliche Zeit«, eine Zeit also, in der das Ende wie der Anfang und der Anfang wie das Ende ist, eine Art von Ewigkeit, »weil sie selbst nicht eine Folge von Zeiten, sondern nur Eine Zeit ist, die nicht in sich eine wirkliche Zeit, d. h. eine Folge von Zeiten ist, sondern nur relativ gegen die ihr folgende zur Zeit (nämlich zur Vergangenheit) wird« (SW XI, 182). 81 79 80 81

Klibansky/Parnofsky/Saxl 1992, 211 f. Hesiod, Theogonie, vv. 709–711. Schellings Überlegungen zur ›vorgeschichtlichen Zeit‹ lehnen sich an Leibniz’

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Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs

Erst mit Zeus, dem jüngsten Sohn Kronos’, auf Anraten Gaias und Uranos’ von Kronos’ Frau Rhea auf Kreta versteckt, beginnt das »Reich der Form« (WA I, 69), erst mit ihm wird die »im Ewigen verborgne Zeit ausgesprochen und geoffenbart« (WA I, 77). Erst mit Zeus, so lässt sich festhalten, beginnt eine ›neue‹ Zeit, wird ein epochaler Schnitt in das Kontinuum der chronischen Zeit gesetzt und die Gegenwart von der Vergangenheit geschieden. 82 War die Zeit bis in die Kronos-Herrschaft hinein nichts anderes als ein »unablässiges Rad gewesen, eine nie stillstehende rotatorische Bewegung, in der keine Unterscheidung ist« (SW VIII, 229), mit anderen Worten, ein heraklitisches Fließen, bei dem nichts an Ort und Stelle bleibt, eine eintönig in und um sich selber kreisende Zeit, 83 so setzt die Herrschaft des Zeus der ewig gebährenden, ewig verschlingenden Zeit jetzt ein Ende. Zeus verbannt Chaos und Nacht in den Untergrund der Erde. Was darauf folgt, ist eine Zeit der metrischen Ordnung oder – allgemeiner gesagt – eine Zeit des Maßes. Die mythisch-zyklische Vorzeit ist eine Zeit, die sich im Grunde noch gar nicht auf ihre eigene Struktur hin befragen kann. Erst die metrische, teilende Zeit kann sich auf ihre eigene Struktur hin durchleuchten. 84 Der Kronos-Mythos drückt dergestalt, wie Karen Gloy festhält, »den Sieg und die Herrschaft der teilenden, metrischen Zeit über die zy-

Konzeption der petites perceptions an. Diese zeichnen sich in temporaler Hinsicht dadurch aus, dass sie – wenn auch noch unabgehoben – bereits das Ganze der Zeit in sich enthalten: Die Gegenwart geht mit der Zukunft schwanger und ist mit Vergangenheit beladen. Dort wie hier fehlen jeweils Unterscheidungsmerkmale, um die Sukzession der Vorstellungen in eine hinreichend deutliche Vorstellung der Sukzession zu überführen. 82 Der Schnitt, den Zeus dergestalt setzt, findet sich auch in der Etymologie des Wortes ›Zeit‹ wieder, die hier nach den Überlegungen von Baumgartner 1994, 190, zitiert werden soll: »Das deutsche Wort ›Zeit‹ kommt vom althochdeutschen ›zit‹ mit der indogermanischen Wurzel ›di‹, und bedeutet ursprünglich ›teilen‹, ›zerschneiden‹. Analog verhält es sich mit dem lateinischen Wort ›tempus‹, das sich etymologisch von griechich ›themnein‹, ›abschneiden‹, herleitet. Man könnte also aufgrund einer ersten, etyomologisch orientierten Interpretation sagen: Zeit bezeichnet so etwas wie einen Schnitt in ein Kontinuum, so daß die Rede von Abschnitten in der Zeit eigentlich eine Verdopplung des Ausdrucks ›Zeit‹ bedeutet«. 83 Zur absoluten Metapher der rotatorischen Zeit vgl. Achim Hölter 1995. 84 Vgl. dazu auch Angehrn 1992, 172: »Das formlose Chaos enthält alles der Potenz nach: Darin liegt seine grenzenlose Mächtigkeit wie seine bloße Potentialität; Formung ist Entmächtigung des Gestaltlos-Unheimlichen wie Gewinnung eines festen Bodens und Stabilisierung des eigenen Seins«.

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klische Zeit aus«. 85 Während sich auf der ersten Stufe des Weltaltermythos eine Götterwelt in zeitlosem Sein ausbreitet, das aus Dauer entbehrenden, distinkten Momenten besteht, erfolgt das Werden der Zeusherrschaft, wie auch Philippson festhält, »in einer kontinuierlich ablaufenden Zeit, deren Dauer nach dem Umlauf der Gestirne meßbar ist und gemessen wird«. 86 Aber wohlgemerkt: Es handelt sich um eine metrische Zeit, die aus einer untergründig immer noch wirksamen unbeherrschten, chaotischen und maßlosen Zeit hervorgegangen ist, und die sich immer noch zu bewähren hat, dies aber aufgrund ihres chronologischen Charakters nur in der Weise tun kann, dass sie gegen ihre Herkunft aus der chronischen Zeit, der rotatorischen Bewegung ebenso wie der seligen Eintracht, anarbeitet. Ist die chronische Zeit die Zeit, die über anderes verfügt, nicht zuletzt über Kronos selbst, so ist die chronologische Zeit die Zeit, über die von Zeus verfügt wird und selbst verfügt. Nicht von ungefähr bedeutet das griechische Wort für ›Anfang‹ άρχή als Verbum άρχειν auch ›herrschen‹. Die Zeit ist ein Gerichtsprozess, der alles, was geschieht, in seiner Wahrheit ans Licht bringen wird. Und es fragt sich, ob es sich hierbei tatsächlich um eine – im antiken Verständnis – gerechte Herrschaft handelt, eine Herrschaft der δίκη. Oder ob nicht vielmehr die Herrschaft der geordneten Zeit durch den sie leitenden monopolisierenden Anspruch in eine – modern gedacht – anmaßende respektive maßlose Herrschaft umschlägt. Die chronologische Zeit wäre dann im Begriff, ihre eigene Geschichtlichkeit zu vedrängen; sie drohte zur eindimensionalen, bloß verfügten Zeit zu werden. Und diese Tendenz ist unbestreitbar vorhanden: Einerseits gibt Zeus zwar den chaotischen, regellosen Gestalten eine stabile, regelmäßige Form: »In der andern Beziehung aber, da die Zeiten des Saturns als die Zeiten hoher Glückseligkeit betrachtet wurden, mußte dem Realismus der griechischen Religion zufolge diese Verdrängung als Gewaltthat vorgestellt und beklagt werden« (WA I, 69). Die ›Gewalt‹, die hier von Seiten des ›Realismus‹ beklagt wird, zeigt sich schon in der brutalen Weise von Zeus’ Machtübernahme: In der theogonischen Erzählung ist von drei hundertarmigen Riesen die Rede, Briareos, Gyges und Kottos, die sogenannten Hekatoncheiren, die, von Zeus aus dem Erobos freigelassen, aus der Tiefe aufsteigen und die titanischen Mächte, die sich im Bund mit Kronos befin85 86

Gloy 2008a, 26. Philippson 1944, 30.

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den, besiegen und in den Tartaros einsperren, sie also dorthin zurückdrängen, wo noch nicht einmal die von Hades bewachte Unterwelt beginnt. Jede Form der Aktualisierung der Zeit geht so verstanden mit ihrer Verdrängung einher, der gewaltsame Eingriff soll verhindern, dass die unausgeschöpfte Potenziale der Zeit jemals wieder an die Oberfläche gelangen. Welche Gestalt aber eine solche Zeit permanenter Verdrängung annimmt, hatte sich schon bei der argumentativen Analyse der transzendentalen Zeitlehre Kants gezeigt: Es ist der ›fließende Punkt der Gegenwart‹, der weder eine vorgegebene Linie nachzeichnet noch eine selbstgezeichnete Linie hinterlässt: Vergangenheit und Zukunft sind allein mitgegenwärtig in der Form des spurlosen Übergangs, in einer zeitlichen Gegenwart, die sich auf der permanenten Schwelle zum Nichtsein bewegt. Es ist im Grunde genau dieser Standpunkt, auf den Schelling mit seiner Zeit-›Kritik‹ abzielt, die dadurch zugleich zur Analyse der eigenen geschichtlichen Gegenwart wird. Das heißt, diejenige Zeit, von der Schelling sagt, dass sie als weltliche Zeit auf die vorweltliche, chronische Zeit folgt, ist gerade nicht die Zeit einer auf die Zukunft hin offenen Gegenwart, sondern die Zeit eines auf das unmittelbare Präsens fixierten chronologischen Denkens, das die Dinge um sich herum beherrscht und dadurch seine eigene Geschichtlichkeit in Form linearen Denkens permanent zu verdrängen sucht. Zeus’ Macht ist, mit anderen Worten, eine Macht, »die sich im ständigen Niederhalten der im Grunde noch wirksamen Urgewalten bewähren muss«. 87 Immer noch droht die einmal errichtete Ordnung zurück ins Chaos zu stürzen. Bei Schelling, für den gerade diese latent immer noch spürbare Unentschiedenheit den Motor der Vergeschichtlichung zeitlicher Gegenwart darstellt, heißt es hier: Nicht in dem Verstande sicher, wie es die Menge glaubt, ist der geordnete Zustand der Welt; zwar sicher genug, solange die ewige Liebe nicht stirbt und die herrschende obwaltende Macht ist, aber nicht so sicher, als wäre er durch blinde Nothwendigkeit, oder wie gemeynt wird, durch ewige Naturgesetze. (WA, 217)

Tritt man für einen Moment von der Überblendung Hesiods und Schellings zurück, so lässt sich erkennen, dass gerade im Rückgriff auf den Kronos-Mythos Schelling versucht, die Unsicherheit der geschichtlichen Verhältnisse seiner eigenen Zeit, der Moderne, offen87

Theunissen 1994, 49. Vgl. dazu auch Fränkel 1962, 108 f.

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zulegen. Das Bedürfnis nach einem sicheren Grund, so scheint es, trägt immer schon die Signatur der Verdrängung der eigenen Herkunftsgeschichte. Die vergangen geglaubte Zeit, so versucht Schelling zu sagen, ist, ungeachtet der Zäsur, die sich ereignet hat, weiterhin in der Gegenwart wirksam. Mit anderen Worten: Die gegenwärtige Zeit ist nicht das, was sie vorgibt zu sein: notwendigen und unabänderlich. Auch sie hat eine Geschichte und ist selbst die Grundlage von Geschichte, enthält sie doch bei aller Differenz zur menschlichen Handlungszeit im bloßen Voranschreiten noch eine Zeit des Vergehens und eine Zeit des Neuen. Die Perspektive einer offenen Zukunft ergibt sich für Schelling dergestalt erst wieder, sobald man versucht, genau diese Geschichte wieder freizulegen und den Bann der Gegenwart als singuläre, scheinbar ewigen Naturgesetzen unterworfene Zeit als Mythologem einer in sich verkehrten Moderne entlarvt. 88 Worauf man in der genealogischen Analyse stößt, ist im Gegensatz zur blinden Notwendigkeit des kantischen linearen Voranschreitens der Zeit nämlich eine Form der Geschichtlichkeit, die als unvordenkliches Geschehen allem regelmäßig Gebildeten zugrunde liegt: Es ist das hesiodeische χάος, aus dem auch Gaia und die anderen theogonischen Gestalten, selbst Zeus, hervorgegangen sind. 89 Als Regelloses ist das Chaos jeder Form eingeschrieben: »Form besteht vor dem Hin-

Vgl. dazu auch Hutter 1996. Hutters Deutung von Schellings Spätwerk als einer Kritik der natürlichen Vernunft schlägt den Bogen von der mythologischen Urgeschichte theogoner Vernunft zu den Pathologien neuzeitlich moderner Rationalität. »Jetzt läßt sich sagen, dass die Verdrängung des Geschichtlichen die geschichtliche Verfassung des neuzeitlichen Bewußtsein als solchen, seine ›Natur‹ darstellt. Eine solche Naturalisierung schlägt aber den Bogen vom Neuen der Neuzeit zurück zum Ältesten: zum mythologischen Bewußtsein. Schelling nutzt diese Korrespondenz für die Architektur seiner Spätphilosophie, indem er das mythologische Bewußtsein in systematischer Hinsicht von der Neuzeit her, die Negativität des neuzeitlichen Bewußtseins in geschichtlicher Hinsicht jedoch von der Mythologie her darstellt« (Hutter 1996, 371). 89 Als Befreiung von der natürlichen Zeit lässt sich der Kronos-Mythos auch aus der Perspektive Hegels rekonstruieren. Auch bei Hegel treten, wie Winter 2015, 154 ff., gezeigt hat, mit der Überwindung der in Kronos personifizierten Herrschaft der Zeit überhaupt erst die Grundbedingungen von Geschichte hervor. Der Bruch mit der kronischen Herrschaft der Zeit bezeichnet auch hier den Übergang von der natürlichen Zeit zur geschichtlichen Zeit, ein Übergang, der, weil er sich nie ganz vollzieht, beständig vom Subjekt auszutragen ist. 88

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tergrund der Formlosigkeit und gegen sie«. 90 Oder wie es dann bei Schelling in der Freiheitsschrift heißt: Nach der ewigen That der Selbstoffenbarung ist nämlich in der Welt, wie wir sie jetzt erblicken, alles Regel, Ordnung und Form; aber immer liegt noch im Grunde das Regellose, also könnte es einmal wieder durchbrechen, und nirgends scheint es, als wären Ordnung und Form das Ursprüngliche, sondern als wäre ein anfänglich Regelloses zur Ordnung gebracht worden. (AA I,17, 131)

Der Übergang von der anfangslosen, Gestalten gleichermaßen hervorbringenden wie verschlingenden Zeit zur geordneten, sukzessierenden Zeit bringt auf diese Weise zwei Zeitverhältnisse hervor. Einerseits entsteht mit dem Übergang von der ungeordneten Zeit zur geordneten Zeit die chronologisch linear verlaufende Zeit der Gegenwart, andererseits bleibt aber auch in der so verfassten Linearzeit etwas von den ungeordneten Verhältnissen der chronischen Vorzeit erhalten. Der Weltaufbau zeige deutlich genug, so Schelling, dass die Gegenwart einer inneren geistigen Potenz folge, ebenso unverkennbar sei aber auch der Anteil einer realen Potenz, »der Miteinfluß eines vernunftlosen Princips, das nur beschränkt, nicht völlig überwältigt werden konnte« (SW VIII, 328). Die Spannung, die vormals zwischen der lauteren Ewigkeit und der realen, wirkenden Ewigkeit bestanden hatte, verlagert sich in die metrische Zeit hinein und kehrt als Spannung zwischen einer äußeren Zeit als Form unserer Vorstellungen und einer inneren Zeit, als Gewordensein und Werden der Dinge selbst wieder. Das unerhört Neue an Schellings Zeittheorie ist also, dass Ewigkeit und Zeit, weil sie von Beginn an als eigenständige Prinzipien auftreten, die in einem dialogischen Verhältnis stehen, noch in der chronologisch linearen Zeit der Gegenwart im unmittelbaren Rapport zueinander stehen. Die Zeit in der Ewigkeit kehrt – in sich verkehrt – als Ewigkeit in der Zeit wieder. Als Zeit fundierende Tiefendimension ist sie die Basis, auf der die zur monochromen Ewigkeit geronnene metrische Zeit wieder in die ›wahre‹, äonische Ewigkeit zurückfinden kann. Mit anderen Worten: Ewigkeit und Zeit stehen bei Schelling dort in Spannung, wo Schöpfung, Offenbarung sich ereignet, Freiheit sich realisiert. 91 Und deshalb darf auch die relative Ruhe des gegenwärtigen Weltalters nicht darüber hinwegtäuschen, Angehrn 1992, 168. Schon die Theorie der intelligiblen Tat in der Freiheitsschrift erwägt in diesem Sinne die Möglichkeit einer ›realen‹ Vermittlung von Ewigkeit und Zeit: »Die That, 90 91

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dass das Dasein anfänglich »aus Dunkel an’s Licht« (AA I,17, 131) gehoben wurde. Ja, in Wirklichkeit ist »[a]lles, was wir am heutigen Sein sehen, vor allem am Lebendigen, […] erst das Ergebnis einer späteren, harmloseren Zeit«. 92 In dieser Radikalität hat keiner vor Schelling das Verhältnis von Ewigkeit und Zeit gedacht. Damit die Ewigkeit sein kann, muss die Zeit als das Andere ihrer selbst bereits in ihr sein: »Der Ewigkeit tritt also die Zeit als ein selbständiges Principium entgegen« (WA III 5, 229). Und nur weil die Zeit dergestalt in ihr ist, ist das Ewige auch nicht als das ganz Andere der Zeit zu verstehen, sondern muss als deren geschichtliche Tiefendimension angesehen werden. Schellings zeittheoretische Einsicht lautet also, dass die Zeit, verstanden als latente Zeitlichkeit, als eine Zeit vor aller Zeit, eine zur Ewigkeit äquipollente Kraft ist, und dass der daraus resultierende Konflikt zugleich die Gelingensbedingung ist, unter der die Ewigkeit in der Zeit erscheinen kann. Bedeutet die Kategorie des Zeitlichen für die klassische Metaphysik in erster Linie das Nichtige, weil bloß Veränderliche, so steht sie für Schelling von Anfang an in einer kaum überschaubaren Fülle an unterschiedlichsten geschichtlich-sinnstiftenden Konstellationen zur Ewigkeit. 93 ›Nichtig‹ wäre für Schelling gerade eine Weltzeit, die bloß »in der Unveränderlichkeit einer steten, zirkelhaften Wiederholung« verharrt. 94 Schelling bricht mit der für die klassische Zeitphilosophie so unverzichtbaren Annahme, dass die Zeit von der Ewigkeit gesetzt ist und – als homogene, kontinuierliche, unendliche Zeit – bloß eine Privation derselben darstellt. In den Weltaltern, so ist zu notieren, verhält es sich nun geradezu verkehrt: »daß in diesem Sinn, nicht wie insgeheim gedacht wird, die Zeit von der Ewigkeit gesetzt, sondern umgekehrt die Ewigkeit ein Kind der Zeit ist« (WA III 5, 229 f.). wodurch sein Leben in der Zeit bestimmt wird ist, gehört selbst nicht der Zeit, sondern der Ewigkeit an« (AA I,17, 153). Vgl. dazu auch Hennigfeld 2015. 92 Fuhrmans 1954, 374. 93 Vgl. dazu auch Frank 1992, 324: »Die Unauffälligkeit, mit der Schelling sein Theorem einer virtuellen Zeitlichkeit des Absoluten selbst einführt, kann über die eminente wirkungsgeschichtliche Bedeutung dieses Gedankens nicht hinwegtäuschen. Erstmals in der Geschichte der neueren Philosophie – sieht man von Friedrich Schlegel einmal ab – wird die dialektische einige Subjekt-Objektivität, die mit einem anderen Ausdruck als die ›Einheit der Einheit und des Gegensatzes‹ bestimmt wurde – aus Zeitstrukturen abgeleitet. […] Das bedeutet nichts Geringers, als das Zeit und Denken als ausdehnungsgleich unterstellt werden«. 94 Hutter 2004a, 264.

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Es ist genau diese Verkehrung der Ordnung von Ewigkeit und Zeit, die die vorliegende Studie in historisch-systematischer Absicht als Verkehrung der transzendentalen Idealität der Zeit zu rekonstruieren versucht. Eine Verkehrung, deren systematisches Gewicht gar nicht überschätzt werden kann, auch und vor allem deshalb, weil sie eine geschichtliche Verschiebung der Problemlagen anzeigt – dort der Rückgang auf den zeitlosen Ursprung, hier der Fortgang zum geschichtlichen Anfang –, eine Verschiebung, die umso deutlicher hervortritt, wenn man sie auf der Folie derjenigen ›Umkehrung‹ betrachtet, die Schelling schon einmal in Bezug auf die kritische Philosophie Kants ankündigt hatte, und zwar in der Ichschrift. Deshalb soll nun im Folgenden die Umkehrungsfigur der Ichschrift in aller Kürze rekonstruiert werden, um sie im Anschluss gegen die der Weltalter zu halten. Dabei wird in einem ersten Schritt zu zeigen sein, wie Kants kritische Philosophie, die mit dem Anspruch auftrat, Wende der Metaphysik zu sein, von Schelling seinerseits ›gewendet‹ wird. In einem zweiten, darauffolgenden Schritt gilt es dann aufzuweisen, wie die Defizite seiner eigenen im Anschluss an Kant projektierten Ichphilosophie Schelling (a) zur Frage nach dem Verhältnis von Zeit und Zeitlichkeit führen und (b) schließlich eine Verkehrung der Ordnung von Ewigkeit und Zeit in den Weltaltern notwendig machen. Ziel der Kontrastierung beider Umkehrungsfiguren ist es hierbei zu zeigen, dass sich die transzendentale Einheit der Zeit der im kritischen Anschluss an Kant entwickelten Zeitlehre des frühen Schelling beim Schelling der Weltaltern in eine Pluralität geschichtlicher Zeiten ausdifferenziert.

6. Nachkantische ›Zeit‹-Revolutionen 6.1. »Umkehrung der Principien« in der Ichschrift Gemeinhin bezeichnet ›Revolution‹ die Erfahrung eines geschichtlichen Umbruchs, sei es die kurzfristige, mit Gewalt verbundene Eruption oder der langfristige, generationenübergreifende Strukturwandel. Das Konzept der Revolution lässt sich als historiographisches Instrument verstehen, um die geschichtliche Erfahrung einer sich tiefgreifend verändernden Zeitorganisation zu beschreiben. 95 ›Revo95

Vgl. Koselleck 1984, 656.

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lution‹ tritt daneben aber auch, insbesondere an der Epochenschwelle um 1800, als philosophische Denkfigur in Erscheinung, als Umkehrungsbewegung, welche aus der Entzweiung von Welt und Selbst, Objekt und Subjekt, Unendlichem und Endlichem wieder herausführen soll: »Denkbar wäre eine problemgeschichtliche Darstellung des neuzeitlichen Denkens als Analyse seiner Verwendung der Metapher der Umkehrung«, so eröffnen Manfred Frank und Gerhard Kurz ihren klassischen Aufsatz über das Prinzip des ordo inversus: eines Ausgehens von etwas, dessen vollständige Entfaltung die wiederholte Rückkehr zum Anfangspunkt auf einer höheren Stufe bedeutet. 96 Nicht von ungefähr hat auch Kant seine Vernunftkritik als eine Umkehrung der neuzeitlichen Denkart verstanden: Sie kehrt das Verhältnis der Gegenstände zu unserer Erkenntnis um, sodass die Vernunft wirklich nur das einsieht, »was sie selbst nach ihrem Entwurf hervorbringt« (KrV, B XIII). Das ist allerdings nicht die einzige ›Umkehrung‹ in dieser an philosophischen, politischen, kulturellen und ästhetischen Umwälzungen nicht armen Zeit. Auch Schelling kündigt in seiner Ichschrift vollmundig eine »gänzliche Umkehrung der Principien mögliche Philosophie« (AA I,2, 77) an, die auf die erste von Kant vollzogene »Revolution der Denkart« (KrV, B XI) zu erfolgen habe. Eine zweite ›Revolution‹ sozusagen, eine ›Umkehrung der Umkehrung‹, die expressiv verbis zum ersten Mal in der Vorrede auftaucht. Und es fällt gewiss nicht schwer, darin den Duktus desjenigen Nachkantianers zu erkennen, welcher der Überzeugung ist, die von Kant ausgerufene ›Revolution der Denkart‹ hätte systematisch zu kurz gegriffen und müsse nun durch eine zweite, der Welt und dem Leben zugewandte ›Revolution‹ vollendet werden, eine ›Umkehrung‹, die aus der Entzweiung der Gegenwart herausführen soll. 97 Mit einer bloßen »Re-

Frank/Kurz 1977, 75. Vgl. dazu auch Danneberg 2010. Nicht ganz unerheblich ist, dass Schelling auf die Reflexionsfigur der Umkehrung in Zusammenhang mit dem bekannten Diktum Jacobis zu sprechen kommt, wonach die Aufgabe der Philosophie darin bestehe, »Daseyn zu enthüllen und zu offenbaren« (AA I,2, 77). Inwiefern hier nicht aber gerade ein Missverständnis Schellings vorliegt, wäre eigens zu prüfen. Jacobis ›Daseyn‹ und Schellings ›Seyn‹ sind ihrer Struktur nach grundverschieden und deshalb auch terminologisch strikt voneinander zu unterscheiden. Festzuhalten bleibt allerdings, dass Jacobi mit seiner an Spinoza geschulten und auf Kant applizierten Vernunftkritik bereits in der Jenaer Frühphilosophie als maßgeblicher Stichwortgeber in Erscheinung tritt.

96 97

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form der Wissenschaft« will sich Schelling offenbar nicht zufrieden geben, wenn es heißt: Die erste [Revolution, P. N.] erfolgte, da man als Princip alles Wissens Erkenntniß der Objecte ausstellte; bis zu der zweiten Revolution war alle Veränderung nicht Veränderung der Principien selbst, sondern Fortgang von einem Object zum andern, und da es zwar nicht für die Schule, aber doch für die Menschheit selbst gleichgültig ist, welchem Object sie diene, so konnte auch der Fortgang der Philosophie von einem Objecte zum andern nicht Fortgang des menschlichen Geistes selbst seyn. Darf man also noch von irgend einer Philosophie Einfluß auf das menschliche Leben selbst erwarten, so darf man dieß von der neuen nur durch gänzliche Umkehrung der Principien möglichen Philosophie. (AA I,2, 77)

Mit der ›ersten Revolution‹ ist zweifelsohne die Revolution der kantischen Vernunftkritik gemeint. Kant selbst spricht von ihr als einer ›Revolution‹, weil sie auf dem Gebiet der Metaphysik nachholt, was durch die »Revolution der Denkart« (KrV, B XII) auf dem Gebiet der Physik längst zum wissenschaftlichen Standard gehört. Genau wie man dort habe begreifen müssen, »daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurf hervorbringt« (KrV, B XIII), geht es auf dem Gebiet der Philosophie nun darum, ebenso einzusehen, dass auch wir »von den Dingen nur das a priori erkennen, was wir selbst in sie legen« (KrV, B XVIII). Die Antwort, die Kant mit seiner Vernunftkritik auf die empiristische Skepsis Humes zu geben versucht, lautet dementsprechend, dass sich die Gegenstände nach unserer Erkenntnis richten und nicht umgekehrt. Obgleich Schelling nun durchaus diese erste, von Kant auf das Gebiet der Metaphysik getragene ›Revolution der Denkart‹ begrüßt, ja: sie in seinem späteren Nachruf auf Kant sogar als »Befreiungsprozeß« würdigt, als einen »nothwendige[n] Uebergang von den ›dornigen Pfaden der Speculation‹ zu den fruchtbaren Gefilden der Erfahrung« (SW VI, 6), so scheint sie ihm dennoch nicht weit genug zu gehen. Das Problem, das Schelling erkennt, und das fortan unter dem Topos von ›Prämissen und Resultaten‹ unter den Nachkantianern insgesamt Schule macht, besteht dabei – kurz gesagt – in folgendem Dilemma: Wenn es stimmt, dass sich die Gegenstände nach unserer Erkenntnis richten, wie Kant gesagt hatte, dann ist der Bereich der möglichen Gegenstände unserer Erkenntnis eo ipso auf diejenige Objekte beschränkt, die den Formen unseres Erkenntnisvermögens entsprechen. Wenn aber die Gegenstände möglicher Erkenntnis sich nach den Formen unserer Erkenntnis richten, dann ist ausgeschlos138 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

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sen, dass die Formen selbst noch einmal zu einem Gegenstand der Erkenntnis werden können. Können die Formen unseres Erkenntnisvermögen selbst aber nicht noch einmal zu einem Gegenstand der Erkenntnis werden, dann lässt sich von ihnen eigentlich nur in einem ›uneigentlichen‹ Sinne sprechen: Ein einigendes Prinzip lässt sich von ihnen nicht aufstellen: »So sind zwar die Kategorien nach der Tafel der Funktionen des Urtheilens, diese selbst aber nach gar keinem Princip, angeordnet. Betrachtet man die Sache genauer, so findet sich, daß die im Urteilen enthaltene Synthesis zugleich mit der durch die Kategorien ausgedrükten nur eine abgeleitete ist« (AA I,2, 72). Obwohl also unsere Erkenntnis in einem definierten Gegenstandsbereichs operieren kann und »von einem Objekt zum andern« fortschreitet, so lässt sich das Kerndilemma der kantischen Vernunftkritik mit Schelling ausformulieren, fehlt es an einem die Formen unserer Erkenntnis selbst noch einmal schlechthin begründenden Prinzip. Die Grenzlinien der kritischen Philosophie sind bloß innere Grenzlinien, sodass der »menschliche Geist«, wiewohl er von »einem Objekt zum andern« fortschreitet, auch nur begrenzt – für sich – Rechenschaft über seinen eigenen Geltungsgrund abzulegen vermag. Ein »Fortgang« über diese Grenze hinaus würde eine erneute ›Umkehrung‹ erfordern, und es scheint, als wolle Schelling durch die oben angezeigte »gänzliche Umkehrung der Principien möglichen Philosophie« auf eben diesen für unser Wissen konstitutiven Geltungsgrund hinaus. 98 Die ›Revolution der Denkart‹ treibt die Gegenrevolution aus sich hervor, mit der entscheidenden Pointe, das sich die Gegenrevolution in diesem Fall als kontinuierliches, insofern nur folgerichtiges Fortsetzungsprogramm der einmal begonnenen, kantischen Revolution versteht. Worauf Schellings Überlegung dabei konzeptionell hinauslaufen, lässt sich durch den Begriff des Unbedingten markieren, dessen Eigenheit in der Ichschrift wie folgt erläutert wird: Die philosophische Bildung der Sprachen, die vorzüglich noch an den ursprünglichen sichtbar wird, ist ein wahrhaftes durch den Mechanismus des menschlichen Geistes gewirktes Wunder. So ist unser bisher unabsichtlich gebrauchtes Wort Bedingen nebst den abgeleiteten in der That ein vortreffliches Wort, von dem man sagen kann, daß es beynahe

Vgl. dazu schon die Formschrift: »Woher jene Unterscheidung analytischer und synthetischer Urtheile? Wo das Prinzip, aus dem die einzelnen Formen des Denkens abgeleitet sind, die er [Kant, P. N.] ohne alle Rückweisung auf ein höheres Princip aufstellt. Diese Fragen blieben immer noch unbeantwortet« (AA I,1, 289).

98

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den ganzen Schaz philosophischer Wahrheit enthalte. Bedingen heißt die Handlung, wodurch etwas zum Ding wird, bedingt, das was zum Ding gemacht ist, woraus zugleich erhellt, daß nichts durch sich selbst als Ding gesetzt seyn kann, d. h. daß ein unbedingtes Ding ein Widerspruch ist. Unbedingt nämlich ist das, was gar nicht zum Ding gemacht, gar nicht zum Ding werden kann. Das Problem also, das wir zu Lösung aufstellten, verwandelt sich nun in das bestimmtere, etwas zu finden, das schlechterdings nicht als Ding gedacht werden kann. (AA I,2, 89)

Folgt man Schellings Überlegungen zur Grundbedeutung des Wortes, dann ist mit dem Unbedingten offenbar eine Struktur angesprochen, die nicht nur nicht Gegenstand einer möglichen Erfahrung, sondern überhaupt kein Gegenstand sein und auch unter keinen Umständen zu einem solchen werden kann: »Unbedingt nämlich ist das, was gar nicht zum Ding gemacht, gar nicht zum Ding werden kann«, so lautet der Kerngedanke der einschlägigen Passage. Und bereits an dieser Stelle wird die Differenz zu Kant wie überhaupt zu allen endlichkeitsphilosophischen Ansätzen sichtbar. Schelling geht von Anfang an – und hier macht sich neben seinen intensiven Platon-Studien gerade auch der über Jacobi vermittelte Einfluss Spinozas bemerkbar – vom Begriff eines Unbedingten aus, das in einem nicht vermittelbaren Gegensatz zum Begriff des Bedingten steht. 99 Hierin unterscheidet sich der idealistische Ansatz Schellings nicht nur von demjenigen Kants, sondern auch von demjenigen Fichtes. Schellings Philosophie des Unbedingten sieht vor, dass das höchste Prinzip des Wissens dem Charakter einer, wie Manfred Frank sagt, »transreflexive[n] Identität« entspricht, einer »Einheit im Gegensatz zur Selbstbeziehung«. 100 Die Art und Weise, wie Schelling die Reflexionsfigur der Umkehrung versteht, kommt dementsprechend gerade in dem Maße zur Abhebung, wie man die ›Umkehrung‹ als eine ›Abkehr‹ vom »Reflexions=Gesez aller unserer Erkenntniß« auffasst, das bei Fichte – wie auch bei Kant – als eine Art von erkenntnistheoretischer Grundbestimmung auftritt: »nemlich; Nichts wird erkannt, was es sey, ohne uns das mit zu denken, was es nicht sey. […] Und eben diese Art uns: Erkenntnis, nemlich etwas vermittelst des Gegensatzes erkennen heißt etwas bestimmen« (GA IV, 2, 41). Das einzige, wodurch das Unbedingte ›bestimmt‹ ist, das ist es selbst. Das Unbedingte ist unbedingt, wie Schelling ausführt, »als bloß insofern es 99 100

Vgl. Wieland 1975, 246 f. Frank/Kurz 1975, 10.

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unbedingt ist […], denn es ist blos durch seine Unbedingtheit, blos dadurch, daß es schlechterdings nicht zum Ding werden kann« (AA I,2, 103). Mag der Dissens zu Fichte auch erst in der Zeit zwischen 1800 und 1801 wirklich, und das heißt: öffentlich hervortreten, so ist er in systematischer Hinsicht bereits von Anfang an vorhanden und macht sich durch eine konsequente Transzendierung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses bemerkbar, wie man es bei Kant und Fichte findet. 101 Deshalb spricht Schelling auch nicht mehr von der Subjektivität des Wissens, sondern, wie es schon die Erweiterung des Titels der Ichschrift ankündigt, von einem Unbedingten im Wissen. 102 Indem Schelling dergestalt aber, nämlich durch den aufgehobenen Gegensatz im Wissen, »alles theoretische zernichtet«, und dem Unbedingten »gar kein Objekt« entgegensetzt, »denn dadurch hörte es auf, absolut zu seyn«, verfolgt er mit seiner Philosophie des Unbedingten einen im Vergleich zur Vernunftkritik Kants und Wissenschaftslehre Fichtes gänzlich neuen und originären Ansatz. 103 101 Vgl. dazu auch die Bemerkung Schellings in der Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zu der verbesserten Fichte’schen Lehre: »Es war nämlich allerdings eine Zeit, in welcher ich selbst Herrn Fichte nicht ganz zu verstehen glaubte, obgleich er dieß selbst meinte und in allewege rühmte; es war die Zeit, wo ich etwas Höheres und Tieferes in seiner Lehre suchte, als ich doch in der That finden konnte« (SW VIII, 23). Dass Schelling hier angibt, »etwas Höheres und Tieferes« in Fichtes Wissenschaftslehre gesucht zu haben, verweist geradezu auf die Transzendierung jeder Form von Subjektivität. 102 Dass Schelling von Anfang an eigene Wege beschritten hat, spiegelt sich auch in der Einschätzung von Zeitgenossen wider wie etwa derjenigen Friedrich Schlegels. Schlegel notiert in seinen Philosophischen Fragmenten von 1796: »Das Ende der prakt. Philosophie hnicht bloß der prakt. Philosophie, sondern auch der ächten (philosophischen) Praxis selbsti – Ende alles Nicht-Ichs und Wiederherstellung des absoluten Ichs in seiner höchsten Identität d. h. als Inbegriffs aller Realität. – Vortrefflich!« (KFSA 18, 512). 103 F. W. J. Schelling an G. W. F. Hegel, 4. Februar 1795, AA III,1, 23. Trotz der hier veranschlagten Differenz steht natürlich weiterhin zur Disposition, welche Rolle die Wissenschaftslehre Fichtes bei der Herausbildung der Frühphilosophie Schellings gespielt hat. In der Forschung werden hierzu gänzlich gegensätzliche Auffassung vertreten. Ist Görland 1973, 7 f., der Auffassung, dass bei Schelling kein »Durchbrechen der Fichteschen Philosophie zum Eigenen hin festzustellen« sei, vielmehr ein »Weitertreiben des sich in Fichte verwickelt haben Eigenen«, sieht es Fuhrmans 1954, 32, gerade als Schellings »erste große philosophische Leistung« an, dass dieser – immer tiefer in die Welt gezogen – Fichtes Philosophie der Subjektivität »durchbrach«. Sandkaulen 1990, 39, spricht in vergleichbarer Weise von einer »jede Subjektivitätsdimension im Sinne Kants oder Fichtes sprengende[n] Ontologie«. Ob man angesichts dessen noch einem »verkehrte[n] Hineingeraten« Schellings in die Wissenschaftslehre Fichtes sprechen kann, wie es Görland am selben Ort vorschlägt, scheint daher zwei-

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Schelling behauptet – in unverkennbarem Anschluss an seine ein Jahr zuvor veröffentlichte Formschrift – strukturtheoretisch ein Unbedingtes als erstes Prinzip der Philosophie, dem »kein Objekt mehr als das schlechthin andere seiner selbst gegenübersteht«, weil es »alle Objektivität durch Einschränkung seiner unendlichen Realität selbst hervorbringt«. 104 Nicht von ungefähr bekräftigt er deshalb auch in seinem selbst so bezeichneten »Anti-Fichte« (Plitt II, 110) die ersten Grundsätze, mit denen Fichte die zweite Vorlesung seines Vorlesungszyklus Über das Wesen des Gelehrten 1805 in Erlangen eröffnet. Fichte entwickelt dort den Gedanken von einem göttlichen Leben, außerhalb dessen Sein kein Sein ›sein‹ könne. Ein Ansatz, der Schellings Interesse deshalb finden muss, weil der im endlichen Subjekt zwangsläufig entstehende Gegensatz zwischen Unendlichem und Endlichem, Subjekt und Objekt, hier zur Aufhebung gebracht wird, mit anderen Worten, eine ›Abkehr‹ vom ›Reflexionsgesetz aller unserer Erkenntnis‹ stattfindet. So heißt es bei Fichte für Schelling beispielgebend, dass es kein anderes Sein als das Leben selbst gebe, und dass dieses Leben das Leben Gottes sei; dieses göttliche Leben sei an und für sich rein in sich selber verborgen, es habe seinen Sitz in sich selber, und bleibe in sich selbst, rein aufgehend in sich selbst, zugänglich nur sich selbst: »Es ist – alles Seyn, und ausser ihm ist kein Seyn« (GA I,8, 72). Wo aber das göttliche Leben nur an und für sich rein in sich selber verborgen bleibt, da ist es eben darum auch ohne Veränderung und Wandel. Worauf nun Schelling ganz im Sinne seiner früheren Ichphilosophie antwortet und dem Ansatz Fichtes geradezu beispringen möchte, wer sich nicht des »verschwundenen Gegensatzes« freuen sollte, »in welchem das Seyn nur begriffen wurde als die reine Negation der Thätigkeit, nicht aber als das, was in sich selbst Thätigkeit ist« (SW VII, 6). Fichte habe dergestalt »Wahrheiten zugestanden, die er vordem verwarf« (SW VII, 28). Diese Wahrheit sei nun felhaft. Es stellt sich vielmehr die Frage, ob Schelling sich überhaupt je im Fahrwasser Fichtes befunden hat. Fichte fungiert, so scheint es, als Katalysator für Ideen, die Schelling gefasst hat, noch ehe er sich dem Studium Wissenschaftslehre ausgiebig widmen konnte. So gibt Schelling noch 1796, zwei Jahre nach dem Erscheinen der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre in einem Brief gegenüber Niethammer zu verstehen, den praktischen Teil derselben nicht gelesen haben. Dennoch glaube er, Schelling, »den Geist derselben im Allgemeinen gefaßt zu haben, wenn ich auch mit dem Detail und dem Buchstaben der Wissenschaftslehre bis jetzt sehr wenig bekannt bin« (F. W. J. Schelling an F. I. Niethammer, 22. Januar 1796, AA III,1, 40). 104 Pieper 1977, 551 f.

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einmal: »Es ist alles Seyn und außer ihm ist kein Seyn« (SW VII, 6). In Anbetracht dieser allemal ironisch zu verstehenden Fürsprache wird ersichtlich, dass Schelling auch schon ›vordem‹ an einer Strukturtheorie des Absoluten gearbeitet hat, die in dem Maße über die Ichphilosophie Fichtes hinausgeht, wie sie auf die Aufhebung aller noch im Bewusstsein vorhandenen Subjekt-Objekt-Verhältnisse zielt. 105 Kommt eine so verstandene ›Abkehr‹ vom Idealismus kritischer Provenienz aber nicht einer ›Rückkehr‹ auf vorkritisches Terrain gleich? Die Meinungen gehen hierzu in der Idealismus-Forschung auseinander, sie an dieser Stelle zu diskutieren, würde den Rahmen der vorliegenden Untersuchung sprengen. Ausschlaggebend im vorliegenden Kontext scheint zu sein, dass Schelling offenbar nicht versucht, die klassische Metaphysik in ihrer überholten Form wiederherzustellen. Nichts soll verloren sein, »was seit Kant für echte Wissenschaft gewonnen wurde« (Schelling 1841/42, 95), darauf beharrt Schelling noch in der Philosophie der Offenbarung von 1841/42. Und man sollte sich davor hüten, dieses Bekenntnis auf die leichte Schulter zu nehmen und es für ein bloßes Lippenbekenntnis zu halten. Schellings Verhältnis zu Kant lässt sich am besten aus der Perspektive einer agonalen Erhellung rekonstruieren: Kritik an Kant bedeutet für ihn immer zugleich auch Anerkennung dessen, was Kant für den begrifflichen Fortschritt in der Philosophie geleistet hat. Kants in eine »Krisis« gekommene Philosophie gilt Schelling als notwendiges Stadium im Entwicklungsprozess der Vernunft; der »Meinung, als könnte irgend etwas aufgestellt werden, das sich ganz vom Zusammenhange mit Kant losreiße«, sei, so betont Schelling weiter, »aufs bestimmteste« (SW XIV, 32) zu widersprechen. Dies gilt es unbedingt im Auge zu behalten, wenn man sich in problemgeschichtlicher Perspektive dem Spannungsverhältnis zwischen Schelling und Kant nähert. 105 Vgl. dazu auch Sandkaulen 1990, 22: »Schelling war somit zu keinem Zeitpunkt nur und ausschließlich Fichteaner, auch in der Formschrift nicht, obwohl sie das Anliegen Fichtes absolut teilt. Ihr anderer Zugriff auf dasselbe Thema läßt ungewollt Platz für eine ontologische Argumentation, die mit der Ichschrift einsetzt«. Für Sandkaulens Interpretation spricht hier nicht zuletzt auch die zeitliche Nähe zwischen der Veröffentlichung der einen und der Arbeit an der anderen Schrift. Schelling schließt die Formschrift am 9. September 1794 ab; am 6. Januar des darauffolgenden Jahres ist im Brief an Hegel schon von einer »Ethik à la Spinoza« (F. W. J. Schelling an G. W. F. Hegel, 6. Januar 1795, AA III,1, 17) die Rede, womit sich die Wende von der kritischen Philosophie kantischem Vorbilds zur spekulativen Ontologie nach spinozanischem Vorbild endgültig ankündigt.

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Was ist es nun aber eigentlich, so könnte man umgekehrt fragen, was »schlechterdings nicht als Ding gedacht werden kann«? Nichts anderes als das »Ich bin Ich« oder kürzer: »Ich bin!« (AA I,2, 103). Realität ist allein im und durch das Ich. Schelling geht nicht hinter das ›kritische Ich‹ Kants zurück; er geht vielmehr darüber hinaus. An die Stelle des denkenden Ichs der kritischen Philosophie tritt das schlechthin seiende Ich einer Philosophie des Unbedingten. Oder wie es bezeichnenderweise in einem der frühen Briefe Schellings an Hegel heißt: »Mir ist das höchste Princip aller Philosophie das reine, absolute Ich, d. h. das Ich, inwiefern es bloßes Ich, noch gar nicht durch Objekte bedingt, sondern durch Freiheit gesezt ist« . 106 Die ›Abkehr‹ von Kant und Fichte vollzieht sich dementsprechend als eine »ontologische Umdeutung des Selbstbewusstseins« zu einem »systemtragenden Prinzip«, sodass auf jedwedes Außerhalb der Vernunft von vornherein Verzicht geübt wird. 107 Möglich ist Wissen Schelling zufolge genau dann, wenn Vernunft nur innerhalb eines alle Entgegensetzungen ausschließenden, absoluten Ichs operiert. Die »gänzliche Umkehrung der Principien«, von der in der Vorrede zur Ichschrift die Rede war, kann also nicht bedeuten, hinter die Errungenschaften der kritischen Philosophie zurückzufallen, die »Umkehrung« beim Wort zu nehmen und die Kopernikanische Revolution in irgendeiner Weise wieder rückgängig zu machen, auch wenn Schelling dies in der Vergangenheit wiederholt zum Vorwurf gemacht worden ist. 108 Fluchtpunkt der Überlegungen Schellings ist und bleibt vielmehr das Ich als unhintergehbare Instanz von Selbstund Welterkenntnis. Nur ist das ›absolute Ich‹ Schellings im Gegensatz zur ›transzendentalen Apperzeption‹ Kants bereits die Form des Seins selbst, nicht erst eine Funktion des Denkens, die sich qua tiefenwirksamer Synthesis der Einbildungskraft auf das Mannigfaltige sinnlicher Anschauung erstreckt. Die ›Abkehr‹ von einem Idealismus kritischer Provenienz stellt sich für Schelling als äußerste Konsequenz der kantischen Problemlage dar, nicht als ›Rückkehr‹ auf vorkritisches Terrain. 109 F. W. J. Schelling an G. W. F. Hegel, 4. Februar 1795, AA III,1, 22. Hühn 1994, 20. 108 Vgl. Metzger 1911, Kroner 1921, Jaspers 1955. Viele der Arbeiten, die Schellings ›Abfall‹ betonen, sind älteren Jahrgangs. Hier hat die Forschung zweifelsohne inzwischen viel zum Verständnis der Philosophie Schellings beigetragen. 109 Gleichwohl lässt sich bei Schelling von einer intensiven Rezeption und Transformation vorkritischer Philosophie ausgehen. Exemplarisch sei hier neben dem Spino106 107

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Auf der Folie dieser »ontologischen Umdeutung des Selbstbewusstseins« sollte indessen klar geworden sein, was Schelling unter einer »gänzlichen Umkehrung der Prinzipien« versteht. Kants kritische Philosophie, die mit dem Anspruch auftrat, Wende zu sein, wird von Schelling seinerseits gewendet. Die ›Umkehrung der Umkehrung‹ 110 fördert dabei ein Unbedingtes zutage, das den Bereich der Erfahrungserkenntnis von jeher übersteigt, und daher nur in einer, wie Schelling sich ausdrückt, »intellectualen Anschauung« (AA I,2, 106) erfasst werden kann, einer Anschauung, deren Form – im Gegensatz zur sinnlichen Anschauung – nicht die Zeit ist, weil das absolute Ich immer schon außerhalb von Raum und Zeit steht; die Form seiner Anschauung kann nur die »Ewigkeit« (AA I,2, 130) selbst sein. Damit drängt sich aber nicht zuletzt aus zeittheoretischer Perspektive die Frage auf, wie dasjenige, was immer schon außerhalb von Raum und Zeit steht, in Vermittlung gesetzt werden kann mit dem, was zwangsläufig in Raum und Zeit erscheint. Auf der einen Seite erfordern sich Ewigkeit und Zeitlichkeit als Wechselbegriffe, auf der anderen Seite sollen sie Schelling zufolge aber in dem Maße dialektisch unvermittelt bleiben, wie die Ewigkeit ihrer inneren Form nach durch zismus nur der Neuplatonismus genannt. Gerade die Erhebung des endlichen zum absoluten Ich spiegelt, wie Beierwaltes 2001, 188 f., gezeigt hat, eine nicht zu leugnende Affinität zum Grundgedanken Plotins wieder: »daß Erkenntnis und damit denkender Besitz des eigenen, wahren Selbst nur durch die Selbst-Transformation des dianoetischen Denkens der Seele und der damit gegebenen Formen der Vielheit (auch der Zeit) in den Selbst-Stand des zeitfreien, absoluten Geistes erreicht werden kann«. 110 Vgl. dazu auch Asmuth 2006. Asmuth deutet die »Inversion der Inversion« als eine »Rückwendung zu Platon« (110). So sehr man sich diesem Vorschlag auch anschließen möchte, über den systematischen Hintergrund, vor dem sich die angesprochene ›Rückwendung‹ zu Platon vollzieht, sagt dieser Befund nichts aus. Hier gilt es sich noch einmal daran zu erinnern, dass Schelling auf die Figur der Umkehrung im Zusammenhang mit Jacobis Rede zu sprechen kommt, Aufgabe der Philosophie sei es, »Daseyn zu enthüllen und zu offenbaren« (AA I,2, 77). Hat man aber einmal die Folie der Vernunftkritik Jacobis aufgelegt, so gerät noch eine andere Position in den Blick, vermittels der die besagte »Rückwendung zu Platon« ohne Zweifel erfolgt: Es sind die durch Jacobi 1785 veröffentlichten Spinozabriefe, die die Spinozanische Lehre von der All-Einheit in den frühidealistischen Diskussionsraum einspeisen und auf Seiten Schellings die Hoffnung begründen, man könne durch die Intergration der philosophische Methode Spinozas leisten, was die Vernunftkritik Kants bisher noch nicht zu leisten vermochte. Schellings Rede von einer ersten und zweiten Revolution muss dementsprechend mit der Ankündigung der Ichschrift ineinandergeblendet werden, als ein »Gegenstük zu Spinoza’s Ethik« (AA I,2, 80) aufzutreten, um nicht die entwicklungsgeschichtliche und systematische Pointe der Frühphilosophie aus dem Blick zu verlieren.

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nichts als sich selbst bedingt ist und demzufolge auch die Zeitlichkeit des Erscheinenden sub specie Spinozae immer schon in sich begreift, sie »unter der Form der Unwandelbarkeit« (AA I,3 87) zugleich als ›Nichtiges‹ setzt. Ein Dilemma, das sich idealistisch nicht auflösen lässt. Hier ist nun auch der entscheidende Punkt gekommen, um den Blickrichtungswechsel zu thematisieren, der sich bei Schelling in der Weltalterphilosophie Bahn bricht: Spinozas Substanzontologie und ihr atemporales Verhältnis zur Zeitlichkeit des Daseins markieren den entscheidenden Hinweis, mit dem die Kritik, die Schelling gegen Kant und nicht zuletzt gegen sich selbst, gegen seine eigene frühere Position vorbringt, ins rechte Licht gesetzt werden kann. Denn wenn es stimmt, dass das absolute Ich nur in einer intellektualen Anschauung bestimmbar ist, die Form der intellektualen Anschauung aber die »Form der Unwandelbarkeit« ist, dann geht, was sich dergestalt als idealistische Selbstbehauptung formiert, mit einer eliminierenden Abkehr von der vorphilosophischen Lebenswelt einher – eine Hypothek, welche die Metaphysik seit jeher zu schultern hat. 111 Oder aber um es an dieser Stelle mit Peter L. Oesterreich zu sagen: »Der radikale Exodus aus der Lebenswelt ist hier die Kehrseite der Selbstbehauptung idealistischer Philosophie«. 112 Und dieser Befund, so nahtlos er sich in die Tradition der Metaphysik-Kritik einreiht, mag durchaus überraschen, hatte Schelling die zweite ›Revolution‹ doch in der Ichschrift als eine der Welt und dem Leben zugewandte ›Umkehr der Denkart‹ angekündigt: Was sich bisher im »Eigenthum der Schule« befunden habe, müsse »in’s Leben selbst übergehen« (AA I,2, 76), so hatte Schelling die Leitlinien seines im Grunde ethischen Vorhabens in der Vorrede pointiert umrissen. Angezeigt ist damit aber umso mehr, worauf es Schelling in systematischer Hinsicht eigentlich ankommt, und was es demzufolge auch von seinen späteren, neu ansetzenden Systementwürfen entschieden einzuholen gilt. In den Weltaltern nun zeigt sich, dass, will man an diesem Vorhaben noch länger festhalten, eine weitere ›Umkehrung‹ vonnöten ist, und zwar die bereits angesprochene Verkehrung der Ordnung von Ewigkeit und Zeit. Nur sie kann die Zeitlichkeit des Daseins so in den Blick bringen, dass sie dabei nicht wieder aus unserer vorphilosophischen Lebenswelt ›entfernt‹ werden muss. 111 112

Vgl. dazu auch Husserl 1936. Oesterreich 1984, 70.

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6.2. Verkehrung der Ordnung von Ewigkeit und Zeit in den Weltaltern Bevor sich in den Weltaltern ein neues Verständnis von Zeit und Ewigkeit bei Schelling durchzusetzen beginnt, setzt sich die Tendenz, die sich in der frühen Ichphilosophie abgezeichnet hatte, in der darauffolgenden Naturphilosophie und Identitätsphilosophie in unverminderter Weise fort. Die maßgebliche Methode, die dabei auf die Agenda tritt, ist die philosophische Konstruktion: »Construction überhaupt«, so heißt es in einem von Schelling und Hegel gemeinsam verfassten Text, ist »Darstellung des Realen im Idealen, des Besonderen im schlechthin Allgemeinen, der Idee« (SW V, 325). Die Aufgabe der philosophischen Konstruktion besteht darin, das Besondere als spezifische Erscheinungsform des Absoluten zur Darstellung zu bringen. »Konstruktion«, so hält es Paul Ziche fest, ist die »Transzendierung des Einzeldinges hin auf einen allgemeinen Kontext, in dem es enthalten ist, innerhalb dessen es bestimmt wird, ohne aber daraus ableitbar zu sein«. 113 Der Hinweis indes, dass die Einzeldinge nicht aus dem allgemeinen Kontext ableitbar sein sollen, gleichwohl sie wesenhaft in ihn hineingehören, ist von entscheidender Bedeutung, lenkt er doch an dieser Stelle die Aufmerksamkeit auf den eigentlich wunden Punkt innerhalb der methodologischen Überlegungen Schellings. Denn obwohl die Einzeldinge nicht aus dem allgemeinen Kontext ableitbar sein sollen, verlieren sie ihre Eigenständigkeit, sobald sie konstruiert sind, und können rückblickend nur noch als ›Mangelerscheinungen‹ des Absoluten aufgefasst werden, als bloße Derivate. Das gilt gerade auch für Raum und Zeit: Raum und Zeit werden im System der gesammten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere von 1804 als »Privation der besonderen Dinge von der Seite der Totalität« (SW VI, 275) begriffen und damit, wenn auch nicht als ableitbare, so am Ende doch als mangelhafte, derivative Erscheinungen verstanden. Sowie die Identität in die Differenz eingebildet ist, wird die Zeit »dem Ganzen unterworfen« und »verliert« als Folge dessen »ihr eigenes Leben« (SW VI, 223). Ein methodisches Moment, das in diesem Zusammenhang auffallend häufig bei Schelling zur Sprache kommt, ist das Moment der »Vernichtung« beziehungsweise das des »Vernichtetwerdens« 113 Ziche 2015, 140 f. Zum Problem der Konstruktion als philosophischer Methode vgl. auch ders. 2011.

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(SW I/6, 220). Das Besondere soll durch die Einbildung der absoluten Identität in die Differenz als ein Besonderes ›vernichtet‹ werden, denn nur wenn es auf diese Weise ›vernichtet‹ wird, kann der Ursprungs des besonderen Lebens aus dem allgemeinen Leben für den so Philosophierenden durchsichtig werden. 114 Die Zeit, so heißt es in geradezu exemplarischer Weise, sei die »Vernichtung des besonderen Lebens als eines besonderen«: »[E]s [das besondere Leben, P. N.] entsteht nur in der Zeit, es ist nicht an sich selbst, sondern nur, sofern ihm der unendliche Begriff des All eingebildet, und sofern es durch diesen Begriff gesetzt [ist], nicht weiter« (SW VI, 220). Mit anderen Worten: Das je individuelle Individuum, inklusive seines in irreduzibler Individualität verstrickten Zeitlebens spielt überhaupt nur insofern für die philosophische Methode der Konstruktion eine Rolle, als in ihm und durch es hindurch ein Universelles, Ewiges zur Darstellung kommt; im Entstehen und Vergehen der Dinge schaut das All nur sein »eigenes unendliches Leben« an, wie Schelling sagt; unabhängig vom »unendlichen Begriff des Alls« (SW VI, 220) sind die endlichen Dinge allerdings ›nichts‹. 115 Ein Motiv, das sich hinter der Vernichtung des Besonderen als eines Besonderen verbirgt, lässt sich mit Blick auf den schon eingangs skizzierten historischen Erfahrungswandel um 1800 formulieren. Der radikale Bruch im Zeitengefüge bringt nicht nur die Unsicherheit mit sich, was in Zukunft werden soll, wo doch schon in der Gegenwart alles ungewiss geworden ist; dem Bruch eingeschrieben ist auch die Gefahr der Vereinzelung, die überall dort spürbar hervortritt, wo die historische Plattentektonik generationsübergreifende Verständigungszusammenhänge aufkündigt, überlieferte Traditionen aufbricht und für immun gehaltene Überzeugungssysteme von einen auf den anderen Tag zu Fall bringt. Die Zeit um 1800, so liest man etwa in Schellings Nachruf auf Kant, gilt seinen kritischen Beobach114 Bereits Kant bindet das Moment der Vernichtung in die Bewegung der praktischen Dialektik ein. So heißt es in der berühmt-berüchtigten Stelle am Ende der Critik der practischen Vernunft, dass auch nur dadurch, dass der ›bestirnte Himmel über mir‹ meine eigene »Wichtigkeit« ›vernichtet‹, mir durch das ›moralische Gesetz in mir‹ ein »von der ganzen Sinnenwelt unabhängiges Leben« (KpV, 162) zuteil werden kann. Schellings Identitätsphilosophie bewegt sich ganz in dieser Tradition, der Dialektik von Demut und Selbstbehauptung. In analoger Weise findet sich auch bei Friedrich Schlegel eine ›Apotheose der Vernichtung‹: »In der Begeisterung des Vernichtens offenbart sich zuerst der Sinn göttlicher Schöpfung« (KFSA 2, 269). 115 Zu diesem Problemzusammenhang vgl. Sandkaulen 2012a.

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tern als »geistig und moralisch aufgelöstes und zerflossenes Zeitalter«, das erst mit Kant wieder allmählich ein Zentrum gefunden habe, bis dahin aber nur »eklektisches und desultorisch Philosophiren« (SW VI, 3) gewesen sei. Ein Eklektizismus, auf den auch schon das Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus mit seiner betont unausgearbeitet gebliebenen ›Neue Mythologie‹ eine Antwort zu geben versucht hat, als Reaktion auf einen geschichtlichen Prozess des »Zerfalls, der Einheit in zusammenhanglose, bestenfalls mechanisch assoziierbare Differenz zersetzt«. 116 Wie zerrüttet die Zeit um 1800, selbst nach den Koalitionskriegen und der äußeren Befriedigung durch den Wiener Kongress 1815 wahrgenommen wird, darüber gibt auch Friedrich Schlegels Abhandlung Signatur des Zeitalters Auskunft. Ja, genau betrachtet erkennt Schlegel, wie Jan Ubrich herausgestellt hat, die ›Signatur des Zeitalters‹ gerade in der »verstörenden Diskrepanz des kollektiven Selbstbewusstseins zu sich selbst«, in der Kluft zwischen äußerer Befriedung und innerer Unruhe. 117 Bezeichnenderweise stellt Schlegel unter dem Eindruck solchen ›Scheins‹ seine Gegenwartsdiagnose als Antiklimax auf: »Das Erste war Hoffnung = Zukunft. Das zweite war Wehmut = Vergangenheit; das Dritte Schrecken = Gegenwart« (KFSA 18, 188). Blendet man dieses Schlegel’sche Schreckensszenario der Gegenwart in Schellings Überlegungen ein, so wird auch dessen Aufsatz über Dante als Zeitdiagnose lesbar. Schelling erläutert darin mit Blick auf die Vereinzelungstendenzen seiner Zeit, dass sich die Stellung des Individuums zum Allgemeinen in der Moderne radikal verändert hätte; nun stehe nicht mehr das Allgemeine im Zentrum, sondern zuallererst das Individuum; ein Individuum, das – und darin besteht gerade die Aufgabe idealistischer Philosophie – dennoch in seinem Verhältnis zur Allgemeinheit, zum Absoluten soll gedacht werden können: Wie die alte Welt die Welt der Gattungen sei, so sei die moderne die der Individuen: »[D]ort ist das Allgemeine wahrhaft das Besondere, das Geschlecht wirkt als Individuum; hier ist umgekehrt die Besonderheit der Ausgangspunkt, die zur Allgemeinheit werden soll« (SW V, 154). Wo aber, und hier beginnen sich allmählich die Einwände gegen eine solche Universalisierungsforderung zu formieren, das Besondere zur Allgemeinheit auf Kosten seiner je individuellen Besonderheit 116 117

Sandkaulen 2011b, 22. Urbich 2015, 181.

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erhoben werden soll, da stellt sich noch im selben Atemzug die Frage nach einem unwiderruflichen Recht der Besonderheit des Besonderen ein. 118 Deshalb ist auch gegen die Interpretation der Vernichtung des Besonderen als einer Transzendierung des Einzelnen, eines »Durchsichtig-Werden auf das Ganze oder die Einheit hin«, der unverhohlen destruktive Charakter der Identitätsphilosophie hervorgehoben und scharf kritisiert worden. 119 Allen voran Adorno erkennt in dem Theorem eines rein um seiner selbst willen sich Offenbarenden, eines universalgeschichtlichen Vorrangs des Kollektivinteresses die Gefahr der Verherrlichung einer am Ende gewaltsam gegen den Einzelnen sich kehrenden Instanz. Dem bloßen Selbstzweck sei, »im unerbittlich integern Mangel an Rücksicht auf den andern«, auch Inhumanität nicht fremd. 120 Im Gefolge Adornos stellen auch Jürgen Habermas und Peter Szondi eine dergestalt aus der »Nivellierung der Endlichkeit des Endlichen« hervorgegangene Identität radikal in Frage. 121 Sie gäbe das Individuum in seiner je individuellen Form verloren. Wo man aber wie Adorno, Habermas und Szondi den Wert des Endlichen als eines irreduziblen Endlichen und ineins damit die Verschiedenheit des Verschiedenen einklagt gegen eine Form der Identität, die immer schon darauf aus ist, jegliche Form von Individualität sub specie aeternitatis zu ›vernichten‹, da ist auch der berühmt-berüchtigte Einspruch Hegels aus der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes nicht weit, der – gleichsam stilprägend für alle nachfolgende Idealismuskritik – besagt, dass es sich bei einem derart »leblosen Schema« um die »Nacht« handelt würde, »worin, wie man zu sagen pflegt, alle Kühe schwarz sind« (Phän., GW 9, 17). 122 Hegels Einspruch kam, daran darf

118 Vgl. dazu auch Schmidt-Biggemann 2015, 146: »In diesem Sinne ist alle Philosophie tragisch: Wenn sie urteilt und erkennt, versündigt sie sich an der Eigenheit des Objekts, sie zwingt das Objekt, sich zu offenbaren, zu veröffentlichen«. 119 Thomas Leinkauf 1998, 41 f. Leinkauf stützt sich in seiner Interpretation vor allem auf die folgenden Passage aus der Abhandlung Über das Verhältnis des Realen und Idealen in der Natur, die der Schrift Von der Weltseele beigegeben worden war: »Alle Verwirklichung in der Natur beruht auf eben dieser Vernichtung, diesem Durchsichtig-Werden des Verbundenen, als des Verbundenen, für das Band« (SW II, 367). Das Problem, die Verwirklichung des Idealen als Vernichtung des Realen zu denken, bleibt gleichwohl. 120 Adorno 1969, 105. 121 Habermas 1954, 188 f., Szondi 1974, 222–237. Zur Stichhaltigkeit der Kritik vgl. Leinkauf 1998, 250 f., Fn. 4. 122 Vgl. dazu auch Marquard 1977.

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erinnert werden, zu spät: Schelling war in seinen Überlegungen schon weitergegangen. In den Weltalter-Fragmenten nimmt sich der Tenor grundsätzlich anders aus. Dies lässt sich etwa daran erkennen, dass die Zeit nun nicht mehr unter der Perspektive der »Vernichtung des besonderen Lebens als eines besonderen« von Schelling betrachtet wird, sondern – umgekehrt – unter der Perspektive einer ›Erzeugung des besonderen Lebens als eines besonderen‹: »Alles ist nur Werk der Zeit und nur durch die Zeit erhält jedes Ding seine Eigentümlichkeit und Bedeutung« (WA I, 12). Fragt man sich daraufhin, wie Schelling diesen Blickrichtungswechsel konzeptionell gestaltet, so stößt man in den Weltaltern auf eine Bewegung der Umkehrung, deren systematisches Gewicht gar nicht überschätzt werden kann, weil sie die zeitphilosophische Ausgangsposition der klassischen Metaphysik, zu der in dem von Schelling kritisierten Sinne auch die Vernunftkritik Kants gehört, in so radikaler Weise in Frage stellt, dass die Vernunft dadurch selbst einer tiefgreifenden Transformation unterzogen wird. Was als vernünftig gilt und in Zukunft durch eine Philosophie, die sich auch weiterhin als Wissenschaft verstanden wissen möchte, erschlossen werden kann, wird bei Schelling grundlegend neu verhandelt. Schelling moniert, dass die »bisher geltende Vorstellung von der Wissenschaft« vor allem darin bestanden habe, »eine bloße Folge und Entwickelung eigener Begriffe und Gedanken« zu sein. Die »wahre Vorstellung« der Wissenschaft müsse darin bestehen, »die Entwicklung eines lebendigen, wirklichen Wesens« zu sein, »die in ihr sich darstellt« (WA I, 3). Eine Vorstellung, die nach Schelling nun aber überhaupt erst dann möglich wird, wenn man ineins mit dem geforderten Blickrichtungswechsel auch die bisher geltende Vorstellung der Zeit einer fundamentalen Revision unterzieht. Zur »unanfänglichen Ewigkeit«, so der Grundgedanke, muss eine von ihr »unabhängige Bewegung« hinzutreten, die als Basis fungiert, auf der erstere, anderenfalls bloße Lauterkeit, sich verwirklichen kann. Schelling stellt der »unanfänglichen Ewigkeit« ein zweites Prinzip an die Seite, ein Prinzip, das ebenso ›anfänglich‹ ist wie diese und gerade dadurch als deren Verwirklichungsgrund dienen kann. Und dieses Prinzip ist die Zeit, »nicht die unendliche, anfanglose, sondern vielmehr die ewig beginnende Zeit« (WA III 5, 229). Auf diese Weise beginnt sich bei Schelling eine Dialektik zu entspinnen, in der sich die anfängliche Zweiheit zur ›wirklichen‹ Einheit steigert. Der Begriff der Identität, den die Identitätsphilosophie im Ausgang von der Ichphilosophie so 151 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

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sehr bemüht hatte, wird abgelöst von einem Identitätsbegriff, der die ›wirkliche‹ Dualität gerade nicht ausschließt. 123 Fast scheint es, als würden Ewigkeit und Zeit bei Schelling in einen Dialog miteinander treten, in einen »geheime[n] Verkehr, in welchem zwey Wesen sind, ein fragendes und ein antwortendes, ein wissendes oder vielmehr das die Wissenschaft selber ist, und ein unwissendes nach Klarheit ringendes« (WA I, 5). 124 Lässt sich eine so verstandene Zeitdialogik bei Schelling weiter explizieren? Nach welchem Modell hat man sich den »geheime[n] Verkehr«, den andauernden Wechsel von Frage und Antwort, das sokratische Gespräch zwischen Wissendem und Unwissendem vorzustellen? Ganz und gar unproblematisch scheint die Vorstellung eines Zeitdialogs nicht zu sein, handelt es sich doch um ein erheblich paradoxes Unterfangen, wenn Schelling das Unbedingte von vornherein mit einem Dualismus ›infiziert‹ sieht. Das Dilemma dabei, so lässt sich unschwer erkennen, besteht darin, dass das Unbedingte, die reine Lauterkeit, sich auf diese Weise zwar als Unbedingtes, als Lauteres offenbaren kann, um aber weiterhin unbedingt und lauter sein zu können, von dieser Dualität zugleich freigesprochen werden muss. Christian Iber urteilt deshalb ganz richtig, wenn er sagt, Schelling habe in den Weltalterentwürfen das Problem, um jeden Preis einen Dualismus im Absoluten zu vermeiden, obgleich ihm durchaus be123 In dieser ›wirklichen‹ Dualität, die in die Leere der absoluten Identität einbricht, erkennt Buchheim 1997, XV den entscheidenden konzeptionellen Schritt, den Schelling über die Identitätsphilosophie hinaus hin auf die Freiheits- und Weltalterphilosophie gemacht hat. Buchheim verweist in diesem Kontext auf die 1806 erschienene Schrift Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zu der verbesserten Fichteschen Lehre, in der bereits anklinge, was Schelling späterhin ausführlich behandle, und zwar dass das Absolute zu seiner Existenz eines Anderen – hier: der Zeit – als seines Grundes bedürfe. 124 Dass die Form des Dialogs einen Zugang zur Dialektik von Ewigkeit und Zeit bieten kann, ist ein Ansatz, der durch Schellings Begriffswahl und Darstellungsform in den Weltaltern selbst nahegelegt wird. So spricht Schelling beispielsweise von einer »leicht mittheilenden Form« (WA I, 13), in der er seine Gedanken zum ›Organischen der Zeit‹ niedergelegt habe: »damit sie die Unvollständigkeit ihrer Ausbildung selbst anzuerkennen scheinne, welche ihnen, obgleich lang’ umhergetragen, nach allen Seiten zu geben der Drang der Zeiten nicht erlaubt hat«. Ja, im Grunde verweist Schelling schon in der Freiheitsschrift darauf, dass auch die Sache selbst, die Verwirklichung der Freiheit den Charakter eines Dialogs haben müsse, auf dessen »Gang […], wenn auch die äußere Form des Gesprächs fehlt, doch alles wie gesprächsweise entsteht« (AA I,17, 174). Zur Darstellungsform des Dialogs vgl. auch Buchheim 1997, XXVII.

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wußt sei, dass es eines Gegensatzes, einer Zweiheit der Prinzipien gerade bedürfe, um das, was wirklich ist, zu erklären. 125 Um dieses Problem zu lösen, führt Schelling eine methodologische Unterscheidung ein, die es ihm in konzeptioneller Hinsicht erlauben soll, beides zugleich zu denken: die Zweiheit in der Einheit und die Einheit in der Zweiheit. Und diese Unterscheidung geht bereits aus der begrifflichen Unterscheidung zwischen einem ›Willen, der nichts will‹ und einem ›Willen, der Etwas will‹ hervor, mit der Schelling seine ›Genealogie der Zeit‹ begonnen hatte. Schelling betont nämlich, dass ersterer, also der ›Willen, der nichts will‹, letzterem, also dem ›Willen, der Etwas will‹, »zwar der Potenz oder dem Begriff, aber keineswegs der That nach voran[geht]« (WA I, 76). Und auf eben diese Unterscheidung zwischen einem Prinzip, das einem anderen, scheinbar zweiten dem Begriff nach, und einem zweiten, das einem scheinbar ersten der Tat nach vorangeht, soll es im Folgenden ankommen. Bei der Analyse der genealogischen Hauptmomente war erläutert worden, dass es sich bei dem ›Willen, der nichts will‹ und dem ›Willen, der Etwas will‹ um zwei gleichanfängliche Prinzipien handelt, gleichanfänglich deshalb, weil sie sich ›der Existenz nach‹ auf dasselbe Wesen beziehen. Der ›Wille, der nichts will‹ und der ›Wille, der Etwas will‹ sind, wie Schelling vermerkt, zwei »völlig gleiche[…] Formen der Existenz« (WA I, 26), sie verhalten sich »nicht wie zwey Wesenheiten, sondern nur wie die zwey verschiednen Ansichten Einer und derselben Wesenheit« (WA I, 32). Der ›Wille, der nichts will‹ und der ›Wille, der Etwas will‹ bilden der Existenz nach »Ein Wesen« (WA I, 19), »weil das zweyte in dem ersten, wenn auch unabhängig von ihm, entspringt, beyde also in so weit doch zu Einem Wesen gehören« (WA I, 89). Fragt man sich nun aber, auf welche Weise sich beide Prinzipien in Bezug auf die Existenz als zwei verschiedene Ansichten ein und derselben Sache verhalten können, so lässt sich der Grund dafür in einer Aspektunterscheidung finden, die Schelling durch das Begriffspaar Superiorität und Priorität in seine Weltalterphilosophie einführt. Die Priorität, so heißt es, stehe im »umkehrten Verhältnis« zur Superiorität: »Begriffe, welche zu verwechseln nur einer Partheiwuth möglich ist, wie die ist, die unsre Zeiten auszeichnet« (WA I, 46). Worum geht es hierbei? Schelling verwahrt sich spätestens seit der Freiheitsschrift vehement dagegen, die »existentielle Gleichheit« für eine bloße Form der 125

Iber 1994, 219.

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»Einerleyheit der Principien« (WA I, 26) zu nehmen. An Carl August von Eschenmayer gerichtet, der einerseits zwar als einer der hartnäckigsten Kritiker Schellings auftritt, andererseits dadurch aber auch dessen Überlegungen vorantreibt und schärft, heißt es, dass die Gegensätze nicht »in-eins« fallen, sondern vielmehr »in-einem-PunktZusammenfallen« (SW VIII, 165), als Prinzipien sollen sie weiterhin voneinander getrennt bleiben. Mit anderen Worten: Superior ist und bleibt der ›Wille, der nichts will‹ gegenüber dem ›Willen, der Etwas will‹, insofern er dem Begriff nach diesem vorangeht; prior ist und bleibt nun aber auch der ›Wille, der Etwas will‹ gegenüber dem ›Willen, der nichts will‹, insofern er der Tat nach vor diesem vorhergeht. Demzufolge ist der ›Wille, der Etwas will‹ zwar um willen des ›Willens, der nichts will‹ da, weil er die »Bedingung seiner äußerlich wirkenden Existenz« darstellt. Nichtsdestoweniger beziehungsweise gerade deshalb ist er aber auch als dieses »Medium der Offenbarung« (SW VIII, 173) prior zum ›Willen, der nichts will‹. Er ist ›älter‹, wie Schelling hinzufügt; ›älter‹ in dem Sinne, dass er »nicht mehr denkend hintergriffen werden kann«. 126 In gewisser Weise hat man es bei der Vorgängigkeit der Tat also mit einem actus purus zu tun, einer aristotelischen energeia, die sich unabhängig von der Ewigkeit und dennoch gleichsam in ihr erzeugt, einem factate prius, einem Grund zum Existieren, »rein als solchem« (SW VIII, 172) 127, einem Sein, dem keine setzende Reflexion vorausgehen kann, sondern das vielmehr jeder setzenden Reflexion als »Grundlage, Bedingung, Medium der Offenbarung« (SW VIII, 173) dient, einem »absolutes Prius« (SW X, 286). 128 Sein ist wesentlich Tat. Was in der einen Hinsicht Gabriel 2006, 44. Schon in der Freiheitsschrift gilt die Vorgängigkeit der Tat als das unableitbare Faktische, das sich offenbarungstheoretisch unter keinen Umständen bloß als felix culpa verstehen lässt. Vgl. dazu Hermanni 1994, 31. Auch Marquard 1981, 64, unterstreicht die scharfe Kritik Schellings an der Teleologisierung des realen Prinzips. Schelling argumentiere, so Marquard, für die unvordenkliche Faktizität der Offenbarung, wodurch er Leibniz berüchtigter Konzession an das principium optimum einen Riegel vorschiebe. 128 Noch in der Spätphilosphie nimmt Schelling auf die griechische Unterscheidung zwischen μη ον und ουκ ον Bezug, also auf die Differenz zwischen einem Nichtseienden, das in relativer Abhängigkeit zu einem Seienden existiert, und einem Nichtseienden, das nicht ist. Der absoluten Priorität des Grundes kommt hierbei der Status des μη ον zu: Er ist nicht nichts, sondern in seiner relativen Abhängigkeit zum Seienden ist er selbst ›etwas‹. Vgl. dazu auch die entsprechende Passage aus der Philosophie der Mythologie: »Eine Beraubung also ist mit dem bloßen Subjekt gesetzt; Beraubung 126 127

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dem Begriff nach vorausgeht, das folgt in einer anderen der Tat nach. 129 In Rekurs auf das Verhältnis von Idealismus und Realismus, das vor diesem Hintergrund ebenfalls in den Weltaltern verhandelt wird, unterstreicht Schelling sogar, dass der Realismus »auf das höhere Alter gesehen« den Vorzug genieße gegenüber dem Idealismus. Wer die Priorität des Realismus nicht anerkenne, der wolle die Entwicklung ohne vorausgegangene Entwicklung, »die Frucht und die aus ihr werdende Blüthe ohne die harte Bedeckung, die sie verschließt« (WA I, 49). Manfred Frank ist zuzustimmen, wenn er in diesem Sinne urteilt, dass Schelling mit der Aspektunterscheidung von Superiorität und Priorität das Selbstgenügsamkeitsaxiom der klassischen idealistischen Metaphysik von Beginn an von realistischer Seite unterminieren würde. Aus einer reinen, ideellen Selbstgenügsamkeit kann nichts Wirkliches, keine menschliche Freiheit hervorgehen: »The ideal requires something additional in order to ground it, and this is said to be the entitate prius«. 130 In Rückgriff auf die methodologischen Überlegungen zur Konstellation als genealogischer Denkform ist es möglich, in Bezug auf Superiorität und Priorität von einem »Verhältnis gebundener Heterogenität« zu sprechen. 131 Keines der beiden Prinzipien kann als Ursprung des anderen gelten: Beide Willen sind gleichanfänglich. Und doch hängen wiederum beide Prinzipien so eng miteinander zusammen, dass sie einander fordern und erforderlich machen, eine Konstellation, so ließe sich notieren, die in dem Maße notwendig wird, wie sie sich freiwillig einstellt. 132 Die methodologische Unterscheiaber ist keine unbedingte Verneinung, und schließt im Gegentheil immmer eine Bejahung nur anderer Art in sich, wie wir dieß, wenn Zeit dazu ist, umständlicher zeigen werden; nicht Seyn (me enai) ist nicht Nichtseyn (ouk enai), denn die griechische Sprache hat den Vortheil, die contradictorische und die bloß conträre Verneinung jede durch eigene Partikel ausdrücken zu können. Die bloße Beraubung des Seyns schließt seynkönnen nicht aus. Reines können, und als dieses mögen wir das bloße Subjekt bestimmen, ist nicht Nichtseyn« (SW XI, 288 f.). 129 Die Frage, ob Schelling mit der Superiorität oder mit der Priorität beginne, hat Christian Iber dazu veranlasst, einen Unterschied zwischen dem ersten und dem dritten Weltalter-Entwurf zu vermerken: Während der erste Druck mit der Superiorität beginne, fange der dritte mit der Priorität an. Vgl. Iber 1994, 214 ff. 130 Frank 2009, 30. 131 Ortland u. a. 1992, 17. 132 Schelling weist wiederholt darauf hin, dass die Freiwilligkeit der Selbstoffenbarung Gottes nicht mit der Freiheit der Wahl verwechselt werden dürfe. Das Gegenteil sei der Fall: Freiwillig sei eine Wahl gerade dann, wenn sie mit absoluter Notwendigkeit geschehe: »Denn von einer Handlung der absoluten Freiheit läßt sich kein

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dung von Priorität und Superiorität, die Schelling in den Weltaltern einführt, soll also in strategischer Hinsicht erlauben, die Logik des Grundes mit der Logik der Zeugung zu verbinden, oder aber: Einheit und Vielheit, Identität und Pluralität, Abhängigkeit und Selbstständigkeit als gleichwertige, einander nicht ausschließende, sondern aufeinanderfolgende, konstellative Momente des existierenden Wesens zu begreifen. 133 Als dialogisch würde sich gerade die Einheit erweisen, in der die Prinzipien nicht bloß in quantitativem Gegensatz zueinander stehen, sondern selbst nur als gewordene Aspekte zu begreifen sind. Erst dadurch würden die Entgegengesetzten gegeneinander frei und wären in Bezug auf das existierende Wesen nichtsdestoweniger Eins: eine Dialogik, die sich in den Weltaltern für Schelling wie folgt ausnimmt: »eben in diesem Für-sich-seyn eines jeden und ohne daß es aufgehoben wird muß die Einheit erscheinen« (WA I, 64). 134 Wendet man die dargelegte Aspektunterscheidung von Superiorität und Priorität auf das Verhältnis von Ewigkeit und Zeit an, so wird deutlich, inwiefern man von einer Verkehrung ihrer klassischen Ordnung bei Schelling sprechen muss. Auf der einen Seite behält die weiterer Grund angeben; sie ist so, weil sie so ist, d. h. sie ist schlechthin und insofern notwendig« (AA II,8, 86 f.). Wer wähle, der wisse nicht, was er will, und würde aus diesem Grund in Wahrheit auch gar nicht wollen. Gott zu erlauben, die beste aller möglichen Welten zu wählen, hieße für Schelling, ihm gleichsam den »geringsten Grad der Freiheit« zu lassen. Ebenso ist es um den Charakter der menschlichen Individuen bestellt: »Niemand wird behaupten, daß sich ein Mensch seinen Charakter gewählt habe; er ist insofern kein Werk der Freiheit im gewöhnlichen Sinne – und doch imputabel« (AA II,8, 88). Die Freiheit der Nicht-Wahl und die Zuschreibbarkeit einer Handlung fallen also zusammen. 133 Schellings Kritik an Spinoza fußt in hohem Maße auf dieser Unterscheidung. In den Stuttgarter Privatvorlesungen heißt es: »Spinoza hat zwar absolute Identität von Principien, aber diese Principien sind in völliger Unthätigkeit gegeneinander, sie thun einander nichts – wirken nicht aufeinander – sind; es kommt zwischen ihnen weder zum lebendigen Gegensatz noch zur lebendigen Dualisierung« (AA II,8, 114). 134 Die Dialogik, die Schelling in den Weltlaltern als eine Metaphysik des Willens entfaltet, überträgt er an anderer Stelle auch auf geistphilosophische Prinzipienpaare wie Leibliches und Geistiges. So heißt es im dritten Weltalter-Entwurf etwa, das Physische als das Andere des Geistes sei »das Letzte in Ansehung der Würde« – sprich: dem Begriff nach –, wenngleich es doch »in Ansehung aller Entwicklung« – sprich: der Tat nach – als das Erste betrachtet werden müsse. Auch in diesem Zusammenhang greift Schelling auf die methodologische Unterscheidung von Superiorität und Priorität zurück, womit die Prinzipien des Geistigen und des Leiblichen in eben derselben ›existenziellen Gleichheit‹ bestehen wie der ›Wille, der nichts will‹ und der ›Wille, der Etwas will‹: »Es ist hier kein Erstes und kein Letztes, weil alles sich gegenseitig voraussetzt, keins das andere und doch nicht ohne das andere ist« (AA I,17, 130).

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Ewigkeit ihren Superioritätsstatus gegenüber der Zeit, weil die Zeit selbst nur in Bezug auf die Ewigkeit ist und von der Ewigkeit im Akt der Scheidung überwunden wird. Auf der anderen Seite aber behauptet die Zeit gegenüber der Ewigkeit ihre Priorität, indem sie die Basis ist, auf der diese sich zuerst fühlend wird und in der Folge auch offenbaren kann. Ewigkeit und Zeit sind existenziell gleichanfänglich in dem Maße, wie die Ewigkeit erst mit dem Gegensatz zur Zeit hervortritt, und erst mit der hervorgetretenen Ewigkeit auch die Zeit sich als eigenständiges Prinzip begreifen lernt. Beschreibt man das Verhältnis von Ewigkeit und Zeit auf diese Weise, dann ist die ›Umkehrung‹ nicht mehr wie in der Ichschrift als ›Abkehr‹ von der Zeitlichkeit des Daseins zu verstehen. Die Zeitlichkeit des Daseins wird vielmehr – zunächst als latente, dann als reale, äußere, geschichtliche Zeit – für die Ewigkeit zu einer Bedingung der Möglichkeit das zu sein, was sie von jeher schon war zu sein. Wenn Ewigkeit sein soll – und sie soll sein –, muss sie sich der Zeit, dem eigentlich Nichtseinsollenden, immer schon ›zugekehrt‹ haben. 135 Sie muss sich ihr zukehren, indem sie in einem Akt der Scheidung sich von ihr trennt. Die Verkehrung der Ordnung von Ewigkeit und Zeit führt so verstanden zu einer Auffaltung der transzendentalen Einheit der Zeit. Durch die anfängliche Verkehrung differenziert sich die Zeit aus in eine sinnliche Gegenwart, die immer schon da war, eine begriffliche Vergangenheit, die es nie wirklich gegeben hat, und eine vernünftige Zukunft, die in der Tiefe der sinnlichen Gegenwart verborgen bleibt. Erst auf der Grundlage dieser Ausdifferenzierung, auf der Grundlage, dass Zeit nicht eine »gleichmäßig ins Unendliche fortgehende, durch nichts in sich selbst unterschiedene und begrenzte Zeit« (SW XI, 230) ist, wird ein Anfang der Zeit dergestalt denkbar, dass er als Anfang der »Entwicklung eines lebendigen, wirklichen Wesens« gelten kann. Für Schelling ist es deshalb auch irreführend zu fragen, was vor dem Anfang der Welt war, ebenso wenig wie es sinnvoll wäre danach zu fragen, was nach der Welt sein wird. Denn die Frage nach Ende und Anfang impliziert, dass »jeder Anfang der Zeit eine schon gewesene Zeit voraussetzt« (WA I, 79), mit anderen Worten, dass die Welt doch bloß nach mechanischer Weise in der Zeit 135 Vgl. dazu auch WA IV 2, 247: »Dieser Ausdruck [die Ewigkeit offenbare sich als Zeit selbst, P. N.] wird nur verständlich durch jene Umkehrung, da das Ewige die erst gegen einander gekehrten Seiten seines Wesens öffnet oder auseinander setzt, um sich aus der blinden u. bewußtlosen Einheit in die freye u. bewußte zu verklären«.

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angefangen habe, ebenda aber zu keinem Ende komme. Was Schelling stattdessen aber sagen will, ist, dass die Existenz der Welt durch eine unvordenkliche Vorgängigkeit temporaler Art gezeichnet ist, eine Temporalität, die Anfang und Ende immer wieder von neuem aus ihrer Mitte hervortreten lässt. Die Zeit ist für Schelling überhaupt nur ›real‹ als eine Pluralität geschichtlicher Zeiten.

6.3. Die Vergeschichtlichung des Absoluten Stand das Absolute der Frühphilosophie Schellings immer schon außerhalb von Raum und Zeit, so ist es in der Freiheits- und Weltalterphilosophie von jeher mit Zeitlichkeit beschlagen: zunächst in der Weise der Simultanität latenter Zeiten in der Ewigkeit, dann in der Weise der Sukzessivität geschichtlicher Zeiten in der weltlichen Gegenwart. Tritt die Simultanität in verschiedenen temporalen Konstellationen hervor, wie an spezifischen Zeiterfahrungen von Sehnsucht, Liebe, Angst, aber auch Wahnsinn gezeigt werden konnte, zeigt sich die Sukzessivität in verschiedenen epochalen Zäsuren, die Zeiterfahrungen wie Konflikt und Entscheidung, Tod und Geburt, Umbruch und Aufbruch miteinschließen. Zeit erweist sich im tieferen Sinne als geschichtliche Zeit, als mitlaufende Differenz von vorgeschichtlicher und geschichtlicher Zeit. Sie ist in der Geschichte dauernd präsent, aber als permanente Absenz: Als Vorgeschichte gehört sie zwar zur Geschichte dazu, als bloße Vorgeschichte bleibt sie aber von der geschichtlichen, mit freien Handlungen erfüllten Gegenwart getrennt. Ihre Paradoxie besteht mithin darin, auf der einen Seite zwar wirksam zu sein, gleichsam untergründig in die Gegenwart hineinzuragen, auf der anderen Seite aber als ›vorgeschichtliche‹ Zeit notorisch unverfügbar zu bleiben, sich der mittelbaren, reflexiven Gegenwart des Denkens zu entziehen. 136 Besieht man sich die Sache genau, dann ist es gerade diese paradoxale Zeitstruktur, welche für die Verfassung der geschichtlichen Zeit bei Schelling insgesamt kennzeichnend ist und ihren systematischen Mehrwert gegenüber althergebrachten, traditionellen Zeittheorien begründet. Die These, die es von Seiten Schellings zu verteidigen gilt, muss deshalb lauten, »dass es gerade die Unzugänglichkeit der Vorgeschichte ist, die ihre Wirksamkeit und ihre Wirkung auf die Gegen136

Vgl. dazu auch Lehmann 2012, 23.

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wart garantiert«, 137 und dass gerade diese Wirksamkeit zu einer Pluralisierung der Zeit im Sinne ihrer geschichtlichen Ausdifferenzierung in verschiedene Vergangenheiten, Gegenwarten und Zukünfte beiträgt. Was also hier auf metaphorischer Ebene zunächst als mitlaufende Differenz von vorgeschichtlicher und geschichtlicher Zeit bezeichnet wurde, lässt sich auf begrifflicher Ebene als reflexive Vergeschichtlichung der Zeit selbst ausbuchstabieren, ein Entzug für das Denken, der in der Konsequenz zu einer Pluralisierung der Zeiten und Zeitordnungen führt. Der von Schelling projektierte ›wirkliche‹ Anfang lässt sich in diesem Sinne als eine Vergeschichtlichung des Absoluten verstehen, wobei Vergeschichtlichung hier sowohl als Verzeitlichung wie Verräumlichung der Zeit zu denken ist: Verzeitlichung insofern, als durch die Verkehrung der Ordnung von Ewigkeit und Zeit die Zeit als solche überhaupt erst entsteht, nämlich als Geschichte; Verräumlichung insofern, als mit der Entstehung der Zeit auch überhaupt erst eine Welt entsteht, nämlich als Gegenwart. 138 Auch bei Schelling gibt es also analog zu Kant eine Theorie der Verzeitlichung der Zeit als einer Theorie der Verräumlichung derselben, nur setzt die Verräumlichung sich hier nicht mehr wie bei jenem oder noch beim früheren Schelling in den Konstruktionsraum der Geometrie fort, sondern spannt von jeher den Handlungs- und Wirklichkeitsraum der Geschichte auf. Während für das Konzept der transzendentalen Einheit der Zeit derjenige Raum das ursprüngliche Maß ist, »den ein gleichförmig bewegter Körper in ihr durchläuft« (AA I,9,1 166), ist für das Konzept einer Pluralität geschichtlicher Zeiten derjenige Raum das ursprüngliche Maß, der durch den Urteilsund Handlungsvollzug überhaupt erst aufgespannt wird. Der Vollzugsraum der Geschichte, so lässt sich mit Schelling festhalten, besteht dabei im fortlaufenden »polarischen Auseinanderhalten« (WA I, 75) von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Der Vollzugsraum der Geschichte ist sowenig wie der Konstruktionsraum der Geometrie eine unabhängige Größe für sich, im Unterschied zu letzterem ist er aber die Form der Konstellierung ganz verschiedener Räume und Zeiten, und zwar anwesender als auch abwesender. 139 Lehmann 2012, 39. Bereits Lanfranconi hat in einer Kommentierten Gliederung der Weltalter-Texte nahegelegt, die reelle Verschiedenheit der Zeiten nicht allein als eine Verzeitlichung zu interpretieren, sondern auch als eine Verräumlichung. Wie genau aber eine Theorie des Raumes in den Weltaltern aussehen könnte, bleibt unerörtert. 139 Vgl. dazu auch Landwehr 2016, 142. 137 138

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Wollte man an dieser Stelle einwenden, schon bei Augustinus differenziere sich die Zeit in verschiedene Zeiten aus, so wäre dem Einspruch vorderhand stattzugeben. Auch bei Augustinus gibt es eine in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ausdifferenzierte Zeit. In den Bekenntnissen heißt es dazu: »Es gibt drei Zeiten, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft«. 140 Besieht man sich die Sache allerdings genau, dann stellt sich heraus, dass diese drei Zeiten – und hierin wird der Unterschied zu Schelling deutlich – nur relativ auf die eine Zeit, nämlich die Gegenwart der Seele, bestehen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft existieren nur relativ auf die eine Zeit, woraus folgt, dass es sich bei den drei zunächst voneinander unterschiedenen Zeiten im eigentlichen Sinne um ein und dieselbe Gegenwart handeln muss, im Grunde um eine »dreifache Gegenwart«, wie auch Paul Ricœur in seinen Zeitstudien zu bedenken gibt. 141 Mehr als deutlich wird diese Gegenwartstriplikation, wenn es bei Augustinus heißt: »[E]s gibt drei Zeiten: eine Gegenwart von Vergangenem, eine Gegenwart von Gegenwärtigem und eine Gegenwart von Zukünftigem«. 142 Die drei Zeiten, so scheint es, sitzen bei Augustinus der einen Gegenwart auf, diese geht schwanger mit ihnen, sodass es mit Blick auf die Zeitdimension der Gegenwart zu einer eigentümlichen Verdopplung kommt, einer Gegenwart von Gegenwärtigem; und es ist vorderhand nicht abzusehen, wie das Problem einer ›doppelten Gegenwart‹ philosophisch in den Griff zu bekommen ist, zumal Augustinus ausdrücklich darauf beharrt, dass man die »Besonderheit der Zeit« gerade verfehlen würde, wenn man vom Gegenwärtigen, Zukünftigen und Vergangenen behauptet, dass sie unabhängig von der Gegenwart der Seele, als in sich abgeschlossene Zeitperioden bestehen; allein die Gegenwart der Seele ist es, die die verschiedenen Zeitdimensionen aufzuspannen vermag: Ihre Präsenz bleibt allerdings im Präsens. 143 Die Zeit ist der Seele eingeboren, und zwar dergestalt, dass sie selbst nur wieder ebenda, in der Seele angeschaut werden kann; unabhängig davon aber – als geschichtliche Zeit, die im nur im Plural existieren kann – ist sie nichts, zumindest für uns Augustinus 1993, 259 (Bekenntnisse, XI, 20). Ricœur 2000, 44 142 Augustinus 1993, 259 (Bekenntnisse, XI, 20). 143 Vgl. dazu auch Hölscher 1999. Hölscher macht darauf aufmerksam, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bei Augustinus wie bei späteren Autoren niemals als Zeiträume auftauchen, sondern immer nur als einzelne Dinge bzw. Ereignisse, die in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft liegen sollen. 140 141

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nichts: »Denn diese drei sind in der Seele in einem gewissen Sinne, und anderswo finde ich sie nicht«. 144 Blickt man nun von Augustinus’ präsentistischer Zeitkonzeption auf Schellings genealogische Zeitkonzeption zurück, sollten die Unterschiede klar hervorgetreten sein: Schelling bringt die Gegenwart zu sich selbst auf Distanz. Bei dem zeitlichen Anfang, um den es Schelling geht, handelt es sich um einen Anfang, der ›gleich anfangs‹ vergangen sein muss, um der Anfang der »Entwicklung eines lebendigen, wirklichen Wesens« sein zu können. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erscheinen deshalb nicht als »bloße Abmessungen der Zeit«, sondern als »drey wirkliche voneinander verschiedene Zeiten« (WA III 1, 188), die durch den Handlungsvollzug hervorgebracht worden sind. Es findet, wie Schelling sich ausdrückt, eine »Anstufung oder Steigerung« (WA III 5, 223) zwischen ihnen statt, das heißt: eine Entwicklung, ein Fortschreiten, das es innerhalb der augustinischen Seelenkonzeption nicht geben kann. Ohne hier schon zu weit in den dritten Teil der vorliegenden Untersuchung vorstoßen zu wollen, so lässt sich gleichwohl bereits festhalten, dass Schelling eine Zeitlichkeit des Daseins beschreibt, deren temporale Struktur sich weder mithilfe einer objektiven Zeitreihe noch mithilfe einer bloß subjektiven Zeitfolge erfassen lässt, sondern nur vermittels einer ›wirklichen‹, weil unumkehrbaren Aufeinanderfolge von Zeiten. Und eben weil die Folge der Zeiten hier unumkehrbar, und in diesem Sinne einmalig und unwiederholbar ist, kann die ›genealogische Zeit‹ Schellings als eine »sinnreiche Zeit« bezeichnet werden. 145 ›Sinnreich‹ in der doppelten Bedeutung des Wortes: zum einen als Zeit, die nicht allein der Bestimmbarkeit einer numinosen intellektuellen Anschauung unterliegt, um Bezug auf den frühen Schelling zu nehmen, sondern immer zugleich auch sinnlich erfahren werden kann und muss, und im Vollzug personalen Handelns, im Auseinandertreiben der im Anfang noch ungeschiedenen Zeitperioden, de facto von Personen auch erfahren wird; zum anderen als Zeit, die als geschichtliche Wirklichkeit Augustinus 1993, 259 (Bekenntnisse, XI, 20). Vgl. dazu auch Peetz 1995, 241, der allerdings zu kurz greift, wenn er die Eigenzeitlichkeit der Dinge bei Schelling mit der monadischen Struktur der Seelensubstanz bei Leibniz in Verbindung bringt und sie als eine »monadische Eigenzeit des Einzeldings« bezeichnet. Zwar weiß Leibniz durchaus von einer ›unendlichen Vielheit von Zeiten‹, aber nur innerhalb der Monade. Man ginge fehl, diese ›Vielheit‹ als eine Pluralität geschichtlicher Zeiten im Schelling’schen Sinne zu interpretieren. 145 Schmidt-Biggemann 2014, 77. 144

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einer umfassenden Sinnstiftung bedarf. Versucht Kant und mit ihm der frühe Schelling die Zeit als abstrakte, transzendentale Einheit zu begreifen, präsentiert sich die Zeit in der Weltalterphilosophie Schellings als eine erfüllte Pluralität geschichtlicher Zeiten, deren Zeitlichkeit von einer unendlichen Sinn- und Entscheidungsfülle durchdrungen ist, die es umgekehrt wiederum freizulegen gilt. 146 Die Genealogie ist die Methode, um nach der Einheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft diesseits ihrer präsentischen Gegenwart in der Seele zu fragen. Konsequenterweise kann es für Augustinus demzufolge auch keine Zeit vor der Welt geben. Schelling muss aber eine solche Zeit vor der Welt, eine Zeit vor aller Zeit einräumen, weil anderenfalls gar nicht beschreibbar wäre, wie Zeit und Welt als Immer-schon-Gewordene dem Vollzug menschlicher Freiheit genealogisch zugrunde liegen. Hierin – im Immer-schon-Gewordensein – kristallisiert sich Schellings Kritik an der klassischen Metaphysik heraus, für die neben der augustinischen in exemplarischer Weise die Vernunftkritik Kants steht, und die lässt sich im Anschluss an die vielfach vom frühen Schelling unternommenen Versuche einer deduktiven Ableitung der Zeit, aber auch mit Blick auf ganz anders gelagerte Kritiken metaphysischen Denkens, zum Beispiel derjenigen Derridas, als eine Metaphysik der Präsenz bezeichnen. 147 Natürlich dekonstruiert Schelling nicht die Identität des Urteils in derselben Weise wie Derrida. 148 Worin Schelling und Derrida aber erstaunlicherweise übereinkommen, ist die Einsicht in eine untilgbare, allem identifizierenden Denken vorausliegende Differenz. Was für Derrida die différance ist, das ist für Schelling die anfängliche Scheidung im Absoluten. Wo Derrida das Präsenzdenken kritisiert, da kritisiert Schelling den unzureichenden Begriff der Identität als ›Einerleyheit der Principien‹. 149 Um Vgl. dazu auch Hutter 2002. Vgl. Derrida 1967. 148 Zum systematischen Zusammenhang von Urteils- und Zeittheorie in Schellings Weltaltern vgl. Gabriel 2014. 149 Es wäre mehr als lohnenswert, dieser Wahlverwandtschaft an einer anderen Stelle weiter nachzugehen. Vgl. dazu etwa Schülein 2016, der allerdings die Brücke von Derrida zu Hegel schlägt. Gabriel 2006, 10, weist in seiner Dissertationsschrift auf eine Stelle aus Derridas L’écriture et la differance hin, in der dieser direkt Bezug auf Schellings Darstellung des philosophischen Empirismus von 1836 nimmt und anmerkt, Schelling sei dort bereits sehr weit in die richtige Richtung der »altérité de l’être« gegangen. Schwab 2015 hat die grundlegende Affinität zwischen Derrida und Schelling im Umweg über Heidegger und der Figur des Ungrundes dargelegt. Schwab 146 147

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jedoch zum Punkt zurückzukommen, auf den es im Folgenden ankommt: Schellings Versuch, die Entstehung der Zeit genealogisch zu erklären, führt ihn auf die Konzeption eines Hervortretens der Zeit als eine in ihre geschichtlichen Zeiten, Epochen und Perioden ausdifferenzierte Zeit. Die Zeitdimensionen treten aus der Simultanität heraus und werden offenbar als Perioden des Seins. Das Absolute erhält dergestalt einen radikal geschichtlichen Charakter: Die Potenzen treten in das Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, weil erst auf der Grundlage ihrer geschichtlichen Ausdifferenzierung das Absolute selbst aus sich heraustreten kann. 150 Die Vorstellung einer Zukunft oder einer Vergangenheit, die nur innerhalb der einen Gegenwart des Absoluten zu denken wären, würde, wie Hutter herausgestellt hat, darauf hinauslaufen, »daß die Geschichte überhaupt keine wahre Zukunft hat, sondern alles ins Unendliche so fortgeht« (SW XI, 230), eine Vorstellung, die mit der Idee eines lebendigen Urwesens konfligiert. 151 Schelling drückt sich folgerichtig auch anders aus: Verschiedene Zeiten, so heißt es, seien »zumal« (SW VIII, 302). Das Zumal-Sein beziehungsweise die Gleichzeitigkeit verschiedener Zeiten kann für Schelling nicht bedeuten, dass verschiedene Zeiten auf unerfindliche Weise zugleich wären. Wären sie das, würden Vergangenheit und Zukunft selbst wieder nur innerhalb einer augustinisch verstandenen Gegenwart zu denken sein. ›Zumal‹ zu sein bedeutet für Schelling vielmehr, dass es erst mit der ›entschiedenen‹ Gegenwart eine ›wahre‹ Vergangenheit und erst mit einer ›wahren‹ Vergangenheit auch eine ›eigentliche‹ Zukunft geben kann. 152 kommt dabei zum Ergebnis, dass die explizite Rezeption Schellings in Derridas letztem Seminar von 2001/02 Das Tier und der Souverän vor allem via Deleuze erfolgt. 150 Vgl. dazu auch Müller-Lüneschloß 2012, 158 f. Müller-Lüneschloß spricht in diesem Zusammenhang zwar von einer »Historisierung der Potenzen«, die es ermögliche, die Offenbarung des Absoluten als einen dezidiert geschichtlichen Prozess zu denken: »Die Konsequenz davon ist die Explikation des Absoluten in die Geschichte und als Geschichte, welche sich nach drei unterschiedlichen Perioden (Potenzen des Absoluten) vollzieht«. Indem sie die Perioden aber hier nur als »Potenzen des Absoluten« versteht, übersieht sie dabei, dass die Vergeschichtlichung des Absoluten in eine tiefe Aporie des Systems selbst hineinführt. 151 Vgl. Hutter 2004a, 262. 152 Was hier so ganz ›eigentlich‹ an Heideggers Unterscheidung von ›eigentlicher‹ und ›uneigentlicher‹ Zeit erinnert, kommt nicht von ungefähr. Heidegger unterzieht Schellings Lehre von der Zeit in seiner Vorlesungen über die Freiheitsschrift von 1936 einer positiven Deutung und hebt sie vom vulgären, ›uneigentlichen‹, in bloßer Sukzession verharrenden traditionellen Zeitverständnis ab: »Das Werden Gottes läßt sich nicht nach einzelnen Abschnitten am Nacheinander der gewöhnlichen ›Zeit‹ aufrei-

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Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs

Unter einer Vergeschichtlichung des Absoluten lässt sich mit Schelling diejenige Differenz in der Zeit verstehen, die nicht bloß in die präsentische Zeit der Gegenwart eingetragen wird, sondern die Zeit allererst stufenweise aus der Gegenwart, die sie zu verhindert sucht, hervortreten und sichtbar werden lässt. Die ›transzendentale Einheit der Zeit‹ Kants differenziert sich in dem Maße zu einer Pluralität geschichtlicher Zeit aus, wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht »bloße Verhältnisbegriffe einer u. der nämlichen Zeit sind«, sondern wie zu betonen bleibt, dass sie »der höchsten Bedeutung nach wirklich verschiedene Zeiten sind, zwischen denen eine Anstufung oder Steigerung stattfindet« (WA III 5, 223). Während die Konzeption einer intellektuellen Anschauung, deren Form – gleich welchen Typs – die Ewigkeit ist, notgedrungen zu einer ›Vernichtung‹ der Zeit führen muss, versucht Schellings genealogische Offenlegung Zeit und Welt als Gewordene zu begreifen. Dieser strukturelle Wandel wird, wie gezeigt werden konnte, durch die Figur der Verkehrung der Ordnung von Ewigkeit und Zeit in die Wege geleitet. Die Ewigkeit, so war bereits mehrfach angeklungen, wird durch die Verkehrung der Ordnung von Ewigkeit und Zeit in die Zeit selbst eingelassen; sie bildet, so könnte man sagen, als zukünftig zurückzugewinnende Vergangenheit die geschichtliche Tiefendimension der Zeit. 153 Jedem Augenblick der Zeit liegt die Ewigkeit zugrunde, sodass die Zeit nicht nur aus der Ewigkeit entstanden ist, hen; sondern in diesem Werden ›ist‹ alles ›gleichzeitig‹; gleichzeitig aber bedeutet hier nicht, daß die Vergangenheit und die Zukunft ihr Wesen aufgeben und zur reinen Gegenwart ›über‹gehen, im Gegenteil: Die ursprüngliche Gleichzeitigkeit besteht darin, daß Gewesensein und Künftigsein sich behaupten und gleichursprünglich mit dem Gegenwärtigsein als die Wesensfülle der Zeit selbst ineinander schlagen« (Heidegger 1936, 136). Was Heideggers Ausführungen noch einmal in aller Deutlichkeit zeigen, ist die spezifische Dialogizität der Zeiten: Vergangenheit und Zukunft (in der Terminologie Heideggers: »Gewesensein« und »Künftigsein«) bestehen einerseits zwar mit der Gegenwart zusammen, sind andererseits aber von ihr getrennt, dadurch, dass die ›ewige Zeit‹, um ›entschiedene Gegenwart‹ sein zu können, sich von sich selbst als Gegenwart, die nur um sich selber kreist, losreißen muss. Die Scheidung der ›ewigen Zeit‹ von sich fällt, anders gesagt, mit der Erzeugung der Zeiten zusammen. Zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft besteht, wie Schelling vermerkt, ein »vollkommenes Wechsel-Verhältnis« (WA I, 72). Vgl. dazu auch Schelling 1841/42, 160: »Wer einer Zukunft entgegen geht, tut wohl, wenn er erst mit der Vergangenheit abschließt«. 153 Vgl. dazu auch eine Stelle aus dem dritten Weltalter–Druck, wo Schelling sagt, dass die Scheidung den »Wille[n] des Geistes« aus der Gegenwart im Sinne einer ›kommenden Zeit‹ verdrängt habe: »Sie [die Scheidung, P. N.] setzt diese [die Willen,

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sondern immer wieder beziehungsweise immer noch aus der Ewigkeit entsteht. Jeder Augenblick ist – metaphorisch gesprochen – das Samenkorn der Ewigkeit. Schelling begreift Zeit und Gegenwart demnach nicht nur als Gewordene, sondern als Gewordene, die noch immer im Werden begriffen sind, und deren Werden so lange besteht, wie Zeit und Gegenwart bestehen. Der Anfang ist kein einmaliges, geschichtliches Ereignis, sondern, wie Schelling sagt, ein »gleich ewiger Anfang«, das heißt, »dieser Anfang ist nicht Anfang, der aufhören könnte Anfang zu sein« (WA I, 78). Das Absolute ist nicht allein die in geschichtliche Perioden ausdifferenzierte Zeit, sondern das Absolute ist gerade so in der Geschichte, wie es sich dabei als Ewiges vollzieht, das heißt, wie es sich in der Differenzierung wiederum indifferenziiert. 154 Jede Gegenwart hat ihre geschichtliche Tiefendimensionen. In den simultan verlaufenden Perioden des Seins kommt es, so könnte man mit einer von Reinhart Koselleck entlehnten Metapher sagen, zu einer Ablagerung von Zeitschichten. 155 Als ›Zeitschichten‹ lassen sich, auch wenn Schelling selbst diesen Begriff nicht verwendet, die innerweltlichen Perioden des Seins selbst bezeichnen, die in dem Maße, wie sie aufeinanderfolgen, einander überlagern und verdecken. Vergangenheit und Zukunft sind in diesem Sinne nicht mitgegenwärtig in der Form des horizontalen ÜberP. N.] als nicht seyend, darum eben keineswegs als nichtseyend, sondern als zukünftig und als solche allerdings auch als (nur im Verborgenen) seyend« (SW VIII, 315). 154 Vgl. dazu auch Knatz 1999. Knatz spricht in diesem Zusammenhang von einer »Geschichtlichkeit in doppelter Hinsicht«, die er wie folgt beschreibt: »Der Existenz der Welt geht eine vorzeitliche Geschichte des Absoluten voraus, die allerdings nicht als chronologische Folge, sondern als Bewegungsprozeß verläuft; zugleich ist die Binnenstruktur des Absoluten nur konstruierbar, wenn es gelingt, in der empirischen Geschichte jene Fragmente der höheren Geschichte des Absoluten zu finden, welche einzig der äußeren Geschichte ihren Sinn und Zusammenhang gewähren« (284). Für Schelling geht es demzufolge um beide Aspekte: um die Möglichkeitsbedingungen der Geschichte in Gott und Gottes in der Geschichte. 155 Vgl. Koselleck 2015a, 19: »›Zeitschichten‹ verweisen auf geologische Formationen, die verschieden weit und verschieden tief zurückreichen und die sich im Laufe der sogenannten Erdgeschichte mit verschiedenen Geschwindigkeiten verändert und voneinander abgehoben haben. Wir verwenden also eine Metapher, die erst seit dem achtzehnten Jahrhundert sagbar geworden ist, nachdem die alte statische Naturkunde, die ›historia naturalis‹, verzeitlicht und damit historisiert worden war. Die Rückübertragung in die menschliche, die politische oder soziale Geschichte […] erlaubt es, verschiedene zeitliche Ebenen analytisch zu trennen, auf denen sich die Personen bewegen, Ereignisse abwickeln oder deren längerwährende Voraussetzungen erfragt werden«.

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gangs; ihre Mitgegenwart drückt sich vielmehr in der Form einer vertikalen Schichtung aus: die Vergangenheit ist anwesend im Modus der Latenz, die Zukunft im Modus der Tendenz. Für die Vergeschichtlichung des Absoluten kommt es in dieser Vertikalisierung der Zeit darauf an, was in noch ungeschiedener Latenz bereits vorhanden ist, in epochale Aktualität zu überführen bzw. als Gabe und Aufgabe verstanden: jene »unsichtbare und in der Gegenwart verborgne Einheit« (WA I, 67) soll sein. Schelling gibt in den Stuttgarter Privatvorlesungen von 1810 auch einen Hinweis darauf, wie das Verhältnis von Latenz und Tendenz, Verborgensein und Aktualisierung, hier genau zu verstehen ist. Es heißt dort, dass die anfängliche Verschlossenheit des Absoluten als ein Verborgensein der Gegensätze zu verstehen sei. Das Verborgensein unterscheidet sich darin vom bzw. erschließt eine Seite am Verschlossensein, als man verborgen dasjenige bezeichnet, was nicht bloß in potentia existiert, sondern schon bezogen auf den gegenwärtigen Zustand gedacht wird; es existiert in absentia. Latenz bezeichnet also den Zustand, der sich zwischen einem schon aktualen, zur Präsenz gebrachten Gegensatz und einem potenziell noch immer vorhandenen, aber absenten Gegensatz aufspannt; Tendenz im Unterschied dazu den Drang, etwas zur Präsenz gebracht zu haben, was sich in der Präsenz zugleich wieder entzieht und in die Latenz absinkt. In den Privatvorlesungen entspricht diesem Zustand des Aufgespanntseins der Begriff einer Natur, die sich in einem »keimlichen Zustand« (AA II,8, 110) befindet. Kommt man von hier aus auf die Weltalter zurück, so lässt sich festhalten: Was die geschichtliche Auslegung des Absoluten forciert, ist eine permanente Aktualisierung dessen, was an Gegensätzen verborgener Weise schon im Ewigen selbst vorhanden ist. Nur so kann sich als Gegensatz zeigen und auf höherer Stufe individuieren, was als chaotische Kraft ewig im Grunde bliebe. Die Ewigkeit ist für Schelling in dem Maße selbst in die Zeit eingelassen, wie sie durch die Zeit hindurch aktualisiert wird und sich dabei als deren fundierende geschichtliche Tiefendimension erweist. Dass dabei geschichtliche Regressionen nicht ausgeschlossen werden können, versteht sich von selbst. Während das reale Prinzip im Ewigen zwar durch das ideale Prinzip überwunden werden kann, sodass dieses sich jenem unterzuordnen hat, so ist und bleibt das reale Prinzip im idealen Prinzip aber als dessen eigener Geschichte immer noch so präsent, dass jenes noch nicht sein kann, was es seinem Begriff nach – tendenziell – doch sein soll. Das aus dem Nichtsein ins Sein gehobene Seiende 166 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

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droht quasi durch die Verkehrung der Ordnung von Ewigkeit und Zeit wieder ins Nichtsein, in die anfängliche Verschlossenheit zurückzusinken, solange die Zeit nicht in einem fortwährenden Akt der Scheidung dimensional auseinandergetrieben wird. Nur das stetige Setzen temporaler Differenz ermöglicht es den Gegensätzen, aus der anhaltenden Absenz in die Präsenz überzugehen, und diese höherstufige Differenzierung ist es, aus der sich, wenn man so will, eine »historische[…] Phänomenologie des Absoluten« ableiten lässt. 156 Zeit ist für Schelling in der Tat nur ›real‹ als eine Pluralität geschichtlicher Zeiten, weil sie nur als Zeitpluralität ein erfülltes Gewordensein sein kann, eine Forderung indes, die mit dem Modell einer ins Unendliche fortgehenden Linie bei Kant schlechthin unverträglich ist. 157 Aufgabe des nun folgenden Kapitels soll es sein, das dialogische Verhältnis von Gewordensein und Immer-Noch-Werden genauer zu untersuchen. Wie es scheint, deutet sich nämlich im Immer-NochWerden eine dritte Verkehrung an: eine Rückkehr, die die Verkehrung der Ordnung von Ewigkeit und Zeit durch die Geschichte hindurch ihrerseits wieder zu ›verkehren‹ sucht, sodass über der Tendenz zur Ausdifferenzierung der Zeit in ihre einzelnen, geschichtlichen Perioden die Perspektive einer – entgeschichtlichten – Einheit aufscheint, ohne welche – ein Problem, das sich anderenfalls zwangsläufig stellen würde – »die ganze Geschichte nur ein Chaos voll Unbegreiflichkeiten« (WA I, 82) bliebe. 158 Die Frage, die sich vor dem Hintergrund dieser Problematik stellt, ist, auf welche Weise die EwigOesterreich 1997, 178. Vgl. dazu auch Hühn 2009, 35, die in ähnlicher Weise die Stärken des Schelling’schen Zeitmodells gegenüber demjenigen Kants, das für die Moderne so einflussreich werden sollte, hervorhebt: »Schelling ist weit davon entfernt, die Unerfülltheit planer Jetztpunkte in die endlose Dauer des stets Gleichen ad infinitum nur zu verlängern und sie auf die eine oder andere Weise abstrakt mit (seinsollenden) Erfahrungen erfüllter Gegenwärtigkeit zu kontrastieren. Vielmehr bringt Schelling in einem weit über die Kantischen Vorgaben hinausgehenden metaphysischen Sinn die ganze Konstellation jener auf der Stelle tretenden Widerkehr des Immer-Gleichen gar nicht anders als eine sich selbst entfremdete, verkehrte Konfiguration der im wahrsten Sinne maßstäblich gesollten, mitlaufenden Tiefendimension einer in zeitloser Präsenz erfüllten Gegenwart in Sichtweite. Diese dem Entwicklungsgang des Selbstbewusstseins eingezeichnete Tiefendimension wird in einer Weise von Schelling ins Spiel gebracht, welche unweigerlich an der Statik von ein für alle Mal auf der phänomenologischen Oberfläche etablierten Strukturen rührt«. 158 Hier folgt Schelling wieder der problematischen idealistischen Voraussetzung, »dass das Wahre nicht im Einzelnen liegt, sondern im Ganzen, dem auch die einzelnen Perioden wieder untergeordnet sind« (Schelling 1832/33, 72). 156 157

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keit in der Zeit ist und sich durch die Geschichte hindurch vollzieht. Hierbei wird sich zeigen, dass Schelling im Grunde zwei Formen von Zukunft unterscheidet: eine proto-logische, die bisher als geschichtliche Tiefendimension der Zeit bezeichnet wurde, und eine eschatologische, von der Schelling sagt, dass sie als eine Zeit, »die nicht mehr zukünftig wäre« (WA I, 81), auch einer ganz anderen Zeitordnung als der menschlichen angehören würde. Um die damit verbundenen Probleme aufzuspüren, aber auch um überhaupt erst einmal die Entwicklungslogik eines so vergeschichtlichten Absoluten freizulegen, ist dabei ein Blick auf dasjenige Modell zu werfen, mit dem Schelling in den Weltaltern operiert und versucht, die dynamische Einheit von Zeit und Geschichte in den Griff zu bekommen: das Figur des Organismus.

7. Geschichtliche Zeit und ›ewige Zeit‹ 7.1. ›Organismus‹ als Zeit- und Geschichtsordnung Welcher Periode des Schelling’schen Denkens man sich auch zuwendet – Ichphilosophie, Naturphilosophie, Transzendental- und Kunstphilosophie, Identitätsphilosophie, Freiheits- und Weltalterphilosophie, Spätphilosophie –, überall operiert Schelling mit dem Modell des Organismus. Der ›Organismus‹ ist für Schelling das Modell der Philosophie schlechthin. 159 Folgerichtig lauten die Schlüsselbegriffe der jeweiligen Systementwürfe auch: ›Organismus der Natur‹, ›Organismus der Kunst‹, ›Organismus der Vernunft‹, ›Organismus der Zeiten‹. Letzterer, der »Organismus der Zeiten« (WA I, 149), ist das Schlüsselkonzept der Weltalterlehre Schellings. Und schon an der Begriffsoberfläche zeigt sich, dass offenbar eine entscheidende Strukturveränderung im Modelldenken selbst stattgefunden hat. ›Zeit‹ steht im Gegensatz zu ›Natur‹, ›Kunst‹ und ›Vernunft‹ im Plural ›Zeiten‹. Um die besondere Struktur des Organischen der Zeit in den Blick zu bekommen, kann es daher hilfreich sein, ihn in Kontrast zu anderen, früheren Konzeptionen des Organischen, so etwa dem »Organismus der Kunst« (SW V, 358), zu betrachten, den Schelling im System des transscendentalen Idealismus projektiert. Dies soll im Folgenden auch in aller Kürze geschehen, ohne dabei auf tiefergehende Proble159

Vgl. Frank 1991, 152.

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Geschichtliche Zeit und ›ewige Zeit‹

me und aporetische Schwierigkeiten der Systemkonzeption von 1800 selbst einzugehen. Entscheidend für die folgende Analyse ist allein, wie Schelling das organische Verhältnis von Teil und Ganzem konzipiert. Von hier aus, so die strategische Überlegung, kann in einem ersten Schritt nämlich sichtbar werden, dass sich das Modelldenken mit dem ›Organismus der Zeiten‹ tatsächlich radikal verändert; so wird es um den Unterschied zwischen einer Kunst, die sich selbst als zeitloses Organ des Absoluten versteht, und einer geschichtsgebundenen Praxis menschlicher Freiheit gehen, die relativ auf ihre eigene Zeit bleibt; in einem zweiten Schritt wird der Vergleich aber auch zeigen, dass die Kontrastierung von Kunst und Praxis in den Weltaltern noch nicht entschieden genug erfolgt. Auch der ›Organismus der Zeiten‹ folgt auf struktureller Ebene noch jener Entzeitlichungstendenz, der Schelling durch die angestrebte Pluralisierung der Zeit eigentlich entgehen wollte. Hieran schließen sich unter nochmaliger Einbeziehung von Jacobis Kritik Überlegungen zum Verhältnis von geschichtlicher Zeit und ›ewiger Zeit‹ an: Wenn es um Fragen einer Metaphysik der Zeit geht, vielleicht die Kernproblematik überhaupt. Blickt man unter konzeptionellen Vorzeichen auf den ›Organismus der Kunst‹, so tritt die Kunst bei Schelling zunächst als Organismus in einem ganz buchstäblichen Sinne auf: als ›Organon‹ bzw. als ›Werkzeug‹ der Philosophie. Der Philosophie, so die Überlegung Schellings im System des transscendentalen Idealismus, gelingt es nicht aus eigener Kraft sich des höchsten Prinzips der Philosophie, der Einheit des Idealen und Realen zu versichern. Allein die Kunst vermag diese Einheit herzustellen, indem sie das Absolute vergegenwärtigend zur Darstellung bringt: Sie ist die »einzige und ewige Offenbarung« (AA I,9,1, 318) des Absoluten, indem es dem Künstler, den Schelling im Anschluss an Kant als Genie versteht, durch eine unbewusste Tätigkeit gelingt, etwas für das Ich objektiv zur Anschauung zu bringen, was anderenfalls nur für den Transzendentalphilosophen in einer numinosen intellektuellen Anschauung zugänglich wäre. 160 Im Aufschluss eines solchen aus der Natur geschöpften, unbewussten Schaffens als »ästhetische Production« (AA I,9,1, 316) fin-

160 In der Theorie der Offenbarung als einer Theorie der Verköperung durch die Kunst zeigt sich, wie Jähnig 1969, 13 f. betont, Schellings Einsicht in die »Aporien der Philosophie als Wissenschaft«. Aktual ist Schellings Kunstphilosophie für Jähnig dann auch in dem Sinne, wie sie versucht, »das Bestehende nicht zu bestätigen, sondern zu ergänzen«: eine sich dergestalt abzeichnende »unzeitgemäße Aktualität«.

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det nicht nur die Deduktion des Kunstprodukts, sondern auch die Bestimmung der Philosophie als eines Systems ihren Abschluss, das an den Punkt zurückgekehrt ist, von dem es ursprünglich seinen Anfang genommen hat: Wenn es nun aber die Kunst allein ist, welcher das, was der Philosoph nur subjectiv darzustellen vermag, mit allgemeiner Gültigkeit objectiv zu machen, gelingen kann, so ist, um noch diesen Schluß daraus zu ziehen, zu erwarten, daß die Philosophie, so wie sie in der Kindheit der Wissenschaft von der Poësie gebohren, und genährt worden ist, und mit ihr alle diejenigen Wissenschaften, welche durch die der Vollkommenheit entgegengeführt werden, nach ihrer Vollendung als ebensoviel einzelne Ströme in den allgemeinen Ocean der Poësie zurückfließen, von welchem sie ausgegangen waren. (AA I,9,1, 329)

Die Rolle, die Schelling der Kunst im System des transscendentalen Idealismus zuweist, bleibt für lange Zeit unangetastet. Auch im Akademievortrag Über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur von 1807 taucht die Objektivierungsfunktion wieder auf, nunmehr unter dem Stichwort der Verkörperung. Der ›Körper der Kunst‹, so ließe sich an die Überlegungen zur Rolle der Kunst aus dem System des transscendentalen Idealismus anschließen, genießt gegenüber dem ›Gedanken der Philosophie‹ den Vorzug, dass »Zweifeln, die sonst gegen Behauptungen einer über das gemeine Maß erhabenen Vollkommenheit laut werden, die Ausführung begegnet, indem das, was in der Idee nicht begriffen worden wäre, in dieser Region als verkörpert vor die Augen tritt« (SW VII, 292). 161 Kunst vermag nach Schelling Ideen in dem Maße zu verkörpern, wie das, was an einer Idee nicht begriffen worden wäre, und zwar wie sie sich für uns in der sinnlichen Gegenwart darstellt, durch sie in einem realen Gegenstand zur Anschauung kommt. 162 Schellings organologischer Ansatz der Kunst lässt sich im Ausgang von dieser kurzen Skizze systematisieren: Philosophie ist auf Medien der Selbstvergegenwärtigung an161 Schelling wendet sich damit explizit gegen Winkelmann, dessen Ästhetik er einseitigerweise orientiert sieht am Leitbild einer bloß idealischen Natur. Gegenüber denjenigen Positionen, die die Natur als bloßes Aggregat einer Menge von Gegenständen auffasst, ist Winkelmann Schelling zufolge zu weit gegangen und nun ins andere Extrem verfallen: »Hatte früherer Kunstgebrauch Körper ohne Seele erzeugt, so lehrte diese Ansicht nur das Geheimnis der Seele, aber nicht des Körpers« (SW VII, 295). Die Aufgabe der Kunst ist Schelling zufolge aber die ›geistige Durchdringung‹ der Natur und nicht bloß deren ›idealische Überbietung‹. 162 Vgl. dazu auch Frigo 2008, 106.

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gewiesen, und die Kunst ist ein solches Medium. Der ›Organismus der Kunst‹ lässt uns die »Wunder unseres eigenen Geistes weit unmittelbarer als die Natur erkennen« (SW V, 357 f.), so heißt es bei Schelling in der Philosophie der Kunst. Aber genau hierin – nicht in der Kunst, sondern in der Art und Weise, wie Erkenntnis als eine Art von unmittelbarer Selbstvergegenwärtigung gedacht wird – besteht auch das strukturelle Problem, gerade wenn man die Kunstphilosophie unter zeitphilosophischen Aspekten betrachtet. Unterzieht man die unbewusste Tätigkeit ästhetischen Produzierens einer temporalen Interpretation, so stellt sich die ästhetische Anschauung als zeitliches Grenzphänomen dar. Die grundlegende Figur, auf die man hierbei stößt, ist die der Aufhebung der Zeit in der Zeit, und zwar in der Gestalt des Augenblicks. 163 Denn nur in dem Maße, wie die ästhetische Produktion die philosophische Reflexion gleichsam in einem Augenblick überwindet, kann das Ewige, die Freiheit selbst auch in der Zeit erscheinen, der Widerspruch von Freiheit und Notwendigkeit buchstäblich ›gelöst‹ werden. Selbstgegenwart, so sieht es die Theorie der ästhetischen Anschauung vor, ist nur von der zeitlichen Grenze des Augenblicks, der kleinsten metaphysischen Einheit der Zeit, her möglich, in ihm löst die unbewusste Tätigkeit der ästhetischen Produktion die zeitliche Anspannung der philosophischen Reflexion und verweist sie an ein zeitentbundenes, übergreifendes Ganzes. Liest man Schellings Theorie der ästhetischen Anschauung auf diese Weise, so lässt sich, was im Grunde für eine Philosophie der Kunst spricht, gleichermaßen gegen sie wenden. Ist die Kunst »ebendeßwegen dem Philosophen das Höchste, weil sie ihm das Allerheiligste öffnet, wo in ewiger und ursprünglicher Vereinigung gleichsam in Einer Flamme brennt, was in der Natur und Geschichte gesondert ist, und was im Leben und Handeln, ebenso wie im Denken, ewig sich fliehen muß« (AA I,9,1, 328), dann greift sie ebendeswegen gewissermaßen auch zu kurz, weil sie »Natur und Geschichte«, »Leben und Handeln« immer nur wieder von der zeitlichen Grenze des Augenblicks her, bloß transitorisch, nicht aber in ihrem je eigenen, unvorhersehbaren, ja auch unumkehrbaren Geschehen zu erfassen vermag. Das Absolute bleibt von der geschichtlichen Dyna163 Vgl. dazu Janke 1967. Die Figur einer Aufhebung der Zeit in der Zeit führt auch Hühn 2018a in ihren systematischen Konturen aus, im komplementären Gegensatz zur plötzlichen Gegenwehr, die dann vor allem bei Schiller für die Erscheinungs- und Erfahrungsweise des Erhabenen steht.

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mik der Dinge selbst unberührt. 164 Und so lässt sich der »Organismus der Kunst« – und das ist der Punkt, auf den es im Folgenden ankommt – seiner Struktur nach als ein »geschichtsfreies Refugium« verstehen. 165 Die These, auf die es nun ankommt, lautet, dass Schelling seinen organologischen Ansatz in dem Maße modifizieren musste, wie ›Natur und Geschichte‹, ›Leben und Handeln‹ ihre eigene, sich durch die Zeit hindurch überhaupt erst evolvierende Gegenwart herausbilden, eine Gegenwart, die sich nur um den Preis ihrer ›Vernichtung‹ in die zeitlose Gegenwart der ästhetischen Anschauung auflösen lässt. Bringt man nun die Organismuskonzeption der Weltalterphilosophie in Sichtweite wird deutlich: Im Gegensatz zum ›geschichtsfreien Refugium‹ des ›Organismus der Kunst‹ lässt sich der ›Organismus der Zeiten‹ nur als geschichtsgebundene Praxis menschlicher Freiheit verstehen. Als eine Praxis, der eine Vermittlung von Ewigkeit und Zeit nur dadurch gelingt, dass sie die Dinge nicht von der zeitlichen Grenze des Augenblicks her versteht, sondern sie aus der zeitlichen Mitte des Werdens heraus begreift, mit anderen Worten, die strukturell genau an dem Punkt zu verorten ist, an dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft prozessual auseinandergetrieben werden. Als ›organisch‹ ist die Zeit bei Schelling in einem durch und durch lebendigen Sinne zu verstehen: als temporale Differenz, die mit fortschreitendem Differenzierungsgrad sich als ›reale‹ Zeit, als geschichtliche Gegenwart zu erkennen gibt. Hatte Jacobi Kant vorgeworfen, die Zeit aus dem reinen Nichts zu erzeugen, und damit die Vorstellung einer creatio ex nihilo unter der Hand in seine kritische Philosophie einzuführen, so hält Schelling am Konzept der Erzeugung fest, verkehrt diese aber in eine creatio continua, in die er zugleich die Figur einer radikalen Diskontinuität einträgt. Der Anfang der Zeit, so hatte sich in der ›Genealogie der Zeit‹ herausgestellt, kann nicht aufhören, Anfang zu sein: »diese Zeugung ist keine vorübergehende, die einmal geschehen aufhörte, sondern eine ewige und stets geschehende Zeugung« (WA I, 141). Und obschon die Scheidung ein »vorzeitlicher 164 Auch in Friedrich Schlegels Konzeption der Transzendentalpoesie findet sich bei aller Tendenz zur Verzeitlichung von Selbst und Welt der Zug einer Entgegenwärtigung, der Auflösung von Gegenwart: »Wenn […] mit der Beharrlichkeit und Starrheit auch das Reich der Gegenwart aufgelöst, Vergangenheit und Zukunft verbunden, und so alle Zeit zur Ewigkeit verklärt sein wird, dann ist die Zeit vollendet« (KFSA 12, 446). 165 Dietzsch 1975, 1475.

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Geschichtliche Zeit und ›ewige Zeit‹

Akt« (WA I, 142) ist, so vollzieht sich doch mit jeder »geschehende[n] Zeugung« auch das Ewige in der Zeit, nämlich durch sie hindurch: »So hat also auch das göttliche Leben […] wie alles Leben seine Zeiten und Perioden« (WA I, 151). Wenn aber dergestalt jedem Anfang die Ewigkeit als Ganzes der Zeit immer schon zugrunde liegt, dann lässt sich das Verhältnis der drei Zeitdimensionen zueinander in der Tat als ein organisches Verhältnis verstehen. Und nichts anderes ist bei Schelling dann auch mit dem Konzept des Organismus der Zeiten gemeint. Will sagen: Jede Zeit enthält im Grunde immer schon die »ganze Zeit« (WA I, 148), »denn sie unterscheidet sich von ihrer vorhergehenden nur dadurch, daß sie zum Theil als vergangen setzt, was diese als gegenwärtig, und zum Theil als gegenwärtig, was jene noch als zukünftig setzte« (WA I, 148); für die ihr folgende Zeit gilt dasselbe. Und da, wie es kurze Zeit später heißt, »ein solches Verhältnis des Einzelnen zu einem Ganzen, bey welchem jenes zu seiner Wirklichkeit dieses schon als vorhanden in der Idee voraussetzt, allgemein als ein organisches betrachtet. Also ist die Zeit im Ganzen und Großen organisch« (WA I, 148 f.). 166 Und hier ist noch einmal der Punkt bezeichnet, an dem sich das Weltalter-Projekt so radikal von der Kunstphilosophie unterscheidet: Die Selbstauslegung des Absoluten kann nicht mehr im Augenblicksmedium der ästhetischen Anschauung erfolgen: Sie ereignet sich vielmehr im Medium einer prinzipiell offenen, sich organisch herausbildenden Geschichte: »So ist ein ewiger Wechsel von Entstehen und Vergehen, bis die ganze, alles befassende, der Ewigkeit gleiche, Zeit in einem Wesen entwickelt worden, welches auf der höchsten Stufe der Entfaltung notwendig geschieht« (WA I, 159). 167 Hier aber treten zugleich die Schwierigkeiten des organologischen Denkens auf den Plan. Denn der letzte Gedanke, der zu dem auch noch den Schluss der ›Genealogie der Zeit‹ bildet, zeigt an, dass sich 166 Dasselbe gilt auch für die Bestimmungen des Raumes, den Schelling in den Weltaltern ansonsten vernachlässigt und auch nur in einem kurzen Abschnitt erwähnt: »Uebrigens gelten von der Natur des Raums ganz dieselben Bestimmungen, die oben von der Natur der Zeit gegeben worden; z. B. daß die Dinge nicht im Raum, sondern der Raum in den Dingen, ihre maßgebende Kraft ist, daß jeder mögliche Raum der ganze, und der Raum daher im Großen wie im Kleinen ebenfalls organisch ist« (WA I, 86). Hier hätte man sich von Schelling nähere Ausführungen darüber gewünscht, von welchem ›Raum‹ nun eigentlich beim ›organischen Raum‹ die Rede ist. Zu Schellings Kritik am kantischen Raum-Begriff vgl. Buchheim 2015. 167 Vgl. Theunissen 1975, 188.

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Schellings Geschichtszeitbetrachtungen genau auf der Schwelle befinden zwischen der prinzipiellen Offenheit der geschichtlichen Zeit auf der einen Seite und der eschatologischen Erwartung einer zukünftigen Zeit auf der anderen Seite. Einerseits geht es um die Zeit, die sich in eine Pluralität geschichtlicher Zeiten ausdifferenziert, andererseits aber um die Zeit, die als unveränderliches, der Ewigkeit selbst gleiches Ganzes dem menschlichen Dasein als das ganz Andere aufgegeben ist: »So wie diese erreicht ist, erhalten alle Werke der Zeiten ihre letzte Bestätigung; denn nach völlig geschehener Entfaltung kann die nunmehr ganz als vergangen gesetzte Contraction wieder völlig frey wirken« (WA I, 159). Die Weise, wie Zeit und Ewigkeit hier miteinander verschränkt sind, ja: wie überhaupt jegliche temporale Differenz aus ihrer gegenläufigen Bewegung in der Tiefe der Geschichte gewichen ist, verrät ein tiefsitzendes Problem, das die Verkehrung der Ordnung von Ewigkeit und Zeit in der Weltalterphilosophie mit sich bringt. Denn einerseits wird durch die ›Verkehrung‹ zwar die Vergeschichtlichung des Absoluten in die Wege geleitet, mit dem Ziel der Realität geschichtlicher Gegenwart Rechnung zu tragen, andererseits darf nach Schelling die Zeit der Gegenwart im Zuge der Verkehrung aber auch nicht derart radikal vergeschichtlicht werden, dass in der geschichtlichen Gegenwart die Dimension der Ewigkeit gänzlich verloren ginge, eine ›Rückkehr‹ ausgeschlossen bliebe, schon allein deshalb nicht, weil die ›ewige Zeit‹ ja vielmehr den Ermöglichungsgrund von Zeit und Gegenwart bildet. Als geschichtliche Tiefendimension der Zeit geht die Dimension der Ewigkeit im Grunde auch nicht verloren, nur geht Schelling hier noch einen Schritt weiter, indem er das Szenario einer eschatologischen Zeit entwirft, eines kommenden Endes aller Zeiten. Nach ›innen‹, so lässt sich das konzeptionelle Dilemma benennen, soll sich der ›Organismus der Zeiten‹ durch eine Pluralität geschichtlicher Zeiten auszeichnen, nach ›außen‹ aber weiterhin auf eine außerzeitliche, ungeschichtliche Einheit der Zeit bezogen bleiben. Auf diese Weise durchziehen das Weltalter-Projekt gleichermaßen Tendenzen der Vergeschichtlichung wie der Entgeschichtlichung. Und ein nicht unerheblicher Teil der konzeptionellen Schwächen rührt daher, dass Schelling versucht, beiden Tendenzen gerecht zu werden, je nachdem, welche Perspektive er gerade einnimmt: entweder die Sicht der menschlichen Freiheit oder die Sicht der göttlichen Überweltlichkeit. Auf die Frage, wie die Ewigkeit in der Zeit ist und sich dabei als eschatologische Zeit durch die Zeit hindurch vollzieht, wird sich nur dann 174 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Geschichtliche Zeit und ›ewige Zeit‹

eine Antwort finden lassen, wenn man beide Bewegungen ernst nimmt und in ihrer Gegenläufigkeit ausbuchstabiert.

7.2. Entgeschichtlichungstendenzen Besonders augenfällig ist die Tendenz zur Vergeschichtlichung in den Weltaltern da, wo es um die Negativität der eigenen geschichtlichen Gegenwart geht. Das gilt nicht zuletzt auch im Hinblick auf die Entwicklungsstufe der Kunst. In der Philosophie der Kunst spricht Schelling noch ganz selbstverständlich von einer »Construktion«, das heißt von einem methodischen Verfahren, das sich »nicht bloß auf das Allgemeine«, sondern bis auf eben diejenigen Individuen erstreckt, »welche für eine ganze Gattung gelten«. Im Text werden daraufhin Homer, Dante und Shakespeare als die übermächtigen Heroen der literarischen Welt präsentiert. Schellings erklärtes Ziel ist es, in eben diesen drei Individuen den Ausdruck eines allgemeinen Willens zu erkennen, der sich dann natürlich auch in den Werken – sei es die Odyssee, die Göttliche Komödie oder Hamlet – niederschlägt: »Ich werde sie und die Welt ihrer Poesie construieren« (SW V, 363). Und so heißt es am Ende von Schelling Ausführungen, ganz im Sinne der philosophischen Konstruktion, dass die Geschichte der Kunst die »wesentliche und innere Einheit aller Kunstwerke« offenbare. Was historisch betrachtet als das Werk vieler erscheine, sei in Wahrheit nur die Arbeit »eines und desselben Genius«, welcher »in den Gegensätzen der alten und neuen Kunst sich nur in zwei verschiedenen Gestalten zeigt« (SW V, 372). Ganz anders nimmt sich der Entwicklungsgang der Kunst in den Weltaltern aus. Auch hier hält Schelling zwar weiter an der Verkörperungskraft der Kunst fest, wenn er etwa sagt, dass vielleicht einer komme, »der das größte Heldengedicht singt, im Geiste umfassend, wie von Sehern der Vorzeit gerühmt wird, was war, was ist und was seyn wird« (WA I, 9). Zugleich macht Schelling aber auch deutlich, dass seine eigene, die ›gegenwärtige‹ Zeit noch nicht reif sei für eine solche Entwicklung: »Wir dürfen unsere Zeit nicht verkennen«, heißt es nun abwartend, man befinde sich noch in einer »Zeit des Kampfs«: »Noch ist des Untersuchens Ziel nicht erreicht; noch muß, wie die Rede von Rhythmus, Wissenschaft von Dialektik getragen und begleitet werden« (WA I, 9). Selbst die Dichtung eines Dante, die Schelling im Aufsatz von 1803 noch als einen »Typus der Betrachtung des 175 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs

Universums« gefeiert hatte – »urbildlich durch die Allgemeingültigkeit, die es mit der absolutesten Individualität vereinigt« (SW V, 158) –, ist nunmehr als eine bloße Stufe zu verstehen, auf der man zwar vorangeschritten sei, auf der man aber auch nicht zum Stehen kommen dürfe, wolle man seine eigene Zeit im Hinblick auf das, was man von einer zukünftigen Zeit allererst noch zu erwarten habe, verstehen. Das gleichberechtigte Verhältnis von künstlerischer Produktion und philosophischer Konstruktion ändert sich damit grundlegend: Gilt es in der Kunstphilosophie noch als ausgemacht, die »Individualitäten der größten Meister« (SW V, 363) im Allgemeinen charakterisieren zu können, so fällt die Philosophie in den Weltaltern derart weit hinter die Kunst zurück, dass letztere noch nicht einmal als ›Organon‹ für erstere fungieren könnte. Die Philosophie steht nicht mehr »auf der gleichen Höhe« (SW V, 369) mit der Kunst, und zwar deshalb nicht, weil sie – im gegenwärtigen Zustand – selbst noch nicht auf der Höhe, das heißt: selbst noch nicht Wissenschaft ist. Als Wissenschaft wäre sie, wie Schelling betont, was sie ihrem Wesen und ihrer Wortbedeutung nach ist: »Historie« (WA III 3, 204): Erzählung der lebendigen Entwicklung des Urwesens. Davor muss die ›gegenwärtige‹ Philosophie aber ihre Waffen strecken: Sie hat selbst noch nicht die Mittel an der Hand, um das zu leisten, was zu leisten ihre Bestimmung ist. Überaus deutlich wird die Diskrepanz zwischen einer Philosophie, die Wissenschaft sein soll, und einer Philosophie, die Wissenschaft ihrer eigentlichen Wortbedeutung nach noch nicht sein kann, insbesondere dann, wenn Schelling auf seine eigene methodische Umsetzung in den Weltaltern zu sprechen kommt. So sagt er etwa über die Anwendung der Kategorie der Dauer auf die genealogische Abfolge der Momente: »Haben wir uns erlaubt, jenem Urzustand in Worten eine Dauer zu geben, so war dieß nur bildlich oder mythisch nicht wissenschaftlich zu nehmen« (WA I, 76). Wozu das ›große Epos‹ einmal imstande sein soll, davor muss die ›gegenwärtige‹ Wissenschaft noch zurückschrecken. Für sie gibt es noch immer die Unterscheidung zwischen der Dialektik auf der einen Seite und der Erzählung auf der anderen Seite. Einerseits ist das Zeitalter des Mythos zwar vorbei, andererseits hat das Zeitalter der Dialektik aber sich auch noch nicht von seinen begrifflichen Beschränkungen befreit, weshalb die große Erzählung vorerst weiter in den eng gesteckten Grenzen wissenschaftlicher Logik bleiben muss: »Nicht Erzähler können wir seyn, nur Forscher, abwägend das Für und das Wider 176 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Geschichtliche Zeit und ›ewige Zeit‹

jeglicher Meynung, bis die rechte feststeht, unzweifelhaft, für immer gewurzelt« (WA I, 9). 168 Aus diesem Geist, dem Geist des Ungenügens an der eigenen Zeit, ist die Weltalterlehre geboren: »Noch waltet allein die Gegenwart« (WA III 1, 189), heißt es in diesem Sinne, weshalb das »größte Heldengedicht« auch nur erwartet, als »Versprechen der Zukunft« aufgegeben, aber – und darauf kommt es im Unterschied zum ›Organismus der Kunst‹ an – nicht mehr konstruiert werden kann. 169 Das große, alle Zeiten umfassende Heldengedicht hat seine eigene Zeit, das heißt: eine vom gegenwärtigen, weiterhin auf die Vermittlung von Erzählung und Dialektik angewiesenen Zeitalter verschiedene, zukünftige Zeit. Es ist selbst ein »Werk der Zeit« (WA I, 12), sodass das Epos – metaphorisch gesprochen – als ein Werk gelten kann, »das die Zeit selbst dichtet« (WA III 3, 208). Und so ist aus einem »einen Dichter gleichsam vorstellenden Geschlecht« (AA I,9,1, 329), wie ihn die Kunstphilosophie der Identitätsphase projektiert hatte, eine ›einen Dichter gleichsam hervorbringende Zeit‹ geworden. 170 Eine Zeit, deren Ende, wie die Weltalter immer wieder betonen, aber wohlweislich noch aussteht und vom Standpunkt der eigenen Gegenwart zwar durchaus erahnt, aber eben nicht eingesehen, geschweige denn erkannt oder konstruiert werden kann. Die Gegenwart bleibt für Schelling mit Notwendigkeit eine Zeit der Latenz, eine Zeit der Verzögerung, in der »gewisse Eigenschaften, Talente oder Bestrebungen des Geistes« gleichsam »todtenähnlich schlummern« können, bis sie »aus diesem Winterschlaf erwachen und nun nicht einzeln, sondern wie Vgl. dazu auch Iber 1999, 215. Lanfranconi 1992, 194. 170 Schelling variiert hier das bekannte Wort Herodots, Homer und Hesiod hätten den Griechen ihre Götter geschenkt. Nach Schelling beweist dieser Satz gerade dadurch seine Richtigkeit, dass Homer und Hesiod beginnen, mythologische Göttervorstellungen in Göttergeschichten zu transformieren: »Die Befreiung, die dem Bewusstsein durch die Scheidung der Göttervorstellungen zu Theil wurde, gab den Hellenen auch erst Dichter, und umgekehrt, nur erst die Zeit, welche ihnen Dichter gab, brachte auch die vollkommen entfalteten Göttergeschichten mit sich« (SW XI, 18 f.). Vgl. dazu auch Hutter 1996, 324, der verdeutlichen kann, dass und auf welche Art Geschichte hier überhaupt erst hervorgebracht werden muss: »Das Subjekt des ›Machens‹ ist demnach nicht der Dichter, der nach Herodot den Griechen die Theogonie ›machte‹, sondern das geschichtliche Geschehen, von dem sich die Dichtung erfaßt und getragen zeigt. Die Dichtung ist also weit davon entfernt, eine Gestalt des Geistes darzustellen, von der aus das Wesen der Mythologie begriffen werden könnte. Vielmehr entsteht ›Dichtung‹ überhaupt erst an jenem geschichtlichen Wendepunkt, wo sich die unbedingte Geltung der Mythologie lockert und dem Ende zuneigt«. 168 169

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Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs

Knospen und Blüthen an Bäumen, Hecken und Stauden, von allen Seiten, geschaart und in Masse hervorbrechen« (WA I, 84). »Wir sind überzeugt«, so urteilt Schelling im Sinne solcher Eigenzeiten einer longue durée, »daß jedem großen Ereignis, jeder folgenvollen That ihr Tag, ihre Stunde, ja ihr Augenblick bestimmt, daß sie kein Nu früher an’s Tageslicht tritt, als die Kraft will, welche die Zeiten anhält und mäßigt« (WA I 203). So ließe sich der genealogische Ansatz der Weltalter rekonstruieren, gäbe es bei Schelling nicht immer wieder die Tendenz, dasjenige, was im Grunde bloß ›geahndet‹ werden kann, weil es selbst als Zeit ›durchlebt‹ werden muss, in eine systemische Form zu überführen. Zwar konnten die bisherigen Ausführungen zeigen, dass Schelling die epochale Geschichtlichkeit seiner eigenen Zeit in seine Theoriebildung als integralen Bestandteil mit aufnimmt, und doch besteht die untergründige Tendenz, das Weltalter der Gegenwart durch das Brennglas einer ihrerseits ungeschichtlichen Folge von Zeiten zu betrachten: »Wäre es nun auch zu viel gewagt, die Abgründe der Zeiten jetzt schon durchschauen zu wollen; so ist doch der Augenblick gekommen, das große System der Zeiten in seinem weitesten Umfang zu entwickeln« (WA I, 14). So steht bei näherem Hinsehen, zumindest in makrogeschichtlicher Hinsicht, ja auch die Abfolge der Zeiten immer schon fest: Eine »goldne Zeit« ist von einer »Zeit des Kampfs« abgelöst worden und steht davor, wieder in ein goldenes Zeitalter rücküberführt zu werden, wenn auch über einen unendlichen Umweg. Geschichte vollzieht sich in den Weltaltern in genau dieser Abfolge: ›vorweltliche Zeit‹, ›weltliche Zeit‹, ›nachweltliche Zeit‹, komme, was wolle. Schelling selbst betont, dass es sich bei dem »System der Zeiten« um eine Struktur handle, »gegen das die gewöhnliche menschliche Zeitrechnung in keinen Betracht kommt« (WA III 5, 224). Das »Wesen der Ewigkeit« (WA II, 124), oder wie es an einer anderer Stelle auch heißt: die »wesentliche Ewigkeit« (SW XIII, 307 f.) bleibt von der Folge der Zeiten selbst unberührt: Es verharrt und besteht als das schlechthin Widerspruchslose »immerfort«, und das heißt wiederum: es ist »hinter und über aller Zeit« (WA II, 124). 171 Mit dieser Form der Ewigkeit, so ist unschwer zu erkennen, kann nun nicht mehr die Ewigkeit als geschichtliche Tiefendimension der Zeit gemeint sein, sondern nur noch die Ewigkeit als eschatologisches 171

Vgl. dazu auch Knatz 1999, 172.

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Geschichtliche Zeit und ›ewige Zeit‹

Finale der Zeit selbst. Schelling verweist auf diese Form der Ewigkeit in Gestalt der Nachweltlichkeit: ›Nachweltlich‹ wird die Zeit zu dem, was sie ihrem Begriff nach ›vorweltlich‹ immer schon gewesen ist. Sobald diese ›nachweltliche Zeit‹ erreicht ist, tritt die »tragende Vergangenheit« in ihre vollen Rechte und setzt das bis hierhin Entfaltete, ohne es wiederum zu scheiden, als Eins, mit anderen Worten, sie bringt die »Simultaneität zwischen allem Gewordenen« hervor (WA I, 87). Die Ewigkeit, von der Schelling hier spricht, ist also in der Tat nicht mehr als geschichtliche Tiefendimension der Zeit zu verstehen. Denn was die Simultaneität zwischen allem Gewordenen hervorbringt, kann nicht mehr im Bezug zur Zeit stehen: Es kann nur die Ewigkeit als das ganz Andere der Zeit sein. Dieses ganz Andere ist die Ewigkeit dadurch, dass sie als universales Eschaton den Gang der Zeiten leitet, ohne dabei selbst geschichtlich zu sein. Ihre Wirkung ist nicht die einer Zeiteröffnung, sondern die einer Zeitschließung. In der späteren Einleitung in die Philosophie der Offenbarung heißt es über diese Form der übergeschichtlichen Ewigkeit: Die wesentliche Ewigkeit (Gegensatz: die aktuelle) aber kann nie ein Glied der Zeit werden, weil sie durch die Zeit gar nicht berührt wird, sondern von der Zeit unangerührt durch die Zeit selbst hindurch unbeweglich bleibt und besteht. Zu der wesentlichen Ewigkeit, welche lautere Einheit ist, verhält sich die Spannung der Potenzen und was mit dieser gesetzt ist als etwas nur zu ihr Hinzukommendes, als etwas Accessorisches, das zu ihr (der wesentlichen Ewigkeit) ebensowenig nothwendig ist, als sie aufhebt, denn sie [die wesentliche Ewigkeit] wirkt durch die Spannung hindurch; diese ändert an der Ewigkeit selbst nichts, sie ist also in Bezug auf diese etwas Gleichgültiges und daher Zufälliges, sie ist also das naturâ nicht-Ewige, naturâ suâ Zeitliche. (SW XIII, 308)

Interpretiert man den ›Organismus der Zeiten‹ auf diese Weise, so verflüchtigt sich, was ursprünglich als Genealogie angelegt war, zu einer bloßen Strukturgeschichte. Was anfangs als »Zeit-ErzeugungsProzeß« (WA I, 80) angekündigt war, entpuppt sich am Ende wieder als ›Zeitvernichtungsmechanismus‹, als Beschreibung der ewigen Gesetzmäßigkeiten des Seins, nach denen Weltentstehung identisch ist mit Weltauflösung. 172 Indem auch die Zukunft irgendwann ihre Zu172 Vgl. dazu auch Gloy 2008a, 19. Gloy setzt sich nicht mit Schelling, sondern mit Heraklit auseinander. Dennoch könnte, was Gloy über das Problematik der Weltenstehung und Weltauflösung bei Heraklit sagt, durchaus auch an die Adresse von Schelling gerichtet sein. Denn ebensowenig wie für Heraklit scheint für Schelling der Begriff der realen Sukzession auf konzeptioneller Ebene realiter einholbar zu sein.

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künftigkeit verliert, scheint auch das Weltalter der Gegenwart, in das noch Zukünftigkeit eingesenkt ist, schlussendlich wieder einem Werden zu unterliegen, das niemals geworden und damit im strengen Sinne auch nicht geschichtlich sein kann. Unter zeitphilosophischen Vorzeichen ist jedenfalls kaum noch verständlich, wie Schelling mit Blick auf eine wesentliche, übergeschichtliche Ewigkeit von einer ›realen‹ und nicht bloß vorgestellten Sukzession der Zeit ausgehen kann. Gesetzt den Fall, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ein, wie Schelling sagt, »System der Zeiten« bilden, wäre auch die Gegenwart wieder nur als ein »einziges großes Glied« (WA III 1, 188) zu verstehen, ein platonisches αἰών, ein bewegliches Abbild der Ewigkeit, und die ›ganze Zeit‹ nichts als die »simultane Omnipräsenz« aller Zeitperioden. 173 Was ursprünglich als ›reale‹ Aufeinanderfolge von Zeiten konzipiert war, stellt sich bei näherer Betrachtung als die Strukturgeschichte eines Geistes heraus, dessen Entwicklung für sich genommen vollkommen ungeschichtlich ist. 174 Schelling beschreibt das organische Gefüge der Zeiten zwar, wie gezeigt wurde, als geschichtliche Aufeinanderfolge, aber das Prinzip, das dieser Zeitenfolge zugrundeliegt, ist selbst kein geschichtliches, sondern ein außerzeitliches Prinzip. Als ›ganze Zeit‹ wird von Schelling nämlich diejenige Zeit bezeichnet, die Zukunft ist, ohne dabei aber noch in irgendeiner Weise zukünftig zu sein: »Die ganze Zeit würde nämlich dann seyn, wenn sie nicht zukünftig wäre, und wir können daher sagen, die Zukunft oder die letzte Zeit sey die ganze Zeit« (WA I, 81). Die Zukunft als ›ganze‹ bzw. ›letzte Zeit‹ ist, so gesehen, als das Andere der Zeit selbst zu verstehen. Sie wäre diejenige Zeit, die »ganz Zeit und ganz Ewigkeit« ist, eine »Zeit der Ewigkeit«, um es mit Michael Theunissen zu sagen, eine totaliter aliter-Zeit. 175 Schelling bezeichnet sie auch als die »absolute Zeit« (WA I, 81). Sie wäre die realgeschichtIn beiden Fällen liegt der Begriff eines zäsuralen, uneinholbaren Anfangs der Zeit von Beginn an quer zur Vorstellung eines geordneten Kosmos: »Nicht eine sukzessive, seriell abzählbare Phasenfolge des Weltgeschehens ist gemeint, sondern die Gleichursprünglichkeit von Entstehen und Vergehen, die Konstanz des Austauschprozesses (Stoffwechsels) im Rahmen eines sich immer gleichbleibenden Kosmos« (20). 173 Oesterreich 1984, 139. 174 Vgl. dazu auch Loer 1974, 217: »Nicht mehr das Absolute also bewirkt erst zeitliche Wirklichkeit, sondern die Folge der Zeiten wird verabsolutiert, Geschichte selbst wird zum absolutum; Philosophie der Geschichte und Strukturtheorie des Absoluten fallen ineins, weil die Geschichte das Absolute ist«. 175 Theunissen 1991b, 315.

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Geschichtliche Zeit und ›ewige Zeit‹

liche Aufhebung aller geschichtlichen Zeiten und wird, weil sie in dieser Weise alles ›neu‹ machte, von Schelling paradoxerweise gerade als der Ermöglichungsgrund einer Ausdifferenzierung der Zeit ins Spiel gebracht. Nur auf dem Grund eines eschatologischen Zeitfinales entfalten sich nacheinander die drei großen Weltalter. 176 Kam es bei Augustinus zu einer eigentümlichen Verdopplung der Gegenwart, einem praesens praesentibus, so kommt es bei Schelling zu einer eigentümlichen Verzweifachung der Zukunft: Taucht sie einmal in vertikaler Richtung als tiefengeschichtliche Einheit der Zeit auf, so in der anderen Hinsicht als übergreifende Perspektive einer von aller Zeit freigesprochenen Einheit. Das konzeptionelle Dilemma, das hierbei entsteht, besteht darin, dass der auf die Zukunft hin ausgerichtete geschichtliche Prozess, der dieses oder jenes Seiende als dieses und kein anderes Seiende individuiert, auf einmal überhaupt nur möglich wird in Bezug auf die Zeit als Ganzes, die als außerzeitliche Einheit auf die zukünftige Aufhebung gerade dieser individualgeschichtlichen Einheiten zielt. Und an dieser Stelle wäre eben kritisch danach zu fragen, ob eine solche Apotheose der Zukunft, welche die einzelnen Zeiten auf eine »absolute Zeit« des absoluten Geistes bezieht, auf einer höheren, geistphilosophischen Ebene nicht ihrerseits wieder dem von Schelling gegen die mechanische Ansicht der Zeit geäußerten Verdacht erliegt, bloß ein Geschehen zu stipulieren, das nur »Eine Richtung« (WA I, 74 f.) kennt, und zwar in diesem Fall: die der Zukunft. Auf der Ebene des Geistes, der letztlich das »organische Prinzip der Zeiten« (WA I, 82) ist, lässt sich über die unsrige, gegenwärtige, weltliche Zeit dann doch nicht mehr sagen, als dass sie nun mal »Zeiten außer sich voraussetzt« (WA III 1, 188), eine Zeit, die vor der Welt war, und eine Zeit, die nach der Welt sein wird. 177 176 Vgl. dazu Lanfranconi 1992, der dieses Dilemma von der späteren Philosophie der Offenbarung her als Ausdruck einer ›göttlichen Ironie‹ verstanden wissen möchte: »Die Scheidung oder Krisis der Philosophie selbst ist letztlich nur dazu da, damit durch sie die Einheit (der Philosophie) sich wiederhole« (238). Vgl. dazu auch WA I, 82: »Eine jede Periode stellt in sich die ganze Zeit vor; denn auch sie fängt wieder von einem Zustand größerer oder geringerer Ungeschiedenheit an, so daß sie beziehungsweise auf die letzten Zeiten der vorhergegangenen Periode zurückzugehen scheint; indeß sie im Ganzen wirklich fortschreitet«. 177 Was Schelling mit ›Geist‹ meint, ist nicht das ins Geistige erhobene und damit dem Sein noch entgegengesetzte Seiende. Als ›Geist‹ bezeichnet Schelling hier vielmehr diejenige Einheit, die auch noch der Einheit der Differenz von Seiendem und Sein vorgelagert ist: »der Geist an sich oder der absolute Geist« (WA I, 67). Analog dazu handelt es sich auch bei der vermeinten Zukunft nicht um die Zukunft eines Einzel-

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Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs

In der Geschichte des Geistes ist die Gegenwart für Schelling gleichsam nur ein »Durchgangsstadium, das die Ewigkeit auf dem Weg zu sich selbst durchläuft«. 178 Die Zeit der Gegenwart ist eine Zeit des Übergangs, eine ›Wartezeit‹, die einmal an ihr Ende kommen wird, früher oder später: »Dann wird zwischen der Welt des Gedankens und der Welt der Wirklichkeit kein Unterschied mehr seyn« (WA I, 9). Der einzelne Mensch, seine je eigenen Entscheidungen kommen dabei nicht in den Blick. Denn die entschiedene, qualitative Differenz zwischen dem Weltalter der Gegenwart und seinen innerweltlichen Perioden schrumpft auf die unterschiedlichen Explikationsstufen einer allumfassenden Geschichte des Geistes zusammen, sodass auch Ewigkeit und Zeitlichkeit selbst wieder nur im Verhältnis von »Komplexion und Explikation« stehen. 179 Die spezifische Zeit der Geschichte, »mit allem was in ihr vergangen, gegenwärtig und zukünftig sein mag«, wird minimal in Anbetracht dessen, sie beruht nur noch darauf, »eine Große Zeit« zu sein in einem umfassenden ›System der Zeiten‹: Die Zeit dieser Welt ist nur Eine große Zeit, die in sich keine wahre Vergangenheit noch eigentliche Zukunft hat; die aber ebendarum diese zum Ganzen gehörigen Zeiten außer sich voraussetzt. Die wahre vergangene Zeit ist die vor der Zeit der Welt gewesene, die wahre zukünftige ist die nach der Zeit der Welt seyn wird, und so entwickelt sich ein System der Zeiten, von welchem die gegenwärtige, mit allem was in ihr vergangen, gegenwärtig oder zukünftig seyn mag, nur ein einziges großes Glied ausmacht. (WA I, 188)

Ist die Zeit der Gegenwart in der Tat aber nur ein »einziges großes Glied« in einem allumfassenden ›System der Zeiten‹, dann hat sie in sich weder eine ›wahre‹ Vergangenheit noch eine ›eigentliche‹ Zukunft; ist die menschliche Zeit in der Tat nur ein »Nachbild« (WA II, 120) der ›ewigen Zeit‹, wie es an anderer Stelle heißt, dann, so steht zu befürchten, droht auch die ›Genealogie der Zeit‹ wieder zu einer ›Emanation der Zeit‹ zu werden. Wo die Logik von Urbild und Nachbild greift, da degeneriert die anvisierte ›Genealogie der Zeit‹ zu einer schalen »Genealogie von Begriffen« (Schelling 1823/33, 87). Dabei war es doch Schellings ausdrückliches Anliegen gewesen, das Vernen, sondern um die Zukunft eines einzelnen Individuums als eines vollständigen Gattungswesens. 178 Wieland 1956, 88. 179 Oesterreich 1984, 139.

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hältnis von Ewigkeit und Zeit dergestalt zu verkehren, dass »nicht wie insgeheim gedacht wird, die Zeit von der Ewigkeit gesetzt, sondern umgekehrt die Ewigkeit das Kind der Zeit ist« (WA III 6, 230). Schelling schwankt in den Weltaltern, ob dem Endlichen gegenüber dem Unendlichen ein unabhängiges Leben zuzugestehen oder ob es durchgängig abhängig sei von einem Unveränderlichen außer aller Zeit. Am weitesten vor wagt sich dabei der erste Weltalter-Entwurf, in dem Schelling, wie gezeigt wurde, die menschliche Zeiterfahrung zum methodischen Ausgangspunkt seiner genealogischen Analyse macht. Aber schon der dritte Weltalter-Entwurf ist wieder klar systemisch ausgerichtet und fordert das »ewige Leben der Gottheit als Ganzes oder die Konstruktion der Gesamtidee Gottes« (SW VIII, 197). Schon Wolfgang Wieland hat das grundlegende Problem, dass sich dadurch in Schellings Ausführungen einschleicht, in aller Deutlichkeit erkannt, wenn er zu Bedenken gibt, dass das Urwesen zwar seine »in sich unterschiedenen Zeiten« kenne, es selbst aber immer dasselbe bleibe: »Legt es sich selbst […] in die Zeitlichkeit aus, so ist sein Sein doch nicht von der Ausgespanntheit seiner Zeiten aus zu verstehen, sondern von der sich in aller Spannung durchhaltenden Substanz aus«. 180 Auf die vorhin gestellte Frage, auf welche Weise die Ewigkeit in der Zeit ist und sich dabei durch die Geschichte hindurch vollzieht, bleibt also mit Blick auf die Tendenz zur Entgeschichtlichung in den Weltalter-Entwürfen zu antworten: Der absolute Geist ist der »Eintheiler und Ordner der Zeiten«. Die Folge der Zeiten beruht nach Schelling in der Konsequenz nur »auf der Verschiedenheit dessen, was in jeder als Vergangenheit, als Gegenwart und als Zukunft gesetzt ist«: »Nur der Geist erforscht alles, auch die Tiefen der Gottheit. In ihm allein ruht die Wissenschaft der kommenden Dinge; ihm allein steht es zu, das Sigel zu lösen, unter welchem die Zukunft beschlossen liegt« (WA I, 82 f.). Damit setzt sich Schellings Weltalterunternehmen aber noch derselben Kritik aus, die zu überwinden ihr Anspruch war: Es exponiert die Vorstellung eines geschichtlichen Vollzugs Zeit, der sich in Wahrheit immer schon vollzogen hat. Das zeigt sich nicht zuletzt auch an der Darstellungsform. Ebenso wie die Berufung Hesiods zum Sänger dadurch erfolgt, dass ihm die Helikonischen Musen, die Töchter des Zeus, am Fuße des heiligen Berges Helikon plötzlich erscheinen, so steht auch der Zeitgenealoge unvermittelt außerhalb von Raum und 180

Wieland 1956, 83.

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Zeit. Von den Musen erhält Hesiod die Gabe, die es ihm erlaubt, die beengenden Schranken der eigenen Existenz zu verlassen, in ein geistiges Reich aufzusteigen, weit über der eigenen, gegenwärtigen Zeit, 181 und wie die Musen zu künden von dem »was ist, was sein wird und was war«, zugleich erhält er aber auch die Aufgabe, dies zu tun: »Sie geboten mir auch, das Geschlecht der ewigen, seligen Götter zu preisen, sie selbst aber allezeit zuerst und zuletzt zu besingen. […] Auf also!» 182 Bei Schelling ist es auf einmal der »Prophet«, der den wunderlichen »Zusammenhang der Zeiten durchschaut«, indem er die Sprache – »vom Geiste Gottes getrieben« (WA I, 83) – von einem ganz Anderen her erfährt. Oder wie es dann wiederum bei Hesiod heißt: »So sprachen die beredten Töchter des großen Zeus, brachen den herrlichen Zweig eines üppig grünenden Lorbeers, schenkten ihn mir als Stab und hauchten mir göttlichen Sand ein, damit ich Künftiges und Vergangenes rühme«. 183 Hier wie dort wird die geschichtliche Zeit von der Anschauung der ›ewigen Zeit‹ umgriffen. Der Zeitgenealoge tritt gewissermaßen aus seiner eigenen Erzählung heraus, indem er durch sein prophetisches Sprechen beweist, dass die geschichtlichen Zeiten, von denen er kündet, bereits Realität geworden sind, die Zukunft – aus prophetischer Sicht – immer schon vollzogen und nicht nur als Tendenz vorhanden ist, die Vergangenheit – in Wahrheit – nie vergangen und erst recht nicht in die Latenz herabgesunken ist. Unter dem Eindruck einer solchen glossalischen Anschauung degeneriert die genealogische Herkunftsgeschichte der Zeit zur logogenetischen Strukturgeschichte. Auf die Tendenz zur radikalen Vergeschichtlichung folgt die Tendenz zur radikalen Entgeschichtlichung in der Weltalterphilosophie. Keine Tendenz ohne Gegentendenz, so sieht es im Grunde ja auch das Grundgesetz des Schelling’schen Denkens vor, die polare Struktur seines ›verkehrten‹ Real-Idealismus. Nur fehlt an dieser Stelle die entschiedene Perspektivierung des endlichen, menschlichen Standpunktes, vielleicht auch die Ironie eines Friedrich Schlegel, der ja seinerseits bekanntlich behauptet hatte, der Historiker sei ein »rückwärts gekehrter Prophet« (KFSA 2, 176), damit aber gerade dazu aufgefordert hatte, die Ge181 Vgl. dazu auch Fränkel 1962, der das ›geistige Reich der Sprache und Poesie‹ als einen »himmlische[n], luftige[n], gefährliche[n] Bezirk der Worte und Gedanken« beschreibt, »wo Sein und Schein schwerer zu unterscheiden sind als in den niederen Bezirken wo die Sache wohnen« (106). 182 Hesiod, Theogonie, v. 7. 183 Ebd.

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schichte immer wieder vom jeweiligen historischen Standpunkt aus zu reflektieren, also gerade nicht vor dem Hintergrund einer finalen Zeit zu explizieren, die ihren alleinigen Maßstab in selber findet. Um auf die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Kunst zurückzukommen: Die Kontrastierung von Kunst als einem geschichtsfreien Refugium und Geschichte als einer zeitgebundenen Praxis erfolgt in den Weltaltern nicht entschieden genug. 184 Schellings Zeitmodell trägt bei aller ausdrücklichen Emphase für den Prozess der geschichtlichen Entwicklung, für die Dimensionalität der Zeit am Ende doch wieder die Signatur einer ahistorischen Geschichtlichkeit. So geht auch mit dem Wechselspiel von Tendenz und Gegentendenz im vorliegenden Fall die Aufkündigung des geschichtlichpersonalen Ansatzes einher. Personsein, und hierin unterscheiden sich die Weltalter kaum von den Schriften der Frühphase, heißt auch hier wieder Abhängigsein, bloßes Verstricktsein in Zeit- und Endlichkeit. Was Schelling an Hegel 1795 in einem Brief geschrieben hatte, dass »unser höchstes Bestreben« nur in der »Zerstörung unserer Persönlichkeit« liegen könne, diese »Zerstörung« ist, wenn auch auf einer anderen Folie, letztlich noch für die Weltalterlehre strukturgebend. 185 Obwohl der ›Organismus der Zeiten‹ im Gegensatz zum ›Organismus der Kunst‹ einer Tendenz zur Vergeschichtlichung folgt, wohnt ihm selbst nichtsdestoweniger eine verborgene Tendenz zur Entgeschichtlichung inne, die sich nicht zuletzt als Tendenz zur Entpersonalisierung problematisieren lässt. Die zunächst von Schelling exponierte Geschichtlichkeit des personalen Lebens präsentiert sich aus der Sicht des Geistes als bloße Epocheneinteilung einer sehr viel umfassenderen göttlichen Geschichte, welche genau besehen darin besteht, ohne wirklichen Anfang und ohne wirkliches Ende zu sein. Schelling korrigiert die traditionelle Vorstellung, dass Gott »ohne Anfang u. Ende« sei, zwar dahingehend, dass er nun annimmt, »er sey ohne Anfang seines Anfangs u. ohne Ende seines Endes, d. h. daß er ewig anfange u. ewig ende« (WA III 2, 199). Gott, so heißt es bei Schelling, sei »nicht ein Ohnendliches wie man zu sagen pflegt, sondern ein ewig […] zu Stande gekommenes u. noch immer zu Stande kommendes, u. das nie aufhören wird zu Stande zu kommen« (WA III 2, 199). Solange aber das Eschaton der Ewigkeit die Ermöglichungsbedingung eines ewigen Werdens ist, geht die Zeit, die jedes 184 185

Vgl. Sandkaulen 2001, 101. F. W. J. Schelling an G. W. F. Hegel, 4. Februar 1795, AA III,1, 23.

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Ding, die jede Person in sich selbst hat, weil es diese Zeit praktisch aus sich hervorbringt, verloren. Wie soll etwas, so lautet hier der entscheidende Einwand, das aus geschichtstheologischen Gründen »nie aufhören wird zu Stande zu kommen«, jemals zu Stande gekommen sein? Wie kann etwas, das aus eschatologischen Gründen ewig vor sich geht, jemals geschehen sein? Ist es das erklärte Ziel der Weltalterlehre Schellings eine Wissenschaft von der »Entwicklung eines lebendigen, wirklichen Wesens« (WA I, 3) zu sein, dann muss sie auch den Begriff der realen Sukzession der Zeit einholen können. Die nun präsentierte glossalische Anschauung einer Zukunft, die nicht mehr zukünftig wäre, widerspricht diesem Anliegen aber in dem Maße, wie »die Zeitepochen in der einen großen Zeit des göttlichen Lebens aufeinander bezogen werden« und die Zeit aus der personalen Mitte der Geschichte, in die sie gehört, entfernt wird. 186 Schelling zieht sich damit noch jene Kritik auf den Hals, die Kierkegaard in Anbetracht der Hegel’schen Geschichtsphilosophie aus der Position einer in der Sphäre des Religiösen verwurzelten Existenzphilosophie heraus äußert: »Man hat das Menschsein abgeschafft, und jeder Spekulant verwechselt sich mit der Menschheit, wodurch er etwas unendlich Großes wird und zugleich gar nichts«. 187 Die Spekulation kann für Kierkegaard nicht die Lösung des Problems sein. Die Spekulation lässt das Problem des Einzelnen und seiner geschichtlichen Eigenzeit erst gar nicht aufkommen, und wenn dann muss die einzelne Zeit als einzelne wieder getilgt werden. Sie macht vergessen, was es heißt, »Mensch zu sein«, und zwar nicht, was es heißt, »Mensch überhaupt zu sein«, sondern was es heißt, »daß du und ich und er, daß wir jeder für sich Menschen sind«. 188 Schelling, so zeigt sich, bleibt bei aller Emphase für den Gedanken 186 Lawrence 1989, 171. Renate Lachmann hat am Beispiel der russisschen Literaturströmung des Alkmeismus gezeigt, wie der ungeordnete Pluralismus, das Heraustreten aus der teilbaren, messbaren Zeit zur Mythopoesie, zu einem Sprechen in unbekannter Sprache werden kann, das zwar das Chaos zulässt, aber die Plötzlichkeit des Übergangs, den Riss in jedem geschichtlichen Neuanfang zuletzt wieder zudeckt. Lachmann führt Ossip Mandelstams Das Wort und die Kultur von 1921 an, wo es über die ›Zungenrede‹ heißt: »Gegenwärtig gibt es so etwas wie Glossalalie. In heiliger Ekstase sprechen die Dichter in der Sprache aller Zeiten, aller Kulturen. […] Alles ist zugänglich: alle Labyrinthe, alle Verließe, alle Geheimgänge. Das Wort ist nicht siebenrohrige, sondern tausendohrige Schalmei geworden, die vom Atem aller Jahrhunderte belebt wird« (Lachmann 2007, 135 f.). 187 Kierkegaard 1957, 117. 188 Kierkegaard 1957, 113. Zur Problematik des Einzelnen im Kontext der Existenz-

186 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Geschichtliche Zeit und ›ewige Zeit‹

der geschichtlichen Individuation dem spekulativ-metaphysischen Denken seiner Zeit verhaftet, sodass auch die Weltalter die Problematik des Einzelnen und seiner geschichtlichen Eigenzeit konzeptionell nicht in den Griff bekommen. Auch die Weltalterphilosophie verbleibt im Rahmen desjenigen Denkens, das Schelling bereits im System des transscendentalen Idealismus als Form einer mytho-poetischen Verklärung konzipiert hatte, als Rückkehr der Wissenschaft in den »allgemeinen Ocean der Poësie« (AA I,9,1, 329). Schellings ›Scheitern‹ ist vielfach kommentiert worden: So erkennt Wieland den Grund des ›Scheiterns‹ der Weltalter darin, dass die mythische Erzählung, die die an sich radikalste Weise sei, Zeit und Zeitlichkeit sichtbar zu machen, bei Schelling in ein spekulativ-metaphysisches Denken zurückfalle. Wieland moniert, dass gerade von hier aus, der mytho-poetischen Anlage, Schelling sich wieder in die traditionelle Dialektik zwischen Zeit und Ewigkeit verwickelt hat, eine Dialektik, »die durch den Ansatz bei den ekstatischen Grunderfahrungen, die sich als in der Endlichkeit begründet erwiesen hatten, schon überwunden zu sein schien«. 189 Die leitende Frage wäre nicht mehr die nach dem »ontologischen Sinn von Gegenwärtigkeit und Gegenwart«, sondern die Frage danach, »wie der ewige Wille dazu kommen kann, Gegenwärtigkeit zu stiften«. 190 Auch Schulz erkennt hierin das strukturelle Dilemma der Weltalterphilosophie: Zwar erklärt Schelling in den Weltaltern, dass man in der Vergangenheit immer weiter zurückgehen müsse, immer mehr Schichten abtragen, die Arbeit von Jahrtausenden, eine Erklärung, die durchaus einleuchte, wenn es dann aber heiße, der Grund der ganzen Entwicklung könne nur ein ewiges, vorzeitiges und unbedingtes Sein sein, dann sei das eine Aussage, mit der die heutige Naturwissenschaft kaum etwas anzufangen wisse: »Und diese Herausstellung eines absoluten Anfangs ist für Schelling keine sekundäre Angelegenheit, sondern das eigentliche philosophische Anliegen«. 191 Die letzte Konsequenz einer Pluralität geschichtlicher Zeiten wird von Schelling vorerst nicht gezogen. Dafür verweist das ›ewige‹ Geschehen innerhalb des Organischen der Zeit zu selbstverständlich auf ein selbst wieder un-

philosophie Kierkegaards und der Geschichtsphilosophie Hegels vgl. auch Marquard 2013, 106. 189 Wieland 1956, 72 190 Wieland 1956, 80. 191 Schulz 1981, 23.

187 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs

geschichtliches, außerzeitliches ›System der Zeiten‹. Und es bleibt zu fragen, ob eine so verstandene »Metachronik« in der Tat derjenigen Zeitkonzeption entgegengehalten werden kann, die Schelling im Namen des Kantianismus als bloße Vorstellungsform im Genealogiekapitel so heftig kritisiert hatte. 192 Einer scharfen, durchdringenden Kritik wird der mytho-poetische Ansatz jedenfalls erst am Anfang der späteren positiven Philosophie, in der Philosophie der Mythologie, unterzogen, weil die Idee einer letztlich »ästhetischen Errettung« durch den Propheten selber aus einem mythischen Zwang resultiert, durch den gerade jene Umbrüche und Risse in der geschichtlichen Zeit verdeckt werden, denen sich das mytho-poetische Denken in seinem Anfang verdankt. 193 An dieser Stelle zeigt sich, dass noch die Verkehrung der transzendentalen Zeitlehre im Horizont der Philosophie verbleibt, die Schelling später als ›negative Philosophie‹ von einer ›positiven‹ respektive ›geschichtlichen Philosophie‹ abgrenzt. 194 Sie bleibt in der methodischen Durchführung abhängig von dem, was sie ›umzukehren‹ versucht. 195 Und es gibt niemand anderen, der dieses Dilemma besser durchdrungen hat als Schellings schärfster Kritiker: Jacobi. Er macht das Verhältnis von geschichtlicher Zeit und ›ewiger Zeit‹ zum Kernproblem jeden Philosophie, die nicht ›Unphilosophie‹ sein will, wie ein wiederholter Blick auf seine ›Zeit‹- und Systemkritik zeigen kann.

Theunissen 1991a, 38. Den Begriff der ästhetischen Errettung übernehme ich an dieser Stelle von Siegfried Kracauer, der in seiner Auseinandersetzung mit Marcel Proust es diesem in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit gerade zum Vorwurf macht, dass er die Macht der chronologischen Zeit auf der einen Seite zwar breche, sie auf der anderen Seite am Ende des Romans aber wieder formal etabliere. Kracauer macht dagegen geltend, dass Kunst und Geschichte zwei divergierenden temporalen Logiken angehören. Wovon die Kunst nichts wisse, das sei die Diskontinuität, das unhintergehbar Brüchige und Verlorene: »Nichts derartiges trifft aber auf die Geschichte zu. Weder hat sie ein Ende, noch kann sie ästhetisch erlöst werden (Kracauer 2009, 179). 194 Was ›geschichtliche Philosophie‹ im Sinne der Spätphilosophie bedeutet, kann an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden. Eine Bestimmung lautet: »Geschichtliche Philosophie ist die, welche die Welt aus einem wirklichen Vorgang erklärt. Geschichtliche Philosophie ist diejenige, welche die Welt aus Freiheit, Wille und Tat und demnach nicht aus einer bloss logischen Emanation irgendeines Princips erklärt« (Schelling 1832/33, 84). 195 Vgl. dazu auch Wieland 1956, 93. 192 193

188 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Geschichtliche Zeit und ›ewige Zeit‹

7.3. Der »ungereimte Begriff einer ewigen Zeit«: Noch einmal Jacobi Obgleich Ansätze zu einer genuin geschichtlichen Philosophie erkennbar sind, arbeitet Schelling die Pluralität geschichtlicher Zeiten auch in den Weltaltern noch auf der Folie einer im Voraus bestimmten geschichtlichen Aufeinanderfolge von Zeiten aus, von der her sie und auf die hin sie interpretiert werden muss. Die lautere Ewigkeit kann als reale, wirkende Ewigkeit zwar in die Vergangenheit absinken, aber es gibt offenbar etwas an ihr, das nie zur Vergangenheit werden konnte und insofern auch überhaupt nicht geschichtlich imprägniert ist. Nicht alles Vorweltliche kann zum Vergangenen gerechnet werden. Solange es aber noch etwas gibt, was in aller Zeit über aller Zeit ist, kann auch die Philosophie nicht geschichtliche Philosophie sein, die Zeit selbst nicht geschichtlich sich auslegen, weil es da immer noch etwas gibt, das »außer der Entwicklung« und damit auch »außer und über der Zeit« ist: »Wie in sich selbst muß also der Mensch auch im All Ganzen ein Ewiges erkennen, das überall kein Verhältnis zur Zeit hat und das er allem Werden und aller Entwicklung voraussetzen muß« (WA III 3, 209). Schelling verkehrt so gesehen zwar die anfanglose Zeit des ›ästhetischen Idealismus‹ in die anfangende Zeit eines ›historischen Idealismus‹, aber auch diese erweist sich in letzter Instanz als Zeit, die dem Phänomenbestand realer Sukzession nicht gerecht werden kann: Sie setzt ihrem Begriff nach eine Zeit voraus, die selbst kein Verhältnis zur Zeit hat. Der Rekurs auf eine außerhalb und über aller Zeit bestehende Instanz schlägt sich auch in metaphorischen Wendungen wie derjenigen wieder, die Schelling von der anfangenden Zeit, der Folge der Zeiten, auf der Ebene der höheren Geschichte gibt: Es heißt, dass die verschiedenen Zeiten »in Einer Zeit zusammen leben« sollen, »in concentrischer Stellung, wie Blätter und Werkzeuge einer und der nämlichen Blüthe, um Einen Mittelpunkt versammelt« (WA I, 87). An der Formulierung der ›Einen Zeit‹ aber lässt sich erkennen, dass die vermeintliche Sukzessivität der anfangenden Zeit auf der Ebene der höheren Geschichte wieder nur in die Form der Simultanität eines ewigen Zirkels münden kann, sodass das Denken letztlich doch wieder nur bei und in sich bleibt. Was in ›Einer Zeit‹ wird, kann, mit anderen Worten, nie wirklich geworden sein. Es muss in letzter Instanz wieder in eine »Simultaneität zwischen allem Gewordenen« (WA I, 87) einfließen, sodass es zwar durchaus einen Begriff vom 189 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs

Gewordensein in den Weltaltern geben mag, aber keine belastbare, stichhaltige Konzeption geschichtlicher Zeiten. Dass gerade die Vorstellung eines ewigen Werdens gravierende konzeptionelle Probleme mit sich bringt, hat Schelling später selbst eingeräumt. In seinen Vorlesungen Zur Geschichte der neueren Philosophie von 1827 gibt Schelling zu Bedenken, dass von einem ›ewigen‹ Geschehen zu sprechen im Grunde bedeuten würde, von gar keinem ›Geschehen‹ zu sprechen. Mit einem ›ewigen‹ Geschehen könnte nur eine in und um sich selbst kreisende Gedankenbewegung gemeint sein, die schlechterdings nichts mit der geschichtlichen Dynamik menschlicher Freiheit und also auch nichts mit unserer Erfahrung als handelnde Wesen in der Gegenwart zu tun habe. Wenn nämlich das so zu bezeichnende ›Geschehen‹ ein ›ewiges‹ Geschehen wäre, so könnte es »aber eben darum auch wieder kein eigentliches, d. h. wirkliches, Geschehen« sein, sondern bloß ein ›Werden‹, das »alles Geschehenseyn, alles Geschichtliche wieder aufhebt« (SW X, 160). Kurzum: Ein ›ewiges‹ Geschehen ist gar kein ›Geschehen‹, die ganze Vorstellung einer solchen Bewegung ist im Grunde selbst durchaus illusorisch, denn »es ist eigentlich nichts geschehen, alles ist nur in Gedanken vorgegangen, und die ganze Bewegung war eigentlich nur eine Bewegung des Denkens« (SW X, 124). 196 Und noch in den Vorlesungen zur Grundlegung der positiven Philosophie von 1832/33 betont Schelling, als würde er ungesäumt zu einer selbstkritischen Einschätzung seiner eigenen philosophischen Entwicklung seit den Weltalter-Anfängen übergehen, man bedürfe nicht einer bloßen »Genealogie von Begriffen«, sondern in der Tat einer wirklichen, und zwar aus den Gegenständen selbst hervorgehenden Sukzession: »Ein geschichtlicher Zusammenhang fordert also eine wirkliche Succession im Gegenstande, nicht bloss in meinem Denken. Der Zusammenhang lässt sich also nicht denken ohne ein wirkliches Vor und Nach.

196 Auf darstellungstheoretischer Ebene spiegelt sich diese Kritik auch in der Philosophie der Mythologie wieder, in der die mythopoetische Vorstellung der Weltalter, es könne »die Wahrheit wieder zur Fabel und die Fabel zur Wahrheit« (WA I, 4) werden, von Schelling selbst als eine zwar notwendige, aber angesichts der Wirklichkeit zu überwindene Ansicht dargestellt wird: »Wer dächte sich nicht gern ein, wenn nicht jetzt noch auf fernen Eilanden, doch in der Urzeit zu findendes Menschengeschlecht, dem eine geistige Fata Morgana die ganze Wirklichkeit ins Reich der Fabel gehoben hätte?« Und fährt Schelling fort: »Jedenfalls enthält die Ansicht eine Vorstellung, durch die jeder hindurchgeht, wenn auch keiner bei ihr verweilt« (SW XI, 14).

190 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Geschichtliche Zeit und ›ewige Zeit‹

Wo aber ein wirkliches Vor und Nach stattfindet, da findet auch eine wirkliche Zeit statt« (Schelling 1832/33, 87). 197 Mit dieser Einsicht, so lässt sich nun aber im Rückblick der problemgeschichtlichen Aufarbeitung des ersten Teils der Untersuchung festhalten, wiederholt Schelling nur noch einmal diejenige Kritik, die Jacobi schon gegen Kant und gegen die Metaphysik Spinozas vorgebracht hatte. Eine Philosophie, die mit Systemanspruch auftritt, so lautete die Kritik Jacobis, kann nur um den Preis einer vollständigen ›Vernichtung‹ der zeitlichen Wirklichkeit der Erkenntnis von Objekten sein. Ja, Systemphilosophie scheitere geradezu daran, »das wirkliche Daseyn einer succeßiven, aus einzelnen endlichen Dingen, welche sich die Reihe hinab einander hervorbringen und vertilgen, bestehenden Welt« (JW 1,1, 257) zu erklären. Das Kernproblem dabei besteht Jacobi zufolge darin, dass die Reflexion, ob sie es wolle oder nicht, im Systemzusammenhang auf den »ungereimte[n] Begriff einer ewigen Zeit« (JW 1,1, 257) geführt werde. 198 »Ungereimt« sei der Begriff deshalb, weil die damit verbundene Konzeption eines ewigen Anfangs schlechthin unverträglich mit der geschichtlichen Praxis menschlicher Freiheit wäre. Reale Freiheit gehorche einer anderen Logik als der von Allgemeinheit und Notwendigkeit, nämlich der ursächlichen Handelns. Der Vorwurf gegen das Systemdenken lautet, dass es die Logik des Grundes mit der Logik der Ursache vermischt. Während die Logik des Grundes ein idealisches, bloß logisches Verhältnis ausdrückt, beruht die Logik der Ursache auf einem realen, zeitlichen Verhältnis. Im Begriff der ewigen Zeit, so Jacobi, komme es allerdings zu einer Vermischung von Grund- und Ursachenlogik in dem Maße, wie einerseits auf der zeitlichen Realität des Gewordenseins bestanden, andererseits an der logischen Geschlossenheit der zeitlichen Relationen festgehalten werde. In diesem Fall, so ließe sich Jacobis fundamentaler Einwand hier zur Geltung bringen, »erlaubt man sich den einen [Begriff] für den andern zu setzen und anzuwenden, und bringt glücklich heraus, daß die Dinge entstehen können, ohne daß sie entstehen; sich verändern, ohne sich zu verändern; vor 197 Vgl. dazu auch Schelling 1832/33, 80: »Durch diejenigen Systeme, in denen eigentlich nichts geschieht, in denen man also auch nichts erfährt, kann zwar unser Denken ausgedehnt werden – wiewohl auch dies nur scheinbar; aber unser Wissen, was wir eigentlich Wissen nennen, wird keineswegs erweitert. Man begnügt sich mit jenen Systemen, um sich über die schmerzliche Unwissenheit zu zerstreuen. Sie sind Surrogate, Behelfsmittel«. 198 Zu diesem Problemzusammenhang vgl. auch Sandkaulen 2012b.

191 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs

und nach einander sein, ohne vor und nach einander zu sein« (JW 1,1, 283). Was Jacobi ursprünglich gegen Kant und Spinoza vorbringt, ließe sich, so ist unschwer zu erkennen, auch mühelos gegen Schelling wenden, indem dieser ebenso wenig wie jener ein »gewordenes Werden der einzelnen Dinge« (JW 1,1, 252) zu denken vermag. Grundlogik und Ursachenlogik müssen kategorial auseinandergehalten werden, weil das Verhältnis von Grund und Folge ohne Bezug auf Zeit und Zeitlichkeit zu denken ist, während das Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung einen zeitlichen Unterschied, eine Dauer, in sich einschließt. 199 Und dass weder Spinoza noch Kant noch Schelling das Problem des Gewordenseins und Immer-noch-Werdens zu lösen vermögen, liegt für Jacobi in der Sache selbst begründet: Ebenso wie beim »ursprünglichen Synthesirens« handelt es sich um ein Problem, das »überhaupt nicht gelöst werden kann« (JW 2,1, 271). Angesichts dieser Kritik von Jacobi muss es umso mehr überraschen, dass Schelling in der Denkmalsschrift von 1812 die Vermischung von Grund und Ursache sogar zugibt und dennoch behauptet, das Absolute müsse »sowohl Grund als Ursache« (SW VIII, 71) sein, also genau in die Falle hineintappt: Grund müsse es sein, insofern das Absolute Grund von sich selbst sei, Ursache, insofern es etwas im Absoluten geben müsse, das sich zur wirksamen Basis macht, auf der er sich selbst offenbaren könne. Es ist müßig zu fragen, ob Schelling den von Jacobi klar umrissenen Problemzusammenhang nicht durchschaut hat bzw. nicht durchschauen wollte. Die Zielrichtung einer genuin geschichtlichen Philosophie ist erkennbar, allein es fehlt die Einsicht in die grundlegende Aporie eines solchen Unternehmens. Schellings Weltalter-Projekt muss deshalb aus denselben Gründen scheitern, an denen die Metaphysik generell scheitert. Denn der Zeitbegriff, der im Rahmen einer Metaphysik jeglicher Form konzipiert wird, kann in letzter Instanz immer nur wieder ein »nichtgewordenes, Anfang- und Endloses Werden« bedeuten, »ein wahrhaft wirkliches Entstehen und Vergehen derselben [die Zeit, P. N.], obgleich nur in einem ewigen, in sich selbst kreisenden, Flusse« (JW 1,1, 252). Mit anderen Worten: Auf ontologischer Ebene gibt es bei Schelling ebensowenig wie bei Spinoza einen Grund, »das in höchstem Maße lebendige Wesen Gottes anders denn als die Einheit einer anonymen absoluten Potenz zu denken, die sich als solche –

199

Vgl. Sommer 2015, 374.

192 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Geschichtliche Zeit und ›ewige Zeit‹

instantan oder in einem ewigen ›Zirkel‹ – aktualisiert«. 200 In dem Maße wie nun aber deutlich wird, dass Schelling die Analyse der menschlichen Zeiterfahrung letztlich doch wieder einem spekulativmetaphysischen Denken preisgibt, das er, angetreten im Namen der Person, ursprünglich überwinden wollte, muss auch in Sichtweite geraten, dass das Weltalter-Projekt daran womöglich scheitert. An einen ›wirklichen‹ Anfang ist auch hier nicht zu denken, weil Schelling im Paradigma des ›verständigen‹, von Jacobi in seine Schranken gewiesenen von jeher entzeitlichten Denkens bleibt. Und so muss auch der Anfang, den Schelling gefunden zu haben glaubt, auch hier wieder, nicht anders als in seiner früheren Identitätsphilosophie, ein schlechterdings »erdichtete[r] Anfang« sein: Wie eine Handlung sich selbst anfangen möge, ist dem nur immer fortsetzenden und voraussetzenden Verstande unbegreiflich. Wahrhaft ein Erstes voraussetzend ist der menschliche Verstand nicht, es ist ihm nur immer Etwas, dieses oder jenes, vorausgesetzt. Setzt er der unbestimmten Reihe von Bedingungen ein Ende, und nennt dieses Ende den Anfang, oder Totalität: soll dieser erdichtete Anfang Gott heißen? Welch ein armseliger Anthropomorphismus! (JW 1,1, 345)

Dass die Konzeption der anfangenden Zeit in den Weltalter das Problem in der Tat nur verschiebt, das Jacobi bereits bei Kant und beim frühen Schelling eruiert hatte, anstatt es zu lösen, sollte damit deutlich geworden sein. Schellings Theorie des Anfangs, das machen auch die Erlanger Vorlesungen noch einmal deutlich, »erhellt, daß über das, was Anfang ist, notwendig ein Verhängniß, necessitas fatalis, waltet; daß überhaupt kein Anfang ohne Selbstbetrug, Überlistung möglich ist« (Schelling 1820/21, 136). Wenn aber, was ›wirklicher‹ Anfang sein soll, nur über einen »Selbstbetrug« zu gewinnen ist, dann stellt sich das metaphysische Problem des Anfangs vielleicht als das zentrale Problem im verschlungenen Gewebe von Schellings real-idealistischem Denken überhaupt heraus. Vor diesem Hintergrund, der Aporie, in die sich ein Denken des Anfangs verliert, ist klar, »daß Schellings vermeintliche Innovation, das Sowohl-als-auch von Grund und Ursache, nicht nur keine ist, sondern in eins damit Gefahr läuft, sich in derselben Problemlage wie Spinoza zu verstricken, wie Jacobi sie von vornherein diagnostizierte«. 201 Eine Vernunft, die wider besseren Wissens glaubt, ihren eigenen Anfang ein200 201

Vgl. dazu auch Sandkaulen 2004a, 45: Sandkaulen 2004a, 46.

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holen zu können, erweist sich nach Jacobi jedenfalls als »Lügnerin von Anfang [an]« (JW 3, 125): Denn soviel ist doch wohl jedem Unbefangenen klar, daß, wenn die Natur nichts ist als die heilige ewig schaffende Urkraft der Welt, die alle Dinge aus sich selbst erzeugt und werkthätig hervorbringt, die Welt aber, mit allem, was in ihr ist, in jedem Moment ihres wirklichen expliciten Daseyns nicht ist: daß dann die hervorbringende Ursache dieser von Ewigkeit zu Ewigkeit von einer Gestalt des Nichts in eine andere Gestalt des Nichts übergehende Welt, ganz in demselben Maße nichtig seyn müsse, wie es ihre Wirkung ist. (JW 3, 100)

Noch einmal: Jacobis fundamentale Vernunftkritik besteht darin – und das zeichnet sie in systematischer und wirkungsgeschichtlicher Hinsicht vor allen nachkantischen Überbietungsversuchen aus –, den Gedanken an eine wie auch immer zu konzipierende Metachronie im Anschluss an Spinoza radikal zu durchkreuzen. Die Zeit ist das Problem, an dem die Metaphysik scheitert. 202 Die Ewigkeit des Geistes ist mit der zeitlichen Begrenztheit der Einzeldinge nur insofern verträglich, als ihr Leben von Ewigkeit her fixiert ist und sich nicht verändert. Das Problem, wie man die Zeitlichkeit der Modi, die entstehen und vergehen, in Einklang mit der Ewigkeit ihrer Folgebeziehung zum göttlichen Wesen bringt, ist im Ausgang von Spinoza also durchaus lösbar, allerdings nur um den Preis der Endlichkeit und damit der Erfahrung unserer konkreten geschichtlichen Wirklichkeit. Ironisch-lakonisch gewendet: »Kein Grund also, sich vor dem Tod zu fürchten. Mein Tod ist nichts; er ändert nichts«. 203 Die Einsicht in das Scheitern der Metaphysik als solcher lässt sich im Zusammenhang mit der Frage nach der Zeit sogar präzisieren: Das Problem, an dem die Metaphysik scheitert, ist die Zeit in Gestalt der je einzelnen Geschichten, die wir handelnd hervorbringen und die uns widerfahren. Die Zeit, in der wir als handelnde Wesen begriffen sind und als solche unser personales Leben zu vollziehen haben, ist gleichsam das Problem, das dem Streit um den Anfang der Zeit im Rücken liegt. Die Praxis des realen Zeitvollzugs, von dem ein solches Leben durchdrungen ist, kann Jacobi zufolge überhaupt nicht gewonnen werden im Ausgang von einer ursprünglich-synthetischen Einheit bzw. einer lauteren Ewigkeit, die sich vor bzw. außerhalb der Zeit befindet. Woran eine systemische Philosophie Jacobi zufolge scheitert, ist das Pro202 203

Vgl. Sandkaulen 2000, 133. Schmidt 2009, 259.

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Geschichtliche Zeit und ›ewige Zeit‹

blem des personalen Zeitvollzugs. Die Zeit, in der wir als handelnde Wesen begriffen sind, ist selbst nur aus der Logik ursächlichen Handelns heraus zu verstehen, aus einer Vollzugspraxis, die sich zwar immer schon im Konflikt mit der Zeit befindet, aber erst aus dieser Mitte heraus ihre spezifische Eigenzeitlichkeit entwickelt. Mit dieser fundamentalen Kritik, so zeigt sich ex negativo, ist bei Jacobi zugleich ein tiefsitzendes Interesse an der personalen Zeitpraxis selbst verbunden: Zeit ist conditio humana. 204 Ist dieser Punkt aber einmal scharf gestellt, so ist es auch weitgehend unerheblich, ob Jacobi sich im Streit um die göttlichen Dinge auf die Freiheitsschrift bezieht oder sich wie in der Schrift Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung maßgeblich auf die Akademierede von 1807 und die Abhandlung Philosophie und Religion von 1804 beruft. 205 Am Grundproblem hat sich – trotz aller Korrekturen und Umkehrungen, die Schelling ab 1806 vornimmt – nichts geändert. Und so kann im Grunde noch gegen die Weltalterphilosophie jener Vorwurf erhoben werden, den Jacobi im unmittelbaren Anschluss an Schellings Akademierede gegen dieselbe in einem Brief an Jakob Friedrich Fries vorbringt. 206 Und diese Kritik besagt in systematischer Hinsicht, dass es – statt einer Pluralität geschichtlicher Zeiten – bei Schelling im Grunde wieder nur das dieses eine »unzeitliche Leben« gebe könnte, aus dem nichts und wieder nichts entstehe: Es gibt nur eine Qualität, das Leben als solches. Alle anderen Qualitäten oder Eigenschaften sind nur verschiedene Quantitäten oder Einschränkungen dieser einen Qualität, welche zugleich die Substanz und das ganze Wesen ist. Der Mensch hat mehr davon als der Mistkäfer, hat aber in sich nichts Besseres und Höheres. Alles was lebt, lebt nur eines und dasselbe Leben. Die Totalität aber, das All, die Natur, käuet, wie ein altes Vgl. dazu Sandkaulen 2004b. Das schließt nicht aus, dass Jacobi die Freiheitsschrift nicht dennoch zur Kenntnis genommen hat. Im Gegenteil: Aufgrund der gegen Schelling vorgebrachten Kritik ist es sogar zu vermuten, dass Jacobi die Freiheitsschrift kannte, sich aber aufgrund der unveränderten Problemlage in seiner Streitschrift von 1811 den identitätsphilosophischen Schriften zuwandte. Zu berücksichtigen ist nicht zuletzt auch, dass die Entstehungsgeschichte des Textes bis 1798 zurückreicht. Der Text war ursprünglich als Rezension des VI. Bandes der sämmtlichen Werke des Wandsbecker Boten für den Hamburgischen unprateiischen Correspondenten vorgesehen. Jacobi weist im Vorbericht darauf hin, dass ihn die Beschäftigung mit Matthias Claudius und dem Atheismusstreit zu immer neuen, ausführlicheren Überlegungen veranlasst haben. 206 Zu philosophischen Affinitäten und Divergenzen zwischen Fries und Jacobi bezüglich ihrer Kritik an Schelling vgl. Bianco 1999. 204 205

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Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs

Weib, von Ewigkeit zu Ewigkeit nur mit leerem Maule, macht und vertreibt sich die Zeit. (Henke 1867, 312)

Was Jacobi hier so wortgewaltig und drastisch einfordert, bildet die Blaupause für die Kritik, die Schellings Weltalterlehre im 20. Jahrhundert erfahren hat. Es beschreibt aufs Genaueste die »Zwiespältigkeit in Schellings Denken«, von der Jürgen Habermas in seiner Dissertation spricht: »Der geschichtliche Gott ist zwar geschichtlich, aber kein Gott, und der ewige Gott ist zwar ein Gott, aber nicht geschichtlich«. 207 Zwar unterliege Gott als das Absolute einer Geschichte, insofern es einer Trias aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bedürfe, um sich als Gott, als Absolutes zu realisieren. Zwischen Gott als dem Absoluten und Gott als dem sich Offenbarenden bestehe insofern eine unvermeidliche, nur durch Geschichte zu überbrückende, ontologische Differenz. Gleichwohl, so wendet Habermas ein, handle es sich bei dieser Geschichte wiederum nur um eine Geschichte, die von jeher zur Willensstruktur des Absoluten dazugehöre. »Es ist«, so hebt bezeichnenderweise auch Schelling an, »ein großer und notwendiger Gedanke daß alles Geschehen Ein Geschehen ist, daß alles was ist u. sich begibt nur zu Einer großen Bewegung gehört […] – Gott« (WA 226). Auch Axel Hutter sieht die Inkonsequenz des genealogischen Ansatzes des Weltalterunternehmens in der »transmundanen Bedeutung des Geschichtlichen«. 208 Was im Begriff des »Systems der Zeiten« als Steigerung und Höhepunkt der Weltalterphilosophie vorgeführt werde, erweise sich bei näherem Hinsehen als »Verarmung des Begriffs des Geschichtlichen« und damit als »nachträgliche Entgeschichtlichung des geschichtlichen Ansatzes«. Der Begriff verliere buchstäblich jeden konkreten Inhalt, wenn die innerweltlichen Perioden der Gegenwart mit der weltlichen Gegenwart als solcher schlicht in eins gesetzt würden: »Schelling begibt sich jeder Möglichkeit, mehr über die Vergangenheit und Zukunft zu sagen, als daß sie eben vor und nach der Welt liegt«. 209 Von den Weltaltern als einer »radikal historischen Philosophie« zu sprechen, wie Peter L. Oesterreich es vorschlägt, führt deswegen zu weit. 210 Deren zugegebenermaßen »radikal geschichtliche Intention« wird ja vielmehr durch die Vorstellung eines Systems, das die Zeiten untereinander ordnet, radikal 207 208 209 210

Habermas 1954, 322. Hutter 1996, 117. Hutter 1996, 116 f. Oesterreich 1984, 20.

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Geschichtliche Zeit und ›ewige Zeit‹

unterlaufen. Die Weltalter haben, mit anderen Worten, noch nicht den Übergang von einem geschichtsfiktiven Denken a priori zu einem realgeschichtlichen Denken vollzogen. 211 Die »Zwiespältigkei«, von der Habermas sprach, zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass die Weltalter selbst noch im Übergang begriffen sind, eine ›Unentschiedenheit‹, die Wolfgang Wieland noch in der Spätphilosophie am Werk sieht: »Er [Schelling, P. N.] schreckt in seiner Spätzeit davor zurück, das Sein des Menschen aus der Zeitlichkeit und Freiheit – als radikale Geschichtlichkeit – methodisch zu Ende zu denken«. 212 Wie auch immer sich die Dinge in der Spätphilosophie verhalten, das zu untersuchen, ist nicht das Thema der vorliegenden Untersuchung, in den Weltaltern verbleibt Schellings geschichtliche Philosophie noch in der reinen Immanenz der Denkbewegung, sodass, was reale Sukzession sein soll, immer nur wieder als Glied innerhalb einer ihr übergeordneten Systemgeschichte erscheinen kann. Selbst Horst Fuhrmans, der in seiner großangelegten Untersuchung zur Weltalterlehre immer wieder betont, Dasein sei nun von Grund auf geschichtlich, kommt nicht umhin, Zweifel am »mehr oder weniger echten geschichtlichen Weg« zu formulieren: »Denn ob Schelling eine echte reale Entwicklung gemeint hat, wonach ein Sein ›aus‹ dem anderen entspringt, oder ob er letzthin nicht doch nur eine reine logische Entwicklung gemeint hat, ist […] schwer zu entscheiden«. 213 Schelling vollzieht noch nicht den Übergang zu einer genuin geschichtlichen Philosophie, einem realgeschichtlichen Denken, wofür Oesterreich, der anders argumentiert, selbst das Stichwort liefert: Die geschichtliche Entwicklung des Absoluten vollziehe sich, so heißt es, in den »geschichtlichen Weltinnenräume[n] der Weltalter«. 214 Welche andere als die lokale Semantik des ›Innenraums‹ könnte aber ein schlagenderer Beweis dafür sein, dass es sich bei dem Prozess, in den sich und als der sich das Absolute auslegt, um einen doch irgendwie immer schon abgeschlossenen, universalgeschichtlichen Vorgang handelt. Es bleibt, wie Hans Michael Baumgartner notiert, bei einer »Geschichte der Vernunft«; eine »wahrhaft geschichtliche Philosophie« misslinge, weil zwischen Vernunft und Geschichte letztlich

211 212 213 214

Vgl. Oesterreich 1984, 37. Wieland 1956, 71. Fuhrmans 1954, 384. Oesterreich 1984, 45.

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Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs

doch die dialektische Vernunft den Sieg davontrage. 215 In genau diesem Sinne ist auch dem Bedenken Aldo Lanfranconis stattzugeben, ob man angesichts der von Schelling konstruierten höheren Geschichte des Absoluten überhaupt von einem geschichtlichen Ansatz im engeren Sinne sprechen könne, oder ob man angesichts dessen nicht eher für das »Ungeschichtliche ihrer Problemstellung« votieren müsste. 216 Ist Schellings Lehre von den Weltaltern deshalb einfach fallen zu lassen? Oder lässt sie sich noch in einer anderen Hinsicht für eine kritische Reflexion von Zeit und Geschichte nutzbar machen?

8. Der ›Zeitkern‹ der Weltalterlehre 8.1. Schellings Wiederentdeckung der ›Lebenszeit‹ Eines dürfte nach all diesen Einwänden klar geworden sein: Schellings Lehre von den Weltaltern ist gerade keine genuin geschichtliche Philosophie, wenn man die Aufeinanderfolge der Zeiten nach dem Modell eines nach außen hin geschlossenen organischen Systems interpretiert. Und überraschenderweise räumt Schelling dies sogar selbst ein: Noch in der testamentarischen Verfügung seines handschriftlichen, von den Söhnen verwalteten Nachlasses hält Schelling ausdrücklich fest, dass das »Werk: die Weltalter […] nicht, wie so Viele gemeint, ein geschichtlich-philosophisches sein sollte, sondern auf die χρόνους αἰωνίους sich bezog«, also auf die ›ewigen Zeiten‹ des Kosmos seit Anbeginn. 217 Ist eine genuin geschichtliche Philosophie zu konzipieren also niemals das Anliegen von Schelling gewesen? Sei es, wie es sei: Die Ansätze, Zeit im Ausgang von einer durch und durch geschichtlichen Erfahrung zu denken, sind in den Weltaltern 215 Baumgartner 1981, 175. Dennoch vertritt Baumgartner die These, dass Schellings Philosophie »von Anfang an und in ihrem Kern als Philosophie des Absoluten zugleich Geschichtsphilosophie« (ebd.) sei. Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangt auch Schulz 1981, 33: »Schelling weiß um die Negativität und die Unvernünftigkeit des Seins. Aber er vermeint, im Vertrauen auf die Methode der dialektischen Trinität die Negativität als untergeordnete Bestimmung in seinem System aufheben zu können. Am Ende zeigt die Vernunft eindeutig ihre Macht«. Zweifel an einer solcher These meldet Habermas an: Schelling sei »weder Historiker noch Geschichtsphilosoph im engeren Sinne«, sondern höchstens »Historiker des Absoluten« (Habermas 1954, 1). 216 Lanfranconi 1992, 89. 217 Die testamentarische Verfügung ist abgedruckt in Fuhrmans 1960, 14.

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Der ›Zeitkern‹ der Weltalterlehre

unbestrittenerweise vorhanden und konzeptionell belegbar. Und so stellt sich die Frage, ob sich nicht im Anschluss an Schelling, und das heißt: in unmittelbarem Anschluss an die Kritik, die er an die linearen, chronlogischen Zeitordnung heranträgt, eine Theorie geschichtlicher Zeiten entwickeln lässt, die sich als kritische Reflexion auf unseren modernen praktischen Umgang mit Zeit versteht. Im Folgenden wird sich herausstellen, dass es durchaus Gründe gibt, die χρόνους αἰωνίους zum Gegenstand einer solchen kritischen Reflexion über unsere Zeitumgangspraxis zu machen, schon allein deshalb, weil das griechische Wort αἰών ursprünglich »Leben, Lebenszeit und Lebenskraft« bedeutet und damit in scharfen Kontrast zu χρόνος tritt, der ausschließlich auf sich bezogenen Zeit, die ja eher dafür bekannt ist, Leben bzw. Lebenszeit und -kraft zu vernichten. 218 Die χρόνοί αἰωνίοί gehen terminologisch auf Platon und den Timaios zurück, mit dem sich Schelling bekanntlich schon früh und ausgiebig beschäftigt hat. 219 Was die philosophische Systematik der äonischen Zeiten angeht, ist nun allerdings zu sagen: Bei Platon stehen αἰών und die mit der Welt erschaffene Zeit χρόνος in einem Verhältnis von Urbild und Abbild. Die Zeit, so lautet die einschlägige Formulierung, sei das ›bewegliche Abbild‹ der Ewigkeit. So sehr Schelling an dieser Stelle auch auf platonisches Gedankengut zurückgreifen mag, zugleich wird deutlich, dass die χρόνοί αἰωνίοί durch die Scheidungsfunktion in den Weltaltern eine durchaus moderne Transformationen erfahren. Die Rekonstruktion der ›Genealogie der Zeit‹ hatte bereits gezeigt: Ewigkeit und Zeit stehen bei Schelling in einem äquipollenten Verhältnis zueinander. Ihrer Möglichkeit nach ist die Zeit bereits in der Ewigkeit vorhanden. Um den kritischen Sinn der χρόνων αἰωνίων gegen ihre systemische Vereinnahmung durch Schelling zu retten, könnte man versuchen, die horizontale Staffelung der drei großen Weltalter in eine vertikale Schichtung zu überführen und damit die ›vorweltliche‹ und ›nachweltliche‹ Zeit, die sich nach Schelling im Grunde ›außer‹ der Zeit befinden, zu tiefengeschichtlichen Dimensionen der Gegenwart selbst zu machen. Im Folgenden soll also der Versuch unternommen werden, den in den Weltaltern projektierten genealogischen Ansatz als ein Konzept der geschichtlichen Zeit zu interpretieren, indem der Bezug zwischen Wieland 1971. Stellvertretend sei hier auf Schellings Timaios–Kommentar verwiesen. Vgl. dazu Buchner 1994. 218 219

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αἰών und χρόνος nicht auf der Ebene der in den vorangegangenen Kapiteln rekonstruierten höheren Geschichte betrachtet wird, nicht also auf der Ebene der absoluten Zeit, sondern auf der Ebene der Lebenszeit, also auf der Ebene der geschichtlichen Wirklichkeit menschlicher Praxis in ihrer prekären Verfasstheit und temporalen Dramatik. 220 Zwar hält Schelling daran fest, dass das Weltalter der Gegenwart, ob es gleich »das uns nächstliegende betrifft, in anderer Hinsicht die größten Schwierigkeiten« bereitet, und auch nur insofern für die gesamte Weltalter-Spekulation in Betracht komme, als es »hier bloß um Entwicklung des Systems der Zeiten im ganzen zu thun ist« (WA III 1, 194). Das bedeutet allerdings nicht, dass sich nicht im Ausgang von Schellings genealogischem Ansatz ein kritisches Potenzial freilegen und entsprechend seiner ursprünglichen Intention geltend machen lässt, das ungeachtet der letztendlichen Einbettung in den systemischen Zusammenhang originäre Einsichten in den Problemzusammenhang von Zeit und Geschichte, und damit in das, was das griechische Wort αἰών seinem ursprünglichen Wortsinn nach sagt, bereithält. Zu beachten ist, dass Schelling zwar dafür argumentiert, dass jede einzelne Zeit, und also auch die Gegenwart selbst, die Zeit bereits als Ganzes voraussetzt. Von der ›ganzen Zeit‹ aber heißt es, dass sie dann »sein würde«, »wenn sie nicht mehr zukünftig wäre« (WA I, 81): Konjunktiv. Schelling ist sich bei aller systemischen Spekulation der Beschränktheit der menschlichen Zeit durchaus bewusst; das zeigt sich nicht zuletzt an den im ersten WeltalterEntwurf so prononciert herausgestellten vielgestaltigen Zeitkonflikten, in denen sich die menschliche Erfahrung von jeher befindet. Lassen sich die χρόνοι αἰωνίοι so gesehen aber ohnehin nur per analogiam durch eine analogische Übertragung von mikro- auf makrokosmische Verhältnisse rekonstruieren, dann spricht im Grunde auch nichts dagegen, sie zunächst einmal im Mikrokosmos der menschlichen Zeiterfahrung zu belassen. Als tiefengeschichtliche Dimensionen der Gegenwart wären die χρόνους αἰωνίους gleichsam als die schon genannten Zeitschichten zu verstehen, welche sich in dem Maße dimensional überlagern, wie sie als Lebenszeiten aufeinander 220 Knatz 1999, 21, unterscheidet drei Ebenen, auf denen Schelling das Problem des vergeschichtlichten Absoluten reflektiert: »insofern das Sein eine Vorgeschichte oder einen Anfang hat, insofern es in der Zeit existiert und insofern es prozeßhaft im Wissen reflektiert wird«. Was die dritte Ebene angeht, so wird darauf im dritten Teil der Studie einzugehen sein, und zwar als Problem der erzählerischen Aneignung dessen, was in der und durch die geschichtliche Wirklichkeit hindurch bloß geschieht.

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folgen und sich dabei aufeinander beziehen. Die Ewigkeit wäre dann nicht mehr als das ganz Andere der Zeit, sondern als ihre geschichtliche Tiefendimension zu verstehen. Und genau hierin wäre dann auch das kritische Potenzial einer so transformierten Weltalterlehre zu suchen: Sie würde, indem sie in der geschichtlichen Tiefe der Gegenwart auf eine Gleichzeitigkeit verschiedener Zeiten und Zeitordnungen verweist, als ein Korrektiv fungieren gegenüber einer entpersonalisierten, von Sinn- und Entscheidungsfülle entleerten ›Jetztzeit‹, die nichts als die Linearität des Fortschritts kennt. Behandelt man die χρόνους αἰωνίους als tiefengeschichtliche Dimensionen der Gegenwart, dann kann die Verkehrung der verkehrten Ordnung von Ewigkeit und Zeit nur auf je individuelle, personale Weise erfolgen. Es obliegt der je personalen Entscheidung, sich als Mensch zum ›Mitwisser der Schöpfung‹ zu machen. Nicht allein das Absolute muss sich ›entscheiden‹, nicht allein das ist die Hauptproblematik der Weltalter. Auch der Mensch muss sich ›entscheiden‹: Er muss sich entscheiden, »das eine oder das andere ganz zu seyn« (SW VIII, 312), er muss versuchen, in der geschichtlichen Gegenwart jene verborgenen Sinndimensionen freizulegen, welche erweisen, dass auch seine zunächst ganz persönliche Geschichte an einer höheren Geschichte partizipiert. Was die Person dabei als ihre eigene, ihr zugemessene Identität erkennt, ist somit freilich auf die Vernunft bezogen, sie versteht sich von dorther. Verwirklicht wird sie aber wiederum nur im Vollzug selbst, abseits der je zu vollziehenden Entscheidung, deren gekommener Zeitpunkt sich bloß im καιρός zeigt, ist sie für die Person – transzendentalphilosophisch gesprochen – ›soviel als nichts‹. Mit anderen Worten: »So liegt das wirkliche Ereignis für den Menschen nicht in der Vernunft, vielmehr im Ergreifen des Kairos, seines Daseins, des Augenblicks seiner Existenz«. 221 Der Sinn des Gegenwärtigen kann auf diese Weise selbst nur wieder in der Sphäre der endlichen, menschlichen Lebenszeit aufgesucht werden, im καιρός, dem sinn- und bedeutungsüberschießenden Zeitmoment. Versteht man Schellings Weltalterlehre aus dieser Perspektive, dann führt die so ominöse Zeit- und Welterzeugungslehre gerade nicht aus der Gegenwart heraus: Sie erschließt das Absolute vielmehr in der geschichtlichen Gegenwart und verwirklicht es auf dem Boden je eigener Personalität im einzelnen Moment des καιρός. 222 Für die 221 222

Baumgartner 1991, 150. Vgl. dagegen van Zantwijk 2000a, 293 f., der gerade diese Form transzendentaler

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Verschiebung in Richtung auf die Existenz des Menschen spricht, dass Schelling in den Weltaltern geschichtliche Zeiterfahrungen ausweist, in denen sich der im Gegenwärtigen verborgene Sinn vorzugsweise ausspricht: ›Zeugung‹, ›Liebe‹, ›Entschluss‹ sind gleichsam Urerfahrungen geschichtlicher Dis-/Kontinuität, weil sie einerseits zwar die Zeit unterbrechen, andererseits aber auch das rechte Zeitmaß zu vermitteln wissen. Um hier nicht missverstanden zu werden: Die Frage, welche das Weltalter-Projekt zu allererst umtreibt, ist freilich, wie die anfängliche Verkehrung selbst wieder verkehrt, wie also Ewigkeit und Zeit in die lautere Ordnung, die göttliche Gegenwart zurückgebracht werden können, sodass über der Tendenz zur Ausdifferenzierung der Zeit in ihre geschichtlichen Perioden die Perspektive der Einheit aufscheint, ohne welche – ein Problem, das bereits angesprochen wurde – »die ganze Geschichte nur ein Chaos voll Unbegreiflichkeiten« (WA I, 82) bliebe. ›Verkehrung‹ meint in diesem Sinne eine doppelte Kehrtwende, eine »fortschreitende Umkehrung der Umkehrung« (Schelling 1832/33, 256), ein »Lebenskreis« (SW IX, 62), in welchem das aus dem Realen erhobene ideale Prinzip sich das reale Prinzip schließlich vollständig Untertan macht, ja: wo es das Verhältnis von Untertan und Herrscher selbst gar nicht mehr gibt. Was in vielen Passagen der Weltaltern und zeitlich angrenzender Schriften nach einem sich in letzter Instanz mit Notwendigkeit vollziehendem Geschehen klingt, stellt sich aus Sicht der menschlichen Freiheit und ihrer Wirklichkeit aber als alles andere als ein notwendiger Prozess dar. Oft genug überwiegt bei Schelling die ernüchterte Einsicht in die Negativität des gegenwärtigen Zeitalters: »[D]ie selige Zukunft, da die Vielheit in die Einheit wiederkehrt, das Band der Zeiten mit der EwigHermeneutik zeit- und geschichtstheoretisch nicht gedeckt sieht: »Die große Frage ist, was den Willen des Geistes zur Setzung der Offenbarungsgeschichte, durch die der Geist ja auch selbst geschichtlich wird, prinzipiiert. Das Problem ist, daß diese Frage am Ende nur über die selbst wieder vom absoluten Geist prinzipiierte Zeiterfahrung des menschlichen Geistes erschlossen werden kann. […] Was Schelling zu zeigen hätte, wäre die Möglichkeit von Akten der Zeitempfindung, die sich dem Strom des sukzessiven Zeitbewußtseins entziehen. Denn erst mit dem Aufweis dieser Möglichkeit wäre überhaupt die Analogie der menschlichen Zeiterfahrung mit der ZeitSetzung des Geistes zu Ende geführt«. Die These, die die vorliegende Studie im dritten Teil zu entfalten versucht, ist, dass Schelling diese Analogie sehr wohl einzuholen weiß, und zwar dann, wenn man die Scheidung als eine Theorie entschiedener Gegenwart ausbuchstabiert.

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keit offenbar wird, steht in weiter Ferne« (WA III 1, 189). Mit anderen Worten: Die Konstruktion der höheren Geschichte erfolgt bei Schelling aus einer »Kritik der Negativität des gegenwärtigen Zeitalters«. 223 Zwar gibt es, wie die Einwände zur methodischen Durchführung der Weltalterlehre gezeigt haben, bei Schelling immer wieder die Tendenz zur Entgeschichtlichung, und das heißt: zur Ineinssetzung von individueller Erfahrung und höherer Geschichte; die doppelte Kehrtwende wäre in diesem Sinne in keiner anderen Hinsicht als der einer Selbstoffenbarung des Absoluten im Modus der geschichtlichen Aufhebung der in ihm und durch ihn gesetzten Weltalterzeiten zu verstehen. Besieht man sich die Erfahrung der menschlichen Freiheit in der Zeit aber einmal genauer an, dann zeigt sich, dass sie in sich durch eine beständige Doppelbewegung gekennzeichnet ist, eine geschichtliche Doppelerfahrung, die sich der höheren Geschichte des Absoluten nicht so ohne Weiteres einverleiben lässt, weil sie die Negativität der Gegenwart vielmehr verstärkt. Was den Standpunkt der Gegenwart auszeichnet, ist die Erfahrung zwischen den Zeiten zu leben. 224 Es gibt einen Weg von der höheren Geschichte zur geschichtlichen Wirklichkeit selbst, und zwar dann, wenn man die Erfahrung geschichtlicher Dis-/Kontinuität methodisch ins Zentrum stellt. Hier würde sich Schellings ›Zeit‹-Kritik gerade nicht mehr als Systemkritik im binnenidealistischen Sinne präsentieren, sondern als Gegenwartskritik in nuce.

8.2. Die geschichtliche Doppelerfahrung der menschlichen Freiheit Besieht man sich das Erfahrungsmuster menschlicher Freiheit bei Schelling genau, so ist sie von jeher von einer geschichtlichen Doppelerfahrung gekennzeichnet: Einerseits, so scheint es, ist der Mensch das aus dem Nichtsein erhobene Seiende, das sich über sich selbst erheben kann: In diesem Sich-über-sich-selbst-erheben-Können ist der Mensch frei von der Natur. Andererseits hingegen, so scheint es, ist der Mensch das aus dem Nichtsein erhobene Seiende, das sich zwar durchaus über sich selbst erheben kann, aber doch nicht herausVgl. dazu auch Iber 1999, 214. Das Erlebnis und die Überzeugung, in einer Zwischenzeit zu leben und zu denken, stellt Gedö 1995 nicht zuletzt im Hinblick auf Schelling exemplarisch an der Philosophie des Vormärz dar.

223 224

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kommt aus sich: In diesem Nicht-aus-sich-selbst-herauskommenKönnen ist der Mensch getrennt von Gott. Freiheit von der Natur und Trennung von Gott: das sind die beiden elementaren, einander korrespondierenden: ja komplementären Erfahrungsmuster, die den Standort der Gegenwart einerseits markieren und ihn andererseits in seiner geradezu tragischen Negativität auszeichnen. Vergeschichtlichung und Entwurzelung, Individualisierung und Vereinzelung, Ermächtigung und Ohnmacht: Noch immer wird im freien Handeln die geschichtliche Gegenwart in ihrer Negativität verstärkt. Erst wenn man dieses Erfahrungsmuster sich selbst verstärkender Negativität vor Augen hat, kann man verstehen, was es nach Schelling bedeutet, als Mensch in die Mitte gestellt zu sein, eingeschlossen zwischen den Zeiten: zwischen einer Vergangenheit, von der man sich endgültig geschieden glaubt und einer Zukunft, die man nur ewig wieder vor sich bringen kann. Im Gegensatz zu Gott hat der Mensch nicht das Vermögen die verkehrte Ordnung ihrerseits wieder zu verkehren, er muss sie dulden und durchleben. 225 Und vielleicht hat Schelling dem Erfahrungsmuster solcher Zwischenzeitlichkeit nirgends so nachdrücklich Ausdruck verliehen wie in den Stuttgarter Privatvorlesungen von 1810, kurze Zeit, bevor die erste WeltalterFassung entsteht. Zu beachten hierbei ist, dass jeweils ein ›Jetzt‹ den Auftakt bildet – ein ›Jetzt‹, das eine Gegenwart ankündigt, die aus der Mitte der Zeit heraus sich ihrer eigenen tragischen Zwischenzeitlichkeit bewusst geworden ist: »Jetzt sind zwar noch immer freie Wesen, aber getrennt von Gott. Jetzt müssen auch sie ihre Einheit suchen, und können sie nicht finden. Gott kann nicht mehr ihre Einheit seyn« (AA II,8, 146). Dergestalt sieht sich der Mensch Schelling zufolge in die Mitte gestellt, frei von der Natur, aber auch getrennt von Gott. 226 Diese »doppelte Herkunft« macht sein besonderes Schicksal aus: einer mehr oder weniger entschiedenen Gegenwart anzugehören,

225 Vgl. dazu auch Unger 2015, 162: »Sein unendlicher Anspruch führt ihn in einen endlosen Verweisungszusammenhang, der sich selbst nicht als Ganzes zu fassen bekommt und daher auch nicht überwinden kann; ihm kann keine endliche Gegenwart genügen, daher hat er auch keine Gegenwart im endlichen Dasein«. 226 Man kann darin mit Jantzen 2002, XI, eine moderne Reformulierung der antiken Einsicht in die – anthropologisch verstanden – prekäre Situation des Menschen verstehen, »der, mit Aristoteles gesagt, einerseits aufgefordert ist: athanatizein, unsterblich sein zu sollen, der aber andererseits zu der Einsicht gezwungen ist: anthropeuesthai, Mensch, sterblich sein zu müssen«.

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die ihrer inneren Form nach ›unentschieden‹ bleiben muss. 227 In dieser Mitte wächst in ihm ein Zustand der Angst, weil er dabei weder so richtig aus noch ein weiß: »Nicht aus, denn es [das Bewusstsein, P. N.] kann sich völlig dem blinden Seyn und der Äußerlichkeit überlassen, weil es den Anmuthungen des andern, des relativ geistigen Gottes nicht ganz widerstehen kann; nicht ein, denn es kann von dem Seyn, mit dem es selbst und zugleich Gott mit ihm verwachsen ist, nicht lassen, außer unter den schmerzlichen Empfindungen« (SW XII, 298). Ein Schicksal, das, wie Hartmut Rosenau notiert, Würde und Tragik zugleich ist in dem Maße, wie die »Freiheit des sich selbst entfalten Könnens« zwar ungeheuer produktiv machen kann, aber niemals aus der »ins Maßlose ausgreifenden Unbestimmtheit und damit Unwirklichkeit der Freiheit bloßer Selbstbezüglichkeit« herauskommt. 228 Wo aber, und an diesem Befund schließt sich die entscheidende Frage nach dem gegenwartskritischen Potenzial der Weltalterlehre an, die verlorengegangene Einheit nicht wiedergefunden werden und Gott schon gar nicht mehr als Garant für die ursprüngliche Einheit gelten kann, da sind Prekarität und Temporalität Begleitumstände einer Zeit, die sich nicht von sich selbst befreien und in ein Verhältnis zu sich selbst, das heißt: zu ihrem eigenen ›Zeitkern‹ treten können; es sind Umstände einer Zeit, die sich beständig auf der ›Schwelle‹ befinden und dabei weder so richtig vor der Schwelle stehenbleiben, das heißt: in die Vergangenheit zurückkehren, noch so richtig über die Schwelle hinaustreten, das heißt: in die Zukunft vordringen können. 229 Auch Hegels Philosophie legt von dieser Schwellensituation, der Unsicherheit und Gefahr der nachrevolutionären, napoleonischen Zeit, ein beredtes Zeugnis ab. Die Entzweiung mit sich und der geschichtlich überlieferten Tradition ist für ihn die Grundverfassung der modernen Zeit. »Von dem Leiden an ihr geht seine Philosophie aus; in der Entzweiung entspringt ihr Bedürfnis«, Müller-Lüneschloß 2012, 217. Rosenau 2002, 65. 229 In eben diesem Sinne – als Figur des Widerspruchs und der Ambiguität – firmiert die Schwelle als Schlüsselmetapher bei dem schon ins Spiel gebrachten Derrida. Vgl. dazu Saul 1999. Zur Schwellenmetaphorik gesellt sich bei Schelling noch die Metaphorik des Schleiers: Den »Schleyer« (WA III 1, 187) des Urwesens, so zitiert Schelling die alte Isis-Legende, habe noch kein Sterblicher aufgehoben. Inwiefern es sich bei ›Schwelle‹ und ›Schleier‹ um komplementäre Gegenfiguren handeln könnte, beleuchten Assmann/Assmann 1997. 227 228

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so bringt Joachim Ritter in seiner einflussreichen Hegel-Interpretation den systematischen Zusammenhang von Hegels Zeitdiagnose und seinem philosophischen Interesse auf den Punkt. 230 Philosophie, so wird vor dem Hintergrund dieses Modernebegriffs deutlich, geht aus der Konfrontation mit der eigenen, mit sich entzweiten Gegenwart hervor: Sie entfaltet sich negativ dialektisch. Nicht von ungefähr schließt Hegel seine Vorlesung über die spekulative Philosophie im denkwürdigen Jenaer Sommersemester 1806 – im Oktober besiegen die napoleonischen Truppen die preußische Armee bei Jena und Auerstedt – dann auch mit den berühmten Worten, man wäre in einer »wichtigen Zeitepoche«, einer »Gärung«, der Geist habe einen »Ruck« getan, über seine vorige Gestalt hinaus, und sei nun im Begriff eine neue zu gewinnen: »Die ganze Masse der bisherigen Vorstellungen, Begriffe, die Bande der Welt, sind aufgelöst und fallen wie ein Traumbild in sich zusammen. Es bereitet sich ein neuer Hervorgang des Geistes« (SuE, GW 5, 474 f.). 231 Der Struktur nach korrespondiert der philosophische Begriff einer Zwischen- bzw. Schwellenzeit dem geschichtswissenschaftlichen Begriff der ›Sattelzeit‹, wie er von Reinhart Koselleck in die Zeit- und Geschichtsforschung eingeführt wurde. 232 In der Zeit von 1750 bis 1850, so konstatiert bekanntlich Koselleck, »reißt die Kluft zwischen bisheriger Erfahrung und kommender Erwartung auf, die Differenz zwischen Vergangenheit und Zukunft wächst, sodass die erlebte Zeit als Bruch, als Übergangszeit erfahren wird, in der immer wieder Neues und Unerwartbares zutage tritt«. 233 Zwar beansprucht Koselleck Ritter 1957, 45. Hegel situiert die Phänomenologie des Geistes als Ganze in einer ›Zwischenzeit‹: »Es ist übrigens nicht schwer zu sehen, daß unsre Zeit eine Zeit der Geburt und des Uebergangs zu einer neuen Periode ist. Der Geist hat mit der bisherigen Welt seines Daseyns und Vorstellens gebrochen, und steht im Begriffe, es in die Vergangenheit hinab zu versenken, und in der Arbeit seiner Umgestaltung. Zwar ist er nie in Ruhe, sondern in immer fortschreitender Bewegung begriffen. Aber wie beym Kinde nach langer stiller Ernährung der erste Athemzug jene Allmähligkeit des nur vermehrenden Fortgangs abbricht, – ein qualitativer Sprung – und itzt das Kind gebohren ist, so reifft der sich bildende Geist langsam und stille der neuen Gestalt entgegen, lößt ein Theilgen des Baues seiner vorhergehenden Welt nach dem andern auf, ihr Wanken wird nur durch einzelne Symptome angedeutet; der Leichtsinn wie die Langeweile, die im Bestehenden einreissen, die unbestimmte Ahnung eines Unbekannten sind Vorboten, daß etwas Anderes im Anzuge ist« (Phän., GW 9, 14). 232 Vgl. Koselleck 1972, XV. 233 Koselleck 1989, 336. 230 231

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selbst keine philosophische Theorie für den Begriff der Sattelzeit, die Verwandtschaft mit Schellings Konzeption einer Pluralität geschichtlicher Zeiten ist aber kaum zu übersehen, auch und vor allem deshalb, weil Schelling die ›Zwischenzeit‹ sowenig wie Koselleck als Epochenbegriff, sondern als geschichtlichen Erfahrungsbegriff versteht, wobei die ›Schwelle‹ sich hier in topologisch umgekehrter Richtung vielmehr als Hiatus herausstellt, als unüberwindbare Kluft, als Erfahrung eines tiefgreifenden historischen Umbruchs. Schelling kommt immer wieder auf diese Umbruchserfahrung zu sprechen, in der das Neue sich ankündigt, aber hinter den Erwartungen eines wirklich Neuen noch zurückbleibt: »Unleugbar geht ein großes Sehnen durch die Zeit. – Das Alte ist vergangen und kann, wie es war, nicht wieder hergestellt werden! Aber sollen wir darum jenen neuerungssüchtigen Reden nachgehen« (Schelling 1841/42, 97). 234 Die unauflösbare Dialektik der geschichtlichen Doppelerfahrung besteht Schelling zufolge darin, dass die menschliche Vernunft eine unwiderrufliche Depotenzierung erfährt, eine Abwertung ihrer für uneingeschränkt gültig gehaltenen Macht, die in der Umkehr aber den Blick auf ein Selbst freigibt, das sich zu dieser Negativitätserfahrung verhalten muss, woraus natürlich die Frage ensteht, wie sie das tut, welche Mittel und Wege ihr in dieser ›Zwischenzeit‹ zur Verfügung stehen. Eine erste Antwort darauf könnte lauten, dass sie am Ende überhaupt nur in der Weise auf die unwiderrufliche Depotenzierung ihrer selbst reagieren kann, indem sie noch radikaler sich vergeschichtlicht als zuvor, indem sie selbst sich in ein noch radikal endliches Verhältnis zu sich selber bringt, eine Bewegung, die allerdings ebenso gut umschlagen kann, in jene Neuerungssucht, ja jene Aktualitätsvergessenheit, die Schelling an den ›neuen‹ Zeiten gerade kritisieren möchte. Man könnte im Anschluss an die Depotenzierungsfigur im Doppelgeschehen der Freiheit versucht sein, Schellings Zeitphilosophie geschichtstheologisch zu deuten. Die erste, christologische ›Umkehr‹, die Zuwendung oder Herablassung Gottes, geschieht und kann nur geschehen im Hinblick auf eine zweite, soteriologische ›Umkehr‹, der ›Rückkehr‹ des Menschen zu Gott. Eine ›Rückkehr‹, die christlich nur als Erlösung durch die göttliche Gnade zu denken wäre und die ›Einkehr‹ in eine Zeit bedeutete, in der »zwischen der Welt des Ge234 Auch für die Destruktion der naturalen Chronologie, die Deutung der Geschichte als Konflikt, ja für die grundlegende Pluralität verschiedener Zeiten hätte Koselleck bei Schelling Anleihen machen können. Vgl. dazu Koselleck 2015b, 302 ff.

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dankens und der Welt der Wirklichkeit kein Unterschied mehr seyn« wird: »Es wird Eine Welt seyn, und der Friede des goldenen Zeitalters zuerst in der einträchtigen Verbindung aller Wissenschaften sich verkünden« (WA II, 118). 235 Schellings Weltalterphilosophie wäre dieser Lesart zufolge nicht zuerst deshalb christlich zu nennen, weil sie die Geschichte des Absoluten als die Geschichte eines sich offenbarenden Gottes erzählt, sondern weil der christliche Philosoph, der Schelling zweifellos ist, einerseits um das Gewordensein der Welt weiß, andererseits aber auch um die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen, das Verlangen nach einer Befreiung von der in sich verkehrten Freiheit, die sich partout nicht wieder zurechtrücken lassen will. 236 Eine Erlösung, die dem Menschen aber nicht hier, in dieser Welt, zuteil werden, sondern nur von einem ganz Anderen her widerfährt, das seiner Verfügungsgewalt nicht untersteht: eine christliche Utopie. 237 Willigte man in diese Interpretation ein, so würde das Hier und Jetzt der geschichtlichen Gegenwart sich jedoch wieder auflösen, die Zwischenzeitlichkeit der Zeit der Gegenwart, sie würde blass im Angesicht der eschatologischen Erwartung einer kommenden Zeit, einer »großen und langdauernden Entwicklung«, wie sie die Spätphilosophie dann auch tatsächlich in Gestalt einer »philosophische[n] Religion« (SW XI, 255) projektiert. 238 Es wäre das Warten auf eine letzte Krisis, die Hoffnung auf eine Wende der Zeit, das Versprechen einer ›absoluten Epochenerfahrung‹, denn »für das, was zukünftig ist, ist in unserer bisherigen Erfahrung nichts Analoges, […] und so gibt es Vgl. dazu eine Passage aus der Philosophie der Mythologie, deren Anzeige auch für die Weltalter in Anspruch genommen werden kann: »Der Idealismus gehört ganz der neuen Welt an, und braucht es kleinen Hehl zu haben, daß ihm das Christenthum die zuvor verschlossene Pforte aufgethan. […] Das Christenthum hat uns von dieser Welt befreit, daß wir sie nicht mehr ansehen als etwas uns unbedingt Entgegenstehendes und wovon keine Erlösung wäre, daß sie uns nicht mehr ein Seyn, sondern nur ein Zustand ist« (SW XI, 467). Vgl. dazu auch die christologische Interpretation der Weltalterphilosophie von Fuhrmans 1954. 236 Vgl. dazu Rosenau 1985. 237 Vgl. dazu Simon 2014, 212 ff. 238 Iber 1999, 249, weist auf den paradoxen Befund hin, dass gerade durch die Tendenz der späten Schriften, allein in der Offenbarung die Frage nach dem Sinn und Grund der Welt beantwortet zu finden, die Intention der Spätphilosophie, die Negativität der Welt zu überwinden und die Vernunft vom mythischen Zwang zu befreien, in ihr radikales Gegenteil verkehrt werde: »Angetreten mit der Intention, die Vernunft durch ihre Entlastung in Richtung auf Religion aus der mundanen Negativität zu sich zu befreien, vollendet sich die Spätphilosophie in der Selbstaufhebung der philosophischen Vernunft in Religion«. 235

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auch im Gebiet der Zeiten Entfernungen, die wir zwar bemessen, deren Begebenheiten wir aber nicht sehen können« (Schelling 1841/42, 602). 239 Was immer auch an geschichtsphilosophischen Impulsen von den Weltaltern ausging, die geschichtliche Entwicklung, die sie beschreiben, verliefe am Leitfaden eines Prinzips, durch welches geschichtliche Ereignisse auf einen letzten Sinn bezogen würden. Man kann aber auch versucht sein, und damit soll eine alternative Lesart vorgeschlagen werden, die Ohnmachtserfahrung der Trennung von Gott ›positiv‹ zu deuten, ganz im Schelling’schen Sinne einer Freiheit von Gott. Dies wäre zwar immer noch eine einigermaßen gesättigte christliche Lesart, zugegeben, ohne diese geht es bei Schelling meist auch gar nicht, aber immerhin wäre es keine, die aus einer religiösen Einstellung heraus auf eine wie auch immer zu projektierende Erlösung setzt und die menschliche Geschichte aus einer von außen hereinbrechenden Theonomie begreift, die alles am Ende richtete. Es wäre zunächst nichts anderes als der Versuch, in einer profanisierten, sinnentleerten Welt die geschichtsanthropologische Frage nach der Stellung des Menschen in seiner eigenen Gegenwart zu stellen. 240 Die Freiheit des Menschen von Gott wäre dabei nicht absolut zu verstehen. Zwar impliziert die Freiheit von Gott zunächst eine Absolutsetzung der menschlichen Freiheit, gleichzeitig bleibt sie aber, und zwar weil sie aus der Erfahrung der Trennung von Gott hervorgegangen ist, relativ auf diesen. Der menschliche Wille hat eine vom Absoluten selbst »unabhängige Wurzel«, »kraft deren er zu beidem fähig ist, sich in Liebe ihm zu, oder in Verschlossenheit von ihm abzuwenden«, gerade dadurch steht er aber auch in einem »freien und unmittelbaren Bezug zu Gott« (SW VIII, 82). In diesem Sinne kann eine anthropologische Lektüre der Weltalter auch nicht Vgl. dazu Gadamer 1965, 138. Die hier wiederum nur schlaglichtartig aufgerufene Parallele zu Max Scheler verdiente einer eingehenderen Betrachtung. Dies kann im vorliegenden Rahmen nicht geschehen. Dass es aber auch Scheler um die geschichtliche Stellung des Menschen jenseits von vereinseitigendem Theismus und Pantheismus ging, betont beispielsweise Heidegger im Nachruf auf diesen: »Erneut trat ins Zentrum seiner [Plessners, P. N.] Arbeit die Frage, was der Mensch sei – diese Frage wieder gestellt im Ganzen der Philosophie, im Sinne der Aristotelischen Theologie. Ungeheuer kühn gesehen die Idee vom schwachen Gott, der nicht Gott sein kann ohne den Menschen, so daß der Mensch selbst gedacht wird als ›Miterwirker Gottes‹. Dies alles blieb weit entfernt von einem platten Theismus oder verschwommenen Pantheismus. Schelers Plan ging auf die philosophische Anthropologie, eine Herausarbeitung der Sonderstellung des Menschen« (Heidegger 1928, 63). 239 240

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darauf aus sein, die onto-theologische Dimension der Argumentation einfach abzuschneiden. Dadurch würde man Schelling nicht gerecht werden. Gleichwohl macht es einen Unterschied, aus welcher Perspektive man auf eben jenen onto-theologischen Sinngehalt blickt: aus einer metaphysischen, zeitenthobenen oder aus einer anthropologischen Perspektive, die den Fragen der eigenen Gegenwart verpflichtet bleibt. Schellings Wende zur menschlichen Freiheit geht einher mit einer grundlegenden Kritik am idealistischen Denken seiner Zeit, insbesondere am progressus in infinitum der Geschichte. 241 Schelling argumentiert zwar nicht – noch nicht, möchte man mit Blick auf die philosophischen Entwicklung im neunzehnten Jahrhundert sagen – anthropologisch, aber die anthropologischen, an der konkreten menschlichen Praxis geschulten Reflexionen, die sich in den Weltaltern zweifellos auffinden lassen, bilden die Basis, auf der sich das spekulativ-metaphysische Denken in seiner geschichtsphilosophischen Spielart in der Folge überhaupt erst herausbildet. Die lebendige Praxis bildet den Fluchtpunkt, auf den hin sich die Weltalterreflexionen auslegen. Dementsprechend gilt es einen Buchtitel von Hans Michael Baumgartner beim Wort zu nehmen und zumindest auf Kritik-Ebene konsequent zu Ende zu denken: Vernunft befindet sich »im Übergang zu Geschichte« und Zeit immer schon ›im Übergang‹ zu den vielen kleinen Geschichten, die gerade in ihrer oft verworrenen Vielgestaltigkeit den Blick auf die Pluriformität menschlicher Praxis freigeben. Schellings Antwort auf die Kritik Jacobis, er würde die Vernunft und Gott anthropomorphisieren, gibt ein beredtes Zeugnis von dem Preis, den Schelling für sein Anliegen zu zahlen bereit war: Wenn Geschichte nicht menschlich zu verstehen wäre, lautet eines der Credo, wäre sie gar nicht zu verstehen. 242

Vgl. dazu Marquard 1973, 227, der diese beiden Bestandteile – Hinwendung zur Lebenswelt und geschichtsphilosophische Skepsis – in begriffsgeschichtlicher Hinsicht gerade als grundlegend für die Anthropologie ausweist und Schelling neben Kant einen herausragenden Platz in der Herausbildung dieser Problemstellung einräumt. Gleichwohl, so betont Marquard, habe Schelling keine ausgearbeitete Anthropologie aufzuweisen, vielmehr bleibe er weitgehend dem theologisch inspirierten Identitätsdenken verhaftet. 242 Vgl. dazu Hennigfeld 1991, 49. 241

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Der ›Zeitkern‹ der Weltalterlehre

8.3. Der personale Sinn von Zeit Zeit ist in erster Linie menschliche Zeit. Letztlich hängt bei Schelling alles von dieser Blickrichtungsverschiebung ab: Durch sie erst wird eine Differenz im Absoluten gesetzt, bekommt die menschliche Lebenszeit einen gegenüber der Zeit Gottes eigenen Vollzugsbereich. Ontotheologie und Anthropologie treten so in ein Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit, wobei ersteres zwar durchaus die geltungstheoretische Grundlage für letzteres abgibt, letzteres aber im Grunde die eigentliche Vollzugsbasis bildet, durch die ersteres überhaupt in den Blick kommt. Auch hier greift wieder die Dialogik von Superiorität und Priorität, sodass sich kein eindeutiges Primat des einen oder anderen ausmachen lässt. Die Theogonie, die Schelling beschreibt, ist immer schon Anthropogonie et vice versa. 243 Auch Markus Gabriel gelangt in diesem Sinne zu dem Urteil, dass Anthropologie und Ontotheologie aufeinander verwiesen, ohne daß sich eindeutig sagen ließe, wo Schelling ansetze, da er weder eine rein ontotheologische Begründung der Anthropologie noch eine rein anthropologische Begründung der Ontotheologie vorlege: »Mensch und Sein sind zwei Ansichten ein und desselben Problems«. 244 Aus eben diesem Grund darf die Zeitlichkeit der menschlichen Erfahrung nicht entgeschichtlicht werden. Die universelle Zwischenstellung des Menschen taucht bei Schelling im Grunde schon in der Freiheitsschrift auf, und zwar in der Dialektik zwischen Universalwillen und Eigenwillen, die Schelling nach dem Modell von Zentrum und Peripherie konzipiert. Der Eigenwille hat Schelling zufolge die Besonderheit an sich, dass er sich vom (moralischen) Zentrum lossagen und in die (moralische) Peripherie streben kann; er kann streben, »das, was er nur in der Identität mit dem Universalwillen ist, als Partikularwille zu sein« (AA I,17, 135). Jene Einheit, die in Gott unauflöslich ist, wird im Eigenwillen des Menschen auf einmal ›löslich‹. Der Eigenwille, so sagt Schelling, strebt danach, »den Grund über die Ursache zu erheben, den Geist, den er nur für das Centrum erhalten, außer demselben und gegen die Kreatur zu gebrauchen, woraus Zurüttung in ihm selbst und außer ihm folgt« (AA I,17, 136). 245 Im Unterschied zu Gott bleibt der 243 244 245

Vgl. dazu Hogrebe 2007. Gabriel 2006, 35. Zur Denkfigur der positiven Verkehrtheit vgl. Oesterreich 1995.

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Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs

Mensch damit in seinem Streben auf einen uneinholbaren Grund seiner Existenz bezogen. So weit der Eigenwille sich in seinem Streben aber auch vom Zentrum entfernt: Das Band zwischen Menschen und Gott kann Schelling zufolge zwar immer schwächer werden, zerreißen aber kann es nicht, und zwar deshalb nicht, weil der Eigenwille die Möglichkeit zur Dezentrierung nur dadurch erhalten hat, dass er im Anfang in der Einheit mit dem Universalwillen war, und erst aus dieser internen Dualität heraus zur Selbstheit, die als Geist frei ist, sich zum Guten oder zum Bösen zu entscheiden, erhoben wurde. Selbst im Bösen, im eigenen, aber ›falschen‹ Leben, wie Schelling sagt, im »Leben der Lüge« besteht das »erste Band der Kräfte, der Grund der Natur« (AA I,17, 136) immer noch fort. Der Mensch bleibt ungeachtet seines in die Peripherie driftenden Partikularwillens ein ›Central‹-Wesen: einerseits frei, seinem bloßen Partikularwillen zu folgen, andererseits aber auch frei, diese Form der positiven Verkehrtheit ihrerseits wieder zu verkehren. Damit bleibt er in der Getrenntheit von Gott durch die Möglichkeit der »Wiederherstellung der Peripherie zum Centro« (AA I,17, 136) zugleich auf diesen bezogen: Er ist frei, sich ›in Liebe‹ für ihn zu entscheiden, oder aber, wie es oft genug tragischerweise der Fall ist, sich ›in Verschlossenheit‹ von ihm abzuwenden. Ebenso wie die Freiheitsschrift anthropomorphistisch argumentiert, indem sie die menschliche Freiheit thematisch, methodisch und systemarchitektonisch ins Zentrum stellt, gibt es auch in den Weltaltern ein tragendes anthropologisches Fundament, indem der göttliche Entscheidungsprozess sich nur nach Analogie mit der menschlichen Zeiterfahrung verstehen lässt. 246 Dass der ›wirkliche‹ Anfang der Zeit nicht aufhören kann, Anfang zu sein, bedeutet aus anthro246 Anthropomorphismus ist nicht mit Anthropozentrismus zu verwechseln: Denn paradoxerweise führt der Anthropomorphismus bei Schelling gerade dazu, einen Anthropozentrismus in Gestalt eines gelebten Präsentismus zu überwinden. Der Anthropomorphismus eröffnet den Blick auf eine andere Zeit als die, in welcher der Mensch ›zunächst und zumeist‹ lebt. Vgl. dazu insbesondere Oesterreich 2002, 27; Hennigfeld 1991, 49. Hennigfeld widerspricht sogar ausdrücklich der einschlägigen Interpretation von Michael Theunissen, in zwei Hinsichten: Zum einen schränkt er den anthropologischen Ansatz nicht nur auf die Freiheitsschrift ein, was im Angesicht der Analytik menschlicher Zeiterfahrung in den Weltaltern geradezu geboten erscheint; zum anderen bestreitet er auch, dass Schelling seinen anthropologischen Ansatz unter Verweis auf die Absolutsetzung der menschlichen Freiheit letztlich wieder preisgebe. Zur Kritik an Theunissen vgl. auch van Zantwijk 2000a, 169–177. Zum anthropologischen Ansatz vgl. Theunissen 1965, 174 f.

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pologischer Sicht, dass der tiefengeschichtliche Zustand der Einheit nur immer wieder im Medium der epochengeschichtlichen Zäsur verwirklicht werden kann. Spätestens hier melden sich also Zweifel an, ob der »anthropologische Ansatz«, den Michael Theunissen für die Freiheitsschrift reklamiert, aber nur auf diese Abhandlung angewendet wissen möchte, nicht doch weiter reicht. Zwar sagt Theunissen ausdrücklich, dass auch die späteren Schriften die Anthropologie der Freiheitsschrift »in wesentlichen Stücken« aufnähmen, doch kann die einschränkende Behauptung, dass diese »nicht mehr grundsätzlich vom Menschen« ausgehen, dahingehend zurückgewiesen werden, dass sowohl in den Privatvorlesungen als auch in den Weltaltern die Zwischenstellung des Menschen dergestalt konzipiert wird, dass sie im eigentlichen Sinne quer zur geschichtlichen Selbstauslegung des Absoluten steht. Insofern sollte man beide Schriften – im Sinne Theunissens, der diese Unterscheidung einführt – auch nicht als »anthropologisch relevante«, sondern als »anthropologisch ansetzende […]« Systementwürfe behandeln. 247 Man könnte sogar so weit gehen zu behaupten, dass, was in der Freiheitsschrift bloß als Ansatz vorhanden sei, im Verlauf der Überlegungen aber von Schelling wieder Schritt für Schritt preisgegeben werde, in den Systementwürfen von 1810 und 1811 erstmals eine systematische Gestalt im Sinne einer ›impliziten‹ Anthropologie gewinnt. In diesem Punkt unterscheidet sich die präsentierte Weltalter-Interpretation im Übrigen auch von derjenigen Axel Hutters. Hutter macht unter Verweis auf Wieland und Habermas deutlich, dass die Deutung der Geschichte als »geschichtliche Existenz des Menschen« in den Weltaltern daran scheitere, dass »individuelle Erfahrung« und »kosmische Geschichte« ineinsgesetzt würden. 248 Aus Sicht der vorliegenden Studie lässt sich die Rede von der »geschichtlichen Existenz des Menschen« aber insofern verteidigen, als Schelling gerade um willen des ontotheologischen Ansatzes die unaufhebbare Differenz der menschlichen Zeiterfahrung zum methodischen Leitfaden seiner Zeitanalyse macht und ihr dadurch architektonisches Gewicht verleiht. Der Zustand der Zwischenzeitlichkeit, das ›Hineingehaltensein in die Geschichte‹ wird von Schelling aus individualgeschichtlicher Perspektive begründet; 247 Eine solche ›impliziten‹ Anthropologie aus den Schriften des mittleren herauszupräpariern, versuchen die Beiträge von Jochem Hennigfeld, Peter L. Oesterreich und Hartmut Rosenau im Sammelband Jantzen/Oesterreich 2002. 248 Vgl. Hutter 1996, 121.

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Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs

anders wäre auch gar nicht zu verstehen, dass bereits das Absolute in sich differenziert ist: Wer die Zeit auch nur nimmt, wie sie sich darstellt, fühlt in ihr einen Widerstreit zweyer Principien; eines das vorwärts strebt, zur Entwicklung treibt und eines anhaltenden, hemmenden, der Entwicklung widerstrebenden. Leistete dieses andere nicht Widerstand, so wäre keine Zeit, weil die Entwicklung im Nu, ohne Absatz und Folge geschähe; würde aber aber auch nicht dieses andere beständig von dem ersten überwunden, so wäre absolute Ruhe, Tod, Stillstand und darum wieder keine Zeit. Denken wir uns nun aber diese beyden Principien in einem und demselben Wesen gleichwirkend, so haben wir sogleich den Widerspruch fertig. Sie sind aber nothwendig zu denken in allem was ist, ja im Seyn selber. (WA II, 122)

Gesteht man dem individualgeschichtlichen Zeitdenken eine Berechtigung zu, dann ist der Punkt gekommen, an dem es zu fragen gilt, ob Schellings Weltalterlehre nicht in dem Maße fruchtbar gemacht werden kann, wie sie auf diese Positionalität – die Freiheit von der Natur und von Gott – im Begriff der Person methodisch zu reflektieren sucht. Der Einzelne als eine geschichtliche Person steht im wahrsten Sinne des Wortes an einem »Scheidepunkt«, an einem Punkt also, an dem er immer wieder »aus seiner Unentschiedenheit heraustreten« muss, um jemand zu sein, um nicht zu sagen: »dieser und kein anderer« (AA I,17, 156). 249 Die menschliche Freiheit führt so gesehen nicht aus der Gegenwart heraus in eine Zeit, die über aller Zeit wäre, sie führt vielmehr in die Gegenwart hinein, und zwar in eine Zeit der Gegenwart, die von den Personen, die sie handelnd hervorbringen, zwar durchaus als »precär und temporär« (AA II,8, 146) erfahren wird, in der es für den Einzelnen aber auf einmal auch möglich wird, »der Gattung vorauszueilen und das Höchste für sich zum voraus zu nehmen«, was auch immer dabei das »Schicksal der Gattung auf der Erde seyn möge« (AA II,8, 154). Und er, der Einzelne, tut dies, indem er qua eigenzeitlicher Person, die er ist, in der geschichtlichen Tiefe auf die Dimension eines universalen Lebenszusammenhangs stößt, der mit der oberflächlich herrschenden Struktur in ihrer selbst zum Mythos geronnenen Form bricht, sodass die Gegenwart verglichen mit anderen, früheren Epochen durchaus im Fortschritt begriffen sein kann, wie die folgende Stelle aus der dritten Weltalter-Fassung belegt: 249

Vgl. Sandkaulen 2004a, 50.

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Nothwendig ist, so oft das Leben in eine neue Epoche tritt, daß es wieder einen Anfang mache, wo denn unvermeidlich ist, daß dieser Anfang oder diese erste Stufe der neuen Epoche gegen die letzte und höchste der vorhergegangenen als ein Rückschritt erscheine: Potenz mit Potenz verglichen steht die folgende tiefer als die vorhergehende, weil diese in ihrer Zeit nothwendig eine höhere Potenz als jene in der ihren; aber Zeit mit Zeit, Epoche mit Epoche verglichen steht jene entschieden höher. Solche scheinbare Rückgänge sind also in der Geschichte des Lebens nothwendig. (SW VIII, 313)

Wie man sieht, geht es Schelling im Wesentlichen darum, dass individuelle Zeit und höhere Geschichte im personalen Handeln auf wunderbare Weise ineinander greifen. Es gilt, »daß die tiefsten und innersten Vorgänge des menschlichen Lebens dieselben sind mit denen des allgemeinen Lebens« (Schelling 2002, 167). Aber es ist keineswegs so, dass sich Schellings Begriff von Zeit und Geschichte ausschließlich am Begriff der Offenbarung Gottes als einer »Seinswerdung seiner Fülle« orientiert. 250 Vielmehr zeigen die Überlegungen zur universellen Zwischenstellung des Menschen und seiner geschichtlichen Positionalität als Person an, dass der »Geschichte des Lebens« von jeher Grenzen gesetzt sind, Grenzen, durch die sie eine gegenüber der höheren Geschichte eigene Zeit bekommt, eine Zeit, die man im Fluchtpunkt der vorliegenden Untersuchung als personale Eigenzeit bezeichnen könnte. Die Zeit der Person erwächst dabei, wie Hans Michael Baumgartner in unverkennbarem Anschluss an Schelling deutlich macht, aus der »Erfahrung des Sich-entscheidenMüssens und des faktischen Sich-Entscheidens«. 251 Und diese Erfahrung bringt für den Menschen als sittliche Person eine Perspektive der Bedeutsamkeit von Vergangenem und Zukünftigen mit sich, die jenseits der Geschichte des Absoluten verbleibt, weil sie sich diesseits, in der Gegenwart selbst verortet. Die in sich verkehrte Gegenwart kann der Mensch nicht aufheben, und zwar deshalb nicht, weil er selbst nichts anderes als das Anarbeiten gegen die ›Verkehrung‹ ist. Und es spricht vorderhand nichts dagegen, warum man eine so verstandene ›verkehrte‹ Gegenwart nicht auch diesseits ihrer letztzeitlichen, nur eschatologisch zu denkenden Erfüllung belassen sollte. 252 Anders hingegen Fuhrmans 1954, 301 f. Baumgartner 1994, 194. 252 Der Einspruch ist hier ähnlich gelagert wie die Kritik, die Henrich gegen Theunissen vorbringt, dessen ›Negative Theologie der Zeit‹ Schellings Weltalterphilosophie zu ihren Voraussetzungen zählt. Auf der Suche nach Alternativen zum eschato250 251

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Nicht die finale Offenbarung des Absoluten, die Entscheidung, die von Person gefällt oder unterlassen wird, bildet in dieser Hinsicht den Motor von Geschichte. Folgt man dieser handlungstheoretischen Option, dann ist die Zeit, durchaus als etwas ›reales‹ zu verstehen, und zwar als praktischer Konflikt, der sich nicht in einer wie auch immer zu konzipierenden höheren Geschichte aufheben lässt, sondern sich dem Dasein in seinem je aktualen Handlungsvollzug phänomenal entgegenstellt und auch nur dort, im praktischen Handlungsvollzug überwunden, das heißt: in der zunächst je individuell zu verwirklichenden Geschichte als vergangen gesetzt werden kann. In den Weltaltern versucht Schelling auf den sich perpetuierenden praktischen Konflikt nicht zuletzt dadurch aufmerksam zu machen, dass er die phänomenale Evidenz der Zeit für sich sprechen lässt. 253 Auf diese Weise soll jenen philosophischen Gegner das Wort abgeschnitten werden, welche die Zeit für etwas ›irreales‹ halten. Es sei, so heißt es hier, gewiss nicht ohne Ironie, »daß die, welche es zur Sitte gemacht, von der Zeit geringfügig zu urtheilen, u. sie zur bloßen Form unsrer Vorstellungen anzusehen, so heftig die Zeit anklagen müssen, zum Beweis, wie furchtbar sie ihre Realität empfunden« (WA III 3, 203). Mag die Geschichte für Gott einen sich in der und die Geschichte hindurch entfaltenden Sinn haben, für den Menschen stellt sich Geschichte als ein immer wieder zu überwindender Widerspruch dar, ein Konflikt, der einerseits zwar die Entwicklung vorantreibt, der andererseits aber auch immer erst retrospektiv, im Nachhinein, wenn sich seine Form schon wieder verändert hat, in seinen Sinnstrukturen erschlossen

logischen Zeitdenken Theunissens heißt es bei Henrich, der im Übrigen bereit ist, die Tiefenanalyse der Zeit als kritisches Instrument von Theunissen zu übernehmen: »Ich denke, daß doch alles dafür spricht, die Bahn des Zeitdenkens nicht so zu fixieren, daß den Menschen angesonnen werden muß, ihr gesamtes Dasein in eine Zukunftserwartung zu konzentrieren, deren Erfüllung ein Leben nach dem Tode voraussetzt und die schon deshalb für sie niemals schlechthin gewiß werden kann. Die Erwartung könnte beruhigter aus einer Gegenwart des Lebens und der in ihr gelegenen Gewißheit hervorgehen, die auch von Erfahrungen bestimmt ist, welche nicht in einer letzten Analyse vor dem Bild wahrhafter Erfüllung als eitel und nur notbeladen abzuwerten sind« (ders. 2002, 39). 253 Auf welche Weise Wiederholungsstrukturen als Voraussetzung für Einmaligkeit zu gelten haben et vice versa, hat Koselleck in seinen Studien zur Historik immer wieder unterstrichen Vgl. dazu ders. 2006.

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werden kann. 254 In dieser grundsätzlichen Offenheit geschichtlicher Gegenwart erfüllt sich der personale Sinn von Zeit. Betont man dementsprechend mit Schelling das Moment des Widerstreits der Zeiten und lenkt den Fokus von der Form des Mitwissens auf die Form des personalen Miterlebens, das heißt: verliert man die spezifisch geschichtliche Positionalität des Menschen, welche sich immer auch darin ausspricht, dass Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges »nicht im gleichen Verhältnis« (WA III 1, 189) zur menschlichen Einsicht stehen kann, verliert man diese, seine Zwischenstellung also nicht aus dem Blick, dann öffnet sich ein Feld für systematische Überlegungen, die sinnvollerweise nach dem Status solcher Zeiterfahrungen fragen können, die in ihrem Verweis auf eine geschichtliche Tiefendimension der Zeit immer auch eine ganz konkrete »Geschichte des Lebens« meinen. 255 Sie sprechen diese ganz konkrete, auf ein jeweiliges Individuum zu beziehende Geschichte an, weil sie vom Vergangenen immer nur in der Weise der Erzählung ›wissen‹, das Gegenwärtige immer nur in der Weise des Konflikts ›erkennen‹ und das Zukünftige immer nur in der Weise des Handelns ›hervorbringen‹ können. 256 Hält man auf der Folie dieser Überlegungen am Projekt einer Zeit der Person in Schellings Weltalterphilosophie fest, so wären deren Konturen im Ausgang von einer handlungsund erzählungsbasierten Geschichtszeit zu gewinnen, die spürbar aus der Mitte der Zeit heraus Zeit in ihre zeitlichen Dimensionen auseinandertreibt. Mitten in der Zeit aber liegt unsere eigene geschichtliche Gegenwart in all ihrer Konfliktualität. Mag der primäre Grund für Schellings Kant-Kritik auch darin liegen, dass sich die transzen254 Vgl. dazu Hutter 2003, 120 f.: »Menschliche Freiheit ist somit wesentlich eine Überwindung des Unvordenklichen; eine Überwindung freilich, die das Überwundene festhält, da es zum Grund der konkreten Existenz von Freiheit wird«. 255 Ein ›Mitwissen‹, von dem Schelling in der Grundlegung der positiven Philosophie sagt, dass es den Menschen aus der Sicht Gottes zum »Mitwisser seines Weges und aller seiner Taten« (Schelling 1832/33, 469) mache. Vgl. dazu auch Shestakova 2012, 80 f. 256 Vgl. dazu auch die Eröffnungsformel der Weltalter, die sich in allen drei Entwürfen durchhält und schon im Frühesten Conzeptblatt auftaucht: »Das Vergangene wird gewußt, das Gegenwärtige wird erkannt, das Zukünftige wird geahndet. Das Gewußte wird erzählt, das Erkannte wird dargestellt, das Geahndete wird geweissagt« (WA III 1, 189). Auch das dem Frühesten Conzeptblatt vorangestellte Motiv der verschleierten Isis im Tempel zu Sais verweist auf die spezifische Positionalität des Menschen, seine Zeitgebundenheit und die damit einhergehende Unergründlichkeit des Absoluten als eines ›Systems von Zeiten‹.

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dentale Zeitlehre in die unauflösbare Aporie des ersten Anfangs verstrickt, aus der sie die genealogische Zeitlehre gerade zu befreien versucht, so kann die Stoßrichtung der Kritik gleichwohl auch dahin verschoben werden, dass die mit dem »Kantianismus« einhergehende lineare, chronologische Zeitauffassung den allerbasalsten Zeiterfahrungen wiederspricht, die für eine Person in ihrem Handeln und Leben überhaupt von Bedeutung sein können. Verfolgt man diese Stoßrichtung weiter, so käme nicht mehr die traditionelle, die metaphysische Frage, ob und auf welche Weise das Absolute aus sich herausgegangen ist, in den Blick, sondern die konkret praxisrelevante Frage, wie der Vielgestaltigkeit des geschichtlich Erfahrbaren, dem dis-/kontinuierlichen Geschehen von Leben und Handeln geltungstheoretisch Rechnung zu tragen ist. Dies wäre gewissermaßen der produktive Erfahrungsgehalt des grundsätzlichen Dilemmas, in dem sich die Weltalterphilosophie von Anfang an befindet, und der kritische Sinn, der sich den χρόνους αἰωνίους jenseits ihrer systemphilosophischen Ausformulierung abgewinnen ließe: Denn eine Zeit, »die keine außer sich hat an der sie ihre Vergangenheit meßen kann, die selbst nicht wieder in die Zeit tritt, ist also der Ewigkeit gleich, ja sie ist selbst jene« (Schelling 1827/28, 14). Die Negativität der endlichen Zeit würde dann allerdings nicht mehr von einer transzendentalen Vergangenheit des Absoluten her verstanden werden können, deren bloßen ›Mangel‹ sie darstellt, sie würde vielmehr auf eine offene Zukunft menschlicher Lebenszeit verweisen, wodurch sie zugleich in ihrer Negativität restringiert wäre. 257 Die Verkehrung der transzendentalen Zeitlehre käme so verstanden einer Wende zum personalen Zeit- und Geschichtsdenken gleich, die so zwar von Schelling noch nicht mit aller Entschiedenheit verfolgt, von den Weltaltern aber gleichwohl angekündigt wird, eine Entwicklung, die in der Existenzphilosophie Kierkegaards wiederkehrt und von dorther – auf subkutane Weise – ihren Weg in die Philosophie des 20. Jahrhunderts findet. 258 Besieht man sich die Sache also genau und berechnet zudem mit ein, dass Schellings Potential als ›Zeitgenosse inkognito‹ noch immer nicht ausgeschöpft ist, ja, dass seine Zeitgenossenschaft womöglich allererst noch bevorsteht, so wird Vgl. Jantzen/ Oesterreich 2002, VIII. Vgl. Decher/Hennigfeld 1991. In Bezug auf die ›anthropologische Wende‹ stellt Hennigfeld klar, dass sie sich in den Weltaltern zwar unübersehbar ankündige, jedoch noch nicht als Wende zur Anthropologie als prima philosophia vollzogen werde. 257 258

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Der ›Zeitkern‹ der Weltalterlehre

man auch hier, in diesem Fall, feststellen können, dass Schellings Kritik an Kants Zeitlehre eine systematisch nicht zu unterschätzende Pointe aufweist: Sie kritisiert die Entgeschichtlichungstendenz erfahrungsunabhängiger Zeitspekulation, um den personalen ›Zeitkern‹ herauszuschälen, der in jeder Erfahrung verborgen liegt. Schellings personales Zeit- und Geschichtsdenken beinhaltet in dieser Hinsicht die konzeptionellen Voreinstellungen für eine Theorie geschichtlicher Zeiten.

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Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt. Schellings Theorie geschichtlicher Zeiten

Um zu erkennen, welche ungehobenen Potenziale zum Vorschein kommen, wenn man eine anthropologische Lesart in die Weltalterlehre einblendet und das personale Zeit- und Geschichtsdenken als deren inneren Glutkern freilegt, reicht schon ein vorsichtiger, vergleichender Blick auf Positionen der modernen Zeitphilosophie, die sich vorzugsweise der McTaggartschen Unterscheidung von A- und B-Reihe verpflichtet fühlen. Aber schon ein erster, oberflächlicher Blick über die bisherigen Überlegungen vermittelt einen Eindruck davon, dass die Zeit, die sich uns als geschichtlich situierte Person im Urteils- und Handlungsvollzug entgegenstellt, in eigentümlicher Weise quer zur einheitlichen, homogenen und kontinuierlichen Zeit der B-Reihe als auch der auf ein Subjekt bezogenen verfließenden Zeit von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem liegt. Zu ersterem liegt sie quer, weil es offenbar nicht um das fixe Verhältnis eines Früheren zu einem Späteren geht, sondern um ein radikales Davor und Danach, mit anderen Worten, um die Erfahrung einer Zäsur; 1 zu letzterem liegt sie quer, weil es offenbar nicht bloß um eine subjektive Perspektivierung, um das Verstreichen der Zeit relativ auf ein Subjekt geht, das sich kontinuierlich durch die Zeit hindurch bewegt, sondern um eine Periodisierung des Subjekts selbst, mit anderen Worten, um das geschichtliche Gewordensein einer Person relativ auf die Zeit, die sie allererst durch ihr Urteilen und Handeln hervorbringt. Im dritten Teil der vorliegenden Studie soll dieser Typ der in sich gebrochenen geschichtlichen Zeit eingehender untersucht werden. In methodischer Hinsicht gilt es dazu, nicht mehr der argumentativen Rekonstruktion des ersten und zweitens Teils zu folgen. Vielmehr gilt es, in systematischer Weise danach zu fragen, welche temporale Struktur solche Erfahrungen haben, die Zäsuren einschlieVgl. dazu auch Hutter 1996, 307 ff., der den Begriff der Zäsur als zentrale Kategorie eines nicht-apriorischen Begreifens von Geschichte ausweist.

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Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt

ßen und die ›Geschichte des Lebens‹ periodisierbar machen. Vor dem Hintergrund der im zweiten Teil skizzierten spezifischen Positionalität der menschlichen Freiheit kann so deutlich werden, dass Zeitverhältnisse immer auch praktisch sich herausbildende Selbstverhältnisse sind, und dass diese umgekehrt auch nur von dorther in den Grenzen ihrer jeweiligen sich geschichtlich vollziehenden Eigenzeit erschlossen werden können.

9. Zeitphilosophische Verschiebungen 9.1. Pluriformität der Zeit Wirft man einen Blick in die moderne Zeitphilosophie, so kommt ein Konflikt in den Debatten immer wieder zum Vorschein: Ob es nun um den Gegensatz zwischen ›gemessener‹ und ›bewegter Zeit‹, ›objektiver‹ und ›subjektiver Zeit‹, ›linearer‹ und ›dimensionierter Zeit‹, ›leerer‹ und ›erfüllter Zeit‹, ›Weltzeit‹ und ›Erlebniszeit‹, B- und AReihe geht, ein elementarer Widerspruch tritt immer wieder zutage, seien die methodischen Zugänge auch noch so verschieden: Auf der einen Seite, so scheint es, gibt es eine vom Subjekt ablösbare, quantitativ erfassbare Zeit zu geben, auf der anderen Seite eine auf das Subjekt bezogene und nur von diesem her qualitativ zu erschließende Zeit. 2 Auch wenn die hier genannten Kategorienpaare nicht einfach aufeinander abbildbar sind – natürlich sind sie das nicht, weil es schon innerhalb der einzelnen philosophischen Strömungen und Gruppen zu erheblichen Abweichungen kommt – so variiert schon innerhalb der phänomenologischen Tradition der Zugang zur Zeit stark, wenn etwa Heidegger von ›eigentlicher‹ und ›uneigentlicher Zeitlichkeit‹, Bergson von ›wirklicher‹ und ›mathematischer Zeit‹, Blumenberg aber wiederum von ›Weltzeit‹ und ›Lebenszeit‹ spricht, so scheint doch in der modernen Zeitphilosophie sich der Konflikt zwischen einer dem Subjekt ›inneren‹, ihm eigenen und einer ihm ›äußeren‹, fremden Zeit abzuzeichnen. 3 Betrachtet man die Sache hingegen genau, dann geht mit der begrifflichen Ausdifferenzierung der Zeit in verschiedene Zeitformen zugleich eine normative Monopolisierung Vgl. Mesch 2003; Düsing 1980; Sandbothe 2004; Gadamer 1987b; Husserl 1928; McTaggart 1908. 3 Vgl. Heidegger 1927; Bergson 1889; Blumenberg 1986. 2

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Zeitphilosophische Verschiebungen

einher, indem eine Zeitform jeweils den Vorzug erhält, weil sie als ›wirkliche‹, ›eigentliche‹, ›objektive‹ Zeit eine höhere Geltung für sich beanspruchen können soll. Das bedeutet aber, dass die moderne Zeitphilosophie, selbst da, wo sie versucht, Zeit radikal vom Subjekt aus zu denken, noch immer dem Gedanken an eine ursprüngliche, geschichtsenthobene Zeitlichkeit folgt. Kants Zeittheorie liefert das beste Beispiel: Während Platon, Plotin und Augustinus entlang der Urbild-Abbild-Theorie noch an der grundsätzlichen Andersartigkeit von Zeitordnungen festhalten, weshalb sie die Einheit der Zeit nur metaphysisch begründen können, verschränkt Kant die Form der inneren und äußeren Anschauung so konsequent miteinander, dass der Einheitsgrund der Zeit im Begriff einer objektiv gültigen Zeiterfahrung aufgeht: ›Real‹ kann nach Kant nur die Zeit genannt werden, deren Bezug auf den inneren Sinn des Subjekts sich zugleich einem Bezug auf den äußeren Sinn der Objektwelt verdankt, deren Form der Raum ist. Dass die transzendentale Idealität der Zeit deren empirische Realität bedeutet, heißt es im vorliegenden Kontext nicht anderes, als dass ein qualitativ erfülltes, vom subjektiven Vollzug selbst abhängiges Zeitganzes zu einer quantifizierbaren, vom Subjekt ablösbaren Zeitgröße transformiert wird. ›Subjektiv‹ kann die Zeit nur noch in diesem Sinne eines transzendentalen Grenzbegriffs sein, eine spezifische Erfahrungsqualität hat sie nicht. Kants Begriff der Zeitreihe, in dem die Überlegungen zur Verzeitlichung des Denkens zusammenlaufen, ist Ausdruck der Suche nach einer Einheit der Zeit, die das Problem einer historisch verlorengegangenen Zeiteinheit im Begriff eines entzeitlichten, arretierten Relationsgefüges aufhebt. Was immer die Zeit an Dynamiken durchläuft, ›real‹ ist sie nur als Zeitreihe. Aber nicht nur Kant, auch Bergson folgt einer solchen Zeitmonopolisierung und steht – als einer der schärfsten Kritiker Kants im 20. Jahrhundert – damit jenem näher, als man gemeinhin denkt. Auch Bergson versucht die Differenz zwischen ›innerer‹ und ›äußerer Zeit‹ durch eine negative Grenzziehung zu begründen. Während Kant versucht, die Metaphysik vom bloßen Herumtappen zu befreien, indem er die Realität der Zeit auf die Welt der Erscheinungen begrenzt, versucht Bergson den Menschen vom Zeitregime der Naturwissenschaft, insbesondere der Psychophysik, zu befreien, indem er die Realität der Zeit auf den Bereich der menschlichen Freiheit beschränkt. ›Real‹ ist die Zeit nur als Dauer des in sich geschlossenen Handlungsvollzugs. Bergson und Kant affimieren jeweils eine ganz spezifische Form der Zeiterfahrung, die 223 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt

nichtsdestoweniger bzw. gerade deshalb als Realität der Zeit schlechthin präsentiert wird. Und es spricht in diesem Fall Bände, dass auch noch Husserls Vorlesungen über das innere Zeitbewußtsein mit einer »Ausschaltung der objektiven Zeit« beginnen, sodass methodenkonform nur von der einen Zeit, die »immanente Zeit des Bewußtseinsverlaufs«, die Rede ist. 4 Eine Pluralität geschichtlich sich herausbildender Zeitformen haben weder Kant, Bergson noch Husserl im Sinn. In dem Maße, wie nun aber der Konflikt, in dem sich ›innere‹ und ›äußere Zeit‹ de facto befinden, auf diese Weise gerade nicht gelöst, sondern vielmehr umgangen wird, kehrt er in lebensweltlicher Perspektive unter verschärften Bedingungen wieder. Die ›Lebenszeit‹ kennt ganz verschiedene Zeiten und präsentiert sich uns immer schon als ein Amalgam aus ganz verschiedenen Zeitordnungen: »[Time] is multi-face«, wie Barbara Adam betont, »it is involved in physical processes und social conventions, in the abstract relations of mathematics and in the concrete relations between people«. 5 Angesichts einer solchen Pluriformität der Zeit scheint es dann aber geradezu aussichtslos und angesichts der Relevanz, die all diese Zeitordnungen für unsere Lebenszeit beanspruchen können, überdies auch ethisch fahrlässig zu sein, wollte man sich unter dem Deckmantel der Eigentlichkeit, der Objektivität oder der Wirklichkeit auf eine Seite des Gegensatzes schlagen. Entscheidend scheint hier doch vielmehr die Einsicht zu sein, dass alle diese Zeitformen eine spezifische Relevanz für unser Leben beanspruchen können, weil sie überhaupt nur aus dem Lebensvollzug heraus entstehen und ebendort, in Situationen, als deren Resultat sie sich darstellen, auch Geltung für sich einfordern können. Keiner Zeitform gebührt das alleinige Monopol: Sie existieren immer zugleich und überschneiden sich dabei. Ob es um die ›wirkliche Zeit‹ der Bergson’schen durée, die ›objektive Zeit‹ des kantischen Erfahrungsurteils, die ›innere Zeit‹ des Husserl’schen Wahrnehmungsbewusstseins oder die ›uneigentliche Zeit‹ des Heidegger’schen Gesellschaftsman geht: »Wir leben in allen diesen Zeitdimensionen zugleich«, wie Alfred Schütz betont. 6 In diesem Sinne kann es nicht darum gehen, einer Zeitform mehr Realität zuzubilligen als der anderen. Unsere Beschreibungen der Zeit sind falsch. Möglicherweise leben wir gar nicht in »gegenwärtigen, zukünftigen, vergangenen, 4 5 6

Husserl 1928, 5. Adam 1994, 508. Schütz 1982, 224.

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Zeitphilosophische Verschiebungen

beschleunigten, verlangsamten, verwirbelten, homogenen, chaotischen, undurchschaubaren, den besseren oder den schlechteren Zeiten – sondern in allen zugleich«. 7 Aus dieser Perspektive ruft die Tendenz zur normativen Monopolisierung der Zeit durch begriffliche Ausdifferenzierung ihrer verschiedenen Formen die Frage nach einer gelebten Pluralität verschiedener Zeiten und Zeitordnungen nur umso stärker auf den Plan. Und es ist aufschlussreich, in diesem Zusammenhang sich einmal Schellings personalem Zeit- und Geschichtsdenken zuzuwenden, wenn es doch an zentraler Stelle in den Weltaltern lautet: Viel vielgestaltig ist das Ansehen der Zeit! Im Begriff gegen das ewig Wahre gehalten, wie leer, daß es verzeihlich scheint, sie für ein Spielwerk unserer Gedanken auszugeben, das aufhörte, sobald wir nicht mehr Stunde und Tage zählten! Jetzt ein unmerkliches geisterartiges Wesen, das mit so leisem Tritt wandelt, daß wir mit dem Morgenländer sagen möchten: Sie ruht ohne daß sie aufhört zu fliegen, und sie fliegt ohne daß sie aufhört zu ruhen; jetzt mit Schritten einhertretend, unter denen die Erde erbebt, Völker zusammenstürzen. (WA I, 13)

Nimmt man in den Blick, wie Schellings Weltalterlehre sich zum Konflikt von ›innerer‹ und ›äußerer Zeit‹ verhält, so wird man feststellen können, dass sein personales Zeit- und Geschichtsdenken die Oppositionsbildung von ›objektiv‹ und ›subjektiv‹, ›linear‹ und ›dimensioniert‹, ›leer‹ und ›erfüllt‹ radikal unterläuft. Schellings Unterscheidung zwischen einer Zeit, die den Dingen ›äußerlich‹ ist, und einer, die den Dingen selbst innewohnt, kurz: die Unterscheidung zwischen χρόνος und αἰών, ist auf die oben genannten Kategorienpaare nicht abbildbar, weil der Gegensatz von Innen und Außen bei Schelling nicht die begriffliche Bestimmung der Zeit betrifft, sondern den geschichtlich-praktischen Umgang mit ihr meint. Χρόνος und αἰών, so stellt sich die Sachlage dar, sind – ganz nach antikem Vorbild – beides Formen von ›Lebenszeit‹. Währenddessen αἰών dabei die Bezeichnung für eine Form der Lebenszeit ist, »in der Zeit und Leben so freundlich vereint sind, daß damit auch einfach Leben oder Lebenskraft gemeint sein konnte, die Kraft, aus der die Lebendigkeit des Lebens quillt«, markiert χρόνος die Zeit der »Chronologie«, das heißt die Zeit, die über Leben ›verfügt‹. 8 »In sie sind wir Menschen«, wie Vgl. Landwehr 2016 284. Theunissen 1991b, 301. Vgl. dazu auch Gloy 2006, 117: »Die Zeit ist hier [bei den Antiken, P. N.] noch kein abstraktes, offenes, quantifizierbares Schema oder Medium,

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Michael Theunissen sagt, »gleich Dingen, eingeordnet, eben chronologisch eingeordnet, so wie wir auf andere Art in den Raum eingeordnet sind«. Der kritische Sinn, der sich hinter Schellings Wiederentdeckung der ›Lebenszeit‹ verbirgt, ist es so gesehen zu zeigen, dass – noch ganz unabhängig vom normativen Status – sowohl αἰών als auch χρόνος Geltung für sich beanspruchen können, weil sie mithin nur verschiedene Weisen sind, sich zur ›Lebenszeit‹ zu verhalten. Dieser Lebensbezug, so kritisiert Schelling am Beispiel von Kants Zeittheorie, wird von der modernen Zeitphilosophie jedoch konsequent abgeblendet; ausgeblendet wird damit auch die Möglichkeit sich nicht nur so – chronologisch –, sondern eben auch anders – geschichtlich – zur Zeit zu verhalten. 9 Kant bindet die lineare Zeit an den Synthesisvollzug des Subjekts, gerade diese Bewegung erweist sich durch ihren Bezug auf die kategoriale Struktur des Verstandes aber als skalierbare, metrische Ordnung, die nichts mehr von der ursprünglichen Bewegtheit an sich hat. Diese »mechanische Ansicht« (WA I, 74) der Zeit ist es, die Schelling als eine bloß im Negativen verharrende Zeitauffassung um willen einer an der »Lebendigkeit des Lebens« orientierten Zeitauffassung in den Weltaltern kritisiert. Nach der mechanischen Ansicht der Zeit muss es ganz und gar unmöglich erscheinen, Menschen als die anfangenden Wesen zu begreifen, die sie qua der Positionalität ihrer Freiheit sind. Soll Freiheit sein – und Freiheit soll sein –, dann muss der mechanische Zeitzusammenhang durch einen zeitigenden Akt der Scheidung unterbrochen werden können, wie er selbst ja auch überhaupt erst aus einem solchen Akt hervorgegangen ist. Um es noch einmal zu betonen: Schelling kritisiert nicht die ›mechanische Ansicht der Zeit‹ als solche, er kritisiert die Monopolisierung der ›mechanischen Zeit‹ in der und durch die Moderne, die eine geschichtliche Ansicht derselben verdrängt. Von der ›äußeren Zeit‹, so räumt Schelling ein, sei wohl zu sagen, »sie sey eine bloße Weise unseres Vorstellens«, aber eben »nur nicht eine nothwendige und angeborene, sondern eine zufällige und angenommene« (WA I, 49). Schelling kritisiert Kant also nicht, um dessen Zeitkonzept durch ein anderes, fundamentaleres zu ersetzen: Es geht nicht darum, ob die ›mechanische Zeit‹ oder ›organische Zeit‹ nun ›realer‹ ist. Schelling konin das hinein sich die Lebenskraft ergießt, sondern die einmalige, konkrete, an ihren Ursprung gebunden Lebenszeit«. 9 Vgl. dazu auch Picht 1958.

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zipiert die Opposition von Mechanizismus und Organizismus nicht als naturphilosophisches Problem, sondern als handlungstheoretischen Konflikt. ›Mechanisch‹ und ›organisch‹ sind Weisen, in denen die Zeit für uns erscheint, je nachdem wie wir uns geschichtlich-praktisch zur ihr verhalten. 10 Indem Schelling dergestalt den Blick auf den konkreten Umgang mit Zeit lenkt, bricht er mit der für die klassische Zeitphilosophie unverzichtbaren Annahme, die Zeit könne ihrem Wesen nach nur eine einzige, singuläre Zeit sein, in welcher die Subjekte sind, aber nicht geschichtlich geworden sein können. Schellings Korrektur an der Zeitphilosophie besteht darin, dass sein geschichtlicher Ansatz von vornherein die Opposition von ›gemessener‹ und ›bewegter Zeit‹, ›objektiver‹ und ›subjektiver Zeit‹, ›linearer‹ und ›dimensionierter Zeit‹ auf handlungstheoretischer Ebene unterläuft, und zwar in dem Maße, wie solche Formen auf ganz unterschiedlichen geschichtlichen Ordnungen beruhen, die im praktischen Umgang mit Zeit von uns allererst hervorgebracht werden. Zeittheoretisch ist damit die Transformation einer Dauer verbürgenden Singularität der Zeit in eine Auf-, Ab- und Umbrüche ermöglichende dreidimensionale Geschichtszeit angezeigt. An die Stelle des Begriffs der Zeit tritt die Praxis der Zeit selbst. Die Frage, welche Form die Zeit habe, wird auf diese Weise zur Frage nach dem praktischen und geschichtlichen Umgang mit ihr transformiert. Schelling fragt deshalb auch nicht mehr wie Kant in der transzendentalen Ästhetik: »Was sind nun Raum und Zeit?« (KrV, A 23/B 37)). Schelling fragt im ureigensten Interesse praktischen Handelns und seiner geschichtlichen Formierung wie Aufarbeitung: »[W]as ist gewesen? und was wird sein?« (WA I, 104). Es sind diese beiden Fragen, die den Menschen neben der auf das scheinbar ewige Präsens gerichteten Frage ›Was ist?‹ so sehr beschäftigen. Denn nur diese beiden Fragen vermögen, letztlich Auskunft über den geschichtlichen Standort zu geben, von dem aus ein Handeln in die Zukunft hinein möglich wird: »Vergangenheit Gegenwart u. Zukunft ziehen seine Wißbegierde gleicherweise an sich, ja fast möchte man sagen, die beyden äußersten noch weit mehr als die mittlere« (WA III 1, 191). In systematischer Hinsicht verpflichtet sich die Kant-Kritik Schellings infolgedessen darauf, an die Gestaltbarkeit der Zeit zu erinnern. Das wird insbesondere dann deutlich, wenn man Schellings personales Zeit- und Geschichtsdenken als eine spezifische 10

Vgl. dazu auch Adolphi 1992.

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Form der Zeitpolitik interpretiert, eine Politik, die konfrontiert mit einer Gegenwart ist, die ihre geschichtliche Herkunft vollständig ›verdrängt‹ hat. So heißt, an die Gestaltbarkeit der Zeit zu erinnern ex negativo auch, deren permanente Verdrängung zu thematisieren. Genau an dieser Stelle ergibt sich aus Sicht der vorliegenden Studie die Möglichkeit, inmitten des Scheiterns der Weltalter ein ›Gelingen‹ zu setzen, insofern gerade hier nicht die konzeptionelle Struktur, sondern der kritische Impuls im Vordergrund steht. Gegen die Uni-Form bringt Schelling das ›ungeheure Recht‹ der Gegenwart in Stellung.

9.2. Das ›ungeheure Recht‹ der Gegenwart Schellings Gegenwartsdiagnose lautet, dass die Gegenwart ihre eigene Geschichtlichkeit verdrängt hat. Gegenwart ist diese Zeit im doppelten Sinne: Sie ist die Zeit der Gegenwart und die Zeit, die nichts als das Gegenwärtige kennt: »Der jetzt herrschende Begriff kennt überhaupt keine Zeiten –, sondern nur ein Abstractum von Zeit, eine gewisse allgemeine Zeit, die er für die Zeit schlechthin hält« (WA III 5, 225 f.). Von dieser, also der unendlichen, homogenen und kontinuierlichen, kurz: der kantischen Zeit, so räumt Schelling ein, sei zwar durchaus zu sagen, »daß sie eine bloße Form unsres Bewußtseyns ist«. Warum die »allgemeine Zeit« aber »die Zeit schlechthin« zu sein habe, warum es also nur diese eine Zeit, die Zeit der Gegenwart, und keine neben und außer ihr geben könne, sei schon deshalb zweifelhaft, weil unsere eigene Erfahrung, die geschichtliche Dynamik unseres je individuellen Urteilens und Handelns, uns eines Besseren belehren würde; in einer Passage aus dem zweiten Weltalter-Entwurf heißt es: Es ist leicht zu sagen und jetzt allgemein angenommene Meynung, daß die Zeit nichts Wirkliches, nicht uns unserer Vorstellungsweise unabhängiges ist. Auch hat sich durch falsche Vorstellung in den Begriff derselben soviel Scheinbares, zum Theil Unwahres eingeschlichen, daß es verzeihlich scheint, sie als ein bloßes Getriebe unserer Gedanken anzusehen, das aufhörte, wenn wir nicht mehr Tage zählten und Stunden. Und doch erfährt jeder im eigenen Thun und Lassen unwidersprechlich die Wesentlichkeit der Zeit; und diejenigen selbst, welche ihre Nichtigkeit behaupten, weiß sie zu lauten Klagen über ihre furchtbare Wirklichkeit zu zwingen. (WA II, 121 f.)

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Was sich hier in der zitierten Passage, »im eigenen Thun und Lassen«, ankündigt, ist der Begriff einer Zeit im Vollzug, die ›einmalig‹ und ›unwiederholbar‹ ist, und insofern auch keine Form unseres Bewusstseins darstellt, sondern von Personen erfahren werden kann, und im Vollzug unseres eigenen Urteilens und Handelns auch de facto von uns erfahren wird. 11 Während es für die ›abstrakte Zeit‹ Kants gleichgültig sein mag, was in ihr geschieht, »ob die Sonne aufoder untergeht, ob ein Mensch geboren wird oder stirbt«, ist es für die ›personale Zeit‹ Schellings gerade entscheidend, was in ihr geschieht, und was sich durch sie hindurch ereignet. Es ist und kann gerade nicht gleichgültig sein, »ob Caesar nun den Rubikon überschreitet oder nicht«; mit dieser Handlung beginnt »etwas Neues«. 12 Ein derartig vollzogenes ›Neues‹ ist im Ansatz einer ›abstrakten Zeit‹, einem transzendentalen Konzept möglicher Erfahrung überhaupt, aber von vornherein verspielt. 13 Während die ›abstrakte Zeit‹ Kants unempfindlich bleiben muss gegenüber den einzelnen Gliedern, die sie als Zeitreihe miteinander verbindet, ist das besondere am personalen Geschehen, dass qua freier Handlung ›Neues‹ hervortreten kann. 14 Was Schelling dergestalt an der Zeittheorie Kants kritisiert, lässt sich mit einem wahlverwandten Wort Goethes als das »ungeheure […] Recht« (FA I,8, 353) der Gegenwart auf den Begriff bringen. 15 Zeit, die auf die Weise ins Blickfeld rückt, ist Gegenwart als ein jegVgl. dazu Schmidt-Biggemann 2014; Hutter 2004b. Jacobs 2004, 96. Das Konzept der geschichtlichen Zeit tritt an dieser Stelle noch völlig unabhängig von der Frage nach der historischen Bedeutung auf, die einer geschichtlichen Zeit im Nachhinein zu- oder gerade abgesprochen wird. Zur Frage nach einer in solchem Sinne historischen Zeit vgl. Demandt 2003, 72: »Abertausende Menschen haben den Rubikon überschritten. Historische Bedeutung aber besaß nur Caesars Überquerung des Flusses. […] Abertausende von wirklichen oder vermeintlichen Verbrechern sind am Kreuz gestorben. Historisch bedeutsam war vor allen anderen die Hinrichtung Jesu von Nazareth. […] Sowohl im Falle Caesars wie in dem von Jesus hat sich die Bedeutung erst nachträglich, in der Fernwirkung gezeigt, und dies ist eigentlich immer so. Denn jede Begebenheit kann wie ein Feuerwerk verpuffen, durch die Folgezeit in ihrer Bedeutung herabgestuft oder aufgewertet werden. In einem gewissen zeitlichen Abstand lassen sich Bedeutungsunterschiede durchaus feststellen, doch können sich diese verschieben«. 13 Vgl. dazu auch Luhmann 1991. Luhmann betont, dass die Ausformung der Weltzeit als ›lineare‹ respektive ›abstrakte Zeit‹ dieselbe kompatibel mache mit »beliebigem Geschehen an den einzelnen Zeitpunkten«, sodass »die Zeit selbst überhaupt nichts mehr darüber sagt, was geschieht« (111). 14 Vgl. Theunissen 1991b, 307. 15 Vgl. dazu auch van Thadden 2010. 11 12

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lichem Urteilen und Handeln vorgängiges, unvordenkliches Ereignis. Diese Zeit ist »keine abstrakte Messung der Wiederkehr des Gleichen, schon gar keine Anschauungsform«, es ist die »Realität der Erfahrung des Zeitlichen vor der Entstehung des begrifflichen Objektiven, die Zeit, in der wir uns selbst in unserer Unerfülltheit erfahren«. 16 Was Personen in solcher zeitlichen Vorgängigkeit als Realität gegenübertritt, ist eine geschichtliche Fülle, die sich kaum überblicken, geschweige denn bewältigen lässt. Und doch entscheidet die Bewältigung dieses Übermaßes am Ende darüber, ob ein Leben gelingt oder in Teilen zumindest nicht misslingt. 17 Martin Seel hat dieses ›ungeheure Recht‹ der Gegenwart in seiner Extremform einmal als den »Aufstand der Gegenwart« bezeichnet und damit in exakt jene Richtung gewiesen, in die auch die vorliegende Studie im Ausgang von Schelling weiterzudenken versucht. 18 Unter dem ›Aufstand der Gegenwart‹ versteht Seel dabei Veränderungen in der Welt, mit denen sich das Weltverständnis zugleich verändert, mit anderen Worten, Veränderungen, die den Sinn der Gegenwart des Geschehenden dadurch verändern, dass sie das Kontinuum der historischen Zeit radikal aufbrechen. Es handelt sich um »Ereignis-Risse«, die den Horizont des Verstehens in sich verkehren: »Indem sie in einem bestimmten Bereich die geläufige Brücke von der Vergangenheit zur Zukunft zerschlagen, verändern sie das kollektive Bewußtsein der Gegenwart einer historischen Zeit«. 19 Schellings Kant-Kritik zielt in seinem katalytischen Impuls auf eben diesen Begriff von Veränderung. Während die abstrakte Zeitauffassung Kants die Zeit als bloße Form behandelt, als Regel, nach der sich unsere Vorstellungen ungeachtet dessen, was sie in concreto vorstellen, in eine Ordnung überführen lassen, versteht das personale Zeit- und Geschichtsdenken Schellings die Zeit als einen aktualen, aus dem jeweiligen Vollzugsgeschehen selbst resultierenden WiderSchmidt-Biggemann 2015, 149. Vgl. Fulda 2002, 87. 18 Seel 2003, 40. 19 Seel 2003, 41. Solche ›Ereignis-Risse‹ in der geschichtlichen Zeit können für Seel sowohl individueller als auch kollektiver Natur sein: »Wenn ein junger Mensch, wie man so sagt, die Liebe kennenlernt, so ist das gewiß ein Ereignis, und ein weltbewegendes dazu, aber es ist nur eines für sie oder ihn. Kulturelle Ereignisse hingegen sind nicht individuell inkommensurable Vorgänge, sondern sie sind es in einem kollektiven Maßbstab. Mit ihnen verändert sich nicht bloß meine oder deine Einschätzung dessen, was wirklich und möglich ist, sondern die einer beliebig großen Gemeinschaft von Akteuren« (ebd.). 16 17

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spruch. Schelling verkehrt die kantische Erkenntnisdoktrin, nach welcher sich die Gegenstände nach unserer Erkenntnis richten sollen, in sich selbst. So heißt es in der späteren Philosophie der Mythologie, eine Passage, die für den zeittheoretischen Ansatz der Weltalter in Anschlag gebracht werden kann, dass sich hier nicht mehr frage, welche Ansicht von den Erscheinungen gewonnen werden müsse, um sich irgendeiner Philosophie gemäß zu verhalten, sondern umgekehrt, welche Philosophie gefordert werde, um dem Phänomen gewachsen, auf gleicher Höhe mit ihm zu sein: »Nicht, wie muß ein Phänomen gewendet, gedreht, vereinseitigt oder verkümmert werden, um aus Grundsätzen, die wir uns einmal vorgesetzt nicht zu überschreiten, noch allenfalls erklärbar zu seyn«, will Schelling wissen, »sondern: wohin müssen unsere Gedanken sich erweitern, um mit dem Phänomen in Verhältnis zu stehen« (SW XII, 137). Während bei Kant durchgehend die Rede von der »einen Erfahrung, in welcher alle Wahrnehmungen als in durchgängigem und gesetzmäßigem Zusammenhang vorgestellt werden« (KrV, A 110) dominiert, versucht Schelling, der Pluriformität des geschichtlich Erfahrbaren methodologisch Rechnung zu tragen, und das heißt nicht zuletzt gegenüber der Kontinuität von Wahrnehmung und Erkenntnis die Diskontinuität der Erfahrung zu betonen, und sei es auch nur im plötzlichen Entzug von Gegenwart selbst. 20 So leicht es auch sei, mit Kant die Zeit zu einer bloßen Form unserer Vorstellungen zu erklären, sowenig könne man umgekehrt die unhintergehbare Realität der Zeit im Vollzug leugnen, welche uns in der unmittelbaren Lebenswelt entgegentrete. Noch der späte Schelling unterstreicht mit aller Vehemenz das Primat der geschichtlichen Wirklichkeit, welche die Gegenwart zu einer rettungslos situationell bestimmten macht: »Wir leben in dieser bestimmten, wir sind nicht in einer abstrakten oder allgemeinen Welt, die wir uns so gerne vorspiegeln, indem wir uns nur an die allgemeinsten Eigenschaften der Dinge halten, ohne in ihre wirklichen Verhältnisse einzudringen« (SW XIV, 332). Schelling erschließt die Zeit im Ausgang von einer Erfahrungswelt, deren temporale Struktur sich weder auf die objektive Folge

Angezeigt ist damit zugleich ein Forschungsdesiderat. Eine Untersuchung, die Formen von Diskontinuität präzise auffächert und dabei Denkfiguren wie ›Umbruch‹, ›Unterbrechung‹, ›Zäsur‹, ›plötzliches Ereignis‹, ›unvermittelte Begebenheit‹, ›Geistesgegenwart‹, ›Latenz‹, ›Nachträglichkeit‹ und ›Zeitsprung‹ gleichermaßen analytisch freilegt wie wahlverwandtschaftlich aufeinander bezieht, steht weiterhin aus.

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von Früher und Später noch auf das bloß subjektive Verfließen von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem beschränkt. Die aus der analytischen Philosophie bekannte und mit McTaggart klassisch gewordene Unterscheidung zwischen A-Reihe und B-Reihe greift im Hinblick auf die Pluriformität geschichtlicher Zeiten zu kurz. 21 McTaggart unterscheidet, so ist von Seiten Schellings einzuwenden, nur Positionen in der Zeit, gleichsam Zeitpunkte, nicht aber Positionen, die durch die Zeit hindurch überhaupt erst als Zeiträume erzeugt werden. Eine von vornherein eingeschränkte Betrachtungsweise der Zeit, die auch noch die gegenwärtige analytische Zeitphilosophie durchzieht, wenn die sich im Anschluss an McTaggart in ein »tensed camp« und ein »tenseless camp of philosophy« aufspaltet, die Pointe des temporalizing, den Akt der Verzeitlichung selbst, aber gerade dadurch übersieht. 22 Schelling hingegen betont, dass der Zusammenhang zweier Begebenheiten oder Ereignisse durch ein »wirkliches Geschehen« vermittelt sein muss; eine Positionszuweisung, die sich auf eine zugrundeliegende kontinuierliche Zeit bezieht, in der Ereignisse bloß zeitlich zueinander in Beziehung gesetzt werden, sei es A- oder B-theoretisch, reicht nicht aus. Das für Schelling so wesentliche Moment geschichtlicher Erfahrung, und zwar als Person vor Entscheidungen gestellt zu sein, in denen es gilt, wie Hans Michael BaumgartVgl. McTaggart 1993, 67 f.: »Die Positionen in der Zeit unterscheiden sich – so wie die Zeit uns prima facie erscheint – in zwei Hinsichten. Jede Position ist früher als einige und später als einige der anderen Positionen. Und jede Position ist entweder vergangen, gegenwärtig oder zukünftig. […] Der Kürze halber werde ich die Reihe der Positionen, die von der weit entfernten Vergangenheit über die nahe Vergangenheit bis zur Gegenwart und von der Gegenwart über die nahe Zukunft bis zur weit entfernten Zukunft verlaufen, als ›A-Reihe‹ bezeichnen. Die Reihe der Positionen, die von früher bis später verlaufen, werde ich ›B-Reihe‹ nennen«. 22 Mellor 1981, 4. Das gilt im Übrigen auch für den Versuch Peter Bieris, zur Erklärung der für unsere Selbstbeschreibung notwendigen A-Reihe auf die B-Reihe zurückzugreifen, eine Relation, die immer schon gegeben sein müsse und aus keinem anderen Grund als diesem den Status realer Zeit bekommen könne. Abgesehen davon, dass schon die Zurückführung der A- auf die B-Reihe problematisch ist – es ist schlicht und einfach nicht richtig, dass Ereignisse ›früher‹ und ›später‹ sein müssen, ehe sie ›vergangen‹, ›gegenwärtig‹ und ›zukünftig‹ sein können, womöglich liegt hier eine Verwechselung von Früher–Später und Davor–Danach vor –, übersieht Bieris Ansatz, dass Personen nicht nur in der Zeit sind, sondern diese Zeit selbst mithervorbringen. Was als Zeit vorausgesetzt werden muss, ist lediglich die ungeformte, noch ungeschiedene Zeit, die uns aber ganz in unterschiedlicher Weise entgegentreten kann: als schlechte Kontinuität, die uns gefangen hält, als Ereignis, das uns ereilt, als Krise, die wir durchleben. Vgl. dazu Bieri 1972. 21

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ner sagt, »sein eigenes Leben in die Hand zu nehmen und eventuell neu zu gestalten, Weichen zu stellen, Verantwortung zu übernehmen«, anders gesagt: »mitten in der Zeit« (SW IX, 218) sein Leben neu zu beginnen, dieses für Schelling so wesentliche Moment beansprucht die Geltung einer nicht bloß relativen, sondern reell unterschiedenen Zeit, eine Zeit, die Diskontinuitätserfahrungen zulässt. 23 Und eine solche Zeit, »[e]in solcher Zusammenhang läßt sich also nicht denken ohne ein wirkliches Vor und Nach« (Schelling 1832/ 33, 87). Von einer derart durch epochale Zäsuren gezeichneten geschichtlichen Zeit, in der sich die Frage nach der zeitlichen Struktur geschichtlicher Selbstverhältnisse stellt, kann im McTaggartschen Schema von A- und B-Reihe nicht die Rede sein. Indem diese die Zeitrelationen gewohnheitsmäßig immer schon auf eine ihnen zugrundeliegende Zeit bezieht, macht sie die Ablösung der Zeithorizonte voneinander unmöglich. Das Subjekt bleibt im kontinuierlichen Fluss der Zeit, obwohl die reale Erfahrung der Zeit nachweislich geschichtliche Erfahrungen miteinschließt, Erfahrungen der eigenen Epochalität und Geschichtlichkeit. Hans-Georg Gadamer notiert etwa, dass die Erfahrung, dass etwas anders geworden, dass alles Alte alt und etwas Neues da sei, die Erfahrung eines Übergangs sei, »der nicht etwa Kontinuität garantiert, sondern im Gegenteil Diskontinuität aufweist und die Begegnung mit der Wirklichkeit der Geschichte darstellt«. 24 ›Epochenerfahrung‹, so heißt es an einer anderen Stelle bei Gadamer, ist ein »Anhalten des stetigen Flusses der Zeit, und leistet die Konstitution eines ›Zeitraums‹ des Gleichzeitigen oder Zeitgenössischen«. 25 Schelling Zeitanalyse zielt auf eine derartige zeitanhaltende Epochenerfahrung: Aus dieser Erfahrung geht hervor, »dass keine Gegenwart möglich ist, als die auf einer entschiedenen Vergangenheit ruht, und keine Vergangenheit, als die einer Gegenwart als Überwundenes zu Grund liegt« (SW VIII, 259). 26 Dergestalt

Baumgartner 1999, 291. Gadamer 1986, 140. 25 Gadamer 1987a, 131. 26 Vgl. dazu auch Hutter 1996, 308: »Es ist nur sinnvoll, von Vor- und Nachgeschichte zu sprechen, wenn eine Zäsur vorliegt, die beide voneinander scheidet; und umgekehrt ist eine wirkliche Zäsur nur dort anzunehmen, wo die quantitative Differenz des Früheren und Späteren zum qualitativen Sprung zwischen Vorher und Nachher wird«. 23 24

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verweist Schellings Zeittheorie auf eine in der Diskussion um A- und B-Reihe unterschlagene Differenz. Bei der Vergangenheit, um die es Schelling geht, handelt es sich um eine Zeit, die im Gegensatz zur bloß relativen Vergangenheit der A-Reihe nicht »erst ein Theil der Gegenwart sein muß« (Schelling 1827/28, 208), um Vergangenheit sein zu können. 27 Die ›wahre‹ Vergangenheit, so versucht Schelling zu sagen, tritt überhaupt erst mit der »entschiedenen Gegenwart« (WA II, 119) unseres eigenen Urteilens und Handelns hervor: Sie muss ›gleich anfangs‹ vergangen sein. Die Zeitrelation, auf die Schellings Theorie der Weltalter abzielt, geht deshalb auch nicht in dem auf, was man die modalzeitlichen Bestimmungen der Zeit nennt. Obwohl Schelling von den Zeitmodalitäten des Vergangenen, Gegenwärtigen und Zukünftigen spricht, ist die Zeitrelation, auf die es ihm ankommt, diejenige eines epochalen Davor und Danach. Erst der epochale Riss in der Zeit vergeschichtlicht die Gegenwart in einer Weise, in der wir uns selbst als urteilende und handelnde Personen erfahren. Das ist auch der Grund dafür, warum Schelling zwar durchgängig von der Zeitdimension ›Vergangenheit‹ spricht, in systematischer Hinsicht aber eine »absolute Gewesenheit« meint: Das unvordenkliche Gewesensein des Vergangenen ist der »ontologische Index geschichtlicher Wirklichkeit«. 28 Es ist deshalb irreführend zu vermuten, Schelling würde die lagezeitlichen Bestimmungen von Früher und Später in der modalzeitlichen Ordnung von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem fundieren. 29 Beide Bestimmungsarten beziehen sich auf die Art von Gegenwart, von der Schelling sich gerade zu lösen versucht. Schelling bringt die gegenwärtige Gegenwart zu sich selbst auf Distanz, indem er sie im Akt der Scheidung vergangen sein lässt und damit auch überhaupt erst zukünftig sein lassen kann. Schelling überführt, so könnte man sagen, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aus der horizontalen Ordnung des kontinuierlichen Ineinanderübergehens in die vertikale Ordnung der diskontinuierlichen Schichtung. Die Vergangenheit sinkt in die geschichtliche Tiefe hinab und kann so über den Praxisvollzug als Zukunft aktiviert und zurück an die Oberfläche gehoben werden. Als dreidimensionale Geschichtszeit lässt sich mit Schelling die Zeit verstehen, die nur als hervortretende Differenz der drei Zeit27 28 29

Vgl. dazu auch Große 2006, 107. Otto 1982, 64. Anders hingegen Sollberger 1996, 318.

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dimensionen ist, eine Zeit im permanenten Umbruch. 30 Darin unterscheidet sie sich von der abstrakten Zeitauffassung Kants, die man im Unterschied dazu als eindimensionale Naturzeit bezeichnen muss: homogen, kontinuierlich, unendlich. Schellings Geschichtszeit ist Kants Naturzeitkonzeption aber nicht einfach entgegenzusetzen, genauso wenig wie die ›organische Zeit‹ der ›mechanischen Zeit‹ einfach entgegenzusetzen war. Es gibt keinen bestimmten Oberbegriff von Zeit überhaupt, zu dem sich beide als Formen der Zeit verhalten könnten. Hinter der typologischen Unterscheidung verbirgt sich vielmehr der konkrete Umgang mit der Zeit, der gerade in den Momenten herausgefordert wird, in denen die Gegenwart sich ihr ›ungeheures Recht‹ zu verschaffen weiß. Im Umgang mit der Zeit zeigt sich dann, dass auch die Naturzeit eine verdeckte Geschichtszeit ist, die, sobald sie auf dem Spiel steht, in die Beweglichkeit zurückgeholt werden kann. 31 Solange dies aber nicht geschieht, weil die eindimensionale Naturzeit, also die quantitativ messbare, chronologische Zeit auf sämtliche Bereiche der Lebenszeit ausgedehnt wird, ist auch die Gegenwart, mit der wir als Personen umgehen, ihrer Potenz beraubt, Zukunftszeit zu sein. 32 Naturzeit und Geschichtszeit haben, so lässt sich festhalten, vermittelt durch den verschiedenen Umgang mit der Gegenwart, für den sie stehen, ein je unterschiedliches Verhältnis zur Zukunft, über das sie sich klar voneinander abgrenzen lassen: »Die Zukunft der Geschichtszeit unterscheidet sich von der Naturzeit dadurch, dass sich die Geschichts-

Insofern unterscheidet sich die Pluralität geschichtlicher Zeiten von der Pluralität im Diskurs über die Zeit. Theunissen 1991a, 39, stellt die »Pluralisierung der Zeit, ihre Aufspaltung in Zeiten« als eine der wesentlichen Tendenzen des sich von der Metaphysik emanzipierenden Denkens der Moderne heraus, hat dabei aber die Pluralität verschiedener Zeitkonzeptionen vor Augen, etwa die Unterscheidung zwischen subjektiv-immanenter und objektiv-transzendenter Zeit bei Husserl oder ursprünglicher und vulgärer Zeit bei Heidegger. Bei Schelling kommt es, so ist zu notieren, zu einer Pluralisierung der Zeit selbst, nicht nur der Formen, derer wir uns bedienen, um die Zeit, in der wir leben, begrifflich zu erfassen. Die Realität der Zeit selbst steht im Plural. Auf diese Form der Zeitpluralität kommt Theunissen 1991b allerdings im Aufsatz »Zeit des Lebens« zu sprechen, in dem er den Wahrheitsgehalt der antiken Unterscheidung zwischen aion und chronos unter den Bedingungen der Moderne zurückzugewinnen versucht und hierzu eine »Weltzeit« von einer »Lebenszeit« unterscheidet: »Sie [diese beiden Zeiten, P. N.] sind nicht mehr bloß unterschiedliche Ordnungen der einen Zeit, sondern erscheinen als verschiedene Zeiten« (303). 31 Vgl. dazu Theunissen 2000, 10. 32 Vgl. dazu auch Uhl 2003, 68. 30

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zeit nicht notwendig wie die natürliche Zeit rhythmisch wiederholt«. 33 Dies ist dann auch der eigentliche Fluchtpunkt der ›Zeit‹-Kritik Schellings: Vermittels der geschichtlichen Gegenwart des aktualen Zeitvollzugs versucht Schelling gegen die abstrakte Negativität der gegenwärtigen Zeit anzugehen, um so aus der Vergangenheit, aus der sich die Zeit gebildet hat, das Recht auf eine Zukunft, über die noch nicht entschieden ist, zu gewinnen. Mit dieser spezifischen Form der ›Zeit‹-Kritik reagiert Schelling auf die Gefahr eines in der Moderne um sich greifenden, noch alles in sich einverleibenden szientifischen Zeitregimes.

9.3. Szientifisches Zeitregime und personaler Zeitvollzug Der Eigendynamik von Natur und Geschichte, Leben und Handeln auf den Grund zu kommen, bildet das Motiv für Schellings Kritik an der Zeittheorie Kants. Unterhalb der abstrakten, eindimensionalen Zeit des Verstandes ist eine lebendige, dreidimensionale Zeit der Geschichte zu finden. Schelling teilt damit durchaus Ansätze der Lebensphilosophie, wie sie unter anderem von Bergson an der Schwelle zum 20. Jahrhundert vertreten wurden. Genau wie Bergson übt Schelling Kritik am vereinseitigenden, jede zeitliche Qualität nivellierenden präsentistischen Denken der Moderne. 34 Die Fälle ›um 1800‹ und ›um 1900‹ sind in vielerlei Weise verwandt, auch wenn die gemeinsame Stoßrichtung der ›Zeit‹-Kritik nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass Bergson und Schelling durchaus unterschiedliche Gegenmodelle zum Konzept der unendlichen, homogenen, kontinuierlichen Zeit bei Kant formulieren. Während Bergson die reine Dauer, die von ihm auch als ›wirkliche Zeit‹ bezeichnet wird, gegen die abstrakt-lineare Zeit Kants aufbietet, arbeitet Schelling einer ›unreinen‹, weil immer schon mit Geschichtlichkeit und der Erfahrung endlicher, menschlicher Freiheit beschlagenen Eigenzeitlichkeit entgegen. Es ist dieses Moment der radikalen geschichtlichen Positionalität, das Schelling im Ganzen näher an existenzphilosophische Zeittheoretiker

Schmidt-Biggemann 2014, 74. Neben Bergson wäre Eugène Minkowski als herausragender ›Zeit‹-Kritiker der 20. Jahrhunderts zu nennen. Minkowski 1970 bezieht sich in seiner Arbeit über die ›gelebte Zeit‹ sogar ganz wesentlich auf Bergson.

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wie Kierkegaard heranrückt: Zeit und Zeitlichkeit erscheinen nur in den Grenzen der eigenen, je geschichtlichen Existenz. 35 Sieht man von den konzeptuellen Unterschieden jedoch für einen Moment ab, so lässt sich feststellen, dass sowohl für Bergson wie für Schelling die lebensweltliche Erfahrung des Alltäglichen, des allzu Profanen die Folie bildet, auf der sie ihre ›Zeit‹-Kritik formulieren. Denn es ist ja in der Tat so, dass Kants Vernunftkritik streng genommen überhaupt keine Theorie der Alltagserfahrung anbietet. Stattdessen begnügt sie sich, wie auch Reinhard Brandt festhält, eine Theorie zur wissenschaftlichen Klärung der Frage aufzustellen, »was eigentlich notwendig als Erfahrung prätendiert werden kann und was nicht«. 36 Brandt weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Frage nach der komplexen Beziehung unserer Alltagserfahrung zu einer methodisch gesicherten Wissenschaftserfahrung von Kant nahezu vollständig ausgeblendet werde: »Wir leben gemäß dieser Interpretation im Spagat zweier Welten, einmal in der Welt der alten und alltäglichen Dinge an sich und zweitens in der der Gegenstände der theoretischen Erkenntnis«. 37 Brandt zufolge legt die Vernunftkritik Kants nicht die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung offen, sondern nur die eines sehr spezifischen Bereichs derselben, nämlich die einer »methodisch aufgestellten, wissenschaftlichen Erfahrung«. Zu dieser eigenartigen Restriktion passe es dann auch, und das ist interessanterweise die Pointe der anthropologisch fundierten Kritik Brandts, dass Raum und Zeit nur als »wissenschaftliche Relationensysteme eingeführt werden, nicht jedoch mit den Modi unseres tatsächlichen vorwissenschaftlichen Alltags, die wir z. B. partiell mit den übrigen Primaten teilen«. 38 Was Brandt hier moniert, deckt sich in auffälliger Weise mit der Kritik Schellings, wonach der Kantianismus nur die beschränkte Zeit unseres Vorstellungsvermögens problematisiere, nicht aber die »lebendige innre Zeit« (WA I, 78), die in den Dingen selbst wohnt, von ihnen hervorgebracht wird. Was Schelling späterhin fordert; eine »starke Philosophie«, eine solche, »die mit dem Leben sich messen kann, die, weit entfernt, dem Leben und seiner ungeheuren Realität

Zur Kritik am Mythos einer reinen, von aller Geschichtlichkeit entbundenen, bloß in sich selbst versunkenen Dauer vgl. Horkheimer 1934. 36 Brandt 2007, 14. 37 Brandt 2007, 243. 38 Brandt 2007, 242. 35

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Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt

gegenüber sich ohnmächtig zu führen« (SW XIII, 11) – zu einem solchen Zeit- und Wirklichkeitsverständnis sind die Weltalter bereits auf dem Weg. Schellings personales Zeit- und Geschichtsdenken lässt sich im Kontext eines solchen normativ aufgeladenen Lebensbegriffs geradezu als Antwort auf eine ahistorische, rein szientifisch orientierte Zeit- und Weltauffassung à la Kant verstehen. Dieser Beitrag Schellings zur Philosophie der Zeit ist aber bisher, wie es scheint, kaum adäquat verstanden, geschweige denn angemessen gewürdigt worden. »Wir denken immer noch«, wie Markus Gabriel im Hinblick auf die ungehobenen Potenziale von Schellings in den Weltaltern ausgearbeiteter Zeitphilosophie deutlich zu machen versucht, »daß die Zeit primär nach dem physikalischen Modell verstanden werden sollte, demzufolge die Zeit, wenn überhaupt nur eine Dimension hat bzw. nur eine Dimension ist«. 39 Gabriel bringt mit der an dieser Stelle schwach markierten Differenz zwischen einer Zeit, die nur eine Dimension hat, und einer Zeit, die nur eine Dimension ist, dabei die ganze Tragweite von Schellings Kritik am Zeitszientismus auf den Punkt: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind, wie gezeigt wurde, Schelling zufolge »nicht bloße Verhältnisbegriffe einer u. der nämlichen Zeit«, sondern »der höchsten Bedeutung nach wirklich verschiedene Zeiten, zwischen denen eine Anstufung oder Steigerung stattfindet« (WA III 5, 223). Gerade diese Radikalität macht Schellings Zeitkonzept in seinem katalytischen Impuls so attraktiv, weil es nicht mehr um den reinen Begriff der Zeit geht, sondern um die Frage nach dem praktisch-geschichtlichen Umgang mit ihr und damit in praxeologischer Hinsicht um die Bedeutung spezifischer Zeitpraktiken. Ob eine »Anstufung oder Steigerung« stattfindet, hängt ganz allein vom personalen Vollzug der Zeit selbst ab bzw. davon, ob Zeit personal angeeignet werden kann. Zeit ist nicht, wie Kant in der Kritik der reinen Vernunft argumentiert hatte, eine apriorische Form aller möglichen Gegenstände der Erfahrung; Zeitlichkeit »is present in all our dealings with ourselves, others, and objects, and as historical beings with particular practices and vocabularies we relate to time in culturally and historically specific

Gabriel 2014, 41. Vgl. dazu auch ders. 2006, 31: »Schellings Projekt ist wie später dasjenige Heideggers gegen das szientistische Weltbild gerichtet, dessen Objektivitätsbegriff tendenziell inkompatibel mit der Existenz von Beobachtern ist, deren Beobachtung ohne das Existenzial der Bedeutsamkeit nicht verständlich gemacht werden kann«.

39

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ways«. 40 Schellings geschichtlicher Ansatz reagiert damit auf eine auch noch von heutigen Zeit- und Geschichtsphilosophien unterbelichtete Dimension – die Frage nach den Folgen des Zeitbegriffs für unser Selbstverständnis als handelnde, in die Geschichte eingebettete Wesen: »[W]as ihnen allen in der Regel fehlt, ist die Einordnung der Zeitvorstellung in ein Weltbild, das selbst wiederum handlungsorientierend wirkt: in ihrem theoretischen Ansatz vermitteln sie keinesfalls das, was mittlerweile vielfach Orientierungswissen genannt wird«. 41 Wir können, wie Emil Angehrn sagt, nur in dem Maße als handelnde Wesen existieren, »wie wir Geschichte vergegenwärtigen, sie gestalten und uns mit ihr auseinandersetzen«. 42 Wir können »menschlich«, so sagt es Theunissen, »nur so existieren, daß wir die lineare Zeitordnung, die für sich genommen ein bloßes Nacheinander, bloß Sukzession ist, unaufhörlich in die Ordnung der Zeitdimensionen verwandeln«. 43 Schellings Kant-Kritik lässt sich damit nicht zuletzt auch als Kritik am modernen Wissenschaftsverständnis verstehen, und zwar daran, »dass das szientistische Weltbild daran arbeitet, die Präsenz des Menschen aus derjenigen Welt zu entfernen, die ohne die Präsenz des Menschen eigentlich gar nicht verstanden werden kann«, wie Gabriel festhält. 44 Beharre man nämlich darauf, ausschließlich eine rein Hammer 2011, 14. Poser 1993, 19. Vgl. dazu auch Hölscher 2015, 69. Hölscher spricht sich in dem Maße für eine »Wiederentdeckung der leeren Zeit« aus, wie gerade die zeitliche Leere im Angesicht der zunehmenden Auflösung des modernen Wirklichkeitsbegriffs den Blick auf die normativen Dimensionen des Zeit- und Geschichtsverständnisses wieder freilegt: »Im 18. Jahrhundert wurde das Problem der Zeit nicht nur unter erkenntnistheoretischen und naturalistischen, sondern, wie oben gezeigt, auch unter ethischen Gesichtspunkten diskutiert. Im Laufe der folgenden Jahrhunderte ging diese Dimension allerdings zunehmend verloren. Um sie wiederzugewinnen, mag eine Rückbesinnung auf die theologische Dimension des Zeitbegriffs bei Newton hilfreich sein. Newton beschrieb die Zeit als ein Organon, eine Eigenschaft, ein Merkmal beziehungsweise als Folge der Existenz Gottes. Übersetzt man den Gottesbegriff als Lebensprinzip, so verweist er auf ein Charakteristikum historischer Zeit, das in der post-metaphysischen Debatte um den Zukunftsbegriffe immer weiter in den Hintergrund gerückt ist: Die Zeit Newtons ist eine Zeit, in der sich das Leben entfaltet, die dem Leben dient und dieses in seiner Ganzheit erhalten will. Newtons Zeitkonzept wohnt so eine normative Dimension der Sorge um die Erhaltung und Entfaltung des Lebens inne«. 42 Angehrn 2002, 72. 43 Theunissen 1991b, 304. 44 Gabriel 2006, 31. 40 41

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szientifische Zeitauffassung in Betracht zu ziehen, so werde man kaum verstehen, wie wir im Grunde alltäglich versuchen, »die Welt so zu sehen, daß wir darin Platz finden«. Der von Kant zu recht eingeforderte sichere Gang der Wissenschaften droht, versucht man ihn auf alle Bereiche des Leben auszuweiten, zu einem unhinterfragten Apriori zu werden, dass den Phänomenen selbst nur partiell gerecht wird. Ja, es kann sogar passieren, dass uns auf einmal diejenige Welt, die für uns die nächste ist, die Lebenswelt, vollkommen aus dem Blick gerät: Dies geschieht insbesondere dann, wenn man – und Kant dient hier nur als der paradigmatische Vorläufer – am Begriff einer Erfahrung festhält, die lediglich die quantitative Differenz zum Maßstab ihrer objektiven Gültigkeit erhebt, die personal vollzogenen und situationsbezogen zu rechtfertigenden Entscheidungen aber konsequent abblendet. Zugegeben: Der Verdacht des »Quantitätsfetischismus« gehört zu den eingeschliffenen Vorbehalten gegen eine am Vorbild der Mathematik und reinen Naturwissenschaften geschulten Theorie der Zeit. 45 Kants Erfahrungsbegriff, so lautet der klassische, auch hier wiederaufgenommene Einwand, könne den Gestalten der organischen Natur und den Phänomenen der geschichtlichen Welt nicht gerecht werden. Aber schon in der argumentativen Rekonstruktion der ›Genealogie der Zeit‹ konnte gezeigt werden, dass genau hierin das Problem besteht: Die metrische Zeit kann sich nur dadurch bewähren, dass sie die geschichtliche Zeit verdrängt. Nicht in der Quantifizierung, sondern in der Fetischisierung der Quantität besteht in der Tat das Problem. Die Zeit steht immer schon im Zeichen des personalen Vollzugs und des Versuchs seiner praktischen Aneignung. Im personalen Vollzug, der die Zeit ihre geschichtliche Herkunft zurückgibt, findet die genealogische Zeitanalyse das ihr entsprechende Komplement. Und dem so entstehenden Hiat zwischen Vergangenheit und Zukunft, das heißt: dem Aufspannen der Zeit zwischen den verschiedenen Zeitdimensionen, korrespondiert die Kluft zwischen einer reinen, auf die unmittelbare Gegenwart fixierten, präsentistischen wissenschaftlichen Weltauffassung mit einer Weltauffassung, die sich einer im besten Sinne kritischen Reflexion der temporalen Praxis der alltäglichen Erfahrung der Lebenswelt verdankt. In diesem Zusammenhang sei auch noch einmal an den grundlegenden Tenor der Weltalter erinnert, der immer wieder auf die Stel45

Horstmann 1995, 55 f.

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lung des Menschen, Ausgangs- und Mittelpunkt der Untersuchung zu sein, eingeht. »Laßt es uns«, so lautete die methodische Maxime, »auch hier wieder menschlich nehmen«. Ja, die Weltalter-Fragmente können in dieser Hinsicht geradezu als eine Philosophie des natürlichen Maßes verstanden werden. Es gelte, die »überfliegenden Gedanken« auf das »natürliche Maß menschlicher Begreiflichkeit zu bringen« (WA I, 70), Maß sei »überall das Größte« (WA I, 83). Einer solchen maßvollen und maßhaltenden Philosophie sieht Schelling eine »Hyperphysik« gegenübergestellt, eine Form der Wissenschaft, die nicht mehr von den Grundlagen der Physik anfängt, um von dorther zum »Übernatürlichen« zu gelangen, sondern von vornherein ins »Unnatürliche« (WA III 2, 196) abschweift, das heißt: dorthin, wo der menschlichen Vernunft tatsächlich ein bodenloser Abgrund erwartet, wo kein Maß, kein Ziel, keine Zeit bestimmbar ist. Dementsprechend heißt es auch gegen die vor allem bei Fichte und Kant vorzufindende Denkfigur des höchsten Punktes, von dem alle Philosophie auszugehen habe, gerichtet: »Nicht von oben herab, von unten hinauf geht der Weg lebendiger Wissenschaft« (WA III 2, 197). 46 Es ist dies eine Einsicht, zu der Schelling, schenkt man seinen eigenen Worten Glauben, bereits »von Jugend auf den heftigsten Trieb fühlte« (WA I, 70). Ganz abwegig dürfte diese Selbsteinschätzung nicht sein, hatte Schelling doch auch schon in der Ichschrift auseinandergesetzt, man dürfe sich nicht auf »todte Formeln« berufen, sondern müsse vielmehr im Gegenteil versuchen, das »lebendige Werk des menschlichen Geistes« (AA I,2, 76) zu begreifen. Die Philosophie, so hatte es geheißen, dürfe auf gar keinen Fall »bloßes Eigenthum der Schule« bleiben. Und so heißt es auch jetzt noch in den Weltaltern, dass der Philosoph die Ergebnisse seiner Forschung »mehr der Welt und seinem Volke als Wie stark auch noch Fichtes Geschichtskonzeption am Konzept einer transzendentalen Einheit der Zeit orientiert ist, lässt sich an den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters von 1804/05 ablesen. Fichte unterscheidet hier zwar und grenzt Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft terminologisch voneinander ab, zugleich setzt er diese jedoch, und darauf kommt es im Unterschied zu Schellings Konzept der geschichtlichen Zeit an, in das Verhältnis einer begrifflich notwendigen Folge. Eine Zeit folgt auf die andere Zeit mit metaphysischer Notwendigkeit: »Wir haben in den vorhergehenden Reden die gegenwärtige Zeit, als einen notwendigen Bestandteil des großen Weltplans mit unserem Geschlechte im Erdenleben gedeutet, und ihren verborgenen Sinn aufgeschlossen; wir haben gesucht, die Erscheinungen der Gegenwart aus jenem Begriff zu verstehen, sie als notwendige Folge aus der Vergangenheit abzuleiten, ihre eigenen nächsten Folgen für die Zukunft vorherzusehen, und haben, falls uns dies gelungen ist, unsere Zeit begriffen« (GA I,8, 385). 46

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der Schule« (WA III 5, 224) schulde, sodass sich auch hier die wechselseitige Verschränkung von wissenschaftlicher und menschlich-alltäglicher Zeitauffassung bei Schelling zeigt. 47 Wer aber, so Schelling, das ›niedere Prinzip‹ leugne, »der läugnet die Realität an sich und heißt mit Recht (in der gemeinen Bedeutung des Worts): Idealist« (WA I, 51). Schelling, so wird deutlich, wendet sich mit seinem personalen Zeit- und Geschichtsdenken ausdrücklich gegen eine Philosophie des noumenalen Maßes: »Ein metaphysisch hinaufgeschraubter Gott taugt weder für unsern Kopf noch für unser Herz« (AA II,8, 86). Mit anderen Worten: Es mag zwar einen ›metaphysisch hinaufgeschraubten Gott‹ geben, solange wir ihn aber nicht in einen Bezug zu unserer menschlichen Lebenswelt bringen können, ihn mithin personalisieren, ändert ein solcher Gott nichts an unserem Selbstvertsändnis als eines durch und durch geschichtlichen Wesens. Schelling geht es darum, das Problem der temporalen Qualität unserer Erfahrung diesseits der Trennung von sinnlicher und intelligibler Welt zu verhandeln. Ein Anliegen, das er mit seinen Zeitgenossen um 1800 teilt. Zusammen mit Autoren wie Herder, Goethe, Schiller, Novalis und Friedrich Schlegel macht sich Schelling auf den Weg zu einer »integrativen Welt- und Selbstdeutung«, die eben nicht allein im Rekurs auf ein vereinseitigendes mathematisch-naturwissenschaftliches Denken zu gewinnen ist. 48 Der Philosophie kommt so verstanden die Aufgabe zu, die Übereinstimmung von Welt und Selbst methodisch aufzuweisen, allerdings nicht in einer erst noch zu erwartenden, intelligiblen Welt, sondern in den je konkreten Gestalten der diesseitigen, sinnlichen Welt, in den phänomenalen Gestalten von Natur und Geschichte. Worauf sie dabei zuletzt stößt – und das ist eine Besonderheit Schellings – ist der Konflikt, in dem sich verschiedene Zeiten und Zeitordnungen von jeher befinden, ein Widerstreit, der die Zeit der Geschichte offenhält. Die Gefahr, die von der systematischen Ausklammerung von Geschichte und Geschichtlichkeit ausgeht, zeigt sich nicht erst seit dem technologischen, alles und jeden verfügbar machenden 20. Jahrhun-

Der Zuwendung zu Welt und Leben korrespondiert die These, die Rie Shibuya in ihrer Dissertation entfaltet, dass nämlich der unmittelbare Anstoß zur neuen Bestimmung des Individualitätsbegriffs die Rezensionsarbeit eines pädagogischen Werks von Niethammer gewesen sei. Vgl. dazu Shibuya 2005, 18 f. 48 Stolzenberg 2000, 60. 47

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Zeitphilosophische Verschiebungen

dert mit seinen gestalterischen, bewahrenden, erneuernden, aber eben auch zerstörerischen Kräften. 49 Denn es ist klar, dass die ubiquitäre Tendenz zur Technisierung eine »Schematisierung des Geschehens mit sich bringt, zu dessen praktischer Konsequenz es zählt, daß die in dem Geschehen tätigen Menschen nicht als Individuen erscheinen, sondern eigentümlicherweise wesenlos werden«. 50 Hannah Arendt hatte in diesem Sinne herausgestrichen, dass der zukünftige Mensch, von dem die Naturwissenschaften meinen, er werde auf absehbare Zeit die Erde bevölkern, »wenn er je entstehen sollte, seine Existenz der Rebellion des Menschen gegen sein eigenes Dasein verdankt«. 51 Die Gefahr, die von einem geschichtlosen Zeit- und Wirklichkeitsverständnis ausgeht, ist bereits vorgezeichnet in den Debatten um die im 19. Jahrhundert einsetzenden exakten Wissenschaften, sie ist eingelassen in die Problemgeschichte der nachkantischen Philosophie. Goethe soll einmal zu Eckermann gesagt haben, dass, solange man sich ans Allgemeine halte, uns jeder nachmachen könne, das Besondere hingegen mache uns niemand nach: »Warum? Weil es die anderen nicht erlebt haben« (FA I,12.2, 64). So nimmt es auch nicht Wunder, dass Goethe bei aller Bewunderung für Kant und dessen Critik der Urtheilskraft am Ende zu seinen größten Kritikern zählt. Kants Vernunftkritik zeichnet sich nach Goethe gerade dadurch aus, dass sie »das Subjekt so hoch erhebt, indem sie es einzuengen scheint« (FA I,24, 435). Zwar sind heutige Physiker, wie Carl Friedrich von Weizsäcker in seinem Nachwort zu Goethes gesammelten Werken betont, eindeutig Schüler Newtons und damit gewissermaßen auch Schüler Kants: »Aber wir wissen, daß diese Wissenschaft nicht absolute Wahrheit, sondern ein bestimmtes methodisches Verfahren ist«. 52 Insofern man diese methodische Beschränkung ernst nimmt und anerkennt, erhält die obige Sentenz Goethes auch abseits des üblichen, sich für solche Zwecke einstellenden Klassikerreflexes einen systematischen Wert. Sie ist eine Erinnerung daran, dass jede Erfahrung – nicht auch, sondern immer schon – einen personalen Zeitkern besitzt. In ihr spricht sich aus, dass auch in einer vom Paradigma der objektiven Zeiterfahrung verdrängten Form, hier dem von

Vgl. dazu Thurn 2013. Schulz 1993, 596. Zur Kritik der Technisierung in Form philosophischer ›Zeit‹Kritik vgl. Hutter 1994b. 51 Arendt 1960, 9. 52 von Weizsäcker 1994, 540. 49 50

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Goethe exponierten Erlebnisvollzug, eine Dimension des menschlichen Selbst- und Weltverständnisses zur Geltung kommt, der für das Projekt einer umfassenden Aufklärung der menschlichen Vernunft über sich selbst von ebenso zentraler Bedeutung ist wie die kantische Frage danach, ob und wie Erfahrung überhaupt möglich ist. Das Erlebnis, um an dieser Stelle auf einen Begriff der Dilthey’schen Hermeneutik zurückzugreifen, ist die kleinste Einheit im Fluss der Zeit, und als solche bestimmt sie »nach allen Richtungen den Gehalt unseres Lebens«; Erinnerungen reichen in die Vergangenheit, Hoffnungen, Wünsche, Erwartungen in die Zukunft; und doch sind alle diese Verhältnisse nach Dilthey nur in Bezug auf den »in der Gegenwart Lebenden«: »Daher denn auch die Lehre von der bloßen Idealität der Zeit überhaupt keinen Sinn in den Geisteswissenschaften hat«. 53 Aus diesem Grund gilt es nicht zuletzt auch von Seiten Schellings die nicht zu unterschätzende Dimension praktisch vollzogener und geschichtlich erschlossener Personalität anzuzeigen, sich der Verantwortung bewusst zu sein, die man hat, und zwar nicht nur für die Gegenwart, sondern auch für vergangene wie zukünftige Zeiten. 54 Eine Dimension, die sich uns oft, wie Minkwoski notiert, auf ganz natürlichem, ja geradezu körperlich spürbarem Wege mitteilt: »Quite often we feel overcome by a profound weariness, as if the rhythm of life which technology has produce does violence to us«. 55 Deshalb ist auch die Vorstellung von einer Welt als einer Totalität, zu der, wie Gabriel noch einmal festhält, »letztlich nichts gehört, was uns wirklich jeweils selbst betrifft, […] schlechthin inkompatibel mit unserem alltäglichen Weltverständnis«. 56 Die Art und Weise, wie Kant die Zeit zu einem bloßen Schema degradiert, legt nahe, Schellings personales Zeit- und Geschichtsdenken für einen konstruktiven Gegenentwurf zu prüfen: »[T]he objectivist account we find in physics seems largely incommensurable with our everyday understanding of temporality«. 57 Dem gilt es Rechnung zu tragen. Mit Kant, so scheint es, stehen sich szientifisches Zeitregime und personale Zeitpraxis unvereinbar gegenüber. Dabei gibt es Erfahrungen, in denen sich uns der Konflikt verschiedener Zeitordnungen geradezu physisch aufdrängt:

53 54 55 56 57

Dilthey 1910, 237 ff. Vgl. dazu auch Jonas 2003. Minkowski 1970, 3. Gabriel 2006, 48. Hammer 2011, 15.

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Als eine sehr krasse, für das 18. Jahrhundert absolut einschlägige Erfahrung wäre hierbei das Erdbeben von Lissabon 1755 zu nennen. 9.4. καταστροφή: Der ›Einbruch‹ der Zeit Dass die Zeit auch abseits ihrer Bestimmung als objektiv gültige Zeiterfahrung eine fundamentale Bedeutung für das menschliche Selbst- und Weltverständnis hat, lässt sich an einer Reihe von einschneidenden Erfahrungen im menschlichen Leben darstellen. Das gilt noch für die Erfahrungen, die den Menschen in seiner bloßen Passivität, seiner physischen Unterlegenheit, seiner sinnlichen Ohnmacht treffen. Das Erdbeben von Lissabon ist eine solche für die Erfahrungsgeschichte des 18. Jahrhunderts einschneidende Erfahrung. Und schon die Bezeichnung dieses Ereignisses als Naturkatastrophe zeigt an, dass hier nicht nur über ein Naturereignis als ursachenrelationale Erscheinung in der Welt geurteilt wird; wir sehen uns gleichermaßen aufgefordert, ihm eine Bedeutung zu geben, wie καταστροφή seinem griechischen Wortursprung nach ja auch ›Umwendung‹ heißt, eine ›Umwendung‹, die, je nachdem wie stark man selbst in Ereignisse wie dieses verwickelt und von ihnen betroffen ist, zum Teil radikale Folgen haben kann. Dasselbe Naturereignis, das als ursachenrelationale Erscheinung in der Welt erklärt werden könnte, fordert uns zugleich heraus, nach spezifischen Sinnhorizonten zu suchen, in denen eine solche radikale Umwendung den sicher geglaubten Bestand der Erfahrungswelt nicht völlig auf den Kopf stellt. Nicht von ungefähr taucht in Zusammenhang mit Naturkatastrophen vorzugsweise die Frage nach dem Schicksal respektive einer höheren Macht auf, die den Lauf der Dinge bestimmt und als tragender Grund einer solchen καταστροφή in Erscheinung treten kann. Es ist, kurz gesagt, die Frage nach dem Sinn, die beide Erscheinungsweisen so radikal voneinander scheidet: Hier eine Welt, die als Relationsgefüge von Ursache und Wirkung ohne Sinnhorizont auskommt, dort eine Welt, die erst mit Sinn gefüllt werden muss, um von uns als Welt verstanden werden zu können. 58 Zu welcher Wirkmächtigkeit die Frage nach dem Sinn sich auswachsen kann, davon gibt die Art und Weise, wie das Erdbeben von Lissabon 1755 philosophisch, literarisch und künstlerisch reflektiert 58

Vgl. dazu auch Angehrn 2009, 23.

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Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt

wurde, ein beredtes Zeugnis. 59 Das Wort ›Lissabon‹, so hat es Susan Neiman prägnant formuliert, werde im 18. Jahrhundert in etwa so verwendet, wie man heute das Wort Auschwitz verwendet. 60 Goethe zum Beispiel versucht noch aus einem Abstand von mehr als fünfzig Jahren diesem »außerordentliche[n] Weltereignis« und »ungeheuren Schrecken« beizukommen. 61 ›Lissabon‹ wird in Dichtung und Wahrheit zum Symbol für den Einbruch der »schrankenlosen Willkür« der Natur in das harmonisch geordnete Erfahrungsganze namens ›Welt‹, für die unlautere Kontingenz, welche die »Gemütsruhe des Knaben«, der bekanntlich in wohlsituierten Frankfurter Bürgerverhältnissen aufwächst, zum ersten Mal »im Tiefsten erschüttert« (FA I,14, 36). 62 Goethe hat sich dem Ungeheuren gestellt. In Dichtung und Wahrheit zeigt er auf poetisch-dichterische Weise, dass es Phänomenzusammenhänge gibt, deren Medialität unser diskursives Erkenntnisvermögen in dem Maße übersteigt, wie sie unser begrifflichdiskursives Vorstellungsvermögen in einen Konflikt von ganz verschiedenen Vorstellungsarten führt, ein Widerstreit, der in seiner symbolischen Verdichtung auf andere Fälle gleicher Art referiert, die in ihrer Gesamtheit auf eine höhere, ideale Ordnung verweisen. Für Goethe gehört der Konflikt, der sich in der Erfahrungswelt herausbildet und nur dort kategorial verhandelt werden kann, zur Struktur der Erfahrung selbst, weswegen er, der Widerstreit, zum einen nicht getilgt werden kann, sprich: ausgehalten werden muss bzw. zwangsläufig miterfahren wird, und zum anderen – indirekt – über sich Aus der umfangreichen Literatur zu diesem Thema und Problemkomplex seien an dieser Stelle nur genannt: Breidert 1994; Günter 2005; Lauer/Unger 2008. 60 Neiman 2004, 23. 61 Schmitz 1998 hat sich in einer bemerkenswerten phänomenologischen Lektüre der Kategorie des Ungeheuren, Schrecklichen und Dämonischen bei Goethe zugewandt. Vgl. auch ders. 1992. Auf die Bedeutung der Kategorien des Schrecklichen und des Ungeheuren für eine Theorie geschichtlicher Zeiten wird zurückzukommen sein. 62 Vgl. dazu auch Hühn 2013, 92. In Ergänzung zur morphologischen Methode weist die symbolische Vermittlung Hühn zufolge bestimmte Ereignisse bzw. Objekte als ›eminente Fälle‹, als Repräsentanten vieler anderer Fälle aus, die in einer spezifisch geschichtlichen Konstellation eine ›gewisse Totalität‹ in sich schließen. Als Goethe 1797 nach langer Zeit wieder in seine Geburtsstadt Frankfurt gekommen sei, habe er er die Stadt stark verändert, zum Teil zerstört vorgefunden; der Roßmarkt und das Haus des Großvaters Textor würden von Goethe zu seiner eigenen Überraschung als ›symbolisch‹ beschrieben: »The symbolic approach helps to envisage the partial events as ›eminent cases‹ in a historical configuration, events which stand for themselves while at the same time referring to each other in the way of a metonymic symbolism. No partial event can claim absolute meaning, but each has a specific meaning«. 59

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Zeitphilosophische Verschiebungen

selbst hinaus auf ein übergreifendes Ganzes verweist, wie ja Goethe selbst weniger am umfassenden Porträt einzelner Menschen (das schließt ihn mit ein) interessiert ist, als daran, »den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen« (FA I,14, 13). 63 Konflikte, die sich herausbilden, haben für Goethe nicht nur eine erlebnisbezogene Temporalität; insofern sie selbst Erfahrungen von Zeit miteinschließen, haben sie auch eine geschichtsbezogene Temporalität, werden selbst zum Spiegel der Epoche, in der sie auftreten. Nicht zuletzt deshalb bezeichnet Goethe das Erdbeben von Lissabon als ein »außerordentliches Weltereignis«: ›außerordentlich‹ nicht nur im Sinne von: die schreckliche Erfahrung eines singulären Ereignisses, ›außerordentlich‹ vielmehr im Sinne eines über sich selbst hinausweisenden Ereignisses, eines Geschehen von epochaler Bedeutung, einer zäsuralen Erfahrung mit Folgen für die Sicht auf die menschliche Gattungsgeschichte: Schneller als die Nachrichten hatten schon Andeutungen von diesem Vorfall sich durch große Landstrecken verbreitet; an vielen Orten waren schwächere Erschütterungen zu verspüren, an manchen Quellen, besonders den heilsamen, ein ungewöhnliches Innehalten zu bemerken gewesen: um desto größer war die Wirkung der Nachrichten selbst, welche erst im Allgemeinen, dann aber mit schrecklichen Einzelheiten sich rasch verbreiteten. Hierauf ließen es die Gottesfürchtigen nicht an Betrachtungen, die Philosophen nicht an Trostgründen, an Strafpredigten die Geistlichkeit nicht fehlen. […] Der Knabe, der alles dieses wiederholt vernehmen mußte, war nicht wenig betroffen. Gott, der Schöpfer und Erhalter des Himmels und der Erden, den ihm die Erklärung des ersten Glaubens-Artikels so weise und gnädig vorstellte, hatte sich, indem er die Gerechten mit den Ungerechten preis gab, keineswegs väterlich bewiesen. Vergebens suchte das junge Gemüt sich gegen diese Eindrücke herzustellen, welches überhaupt um so weniger möglich war, als die Weisen und Schriftgelehrten selbst sich über die Art, wie man ein solches Phänomen anzusehen habe, nicht vereinigen konnten. (FA I,14, 36 f.)

Nun gehören Erfahrungen wie die von Lissabon nicht zum Kernbestand der alltäglichen Zeitpraxis, dennoch zeigen gerade sie an, wie elastisch und biegsam ein Zeitkonzept sein muss, um auch Erfahrungen radikaler Diskontinuität zuzulassen, Brüche, die uns von außen zustoßen. Nicht von ungefähr stellt Goethe in Dichtung und Wahrheit eine Parallele zwischen dem Erdbeben von Lissabon und dem schon ein Jahr darauf beginnenden Siebenjährigen Krieg her: 63

Zu diesem Problemkomplex vgl. auch Hoheisel 2013.

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Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt

Es handelt sich um Erschütterungen von exemplarischer Geltung, weil sie nicht nur den Glauben an einen gütigen Gott in Frage stellen, sondern, indem sie nichts an seine Stelle zu setzen wissen als den Konflikt verschiedener Vorstellungsarten, das Ergreifen der Partei für das Königreich Preußen oder die kaiserlich-österreichische Habsburgermonarchie, Positionen, die sich von nun an auch auf familiärer Ebene unvereinbar gegenüberstehen, das Denken insgesamt verzeitlichen und Gegenwart vergeschichtlichen. Das Symbol ›Lissabon‹ macht auf drastische Weise deutlich, vor welchen Aufgaben ein personales Zeit- und Geschichtsdenken steht: Es bedeutet, Selbst- und Welterfahrung zu verzeitlichten, Zeit und Gegenwart immer schon aus ihrem geschichtlichen Gewordensein heraus zu betrachten. Dass Odo Marquard im Zusammenhang mit der Lissabon-Erfahrung von 1755 nicht nur von einer »Krise des Optimismus«, sondern im Zuge dessen sogar von der »Geburt der Geschichtsphilosophie« gesprochen hat, ja mehr noch die Problemstellung einer genuin philosophisch operierenden Anthropologie genau an dieser Stelle verortet, zu einem Zeitpunkt, in dem die Endlichkeit des Menschen geradezu physisch auf dem Spiel steht, lässt die ganze Tragweite solcher radikaler Diskontinuitätserfahrungen sichtbar werden. 64 Kant hat im Übrigen ebenfalls auf das Erdbeben von Lissabon reagiert. Die entsprechenden Schriften, Anfang 1756 erschienen, spitzen die Pointe, auf die es hier ankommt, noch einmal zu: Kant fragt ausschließlich nach den natürlichen Ursachen für das Erdbeben, die Folgen, die Lissabon für das menschliche Selbst- und Weltverständnis hat, werden von ihm vollständig ausgeklammert. 65 Auch in seiner späteren Lehre vom Erhabenen ist Kant nicht mehr auf Lissabon als Ereignis eingegangen, obgleich sich gerade dort, in der Dialektik von Ohnmacht und Selbstbehauptung, ein Deutungsmuster abzeichnet, das stilprägend für den idealistischen Umgang mit geschichtlichen Kontingenzerfahrungen Vgl. Marquard 2008. Vgl. dazu die beiden Artikel, die Kant im unmittelbaren Anschluss an das Erdbeben im Januar und April 1756 in der Königsberger Zeitung veröffentlicht: Zum einen: Von den Ursachen der Erderschütterungen bei Gelegenheit des Unglücks, welches die westlichen Länder von Europa gegen das Ende des vorigen Jahres betroffen hat; zum anderen: Fortgesetzte Betrachtung der seit einiger Zeit wahrgenommenen Erschütterungen. Dazwischen erscheint sogar eine Schrift mit dem Titel Geschichte und Naturbeschreibung der merkwürdigsten Vorfälle des Erdbebens. Für das Sommersemester 1756 setzt Kant, als wäre nichts geschehen, ein Kolleg über die physische Geographie und Grundzüge der allgemeinen Naturwissenschaft an. Vgl. dazu die entsprechenden Angaben aus der Kant-Biographie von Cassirer 1921, 40.

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insgesamt ist. Auf eine solche Philosophie des ›Trotz dessen‹ wird im nächsten Kapitel ausführlich zu sprechen kommen sein. Kant muss den Erfahrungsbereich personaler Zeitpraxis verfehlen. Er muss ihn in dem Maße verfehlen, wie der transzendentale Grenzbegriff einer möglicher Erfahrung überhaupt vor der »faktisch geschichtliche[n] Einzelerfahrung« halt macht, weil diese nur »mit der Angabe des Geltungsgrundes für eben diese Erfahrung, nicht aber mit der Angabe eines Geltungsgrundes für alle mögliche Erfahrung gerechtfertigt werden kann«. 66 Während Kant den Versuch unternimmt, die Gegenstände zu bestimmen, wie sie uns in Raum und Zeit erscheinen, verfolgt Schelling das Anliegen, die Genese der einzelnen Phänomene und der Zusammenhänge, in denen sie sich zeigen, aufzudecken. Dies beginnt schon auf der untersten Ebene, beim Individuum selbst: »Schon die Eigenheiten einer ausgezeichneten menschlichen Individualität sind uns oft unbegreiflich, bis wir die besonderen Umstände erfahren, unter welchen sie geworden ist und sich gebildet hat« (WA I, 12). Niemand, so Schelling, könne sich rühmen, die Persönlichkeit eines Menschen durch die »blose Vernunft« zu erkennen; die Erkenntnis des Menschen, dessen, was ein Individuum vor allen anderen Individuen auszeichnet, setze immer »etwas Gegebenes, Thatsächliches, Geschehenes« voraus, wodurch auch die Erkenntnis »concreter, reeller und empirischer werde« (Schelling 1827/ 28, 59). Oder könnte man etwa, wie Schelling an anderer Stelle fragt, »wenn vom Geringsten der Gegenwart die Rede ist, ein Glied der großen Vergangenheit herausnehmen, ohne daß jenes sofort unmöglich würde«; wäre es möglich »aus einem Menschen wie durch einen chemischen Prozeß zu extrahieren, was Vergangenheit und Gegenwart zu ihm beitragen, was bliebe übrig, als der bloße leere Titel eines Selbstes oder Ichs, mit dem er wenig, oder richtiger zu reden, gar nichts ausrichten würde« (SW XIII, 136)? Der Gedanke, den Schelling mit seiner Kritik an Kant verfolgt, ist, dass die Geltungsgründe unseres Urteilens und Handelns einer rationalen Genese unterliegen, deren normative Maßstäbe es sukzessive allererst aufzudecken gilt, um von diesem Standpunkt aus wiederum in die Lage versetzt zu werden, auf der Höhe der Zeit zu urteilen und zu handeln. Immer gelte es, »von dem was wirklich Anfang ist«, also dem »an sich Unvordenklichen u. Ersten durch Mittelglieder«, »bis zu dem was wirklich das Ende ist« fortzuschreiten: »Alles was nicht auf diese Weise 66

Otto 1982, 52

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anfängt und fortschreitet, träfe es auch zufällig in Einzelnem mit der wahren Wissenschaft zusammen, ist bloß scheinbare, künstliche, gemachte Wissenschaft« (WA 211 f.). Schelling knüpft damit an frühere Überlegungen zu einer »Philosophie des Menschen« an, die er als eine »Philosophie der Geschichte« verstanden wissen möchte (AA I,5, 61 f.). Geschichte, so lässt sich eine Einsicht des frühen Schellings reformulieren, ist das, was sich a priori nicht konstruieren lässt. Und alles, was sich a priori konstruieren lässt, ist umgekehrt nicht Geschichte. 67 Der Mensch hat nach Schelling, mit anderen Worten, »nur deßwegen Geschichte, weil, was er thun wird, sich nach keiner Theorie zum voraus berechnen läßt. Die Willkür ist insofern die Göttin der Geschichte« (AA I,9,1, 288). In diesem Zusammenhang kann es hilfreich sein, auf Aristoteles zu verweisen. Schon Aristoteles hatte in der Nikomachischen Ethik betont, dass die Beurteilung einer Handlung es immer mit dem Einzelnen und Konkreten zu tun habe und insofern dem »Urteil des Sinnes« unterstehe. 68 Insofern ist Schellings Votum gegen Kant als ein Votum für genau diese aristotelische Direktive zu verstehen: der Fokus auf das Einzelne in seinen je konkreten geschichtlichen Bezügen. 69 Geschichtliches Wissen setzt, wie auch Stephan

Vgl. dazu Schellings Aufsatz von 1798 Über die Frage, ob eine Philosophie der Erfahrung, insbesondere ob eine Philosophie der Geschichte möglich sei (AA I,4, 183–190) sowie die aufschlussreichen Ausführungen von Bach 2011 zur Genese von Schellings Projekt einer Philosophie der Geschichte im Ausgang von Herder. Schon Herder hatte in seinem Reisejournal von 1769 notiert: »Welch große Geschichte, um die Literatur zu studieren, in ihren Ursprüngen, in ihrer Fortpflanzung, in ihrer Revolution, bis jetzt! Alsdenn aus den Sitten Amerikas, Afrikas und einer neuen südlichen Welt, besser als ihre, den Zustand der künftigen Literatur und Weltgeschichte zu weissagen! Welch ein Newton gehört zu diesem Werk! Wo ist der erste Punkt« (FA 9,2, 18). 68 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1109b23. Vgl. dagegen Kant: »Man kann also zwar richtig sagen: daß die Sinne nicht irren, aber nicht darum, weil sie jederzeit richtig urteilen, sondern weil sie gar nicht urteilen« (KrV, A 293/B 350). 69 In analoger Weise unterstreicht auch Gadamer die Bedeutung der aristotelischen Philosphie für ein geschichtliches Verständnis der Wirklichkeit. Im Rahmen seiner hermeneutischen Überlegungen entfaltet Gadamer anhand der aristotelischen Kategorien von Allgemeinem und Besonderen und ihrer Vermittlung den Begriff eines im Geschichtlichen verwurzelten sittlichen Wissens, das in Opposition zu einem gegenständlichen Wissen steht: »Das sittliche Wissen, wie es Aristoteles beschreibt, ist offenkundig kein gegenständliches Wissen. Der Wissende steht nicht einem Sachverhalt gegenüber, den er nur feststellt, sondern er ist von dem, was er erkennt, unmittelbar betroffen. Es ist etwas, was er zu tun hat« (Gadamer 1990, 319). 67

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Otto im Hinblick auf eine Kritik der historischen Vernunft ausführt, in konstitutiver Weise die »Selbstreflexion geschichtlich einzelner Subjektivität über ihre geschichtliche Vereinzelung« voraus. 70 Nietzsche wird in seiner Genealogie der Moral sagen, dass alle Begriffe sich einer abschließenden Definition entzögen: Definierbar sei überhaupt nur das, was keine Geschichte habe. 71 Will man wie Schelling zum Gebiet der Erfahrung Natur und Geschichte zählen, dann stellt sich die Frage, wie die spezifische Eigendynamik unserer geschichtlichen Erfahrungen mit einer nach bloßen Vernunftgesetzen strukturierten und insofern ungeschichtlichen Philosophie sich überhaupt in ein Verhältnis bringen lässt. Erweist sich die Natur klassischerweise als Buch, das man nur aufschlagen braucht, um darin lesen zu können, tritt die Geschichte für Schelling als Fragment in Erscheinung, dessen Verortung Zeit beansprucht, viel Zeit, ›Lebenszeit‹, um genau zu sein. Eines scheint für Schelling festzustehen: Von einem »Entschluß, einer Handlung oder gar einer That weiß das reine Denken nichts« (SW XIII, 173). 72 Zwar scheint es auch hier wieder sich für einen Moment so zu verhalten, als wolle Schelling die ›kopernikanische Revolution‹ Kants rückgängig machen, zielt der Gedanke einer rationalen Genese doch darauf ab, dass sich die Gegenstände nicht mehr nach unserer Erkenntnis richten, sondern unsere Erkenntnis sich wieder – wie in vorkritischen Zeiten – nach den Gegenständen. Hatte Kants ›kopernikanische Wende‹ darin bestanden, dass wir »von den Dingen nur das erkennen, was wir selbst in sie legen« (KrV, B XVIII), so heißt es in umgekehrter, geradezu provokanter Weise bei Schelling nun, dass »unser Bestreben, einen Gegenstand zu erkennen«, nie die Absicht haben dürfe, »etwas in ihn hineinzutragen, sondern nur ihn zu veranlassen, daß er sich selbst zu erkennen gebe«: »Die Ansichten haben sich nach der Natur der Gegenstände zu richten, nicht umgekehrt richtet sich diese nach jenen« (SW XI, 4). Aber die Revision einer kritischen Phänomenalismus à la Kant ist nicht mit seiner Verabschiedung zu verwechseln. Bei den Phänomenen, auf die es Schelling ankommt, handelt es sich nicht um bewusstseinsunabhängige Otto 1982, 52. Vgl. Nietzsche 1887, 333. 72 Vgl. dazu auch SW XIV, 86: »Das sind Verhältnisse [der Entschluss, die Handlung, die Zäsur, P. N.], die keine Philosophie erklären kann, in der keine wahre Succession ist, die bloße logische Verhältnisse kennte, und in der eine bloß simulierte Succession ist, die im letzten Gedanken sich wieder aufhebt«. 70 71

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Phänomene, sondern um Phänomene, die als geschichtliche Einzelerfahrungen von Personen selbst einen Grad von Bewusstsein aufzuweisen haben, und sei er auch noch so gering. Die Analyse der menschlichen Zeiterfahrung im zweiten Teil der Studie hatte dies gezeigt. Eben dies ist auch der Grund dafür, warum Schelling einfordert, dass bei jeder Erklärung »das Erste« sei, »daß sie dem zu Erklärenden Gerechtigkeit widerfahren lasse, es nicht herabdrücke, herabdeute, verkleinere oder verstümmele, damit es leichter zu begreifen sey« (SW XII, 137). 73 Schelling geht es darum, den Phänomenen ihre Zeit allererst abzugewinnen, anstatt sie ihnen als Form unserer Vorstellungen aufzuerlegen; die Zeit der Phänomene soll sichtbar werden als die Zeit, die ihnen selbst eingeschrieben ist, und als die Zeit, die sie – wie ›Lissabon‹ – der Zeit selber einschreiben. Auf diese Weise wird auch verständlich, warum Schellings personales Zeit- und Geschichtsdenken sowohl den Erfahrungsraum einer gewesenen Vergangenheit als auch den Erwartungshorizont kommender Zukunft aufspannt. Es gilt, wie Schelling sich ausdrückt, »dem Gegenstand gewachsen, auf gleicher Höhe mit ihm zu seyn« (SW XII, 137), mit anderen Worten, Zeitgenosse seiner eigenen Zeit zu werden, wozu es aber – mehr als alles andere – zunächst der kritschen Distanz zu ihr bedarf.

9.5. Monokratie und Alterität Im Ausgang von diesen systematischen Überlegungen lässt sich noch einmal genauer bestimmen, worauf Schelling mit dem Gegensatz von ›innerer‹ und ›äußerer Zeit‹ zielt. Unter der ›äußren Zeit‹ lässt sich die Abstraktion vom personalen Vollzug der Zeit und seiner geschichtlichen Aufarbeitung verstehen, die Auffasuung der Zeit als einer ins Unendliche fortgehenden Linie. Gemäß dieser Vorstellung scheint es, als ob »nichts Neues […] unter der Sonne« (WA III 1, 188) geschehe, als ob die Welt den immer gleichen Bahnen folgen würde, wie SchelSchelling unterstreicht diese Umkehrung auch noch einmal in Bezug auf die Unterscheidung zwischen einer negativen, bloß bei sich bleibenden Philosophie und einem positiven Denken: »Alles ursprüngliche Denken bezieht sich immer auf einen wirklichen Gegenstand. Gegenstand und Wirklichkeit ist im Grunde ein und dasselbe Wort: der Gegenstand der Philosophie ist immer ein solcher, dem ich, was er in sich schliesst, gleichsam erst abgewinnen muss. Dieses ringende Denken nenne ich das positive Denken« (Schelling 1832/33, 94).

73

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ling in Anspielung auf das Buch Kohelet sagt. 74 Die Gegenwart tendiert mit anderen Worten dazu, ihre faktische Geschichtlichkeit zu verdrängen und sich einem selbst auferlegten und insofern auch selbst verschuldeten Naturzwang zu unterwerfen. Sie »remythologisiert«, wie Michael Theunissen im Anschluss an Schelling sagt, die Vernunft, indem sie »im Reich der Freiheit selbst den Naturzwang erneuert«. 75 Für Schelling handelt es sich bei der ›äußeren Zeit‹ in dem Maße um das »Scheinbild einer abstrakten Zeit« (WA I, 144), um einen Mythos, wie ein solches ›Scheinbild‹ darüber hinwegtäuschen soll, dass auch diese, unsere, die weltliche Zeit sich immer schon in Gefüge von Zeiten befindet, und daher gar nicht so statisch aufzufassen ist, wie es auf den ersten, routinierten Blick scheint. Dass Aufklärung auf ihrem Höhepunkt in Mythologie zurückschlägt, ist bekanntlich eine der Grundthesen der Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno; in Schellings Weltalterlehre wird sie avant la lettre ausbuchstabiert, und zwar als Theorie einer ›in sich verkehrten‹ Zeit. Worauf Schelling mit seiner Kritik, dass kein Ding eine ›äußre Zeit‹ habe, sondern jedes nur seine ›innere‹, ihm eigene Zeit, hinauswill, ist, dass, obwohl es ›gegenwärtig‹ so scheinen mag, als habe es nie eine andere Zeit gegeben und als könne es auch nie eine andere Zeit geben als die ›gegenwärtige‹, weltliche Zeit, diese Zeit selbst nur das Produkt eines geschichtlichen Ausdifferenzierungsprozesses ist, selbst nur ein Glied in einem größeren Zusammenhang von Zeiten und insofern selbst eine geschichtlich gewordene Zeit darstellt. Schellings ›Zeit‹-Kritik ist nicht bloß Systemkritik; sie ist Zeit-Kritik in sensu eminenti. Sie ist Gegenwartskritik in dem Maße, wie sie die antike Tradition der χρόνων αἰωνίων aufgreift und in eine kritische Erinnerung an die grundsätzliche Offenheit der Zeit transformiert. Auch da, wo es so scheint, als gäbe es nichts als Naturzwang, nur Monokratie, ist für Schellings personales Zeit- und Geschichtsdenken eine grundsätzliche Alterität mitgegenwärtig: »Es kommt also hauptsächlich darauf zu zeigen, dass und wie die Zeit dieser Welt, von welcher ganz richtig gesagt wird, dass sie nicht über die Welt hinausgeht, nicht die Zeit schlechthin, nicht die einzige und ganze sei« (Schelling 1832/33, 88). Vgl. Koh 1,9: »Was geschehen ist, wird wieder geschehen,/ was man getan hat, wird man wieder tun:/ Es gibt nichts Neues unter der Sonne«. 75 Theunissen 1994, 47. 74

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Schellings personales Zeit- und Geschichtsdenken richtet sich ausnahmslos gegen alle Zeittheorien, zu deren grundlegenden Annahmen es gehört, es würde ›nichts Neues unter der Sonne‹ geschehen. Damit ist nicht nur die lineare Zeitauffassung Kants gemeint, sondern auch die zyklische Zeitauffassung Platons, also die Vorstellung, die Zeit sei ein bewegliches Abbild des Aion und müsse ihre Bewegung deswegen auf eine ewig-wiederkehrende Weise vollziehen. Was Kants und Platons Zeitauffassung in dieser Einstellung teilen, ist die Vorstellung, der Verlauf der Zeit würde auf einer einzigen Bewegung beruhen. In Platons Vorstellung eines »in Zahlen fortschreitenden ewigen Abbildes des im Einen verharrenden Ewigen« scheint, mit anderen Worten, bereits etwas von Kants Vorstellung der Zeit als einer ins Unendliche fortgehenden Linie durch; eine historisch-systematische Parallele, die, wie Karen Gloy bemerkt, dadurch zustandekommt, dass auch bei Platon »die geschlossenen Perioden, seien es die Umläufe der Planeten oder die Lebenszyklen, chronologisch gezählt werden«. 76 Wo aber der Verlauf der Zeit nur auf einer einzigen Bewegung beruht und Vorgänge dadurch vergleich- und schließlich auch messbar werden, da muss die Zeit, sei sie nun wie in der Moderne auf lineare oder wie in der Antike auf zyklische Weise unendlich, selbst geschichtslos bleiben. Warum kritisiert Schelling in den Weltaltern dann aber vornehmlich Kant und richtet seine ›Zeit‹-Kritik nicht auch in gleicher Weise gegen Platons Metaphysik der Zeit? Das Interessante an der überraschenden Theorieparallele zwischen Platon und Kant ist, dass die Übergeschichtlichkeit der Zeit um 1800 eine radikale Umwertung erfährt. Das »Gefühl eines Geborgensein« in der zyklischen Zeit der Antike schlage, so hält es Alexander Demandt fest, in der Moderne in das Gefühl einer »Gefangenschaft« um, eines Eingeschlossenseins in das Regime einer rein formalen Zeit, die sich vom personalen Lebensvollzug entfernt habe. 77 Gefangen sind wir, das hebt auch Schelling hervor, in einer Welt, die nicht über sich hinaus- und damit auch nicht aus sich herauskommt, gefangen in einer Zeit, in der ›nichts Neues unter der Sonne‹ geschieht, einer Zeit, die man mit Schelling als eine »stationäre, eine stillstehende Zeit« (Schelling 1832/33, 89) bezeichnen könnte, als einen ZuGloy 2006, 118. Eine ›Vermischung‹, so ist allerdings einzuräumen, die nur im Timaios (37d) auftritt, im Parmenides (151e–152e) ist die zyklische Zeit in Reingestalt, ohne Konfudierung mit der Linearzeit, enthalten. 77 Demandt 1978, 247. 76

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stand, von dem wir nicht wollen können, dass er ist, wie er ist, und dass er andauert: »Sich befangen, fremd und unbehaust zu finden, das ist für Schelling die erste Erfahrung des erwachenden Bewußtseins, welt- wie individualgeschichtlich«. 78 Gegen diese ›Gefangenschaft‹, diese um sich greifende Chronologisierung ursprünglich lebensrhythmischer Vorgänge versucht Schelling sich mit dem Verweis auf eine »wahre Vergangenheit« und eine »wahre Zukunft« (Schelling 1832/33, 89) philosophisch zu verteidigen, das heißt, durch eine kritische Erinnerung daran, dass in die Zeit selbst eine tiefengeschichtlich wirksame Ewigkeit eingelassen ist, die das Gewordensein und Immer-Noch-Werden von Zeit und Welt zum Ausdruck bringt. 79 Denn die »Täuschung«, also die Vorstellung, es könne tatsächlich nur eine Zeit geben, in der die Dinge sind, nicht aber auch eine Zeit, die in den Dingen selbst ist, insofern diese sich selbsttätig entwickeln und dadurch eine neue, und zwar ihnen gemäße Zeit hervorbringen, lässt sich den Weltaltern zufolge »leicht auflösen« (WA I, 78). Die Pointe der Auflösung besteht dabei im Folgenden: Dass in der ›gegenwärtigen‹, weltlichen Zeit nichts Neues unter der Sonne geschieht, möchte im Grunde auch Schelling sagen, nur ist bei ihm damit die kritische Erinnerung daran gemeint, »es sey nur von der durch die Sonne bestimmten d. i. weltlichen Zeit die Rede« (WA III 1, 188), nicht aber von der Zeit, die über der Zeit ist und dafür sorgt, dass die Zeit der Gegenwart andere Zeit außer sich voraussetzt. Sollte »irgend ein Ding durch den hohen Grad seiner Ungeschiedenheit ohne lebendige innre Zeit scheinen, so unterliegt es wenigsten keiner außer sich« (WA I, 78). Die polare Opposition von Außen und Innen wird im selben Moment unterwandert, in dem sie von Schelling aufgestellt wird. Es gibt vom Weltkörper hinab bis zu den organischen Gewächsen gar keine andere als die lebendige Zeit der Subjekte, »ob sie gleich in den hier genannten entfalteter, Adolphi 1993, 353. Schelling schildert diese Befangenheit sehr drastisch: »Was wir also insgeheim die ›Welt‹ nennen, ist eigentlich nur eine Zeit, in der weder eine wahre Vergangenheit noch eine wahre Zukunft ist. Denn es wiederholt sich in ihr nur, was geschehen ist. Wir können also die gegenwärtige Welt betrachten als eine Zeit, die in einem beständigen, aber eitlen Bestreben begriffen ist, die wahre Zukunft hervorzubringen, oder eine Zeit, die nicht als Gegenwart bestehen kann, die bestimmt ist, zur Vergangenheit zu werden. Aber auch das vermag sie nicht; sie setzt immer nur wieder sich selbst. Denn einer solchen Zeit bleibt nichts übrig, als sich selbst unablässig wieder zu setzen. Die ganze Welt wird gleichsam in jedem Moment negiert« (Schelling 1832/33, 89).

78 79

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ausgesprochener ist als in den andern«: »[K]ein Ding hat eine äußre Zeit, sondern jedes nur eine innre, eigne, ihm eingeborne und inwohnende Zeit« (WA I, 78). Dass sich eine ›Täuschung‹ derartig ›leicht auflösen‹ lässt, sagt allerdings noch nichts darüber aus, wie unnachgiebig, ja ›gewalttätig‹ sich diese zunächst und zumeist Raum verschafft. »Die Meisten aber«, so wendet Schelling – resignierend – ein, »möchten, wo nur die That entscheidet, alles mit friedlichen Allgemeinbegriffen schlichten, und eine Geschichte, in der wie in der Wirklichkeit Scenen des Krieges und des Friedens, Schmerz und Lust, Gefahr u. Errettung wechseln als eine bloße Folge von Gedanken vorstellen« (Schelling 2002, 167). Schelling übt seine Zeitkritik aus dem Bewusstsein heraus, dass die Tendenz der Gegenwart bei aller Gegentendenz immer wieder zur gewaltsamen Beherrschung der Zeit zurückkehrt. 80 Man berufe sich zwar auf die Ewigkeit der Vernunft und ihre Ansprüche, aber eine Genealogie der Gegenwart könne zeigen, »dass die Vernunft nur die Gewalt der allgemeinen Spannung des gegenwärtigen Zustandes der Dinge ist«: »In dieser Spannung sind auch wir begriffen, wir andern Wesen« (Schelling 1832/33, 90). Im Gefolge der alltäglichen Routine kann es so immer wieder zu einer schlechten Kontinuierung der Zeit kommen, als ob es im Umgang mit der Zeit für uns tatsächlich unmöglich wäre, von selbst einen Anfang zu setzen, ein Dilemma wider besseren Wissens: »Denn daß der Begriff einer unendlichen Zeit ein ungereimter Begriff sey, davon ist jeder leicht zu überführen; und dennoch kommt der menschliche Verstand immer wieder dahin, so lange nicht seine Wurzel ausgerissen worden« (WA I, 79). Hier also, bei der kritischen Erinnerung an den praktischen Umgang mit Zeit und die Notwendigkeit ihrer geschichtlichen Aneignung, ergibt sich die Möglichkeit, Schellings hochspekulatives Weltalter-Projekt auf bisher ungenutzte Potentiale für die moderne Vgl. dazu auch Hutter 1996, 373: »Die moderne Vernunft ist demnach von einer ›unbewußten‹ Parteinahme für das ›Abstrakte‹ beherrscht, die zugleich – und das ist erst die entscheidende Wendung – eine Wendung gegen die konkrete Wirklichkeit ist«. Eine Passage aus Schellings Spätphilosophie, die Hutter in diesem Kontext zitiert, macht die Wirklichkeitsverkehrung sehr plastisch: »Während unsere Zeit auf der einen Seite sich von allem Positiven, Bedingten, Gegebenen abwendet, gleichsam als wäre es möglich, die Welt ganz von vorne anzufangen und neu hervorzubringen, ist nicht zu leugnen, daß sie von der anderen Seite eine sehr lebhafte Richtung auf die Wirklichkeit zeigt, wie aus dem Bestreben erhellt, eben jene allgemeinen und abstrakten Vorstellungen womöglich der Wirklichkeit aufzudringen« (SW XIII, 178).

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Zeitphilosophische Verschiebungen

Zeitphilosophie kritisch zu prüfen. 81 Die systematische Perspektive, die sich aus der Kritik am »jetzt herrschende[n] Begriff« der Zeit gewinnen lassen, erschließt temporale Phänomene, die durch den methodischen Zuschnitt anderer Zeittheorien gar nicht oder nur unzureichend berührt werden. Ein Großteil dieses von Schelling in den Blick gebrachten Phänomenbereichs speist sich aus Erfahrungen geschichtlicher Dis-/Kontinuität und soll im Folgenden anhand solcher Erfahrungen untersucht werden. Auch hier bietet es sich in methodischer Hinsicht wieder an, das verborgene Potential des personalen Zeit und Geschichtsdenkens Schellings im Ausgang von denjenigen Problemen zu entwickeln, in die man gelangt, wenn man am Modell der kantischen Philosophie festhält. Denn auch auf dem Gebiet der Geschichte hat man es bei Kant mit einer linearen Vorstellung der Zeit zu tun. Zwar wird die geschichtliche Zeit von Kant nicht als eine ins Unendliche fortgehende Linie vorgestellt, aus Gründen der notwendigen Orientierung in der ihr eigenen Unübersichtlichkeit aber als eine sich dem sittlich Guten annähernde Kurve. Die Universalgeschichte ist das geschichtsphilosophische Pendant zur linearen Zeit der Erkenntnis. Sie ist das »phantomhafte Gegenstück zur fließenden Zeit«, wie Siegried Kracauer notiert. 82 Die Universalgeschichte spiegelt die Beziehung zwischen der Zeit der Objektwelt und der Zeit des transzendenalen Subjekts als Konvergenz zwischen der Zeit des Einzelnen und der Zeit der menschlichen Gattung wider. Der linearen Vgl. dazu auch Hutters Deutung der Spätphilosophie als einer anamnetischen Kritik des modernen Bewusstseins: »Die Verdrängung der praktisch-geschichtlichen Dimension aus der heutigen Rationalität führt nicht nur zu einer Beschränkung und fortschreitenden praktischen Ohnmacht der modernen Vernunft, sondern im Gegenzug zu einer Ermächtigung von nunmehr ›irrational‹ auftretenden, praktischen Imperativen« (Hutter 1996, 383). 82 Kracauer 2009, 158. Auch Benjamin 1942, 701, unterstreicht die frappante Verschränkung von Linearzeit und Universalgeschichte, die wechselseitig voneinander dependieren: »Die Vorstellung eines Fortschritts des Menschengeschlechts in der Geschichte ist von der Vorstellung ihres eine homogene und leere Zeit durchlaufenden Fortgangs nicht abzulösen. Die Kritik an der Vorstellung dieses Fortgangs muß die Grundlage der Kritik an der Vorstellung des Fortschritts überhaupt bilden«. Schweppenhäuser kommentiert diese systematische Verschränkung im Materialien-Band zu den geschichtsphilosophischen Thesen wie folgt: »Im Universalhistorismus und im Fortschrittsbild schlägt ein gemeinsames durch: der Schematismus der leeren Zeit, nach dem dieses sei’s mit den präparierten Ereignissen aufgefüllt – wie ein Museum vollgestopft – sei’s kontinuierlich und durchlaufend gemacht – wie eine Kette mit Perlen besetzt – wird. Diese Zeit drückt die vollständige Negation der Geschichtszeit aus« (Schweppenhäuser 2016, 13). 81

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Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt

Zeit korrespondiert der Kollektivsingular ›Geschichte‹. 83 Auch hier, so wird sich zeigen, verfehlt Kant die spezifische Eigenzeit der Dinge. 84 Nach Schelling hat nicht nur jede Zeit ihre Geschichte, jede Geschichte hat auch ihre Zeiten.

10. ›Zeit‹-Konflikte: Erfahrungen geschichtlicher Dis-/Kontinuität 10.1. Kants Philosophie des ›Trotz dessen‹ Kants Zugriff auf das Problem der Geschichte ist geprägt von einem methodologischen Antagonismus. Es ist der Konflikt zwischen Individuum und Gattung, der die Geschichte zum Erfahrungsfeld des Prekären und Temporären macht und Konsolidierungsmaßnahmen auf den Plan ruft, welche die Geschichte trotz dessen, trotz der geschichtlichen Kontingenzerfahrungen, die es gibt, desjenigen, »was an einzelnen Subjekten verwickelt und regellos in die Augen fällt« (AA 8, 17) als einen regelmäßigen, sprich: vernünftigen, zweckmäßigen Gang erscheinen lassen. So findet sich bekanntlich in der Idee zu einer Philosophie in weltbürgerlicher Absicht von 1784 der Begriff von einem verborgenen Plan der Natur, der methodisch den Leitfaden für eine Geschichtsbetrachtung in vernünftig-kritischer Absicht abgeben soll: Auch wenn es so scheinen mag, dass der Mensch keine vernünftigen eigenen Absichten verfolgt, so sagt dieser in der Natur verborgene Plan, ist doch, auch und vor allem im Angesicht der nicht mehr zurückzunehmenden geschichtlichen Bewegung der europäischen Aufklärung, ein Fortschritt im widersinnigen Gang der Vgl. Koselleck 1989. Kosellecks begriffsgeschichtliche These lautet bekanntlich, dass in der Aufklärung um 1770 ein neuer Begriff von Geschichte entsteht. Wo vorher Geschichten im Plural standen, tritt nun die Geschichte im Singular hervor: »Zuvor gab es Geschichten im Plural, vielerlei Geschichten, die sich ereigneten und die als Exempel zum Unterricht der Moral, der Theologie, für das Recht und in der Philosophie dienen mochten. Ja, die Geschichte war als Ausdruck selbst eine Pluralform. […] Es war eine begriffliche Leistung der Aufklärungsphilosophie, daß Geschichte schlechthin zu einem Allgemeinbegriff angereichert wurde, der als Bedingung möglicher Erfahrung und möglicher Erwartung gesetzt wurde« (263). 84 Vgl. dazu auch Picht 1958. Picht macht im Ausgang von Aristoteles deutlich, dass die ständige Gegenwart der Ewigkeit noch der Grund des Zeitbegriffs Kants ist, und dass in einer so gedachten Unendlichkeit es überhaupt keine Geschichte geben kann, schon gar keine von Personen. 83

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›Zeit‹-Konflikte: Erfahrungen geschichtlicher Dis-/Kontinuität

menschlichen Dinge zu erkennen, und dieser Fortschritt zielt auf die »Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft« (AA 8, 22). Nach Kants Vorstellung ist das gesellschaftliche Zusammenleben von Konflikten durchdrungen, die soziale, kulturelle und politische Sphäre ein hochfrequentierter Kampfplatz unterschiedlicher Interessen. Das Mittel, dessen sich die Natur zur Erreichung dieses Zieles bedient, bezeichnet Kant als den »Antagonismus derselben in der Gesellschaft« oder auch als die »ungesellige Geselligkeit« (AA 8, 20). Der Mensch, so sagt Kant, habe einerseits eine Tendenz sich zu vergesellschaften, »weil er in einem solchen Zustande sich mehr als Mensch, d. i. die Entwickelung seiner Naturanlagen fühlt« (AA 8, 20). Andererseits habe der Menschen eine Tendenz sich zu vereinzeln, »weil er in sich zugleich die ungesellige Eigenschaft antrifft, alles bloß nach seinem Sinne richten zu wollen« (AA 8, 21). Und eben hieraus, aus Tendenz und Gegentendenz, entsteht der Konflikt, die Reibung im gesellschaftlichen Umgang, ein Widerstreit, der, bei aller Tragik, die ihn zuweilen begleitet, aber auch etwas gutes an sich hat: Denn durch den Konflikt hindurch findet eine Disziplinierung, Mäßigung und Kultivierung des Menschen statt: Der nämlich muss einsehen, dass er von seinen Zeitgenossen, auch wenn sie nicht leiden, gar nicht ablassen kann, weil er sie zur Erreichung seiner eigenen Ziele braucht, die nun über kurz oder lang auch nicht mehr seine eigenen Ziele sind, sondern gesamtgesellschaftliche Ziele werden: Ziele, deren Realisierung mit einer friedensstiftenden Verrechtlichung und Institutionalisierung des Zusammenlebens einhergehen, »und so eine pathologisch-abgedrungene Zusammenstimmung zu einer Gesellschaft endlich in ein moralisches Ganzes verwandeln« (AA 8, 21), wie Kant sich ausdrückt. In konsolidierender Absicht verpflichtet sich die Geschichtsphilosophie Kants darauf, in der Geschichtsbetrachtung dem Einfluss von geschichtlichen Ereignissen nicht nachzugeben und sich im moralischen Handeln nicht beirren zu lassen, so etwa den Tod zu »vergessen«, und die »Mühe«, die wir haben, und das »Flitterwerk«, vor dem wir stehen, »geduldig« auf uns zu nehmen; die »unwiderstehlich treibende Vernunft« (AA 8, 115) behält die Oberhand in der vom Partikularen durchzogenen geschichtlichen Wirklichkeit. Der geschichtliche Fortschritt ist, mit anderen Worten, ›ratiomorph‹. 85 Der höchste Zweck, den es von Seite 85

Vgl. Baumgartner 1996.

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Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt

des Menschen zu erreichen gilt, bewährt sich, auch wenn sich dieser Zweck bis auf einzelne, wenige Ausnahme überhaupt nicht in der Geschichte zeigt, geschweige denn sich ebendort erfüllt. Die geschichtliche Zeit des Einzelnen wird in eine Zeit der Geduld transformiert. Die Zeit der Geduld wird zu einem Medium von Lebenswirklichkeit in dem Maße, wie allein die geduldige Vernunft den verborgenen Plan der Natur einsieht und das Chaos der geschichtlichen Wirklichkeit, die augenscheinliche Regellosigkeit der Welt anhand dieses Leitfadens überprüft. 86 Auf diese Weise begegnet man bei Kant der Struktur einer Geschichtszeit, welche die historische Einmaligkeit einer je spezifischen Person, einer je spezifischen geschichtlichen Epoche a fortiori in den Verlauf einer naturteleologisch fundierten Universalgeschichte stellt, die persönliche Eigenheiten, die sich geschichtlich herausbilden, radikal nivelliert. Die kantische Philosophie ist ihrem Ansatz nach eine »Philosophie der einsamen und geschichtslosen Subjektivität, der zunächst nichts gegeben ist als ihr eigenes Denken«, gibt Stephan Otto zu Bedenken. 87 Kant verfehlt, so lässt sich auch mit Martin Seel konstatieren, die »spezifische Zeitlichkeit des menschlichen Lebens« in dem Maße, wie er die menschliche Lebensführung in letzter Instanz an Fixpunkten ausrichtet, »von denen jederzeit deutlich ist, daß sie im endlichen Leben unerreichbar bleiben müssen«. 88 Verteidiger Kants mögen an dieser Stelle einwenden, dass genau das ihre Stärke sei, für ein personales Zeit- und Geschichtsdenken, wie es Schelling in den Weltaltern entwickelt, für ein Denken geschichtlicher Dis-/Kontinuität ist es zu wenig. Was sich im Ausgang von Schellings genealogischem Ansatz an der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht kritisieren lässt, ist die Tendenz, das philosophisch Unbequeme – die Kategorie des geschichtlich Einzelnen – auszublenden. Sie, also die gegenwärtige, idealistische Philosophie, so sagt Schelling, wolle »das Unbequeme ganz hinwegschaffen, das Unverständliche völlig in Verstand auflösen« (SW VIII, 212); auch Kant versuche, »das Geschichtliche gänzlich verschwinden zu lassen« (Schelling 1841/42, 18). 89 Vgl. Theunissen 1991c, 327. Otto 1982, 59. Otto schließt sich an das Diltheysche Diktum an, in den Adern des kantischen Subjekts fließe kein »wirkliches Blut«, nur »der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit«. Vgl. dazu Dilthey 1883, XVIII. 88 Seel 2007, 181. 89 Umgekehrt bezeichnet der zweifellos von Schelling beeinflusste Franz Rosenzweig 86 87

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›Zeit‹-Konflikte: Erfahrungen geschichtlicher Dis-/Kontinuität

Das Interessante im Hinblick auf Schellings eigene Entwicklungsgeschichte ist dabei: Schelling kritisiert hier im Grunde sich selbst, hatte er doch selber im System des transscendentalen Idealismus noch ganz im Sinne Kants von einer »verborgenen Notwendigkeit« gesprochen, welche höher als alle menschliche Freiheit zu veranschlagen wäre, insofern ihr nicht die Handlungen, wohl aber die »Folgen der Handlungen« (AA I,9,1, 293 f.) unterstünden. Zwar ist es in der Tat so, dass, wie Schelling gesagt hatte, der Mensch nur deswegen Geschichte habe, »weil, was er tun wird, sich nach keiner Theorie zum voraus berechnen lässt«. Aber das Mehr, das hier auf Seiten der Geschichte verbucht wird und in der Entgegensetzung von Theorie und Geschichte seinen kategorialen Ausdruck findet, gilt es von der anderen Seite, der Seite der Spekulation, jetzt umso mehr wieder in Ordnung zu bringen, weil das absolute Gesetzlose, eine geschichtliche Reihe von Begebenheiten ohne Zweck und Absicht noch nicht mal als Geschichtliches gelten würde. Mit anderen Worten: Gerade der Ausblick auf die Willkür als »Göttin der Geschichte« nötigt uns zur spekulativen Einsicht, »daß nur Freyheit und Gesetzmäßigkeit in Vereinigung, oder allmähliges Realisiren eines nie völlig verlorenen Ideals durch eine ganze Gattung von Wesen das Eigentümtliche der Geschichte constituire« (AA I,9,1, 288). Die Geschichte, so stellt sich die Sachlage für Schelling im Systementwurf von 1800 dar, ist zwar stets mehr als das, was sich durch den Verstand begreifen lässt, die Erreichung eines weltbürgerlichen Zustandes kann weder aus der Erfahrung gezogen noch theoretisch a priori bewiesen werden, umso stärker ist dann aber auch der Impuls, die Idee eines solchen Zustandes gerade gegen die Erfahrung zum »ewige[n] Glaubensartikel des wirkenden und handelnden Menschen« (AA I,9,1, 291) zu machen. Denn worum handelt es sich bei der von Schelling genannten verborgenen Notwendigkeit, mit der sich Geschichte scheinbar immer schon vollzieht? Mit Schelling zu sprechen handelt sich um die »absolute Synthesis aller Handlungen, aus welcher alles, was geschieht, also auch die ganze Geschichte sich entwickelt, und in welcher, weil sie absolut ist, alles zum voraus so abgewogen und berechnet ist, daß alles, was auch geschehen mag, so

gut einhundert Jahre später gerade die Philosophie als eine idealistische, die »das Einzelne aus der Welt schafft«, das Ungeheure, nämlich den Tod, verbannt in »die eine und allgemeine Nacht des Nichts« (Rosenzweig 1921, 4).

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Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt

widersprechend und disharmonisch es scheinen mag, doch in ihr seinen Vereinigungsgrund habe und finde« (AA I,9,1, 297). Betrachtet man Kants Geschichtsphilosophie vor dem Hintergrund der Kritik ihrer idealistischen Auswüchse, so stürzt sie das geschichtlich Einzelne, die Person, in ihrer je eigenen Zeit als »quantité néglieable« 90 in der Tat nur noch tiefer in die Krise hinein, aus der sie es zu befreien versucht hat. Noch in der Idee der Machbarkeit von Geschichte, der Progressivität geschichtlicher Entwicklung nistet ein Element, das mit der Hinwendung zur Geschichte eigentlich längst überwunden sein sollte: die Nichtigkeit alles Weltlichen im Angesicht einer über die Zeit erhabenen ›ewigen Zeit‹. Hier zeigt sich, inwiefern der geschichtliche Bruch, der zweifellos um 1800 in die individuelle wie kollektive Erfahrungswelt eindringt, zugleich Maßnahmen seiner philosophischen Konsolidierung zeitigt. 91 Genau besehen abstrahiert der geschichtliche Fortschritt als Anschauungsform historischer Zeit von jeglicher Form menschlicher Kontingenzerfahrung. Offen ist eine solche in sich verkappte zyklische Zeit geradezu gegen ihren Willen. Indem die idealistische Geschichtsphilosophie die Vergangenheit wie die Gegenwart aus der Perspektive einer vom Ende her gedachten progredierenden Geschichte deutet, beraubt sie sich zugleich der Möglichkeit, eine ›echte‹, je individuelle Zukunft vor sich zu bringen. Kurz gesagt, sie ist bestrebt, »die Geschichte zu erzählen, bevor noch die Geschichte richtig erzählt werden kann«. 92 Dabei lassen sich bei Kant – sieht man einmal vom verborgenen Plan der Natur ab, der gleichsam hinter dem Rücken der Subjekte sich vollzieht – durchaus Versuche aufzeigen, das geschichtlich Einzelne zu reflektieren, Gegenwart in den Blick zu rücken und Universalgeschichte dergestalt von Erfahrungen geschichtlicher Diskontinuität her lesbar zu machen. Exemplarisch steht dafür Kants Lehre vom Geschichtszeichen und die kritische Funktion der Öffentlichkeit, die sich im Ausgang von ihr formulieren lässt.

Rosenzweig 1921, 10. Mit Assmann 2013, 140, ließe sich notieren, dass »[g]ravierende Bruchstellen wie der physische Tod von Individuen, der unaufhaltsame Wechsel der Generationen oder der Wandel eines politischen Regimes« neue »Kontinuitätsfiktionen« auf den Plan rufen, um die dadurch bedrohte »Macht zu sichern und die Gefahr eines Bruches von Sinn und Legitimation zu vermeiden«. 92 Vgl. dazu auch Danto 1980, 28. 90 91

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10.2. Geschichtszeichen: Kant und der ›Enthusiasmus‹ Das »Geschichtszeichen« wird von Kant im Streit der Facultäten als eine geschichtliche »Begebenheit« eingeführt, die bei allen gegenteiligen, dem Forschritt eigentlich widersprechenden Erfahrungen dennoch auf das »Fortschreiten zum Besseren« (AA 7, 79) schließen lässt. Stellt man sich die Frage, warum Kant die Geschichte überhaupt nur nachträglich als eine Geschichte des Fortschritts deuten und nicht vielmehr a priori vorhersagen kann, so lässt sich der Ball mit Kant elegant in die Hälfte des Fragenden zurückspielen: »Wie ist aber eine Geschichte a priori möglich? – Antwort: wenn der Wahrsager die Begebenheiten selber macht und veranstaltet, die er zum Voraus verkündigt« (AA 7, 79 f.). 93 Mit anderen Worten: Gerade weil Geschichte ›gemacht‹ wird und nur von den gezeitigten Folgen her gedeutet werden kann, ist eine Geschichte a priori unmöglich. In diesem Sinne soll der Fortschritt zum Besseren durch das Geschichtszeichen auch nur in der Weise auf die vergangene Geschichte ausgedehnt werden, »daß jene Begebenheit nicht selbst als Ursache der letzteren, sondern nur als hindeutend«, als »Tendenz des menschlichen Geschlechts im Ganzen« (AA 7, 84) gilt. In welcher Erfahrung spricht sich nach Kant nun aber aus, das menschliche Geschlecht sei im »beständigen Fortschreiten zum Besseren« begriffen, und wie lässt sich im Ausgang von ihr die »Tendenz des menschlichen Geschlechts im Ganzen« (AA 7, 84) als solche begründen? Als Geschichtszeichen weist Kant nicht, wie man es erwarten könnte, das epochale Ereignis der Französischen Revolution aus, sondern die »Denkungsart der Zuschauer, welche sich bei diesem Spiele großer Umwandlungen öffentlich verrät« (AA 7, 85). Es ist die Öffentlichkeit, der »Enthusiasm«, die »Theilnehmung am Guten mit Affekt« (AA 7, 86), mit anderen Worten: die ›innere Reaktion‹, nicht das ›Ereignis‹, das in »unserer Zeit«, wie Kant sich ausdrückt, auf eine moralische Tendenz des Menschengeschlechts hindeutet, weil es »das Fortschreiten zum Besseren nicht allein hoffen läßt, sondern selbst schon ein solches ist« (AA 7, 85). 94 Mit dem Hinweis »signum remeZur Figur der Nachträglichkeit vgl. Richter 2011. Vgl. dazu auch Kittsteiner 1999, der die notwendig einzuhaltende räumliche Distanz zum großen Ereignis der Revolution mit der kritischen Wende in Bezug auf das Gefühl des Erhabenen in der Critik der Urtheilskraft in einen Zusammenhang bringt: »Mit einer Revolution verhält es sich wie mit den ägyptischen Pyramiden: weder darf man ihnen zu nahe kommen, noch darf man zu weit von ihnen entfernt sein, wenn

93 94

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morativum, demonstrativum, prognostikon«, den Kant in diesem Zusammenhang zusätzlich anbringt, ist angezeigt, dass sich die Tendenz tatsächlich auf alle drei Zeitdimensionen erstreckt: So wie man in der Gegenwart nicht unberührt davon bleiben kann, wird man sich an diesen großen Umschwung im öffentlichen Bewusstsein auch noch in Zukunft erinnern können, und auch die Vergangenheit erscheint jetzt in diesem Licht als Vorspann dieser großen inneren Bewegung. Das Geschichtszeichen fungiert bei Kant als Schnitt in der Zeit: Ebenso wie es nun einen klaren Begriff von Davor und Danach gibt, gibt es nun auch ein emphatisches Jetztbewusstsein. Hans-Georg Gadamer, der in seinen existenziphilosophen Studien auf das bekannte Wort Kants zurückkommt, ein Phänomen wie die Französische Revolution vergesse sich nicht mehr, urteilt deshalb auch richtig, wenn er sagt, dass im durch die Ereignisse in Paris entfachten Enthusiasmus »die Erfahrung eines Unterschieds und einer Diskontinuität, eines Anhaltens inmitten der Unaufhörlichkeit der Veränderungen«. 95 Dass Kant mit dieser Position, die eine spezifisch geschichtliche Haltung zum Ausdruck bringt, tatsächlich ein hohes Maß an Bewusstsein für die geschichtliche Gegenwart aufbringt, zeigt sich noch einmal umso stärker, wenn es um Realisierungsbedingungen des Prinzips der Öffentlichkeit in Form der Publizität geht. Kant verweist sowohl im Streit der Facultäten als auch in der Aufklärungsschrift darauf, in welch hohem Maße, trotz der räumlichen Distanz, die innere Reaktion mit einer persönlichen Gefahr verbunden ist. Grund dafür ist das Prinzip der Publizität: Wer öffentlich Partei ergreift, wer versucht das Volk über seine »Pflichten und Rechte in Ansehung des Staats« zu belehren, setzt sich und diejenigen, die er da kritisiert, den Staat, automatisch der Kritik aus, er macht sich und den Staat angreifbar: Er gehört dann, wie Kant sagt, von Staats wegen zu den »gefährliche[n] Leuten« und wird fortan geführt »unter dem Namen der Aufklärer« (AA 7, 89). Wer öffentlich Kritik äußert, geht in dem Maße ein Risiko ein, wie er selbst – gerade von Staats wegen – zur Zielscheibe von Kritik, im Extremfall von Repressionen und Gewalt werden kann. Ein Risiko, zu dem man sich aller-

man ›die ganze Rührung von ihrer Größe‹ empfinden will« (97). Das Geschichtszeichen, so Kittsteiner, stelle sich somit als ein Verhältnis »zwischen einem aus räumlicher Distanz betrachteten Ereignis und einem von ihm ausgelösten Gefühl für die moralische Anlage der Menschscheit«. 95 Gadamer 1986, 137.

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erst entschließen muss, auch wenn die Gefahr in vielen Fällen »eben nicht so groß ist«, »allein ein Beispiel von der Art macht doch schüchtern und schreckt gemeiniglich von allen ferneren Versuchen ab« (AA 8, 35 f.). Aufklärung, so könnte man mit Kant sagen, ist ein riskantes Unternehmen: Erst aus dem persönlichen Einsatz, seinen eigenen Standpunkt im Notfall gegen Widerstände verteidigen zu müssen, entsteht jener gesellschaftliche Umgang intellektueller Reibung und Stimulanz, der auf der anderen Seite die Begeisterung hervorruft, die Kräfte wie den des Enthusiasmus freisetzt. Rainer Enskat hat in diesem Zusammenhang die besondere Bedeutung der Urteilskraft für das kantische Aufklärungsprojekt herausgestellt. Nicht das Vermögen des Verstandes oder der Sinnlichkeit, das Vermögen der Urteilskraft sei »das wichtigste kognitive Organ und Medium der Aufklärung«. 96 Sie überführe die Aufklärung in einen Vollzug des Aufklärens, sodass der Erfolg immer nur relativ auf je konkrete Umstände und Situationen zu bemessen sei, nicht aber in Bezug auf einen abstrakt bemessenen wissenschaftlichen Fortschritt, wie er durch die Naturwissenschaften propagiert werde. Unter dem Namen der Urteilskraft hat man es Enskat zufolge mit der »kognitiven Kompetenz zu tun, der von alters her die diagnostische Erfassung und Durchdringung des Hier und Jetzt zugeschrieben wird – also sowohl dessen, was hier und jetzt der Fall ist, wie auch dessen, was hier und jetzt der Fall sein sollte«. 97 Dem Modell einer »Aufklärung durch Wissenschaft« stellt Enskat das Modell einer »Aufklärung der Urteilskraft« entgegen. 98 Und schon die Formulierung zeigt hierbei an, dass die Aufklärung der Urteilskraft nicht allein eine Aufklärung durch Urteilskraft ist, sondern dass es hier vielmehr die systematische Pointe der Doppeldeutigkeit von genitivus objectivus und genitivus subjectivus zu beachten gilt: Die Aufklärung, die von der Urteilskraft geleistet wird, klärt diese immer auch zugleich über ihren eigenen Vollzug auf: Aufklärung der Urteilskraft ist gleichermaßen Aufklärung über die Urteilskraft. 99 Mit anderen Worten: Urteilskraft ist ein genuin prozessuales und damit nicht zuletzt vergeschichtlichendes Vermögen: Sie reflektiert auf aufklärerische Prozesse und bildet sich selbst in diesen Prozessen des 96 97 98 99

Enskat 2008, 51. Enskat 2008, 51. Enskat 2002, 216. Vgl. Enskat 2002, 222.

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Aufklärens heraus. Ein Umstand, der sie einerseits vor der wissenschaftlichen Erklärung auszeichnet, die im Zentrum des szientistischen Aufklärungsmodells steht, schließlich kann diese nur statisch operieren, ein Umstand, der sie andererseits in echte Bedrängnis bringt, muss sie doch ständig von neuem ihre diagnostische Kraft unter Beweis stellen und dabei sowohl das Allgemeine als auch das Einzelne ständig im Blick behalten. »Sie muß ihre Umsicht, ihre Vorsicht und ihre Rücksicht immer wieder von neuem auf die ständig wechselnden Umstände der konkreten Situation konzentrieren, in denen sie sich vorfindet«, wie Enskat sagt, sie kann die Situation, in der sie sich jeweils vorfindet, aber auch umgekehrt nur dann in aufgeklärter Weise diagnostizieren, »wenn sie sich auch an Bedingungen ihrer Aufklärung zu orientieren versucht, die dem Hier und Jetzt aller möglichen Lebensituationen und Situationswechsel ganz und gar enthoben sind«. 100 Enskat trifft damit einen wesentlichen Punkt der Überlegungen Kants. Auch dieser klagt das Recht einer jeweiligen geschichtlichen Gegenwart gegenüber einer falsch verstandenen Aufklärung ein, die eine »ehrwürdige Classis« dazu antreibt, auf kurz oder lang als »Vormünder des Volkes« aufzutreten und womöglich noch durch »oberste Gewalt, durch Reichstage und die feierlichsten Friedensbeschlüsse« (AA 8, 39) bestätigt. Dies, meint Kant, wäre ein »Verbrechen wider die menschliche Natur«, weshalb die »Nachkommen« jederzeit dazu berechtigt wären, »jene Beschlüsse, als unbefugter und frevelhafter Weise genommen zu verwerfen« (AA 8, 39). Jedes »Zeitalter«, so lässt sich Kant hier verstehen, hat damit aufs Neue zu prüfen, »ob ein Volk sich wohl selbst ein solches Gesetz auferlegen könnte« (AA 8, 39). Kein »Zeitalter« dürfe für sich in Anspruch nehmen, »das folgende in einen Zustand zu setzen, darin es ihm unmöglich werden muß, seine (vornehmlich so sehr angelegentliche) Erkenntnisse zu erweitern, von Irrthümern zu reinigen und überhaupt in der Aufklärung weiter zu schreiten« (AA 8, 39). 101 Und nirgendwo hat Kant der Forderung nach einer Gegenwart, über die noch nicht entschieden ist, Enskat 2008, 52. In gewissem Sinn kann damit schon für Kant in Anspruch genommen werden, was Hegel in seinen Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte so lakonisch wie präzise zum Ausdruck gebracht hat, dass das Einzige, was man aus der Geschichte lerne könne, dasjenige sei, dass aus der Geschichte gerade nichts zu lernen sei: »[D]enn jede Zeit lebt in solch individuellem Zustande, daß aus diesem entschieden wird« (GA 17.1, 11) 100 101

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weil diese vielmehr erst noch über sich selbst als Gegenwart zu entscheiden hat, so stark Ausdruck verliehen wie in den berühmt-berüchtigten Worten aus der Einleitung in die Critik der reinen Vernunft, mit denen Kant kurzerhand seine eigene Philosophie zum bestimmten und bestimmenden Zentrum der Gegenwart macht: »Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß« (KrV, A XI). 102 »Unverstellte Achtung« wird die Vernunft nach dieser Maßgabe nur den Angelegenheiten zu teil werden lassen, die »ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können« (KrV, A XI). Von einer »gereiften Urteilskraft des Zeitalters« (KrV, A XI) ist in diesem Zusammenhang auch die Rede: Als ›reif‹ erweist sich die Urteilskraft in dem Maße, wie sie sich im Urteilsvollzug ihrer geschichtlichen Situiertheit und Vorläufigkeit bewusst bleibt, ohne in den Verstrickungen des Einzelnen den Blick für das Allgemeine zu verlieren. Es besteht chronischer Aufklärungsbedarf. Noch wichtiger als die Aufklärung selbst ist Enskat zufolge die Fähigkeit, »Aufklärung immer wieder von neuem zu erwerben«. 103 Kants ›Universalgeschichte‹ wäre so verstanden weder Faktum noch Totalität. Vielmehr würde sie sich als ein Modell beschreiben lassen, mit Hilfe dessen sich konkrete Prozesse der Universalisierung mikrologisch beschreiben und makroperspektivisch einordnen lassen: als unterschiedliche Geschichtsverläufe, sprich: historische Zeiten, in einer auf Universalisierung angelegten Geschichte. 104 Die zweifellos in Verruf gekommene Universalgeschichte würde in diesem Sinne geradezu als spätmodernes Projekt begriffen werden können, als ein »Generationen übergreifende[r] Interaktionszusammenhang«, wie etwa Johannes Rohbeck im Rahmen seiner Geschichtsphilosophie als einer Zukunftsethik vorschlägt. 105 Um das aber leisten zu können, wird von Kant – noch einmal mit Blick auf die Überlegungen zur Rolle der Öffentlichkeit und Publizität – nicht weniger gefordert als indiviVgl. dazu Fetscher 2005, 799 f. Enskat 2008,. 634. 104 Vgl. dazu auch Rohbeck 2000. 105 Rohbeck 2013, 9. Rohbeck hat sich in unverkennbarem Anschluss an Kants Projekt einer Universalgeschichte in letzter Zeit um eine Rehabilitierung der Geschichtsphilosophie und ihrer zentralen Ideen bemüht. So wird etwa die Idee des Fortschritts zum Grundgedanken einer Vorsorge für zukünftige Generationen transformiert. Rohbecks grundlegendes Anliegen besteht darin, Zukunftsethik und Geschichtsphilosophie dergestalt zu verschränken, dass Langzeitverantwortung möglich wird. 102 103

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duelle Risikobereitschaft und menschliches Augenmaß. Auf diese Weise ist die Lehre vom Geschichtszeichen bei Kant mit der Herausbildung der reflektierenden Urteilskraft verbunden. Die kritische Öffentlichkeit bildet das ›Werkzeug‹, durch das dieselbe eingeübt wird. Allein im öffentlichen Diskurs zeigt sich, ob es gelingt, zwischen der generellen Regel einerseits und dem konkretem Anwendungsfall andererseits, zwischen Allgemeinem und Einzelnem zu vermitteln, politisch vernünftig auch im Hinblick auf nachfolgende Generationen zu handeln. Die kritische Öffentlichkeit: Das ist für Kant das ›Organon‹ des Kollektivsingulars ›Geschichte‹. Von einer realen geschichtlichen Dimensionierung der Zeit kann bei Kant – zumindest auf Modellebene – dennoch nicht die Rede sein. Es bleibt beim Kollektivsingular ›Geschichte‹, wie auch Johannes Rohbeck im Rahmen seiner Zukunftsethik zwar durchaus an »pragmatischen Gegenwarten« im Plural interessiert ist, aber gerade im kantischen Sinne am Begriff der einen geschichtlichen Gegenwart festhalten möchte, um die vielen handlungsspezifischen Gegenwarten wieder ein- und damit in ihrer Diversität aufzufangen. Die in plurale Gegenwarten ausdifferenzierte Geschichtszeit mündet bei Rohbeck im übergreifenden Kollektivsingular ›Gegenwart‹. Die Gegenwart im Singular stelle den gemeinsamen geschichtlichen Horizont dar, innerhalb dessen die alternativen Möglichkeiten des Handelns gewählt und realisiert werden. Eine derartige Synthese sei nicht zuletzt ein praktisches Gebot, »damit die vielfach beschworenen Krisen im Kontext betrachtet und in einer übergreifenden Kooperation bewältigt werden können«. 106 Schelling unterstreicht mit seiner Geschichtszeitkonzeption dagegen, dass die Selbstauslegung von Personen und personübergreifenden Kooperations- und Generationszusammenhängen sich nur im Medium einer prinzipiell unabschließbaren, immer wieder zu dimensionierenden Geschichte ereignen kann. Geschichtliche Gegenwart in diesem emphatischen Sinne ist nur als Bruch zu verstehen: als permanenter Übergang zum Neuen, als wiederholte ›Umschichtung‹ der Zeitdimensionen, als ›diskontinuierliches Kontinuum‹. Damit ist noch einmal der Punkt bezeichnet, an dem sich die invertierte Pluralität geschichtlicher Zeiten vom Projekt einer Universalgeschichte tranzendental-idealistischen Zuschnitts so nachhaltig abhebt. Die gleichzeitige Anwesenheit ver-

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Rohbeck 2013, 62.

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schiedener Zeiten unterläuft die Vorstellung von einer eindimensionalen, homogenen Geschichtszeit. Schelling lenkt durch die Pluralisierung von Zeit und Geschichte gezielt den Blick auf solche Zeiten, die sich der Vereinnahmung durch die Idee einer Universalgeschichte widersetzen: Gegenwart ist hier nicht zuallererst auf der gattungsgeschichtlichen, sondern auf der individualgeschichtlichen Ebene von Interesse. Nichts, was sich je ereignet hat, ist, wie später Benjamin sagen wird, »für die Geschichte verloren zu geben«. 107 Für Schellings Interesse an der Geschichte gilt dasselbe. Ist Metaphysik im eigentlichen Sinne »Metachronik«, dann zielt Schellings Metaphysik der Zeit- und Weltentstehung im kritischen Sinne auf eine Metachronie als tiefengeschichtliche Analyse der diskret geschichteten Zeiten der Gegenwart. 108 Dort, in der geschichtlichen Tiefe stößt Schelling auf eine »Art von Entsetzen«, vergleichbar dem, »womit der Mensch erfährt, daß seine friedliche Wohnung über dem Herd eines uralten Feuers erbaut ist, daß auch in dem Urwesen selbst etwas als Vergangenheit gesetzt werden mußte, ehe die gegenwärtige Zeit möglich wurde«, dass es diese uneinholbare Vergangenheit ist, die »noch immer im Grunde verborgen liegt« (WA I, 13). Schellings ›Entsetzen‹ ist das Pendant zu Kants ›Enthusiasm‹. Während der ›Enthusiasm‹ als Affekt für die Wahl seines Zwecks respektive in der Ausführung desselben »blind« bleibt, wie Kant in der Critik der Urtheilskraft ausführt, ist das ›Entsetzen‹ zwar nicht weniger Affekt, fordert aber, weil es mit der Einsicht verbunden ist, dass dasselbe Prinzip, das uns in seiner Unwirksamkeit trägt und hält, »in seiner Wirksamkeit uns verzehren und vernichten würde« (WA I, 24), zum Handeln heraus. Mit anderen Worten: Bezeichnet der ›Enthusiasm‹ bei Kant letztlich eine ästhetische Einstellung, eine »Anspannung der Kräfte durch Ideen« (KU, B 121), so ist das ›Entsetzen‹ bei Schelling überhaupt nur aus einem praktischen Vollzug heraus zu verstehen, der von uns selber Besitz ergreift und uns dazu herausfordert, den unsere Existenz bedrohenden Widerspruch zu überwinden, vor den ›Abgründen‹, die sich da plötzlich und unerwarteterweise auftun, entschieden kehrt zu machen. Durch diese Aufforderung zur ›Umkehr‹ bekommt das ›Entsetzen‹ eine im Unterschied zum ›Enthusiasm‹ genuin geschichtliche Temporalität. Diese Sig-

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Benjamin 1942, 694. Vgl. Hutter 2004a.

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natur gilt es im Folgenden auf ihre temporale Struktur und ihr gegenwartskritisches Potenzial hin zu befragen.

10.3. Das ›Entsetzen‹ über den Abgrund der Zeit »O Vergangenheit, du Abgrund der Gedanken!« (WA III 4, 218) – Mit diesem Ausruf ist ein ›Entsetzen‹ bezeichnet: ein Einsetzen darüber, wie weit die Zeit der Gegenwart in die Vergangenheit zurückreicht, ein Entsetzen darüber, dass am Ende der Reihe der geschichtlichen Begebenheiten kein fester Grund zu finden ist, kein Meeresboden, auf den man stoßen könnte, sondern der Geist »auch bei’m letzten Sichtbaren angekommen« eine »nicht durch sich selbst begründete Voraussetzung« (WA I, 12) findet. Die Vergangenheit ist, um im Bild Schellings zu bleiben, ein ›Abgrund‹ für die Gegenwart: Sie offenbart dem Denken, dass es, wo es auch ansetzt, immer schon die Signatur der eigenen Geschichtlichkeit mit sich herumträgt, und deshalb gezwungen ist, sich permanent selbst geschichtlich zu verorten, um überhaupt gegenwartsfähig zu sein. Was ›jetzt‹ ist, so die zentrale Einsicht der Weltalterlehre Schellings, das ist nicht auf einmal entstanden, vielmehr werden die vorhergehenden von den nachfolgenden Zeiten sukzessive überlagert. Was ›jetzt‹ ist, so Schelling, kann »unmöglich ohne eine vollständige Genealogie des jetzigen Zustandes der Dinge begriffen werden u. diese wiederum nicht ohne in Gedanken das ganze Gebäude der Zeiten abzutragen, um so auf den Grund zu kommen« (Schelling 2002, 169). 109 Und darum gilt es, das machen gerade Schellings genealogische Weltalter-Operationen deutlich, wenn überhaupt etwas erkannt werden oder nach einer Maxime richtig gehandelt werden soll, die »besondern Umstände« (Schelling 2002, 168) zu erfahren, unter denen sich etwas zu dem gebildet hat, zu dem geworden ist, was es ›gegenwärtig‹ ist. Mit anderen Worten: Das Denken soll nicht vor dem Abgrund der VerganVgl. Zum Projekt einer solchen Genealogie auch Schelling 1832/33, 85: »Eine verhältnismässige untergeordnete Wissenschaft ist die Naturgeschichte der Erde. Hier sind offenbar verschiedene Zeiten aufeinander gefolgt. Wir sehen also in der Natur nirgends den Anfang. In einem solchen Ganzen ist nichts einzeln, nichts für sich genommen werden. Alles ist nur Werk der Zeit. Jedes Ding ist nur der Zeiger eines grossen Ziffernblattes am grossen Uhrwerk der Natur. Und sollte es mit der Welt anders beschaffen sein?« Unglücklicherweise wählt Schelling hier eine mechanizistische Metapher, um einen im Grunde organischen Prozess zu beschreiben. 109

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genheit kapitulieren; es soll vielmehr die unermessliche Tiefe der Zeit in seinen eigenen Denkvollzug aufnehmen. Nur so, als eine »über die Welt hinausgehende und darum allein auch sie begreifende Philosophie« (Schelling 1832/33, 90), kann es den kritisch-erinnernden Sinn der Frage nach der Zeit erfüllen, dass die Gegenwart nicht von Ewigkeit her ist, sondern vielmehr selbst wie die Zeit entstanden, und dass sie als eine mit der Zeit entstandene Gegenwart auch nur aus ihrer eigenen geschichtlichen Gewordenheit, das heißt: im Hinblick auf eine Pluralität geschichtlicher Zeiten verstanden werden kann. Unter einer reflexiven Vergeschichtlichung der Gegenwart lässt sich mit Schelling die kritische Reflexion auf eine von der gegenwärtigen Zeit verschiedene Zeit verstehen, eine Reflexion auf die durchgängige geschichtliche Bedingtheit unserer gegenwärtigen Lage, von der aus sich erst die Möglichkeit ergibt, einer Situation oder Lage entsprechend zu denken oder zu handeln. Vergeschichtlichung, so formuliert es Walter Schulz, ist »zugleich Bedingung und Folge der Einsicht, daß Wirklichkeit nichts Vorgegebenes und als Tatsache Feststellbares ist, sondern ein Wechselprozess zwischen Subjekt und Objekt: Ich bedinge das Geschehen ebenso, wie ich durch es bedingt werde«. 110 Eine Philosophie aber – und das ist der Punkt, auf den Schelling noch in seiner späteren Philosophie der Offenbarung gegen die idealistische Geschichtsauffassung kantischer Provenienz hinauswill – eine Philosophie also, »die der Geschichte keinen Anfang weiß«, ja die vielmehr versucht, »das Geschichtliche gänzlich verschwinden zu lassen« (Schelling 1831/32, 18), ist viel ›abgründiger‹ einzustufen als eine Philosophie, die ihren eigenen Abgrund in den Denkvollzug mitaufnimmt. Eine geschichtslose Philosophie hingegen kann nur »etwas völlig Bodenlosen seyn und verdient den Namen der Philosophie nicht« (SW XI, 22). 111 Schelling knüpft hierbei nahtlos an die Diskussionen um 1800 an. Kein anderer als Schiller hatte in seiner Jenaer Antrittsvorlesung von Vgl. Schulz 1972, 470. Wie verschieden Schellings Ansatz damit auch von demjenigen Fichtes ist, zeigt der Präsentismus, mit dem dieser die Geschichte fasst: »Das Universum ist mir nicht mehr jener in sich selbst zurücklaufende Zirkel, jenes unaufhörlich sich wiederholende Spiel, jenes Ungeheuer, das sich selbst verschlingt, um sich wieder zu gebären, wie es schon war; es ist vor meinem Blicke vergeistigt, und trägt das eigene Gepräge des Geistes; stetes Fortschreiten zum Vollkommenen in einer geraden Linie, die in die Unendlichkeit geht« (GA 1,6, 307) 110 111

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Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt

1789 Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? bereits die geschichtliche Gewordenheit der Gegenwart betont und damit zugleich ein spezifisches Krisenbewusstsein angesichts der fehlenden Ordnungsmodelle geschichtlichen Wissens artikuliert. Geschichte, das ist für Schiller ein gänzlich neu zu überdenkender Darstellungszusammenhang, der von der Gegenwart auf den Ursprung der Dinge selbst zurückzuführen hat. Kultur, Sprache, Sitten: »Die ganze Weltgeschichte würde wenigsten nöthig seyn, diesen einzigen Moment zu erklären« (NA 17, 368). Besieht man sich die Sache allerdings genau und vergegenwärtigt sich den Tenor der Antrittsvorlesung im Kontext der geschichtstheoretischen Debatten des späten 18. Jahrhunderts, dann wird auch in diesem Plädoyer für eine geschichtliche Auslegung der Gegenwart deutlich, dass es Schiller weniger um die Kategorie der geschichtlichen Gegenwart als solcher geht, als eigenständiger Zeitraum, als um die Einbettung der Gegenwart in eine alle geschichtlichen Zeiten übergreifende, stetig verlaufende Universalgeschichte, in einen ungebrochen kantischen Aufklärungsenthusiasmus, der alle »denkenden Köpfe« miteinander durch ein »weltbürgerliches Band« (NA 17, 366) verbindet. Begriffsgeschichtlich aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist der Befund, dass Schiller zwar die historischen Tempusbegriffe ›Vergangenheit‹ und ›Zukunft‹ verwendet, den Begriff der Gegenwart aber vollkommen ausspart und an seiner Stelle auf verwandte Formulierungen wie etwa ›Zeitalter‹ zurückgreift. 112 Gegenwart, so formuliert es Ingrid Oesterle, ist bei Schiller noch keine »Bewußtseinskategorie«. 113 Für diesen Verdacht spricht insbesondere auch der Befund, dass Schiller die geschichtliche Gegenwart, die uns immer nur in Bruchstücken – unvollständig – entgegentritt, durch ein einziges Verfahren aus ihrem aggregierten Zustand in das System einer Universalgeschichte überführen möchte, »das des Analogieschlusses von der Gegenwart auf die Vergangenheit«. 114 Das heißt, auch wenn Schiller die Gegenwart aus ihrem Geschichtsbezug heraus verstanden wissen will, und zwar als eine Geschichte der Selbstaufklärung und Selbstbefreiung der Gattung, so bleibt im Hinblick auf eine Theorie der geschichtlichen Zeit doch nur dasjenige relevant, was »auf die heutige 112 113 114

Vgl. Oesterle 1985, 17. Oesterle 1985, 18. Osterkamp 1995, 159.

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›Zeit‹-Konflikte: Erfahrungen geschichtlicher Dis-/Kontinuität

Gestalt der Welt und den Zustand der jetzt lebenden Generation einen wesentlichen, unwidersprechlichen Einfluss« (NA 14, 371) hat. »Umwege, Digressionen, Exkurse gibt es nicht«: 115 Die Geschichte verläuft auch bei Schiller linear und lässt wie bei Kant eine durchgängige, sich an ein Ideal approximativ annähernde Steigerung erkennen. Von der »heutige[n] Gestalt« mit ihren »bürgerlichen Vorteilen« wird im Sinne universalgeschichtlicher Vervollkommnung analogisch auf die Vergangenheit und auf die Zukunft geschlossen. 116 Die »universalhistorische Instrumentalisierung des Geschichtlichen« tritt bei Schiller auch und vor allem dann zu Tage, wenn der Historiker, allein fokussiert auf die europäische Aufklärung, auf die »rohen Volkerstämme« blickt und befindet, dass sie »wie Kinder verschiedenen Alters um einen Erwachsenen herumstehen und durch ihr Beispiel ihm in Erfahrung bringen, was er selbst vormals gewesen« (NA 364). 117 Universalgeschichte, so wird hier in besonders drastischer Weise deutlich, ist Interpretation der Geschichte gemäß eines Prinzips, durch welches geschichtliche Ereignisse und Abläufe vereinigt und auf eine letztgültige Bedeutung gerichtet werden. 118 Eine Interpretation der Geschichte, die vor dem Hintergrund der realgeschichtlichen Totalitäts- und Ohnmachtserfahrungen des 20. Jahrhunderts zwangsläufig Verdacht erregen muss. Gerade die Vereinigung ge115 Koopmann 1995, 63. Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist der Versuch, dass Koopmann aus diesem Befund heraus der gegenläufigen Tendenz nachgeht und prüft, in welcher Weise Schiller sich auch auf das geschichtlich Negative bezogen hat. Insbesondere beim ›ästhetischen‹ Schiller lasse sich erkennen, »daß die Moderne nicht mehr in ihrer Gloriole, sondern vielmehr in ihrer Miserabilität gesehen wird, in ihrer Zerrissenheit und Zerspaltenheit, in ihrer zerstörerischen Widersprüchlichkeit und in ihrer für den Menschen wie für die Kultur gleichermaßen tödlichen Gegensätzlichkeit« (68). Auch Hofmann 2003, 87, erkennt, angestoßen durch die Revolutionserfahrungen und die Herausbildung einer ästhetischen Theorie, bei Schiller »Zweifel an einer Kohärenz des Geschichtsverlaufs und an der Vorbildlichkeit der Zustände seiner Gegenwart«. Zu beachten bei der hier diagnostizierten Gegentendenz bleibt aber: Die Zweifel an den Errungenschaften der eigenen Gegenwart gehen bei Schiller noch nicht mit einer radikalen Wende zum geschichtlich Einzelnen einher. Vielmehr bringt die Wendung zur poetischen Wahrheit der Geschichte beim ›ästhetischen‹ Schiller wiederum »die Gattung und nicht das sich so leicht verlierende Individuum« (NA 25, 154) in den Blick. Der unverkennbaren Vielseitigkeit des Schillerschen Zeit- und Geschichtsdenken widmen sich in ausführlicher Weise der Sammelband von Hühn/ Oschmann/Schnyder 2017. 116 Vgl. dazu auch Voßkamp 2004, 34 f. 117 Marquard 1987b, 71. 118 Vgl. dazu auch Löwith 1953.

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Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt

schichtlich ganz heterogener Ereignisse und Abläufe ist es, von Schiller immer wieder als ›Veredelungsprozess‹ der Menschheit beschrieben, die wie im Fall der angeblich ›rohen Völkerstämme‹ vielmehr umgekehrt zur Vereitelung des Blicks auf die eigene Gegenwart führt, indem sie Alternativen im Geschichtlichen ausblendet und insbesondere gegenläufige historische Pfade als irrelevant zur Seite drängt. 119 Schellings personales Zeit- und Geschichtsdenken folgt einem anderen Modell: Kants ›verborgener Plan der Natur‹ wie Schillers ›Universalgeschichte‹ existieren für Schelling nur solange als handlungsleitendes Narrativ, wie sie selbst aktualisiert werden, das heißt, solange Personen nicht aufhören, freie Handlungen zu vollziehen und sich ihre eigenen, nie ganz zu ergründenden Geschichten erinnernd zu erzählen. Geschichte vollzieht sich nicht hinter dem Rücken der Subjekte, sie geht nicht in der Vorstellung einer progressiv ins Unendliche fortschreitenden Linie auf. Geschichtliche Prozesse, Handlungen wie Erzählungen, sind vielmehr »Prozesse der Systemindividualisierung«, um hier einen Gedanken von Hermann Lübbe aufzugreifen, »durch die Systeme unter analogen einzigartig und unverwechselbar, also identifizierbar werden«. 120 Vor dem Kollektivsingular ›Geschichte‹ behält der Individualplural ›Geschichten‹ sein Recht, richtiger wäre es sogar zu sagen: Kollektivsingular und Individualplural liegen im ständigen Konflikt miteinander, was umgekehrt aber nicht bedeutet, einem methodologischen Partikularismus das Wort zu reden, ein Punkt, auf den zurückzukommen sein wird, wenn es um das Problem Polychronie und der Frage nach der Synchronisierung verschiedener Zeiten geht. Entscheidend bleibt festzuhalten: Schellings personales Zeit- und Geschichtsdenken spricht sich für die irreduzible Pluralität geschichtlicher Zeiten aus. 121 Zwar ist es durchaus richtig mit Koselleck zu sagen, dass es durch den Zusammenschluss vieler Geschichten zu Vgl. Landwehr 2016, 45. Lübbe 2006, 193. 121 In diesem Pluralitätsplädoyer zeigt sich die Anschlussfähigkeit Schellings für Theorien des kulturellen Gedächtnisses. Vgl. dazu Assmann 2010, 15 f.: »Der abstrakten Synthese einer Geschichte im Singular stehen heute die vielen unterschiedlichen und z. T. einander widerstreitenden Gedächtnisse gegenüber, die ihr Recht auf gesellschaftliche Anerkennung geltend machen. Niemand wird leugnen, daß dieses Gedächtnis mit ihren je eigenen Erfahrungen und Ansprüchen zu einem umkämpften, vitalen Teil der Gegenwartskultur geworden sind«. 119 120

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›Zeit‹-Konflikte: Erfahrungen geschichtlicher Dis-/Kontinuität

der einen Geschichte um 1800 überhaupt erst zur Entdeckung einer »genuin geschichtlichen Zeit« gekommen ist. 122 Aus einem »geschichtsneutralen Zeitbrei« musste, wie Günter Anders sagt, Geschichte überhaupt erst entspringen. 123 Zu beachten gilt aber ferner, dass die aufklärerische Denkfigur der Universalgeschichte dahin tendiert, den Blick auf die spezifische Erfahrungsqualität der geschichtlichen Zeit, die Dis-/Kontinuität zu verstellen. Die universalgeschichtliche Zeitbetrachtung greift auf ein Regulativ aus, das von keiner einzelnen Geschichte berührt wird, noch jemals berührt werden kann. Kants wie Schillers Konzeption der Universalgeschichte unterschlagen mit der eingezogenen Differenz von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft die geschichtlichen Konditionen menschlichen Daseins. Indem Schelling dagegen aber die Erfahrung geschichtlicher Dis-/ Kontinutität ins Zentrum seiner Weltalter-Überlegungen stellt, spricht er sich dezidiert für ein Zeit- und Geschichtsmodell aus, das jeder absorbierenden Tendenz unendlicher Progressivität zuvorkommt und damit vermeidet, das geschichtlich Einzelne in letzter Instanz dem blinden, inneren Gang der Universalgeschichte zu unterstellen. Schellings personales Zeit- und Geschichtsdenken, so könnte man mit einem Wort von Odo Marquard sagen, ist nicht ›universal‹, es ist ›multiversal‹. Es verzichtet aus Gründen der Ideologisierbarkeit darauf, »alle Geschichten in eine […], in die eine einzige Fortschrittsund Vollendungsgeschichte der Menschheit« zu wenden. 124 Schelling geht damit in entwicklungsgeschichtlicher Perspektive gegenüber früheren, transzendental-idealistischen Entwürfen von einem »geschichtsfernen Immanenz- zu einem geschichtsnahen Differenzmodell vernünftigen Bewusstseins über«, wie Axel Hutter notiert. 125 Dasein, so stellt auch Horst Fuhrmans fest, »ist jetzt von Grund auf geschichtlich, Dasein entwickelt sich«: »Welt ist seit 1809 wesenhaft kein fertig Hingestelltes, von Ewigkeit her Vollzogenes mehr, sondern Welt wird, wird im Streit der Mächte, der Dunkel

Koselleck 1989, 192. Anders 1956, 273. 124 Marquard 1987b, 56. Auch Koselleck 2015b, 302, kommt in seinen Studien schließlich zu dem Ergebnis, dass eine Historik, also eine Theorie der historischen Zeit, sich nur, wenn überhaupt, über eine »Theorie der geschichtlichen Zeiten« fundieren lässt; ohne diese müsste sich eine als ubiquitär angelegte Historie ins Uferlose verlieren. 125 Hutter 1994a, 534. 122 123

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Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt

und Helle kennt«. 126 Und auch Michael Theunissen betont, dass Welt und Gegenwart Schellings ›positiven‹ Ansatz zufolge im tieferen Sinne geschichtlich verfasst seien, und diese Geschichte »ereignet sich als ein zur Stunde noch unabgeschlossener Prozeß, als das aktuell prozessierende Weltgeschehen, das in die Weit offener Zukunft hinausläuft«. 127 Die Offenheit, die damit verbunden ist, gilt umso mehr für eine Zeit, die nicht nur »Enthusiasm« der öffentlichen Teilnehmung an der Revolution erfahren hat, sondern auch die Enttäuschung über die Greueltaten des Terreur, das Elend, den »reine[n] Schrecken des Negativen« (Phän., TWA 3, 432), wie Hegel in der Phänomenologie des Geistes sagt. Überhaupt bekommt der ›Schrecken‹ eine neue Qualität im Bild einer Zeit, die in eine tiefe κρίσις geraten ist und zusehends in sich zerfällt. An die Stelle des allgemeinen Lobs auf die eigene Gegenwart und das Aufklärungszeitalter tritt der Blick auf eine Moderne, die mit sich im Konflikt liegt, in der, was erreicht worden ist, sich ins Gegenteil zu verkehren droht, eine Konfliktuösität von agonalem Charakter. 10.4. κρίσις und »entschiedene Gegenwart« Dass sich Schellings Weltalterunternehmen der geschichtlichen Eigendynamik des je individuellen Urteilens und Handelns zuwendet, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass der Topos vom ›Großen Welttheater‹, wie man ihn noch in früheren Schriften gefunden hat, von der Erzählung realer Geschehnisse abgelöst wird. Die affirmative Sicht auf die Welt, wie sie in der Identitätsphilosophie noch vorhanden war, sie ist verschwunden. Das reale Geschehen, was da plötzlich zum Vorschein kommt, ist von Negativität durchtränkt: Erfahrungsqualitäten wie das Schreckliche werden auf einmal zu bestimmenden Kategorien, wenn es um das eigentlich doch so wohlgeordnete Ganze namens Welt geht. Es ist, als ob Voltaires Candide ein zweites Mal aus der besten aller möglichen Welten vertrieben worden, jetzt aber nicht in einer grotesken, sondern in der wirklichen Welt gelandet wäre: »Bedenken wir das Schreckliche in der Natur und Geisterwelt und das weit Mehrere, das eine wohlwollende Hand uns zuzudecken

126 127

Fuhrmans 1954, 289. Theunissen 1975, 188.

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›Zeit‹-Konflikte: Erfahrungen geschichtlicher Dis-/Kontinuität

scheint, dann können wir nicht zweifeln, daß die Gottheit über einer Welt von Schrecken throne« (SW VIII, 268). War die Welt vormals ›vernünftig‹ strukturiert, bekommt sie nun den ›negativen‹ Anstrich eines »Schauplatzes«, auf dem sich »Scenen des Kriegs u. Friedens, Schmerz u. Lust, Gefahr u. Errettung« (WA III 4, 211) ereignen. 128 Ebenso wie bei Hegel wird die Welt bei Schelling – trotz aller ›enthusiastischen‹ Begeisterung für das, was mit der Französischen Revolution in die Geschichte gekommen ist – auf die »Schlachtbank« (WdL, TWA 12, 35) der Geschichte geschickt. Der »wahre Grundstoff alles Lebens und Daseyns«, so muss man bei Schelling lesen, sei das »Schreckliche« (SW VIII, 339). Wo vormals die Schauspielmetaphorik in bester platonischer Tradition auf die Aufgabe der Philosophie verwiesen hatte, Darstellung der »höchsten Ideen« zu sein – Platon spricht von ›Gliederpuppen‹, welche die Götter sich gebildet hätten, »sei es bloß zu ihrem Spielzeug, sei es zu einem ernsteren Zwecke« – 129, wird sie von Schelling nun eingesetzt, um das Augenmerk auf die negative, teils unvorstellbare Wirklichkeit der Geschichte selbst zu lenken, in welcher wir Menschen »theils Zuschauer, theils mithandelnde und mitleidende Theile« (WA II, 149) sind. 130 Dasein befindet sich in fortwährender ›Gefahr‹. Es trägt den Stempel der Negativität, von dem es sich nicht zu befreien weiß, weil es diese Negativtät selbst in sich selbst trägt. Zeit bedeutet jetzt nicht mehr ›Mangel des Absoluten‹, als Gegenwart bedeutet sie Faktizität, Kontingenz, »Nuneinmalsosein« 131. Insbesondere dem späten Schelling gilt seine eigene Zeit als eine Zeit, die aus den Fugen geraten ist – »The time is out of joint«, möchte man mit Shakespeare sagen –, als eine Zeit also, »die mit ihrer Vergangenheit und Geschichte zerfallen, den Durchbruch in eine andere Zeit, in die wahre Zukunft nicht finden kann« (SW XIII, 12), als eine Zeit, die schon gar nicht erwarten

128 Der Tenor der Negativität setzt sich in der späteren positiven Philosophie fort. Vgl. dazu Schelling 1832/33, 99 f.: »Die Welt sieht nach alles weniger aus als nach einem Erzeugnis reiner Vernunft. Sie enthält eine überwiegende Masse an von Unvernunft, sodass man beinahe sagen könnte, das Rationale sei nur das Accidens«. 129 Platon, Nomoi, 644d. 130 Vgl. dazu auch Tilliette 1981, 196: »Der sonnenhafte Glanz der Philosophie der Idenität oder der All-Eins-Lehre, eine Metaphysik des Lichtes, die ihren bedeutendsten Ausdruck in der Würzbürger Vorlesung und in den Aphorismen, die aus ihr entnommen worden sind, gefunden hat, ist nur die Tagesseite eines Systems, das implizit in die Schätze der Nacht eingeweiht ist«. 131 Rosenzweig 1921, 13.

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Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt

kann, von der Kunst bzw. einer ästhetischen Anschauung erlöst zu werden, wie dies vormals noch der Fall war: Was den grellsten Eindruck dieses Widerstreits noch erhöht, ist die Betrachtung, dass so viele der schönen und besänftigenden Illusionen vor der unerbittlichen Wahrheit verschwinden. Immer mehr geht die Zeit dahin, alles zu zerstören, was nicht reine Wahrheit ist. Jede Illusion ist zerstört. Eben darum ist es umsonst, zu hoffen, als könne Kunst oder Poesie die streitenden Misstöne aussöhnen. Die Geschichte zeigt wohl, dass die Kunst Erzieherin einer glücklichen Zeit war, aber nicht, dass sie eine aus ihren Fugen gerissene Zeit wieder zurecht gebracht. Man kann von der Kunst sagen, was Schiller vom Geheimnis sagt: »Geheimnis ist für die Glücklichen«. Auch die Kunst ist für eine glückliche Zeit. (Schelling 1832/33, 69)

Die Kunst greift zu kurz: Sie hatte ihre Zeit. Um einen realen Begriff vom Dasein zu haben, bedarf es nicht eines Vermögens einer ästhetischen Anschauung, keiner Theorie der ästhetischen Erziehung, wie sie etwa auch von Schiller entworfen worden war. Um einen »wirklichen Menschen« zu haben, so sagt Schelling, »müssen wir ihn betrachten, inwiefern beide Prinzipien [Freiheit und Notwendigkeit, P. N.] in ihm wirklich im Gegensatz, im Kampfe begriffen sind« (AA II,8, 76). Nur in diesem »Kampf« kann die aus den Fugen geratene Zeit wieder zurechtgerückt, in ihre geschichtlichen Dimensionen auseinandergetrieben, mit anderen Worten: in die für sie vorgesehenen Angeln gehoben werden. Wäre kein »wahrer Unterschied der Zeiten, ginge die nämliche Zeit, welche die gegenwärtige ist, in’s Unbestimmte fort«, und so bliebe auch die Welt nichts als eine »in’s Endlose auslaufende Kette von Ursachen u. Wirkungen« (WA III 5, 223), ja der reale Begriff der menschlichen Freiheit wäre selbst unmöglich: »Aber dieser Ungedanke sollte mit dem mechanischen System, dem allein er angehört, billig zugleich verschwunden sein« (WA II, 119). So gesehen liegt in der Agonie, in dieser von Schelling immer wieder angesichts seiner eigenen Zeit diagnostizierten κρίσις gerade die Realisierbarkeitsbedingung der ›entschiedenen Gegenwart‹, wie ja auch die verfluchte, in ›Schicksalstücken zerfallene Zeit‹ Shakespeares begleitet wird von der Einsicht Hamlets: »That ever I was born to set it right!«. Auch hier lässt sich der kritische Impuls des personalen Zeit- und Geschichtsdenkens Schellings wieder beobachten: das Offenhalten der Zeit gegen ihre notorische Verdrängnis, die Entschiedenheit gegen ihre notorische Indifferenz. Schellings Überlegungen zur ›entschiedenen Gegenwart‹ ziehen 278 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

›Zeit‹-Konflikte: Erfahrungen geschichtlicher Dis-/Kontinuität

sich durch alle drei Weltalter-Entwürfe hindurch. 132 Hier soll ausnahmsweise die zweite Fassung im Vordergrund stehen, weil sie die ›entschiedene Gegenwart‹ gleich zu Beginn des ersten Buchs beim Namen nennt und am präzisesten in ihrer strukturellen Dynamik beschreibt: Vergangenheit – ein hoher Begriff, Allen gemein und nur Wenigen verstanden. Die Meisten wissen von keiner, als der, welche sich in jedem Augenblick durch eben diesen vergrößert, selbst noch wird, nicht ist. Ohne entschiedene Gegenwart gibt es keine; wie viele erfreuen sich einer solchen. (WA II, 119)

Schelling beginnt seine Überlegungen zur ›entschiedenen Gegenwart‹ mit der gegenwärtigen Signatur der Unentschiedenheit, die aus einer nicht vorhandenen Differenz zwischen den drei Zeitdimensionen resultiert. Die Pointe dabei ist, dass sich die zuletzt notierte Wendung »wie viele erfreuen sich einer solchen« sowohl auf die Gegenwart als auch auf die Vergangenheit beziehen kann. Beide sind noch ›ungeschieden‹ und beide können erst durch die Entschiedenheit hindurch die temporale Kontur erhalten, die sie als Zeitdimensionen auszeichnet. Die Vergangenheit ist eben das, was gewesen ist und sich nicht mehr umkehren lässt, die Gegenwart das, was jetzt, akut, zur Entscheidung steht, und auch die Zukunft kann nur das werden, was sie ist, Offenheit, durch den Akt der Zeitigung hindurch. Die Wirklichkeit zeichnet ein anderes Bild: Menschen gibt es, und hier wird Schelling ganz plastisch, die beständig in der Vergangenheit leben, nicht aus ihr herauskommen, »[d]ie nicht fortwollen, indeß alles vorwärts geht«, und die, »weil sie doch mit fortmüssen, Lobredner ohnmächtige der Vergangenheiten, kraftlose Schelter der gegenwärtigen Zeit« (WA III 3, 201) werden. »Wohlthätig und förderlich«, heißt es, sei dagegen das Bewußtsein, »etwas wie man sagt hinter sich gebracht, d. h. als Vergangenheit gesetzt zu haben« (WA II, 119). Nur unter dieser Voraussetzung, der Bedingung also, dass der Mensch etwas als Vergangenheit ›hinter sich‹ bringt, kann er umgekehrt wie132 Die Formulierungen aus den beiden anderen Weltalter–Entwürfen lauten: »Wie wenige kennen eigentliche Vergangenheit! Ohne kräftige, durch Scheidung, von sich selbst entstandene, Gegenwart, gibt es keine. Der Mensch, der sich seiner Vergangenheit nicht entgegegenzusetzen fähig ist, hat keine, oder vielmehr er kommt nie aus ihr heraus, lebt beständig in ihr« (WA I, 11), sowie: »Der Mensch, der nicht sich selbst überwunden, hat keine Vergangenheit, oder vielmehr kommt nie aus ihr heraus, lebt beständig in ihr« (SW VIII, 259).

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Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt

der daran gehen, etwas in der Gegenwart als Zukunft vor sich zu bringen. Die Gegenwart ist eben das, was nicht bloß ›jetzt‹ ist, nicht bloß ›da‹ ist im Sinne eines Vorhandenen, sondern was ›jetzt‹ ist in Bezug auf vergangene und zukünftige Zeiten, die ihren Zeitgestaltungsspielraum ausmachen. Mit anderen Worten: Nur unter der Bedingung, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in praktischer Hinsicht geschieden werden, ist der Mensch nach Schelling überhaupt in der Lage, in ein Verhältnis zu sich als geschichtliche Existenz zu treten: »Nur der Mensch, der die Kraft hat, sich über sich selbst zu erheben, ist fähig, eine wahre Vergangenheit sich zu erschaffen; ebendieser genießt auch allein eine wahre Gegenwart, wie er allein einer eigentlichen Zukunft entgegensieht« (WA II, 119). 133 Schellings Überlegungen zur ›entschiedenen Gegenwart‹ folgen dem Muster der ›Genealogie der Zeit‹. Der Widerstreit, der vormals zwischen lauterer Ewigkeit und realer, wirkender Ewigkeit bestanden hatte, ›ungeschieden‹, wie sie im Absoluten waren, verlagert sich nun in die krisengeschüttelte Zeit der Gegenwart hinein und kehrt als Spannung zwischen einer unentschiedenen Gegenwart und einer auf Entscheidung hin drängenden Zukunft wieder, die aus der Tiefe der Vergangenheit kommend in der Gegenwart aufzuleuchten beginnt. Lässt man die ontologischen Bestimmungen in diesem Zusammenhang einmal beiseite, so wird deutlich, worauf es Schelling mit der Analogie zwischen der ›vorzeitigen Zeit‹ des Absoluten und der ›unentschiedenen Gegenwart‹ des Menschen ankommt: Im Grunde ist die ›unentschiedene Gegenwart‹ genau wie die ›ewige Zeit‹ Ausdruck eines Suchens und Nichtfindenkönnens des Anfangs, ein »bodenloser Abgrund«, »da kein Maß anwendbar, kein Ziel und keine Zeit bestimmbar« (WA I, 76) ist. Eine zweite Scheidung wird nötig, die dasjenige, was in der ›ewigen Zeit‹ respektive der ›unentschiedenen Gegenwart‹ bloß »coexistirend oder simultan« ist, in eine zeitlichperiodische Ordnung überführt. Und dies kann nur dadurch geschehen, dass der bestehende Widerspruch, die Unentschiedenheit, in einem Moment der Entscheidung als vergangen gesetzt und hierdruch wieder in einem Anderen, jetzt gegenwärtig gewordenen und

133 Zur Rolle der Zukunft vgl. auch Schelling 1832/33, 85: »Die vollendete Wissenschaft begreift also auch die Zukunft, nicht bloss Vergangenheit und Gegenwart. Indem die Gegenwart bereits den Keim der Zukunft in sich trägt, ist sie nicht erkennbar ohne die Zukunft. In diesem weiten Sinne nenne ich Wissenschaft diejenige, welche Vergangenheit, Gegenwart, und Zukunft in sich begreift«.

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›Zeit‹-Konflikte: Erfahrungen geschichtlicher Dis-/Kontinuität

mit Blick auf die als vergangen gesetzte Ungeschiedenheit zukünftig immer noch Werdenden erzeugt wird. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft treten nach außen hin als in sich abgeschlossene Zeitperioden hervor, die aber in dem Maße, wie die Vergangenheit als Latenz und die Zukunft als Tendenz in der Gegenwart wirksam sind, nichtsdestoweniger in einem organischen Verhältnis der Gleichzeitigkeit stehen und die Zeit dimensional aufspannen. So gesehen trifft man auch hier wieder – wie im System des transscendentalen Idealismus – auf eine Augenblickskonzeption: Nur versteht Schelling den Augenblick, die kleinste vorstellbare Einheit der Zeit, nun nicht mehr als Grenze der Zeit, sondern als deren Mitte, aus der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft allererst als solche hervorgehen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft entstehen in dem Moment, in dem ein Anfang der Zeit gesetzt wird und verhalten sich – metaphorisch gesprochen – wie »Kreise, die ein in’s Wasser geworfenes Steinchen hervorbringt« (WA I, 80). Auf die Zeit der Geschichte übertragen: Vergangenheit, das ist jetzt das Verhältnis der Unentschiedenheit, also das gewesene ununterscheidbare Ineinandersein der drei Zeitdimensionen; Gegenwart, das ist jetzt das Verhältnis der Entschiedenheit, also das Auseinandersein der drei Zeitperioden von ›ungeschiedener Vergangenheit‹, ›entschiedener Gegenwart‹ und ›entscheidbarer Zukunft‹; und Zukunft, das ist jetzt der Akt der Entscheidung selbst, also die organische Einheit von ›unentschiedener Vergangenheit‹, ›entschiedener Gegenwart‹ und ›entscheidender Zukunft‹. Dieses ›Jetzt‹ der Entscheidung muss nach Schelling immer wieder, in jedem Moment neu aufgespannt werden. Die ›entschiedene Gegenwart‹ präsentiert sich als ein Selbstverhältnis von besonderer Art: Es besteht nicht einfach nur, ist nicht gegeben, es muss sich praktisch immer wieder neu herausbilden und in den Grenzen seiner eigenen Zeit immer wieder von neuem geschichtlich erschlossen werden. Für die endlichen, menschlichen Wesen heißt das, dass das Verhältnis der Zeiten einer permanenten Umbildung unterliegt: »Denn das, was einmal als Vergangenheit ausgeschieden ist, wird dadurch selbst ein anderes, und ist nicht dasselbe, was es zuvor war« (SW XII, 296); eine Veränderung, von der auch die Zukunft nicht ausgenommen ist, insofern auch deren Horizont einem permanenten Umbildungsprozess unterliegt. Zukunft, so wird hier noch einmal deutlich, ist nicht nur der »große[…] Entschluss«, durch den es für den Menschen auf einmal möglich wird, aus der Nullpunktsitutation der Krisis heraus, sein »sittliches Leben« »mitten in 281 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt

der Zeit wie von vorn beginnen zu können« (Schelling 1820/21, 20). Zukunft, das sind auch die vielen kleinen Entscheidungen, die permanent getroffen werden und den Zeitgestaltungsspielraum ›Gegenwart‹ abstecken. Bleibt man also auf der Ebene der geschichtlichen Gegenwart, dann kommt die Zukunft als eine immer nur wieder entscheidbare Zukunft, nicht aber als alles entscheidende, die geschichtliche Zeit selbst wieder aufhebende Zukünftigkeit, in den Blick. 134 Die Geschichte desjenigen Wesen, das über aller Zeit ist, und die Geschichte derjenigen Wesen, die nicht aus der Zeit herauskommen, weil sie gleichsam in der Zeit gefangen sind, lassen zwar Analogieschlüsse untereinander zu, befinden sich aber nicht in einer Art von prästabilierter Harmonie. Schelling favorisiert vielmehr ein Konfliktmodell, eine »Ataxie der Kräfte« (AA I,17, 140), eine Konzeption prästabilierter Disharmonie. Was sich in der je zu vollziehenden Entscheidung zeigt, ist nicht eine gänzlich andere, sondern eine »in der Gegenwart schon präsente, in Zeichen lesbare Zukünftigkeit«. 135 Im Anschluss an Dieter Sturmas Überlegungen zum Verhältnis von Person und Zeit könnte man versucht sein, Schellings personales Zeit- und Geschichtsdenken in metaphysisch abgeschwächter Form als »Zeitneutralität« zu deuten, das heißt, als »praktischer Ausdruck des Bewußtseins vernünftiger Individuen, daß sie als zeitlich ausgedehnte Personen in der Zeit ihr Leben zu führen haben«: 136 »Personen führen ihr Leben in der Gegenwart für die Zukunft mit dem Verständnis der Vergangenheit, das heißt, sie können ungeachtet der Vielzahl von Störungen der Balance ihrer Zeitverhältnisse den eigenen Handlungen gegenüber einen zeitneutralen Standpunkt einnehmen«. 137 In den Weltaltern wird ein solcher zeitneutraler Standpunkt zwar, wie kritisch angemerkt wurde, in zum Teil metaphysisch starker Form präsentiert, als eine »absolute« oder auch »letzte Zeit« (WA I, 81). Jene »letzte Zeit« ist für Schelling aber nicht realiter, sondern nur als regulative Idee vorhanden: »denn wäre diese in ihr [die je 134 Insofern wäre Wieland 1956, 79, zu widersprechen, der bezweifelt, dass Schelling die ›nachweltliche Zukunft‹ in den Weltaltern an einer ursprünglichen Zukunftserfahrung verifiziert. Die ursprüngliche Zukunftserfahrung ist aber, so lässt sich notieren, gar nichts anderes als die ›gegenwärtige‹ Erfahrung der Zäsur. 135 Oesterle 2002, 96. 136 Sturma 1992, 144. Sturma entwickelt das Konzept der Zeitneutralität praktischer Selbstverhältnisse im Anschluss an Thomas Nagel, kommt an einigen Stellen aber auch auf die klassische deutsche Philosophie zu sprechen. 137 Sturma 1997, 72.

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›Zeit‹-Konflikte: Erfahrungen geschichtlicher Dis-/Kontinuität

einzelnen Zeitperioden, P. N.] als wirklich gesetzt, so wäre sie nicht die einzelne, die bestimmte die sie ist« (WA I, 81). Ebenso heißt es bei Sturma, dass der Begriff der Zeitneutralität im übertragenen Sinne zu verstehen sei und nur in kritischer Perspektive den Sachverhalt ausdrücke, »daß Personen distanziert und reflektiert in der Zeit mit Zeit umgehen«. 138 Sturma versieht den Begriff der Zeitneutralität sogar mit einer Gegenläufigkeitsklausel, die er durch die Metapher der »erweiterten Gegenwart« auszudrücken versucht: Die Metapher der erweiterten Gegenwart soll gerade die Annahme der »Perspektivenlosigkeit« eines Standpunktes jenseits und über aller Zeit unterbinden helfen, die der Begriff der Zeitneutralität von sich aus nahezulegen scheint: »[Z]eitliche Erweiterungen können immer nur aus der Perspektive der jeweiligen Gegenwart erfolgen«. 139 Nichts anderes versucht aber auch Schelling zu sagen, wenn er – ausgestattet mit genealogischem Werkzeug – an eine Gegenwart herantritt, die ungeschieden und in sich unentschieden in Persepktivlosigkeit zu versinken droht. Mit anderen Worten: Die ›entschiedene Gegenwart‹, die Schelling gegen eine von der mechanischen Ansicht der Zeit verdeckte Unentschiedenheit der Gegenwart in Stellung zu bringen sucht, ist genau wie Sturmas ›Zeitneutralität‹ der »zeitlogische Ort des Bewußtseins vieler möglicher Welten der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft«. 140 Die ›entschiedene Gegenwart‹ lässt sich nur als Antwort auf die regressiven Tendenzen einer um sich selbst kreisenden, in sich selbst zerfallenden Gegenwart verstehen. Das buchstäblich ›Entscheidende‹ mit Blick auf die ›entschiedene Sturma 1997, 72. Sturma 1997, 73. Vgl. dazu auch ders. 1992, 151, wo es heißt, Zeitneutralität sei »Ausdruck der temporalen Selbständigkeit von Personen in der Zeit, die sich bei Dissoziationsgefahren des Augenblicks darin zeigt, daß die Gegenwart praktisch als ein Zeitverhältnis unter anderen Zeitverhältnissen begriffen wird«. Zeitneutralität durchbricht also gewissermaßen den reinen Unmittelbarkeitsbezug des Lebens und ermöglicht auf diese Weise »Wege der inhaltlichen und zeitlichen Erweiterung des Augenblicks« (154). 140 Sturma 1992, 155. Sturma spricht in Bezug auf personale Zeitverhältnisse auch von einem »handlungstheoretischen Zeitpfeil«. Einerseits sei die Zeit durch die Handlung auf die Zukunft ausgerichtet, andererseits gehe die Last der Vergangenheit aber auch auf vermittelte Weise in den auf die Zukunft ausgerichteten Korrekturprozess ein: »In Entscheidungs- und Handlungssitutationen versuchen sich Personen aus der Vergangenheit kommend auf zukünfige Ereignisse einzustellen« (141). Ein Vorschlag, der sich nicht zuletzt für die präsentierten Überlegungen zur personalen Eigenzeit fruchtbar machen lässt. 138 139

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Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt

Gegenwart‹ ist, dass durch den Vollzug der Entscheidung die anfängliche Ungeschiedenheit nicht restlos in Entschiedenheit aufgehoben, sondern bloß als vergangen gesetzt und damit als ›entscheidbare Zukunft‹ projektiert werden kann. 141 Zwar gibt es von Seiten Schellings, wie kritisch eingewendet wurde, den obsessiven Versuch, ein ›System der Zeiten‹ zu konstruieren, die Grenzen eines solchen systemphilosophischen Unterfangens treten aber spätestens dann bei Schelling deutlich zutage, wenn es bescheidenermaßen heißt, dass der »tief verborgen liegende und bis ins kleinste gehende Organismus« (WA II, 122) bloß ›geahndet‹ und nicht konstruiert werden kann. Hinter einer solchen epistemologischen Beschränkung verbirgt sich, was Schelling bereits in der Freiheitsschrift in ontologischer Hinsicht als »die unergreifliche Basis der Realität« bezeichnet hatte, der »nie aufgehende Rest, das, was sich mit der größten Anstrengung nicht in Verstand auflösen lässt, sondern ewig im Grunde bleibt« (AA I,17, 131). Im Gegensatz zu Gott, so Schelling, bekomme der Mensch die Bedingung seiner Existenz »nie in seine Gewalt, ob er gleich im Bösen darnach strebt« (AA I,17, 164). Ein »Rest«, der, so verstanden, eine maßgebliche Perspektive auf den Phänomenzusammenhang ›entschiedene Gegenwart‹ freilegt: Was eine ›entschiedene Gegenwart‹ sein kann, lässt sich immer nur wieder vor dem Hintergrund dessen erläutert, worin sich eine Person bzw. ein Kollektiv zunächst und zumeist befindet, um hier auf eine Strukturformel existenzialer Art von Heidegger zurückzugreifen. Und das ist der Zustand der Unentschiedenheit, desjenigen, was Heidegger existenzialontologisch als die »abgeschliffene Durchschnittlichkeit« des alltäglichen Miteinanderseins geltend macht. 142 Mit der ›entschiedenen Gegenwart‹ ist also die Vorstellung von einer geschichtlichen Zeit verbunden, die, wenn sie aus dem Zustand der Geräuschlosigkeit und Unempfindlichkeit des alltäglichen Miteinanderseins heraustritt, sich nur in Konflikten 141 Damit leuchtet in der Weltalterphilosophie schon etwas von jener Denkform auf, die für Schellings spätere Konzeption der positiven Philosophie zentral werden wird. Sollberger 1996, 389, der die positive Philosophie insgesamt als eine philosophische Such- und Rätselbewegung interpretiert, umreißt diese Denkform wie folgt: »Die systematische Offenheit gegenüber Andersartigkeit und Fremdheit im Denken kann als das wesentliche Charakteristikum metaphysischen Denkens nach Schelling gelten: Metaphysisches Denken ist inventives, nie abgeschlossenes, sondern je und je neu ansetzendes, geschichtlich-diagnostisches Umgehen mit fremden, rätselhaftem und möglicherweise nie gänzlich begreifbarem Sein«. 142 Heidegger 1924, 27.

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›Zeit‹-Konflikte: Erfahrungen geschichtlicher Dis-/Kontinuität

aussprechen und, indem sie dergestalt erst allmählich, nie aber ganz zu sich kommt, sich grundsätzlich auch ›verfehlen‹ oder auf längere, unbestimmte Zeit auf einer gewissen Stufe verharren, womöglich ›steckenbleiben‹ kann, wie eine Passage aus der ersten Weltalter-Fassung plastisch zu vergegenwärtigen weiß: Lange Zeitalter hindurch fühlen ganze Völker sich unwohl und doch kraftlos, ihr Schicksal zu ändern, in eine bessere Zeit durchzubrechen. Was hindert sie, wenn die Zeit für den Menschen nur eine innere Form ist, die selbstgesetzte Schranke aufzuheben und so wie mit einem Zauberschlag in die glücklichere Zeit durchzudringen. Was erhält Jahrhunderte hindurch, trotz aller gegenwirkenden Belehrung, gewisse Ansichten, Meynungen oder Maximen selbst nach den verderblichsten Folgen bey Ansehen, da nichts leichter scheinen sollte, als durch Erfahrungen gewitzigt sie zu ändern. (WA I, 83)

Wie ›verkehrt‹ eine Gegenwart in sich sein kann, lässt sich – in aller Kürze – auch an einem Beispiel zeigen. Diese Abkürzung wird hier nicht deshalb eingeschlagen, um sich der Interpretation des Schelling-Textes zu entledigen. Es gibt einen sachlichen Grund dafür, und dieser besagt, dass es bei Schelling nicht um irgendwelche Subjekte geht, sondern um konkrete in Handlungszusammenhänge und gesellschaftlich-soziale Konflikte verstrickte Personen. Was läge da also näher, als sich das Handeln einer solchen konkreten, in Geschichten verstrickten Person, die sich in Konflikt mit sich und ihrer eigenen Gegenwart weiß, literarisch vor Augen zu führen. Dies soll im Folgenden geschehen. Als literarische Vergegenwärtigungsgrundlage soll dabei ein Drama aus Schellings eigener Zeit dienen: Maria Stuart von Friedrich Schiller, in Weimar zur Uraufführung gekommen am 14. Juni 1800; wobei der Fokus nicht auf Maria Stuart, der entmachteten Königin, sondern auf der machthabenden Königin Elisabeth I. liegen soll.

10.5. Maria Stuart oder Die temporale Signatur der Unentschiedenheit Elisabeth I., Königin von England, steht vor einer Entscheidung: Maria Stuart, Königin von Schottland, ist wegen des Verdachts auf Beihilfe bei der Ermordung ihres Gatten nach England geflohen; nun erwartet sie dort die Hinrichtung, weil Elisabeth I. sie nach ihrer Ankunft gefangen nehmen ließ, zu stark war die Furcht um die eigene 285 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt

Krone. Bald zwanzig Jahre lebt Maria nun schon im Kerker, das Urteil ist gefällt, allein es muss vollzogen werden. Zum jungen Mortimer, der Maria Stuart nie aufgeben hat, sagt Elisabeth: Ach, Sir! Ich glaubte mich am Ziele schon Zu sehn und bin nicht weiter als am Anfang. Ich wollte die Gesetze handeln lassen, Die eigne Hand vom Blute rein behalten. Das Urteil ist gesprochen. Was gewinn ich? Es muss vollzogen werden, Mortimer! Und ich muss die Vollziehung anbefehlen. (NA 9, 60)

Elisabeth kann sich nicht entscheiden: Einerseits drängt das Volk auf den Vollzug des Todesurteils, andererseits fürchtet sie um ihren Ruf und sieht sich unfähig, es wirklich zu vollstrecken. Sie bestellt ihre Berater ein, und einer dieser Berater ist Talbot, und was Talbot, Graf von Shrewsbury, sagt, ist nicht nur ein Plädoyer für die Gnade, sondern eine ziemlich genaue Analyse der Situation, in der Elisabeth sich gegenwärtig befindet: Nicht Stimmenmehrheit ist des Rechtes Probe, England ist nicht die Welt, dein Parlament Nicht der Verein der menschlichen Geschlechter. Dies heut’ge England ist das künft’ge nicht, Wie’s das vergangne nicht mehr ist – Wie sich Die Neigung anders wendet, also steigt Und fällt des Urtheils wandelbare Woge. Sag nicht, du müssest der Nothwendigkeit Gehorchen und dem Dringen deines Volks. Sobald du willst, in jedem Augenblick Kannst du erproben, daß dein Wille frei ist. Versuch’s! Erkläre, daß du Blut verabscheust, Der Schwester Leben willst gerettet sehn, Zeig denen, die dir anders rathen wollen, Die Wahrheit deines königlichen Zorns – Schnell wirst du die Notwendigkeit verschwinden Und Recht in Unrecht sich verwandeln sehn. Du selbst mußt richten, du allein. Du kannst dich Auf dieses unstet schwanke Rohr nicht lehnen. Der eignen Milde folge du getrost. Nicht Strenge legte Gott ins weiche Herz Des Weibes – Und die Stifter dieses Reichs, Die auch dem Weib die Herrscherzügel gaben, Sie zeigten an, daß Strenge nicht die Tugend Der Könige soll seyn in diesem Lande. (NA 9, 58)

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›Zeit‹-Konflikte: Erfahrungen geschichtlicher Dis-/Kontinuität

Vieles von dem, was Talbot hier anspricht, betrifft die Konzeption der ›entschiedenen Gegenwart‹ im Kern. Zunächst ist da die Unentschiedenheit, in der die Gegenwart befangen liegt. Eine Unentschiedenheit, die sich nicht nur auf der personalen Ebene abzeichnet, sondern ein ganzes Land und eine ganze Zeit betrifft: »Dies heutge England ist das künftge nicht, / Wies das vergangne nicht mehr ist«. Der ausbleibende Vollzug des Todesurteils steht pars pro toto: Elisabeths zögerliches Verhalten spiegelt eine Tendenz der Zeit selbst wieder, wie sich diese Tendenz umgekehrt gerade in ihr und durch ihr zögerliches Verhalten hindurch ausspricht: »Wie sich / Die Neigung anders wendet, also steigt / Und fällt des Urteils wandelbare Woge«. Talbot weist Elisabeth auf die einzige Möglichkeit hin, diesen Zustand der Latenz zu durchbrechen. Sie muss, um ihrer eigenen Gegenwart nicht hilflos gegenüber zu stehen, auf Distanz zu ihrer eigenen Zeit gehen, sie muss sich losreißen können, ein Akt, der jeder Zeit vollzogen werden kann: »Sag nicht, du müssest der Notwendigkeit / Gehorchen und dem Dringen deines Volks. / Sobald du willst, in jedem Augenblick / Kannst du erproben, daß dein Wille frei ist. / Versuch’s!«. Jenes von Talbot hier abschließend lancierte »Versuch’s!« ist aber gerade der Widerstand, der sich Elisabeth auf personaler Ebene entgegengestellt: eine dialektisch in sich verschlungene Handlung, die auf der einen Seite »Zorn« hervortreibt, »königlichen Zorn«, gegen jene, die Marias Hinrichtung befürworten, auf der anderen Seite aber auch, und zwar auf dieser Basis, »Milde«, eine Verbindung in ein höheres, göttliches Reich. Immer muss »in der Offenbarung des Ewigen Macht, Gewalt und Strenge vorausgehen, bis im sanften Wehen der Liebe erst er selbst als Er Selbst erscheinen kann« (SW VIII, 311), dies ist die Weise, in der Schelling die eigentümliche Dialektik von Zorn und Liebe handlungstheoretisch auf den Begriff bringt. Der wirkliche Anfang kann nur von »absoluter Freiheit« (WA I, 75) kommen, die den Menschen aus dem Widerstreit befreit, in dem sie ihn als Konflikt vergangen sein lässt. Und so sieht auch Elisabeth, die alle Macht auf sich vereint, sich zuletzt auf sich selbst zurückgeworfen: »Du selbst mußt richten, du allein«. Bekannt ist, wie das Drama endet. Und eben dies scheint auch eine wesentliche Pointe von Schellings Konzeption der ›entschiedenen Gegenwart‹ zu sein: das Gezogenwerden von der Zeit, das Sich-nicht-entscheiden-Können, die »Kraft« (WA II, 119), die am Ende dazu erforderlich ist, sich in ein wirkliches Verhältnis zu sich selbst und damit zu seiner eigenen geschichtlichen Gegenwart zu setzen. 287 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt

Hier, in der konfliktuösen Unentschiedenheit der geschichtlichen Gegenwart, auf dem Boden eines dialektischen Negativismus, 143 eines Verstricktseins in die Geschichten, beginnen sich die Konturen einer personalen Eigenzeit abzuzeichnen. Nur dort, wo etwas gegen seinen Widerstand in seiner geschichtlichen Konstellation erschlossen wird und eine zur Vergangenheit gewordene Gegenwart wiederum als Zukunft projektiert werden kann, kurzum: wo eine Perspektive auf Zeit und Geschichte entsteht, die vollzugspraktisch verfasst und erzählerisch strukturierbar ist, kann eine Zeit ihrer Form nach personal gegliedert sein. Will man von einer personalen Eigenzeit im Ausgang von Schellings Theorie der Weltalter sprechen, so wären ihre Konturen im Ausgang von einer handlungs- und erzählungsbasierten Geschichtszeit herauszupräparieren, die aus der Mitte der geschichtlichen Gegenwart heraus entsteht, Zeit in ihre geschichtlichen Dimensionen auseinandertreibt und auch nur von dorther, im Modus dessen, was sich unwiderruflich ereignet hat, erschlossen werden kann. Die ›entschiedene Gegenwart‹ ist der Berührungspunkt einer Pluralität geschichtlicher Zeiten und gleichzeitig die Kluft, die es erzählerisch zu überbrücken gilt. Mag architektonisch gesehen auch die Zukunft die für Schelling entscheidende Geschichtszeitdimension sein, so ist es aber, wie Hans Jörg Sandkühler hervorhebt, die zeitliche Dimension der Gegenwart, »welche die Vergangenheit und die Zukunft übergreift und in deren Perspektive die Geschichte als Kontext des Hier und Jetzt entsteht«. 144 So wie der Mensch als geistige Potenz ins Zentrum gestellt ist zwischen Natur und Gott, so ist er als Person in die geschichtliche Gegenwart gestellt. Mit der durchgehenden Personalisierung von Zeit und Geschichte geht bei Schelling allerdings ein nicht unerhebliches Problem einher, das in lebensweltlicher Perspektive weithin bekannt sein sollte, und dessen praktische Auswirkungen, gerade in der ästhetischen, sozialen und kulturellen Moderne, gar nicht überschätzt werden können. Dieses Problem entsteht genau dann, wenn die personalen Eigenzeiten unverbunden – gleichsam als ›Inselzeiten‹ – nebeneinanderher bestehen. Die Polychronalität verschiedener Eigenzeiten birgt in ästhe-

143 Der Begriff des dialektischen Negativismus ist von Theunissen 1991d mit Blick auf Kierkegaard geprägt worden. Auf die vielfältigen philosophischen Bezüge zwischen Kierkegaard und Schelling ist jüngst immer wieder verwiesen worden, nicht zuletzt von Theunissen-Schülern. Vgl. dazu Hutter/Anders 2014; Hühn 2009. 144 Sandkühler 2013, 113.

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›Zeit‹-Konflikte: Erfahrungen geschichtlicher Dis-/Kontinuität

tischer, sozialer und kultureller Hinsicht das nicht unerhebliche Risiko radikaler Dissoziation: eine Gefahr, die im Grunde nur durch gegenstrebige Synchronisierungsbestrebungen wieder unter Kontrolle gebracht werden kann. Polychronalität und Monochronolität verstärken sich in diesem Szenario wechselseitig. Schelling, so wird sich im Folgenden herausstellen, favorisiert, um Entwicklungen wie dieser vorzubeugen, das Gespräch, den personalen Dialog als dasjenige Modell, nach dem verschiedenene Zeiten miteinander synchronisbar gemacht werden können. Der argumentative Clou: Das Gespräch gleicht Zeiten nicht nachträglich ab, sondern gehört von jeher zu den Erzeugungsbedingungen personaler Eigenzeiten. Personale Eigenzeiten, so steht zu vermuten, sind nicht personal in dem Sinne, dass ihre Träger Personen sind; personal sind sie in dem Maße, wie Personen nicht als einzelne Personen, sondern, sei es im Offenen oder Verborgenen, immer schon im Zusammenhang mit anderen Personen, als Teil einer mit Konflikten beladenen interpersonalen Verständigung agieren.

10.6. Polychronie und das Problem der Synchronisierung »Es leben immer verschiedene Epochen, Zeitgeister neben- und miteinander. […] Eine Zeit ist immer ein Durcheinander verschiedener Zeitalter, ist durch große Abschnitte hindurch ungegoren, […] trägt Rückstände anderer Kräfte, Keime neuer in sich.« 145 Was Alfred Döblin hier, 1924, als Problem einer ganz spezifischen Gegenwart, des naturalistischen Zeitalters, diagnostiziert, lässt sich als eine Problemdiagnose der kulturellen Moderne im Ganzen verstehen. Angesprochen werden von Döblin zwei für die Moderne maßgebliche Problemstränge: Zum einen das Problem der Polychronie, also die Frage des In- und Gegeneinanders verschiedener Zeitalter, zum anderen das damit verbundene Problem der Synchronisierung, also die Frage, wie mit dem Neben-, Mit- und Durcheinander der Zeiten in koordinierender Hinsicht überhaupt umzugehen sei. Verbleibt die erste Frage im Bereich der deskriptiven Zeitanalyse, stellt spätestens mit der zweiten Frage sich das Problem des normativen Maßstabs ein, nach der eine Synchronisierung in dem oder jenem Fall zu erfolgen hat. Besteht das jeweilig anzusetzende Zeitmaß immer schon als eine ex145

Döblin 1989, 185, 187.

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Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt

tern vorgegebene Größe, und wenn ja: wer definiert es, oder bildet es sich als Zeitmaß überhaupt erst im Prozess der Synchronisierung heraus? Mit anderen Worten: Ist das Zeitmaß eine atemporale Größe oder besitzt es selber eine temporale Qualität? Zunächst: Die Realität der Zeit präsentiert sich uns in der Zeit des gelebten Lebens immer schon als Schnittpunkt verschiedener Zeiten. Einerseits ragen andere, sowohl frühere wie zukünftige Zeiten in die Gegenwart hinein, andererseits gibt sich aber auch schon die Gegenwart als ein heterogenes Feld personaler Zeitaneignung und Zeitumbildung zu erkennen, die sich von Mal zu Mal verändern. 146 Zeit und Gegenwart sind pluritemporal strukturiert, wie Achim Landwehr notiert. 147 Unter Pluritemporalität, also der ›Vielzeitigkeit‹, versteht Landwehr dabei die Tatsache, dass »Kulturen, soziale Gruppen, Objekte, Ereignisse«, also im Grunde alles, was uns in der alltäglichen Erfahrung begegnet, »zumindest potentiell dazu in der Lage sind, eigene Zeitformen auszubilden, die sich von anderen Zeitformen teil erheblich unterscheiden können«. Pluritemporalität bezeichne den methodischen Zweifel an der irreführenden Idee, wir hätten es nur mit einer einzigen Form der Zeit zu tun, die mit der Zeit der Uhren und Kalender zur Deckung zu bringen wäre. Gesellschaften lebten aber nicht im »Kokon eines monolithischen Zeitregimes«, kennten also nicht nur eine singuläre Form der Gleichzeitigkeit, sondern pflegen zahlreiche, parallel zueinander bestehende Zeitformen, existieren also in einer »Welt der Gleichzeitigkeiten«. 148 Hat man aber einmal die Folie einer irreduziblen Gleichzeitigkeit verschiedener Zeiten als Basisaxiom jeder Gegenwartsanalyse aufgelegt, ein Theorem, das im Übrigen nicht deckungsgleich mit der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ist, worauf Landwehr explizit hinweist, dann ist konzeptionell gar nicht mehr so leicht festzustellen, »wie sich viele Personen auf eine Zeit, wie sie sich zu verschiedenen Zeiten auf dieselbe Welt

Vgl. Gamper/Hühn 2014, 36. Vgl. Landwehr 2014. Vgl. dazu auch Esposito 2014. 148 Landwehr 2014, 250. Zu dieser Pluritemporalität vgl. auch Nassehi 2003, 135. Nassehi spricht von einer »Gesellschaft der Gegenwarten«, deren Struktur er wie folgt umreißt: »Es ist dies eine Gesellschaft, die sicherlich dadurch am deutlichsten charakterisiert werden kann, dass sie radikal auf die Gleichzeitigkeit ihrer Systemprozesse verwiesen ist – eine Gleichzeitigkeit, die einen hierarchischen oder kausalen Wirkungszusammenhang ausschließt«. Zu diesem praxissoziologischen Ansatz der Zeit vgl. auch ders. 2008. 146 147

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›Zeit‹-Konflikte: Erfahrungen geschichtlicher Dis-/Kontinuität

und wie sie sich in verschiedenen zeitlichen Erfahrungen durch die Zeit hindurch auf sich selbst als dieselbe Person beziehen können«. 149 Wie man sieht, schlägt die Frage nach einer gelingenden Synchronisierung auf das Leben zurück, das Personen nicht nur miteinander, sondern nicht zuletzt auch mit sich selbst in der Zeit führen. Und es scheint, als ob das Problem gleichzeitig auftretender, irreduzibel verschiedener Zeiten auf diachroner wie auf synchroner Ebene insbesondere dann virulent wird, wenn sich eine epochale Zäsur ereignet, ein geschichtlicher Umbruch, mit dem sich die bisher geltende Zeitordnung, auch die persönliche, unwiderruflich aufzulösen beginnt. So fragen auch Johann Kreuzer und Georg Mohr, warum gerade in jüngster Vergangenheit das Thema ›Zeit‹ wieder verstärkt ins Zentrum der philosophischen und kulturellen Selbstverständigung gerückt sei: »Offenbar hat dies mit dem Umstand zu tun, dass die Allgemeingültigkeit und Fundierung von sonst kaum hinterfragten Grundstrukturen menschlicher Erfahrung unter bestimmten Bedingungen fraglich werden können«; ›Zeit‹ und ›Geschichte‹ gehörten zu diesen Grundstrukturen und würden in »kulturellen Umbruchssituationen«, wie sie die jüngste Vergangenheit kennzeichnen – Stichwort: Terrorkrise, Klimakrise, Finanzkrise, Bankenkrise, Staatsschuldenkrisen, Griechenlandkrise, Eurokrise, Flüchtlingskrise –, in der Tat radikal in Frage gestellt. 150 Die Frage nach dem ›rechten‹ Maß in einer aus den Fugen geratenen Zeit, deren einzelne, in sich zersplitterte Gegenwarten die Tendenz zur Auflösung der geschichtlichen Wirklichkeit nur noch weiter forcieren, ist ein praktisches Problem von eminent gesellschaftlicher Bedeutung, das auch den Begriff der Eigenzeit auf die Probe stellt. Orientierung im Umbruch, so könnte man sagen, suchen auch Schellings Weltalter. Das ist einer der Gründe dafür, warum die Welt149 Kreuzer/Mohr 2007, VII. Landwehrs Kritik bezieht sich auf die unausgesprochene normative Dimension dieser ›Ungleichzeitigkeit‹: »Was Bestimmungen von Ungleichzeitigkeit generell verdächtig macht, ist die Tatsache, dass sie immer eine Norm postulieren müssen, ein Jetzt, eine Gegenwart, ein hic et nunc, das als Messlatte für alle anderen Zeithorizonte und -konzeptionen gilt. Ungleichzeitigkeit festzustellen, bedeutet jemandem den Vorwurf zu machen, er befinde sich zwar im Hier, aber nicht im Jetzt. Aber welche Zeit soll das sein?« (ders. 2012, 15). Landwehr schlägt vor, anstelle dessen von einer pluralen Gleichzeitigkeit auszugehen. Womit man es zu tun habe, sei eine Gleichzeitigkeit verschiedener Zeiten, »ohne dabei allerdings entscheiden zu wollen, wer oder was repräsentativ für diese Gegenwart ist oder von ihr abweicht« (28). 150 Kreuzer/Moor 2007, VII. Vgl. dazu auch Schmidt 2013.

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Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt

alter einerseits auf der Vergeschichtlichung von Zeit und Gegenwart beharren und sie weiter vorantreiben, andererseits aber auch die Risiken eines solches Unternehmens in den Blick nehmen. Man muss sich in diesem Zusammenhang nur vor Augen führen, dass die Weltalter selbst in einer Zeit des Umbruchs entstanden sind: Schon die Freiheitsschrift wird, wie Schelling in seinem Jahreskalender notiert, unter »Kriegslärmen« beendet. 151 Dies sind die realgeschichtlichen Impulse, die Schellings Arbeit an der Weltalterphilosophie begleiten. 152 Es ist das Zeitalter der Revolutionen, einer Umwälzung der Wirklichkeit, wie sie die philosophischen, politischen, ästhetischen und technischen Umbrüche um 1800 hervorbringen. Schellings Versuch, den kritischen Sinn der Geschichte gegen eine eindimensionale Zeit- und Geschichtsauffassung zu retten, wird damit selbst zum Ausdruck einer »zerrissenen Zeit« (SW X, 59). Vor diesem Hintergrund ist der augenscheinlich gewagten These Walter Schulz’ zu widersprechen, Schellings Aussagen über »politische und profangeschichtliche Dinge« seien, »wenn überhaupt vorhanden, unbedeutend«. 153 Zuzustimmen ist vielmehr Temilo van Zantwijk, der dafür argumentiert, Schellings Personverständnis im Spannungsfeld zwischen der Esoterik metaphysischer Spekulation und der Exoterik öffentlich-lebensweltlicher Wirksamkeit zu verorten: Hervorzuheben sei der »umfassende Charakter von Schellings Verständnis der Person, das all diese Aspekte, von schöpfungstheologischen Spekulationen bis zur Beurteilung der politischen Lage, umfaßt«. 154 Gerade für die Frage nach der Polychronie und dem Problem der Synchronisierung kann sich dieses Spannungsfeld als ausgesprochen ertragreich erweisen. Schelling sieht die Gefahr der Moderne darin, dass dem Menschen seine Zeit ›äußerlich‹ wird. Dann etwa, wenn ein Mensch es nicht schafft, sich wirksam von der Vergangenheit zu lösen, sondern ihr verhaftet bleibt, ja sogar glaubt, in ihr weiter leben zu können, indessen doch alles fortgeht. 155 Dann etwa, wenn ein Mensch versucht, sich Vgl. Knatz/Sandkühler 1994, 16. Vgl. dazu auch Jaeschke 1990. Zum Verhältnis von Philosophie und Politik bei Schelling vgl. Sandkühler 1968. 153 Schulz 1981, 24. 154 van Zantwijk 2004, 101. 155 Ernst Blochs Faschismusstudie Erbschaft dieser Zeit beschreibt gerade einen solchen Fall von Vergangenheitsseligkeit: »Nicht alle sind im selben Jetzt da. Sie sind es nur äußerlich, dadurch, daß sie heute zu sehen sind. Damit aber leben sie noch nicht mit den anderen zugleich. Sie tragen vielmehr Früheres mit, das mischt sich ein. Je 151 152

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›Zeit‹-Konflikte: Erfahrungen geschichtlicher Dis-/Kontinuität

vollständig von seiner Vergangenheit zu lösen und die Gegenwart als eine vor allen anderen Zeiten priviligierte Jetzt-Zeit betrachtet, in der nichts mehr von den Ereignissen der Vergangenheit gegenwärtig ist, in der die permanente Selbsterneuerung zum einzigen Maßstab für die Zukunft geworden ist, eine Zukunft, die es dann im Grunde schon gar nicht mehr gibt, weil sie immer schon ›jetzt‹ ist. Auch hier verfehlt eine Person seine eigene Zeit in dem Maße, wie die Zeit auf eine Zeitdimension gleichsam festgelegt und dadurch wieder – monotemporal – entzeitlicht wird. 156 Eine Person aber, die sich durch die Geschichte hindurch nicht auf ihre eigene Zeit als geschichtliche Gegenwart beziehen kann, weil sie entweder vor dem Gang der Zeiten kapituliert und sich ganz auf das Vergangene im Modus des Immernoch-Gegenwärtigen stürzt, oder aber vom Gang der Zeit sich davontragen lässt und ganz auf das Zukünftige im Modus des je Gegenwärtigen fixiert ist, eine solche Person wird auch nicht mit anderen Personen sich im emphatischen Sinne von Zeitgenossenschaft um eine gemeinsam geteilte Zeit streiten können. Wer unempfindlich gegenüber seiner eigenen Zeit bleibt, der bleibt erst recht unempfindlich gegenüber sich selbst, der benimmt sich Urteils- und Handlungsoptionen, die ihm als Zeitgenossen im Prozess der Aushandlung zukommen. Die Verwiesenheit der personalen Eigenzeiten aufeinander, die hier im Begriff der Zeitgenossenschaft aufscheint, lässt sich in bemerkenswerter Weise an einer Briefstelle des frühen Schelling erläutern, auch wenn sie dort unkommentiert und damit in ihrem geschichtstheoretischen Gehalt letztlich unreflektiert bleibt. Vom Standpunkt einer Theorie der Weltalter, mit dem personalen Zeit- und Geschichtsdenken im Gepäck, lässt sich dies allerdings ändern. An Hegel schreibt Schelling bekanntlich am 6. Januar 1795:

nachdem, wo einer leiblich, vor allem klassenhaft steht, hat er seine Zeiten. Ältere Zeiten als die heutigen wirken in älteren Schichten nach; leicht geht oder träumt es sich hier in ältere zurück« (Bloch 1935, 104). 156 Assmann, 2013, untersucht, in welcher Weise das Zeitregime der Moderne in jüngster Vergangenheit Risse bekommen habe, wieder durchlässig für unbewältigte Vergangenheitsdiskurse geworden sei. Als Beispiele für einen Bewusstseinswandel nennt sie das ökologische Problem, die Ölkrise, das Ende des Kalten Krieges, aber auch das Aufkommen digitaler Informationssysteme: Ereignisse und Strukturen, die Vergangenheit und Zukunft neu verhandelbar machten, ja dies sogar politisch und gesellschaftlich einforderten.

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Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt

Das einige, was mich bisher intereßirte waren historische Untersuchungen über das A. u. N. T. u. den Geist der ersten christlichen Jahrhunderte – hier ist noch am meisten zu thun – seit einiger Zeit aber ist auch diß abgebrochen. Wer mag sich im Staub des Altertums begraben, wenn ihn der Gang seiner Zeit alle Augenblike wieder auf- und mit sich fortreißt. – Ich lebe u. webe gegenwärtige in der Philosophie. Die Philos. ist noch nicht am Ende. 157

Blickt man auf diese im Zusammenhang mit der Entwicklungsgeschichte der nachkantischen Philosophie beinahe bis zum Überdruss zitierte Passage unter zeitthereotischen Vorzeichen, lässt sich erkennen, dass ihr eine spezifische Erfahrung geschichtlicher Dis-/ Kontinuität zugrunde liegt: »Staub« hat sich über das »Altertum« gelegt, es ist jetzt endgültig vergangen. Vergangen ist es aber nicht allein deshalb, weil an die Stelle der ›alten Zeit‹ eine ›neue Zeit‹ getreten ist. Nicht allein der Unterschied von ›alt‹ und ›neu‹ ist entscheidend, um die Differenz von Antike und Moderne zu markieren, Übergänge von ›alt‹ und ›neu‹ hat es von jeher gegeben. Entscheidend ist vielmehr, dass sich der Bruch, der Übergang in die ›neue Zeit‹ permanent vollzieht. Die Pointe, auf die es in der zitierten Passage ankommt, ist der Umstand, dass die ›neue Zeit‹ ihre Subjekte, wie Schelling schreibt, »alle Augenblicke wieder auf- und mit sich fort[reißt]«. Diese genuin neue Qualität der Erfahrung ist es, die das Alte vergangen und das Neue gegenwärtig sein lässt. Hier, im Modus beschleunigter Veränderung, ist der Bruch zwischen Altertum und Moderne zu verorten. Die epochale Trennung zwischen ›alter‹ und ›neuer Zeit‹ verdichtet sich zu einem Sog, der die geschichliche Gegenwart als Ort des Lebens und Handelns herausfordert. Er macht diese, die ›gegenwärtige Zeit‹ in besonderer Weise, und Schellings Hervorhebung zeigt das an, zur eigenen Zeit, die aber zugleich auch allgemeine Zeit ist, weil Vorher und Naher die epochale Differenz zweier geschichtlicher Großzeiten, Altertum und Moderne, markieren. Die Metapher des Webens verdeutlicht nur zu gut, wie viele Fäden es dabei letzten Endes in der Hand zu halten und miteinander zu verflechten gilt. Eine Aufgabe, die aber zugleich das spezifische Potenzial der Gegenwart anzeigt, das Potenzial einer Zukunft, in diesem konkreten Fall die Gewissheit, dass die Philosophie noch nicht »am Ende« ist, sondern im Gegenteil: gerade erst begonnen hat. 158 157 158

F. W. J. Schelling an G. W. F. Hegel, 6. Januar 1795, AA III,1, 16. Wie untrennbar dieser Epocheneinschnitt mit der Philosophie Kants verbunden

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›Zeit‹-Konflikte: Erfahrungen geschichtlicher Dis-/Kontinuität

Auf diese Weise wird deutlich, wie sich die Zeiten im ›entschiedenen‹ Umgang mit ihr voneinander abheben, als Zeitperioden auseinandertreten, in der Trennung aber zugleich aufeinander bezogen bleiben, indem sie dergestalt überhaupt erst den Blick auf sich als Zeiten freigeben. Nur in diesem Sinne ist es für Schelling möglich, dass sich mehrere Personen, und zwar als geschichtliche Existenzen, auf ein und dieselbe Zeit beziehen und dabei doch ganz unterschiedlichen Zeiten angehören können. Der Riss ist gleichsam der Ort, an dem die personale Vermittlung pluraler Zeitregime gelingen kann. Erst von hier aus, dem Bruch, wird überhaupt kommunizierbar und verhandelbar, wie man sich zur Vergangenheit und Zukunft verhält und wie man durch die Öse der Zeitmitte Gegenwart gestalten kann. Der synchronisierende Vergleich von Zeiten ist bei Schelling somit nur als »Gegenstand einer gemeinsam geteilten Zeit interpersonaler Verständigung« möglich. 159 Die Zeiten müssen in ein ›Gespräch‹, ein Interaktionsverhältnis miteinander treten und gegeneinander behaupten, was sie selbst sind. Der Dialog, in dem sich Zeiten befinden, verläuft also keinesfalls problemlos, er ist konfliktbeladen in dem Maße, wie überhaupt erst im interpersonalen Zwischenraum die Zeiten ihre jeweiliges Zeitprofil erhalten, sodass auch erst hier, in der gemeinsam geteilten Gegenwart, im permanenten Herstellen und Verschieben von »Chronoferenzen« eine nicht-reduktive Synchronisierung verschiedener Eigenzeiten gelingen kann. 160 Erst durch die Einsicht, »daß außer ihm andere Wesen sind, die ebenfalls eine Zeit in sich selber haben« (WA I, 79), eröffnet sich für den Menschen die Möglichkeit, die verschiedenen Zeiten, die sein Leben durchziehen, in eine Vermittlungsspannung zu bringen. Schelling realisiert damit, was Dieter Sturma im Anschluss an Ulrich Pothast die Einheitsarbeit der Person um willen ihrer praktischen ist, zeigt Schelling in seinem Nachruf an: »Er [Kant, P. N.] macht gerade die Grenze zweier Epochen in der Philosophie, der einen, die er auf immer geendigt, der andern, die er mit weiser Beschränkung auf seinen, bloß kritischen, Zweck negativ vorbereitet hat« (SW VI, 9). Mit Blick auf Schelling wird dadurch nicht zuletzt deutlich, dass seine eigenen philosophischen Arbeiten, insofern sie diese eine bloß negative Grenzziehung überwinden wollen, von jeher ins Spannungsfeld älterer Offenbarungstexte und kantischer Metaphysikkritik fallen, und damit in spezifischer Weise eine Gegenwartszeit als Übergangszeit markieren. Vgl. dazu auch Gawoll: 1994. 159 Gamper/Hühn 2014, 31. 160 Landwehr 2016, 150. Landwehr versteht unter dem Begriff der Chronoferenz eine Untergattung von Relationierungen, »mit denen Bezüge zwischen anwesenden und abwesenden Zeiten errichtet werden« (ebd.).

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Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt

Identität genannt hat. Personales Leben verlaufe in einem Bereich, der von jeher durch die Grenzen möglicher Handlungen eingeschlossen werde. Die Einheitsarbeit der Person vollziehe sich tentativ, bezogen auf die praktische Einheit der Person als regulatives Ideal, als Korrektiv gegenüber den Dissoziationsgefahren des personalen Lebens: »Mit ihrer Einheitsarbeit muß sich die Person in der kontextuellen Mannigfaltigkeit behaupten, denn Selbstentwicklung und Selbsterweiterung sind ohne Selbstbehauptung nicht möglich«. 161 Während die Geschichte für Kant und Schiller noch, so lässt sich nun sagen, die Aktion nach einem verborgenen Plan der Natur ist, existiert sie für Schelling schon als ein ganzes Gewimmel von unterschiedlichsten Ereignissen, Zeiten und Epochen, Geschehnissen und Vorkommnissen, durch die sich das personale Leben hindurchbewegt und in deren Abfolge es sich zuallererst orientieren muss. Etwas von Nietzsches »wirkliche[r] Historie der Moral« scheint hier auf, vom Wechsel des Schicksals und vom alles umstürzenden Ereignis. 162 Aber auch von Heideggers »Besinnung«, dem »Mut, die Wahrheit der eigenen Voraussetzungen und den Raum der eigenen Ziele zum Fragwürdigsten zu machen« (GA 5, 75). 163 Jürgen Habermas hat das Zeitbewusstsein der Moderne dahingehend bestimmt, dass es zum Ausdruck einer permanenten Selbstvergewisserung werden müsse: »[D]ie Moderne kann und will ihre orientierenden Maßstäbe nicht mehr Vorbildern einer anderen Epoche entlehnen, sie muss ihre Normativität aus sich selber schöpfen«. 164 Von Seiten Schellings ist damit umso mehr die Forderung verbunden, sich das Geschehen, die pluritemporale Gegenwart, in der man lebt, nicht ›äußerlich‹ werden zu lassen, sondern in eine tiefere Schicht der Zeit vorzudringen, eben dorthin, wo sich das bloß äußere Geschehen der Wirklichkeit in praktischer Hinsicht zueigen machen lässt. Die geschichtliche Situation, in der sich das menschliche Dasein von jeher befindet, muss, mit anderen Worten, um willen der praktischen Identität geformt werden. 165 Erst wenn geschichtliche Gegenwart dergestalt Form beSturma 1992 139. Nietzsche 1887, 266. 163 Vgl. dazu auch Garbiel 2011, 112. 164 Habermas 1985, 16. 165 Vgl. dazu auch Schulz 1972, 599. Schulz entwickelt den Gedanken einer geschichtsbezogenen Reflexion allerdings nicht im Ausgang von Schelling, bei ihm steht Fichtes ›Reflexionshandlung‹ im Zentrum. Der Sache nach ist aber dasselbe gemeint: die Reflexion auf die geschichtliche Situation als ein allererst von mir zu 161 162

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›Zeit‹-Konflikte: Erfahrungen geschichtlicher Dis-/Kontinuität

kommt, als geschichtliche Form selbst verhandelbar wird, kann sich eine Person von Zeitimperativen befreien, die nicht die seinigen sind, kann es für Personen möglich werden, denkend und handelnd zu den Fragen ihrer Zeit gemeinsam Stellung zu beziehen. Angesichts des Zeitregimes der Moderne geht es um nichts weniger als darum, Souveränität über die Zeit zurückerlangen, sich zu orientieren in einer Gegenwart, die unwiderruflich zu einem Synkretismus von Zeiten geworden ist. Im Medium der geschichtlichen Formgebung sind Personen weder der Zeit noch der Geschichte ausgeliefert. Umgekehrt beruht die von Schelling diagnostizierte Befangenheit des modernen Bewusstseins »auf der zentralen Verkehrung«, wie Axel Hutter sagt, »daß es seine geschichtlich vermittelte Verfassung als ungeschichtliche Gegebenheit hinnimmt«. 166 Schellings personales Zeit- und Geschichtsdenken erhält somit erst von seinem handlungsorientierenden, gegenwartskritischen Charakter her seinen eigentlichen, ethischen Sinn. Indem es dazu auffordert, sich die Zeit aktivisch zu eigen zu machen, macht sie jenseits des bloßen Vergehens, der bloßen Unentschiedenheit, der bloßen Geduld und des bloßen mechanischen Ablaufs von Zeit auf Zeitgestaltungsspielraum aufmerksam, der uns als Personen bleibt, wenn wir in der Zeit gegen die Zeit sagen, was sie ist, nämlich das, was sie war, und das, was sie sein kann. Der Mensch ist allein in der Weise in der Zeit, wie Georg Picht sagt, in der die Erscheinung der Zeit seine »Möglichkeit« ist – Möglichkeit sich aus der Vergangenheit in der Gegenwart auf eine zukünftige Zeit hin zu entwerfen, vorausgesetzt er fragt danach. 167 Nur dann, »wenn wir«, wie auch Olaf Breidbach mit Blick auf eine radikale Historisierung notiert, »unsere Position konsequent relativieren, finden wir den Bezugsgrund, über den wir uns unsere Positionen zu sichern vermögen, um dann auch über den Rand des uns Offerierten hinausschauen zu können«. 168 Dies mag auch der Grund dafür sein, warum vor allem heute, in einer Zeit, in leistender Verstehensakt der Freiheit: »Grundsätzlich gesagt: Reflexionshandlung und Vergeschichtlichung gehören zusammen. Eine Reflexionshandlung ist, wenn anders sie zeitgemäß sein will, nur als Akt der Vergeschichtlichung möglich, durch den man sich zu seiner Zeit ›bekennt‹. Aber es gilt auch das Umgekehrte: Vergeschichtlichung ist, wenn anders sie mehr als bloße Anpassung sein will, nur als eine Reflexionshandlung möglich, durch die man sich kritisch zum Geschehen einstellt«. 166 Hutter 1996, 372. 167 Vgl. Picht 1952 53 f. 168 Breidbach 2011, 11.

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der die Bedeutung und Anordnung der Zeitstufen mitnichten als selbstverständlich und gesichert gelten kann, 169 gerade Schellings Ansatz eines kritischen Umgangs mit Zeit so ungeheuer ›gegenwärtig‹ wirkt: »Das Geheimnis alles gesunden und tüchtigen Leben«, so liest man bei Schelling, »besteht unstreitig darinn, sich die Zeit nie äußerlich werden zu lassen und mit dem Zeiterzeugenden Prinzip in sich selber nie in Zwiespalt zu kommen« (WA I, 84). 170 Schellings Appell darf an dieser Stelle nicht als eine Form des ›Zeit‹-Vitalismus missverstanden werden, demjenigen Nietzsches vergleichbar, der in seiner Historismuskritik bekanntlich dazu aufruft, der Mensch müsse von Zeit zu Zeit die Kraft haben, »eine Vergangenheit zu zerbrechen und aufzulösen, um leben zu können«. 171 Schelling besteht auf der Scheidung der Zeiten, nicht um die Vergangenheit zu ›zerbrechen‹, sondern um sich die Vergangenheit mit Blick auf eine Zukunft, die da kommen mag, anzueignen. Wie sich nun herausstellt, ist es gerade diese Einsicht, die einen unmittelbar sittlichen Horizont eröffnet, weil sie einmal mehr die konkrete Zeitpraxis in die spekulativ-metaphysischen Zeitreflexionen der Weltalter einträgt. Sie ist es, die die Erfahrung geschichtlicher Dis-/ 169 Eben dieser Chronotopos einer »Kontinalverschiebung im Gefüge der Zeitzonen« ist es auch, der Assmann 2013, 276, dazu bringt, entgegen eines massiven, alarmistischen Unbehagens im Rahmen einer Theorie des kulturellen Gedächtnisses die Zeitstufen wieder in einen organischen Rapport miteinander zu setzen, sie konstruktivistisch zu ›verschränken‹. Vergangenheit, so Assmann, entstehe nur in dem Maße, »wie sie von einer Gegenwart, die ja allein und ausschließlich die Dimension menschlichen Wahrnehmens, Handelns, Denkens und Bewertens ist, immer wieder fokussiert, thematisiert und umgebaut wird«. 170 Es läge nicht fern, Schellings Metaphysik der Zeit- und Weltentstehung in Verbindung mit Goethes Lehre von der immer schaffenden Tätigkeit zu bringen. Der ›Tüchtigkeit‹ kommt bei Schelling gerade jene Bedeutung für das Selbst- und Weltverständnis zu, welche die ›immer schaffende Tätigkeit‹ bei Goethe hat: Sie erzeugt eine in unterschiedlichen Phänomenzusammenhängen sich aussprechende Selbsterkenntnis, die dadurch zugleich über die beiden Pole von Selbst und Welt, Idealität und Realität hinausweist: »Werden wir«, so heißt es in Wilhelm Meisters Lehrjahren, »durchs praktische doch unseres eigenen Daseins erst recht gewiß; warum sollten wir uns nicht auch auf eben dem Wege von jenem Wesen überzeugen können, das uns zu allem Guten die Hand reicht« (FA I,9, 792). In der Philosophie der Offenbarung bezieht sich Schelling, was die Entschiedenheit solcher Tätigkeit angeht, sogar direkt auf Goethe: »Der Mensch haftet nicht an sich. Johannes Müller schreibt: Ich bin nur glücklich, wenn ich produziere. Goethe: Ich denke nur, wenn ich produziere. Im Produzieren ist der Mensch nicht mit sich selbst, sondern mit etwas außer sich beschäftigt, und darum eben ist Gott der große Selige (Pindar)« (Schelling 1841/42, 176). 171 Vgl. Nietzsche 2012.

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Kontinuität zum handlungstheoretischen Ort macht, an dem sich Personen ihrer gelebten Vergangenheit bewusst werden und sich auf dieser Basis einer noch nicht entschiedenen Zukunft zuwenden können. Die Rede ist von einer ethischen Zeit, die offen ist für eine Synchronisierung irreduzibler Eigenzeiten, das heißt: abseits ihrer bloß abstrakten Mess- und Vergleichbarkeit, welche oberflächlich betrachtet zwar eine Form der Gleichzeitigkeit – Taktung – herzustellen vermag, die Unvereinbarkeit divergierender Zeiten aber nur noch umso stärker manifestieren würde. 172 Plural ist eine Zeit nicht aus sich heraus, sondern immer nur in praktischem Konflikt mit anderen Zeiten und normierenden Synchronisationsprozessen. Personen gewinnen ihre Eigenzeitlichkeit immer nur als ›Gegenzeitlichkeit‹, und zwar indem sie sich, »ob affirmativ oder negierend, in eigensinniger Weise auf Prozesse der Synchronisierung beziehen«. 173

11. Eigenzeiten der Moderne 11.1. Schellings Rückeroberung ›personaler Zukunft‹ Schellings Zeit- und Geschichtsdenken stellt sich in seinem interpersonalen Zuschnitt mehr denn je als Auseinandersetzung mit einer Grunderfahrung moderner Existenz dar: dem Zwangscharakter der ›mechanischen Zeit‹. Die Offenheit der Zeit gegen eine immer schon vorherbestimmte, am Rad sich selbst genügende Produktion abspulende Zeit zu behaupten, ist eines der maßgebende Motive der Weltalterlehre. Schelling geht es darum, das, was sich als Zeitgeschehen scheinbar bloß ›äußerlich‹ abspult mit Blick auf die involvierten Personen auf ihre inneren, zeiterzeugenden Prinzipien zu befragen. Vom »Innerlichwerden fängt alles Wissen und Begreifen an« (WA I, 6), lautet das genealogische Credo.174 ›Verinnerlichen‹ wir nämlich das, 172 Vgl. dazu auch Cassirer 1928, 228 f.: »Die geschichtliche Zeit ist dann wesentlich ethische Zeit: Zeit der ›reinen Zukunft‹; alles Geschehen ist gewissermaßen hinaufgehoben in die Dimension der Zukunft – Auch das Vergangene muß ständig neu gesehen, neu gestaltet, neu geboren werden aus dem Blick auf die Zukunft heraus – Jeder Zukunftsgedanke verändert die geschichtliche Gegenwart wie die geschichtliche Vergangenheit«. 173 Gamper/Hühn 2014, 24 f. 174 Vgl. dazu auch eine Passage aus der Darstellung des philosophischen Empirismus: »Die wahre Tatsache ist jederzeit etwas Innerliches. Die Tatsache einer gewonnenen

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was zunächst scheinbar bloß ›äußerlich‹ geschieht, beginnen wir zugleich, auch die Handlungspositionen und -optionen zu lokalisieren, und indem wir dergestalt nicht zuletzt auch uns selbst immer wieder neu justieren, kann uns die Zeit – nicht nur in Bezug auf unser eigenes Handeln, sondern auch in Bezug auf die normativen Grundlagen, nach denen wir Handlungen anderer Personen beurteilen – nicht ›äußerlich‹ werden: Die Gegenwart bleibt ihrer Form nach elastisch. 175 Im Grunde war es schon Schiller gewesen, der das ›Leben im Uhrwerk der Zeit‹, diese für die soziale, ästhetische und kulturelle Moderne so maßgebliche Erfahrung einer durch und durch fragmentierten, mit Max Weber gesprochen, ›entzauberten Gegenwart‹, auf den Begriff gebrachte hatte, als er 1795 in den Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen notierte: »Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus, ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens« (NA 20, 323). Was Schiller hier an der Zeit als das »eintönige Geräusch des Rades« beschreibt, macht den ganzen Umfang der von Schelling in der Moderne diagnostizierten verdrängten Geschichtlichkeit deutlich: Wo keine Geschichte sich mehr findet, da kann auch der Mensch sich nicht mehr ›bildsam‹ – im wahrsten Sinne des Wortes poietisch – zu sich und seiner eigenen Gegenwart verhalten. Er bleibt ans ›Rad der Zeit‹ gefesselt, ist der Rationalisierung und Szientifisierung, die mit der Moderne heraufgekommen ist, ausgeliefert. 176 Verdrängte Geschichte, das ist für Schiller nicht weniger als für Schelling der Verhängniszusammenhang einer stillgestellten, ewig Schlacht z. B. sind nicht die einzelnen Angriffe, Kanonenschüsse usw., oder was sonst von der Sache bloß äußerlich wahrgenommen werden kann. Die wahre, die eigentliche Tatsache ist nur im Geiste des Feldherrn« (SW X, 227). Vgl. dazu auch Bensussan 2015, 139. 175 Einen Versuch, die eigentümliche Struktur praktischer Vollzüge mit der Grundlegung historischer Normen aus lebensweltlichen Maximen zusammenzudenken, gibt – in Anschluss an Hegel – Bubner 1984. 176 Wie nah sich Schelling und Schiller hier tatsächlich sind, belegt auch eine Stelle aus der Philosophie der Offenbarung. Schelling bezieht sich hier ausdrücklich auf Schiller, auch wenn er von dessen Idee des Weltgerichts dezidiert Abstand nimmt: »Die Geschichte ist die unwiderstehlichste Autorität: ich möchte nicht sagen, wie Schiller ›sie ist Weltgericht‹ – wohl aber ›ihre Urteile sind Gottes Urteile.‹ […] Der unwiderstehliche Gang der Geschichte läßt uns keine Zeit zu elegischen Betrachtungen. Er fordert von uns allen eine klare Erkenntnis dessen, was ist und eine durchgängig gegründete Einsicht in das, was sein wird« (Schelling 1831/32, 697).

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um sich selbst rotierenden, nicht vom Fleck kommenden, entpoietisierten Zeit, aus der es keinen Ausweg zu geben scheint. Und diese Tendenz zur Entpoietisierung reicht bis tief in die Zeitlichkeit des sozialen Zusammenlebens hinein, ja sie versteht sich sogar von dorther. Die Diagnose ist denkbar profan: In der klassischen Moderne, so hält Andreas Reckwitz fest, findet eine Rationalisierung der Zeit statt, eine Standardisierung miteinander vergleichbarer synchronisierter Zeitintervalle. Charakteristisch sei, dass der sozialen Praxis die Struktur einer Wiederholung gleicher Akte in der Zeit zukomme und dass Zeiträume auf gleichförmige Weise gefüllt würden: »Der Modus der Gestaltung der Zeit ist damit nicht das Ereignis, sondern die Routine, es geht nicht um ihre Aneignung im Moment, vielmehr ist die Zeit affektiv reduziert«. 177 Es ist die Zeit der gesellschaftlichen Routinen, die standardisierte Zeit des alltäglichen Lebens, in der wir uns in der Zeit der Moderne zunächst und zumeist befinden. So sorgt ein dichtes Netz gesellschaftlicher Institutionen dafür, dass hochkomplexe soziale Interaktionen möglich werden; sie können diese kaum überschaubare Koordinationsleistung aber nur leisten, insofern abstrakte Zeitkategorien an die Stelle persongebundener Rhythmen und individueller Handlungsvollzüge treten. 178 Die Homogenität szientistischer Zeitmessung wird auf die gesellschaftliche Organisation von Zeit übertragen, um Synchronizität vorauseilend herzustellen. 179 Rhythmus, Geschwindigkeit, Dauer und Sequenz unserer Aktivitäten und Praktiken sind, wie Hartmut Rosa bemerkt, »so gut wie nie von uns als individuellen Akteuren bestimmt, sondern sind fast immer in den kollektiven Zeitmustern und Synchronisationserfordernissen der Gesellschaft vorgezeichnet«. 180 Dass aber bei allen notwendigen gesellschaftlichen Regulierungen wie Öffnungszeiten, Fahr- und Stundenplänen, Legislaturperioden, Vertragsfristen und Deadlines verschiedene Personen ganz verschiedene Zeitsensibilitäten ausbilden und auf ganz verschiedene Zeitimperative reagieren, blenden solche Zeitmuster konsequent aus. 181 Unter diese VorzeiReckwitz 2017, 40. Luckmann 1985, 295. 179 Vgl. Giddens 1996, 29. 180 Rosa 2016, 523 f. Nicht von ungefähr kommt Rosa in diesem Zusammenhang auch auf Schiller zu sprechen: Dieser habe wie kein anderer Dichter die »Resonanzlosigkeit des modernen Weltverhältnisses« herausgearbeitet. 181 Vgl. Schües 2014, 305. 177 178

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chen, so lässt sich mit Armin Nassehi hinzufügen, verkehrt sich die lebensentlastende Funktion von sozialen Routinen zu einer existenzbedrohenden, zeitentleerten Form: Aus der »qualitativen Zeit als integrativem Faktor«, der die Gesellschaft in der Zeitdimension auch sachlich zusammenhalte, werde die »quantitative Zeit als abstrakte Messegröße«, deren Sychronisierungsfunktion darin bestehe, dass die Zeigerstellung oder der Zahlenwert auf einer Uhr die einzige temporale Reziprozität werde, die noch denkbar sei. 182 Die Pointe einer so verstandenen Rationalisierung der Zeit der Moderne ist, dass die personale Zeit des Einzelnen von der ordnenden Zeit des gesellschaftlichen Raums bis zur Unkenntlichkeit überformt wird, sodass jede Form eines Unterschieds verschwindet. Die wechselseitige Durchdringung von personaler, sozialer, kultureller und ökonomischer Zeit gerinnt zu einer einzigen, der ›mechanischen‹ Zeit, die ihren emblematischen Ausdruck in dem in einem fulminanten Tempo, einem schwindelerregenden Stakkato arbeitenden Charly Chaplin in Modern Times gefunden hat. Noch da, wo die Arbeitsschicht zu Ende ist, die Feierabendglocke läutet, zucken die Hände vom Arbeiter Chaplin im Rhythmus weiter, als wären sie immer noch am Fließband und würden Schrauben in die Gewinde drehen. Die Herrschaft, die die Zeit über ihn und uns ausübt, ist, mit anderen Worten, eine stille, beharrliche Herrschaft, und das Fließband ist nur der exemplarische Ort eines habitualisierten, im Grunde schon gar nicht mehr vorhandenen Umgangs mit Zeit. Zwar hat auch das Fließband seine Zeit, genauso wie man sagen könnte, dass auch das wissenschaftliche Labor – ein anderer exemplarischer Ort des modernen Zeitregimes – seine »eigene Zeitstruktur« herausbildet, nur handelt es sich bei dieser Zeit um eine Form der Zeit, deren Zeitmaß dem Synchronisierungsprozess schon vorgelagert ist und somit selbst nicht zur Disposition steht. 183 Beginn und Ende, Abfahrt und Ankunft sind nicht verhandelbar. Ein Zug, der vor der fahrplanmäßigen Zeit abfährt, ein Fließband, das die benötigten Teile zu früh anliefert – das sind die schlimmsten Albträume der Moderne. 184 Deshalb gilt für das Labor nicht weniger als für das Fließband, dass ihr Zeitbedarf sich ausschließlich nach der »Verfügbarkeit, Zugänglichkeit und kontinu-

182 183 184

Nassehi 2003, 136 f. Nowotny 1989, 81. Vgl. dazu Bauman 2003, Rosa 2005.

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ierliche[n] Präsenz« richtet. 185 Je stetiger der Zeitbedarf ist, desto umfassender fällt die Detemporalisierung aus. Reckwitz’, Rosas und Nassehis Analysen sprechen eine klare Sprache: Zunächst und zumeist finden Personen ihre Zeitimperative in abstractum vor, in geronnener, ubiquitär verfügbarer, ihnen selbst wesentlich entzogener Form. Die ubiquitär verfügbare Zeit sickert in die Lebenswelt ein und wird zu der Zeit, über die schließlich nicht mehr verfügt wird, sondern die selbst über Personen verfügt. Aus der Zeit, die so und so lange dauert, wird die Zeit, die exakt so und so getaktet ist bzw. so und so knapp bemessen. Ludger Schwarte spricht in diesem Zusammenhang auch von spezifischen ›Zeitarchitekturen‹. Die Einrichtung der Welt in Serien aus Flächen und Linien zurechtgeschnittener Körper erzeugte die Evidenz einer homogenen, kontinuierlichen und diskreten Zeitreihe, über der die eigene Zeitautonomie zwangsläufig verlorengehen müsse: »[N]icht die Eigenzeit, sondern die soziale Ordnung als solche zählt«. 186 Personen aber sind und bleiben, und hier lassen nun Gegenstrategien mobilisieren, zeitsensible Wesen: Sie sind empfindsam – und in vielen Fällen sogar äußerst ›verletzlich‹ – gegenüber normierenden Zeitregimen, die bloß eine, und zwar eine domininierende Zeitnorm proklamieren. 187 Gerade deshalb mache, wie Wolfram Hogrebe festhält, geschichtliches Wissen in umgekehrter Weise unsere Gegenwartswahrnehmung, wenn auch noch nicht normativ kompetent, so doch zumindest normativ sensibel: »So wie der Lebenserfahrene mehr und schneller ›sieht‹ als der Unerfahrene, schärft geschichtliches Wissen eben unsere normative Sensibilität«. 188 Und deshalb hat in wieder umgekehrter Weise die Verdrängung von Zeit und Geschichte unabsehbare Folgen für die Konstitution, Organisation und Koordination des sozialen, kulturellen und politischen Gemeinwesens, wie auch ein wiederholter Blick auf Schiller und dessen Auseinandersetzung mit den Eigenzeiten der Moderne in den Briefen Über die ästhetische Erziehung zeigt. Die konkrete Gefahr, die von einem entpoietisierten Nowotny 1989, 81. Schwarte 2013, 138. 187 Max Weber bezeichnet die Technik auch als eine Form des »geronnene[n] Geist [es]«. Technisierung, so Weber, arbeite daraufhin, »das Gehäuse jener Hörigkeit der Zukunft herzustellen, in welche vielleicht dereinst die Menschen sich, wie die Fellachen im altägyptischen Staat, ohnmächtig zu fügen gezwungen sein werden« (ders. 1921/22, 320). 188 Hogrebe 2006, 16. 185 186

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Umgang mit der Zeit ausgeht, steht Schiller klar vor Augen, wenn er mit Blick auf den ›abstrakten‹ Staat und die strikte Trennung von Genuss und Arbeit, Mittel und Zweck konstatiert: »Und so wird denn allmählig das einzelne konkrete Leben vertilgt, damit das Abstrakte des Ganzen sein dürftiges Daseyn friste, und ewig bleibt der Staat seinen Bürgern fremd, weil ihn das Gefühl nirgends findet« (NA 20, 324). 189 Auch Schelling diagnostiziert dahingehend eine Entfremdungstendenz der Moderne. Diese bestehe darin, wie er nicht müde wird in den Weltaltern zu betonen, dass vorhandene Zeitkonflikte entweder ganz geleugnet und im Vorhinein – präventiv – unschädlich gemacht werden. Wer die Zeit bloß als einen mechanischen Zusammenhang, eine »sanfte Stetigkeit« verstehe, die Gegenwart »im Bild eines Zeitflusses« (WA I, 80) zu erfassen versuche, der habe die Möglichkeiten, die sich ihm sich in der Gegenwart bieten und vor allem die Verantwortung, die sich ihm dort aufdränge, bereits im Ansatz verspielt: »In unsern aber, von jenem Urgefühl der Menschheit so sehr und immer mehr entfremdeten, Zeiten«, heißt es bei Schelling, »hat sich die Empfindung jener Zweyheit fast mehr durch die Versuche, sie hinwegzuschaffen und auf irgend eine Weise zu läugnen, als durch wirkliches Anerkennen und Begreifen ausgedrückt« (WA I, 50). Schelling geht es in dieser Hinsicht darum, die temporalen Strukturen freizulegen, die unter der Oberfläche des Zeitregimes der Moderne verborgen liegen. Bewegt man sich in der Sphäre des praktischen Handelns, der geschichtlichen Gewordenheit der Dinge, muss ein Zeitbegriff gelten, welcher der personalen Freiheit der Akteure korrespondieren kann. Personale Eigenzeit vollzieht sich immer nur im Bruch von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, und dieser verschiebt sich mit jeder Handlung fortlaufend. 190 In Abwandlung der bekannten Fragestellung aus dem Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus kann und muss aus Sicht der Weltalterlehre 189 Vgl. dazu auch Gabriel 2006, 419: »Dort, wo die menschliche Identität ins Wanken kommt und auch noch das letzte Residuum der neuzeitlichen Personalität, nämlich die staatlichen und sozialen Institutionen zu einer unbegreiflichen Macht werden, wie im literarischen Werk Franz Kafkas, zeigt sich vielleicht genau dasjenige, was der späte Schelling als den negativen Grund des Ganzen denkt«. 190 Vgl. dazu auch Sturma 1992, 135: »Personales Leben verlangt von seinen Subjekten, daß sie im Verlauf ihres Lebens prinzipiell immer in der Lage sein müssen, das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart sowie das von Gegenwart und Zukunft in praktischer Hinsicht interpretieren zu können«.

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die Frage gestellt werden: Wie muss eine Welt temporal beschaffen sein, damit menschliche, und das heißt in diesem Fall: situations- und konstellationsgebundene Freiheit in ihr möglich ist? Schellings Diagnose einer mit sich selbst entfremdeten, einer ›die Empfindung der Zweiheit‹ nivellierenden Gegenwart liest sich wie ein Vorspiel zu den gesellschaftstheoretischen Analysen des 20. und frühen 21. Jahrhunderts, die ihrerseits wie Nachspiele zu den realgeschichtlichen Totalitäts- und Ohnmachtserfahrungen des letzten Säkulums erklingen. 191 Schelling beweist mit seinen Überlegungen zur temporalen Tiefenstruktur praktischen Handelns ein ausgesprochenes Gespür für die Geschichtszeitkategorien des Auf-, Ab- und Umbruchs. Weitab davon, die lineare Zeitauffassung als solche zurückzuweisen, geht es Schelling dabei vielmehr darum, ihren jeweiligen Geltungsbereich einzuschränken, und zwar in Bezug auf das Praktische. Gegen den Vorwurf, das für die gesellschaftliche Lebenspraxis maßgebliche Modell der messbaren, metrischen Zeit werde in den Weltaltern jeder Berechtigung beraubt, weiß sich Schelling zu verteidigen. Schelling will der linearen Zeit keineswegs ihre Gültigkeit absprechen. Ihr Geltungsbereich soll lediglich auf die »Vergleichung und Messung verschiedener Zeiten« (WA I, 79) eingeschränkt werden. 192 Und auch wenn Oliver Florig konstatiert, dass schwer zu sehen sei, wie die ihr entgegenzusetzende, wie also die »organische Ordnung der Geschichte mit dem von Schelling nach 1811 offensichtlich verteidigten Gedanken, wonach die empirische Welt gefallen und durch Sukzessivität und schlechte, d. h. nicht organische, sondern empirische Notwendigkeit gekennzeichnet ist, zusammenpaßt«, kann darauf verwiesen werden, dass auch die lineare Zeit der organischen Ordnung der Geschichte solange nicht widerspricht, wie man darunter zwar ›eine gewisse allgemeine Zeit‹ versteht, diese ihre »empirische Notwendig191 Zur negativistischen Entfremdungskritik Schellings, auch in ihrer späteren existenzphilosophischen Ausprägung bei Kierkegaard vgl. Hühn 2004. 192 Schellings pluridimensionales Zeit- und Geschichtsdenken kommt damit einem Bedürfnis der neueren Geschichtstheorie und Geschichtsschreibungsforschung nach, die zwar einerseits um das Konzept einer leeren, rein mathematischen Zeit weiß, deren historiographisches Interesse andererseits aber auch einer gefüllten, sich in Individuen verkörpernden Zeit gilt: »Es gibt eben nicht die eine Zeit der Geschichtsschreibung, sondern eine Vielzahl von Zeiten«, wie Kosselleck 2015, 292 dazu notiert. Vgl. dazu auch Hölscher 2015 sowie Landwehr 2006, hier insbesondere das Kapitel zur ›Zeitschaft‹ (281–316).

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keit« aber gerade nicht wiederum für ›die Zeit schlechthin‹ hält, sondern für eine Zeit, die uns in Ermangelung ihrer Durchdringung mit anderer Zeit bloß ›äußerlich‹ scheint, im handlungstheoretischen Sinne aber pluridimensional aufgespannt werden kann. 193 Hebt man also die Frage nach dem geschichtlichen und praktischen Umgang mit der Zeit hervor, dann ergeben sich die Konturen eines konfliktuösen Spannungsgefüges, zu dem die Konzeptionen der Geschichtslosigkeit, Berechenbarkeit und Zeitvergessenheit genauso gehören wie die der Geschichtlichkeit, des unberechenbaren Geschehen und der Zeitsensibilität. Nichts würde dem Charakter der organischen Geschichtszeit mehr widersprechen als die abstrakte Entgegensetzung von ›mechanischer‹ und ›organischer Zeit‹. Die bloße Gegenüberstellung bliebe gerade jenem Muster verhaftet, gegen das Schelling sich mit seiner Zeittheorie zu wenden versucht; es wäre – in der Entweder-Oder-Option – wieder als eine Konzession an das der chronologischen Zeit verpflichtete ›verständige‹ Denken zu verstehen. Sie würde die Gegenwart wieder nur nach dem beurteilen, »was sie für sie ist und nicht nach dem, was sie für das Urwesen« (WA IV 2, 248) ist. Mit dem Gegensatz von organischer Geschichtszeit und mechanischer Linearzeit verhält es sich wie mit dem Gegensatz von positiver und negativer Philosophie, den Schelling seiner Spätphilosophie zugrunde legt. Auch dort weist Schelling von Anfang an daraufhin, dass die positive die negative Philosophie nicht widerlegt, und zwar deshalb nicht, weil sie diese gar nicht zu widerlegen brauche. Das »positive System« lasse das negative vielmehr als »Mangel« erscheinen: »Seine Absicht und Wirkung inbezug auf das negative System ist, dieses als ein mangelhaftes erscheinen zu lassen, keineswegs als ein falsches darzustellen« (Schelling 1832/33, 101). 194 Nicht also schon die lineare Zeit stellt das Problem dar. Hinter Schellings Kritik verbirgt sich vielmehr die zeitdiagnostische Beobachtung, die lineare Zeit habe eine Tendenz die Geltung anderer Zeiten und Zeitordnungen zu verdrängen. Es ist die Habitualisierung beziehungsweise – kultursoziologisch gesprochen – die Transkulturation zur Linearzeit, einer alles begreifenden, das ›wirkliche‹ Leben von sich ausschließenden mechanistischen Weltauffassung, die Florig 2010, 186. Vgl. dazu auch Schelling 1832/33, 119: »Denn nichts ist für sich wahr, sondern alles nur im Zusammenhang des Ganzen. […] Das Wahre zeigt sich selbst und sein Gegenteil an. Das wahre System begreift das falsche«. 193 194

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Schelling in der Moderne befürchtet. Erst die ubiquitäre Ausdehnung zur Linearzeit lässt die Entgegensetzung von ›organischer‹ und ›mechanischer Zeit‹ zu einem wirklichen, weil allererst praktisch auszutragenden Konflikt werden. Erst die Restriktion auf die eine gültige Zeitvorstellung lässt im Prozess der Transkulturation auch Prozesse der latenten Dekulturation erfahrbar werden, Vorgänge des sukzessiven Um- beziehungsweise Abbaus geschichtlich-kultureller Errungenschaften, die – je nach Konstellation – bis hin zu Versuchen einer »endgültigen Vernichtung von Artefakten und deren Inhabern« reichen können, und erst diese Prozesse sind es, die Schellings Kritik hervorrufen, weil sie den Blick auf eine Zukunft, in der es anders sein könnte, verstellen. 195 Kurzum: Es kommt nicht darauf an, was die Zeit ist, sondern nur darauf, wie man sich zur Zeit verhält. 196 Nicht also schon die homogen-lineare und leere Zeit stellt das Problem dar, nicht allein sie führt zur beklagten Entfremdung von personalen Zeitverhältnissen. Es ist die »homogen-gefüllte Zeit«, die Übertragung der homogen-linearen Zeitstruktur auf alle Lebensbereiche, welche die »Eigenzeit des Zusammenlebens« systematisch bedroht. 197 Um die Analogie zum Verhältnis von positiver und negativer Philosophie in Schellings Spätphilosophie an dieser Stelle noch einmal aufzugreifen: »Das logische System braucht nicht falsch zu sein, um mangelhaft zu sein: falsch würde es erst, wenn es das positive ausschlösse. Der Mangel wird zum Irrtum erst, wenn er sich selbst zum positiven aufschwingen würde« (Schelling 1832/33, 101). 198 Eben das aber, nämlich der endgültige Ausschluss des ›Positiven‹ durch Verdrängung der Thurn 2013, 154. Vgl. dazu auch Schulz 1972, inbesondere das Kapitel Anmerkungen zu einer zeitgemäßen ›Philosophie der Geschichte‹ (595–601), sowie, was den gerade genannten integralen Ansatz, angeht: Minkowski 1955. Schon Heidegger macht im Übrigen gegen Bergson geltend, dass die Zeit, mit der wir rechnend umgehen durchaus ein »echtes Zeitphänomen« sei und »keine Veräußerlichung einer ›qualitativen Zeit‹ zum Raum« (ders. 2006, 333). Ob Heideggers Kritik Bergson trifft, soll dahingestellt bleiben. Was sie auf systematischer Ebene noch einmal sicherstellt, ist, dass schon der rechnende Umgang mit Zeit eine Weise ist, sich zur Zeit zu verhalten, oder, mit Heideggers Worten, eine Weise des In-der-Welt-Seins. Erst von der Zeit als Vulgärzeit aus kann die Frage nach einer ursprünglichen Zeitlichkeit des Daseins gestellt werden. 197 Reitz 2014, 370. 198 Umgekehrt legt diese Analogie natürlich auch offen, dass es sich beim positiven System nicht um einen rein theoretischen Standpunkt handelt, sondern vielmehr um das praktische Interesse der Vernunft selbst. Auf die Bedeutung des praktischen Interesses für Schellings Spätphilosophie hat als erster Hutter 1996 verwiesen. 195 196

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Alternativen im Geschichtlichen, macht die temporale Signatur der Moderne für Schelling aus. 199 Und allein von ihr her, dem ›Aufschwung des Mangels‹, entwickelt er seine ›Zeit‹-Kritik in der Weltalterphilosophie. Im besten Fall, und angesichts der Entwicklung der kulturellen, sozialen und technischen Moderne wird man auch kaum etwas anderes behaupten wollen, soll das ›wirkliche‹ Leben der linearen Zeitauffassung ja gerade nicht ›äußerlich‹, sondern vielmehr im ständigen Konflikt – ›koexistierend‹ – mit ihr sein. 200 Einen geschichtlich-praktischen Umgang mit Zeit hat es nicht immer gegeben, und genauso wenig wie es diesen Umgang immer gegeben hat, scheint es gegenwärtig sogar möglich zu sein, dass die gegenwärtige Gesellschaft im Begriff steht, ihre Geschichtlichkeit wieder zu verlieren, also wieder a-historisch zu werden. 201 Schelling erkennt diese Tendenz der Moderne; hier interveniert er mit seinem Appell, sich die Zeit nicht ›äußerlich‹ werden zu lassen. Nur so kann letzten Ende deutlich werden, dass auch die lineare Zeitauffassung eine gewordene Zeitordnung darstellt, und dass auch der ›Glaubensartikel‹ der empirischen Notwendigkeit, das auf dem Paradigma von Messung und Vergleichung beruhende Zeitmaß des mathematischen Durchschnitts seine Geschichte hat, von jeher in eine Pluralität von geschichtlichen Zeiten eingebettet ist, und dergestalt immer schon, und zwar durch diese Pluralität hindurch, auf eine von der Chronologie verschiedene Zeitordnung verweist. 202 Geschichte, das ist für 199 Vgl. dazu auch die Diagnose von Poser 1993, 17. »So leben wir zwischen Echtzeit und Endzeit, Totzeit und Tatzeit, Zeittakt und Zeitgefühl, Raumzeit und Reisezeit – kaum mehr aber zwischen Zeit und Ewigkeit«. Jene Dimension der Ewigkeit unter den negativen Bedingungen der Moderne zurückzugewinnen, dieses Ziel könnte man als eine maßgebliche Stoßrichtung der Kant-Kritik Schellings bezeichnen. 200 Das Verhältnis von Technik und Zeit jenseits vereinseitigender Kritik des technischen Zeitregimes einerseits und feststehender erst mittels spezifischer Techniken aufzulösender Zeitstrukturen andererseits zu untersuchen, ist das grundlegende Anliegen von Hörning/Ahrens/ Gerhard 1997. Techniken, so die These des Trios, bringen erst in der Anwendung ihre Eigenschaften hervor: »Erst die Prakiken bringen (keineswegs beliebig) die Eigenschaften hervor, die wir so gerne als ›feststehend‹ und ›vorliegend‹ begreifen« (11). Oder wie Nowotny 1989, 102, in diesem Zusammenhang sagt: »Es müssen neue, kollektive wie individuelle Zeitstrategien im Umgang mit der neuen Maschinenzeit, der Laborzeit, gefunden werden«. 201 Vgl. Anders 1956, 273 f. 202 Diesem Befund entspricht, was Norbert Elias in seiner Schrift Über die Zeit aus wissenssoziologischer Perspektive aufgearbeitet hat. Elias hebt in seiner Untersuchung auf die wissenshistorische Bedingtheit aller Zeitordnungen ab und attestiert dabei gerade der kantischen Zeitauffassung einen »klassische[n] Fall von Vergessen

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Eigenzeiten der Moderne

Schelling die Rückeroberung personaler Zukunft unter den Bedingungen der Moderne. Und von hier aus, also im Ausgang von einer wiederzugewinnenden Pluralität personaler Zeitmodi, lässt sich auch noch einmal die Frage nach der Polychronalität der Moderne, des Neben-, Mit- und Durcheinanders der Zeiten stellen: Hatte sich das Problem der Synchronisation polychroner Zeitverläufe für Schelling im Grunde als ein Problem »unterschiedlicher Zukunftsfähigkeit« herausgestellt, so wirft die spannungsreiche Koexistenz verschiedener Zeitordnungen nun noch einmal ein spezifisches Licht auf die Frage nach der gemeinsam geteilten Zeit im Sinne der Zeitgenossenschaft. 203 Gerade sie scheint der Fluchtpunkt zu sein, auf den die Linien einer personalen ›Zeit‹-Kritik zulaufen.

11.2. ›Mitwissenschaft‹ als Zeitgenossenschaft Der Preis, den Schelling für seine Konzeption eines konfliktuösen Spannungsgefüges verschiedener Zeiten und Zeitordnungen zu zahlen bereit sein muss, ist freilich, dass Geschichte und mit ihr die Erfahrung auf irreversible Weise in den Raum der Vernunft eindringt.

der Vergangenheit, von Vernachlässigung des gesamten Wissensprozesses, der zu der eigenen Stufe, zu der eigenen Synthesehöhe hingeführt hat« (ders. 1988, XIX). Eine kulturvergleichende Studie zur Pluralität verschiedener Zeiten und Zeitordnungen hat auch Dux 1989 vorgelegt. In historisch-genetischer Weise durchläuft seine Untersuchung die Entwicklungslogik geistesgeschichtlicher Darstellungen der Zeit. Was allen diesen Darstellungen gemeinsam sei, so hält Dux fest, sei die Einzigartigkeit ihrer Vorstellungsweise von Zeit. Gegen jede Form von Zeitzentrismus gewandt, heißt es: »Das historische Erkenntnisinteresse kann einzig darauf aus sein, jede Gesellschaft und jede Kultur in der Logik ihres eigenen Weltverständnisses darzustellen – falls und soweit sich das überhaupt als möglich erweisen sollte. Mehr und anderes läßt sich in der Geschichte nicht erkennen – nicht, weil es nicht zu erkennen wäre, sondern weil es mehr und anderes nicht zu erkennen gibt. Die Geschichte bleibt, wofür der unbeschwerte Blick sie nimmt: eine ungeheuere Diversifikation von Welten« (19 f.). Aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive untersucht auch Olaf Breidbach die radikale Historizität des Erkennens, die er als Einsicht in die grundlegende Begrenztheit des Erkenntnisvermögens positiv zu wenden versucht: »Solch ein Umgang ist möglich, wenn unsere Perspektive sich konsequent relativiert, um so ihre Bezugsgrößen kenntlich zu machen. Dies geschieht in der radikalen Historisierung unserer Position. Dabei akzeptieren wir, dass wir unsere Wertvorstellungen und Geltungsbestimmungen nur für eine bestimmte Zeit zu sichern vermögen. Dieser Eingrenzung unserer Sicherheiten können wir standhalten« (ders. 2011, 10 f.). 203 Uhl 2003, 54.

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Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt

Es ist die allzu unreine, geschichtliche Erfahrung, die das methodologische Primat erhält vor den logischen Schlüssen der reinen Vernunft. Eine Primatstellung, die nicht ohne Konsequenzen für den Systembegriff bleiben kann: »Es ist der Philosophie unvermeidlich, systematisch zu sein; aber die Erfahrung zeigt die Vergänglichkeit aller Systeme als solcher« (Schelling 1832/33, 74). Dass die Erfahrung hier vor der Systematik des Denken die Oberhand behält, zeigt, mit welcher Konsequenz Schelling seine in den Weltaltern begonnenen Überlegungen noch bis in die Spätphilosophie vorantreibt: Die Erfahrung ist das notwendige Korrektiv zu den Doktrinen der reinen Vernunft und trägt in ihrer zeitlichen Vorgängigkeit dem Aspekt des Geschichtlichen, des Ungewissen, des Neuen Rechnung. Schelling schlägt damit einen ganz anderen Weg ein als Hegel, obwohl man sagen kann, dass er einem ursprünglich Hegel’schen Projekt dabei auf die Spur zu kommen versucht. Bekanntlich ist es Hegel, der mit seiner Theorie der bürgerlichen Gesellschaft die politischen und sozialen Probleme seiner Zeit einkreist und unter Hinzunahme der neuesten politische Ökonomie versucht, man denke hier nur an Adam Smith und David Ricardo, seine eigene Gegenwart im Begriff zu erfassen. Schelling zeigt wenig Gespür für sozialphilosophische Zusammenhänge wie diese, von Ökonomie zu schweigen, in einer Philosophie, die lange Zeit versucht hatte, die endliche Welt in ihrer Endlichkeit zu vernichten, spielen sie augenscheinlich gar keine Rolle. Und in diesem Sinne bleibt Schelling auch hinter Hegel zurück. Trotz dessen lässt sich auch Schelling als ein konsequenter Gegenwartsanalytiker seiner Zeit verstehen, und zwar in dem Maße, wie er in die Gegenwartszeit teils erlösende, teils aber auch tragische Momente personaler Freiheit einträgt. 204 Während Hegel die im Zuge der Französischen Revolution erfahrene Entzweiung und Diskontinuität im Begriff der bürgerlichen Gesellschaft in letzter Instanz wieder »positiv als Form der geschichtlichen Kontinuität und Einheit« versteht und damit die Kontinuität Weltgeschichte insgesamt zu retten versucht, 205 wie Joachim Ritter in seiner berühmten Hegel-Interpretation gezeigt hat, ist es Schelling, der die erfahrene Dis-/Kontinuität der Geschichte, von Herkunft und Zukunft im Gegensatz dazu vielmehr unversöhnt lässt. Die Entzweiung ist ›real‹ und kann durch keine Zeit hindurch aufgehoben werden. Mit ande204 205

Vgl. dazu Hogrebe 2006, 03. Ritter 1997, 30.

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ren Worten: Während Hegel Geschichte im Rahmen seines dialektisch-holistischen Denkens nur methodisch negativiert, ist sie bei Schelling ganz real – in der Sache selbst – negativ: Der unauflösbare Rest, den die geschichtliche Gegenwart für die menschliche Freiheit darstellt, ist gerade das Ganze der menschlichen Freiheit selbst. Und deshalb manifestiert sich die »lebendige Identität«, die Schelling seit der Freiheitsschrift vor Augen steht, auch nicht in sozialen Institutionen, wie sie den objektiven Geist der bürgerlichen Gesellschaft bei Hegel kennzeichnen, sie tritt vielmehr in interpersonalen Formen der Verständigung hervor und kann, wenn sie in diesen Kontexten nicht fortwährend aktualisiert wird, auch wieder in die geschichtliche Latenz absinken. Schellings Beharren auf der Kategorie der Personalität und dem Erfahrungsvollzug spiegelt auch einen scharfen Kontrast zur ›Tangentialidentität‹, wie man sie etwa aus Fichtes ›Wissenschaftslehre‹, aber auch aus Schellings Identitätslehre kennt. 206 Recht verstanden beruht die Sache der menschlichen Freiheit bei Schelling überhaupt nicht auf einer intellektuellen, sondern auf einer durchgängig »geschichtlichen Anschauung des Universums« (Schelling 1831/32, 7). Bereits in den Weltaltern heißt es in diesem Zusammenhang: »Wir leben nicht im Schauen; unser Wissen ist Stückwerk, d. h. es muß stückweis, nach Abtheilungen und Abstufungen erzeugt werden, welches nicht ohne alle Reflexion geschehen kann« (WA II, 115 f.). 207 Schelling versteht das Verhältnis von Mensch und Welt nicht nur als eine Frage der Praxis überhaupt, sondern als Frage der Veränderlichkeit menschlicher Zweckabsichten durch die unmittelbaren Folgen 206 Wie weit die Kluft zwischen beiden Ansätzen in der Tat sein kann, zeigt sich nicht zuletzt in der Person Fichtes. So schreibt Friedrich Schlegel an Christian Gottfried Körner am 21. September 1796: »Fichte sehe ich ziemlich oft […]. Es ist merkwürdig, wie er von allem, was er nicht ist, so ganz und gar keine Ahnung hat. – Das erstemahl, da ich ein Gespräch mit ihm hatte, sagte er mir: er wolle lieber Erbsen zählen, als Geschichte studieren. Ueberhaupt ist er wohl in jeder Wissenschaft schwach und fremd, die ein Objekt hat« (KFSA 23, 333). 207 Schelling greift hier offenbar auf die berühmte Formulierung Paulus’ zurück. Im ersten Korintherbrief schildert Paulus die Situation des Menschen in Beziehung auf die Erkenntnis wie folgt: »Da ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und war klug wie ein Kind und hatte kindische Anschläge; da ich aber ein Mann war, tat ich ab, was kindisch war. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenn ich’s stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin. Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen« (1. Kor. 13,12).

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Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt

ihrer Handlungen, welche – das kommt konzeptionell erschwerend hinzu – immer schon eingebettet sind in einen konkreten geschichtlichen Kontext mit all seinen latenten wie manifesten Tendenzen. Die Frage der Ethik und damit die Frage nach dem Wesen der menschlichen Freiheit und den damit zusammenhängenden Gegenständen lässt sich, liest man Schelling auf diese Weise, immer nur im Ausgang von und im Hinblick auf eine geschichtlich situierte Praxis ver7stehen. 208 Und das macht sie gerade so attraktiv für das Projekt einer philosophischen Zeitdiagnostik. Schellings personales Zeit- und Geschichtsdenken exponiert insofern nicht einfach nur das Problem einer den Dingen eigenen Zeit. Es geht um die Frage, wie man auf der Höhe seiner eigenen Gegenwart, die eine Vielzahl von unterschiedlichen Zeit in sich begreift, denken und handeln kann. Eine Philosophie, die für die Wirklichkeit der geschichtlichen Gegenwart keinen Sinn hat, von der Geschichte bloß weiß, wie sie idealiter sein soll, nicht aber auch bedenkt, wie es sich realiter mit ihr verhält, kann zur geschichtlichen Gegenwart nach Schellings Auffassung – wenn überhaupt – nur ein »negatives, abweisendes Verhältniß« (SW XIV, 22) haben. Die Einsicht in die durchgängige geschichtliche Bedingtheit unserer gegenwärtigen Lage wird so zugleich zur Ermöglichungsbedingung dafür, dass, wie Walter Schulz es auf den Punkt gebracht hat, »wir nicht im Allgemeinen verschweben, sondern die uns eröffneten Möglichkeiten erkennen und verwirklichen, das heißt zeitgemäß denken und handeln«. 209 Auch die Philosophie der Offenbarung hält in dieser Hinsicht fest: Eine Philosopie, welche für die Wirklichkeit als solche keinen Sinn und keinen Platz hat, kommt endlich in Ansehung der Geschichte dahin, sich eine Geschichte zu machen, wie sie sein sollte, welche gegen die wirkliche Geschichte dann nur ein negatives, abweisendes Verhältniß hat. […] Eine solche Darstellung der Geschichte möchte gern das Geschehene ungeschehen machen, die Vergangenheit, soweit sie ihrem höchst zufälligen Begriff nicht gemäß ist, als nicht-existent, d. h. außer aller Wirkung und Bedeutung für die Gegenwart setzen. Ein solches Verfahren geht über die Schranken einer bloß theoretischen Ansicht hinaus, indem es die Continuität der Bildung selbst aufhebt, der Gegenwart ihren Grund, ihre Basis entzieht, damit aber auch die Zukunft völlig in Zweifel stellt. (SW XIV, 22)

208 209

Vgl. Jähnig 1975, 44. Schulz 1972, 470.

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Eigenzeiten der Moderne

Wer aber versucht auf der Höhe seiner eigenen Gegenwart zu denken und zu handeln, der erprobt im Grunde, was es heißt, ein Zeitgenosse zu sein. Der Begriff der Zeitgenossenschaft kommt bei Schelling selbst nicht vor, noch nicht, möchte man hinzufügen, gleichwohl lassen sich die Umrisse zu einem damit verbundenen Problembewusstsein in den Weltaltern bereits ausmachen: Das Problem der Zeitgenossenschaft scheint bei Schelling in der genealogischen Frage nach der ›Mitwissenschaft der Schöpfung‹ auf. Zur Erinnerung: Die ›Mitwissenschaft der Schöpfung‹ galt Schelling als ein erfahrungsgesättigtes, »aus der Quelle der Dinge geschöpft[es]« (WA I, 4) Wissen von den Prinzipien des Anfangs. Überträgt man die Frage nach dem Anfang nun auf die Frage nach der immer wieder zu gewinnenden personalen Zukunft im Spannungsgefüge polychronaler Zeitverläufe, dann erweist sich das aus der Theosophie stammende Konzept der Mitwissenschaft in einem ganz modernen Sinne als eine Form der ›Mitzeitigkeit‹ oder als eine von der jeweiligen geschichtlichen Gegenwart aufgegebene Zeitgenossenschaft. Die tiefengeschichtlichen Rezeptionsfluchten und systematischen Transformationsleistungen sind enorm, ohne Frage: Aber die durchgängige Erfahrungsabhängigkeit unseres Urteils- und Handlungsvollzuges, die sich im Begriff der Mitwissenschaft konzentriert, spiegelt genau die geschichtliche Indexikalität von Zeitgenossenschaft wider. Und es versteht sich von selbst, dass eine solche Form der Zeitgenossenschaft über das bloße Teilen von gemeinsamer Zeit hinausgeht: Zeitgenossenschaft in diesem anspruchsvollen, emphatischen Sinne ist ein praktisches Selbst- und Weltverhältnis, das sich geschichtlich herausbildet und in der Geschichte durch die Praxis sich zu bewähren hat. Wie aber ist eine solche Zeitgenossenschaft praktisch zu erlangen? Wie denkt und handelt man auf der Höhe der Zeit? Oder muss man sich gar von der Vorstellung, es könnte überhaupt eine Höhe der Zeit geben, verabschieden, zugunsten verschiedener Zeitverläufe? Bei Giorgio Agamben, der sich dieser hochkomplexen und im Rahmen der vorliegenden Arbeit auch nur ansatzweise zu beantwortenden Frage zugewendet hat, heißt es diesbezüglich: »Der Gegenwart zeitgenössisch, ihr wahrhaft zugehörig ist derjenige, der weder vollkommen in ihr aufgeht noch sich ihren Erfordernissen anzupassen versucht.« Und weiter: »Insofern ist er unzeitgemäß; aber ebendiese Abweichung, dieser Anachronismus erlauben es ihm, seine Zeit

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Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt

wahrzunehmen und zu erfassen«. 210 Man könnte nun versucht sein, Schellings personales Zeit- und Geschichtsdenken im Ausgang von Agamben als einen solchen Anachronismus zu deuten: anachronistisch in dem Maße, wie es darum geht, eine chronologische Zeitfolge in eine geschichtlich-äonische Folge von Zeiten zu überführen. Diejenigen, die, wie Agamben sagt, »restlos in ihrer Epoche aufgehen, die in jedem Punkt völlig mit ihr übereinstimmen, sind nicht zeitgenössisch, weil sie sie gerade deshalb nicht sehen, nicht beobachten können«. 211 Um einer Gegenwart anzugehören, muss man sie und mit ihr sich sich selbst in eine spezifische temporale Optik bringen: Zeitgenössisch ist gerade derjenige, der, wie Agamben sagt, den Blick fest auf seine Zeit richtet, »um nicht deren Glanz, sondern deren Finsternis wahrzunehmen«. 212 Mit anderen Worten: Die wiederzugewinnende Dimension personaler Zukunft im Spannungsgefüge polychronaler Zeitverläufe geht mit einer Distanzierung vom herrschenden Zeitregime einher. In gerade diesem Sinne ist die Erfahrung des Bruchs ein wesentlicher Bestandteil der Herausbildung eines sensiblen wie zugleich kritischen Zeit- und Gegenwartsbewusstseins. Ja, es gibt sogar einen, um mit Odo Marquard zu sprechen, geschichtlichen Zäsurbedarf, ein Bedürfnis nach Epochalisierungen, das sich natürlich seinerseits wieder der Erfahrung geschichtlicher Zäsuren verdankt, etwa der historischen Zäsur der Französischen Revolution, dem Ende des Anciem Régimes, wenig später auch dem Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation durch die Napoleonischen Kriege, dem buchstäblichen Schnitt durch die Kontinuität königlicher Herrschaft qua Guillotinierung Ludwig XVI. und dem damit einhergehenden Zerfall der traditionalen Legitimierung politischer Herrschaft. 213 Der ›geschichtliche Zäsurbedarf‹ ist sozusagen selber eine geschichtliche Vollzugsgestalt, weil sie ab einem bestimmten Punkt der Geschichte auftritt und dabei die Frage nach Zeitgenossenschaft und einer emphatisch verstandenen Gegenwärtigkeit überhaupt erst entstehen lässt. Somit führt der erweiterte Fokus, die Orientierung am geschichtlich-praktischen Umgang mit Zeit in methodologischer Hinsicht dahin, auch Schellings genealogischen Ansatz selbst noch einmal zu genealogisieren. Und es klingt fast wie ein 210 211 212 213

Agamben 2010, 22. Agamben 2010, 23. Agamben 2010, 26. Vgl. Marquard 1987a.

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Treppenwitz der Geschichte, dass das letzte Bild, das es von Schelling gibt, selbst zur Ikone einer Zeitenwende geworden ist, und zwar nicht nur deshalb, weil in seinem, Schellings, Blick das »ganze Dunkel einer unbelichteten Vorzeit« liegt, 214 sondern weil es die Praxis des Fotografierens selbst ist, jene gegenüber der Portraitmalerei so ganz andere Technik, die diesen für uns so rätselhaften und geheimnisvollen, der Gegenwart entrückten, ja nahezu unwirklichen, aus der Tiefe der Geschichte aufsteigenden Blick erzeugt. 215 Die Frage nach der Möglichkeit personaler Zukunft inmitten einer Polychronalität der Moderne zeigt, dass für Schelling nicht der Verstand, die Spekulation oder das System Maßstab und Medium des Urteilens und Handelns sind, sondern dass das ›Leben‹ selbst in seinen geschichtlichen Gestalten seinen Maßstab hervorbringt. Alle Ansichten, so formuliert es Schelling in einem Brief an seinen Verleger Johann Friedrich Cotta, seien in den Weltaltern bis zu dem Punkt geführt, »wo sie schlechterdings in’s Leben eingreifen müssen«. 216 Diesen betont lebensorientierenden Impuls teilt Schelling mit Autoren wie Herder, Novalis oder Friedrich Schlegel. Schelling beginnt aber – und das räumt auch den Weltalter-Entwürfen in der Entwicklungsgeschichte der nachkantischen Philosophie einen so besonderen Stellenwert ein – die notwendigen theoretisch-konzeptionellen Konsequenzen aus den unauflösbaren Aporien der idealistischen Systemphilosophie zu ziehen. Schon die Frühphilosophie wusste sich mit dem Unterschied zwischen ›Schule‹ und ›Leben‹ der geschichtlichen Wirklichkeit verbunden. Was aber aus dem Ansatz der Frühphilosophie folgt, ist, dass sich die Philosophie nur über einen Umweg, und zwar über den von ›Form‹, ›Objektivation‹ und ›Geist‹ des ›Lebens‹ zu versichern vermag. 217 Leben kommt hier nur als »lebendige[s] Werk des menschlichen Geistes« (AA I,2, 76) in den Blick, nicht aber als realer Begriff des menschlichen Daseins, der er immer schon im geschichtlich-praktischen Vollzug von Personen ist. Die Weltalter- und Spätphilosophie wird von der Überzeugung getragen, dass die Dynamik des menschlichen Geistes sich nicht an der »bloße[n] Folge und Entwicklung eigener Begriffe und Gedanken« (WA I, 3) bemisst, son-

214 215 216 217

Schärf 2006, 351. Vgl. dazu auch Benjamin 1931. F. W. J. Schelling an J. F. Cotta, 14. August 1814, Fuhrmans/Jünger 87 f. Vgl. dazu Große 2008, 11.

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Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt

dern eine an dem Menschen »haftende, nicht auszuschließende Möglichkeit des Andersseyens« (SW XII, 141) beinhaltet. Solche personenbezogenen, so zu bezeichnende Alternativen im Geschichtlichen kommen in den klassisch-idealistischen, auf unendliche Progressivität abonnierten Systementwürfen nicht vor; sie verlangen einen Rekurs auf den konkreten, situationsgebunden-praktischen Umgang mit Zeit. Auch wenn das Weltalterunternehmen, wie gezeigt wurde, in großen Teilen hinter den konzeptionellen Anforderungen dafür zurückbleibt, so gebührt ihm doch das Verdienst in die richtige Richtung gewiesen, die tragische Verkehrung von System und Leben im Begriff der Mitwissenschaft der Schöpfung positiv gewendet zu haben. 218 ›Tragisch‹ an einer solchen Verkehrung ist, dass der Mensch gerade nicht über die Zeit verfügt, sondern die Zeit vielmehr über ihn gebietet. Oder wie Michael Theunissen sagt: »Statt daß ein Mensch sich der Zeit bemächtigen könnte, ist er im Gegenteil in sie verstrickt«. 219 ›Positiv‹ daran wiederum ist, dass die Agonie der Zeit, die sich aus einem solchen Verstricktsein in Geschichte ergibt, dann und nur dann bewältigt werden kann, wenn nicht länger irgendein abstrakter Begriff als deren Bemessungsgrundlage dient, sondern die Maßstäbe unseres Urteilens und Handelns aus dem »Zeitleben« 220 heraus um des Lebens willen selbst gewonnen werden. 218 Auch Iber 1999, 236, der in seiner Habilitationsschrift die Theorie des Absoluten seit der Freiheitsschrift und den Weltaltern mit Blick auf die ihnen zugrundeliegenden und von Schelling nie wirklich in den Griff bekommenen Aporien durchaus kritisch beurteilt, gibt in seinen Prager Vorlesungen über den Deutschen Idealismus zu Bedenken, man dürfe ungeachtet dessen nicht die »produktiven Potentiale des Dualismus in Schellings Theorie des Absoluten« übersehen. 219 Theunissen 2000, 7. 220 ›Zeitleben‹ ist ein Begriff, den ich an dieser Stelle von Fichte übernehme. Erstaunlicherweise hat sich Fichte in seiner Erlanger Vorlesung von 1805 Ueber das Wesen der Gelehrten ganz ähnlich wie Schelling zu einer Pluralität verschiedener Zeiten und Zeitordnungen bekannt. Allerdings hat Fichte diesen Gedanken in seiner Spätphilosophie nirgends weiterverfolgt, geschweige denn ausgearbeitet. Was den sachlichen Gehalt des ›Zeitlebens‹ angeht, sind die Parallelen zu Schelling indes frappierend: »Das Zeitleben tritt nicht bloss in einzelnen Momenten, sondern es tritt auch in ganzen gleichartigen Massen ein in die Zeit, welche gleichartigen Massen nun eben es sind, die wiederum in einzelne Momente des wirklichen Lebens sich spalten. Es giebt nicht eine einzige Zeit, sondern es giebt Zeiten, und Zeitordnungen über Zeitordnungen und in Zeitordnungen. So ist z. B. das gesammte gegenwärtige irdische Leben der menschlichen Gattung eine solche gleichartige Masse, welche mit Einem Male ganz eingetreten ist in die Zeit, und allgegenwärtig ganz und ungetheilt da ist – für den tieferen Sinn, lediglich für die sinnliche Erscheinung noch ablaufend in der Welt-

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11.3. Die mitlaufende Differenz der zeitlichen Praxis In den Weltaltern erklärt Schelling, dass nur derjenige über den Prozess des Lebens wird urteilen können, der ihn selber praktisch erfahren hat, das heißt: erlebt mit all seinen geschichtlichen Auf-, Ab- und Umbrüchen. Der Prozess der Entwicklung darf Schelling zufolge nicht bloß durchdacht, er muss durchlebt und im Durchleben immer wieder neu ›entschieden‹ werden: »Selbst theoretisch ihn mitmachen ist nicht genug. Wer den Prozess alles Lebens nicht praktisch erfahren, wird ihn nie begreifen« (WA I, 102). Die Totalität des Seins bezieht Schelling zufolge erst aus der »geistige[n] Erfahrung« (WA I, 102) eines gelebten Lebens ihre Geltung, weil sie erst von dort her geschichtlich erschlossen und praktisch zur Entfaltung gebracht werden kann. Das gilt umso mehr für eine Zeit, die anfängt, sich von überkommenden Strukturen zu emanzipieren, ja mit ihnen schon gebrochen hat und sich dadurch zusehends selbst fragwürdig geworden ist. Schelling setzt, mit anderen Worten, bei der Zeit der menschlichen Praxis an, und man kann diesen geschichtlichen Ansatz gegen die These Theunissens verteidigen, Schelling lasse die derivierte Absolutheit des Menschen durch die Absolutsetzung menschlicher Freiheit wieder verschwinden. 221 Erstaunlicherweise entwirft Schelling vor dem Hintergrund der Umbruchserfahrungen seiner eigenen Zeit sogar eine transzendentale Anthropologie der geschichtlichen Gegenwart, indem er spezifische Erfahrungen der Dis-/Kontinuität zum Ausgangspunkt seiner Zeitanalyse macht und in der Folge darauf beharrt, dass ein Leben »durchkämpft sein will«, um überhaupt als ›Leben‹ angesprochen und in seinen vielfältigen Gestalten und Epochen erkannt zu werden. Erst im Medium des geschichtlichen Bruchs tritt Zeit als personale Zeit hervor, nur dort wird es möglich, uns selbst und andere Personen als immer schon in der Zeit befindgeschichte. Die allgemeinen Gesetze und Regeln dieser gleichartigen Massen des Lebens lassen sich, nachdem dieselben Massen nun eingetreten sind in die Zeit, wohl begreifen, und, für den ganzen Ablauf dieser Massen im Voraus einsehen und verfrühen, indess die Objecte, d. h. die Hemmungen und Störungen des Lebens, über welche hinweg diese Massen ablaufen, lediglich der unmittelbaren Erfahrung zugänglich sind« (GA I,8, 75). 221 Zumal Theunissen sich gar nicht der Frage zuwendet, inwiefern auch die Weltalter-Entwürfe anthropologisch ansetzen, sondern sich auf den positiven Gehalt seiner Thesen beschränkt, wonach die Freiheitsschrift eine genuin anthropologische Ausrichtung besitze. Vgl. dazu Theunissen 1965.

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liche, auf die Zeit angewiesene und sich die Zeit aneignende Wesen in den Blick zu bekommen. Schellings ›entschiedene Gegenwart‹ ist dabei als Zeitgenossenschaft im emphatischen Sinne Agambens zu verstehen: als Bruchstelle und Begegnungsort der Zeiten. 222 Und nirgendwo anders als an diesen Bruchstellen wird auch sichtbar, dass Schellings personales Zeit- und Geschichtsdenken sich geradezu in eine konfliktuöse Theorie der Zeit übersetzen lässt. Die Zeiten, die sich dort – im geschichtlichen Umbruch – begegnen, spiegeln immer auch bestimmte Zeitvorstellungen und -einstellung wieder: Im Umbruch begegnen sich die Zeiten unmittelbar als konfligierende Zeiten und werden auf diese Weise doch – geschichtlich bzw. dialogisch – miteinander in Beziehung gesetzt. Der Prozess des Lebens, so stellt sich die Sachlage dar, erfordert die Organisation ganz verschiedener Zeiten und Zeitordnungen und ihre Koordination gelingt – paradox genug – gerade dann, wenn man – um Umfang und Grenze der jeweils anderen Zeitvorstellung und -einstellung wissend – im geschichtlich-praktischen Vollzug die Zeiten gegeneinander abhebt. Als konfliktuös würde sich Schellings personales Zeit- und Geschichtsdenken gerade in dem Maße erweisen, wie es die Frage nach der Einheit der Zeit in Richtung auf die Frage nach dem geschichtlich-praktisch überhaupt erst auszutragenden Konflikt verschiebt, in dem sich verschiedene Zeiten und Zeitordnungen von jeher befinden. 223 Man begegnet in diesem Zusammenhang einer bekannten Theoriefigur Schellings: Gesucht wird der Vereinigungspunkt der Systeme, die Einheit von Theorie und Praxis, Erkennen und Handeln, Natur und Freiheit. Dass es einen solchen geben muss, daran hat sich seit der Frühphilosophie nichts geändert. Schon in den Briefen hatte es diesbezüglich geheißen, dass, wenn es schon kein einzig mögliches System geben könne, es zumindest für die »verschiedne Systeme«, ein »gemeinschaftliches Gebiet für sie alle« (AA I,3, 59) geben müsse. Nur scheint es nun, dass sich nicht die bloße Vernunft, sondern das Leben selbst, das Leben mit seinen ihm eingeschriebenen Zäsuren als jenes »gemeinschaftliche[…] Gebiet« herausstellt, auf dem die ver-

Agamben 2010, 34. An dieser Stelle ergeben sich vielfältige Anschlussmöglichkeiten für eine Zeittheorie der Moderne, die gerade die Formierung und Neukonstituierung multipler, sich wandelnder und oft strittiger und miteinander konfligierender Modernen ins Zentrum ihrer Überlegungen stellt. Vgl. dazu Eisenstadt 2007. 222 223

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schiedenen Systeme zusammen bestehen können. Die Philosophie, so heißt es auch noch beim späten Schelling, müsse in die Wirklichkeit eindringen, »nicht sie zu zerstören, sondern ihre Kraft für sich selbst zu benutzen« (Schelling 1831/32, 4). Für die Form der Einheit bedeutet das aber, dass sie weder unmittelbar gegeben noch unmittelbar angeschaut werden kann, die Vereinbarkeit von Theorie und Praxis muss im dis-/kontinuierlichen Prozess des Lebens selbst unter Beweis gestellt werden. In der Philosophie der Offenbarung von 1831/ 32 fordert Schelling dementsprechend ein ›System‹, »welches erst mit der fortschreitenden Lebenserfahrung, mit der tiefen Erkenntnis der Wirklichkeit an Kraft und Stärke gewinnt« (Schelling 1831/32, 3). 224 Auch hier findet sich wieder der agonale Gedanke, dass ein Leben »durchkämpft sein will«, um von allen Seiten begriffen werden zu können, dass es der Anstrengung bedarf, um sich in eine Beziehung zu seiner eigenen Zeit zu setzen. »[W]ahre Philosophie« vermöge mehr als bloß ›tangieren‹: »[S]ie muß Mittelpunkt werden, um den sich alle Kräfte schwingen« (Schelling 1831/32, 3). Solange dies aber nicht geschehe, bleibe die Philosophie, so fährt Schelling fort, eine »bloße Tangente des menschlichen Lebens, d. h. sie läuft nur neben demselben fort« (Schelling 1831/32, 3). Sie würde immer nur wieder mit abstrakten Begriffen operieren, aber niemals in die Wirklichkeit vordringen. In eine solche Zeit der abstrakten Begriffe und des eindimensionalen Zeit- und Moderneverständnisses sieht Schelling gerade seine eigene Zeit gekommen. Darin besteht seine auch in der Spätphilosophie nicht nachlassende Gegenwartskritik, die Kritik an einer von sich ›entfremdeten‹ Zeit: »Jetzt gibt es am meisten mit der Welt zerfallene Menschen. Die Ursache liegt in der Meinung, die wahre Bildung bestehe darin, in einer abstrakten Welt, die mit der Wirklichkeit in keiner Berührung steht, zu existieren« (Schelling 1831/32, 3 f.). Damit wird zuletzt noch einmal deutlich, welcher handlungsorientierende, gegenwartskritische und damit letztlich wieder ethische Sinn in der Absetzungsbewegung der Zeiten voneinander steckt. »Das A und O aller Philosophie ist Freiheit«, möchte man hier den frühen Schelling zitierend sagen. Daran hat sich auch in den Weltalterlehre nichts ge224 Vgl. dazu auch Schelling 1832/33, 69: »Was jeder von der Philosophie zu erwarten berechtigt ist, ist eine Wissenschaft, die dem Leben gewachsen ist, eben darum, weit entfernt vor der ungeheuren Realität des Lebens zu erblassen, mit der fortschreitenden Lebenserfahrung selbst nur an Stärke und Kraft gewinnt«.

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Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt

ändert. Das besondere mit Blick auf die mittlere Weltalter-Phase ist aber, dass Schelling nun weder beim Alpha noch beim Omega, das heißt: weder beim Anfang noch beim Ende ›anfängt‹, sondern gerade fordert, Alpha und Omega aus der Mitte der zeitlichen Praxis immer wieder neu hervorzubringen, immer wieder neu in Bezug auf das Leben zu organisieren. Hat man diese Position aber einmal eingenommen, dann beginnt Gegenwart geschichtlich zu werden und sich aus der Präsenz eines Dauer verbürgenden Zeitkontinuums zu befreien: Sie differenziert sich auf personaler wie auf historischer Ebene in eine geschichtliche Folge von Zeiten und wird von hier aus in den Formen ihrer zeitlichen Praxis kritisierbar. Die bloß ›äußere‹ Zeit erscheint so als eine ›Folge der Zeiten‹, als eine je spezifische Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, und die Gegenwart, in der wir leben, verweist so immer schon auf eine Abfolge verschiedenster Zeiten, auf eine Pluritemporalität, die bei allen Synchronisierungsbestrebungen, die es auf ein monotemporales Zeitmaß abgesehen haben, um willen der personalen Freiheit in sich pluridimensional strukturiert bleibt. Bei Schelling beginnt, was für die Hegel zentral werden wird, dass Philosophie im Kern Erkenntnis geschichtlicher Gegenwart ist. 225 Jede Person ist das Subjekt seiner eigenen Zeit: urteilend und handelnd bringt sie diese Zeit hervor, und trägt dadurch auf ihre Weise (Mit-)Verantwortung für das, was in dieser Zeit geschieht oder aber gerade nicht geschieht und damit unter Umständen für eine längere Zeit ausbleibt, obwohl es vielleicht gerade ›jetzt‹ an der Zeit gewesen wäre. 226 War die ›Zeit‹-Kritik für Kant im Wesentlichen Kritik an der objektiven Gegebenheit von Raum und Zeit und galt sie für Jacobi im Kern als Kritik des systemischen Philosophierens selbst, dann ist sie für Schelling Gegenwartskritik in nuce. Personen tragen Verantwortung für ihre Urteile und Handlungen und müssen sich den Folgen dieser, ihrer – womöglich auch unterlassenen – Urteile und Handlungen stellen. 227 Und so befinden sich die verschiedenen Zeiten und Vgl. dazu Ritter, 13. Vgl. dazu auch Oesterle 2002, 101: »Die reflexive geschichtliche Zeitdimensionskategorie Gegenwart wird eine im Vergleich mit Vergangenheit und Zukunft eigengewichtige, eigenmächtige, entscheidende Zeit«. 227 Schon Aristoteles hebt hervor, dass auch die Ausbildung eines unsittlichen Habitus, zum Beispiel Unrecht zu tun oder zügellos zu sein, mit einer gewissen Freiwilligkeit einhergeht, sodass von einer Zurechenbarkeit der Entscheidung durchaus die Rede sein kann: »Aber, daß man ein solcher geworden ist, ist man selber schuld, indem 225 226

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Eigenzeiten der Moderne

Zeitordnungen auf personaler wie auf historischer Ebene in einem fortlaufenden, unabschließbaren Prozess der Synchronisierung. ›An sich‹ gibt es die Zeit nicht: Die Realität der Zeit macht nur die Folge der verschiedenen Einschränkungen aus, durch die ein ›Ding‹ hindurchgegangen ist in seinem Leben: »Wir können daher philosophisch eigentlich nur sagen: ein Ding ist durch diese und diese Einschränkungen gegangen, aber nicht es hat so und so lange gelebt« (AA II,8, 92). Die Folge der Einschränkungen, durch die ein ›Ding‹ hindurchgegangen ist, aber beschreibt, wie sich nun sagen lässt, seine geschichtliche Eigenzeitlichkeit. Jedes Ding hat seine eigene Zeit, »weil seine Entwicklung von seinem Anfang bis zu seinem Ende als Prozeß nur dann erkennbar ist, wenn der Prozeß genau dieses Seiende individuiert«. 228 Die Menschen, das sind ihre Geschichten, möchte man aus phänomenologischer Perspektive mit Wilhelm Schapp sagen, und Geschichten müssen erzählt werden. 229 Aber gerade indem Personen dergestalt immer schon in Geschichten ›verstrickt‹ sind, seien es die eigenen oder die fremden, behauptet die Gegenwart als potenzieller Umschlagpunkt ihr Eigenrecht gegenüber dem, was war und dem, was sein wird. Die Zeit relativiert, pluralisiert und individualisiert sich in dem Maße, wie sie durch ihre eigene Geschichte hindurch überhaupt erst zu sich als Gegenwart findet – und immer wieder zu sich als Gegenwart aufbrechen muss. 230 Man kann es an dieser Stelle auch mit Hannah Arendt halten, deren ›Übungen im politischen Denken‹, deren Modell einer engagierten Gegenwart nicht wenig mit Schellings Apell, man solle sich die Zeit zu eigen machen, zu tun hat: »Die wirkliche Geschichte, in die uns das Leben verstrickt und der wir nicht entkommen, weist weder auf einen sichtbaren noch einen unsichtbaren Verfasser hin, weil sie überhaupt nicht verfasst ist«. 231 Nicht zuletzt diese Einsicht aber, die Einsicht in die grundlegende Offenheit der geschichtlichen Zeit, macht Schellings

man sich gehen läßt; und daß man ungerecht und zügellos ist, ist man selber schuld, der eine dadurch, daß er fortgesetzt Unrecht begeht, der andere dadurch, daß er dadurch, daß er in Trinkgelagen und ähnlichen Dingen seine Zeit hinbringt. Denn die Akte, die man in einer bestimmten Richtung ausübt, machen einen zu einem solchen, wie man ist« (ders.: Nikomachische Ethik, 1114 a 3). 228 Gabriel 2013, 48. 229 Vgl. Schapp 1953. 230 Vgl. Breidbach 2011, 99. 231 Arendt 1960, 178.

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Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt

Kant-Kritik in den Weltaltern auch nach über zweihundert Jahren noch so ungeheuer ›gegenwärtig‹.

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Schluss: Schellings Lehre von den Weltaltern und die Frage nach der Zeit bei Kant. Ausblicke auf einen exemplarischen ›Zeit‹Konflikt der Moderne

Wenn man danach fragt, ob die Zeit ›real‹ sei, so will man traditioneller Weise wissen, ob die Zeit auch etwas ist, was unabhängig von unserem Bewusstsein von ihr existiert. Kant hatte diese Frage mit ›nein‹ beantwortet und damit den Grundstein zur reflexiven Verzeitlichung der Zeit um 1800 gelegt. Zeit ist nach den Maßstäben der Vernunftkritik an die subjektive Struktur des menschlichen Bewusstseins gebunden, genauer: an das Vermögen der Einbildungskraft, die Anschauung der Zeit als Denkvollzug, als eine ins Unendliche gehende Linie vorzustellen, und genau aus diesem Grund und nur in dieser Hinsicht ist die Zeit als ›real‹ zu bezeichnen. Schelling kritisiert diese Ansicht der Zeit in den Weltaltern mit weitreichenden Folgen: Seiner Ansicht nach handelt es sich bei der Konzeption einer Linearzeit bloß um eine abstrakte Subjektivierung der Zeit, nicht aber um eine, die auch geschichtlichen Erfahrungen des menschlichen Daseins Rechnung trägt. »[A]lle Zeit ist subjektiv« (AA II,8, 91), in diesem Punkt weiß sich Schelling einig mit Kant, nur geht ihm dessen Ansatz nicht weit genug. Im Unterschied zu Kant behauptet Schelling, dass die Zeit nicht deshalb ›subjektiv‹ ist, weil sie eine Form unserer Vorstellungen ist – eine solche Zeit wäre nur formal –, sondern weil Zeit überhaupt erst dadurch in die Zeit kommt, indem Personen sich entschließen zu urteilen und zu handeln. Dass kein Ding eine ›äußre Zeit‹ habe, heißt in diesem Zusammenhang nichts anderes, als dass die Veräußerlichung der Zeit zu einer quantitativ skalierbaren Einheit gerade die Möglichkeit zur Verinnerlichung ihrer eigenen Geschichte verdrängt, sei sie vergangen oder aber erst zukünftig. Bei Schelling erweitert sich die bei Kant angelegte und durchgeführte reflexive Verzeitlichung der Zeit zu einer radikalen Verzeitlichung aller Lebensbereiche, die auch die Erfahrungen geschichtlicher Dis-/Kontinuität in sich einschließt. Schellings ›allgemeine Subjektivität der Zeit‹ ist im Kern geschichtlich fundiert und auf den personalen Vollzug von Zeit bezo323 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Schluss

gen. Geht Kants Zeitkonzeption letztlich darauf, Zeit als Zeitreihe und damit auch das Subjekt als etwas kontinuierlich in der Zeit Erscheinendes zu begreifen, so versucht Schellings Zeitkonzeption im Kontrast dazu, Zeit als dimensionales Ordnungsgefüge und damit auch die Person, die dieses oft so verworrene, vielzeitige Gebilde aufspannt, aus ihrem jeweiligen Zeithorizont heraus zu verstehen. Zeit ist an den Urteils- und Handlungsvollzug von Personen gebunden, sodass sich mit den Entscheidungsverläufen von Personen auch die jeweilige Konfiguration der Zeit ändert, ihre Dimensionierung mitverschiebt und somit verschiedene Vergangenheiten, Gegenwarten und Zukünfte entstehen. Zeit und Gegenwart treten bei Schelling von jeher im Plural hervor: Sie erscheinen als personen- und konstellationsgebundene pluridimensionale Ordnungsgefüge. Nicht der Vorwurf der Irrealität ist es, den Schelling an Kant richtet, sondern der Vorwurf der Abstraktheit, der bloßen Leere, die die Zeit als Inbegriff aller Erscheinungen bei Kant behält. Dass beides auf keinen Fall miteinander verwechselt werden darf, zeigt Schellings Kritik selbst an: Die ›abstrakte Zeit‹ Kants kann durchaus Realität für sich beanspruchen, sie entfremdet den Menschen ›real‹ von seinen personalen Zeitverhältnissen. Dass die Zeit dagegen gewendet aber auch etwas den Dingen eigenes, ihnen ›inwohnendes‹ sein kann, unterscheidet Schellings Ansatz daher nicht nur von demjenigen Kants, es fordert ihn auf beispielhafte Weise heraus. Betrachtet man die kritische Einlassung Schellings aus dieser Warte, aus der Perspektive einer agonalen Erhellung, dann ergibt sich ein fruchtbarer Boden für die systematische Frage nach der Realität der Zeit. Wie sich jetzt herausstellt, kommt gerade in der Konstellation der Zeitkonzeptionen von Schelling und Kant ein für die moderne Zeitphilosophie maßgeblicher Konflikt zum Ausdruck, der sich nicht einfachhin vermitteln lässt, sondern selbst zur Herausbildung einer der jeweiligen Situation angemessenen Zeitvorstellung führen muss. Schellings personales Zeit- und Geschichtsdenken würde man dann richtig verstehen, wenn man es als Problemanzeige und kritischen Impuls ex negativo versteht. Es verweist auf die prekäre Situation hin, in der sich das menschliche Dasein von jeher und insbesondere in der Moderne befindet. Menschliche Subjektivität kann sich weder innerhalb der Welt noch außerhalb derselben angemessen verorten, mit anderen Worten, Subjektivität kann weder bloß in der Zeit erscheinen noch bloß in der Ewigkeit sein. Sie kommt allein als Tendenzchiasmus radikaler Ver- und Entgeschichtlichung zur Darstel324 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Schluss

lung. Erst im Bewusstsein dieser Spannung formiert sich die Erfahrungswelt menschlichen Daseins. Schellings personales Zeit- und Geschichtsdenken zeigt damit an, dass der Zeitbegriff kein philosophisches Problemgebiet unter anderen ist, sondern unser Selbst- und Weltverständnis im Ganzen betrifft, weil Selbst und Welt selbst nur vor dem Hintergrund der Spannung gedacht werden können, die aus der konstellativen Verschränkung von Ewigkeit und Zeit, Unbedingtes und Bedingtes, Theorie und Praxis hervorgeht. Hier, in diesem kritischen Impuls, liegen unbestritten die Stärken der Zeitphilosophie Schellings und ihrer Kritik an Kant. Indem sie im Rückgriff auf den antiken Gegensatz von χρόνος und αἰών den Blick auf den geschichtlich-praktischen Umgang mit Zeit lenkt, verbindet sie die Kritik an der linearen Zeitauffassung mit einer Kritik an der realhistorischen Negativität des gegenwärtigen Zeitalters und fragt durch die tragische Verkehrung von System und Leben hindurch nach den Ermöglichungsbedingung von Zeitgenossenschaft im Sinne einer aus der Vergangenheit herkommenden und nach der Zukunft hin offenen Zeit, einer Zeit der interpersonalen Verständigung. Schellings Wiederentdeckung des αἰών erfolgt im Zeichen einer Rückeroberung personaler Zukunft, die umso dringlicher wird im Angesicht einer Zeit, die sich entweder notorisch an die Gegenwart des Gegenwärtigen klammert oder sich zwangsläufig in der Unentschiedenheit ihrer Übergange und geschichtlichen Umbrüche verliert. Zwar hat sich gezeigt, dass die eingangs anvisierte Verkehrung der transzendentalen Zeitlehre sich nur durch eine besonders nachdrückliche Akzentuierung des geschichtlichen Ansatzes auch auf Ebene der argumentativen Rekonstruktion der ›Genealogie der Zeit‹ einholen lässt: Die profane Geschichte hintergreifend bindet Schelling die Lebenszeit des Individuums zuletzt immer wieder an die Geschichte des Absoluten zurück. Jedoch gibt gerade der geschichtliche Ansatz in kritischer Perspektive den Blick frei auf das Modell einer Zeit im Konflikt, die sich gegenüber jeder Form der eindimensionalen, linearen Zeitauffassung durch ihre Pluritemporalität auszeichnet – eine geschichtliche Pluralität von Zeiten und Zeitordnungen, die sich in dem Maße zu erkennen gibt, wie sie von uns im Handlungsund Erzählungsvollzug immer wieder neu erschlossen wird.

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Namensregister

Adam, B. 224 Adolphi, R. 13, 227, 255 Adorno, T.W. 125 f., 150, 252 Agamben, G. 7, 313 f., 318 Ahrens, D. 308 Anders, G. 275 Angehrn, E. 90 f., 100, 116, 118 f., 121, 130, 134, 239, 245 Arendt, H. 7, 243, 321 Aristoteles 45, 204, 250, 258, 320 Arndt, A. 20 f. Asmuth, C. 86, 145 Assmann, A. 4 f., 205, 262, 274, 293, 298 Assmann, J. 205 Bach, T. 250 Baum, M. 48, 50, 62 Bauman, Z. 302 Baumgartner, H. M. 44, 97, 130, 196, 198, 201, 210, 215, 233, 259 Beierwaltes, W. 83, 145 Benjamin, W. 7, 19, 92, 125, 257, 269, 315 Bensussan, G. 300 Bergson, H. 8, 222–224, 236 f., 307 Bianco, B. 195 Bieri, P 232 Bloch, E. 292 f. Blumenberg, H. 7, 39, 222 Böhme, G. 40, 50 Böhme, H. 40 Böhme, J. 18 Brandt, R. 237

Breidbach, O. 297, 309, 321 Briareos 131 Brüggemann, H. 14 Bubner, R. 73, 300 Buchheim, T. 20, 76, 152, 173 Candide 276 Cassirer, E. 124, 248, 299 Chaos 91, 115–117, 130 Claudius, M. 195 Coello, A. L. 126 Cotta, F. 315 Danneberg, L. 137 Danto, A. C. 262 Decher, F. 218 Demandt, A. 229, 254 Derrida, J. 162 f., 205 Dietzsch, S. 172 Dilthey, W. 260 Döblin, A. 289 Dörflinger, B. 29, 31 Düsing, K. 24, 222 Dux, G. 309 Eisenstadt, S.N. 318 Elias, N. 308 Elisabeth I., Königin von England 285–287 Ellis McTaggart, J. M. 221 f., 232 f. Enskat, R. 265–267 Erobos 116, 231 Eros 117 Eschenmayer, C. A. 95, 154 Esposito, E. 290

353 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Namensregister Fetscher, J. 267 Fichte, J.G. 5, 20, 35, 38, 51 f., 64, 69, 75, 140–144, 152, 241, 271, 296, 311, 316 Fischer, N. 44 Florig, O. 305 f. Foucault, M. 91 Frank, M. 36, 101, 132, 135, 137, 140, 155, 168, 184 Fränkel, H. 132, 184 Franz, A. 75 Fries, J. F. 75, 195 Frigo, G. F. 170 Fuhrmans, H. 20, 109, 135, 141, 197 f., 208, 215, 275 f., 315 Fulda, H. F. 230 Gabriel, G. 61 Gabriel, M. 74, 76, 154, 162, 211, 238 f., 244, 304, 321 Gadamer, H.-G. 9, 14, 85, 209, 222, 233 Gaia 91, 115–117, 127, 130, 133 Gamper, M. 290, 295, 299 Gawoll, H.-J. 295 Gent, W. 51 Gerhard, A. 208 Gerhardt, V. 18 Giddens, A. 301 Gloy, K. 45, 80, 122, 130 f., 179, 225, 254 von Goethe, J.W. 106, 228, 242–244, 246 f. Görland, I. 141 Grosse, J. 234 Günter, H. 246 Gyges 131 Habermas, J. 150, 196–198, 213 Hades 132 Hamlet 175, 278 Hammer, E. 239, 244 Hegel, G.W.F. 2, 20 f., 35, 52–54, 59, 70, 81 f., 133, 141, 143 f., 147, 150, 159, 162, 185–187, 205 f., 266, 276 f., 293–297, 300, 310 f., 320

Heidegger, M. 14, 24, 34, 45, 47, 86, 162–164, 209, 222, 224, 235, 238, 284, 296, 307 Herder, J.G. 3–5, 14, 119 f., 242, 250, 315, Henke, E.L.T. 75, 196 Hennigfeld, J. 99, 110, 135, 210, 212 f., 218 Hesiod 89, 91–92, 100, 115–117, 121– 123, 127, 129, 132 f., 177, 183 f. Henrich, D. 13, 215 f. Hermanni, F. 154 Hindrichs, G. 59, 90 von Hippo, Augustinus 160–162, 181 f., 223 Hofmann, M. 273 Hogrebe, W. 89, 112, 211, 303, 310 Hoheisel, W. 247 Holz, H. 79 Hölscher, L. 160, 239, 305 Hölter, A. 130 Hörning, K. H. 308 Horstmann, H. 51 Horstmann, R.-P. 240 Hutter, A. 102, 111, 133, 135, 162 f., 177, 196, 213, 217, 221, 229, 233, 243, 256 f., 269, 275, 288, 297, 307 Hühn, H. 3, 14, 123, 171, 246, 273, 290, 295, 299 Hühn, L. 74 f., 144, 167, 288, 305 von Hofmannsthal, H. 98 Horkheimer, M. 237, 253 Hume, D. 5, 55, 58, 61, 64, 138, 266 Husserl, E. 146, 222, 224, 235 Iber, C. 14, 16, 82, 125 f., 152 f., 155, 177, 203, 208, 316 Jacobi, F.H. 10–12, 14, 25, 50 f., 53– 67, 69–73, 75 f., 82, 106, 112, 114, 137, 140, 145, 169, 172, 188 f., 191– 196, 210, 320 Jacobs, W. 229 Jaeschke, W. 18 f., 64, 292

354 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Namensregister Jähnig, D. 169, 312 Janke, W. 171 Jonkers, P. 54, 64 Jordheim, H. 5 Jünger, L. 315

Luckmann, T 310 Ludwig XVI., König von Frankreich 314 Luhmann, N. 3, 229 Lübbe, H. 274

Kahlefeld, S. 75, 112 Kant, I. 1–11, 13–21, 23–76, 81 f., 84– 86, 89, 96, 112–114, 121, 132 f., 136–141, 143–146, 148 f., 151, 159, 162, 164, 167, 169, 172 f., 188, 191– 194, 210, 217–219, 223 f., 226–231, 235–241, 243 f., 248–251, 254, 257– 269, 271–275, 294–296, 308, 315, 320, 323–325 Khurana, T. 101 Kierkegaard, S. 86, 186 f., 218, 237, 288, 305 Kittsteiner, H. D. 263 f. Klibansky, R. 129 Knatz, L. 165, 178, 200, 292 Koch, O. 60, 64 f. Koopmann, H. 273 Körner, C. G. 311 Koselleck, R. 3, 136, 165, 206 f., 216, 258, 274 f. Kottos 131 Kracauer, S. 188, 257 Kreuzer, J. 291 Kronos 123, 126–133 Kurz, G. 137, 140

Mandelkow, R. 106 Marquard, O. 102, 121, 150, 154, 187, 210, 248, 273, 275, 314 Matuschek, S. 18, 121 Mellor, D. H. 232 Merleau-Ponty, M. 83 Mesch, W. 23, 222 Metz, W. 50 f., 55, 61 Michel, K. 10, 38, 41, 43 f., 46 f. Minkowski, E. 236, 244, 307 Mohr, G. 291 Mortimer 286 Müller, J. Müller-Lauter, W. 298 Müller-Lüneschloß, V. 78, 163, 205 Müller-Wille, S. 110

Lachmann, R. 186 Landwehr, A. 159, 225, 274, 290 f., 295, 305 Lanfranconi, A. 12, 17, 159, 177, 181, 198, Lawrence, J. P. 186 Lehmann, J. 158 f. Leinkauf, T. 122, 150 Lepenies, W. 4 Lévinas, E. 114 Loer, B. 180 Longuenesse, B. 24, 31, 37 f. Loock, R. 35 Lovejoy, A. O. 3 Löwith, K. 273

Nassehi, A. 290, 302 f. Natorp, P. 29 Neiman, S. 246 Neumann, P. 4, 35, 54, Niethammer, F. I. 142, 242 Nietzsche, F. 251, 296, 298, Novalis 242, 315 Nowotny, H. 302, 303 Octavian 98 Oesterle, I. 3, 272, 282, 320 Oesterreich, P. L. 18 f., 79, 146, 167, 180, 182, 196 f., 211–213, 218 Ortland, E. 100, 116, 122–125, 155 Osterkamp, E. 272 Otto, S. 234, 249, 251, 260 Parnofsky, E. 129 Peetz, S. 82, 161 Perthes, F. 10 Picht, G. 226, 258, 297 Pieper, A. 142

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Namensregister Pieper, J. 109 Pindar 298 Pippin, R. B. 38 Philippson, P. 18, 116, 121, 131 Platon 11, 52, 108–110, 121 f., 140, 145, 180, 199, 223, 254, 277 Pluder, V. 61 Poser, H. 239, 308 Prauss, G. 6, 38 f., 41–44 Reckermann, A. 89 Reckwitz, A. 301, 303 Reitz, T. 307 Rhea 130 Ricardo, D. 310 Richter, G. 263 Ricœur, P. 7, 160 Rohbeck, J. 267 f. Rosa, H. 301–303 Rosenau, H. 205, 208, 213 Rosenzweig, F. 260–262, 277 Saar, M. 91 Prediger Salomo 2 Sandbothe, M. 4, 13, 222 Sandkaulen, B. 6, 10, 54, 59, 63 f., 70, 90, 141, 143, 148 f., 185, 191, 193– 195, 214 Sandkühler, H. J. 288, 292 Saturn 131 Saxl, F. 129 Schapp, W. 321 Schärf, C. 315 Scheler, M. 96, 209 Schick, S. 10 Schiller, F. 171, 242, 271–275, 278, 285, 296, 300 f., 303 f. Schlegel, F. 64, 120, 135, 141, 148 f., 172, 184, 242, 311, 315 Schmidt, A. 79, 194 Schmidt, C. 291 Schmidt-Biggemann, W. 9, 73, 84, 91, 96, 111–113, 119, 150, 161, 229, 230, 236 Smith, A. 310 Schmitz, H. 246 Schröter, M. 16–18

Schulting, D. 30 f. Schulz, W. 87, 187, 198, 243, 271, 292, 296, 307, 312 Schües, C. 301 Schütz, A. 224 Schwab, P. 162 Schwarte, L. 303 Schweppenhäuser, H. 257 Seel, M. 230, 260 Shibuya, R. 242 Simon, R. 208 Sollberger, D. 14 f., 93, 234 Sommer, K. 14, 79, 86, 192, 206 Stockhorst, S. 4 Stolzenberg, J. 36, 242 Stuart, M. 285 f. Sturma, D. 282 f., 295 f., 304 Szondi, P. 150 von Thadden, E. 229 Georg Talbot, Graf von Shrewsbury 286 f. Theunissen, M. 91, 117, 122, 132, 173, 180, 188, 212 f., 215 f., 225 f., 229, 235, 239, 253, 260, 276, 288, 316 f. Thurn, H. P. 243, 307 Tilliette, X. 277 Uhl, E 235, 309 Unger, D. 204 Urbich, J. 149 Voßkamp, W. 273 Voltaire 276 Waibel, V. L. 54 Weber, M. 300, 303 Fürstin Werdenberg, M. T. 98 Weischedel, W. 21 von Weizsäcker, C. F. 89, 243 Wesche, T. 86 Wieland, W. 12, 18 f., 21, 82, 96, 104, 118, 120, 140, 182 f., 187 f., 197, 199, 213, 282 Wildenauer, M. 38 Willer, S. 119 Winter, M. 133

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Namensregister van Zantwijk, T. 201, 212, 292 Zeus 123 f., 130–133, 183 f. Ziche, P. 147

Žižek, S. 114 Zöller, G. 65

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https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Sachregister

Absolutes 5, 6, 16 f., 39, 67–71, 73 f., 77–83, 91 f., 94, 100–104, 107, 112 f., 125, 130, 135, 141, 143–147, 149, 152, 154–156, 158 f., 162–169, 171, 173 f., 176, 180 f., 183, 187, 192, 196–198, 200–203, 208 f., 211– 218, 234, 243, 245 f., 261, 277, 280, 282, 287, 316 f., 325 Anschauung – intellektuelle 34–36, 122, 161, 164, 169, 265, 311 – ästhetische 171–173, 278 Anthropologie 95 f., 193, 204, 209– 213, 218, 221, 237, 248, 317 Apperzeption 9, 34, 48 f., 57, 144 Dialog 108, 134, 152, 156, 164, 167, 211, 289, 295, 318 Differenz 3, 8, 23, 36, 64, 82, 85, 98, 102, 104 f., 107, 111, 116, 133, 140 f., 147–149, 154, 157–160, 162– 165, 167, 172, 174, 181 f., 196, 202, 206, 211, 213 f., 222 f., 225, 233 f., 238, 240, 253, 268, 275, 278 f., 294, 317, 320 Dualismus / Dualität 50, 75, 85, 91, 103, 105, 107 f., 112, 129, 152, 156, 212, 316 Einbildungskraft 33–50, 61, 68 f., 144, 323 Einheit 1, 9, 14 f., 24, 26–28, 30–34, 37, 40 f., 43, 46, 48–50, 54, 57, 60, 64, 69, 71 f., 76 f., 82, 89, 92, 102, 104–108, 113, 125, 135 f., 140, 145, 149, 151, 153, 156 f., 159, 162, 164,

166–169, 171, 174 f., 179, 181, 191 f., 194, 202, 204–205, 211 f., 223, 241, 244, 281, 294–296, 310, 318, 323 Epoche 17, 70, 80, 127 f., 137, 163, 185 f., 206–208, 213–215, 233, 247, 260, 289, 294–296, 314, 317 Erzählung 17, 19 f., 73 f., 84, 116, 118–120, 123, 125, 127, 131, 176 f., 184, 187, 200, 208, 217, 262, 274, 276, 288, 321, 325 Existenz 12, 19, 29, 45, 59, 62, 73, 76, 86, 88, 96, 103 f., 106 f., 117, 120, 152–154, 156 f., 165, 184, 186, 201 f., 213, 217 f., 234, 237–239, 243, 264, 269, 280, 284, 295, 299, 302, 305, 309 Ewigkeit 6, 11 f., 16, 35, 64, 69–72, 74, 79, 82–84, 94 f., 97, 99–111, 113– 115, 119, 122, 125–130, 132–136, 145–148, 151 f., 154, 156–159, 164– 169, 171–174, 178–180, 182–194, 196, 198 f., 201 f., 204, 218, 225, 227, 254–256, 258, 261 f., 271, 275, 280, 284, 287, 300, 308, 324 f. Freiheit 7, 11, 19, 54, 64, 74–76, 78, 80, 86 f., 89, 91, 103 f., 120, 124, 134, 144, 152–156, 158, 174, 188, 190 f., 195, 197, 202–204, 207–214, 217, 222 f., 226, 236, 253, 261, 278, 284, 287, 292, 297, 304 f., 310–312, 316–320 Gegenwart 2–4, 6, 8, 12 f., 17 f., 23, 32, 34–36, 42–48, 50, 67 f., 72, 80,

359 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Sachregister 82, 85, 92 f., 95, 97, 100–102, 105 f., 108, 110–115, 118 f., 121 f., 124, 128, 130, 132–134, 137, 148 f., 157– 167, 169–178, 180–184, 186, 190, 196, 199–206, 208–210, 214–217, 221, 224, 227–236, 238–241, 244, 248 f., 253, 255 f., 258, 260, 262, 264, 266–298 Geist 12, 18, 52, 66, 80, 87, 92, 96, 99, 106, 108 f., 129, 134, 138 f., 142, 145, 148, 150, 156, 164, 170 f., 175, 177, 180–185, 194, 202, 205 f., 211 f., 225, 231, 241, 244, 247, 265, 270 f., 276 f., 288 f., 294, 300, 303, 309, 311, 315, 317 Genealogie 6, 8, 10 f., 16 f., 40, 71–73, 75, 82, 84 f., 89–94, 100, 103–105, 107–110, 112 f., 115–117, 119–122, 124–126, 133, 153, 155, 161–164, 172 f., 176, 178 f., 182–184, 188, 190, 196, 199 f., 218, 240, 251, 256, 260, 270, 280, 283, 299, 313 f. Idealismus / Idealität 5, 6, 11, 19, 20, 25, 36, 50–53, 55–59, 61–63, 65–70, 72 f., 75 f., 78 f., 80 f., 83, 86, 89, 99, 136, 140, 143, 144–147, 149 f., 155, 166–170, 184, 187, 189, 191, 193, 202 f., 208, 210, 223, 242, 244, 246, 248, 260–262, 268, 271, 273, 275, 281, 296, 298, 304, 312, 315 f. Identität 50, 62, 67, 76, 78, 91, 103, 107 f., 121, 140 f., 147 f., 150–152, 156, 162, 168, 177, 179, 193, 195, 201, 210 f., 274, 276, 296, 304, 311 Konflikt 1, 4, 13–15, 21, 30, 51, 54, 57, 59, 85, 95 f., 102, 109, 112, 117, 119, 122 f., 126, 128, 135, 158, 195, 200, 207, 216, 217, 221 f., 224 f., 227, 242, 244, 246–248, 258 f., 274, 276, 282, 284 f., 287–289, 295, 299, 304–309, 318, 323–325 Konstellation 13 f., 73, 86, 89, 110, 115, 117, 122–126, 128, 135, 155 f., 158 f., 167, 246, 288, 305, 307, 324 f.

Liebe 98–100, 102–104, 108–110, 113, 116 f., 132, 158, 202, 209, 212, 230, 287, 311 Metachronie 188, 194, 269 Mitwissenschaft 93, 201, 217, 309, 313, 316 Moderne 2, 4, 8, 13–15, 18 f., 21, 44, 90 f., 93, 131–133, 149, 167, 199, 204–206, 221 f., 226, 235 f., 239, 254, 256 f., 267, 273, 276, 288 f., 292–294, 296 f., 299–304, 307–309, 313, 315, 318 f., 323 f. Mythologie 124, 127 f., 133, 149, 154, 177, 188, 190, 208, 231, 253 Natur 4, 7, 12, 35, 55, 59 f., 62, 65, 70, 75, 78–80, 83, 91, 97, 99, 104, 106, 124 f., 128, 132 f., 141, 147, 150, 152, 165 f., 168–173, 179, 184, 194 f., 203 f., 207, 212, 214, 223, 227, 230, 235 f., 239–246, 248, 251, 253, 258–260, 262, 265 f., 270, 274, 276, 288 f., 296, 318 Negativität 12, 78, 81 f., 86, 96 f., 99– 102, 125, 133, 175, 188, 195, 198, 202–204, 206–208, 215, 218, 223, 226, 228, 236, 252, 273, 276 f., 288, 295, 304–308, 311 f., 324 f. Passivität 39, 111–113 Person / Persönlichkeit 5, 7, 9, 14 f., 54, 57, 59, 64, 66–67, 84, 90, 95, 123 f., 133, 161, 165, 185 f., 193– 195, 201, 211, 214–219, 221, 225, 227, 229 f., 232, 234–236, 238, 240, 242–244, 248 f., 252–254, 257 f., 260, 262, 264 f., 268, 274 f., 278, 282–285, 287–293, 295–304, 307, 309–318, 320 f., 323–325 Praxis 4, 5, 7, 12, 57, 65, 71 f., 77, 84 f., 118, 122, 141, 169, 172, 185, 191, 194 f., 199 f., 210, 218, 227, 234, 240, 244, 247, 249, 290, 298, 301, 305, 311 f., 315, 317–320, 325 Offenbarung 17 f., 64, 100, 105, 107, 113, 118–120, 134, 143, 154 f., 163,

360 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .

Sachregister 169, 179, 181, 195, 202 f., 208, 215 f., 271, 287, 295, 298, 300, 312, 319 Organismus 16, 81 f., 168 f., 171–174, 177, 179, 185, 284 Realismus / Realität 2, 5, 7, 9, 12, 14 f., 23, 34, 42–44, 46 f., 50 f., 57– 74, 76–79, 81, 83, 85, 92, 94–96, 99–101, 105, 111 f., 120, 124, 129, 131, 134, 141 f., 144, 147, 150, 154 f., 157 f., 166 f., 169 f., 172, 174, 179 f., 184, 186, 188 f., 191, 193 f., 196 f., 202, 216, 223 f., 226, 230– 235, 237, 242, 259, 261, 264, 268, 273, 276, 278, 280, 282, 284, 290, 292, 295, 298, 305, 310–312, 315, 319, 321, 323–325 Revolution 55, 136–139, 144–146, 205, 250 f., 263 f., 273, 276 f., 292, 310, 314 Scheidung / Entscheidung 1, 4, 7 f., 12, 14, 16, 84, 91, 93 f., 99 f., 101 f., 104 f., 107 f., 110 f., 113 f., 118 f., 123, 125, 129 f., 132, 157 f., 161– 164, 166 f., 172, 177, 181 f., 197, 199, 201 f., 204 f., 212, 214–216, 218, 226, 232–234, 236, 240, 255, 266, 269, 276, 278–285, 287 f., 295, 297–299, 317 f., 320, 324 f. Spekulation 63, 95, 186, 200, 218, 261, 292, 315 System / Systemkritik 5 f., 8, 11–13, 16, 18, 21, 24, 28, 36, 38, 44, 51, 53– 59, 63–67, 70–73, 75 f., 78, 79, 81– 83, 85, 89 f., 112, 117, 119, 122, 125, 133, 136 f., 141, 144–149, 151, 158, 162 f., 168–171, 178, 180, 182 f., 187 f., 191, 194–200, 203, 206, 212 f., 217–219, 221, 227, 234, 237, 242 f., 252–254, 257, 261, 265, 272, 274, 277 f., 281, 284, 290, 293, 304, 306 f., 310, 313, 315 f., 318–320, 324 f.

Umbruch / Zäsur 84, 89, 103, 125, 127, 133, 136, 158, 180, 188, 207, 213, 221, 227, 231, 233, 235, 247, 251, 282, 291 f., 305, 314, 317 f., 325 Theogonie 74, 89, 91 f., 100, 115–117, 122–124, 127, 129, 131, 133, 137, 184, 211 Unphilosophie 64–66, 76, 188 Vergangenheit 12, 19, 23 f., 75, 80, 83, 89, 92 f., 95, 97, 100–102, 105 f., 108, 110 f., 113–115, 118, 128–130, 132, 144, 149, 157, 159–166, 172– 174, 179 f., 182–184, 187, 189, 196, 204–207, 215–218, 221, 224, 227, 230, 232–234, 236, 238, 240 f., 244, 249, 252, 255, 262, 264, 269 f., 272 f., 275, 277, 279–284, 287 f., 291–295, 297–299, 304, 308, 312 Vergeschichtlichung 102, 104, 111, 113, 132, 158 f., 163 f., 166, 174 f., 184 f., 204, 271, 292, 297 Verzeitlichung 3, 4, 32, 34, 36, 40–42, 48, 57, 69, 115, 159, 172, 223, 232, Vollzug 7 f., 11, 33, 40, 42–48, 50, 84 f., 96 f., 101, 105, 121 f., 124, 159, 161 f., 183, 194 f., 201, 211, 216, 221, 223 f., 226, 229–231, 234, 236, 238, 240, 244, 252, 254, 265, 267, 269, 271, 284, 286–288, 300 f., 311, 313, 314 f., 318, 323–325 Zukunft 12, 23, 75, 92 f., 95, 100–102, 105 f., 110 f., 128, 130, 132 f., 148 f., 151, 157, 159–166, 168, 172–174, 176 f., 149–184, 186, 196, 200, 202, 204–206, 208, 215–218, 221, 224, 227, 230, 232–236, 238, 241, 243 f., 252, 255, 262, 264, 267 f., 272 f., 275–277, 279–284, 288, 290, 293– 295, 297–299, 303 f., 307, 309 f., 312–315

361 https://doi.org/10.5771/9783495820841 .