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German Pages 388 [390] Year 2022
Marko Martić Zeit und Raum
Kantstudien-Ergänzungshefte
Im Auftrag der Kant-Gesellschaft herausgegeben von Manfred Baum, Bernd Dörflinger, Heiner F. Klemme und Konstantin Pollok
Band 217
Marko Martić
Zeit und Raum
Eine Untersuchung zur Entwicklung der Zeit- und Raumlehre bei Immanuel Kant
ISBN 978-3-11-076321-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-076355-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-076362-1 ISSN 0340-6059 Library of Congress Control Number: 2021948239 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
„Aber im leeren, im ungegliederten Raume fehlt unserem Sinn auch das Maß der Zeit, und wir dämmern im Ungemessenen.“ (Thomas Mann, Der Tod in Venedig)
Inhalt Vorwort . . . .
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XI Einführung: Problem, Methode, Forschung und Geschichte 1 Problemexplikation: Einheit und Mannigfaltigkeit – Kants Problem mit dem Kontinuum 1 Methodische Einführung: Was ist Kant-Interpretation? 9 Forschungsstand im Hinblick auf die Themen Raum und Zeit bei Kant 19 Philosophiegeschichtliche Einführung in Kants 30 Auseinandersetzung mit Raum und Zeit Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der vorkritischen 44 Phase Raum und Zeit als Mannigfaltigkeitsstrukturen 45 56 Raum und Zeit als Einheitsstrukturen Kants Schrift Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume und das Paradox der inkongruenten 64 Gegenstücke Das mathematische Beispiel 66 Das ontologisch-kosmologische Beispiel 76 Das epistemisch-phänomenanalytische Beispiel 84 Raum und Zeit als sowohl mannigfaltige als auch einheitliche 101 reine Anschauungen des Subjekts in De mundi Kants Reaktion auf die Kritik an seiner Raum- und Zeitkonzeption von 1770 115 Die Kritik der Zeitgenossen an Kants Raum- und Zeitkonzeption nach 1770 117 Kants neues Erfahrungskonzept als Lösungsansatz für die 122 Probleme nach 1770 Zusammenfassung des ersten Kapitels 132 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der Kritik der reinen Vernunft 134 Raum und Zeit als Formen der Anschauung in der transzendentalen Ästhetik 135 Kants Methode: Metaphysische und transzendentale Erörterung 135
VIII
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Inhalt
Das erste Argument der transzendentalen Ästhetik 140 152 Das zweite Argument der transzendentalen Ästhetik Das dritte Argument der transzendentalen Ästhetik 154 Das vierte Argument der transzendentalen Ästhetik 166 Die Kontroverse um die Trendelenburgsche Lücke im Hinblick auf 172 die Schlüsse der transzendentalen Ästhetik Inkongruente Gegenstücke in der kritischen Phase 181 Raum und Zeit als formale Anschauungen in der transzendentalen 187 Analytik Die holistische Einheit von Raum und Zeit und die synthetische Einheit des Verstandes im Hinblick auf Kants Unterscheidung zwischen Form der Anschauung und formaler Anschauung als 187 Interpretationsproblem Exkurs: Kants Kästner-Abhandlung als Lösungsansatz für das Interpretationsproblem bezüglich der Unterscheidung zwischen 202 Form der Anschauung und formaler Anschauung Der transzendentale Schematismus und die transzendentalen Grundsätze im Hinblick auf Kants Unterscheidung zwischen Form 206 der Anschauung und formaler Anschauung Kants Lösung der Probleme nach 1770 durch seine Lehre von der 239 Wirklichkeit der Erfahrung im Hinblick auf Raum und Zeit Form der Anschauung und formale Anschauung im Hinblick auf die ursprünglich synthetische Einheit der Apperzeption bzw. das 247 transzendentale Selbstbewusstsein Raum und Zeit als Ideen der Vernunft in der transzendentalen Dialektik 265 Raum und Zeit als falsch verstandene konstitutive Ideen 265 Raum und Zeit als richtig verstandene regulative Ideen 276 Zusammenfassung des zweiten Kapitels 283 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der Kritik der Urteilskraft und im Opus postumum 287 Raum, Zeit und Ideen im Kontext der philosophischen Ästhetik und der Kultur 287 Das ästhetische Reflexionsurteil im Hinblick auf das Phänomen des Schönen 289 Das ästhetische Reflexionsurteil im Hinblick auf das Phänomen des Erhabenen 298 Raum, Zeit und Kultur: Kants Lehre von Raum und Zeit im Zusammenhang mit dem Erhabenen 306
Inhalt
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Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit im Opus 313 postumum Raum, Zeit, Äther und Schematismus im Opus postumum 318 Kants späte Selbstsetzungslehre im Hinblick auf Raum und Zeit im Opus postumum 331 Ausblick: Kants späte Überlegungen bezüglich Raum und Zeit im 339 Hinblick auf Fichte und den frühen Schelling 345 Zusammenfassung des dritten Kapitels
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IX
Schlussbetrachtung: Zeit und Raum
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Abkürzungsverzeichnis und Zitierweise der Schriften von Immanuel Kant 352 Literaturverzeichnis Sachindex Namensindex
368 374
354
Vorwort Mein Dank gilt den Mitgliedern des Instituts für Philosophie an der HeinrichHeine-Universität, mit denen ich zahlreiche Diskussionen und Gespräche führen durfte, die zur Ausreifung einiger Überlegungen geführt haben. Insbesondere möchte ich Prof. Dr. Hans-Ulrich Baumgarten und Prof. Dr. Christoph Kann für die intensive Betreuung meiner Promotion danken. Ohne die zahlreichen Seminare und Vorlesungen, die ich seit meiner Schülerzeit bei Prof. Dr. Hans-Ulrich Baumgarten besuchen durfte, hätte ich das Philosophieren nie gelernt. Dankbar bin ich ebenfalls für die Anmerkungen von Prof. Dr. Cord Friebe bei der Fertigstellung der Arbeit. Für die vielen Gespräche in Freiburg mit Prof. Dr. Gerold Prauss sowie seine unterstützende Begleitung meines Vorhabens möchte ich mich ebenfalls bedanken. Ohne die Auseinandersetzung mit seinem Werk wäre mein Kant-Studium niemals in der Form möglich gewesen. Ich danke an dieser Stelle auch meiner Familie und meinen Freunden sowohl für die Unterstützung bei der redaktionellen Fertigstellung der Dissertation als auch für die Geduld in all den Jahren, in denen ich so wenig Zeit hatte. Den Verantwortlichen der Kant-Studien sowie dem De Gruyter Verlag danke ich für die Unterstützung bei der Veröffentlichung der Arbeit. Wie sich versteht, liegt die Verantwortung der vorliegenden Untersuchung allein bei mir. Düsseldorf, Oktober 2021
https://doi.org/10.1515/9783110763553-001
Marko Martić
0 Einführung: Problem, Methode, Forschung und Geschichte 0.1 Problemexplikation: Einheit und Mannigfaltigkeit – Kants Problem mit dem Kontinuum Zwei Dinge erfüllen das Gemüth mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.¹
Diese Stelle ist wohl eine der berühmtesten aus dem corpus kantianum. Kant bekundet in poetisch anmutender Weise seine Liebe zur σοφία. Aufgrund der pathetischen Aura, die diese Stelle umgibt, dient sie weniger dem philosophischen Argumentieren als vielmehr einer emphatischen Umschreibung der Auseinandersetzung mit der Philosophie und den mit ihr zusammenhängenden Dingen. Nichtsdestoweniger lässt sich aus einem unvoreingenommen alltäglichen Bewusstsein heraus schon hier zum Philosophieren ansetzen: Gleich der Anfang nämlich spricht etwas an, womit Kant – wie sich noch zeigen wird – grundsätzlich und bis zuletzt zu kämpfen hat. So heißt es hier, dass zwei Dinge ein Gemüt erfüllen. Bezüglich dieser Formulierung lässt sich zunächst naiv nachfragen: Wie ist es zu verstehen, dass zwei Dinge ein Gemüt erfüllen? Treten doch Dinge aus einer naiv realistischen Sicht zunächst einmal nur außerhalb unseres Gemüts auf, da wir zwischen subjektiven Gemütsinhalten und objektiven Gegenständen unterscheiden. Zudem nehmen wir die Mannigfaltigkeit an Gegenständen so wahr, dass die Gegenstände selbst durch Abstände voneinander getrennt sind. Schließlich ist alltäglich betrachtet ein Objekt A nicht das Objekt B et vice versa. Dagegen empfindet sich ein Subjekt ohne einen Abstand zu sich selbst als eine Person. Wie können dann aber getrennte Dinge in einem einheitlichen Subjekt – sprich in mir selbst – formal zusammen gedacht werden? Wie lässt sich vor diesem Hintergrund die obige Formulierung strukturell interpretieren? Offensichtlich hängen diese Fragen mit Kants Verständnis von Einheit und Vielheit zusammen. Damit Strukturen, die prima facie sowohl Einheit als auch Vielheit für sich beanspruchen, nicht zu einem Widerspruch in Form einer contradictio in adjecto oder gar zu einer hegelianischen „Dialektik“² bei Kant – wie etwa Marc-Wogau meint – führen,
AA V, 161. Zu der Zitierweise und den Titelabkürzungen siehe das Literatur- und Abkürzungsverzeichnis. Zum Titel der Untersuchung im Unterschied zu den Kapitelüberschriften siehe Anmerkung 718 in Kapitel 2 und die Ausführungen in der Schlussbetrachtung. Marc-Wogau 1932, S. 202. Vgl. auch Marc-Wogau 1932, S. 195 f.; S. 105 ff. https://doi.org/10.1515/9783110763553-002
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0 Einführung: Problem, Methode, Forschung und Geschichte
muss eines der Strukturmerkmale das Primat besitzen. Um folglich den hier aufgeworfenen Fragen weiter nachzugehen, muss begrifflich bestimmt werden, was Kant genau meint, wenn er von einer Einheit oder von einem Ganzen spricht. Wie folgende Stelle aus dem handschriftlichen Nachlass Kants zeigt, ist ihm die Notwendigkeit einer begrifflichen Präzisierung durchaus bewusst: Die Zusammensetzung ist die zufällige Einheit des Vielen. Daher ist nicht ein jedes Gantze zusammengesetzt, e. g. der Raum, weil die Einheit hier vor der Vielheit vorhergeht oder die Vielheit die Einheit, um darin gedacht zu werden, voraussetzt.³
Ein Ganzes, dessen Einheit aus vorhergehenden Teilen zusammengesetzt wurde, ist von einem Ganzen zu unterscheiden, in dem Teile erstmals entstehen. Der Unterschied liegt hier im Bezug auf das Primat: Im ersten Fall sind die Teile als eine Vielheit von Elementen vor dem Ganzen gegeben. Die Vielheit geht der Einheit also voraus bzw. bedingt dieselbe. Im zweiten Fall ist dagegen die Einheit vorausgesetzt und die Vielheit entsteht erst durch die Einschränkung dieses ursprünglichen Ganzen. Kant nennt die zusammengesetzte Einheit auch quantitative Einheit bzw. compositum (πᾶν) und die ursprüngliche Einheit nennt er qualitative Einheit oder auch Kontinuum bzw. totum (ὅλον).⁴ In diesem Sinne gibt es zum Gattungsbegriff der Einheit zwei unterschiedliche Arten von Einheiten – die zusammengesetzte, bei der die Vielheit das strukturelle Primat besitzt, und die nicht-zusammengesetzte Einheit, bei der die Einheit das Primat besitzt.⁵ Nach Kant besteht eine nicht zusammengesetzte Einheit zunächst nicht aus Teilen,
Refl. 5299, AA XVIII, 147. Schon Aristoteles entwickelt zu diesem Thema ein Problembewusstsein und hebt Folgendes hervor: „Dasjenige, was so zusammengesetzt ist, daß das Ganze eines ist, […] ist nicht nur seine Elemente.“ Ferner heißt es: „Element aber ist das, worin etwas als in seinen immanenten Stoff zerlegt werden wird […].“ (Aristoteles, Metaphysik, 1041b12– 32). Für Wohlfart ist der Unterschied zwischen totum und compositum, den Kant ebenfalls beansprucht, schon bei Aristoteles grundgelegt, worauf Kant somit zurückgereift. Vgl. Wohlfart 1980, S. 139. Zum Verhältnis zwischen Kant und Aristoteles im Hinblick auf die Frage nach der Struktur des Kontinuums siehe Prauss 2013, S. 3 – 29. Dass Kant nach wie vor und konträr zu seiner Intention, auf Deutsch zu publizieren, auf lateinische Begrifflichkeiten zurückgreift, hängt nach Dietrich auch damit zusammen, dass das deutsche Wort Ganzes zu unspezifisch in Anbetracht des Unterschieds von totum und compositum ist, denn das Wort Ganzes kann sowohl ein nicht zusammengesetztes wie auch zusammengesetztes Ganzes bedeuten. Ein anderes Beispiel ist Kants Bezeichnung des Raums als unendliche Größe im letzten Raumargument der transzendentalen Ästhetik, die bekannterweise Anlass zu vielen Interpretationsdiskussionen gegeben hat, da sowohl das deutsche Wort Größe (quantum oder quantitas) als auch das Wort unendlich (infinitum oder indefinitum) zu unspezifisch sind.Vgl. hierzu Dietrich 1916, S. 26 f. Vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 2.1.5.
0.1 Problemexplikation
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gleichwohl können in ihr Teile entstehen, indem das ursprünglich Ganze geteilt wird: Denn erstlich kann man sich nur einen einigen Raum vorstellen, und wenn man von vielen Räumen redet, so versteht man darunter nur Theile eines und desselben alleinigen Raumes. Diese Theile können auch nicht vor dem einigen allbefassenden Raume gleichsam als dessen Bestandtheile (daraus seine Zusammensetzung möglich sei) vorhergehen, sondern nur in ihm gedacht werden. Er ist wesentlich einig, das Mannigfaltige in ihm, mithin auch der allgemeine Begriff von Räumen überhaupt beruht lediglich auf Einschränkungen.⁶
Ein Kontinuum geht somit den zusammengesetzten Entitäten als deren Voraussetzung grundsätzlich voraus und ermöglicht sie. Wie die letzten beiden Zitate bereits zeigen, ist hier auch der Anknüpfungspunkt für Kants Lehre von Raum und Zeit, denn Raum und Zeit sind nach Kant „quanta continua“⁷. Sie gehen jeder Einschränkung und Einteilung voraus und sind Bedingungen der Möglichkeit dafür, dass überhaupt eine Vielheit angeschaut werden kann. Sie sind geradezu Paradebeispiele für kontinuierliche Einheiten: Raum und Zeit sind quanta continua, weil kein Theil derselben gegeben werden kann, ohne ihn zwischen Grenzen (Punkten und Augenblicken) einzuschließen, mithin nur so, daß dieser Theil selbst wiederum ein Raum oder eine Zeit ist.⁸
Damit materielle Eindrücke mittels sinnlicher Affektion zu Gegenständen bestimmt werden können, müssen sie als Einschränkungen des ursprünglichen Kontinuums von Raum und Zeit vorgestellt werden: Stellen aber setzen jederzeit jene Anschauungen, die sie beschränken oder bestimmen sollen, voraus, und aus bloßen Stellen, als auch Bestandtheilen, die noch vor dem Raume oder der Zeit gegeben werden könnten, kann weder Raum noch Zeit zusammengesetzt werden.⁹
B39|A25. B211|A169. Dass die Teile der Welt miteinander verknüpft sind, hängt schon nach Baumgarten mit Raum und Zeit zusammen: „Da die Teile einer Welt entweder gleichzeitig oder aufeinanderfolgend sind (§238, 354), wenn sie getrennt voneinander gesetzt werden, sind sie entweder durch die Zeit oder durch den Raum oder durch beides in einer Welt verknüpft (§239, 306).“ (Baumgarten, A. 2011, S. 205). Laut Baumgarten ist es wichtig, die Welt als ein verknüpftes Ganzes zu verstehen, denn es gilt: „[E]s gibt keine Insel in der Welt.“ (Baumgarten, A. 2011, S. 199). Auf diesen Satz referiert Kant explizit in seinen Vorlesungen. Vgl. AA XXVIII, 581. B211|A169. Vgl. hierzu auch die Ausführungen in Kants Vorlesung in AA XXVIII, 504– 510. B211|A169 f. Zum kantischen Terminus der Bestimmung siehe Anmerkung 347 in Kapitel 1.
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0 Einführung: Problem, Methode, Forschung und Geschichte
Raum und Zeit stellen nach Kant die grundsätzlichen Formen dar, in denen materielle Inhalte als Teile in einem Neben- und Nacheinander vorgestellt werden können. Vor diesem Hintergrund lässt sich verstehen, was Kant letztlich meint, wenn er von der Form als der „Bestimmung“ und dem Inhalt bzw. der Materie als dem „Bestimmbare[n]“¹⁰ spricht. Werden Raum und Zeit eingeteilt, entsteht aus dem Kontinuum heraus ein Ganzes aus materiellen Teilen bzw. eine Mannigfaltigkeit von Teilen. Gleichwohl ist damit das Kontinuum nicht verloren, denn als Form bleibt es weiterhin Bedingung der Möglichkeit für jegliche Teile. Das zeigt sich bei Kant daran, dass sich das Kontinuum bei jeder Teilung reproduziert. Jeder Teil stellt wiederum ein nicht zusammengesetztes Ganzes bzw. ein Kontinuum dar, was seinerseits eingeteilt werden kann. Die Form von Raum und Zeit ermöglicht diese Vorstellungen von materiellen Inhalten als Teile in Raum und Zeit, sodass jeder „Theil selbst wiederum ein Raum oder eine Zeit ist“¹¹. Die Einheit des Kontinuums ist für Kant somit ein Identitätsstifter. Die Mannigfaltigkeiten in der Einheit des Kontinuums sind nichts Wesensfremdes zu diesem Kontinuum, sondern jeder Teil ist wieder dieses eine Kontinuum. Es entsteht kein Fremdverhältnis zwischen dem Raum und seinen Teilen, wie etwa zwischen Elementen, die durch bloße Zusammensetzung eine Menge konstituieren. Der Raum beinhaltet seine Teile, ohne dass diese Teile im aristotelischen Sinne seine ursprünglichen Elemente wären. Die Form bietet als ein replizierendes Kontinuum prinzipiell ein unendliches Potenzial an Aufnahmefähigkeit von materiellen Inhalten, die sich dieser Form fügen bzw. durch diese bestimmen lassen müssen. Aufgrund dieser grenzenlosen Kapazität versteht Kant Raum und Zeit als unendliche Gebilde.¹² Die Formen stiften einerseits diese Kapazität zur Bildung von Teilen und tragen andererseits die Mannigfaltigkeit der resultierenden Teile in einer Einheit. Dieses Tragen ist aber kein synthetisches Bündeln, denn die Einheit liegt dem Kontinuum als Primat immer schon zugrunde, wenn Teile in dieser Einheit entstehen.
B322|A266. Wie Simon ausführt, orientiert Kant sich beim Formbegriff an der aristotelischen Tradition: „Kant meint mit dem Begriff der transzendentalen Form etwas ganz anderes, als die Naturwissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts im Blickfeld hat, nämlich den vorhegelschen Begriff der Form, mit dem etwas rein Geistiges bedeutet werden soll, das sich nicht etwa an der Materie findet, insofern sie durch irgendeine Einwirkung eines anderen materiellen Dinges […] geformt worden ist, sondern das vielmehr seinerseits die Materie formt. Form ist hier noch wie schon bei Aristoteles ἐνέϱγεια.“ (Simon 1969, S. 38). Bezüglich Kants Unterscheidung zwischen Materie und Form als Reflexionsbegriffe siehe ferner die Ausführungen von Unruh 2007, S. 127– 131. Neben dieser transzendentalphilosophischen Bedeutung von Materie und Form führt Kant insbesondere in den MAN ein naturwissenschaftliches Verständnis von Materie ein. Vgl. hierzu Anmerkung 683 in Kapitel 2. B211|A169. Vgl. B39 f|A25 f.
0.1 Problemexplikation
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Diese Zusammenhänge schlagen sich auch in Kants präziser Begriffswahl nieder: Er nennt den Raum nämlich nicht allumfassend, sondern „allbefassend[]“¹³, wodurch vermieden wird, dass der Raum als zusammengesetzte Einheit betrachtet wird.¹⁴
B40|A25 (Hervorhebung von mir). Krausser warnt zu Recht davor, die Begriffe allumfassend und allbefassend miteinander gleichzusetzen. Der Ausdruck befassend kann sowohl als etwas enthaltend als auch als mit etwas befasst verstanden werden. Diese Doppeldeutigkeit im Ausdruck allbefassend widersetzt sich der Vorstellung einer zusammengesetzten Einheit als einem Bündel von Teilen. Kant geht es gerade dort, wo er den Ausdruck einführt, nämlich im dritten Raumargument der B-Auflage, um die kontinuierliche Struktur des Raums, der als Ganzes allen seinen Teilen vorhergeht. Somit wäre allumfassend sachlich die falsche Bezeichnung, da es eine gebündelte Einheit suggeriert, von der bei den ursprünglichen Anschauungsformen eben nicht die Rede sein kann. Vgl. hierzu Kapitel 2.1.4. Krausser rechtfertigt seine Warnung vor der Gleichsetzung der Begriffe angesichts der Schwierigkeit, dass die Kennzeichnung des Raums als allumfassend eine Hypostasierung des Raums zu einem Ding an sich suggerieren könnte. Vgl. Krausser 1981, S. 43 Anm. Durch eine Kritik an dieser Begründung lässt sich Unruh dazu verleiten, die Unterscheidung fallen zulassen und beide Bezeichnungen miteinander zu identifizieren. Vgl. Unruh 2007, S. 200 Anm. Die Schwierigkeit in der Auseinandersetzung mit qualitativen Einheiten liegt darin, dass Kants Analyse des Kontinuums zunächst einmal dazu führt, dass man nach den Bestandteilen dieser Einheit fragt. Damit setzt die Analyse aus genetischer Sicht eine falsche Frage an den Anfang, denn ein Kontinuum hat bei Kant keine statischen Bestandteile, da Teile immer erst durch Analyse oder Einschränkung hervorgebracht werden. Eine ursprüngliche Einheit – wie die von Raum und Zeit – darf bei Kant nicht als eine statische Zusammensetzung aus Teilen verstanden werden. Sie ist kein Fremdverhältnis von Elementen. Wenn Kant nach der Struktur einer ursprünglichen Einheit fragt, dann kann es sich nicht um Teile, sondern nur um Strukturen innerhalb einer ursprünglichen nicht geteilten Einheit handeln. Prauss unterscheidet vor diesem Hintergrund ein analytisches Kontinuum, das zwar von den empirischen Inhalten, aber nicht von den Grenzen (bzw. der grundsätzlichen Einteilung) absieht, von einem synthetischen Kontinuum, das ursprünglich und unbegrenzt (bzw. ungeteilt) ist und somit eine Bedingung der Möglichkeit fürs analytische Kontinuum darstellt. Vgl. Prauss 2017, S. 110 f. und insbesondere die jüngsten Ausführungen in Prauss 2019. Zwar scheint auch Kant ein dunkles Bewusstsein von diesem Unterschied zu haben, wenn er im dritten Raum- und vierten Zeitargument der B-Auflage davon spricht, dass Teile nur durch Einschränkungen ermöglicht werden, doch eine systematische Begriffsunterscheidung ist bei ihm nicht zu finden. Vgl. hierzu Kapitel 2.1. Strukturell ist für Kant das Teil-Ganze-Verhältnis im ursprünglichen Kontinuum mit einem Selbstverhältnis vergleichbar. Subjekte, die strukturell in einem Selbstverhältnis mit sich stehen, weisen bei Kant eine gewisse Strukturähnlichkeit mit den Anschauungsformen auf. Es ist daher nicht überraschend, wenn Kant auch das Selbstbewusstsein als eine „qualitative“ (B131) Einheit bzw. als ein spontan-dynamisches Selbstverhältnis oder die Zeit als Form des inneren Sinns versteht. Vgl. hierzu Kapitel 2.2.5. Wie eine positive Beschreibung bzw. Definition der nicht zusammengesetzten Einheit bzw. des synthetischen Kontinuums als ein Selbstverhältnis gewonnen werden kann, wird bei Prauss in aller Ausführlichkeit und im Anschluss an Kant zum Gegenstand einer sachorientierten Untersuchung gemacht.Vgl. hierzu insbesondere Prauss 2015, S. 13 – 267 und Prauss 2017, S. 11– 109. Die
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0 Einführung: Problem, Methode, Forschung und Geschichte
Der Raum ermöglicht bei Kant nicht nur die Vorstellung von benachbarten Teilen, die abstrakt betrachtet aufgrund einer Berührung eine gemeinsame Grenze haben, sondern auch die Vorstellung von Teilen, die durch einen Abstand voneinander getrennt sind und somit keine gemeinsame Grenze haben.¹⁵ Teile, die sich nicht berühren, haben statt einer gemeinsamen Grenze separate Grenzen.¹⁶ Das führt aber nicht dazu, dass die Teile aufgrund des Abstands bzw. des Fremdverhältnisses zwischen ihnen nicht mehr gemeinsam in einer Form vorgestellt werden; stattdessen werden beide weiterhin als Räume im ursprünglichen Raum des Kontinuums vorgestellt. Die Leere zwischen den Teilen füllt der ursprüngliche Raum. Der ursprüngliche Raum überbrückt durch seine Ausdehnung auch die Abstände zwischen den Teilen. Wie sich noch zeigen wird, ist das Kant besonders wichtig, denn dadurch, dass Teile zusammen vorgestellt und aufeinander bezogen werden können, obwohl sie in unterschiedlichen Richtungen bzw. Gegenden des Raums liegen, wird ermöglicht, dass man sie im Kontext miteinander betrachten kann. In Über die Gegenden thematisiert Kant anhand des Beispiels der inkongruenten Gegenstücke, wie sich Gegenstände, die bis auf ihre Ausrichtung im Raum vollkommen gleich sind, wie beispielsweise eine linke und eine rechte Hand, mit Hilfe des globalen Raums unterscheiden lassen.¹⁷ Raum und Zeit sind bei Kant somit nicht nur Einheitsstrukturen, wonach Teile in einer globalen Anschauungsform zusammen vorgestellt werden können, sondern unter dem Primat der Einheitsstruktur auch Vielheits- bzw. Mannigfaltigkeitsstrukturen, weil sie ermöglichen, dass Teile in dieser Einheit außereinander vorgestellt und aufeinander bezogen werden können, wodurch sie dem Subjekt in Form eines Nach- und Nebeneinander erscheinen können.¹⁸
Einsichten von Prauss in die Struktur des Kontinuums motivieren die hier untersuchten Fragestellungen bei Kant. Vgl. zur Veranschaulichung beispielsweise Abbildung 1 in Kapitel 1.3.1. Vgl. zur Analyse des Kontinuums und zum Verhältnis zwischen den Teilen eines Kontinuums die Ausführungen in Prauss 2017, S. 22– 46. Bezüglich der Unterscheidung zwischen Teilen und Trennen siehe auch schon Kant AA I, 480 und ferner AA I, 22 f. bzw. die Ausführungen in Kapitel 1.1. Vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 1.3. Um den Anschein einer Widersprüchlichkeit zu vermeiden, wird im Folgenden nicht vom Begriffspaar Einheit und Vielheit oder Identität und Differenz (oder Ganzes und Teil), sondern vordergründig von Einheit und Mannigfaltigkeit gesprochen. Raum und Zeit sind demnach sowohl Einheits- als auch Mannigfaltigkeitsstrukturen bzw. sie stellen Einheiten dar, die nicht einfach, sondern in sich komplex sind, da diese Einheiten das Primat gegenüber den Teilen dieser Einheiten besitzen. Die Einheit ist somit eine in sich komplexe bzw. mannigfaltige Einheit. Auch Kant spricht insbesondere in der KRV in erster Linie von Mannigfaltigkeit statt von Vielheit. Damit orientiert sich die vorliegende Arbeit am kantischen Begriffsgebrauch. Wie die Begriffe Einheit
0.1 Problemexplikation
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Kants komplexes Verständnis von Einheit wird jedoch im Hinblick auf Raum und Zeit zum Interpretationsproblem, sobald dieses Thema unter systematischen Gesichtspunkten betrachtet wird. Vor allem vor dem Hintergrund Kants kritischer Unterscheidung zwischen den Erkenntnisvermögen bzw. zwischen dem Anschauungsvermögen der Sinnlichkeit einerseits und den Denkvermögen Verstand und Vernunft andererseits stellen sich weitergehende Fragen. Speziell die Denkvermögen sollen nämlich nach Kant „Vermögen der Einheit“¹⁹ sein. Wenn aber Raum und Zeit Einheiten darstellen, dann stellt sich die Frage, wie die von den Denkvermögen zu unterscheidende Sinnlichkeit Einheiten vorstellen kann? Dass Kant sich diese Frage bewusst gestellt hat und auch zumindest als ein Darstellungsproblem seiner Systematik wahrgenommen hat, zeigt sich an der vieldiskutierten Anmerkung B160 f. in der zweiten Auflage der KRV: Der Raum, als Gegenstand vorgestellt (wie man es wirklich in der Geometrie bedarf), enthält mehr, als bloße Form der Anschauung, nämlich Zusammenfassung des Mannigfaltigen, nach der Form der Sinnlichkeit Gegebenen, in eine anschauliche Vorstellung, so daß die Form der Anschauung bloß Mannigfaltiges, die formale Anschauung aber Einheit der Vorstellung gibt. Diese Einheit hatte ich in der Ästhetik bloß zur Sinnlichkeit gezählt, um nur zu bemerken, daß sie vor allem Begriffe vorhergehe, ob sie zwar eine Synthesis, die nicht den Sinnen angehört, durch welcher aber alle Begriffe von Raum und Zeit zuerst möglich werden, voraussetzt. Denn da durch sie (indem der Verstand die Sinnlichkeit bestimmt) der Raum oder die Zeit als Anschauung zuerst gegeben werden, so gehört die Einheit dieser Anschauung a priori zum Raume und der Zeit, und nicht zum Begriffe des Verstandes.²⁰
Diese „cryptic remark“²¹ führt die kontrovers diskutierte Unterscheidung zwischen Form der Anschauung und formaler Anschauung ein und soll das Verhältnis zwischen transzendentaler Ästhetik und transzendentaler Logik bzw. zwischen Sinnlichkeit und Verstand im Hinblick auf die Einheit von Raum und Zeit klären. Prima facie liegt es nahe, die Anmerkung dahingehend auszulegen, dass Raum und Zeit ursprünglich gar keine Einheiten darstellen und erst der Verstand diese zu kontinuierlichen Vorstellungen bestimmt. Doch eine solche Auslegung mündet in einer interpretativen Sackgasse: Der Verstand wird nämlich grundsätzlich als ein synthetisches Vermögen verstanden, das Einheiten mittels der begrifflichen Bestimmung von Anschauungen zu zusammengesetzten Objekten bestimmt. Raum und Zeit sind aber Anschauungen a priori und somit keine Vorstellungen
und Mannigfaltigkeit genau zu verstehen sind und wie die Begriffe im Verhältnis zueinanderstehen, wurde hier in der Einführung dargestellt. B359|A302. B160 f. Anm. Allison 1983, S. 165.
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0 Einführung: Problem, Methode, Forschung und Geschichte
des Verstandes, sondern der Sinnlichkeit. Der Verstand ist systematisch betrachtet in Kants Architektonik des Subjekts gar nicht zuständig und vor dem Hintergrund der qualitativen bzw. holistischen Einheit der Anschauungsformen auch nicht befähigt, die für Raum und Zeit charakteristische Einheit eines Kontinuums zu erzeugen, sondern muss als synthetisch agierendes Vermögen auf bestimmte, mithin zusammengesetzte Einheiten beschränkt bleiben. Schließlich ist nach Kant jede Verbindung eine „Verstandeshandlung“, die er mit der „allgemeinen Benennung Synthesis belegen“²² möchte. Die Auseinandersetzung mit der Frage nach der Struktur von Raum und Zeit ergibt eine schwerwiegende Folgefrage nach der Vorstellungsart von Raum und Zeit, die sich systematisch bis in das Mark der kantischen Erkenntnistheorie bzw. der Unterscheidung zwischen Verstand und Sinnlichkeit bohrt, wo sie zunächst in eine Sackgasse bzw. zu einem Interpretationsproblem führt. Prauss stellt daher völlig nachvollziehbar gleich zu Beginn seines Aufsatzes Das Kontinuum bei Kant und Aristoteles fest: „Mit einem schwierigen Problem bekommt es Kant zu tun, wenn er versucht, der Ausdehnung von Zeit und Raum als dem Kontinuum von Zeit und Raum gerecht zu werden.“²³ Um dieses Problem jedoch weiter zu verstehen und die entsprechenden Lösungsmöglichkeiten bestmöglich zu erörtern, sollen – wie die hiesigen Überlegungen nahelegen – folgende Fragen im Zusammenhang miteinander genauer untersucht und beantwortet werden: Welche Struktur weisen Raum und Zeit als Gebilde bei Kant auf?
(0.1)
Was für eine Art von Vorstellung stellen Raum und Zeit bei Kant dar?
(0.2)
In welchem systematischen Kontext stehen Raum und Zeit bei Kant?
(0.3)
Um diesen Fragen nachzugehen, wird im Hauptteil – unterteilt in drei Kapiteln – eine Auseinandersetzung von der vorkritischen Phase bis ins Opus postumum hinein erfolgen. Dabei verfährt die Untersuchung chronologisch und beginnt in einem ersten Kapitel mit der vorkritischen Phase und einer systematischen Untersuchung derselben vor dem Hintergrund der drei dargestellten Fragen. Nach den ersten dogmatischen Schriften, in denen Raum und Zeit anfänglich nur am Rande thematisiert werden, wird Kant mit seiner kurzen Abhandlung Über die Gegenden im Jahr 1768 zunehmend die Fragen nach Raum und Zeit in den Fokus seiner Überlegungen rücken, was schließlich zur Subjektwende führen wird,
B130. Prauss 2013, S. 3.
0.2 Methodische Einführung: Was ist Kant-Interpretation?
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wodurch Raum und Zeit in De mundi im Jahr 1770 als reine Anschauungen eingeführt werden. Mit Kants Übergang in die kritische Phase und der langjährigen Arbeit an der KRV bzw. der damit einhergehenden systematischen Ausreifung seiner Überlegungen wird vor allem auch die Frage nach einer Erkenntnissystematik zunehmend eine Rolle spielen, sodass die hier einleitend dargestellte Interpretationsproblematik im zweiten Kapitel erneut aufgenommen und verdeutlicht wird. Im zweiten Kapitel werden die drei Fragen in Bezug zur kritischen Phase thematisiert, wobei sich der Aufbau des Kapitels am Aufbau der KRV orientiert. Im dritten Kapitel werden die drei Fragen eine neue Wendung erfahren, da Kant im Spätwerk noch einmal grundsätzlich neue Impulse für seine Raum- und Zeitkonzeption gibt. Jedes Kapitel wird mit einer kurzen Rekapitulation und Bezugnahme auf die drei grundsätzlichen Fragen dieser Arbeit schließen, um den roten Faden der Untersuchung aufzuzeigen. Im letzten Kapitel werden im Anschluss an den Hauptteil bzw. in der Schlussbetrachtung die hier aufgeworfenen Fragen erneut aufgegriffen, um sie abschließend mit Blick auf die Kant-Literatur zusammenführend zu beantworten. Um diese inhaltlichen Ziele der Untersuchung zu verfolgen, ist es wichtig, vorab formal bzw. methodisch darzulegen, was eine Interpretation im Hinblick auf die gestellten Fragen leisten und was sie nicht leisten kann und unter Umständen auch nicht leisten soll. Dies ist nicht nur für die konkrete Zielsetzung, sondern insbesondere im Hinblick auf die sehr umfangreiche Literatur zum Thema Raum und Zeit bei Kant wichtig, um von vornherein zu sortieren, welche Art von Literatur zur Klärung der obigen Fragen beitragen kann und welche nicht. Dies soll im nächsten Einführungskapitel erfolgen. Erst vor diesem Hintergrund macht es dann im Folgekapitel Sinn, sich dem aktuellen Forschungsstand zu widmen und diesen einzuteilen. Abschließen wird dieses Einführungskapitel mit einer philosophiegeschichtlichen Einführung in die Diskussion bezüglich der Themen Raum und Zeit, mit der sich Kant zu Beginn seiner Schaffenszeit konfrontiert sah, um in den Hauptteil bzw. in das erste Kapitel, das sich mit der vorkritischen Phase beschäftigt, überzuleiten.
0.2 Methodische Einführung: Was ist Kant-Interpretation? Um genau zu sein, müsste man, bevor die Frage gestellt wird, was Kant-Interpretation sein soll, die bücherfüllende Frage klären, was es bedeutet, philosophische Texte zu interpretieren oder noch allgemeiner die Frage erörtern, was Interpretation überhaupt bedeutet. Dies kann hier selbstverständlich nicht ge-
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0 Einführung: Problem, Methode, Forschung und Geschichte
leistet werden.²⁴ Trotzdem sollen an dieser Stelle einige Vorüberlegungen getroffen werden, um zu verdeutlichen, wie in der vorliegenden Untersuchung zur Beantwortung der obigen Fragen aus Kapitel 0.1 methodisch vorgegangen wird. In einem ersten Schritt lässt sich feststellen, dass die Philosophie die grundsätzliche Gemeinsamkeit „mit vielen anderen Geisteswissenschaften“ teilt, dass es in ihr „ganz wesentlich um das Lesen und Interpretieren von Texten“ geht. Dabei gilt: „Was auch immer dieses ,Lesen’ und ,Interpretieren’ bedeuten, und was auch immer wir über ,Bedeutung’, ,Rekonstruktion’, ,intentional fallacy’ usw. sagen wollen – der Textbezug muss stattfinden.“²⁵ Gleichzeitig bedeutet dieser Textbezug nicht, dass der zu interpretierende Text einfach nur wiederholt wird. Dahingehend äußert sich auch schon Kant in der KRV: Ich bemerke nur an, daß es gar nichts Ungewöhnliches sei, sowohl im gemeinen Gespräche als in Schriften durch die Vergleichung der Gedanken, welche ein Verfasser über seinen Gegenstand äußert, ihn sogar besser zu verstehen, als er sich selbst verstand, indem er seinen Begriff nicht genugsam bestimmte und dadurch bisweilen seiner eigenen Absicht entgegen redete oder auch dachte.²⁶
Verstehen wir also allgemein die Interpretation als eine „bessere (deutlichere usw.) Darstellung der ,interpretiertenʻ Position [bzw. des Textes] eines Autors“²⁷, stellt sich jedoch unmittelbar im Anschluss die Frage: In welcher Hinsicht soll eine Darstellung besser als eine andere sein? Für Schönecker ist diejenige Interpretation besser, „die in der Lage ist, mehr Textphänomene in ein kohärentes Verständnis zu bringen“. Doch an diese Antwort schließt sich die nächste Frage unmittelbar an: Was für eine Art von Verständnis wird vom jeweiligen Interpreten überhaupt intendiert, um unterschiedliche Textstellen miteinander kohärent in Verbindung zu bringen? Prima facie wäre anzunehmen, dass es stets um die Autorintention geht. Grundsätzlich ist eine Interpretation jedoch nie vollständig losgelöst vom Interpreten. Die Auswahl des Themas, die Textauswahl, die Rei-
Vgl. hierzu jedoch als erste Orientierung und mit Blick auf Kant Puntel 2010, S. 132– 158. Schönecker 2010, S. 159. B370|A314. Gleichzeitig scheint Kant dieses Interpretationsverständnis nicht für die Interpretation der eigenen Texte gelten zu lassen. Um sich von einer Interpretation zu distanzieren, die ihn in die Nähe von Fichte rücken könnte, betont er, dass die KRV „allerdings nach dem Buchstaben zu verstehen“ (AA XII, 371) sei. In Streit der Fakultäten bezeichnet Kant eine Auslegung, die nicht nach dem Buchstaben verfährt, als Vorgehen wider der „oberste[n] Regeln der Interpretation“ (AA VII, 41), die aber dennoch zu Beifall führen kann, wenn der Text dadurch in Übereinkunft mit der Vernunft gebracht wird. Vgl. AA VII, 41 f. Leider äußert sich Kant vergleichsweise wenig zum Thema Textinterpretation. Vgl. hierzu die Zusammenstellung in Stegmaier 2010, S. 199 – 234 und ferner Simon 2003, S. 38 – 46. Puntel 2010, S. 153 (Hervorhebung aufgehoben).
0.2 Methodische Einführung: Was ist Kant-Interpretation?
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henfolge der Thematisierung, das Verfolgen von bestimmten Zusammenhängen – all dies ist bedingt durch die Entscheidung des Interpreten, wodurch sich zunächst ein hermeneutischer Zirkel ergibt, sodass die Autorintention schwerlich als Interpretationsziel gelten kann.²⁸ Es gibt mehr unterschiedliche Ansätze Kant zu interpretieren, als man zunächst vermuten würde, bildet doch der Anspruch, eine vernünftige Interpretation darzulegen, wohl die Maxime eines jeden Interpreten: „Als Interpreten versuchen wir diesem Anspruch möglichst gerecht zu werden, und sind doch nicht selten erstaunt, dass andere Interpreten zu anderen Ergebnissen kommen. Auch nach ausführlichen Sachdiskussionen müssen wir feststellen, dass unsere Positionen nicht zur Deckung zu bringen sind.“²⁹ Dies ist aber weniger verwunderlich, wenn neben der im obigen Sinne grundsätzlichen Abhängigkeit einer Interpretation vom Interpreten ferner berücksichtigt wird, mit welchen unterschiedlichen Interpretationsmodellen (zumindest implizit) die Interpreten an einen Text herantreten. Wenn es zu Meinungsverschiedenheiten kommt, sollte zunächst eruiert werden, unter welchen Vorbedingungen eigentlich diskutiert wird. Es stellt sich die Frage: Diskutieren Interpreten überhaupt noch unter demselben Gesichtspunkt und vor dem Hintergrund der gleichen Intention
Vor diesem Hintergrund gehen manche Interpreten sogar soweit zu behaupten, dass es grundsätzlich keine Sekundärliteratur in der Philosophie geben kann, da eine Interpretation stets eine philosophische Auseinandersetzung mit einem philosophischen Text bleibt. Vgl. hierzu Bencivenga 2010, S. 47– 58. Vgl. ferner Simon 2003, S. 39. Solche Überlegungen prägen selbstverständlich den Interpretationsbegriff. Passend zu dem Literaturverständnis von Bencivenga fordern Gerhardt und Kaulbach, dass einerseits zwischen Rekonstruktion und Interpretation unterschieden und andererseits jegliche Rekonstruktion stets als etwas in einer Interpretation Eingebettetes betrachtet wird. Vgl. Gerhardt / Kaulbach 1979, S. 27. Für Schönecker gibt es keine „endgültige und absolut richtige Interpretation eines philosophischen Textes“ (Schönecker 2001, S. 160), da die Bedeutung eines Textes aufgrund des hermeneutischen Zirkels stets vom Interpreten miterzeugt wird. Vor diesem Hintergrund ist es nach Schönecker auch nicht sinnvoll nach der Autorintention, sondern lediglich nach der Textintention zu fragen. Vgl. Schönecker 2001, S. 160 f. Ähnlich sieht das auch Seel. Vgl. Seel 2010, S. 184 f. Gleichwohl soll dies nach Zwenger nicht bedeuten, dass die Autorintention, nur weil sie nicht direkt greifbar ist, überhaupt keine Rolle mehr spiele: „Zunächst ist nicht zu bezweifeln, dass vor allem ein geschriebener oder gedruckter Text über so etwas wie eine objektive ,Basisʻ verfügt. […] Es hieße, das Kind mit dem Bade auszuschütten, wenn man die erkenntnistheoretisch sinnvolle Trennung von sogenannter ,Autorenintentionʻ und sogenannter ,Textintentionʻ etwa so weit triebe wie Roland Barthes oder Michel Foucault, die die Nichtverfügbarkeit des Textautors zu einer Nichtvorhandenheit radikalisieren.“ (Zwenger 2010, S. 323).Vgl. ferner Zwenger 2001, S. 331. Die grundsätzliche Abhängigkeit der Interpretation vom jeweiligen Interpreten darf daher nicht im Sinne eines vollkommenen Relativismus verstanden werden. Es gibt Möglichkeiten, sinnvoll zwischen besseren und schlechteren bzw. plausibleren und weniger plausibleren Interpretationen zu unterscheiden. Siehe hierzu die Ausführungen zu den Interpretationsmaximen weiter unten in diesem Kapitel. Klemme 2010, S. 87.
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0 Einführung: Problem, Methode, Forschung und Geschichte
oder haben sie mit der jeweiligen Interpretation ganz unterschiedliche Interpretationsinteressen, die sie verfolgen? Zwar ist der „Dissens […] ein in unserer Interpretationskultur tief verwurzeltes Element“³⁰, um jedoch einen Dissens vernünftig einordnen und bewerten zu können, ist das Bewusstsein der unterschiedlichen Methodiken – beispielsweise bei der Kant-Interpretation – unerlässlich.³¹ An erster Stelle gilt es zwischen einer textimmanenten Herangehensweise und einer texttranszendenten Herangehensweise zu unterscheiden. Die texttranszendente Herangehensweise bzw. Interpretation eines Textes betrachtet den zu interpretierenden Text von vornherein nur als Anregung für die eigenen Gedanken: Sie [die philosophiegeschichtliche Kant-Forschung] versucht zu eruieren, welches Kants Behauptungen sind und mit welchen Mitteln er sie zu beweisen trachtet. Hier auftretende Dissense sind solche der Exegese. Es kann sich auch dann noch um Exegese handeln, wenn festgestellt wird, dass bestimme Behauptungen Kants nicht aus seinen eigenen Prämissen folgen. Die Kritik bleibt Kant-intern. Die systematisch ausgerichtete Literatur interessiert sich dagegen weniger für den ,ganzenʻ Kant. Entweder nimmt sie bestimmte Motive der Philosophie Kants auf, entwickelt diese weiter, oder aber sie verweist auf Evidenzen, die gegen die Kantische Theorie als solche zu sprechen scheinen.³²
Eine textimmanente Herangehensweise beansprucht, den zugrunde liegenden Text zu verstehen und ihn nicht für die eigenen Thesen zu instrumentalisieren. Mit Kuno Fischers vielzitierten Worten lässt sich eine grundsätzliche Art von immanenter Interpretation kantischer Texte damit zusammenfassen, dass sie versucht, Kants Texte zu interpretieren bzw. zu „erklären“, indem sie Kant „ge-
Klemme 2010, S. 87. Vgl. Klemme 2010, S. 103 f. Klemme 2010, S. 92. Zu berücksichtigen gilt, dass – wie im Folgenden weiter erklärt wird – auch mit systematisch orientierten Interpretationswerkzeugen wie etwa der modernen Logik durchaus gewinnbringende Interpretationen eines Kant-Textes möglich sind, die gleichzeitig beanspruchen, nicht über Kant selbst hinauszugehen, sondern lediglich ihn mittels moderner Mittel deutlicher darzustellen. Puntel unterscheidet zwischen „immanenten“ und „externe[n] Interpretation[en]“ (Puntel 2010, S. 152). Eine immanente (oder besser interne) Interpretation legt den Text nur mittels derjenigen Elemente, Begriffe oder Argumente dar, die selbst von dem zu interpretierenden Text angeführt werden, um eine verständlichere Darstellung als im Text selbst zu gewinnen. Eine externe Interpretation bemüht dagegen Mittel, die nicht selbst im Text auftauchen, um die Textintention klarer auf den Punkt zu bringen. Vgl. Puntel 2001, S. 150 – 154. Letztlich streben aber beide Arten der Herangehensweise an, im obigen Sinne textimmanent zu rekonstruieren und nicht über die Autor- bzw. Textintention hinauszugehen. Sie nutzen im Gegensatz zu einer texttranszendenten Interpretation den Text nicht nur als Ausgangspunkt für eigene Überlegungen.
0.2 Methodische Einführung: Was ist Kant-Interpretation?
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schichtlich ableite[t]“³³. Gerhardt und Kaulbach sprechen hier von einer „entwicklungsgeschichtliche[n] Methode“³⁴, die es von einer „Kantinterpretation im Rahmen analytischer Philosophie“³⁵ zu unterscheiden gilt. Der von der philosophiegeschichtlichen Herangehensweise verschiedene Ansatz immanenter Textinterpretation ist der systematisch orientierte immanente Interpretationsansatz, der nicht nur mittels textimmanenter Werkzeuge und philosophiegeschichtlicher Zusammenhänge Texte interpretiert, sondern auch mit textfremden Mitteln – wie beispielsweise der modernen Logik – arbeitet, um ein textimmanentes Verständnis zu erzielen.³⁶ Beide Modelle der textimmanenten Interpretation haben sich bewährt und der Kant-Forschung auf unterschiedliche Weise große Dienste erwiesen. Doch eine Schwäche, die beispielsweise bei einer allzu einseitigen analytischen Vorgehensweise auftreten kann, ist es, die historische Entwicklungskomponente einzelner Argumente aus dem Blick zu verlieren und zu schnell Zweifel an Kants Ausführungen zu bestimmten Themen zu hegen, nur weil Kant sie an einer zu untersuchenden Stelle möglicherweise zu knapp oder nur oberflächig darstellt. Dadurch entsteht die Gefahr, dass eine mit dem Anspruch einer textimmanenten Herangehensweise auftretende Interpretation sich der Kritik aussetzen muss, letztlich texttranszendent zu agieren. Ameriks bringt diese Schwierigkeit auf den Punkt: But the suspicion arises most often from the non-historical perspective of analytic approaches that extract terms and propositions from Kantʼs writings without a clear sense of the date or purpose of particular statements, and which thus find numerous ,contradictionsʻ that might have been resolved from a broader and more patient perspective.³⁷
Historisch orientierte Untersuchungen verweisen daher auf das sog. principle of charity, wonach bei mehreren Interpretationsmöglichkeiten diejenige zu bevor Fischer 1860, S. 26. Der Begriff Ableiten scheint hier sicherlich ein etwas zu starker Begriff zu sein, um eine Interpretation zu beschreiben. Schließlich geht es nicht darum, etwas deduktiv zu erschließen, bei dem es nur einen Weg gibt, sondern um das Verständnis von Textstellen, die auf unterschiedliche Weisen zusammengebracht werden können, um eine plausible Darstellung zu gewinnen. Gerhardt / Kaulbach 1979, S. 14. Gerhardt / Kaulbach 1979, S. 23 (Hervorhebung aufgehoben). Es dürfte klar sein, dass diese grundsätzliche Unterscheidung beider Interpretationsansätze nicht bedeutet, dass die Interpreten des jeweiligen Ansatzes einheitlich zu betrachten sind. Hier gibt es viele Nuancen. Im Hinblick auf die analytisch-systematische Kant-Literatur konstatieren Gerhardt und Kaulbach: „Ihre Spannweite reicht von einseitig methodologisch-wissenschaftstheoretischen Perspektiven bis zur Analyse metaphysischer Sätze Kants.“ (Gerhardt / Kaulbach 1979, S. 23). Ameriks 2001, S. 13. Vgl. ferner Gerhardt / Kaulbach 1979, S. 28 und Schönecker 2010, S. 174.
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zugen ist, die weniger Widersprüche im Text hinterlässt bzw. sich die Mühe macht, oberflächliche Ungereimtheiten durch tiefere Zusammenhänge aufzulösen.³⁸ Nach Schönecker setzt sich zwangsläufig diejenige Interpretationshypothese durch, „die es erlaubt, dem Text nicht zu unterstellen, er enthalte massive logische Widersprüche“³⁹. Auch für Seel ist das principle of charity „eine unverzichtbare Voraussetzung seriöser Interpretation“. Er betont: „Vernachlässigt man es, so bekommt man als Resultat der Interpretation nicht eine oder mehrere in sich stimmige Lehrmeinungen des Autors heraus, sondern eine Sammlung von Widersprüchen, Ungereimtheiten und evidenterweise falschen Aussagen.“⁴⁰ Doch umgekehrt ist eine allzu historische Vorgehensweise zwangsläufig ebenfalls gefährdet, der Maxime einer kohärenten und deutlichen Darstellung nicht zu genügen, da sie ggf. auf moderne Interpretationsmittel verzichtet oder die Frage nach der Plausibilität von Argumenten ignorieren könnte. Im schlimmsten Fall verfällt eine solche Arbeit in eine repetitive Darstellung, die schwieriger zu verstehen ist als der Ausgangstext.⁴¹
Seel beschreibt das principle of charity wie folgt: „Es ist offensichtlich plausibel, anzunehmen, dass der Verfasser eines klassischen philosophischen Textes weder dumm noch geistesgestört war, als er den Text geschrieben hat, dass er ein sinnvolles philosophisches Ziel verfolgte und dass er über die zu seiner Zeit gängigen Methoden zum Erreichen seines Zieles verfügte. Andererseits ist es aber auch plausibel, dass selbst ein großer Philosoph Flüchtigkeitsfehler begeht, dass er bestimmte Zusammenhänge nicht sieht, mögliche Einwände übersieht und dass er sich bisweilen mehrdeutig ausdrückt. Hierzu kommt, dass sich bei der Textüberlieferung Fehler aller Art eingeschlichen haben können. Die richtige Reaktion des Interpreten auf diese beiden Umstände sollte es daher sein, das, was der Autor eigentlich gemeint hat, so zu rekonstruieren, dass dabei diejenige Theorie herauskommt, die der Autor wahrscheinlich als die seine akzeptiert hätte, wenn man ihn auf die Mängel, die sein ausformulierter Text enthält, rechtzeitig aufmerksam gemacht hätte, oder die er formuliert hätte, wären ihm keine Fehler bei der Arbeit unterlaufen. Dies ist der harte Kern dessen, was das ,principle of charityʻ fordert.“ (Seel 2010, S. 192 f.). Vgl. hierzu auch Parsons 1972, S. 83. Schönecker 2010, S. 171. Seel 2010, S. 193. Seel schreibt hierzu: „Es sieht ganz so aus, als müsste derjenige, der daran interessiert ist, herauszufinden, was ein philosophischer Autor eigentlich gemeint hat, […] versuchen, z. B. Kant mit Kants eigenen Worten zu interpretieren. […] Was herauskommt, wenn man das versucht, kann man sehr schön an gewissen Produkten der Hegel-Forschung studieren, wo über Hegels Text so gesprochen wird, wie Hegel über die Texte anderer Philosophen spricht, nämlich in Hegelʼscher Diktion. Das hat dann zur Folge, dass die ohnehin schon schwer verständlichen Sätze Hegels gänzlich unverständlich werden. Mehr noch: Das Prinzip, einen historischen Text mit den Worten seines Verfassers zu interpretieren, hat zur Folge, das gerade zu verfehlen, was man mit ihm erreichen will, nämlich den historischen Text als ein Produkt seiner Zeit zu begreifen. Ich kann z. B. Kants Friedenstheorie nur dann als Produkt der Philosophie des 18. Jahrhunderts verstehen, wenn ich sie mit früheren Theorien, aber auch gerade mit dem kontrastiere, was wir heute über eine
0.2 Methodische Einführung: Was ist Kant-Interpretation?
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Summa summarum droht bei einer allzu einseitigen Vorgehensweise, dass entweder ein historischer Ansatz in eine ausschließlich philologische Arbeit ausartet und für das Verständnis gewinnbringende Momente einer systematischlogischen Untersuchung übersieht oder sich eine systematische Interpretation zu weit vom eigentlichen Text entfernt, indem sie mögliche tieferliegende Zusammenhänge mit anderen Textstellen vorschnell ausschließt, wodurch der konkrete Bezug zum historischen Text fraglich wird. Für Ameriks ist es daher ratsam, sowohl analytisch-systematisch als auch historisch-hermeneutisch vorzugehen und beide Interpretationsansätze synergetisch zusammenzuführen: „These one-sided approaches are yet one more reason for emphasizing the need for a thoroughly hermeneutical approach to Kant – one that insists on going back and forth between history and system, part and whole, reconstruction and assessment.“⁴² Radikaler fordert dies Klemme, indem er plakativ behauptet: „Systematische Philosophie ohne Philosophiegeschichte ist taub, Philosophiegeschichte ohne systematischen Anspruch ist bloß gelehrt.“⁴³ Wie Ameriks betont, ist für die aktuelle Kant-Forschung kennzeichnend, dass dieser synergetische Ansatz zum „mainstream“⁴⁴ geworden ist. Ferner konstatiert Klemme, dass die „Grenzen zwischen textorientierter Interpretation und systematischer Kant-Rekonstruktion […] im Einzelfall nicht nur fließend [sind], sie werden von vielen Autoren auch als unwichtig angesehen“⁴⁵. Schönecker warnt dabei davor, eine der beiden Seiten zulasten der anderen Seite zu stark zu vernachlässigen: Viele Interpreten beschäftigen sich viel stärker mit der Wahrheit (Verbesserung, Verteidigung, Kritik) von Kants Philosophie als mit dem Verstehen dieser Philosophie. Sie wollen beides zugleich leisten, Philosophiehistorie und systematische Philosophie, und leisten keines von beiden adäquat; es ist nichts Halbes und nichts Ganzes.⁴⁶
Ein wichtiges Kriterium für eine durchdachte Interpretation ist das Bewusstsein für die unterschiedlichen Herangehensweisen an einen philosophischen Text – insbesondere einen Kant-Text. Der Unterschied zwischen einer systematischen
globale Friedenssicherung denken. Wie soll ich das anstellen, wenn ich nur mit Kants eigenen Worten über ihn reden darf?“ (Seel 2010, S. 184). Ameriks 2010, S. 16. Ameriks fordert sogar, dass die Interpreten die Vorstellung aufgeben müssen, dass Kants Philosophie absolut kohärent rekonstruierbar wäre. Eine völlig kohärente Lesart ist nach Ameriks genauso illusorisch wie die Annahme, man könne die ganze Philosophiegeschichte zugunsten eines analytischen Ansatzes vernachlässigen. Vgl. Ameriks 2010, S. 16. Klemme 2010, S. 93. Vgl. Klemme 2010, S. 102 ff. und ferner Seel 2010, S. 190 f. Ameriks 2010, S. 16. Klemme 2010, S. 86. Schönecker 2010, S. 173. Vgl. hierzu ferner Puntel 2010, S. 145 f.
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0 Einführung: Problem, Methode, Forschung und Geschichte
und einer philosophiehistorischen Herangehensweise sollte stets deutlich werden. Erst mit einer solchen Unterscheidung kann sich dann im nächsten Schritt eine synergetische Wirkung ergeben, wenn beide Herangehensweisen miteinander kombiniert werden. Gleichzeitig muss für eine solche synergetische Verbindung klar sein, dass grundsätzlich textimmanent interpretiert wird. Textimmanente und texttranszendente Überlegungen zu mischen, führt zu Missverständnissen und zeugt von mangelndem Methodenbewusstsein. Eine klare Unterscheidung und ein Bewusstsein dieses Unterschieds beim Interpretieren ist unerlässlich, um bei Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Interpretation feststellen zu können, ob es sich um einen methodischen oder einen inhaltlichen Dissens handelt.⁴⁷ Handelt es sich um einen Dissens, der darin begründet liegt, dass zwei Autoren mit grundsätzlich unterschiedlichen Intentionen an Texte herangehen, kann ein mangelndes Bewusstsein für den methodischen Unterschied den Weg für eine konstruktive Diskussion versperren. Hier ist es wichtig, dass die Autoren sich von vornherein erklären, um irrationale Dissense zu vermeiden. Eine gute bzw. plausible Kant-Interpretation muss vor dem Hintergrund der obigen Punkte gleich mehrere Kriterien erfüllen. Hall legt zu Beginn seiner Monographie The Post-Critical Kant im Hinblick auf die Untersuchung des Opus postumum zentrale Interpretationskriterien bzw. Interpretationsmaximen fest, die „good interpretations“⁴⁸ ausmachen sollen. Auch die hiesige Untersuchung, die sich von der vorkritischen Phase bis ins Opus postumum erstreckt, soll mit an Hall orientierten Interpretationsmaximen beginnen, um methodisch transparent zu machen, nach welchen Kriterien im Verlauf der Arbeit Literatur bewertet wird und welche methodische Maxime sich die hiesige Untersuchung im Hinblick auf den zu untersuchenden Text vorsetzt: I. Eine plausible Interpretation sollte um maximale Übereinstimmung mit dem zu interpretierenden Text bemüht sein. Das bedeutet für Hall nicht nur, dass Interpretationen mit Textbelegen arbeiten müssen, sondern auch Textstellen erklären und berücksichtigen sollten, die nicht unmittelbar zur Interpretation passen bzw. der Interpretation widersprechen.⁴⁹ Ferner betont Seel dabei, dass die von Kant für das Publikum bestimmten Schönecke betont: „Es ist, logisch betrachtet, eine Sache, nach der Bedeutung von bestimmten Texten zu fragen, und eine ganz andere, nach der Wahrheit dieser Texte zu fragen.“ (Schönecker 2010, S. 170). Hall 2015, S. 5. Vgl. Hall 2015, S. 5 f.
0.2 Methodische Einführung: Was ist Kant-Interpretation?
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Schriften als Hauptquelle dienen müssen. Briefe oder einzelne Reflexionen dürfen nur als Nebenquellen verstanden werden, die zur Unterstützung der Hauptquellen herangezogen werden. Sie dürfen „in keinem Fall […] benutzt werden, [um] die klare Aussage einer Hauptquelle zu korrigieren oder aufzuheben“⁵⁰. Eine systematische Interpretation kann daher nicht kontextlos bzw. ohne Bezug auf Kants Entwicklung einzelne Passagen aus Nebenquellen entnehmen, um eine eigene Philosophie zu entwickeln und dabei gleichzeitig beanspruchen, die Textintention zu verdeutlichen. Einzelne Reflexionen sollten nicht dazu genutzt werden, um Kernaussagen in den Haupttexten – beispielsweise den drei Kritiken – ohne Not auszuhebeln. Umgekehrt kann es nicht im Sinne eines philosophischen Textes sein, wenn Kants Gedanken bei einer historisch vorgehenden Untersuchung lediglich akkumulativ aneinandergereiht werden, ohne sie in einen logisch-systematischen Kontext zu setzen. Schließlich gilt: II. Eine plausible Interpretation sollte philosophisch nachvollziehbar bzw. logisch konsistent sein. ⁵¹ Wie in allen Wissenschaften ist es auch in der Philosophie methodisch wichtig, plausibel zu argumentieren. Interpretationen, die in sich selbst konsistent und widerspruchsfrei sind, sollten daher gegenüber Interpretationen, die es nicht sind, bevorzugt werden. III. Eine plausible Interpretation sollte eine maximale Konsistenz bei Kant selbst herausarbeiten. ⁵² Selbstverständlich gibt es auch bei Kant Widersprüche in den Texten. Es ist jedoch wichtig, diese Widersprüche nicht einfach festzustellen und daraufhin den ganzen Ansatz unmittelbar zu verwerfen, wie das zum Teil in der analytischen Literatur im Hinblick auf Kant praktiziert wurde – wie sich insbesondere in der Seel 2010, S. 196. Vgl. Hall 2015, S. 6. Vgl. Hall 2015, S. 6. Da Hall seine vierte Interpretationsmaxime speziell in Bezug auf das Opus postumum formuliert, wird sie hier nicht übernommen. Allgemein formuliert, fordert sie, dass Kants Intention bei der Interpretation des Opus postumum berücksichtigt werden muss. Wie die Unterscheidung zwischen Autor- und Textintention zeigte, ist es grundsätzlich problematisch, von einer Autorintention als Ziel einer Interpretation auszugehen. Vgl. obige Anmerkung 28 im hiesigen Kapitel. Ferner ist es bereits eine kontrovers diskutierte Frage, was die fundamentalen Prinzipien oder Intentionen der kantischen Philosophie sind. Vgl. hierzu Prauss 1973a, S. 11 ff. Dass eine Interpretation sich jedoch an einem Text orientieren sollte, um Belege anzugeben etc., wird bereits durch die erste Interpretationsmaxime weiter oben ausgedrückt.
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Auseinandersetzung mit der transzendentalen Ästhetik noch zeigen wird.⁵³ Zu Recht haben gerade philosophiehistorischorientierte Interpreten deshalb – wie bereits oben gesehen – auf das principle of charity aufmerksam gemacht, was verhindern soll, Kant wie einen „toten Hund“⁵⁴ zu behandeln. Eine philosophisch sinnvolle Auseinandersetzung mit Kant sollte bei der Interpretation daher stets bemüht sein, sich mit der bestmöglichen Variante eines Arguments oder einer Theorie auseinanderzusetzen – sei es, um sie im Anschluss bestmöglich zu kritisieren oder zu vertreten. In gewisser Weise dienen diese drei Maximen zur gegenseitigen Kontrolle. Die ersten beiden Maximen sollen verhindern, dass sich eine der dritten Maxime folgende Interpretation zu krampfhaft um eine kohärente Lesart mittels einzelner Reflexionen bemüht, was möglicherweise zu absurden Theorien führen könnte, statt Probleme im Haupttext einzugestehen. Die erste und die letzte Maxime verhindern wiederum, dass sich eine analytische Lesart, die ausschließlich nach der zweiten Maxime vorgeht, zu einseitig mit Kant beschäftigt und das Potenzial der Texte unterschätzt. Die letzten beiden Maxime stellen schließlich sicher, dass eine Interpretation ausgehend von der ersten Maxime nicht zu gelehrt auftritt, indem sie das Sachproblem gar nicht mehr wahrnimmt und thematisiert, sondern sich dem Text ausschließlich als historische Quelle nähert. Die drei Maxime funktionieren methodisch nur sinnvoll, wenn sie im Zusammenhang ernst genommen und angewandt werden. Das ist zumindest die methodische Prämisse dieser Arbeit. Nach diesen drei Interpretationsmaximen und unter Fokussierung auf die drei Fragen aus Kapitel 0.1 soll sich die vorliegende Untersuchung mit dem kantischen Werk von der vorkritischen Phase bis ins Opus postumum im Hinblick auf die Themen Raum und Zeit auseinandersetzen. Wie sich im nächsten Teilkapitel zeigen wird, unterscheidet sich diese Untersuchung im Hinblick auf den Umfang des Untersuchungsgegenstands von anderen Arbeiten in diesem Themenbereich. Gleichwohl ist diese Untersuchung selbstverständlich nicht die erste, die diesen Themenbereich bei Kant behandelt. Während manche Denker der
Vgl. hierzu Kapitel 2.1. Seel 2010, S. 190. Zu dieser Ausdrucksweise heißt es bei Seel: „Die historischen Neukantianer waren Philosophen, die Kant nicht […] ,wie einen toten Hundʻ behandeln wollten. Man muss sich daher wundern, wenn in unseren Tagen Leute, die so große Stücke auf ihren Kantianismus halten, genau dies nicht nur praktizieren, sondern auch propagieren. […]. Wenn die Philosophie seit Leibniz und Wolff Fortschritte gemacht hat, dann wird sie wohl auch seit Kant Fortschritte gemacht haben. Die neukantianische Parole ,Zurück zu Kantʻ kann daher nicht so gedeutet werden, als ginge es darum, diese Fortschritte wieder rückgängig zu machen. Sie meint vielmehr, dass man bei der Lösung heutiger Probleme bei dem anknüpfen sollte, was Kant schon erreicht hat.“ (Seel 2010, S. 190 f.).
0.3 Forschungsstand im Hinblick auf die Themen Raum und Zeit bei Kant
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Philosophiegeschichte drohen in Vergessenheit zu geraten, hat die Kant-Literatur das Luxusproblem, dass „auch kein Kant-Spezialist mehr zu überblicken vermag“, was die „extensive Publikationstätigkeit“ in diesen Bereich betrifft, was aber bei einer „zweihundert Jahre umfassenden Interpretationsgeschichte [auch nicht] verwunderlich“⁵⁵ sein dürfte. Ein erster Überblick zum Forschungsstand in der Kant-Literatur bezüglich Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit und im Hinblick auf die obigen Fragen aus Kapitel 0.1 soll im folgenden Teilkapitel gegeben werden.
0.3 Forschungsstand im Hinblick auf die Themen Raum und Zeit bei Kant Wie das Einführungskapitel 0.1 bereits angedeutet hat, stellen Raum und Zeit als Formen des sinnlichen Erkenntnisvermögens eine elementare Säule der kantischen Erkenntnistheorie und Ontologie dar. Wie das vorherige Kapitel 0.2 ferner zeigte, gehen die Meinungen bereits bei der Frage, wie eine Kant-Rezeption bzw. Kant-Interpretation auszusehen hat und worin das eigentliche Ziel einer Interpretation besteht, grundsätzlich auseinander. Vor diesem Hintergrund ist es schwierig, die verschiedenen Interpretationsansätze unter einem gemeinsamen Gesichtspunkt bzw. einer Fragestellung zusammenzufassen und aufeinander zu beziehen. Hinzu kommt, dass die Fülle an Publikationen allein zur transzendentalen Ästhetik „so überwältigend [ist], dass es aussichtslos ist, den „status quaestionis“ […] im Jahr 2009 [und erst recht im Jahr 2021] erklimmen und darlegen zu wollen„⁵⁶. Dass eine Untersuchung vor diesem Hintergrund in der Auseinandersetzung mit der Kant-Literatur „auswählen muß, bedarf keiner weiteren Begründung“⁵⁷. Doch auch wenn eine Auseinandersetzung mit dieser Literatur stets eine Auswahl darstellt, sollte jede Untersuchung bemüht sein, zumindest die grundsätzlichen Interpretationsstränge zu einem Thema bei Kant abzubilden. Konzentriert sich ein Interpret zu einseitig auf einen bestimmten Interpretationsstrang, droht eine Wiederholung von bereits Geschriebenem oder im schlimmsten Fall eine zu oberflächliche Untersuchung, die zu Resultaten führt, die unter Berücksichtigung von Kritikpunkten, die in einem anderen Strang der Literatur Erwähnung finden, nicht ohne Weiteres bestehen bleiben können. Im Klemme 2010, S. 86. Brandt 2010, S. 15 (Hervorhebung aufgehoben). Gerhardt / Kaulbach 1979, S. 1. Gerhardt und Kaulbach schätzen, dass „zwischen 1953 und 1978 allein im westeuropäischen Sprachbereich mindestens 4000 einschlägige Kantarbeiten erschienen“ (Gerhardt / Kaulbach 1979, S. 1) sind.
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0 Einführung: Problem, Methode, Forschung und Geschichte
Folgenden wird daher die Kant-Literatur im Hinblick auf die Themen Raum und Zeit systematisch wiedergegeben, sodass zumindest die grundsätzlichen Interpretationsmöglichkeiten in diesem Themenkontext deutlich werden – auch wenn dabei nicht alle Nuancen der einzelnen Interpretationswege aufgegriffen werden können. Gleichwohl wird sich zeigen, dass sich die Diskussion der mannigfaltigen Interpretationen als fruchtbar erweisen wird, um die Vielschichtigkeit der Themen Raum und Zeit bei Kant aufzuzeigen und um auf diese Weise den Antworten auf die in Kapitel 0.1 aufgeworfenen Fragen näherzukommen. Dabei kann prima facie konstatiert werden, dass nur wenige Themen in der Kant-Literatur so intensiv diskutiert wurden, wie die Themen Raum und Zeit. Das hängt einerseits mit ihrer philosophiegeschichtlichen Einbettung in die Diskussion der Philosophie der Neuzeit zusammen und anderseits mit ihrer Bedeutung für die kantische Systematik selbst.⁵⁸ Es ist in Anbetracht dieser Bedeutung verwunderlich, dass es bei der Vielzahl an Auseinandersetzungen mit diesem Theoriestück der kantischen Philosophie bis heute keine umfangreiche Monographie gibt, die Kants Entwicklung zu den Themen Raum und Zeit von der vorkritischen Phase bis ins Opus postumum genetisch nachverfolgt, untersucht und rekonstruiert. Die meisten Interpreten konzentrieren sich auf Kants Ausführungen in der transzendentalen Ästhetik der KRV oder auf einzelne Zeitabschnitte in Kants denkerischer Entwicklung. Gedanken oder Entwicklungstendenzen außerhalb der KRV werden allenfalls angeführt, um die einzelnen Interpretationen zu bekräftigen.Vaihingers ausführlicher Kommentar zur transzendentalen Ästhetik kann hierzu als Paradebeispiel dienen.⁵⁹ Selbst die neuere Monographie von Michel konzentriert sich bereits mit dem Titel Untersuchungen zur Zeitkonzeption in Kants Kritik der reinen Vernunft hauptsächlich auf die Ausführungen in der KRV. ⁶⁰ Während Michel sich dabei auf die Zeit konzentriert, fasst Unruh in seiner Monographie Transzendentale Ästhetik des Raums die Raumkonzeption in der KRV ins Auge.⁶¹ Gleichwohl geht Letzterer – wenn auch nur auf rund 28 Seiten seiner Monographie und auch nur in Bezug auf den Raum – auf die vorkritische Periode ein und versucht somit zumindest „knapp Kants Entwicklung von der ersten veröffentlichten
Zum philosophiegeschichtlichen Umfeld der Raum- und Zeitdiskussion bei Kant siehe das nächste Kapitel 0.4. Siehe Vaihinger 1922b. Siehe die Fragestellung Michels Dissertation in Michel 2003, S. 10 ff. Die Dissertation Kants Theorie der Zeit-Konstruktion von Nakajima beschränkt sich ebenfalls bereits mit der Fragestellung auf die KRV. Explizit werden Kants Überlegungen im Opus postumum aus der Untersuchung ausgeschlossen. Vgl. Nakajima 1986, S. 5. Siehe die Fragestellung Unruhs Dissertation in Unruh 2007, S. 13 f.
0.3 Forschungsstand im Hinblick auf die Themen Raum und Zeit bei Kant
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Schrift bis zur Monadologia physica [MCG]“⁶² zu rekonstruieren. Neben diesen aktuellen Forschungsergebnissen sind hier auch ältere Untersuchungen zu nennen: Eine im Vergleich zur Herangehensweise der Arbeit von Unruh methodisch vergleichbare Untersuchung lieferte schon Marc-Wogau mit seiner Dissertation Untersuchungen zur Raumlehre Kants aus dem Jahr 1932. Für das Themengebiet der Zeit ist vor allem die Monographie von Al-Azm, Kantʼs Theory of Time, aus dem Jahr 1967 zu nennen, der sich zwar mit der vorkritischen Phase beschäftigt, aber in Bezug auf die Zeit nach 1770 explizit auf die transzendentale Ästhetik konzentriert bleibt.⁶³ Eine weitere ältere und vielzitierte Untersuchung, die zwar nicht chronologisch, jedoch unter systematischen Gesichtspunkten auf verschiedene Publikationsperioden Kants eingeht, ist die Monographie von Dietrich, der sich vor allem auf Kants Begriff des Ganzen bzw. des Kontinuums konzentriert. Diese knapp 150-seitige Untersuchung ist allerdings über 100 Jahre alt. Ferner entwickelt Dietrich auch keine genetische, sondern eher eine systematische Rekonstruktion der kantischen Auseinandersetzung mit Raum und Zeit, um sie im Hinblick auf ihre kontinuierliche Struktur zu thematisieren.⁶⁴ Natürlich haben sich seit diesen älteren Arbeiten viele neue Einsichten, aber auch Probleme in der Kant-Literatur ergeben, sodass Unruhs Neuauflage einer Untersuchung für den Raum und Michels für die Zeit notwendig waren. Gleichwohl erscheinen MarcWogaus und Al-Azms Untersuchungen zumindest im Hinblick auf die vorkritische Phase gegenüber den Untersuchungen von Unruh und Michel umfangreicher. Insbesondere Marc-Wogau widmet sich den historischen Vorläufern sowie der vorkritischen Phase ausführlicher und verfolgt die Entwicklung der kantischen Raumlehre von der Erstlingsschrift bis ins Opus postumum. Trotzdem fallen die Ausführungen zum Opus postumum mit knapp sechs Seiten zu kurz aus, um diese Schaffenszeit Kants im Hinblick auf die Themen Raum und Zeit zur Genüge evaluieren zu können, sodass noch immer eine vollumfängliche Untersuchung zu Kants Entwicklung bezüglich Raum und Zeit aussteht – vor allem im Hinblick auf
Unruh 2007, S. 42. Im ersten Teil der Monographie geht Al-Azm auf Kants vorkritisches Zeitkonzept ein, betont jedoch im zweiten Teil explizit, dass er sich bei der kritischen Periode auf die transzendentale Ästhetik konzentriert. Vgl. Al-Azm 1967, S. 29. Vgl. Dietrich 1916. Genetische Interpretationen, die jedoch eher als Zusammenfassungen zu lesen sind, finden sich vereinzelt in umfangreichen Reihen zum Raum- und Zeitbegriff in der Philosophiegeschichte. Hier sind vor allem die Ausführungen von Gent und Gosztonyi zu nennen. Vgl. Gosztonyi 1976, S. 400 – 456 und Gent 1926, S. 257– 273 sowie Gent 1930, S. 1– 136. Diese Versuche sind jedoch im Rahmen ihrer Einbettung in solchen Reihen beschränkt und letztlich auch nicht tiefgreifend genug, um als Bestandteil einer Kant-Literatur betrachtet zu werden, die sich spezifisch mit der Entwicklung bei Kant beschäftigt – zumal Beiträge in solchen Reihen die Thesen und Diskussionen in der Fachliteratur bestenfalls streifen.
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0 Einführung: Problem, Methode, Forschung und Geschichte
aktuelle Diskussionen in der Kant-Literatur.⁶⁵ Entscheidende Unterschiede zwischen den erwähnten Untersuchungen und der hiesigen liegen somit darin, dass hier erstens von vornherein beide Formen – Raum und Zeit – mit in den Blick genommen werden. Unruh geht beispielsweise so gut wie gar nicht auf die Zeit ein, da sein Fokus von vornherein nur auf dem Raum liegt.⁶⁶ Marc-Wogau thematisiert die Zeit ebenfalls nur nebensächlich. Ähnlich sieht es bei den Untersuchungen von Al-Azm und Michel im Hinblick auf den Raum aus. Bereits Cohen mahnt jedoch an: „Es ist ein verhängnisvoller Fehler, dass man fast durchgängig ausschliesslich oder vorwiegend Kants Lehre vom Raume diskutiert, nicht aber die von der Zeit mitberücksichtigt hat.“⁶⁷ Hier ließe sich noch ergänzen, dass Gleiches natürlich auch umgekehrt gilt. Zweitens endet die Untersuchung hier nicht – wie etwa bei Unruh – mit einem (siebenseitigen) Hinweis auf das Thema Raum in der KU oder einer (sechsseitigen) Notiz – wie eben bei Marc-Wogau – zum Opus postumum, sondern wendet sich ausführlicher der KU und dem Opus postumum bzw. Kants späteren Überlegungen zu, womit schließlich ein umfänglicher Blick auf Kants Entwicklung zu diesen Themen ermöglicht wird.⁶⁸ Dass ein derartig umfassender Blick nunmehr gefragt ist, zeigt sich auch an der aktuellen Publikationssituation der Kant-Forschung. In den letzten Jahrzehnten ist das Interesse an Kants vorkritischer Phase insgesamt gestiegen, sodass vermehrt Ansätze in der Literatur zu verzeichnen sind, die sich mit Kants Entwicklung bis zur kritischen Phase beschäftigen. Dabei ist in letzter Zeit besonders das Interesse an Kants Schrift Über die Gegenden von 1768 gestiegen.⁶⁹ Die Auseinandersetzungen, die sich mit dieser Phase bei Kant im Hinblick auf die Themen Raum und Zeit beschäftigen, enden jedoch in der Regel bei Kants Eintritt in die kritische Phase bzw. mit der KRV. Einige Interpreten sehen hier sogar den Schlussstein von Kants Entwicklung zu den Themen Raum und Zeit bzw. die „endgültige Gestalt“⁷⁰ seiner Lehre von denselben. Sie gehen daher auf Kants
Vgl. Marc-Wogau 1932, S. 310 – 315. Es wird sich im Laufe der Arbeit zeigen, dass gerade die Thematisierung der Zeit für das Verständnis des Raums im Hinblick auf die Frage nach der Objektivität seiner Inhalte von grundlegender Bedeutung ist, was Unruh offensichtlich unterschätzt, wenn er die Zeit bei der Thematisierung des Raums an entscheidender Stelle übergeht, wie seine allzu kurzen Ausführungen zum Schematismus zeigen. Vgl. Unruh 2007, S. 303 – 309 und dagegen die hiesigen Ausführungen in Kapitel 2.2.3. Cohen 1918, S. 257. Die Untersuchungen von Michel und Al-Azm gehen gar nicht auf Kants spätere Jahre (bzw. auf die Zeit nach der KRV) ein. Vgl. beispielsweise Buroker 1981, Frederick 1991, Mühlhölzer 1992, Falkenburg 2000, S. 99 – 135 oder jüngst auch Lyre 2005 und Lyre 2012, S. 85 – 92. Für Weiteres siehe Kapitel 1.3. Gent 1930, S. 44.
0.3 Forschungsstand im Hinblick auf die Themen Raum und Zeit bei Kant
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Spätwerk gar nicht mehr ein.⁷¹ Dück stellt hierzu kritisch fest: „Die Überlegungen Kants zum ,empirischen Übergangʻ in den M.A. [MAN] sowie im ,Opus postumumʻ werden innerhalb der Kantrezension erst in den letzten Jahren berücksichtigt, obwohl sie den transzendentalen Raumbegriff entscheidend modifizieren.“⁷² Nicht überraschend sehen vor diesem Hintergrund andere Interpreten wie etwa Baumgarten in der Auseinandersetzung mit Kants handschriftlichem Nachlass im Hinblick auf die Themen Raum und Zeit sogar ein zwischenzeitliches Abweichen „von der Grundannahme seiner kopernikanischen Wende“⁷³. Wiederum andere sehen im Opus postumum einen entscheidenden inhaltlichen Fortschritt in Kants Raum- und Zeitlehre. Beispielsweise betont Dörflinger in seinem Aufsatz Der Fortschritt in Kants Reflexionen über den Raum, dass „Kants Denken über das Formale des reinen Anschauens […] signifikante Stufen einer Entwicklung auf[weist]“⁷⁴. Kants späte Überlegungen im Opus postumum interpretiert Dörflinger im Hinblick auf die KRV als „eine Entwicklung hin zu einem angemesseneren Verständnis jenes Formalen der Sinnlichkeit des Erkenntnisvermögens“⁷⁵. Diese kurzen Hinweise zum Spätwerk Kants im Hinblick auf die Themen Raum und Zeit zeigen bereits, dass eine Monographie, die Kants Auseinandersetzungen mit den Themen Raum und Zeit von der vorkritischen Phase bis hin ins Opus postumum beleuchtet und nachverfolgt, ein Forschungsdesiderat darstellt. Vor allem die Thematisierung beider Anschauungsformen in einer Untersuchung wird sich als fruchtbar erweisen, da Kants Auseinandersetzung mit der einen Anschauungsform stets Folgen für die andere Anschauungsform impliziert. Diese Dependenzen aufzudecken, führt zur Erlangung eines fundierten Entwicklungsverständnisses von Kants Konzeption der sinnlichen Formen. Dabei wird sich ferner zeigen, wieso es gerade bei einem Systemdenker wie Kant wichtig sein wird, das Thema nicht punktuell, sondern global zu erörtern, sodass die wesentlichen Punkte aufeinander bezogen werden und eine zu einseitige Interpretation vermieden wird.
So offensichtlich auch Unruh, der – wie oben erwähnt – nach der Auseinandersetzung mit der KRV zu einem raschen Ende seiner Monographie kommt. Allenfalls die wenigen Seiten zum Schluss deuten eine thematische Verbindung zwischen Kants Raumkonzeption mit dem ästhetischen Phänomen des Erhabenen an, ohne dass dieser Zusammenhang wirklich herausgearbeitet wird. Vgl. Unruh 2007, S. 337– 343. Wie ferner oben angedeutet, ist auch Marc-Wogaus abschließender Hinweis aufs Opus postumum zum Schluss seiner Dissertation ähnlich zu bewerten. Vgl. Marc-Wogau 1932, S. 310 – 315. Dück 2001. S. 159. Baumgarten, H. 2001, S. 499. Dörflinger 2002, S. 11. Dörflinger 2002, S. 11.
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0 Einführung: Problem, Methode, Forschung und Geschichte
Doch nicht nur unter dem Aspekt einer fehlenden globalen Untersuchung im Hinblick auf die Publikationssituation zu diesem Thema erscheint eine Monographie notwendig, sondern insbesondere auch im Hinblick auf die inhaltliche Diskussion in der Kant-Literatur erhärtet sich dieser Eindruck: Bereits ein erster Überblick zeigt nämlich, dass die Interpretationsansätze nicht nur vom Grundsatz und vom Umfang her, sondern auch inhaltlich weit auseinander gehen und zu sehr unterschiedlichen Ideen bei der genauen Vorstellung Kants bezüglich Raum und Zeit bzw. bei der Beantwortung der Fragen aus Kapitel 0.1 geführt haben. Insbesondere die Beantwortung der Frage 0.2, die nach der grundsätzlichen Vorstellungsart von Raum und Zeit innerhalb der kantischen Systematik fragt, hat – prima facie überraschend – zu sehr divergierenden Positionen geführt, die parallel zueinander in der Literatur diskutiert werden, ohne dass sie bisher umfänglich aufeinander bezogen wurden. Dabei herrscht zunächst Konsens darüber, dass Kant spätestens mit seiner kritischen Wende Raum und Zeit als reine Anschauungen des Subjekts versteht. Doch bereits an der Frage, ob sie darüber hinaus auch Begriffe sein können, scheiden sich die Geister: Während Vaihinger interpretiert, Kant meine mit den neuen Überschriften in der zweiten Auflage der transzendentalen Ästhetik keinesfalls, dass Raum und Zeit im strengen Sinne Begriffe seien⁷⁶, weisen beispielsweise Cramer oder auch Heinrich darauf hin, dass sie zwar ursprünglich keine Begriffe sein dürfen, sehr wohl jedoch sekundär als von der ursprünglichen Vorstellung abgeleitete Begriffe verstanden werden können.⁷⁷ Wohlfart hingegen interpretiert Kants Bezeichnung von Raum und Zeit als Begriffe nicht nur als eine methodische Charakterisierung, sondern wortwörtlich. Er hält Kants Argumente in der Ästhetik, die gegen den Begriffscharakter von Raum und Zeit gerichtet sind, zwar für eine Argumentation gegen die Vorstellung, dass Raum und Zeit Verstandesbegriffe, jedoch nicht dagegen, dass sie Vernunftbegriffe sind. Auf diesen Umstand macht auch Brandt aufmerksam.⁷⁸ Doch statt wie Brandt bei der Kritik an Kant stehenzubleiben, geht Wohlfart weiter: Er betont, dass Kants Ausführungen zu Raum und Zeit als unendliche Vorstellungen sogar eine formelle Nähe zu den Ideen aufweisen, die sich für eine entsprechende Interpretation als fruchtbar erweisen könnten. Wohlfart verweist hierzu auf eine Stelle aus dem Opus postumum, wonach sogar Kant selbst die reine Anschauung mit den Ideen assoziiert haben soll.⁷⁹ Heinrich nimmt diesen Ansatz
Vgl. Vaihinger 1922b, 157 f. Vgl. Cramer 1985, S. 175 Anm. und Heinrich 1986, S. 120. Vgl. Brandt 1998, S. 101. Kant schreibt: „Ideen sind nicht Begriffe sondern reine Anschauungen nicht discursive sondern intuitive Vorstellungen denn es ist nur Ein solcher Gegenstand.“ (AA XXI, 79). Vgl. hierzu Wohlfart 1980, S. 145.
0.3 Forschungsstand im Hinblick auf die Themen Raum und Zeit bei Kant
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Wohlfarts ernst und bedauert, dass hierzu bis dato keine umfangreiche Untersuchung in der Kant-Literatur erfolgt ist.⁸⁰ Bereits Marc-Wogau betont, dass der „Versuch, den Raum als reine unendliche Form mit der Idee gleichzustellen, […] nicht gänzlich grundlos zu sein [scheint]“ und daher auch nicht „ohne weiteres verworfen werden darf“⁸¹. Riehl und Dietrich hingegen raten dem Leser, auf Äußerungen Kants, wonach beispielsweise der Raum eine „Idee“⁸² sein soll, wie es expressis verbis in den MAN heißt, „nicht allzuviel Gewicht zu legen“⁸³. Schließlich scheint prima facie eine solche Charakterisierung schwerlich in Kants Systematik integrierbar. Dennoch ist festzustellen, dass neben der Position, wonach Raum und Zeit ausschließlich Anschauungsformen sind und der Position, dass sie daneben auch als Begriffe verstanden werden können, noch eine dritte Position bzw. ein dritter Interpretationsstrang in der Kant-Forschung zu konstatieren ist, wonach Raum und Zeit bei Kant auch als Ideen verstanden werden können. Hier zeigt sich schon der Zusammenhang zwischen der Interpretationsfrage 0.2 und der Interpretationsfrage 0.3 aus Kapitel 0.1. Es stellt sich nämlich die Frage: Sind Raum und Zeit bei Kant vor dem Hintergrund der Heterogenitätsthese, wonach Verstand und Sinnlichkeit nicht aufeinander reduzierbare Erkenntnisvermögen sind, nichts weiter als reine Anschauungen? Oder sind sie darüber hinaus auch Verstandesbegriffe oder sogar Vernunftbegriffe? Wie sich damit bereits andeutet, hat die eine oder andere Interpretation weitreichende Konsequenzen für Kants Raum- und Zeitkonzept innerhalb der Systematik seiner Erkenntnisvermögen zur Folge, denn in diesem Zusammenhang wird auch das Verhältnis zwischen Sinnlichkeit und Verstand verstärkt diskutiert, wodurch eine natürliche Überleitung zur Interpretationsfrage 0.3 entsteht. Bereits in der Ästhetik spricht Kant davon, dass die Anschauungsformen das „Setzen seiner [des Gemüts] Vorstellung“⁸⁴ seien, womit eine gewisse Spontanität angedeutet wird, die jedoch ein grundsätzliches Strukturmerkmal des Verstandes als spontanes Vermögen darstellt und ihn von der Sinnlichkeit als rezeptives Vermögen unterscheidet. Die Verquickung beider Vermögen in Bezug zu den Anschauungsformen lässt sich – wie in Kapitel 0.1 schon gesehen – gerade an der viel zitierten Anmerkung B160 f. diskutieren. Wie bereits ausgeführt, scheint hier eine einheitliche Vorstellung vom Raum durch die Synthesis des Verstandes bedingt zu sein.
Vgl. Heinrich 1986, S. 211. Marc-Wogau 1932, S. 212. Vgl. hierzu auch Simon 1969, S. 248 – 252. AA IV, 559. Riehl 1924, S. 464. Dietrich spricht von einem bloßen „Nebengebrauch“ (Dietrich 1916, S. 82) bei der Bezeichnung des Raums als Idee und schließt sich der Einschätzung von Riehl an. Vgl. Dietrich 1916, S. 82. B67.
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0 Einführung: Problem, Methode, Forschung und Geschichte
Während Kemp Smith diesbezüglich Kants Konzeption als „out of harmony“⁸⁵ betrachtet, sieht sich Ebbinghaus bestärkt darin, dass das Lehrstück aus der Anmerkung B160 f. von vornherein in der transzendentalen Ästhetik mitgedacht werden muss, um den „Meinungsverschiedenheiten“⁸⁶ bezüglich Kants apriorischer Raumkonzeption zu begegnen.⁸⁷ Mohr sieht wiederum in Kants Äußerungen in der Ästhetik, wonach die Form der Anschauung durch das „Setzen“ von Vorstellungen als eine „Thätigkeit“⁸⁸ des Gemüts verstanden wird, eine „sachliche Schwierigkeit“ im Hinblick auf „Kants Heterogenitätsthese“⁸⁹ bezüglich der Ungleichartigkeit der Erkenntnisvermögen. Klemme spricht mit Blick auf die Anmerkung B160 f. gar von einer „Intellektualisierung der transzendentalen Ästhetik“⁹⁰. Ähnlich stellt dies auch Brandt dar.⁹¹ Heidemann konstatiert vor dem Hintergrund, dass in der Zeit bereits „geeintes Mannigfaltiges“ auftritt, der Verstand aber das eigentliche Vermögen der Verbindung darstellt, ein „Dilemma“, für das in der Kant-Literatur grundsätzlich zwei Lösungen angeboten werden: „die These der ursprünglichen Identität von Denken und Zeit und die entgegengesetzte These, in der die Bedingung der Sinnlichkeit auf die Gegenstandserfahrung eingeschränkt wird“⁹². Auch Natterer verzeichnet einen „Streit der jüngsten Kantauslegung“ hinsichtlich der Frage, „ob Raum und Zeit durch die rezeptiven Anschauungsformen, oder durch die transzendentale Spontaneität der Synthesis der Einbildungskraft gegeben werden“⁹³. In der englischsprachigen Literatur wird hier zwischen zwei grundsätzlichen Lesarten unterschieden: Messina und im Anschluss auch Roche unterscheiden bei den verschiedenen Interpretationsansätzen zwischen „Synthesis Reading“ und „Brute Given Reading“⁹⁴.Wie die Namen schon erahnen lassen, werden beide Lesarten durch ihre Antwort auf die Frage differenziert, ob die Einheit von Raum und Zeit synthetisch durch den Verstand hervorgebracht wird oder einfach in der Sinnlichkeit gegeben ist.⁹⁵ In concreto
Kemp Smith 1923, S. 95. Ebbinghaus 1973, S. 57. Vgl. Ebbinghaus 1973, S. 57– 61. B67 f. Mohr 1998, S. 126. Vgl. auch schon Vaihinger 1922b, S. 22 ff. und ferner Heidemann, I. 1958, S. 140 sowie Allison 1983, S. 265 ff. Klemme 1996, S. 170. Vgl. Brandt 1998, S. 91. Heidemann, I. 1958, S. 44 f. Natterer 2003, S. 148. Messina 2014, S. 8 (Hervorhebung von mir). Vgl. Messina 2014, S. 5 – 10; Messina 2011, S. 89 ff. und Roche 2018, S. 41– 48. Messina versucht dabei mit einer eigenen Interpretation zwischen beiden Interpretationsarten zu vermitteln. Sie
0.3 Forschungsstand im Hinblick auf die Themen Raum und Zeit bei Kant
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entzündet sich dieser Streit vor allem an der Frage, welche Stellung die formale Anschauung hat und wie ihr Verhältnis zu Raum und Zeit als Formen der Anschauung zu verstehen ist. Die meisten Interpreten sehen in der formalen Anschauung eine Thematisierung von Raum und Zeit als durch den Verstand bestimmte Formen, sodass erst in der gegenständlichen Vorstellung Raum und Zeit als Einheiten begriffen werden können.⁹⁶ Rohs geht sogar so weit, dass Raum und Zeit ihm zufolge überhaupt nicht als reine Anschauungen betrachtet werden können, da eine einheitliche Vorstellung stets die Apprehension empirischer Inhalte durch den Verstand voraussetzt.⁹⁷ Friedman argumentiert, dass die formale Anschauung neben einer mathematischen auch eine dynamische bzw. erkenntniskonstituierende Anwendung haben muss.⁹⁸ Der Anmerkung B160 f. folgend hieße dies, dass die ursprüngliche Form der Anschauung nur aus Mannigfaltigkeiten bestehen würde, die zur Einheit durch den Verstand zwecks Erkenntnis von konkreten dynamischen Verhältnissen in der Welt synthetisiert werden. Baumgarten sieht in der Anmerkung bzw. Kants Einführung der formalen Anschauung einen ersten Versuch, den Verstand und die Sinnlichkeit genetisch zusammenzudenken, sodass erklärlich wird, wie der Verstand Raum und Zeit als Formen der Sinnlichkeit ursprünglich erzeugt.⁹⁹ Auch für Klemme soll die Anmerkung B160 f. erklären, wie eine einheitliche Vorstellung der Anschauungsformen erzeugt werden kann.¹⁰⁰ Carl behauptet hinsichtlich der Anmerkung B160 f., dass die ursprüngliche Einheit von Raum und Zeit vom Verstand hervorgebracht wird.¹⁰¹ Böhme schreibt: Zeit also kann nur als Quantum begriffen werden über den Umweg empirischer Zeitbestimmung und ihrer Anschauung unter dem Bild des Raumes. Deshalb ist die Zeit nur, insofern sie mit einer empirischen Veränderung und im Bilde einer Linie angeschaut wird, ein Quantum. Ein quantum continuum kann sie endlich nur sein, insofern ihr als unter dem Bilde einer Linie angeschauter deren Teilbarkeitseigenschaften mitfolgend zukommen.¹⁰²
Doch hier kehrt Böhme das von Kant beschriebene Abhängigkeitsverhältnis einfach um. Raum und Zeit sind demnach nicht ursprünglich, sondern nur abgeleitet
nennt ihren Ansatz „Part-Whole-Reading“ (Messina 2014, S. 9 (Hervorhebung von mir)). Zur Kritik an diesem Ansatz siehe die Ausführungen in Kapitel 2.2. Vgl. beispielsweise Michel 2003, S. 183 ff. oder Allison 1983, S. 160 – 167. Vgl. Rohs 1973, S. 83. Vgl. Friedman 1992, S. 197– 202. Vgl. Baumgarten, H. 1997, S. 425. Vgl. Klemme 1996, S. 170. Vgl. Carl 1998, S. 205 f. Böhme 1986, S. 66.
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als formale Anschauungen kontinuierlich. Ihre Kontinuität ergäbe sich demnach erst bei den Erfahrungsgegenständen. Wie aber in Kapitel 0.1 gesehen, erscheint eine solche Lösung vor dem Hintergrund des Anspruchs der transzendentalen Ästhetik an Raum und Zeit als kontinuierliche Formen zu vorschnell. Zu Recht beklagt daher beispielsweise Kemp Smith, dass neben dem völlig unklaren Status und Ursprung eines noch nicht synthetisierten und unverbundenen Mannigfaltigen von Raum und Zeit unklar bleibt, wie eine solche Interpretation mit Kants Kontinuitätsanspruch zusammenhängen soll.¹⁰³ Berechtigterweise merkt daher Gloy gegenüber der Interpretation von Böhme an: „Mit seiner [Böhmes] Theorie der Synthesis der diskreten Augenblicke zum quantum continuum bietet er aber auch keinen überzeugenden Lösungsvorschlag.“¹⁰⁴ Werden die Überlegungen in der transzendentalen Ästhetik berücksichtigt, kann die ursprüngliche Einheit von Raum und Zeit nämlich entgegen einer ersten Einschätzung der Anmerkung B160 f. nicht durch den Verstand synthetisiert werden – jedenfalls nicht ursprünglich.¹⁰⁵ Die Frage nach dem grundsätzlichen Vorstellungscharakter von Raum und Zeit (Frage 0.2) führt somit zu der Frage nach dem Verhältnis zwischen rezeptiver Sinnlichkeit und spontanem Verstand (Frage 0.3). Beide Fragen lassen sich jedoch nicht begründet beantworten, wenn nicht zuvor geklärt wird, welche genaue Struktur Raum und Zeit aufweisen (Frage 0.1). Somit führt auch die Auseinandersetzung mit der Kant-Literatur zu den entscheidenden Interpretationsfragen aus Kapitel 0.1: Die Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Status der Vorstellung von Raum und Zeit (Frage 0.2) im Zusammenhang mit der Frage nach der systematischen Stellung dieser Vorstellung (Frage 0.3) mündet in der Frage nach der genauen Struktur von Raum und Zeit bei Kant (Frage 0.1). Diese erste Auseinandersetzung mit der Kant-Literatur – die im weiteren Verlauf der Arbeit noch vertieft werden soll – zeigt, dass bereits bei den einfachsten Fragen ein Dissens in der Kant-Literatur zu vernehmen ist und dass dieser Dissens zu tiefgreifenden Folgeproblematiken sowohl in der Kant-Literatur als auch bei Kant selbst führt. Viele Argumentationen aus der Kant-Literatur laufen dabei parallel aneinander vorbei und werden nicht aufeinander bezogen. Dieser problematische Umstand kann jedoch auch eine Chance sein: „Methodisch orientiertes Verstehen nimmt seinen Ausgang im Vormethodischen; Missverstehen und Dissens mag hierzu motivieren.“¹⁰⁶ Der Dissens in der Kant-Literatur deutet darauf hin, dass hier eine kontextualisierende Interpretation von Nöten ist, Vgl. Kemp Smith 1923, S. 97. Gloy 1990, S. 74 Anm. Vgl. hierzu die dargestellte Möglichkeit der Synthese von konkreten bzw. bestimmten Räumen und Zeiten in Kapitel 2.2. Loh 2010, S. 106.
0.3 Forschungsstand im Hinblick auf die Themen Raum und Zeit bei Kant
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die die Struktur von Raum und Zeit bei Kant analysiert und systematisch in Bezug zu Kants Vorstellungssystematik setzt.¹⁰⁷ Gerade bei der Frage, was für eine Vorstellungsart Raum und Zeit darstellen, wird sich im zweiten Kapitel zeigen, dass sich durchaus synergetische Effekte ergeben können, wenn die verschiedenen Interpretationswege in einer Diskussion miteinander verknüpft und einander gegenübergestellt werden. Dabei wird sich ferner zeigen, dass es anhand von Kants unterschiedlichen Ausführungen zu den Themen Raum und Zeit durchaus nachvollziehbar ist, dass es zu unterschiedlichen Interpretationsansätzen in der Literatur gekommen ist. Jüngere Tendenzen in der englischsprachigen Literatur betonen ebenfalls, dass eine zu einseitige Interpretation im Hinblick auf den zugrunde liegenden Text oftmals in interpretative Sackgassen führt: For the most part, scholarship on the Transcendental Deduction has not yet recognized the debate between these readings [Synthesis Reading and Brute Given Reading] as at an impasse. Commentators tend to take one of the two foregoing sides. I have come to think that his strategy is a mistake.¹⁰⁸
Es wird daher wichtig sein, die umfangreiche Literatur zu dem Thema einzufangen und aufeinander zu beziehen, damit die Diskussionen nicht parallel aneinander vorbeilaufen, sondern sich – soweit dies möglich ist – zu einem Gesamtkonzept bezüglich Kants Entwicklung bei den Themen Raum und Zeit verbinden. Auch dies ist ein wichtiger Unterschied zu den oben genannten Monographien: Gerade Unruh verschafft sich mit seinem „exemplarisch“¹⁰⁹ dargestellten Forschungsstand keinen adäquaten Überblick über die grundsätzlichen Interpretationsstränge, sodass er es versäumt, die Literatur zu diesem Thema auszudifferenzieren und systematisch aufeinander zu beziehen.¹¹⁰ Ein solches Anliegen verfolgt jedoch die hiesige Untersuchung. Nach der hiesigen Sichtung der Literatur erfolgt mit dieser Untersuchung erstmals eine systematische Gegenüberstellung der drei grundsätzlichen Interpretationsstränge bezüglich der Frage, als was für eine Art von Vorstellung Raum und Zeit bei Kant zu verstehen sind. Diese Monographie stellt auch einen ersten Versuch dar, die Diskussionen und Interpreten der oben vorgestellten Interpretationsstränge zusammenzuführen. Um eine Loh legt den Finger in die Wunde, wenn er betont, dass im Zuge der eigenen Textauslegung in der Kant-Literatur häufig zu wenig auf alternative Interpretationen eingegangen worden ist: „Und die über zweihundertjährigen Kant-Forschungen sind voll von Bezichtigungen, man habe die Kritische Philosophie nicht verstanden. Es mag daran gelegen haben, dass man lösungsfixiert sich nicht hinreichend auf zu erwägende Alternativen einließ.“ (Loh 2010, S. 131). Roche 2018, S. 42. Vgl. ferner Messina 2014, S. 9; S. 22– 28. Unruh 2007, S. 14. Vgl. Unruh 2007, S. 14– 18.
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im Sinne von Kapitel 0.2 rationale und konstruktive Diskussion führen zu können, konzentriert sich diese Arbeit auf textimmanente Interpretationen.
0.4 Philosophiegeschichtliche Einführung in Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit Bereits Ameriks betont: „Anyone taking a serious historical approach to Kant must from the very start attend to the general historical context of his work as the centrepiece of modern philosophy.“¹¹¹ Aufgrund des begrenzten Umfangs dieser Einführung kann hier keine vollumfängliche philosophiehistorische Einordnung der kantischen Philosophie geleistet werden. Gleichwohl soll hier einleitend auf die zu Beginn der Publikationstätigkeit Kants zentrale Diskussion bezüglich der Themen Raum und Zeit eingegangen werden, von der Kant direkt beeinflusst wurde und die somit für das Verständnis der kantischen Argumentation – insbesondere in der vorkritischen Phase – wichtig ist. Ausschlaggebend für die Diskussion zu dieser Zeit bezüglich der Themen Raum und Zeit war der Briefwechsel zwischen Leibniz und Clarke aus den Jahren 1715 und 1716. In diesen Briefen konfrontiert Leibniz die newtonsche Theorie und Metaphysik mit wesentlichen Kritikpunkten u. a. im Hinblick auf die Raum- und Zeitkonzeption. Es wird sich im Hauptteil dieser Arbeit zeigen, dass die Berücksichtigung dieser Auseinandersetzung an wesentlichen Stellen auf Kants Denkweg von Bedeutung für das Verständnis der Argumentation Kants sein wird. Vor diesem Hintergrund lohnt es sich, vorab auf einige wichtige Punkte in diesem Briefwechsel einzugehen. Um die Kritik von Leibniz zu verstehen, ist es wichtig, zunächst auf Newtons Position einzugehen: Wesentliches über Newtons Raum- und Zeitkonzept lässt sich aus seinem Hauptwerk Philosophiae naturalis principia mathematica entnehmen. Prima facie rekurriert Newton dort auf ein Allgemeinverständnis bezüglich der Begriffe Raum und Zeit: „Zeit, Raum, Ort und Bewegung sind allen wohlbekannt.“¹¹² Unmittelbar im Anschluss betont er jedoch, dass das Alltagsverständnis bei der Einschätzung dieser Größe oft Vorurteilen unterliegt, sodass eine genauere Bestimmung dieser Gegenstände notwendig wird. Insbesondere geht es ihm darum, zwischen absoluten und relativen Größen zu unterscheiden.¹¹³
Ameriks 2010, S. 18. Newton 1988, S. 43. „Dennoch ist anzumerken, daß man gewöhnlich diese Größe nicht anders als in der Beziehung auf sinnlich Wahrnehmbares auffaßt. Und daraus entstehen gewisse Vorurteile, zu deren
0.4 Philosophiegeschichtliche Einführung
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Newton nimmt für seine physikalische Theorie einen sowohl von Subjekten als auch von einzelnen Objekten unabhängigen Raum an. Da dieser bei Newton somit als unabhängig von den einzelnen Relationen zwischen den Objekten gedacht wird, nennt Kaulbach den Raum Newtons auch „transrelational“¹¹⁴. In diesem Kontext führt Newton im Hinblick auf Zeit und Raum als absolute Größen Folgendes aus: Die absolute, wirkliche und mathematische Zeit fließt in sich in ihrer Natur gleichförmig, ohne Beziehung zu irgendetwas außerhalb ihrer Liegendem, und man nennt sie mit einer anderen Bezeichnung ,Dauerʻ. […]. Der absolute Raum, der aufgrund seiner Natur ohne Beziehung zu irgendetwas außer ihm existiert, bleibt sich immer gleich und unbeweglich.¹¹⁵
Raum und Zeit sind also nach Newton unveränderliche gleichförmige Größen. Sie sind ferner als absolute Gebilde prinzipiell unendlich und einzigartig, denn sie umfassen alle Teile des Raums und der Zeit.¹¹⁶ Beide Formen sind homogen und kontinuierlich, sodass alle Teile dem Prinzip nach gleich strukturiert sind.¹¹⁷ Obwohl die Zeit selbst im obigen Zitat als eine fließende Größe bezeichnet wird, stellt Newton sich die konkrete Anordnungsstruktur sowohl bei der Zeit als auch bei dem Raum letztlich statisch vor: „Wie die Anordnung der Teile der Zeit unveränderlich ist, so ist es auch die Anordnung der Teile des Raums. Bewegen sie sich nämlich von ihren Plätzen, so bewegen sie sich sozusagen von ihrem eigenen Wesen weg. Denn die Zeitteile und die Raumteile sind gleichsam die Orte ihrer selbst und aller Dinge.“¹¹⁸ Da alle Dinge somit ihren wohldefinierten Platz im absoluten Raum und in der absoluten Zeit haben und entsprechend angeordnet sind, werden Raum und Zeit bei Newton gewissermaßen als Grundstrukturen verstanden. Nicht nur bei Baumgarten, sondern auch bei Newton finden wir die grundsätzliche Beschreibung dieser Anordnung, wie sie Kant auch später beschreibt: „Teile treten nacheinander auf in der Zeit, nebeneinander existierend im
Aufhebung man sie zweckmäßig in absolute und relative, wirkliche und scheinbare, mathematische und landläufige Größen unterscheidet.“ (Newton 1988, S. 43). Kaulbach 1960, S. 11. Newton 1988, S. 44. Vgl. Newton 1988, S. 227 f. Wie Gloy richtig feststellt, sind es gerade die strukturellen Eigenschaften wie Homogenität, Kontinuität, Unendlichkeit und Quantifizierbarkeit, die auch beim kritischen Kant zu finden sind und sein Raum- und Zeitkonzept strukturell prägen. Ein entscheidender Unterschied zu Newton wird allerdings der Realitätsstatus von Raum und Zeit sein.Vgl. hierzu Gloy 2008, S. 129 – 137 und insbesondere die Ausführungen in Kapitel 1.3 und 1.4. Newton 1988, S. 46.
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Raum […].“¹¹⁹ Die Dinge selbst besetzen somit Teilräume und Zeitspannen in Raum und Zeit. Newton beschreibt diese Besetzung mittels seiner Begrifflichkeit von relativen Zeiten und relativen Räumen: Die relative Zeit, die unmittelbar sinnlich wahrnehmbare und landläufig so genannte, ist ein beliebiges sinnlich wahrnehmbares und äußerliches Maß der Dauer, aus der Bewegung gewonnen (sei es ein genaues oder ungleichmäßiges), welches man gemeinhin anstelle der wahren Zeit benützt, wie Stunde, Tag, Monat, Jahr.¹²⁰
Entsprechend heißt es in Bezug auf den Raum: Der relative Raum ist dessen Maß [des absoluten Raums] oder ein beliebiger veränderlicher Ausschnitt daraus, welcher von unseren Sinnen durch seine Lage in Beziehung auf Körper bestimmt wird, mit dem gemeinhin anstelle des unbeweglichen Raumes gearbeitet wird […].¹²¹
Der absolute Raum und die absolute Zeit sind also selbst nicht wahrnehmbar, werden aber durch die wahrnehmbaren Teilräume und Zeitspannen quantifizierbar. Wie Al-Azm im Hinblick auf Kants Konzeption richtig feststellt, differenziert somit schon Newton zwischen mehreren Ebenen des Zeitverständnisses.¹²² Bei all diesen Gemeinsamkeiten, die die beide Formen miteinander teilen, gibt es jedoch auch signifikante Unterschiede zwischen Raum und Zeit in Newtons Konzeption. Hier ist insbesondere die Anisotropie der Zeit im Unterschied zur Isotropie des Raums zu nennen. Während die Zeit eine feste Folge aufweist, wodurch Zeitmomente in eine bestimmte Richtung aufeinanderfolgen, existieren die Teile des Raums in alle Richtungen zugleich.¹²³ Ein zweiter wesentlicher Unterschied, der jedoch mit dem ersten zusammenhängt, ist der bereits angesprochene Fluss der Zeit.Während die absolute Zeit „fließt“ und somit eine gewisse Dynamik
Newton 1988, S. 228. In der Metaphysica von Baumgarten heißt es entsprechend: „Die Ordnung des voneinander getrennt gesetzten Gleichzeitigen ist der Raum, die des Sukzessiven die Zeit.“ (Baumgarten, A. 2011, S. 147 (Hervorhebung aufgehoben)). Vgl. ferner Baumgarten, A. 2011, S. 169; S. 205. Newton 1988, S. 44. Newton 1988, S. 44. Al-Azm unterscheidet insgesamt zwischen drei Ebenen beim Zeitverständnis von Newton. Neben absoluter und relativer Zeit lässt sich bei Newton auch die Vorstellung von subjektiver oder gefühlter Zeit ausmachen, die jedoch für den physikalischen Kontext irrelevant ist. Vgl. zu dieser Dreiteilung der Zeitkonzeption bei Newton Al-Azm 1967, S. 7– 11. Dass auch Kant mehrere Ebenen in seiner Raum- und Zeitkonzeption aufweist, wird sich in Kapitel 2 zeigen. Vgl. Newton 1988, S. 46.
0.4 Philosophiegeschichtliche Einführung
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aufweist, wird der absolute Raum ausschließlich „unbeweglich“¹²⁴ bzw. statisch vorgestellt. Vor diesem Hintergrund gilt es festzuhalten, dass für Newton – anders als für die spätere Relativitätstheorie Einsteins – Raum und Zeit voneinander getrennte Strukturen darstellen. Sie sind nicht aufeinander reduzierbar und physikalisch betrachtet gleichwertig.¹²⁵ Was sie metaphysisch verbindet, ist ihr Werkzeugcharakter im Hinblick auf Newtons Gottesbegriff. Um diesen letzten Punkt hat sich Newton in der Folgezeit besonders bemüht. Neben den Eigenschaften von Raum und Zeit, die als Voraussetzungen seiner physikalischen Theorie fungieren, ringt Newton nämlich auch um eine metaphysische Fundierung beider Formen. Diesem Kontext entspringt auch Newtons bekannte Beschreibung des Raums als ein sensorium Gottes. Über diese metaphysische Grundlegung und Beschreibung hat Leibniz sich in seinem Briefwechsel mit Clarke immer wieder kritisch geäußert. Dabei ging es ihm vor allem darum zu klären, wie diese metaphysische Beschreibung genau zu verstehen ist und wie sie überhaupt mit einem theistischen Gottesmodell vereinbar sein soll. Gleich im ersten Brief kritisiert Leibniz, dass Newton beim Raum von einem sensorium spricht: Monsieur Newton sagt, der Raum sei das Organ, das Gott benutzt, um die Dinge wahrzunehmen.Wenn Gott aber zur Wahrnehmung der Dinge ein Hilfsmittel benötigt, dann sind die Dinge von ihm nicht vollkommen abhängig und auch nicht sein Erzeugnis.¹²⁶
Clarke erwidert in seinem ersten Brief wie folgt: Sir Isaac Newton sagt weder, daß der Raum das Organ sei, das Gott zur Wahrnehmung der Dinge benutzt, noch daß Gott überhaupt irgendeines Hilfsmittels bedürfe, um mit ihm die Dinge wahrzunehmen, sondern im Gegenteil, daß Gott, da er allgegenwärtig ist, sämtliche Dinge aufgrund seiner unmittelbaren Gegenwart zu ihnen wahrnehme, und zwar im gesamten Raum, wo immer auch sie sich befinden mögen, ohne ein Dazwischentreten oder eine Mitwirkung irgendeines Organs oder irgendeines Hilfsmittels.¹²⁷
Newton 1988, S. 44. Newtons physikalische Argumentation zeichnet sich im Ergebnis dadurch aus, dass der absolute Raum und die absolute Zeit vorausgesetzt werden müssen, um absolute Bewegungen adäquat beschreiben zu können. Es wird hier darauf verzichtet, die genaue physikalische Argumentation sowie Newtons veranschaulichende Beispiele darzustellen, da für das Verständnis der folgenden Auseinandersetzungen mit Kant im Hauptteil eine solche Darstellung auch nicht notwendig sein wird. Newtons Beispiele finden sich in Newton 1988, S. 43 – 52. Eine entsprechende Darstellung und Diskussion findet sich beispielsweise bei Gosztoniy 1976, S. 329 – 337 oder Gent 1926, S. 157– 165. Leibniz / Clarke 1991, S. 19. Leibniz / Clarke 1991, S. 21 f.
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0 Einführung: Problem, Methode, Forschung und Geschichte
Dieser Disput zieht sich über die gesamten Briefe zwischen Leibniz und Clarke hin. Während Leibniz immer wieder die Wortwahl Newtons kritisiert, verweist Clarke wiederholt darauf, dass man sich nicht auf das Wort zu konzentrieren hat, welches Newton ohnehin nicht in strenger Weise gebrauchen wollte, sondern es um das dahinterstehende Konzept der Allgegenwart Gottes geht.¹²⁸ Im fünften Brief führt Clarke ferner aus, dass Gott weder Raum und Zeit ist noch in ihnen existiert. Raum und Zeit werden stattdessen durch die Existenz Gottes „verursacht“¹²⁹. Die Formulierung, wonach Gott in Raum und Zeit ist, soll dahingehend verstanden werden, dass Gott allgegenwärtig bzw. omnipräsent ist.¹³⁰ Doch auch die Omnipräsenz löst für Leibniz das Problem bzw. seine kritische Skepsis nicht auf. Er greift daher Newtons Verständnis von der Allgegenwart an, die er strukturell mit der Art der Gegenwart der Seele im Körper vergleicht. Nach Leibniz erklärt Newton dabei nämlich nicht, wie diese Allgegenwart zu begreifen ist – zumal nach Leibniz die Seele als Monade punkthaft ist, was dem Raum als Ausdehnung strukturell widerspricht.¹³¹ Clarke antwortet auf diese Kritik, indem er auf die Unteilbarkeit des Raums verweist, der trotz dieser Eigenschaft nicht punkthaft sein soll. Auch das Seelenkonzept von Leibniz wird in diesem Zusammenhang abgelehnt. Clarke schreibt: Sowohl ein endlicher als auch ein unendlicher Raum ist selbst in Gedanken vollkommen unteilbar (nämlich sich vorzustellen, seine Teile bewegen sich voneinander fort, bedeutet sich vorzustellen, sie bewegen sich aus sich selbst heraus) und doch ist der Raum nicht bloß ein Punkt.¹³²
Kant verweist später wiederholt auf den Beweis von Euler, wonach der Raum zumindest mathematisch betrachtet unendlich teilbar ist.¹³³ Die Diskussion zwischen Leibniz und Clarke wird bei Kant im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Metaphysik und Mathematik wieder aufgegriffen.¹³⁴ Im Zusammenhang mit der obigen Diskussion kritisiert Leibniz im dritten Brief, dass der teilbare Raum, wie Newton den absoluten Raum im Verhältnis zum relativen Raum beschreibt, „nicht zu Gott passen kann“¹³⁵. Folgt man nämlich Newtons Überlegung, so müsste auch
Vgl. Leibniz / Clarke 1991, S. 27; S. 32 f.; S. 41; S. 47 f.; S. 56; S. 69; S. 107 f.; S. 142 f. Leibniz / Clarke 1991, S. 135. Vgl. Leibniz / Clarke 1991, S. 135. Vgl. Leibniz / Clarke 1991, S. 27. Leibniz / Clarke 1991, S. 33. Siehe hierzu auch schon Newton 1988, S. 46. Siehe hierzu die Anmerkung 6 in Kapitel 1. Vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 1.1. Leibniz / Clarke 1991, S. 37. Bezüglich der Teil-Ganzes-Relation zwischen relativem und absolutem Raum siehe bereits weiter oben in diesem Kapitel. Vgl. hierzu auch Newtons Definition
0.4 Philosophiegeschichtliche Einführung
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Gott als teilbare Entität gedacht werden, was dem Gottesbegriff nach Leibniz widerspricht.¹³⁶ Clarke erwidert, dass der Raum als etwas Unteilbares verstanden wird, da bei jeglicher Teilung der Raum vorausgesetzt werden muss, in dem die Teilung stattfindet, sodass der Raum selbst ungeteilt bleibt.¹³⁷ Dem widerspricht Leibniz, indem er wie auch Kant den Unterschied zwischen teilen und trennen geltend macht, der bereits in Kapitel 0.1 angesprochen wurde: Ich erhob auch den Einwand, daß der Raum nicht in Gott sein könne, weil der Raum Teile besitze. Daraufhin sucht man nach einer anderen Ausrede, indem man vom allgemein anerkannten Sinn der Begriffe abrückt und behauptet, der Raum habe keine Teile, weil seine Teile nicht voneinander trennbar seien und durch Zerreißung voneinander nicht entfernt werden könnten. Es reicht aber aus, daß der Raum Teile besitzt, gleichgültig ob diese Teile voneinander trennbar sind oder nicht, und daß man sie im Raum angeben kann, gleichgültig ob mit Hilfe der in ihnen enthaltenen Körper oder mit Hilfe von Linien und Flächen, die man in ihnen ziehen kann.¹³⁸
Clarke wiederum meint, dass es streng genommen überhaupt keine Begrenzung oder Teilung im absoluten Raum gibt, sondern dass man sich in der Regel auf ein bestimmtes Quantum konzentriert, ohne den absoluten und ungeteilten Raum als Voraussetzung zu erkennen, worin sich dieses Quantum notwendigerweise befinden muss.¹³⁹ Wie Clarke sich jedoch das genaue Verhältnis zwischen dem Quantum und dem Raum, in dem es sich befindet, denkt, bleibt an dieser Stelle unklar. Clarke und Leibniz scheinen sich hier um die gleiche Problematik mit dem Kontinuum zu drehen, die schon im Teilkapitel 0.1 bei Kant ausgemacht wurde,
des Ortes, der ebenfalls zunächst darauf hinweist, dass der Raum Teile besitzt: „Ort ist derjenige Teil des Raumes, den ein Körper einnimmt, und er ist je nach Verhältnis des Raumes entweder absolut oder relativ. Er ist ein Teil des Raumes, sage ich, nicht die Lage des Körpers oder eine ihn umgebende Oberfläche.“ (Newton 1988, S. 44). Den Teil, den ein Körper im absoluten oder relativen Raum einnimmt, nennt Newton den Ort eines Körpers. Je nachdem, in welchen Raum ein Körper einen Ort besetzt, handelt es sich um den relativen oder den absoluten Ort. Analog zu den entsprechenden Räumen sind relative Orte beweglich, während absolute Orte unbeweglich und feststehend sind. Ein wichtiger Begriff in diesem Kontext, auf den Kant auch eingehen wird, ist der Begriff der Lage eines Körpers. Die Lage definiert die Ordnung zwischen Körpern im jeweiligen Raum. Das räumliche Verhältnis zwischen den Körpern bzw. den jeweiligen Orten, die sie besetzen, ergibt eine räumliche Lage dieser Körper bzw. der jeweiligen Orte zueinander.Vgl. Newton 1988, S. 44– 48. Siehe hierzu Kapitel 1.3. Leibniz bringt diesen Vorwurf wiederholt vor und rekurriert auch noch im fünften Brief auf diese Überlegung. Vgl. Leibniz / Clarke 1991, S. 90 f. Vgl. Leibniz / Clarke 1991, S. 45 f. Leibniz / Clarke 1991, S. 97. Vgl. Leibniz / Clarke 1991, S. 134.
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0 Einführung: Problem, Methode, Forschung und Geschichte
denn auch hier stellt sich die Frage, wie das genaue Verhältnis zwischen dem Kontinuum und seinen Teilen strukturell zu verstehen ist. Bei der Argumentation gegen Clarke und Newton geht Leibniz immer wieder von seiner Metaphysik aus. Beispielsweise rekurriert er mehrmals auf seinen Satz des zureichenden Grundes (principium rationis sufficientis). Er behauptet, dass wenn der Raum ein an sich bestehendes absolutes Seiendes wäre, „sich auch etwas ereignen [könnte], wofür es keinen hinreichenden Grund geben [würde]“¹⁴⁰. Leibniz will dies mit einem Gedankenexperiment verdeutlichen, das auch bei Kant noch von Bedeutung sein wird: Der Raum ist etwas vollkommen Homogenes und wenn sich in dem Raum keine Dinge befinden, so unterscheidet sich ein Raumpunkt von einem anderen Raumpunkt durchaus in nichts. Hieraus folgt nun aber (wobei angenommen wird, daß der Raum außer der gegenseitigen Ordnung der Körper noch irgend etwas an sich ist), daß es keinen Grund geben kann, warum Gott, die gleiche gegenseitige Lage der Körper beibehaltend, die Körper so und nicht anders in den Raum gesetzt hat. Warum ist nicht alles in umgekehrter Weise angeordnet worden, zum Beispiel durch Vertauschen von Ost und West?¹⁴¹
Leibniz / Clarke 1991, S. 38. Leibniz / Clarke 1991, S. 38. Ein entsprechendes Gedankenexperiment für die Zeit führt Leibniz gleich im Anschluss an: „Hinsichtlich der Zeit ist es das gleiche. Angenommen jemand fragt, warum Gott nicht alles ein Jahr früher erschaffen habe, und ferner angenommen, die gleiche Person würde daraus schlußfolgern, daß Gott etwas getan habe, wofür es keinen Grund geben kann, warum er es so und nicht anders getan hat. Man würde ihm antworten, daß seine Schlußfolgerung dann richtig wäre, wenn die Zeit etwas von den in der Zeit existierenden Dingen Getrenntes wäre. Nämlich dann kann es keinen Grund dafür gegeben haben, warum die Dinge mit ganz bestimmten Zeitpunkten und nicht mit anderen verknüpft sind, vorausgesetzt allerdings, ihre Aufeinanderfolge bleibt die gleiche. Aber dies beweist sogar, daß die Zeitpunkte nichts von den Dingen Getrenntes sind und daß sie nur in ihrer aufeinanderfolgenden Ordnung bestehen. Bleibt diese Ordnung die gleiche, so würde sich der eine von den beiden Zuständen, zum Beispiel der der angenommenen Vorwegnahme, von dem anderen jetzigen Zustand in nichts unterscheiden und könnte von ihm auch nicht unterschieden werden.“ (Leibniz / Clarke 1991, S. 39). Wie Unruh anmerkt, finden wir schon bei Aristoteles die Frage formuliert, wie links und rechts zu unterscheiden sind. Vgl. Aristoteles, De Caelo, 284b6 – 268a1 bzw. Unruh 2007, S. 59 Anm. Vgl. ferner Rusnock / George 1995, S. 275 und auch schon den Hinweis von Vaihinger 1922b, S. 530 Anm.Wie Bennett ferner betont, lassen sich ähnliche Überlegungen auch schon in der arabischen Philosophie ausmachen. Vgl. Bennett 1991 S. 105. Siehe hierzu die Auseinandersetzung von Averroes mit Aristotles, Al-Ghazali und Avicenna bezüglich der Frage nach dem Unterschied der Bewegungsrichtungen der Himmelskörper in Averroes 1913, S. 63 – 70. Somit ist Mühlhölzers Bemerkung, wonach „Kant wohl der erste war“ (Mühlhölzer 1992, S. 436), der sich mit der Problematik der Inkongruenz beschäftigt habe, zumindest irreführend. Vgl. hierzu Kapitel 1.3.
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Leibniz argumentiert also, dass es seinem Satz vom zureichenden Grunde, den Clark auch akzeptiert, widersprechen würde, wenn es einen absoluten Raum gäbe, da folglich Gottes Entscheidung, die Welt so anzuordnen, wie sie ist, unbegründet wäre; schließlich hätte Gott die Welt in dem absoluten Raum auch gespiegelt anordnen können, woraus sich aber kein Unterschied und somit auch kein rationaler Grund für die eine oder andere Wahl ergibt. Nach Leibniz verhindert nur ein relationales Raumkonzept die Folgerung, dass Gott in diesem Kontext eine grundlose Entscheidung getroffen habe, da vor dem Hintergrund der relationalen Konzeption beide Ordnungen exakt dieselbe wären, schließlich entfällt in dieser Konzeption der absolute Raum als Referenzobjekt.¹⁴² Clarke bezweifelt, dass daraus ein Argument gegen eine absolute Raumtheorie folgt. Ganz im Gegenteil meint er, dass verschiedene Räume, obwohl sie aufgrund der Homogenität gleich sind, doch als verschieden betrachtet werden müssen. Was Clarke damit intendiert, macht er seinerseits mit einem Gedankenexperiment deutlich, das im Endeffekt eine Konkretisierung des Gedankenexperiments von Leibniz darstellt: Clarke fordert in seiner dritten Erwiderung Leibniz auf, sich vorzustellen, man würde die Position der Anordnung von Erde, Mond und Sonne mit der Position entlegener Fixsterne tauschen. Obwohl dabei alle Verhältnisse gleich bleiben, lässt sich nach Clarke nicht sagen, dass eine Veränderung stattgefunden hat, wenn nicht ein unbeweglicher Raum angenommen wird, in dem diese Veränderung stattfindet.¹⁴³ Im Zuge dieser Auseinandersetzung verweist Clarke auch auf Newtons Beispiel eines Schiffs, das sich auch bewegen kann, selbst wenn der Passagier in einer abgeschlossenen Kabine des Schiffs nichts von der Bewegung bemerkt.¹⁴⁴ Es lässt sich festhalten, dass Leibniz bei den diskutierten globalen Permutationen keine Veränderung akzeptiert, da es für ihn letztlich keinen Unterschied zwischen der vorausgesetzten und der resultierenden Anordnung gibt. Unterschiedslose Gegebenheiten sind für Leibniz aber aufgrund seines Satzes von der Identität des Ununterscheidbaren (principium identitatis indiscernibilium) ausgeschlossen.¹⁴⁵ Dagegen behauptet Clarke, dass es sehr wohl einen Unterschied bei der globalen Permutation von Ost nach West gibt, da eine Veränderung eingetreten ist, obgleich die relationalen Verhältnisse identisch geblieben sind. Die
Vgl. Leibniz / Clarke 1991, S. 38 f. Vgl. Leibniz / Clarke 1991, S. 44 f. Vgl. Leibniz / Clarke 1991, S. 66 f. Leibniz akzeptiert diese Veranschaulichung nicht, da beim Schiff die Bewegung zumindest dem Prinzip nach von außen beobachtet werden könnte. Bei einer Bewegung des ganzen Universums in einem vermeintlich absoluten Raum ließe sich prinzipiell keine Beobachtung dieser Bewegung anstellen. Vgl. Leibniz / Clarke 1991, S. 98. Vgl. auch Leibniz / Clarke 1991, S. 53 f.
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0 Einführung: Problem, Methode, Forschung und Geschichte
Veränderung lässt sich nach Clarke nur im Hinblick auf einen absoluten Raum deutlich machen.¹⁴⁶ Clarke macht damit einen absoluten Richtungsbegriff stark. Die Diskussion der globalen Permutation wird Kant insbesondere im Hinblick auf den Richtungsbegriff bei der Frage nach dem Status des Raums erneut aufgreifen, was Konsequenzen für seine eigene Raumkonzeption zur Folge haben wird.¹⁴⁷ Die Diskussion des letzten Einwands zeigt bereits, dass Leibniz nicht nur auf den Satz vom zureichenden Grunde, sondern auch wiederholt auf den Satz von der Identität des Ununterscheidbaren eingeht, um gegen Clarke und Newton zu argumentieren.Vor diesem Hintergrund findet sich im vierten Brief von Leibniz an Clarke auch die bekannte Anekdote zur Blättersuche eines Adeligen: Ein geistreicher Herr von Adel aus meinem Bekanntenkreis unterhielt sich in der Gegenwart Ihrer Kurfürstlichen Hoheit im Garten von Herrenhausen mit mir und glaubte, er könne zwei vollkommen gleiche Blätter finden. Die Prinzessin forderte ihn dazu auf, und er lief lange Zeit vergeblich umher, um solche Blätter zu finden. Zwei Tropfen Wasser oder Milch werden sich als voneinander unterscheidbar herausstellen, wenn man sie unter dem Mikroskop betrachtet. […]. Zwei Dinge als ununterscheidbar anzunehmen, heißt unter zwei Namen ein und dasselbe Ding anzunehmen. Darum ist die Annahme, daß das Universum anfangs eine andere Lage hinsichtlich der Zeit und des Ortes gehabt haben könnte als die wirklich eingetretene und daß sämtliche Teile des Universums trotzdem die gleiche gegenseitige Lage gehabt haben könnten, wie sie sie tatsächlich erhalten haben, eine unmögliche Fiktion.¹⁴⁸
Clarke erwidert, indem er Leibnizʼ dogmatischen Satz zurückweist und behauptet, dass es, zumindest dem Prinzip nach, sehr wohl zwei völlig gleiche Wassertropfen geben kann, die dann jedoch durch den Ort im Raum unterschieden werden können: Es ist vollkommen richtig, daß keine zwei Blätter und vielleicht auch keine zwei Wassertropfen genau gleich sind, da sie in höchstem Maße zusammengesetzte Dinge sind. Bei den Teilen einfacher massiver Materie liegt der Fall jedoch ganz anders. Ja sogar bei zusammengesetzten Dingen, es ist für Gott nicht unmöglich, zwei Wassertropfen genau gleich zu machen. Angenommen, er macht sie genau gleich. Dann würden sie, obwohl sie gleich sind,
Siehe hierzu auch Clarkes Erwiderung im vierten Brief. Vgl. Leibniz / Clarke 1991, S. 63 f. Vgl. hierzu Kapitel 1.3. Leibniz / Clarke 1991, S. 51 f. Der Satz von der Identität des Ununterscheidbaren gilt jedoch nicht für den Raum und die Zeit selbst, denn sie sind nach Leibniz bloße Gedankendinge, wie es im fünften Brief heißt: „Die Teile der Zeit bzw. des Ortes sind, an sich betrachtet, Gedankendinge und ähneln sich darum einander so vollkommen wie zwei abstrakte Einheiten. Aber bei zwei konkreten Einheiten verhält es nicht so, auch nicht bei zwei wirklichen Zeitabschnitten oder zwei vollen Raumstücken, das heißt, bei zwei wirklichen Dingen.“ (Leibniz / Clarke 1991, S. 85). Erst die Materie ermöglicht eine Differenzierung der Teile im Raum. Vgl. hierzu Leibniz / Clarke 1991, S. 104.
0.4 Philosophiegeschichtliche Einführung
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doch niemals zu ein und demselben Wassertropfen werden. Auch wäre der Ort des einen Wassertropfens nicht der Ort des anderen Wassertropfens, obgleich es vollkommen gleichgültig ist, welcher Wassertropfen an welchem Ort angeordnet würde. […]. Zwei Dinge hören dadurch, daß sie genau gleich sind noch lange nicht auf, zwei Dinge zu sein. So wie die Teile der Zeit untereinander vollkommen gleich sind, sind es auch die Teile des Raumes. Trotzdem sind zwei Zeitpunkte nicht ein und derselbe Zeitpunkt und auch nicht bloß zwei Namen für ein und denselben Zeitpunkt. Hätte Gott die Welt gerade jetzt in diesem Moment erschaffen, so wäre sie nicht zu der Zeit erschaffen worden, zu der sie erschaffen worden ist.¹⁴⁹
Clarke wendet somit Leibnizʼ Gedankenexperiment gegen ihn an. Diese Argumentation hat anscheinend auf Kant so großen Eindruck gemacht, dass er genau dieses Beispiel bzw. Clarkes Argumentation in der KRV wiedergibt.¹⁵⁰ In den für seine kritische Raumkonzeption entscheidenden Jahren um 1768 beschäftigt Kant sich intensiv mit dem Phänomen der inkongruenten Gegenstücke, deren Diskussion hier bei Leibniz und Clarke einen wesentlichen Bezug zur Frage nach dem ontologischen Status des Raums erfährt. Diese Diskussion ist wichtig für das weitere Verständnis in der Entwicklung der Philosophie des Raums – insbesondere bei Kant. Clarke trägt im fünften Brief ein weiteres Gedankenexperiment vor, das ebenfalls Anknüpfungspunkte zu Kants späteren Überlegungen in Über die Gegenden von 1768 besitzt: Es wird [von Leibniz] behauptet, daß eine Bewegung notwendigerweise eine relative Lageänderung eines Körpers in bezug auf andere Körper sei. Jedoch wird kein Weg aufgezeigt, um die absurden Folgerungen zu vermeiden, daß dann die Bewegbarkeit eines Körpers von der Existenz anderer Körper abhängen würde, daß dann ein einzelner Körper, der ganz für sich allein existiert, zu keiner Bewegung fähig wäre und daß dann die Teile eines sich drehenden Körpers (zum Beispiel die Sonne) die von ihrer Drehbewegung herrührende vis centrifuga verlieren würden, sobald man um sie herum sämtliche nicht zu ihnen gehörige Materie beseitigen würde.¹⁵¹
Leibniz / Clarke 1991, S. 63 f. Leibniz geht auf diese Auseinandersetzung noch einmal im fünften Brief ein und versucht, sich auf seine Metaphysik zu beziehen: „Wenn ich bestreite, daß es zwei vollkommen gleiche Wassertropfen gibt bzw. zwei andere ununterscheidbare Körper, so sage ich damit nicht, daß es vollkommen unmöglich sei, solche Körper anzunehmen, sondern ich sage vielmehr, daß solche Körper mit der göttlichen Weisheit im Widerspruch stehen und es darum solche Körper nicht gibt.“ (Leibniz / Clarke 1991, S. 84). Vgl. ferner in Bezug auf eine frühere Schöpfung der Welt Leibniz / Clarke 1991, S. 54. Clarke wiederum reagiert gereizt und wiederholt seine Argumente. Vgl. Leibniz / Clarke 1991, S. 129 f. Vgl. B319 f|A263 f. und ferner auch noch einmal in AA XX, 280. Leibniz / Clarke 1991, S. 131.
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0 Einführung: Problem, Methode, Forschung und Geschichte
Clarke verlangt hier, sich einen rotierenden Gegenstand vorzustellen, der für sich bzw. isoliert existiert – quasi einen ersten Schöpfungsgegenstand.¹⁵² Dieser isolierte Gegenstand könnte Clarkes Überlegung zufolge keine Rotation ausführen, wenn nicht ein absoluter Raum bzw. ein relationsunabhängiger Raum vorausgesetzt werden würde, wogegen sich dieser Gegenstand dreht. Leibnizʼ Erwiderung basiert erneut darauf, dass der Raum etwas „Relatives“ darstellt bzw. in den Verhältnissen zwischen den Körpern aufgeht. Hierzu heißt es im dritten Brief an Clarke: Was meine eigene Meinung anbetrifft, so habe ich mehr als einmal gesagt, daß ich den Raum ebenso wie die Zeit für etwas rein Relatives halte, nämlich für eine Ordnung des Nebeneinanderbestehens, so wie die Zeit eine Ordnung der Aufeinanderfolge ist. Nämlich als Raum bezeichnet man eine mögliche Ordnung der Dinge, die gleichzeitig existieren, wobei man sie als gemeinsam existierend betrachtet, ohne dabei nach ihrer besonderen Art und Weise des Existierens zu fragen. Immer wenn man mehrere Dinge zusammen sieht, stellt man diese gegenseitige Ordnung der Dinge fest.¹⁵³
Der Raum ist somit für Leibniz nichts wirklich Seiendes, sondern ein „Gedankending“. Wie „der Verstand dazu kommt, sich den Raumbegriff zu bilden, […] ohne daß es ein absolutes wirkliches Seiendes geben muß, welches diesem Begriff außerhalb des Geistes und der Beziehungen entspricht“¹⁵⁴, wird nach Leibniz durch das Denkvermögen des Subjekts beantwortet.¹⁵⁵ Bereits im Briefwechsel zwischen Leibniz und Clarke wird somit neben der mathematisch-physikalischen und der ontologischen auch eine epistemische Dimension der Diskussion um Raum und Zeit deutlich. Unterschiedliche Dimensionen, die gerade Kant mit dem Eintritt in die kritische Phase versucht, in einen Zusammenhang zu bringen.¹⁵⁶ Summa summarum sind für Clarke Raum und Zeit in Anbetracht der Diskussion mit Leibniz gerade „nicht die bloße Ordnung der Dinge, sondern wirkliche Größen (was Ordnung und Lage nicht sind)“¹⁵⁷, die damit selbst dann noch
Vgl. hierzu bei Kant AA II, 382 f. Leibniz / Clarke 1991, S. 37 f. Dagegen heißt es in aller Ausdrücklichkeit bei Clarke: „Der Raum hängt weder von der Ordnung, noch von der Lage, noch von der Existenz der Körper ab.“ (Leibniz / Clarke 1991, S. 49). Leibniz / Clarke 1991, S. 116. Leibniz schreibt: „Raum ist kurzum das, was sich aus den Orten ergibt, wenn man sie zusammennimmt.“ (Leibniz / Clarke 1991, S. 93 (Hervorhebung aufgehoben)). Vgl. hierzu insbesondere Kapitel 1.3.3 bzw. Kants Auseinandersetzung in Über die Gegenden, wo Kant ebenfalls zunächst davon ausgeht, dass der Raum ein Grundbegriff ist. In De mundi führt Kant schließlich sein Konzept der reinen Anschauung ein. Vgl. hierzu Kapitel 1.4. Leibniz / Clarke 1991 S. 68. Clarke argumentiert, dass eine Ordnung zwischen Dingen auch erhalten bleibt, wenn man die Abstände im Raum oder in der Zeit vergrößert oder verkleinert. Das
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existieren würden, wenn es überhaupt keine Materie gäbe.¹⁵⁸ Leibniz dagegen behauptet, dass „es dort keinen Raum gibt, wo es keine Materie gibt“. Damit will Leibniz aber nicht vertreten, dass Raum und Materie identisch sind, sondern nur, dass „obwohl sie voneinander verschieden sind, als voneinander nicht trennbar“¹⁵⁹ verstanden werden müssen, denn der Raum ist für ihn identisch mit den relationalen Verhältnissen zwischen den Dingen. Hier zeigt sich schließlich, dass die Fronten zwischen Leibniz und Clarke verhärtet sind. Während Leibniz in moderner Terminologie ausgedrückt grundsätzlich eine idealistische und relationale Position vertritt, wonach der Raum ausgehend von den räumlichen Relationen zwischen Gegenständen nichts anderes ist als ein Vorstellungsprodukt, vertritt Clarke eine realistische und absolute Position, wonach der Raum ein realer Gegenstand bzw. substantialistischer Behälter ist, der unabhängig von den Gegenständen bzw. Relationen in ihm ist. Beide halten sich gegenseitig ihr Raumkonzept vor und tun sich sichtlich schwer, die Diskussion konstruktiv abzuschließen. Die Diskussion zum Raum- und Zeitproblem Mitte des 18. Jahrhunderts ist vor allem durch diese Kontroverse zwischen dem relationalen Raumverständnis von Leibniz und dem absoluten Raumverständnis von Newton bzw. Clarke bestimmt. Bereits 1720, also drei Jahre nach der Erstveröffentlichung, ist der Briefwechsel auch in deutscher Übersetzung erhältlich und erscheint 1740 nochmals in deutscher Auflage.¹⁶⁰ Einige für Kant vertraute Autoren greifen Clarkes Kritik an Leibnizʼ Raumauffassung auf. So beispielsweise Euler, auf den Kant explizit in seiner für seine Entwicklung vom Raumverständnis bedeutenden Schrift Über die Gegenden von 1768 verweist. Falkenburg hält diesbezüglich fest, dass bereits Euler an Leibniz kritisiert, dass sein Raumkonzept zwar im Sinne der modernen Mathematik durchaus eine topologische Struktur aufweist, jedoch keine Affinität, die aber notwendig wäre, um Richtungen zu unterscheiden.¹⁶¹ Baum verweist darüber
soll zeigen, dass Raum und Zeit mehr als die bloße Ordnung und Lage der Dinge sind.Vgl. Leibniz / Clarke 1991, S. 72. Leibniz antwortet hierauf, dass in der Mathematik die Größe von Verhältnissen durch Logarithmen gemessen wird, obwohl es im Logarithmus nur um die Beziehungen geht. Deshalb sind nach Leibniz auch Raum und Zeit Größen, obwohl sie nur aus Beziehungen bestehen. Vgl. Leibniz / Clarke 1991 S. 99. Clarke wiederum empfindet das als unverständlich und verweist nochmals darauf, dass eine Relation keine Größe ist, da die Abstände zwischen den Relationsgliedern variieren können, ohne dass sich dabei die Relation oder das Verhältnis ändern würden. Vgl. Leibniz / Clarke 1991, S. 137 f; S. 153. Vgl. Leibniz / Clarke 1991 S. 72. Leibniz / Clarke 1991, S. 102. Vgl. Earman 1991b, S. 237. Vgl. Falkenburg 2000, S. 113. Gosztonyi drückt diesen Unterschied zwischen Leibniz und Newton in mathematischer Terminologie wie folgt aus: „Leibnizʼ Raumbegriff ist nur topologisch,
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0 Einführung: Problem, Methode, Forschung und Geschichte
hinaus auf die Bedeutung von Crusius für Kants Auseinandersetzung mit dem Raum. Bereits Crusius äußert sich nämlich kritisch gegenüber der leibniz-wolffsche Raumauffassung, wonach der Raum allein aus der relationalen Ordnung der Dinge besteht. Baum verweist dabei auf folgende Stelle bei Crusius: Ein anders [als das bloße Verhältnis zwischen den Dingen] ist der absolute und gar nicht relativische Begriff von dem Raume selbst, durch welchen allererst die termini relati der von ihnen zu abstrahirenden Ordnung möglich gemacht werden.¹⁶²
Baum macht darauf aufmerksam, dass Kant das zu diesem Zitat gehörige Buch von Crusius besaß.¹⁶³ Kant kannte aber auch den Briefwechsel zwischen Leibniz und Clarke, denn neben der Erwähnung Lamberts in einem Brief an Kant lassen sich im Nachlass Kants Reflexionen ausmachen, die explizit auf den Disput zwischen Leibniz und Clarke eingehen.¹⁶⁴ Wie ferner bereits Vaihinger konstatiert, greift Kant die Beispiele aus der Diskussion zwischen den beiden Philosophen in der Folgezeit immer wieder auf und zieht daraus seine Konsequenzen für die eigene Vorstellung von Raum und Zeit.¹⁶⁵ Damit bezieht Kant Stellung zu einem zentralen Diskussionsthema seiner Zeit. Im Hinblick auf diese Zeit konstatiert Gosztonyi: Die Kontroverse zwischen Newton und Leibniz wirkte sich auf die Weiterentwicklung der Raumtheorien fruchtbar aus. Manche Denker verteidigten die Position von Newton, also das Postulat des absoluten Raumes, andere die von Leibniz, indem sie für die Relativität des Raumes eintraten, aber auch an Versuchen von Versöhnungen beider Theorien fehlte es
der von Newton hingegen metrisch.“ (Gosztonyi 1976, S. 345 (Hervorhebung aufgehoben)). Nach Brittan ist Kants ursprünglicher Anschauungsraum zwar topologisch, aber im Gegensatz zu Newtons Raum noch nicht metrisch. Die Metrik ergibt sich erst durch die begriffliche Bestimmung von Anschauungsinhalten.Vgl. Brittan 1978, S. 99. Auf die mathematischen Grundlagen kann hier nicht weiter eingegangen werden. Vgl. hierzu jedoch auch Kapitel 1.3.1 und Anmerkung 239 in Kapitel 2. Crusius 1753, S. 83 f. (Hervorhebung aufgehoben).Vgl. hierzu auch Messinas Darstellung von Crusiusʼ Angriff auf die Raumtheorie von Wolff und Baumgarten in Messina 2015, S. 431– 438 und ferner in Messina 2011, S. 45 – 57. Bezüglich der Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen Crusius und Kant siehe Messina 2015, S. 438 – 444 und Messina 2011, S. 59 – 68. Vgl. Baum 1996, S. 56 f. Vgl. Refl. 4756, AA XVII, 699 f. Zum Brief von Lambert siehe AA X, 108. Auch in De mundi erwähnt Kant diese Diskussion zwischen Leibniz und den englischen Philosophen. Vgl. AA II, 403 f. Hierzu sei auf die Ausführung von Unruh verwiesen. Vgl. Unruh 2007, S. 59 Anm. Vgl. Vaihinger 1922b, S. 530. Vgl. ferner Earman 1991b, S. 237. Siehe zu Kants Auseinandersetzung mit den einzelnen Beispielen und Argumenten die Ausführungen in den Kapiteln 1.3 und 2.1.
0.4 Philosophiegeschichtliche Einführung
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nicht. Selbst Kants vorkritischen Schriften zeugen von dem Einfluß, den die beiden großen Mathematiker und Denker auf ihre Zeit ausübten.¹⁶⁶
Im Zentrum dieser Diskussion befindet sich Kant in seiner vorkritischen Phase, als er sich zu den Themen Raum und Zeit äußert. Gleich seine Erstlingsschrift setzt an einer dynamischen bzw. relationalen Raumtheorie ausgehend von der Kraft einfacher Substanzen in der Welt an. Er versteht sich dort vor diesem Hintergrund als ein Verteidiger der leibnizischen Raumtheorie. Wie sich im nächsten Kapitel zeigt, wird Kant diese vermeintlich orthodoxe Haltung in Anbetracht der Kritik am relationalen Raumverständnis nicht lange vertreten können.
Gosztonyi 1976, S. 375 (Hervorhebung aufgehoben). Vgl. hierzu auch Gloy 1990, S. 16 – 26.
1 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der vorkritischen Phase In diesem ersten Kapitel soll es im Wesentlichen um Kants vorkritische Auseinandersetzung mit den Themen Raum und Zeit gehen. Dabei liegt der Fokus auf Kants Argumenten, Problemen und Umbrüchen in Bezug auf die Themen Raum und Zeit. In diesem Kontext sollte sich ein Interpret im Vorfeld bewusst machen, dass Kant insbesondere in der vorkritischen Phase keine stringente Entwicklung vollzieht. Im Hinblick auf die dritte Interpretationsmaxime aus Kapitel 0.2 sollte, wenn es um die Bewertung der vorkritischen Phase geht, der Umstand berücksichtigt werden, dass Kants Suche nach Antworten besonders in dieser Zeit von einer denkerischen Flexibilität gekennzeichnet ist. Kants Denken ist insbesondere in dieser Frühzeit durch ein besonderes Maß an Skepsis gekennzeichnet. Wie sich noch zeigen wird, ist zwar vor allem die vorkritische Phase stark abhängig von den Konzepten und Begrifflichkeiten, die Kant bei seinen Vorgängern vorfindet, doch schon hier ist Kant immer wieder bemüht, eigenständige Überlegungen einzubringen, indem er sich von seinen Vorgängern mal mehr, mal weniger distanziert oder sie korrigiert. Dabei versucht Kant bereits in seiner Erstlingsschrift, über diese Vorgänger hinauszugehen. Kühn hebt diesbezüglich hervor, dass Kant in seiner Frühzeit nicht nur „kein orthodoxer Wolffianer“ war, sondern „auch nie ein überzeugter Empirist“¹ wurde. Rationalistische und empiristische Einflüsse spielen beide beim frühen Kant unbestreitbar eine wichtige Rolle, doch gleichzeitig muss sich ein Interpret davor hüten, zu starre themenübergreifende Einschnitte und zu statische Strukturen ausmachen zu wollen.² Mit Blick auf die in
Kühn 2004, S. 218. Siehe dagegen Vaihingers Einteilung der vorkritischen Zeit in eine dogmatische (1750 – 1760) und eine empiristische Phase (1760 – 1764). Ab Träume (1766) kündigt sich nach Vaihinger der kritische Standpunkt bei Kant an. Vgl. Vaihinger 1922a, S. 47 ff. Entsprechend gibt Kühn ferner zu bedenken: „Viele Forscher haben versucht, die von Adickes gelieferte grobe Skizze zu verfeinern, und sie haben in die Entwicklung Kants eine größere Zahl von Perioden und Unterteilungen eingeführt und dabei von vielen verschiedenen mehr oder weniger radikalen ‚Umkippungen‘, ‚Kehren‘ oder Bekehrungen auf seiten Kants gesprochen. Zwar sind anscheinend die meisten Forscher der Ansicht von Adickes gefolgt, wonach die Periode von 1755 bis 1769 eine Entwicklung darstellt, die von einem ziemlich orthodoxen Rationalismus wegführt und zu einer Form des Empirismus hingeht, aber im Hinblick auf die Frage, wer Kant wann und in welchem Umfang beeinflußte, haben sie äußerst unterschiedliche Akzente gesetzt […]. Demnach gibt es fast ebenso viele unterschiedliche Konzeptionen der Details von Kants früher Entwicklung, wie es philosophische Fachleute gibt, die sich dazu äußern. Die Veränderung, die man Kant zuschreibt, sind oft mehr der Ausdruck der Wünsche des fraglichen Forschers als eine durch die Belege bestimmte Schlußfolgerung.“ (Kühn 2004, S. 212). https://doi.org/10.1515/9783110763553-003
1.1 Raum und Zeit als Mannigfaltigkeitsstrukturen
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Kapitel 0.1 aufgeworfenen Fragen konzentrieren sich die folgenden Unterkapitel nicht auf die chronologische Reihenfolge der kantischen Überlegungen, sondern sind systematisch orientiert. In den ersten beiden Unterkapiteln 1.1 und 1.2 wird es vor allem darum gehen, festzumachen, wie Kant Raum und Zeit strukturell versteht bzw. wie die Frage 0.1 in Anbetracht der vorkritischen Phase beantwortet werden kann und wie sich Kant im Hinblick auf diese Frage äußert. In den Unterkapiteln 1.3 und 1.4 wird es um die argumentative Auseinandersetzung mit den zur Diskussion stehenden Raum- und Zeitkonzepten gehen, die in Kapitel 0.4 einleitend thematisiert wurden. Diese beiden Unterkapitel zielen somit auf die Beantwortung der Frage 0.2. Dabei wird sich zeigen, dass Kant Momente der newtonschen Raumauffassung aufnimmt und damit von einer rein relationalen Position im Sinne Leibnizʼ endgültig abrückt. In De mundi legt sich Kant schließlich mit seiner Anschauungskonzeption auf eine eigene Position bei der Frage nach dem Status von Raum und Zeit fest, die sowohl die Überlegungen von Newton als auch von Leibniz unter strukturellen Aspekten inkludiert. Die Überlegungen im Anschluss an De mundi offenbaren dann jedoch, wie in Unterkapitel 1.5 zu zeigen sein wird, dass Kant systematische Schwierigkeiten mit seiner neuen Raum- und Zeitkonzeption bekommt. Dabei wird deutlich werden, dass gerade die Frage 0.3 im Hinblick auf die KRV von besonderer Bedeutung ist.
1.1 Raum und Zeit als Mannigfaltigkeitsstrukturen Bereits in Kants Erstlingsschrift lassen sich jene Merkmale finden, die Kants Raumbegriff von Anfang an prägen und die Kant aus der Metaphysik seiner Zeit entnimmt und verändert, um schließlich über sie hinauszugehen. Zunächst setzt Kant im Anschluss an seine Vorgänger ein Verständnis vom Raum voraus, wonach dieser eine „dreifache Abmessung“³ hat, „nicht […] vollkommen leer“⁴ sein kann und verschiedene „Theile[]“⁵ beinhaltet.Wie einleitend bereits erwähnt, orientiert sich Kant darüber hinaus auch an der Mathematik und Physik seiner Zeit und verweist beispielsweise an mehreren Stellen auf den von Euler erbrachten Beweis der unendlichen Teilbarkeit des Raums, was für Kant bis zuletzt ein wichtiges Merkmal seines Raumkonzepts bleibt.⁶ Auch wenn Kant im Zuge seiner zuneh-
AA I, 24. AA I, 115. AA I, 178. Vgl. hierzu die Charakterisierungen von Raum und Zeit bei Leibniz, Newton bzw. Clarke und Baumgarten, wie sie im Kapitel 0.4 dargestellt wurden. Vgl. beispielsweise AA II, 168. Kant führt hierzu auch selbst Beweise vor, siehe diesbezüglich AA I, 478 f.
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menden methodischen Differenzierung zwischen Mathematik und Metaphysik in den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts wiederholt zu der Meinung gelangt, dass es einer der größten Fehler der Philosophie gewesen sei, versucht zu haben, die Mathematik nachzuahmen, hält er die Sätze der Mathematik über Gegenstände, die auch in der Philosophie behandelt werden, für grundsätzlich nützlich.⁷ Konkret orientiert sich der frühe Kant zunächst an der leibniz-wolffschen Schulmetaphysik, die bereits die Tendenz aufweist, beide Wissenschaftszweige, also sowohl den metaphysischen als auch den mathematisch-naturwissenschaftlichen, zusammen zu denken. Seinen Ausgang nimmt dieses Denken jedoch in einer Monadologie. Entsprechend lassen sich nach dem frühen Kant weder die Gegenstände, die den Raum einnehmen, noch der Raum selbst ohne den Rückgriff auf die innewohnende „angewandte Kraft“⁸ der Substanzen bzw. Monaden verstehen. Und während er zu Beginn der vorkritischen Phase Raum und Zeit im Prinzip nur am Rande von metaphysischen und physikalischen Problemstellungen thematisiert, stellt er sich zunehmend die Frage, was es mit Raum und Zeit selbst auf sich hat. Dabei empfindet er nunmehr die bisherigen Auseinandersetzungen zu diesem Thema in der Metaphysik oder Weltweisheit – wie Kant sie gelegentlich auch nennt – als unbefriedigend. Kant zweifelt daran, „daß einer jemals richtig erklärt habe, was der Raum sei“⁹. Von diesem Zweifel ist die Zeit nicht ausgeschlossen. Auch bei ihr konstatiert Kant, dass „ob man gleich viel Wahres und Scharfsinniges von der Zeit gesagt hat, dennoch die Realerklärung derselben niemals gegeben [wurde]“¹⁰. Raum und Zeit sind beim frühen Kant in erster Linie die objektive „Erscheinung des äußeren Verhältnisses von Substan Vgl. AA II, 167 oder auch AA II, 283. Kant betont hier den Unterschied zwischen der analytischen Methode der Metaphysik gegenüber der synthetischen Methode der Mathematik. In der kritischen Phase bzw. in den Prolegomena macht Kant bekanntlich deutlich, dass insbesondere synthetische Urteile die Metaphysik ausmachen.Vgl. AA IV, 272 f.Vgl. das Kapitel 2.1.1 im Hinblick auf Kants methodische Grundlage. AA II, 287. AA II, 71. AA II, 284. Gleichzeitig scheint es eine Schwierigkeit der Metaphysik selbst zu sein, dass ihre Grundbegriffe nicht weiter aufgelöst werden können. Infolgedessen hält Kant fest, dass Raum und Zeit „nur zum Theil“ und die damit zusammenhängenden Begriffe eines Nebeneinanders und Nacheinanders „beinahe gar nicht aufgelöst werden können“ (AA II, 280). Vgl. AA II, 276 f. Im Anschluss an Falkenburg betont Unruh, dass der Begriff des Raums nach Kant zwar als klare Vorstellung gegeben sein kann, gleichwohl bedeutet dies nicht, dass eine philosophische Analyse obsolet wäre, denn eine klare Vorstellung ist in der Tradition von Leibniz keine deutliche Vorstellung. Vgl. hierzu Unruh 2007, S. 56 ff. Siehe ferner die Ausführungen in Kapitel 0.1 bezüglich der Problematik einer vollständigen Analyse des Raums und im Hinblick auf die KRV die Ausführungen in Kapitel 2.1.1. Zum Unterschied zwischen klaren und deutlichen Vorstellungen siehe ferner die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 2.2.5.
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zen“¹¹. Der Ursprung dieser Verhältnisse sind die Interaktionen der äußeren Substanzen bzw. Monaden. Die äußeren Wirkungen zwischen ihnen sind reale physikalische Interaktionen, woraus sich erklärt, dass Kant nach dem Realgrund dieser Strukturen fragt. Bereits die Zergliederung des bloßen Begriffs „Ort“ soll – wie Kant in seiner Erstlingsschrift schreibt – die „Wirkungen der Substanzen in einander andeute[n]“ ¹², denn „ohne äußerliche Verknüpfungen, Lagen und Relationen [kann] kein Ort statt finde[n]“¹³. Hieraus entsteht ein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis zwischen den räumlichen und den physikalischen Verhältnissen der Substanzen. Was gewöhnlich mit dem Begriff des Raums bezeichnet wird, soll demnach als das Resultat physikalischer Interaktionen verstanden werden, die durch die Kraft der Substanzen ermöglicht werden. Für Kant ist es in diesem Zusammenhang „leicht zu erweisen, daß kein Raum und keine Ausdehnung sein würden, wenn die Substanzen keine Kraft hätten außer sich zu wirken. Denn ohne diese Kraft ist keine Verbindung, ohne diese keine Ordnung und ohne diese endlich kein Raum.“¹⁴ Die Kraft der Substanzen ermöglicht somit jegliche Verbindung und Ordnung in der Welt, denn es lässt sich nicht sagen, „daß etwas ein Theil von einem Ganzen sei, wenn es mit den übrigen Theilen in gar keiner Verbindung steht“¹⁵. Demnach ist der Raum als „eine ganze Sammlung [von] Substanzen“¹⁶ zu verstehen, worin die „große[] Mannigfaltigkeit der Körper der Natur“¹⁷ durch das Gravitationsgesetz verbunden wird. Aufgrund der Abhängigkeit zu den Monaden und deren gravitativen Verhältnissen spricht Kant dem Raum selbst jeglichen Substanzcharakter ab. Diese Abhängigkeit vom Wirken der Substanzen geht soweit, dass Kant darüber spekuliert, ob nicht sogar die Dreidimensionalität des Raums, die bei Baumgarten nur nebensächlich thematisiert wird, von der physikalischen Gesetzmäßigkeit her verständlich werden kann.¹⁸ Kant geht über seine Vorgänger hinaus, wenn er meint, dass „aus diesem Begriffe der Kraft“ noch Weiteres „hergeleitet werden“¹⁹ kann. Er glaubt, die konkrete Form des Raums von der konkreten Gesetzmäßigkeit der physikalischen Interaktion zwischen den Substanzen her verstehen zu können. Trotzdem ist es
WW I, 535. AA I, 21. AA I, 22. AA I, 23. AA I, 22. AA I, 24. Zum Sinn von Ganzheit, ob als compositum oder als totum, siehe die Ausführungen in Kapitel 0.1. AA I, 157. Vgl. beispielsweise §289 der Metaphysica in Baumgarten, A. 2011, S. 169. AA I, 21.
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nach Kant „schwerer einzusehen, wie aus dem Gesetze, nach welchem diese Kraft der Substanzen außer sich wirkt, die Vielheit der Abmessungen des Raums herfolge“²⁰. Es bleibt an dieser Stelle ein Stück weit unklar, wie Kant sich das genau vorstellt und ob ein solcher Herleitungsversuch überhaupt gelingen kann. Dennoch ist bereits das Aufwerfen dieser Frage ein wichtiges Indiz für Kants relationales Raumverständnis. Buroker macht darauf aufmerksam, dass die Frage, wieso ein Raum ausgerechnet drei Dimensionen besitzt, nur vor dem Hintergrund eines relationalen Raumverständnisses Sinn ergibt. In einem absoluten Raumkonzept – zumindest im Zuge der newtonschen Theorie – macht eine solche Frage nämlich keinen Sinn, da der Behälterraum dort etwas Faktisches ist: „Space is infinite, continuous and three-dimensional because that is just the way it is (or the way God created it).“²¹ Dennoch betont Kant im Zusammenhang mit seiner Fragestellung nach der Dimensionalität des Raums, dass ihn Leibnizʼ „Zirkelschluß“²², wonach der Raum dreidimensional ist, weil sich in einem Punkt nur drei Linien rechtwinklig treffen können, nicht überzeugt. Deshalb versucht er eine Realerklärung anhand der physikalischen Gesetze für die Dreidimensionalität des Raums zu geben.²³ Neben dieser physikalischen Spekulation lässt sich in § 9 der Erstlingsschrift aber auch ein mathematischer Ansatz ausmachen, der die Drei-
AA I, 23. Später lässt Kant vor dem Hintergrund seiner Kopernikanischen Wende diese Überlegungen selbstverständlich fallen. Der Raum ist dann – wie in den Prolegomena ausgeführt – a priori dreidimensional. Vgl. AA IV, 284 f. Zur Abhängigkeit Kants von der euklidischen Geometrie siehe Unruh 2007, S. 314 ff. und ferner S. 291 ff. Brandt macht jedoch darauf aufmerksam, dass sich beim kritischen Kant im Vergleich zu Euklid das Bedingungsverhältnis zwischen dem Ganzen der Anschauung und den Teilen der Konstruktion umkehrt. Die Teilräume müssen beim kritischen Kant aus dem Ganzen der reinen Anschauung gewonnen werden und nicht umgekehrt.Vgl. hierzu Brandt 2010, S. 33 f. Buroker 1981, S. 39. Nach Buchdahl zeigt hingegen die Frage nach der Dreidimensionalität, dass beim frühen Kant die Dimensionalität des Raums nicht a priori notwendig bzw. „contingent“ (Buchdahl 1969, S. 580) ist. Für Messina wird Kant erst in Einzig mögliche Beweisgrund klar, dass der Raum nicht als etwas Kontingentes – wie noch in der Erstlingsschrift – gedacht werden kann, sondern nunmehr als etwas metaphysisch Notwendiges zu verstehen ist. Vgl. bei Kant AA II, 95. Vgl. hierzu Messina 2014, S. 30 ff. AA I, 23. Für Friedman integriert Kant Newtons Bewegungsgesetz in das Innere der Monadologie dadurch, dass er den leibnizischen Kraftbegriff mit der newtonschen Attraktionskraft identifiziert. Vgl. Friedman 1992, S. 5. Vor diesem Hintergrund meint Riehl, dass Kant niemals „in der Raumlehre Anhänger der Leibniz-Wolffschen Philosophie“ (Riehl 1924, S. 324) gewesen sei. Für Unruh geht das jedoch zu weit, da Kant sich explizit auf Leibniz bezieht und die Bewegung von der Kraft grundsätzlich loskoppelt, wohingegen Newton beide in einem proportionalen Verhältnis zueinander versteht. Vgl. hierzu Unruh 2007, S. 43 Anm. und ferner die Ausführungen in Kapitel 0.4 sowie in Kapitel 1.3.3.
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dimensionalität des Raums zu erklären versucht. Hiernach soll die Anzahl der Abmessungen des Raums mit Blick auf die Zahlenlehre in der Mathematik erklärlich werden. Dabei geht Kant davon aus, dass die ersten drei Potenzen irreduzibel sind und die vierte Potenz sich auf die ersten reduzieren lässt. Kant schwebt hier offensichtlich vor, dass sich die ersten drei Zahlen nicht durch natürliche Zahlen faktorisieren lassen, wohingegen die Zahl vier sich in das Produkt der Zahl zwei mit sich selbst arithmetisch zerlegen lässt. Dieses führt nach Kant zu der Überlegung, dass jeder höherdimensionale Raum in der Geometrie als etwas betrachtet werden kann, das aus den ursprünglichen drei Dimensionen des euklidischen Raums zusammengesetzt bzw. konstruiert ist. Doch Kant hält schließlich auch diesen mathematischen Ansatz für unbefriedigend. Während die Konstruktion höherer Gebilde für Kant arithmetisch nachvollziehbar scheint, scheitert die Konstruktion in seinen Augen letztlich an der Geometrie, weil die Reduktion höherer Dimensionen auf die ursprünglichen drei Dimensionen unanschaulich bleibt: Denn die vierte Potenz ist in allem demjenigen, was wir uns durch die Einbildungskraft vom Raume vorstellen können, ein Unding. Man kann in der Geometrie kein Quadrat mit sich selber, noch den Würfel mit seiner Wurzel multipliciren; daher beruht die Nothwendigkeit der dreifachen Abmessung nicht sowohl darauf, daß, wenn man mehrere setzte, man nichts anders thäte, als daß die vorigen wiederholt würden (so wie es mit den Potenzen der Zahlen beschaffen ist), sondern vielmehr auf einer gewissen andern Nothwendigkeit, die ich noch nicht zu erklären im Stande bin.²⁴
Auch wenn Kants Versuche, die Dreidimensionalität des Raums zu erklären, hier scheitern, gilt es festzuhalten, dass Kant damit die formalen Eigenschaften des Raums von der Physik und der Mathematik her verständlich zu machen versucht und selbst nach dem Scheitern einzelner Überlegungen daran festhält, dass es prinzipiell möglich sein muss, die Eigenschaften auf diese Weise herzuleiten. Diese Überzeugung finden wir auch in späteren vorkritischen Schriften: Während Kant in Neue Erhellung noch ganz abstrakt von „Wirkung und Gegenwirkung“ spricht, die zusammen den „Begriff des Raumes“²⁵ ausmachen, erklärt er diesbezüglich in MCG weiterführend, dass man mit einer bloß „zurückstoßende[n] Kraft, nicht in der Lage ist, die Verbindungen der Elemente, um Körper zusammenzusetzen, zu verstehen, sondern eher die Zerstreuung, setzt man aber [andersherum] bloß eine anziehende [Kraft], [lässt sich] zwar die Verbindung, nicht
AA I, 23. WW I, 505.
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jedoch die bestimmte Ausdehnung und den Raum [verstehen]“²⁶. Gerade das Zusammenwirken beider Kräfte – der repulsiven und der attraktiven – soll hier die konkrete Form eines Körpers bzw. „die Schranke der Ausdehnung“²⁷ erzeugen. Auch wenn Buroker darin einen Bruch mit der Erstlingsschrift sieht, weil Kant an dieser Stelle nicht mehr überzeugt zu sein scheint, dass das Gravitationsgesetz allein die Form des Raums erklären könne, so bleibt doch festzuhalten, dass Kant weiterhin an der grundsätzlichen Bedeutung des physischen Kraftaustauschs zwischen den Substanzen für den Raum festhält.²⁸ Diese Überlegungen Kants führen dazu, Raum und Zeit zunächst als objektive Verhältnisse der Substanzen bzw. sogar als deren Erscheinungsweisen zu verstehen. Andererseits sind Raum und Zeit von Anfang an auch Vorstellungen des Subjekts – obwohl sie (noch) nicht aus diesen ursprünglich entspringen. Bereits in der Erstlingsschrift macht sich Kant darüber Gedanken, wie es sein kann, dass nur der dreidimensionale Raum für das Subjekt vorstellbar bzw. anschaulich ist. Hierfür baut Kant seine physikalische Betrachtungsweise weiter aus und behauptet, dass selbst die Tatsache, dass wir uns keinen höherdimensionalen Raum anschaulich vorstellen können, darin begründet liegt, dass die Seele nach dem Gravitationsgesetz affiziert wird, bzw. ihre Eindrücke diesem Gesetz gemäß empfängt. Auch wenn Kant bereits hier danach fragt, wie eine subjektive Raumvorstellung zustande kommt, denkt er diese Fragestellung und das dazugehörige Bedingungsverhältnis – anders als in der kritischen Phase – ausschließlich vom realen Objekt her: Die Unmöglichkeit, die wir bei uns bemerken, einen Raum von mehr als drei Abmessungen uns vorzustellen, scheint mir daher zu rühren, weil unsere Seele ebenfalls nach dem Gesetze des umgekehrten doppelten Verhältnisses der Weiten die Eindrücke von draußen empfängt, und weil ihre Natur selbst dazu gemacht ist, nicht allein so zu leiden, sondern auch auf diese Weise außer sich zu wirken.²⁹
Da somit jede (selbst höherdimensionale) Raumvorstellung von dem physikalischen Wirken der jeweiligen Substanzen abhängt, kommt Kant in § 7 zu dem Schluss, dass Dinge existieren könnten, die gleichwohl nirgends in der Welt
WW I, 519 ff. WW I, 547. Vgl. Buroker 1981, S. 58 f. AA I, 24 f. Baker spricht damit bereits an dieser Stelle Kant ein Interesse an erkenntnistheoretischen Fragestellungen im Zusammenhang mit dem Raum zu: „Although it is impossible to find in this theory space as a form of the understanding, nevertheless, Kantʼs study of the problem as left by Leibniz shows that a new interpretation of relative space was possible for a theory of knowledge.“ (Baker 1935, S. 273).
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vorhanden seien, was dann zu seiner Spekulation über die Möglichkeit vieler Welten in § 11 führt.³⁰ An dieser Spekulation hält Kant noch in Neue Erhellung fest und bekräftigt sie dort sogar noch einmal.³¹ Marc-Wogau weist in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hin, dass Kant in Neue Erhellung elementare Überlegungen von der leibniz-wolffschen Raumauffassung aufgibt, da nunmehr „nicht nur innere, sondern auch äussere Bestimmungen“³² angenommen werden, die nicht auf innere Bestimmungen reduzierbar sind und somit ein Argument gegen Leibnizʼ Satz von der Identität des Ununterscheidbaren bilden.³³ Da die „numerische Differenz […] durch den Ortsunterschied“ und nicht durch Begriffsmerkmale bedingt ist, sieht Marc-Wogau schon beim frühen Kant den „Raum als differenzierendes Prinzip“³⁴. Der Raum selbst stellt eine Mannigfaltigkeit von Inhalten dar, denn in ihm werden verschiedene Substanzen individuiert bzw. unterschieden. Damit zeigt sich bereits hier ein erster Einfluss der Argumentation Clarkes gegen Leibniz.³⁵ Auch wenn die Zeit nur an wenigen Stellen explizit angesprochen wird, bleibt sie von all diesen Überlegungen – wie auch Al-Azm in seiner Auseinandersetzung mit Kants vorkritischem Zeitverständnis zeigt – nicht ausgenommen.³⁶ Vielmehr muss sie bei diesen Überlegungen stets mitgedacht werden. Dies wird etwa in Neue Erhellung deutlich, wo Kant bezüglich der Struktur der Zeit konstatiert: „Wenn […] die Verknüpfung der Substanzen völlig aufgehoben wird, verschwinden Aufeinanderfolge und Zeit gleichfalls.“³⁷ Auch für die Zeit besteht somit eine Abhängigkeit von dem Wirken der Monaden – genauso wie beim Raum. Dies erklärt sich damit, dass Kant Raum und Zeit grundsätzlich in einer gewissen Verwandtschaft sieht, wie sich in Träume bzw. an Kants Kritik an jene Mathematiker zeigt, die sich die Zeit als eindimensionale Linie vorstellen. Kant erläutert dort, dass die Linie nur als Analogie für das Vorstellen der Zeit dienen kann, da Raum und Zeit „niemals […] der Qualität nach mit einander übereintreffen“ und die Linie eine ausschließlich räumliche Figur darstellt. Doch trotz ihres qualitativen Unterschieds gesteht Kant ein, dass Raum und Zeit „eine Übereinkunft in
Vgl. AA I, 24 f. Vgl. AA I, 414. Marc-Wogau 1932, S. 63. Vgl. Marc-Wogau, S. 61– 64. Marc-Wogau 1932, S. 64. Vgl. hierzu die Darstellung des entsprechenden Einwands von Clarke gegen Leibnizʼ Satz von der Identität des Ununterscheidbaren in Kapitel 0.4. Vgl. hierzu Al-Azm 1967, S. 11– 29. WW I, 489.
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Verhältnissen“³⁸ haben. Auch wenn zunächst unklar bleibt, was es genau bedeuten kann, dass zwei Quantitäten qualitativ unterschieden und doch verhältnisgleich sein können, deutet sich bereits hier eine gewisse Verwandtschaft beider Formen an, was somit einen weiteren strukturbedingten Grund darstellt, die Zeit mitzudenken, wenn der vorkritische Kant sich über den Raum im Allgemeinen äußert.³⁹ Nichtsdestoweniger liegt die Aufmerksamkeit beim frühen Kant von vornherein stärker auf dem Raum, da er dessen systematische Auswirkungen für bedeutender hält als die der Zeit. Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass Kant in MCG die Frage nach den Eigenschaften des Raums ins Zentrum der Frage nach der Vereinbarkeit von Geometrie und Metaphysik stellt: „Denn während jene [die Metaphysik] schroff verneint, daß der Raum ins unendliche teilbar sei, behauptet es diese [die Geometrie] mit ihrer gewohnten Gewißheit und Strenge.“⁴⁰ Auch die Frage, ob der Raum leer sei oder nicht, wird gleichermaßen als Beispiel für den Streit zwischen beiden Wissenschaften angeführt.⁴¹ Sowohl die Frage, ob der Raum unendlich teilbar ist oder nicht, als auch die Frage, ob er leer ist oder nicht, wird – wie in Kapitel 0.4 dargestellt – in den Briefen zwischen Leibniz und Clarke intensiv diskutiert. Somit greift Kant hier erneut ein aktuelles Problem seiner Zeit auf. Um die Geometrie und Eulers Beweis der unendlichen Teilbarkeit des Raums mit der Metaphysik von Leibniz und ihrer Monadenlehre zu vereinbaren, rekurriert Kant auf die Unterscheidung zwischen Trennen und Teilen, die wir im Ansatz auch schon in der Erstlingsschrift finden.⁴² Während die Teilung keine für sich bestehenden Elemente schafft, die ein eigenständiges Dasein hätten, entzweit und separiert die Trennung die Teile eines Gegenstands.⁴³ Bei der Teilung hängen die Teile durch eine gemeinsame Grenze aneinander, wodurch sie verbunden
AA II, 339. Darüber hinaus gilt es auch hier wieder auf Kants Vorgänger zu verweisen, die ebenfalls Raum und Zeit im Zusammenhang thematisiert haben. Vgl. Kapitel 0.4. Bezüglich Kants Linienanalogie siehe die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 2.2.3. WW I, 519. Diesen Konflikt sieht Vaihinger vor dem Hintergrund der späteren Antinomien als eine der „treibenden Factoren bei der Ausbildung des transsc. Idealismus“ (Vaihinger 1922b, S. 424). In den Vorarbeiten zur KRV thematisiert Kant unter dem Titel einer „Dialectic“ der „Sinnlichkeit“ (Refl. 4756, AA XVII, 699) die Themen Raum und Zeit zusammen mit den Antinomien. Vgl. Refl. 4756, AA XVII, 699 f. Die enge Thematisierung in den Vorarbeiten könnte ein konkretes Indiz für Vaihingers These darstellen. Zur Diskussion bezüglich des entscheidenden Punktes beim Übergang in die kritische Phase siehe Anmerkung 227 im hiesigen Kapitel 1 und ferner die Ausführungen in Kapitel 1.5. Vgl. AA I, 475 f. Vgl. AA I, 22 f. Vgl. AA I, 480.
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bleiben, auch wenn sie nicht ineinander aufgehen, wie in einem ungeteilten Ganzen, das keine Grenzen hat. In einer Reflexion stellt Kant fest: „Die Gemeinschaft der Grenze der Ausdehnung ist die Berührung […].“⁴⁴ Die Trennung dagegen erzeugt eine Mehrzahl an Grenzen, indem keine Berührung, sondern ein Abstand zwischen den Gegenständen erzeugt wird, was zu einer Mehrzahl von „substantielle[n] Einfachheit[en]“ führt. Vor diesem Hintergrund ist für Kant „die Teilung des Raumes keine Trennung von etwas“⁴⁵. Im Hinblick auf die Monadenlehre bedeutet dies: Weil […] der Raum keine Substanz ist, sondern eine Art Erscheinung des äußeren Verhältnisses der Substanzen ist, so ist es der Einfachheit oder wenn man lieber will Einheit einer Substanz nicht entgegen, daß man das Verhältnis einer und derselben Substanz zweiteilen kann. Denn was sich auf beiden Seiten der teilenden Linie [als Grenze] befindet, ist nichts, was von der Substanz so zu trennen ist, daß es auch ohne sie ein eigenes Dasein bewahrt […].⁴⁶
Mit dieser Unterscheidung zwischen Teilung und Trennung meint Kant, einerseits behaupten zu können, dass der Raum eine unendliche Teilung möglich macht, andererseits, dass keine unendliche Trennung daraus folgt und die Monaden somit substanziell einfach bleiben können.⁴⁷ Für die Teilung soll somit gelten, „daß die Teilbarkeit des Raumes der Einfachheit der Monade nicht widerstrebt“⁴⁸, denn wer den Raum teilt, teilt nach Kant nur eine ausgedehnte Größe.⁴⁹ Kant unterscheidet damit nicht nur zwischen den Operationen der Teilung und der Trennung, sondern zugleich auch zwischen der äußeren, ausgedehnten Erscheinungsweise einer Monade im Raum, die durchaus geteilt sein kann, und einer inneren, nicht-ausgedehnten Seinsweise einer Monade, die grundsätzlich einfach ist. Diese Monade ist in allen ihren Teilen omnipräsent, wie es in Träume beispielsweise auch für die Seele gilt; denn auch die Seele ist nach Kant nicht einfach nur im Gehirn (also nur in einem Teil des Körpers) lokalisiert, sondern steht mit allen Körperteilen in Verbindung: „Meine Seele ist ganz im ganzen Körper und ganz in jedem seiner Theile.“⁵⁰ Omnipräsenz ist somit nicht nur ein wichtiges Merkmal einer Monade, die den Raum einnimmt, sondern auch einer Monade wie
Refl. 4497, AA XVII, 573. WW I, 533. Zu dem Sachzusammenhang bzw. der Unterscheidung zwischen teilen und trennen siehe die Ausführungen im Einführungskapitel 0.1. WW I, 535. Vgl. AA I, 480 ff. WW I, 533. Vgl. AA I, 481. AA II, 325.
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der Seele, die den Raum nicht einnimmt, aber in ihm wirksam ist. All dies erinnert unmittelbar an Leibnizʼ Argumentation gegen Clarke, nur dass Kant hier auch der Gegenseite Rechnung trägt, indem er die unendliche Teilbarkeit zumindest in mathematischer Hinsicht zugesteht.⁵¹ Im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Mathematik und Metaphysik ist mit Bezug auf MCG somit festzuhalten, dass Kant die Teilbarkeit des Raums mit der Einfachheit der Monade für vereinbar hält, indem er die Teilung von der Trennung begrifflich unterscheidet und betont, dass eine Teilung lediglich die äußere Erscheinungsweise der Monaden betrifft.⁵² Wie oben erwähnt, ist die Frage nach der Möglichkeit eines leeren Raums für Kant im Hinblick auf die Vereinbarkeit beider Wissenschaften ebenfalls wichtig. Bereits zuvor in der Erstlingsschrift schreibt Kant, dass der Raum „nicht als vollkommen leer“ betrachtet werden kann und folglich ein leerer Raum ein bloßes Gedankending darstellt.⁵³ Statt leer zu sein, ist der Raum bei Kant durchgehend mit „unendlich dünner […] Materie erfüllt“⁵⁴, die als „kleine[r] Theil[] des Raumes“ eine „unendlich kleine Masse[] des Raumes“⁵⁵ bildet. Kant greift somit die Äthertheorie auf und betont, dass er, selbst wenn er gelegentlich vom leeren Raum spricht, im Endeffekt nur einen nahezu leeren bzw. vergleichsweise leeren Raum meint, worin die Materie „zu unvermögend sei, als daß sie […] einige [physikalisch relevante] Wirkung verüben könnte“⁵⁶, wie er in einer Anmerkung in seiner Naturgeschichte klar stellt. In Neuer Lehrbegriff betont Kant, dass bei der Frage nach dem Unterschied zwischen relativer und absoluter Bewegung oder Ruhe, die Vorstellung eines leeren Raums nicht weiterhilft: Wenn ich mir auch gleich einen mathematischen Raum leer von allen Geschöpfen als ein Behältniß der Körper einbilden wollte, so würde mir dieses doch nichts helfen. Denn wodurch soll ich die Teile desselben und die verschiedenen Plätze unterscheiden, die von nichts Körperlichem eingenommen sind?⁵⁷
Vgl. die Ausführungen in Kapitel 0.4. Vgl. Malzkorn 1998, S. 385 – 392 für eine ausführliche Analyse Kants Argumentation in diesem Punkt. Somit distanziert sich Kant hier von Newtons absolutem Behälterraum, der gerade ein umgekehrtes Abhängigkeitsverhältnis vorsieht, denn die „Abhängigkeit seiner [des Raums] Eigenschaften von der Art der Kräfte und Wechselwirkungen der in ihm vereinigten Substanzen [ist bei Newton] ganz ausgeschlossenen“ (Adickes 1924, S. 88). AA I, 115. AA I, 29. AA I, 262 Anm. AA II, 17. Buroker sieht hier eine explizite Verteidigung des relationalen Raumkonzepts gegen Newton, zumal Kant in dieser Schrift sogar das gleiche Beispiel wie Newton verwendet, um die Relativität der Bewegung zu veranschaulichen. Mit der Relativität des Raums geht daher die Relativität der kinematischen Kategorien Bewegung und Ruhe einher. Vgl. Buroker 1981, S. 45 f.
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Damit der Raum also eine Mannigfaltigkeitsstruktur darstellen kann, ist er auf das kontingente Verhältnis zwischen Körpern angewiesen. Statt an einem leeren Raum hält Kant an der Äthertheorie und der damit zusammenhängenden Wärmetheorie fest. Das ist aus heutiger physikalischer Sicht prima facie verwunderlich, weil Kant die Schwingungstheorie als Grundlage der physikalischen Wärmelehre bereits kennt.⁵⁸ Im Hinblick auf die Reflexion 3892 wird jedoch aus metaphysischer Sicht klarer, dass Kant zu der Zeit aus systematischen Gründen an der Äthertheorie festhält bzw. das Konzept eines leeren Raums nicht einfach mitgehen kann: Ob es ein spatium absolutum oder tempus absolutum gebe, würde so viel sagen wollen, ob man zwischen zwey Dingen im Raume alles […] vernichten könne und doch die bestimte leere Lücke bleiben würde […].⁵⁹
Kant ist bemüht, das Konzept des leeren Raums zu entkräften und die Äthertheorie zu stärken, weil er meint, damit dem absoluten Behälterraum Newtons entgegenwirken zu können.⁶⁰ Wie er in der obigen Reflexion schreibt, hängen nämlich beide Konzepte zusammen. Die Behältervorstellung Newtons ist hier (und dann später auch wieder in De mundi) für Kant eine „leere Erfindung der Vernunft“, die „zur Welt der Fabeln“⁶¹ gehört.
Unruh macht darauf aufmerksam, dass Kant das Konzept eines leeren Raums aufgrund der Raumkonstituierung mittels der Substanzen nicht benötigt und ab 1758 dem Konzept entsprechend kritisch gegenübersteht. Vgl. Unruh 2007, S. 55 und ferner Gosztonyi 1976, S. 405 f. Vgl. AA II, 185. Kant rekurriert auf die Wärmetheorie von Boerhaaves, die sowohl Elemente einer kinetischen Wärmetheorie als auch einer Wärmestofftheorie im Sinne de Lavoisiers enthält, die Wärme lediglich als Anhäufung von Wärmestoff versteht. Kant hält an dieser Mischtheorie noch bis ins Opus postumum hinein fest. Vgl. hierzu Carrier 1991, S. 211 f. Kants Vorstellung von Feuer und Elektrizität, die er vom Studium bei Teske erwarb, gab er zeitlebens nicht auf. Zum Einfluss von Teske und Knutzen auf Kants naturwissenschaftliches Weltbild siehe Kühn 2004, S. 97– 107. Siehe zum naturwissenschaftlichen Studium Kants bei Knutzen nach newtonschen Prinzipien die Ausführungen in Calinger 1979, S. 349 – 355 und ferner in Kemp Smith 1991, S. 43 f. Zur komplizierten Forschungssituation im 18. Jahrhundert bezüglich einer Theorie der Wärme im Hinblick auf das Konstrukt des Äthers siehe Tuschling 1971, S. 184– 189. Refl. 3892, AA XVII, 330. Vor diesem Hintergrund ist auch dem Hinweis von Marc-Wogau zuzustimmen: „Wenn Kant in den 50er und 60er Jahren von der Leibniz-Wolffschen Raumlehre Abstand nahm, so bedeutete dies keineswegs, dass er damit schon bewusst einen absoluten realen Raum annahm.“ (MarcWogau 1932, S. 91). Vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 1.3. WW V, 63. Entsprechendes gilt vorher auch für die Vorstellung einer absoluten Zeit. Kant spricht hier von einem „commentum absurdissimum“ (AA II, 400). Auch wenn diese Stellen aus der späteren Schrift De mundi stammen, stehen sie doch auch sinnbildlich für den Tenor des frühen Kants vor seiner Schrift Über die Gegenden, in der Kant das absolute Raumkonzept vorerst
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Im Hinblick auf die Frage 0.1 bzw. die Frage nach der Struktur der Vorstellung von Raum und Zeit lässt sich in einem ersten Zwischenfazit feststellen, dass der frühe Kant zunächst von einem relationalen Raum- und Zeitkonzept ausgeht, das durch die physikalischen Substanzaktivitäten bedingt wird. Auch wenn er zunehmend skeptischer gegenüber der dogmatischen Metaphysik wird, prägt sein frühes Raum- und Zeitkonzept die Vorstellung, dass Raum und Zeit aus den physikalischen Verhältnissen der Substanzen hervorgehen, wodurch eine mannigfaltige Struktur und Ordnung zwischen den Substanzen entsteht und vorstellbar wird.
1.2 Raum und Zeit als Einheitsstrukturen In aller Ausführlichkeit widmet sich Kant dem Wärmestoff bzw. dem Äther in seiner Schrift De igne, wobei die Auseinandersetzung ausschließlich physikalisch bleibt.⁶² Kant führt hier den Wärmestoff ein, um den unterschiedlichen Aufbau von Körpern im Hinblick auf ihre Aggregatzustände zu erklären. Dabei kritisiert Kant die Vorstellung der zeitgenössischen Physiker, die im Anschluss an Descartes davon ausgingen, dass Flüssigkeiten im Prinzip wie Festkörper aufgebaut seien. Festkörper werden dagegen nach Kant dadurch zusammengehalten, dass ein Wärmestoff bzw. der Äther von außen auf die Randpartikel der Körper drückt, wohingegen Flüssigkeiten durchmischt mit Wärmestoff sind, sodass die Flüssigkeit an soliden Verbindungen gehindert wird.⁶³ Auch die Eigenschaften von Dehnung und Elastizität sind für Kant durch die Äthertheorie erklärbar. Ferner bildet der Äther den Ausgangspunkt für Kants Theorie vom Feuer, wodurch Kant schließlich auch zu einer Theorie des dritten Aggregatzustands gelangt – des Gaszustands.⁶⁴ Im Hinblick auf den Raum und seine Strukturen ist es jedoch wichtig, dass Kant bereits hier die Einheitsfunktion des Äthers herausstellt. In
übernimmt, um es dann in De mundi wieder zu relativieren und um es somit letztlich nur in bestimmten Punkten aufzugreifen. Vgl. hierzu Kapitel 1.4. Die Unterscheidung und Identifizierung der Begriffe Äther und Wärmestoff sind bei Kant nicht eindeutig. Es ist festzustellen, dass Kant „seit de igne den Wärmestoff bald mit dem Äther identifiziert, bald ihn als Modifikation des Äthers betrachtet, dann aber auch beide als getrennt voneinander oder auch im Konflikt miteinander wirkende Stoffe ansieht (cf. dazu im einzelnen die verschiedenen Reflexionen in XIV), und im o.p. [Opus postumum] ist die Lage so, daß nach anfänglichen Schwankungen vom Ok. [Oktavenentwurf] an beide Termini meist promiscue gebracht werden und eine sachlich-systematische Fassung beider Begriffe nicht mehr intendiert ist.“ (Tuschling 1971, S. 186). Vgl. AA I, 372. Vgl. AA I, 378 f.
1.2 Raum und Zeit als Einheitsstrukturen
57
seiner abschließenden Zusammenfassung der ersten Sektion hebt Kant hervor, dass das elastische Material (d. i. der Äther) den Grund für die empirische Einheit eines Festkörpers darstellt.⁶⁵ Ferner heißt es dann ausdrücklich in Sektion II, dass der Äther alle Körper zusammenhält.⁶⁶ Dabei verwendet Kant Metaphern, die den Äther als eine Art Kleber oder auch als Magnet veranschaulichen sollen. Der Äther ermöglicht somit die empirische Einheit der Körper.⁶⁷ Auch in Naturgeschichte spielt der Wärmestoff und damit zusammenhängend das Feuer eine wichtige Rolle. Ausgehend von der prinzipiellen und formalen Gleichberechtigung der Inertialsysteme, die Kant sicherlich von seinem Physikstudium her kennt, wonach „in einem unendlichen Raume kein Punkt eigentlich das Vorrecht haben kann, der Mittelpunkt zu heißen“⁶⁸, fragt er sich, ob nicht zumindest in materiell-empirischer Hinsicht ein Mittelpunkt im Raum ausgemacht werden könnte. Was heute als Gravitationszentrum bezeichnet wird, beschreibt Kant als einen hohen bzw. „wesentliche[n] Grade der Dichtigkeit des Urstoffes“. Dieser dichteste Punkt kann somit nach Kant „das Vorrecht haben, der Mittelpunkt zu heißen“⁶⁹. Zu diesem Mittelpunkt steht alles in Beziehung und er ist selbst die treibende Kraft des Universums. Er enthält das „Feuer, welches sich aus dem Mittelpunkte des Weltsystems verbreitet, um die Materie in der nöthigen Regung zu erhalten“⁷⁰. Zwar finden wir in der Schrift Naturgeschichte den Begriff eines Wärmestoffs oder Äthers nicht, gleichwohl heißt es aber auch hier, dass die „kleinsten Theile[] der elementarischen Materie, […] den leeren Raum […] erfüll[en]“⁷¹, sodass von eigentlicher Leere im Raum nicht gesprochen werden kann. Kant stellt sich das ursprüngliche Universum als chaotische Ansammlung von elementarer Materie vor, die durch die newtonschen Gesetze mit der Zeit zunehmend zu einer systematischen Ordnung gelangen. Auch wenn sich nicht sagen lässt, dass die Naturgeschichte gänzlich frei von „theologischen Grübeleien“ bleibt, so gilt es doch hervorzuheben, dass „Kant zur Erklärung der Natur keine theologischen Prinzipien verwendet[]“⁷² bzw. dass Kant Gott nicht als Erklärung für empirische Phänomene und deren Gesetzmäßigkeiten hinzuzieht. So kritisiert er auch etwa ausdrücklich Newtons transzendente Deutung des Verhältnisses von Planetdichte und Sonnenabstand. Während Newton behauptet, dass an diesem
Vgl. AA I, 375. Vgl. AA I, 382. Vgl. AA I, 382. AA I, 312. AA I, 312. AA I, 358. AA I, 306. Kühn 2004, S. 128.
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1 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der vorkritischen Phase
Verhältnis die „Anständigkeit der Wahl Gottes und […] [der] Bewegungsgründe[] seines Endzwecks zu finden [wäre]“, hält Kant dem entgegen, dass „die Unzulänglichkeit einer solchen Erklärung einzusehen, […] nicht eben viel Nachsinnen“⁷³ erfordert. Eine solche Erklärungsart nötigt einen, wie Kant an einer späteren Stelle in dieser Schrift schreibt, „die ganze Natur in Wunder zu verkehren“⁷⁴. Kant geht es dagegen um eine naturwissenschaftliche Methode, die empirische Verhältnisse allein aus Naturgesetzen heraus zu begründen sucht – getreu dem Motto: „Gebet mir Materie, ich will eine Welt daraus bauen!“⁷⁵ Dennoch glaubt auch Kant, eine Art kosmologischen Gottesbeweis vorbringen zu können: „[E]s ist ein Gott eben deswegen, weil die Natur auch selbst im Chaos nicht anders als regelmäßig und ordentlich verfahren kann.“⁷⁶ Kant stellt sich ferner die Frage, wie es denn möglich sei, „daß Dinge von verschiedenen Naturen in Verbindung mit einander so vortreffliche Übereinstimmungen und Schönheiten zu bewirken trachten […], wenn sie nicht einen gemeinschaftlichen Ursprung erkennten, nämlich einen unendlichen Verstand, in welchem aller Dinge wesentliche Beschaffenheiten beziehend entworfen worden“⁷⁷. An dieser Stelle zeigt sich schließlich auch die Bedeutung von Raum und Zeit für diesen Gesamtkontext wie auch umgekehrt die Bedeutung dieser kosmologischen Überlegung für Kants frühes Raum- und Zeitverständnis. Ebenso wie die Naturgesetze, durch die Gott die Ordnung in der Natur sicherstellt, „kein selbständiges und ohne Gott nothwendiges Principium“⁷⁸ darstellen, sind auch Raum und Zeit in einer solchen Abhängigkeit zu verstehen. Zwar heißt es in Anlehnung an Kants Erstlingsschrift weiterhin, dass es die „Anziehung ist […], welche den Raum macht, indem sie die Substanzen durch gegenseitige Abhängigkeiten verbindet“⁷⁹, doch an gleicher Stelle findet sich eine leichte Abänderung dieser Formulierung. Kant will die Abänderung lediglich als Präzisierung verstanden wissen, indem er, um „eigentlicher zu reden“, schreibt, dass die Anziehung die „allgemeine Beziehung [ist], welche die Theile der Natur in einem Raume vereinigt: sie erstrecket sich also auf die ganze Ausdehnung desselben, bis in alle Weiten ihrer Unendlichkeit“⁸⁰. Die Beziehung zwischen den Substanzen ermöglicht also hier die Verbindung in einem Raum. Auch in Bezug auf Gott ist der Raum mehr als nur ein abgeleitetes,
AA I, 271. AA I, 333. AA I, 230. AA I, 228. AA I, 225. AA I, 332. AA I, 308. AA I, 308 (Hervorhebung von mir).
1.2 Raum und Zeit als Einheitsstrukturen
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relationales Gebilde: „Die Ewigkeit ist nicht hinlänglich, die Zeugnisse des höchsten Wesens zu fassen, wo sie nicht mit der Unendlichkeit des Raumes verbunden wird.“⁸¹ So unendlich Gott bei Kant gedacht wird, so unendlich sind auch die Schöpfung und mit ihr die Formen dieser Schöpfung – nämlich Raum und Zeit. Gott ist durch Raum und Zeit omnipräsent; oder wie Kant es ausdrückt: Der Raum stellt den „unendlichen Umfang der göttlichen Gegenwart“⁸² dar. In diesem „weit ausgedehnten Raume“ bilden sich dann aufgrund des „darin […] ausgebreitete[n] elementarische[n] Grundstoff[s]“⁸³ und des Gravitationsgesetzes systematische Verhältnisse. In Herders Mitschriften zu Kants Metaphysik-Vorlesung aus dieser Zeit heißt es entsprechend, dass „der Raum […] der erste actus der göttlichen Allgegenwart sein [muss], wodurch die Dinge in nexus kommen“⁸⁴. Der Raum offenbart sich demnach nicht mehr nur als ein Produkt physikalischer Interaktionen, wie dies noch in der Erstlingsschrift zu sein scheint, sondern vielmehr auch als ein Produkt bzw. sogar als ein Akt des göttlichen Vermögens.⁸⁵ Weder die empirisch-sukzessive Interaktion durch das Gravitationsgesetz noch der materielle Äther stellen die Verbindung zwischen den einzelnen Substanzen sicher, sondern Raum und Zeit als ein Akt Gottes. Dementsprechend konstatiert Gent, dass im Gegensatz zur Erstlingsschrift, in der „Erzeugerinnen und Erzeugtes noch durchaus derselben Ebenen angehörten“, der Raum in der Naturgeschichte als „Produkt […] eines ihm vollkommen transzendenten Faktors“⁸⁶ angesehen werden muss. Auch im Anschluss an die Naturgeschichte finden wir in Neue Erhellung die These, dass Raum und Zeit nicht nur Produkte der Substanzen sind, sondern insbesondere eine Wirkweise und somit auch ein Produkt Gottes darstellen. Die endlichen Substanzen haben „gar keine Gemeinschaft, als nur sofern sie von dem gemeinsamen Grund ihres Daseins, nämlich dem göttlichen Verstand, in wechselseitigen Beziehungen gestaltet erhalten werden“⁸⁷. Damit wird klar, dass der Raum strukturell nicht in den relationalen Verhältnissen zwischen den Substanzen aufgehen kann, sondern auch eine grundsätzliche Einheitsstruktur besitzt. Wie Dück betont, „vertieft“ Kant seine „Raumlehre“ in Neue Er AA I, 309 f. AA I, 306. AA I, 323. AA XXVIII, 103 f. Auch Unruh konstatiert, dass Kant nach der Erstlingsschrift bemüht ist, „den Grund des als Wechselwirken verstandenen Nexus der Dinge […] tiefer […] zu legen, nämlich in eine fortwährende Auswirkung einer Vorzeichnung des Koexistierens in Gott“ (Unruh 2007, S. 48). Unruh macht diese These in erster Linie an der späteren Schrift Neue Erhellung fest. Vgl. Unruh 2007, S. 48. Gent 1926, S. 260. WW I, 497.
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1 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der vorkritischen Phase
hellung, indem er eine „Position zwischen Leibniz und Newton“⁸⁸ einnimmt. In Kants Metaphysik-Vorlesung heißt es: Dadurch, daß die Dinge alle da sind durch Einen, machen sie eine Einheit aus. Wenn diese Einheit sinnlich vorgestellt wird, so ist es der Raum. Der Raum ist also ein Phänomenon der göttlichen Allgegenwart, obgleich nicht Organon, wie Einige meinten, die es mehr mathematisch als metaphysisch nehmen.⁸⁹
Damit ist ein neuer – zumindest vorher nicht explizit benannter – Aspekt angesprochen: Der Raum wird als alles beinhaltende Struktur verstanden, der kein von der Gottheit unabhängiges Prinzip darstellt, sondern eine Erscheinungsweise, ein actus, wodurch Gott in der Welt omnipräsent ist.⁹⁰ Raum und Zeit werden in der
Dück 2001, S. 64. Ferner heißt es bei Dück: „Letztbegründet allerdings sind die auftretenden Kräfte eben nicht in den Körpern selbst, sondern im göttlichen Verstand. Damit wird dem Raum in einem göttlichen Schöpfungsakt Realität im Newtonschen Sinne zugesprochen, ganz im Gegenteil zu Leibnizʼ Konzept der Idealität des Raumes. Bestimmt wird der Raum aber durch die Relationen der Körper zueinander: eine Position zwischen Leibniz und Newton.“ (Dück 2001, S. 64). Entsprechend sieht Falkenburg im „System von 1755/56“ eine „,mittlere[]ʻ Position“ (Falkenburg 2000, S. 55) zwischen Newtons und Leibnizʼ Raumkonzept. Vgl. ferner Friedman 1992, S. 5 f. AA XXVIII, 347. Vgl. hierzu ferner die Kritik an Newtons Verwendung des Worts sensorium durch Leibniz, wie in Kapitel 0.4 dargestellt. Ob Kant – wie beispielsweise Gosztonyi meint (vgl. Gosztonyi 1976, S. 403 f.) – bereits hier bzw. vor seiner Schrift Über die Gegenden von einem rein relationalen Raumkonzept abweicht und meint, es gäbe einen Raum vor aller Materie, ist schwer zu beantworten. Damit hängt nämlich die Frage zusammen, ob Kant glaubt, es gäbe einen Raum oder zumindest einen Ort vor jeglicher Substanzaktivität oder nicht: In der Erstlingsschrift ist der Ort noch ganz von den Substanzen und deren Relationen abhängig. Substanzen sind ursprünglich ohne Ort und bestimmen durch ihre Verhältnisse den Raum, wodurch Ort, Lage und Raum erstmals entstehen. Allein im Begriff Ort ist – wie in Kapitel 1.1 ausgeführt – angedeutet, dass Verhältnisse zwischen Substanzen vorliegen müssen. Ein relationales Ortsverständnis findet sich neben der Erstlingsschrift auch in Neue Erhellung, hier jedoch mit dem Zusatz, dass die ursprünglich ortlosen Substanzen durch Gott bzw. durch seine Wirkweise über die Naturgesetze Ort, Lage und Raum hervorbringen. Die Substanzen können daher so bestehen, „daß sie an keinem Ort sind und in gar keinem Verhältnis bezüglich der Dinge unseres Alls“. Mit der „Setzung des Daseins mehrerer Substanzen [ist] nicht zugleich Ort, Lage und der aus diesen durchgängigen Verhältnissen gebildete Raum bestimmt“. Denn diese Verknüpfung der Substanzen erfordert eine „in der schöpferischen Vorstellung des göttlichen Verstandes […] begriffene Darstellung“ (WW I, 502 ff.). Selbst der Begriff des Ortes ist jetzt von Gott abhängig, denn Gott ist letztendlich derjenige, der den „Substanzen verschiedene Örter angewiesen“ hat (WW I, 485). In MCG hingegen befinden sich Substanzen zwar von vornherein an Orten, sie nehmen deshalb aber noch „keinen Raum“ (WW I, 543) ein. Einen Raum einnehmen bedeutet hier vielmehr, dass die Substanzen eine äußerliche „Wirksamkeit“ (WW I, 541) entfalten. Wird aber mit der Setzung einer Substanz zugleich ein Ort besetzt, scheinen in irgendeiner Weise räumliche Bestimmungen mit dem Setzen von Substanzen durch Gott zusammenfallen zu müs-
1.2 Raum und Zeit als Einheitsstrukturen
61
Naturgeschichte als Manifestationen der Allgegenwart Gottes verstanden, wovon zuvor – beispielsweise in der Erstlingsschrift – nicht die Rede war. Ausgehend von Raum und Zeit als unendlichen Gebilden gelangt Kant in der Naturgeschichte zu der Einschätzung, dass die Schöpfung bzw. das Universum „niemals aufhören“⁹¹ werden. In einer Anmerkung präzisiert Kant seine Überlegung und verteidigt die Vorstellung einer „unendlichen Ausdehnung der Welt“ als eine „Menge ohne Zahl und Grenzen“ gegen metaphysische Einwände und „der angeblichen Unmöglichkeit“, sich eine solche Menge vorzustellen. Explizit schreibt Kant hier, dass die „wahre Unendlichkeit […] Mannigfaltigkeiten und Veränderungen in sich“ fasst. Diese Vorstellung einer aktualen Unendlichkeit soll auch „dem Raume nach“⁹² gedacht werden. Offensichtlich stellt sich Kant somit – in Anlehnung an die aktuale Unendlichkeit bei Leibniz⁹³ – den Raum und die Zeit als eine Größe vor, die sen, womit das Raumkonzept nicht mehr primär relational gedacht werden kann. Den globalen Charakter des Raums, an den Kant auch noch in De mundi und bis zum Schluss festhält, finden wir in der Erstlingsschrift – und somit im Zusammenhang mit seinem relationalen Raumkonzept – noch nicht. Vgl. dagegen Marc-Wogau 1932, S. 58 f.; S. 70 ff., der den allbefassenden Raum bereits in der Erstlingsschrift vorausgesetzt sieht. Schlussendlich gelangt Kant in Über die Gegenden zu der Position, dass der allbefassende Raum von vornherein und vor aller Materie vorliegen muss. Inwiefern sich dieser Schritt bereits vorher ankündigt, wird in Anbetracht der soeben dargelegten Schwankungen schwer textimmanent und endgültig zu klären sein. Ein anderes und damit zusammenhängendes Problem stellt die Frage nach der Bestimmung eines Ortes dar. Während Kant in Neue Erhellung schreibt, dass der Ort durch die Verhältnisse der Substanzen und ihrer Lagen bestimmt werden kann (vgl. AA I, 414), heißt es in Träume, dass in der Empfindung ein Ort ersichtlich und bestimmt wird (vgl. AA II, 344), wodurch Kant sein Raumkonzept in den epistemischen Themenhorizont des Subjekts rückt. Vgl. hierzu Gosztonyi 1976, S. 408. Mit Über die Gegenden ändert sich die Sachlage grundsätzlich, da Kant hier alle räumlichen Bestimmungen in klarer Abhängigkeit zum absoluten Raum betrachtet und somit auch der Ort nur aus der Vorstellung eines absoluten Raums heraus bestimmt werden kann. Vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 1.3.3. AA I, 314. AA I, 309 f. Anm. Engelhard erklärt, dass Leibniz – obwohl er über den Begriff einer potentiellen Unendlichkeit verfügte – im Rahmen seiner Systematik gezwungen war, den Begriff der aktualen Unendlichkeit auf die Materie anzuwenden: „[N]ach Leibniz ist ein Kontinuum ideell, ihm kommt keine objektive Realität zu, weil es kein Unteilbares [keine Monade] enthält.“ (Engelhard 2005, S. 283 Anm.). Engelhard konstatiert daher, dass Kants Anwendung des potentiell Unendlichen auf die Verstandes- und Vernunfthandlungen im Jahr 1769 mit einem neuen, kritischen Substanzbegriff einhergehen muss. Sie verweist dabei auf die zahlreichen Reflexionen aus der Phase λ (1769/70), in denen die Unanschaulichkeit des aktual Unendlichen hervorgehoben wird. Mit Bezug auf die Reflexion 4697 (vgl. AA XVII, 678) behauptet sie, dass damit ersichtlich würde, dass die aktuale Unendlichkeit keine „objektive Realität“ (Engelhard 2005, S. 284 Anm.) haben könne. Kant scheint jedoch in De mundi die aktuale Unendlichkeit zumindest über die göttliche Anschauung bezüglich ihrer Realität verteidigen zu wollen. Vgl. hierzu diese übernächste Anmerkung 95 im
62
1 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der vorkritischen Phase
Elemente im Sinne einer Menge enthält, die gleichwohl keine Grenze haben soll und somit unendlich ist. Das Unendliche ist hier „unter allen Größen diejenige, welche, durch Entziehung eines endlichen Theiles nicht vermindert wird“⁹⁴. Fraglich bleibt an dieser Stelle, wie sich eine solche aktuale Unendlichkeit vorstellen lässt.⁹⁵ Ungeachtet dieser Problematik heißt es bei Kant ferner, dass eine Annäherung ans Unendliche nicht möglich ist, indem man den Raum, „mit dem Radius der Milchstraße beschrieben, einschließt, als wenn man ihn in eine Kugel beschränken will, die einen Zoll im Durchmesser hat“⁹⁶. Gott selbst ist an keinem bestimmten Ort und in keiner bestimmten Zeit, wie es in späteren vorkritischen Schriften heißt.⁹⁷ Das Unendliche ist vielmehr omnipräsent, wodurch alles Endliche „vom dem Unendlichen gleich weit entfernt“⁹⁸ ist. Diese Konzeption ist weiterhin eng an Newtons Physik gebunden: Selbst dann, wenn Objekte sich „nicht berühren“ und eine „Entfernung“⁹⁹ sie trennt, kann von einem unmittelhiesigen Kapitel 1 sowie weiter unten die Ausführungen zum Unendlichen im Kapitel 1.4. Siehe bezüglich dieses Themas in der kritischen Phase die Kapitel 2.1.5 und 2.3. AA I, 354. Offensichtlich ist auch Kant sich bereits hier dieser Problematik bewusst, sodass diese unanschauliche unendliche Reihe nur „dem göttlichen Verstand gänzlich gegenwärtig“ (AA I, 309 Anm.) sein kann. Diese Problematik – wie in obiger Anmerkung 93 im hiesigen Kapitel 1 angesprochen – spielt auch bei Kants Aufbruch in die kritische Phase eine Rolle: In De mundi heißt es weiterhin, dass eine quantitative Unendlichkeit unanschaulich ist, doch von einem göttlichen Verstand „deutlich überschaut“ (WW V, 17 Anm.) werden könnte. Ferner kann eine kontinuierliche Größe – als qualitative Unendlichkeit – im Hinblick auf die in ihr liegenden Teile ebenfalls nicht „nach den Gesetzen der Anschauung […] vollständig gedacht werden“ (WW V, 15). Engelhard konstatiert diesbezüglich: „Die Bedingungen der Erfahrung des endlichen Verstandes sind in der Dissertation nicht Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung und somit ist das aktual Unendliche in der Metaphysik an sich möglich.“ (Engelhard 2005, S. 352). Falkenburg sieht die „Abkehr vom Leibnizschen Begriff des Aktual-Unendlichen“ sogar als „den entscheidenden Umkehrpunkt in der Argumentation von der Widerspruchsfreiheit der Kosmologie von 1770 zum Widerspruch im Weltbegriff von 1781“ (Falkenburg 2000, S. 165 (Hervorhebung aufgehoben)). Röd betrachtet diese Entwicklung vor dem Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit Humes Kritik an der unanschaulichen Vorstellung einer Unendlichkeit. Humes Kritik lehnt Kant zunächst in Negative Größe als „angemaßte[] Dreistigkeit“ (AA II, 168) ab und verweist in De mundi darauf, dass nur dasjenige unmöglich ist, das den Gesetzen des Verstandes widerstrebt (vgl. AA II 388 f.), obwohl er hier gegenüber Hume zugesteht, dass die Anschaulichkeit des Unendlichen für den Menschen ausgeschlossen ist. Vgl. hierzu Röd 1990, S. 498 f. Die damit zusammenhängende Problematik mit Raum und Zeit als kontinuierlichen Größen, die sehr wohl anschaulich sein sollen, werden in Kapitel 1.4 und 2.1.5 aufgegriffen. AA I, 309. Siehe beispielsweise die Überlegung aus Falsche Spitzfindigkeit in AA II, 48 f., wonach es für Kant unmöglich ist, Gott zeitlich auszumessen. AA I, 309. AA II, 288.
1.2 Raum und Zeit als Einheitsstrukturen
63
baren Verhältnis gesprochen werden. Jedenfalls spricht aus metaphysischer Sicht nichts dagegen, wenn die Newtonianer von einer physikalischen Fernwirkung sprechen, wie Kant sie in Natürliche Theologie gegenüber Diskreditierungen seitens der Metaphysiker verteidigt. Für Kant ist es mit seinem erweiterten Raumverständnis, wonach der Raum eine alles beinhaltende Einheitsstruktur darstellt, unproblematisch, in der Physik von Fernwirkungen zu sprechen.¹⁰⁰ In MCG liegt das Augenmerk auf den unterschiedlichen Methoden der Wissenschaften. Im Zuge der methodischen Trennung zwischen Philosophie und Mathematik wird das Attribut der Unendlichkeit und der Einheitscharakter des Raums auch unabhängig von der Omnipräsenz Gottes dem Raum zugesprochen. Gent schlussfolgert daraus, dass der Raum hier „zum ersten Male seine Unendlichkeit nicht von Gott ausleiht, […] sondern seinem Wesen nach unendlich zu sein scheint“¹⁰¹. Trotzdem behauptet Kant auch hier noch, dass der Raum „durch bloße äußere Beziehungen [der Substanzen] zustandekommt“¹⁰². Im weiteren Verlauf der vorkritischen Phase rückt der allbefassende Charakter des Raums immer weiter in den Vordergrund. In Einzig mögliche Beweisgrund schreibt Kant, dass es insbesondere an „den nothwendigen Eigenschaften des Raums“ liegt, dass „Einheit bei der größten Mannigfaltigkeit“¹⁰³ in der Mathematik und auch in der Natur herrscht. Ferner heißt es: „In den Eigenschaften des Raums liegen schöne Verhältnisse und in dem unermeßlich Mannigfaltigen seiner Bestimmungen eine bewundernswürdige Einheit.“¹⁰⁴ Im Hinblick auf diese Bedeutung der Einheit konstatiert Messina für die vorkritische Phase: In all of the pre-Critical texts considered above, Kant holds that the unity of space is something that requires explanation. This view holds constant, despite Kantʼs change of mind about whether, in creation scenarios in which space exists, space must be a unity. This commitment seems to be rooted in Kantʼs rationalism, which leads him to apply the principle of sufficient reason to all unities, even necessary ones, and to look for an ultimate explanation in terms of the properties of a supreme being. At the same time, during this period, Kant moves away from the view that space is the result of connections among substances.¹⁰⁵
Vgl. AA II, 288. Gent 1926, S. 262. Zu beachten gilt jedoch, dass alle drei Schriften (Naturgeschichte, MCG, Neue Erhellung) in nur einem Jahr publiziert wurden und es daher wahrscheinlich ist, dass Kant gleichzeitig an mehreren Werken schrieb. Eine strikte Trennung in der Entwicklung dieser Schriften wird hier wohl kaum möglich sein. WW I, 537. AA II, 95. AA II, 101. Messina 2014, S. 34.
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1 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der vorkritischen Phase
Insbesondere in Über die Gegenden wird deutlich, dass Kant den Grund für die Einheit des Raums nicht mehr in der physikalischen Interaktion von Substanzen sieht. In Bezug zur Frage 0.1 lässt sich das obige Zwischenfazit aus Kapitel 1.1 dahingehend erweitern, dass Raum und Zeit in der vorkritischen Phase nicht nur Mannigfaltigkeitsstrukturen, sondern auch Einheitsstrukturen darstellen, wodurch alle Substanzen strukturell als Inhalte eines globalen Raums und einer globalen Zeit verstanden werden. Damit stellt sich jedoch die Frage, wie diese beiden Strukturen in Verhältnis zueinander vorgestellt werden können, was zur Frage 0.2 führt: nämlich der Frage nach der Art dieser Vorstellung.
1.3 Kants Schrift Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume und das Paradox der inkongruenten Gegenstücke Mit der Schrift Über die Gegenden erfährt Kants vorkritische Auseinandersetzung mit dem Raum einen vorläufigen Höhepunkt. Schon der Titel macht deutlich, dass Kant den Raum nunmehr ganz bewusst in den Fokus seiner Überlegungen rückt. Damit gehen auch wesentliche Änderungen in der Sache einher: Im Hinblick auf die zuletzt aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis der Strukturmerkmale des Raums lässt sich vorab sagen, dass Kant hier die Bindung des Raumkonzepts an die Gottesidee aufhebt. Gleichzeitig wird das Strukturmerkmal der Einheit zum dominierenden Formprinzip, sodass diese Einheit sogar die Voraussetzung für relationale Verhältnisse innerhalb dieser Einheit bildet. Unruh spricht vor diesem Hintergrund von einem „deutlichen Einschnitt in Kants Raumkonzeption“¹⁰⁶. Aus der omnipräsenten Raumstruktur als einem Akt Gottes wird schließlich ganz unabhängig von Gott ein „allgemeine[r] Raum als eine Einheit, wovon jede Ausdehnung wie ein Theil angesehen werden muß“¹⁰⁷. Kant geht somit von einem ursprünglich relationalen Raumkonzept, wie er es in seiner Erstlingsschrift einführt, zu einem Raumkonzept über, das einen absoluten Raum als alles be-
Unruh 2007, S. 59. AA II, 378. Cocco weist darauf hin, dass für Kants vorkritische Entwicklung bei der Raumvorstellung die holistische Vorstellung der Struktur Gottes als „methodologisches Hilfsmittel“ (Cocco 2008, S. 13) wichtig war, wodurch eine strukturelle Nähe zwischen beiden Vorstellungen entstand.Vgl. Cocco 2008.Vgl. hierzu auch schon Dietrich 1916, S. 47. Diese strukturelle Nähe zeigt sich zudem bei Kants Einführung des transzendentalen Ideals in der KRV. Vgl. hierzu Anmerkung 662 in Kapitel 2.
1.3 Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume
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inhaltende Einheit an den Anfang stellt. Doch wie begründet Kant diesen Umschwung in seiner Auseinandersetzung mit Raum und Zeit? Die Kürze der Abhandlung Über die Gegenden darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kants Text hier sehr gehaltvoll und die Argumentation recht komplex ist. Bereits Riehl merkt diesbezüglich an, dass es zwar „nur wenige, aber um so inhaltsvollere Seiten“¹⁰⁸ sind. Um den Überblick von vornherein nicht zu verlieren, ist es daher an dieser Stelle wichtig herauszustellen, dass Kants Argumentation in Über die Gegenden gleich drei unterschiedliche und aufeinander nicht reduzierbare Ebenen umfasst. Kants Argumentation besitzt mit dem Beispiel der sphärischen Dreiecke eine mathematische Ebene, daneben besitzt sie mit dem Gedankenexperiment, wonach eine Hand als erster Schöpfungsgegenstand mit einem rein relationalen Raumkonzept nicht eindeutig bestimmt werden könne, eine ontologisch-kosmologische Ebene sowie hinsichtlich der Frage nach einer möglichen Orientierung anhand der Sternenbilder am Himmel eine epistemisch-phänomenanalytische Ebene. Die recht kurze Schrift liefert somit im Vergleich zu den vorherigen vorkritischen Schriften im Hinblick auf das Thema Raum (und Zeit) reichlich Argumentationsstoff. Es gibt – wie dargestellt – bereits zuvor Änderungen in Kants Konzeption, die sicherlich auch mit diversen Einflüssen zusammenhängen¹⁰⁹, dennoch finden wir dort keine belastbare argumentative Auseinandersetzung mit den Themen, wie Baker richtig feststellt: It is remarkable that so far Kant has neglected to advance arguments designed to prove directly that space and time are either principles, or relations, or things. Of course, we can judge what we thought space and time were from their functions in his various hypotheses about nature. But in comparing these earlier works with the writings of 1781 and later this difference is particularly noticeable. His treatment suggests an examination of current theories and their implications.¹¹⁰
Diesbezüglich stellt auch Falkenburg fest, dass die „relationale[] Auffassung von Raum und Zeit“ beispielsweise in Neue Erhellung zwar „benutzt, aber nicht begründet“ wird. Vielmehr wird diese Auffassung „bereits in § 9 der Wahren Schätzung [Erstlingsschrift] von 1746 als eine wie selbstverständlich unterstellte Voraussetzung“¹¹¹ eingeführt. In Über die Gegenden lassen sich dagegen anhand der unterschiedlichen Beispiele gleich drei Argumentationsebenen rekonstruieren, die zusammen das Scheitern eines ausschließlich relationalen Raumkonzepts als Riehl 1924, S. 329. Vgl. hierzu beispielsweise Baker 1935, S. 274 f. und Kühn 2004, S. 218. Siehe auch die obigen Ausführungen in Kapitel 1.1 und 1.2. Baker 1935, S. 277. Falkenburg 2000, S. 105.
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1 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der vorkritischen Phase
Argumentationsziel verfolgen. Während es bei der epistemischen Argumentation um die Frage geht, wie ein Subjekt ganz grundsätzlich zwischen einer linken und einer rechten Seite unterscheiden kann, was hier zuletzt betrachtet werden soll, lautet die Ausgangsfrage bei der mathematischen und der kosmologischen Argumentation, wie linkshändige Figuren oder Gegenstände von rechtshändigen unterschieden sind. Die verschiedenen Ebenen der Argumentation eint die Frage nach dem Status des Raums. Bereits vor Über die Gegenden notiert Kant in einer Reflexion: Entweder enthält der Raum den Grund der Möglichkeit von der compraesentz vieler substantzen und ihrer relationen, oder diese enthalten den Grund der Möglichkeit des Raumes.¹¹²
Diese Stelle verdeutlicht den Scheidepunkt, an dem Kant sich zu dieser Zeit befindet. Zu Beginn der vorkritischen Phase ist Kant, wie oben gesehen, ein offensichtlicher Vertreter der letzten Möglichkeit. Der Raum geht für ihn dort sogar in den Relationen der Substanzen auf. Spätestens mit Über die Gegenden geht Kant aufgrund der Auseinandersetzung mit spiegelgleichen Objekten – wie beispielsweise linker und rechter Hand – bzw. dem Phänomen der inkongruenten Gegenstücke und der daraus resultierenden Schlussfolgerungen zur ersten Möglichkeit über.
1.3.1 Das mathematische Beispiel Die Ausgangsproblematik der kurzen Schrift Über die Gegenden ist zunächst die Frage, wie Gegenstände, die nicht in gleichen Grenzen eingeschlossen werden können, obwohl sie sich durch ihre begrifflichen Merkmale oder durch die Relationen ihrer Teile bzw. durch ihren geometrischen Aufbau (im kantischen Sinne Figur) gleichen, unterschieden werden. Solche Gegenstände nennt Kant in Anlehnung an Baumgarten inkongruente Gegenstücke und führt als Beispiel unter anderem die linke und die rechte Hand an: Ich nenne einen Körper, der einem andern völlig gleich und ähnlich ist, ob er gleich nicht in eben denselben Grenzen kann beschlossen werden, sein incongruentes Gegenstück. Um nun dessen Möglichkeit zu zeigen: so nehme man einen Körper an, der nicht aus zwei Hälften
Refl. 3790, AA XVII, 293.
1.3 Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume
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besteht, die symmetrisch gegen eine einzige Durchschnittsfläche geordnet sind, sondern etwa eine Menschenhand.¹¹³
Inkongruent sind demnach Gegenstände, die sowohl von der „Größe als auch der Proportion und selbst der Lage der Theile unter einander“¹¹⁴ gleich sind und dennoch durch keine kontinuierliche Bewegung (Rotation oder Translation) – zumindest im dreidimensionalen Raum – oder nicht durch „drehen und wenden“¹¹⁵, wie Kant es ausdrückt, zur Übereinstimmung bzw. Überlagerung gebracht werden können. Als Beispiele führt Kant neben den Händen, u. a. die Orientierung von Schneckenhäusern, die Anordnung der Himmelskörper oder auch die Windung der Haarwirbel an.¹¹⁶ Im modernen naturwissenschaftlichen Kontext spricht man im Zusammenhang mit solchen Gegenstücken, wie etwa bei spiegelsymmetrischen Molekülen, von Chiralität oder enantiomorphen Gegenstücken. Moleküle, welche die gleichen Elemente als Aufbaustücke besitzen und eine analoge Struktur haben, sowie durch eine Symmetrieoperation – wie etwa eine Spieglung, die eben keine kontinuierliche Bewegung im Raum darstellt, die durch „drehen und wenden“¹¹⁷ erfolgt – zur Übereinstimmung gebracht werden können, heißen chiral.¹¹⁸ Doch für Kant erstreckt sich das Phänomen inkongruenter Gegenstücke AA II, 382. Vgl. hierzu Baumgartens Definition der Inkongruenz in §70 der Metaphysica. Baumgarten spricht davon, dass dasjenige kongruent ist, das sowohl der Qualität als auch der Quantität nach einerlei ist. Vgl. Baumgarten, A. 2011, S. 78 f. Giovanelli macht mit Blick auf den Begriff Komperzeption darauf aufmerksam, dass Kants Meinung über Leibniz, wonach dieser meinen müsste, dass inkongruente Gegenstände rein begrifflich unterschieden werden können, fraglich scheint. Vgl. Giovanelli 2010, S. 285 – 296. Siehe hierzu auch das Kapitel 0.4. AA II, 380. AA II, 382. Ausgeschlossen werden selbstverständlich mechanische Veränderungen, die die Gestalt deformieren oder zerstören. Kant sieht hier eine Bevorzugung der rechten Seite in der Natur, die sich u. a. auch dadurch ausdrückt, dass nahezu „alle Völker der Erde rechtsch sind“ (AA II, 380). Gleichwohl differenziert Kant auch in der Natur zwischen beobachterabhängigen und beobachterunabhängigen Windungen. Er hebt diesbezüglich richtigerweise hervor, dass die Windungsrichtung der Winde abhängig davon ist, auf welcher Halbkugel man sich befindet. Dies hängt damit zusammen, dass Kant in seiner wenig beachteten Schrift Theorie der Winde anscheinend für sich selbst die Corioliskraft entdeckt und sich diese auch erklärt: „Ein Wind, der vom Äquator nach dem Pole hinweht, wird immer je länger desto mehr westlich, und der von dem Pole zum Äquator hinzieht, verändert seine Richtung in eine Collateralbewegung aus Osten. Diese Regel, welche, so viel mir wissend ist, noch niemals angemerkt worden, kann als ein Schlüssel zur allgemeinen Theorie der Winde angesehen werden. Der Beweis derselben ist sehr begreiflich und überzeugend. Die Erde dreht sich von Abend gegen Morgen um die Achse.“ (AA I, 494). AA II, 382. Ähnliche und verwandte Begriff sind Spiralität, Helizität oder auch Parität. Mühlhölzer versucht jedoch zu zeigen, dass zwischen der in der traditionellen Metaphysik benutzen Definition
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1 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der vorkritischen Phase
nicht nur allein auf weltliche Gegenstände, sondern lässt sich bereits anhand von sphärischen Dreiecken in der reinen Mathematik konstruieren. Die Konstruktion ebener und sphärischer Dreiecke wird in der Kant-Literatur gerne herangezogen, um in die mathematische Dimension der Problematik, die Kant mit den inkongruenten Gegenstücken entwickelt, einzuleiten. Auch wenn dieses Beispiel bei Kant nicht in aller Ausführlichkeit erläutert und diskutiert wird, führt er es selbst an: „Ein sphärischer Triangel kann einem andern völlig gleich und ähnlich sein, ohne ihn doch zu decken.“¹¹⁹ Zur Entfaltung dieses Beispiels soll folgende Konstruktion vorgenommen werden: Gegeben sei ein Dreieck mit den Eckpunkten A, B und C in ℝ3. Sei ferner die Strecke zwischen den Punkten A und B die Basisseite für ein neues Dreieck mit den Punkten A, B und D. Dann lassen sich beide Dreiecke zur vollkommenen Deckung und geometrischen Übereinstimmung mittels einer Umdrehung entlang der gemeinsamen Basis bringen: C
A
B
D
Abb. 1: Zwei ebene Dreiecke mit einer gemeinsamen Basisseite.¹²⁰
Beide Dreiecke kongruieren folglich miteinander, wie auch Kant selbst betont: „Wenn zwei Figuren, auf einer Ebene gezeichnet, einander gleich und ähnlich sind, so decken sie einander.“¹²¹ Ferner betont Kant jedoch, dass es bei Gebilden, „die nicht in einer Ebene liegen, […] oft ganz anders bewandt“¹²² ist: Sei hierfür eine Kugel K und eine bestimmte Strecke zwischen den zwei Punkten Aʼ und Bʼ auf einem
inkongruenter Gegenstücke und der modernen naturwissenschaftlichen Definition enantiomorpher Gegenstücke durchaus Unterschiede bestehen. Vgl. Mühlhölzer 1992, S. 436. Auch Lyre verweist darauf, dass es zu den oben genannten Begrifflichkeiten auch teilweise Unterschiede gibt. Vgl. Lyre 2005, S. 49 ff. Nachfolgend wird sich die Untersuchung daher an Kants Begrifflichkeit orientieren. AA II, 381. Kant scheint damit auf Euklids siebtes Axiom anzuspielen: „Was einander deckt, ist einander gleich.“ (Euklid 1962, S. 3). Abbildung aus Lyre 2012, S. 88. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags Vittorio Klostermann. AA II, 381. AA II, 381.
1.3 Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume
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Bogenstück des Äquators in ℝ3 gegeben. Sei ferner die Strecke zwischen den Punkten Aʼ und Bʼ erneut die gemeinsame Basis zweier Dreiecke. Dann lassen sich in diesem Fall durch keine kontinuierliche Bewegung in diesem Raum (weder Translation noch Rotation) die beiden Dreiecke in Übereinstimmung miteinander bringen:
C’
B’
A’
D’
Abb. 2: Zwei sphärische Dreiecke mit einer gemeinsamen Basisseite.¹²³
Der Grund für die Unmöglichkeit einer kontinuierlichen Bewegung, die beide Dreiecke zur geometrischen Übereinstimmung bringt, liegt hier offensichtlich an der Krümmung der Kugel bzw. an der Konstruktion der Dreiecke auf einer Kugeloberfläche und somit an dem Einbeziehen der dritten Dimension bei der Konstruktion. Doch neben dieser Tatsache ist noch Folgendes zu beachten: Die zweidimensionalen Dreiecke aus Abbildung 1 lassen sich nur durch eine Drehung ineinander führen, weil ein dreidimensionaler Raum, in dem diese Drehung vollzogen wird, zugelassen wird. Würde der umgebende Raum nur ein zweidimensionaler – also eine Fläche – sein bzw. wäre die Konstruktion ausschließlich in ℝ2 konzipiert worden, wäre keine kontinuierliche Operation möglich, durch die die Dreiecke in Übereinstimmung zu bringen wären. Das Phänomen der inkongruenten Gegenstücke lässt sich somit nicht nur in der dritten Dimension, sondern in jeder räumlichen Dimension gewinnen, wie bereits Wittgenstein mit Blick auf Kants Ausführungen feststellte.¹²⁴
Abbildung aus Lyre 2012, S. 88. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags Vittorio Klostermann. Vgl. zu den Beispielen auch die Darstellung in Frederick 1991, S. 1– 8. Wittgenstein schreibt: „Das Kantʼsche Problem von der rechten und linken Hand, die man nicht zur Deckung bringen kann, besteht schon in der Ebene, ja im eindimensionalen Raum, wo die beiden kongruenten Figuren a und b auch nicht zur Deckung gebracht werden können, ohne aus diesem Raum herausbewegt zu werden.“ Ferner heißt es an dieser Stelle mit Blick auf höher dimensionale Räume: „Rechte und linke Hand sind tatsächlich vollkommen kongruent. Und daß man sie nicht zur Deckung bringen kann, hat damit nichts zu tun. Den rechten Handschuh könnte man an die linke Hand ziehen, wenn man ihn im vierdimensionalen Raum umdrehen könnte.“ (Wittgenstein 1922, S. 105). Vgl. ferner auch Gardner 1991a, S. 64 f.
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1 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der vorkritischen Phase
Entsprechend lässt sich mathematisch argumentieren, dass sogar die dreidimensionalen Dreiecke aus Abbildung 2 in Übereinstimmung gebracht werden können, wenn eine mathematische Drehung in einem vierdimensionalen Raum zugelassen wird. Hieraus lässt sich in einem mathematischen Sinne ganz allgemein sagen: Asymmetrische n-dimensionale Konstrukte lassen sich mathematisch stets in ihr inkongruentes Gegenstück durch eine Drehung im n+1-dimensionalen Vektorraum überführen.¹²⁵ Dieser Rückgriff auf höhere Dimensionen ist allerdings nur in homogenen und orientierten Räumen – wie dem euklidischen – notwendig, um eine Übereinstimmung zwischen den inkongruenten Gegenstücken herbeizuführen, wie beispielsweise Krämer betont.¹²⁶ Denn in einem nicht-orientierten Raum – wie etwa einem Möbiusband – lässt sich eine entsprechende Überführung ins Gegenstück durch eine globale Bewegung entlang des Bandes durchführen, was einer Drehung gleichkommt, ohne jedoch eine Dimension n+1 mathematisch in Anspruch nehmen zu müssen, da das Möbiusband zweidimensional bzw. homöomorph zu einem Rechteck ist. Sind zwei geometrische Gegenstücke also lokal auf dem Band inkongruent, können sie global durch eine kontinuierliche Bewegung bzw. topologische Operation zur Kongruenz gebracht werden.
Abb. 3: Abbildung eines Möbiusbands als Beispiel für einen nicht-orientierten Raum.¹²⁷
Vgl. Möbius 1991, S. 39 ff.Vgl. ferner Parsons 1992, S. 74. und Baker 1935, S. 279. Bereits Vaihinger kritisiert solche Positionen, die die Existenz eines vierdimensionalen Raums behaupten, um die Gleichheit von inkongruenten Gegenstücken zu zeigen. Durch solche Argumentationen entsteht ein infiniter Regress, da sich das Problem eines Unterschieds inkongruenter Gegenstände in höhere Dimensionen fortpflanzt. Vor diesem Hintergrund bewertet er einen solchen Argumentationsansatz als „sonderbaren Gedankengang“ (Vaihinger 1922b, S. 531). Für Kant ist der dreidimensionale Raum als Anschauungsraum besonders ausgezeichnet. Schon Möbius betont in diesem Zusammenhang die Auszeichnung des dreidimensionalen Raums für unsere Vorstellungskraft. Vgl. Möbius 1991, S. 40 f. Vgl. Krämer 2016, S. 244 ff. Entsprechend auch in Buroker 1981, S. 56 f. Abbildung aus eigener Darstellung.
1.3 Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume
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Für die Entwicklung der Problematik im Zusammenhang mit inkongruenten Gegenstücken wird es somit von entscheidender Bedeutung sein, dass der Anschauungsraum des Menschen ein euklidischer ist. Die sphärischen Dreiecke sind im Gegensatz zu den ebenen Dreiecken im kantischen Sinne inkongruente Gegenstücke, weil der Erfahrungsraum dreidimensional und orientiert ist, d. h. sog. Möbiusbewegungen nicht möglich sind.¹²⁸ Sie sind somit für Kant ein abstrakt geometrisches Beispiel aus dem euklidischen Raum analog zu dem physischen Beispiel mit der linken und der rechten Hand.¹²⁹ Mit dem Phänomen inkongruenter Gegenstücke per se ergibt sich jedoch noch kein Problem. Das Problem entsteht für Kant erst dann, wenn gefragt wird, wodurch sich diese Gegenstände letztlich unterscheiden. Beide Dreiecke aus Abbildung 2 haben für sich selbst betrachtet die gleichen Eigenschaften, obwohl sie nicht identisch sind. Sie können nicht durch „drehen und wenden“¹³⁰, also mathematisch ausgedrückt durch kontinuierliche Bewegungstransformation, d. h. Rotation und Translation, im dreidimensionalen euklidischen Raum zur Übereinstimmung gebracht werden. Da dies eine unerwartete Tatsache darstellt, spricht Kant in den Prolegomena von einem „Paradoxon“¹³¹. Wie Vaihinger im
Nur in nicht-orientierten Räumen sind sog. Möbiusbewegungen möglich: „Spaces in which Möbius motion is possible are usually called non-orientable spaces. If Möbius motions are not possible, then the space is orientable.“ (Frederick 1991, S. 5).Vgl. hierzu auch die Ausführungen in Möbius 1991, S. 39 ff. Von höherdimensionalen und nicht-orientierten Raumkonzepten hat Kant nicht die klare mathematische Vorstellung, wie sie der heutigen mathematischen Topologie zugrunde liegt; gleichwohl gibt Buroker Folgendes zu bedenken: „Now I do not think that Kant had a clear conception of orientability as discussed here, but he evidently understood that Euclidean space is homogeneous.“ (Buroker 1981, S. 57). Vgl. hierzu auch Refl. 5849, AA XVIII, 368. Die Einschränkung auf homogen orientierte Räume ist von entscheidender Bedeutung, wenn die Frage nach der Selbigkeit der Formen gestellt wird: „How […] are dimensional and Möbius motions relevant to Kantʼs argument? […] One response is that dimensional and Möbius motions are not relevant. When we say that things have the same shape only if they can be made exactly congruent in the manner described above, what we mean is that they have the same shape only if there is some motion in the space they inhabit that will bring them into exact congruence. […] Another response is that dimensional and Möbius motions are relevant. When we say that if things can be made exactly congruent then they have the same shape, what we mean is that if there is a possible space in which some motion brings them into exact congruence, then they have the same shape. Since four-dimensional spaces and three-dimensional non-orientable spaces are possible, and since left and right hands can be made congruent by the appropriate motion in such spaces, there is no real difference in shape between left and right hands.“ (Frederick 1991, S. 6). Kant wäre aufgrund seiner Einschränkung auf den euklidischen Raum sicherlich ein Vertreter der ersten Position.Vgl. hierzu Harper 1991, S. 283 f; S. 289 f. und ferner Earman 1991a, S. 133 f. AA II, 382. AA IV, 285.
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1 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der vorkritischen Phase
Anschluss an Kant expliziert, wäre nämlich prima facie anzunehmen, dass zwei Gegenstände, die die gleichen Merkmale und Teilrelationen aufweisen und sich damit im höchsten Maße ähneln, auch jeweils durch einander substituiert werden können, ohne dass dies auffallen würde.¹³² Das ist jedoch nicht der Fall, wie u. a. das Beispiel mit der linken und rechten Hand zeigt bzw. die einfache Tatsache, dass ein linker Handschuh nicht auf die rechte Hand passt. Das Paradox führt damit zu der Frage, was der Unterschied zwischen links- und rechtshändischen Objekten ist und wie dieser angegeben werden kann. Das Phänomen selbst, was zu diesem Paradox und den daraus resultierenden Fragen führt, beschreibt Kant bereits vorher. Er greift es nämlich in seinen Überlegungen zum „Satz des Nichtzuunterscheidenden“ von Leibniz in seiner Schrift Neue Erhellung auf. Da – wie in Kapitel 1.1 gesehen – von Anfang an der Raum keine bloß subjektive Imagination, sondern eine objektive Struktur darstellt, ist für Kant in Neue Erhellung schließlich durch eine Auseinandersetzung mit Leibnizʼ „Satz des Nichtzuunterscheidenden“ klar, dass es neben „inneren Merkmalen“ oder „Bestimmungen“ auch „äußere[]“¹³³ geben muss, durch die sich Gegenstände unterscheiden.¹³⁴ Hierzu zählen – wie es explizit in Einzig mögliche Beweisgrund heißt – die „Prädikate […] der Zeit und des Orts“¹³⁵. Durch die Vorstellung räumlicher Bestimmungen von Objekten lassen sich Gegenstände, die faktisch unterschiedlich sind, auch in ihrem Unterschied erklären und konkret angeben. Denn wer „wollte behaupten, daß man […] unter den unendlich vielen verschiedenen nicht ein und das andere finden könnte, das in vollkommener Ähnlichkeit ein anderes wiedergibt?“¹³⁶ Wie schon Clarke gegen Leibniz anführte, lässt sich Vgl. Vaihinger 1922b, S. 521. WW I, 483 ff. Unruh sieht hier eine Weiterentwicklung der Position aus Kants Erstlingsschrift von 1747. Demnach ist der Raum nicht nur eine Folge der Interaktion von Substanzen, wie er es noch im Jahr 1747 gewesen ist, sondern nunmehr auch eine „prädizierbare Eigenschaft der Körper selbst“ (Unruh 2007, S. 45 Anm.). AA II, 72. Gleichzeitig muss jedoch festgehalten werden, dass Kant in Über die Gegenden selbst die räumlichen Bestimmungen als innere Bestimmungen eines Objekts betrachtet. Für Rusnock und George hängt dies vor allem damit zusammen, dass Kant in leibnizisch-wolffischer Tradition äußere Bestimmungen auf die Größe und den Ort eines Gegenstands reduziert und die Lage daher nicht dazu zählt. Vgl. Rusnock / George 1995, S. 226. Darüber hinaus hängt dies aber auch damit zusammen, dass Kant den Raum jetzt als Grundbegriff verstanden wissen möchte.Vgl. diesbezüglich weiter unten in Kapitel 1.3.3. Für Walker zeigt die Möglichkeit, links- oder rechtsorientierte Figuren durch eine Möbiusbewegung in nicht-orientierten Räumen zur Kongruenz zu bringen, dass Händigkeit kein intrinsisches Merkmal sein kann. Vgl. Walker 1991, S. 191. Für Weiteres zu dieser Sachdiskussion siehe den Aufsatz von Walker. Für die historischen Zusammenhänge zu diesem Thema siehe Rusnock / George 1995. WW I, 487.
1.3 Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume
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die Tatsache, dass zwei Gegenstände verschieden sind, dadurch zeigen, dass sich zwei Gegenstände „wenigstens durch ihren Ort unterscheiden“ und folglich „nicht ein und dasselbe Seiende“¹³⁷ sein können. Der Raum dient – wie ebenfalls in Kapitel 1.1 ausgeführt – als Mannigfaltigkeitsprinzip. Im Rahmen dieser Überlegungen scheint Kant hier zwar das Phänomen inkongruenter Gegenstände für sich entdeckt zu haben, doch das Paradoxale an dem Phänomen scheint ihm an dieser Stelle noch nicht aufzufallen; folglich bleibt ihm die Tragweite dieses Phänomens im Hinblick auf ein rein relationales Raumkonzept noch verborgen. Erst in Über die Gegenden behauptet Kant schließlich, dass der faktische Unterschied inkongruenter Gegenstände mit einem rein relationalen Raumkonzept nicht vollständig und eindeutig erklärbar zu sein scheint. Was Kant in Neue Erhellung zunächst faktisch feststellt und entsprechend analysiert, versucht er in Über die Gegenden in Bezug zu unterschiedlichen Raumkonzepten zu setzen: Inkongruente Gegenstücke sind metrisch gleich, d. h. die Verhältnisse der Teile dieser Gegenstände (also nach Kant die Lage der Teile) sind äquivalent, wie sich an den obigen Beispielen erkennen lässt. Die Seitenlängen der sphärischen Dreiecke sind ebenso wie die inneren Winkel zwischen den Seiten gleich groß, gleichwohl folgt aus der Gleichheit nicht die Selbigkeit der Dreiecke, denn das Dreieck Aʼ, Bʼ, Cʼ ist nicht das Dreieck Aʼ, Bʼ, Dʼ et vice versa. Inkongruente Gegenstücke sollen nach Kant also zeigen, dass eine geometrische Figur durch das innere Verhältnis ihrer Bestandteile bzw. die Lage ihrer Teile nicht vollständig bestimmt bzw. individuiert ist.¹³⁸ Folglich ergibt sich für Kant, dass ein rein relationales Raumkonzept zu strukturarm ist, um inkongruente Gegenstände eindeutig (bzw. innerlich) unterscheiden zu können. Für den Relationisten ist der Unterschied nämlich nur durch die relative Orientierung und Ausrichtung der
WW I, 485. Vgl. zu Clarkes Position Kapitel 0.4. Wie eingangs dargestellt, besteht die Besonderheit bei inkongruenten Gegenstücken gerade darin, dass die Verhältnisse der Teile zueinander in den jeweiligen Gegenstücken gleich sind. Trotzdem scheinen sich die Figuren zu unterscheiden. Das unterscheidet dieses Beispiel grundsätzlich von anderen Beispielen, bei denen durch eine Drehung oder Bewegung in der nächsthöheren Dimension eine Übereinstimmung der Figuren hervorgebracht werden kann, wie beispielsweise bei einer Strecke innerhalb einer Kreisform und einer Strecke an einer Kreisform. Beide Figuren können durch Anheben und Platzieren der Strecke innerhalb des Kreises zur Übereinstimmung gebracht werden. Damit wird aber im Unterschied zum Beispiel mit den inkongruenten Gegenstücken das Verhältnis der Teile untereinander verändert. Vgl. zu diesem Beispiel Sklar 1991, S. 176. Nerlich kritisiert zu Recht, dass Sklar die Besonderheit inkongruenter Gegenstücke unterschätzt, wenn er sie mit dem zuletzt angedeuteten Beispiel gleichsetzt. Inkongruente Gegenstücke wie die linke und die rechte Hand zeigen, dass im Anschauungsraum ein Gegenstand nicht nur durch das bloße Verhältnis seiner Teile zueinander vollständig bestimmt werden kann. Vgl. Nerlich 1991b, S. 257.
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1 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der vorkritischen Phase
Gegenstücke zueinander (Spiegelsymmetrie) verständlich und insofern letztlich zweideutig. Die Bestimmung der Händigkeit bleibt zweideutig, weil beide Gegenstücke als linkhändiger oder rechtshändiger Gegenstand verstanden werden können. Der Unterschied ist relativ, denn ohne äußere Relation zwischen den inkongruenten Gegenstücken ist für einen Relationisten keine Unterscheidung möglich. Die inkongruenten Gegenstücke lassen sich nach Kant eindeutig erst durch die Einführung eines absoluten Raumkonzepts unterscheiden, womit die Dreiecke dadurch differenziert werden, dass sie per se unterschiedliche Gegenden im Raum einnehmen.¹³⁹ Diese innermathematische Argumentation Kants wurde in der Kant-Literatur, insbesondere von mathematiknahen Interpreten, intensiv diskutiert: Die jüngere Diskussion wurde von Reidemeister angestoßen, der mit elementaren geometrischen Axiomen – wie dem Abstandsaxiom und dem Symmetrieaxiom¹⁴⁰ – zeigen möchte, dass bereits bei der Konstruktion von Halbgeraden an einer Geraden sich der Richtungsbegriff und somit auch die Orientierung einer geometrischen Figur gewinnen lassen. Dadurch soll nach Reidemeister belegt werden, dass Leibnizʼ Relationismus letztlich ausreicht, um inkongruente Gegenstände zu verstehen und zu bestimmen.¹⁴¹ Dieser Ansatz führte zu einer kontroversen Auseinandersetzung. Beispielsweise argumentiert Gloy, dass Reidemeister letztlich in eine petitio principii gerät. Durch das Abstandsaxiom wird eine Menge von Punkten mit jeweiligen Abständen eingeführt. Die Abstandsstrecken werden sogleich arithmetisiert und setzten dabei das Symmetrieaxiom voraus: „Die Arithmetisierung der Strecken ist [nämlich] keineswegs selbstverständlich, hat sie doch zur Voraussetzung die Gleichsetzung des Abstandes AB mit dem von BA. Wie die voll Unruh macht darauf aufmerksam, dass der Begriff der Gegend bei Kant nicht nur eine Richtung bzw. eine Orientierung nach einer Gegend, sondern vor allem auch die Region bzw. die Gegend, wohin etwas orientiert ist, meint. Vgl. Unruh 2007, S. 60 f. Anm. Vgl. zu Newtons Begriff der Lage die Ausführungen in Kapitel 0.4. Damit unterscheidet sich Reidemeisters Ansatz von der Hilbertschen Axiomatik, die vom Anordnungsaxiom ausgeht und somit Relationen bereits voraussetzt. Vgl. hierzu Gloy 1984, S. 24. Vgl. Reidemeister 1947, S. 133 – 138. Im Hinblick auf Kants Argumentation in Über die Gegenden konstatiert Reidemeister: „Es ist klar, daß diese Theorie […] mit der […] Geometrie im Widerspruch steht. Denn diese Geometrie leitet den Unterschied der Gegenden aus der Lagebeziehung der Teile des Raumes, nämlich aus der Abstandsbeziehung der Punkte des Raumes her und beweist alsdann die Existenz inkongruenter Gegenstücke, während Kant aus der Existenz inkongruenter Gegenstücke die Unableitbarkeit des Unterschiedes der Gegenden aus der Lagebeziehung der Teile meint folgern zu können.“ (Reidemeister 1947, S. 145). Reidemeister führt ferner aus, dass es in der Geometrie völlig unproblematisch ist, zwischen geometrischen Figuren zu unterscheiden, die in ihren Eigenschaften völlig gleich sind, solange sie in Relation zueinander gebracht werden. Als Beispiel dienen hier parallele oder senkrechte Konstellationen. Vgl. Reidemeister 1947, S. 145 und ferner auch die Ausführungen bei Jammer 1960, S. 144 ff.
1.3 Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume
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explizierte Äquivalenzformel a (AB) = a (BA) zeigt, […] beruht sie auf einem Symmetrieaxiom, das seinerseits Richtungsunterschiede voraussetzt.“¹⁴² Das Symmetrieaxiom ist jedoch alles andere als selbstverständlich, wie Gloy ferner ausführt, da zum Beispiel im Minkowski-Raum der speziellen Relativitätstheorie eine solche Symmetrie nicht gilt, weil jeder Punkt eine nicht umkehrbare Weltlinie beschreibt. Gloy kommt somit zu dem Schluss, dass Reidemeisters Ansatz durch die Einführung des Symmetrieaxioms implizit das voraussetzt, was es eigentlich zu beweisen gilt: „Da […] Richtungsunterschiede bereits im Grundaxiom angelegt sind, kann eine darauf basierende Axiomatik nur noch den Wert einer Explikation von Vorhandenem, nicht aber den einer Deduktion von Neuem haben.“¹⁴³ Weyl versucht stattdessen, anhand der Definition von Basisvektoren eines affinen Vektorraums zu zeigen, wie sich ein relationaler Richtungsbegriff algebraisch gewinnen lässt, womit er sich ebenfalls auf die Seite von Leibniz stellt.¹⁴⁴ Die Händigkeit lässt sich demnach anhand gerader bzw. ganzzähliger und ungerader bzw. nicht ganzzähliger Permutationen der Basisvektoren verstehen. Mit jeder Anordnung der Basisvektoren lässt sich somit ein Drehsinn repräsentieren. Mit den unterschiedlichen Permutationsmöglichkeiten lassen sich dann zwei Symmetrieklassen gewinnen, die ein Verständnis der Händigkeit auf rein algebraischer Ebene ermöglichen und folglich nicht auf topologische Eigenschaften eines globalen und absoluten Raums rekurrieren.¹⁴⁵ Gleichwohl bleibt dieses Verständnis der Händigkeit relativ. Die Händigkeit wäre zwar damit im Vokabular des Relationisten darstellbar, was sich für Lyre etwa daran zeigt, dass eine nichtostensive Definition von Links- und Rechtshändigkeit auch im alltäglichen Kontext in einem relativen Sinne durchaus möglich ist, doch dieses Verständnis liefert weiterhin keine Möglichkeit einer eindeutigen bzw. absoluten Bestimmung der Händigkeit.¹⁴⁶ Darüber hinaus wurde auch die Frage aufgeworfen, ob nicht in den mengentheoretischen Grundlagen der linearen Algebra ein kontinuierliches Raumverständnis vorausgesetzt wird, zumal sich Gloys Kritik an Reidemeister auch auf die algebraische Methode von Weyl ausweiten ließe.¹⁴⁷ Unabhängig von Gloy 1984, S. 25. Siehe zur Diskussion in der Literatur Gloy 1984, S. 2 f. Vgl. ferner Earman 1991b, S. 235. Gloy 1984, S. 25. Vgl. Weyl 1955, S. 25 f. Vgl. Weyl 1955, S. 112. Weyls Argumentation wird im Gegensatz zu der Argumentation von Reidemeister weitgehend akzeptiert. Vgl. beispielsweise Falkenburg 2000, S. 118, Mühlhölzer 1992, S. 437, Dück 2001, S. 66 oder jüngst auch Lyre 2005, S. 62 ff. Vgl. Lyre 2005, S. 62 ff. Vgl. hierzu folgende Stelle bei Gloy: „Relationale und quantitative Bestimmungen wie Anordnungs- und Abstandsfunktionen sind limitative Bestimmungen, die ersteren insofern, als sie eine Beziehung zwischen Bezogenen ausdrücken, die letzteren insofern, als sie die Größe zwi-
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1 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der vorkritischen Phase
der immer noch andauernden Auseinandersetzung bezüglich der Einordnung und sachlichen Bewertung von Kants Argumentation, zeigt sich an dieser Stelle, dass sich Kant bereits mit seinem mathematischen Beispiel nunmehr gezielt mit der Frage beschäftigt, was für eine Struktur der Raum haben muss bzw. welche Bedeutung die Einheit des Raums für die Relationen im Raum besitzt. Die zuvor dargelegten Überzeugungen seiner Raum- und Zeitlehre, wonach Raum und Zeit sowohl als Mannigfaltigkeitsstrukturen als auch als Einheitsstrukturen verstanden werden müssen, werden hier im Verhältnis zueinander erörtert, um schließlich zu klären, welche Struktur das Primat innehat. Wie sich im Folgenden zeigen wird, führt dies dazu, eine Antwort auf die Frage zu ermöglichen, was für eine Art von Vorstellung der Raum sein muss.
1.3.2 Das ontologisch-kosmologische Beispiel In jüngerer Vergangenheit wurde in der Kant-Literatur betont, dass sich Kants Argumentation nicht allein auf den im vorherigen Kapitel thematisierten mathematischen Aspekt reduzieren lässt. Es finden sich – wie erwähnt – weitere Bei-
schen fixen Grenzpunkten angeben. Limitation ist aber nur vor dem Hintergrund eines Unlimitierten möglich. Grenzziehung erfolgt stets im Medium des Unbegrenzten. Jede Ausgrenzung von etwas vollzieht sich als Abgrenzung gegen anderes, im Prinzip Unbegrenztes, das zwar selbst einem begrenzenden Akt unterworfen werden kann, hierbei aber wiederum ein Unbegrenztes voraussetzt und so fort. Diese Struktur macht auch vor Totalitätsbegriffen nicht halt. Wie der absolute Raum einerseits durch das Verhältnis zweier Teilsysteme konstituiert wird, andererseits diesen immer schon vorausgeht, so unterliegen auch andere Mengenbegriffe der Paradoxie, wie die Russellsche Antinomie zeigt, wonach die Menge aller Mengen, die sich nicht selbst enthalten, sowohl sich selbst enthält wie auch nicht enthält. Denn zum einen wäre die anvisierte Menge nicht die Gesamtheit, wenn sie nicht sich selbst mit einschlösse, zum anderen muß sie als umfassende Menge einen prinzipiell anderen Status haben als das von ihr Umfaßte. In ihrer Funktion als das Eine Ganze transzendiert sie sich selbst und wird zu einem Bestimmten vor einem unbestimmten Hintergrund.“ (Gloy 1984, S. 28). Gleichwohl muss betont werden, dass die moderne Mengentheorie die Bildung einer Menge aller Menge mit dem Aussonderungsaxiom verbietet, wodurch die Grundlagenkrise der Mengentheorie Anfang des 20. Jahrhunderts als überwunden gilt. Vgl. diesbezüglich Kreis 2015, S. 378 – 384. Prauss kritisiert jedoch, dass die Mengentheorie implizit die Ausdehnung und damit einen kontinuierlichen Raum voraussetzen muss, um zwischen Punkten bzw. Elementen unterscheiden zu können. Ferner wird die mengentheoretische Reduktion des Kontinuums kritisiert. Zwar bezieht sich Prauss nicht auf das Phänomen inkongruenter Gegenstücke, aber sein Ansatz versucht, ausgehend von einem kontinuierlichen Raumkonzept, das vom Subjekt erzeugt und ausgedehnt wird, zu zeigen, dass die ursprüngliche Ausdehnung von eindimensionalen (und darauf aufbauend auch höherdimensionalen) Räumen stets mehrseitig und gerichtet ablaufen muss. Vgl. Prauss 2015, S. 211– 237.
1.3 Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume
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spiele in Kants Schrift von 1768, die über die mathematische Dimension obiger Überlegungen hinausgehen. Kant führt nämlich auch ein Gedankenexperiment durch, in dem er sich vorstellt, dass der erste Schöpfungsgegenstand zufälligerweise ein asymmetrischer Gegenstand (also ein Gegenstand eines Inkongruenzpaars), wie etwa eine Hand, gewesen sein könnte.¹⁴⁸ Dies vorausgesetzt, wäre es nach Kant gar nicht möglich gewesen zu sagen, ob es eine linke oder eine rechte Hand sei, wenn davon ausgegangen wird, dass der Raum nur relationale Strukturen besitzt bzw. nur eine relationale Struktur ist. Ausgehend von der metaphysischen Prämisse, dass Objekte per se vollkommen bestimmt sein müssen, schlussfolgert Kant, dass bei der Schöpfung eines einzigen inkongruenten bzw. asymmetrischen Gegenstands ein allbefassender Raum vorausgesetzt werden muss, um im Verhältnis zu diesem Raum linkshändig oder rechtshändig sein zu können. Für Kant ist klar, dass nur in Beziehung zu einem vorausgesetzten globalen (dreidimensionalen) Raum ein solcher Gegenstand eine eindeutige Orientierung haben kann. An dieser Stelle ließe sich einwenden, dass diese Überlegung analog zur Überlegung mit dem Beispiel der sphärischen Dreiecke wäre und dass auch hier durch Relationen eine relative Orientierung des Objekts festgelegt werden könnte, was das Objekt somit hinsichtlich seiner Händigkeit bestimmt. Demnach wäre dieses kosmologische Beispiel auf das mathematische reduzierbar. Doch dieser Einwand greift zu kurz, denn Kant erhebt die Zweideutigkeit der Händigkeit hier zum Problem und gibt zu bedenken, dass, wenn die Orientierung relativ wäre, „diese Hand […] auf jede Seite des menschlichen Körpers passen [würde], welches unmöglich ist“¹⁴⁹. Kant betont, dass eine Hand per se eine linke oder eine rechte sein muss. Ihre Orientierung muss folglich eindeutig bzw. absolut sein und nicht nur relativ bzw. zweideutig, andernfalls ließe sich sagen, dass sie – wenn sie der erste Schöpfungsgegenstand wäre – sowohl auf die linke als auch auf die rechte Seite eines Körpers passen könnte, was aber nach der metaphysischen Voraussetzung (wonach per se eine vollständige Bestimmtheit von Gegenständen anzunehmen ist) falsch sein muss.¹⁵⁰ Die Auseinandersetzung mit Wie in Kapitel 0.4 gesehen, führt Clarke eine ähnliche Abstraktion von allen Dingen durch, um Leibniz zu verdeutlichen, dass ein absoluter Raum angenommen werden muss. AA II, 383. Die vorausgesetzte metaphysische Prämisse scheint zwingend zu sein, um Kants Argumentation folgen zu können. Andernfalls könnte nämlich in Frage gestellt werden, ob es überhaupt sinnvoll sein kann, nach der Händigkeit eines einzelnen – nur für sich existierenden – Gegenstandes zu fragen, oder ob dies nicht vielmehr eine „verfehlte Fragestellung“ (Marc-Wogau 1932, S. 97 Anm.) darstellt, wie dies bereits Marc-Wogau kritisch anmerkt. Vgl. Marc-Wogau 1932, S. 96 ff. Entsprechend kritisch heißt es bei Van Cleve: „An immediate problem with Kantʼs thought experiment is that in four-dimensional spaces and three-dimensional non-orientable spaces left and right hands do not differ in shape. If a lone hand existed in such a space it would be neither
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dem mathematischen Beispiel hat gezeigt, dass das Raumkonzept des Relationisten zu strukturarm ist, um einen inneren bzw. eindeutigen Unterschied zwischen inkongruenten Gegenstücken verständlich zu machen. Darüberhinausgehend zeigt die Auseinandersetzung im kosmologischen Rahmen durch Kants Gedankenexperiment, dass dieses Strukturdefizit in der Konzeption des Raums nunmehr zur Krux für den Relationisten wird. Entsprechend stellt Falkenburg fest: Zur relationalen Begründung der dreidimensionalen euklidischen Geometrie benötigt man demnach neben den Beziehungen der Gleichheit und Ähnlichkeit zumindest noch die Spiegelsymmetrie als weitere primitive Relation: dies ist der mathematische Kernpunkt von Kants Argumentation. Darüberhinaus zielt das Argument der inkongruenten Gegenstücke jedoch darauf zu zeigen, daß man beim kosmologischen Gebrauch der Geometrie den Drehsinn zweier inkongruenter Gegenstücke als absolut bestimmt und nicht nur relativ zueinander festgelegt betrachtet. Dies ist der kosmologische Kernpunkt des Arguments, der durch den mathematischen Sachverhalt nicht hinreichend erfaßt wird.¹⁵¹
Es handelt sich hier also nicht nur um eine innermathematische Überlegung, sondern darüber hinaus auch um eine ontologisch-kosmologische. Auf der rein mathematischen Ebene geht es zunächst darum, zu klären, wie sich links und rechts grundsätzlich in Anbetracht von inkongruenten Gegenstücken angeben lassen. Gelingt es einem Relationisten, diesen Unterschied auszudrücken, ist es bloß konventionell bzw. zweideutig, welcher Gegenstand als linkshändig und welcher als rechtshändig bezeichnet wird. Links- und Rechtshändig sind diese Gegenstände für den Relationisten nämlich nur in Abhängigkeit voneinander. Auf
left nor right-shaped. So Kantʼs claim that the hand must have one shape or the other is mistaken.“ (Van Cleve 1991a, S. 9). Remnant argumentiert, dass zur Bestimmung der Händigkeit auch der hinzugezogene Körper nicht weiterhilft, weil sich dadurch die Frage nach der Händigkeit lediglich von der Hand auf den Körper überträgt, da auch dieser Körper links- oder rechtsgewendet sein kann. Vgl. Remnant 1991, S. 56 ff. Vgl. hierzu auch die Zustimmung bei Nerlich in Nerlich 1991a, S. 154 f. In Bezug auf Remnant lässt sich jedoch kritisch nachfragen, ob Kant nicht den menschlichen Körper in das Beispiel einführt, gerade weil er in der Regel anatomisch ausgezeichnet orientiert ist – beispielsweise dadurch, dass das Herz auf der linken Seite der Brust schlägt. Schließlich betont Kant zuvor mehrmals die „mechanische“ (AA II, 380) Auszeichnung des menschlichen Körpers durch die Natur. Earman betont, dass es durchaus sinnvoll sein kann, von einer Händigkeit beim ersten Schöpfungsgegenstand zu sprechen, falls ein absoluter Raum angenommen wird: „It seems to me that Remnantʼs attempt fails. If space were absolute then a hand standing alone in an otherwise empty universe would not be indeterminate with respect to its handedness […].“ (Earman 1991a, S. 134). Dabei muss jedoch berücksichtigt werden, dass die Annahme eines absoluten Raums nicht vorausgesetzt werden darf, wenn derselbe bewiesen werden soll. Falkenburg 2000, S. 117.
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der ontologisch-kosmologischen Ebene fragt Kant jedoch nach dieser händigen Eigenschaft in einem absoluten bzw. eindeutigen Sinne. Kant stellt den Relationisten vor die für ihn unlösbare Aufgabe, zu erklären, wie ein Gegenstand unabhängig von seinem Gegenstück links- oder rechtshändig sein kann. Er fragt in seinem Gedankenexperiment, ob die Hand als erster Schöpfungsgegenstand absolut betrachtet eine linke oder eine rechte ist. Lyre spricht hier treffenderweise von der „,Which-is-whichʻ-Frage“¹⁵². Der Relationist kann nach Kant diese Whichis-which-Frage nicht eindeutig bzw. absolut beantworten. Obwohl hier eine neue Argumentationsebene von Kant eröffnet wird, wurde auch diese Ebene umfassend kritisiert, zumal Kant mit der Prämisse, nach der die Gegenstände per se absolut bestimmt sind, in eine petitio principii gerät, weil dadurch von vornherein ausgeschlossen wird, dass die Eigenschaft der Händigkeit nur durch Relationen zwischen den Gegenständen entsteht bzw. ein erster Schöpfungsgegenstand gar keine Händigkeit haben könnte. Darüber hinaus macht Lyre darauf aufmerksam, dass Kant mit der Frage, auf welche Seite des Körpers die Hand als erster Schöpfungsgegenstand passen soll, einen zweiten Gegenstand hinzuzieht. Damit ändert Kant aber die Ausgangssituation des Gedankenexperiments dahingehend ab, dass die Problematik wieder relationistisch betrachtet werden kann. Sind nämlich zwei Gegenstände vorhanden, lassen sie sich relativ zueinander bezüglich ihrer Ausrichtung bestimmen.¹⁵³ Doch sollte bei dieser Kritik beachtet werden, dass es Kant an diesem Punkt eben nicht um eine relative Bestimmung der Händigkeit von Objekten geht, sondern um eine absolute, weshalb er den Körper schließlich nur hypothetisch im Gedankenexperiment
Lyre 2005, S. 62. Friebe sieht das anders: Er interpretiert, dass es Kant „nicht um die Frage [geht], ob die einsame Hand nun eine rechte ist oder aber eine linke, sondern nur darum, daß sie entweder das eine oder das andere ist (und nicht etwa weder das eine noch das andere)“ (Friebe 2006, S. 39 Anm.). Vgl. in ähnlicher Weise auch Nerlich 1991a, S. 154 f. Diese Anmerkung Friebes übergeht jedoch einen wichtigen Unterschied zwischen dem mathematischen und dem ontologischen Beispiel: Zwar muss zugestanden werden, dass es keine „Stelle[] in Kants Werk, in denen er [Kant] auf den Topos der inkongruenten Gegenstücke eingeht, gestattet […] anzunehmen, dass Kant sich des Unterschieds dieser beiden Konzepte von Händigkeit [relative und absolute Händigkeit] bewusst war“ (Lyre 2012, S. 91), doch der entscheidende Punkt, wieso Kant überhaupt das Gedankenexperiment einführt, ist, dass er „es für abwegig [hält], dass ein einziges händiges Objekt im Kosmos keine spezifische Händigkeit besitzt“ (Lyre 2005, S. 59). Unabhängig davon argumentiert Friebe ferner, dass sich zumindest der Sache nach die ontologische Ebene der Problematik nicht auf die mathematische reduzieren lässt, da es sich bei der Frage nach den Händen um reale Objekte mit einem Ding-Eigenschaftsverhältnis handelt, wohingegen auf der mathematischen Ebene lediglich die Figur bzw. Form und somit eine Eigenschaft per se thematisiert wird. Vgl. hierzu Friebe 2006, S. 41 ff. Vgl. Lyre 2005, S. 60 ff.
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heranziehen möchte.¹⁵⁴ Mit diesem Gedankenexperiment möchte Kant nämlich zeigen, dass ein ausschließlich relationales Raumkonzept nicht ohne weiteres zwischen einer möglichen Welt mit nur einer linken Hand als erstem Schöpfungsgegenstand und einer anderen möglichen Welt mit nur einer rechten Hand als erstem Schöpfungsgegenstand unterscheiden kann, da ihm nach Kant kein absoluter Drehsinn in Beziehung zum Raum zur Verfügung steht. Dieser wird jedoch für das Angeben des Unterschieds benötigt, da die linke als auch die rechte Hand im Hinblick auf ihre Teilrelationen gleich sind. Diese Krux für das relationale Raumkonzept wurde auch in jüngerer Vergangenheit in einer modernen Variante unter dem Stichwort Earmanʼs challenge diskutiert. Als sog. Earmanʼs challenge ist folgende Wiederaufnahme der kantischen Argumentation durch John Earman bekannt geworden: The failure of mirror image reflection to be a symmetry of laws of nature is an embarrassment for the relationist account […], for as it stands that account does not have the analytical resources for expressing the lawlike left-right asymmetry for the analogue of Kant’s hand standing alone. Putting some 20th century words into Kant’s mouth, let it be imagined that the first created process is [a decay of a negative pi meson] […]. The absolutist has no problem in writing laws in which [a right handed decay] […] is more probable than [a left handed decay] […], but the relationist […] certainly does since for him [those decays] […] are supposed to be merely different modes of presentation of the same relational model. Evidently, to accommodate the new physics, relational models must be more variegated than initially thought.¹⁵⁵
Die Wiederaufnahme der kantischen Überlegungen im Zuge der Entwicklung moderner Physik führte zu einer ausführlichen Diskussion.Wie Heidemann jüngst anmerkte, ist Kants Argumentation „weit über die Kant-Forschung hinaus umstritten“¹⁵⁶. Die Diskussion hat sich in der jüngeren Forschung insbesondere mit Vgl. Nerlich 1991a, S. 161 f. und auch Harper 1991, S. 265 f. Harper macht darauf aufmerksam, dass ein Beobachter als Subjekt bereits ein bestimmtes Raumkonzept mit in seine Beobachtung einbringt. Beispielsweise können wir uns einen isolierten Gegenstand – wie in Kants Beispiel – nicht ohne weiteres als etwas vollkommen Unbestimmtes anschaulich vorstellen, sondern stellen ihn uns anschaulich stets aus einer Perspektive und als etwas Bestimmtes vor. Vgl. Harper 1991, S. 289 f. Vgl. ferner Falkenburg 2000, S. 119 f. Earman 1991b, S. 246 f. Heidemann, D. 2018, S. 37 Anm. Frederick unterscheidet diesbezüglich zwischen drei grundsätzlichen Positionen: „The first is internalism. Internalism is the view that the differences between hands can be explained by primitive relations of handedness or by some other relation internal to hands. The second term is externalism. Externalists argue that the differences between hands can be explained by the relations hands bear to other actual (or possible) material objects. The final term is absolutism. Absolutism is the view that the only way to explain handedness is by positing absolute space. In 1768 Kant, of course, was an absolutist.“ (Frederick 1991, S. 13). Eine
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der von Martin Gardner dargestellten sog. Ozma-Problematik beschäftigt. Lyre stellt das Ozma-Problem vereinfacht wie folgt dar: Nehmen wir einmal an, wir verfügten über eine Verbindung zu einer fremden Intelligenz. Eine solche Verbindung könnten wir uns in Form eines in Pulsfolge codierten Funksignals denken. Auf diesem Wege wäre es möglich – nach Klärung technischer und Codierungsdetails –, Bild- bzw. Filmsignale zu übersenden. Nehmen wir weiter an, wir wollten ein Bild des amtierenden US-Präsidenten übersenden. Die Bildinformation könnte als Matrix mit unterschiedlich gefärbten Pixeln codiert werden, und wir wollen auch annehmen, dass ihre Übertragung so weit gelingt. Und doch stellt sich hier ein subtiles Problem: denn wie können wir unseren fernen Kommunikationspartnern den Unterschied zwischen einer Links-RechtsMatrix (also einer solchen, deren Zeilen von links nach rechts verlaufen) und einer RechtsLinks-Matrix vermitteln? Wie sich nach einiger Überlegung zeigt, lässt sich die Händigkeit einer Matrix nicht – oder jedenfalls nicht so ohne Weiteres – mit Hilfe eines Funksignals übermitteln. Nehmen wir nun auch an, dass es keinerlei händige Objekte gibt – etwa Spiralgalaxien etc. –, die sowohl wir als auch unsere Kommunikationspartner gemeinsam sehen, so folgt, dass es allem Anschein nach überhaupt nicht möglich ist, die Bedeutung der Begriffe ,linksʽ und ,rechtsʽ über einen gewöhnlichen Kommunikationskanal zu übermitteln. Martin Gardner (1964) bezeichnete dies Problem in Erinnerung an das in den 60er Jahren startende ,Ozma-Projektʽ zur radioastronomischen Suche extraterrestrischer Signale intelligenten Ursprungs als das Ozma-Problem – es gilt als eines der interessantesten Grundlagenprobleme der nachrichtentechnischen Kommunikationstheorie.¹⁵⁷
entsprechende Aufteilung der modernen Debatte führt auch Van Cleve durch. Vgl. Van Cleve 1991b, S. 204 f. und ferner Van Cleve 1999, S. 231. Van Cleve macht besonders deutlich, dass die jeweiligen Positionen eng verbunden mit der Frage sind, wie der ontologische Status einer vierten Dimension des Raums eingeschätzt wird. Siehe hierzu insbesondere die anschauliche Darstellung in Van Cleve 1991b, S. 220. Vgl. zur ausführlichen Darstellung der einzelnen Positionen den Aufsatz Van Cleve 1991b. Lyre 2005, S. 49 f. Zur ursprünglichen Formulierung des Problems bei Martin Gardner siehe Gardner 1991b, S. 75 – 95. Ein anderes Gedankenexperiment, das jedoch in die gleiche Richtung läuft, schlägt Bennett vor. Bennett zufolge könnte jemand, der alle Wörter für Linkshändigkeit und Rechtshändigkeit konsequent vertauscht hat, in einem Gespräch nicht herausfinden, dass er diese Wörter vertauscht hat. Seinen Fehler könnte er erst bemerken, wenn ihm jemand ein Beispiel zeigt. Wenn die Person stattdessen jedoch ein falsches Verständnis des Wortes dazwischen besitzt, würde der Fehler in einem Gespräch auffallen und auch korrigiert werden können. Bennett will damit im Anschluss an Kant die Besonderheit chiraler Begriffspaare aufzeigen. Vgl. Bennett 1991, S. S110 f.; S. 128. Vgl. hierzu auch Curd 1991, S. 197 f. Nerlich macht darauf aufmerksam, dass die Argumentation abhängig davon ist, von wie vielen Raumdimensionen man ausgeht. Je nachdem, wie viele es sind, ist es sinnvoll von Unterschieden bei chiralen Begriffspaaren auszugehen oder nicht. Vgl. Nerlich 1991a, S. 159 f. Auch in der modernen Debatte zeigt sich damit, dass es wichtig bleibt, vom dreidimensionalen Anschauungsraum auszugehen, wenn man Kants Argumentation nachvollziehen möchte.
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Schon Gardner selbst versucht dieses von ihm aufgeworfene Problem mit Hilfe der Paritätsverletzung in der modernen Physik zu lösen. Auf quantenmechanischer Ebene ist nämlich die Auszeichnung einer bestimmten Seite bzw. Richtung unabhängig vom Beobachter möglich. Vor diesem Hintergrund ließe sich das OzmaProblem wie folgt lösen: It should be obvious now that here at long last is a solution to the Ozma problem – an experimental method of extracting from nature an unambiguous definition of left and right.We say to the scientists of Planet X: ʻCool the atoms of cobalt-60 to near absolute zero. Line up their nuclear axes with a powerful magnetic field. Count the number of electrons flung out by the two ends of the axes. The end that flings out the most electrons is the end that we call ‘south.ʼ It is now possible to label the ends of the magnetic axis of the field used for lining up the nuclei, and this in turn can be used for labelling the ends of a magnetic needle. Put such a needle above a wire in which the current moves away from you. The north pole of this needle will point in the direction we call ‘left.ʼ ʼ¹⁵⁸
Entscheidend an dieser Stelle für die weiteren Überlegungen und die weitere Interpretation im Hinblick auf Kant ist, dass selbst eine solch physikalisch komplexe Lösung letztlich nicht auf ostensive Bestimmungen verzichten kann.¹⁵⁹ Auch wenn es sich hierbei um einen theoretisch durchdachten Versuchsaufbau handelt, wodurch die beiden Richtungsseiten konkret voneinander unterschieden werden sollen, muss ein Beobachter dieses Experiment observieren, um am Ende festzustellen, in welche Richtung welches Objekt zeigt. Van Cleve betont daher zu Recht, dass Gardners Lösung die grundsätzliche Besonderheit inkongruenter Gegenstücke, auf die Kant aufmerksam macht, nicht aufhebt:
Gardner 1991b, S. 94. Auch im Hinblick auf die Zeit spielt die moderne Physik bei der Diskussion um Richtungsauszeichnungen eine Rolle: In der speziellen Relativitätstheorie sind raumzeitliche Längen von zeitartigen Kurven in der sog. Minkowski-Raumzeit als Eigenzeit interpretierbar, weil diese durch eine hypothetisch mitgeführte Uhr (d. i. die Uhrenhypothese) gemessen werden kann. Durch die Eigenzeit als Parameter lässt sich eine beobachterabhängige zeitartige Kurve auch als Zeitfluss bzw. als zeitliches Nacheinander darstellen. Für Friebe bedeutet das Einbringen der Uhrenhypothese, dass eine eternalistische Auffassung der Raumzeit nicht ausreicht, sondern ein wahrnehmbares Subjekt bzw. ein Beobachter hinzugedacht werden muss, um zeitartig als zeitlich zu deuten. Vgl. hierzu Friebe 2012, S. 209 – 221. Auf diese Sachdiskussionen im Zuge moderner Philosophie und Physik sowie die physikalischen Details kann hier nicht weiter eingegangen werden. Die hiesige Anmerkung sei daher nur als ein Hinweis auf die entsprechenden Diskussionen zu verstehen. Für einen Überblick über die Diskussionen siehe die entsprechenden Literaturangaben. Für die zeitgenössische Zeitdiskussion und eine Verordnung kantischer Positionen in dieser Diskussion siehe Friebe 2012, S. 33 – 40 und ferner Bieri 1972, S. 79 – 85; S. 138 – 141. Vgl. ferner Anmerkung 415 und 507 in Kapitel 2.
1.3 Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume
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May we conclude that the Ozma Problem is now solved? If the problem is formulated in the manner of Gardner or Bennett, the answer is yes; we have a way of conveying our meaning of ‘left’ and ‘right’ without common observation of a particular. But is this to say that there is a way conveying our meanings of these terms without resorting to ostension? […] The message we send to Planet X succeeds in getting our meaning across only because it directs the attention of our listeners to an example of the term to be defined. Our definition is in principle like the definition ʻWhite is the color of newly fallen snow,ʼ which is in a sense ostensive even if in getting it we do not point to any snow, but simply tell our listeners where to find some.¹⁶⁰
Ungeachtet dieser erneuten Wiederaufnahme und Diskussion der kantischen Argumentation ist es an dieser Stelle wichtig festzuhalten, dass für Kant aus seiner Argumentation folgt, dass die relationalen Verhältnisse im Raum einen entsprechenden allbefassenden Raum voraussetzen:
Van Cleve 1991a, S. 19 f. Gleiches gilt auch für die Aufdeckung der Vertauschung der Bedeutung von chiralen Begriffspaaren in Bennetts Gedankenexperiment durch die Ausnutzung der Paritätsverletzung.Vgl. hierzu entsprechend Curd 1991, S. 197– 201 bzw. die obige Anmerkung 157 im hiesigen Kapitel 1. Beide Gedankenexperimente, sowohl das von Bennett als auch das von Gardner, müssen, um aufgelöst zu werden, in letzter Instanz auf ostensive Bestimmungen zurückgreifen – ob nun direkt oder indirekt. Van Cleve will letztlich darauf aufmerksam machen, dass die Lösung des Ozma-Problems in gewisser Weise in eine vergleichbare Diskussion wie das Gedankenexperiment Marrys Zimmer von Jackson in der modernen Qualiadebatte führt. Vgl. Jackson 1982, S. 127– 130. So wie Farben einen ostensiven Gehalt aufweisen, müssen auch Richtungen so definiert werden, dass klar ist, welche Richtung im Sinne der Which-is-which-Frage mit einer Bezeichnung gemeint ist. Entsprechend heißt es auch bei Harper im Hinblick auf Gardners Lösungsvorschlag des Ozma-Problems: „Clearly, we donʼt have to be able to make any ostensive or otherwise demonstrative reference to the actual runs of the experiment the Alphans (scientists from Planet X) use to align their interpretation of ʻleftʼ with ours. On the other hand, and just as cleary, the Alphans have to appeal to non de dicto knowledge de se when they actually do use the experiment to align their interpretation with ours. To apply Gardnerʼs suggestion one must orient the wire and the suspended magnet to oneʼs body. This is an obvious example of just the sort of transformation of knowledge of relative positions among objects into knowledge of regions that Kant was talking about.“ (Harper 1991, S. 304 f.). Van Cleve formuliert Kants zentrale Einsicht in Über die Gegenden wie folgt: „[W]e cannot give a verbal definition of any chiral term except by using other chiral terms; hence, if any of the chiral terms are to be understood, at least some of them must be understood ostensively.“ (Van Cleve 1991a, S. 16). Rusnock und George hingegen schlussfolgern nach ihrer Auseinandersetzung mit Kants Argumentation, dass der Unterschied inkongruenter Gegenstände weniger ein ostensives Problem darstellt als ein Problem des Vergleichs bei relationalen Verhältnissen. Demnach muss auch bei der Bestimmung von konkreten Größen ein Maßstab als Vergleichsreferenz hinzugezogen werden. Vgl. Rusnock / George 1995, S. 275 f. Doch auch ein solcher Vergleich ist im Hinblick auf die Which-is-which-Frage letztlich ein ostensiver bzw. anschauender Vergleich. Zur Besonderheit inkongruenter Gegenstücke siehe obige Anmerkung 138 im hiesigen Kapitel 1.
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Denn die Lagen der Theile des Raums in Beziehung auf einander setzen die Gegend voraus, nach welcher sie in solchem Verhältniß geordnet sind, und im abgezogensten Verstande besteht die Gegend nicht in der Beziehung eines Dinges im Raume auf das andere, welches eigentlich der Begriff der Lage ist, sondern in dem Verhältnisse des Systems dieser Lagen zu dem absoluten Weltraume.¹⁶¹
Zum Schluss verweist Kant darauf, dass er sich mit dieser Raumstruktur in der Nähe eines Raumkonzepts sieht, das bereits in den Naturwissenschaften und in der Mathematik eingeführt wurde. Zumindest die grundsätzliche Problematik eines rein relationalen Raumkonzepts war nämlich schon vor Kant zur Sprache gekommen, wie bereits die Auseinandersetzung mit der Kritik von Clarke an Leibniz zeigte. Ferner kritisierte auch schon Euler, dass mit dem ausschließlich relationalen Raumkonzept von Leibniz kein eindeutiger Richtungsbegriff definierbar ist.¹⁶² Allerdings scheint Eulers Kritik und die damit verbundene Argumentation für ein absolutes Raumkonzept für Kant unbefriedigend zu sein, weil sie letztlich „a posteriori“¹⁶³ verfährt. In De mundi führt Kant aus, dass die Mathematik mit einem aposteriorischen Raumkonzept droht, „von der Höhe ihrer Gewißheit herab[zustürzen]“¹⁶⁴, weil sie jeglichen Notwendigkeitsstatus ihrer Aussagen verlieren würden. Kant kann den Raum daher nicht als einen Erfahrungsbegriff ansehen. Doch bevor die weitere Entwicklung in De mundi thematisiert wird, soll an dieser Stelle auf das epistemisch-phänomenanalytische Beispiel eingegangen werden, das auch der kritische Kant später aufgreift.
1.3.3 Das epistemisch-phänomenanalytische Beispiel Auch wenn Kant die verschiedenen Argumentationsebenen seiner Beispiele in Über die Gegenden noch nicht voll entfaltet, so liefert die Auseinandersetzung mit Kants epistemischen Beispiel zumindest einen weiteren Hinweis für den Raum als Grundbegriff und scheint auch im Hinblick auf die weitere Abkehr von Leibniz eine wichtige Rolle zu spielen.¹⁶⁵ Der erkenntnistheoretische Aspekt der Schrift wird selten gezielt angesprochen, zum einen deshalb, weil angenommen wird, dass erst in De mundi die erkenntnistheoretische Dimension der ganzen Proble-
AA II, 377. Vgl. hierzu die Diskussion in Kapitel 0.4 und die einleitenden Ausführungen zu Kapitel 1.3. AA II, 378. WW V, 63. Im Hinblick auf die erkenntnistheoretische Überlegung spricht Falkenburg bei Kant gar von einer „Wendung ins Epistemische“ (Falkenburg 2000, S. 100).
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matik aufkommt, zum anderen, weil diese Argumentation nur indirekt mit dem grundlegenden Phänomen der inkongruenten Gegenstände zu tun hat.¹⁶⁶ Doch gerade die Auseinandersetzung mit dem erkenntnistheoretischen Aspekt und die damit verbundene Argumentation erscheint nach der ausführlichen Kritik in der Kant-Literatur sowohl auf der mathematischen als auch auf der ontologischkosmologischen Argumentationsebene sinnvoll. Zwar garantieren für Kant nach obiger Argumentation unterschiedliche Orte – dank eines absoluten Raumkonzepts – die Verschiedenheit von ansonsten gleichen Gegenständen, doch in Bezug auf das Subjekt stellt sich darüberhinausgehend die Frage, wie zwischen zwei Orten oder zwei Richtungen im Raum unterschieden wird, was letztlich auf die nachfolgende Frage hinausläuft, wie sich ein Subjekt im Raum orientieren kann: Wenn ich auch noch so gut die Ordnung der Abtheilungen des Horizonts weiß, so kann ich doch die Gegenden darnach nur bestimmen, indem ich mir bewußt bin, nach welcher Hand diese Ordnung fortlaufe, und die allergenaueste Himmelskarte, wenn außer der Lage der Sterne unter einander nicht noch durch die Stellung des Abrisses gegen meine Hände die Gegend determiniert würde, so genau wie ich sie auch in Gedanken hätte, würde mich doch nicht in den Stand setzen, aus einer bekannten Gegend, z. E. Norden, zu wissen, auf welcher Seite des Horizonts ich den Sonnenaufgang zu suchen hätte.¹⁶⁷
Bereits Vaihinger merkt an, dass neben dem Problem symmetrischer Körper auch ein Problem der Orientierung in Über die Gegenden besteht, wobei Vaihinger Letzteres unabhängig vom Raumproblem betrachtet und es deshalb für sinnvoll erachtet, dass dieses Problem später nicht in der transzendentalen Ästhetik der KRV, sondern in Orientieren thematisiert wird. Vgl. Vaihinger 1922b, S. 523 f. Anm. Unruh dagegen meint, Kant hätte später beide Themen noch stärker miteinander verbunden, indem er den Raum als Anschauungsform einführt. Unabhängig von dieser Frage sieht jedoch auch Unruh die Orientierungsproblematik bereits 1768 angesprochen und bezieht zum besseren Verständnis der Schrift Über die Gegenden die spätere Schrift Orientieren in seine Untersuchung mit ein.Vgl. Unruh 2007, S. 63. Krämer konstatiert: „Von ,Orientierungʽ ist also in dem Text von 1768 noch keineswegs die Rede. Gleichwohl können wir konstatieren, dass bereits in diesem früheren, vorkritischen Text angelegt ist, dass der Raum, soweit er für menschliche Erfahrung von Belang ist, durch Richtungen charakterisiert und also orientiert ist.“ Und ferner heißt es im Hinblick auf die Kant-Literatur: „Merkwürdigerweise wird [in der Kant-Literatur bezüglich Kants Schrift von 1768] allerdings kaum Bezug darauf genommen, wie Kants argumentative Strategie aussieht. Für dieses ,wieʽ ist es eben nicht nur charakteristisch, dass Kant die Existenz ,händigerʽ materieller Körper […] annimmt, sondern auch, dass er auf das geographische Sich-Auskennen am Himmel wie auf der Erde rekurriert […], welches ohne das ,Gefühlʽ der leiblichen Unterscheidung von rechts und links sowie der damit verbundenen praktischen Asymmetrie undenkbar ist.“ (Krämer 2016, S. 237 ff.). Auch bei Stegmaier heißt es: „Kant entwickelt den Begriff der Orientierung in seiner frühen Schrift Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raum am Raum-Problem, ohne dort den Ausdruck ,Sich-Orientierenʽ schon zu haben.“ (Stegmaier 2010, S. 210). AA II, 379. Wie bereits in Kapitel 1.2 ausgeführt, kann nach Kant in empirischer Hinsicht der Punkt mit der höchsten Ätherkonzentration als besonderer Mittelpunkt bezeichnet werden. Vgl.
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Anhand dieses Beispiels wird klar, dass auch die Frage, wie sich ein Subjekt räumlich orientieren kann, mit der Argumentation für ein absolutes Raumkonzept in Über die Gegenden zusammenhängen muss. Diese Einschätzung wird durch Kants Thematisierungsweise des Raums seit Beginn seiner Publikationstätigkeit verstärkt: Wie schon in der Erstlingsschrift geht Kant nämlich das Thema des Raums von zwei Seiten an – von einer objektiven und von einer subjektiven Seite. Es geht um die objektive Raumstruktur einerseits und um die Frage nach der Vorstellung des Raums andererseits.¹⁶⁸ Entsprechend geht es auch in Über die Gegenden zum einen um die Möglichkeit des realen und faktischen Unterschieds der objektiven Gegenstände bzw. um ihre Bestimmung, sei es in mathematischer oder ontologischer Hinsicht, und zum anderen um die Frage, wie eine subjektive Orientierung und der Grundbegriff der Gegenden erzeugt werden können. Bedingungen der Möglichkeit der Objekte sind hier noch nicht Bedingungen der Möglichkeit des Erkenntnisprozesses. Dennoch zeigt sich, dass Kant seit Beginn seiner Publikationstätigkeit an beiden Seiten des Themas interessiert ist.¹⁶⁹ Um die subjektive oder epistemische Dimension der Argumentation in Über die Gegenden nachzuvollziehen, ist es hilfreich, weitere Beispiele aus dem Korpus der kantischen Texte heranzuziehen. Am anschaulichsten sind die Beispiele hierzu in Kants späterer Schrift Orientieren, auf deren Zusammenhang mit der Orientierungsproblematik in Über die Gegenden bereits Kaulbach und neuerdings auch
AA I, 312. Dieser empirische Mittelpunkt hilft jedoch nicht bei der Frage nach der Orientierung eines Subjekts im Raum. Ein Subjekt orientiert sich nicht am Mittelpunkt des Universums, wenn es zwischen der linken und rechten Seite seines Körpers unterscheidet. Die Festlegung einer absoluten Orientierung des Raums in Abhängigkeit zum Unterscheidungsgrund des Subjekts ist der entscheidende Aspekt, der die ganze Problematik zu einer über die Mathematik und Physik hinausgehenden Thematik führt. Während in der Mathematik relative Orientierungen im Vektorraum definierbar sind, ist aus Sicht der mengentheoretischen bzw. modernen Mathematik die Festlegung einer bestimmten Orientierung des ganzen Raums oder Koordinatensystems „kein Strukturmerkmal, sondern eine Konvention“ (Falkenburg 2000, S. 119). Eine Orientierung als solche ist in einem Raum nicht einmal mathematisch notwendig, wie das Beispiel des Möbiusbands zeigt. Vgl. hierzu Möbius 1991, S. 39 ff. und ferner Lyre 2012, S. 98 bzw. die weiteren Ausführungen hier in Kapitel 1.3.3. Vgl. Kapitel 1.1. Wie oben zitiert, interpretiert Falkenburg Kants Argumentation dahingehend, dass sie zwischen einem „mathematische[n] Kernpunkt“ und einem „kosmologische[n] Kernpunkt des Arguments“ (Falkenburg 2000, S. 117) unterscheidet. Siehe das Zitat zur obigen Anmerkung 151 im hiesigen Kapitel 1. Es wäre ferner notwendig zu ergänzen, dass nach obiger Ausführung und Entwicklung von Kants Problematik neben der mathematischen und kosmologischen eine implizit epistemische Problemstellung behandelt wird, wie im Folgenden noch klarer herausgestellt werden soll.
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Unruh hinweisen.¹⁷⁰ Dort bringt Kant – neben einer leicht abgewandelten Variante des obigen Beispiels aus Über die Gegenden – Folgendes für das Verständnis nützliche Beispiel: „Im Finstern orientiere ich mich in einem mir bekannten Zimmer, wenn ich nur einen einzigen Gegenstand, dessen Stelle ich im Gedächtniß habe, anfassen kann.“¹⁷¹ Wenn ein Gegenstand im Dunkeln ertastet wird, hilft das Wissen über die Relationen der anderen Gegenstände zu dem ertasteten Objekt in diesem Zimmer, um sich zu orientieren. Die Kenntnis von den relationalen Verhältnissen ist für Kant aber nicht per se hinreichend, ja sogar nicht einmal notwendig für die Orientierung im Raum. Anhand der Position eines Gegenstands und der relationalen Struktur der Gegenstände im Raum lässt sich noch nicht feststellen, wo links und rechts oder vorne und hinten vom ertasteten Gegenstand liegen, „denn die Objekte, deren Stelle ich finden soll, sehe ich gar nicht“. Um sich zu orientieren, hilft hier „nichts als das Bestimmungsvermögen der Lagen nach einem subjectiven Unterscheidungsgrunde“. In Bezug auf den eigenen Körper und „das bloße Gefühl eines Unterschiedes meiner zwei Seiten, der rechten und der linken“¹⁷², ist schließlich überhaupt erst ein Versuch der Orientierung möglich. Erst wenn das Subjekt im Hinblick auf seinen Ort und seinen Körper den Unterschied zwischen linker und rechter Seite (sowie zwischen oben und unten, hinten und vorne) macht und somit in der Lage ist, das Wissen über die Relationsstrukturen der Dinge auf den ertasteten Bezugspunkt anzuwenden, ist eine Orientierung im Raum nach Kant möglich.¹⁷³ Denkt man Kants Überlegungen weiter, folgt für das relationale Raumkonzept aus epistemisch-
Vgl. Kaulbach 1960, S. 102 f. und Unruh 2007, S. 63. Siehe darüber hinaus Anmerkung 166 und 167 im hiesigen Kapitel 1. AA VIII, 135. AA VIII, 135. Auch wenn Kant es hier ein „Gefühl“ nennt, ist ersichtlich, dass dieses Gefühl in dieser Periode seines Schaffens (kritische Phase) in einer reinen und ursprünglichen Raumanschauung gründet, wonach „eine Verschiedenheit in der Lage der Gegenstände a priori zu bestimmen“ möglich ist. Kant schlussfolgert daraus, dass „ich mich geographisch bei allen objectiven Datis […] doch nur durch einen subjectiven Unterscheidungsgrund“ (AA VIII, 135) orientiere. Ein in diesem Kontext interessanter Zusammenhang ist, dass Kant auch bewusst ist, dass der eigene Ort nicht empirisch gegeben sein kann. In Anthropologie heißt es nämlich später: „[Die Seele] kann sich selbst nach ihrem Orte im Raum, ohne einen Widerspruch zu begehen, nicht wahrnehmen, weil sie sich sonst als Object ihres äußeren Sinnes anschauen würde, da sie sich selbst nur Object des inneren Sinnes sein kann […].“ (AA VII, 216). In Bezug auf diese Stelle konstatiert Stegmaier: „Sie [die Seele] ist notwendig blind für den Standpunkt ihrer Orientierung. Sie erfährt die Welt, aber nicht zugleich, von wo aus und wie sie sie erfährt.“ (Stegmaier 2010, S. 213). In der früheren Schrift Über die Gegenden verfügt Kant jedoch noch nicht über die kritische Anschauungstheorie von Raum und Zeit. Siehe hierzu auch die nachfolgenden Ausführungen zu Kants Überlegungen in Träume.
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phänomenanalytischer Sicht gravierendes: Selbst dann, wenn das Subjekt nämlich nichts über die Relationen der Objekte im Raum weiß, kann es sich durch das Ertasten von anderen Gegenstände und der subjektiven Unterscheidung zweier Seiten eine Relation und somit eine Orientierung aufbauen. Andersherum gilt jedoch, dass selbst bei der Kenntnis aller Relationen in einem dunklen Raum kein Orientierungsversuch ohne die notwendige Bedingung einer vorausgesetzten Unterscheidung der Seiten bzw. Richtungen durchs Subjekt gelingen kann.¹⁷⁴ Die Festlegung von Richtungen und die Unterscheidung zwischen „Oben und Unten“, „rechte[r] und linke[r]“ und „vordere[r] und hintere[r] Seite“¹⁷⁵ bzw. das Aufspannen eines Raums ist die notwendige Bedingung jedes Orientierungsversuchs und jedes Anwendens von Relationskenntnissen. Kant schreibt entsprechend, dass die „geographische[], ja […] gemeinste[] Kenntniß der Lage der Örter […] nichts hilft, wenn wir die so geordnete[n] Dinge […] nicht durch die Beziehung auf die Seiten unseres Körpers nach den Gegenden stellen können.“¹⁷⁶ Die Vorstellung der Richtungen links, rechts, oben, unten, vorne und hinten ausgehend vom eigenen Ort wird nach Kant durch die Vorstellung eines globalen Raums ermöglicht.¹⁷⁷ Dies kann eine Raumvorstellung, die allein aus den relationalen Verhältnissen der Objekte gewonnen wird, nicht leisten, da sie immer zu spät entsteht, um zwischen den verschiedenen Richtungen zu unterscheiden. Daraus folgt ipso facto zumindest in epistemischer Hinsicht die fundamentale Abhängigkeit einer relationalen Raumauffassung von einer absoluten, unabhängig davon, welchen Status diese Raumauffassung dann auch haben mag – sei sie objektiv absolut wie bei Newton oder subjektiv absolut wie später bei Kant in der kritischen Phase. Aus der erkenntnistheoretischen Perspektive Kants auf die Problematik der inkongruenten Gegenstücke lässt sich vor diesem Hintergrund sagen, dass die eigene Orientierung eines Subjekts die Erkenntnis des Unterschieds zwischen inkongruenten Gegenstücken ermöglicht.¹⁷⁸ Was beim späteren
Auf diesen Zusammenhang hat auch Harper im Zusammenhang mit Kants Schrift Über die Gegenden hingewiesen: „One can learn the relative positions of places (even in three dimensions) by reading them off from the map, but this information will not tell you how to get from here to there until you have located here and there on the map and oriented it to your body. Only after such an orientation can you transform your knowledge of relative positions of the places among themselves into knowledge of the regions in which those places are located.“ (Harper 1991, S. 293 f.). AA II, 379. AA II, 379. Vgl. AA II, 379. Wenngleich Weyl argumentiert, dass die Händigkeit auch durch die Relation zwischen zwei Objekten mathematisch definiert werden kann und damit die mathematische Dimension von Kants Argumentation angegriffen ist, folgt daraus noch kein Angriff auf die epistemische Di-
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Kant die reine Raumanschauung begründet, ist in Über die Gegenden noch ein Grundbegriff vom absoluten Raum, den wir im Hinblick auf unsere Körperseiten anwenden und anhand dessen wir von vornherein zwischen links und rechts bzw. vorne und hinten sowie oben und unten unterscheiden können: „[Alle] unsere Urtheile [sind] von den Weltgegenden dem Begriffe untergeordnet, den wir von Gegenden überhaupt haben, insofern sie in Verhältniß auf die Seiten unseres Körpers bestimmt sind.“¹⁷⁹ Kurz vor der Schrift Über die Gegenden beschäftigt sich Kant in Träume bereits mit der Frage, an welchem Ort sich die Seele letztlich befindet, und gelangt zu der Überlegung, dass die eigene Empfindung den Ort angibt, wo sich das Subjekt räumlich befindet: „Wo ich empfinde, da bin ich“ und das „ist zugleich mein Ort“¹⁸⁰. Die Empfindung spielt hier eine wichtige Rolle bei der Ortszuschreibung, auch für äußere Gegenstände, denn Kant erklärt, dass ein Subjekt „in der Empfindung auch ihren Ort [der äußeren Gegenstände] mit begreife“¹⁸¹. Damit rückt Kant die Frage nach den unterschiedlichen Gegenden im Raum in die thematische Nähe der Sinnlichkeit eines Subjekts. Während Kant in Träume noch behauptet, dass die Gegend eines Gegenstands in der Empfindung des Subjekts begriffen werden kann, scheint ihm die apodiktische Gewissheit der Mathematik nunmehr zu verdeutlichen, dass der Raumbegriff und mit ihm die Einteilung nach Gegenden auf mehr als auf der Empfindung aufbauen muss. Gleichwohl soll weiterhin gelten, dass das „verschiedene Gefühl der rechten und linken Seite zum Urtheil der Gegenden von so großer Nothwendigkeit ist […]“¹⁸².
mension der kantischen Argumentation. Auch die Frage nach einem absoluten Drehsinn im Hinblick auf die Which-is-which-Frage ist hiervon zunächst unberührt. Van Cleve behauptet in Bezug auf die Problematik inkongruenter Gegenstücke, dass Kinder zunächst lernen, zwischen Richtungen zu unterscheiden, bevor sie den Unterschied zwischen einem linken und einem rechten Handschuh bzw. zwischen chiralen Formen lernen. Vgl. Van Cleve 1991b, S. 203. AA II, 379. AA II, 324. AA II, 344. AA II, 380. Kaulbach interpretiert, dass die subjektive Orientierung eng an den eigenen Körper gebunden bleibt, wohingegen bei der mathematischen Orientierung der eigene Standpunkt als „mathematischer Punkt ausgelegt“ (Kaulbach 1960, S. 103) werden kann. Entsprechend heißt es auch schon bei Riehl: „Die Raumvorstellung eines gewichtlosen Wesens würde kein Oben und Unten, kein Vorwärts und Rückwärts begreifen, weil es diesem Wesen an den bezüglichen, die Bewegung unterscheidenden, also richtenden Gefühlen mangeln würde.“ (Riehl 1925, S. 197). Seit 1768 ist bei Kant jedoch das Abhängigkeitsverhältnis zwischen einer Orientierung im Raum und den Empfindungen gerade umgekehrt. Baum betont somit zu Recht, dass Kant seine ursprüngliche Auffassung aus Träume aufgibt. Vgl. Baum 1996, S. 57 f. Dieser Punkt macht es auch schwierig, Rukgabers Ansatz zu folgen, wonach bei Kant die materielle Asymmetrie im Raum dafür verantwortlich sein soll, dass zwischen inkongruenten Gegenstücken in Über die Gegenden unterschieden werden kann. Vgl. Rukgaber 2016, S. 428. Auch wenn die vorkritischen Schriften –
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Vor diesem Hintergrund gibt Kant gleich zu Beginn seiner Schrift Über die Gegenden im Hinblick auf Euler das erklärte Ziel vor, einen Beweis für die Realität des absoluten Raums liefern zu wollen, der jedoch nicht nur die Mechaniker, sondern sogar die Messkünstler überzeugen soll. Die Empfindung kann somit in Über die Gegenden nicht die Antwort auf die Frage sein, wie sich inkongruente Gegenstände unterscheiden lassen, sondern der Raum als ein Grundbegriff des Subjekts muss diese Problematik lösen. Schon in einer Reflexion, die auf vor 1763 datiert wird, führt Kant aus, dass er unter Grundbegriffen solche Begriffe versteht, die anderen Begriffen „zum Grunde“ liegen, wie etwa der „Begriff der Zeit, einer Bewegung, und der Ausmessung“ dem „gemeinsten Begriffe einer Uhr“¹⁸³ zum
wie in der Auseinandersetzung mit der Schrift Naturgeschichte gesehen (vgl. Kapitel 1.2) – Anlass geben, von einer materiellen Asymmetrie auszugehen, leistet diese nicht das, was Kant benötigt, um daraus einen Grundbegriff des Raums für die Mathematik zu gewinnen oder das kosmologisch-ontologische Beispiel befriedigend zu erörtern. Soll eine Hand als erster Schöpfungsgegenstand durch den Grundbegriff des Raums als linke oder rechte Hand bestimmt werden, kann nicht die materielle Asymmetrie herangezogen werden, die es in diesem Gedankenexperiment noch gar nicht gibt bzw. von der gerade abgesehen wird. Mit dem subjektiven Bestimmungsgrund und dem Gefühl der unterschiedlichen Seiten meint Kant zumindest später in der KRV den Raum als reine Anschauung – wie auch die obige Auseinandersetzung mit der Schrift Orientieren zeigt. Andernfalls würde die Raumvorstellung an einer Empfindung hängen, was im Hinblick auf Kants Kopernikanische Wende sicherlich problematisch sein dürfte, da doch nach dieser gerade umgekehrt gelten muss, dass der Raum als Form Bedingung der Möglichkeit des Inhalts sein muss. Ich schließe mich darüber hinaus Falkenburgs Kritik gegenüber Kaulbach an: Sie betont, dass Kant in Träume noch eng an Leibnizʼ Auseinandersetzung mit dem Problem inkongruenter Gegenstücke gebunden zu sein scheint. Vgl. Falkenburg 2000, S. 123. Wie ferner Giovanelli betont, finden wir nämlich bereits bei Leibniz die Körpergebundenheit des eigenen Standpunkts und der damit einhergehenden Unterscheidung der Richtungen. Vgl. Giovanelli 2010, S. 290. Wie Kant in De mundi eindeutig zu bedenken gibt und bereits in Über die Gegenden gegen Eulers Versuche der Begründung eines absoluten Raums ins Feld führt, kann die Mathematik und die reine Naturwissenschaft nicht auf einem aposteriorischen Raumkonzept fußen, da dadurch der Notwendigkeitsstatus ihrer Aussagen gefährdet wäre. Dass Kant letztlich auf den körperlichen Bezug bei der Unterscheidung der Seiten auf unser reines Anschauungsvermögen zurückführt, zeigt sich in den Prolegomena. Dort erklärt er, dass inkongruente Dinge in ihrem Unterschied durch keinen Begriff verständlich gemacht werden können, „sondern nur durch das Verhältniß zur rechten und linken Hand, welches unmittelbar auf Anschauung geht“ (AA IV, 286). Auch Bennett sieht die vermeintliche Körperbezogenheit bei der Unterscheidung zwischen Richtungen im Raum kritisch: „In any case, human bodies are not needed at all. It is sometimes said that we can distinguish enantiomorphs only because our bodies are asymmetrical in at least two dimensions, but this is false too. If our bodies were symmetrical about a point we could still make the distinction we now make in terms of ʻrightʼ and ʻleft,ʼ […] only we should have to express it in terms of something other than the sides of our bodies.“ (Bennett 1991, S. 108). Zur weiteren Begründung dieser These siehe Bennett 1991, S. 108 ff. Entsprechend kritisch sieht das auch Walker. Vgl. Walker 1991, S. 189 f. Refl. 3709, AA XVII, 250.
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Grunde liegt. In der Reflexion 3927 spricht Kant ausdrücklich von „Raum“ und „Zeit“ als „rationalen Grundbegriffe[n], worin sich einzig und allein die empfundenen Eigenschaften der Dinge erklären lassen“¹⁸⁴. Ferner notiert Kant an anderer Stelle: „[…] die idee vom Raume [ist] nicht von Empfindung ausgedehnter Wesen entlehn[t] […]. Daher ist die idee des Raumes notio intellectus puri […].“¹⁸⁵ Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses von Grundbegriffen schreibt Kant in Über die Gegenden, dass „in der Beschaffenheit der Körper [nur] Unterschiede angetroffen werden […], weil der absolute Raum kein Gegenstand einer äußeren Empfindung, sondern ein Grundbegriff ist“¹⁸⁶. Gleichwohl kann auch dieser Grundbegriff nicht einfach angeboren sein oder aus der Erfahrung gewonnen werden, denn dann wäre die Notwendigkeit mathematischer Urteile weiterhin fraglich.¹⁸⁷ Stattdessen muss dieser Grundbegriff in Bezug zu unserem Körper (in noch ungeklärter Weise) erzeugt werden: Da wir alles, was außer uns ist, durch die Sinnen nur in so fern kennen, als es in Beziehung auf uns selbst steht, so ist kein Wunder, daß wir von dem Verhältniß dieser Durchschnittsflächen zu unserem Körper den ersten Grund hernehmen, den Begriff der Gegenden im Raume zu erzeugen. Die Fläche, worauf die Länge unseres Körpers senkrecht steht, heißt in Ansehung unser horizontal; und diese Horizontalfläche giebt Anlaß zu dem Unterschiede der Gegenden, die wir durch Oben und Unten bezeichnen.¹⁸⁸
Der Schritt zu einer subjektabhängigen Realität des Raums als eine bloße Anschauungsform des Subjekts bleibt hier noch aus, da es sich um einen „absoluten und ursprünglichen Raum“¹⁸⁹ handelt, dessen Realität unabhängig von jeglicher Materie ist und der „selbst als der erste Grund der Möglichkeit ihrer Zusammensetzung eine eigene Realität“¹⁹⁰ hat. Auf der einen Seite nähert sich Kant Newton und Euler an, wenn er erklärt, dass er mit diesem Raumkonzept den „Begriff des Raumes, so wie ihn der Meßkünstler denkt und auch scharfsinnige Philosophen
Refl. 3927, AA XVII, 349. Refl. 3930, AA XVII, 352. AA II, 383. Siehe dagegen Vaihinger, der meint, dass Kant „Grundbegriff“ in einem ganz allgemeinen Sinne als Vorstellung verstehen würde. Zu diesem angeblich „laxeren Sprachgebrauch“ bei Kant und seinen Zeitgenossen, wonach „Begriff und Vorstellung so gut wie identificirt“ (Vaihinger 1922b, S. 158) werden, siehe die Ausführungen in Vaihinger 1922b, S. 158 f. und ferner Kemp Smith 1923, S. 99 f. Kant macht sich jedoch bereits in Natürliche Theologie darüber Gedanken, inwiefern Raum und Zeit als unauflösbare Grundbegriffe in der Metaphysik betrachtet werden können. Vgl. AA II, 280 und die Anmerkung 10 im hiesigen Kapitel 1. Vgl. Refl. 5329, AA XVIII, 153. AA II, 379. AA II, 383. AA II, 378.
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ihn in den Lehrbegriff der Naturwissenschaft aufgenommen haben […]“¹⁹¹, behauptet. Auf der anderen Seite distanziert sich Kant von Leibnizʼ Vorstellung, wonach der Raum nur eine Erscheinungsweise der unabhängigen Monaden darstelle. Mit einem absoluten Raumkonzept und der damit einhergehenden absoluten Seitenaufteilung ist sowohl eine Orientierung des Subjekts möglich als auch der Unterschied zwischen inkongruenten Objekten eindeutig fassbar. Dieses Fazit verbindet die unterschiedlichen Dimensionen der Argumentation in Über die Gegenden. Der absolute Raum ist hier nicht mehr ein actus Gottes, der den Raum konstituiert, sondern vielmehr hängt die Frage nach dem Raumkonzept nunmehr – neben der ontologischen Problematik auf Seiten der Objekte – auch mit einem Orientierungs- und Erkenntnisproblem des Subjekts zusammen. Gleichwohl gesteht Kant an der gleichen Stelle ein, dass „es nicht an Schwierigkeiten fehlt, die diesen Begriff umgeben, wenn man seine Realität […] fassen will“¹⁹², was somit auch die Offenheit der kantischen Überlegungen und auch die Offenheit in seiner Entwicklung zu diesem Zeitpunkt hinsichtlich eines Suchens nach einem festen philosophischen Grund zeigt.¹⁹³ Zeitgleich kündigt sich ein radikaler Neuansatz in Kants philosophischem Denken an, der schließlich in De mundi erstmals im Ansatz durchgeführt wird. Das Argumentationsziel in Über die Gegenden und insbesondere die Frage, ob Kant am Ende für ein absolutes Raumkonzept argumentiert, wird in der Kant-Literatur kontroverser diskutiert, als prima facie zu erwarten wäre, und das, obwohl der eine oder andere Interpret genau das Gegenteil suggeriert. Zum Beispiel analysiert Vaihinger die unterschiedlichen Argumentationsebenen im Zusammenhang mit den inkongruenten Gegenstücken vor allem im Hinblick auf ihr Resultat. Dabei betont Vaihinger, dass Kant in Über die Gegenden in Auseinandersetzung mit den inkongruenten Gegenstücken für einen absoluten Raum argumentiert, wohingegen er ab De mundi dagegen argumentiert.¹⁹⁴ Buroker konstatiert im Hinblick auf die Kant-Literatur: „Most philosophers agree […] that in
AA II, 383. AA II, 383. Vgl. hierzu die Vorbemerkungen zu Kapitel 1 bzw. die dortige Anmerkung 2. Hierzu kommentiert Theis: „A la fin de lʼécrit, Kant résume son argumentation en répétant que les situations respectives de la matière ou des corps ne sont possibles que pour autant quʼon présuppose les déterminations de lʼespace. En dʼautres termes, lʼespace compris comme absolu et originaire, cʼest-á-dire non dérivé de lʼexpérience, permet seul de rendre compte des relations entre les corps. Or, en tant que tel, il est un Grundbegriff, une notion fondamentale qui rend possible les objets dʼune sensation externe (et il nʼest pas lʼobjet dʼune sensation externe). Mais cette affirmation au sujet de lʼespace nʼest pas sans poser problème. En effet, si lʼespace est une notion fondamentale, comment peut-il être une réalité absolue?“ (Theis 1991, S. 39). Vgl. Vaihinger 1922b, S. 526 f.
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this first incongruent counterparty essay Kant broke abruptly with the relational theory and argued for Newtonʼs theory of absolute space.“¹⁹⁵ Als Beispiel gibt sie u. a. Kemp Smith an, der meint, dass Kant das absolute Raumkonzept von Newton aufgreift, es jedoch aufgrund der Schwierigkeiten, die in De mundi expliziert werden, nicht beibehalten kann.¹⁹⁶ Demgegenüber steht eine andere Position in der Kant-Literatur: Falkenburg kritisiert Vaihinger, wonach dieser nur aufgrund der voreiligen Unterstellung, Kant habe in Über die Gegenden für ein absolutes und realistisches Raumkonzept im Sinne Newtons argumentiert, zu unterschiedlichen Versionen des Inkongruenzarguments in Kants Werk gelangt, die nach Vaihinger sogar gegenteilige Resultate zur Folge haben sollen. Falkenburg verweist auf die Argumente von Friedman, Wolff-Metternich und Kaulbach.¹⁹⁷ Letzterer sieht Kants Raumkonzept um 1768 in Verbindung mit dem Aspekt der eigenen Körperlichkeit aus Träume: Wenn Kant beinahe mit denselben Worten wie Newton das relative (und zugleich relationale) System auf das ,absoluteʻ System des realen Raumes ,bezogenʻ wissen will, so meinen doch beide mit diesen Worten Grundverschiedenes. Bei Kant nämlich liegt in dem Wort ,absolutʻ durchaus kein Hinweis auf Körperjenseitigkeit und theologische Würde, sondern er versteht darunter den unableitbaren ,Bestimmungsgrundʻ meines Raumbewußtseins: dieser ist das anschauende, seiner eigenen Raumstellung bewußte Ich. Die endgültige Bestimmung der Körpergestalt geschieht nur in ,Beziehungʻ auf meinen absoluten Standpunkt, den ich erfahre, indem ich meiner als eines leiblichen Wesens bewußt werde. Links und rechts sind nur je von mir aus zu verstehen, es sind Richtungen, welche dem ,inneren Sinn anschauend gnug sindʻ, wenngleich sie von der philosophischen Vernunft nicht ohne ,Schwierigkeitenʻ zu ,fassenʻ sind.¹⁹⁸
Falkenburg gibt diesbezüglich zu Recht zu bedenken, dass Kaulbach damit den Anschauungscharakter aus Kants kritischem Raumkonzept bereits sehr früh eingeführt sieht.¹⁹⁹ Doch dieses Problem betrifft alle Interpretationen, die anzweifeln, dass Kant eine unabhängige Wirklichkeit des Raums vertreten habe – und sei diese auch noch so verschieden von Newtons Konzept –, denn wenn der Raum keine eigene Realität haben soll und nur epistemisch als Bezugspunkt absolut verstanden werden kann, dann müsste bereits hier die Subjektwende bezüglich des Raums vollbracht worden sein. Friedman behauptet: „Kantʼs
Buroker 1981, S. 7. Vgl. Kemp Smith 1923, S. 163. Vgl. bezüglich der Schwierigkeiten in De mundi weiter unten in Kapitel 1.4. Vgl. Falkenburg 2000, S. 122 f. Kaulbach 1960, S. 95. Vgl. Falkenburg 2000, S. 123 Anm. Einen entsprechenden Vorwurf muss sich auch Nakajima gefallen lassen. Vgl. Nakajima 1986, S. 20 f. und auch Dück 2001, S. 66 f.
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argument here, in other words, pertains only to what he will later call space as mere form of intuition, and it therefore has nothing whatever to do with the dynamical structure underlying Newtonian absolute space, time and motion.“²⁰⁰ Wolff-Metternich schreibt, dass Kants Redeweise vom absoluten Raum lediglich besagt, „daß die Vorstellung eines umgebenden Raumes für die Bestimmung der Gegenden im Raum unverzichtbar ist, ohne daß damit diese Annahme im Sinne des Newtonischen Raumes hypostasiert würde“²⁰¹. Ferner merkt sie an der gleichen Stelle an, dass damit der Begriff des Raums, wie er in den MAN auftritt, vorweggenommen wird. Doch nur weil Kant zuvor Newtons Behälterraum verwirft und später den Anschauungsraum einführt, ist damit noch nicht ausgeschlossen, dass er zumindest in Über die Gegenden die eigenständige Realität des Raums behaupten kann. Eine solche Interpretation kann sich lediglich auf ex post facto Hinweisen und einer idealisierten Stringenz in Kants Entwicklung stützen. Im Sinne der Ausführungen in Kapitel 0.2 wird hier die erste Interpretationsmaxime bzw. die gebotene Texttreue zu Gunsten der dritten Maxime bzw. einer postulierten Kohärenz der kantischen Überlegungen ausgehebelt. Auch wenn die Bedenken von Falkenburg, Kaulbach, Friedman und Wolff-Metternich zeigen, dass Kants Raumvorstellung um 1768 und Newtons Konzept eines Behälterraums nicht identisch sind, wie anscheinend Kemp Smith und Gloy oder auch Al-Azm annehmen, so muss doch festgehalten werden, dass Kant eindeutig davon spricht, dass der Raum vor aller Materie existieren soll.²⁰² Kant will zeigen, dass der „absolute Raum un-
Friedman 1992, S. 207 Anm. Wolft-Metternich 1995, S. 89. Unruh macht darauf aufmerksam, dass Kants Konzeption von Anfang an nicht im Sinne der Behältervorstellung Newtons verstanden werden kann. Schon die oben dargestellte Interdependenz zwischen Substanzen und Raum stellt eine Idee von Leibniz dar, die nicht zu Newtons Konzeption passt. Ferner merkt Unruh an, dass auch Kants Verständnis vom Attraktionsgesetz nicht exakt derjenigen von Newtons Gravitationsgesetz entsprechen kann. Vgl. Unruh 2007, S. 50 und ferner im Hinblick auf die Diskussion in der Kant-Literatur S. 61 f. Anm. Auch Rukgaber sieht in Kants Raumkonzeption vor 1768 deutliche Unterschiede zu Newtons mathematischem Raum: „[…] Kant also makes the claim that all extensions or orderings of parts, whether in the case of a symmetric figure or not, have a metric of relational directionality in space. Again, Newtonian, mathematical absolute space cannot attribute any qualitative or directional element to space itself. But Kantʼs theory of material absolute space priori of 1768 says that it has a dynamic (non-mathematical) centre, vertical poles, a central horizontal plane and left-right rotation.“ (Rukgaber 2016, S. 416). Rukgaber bezieht sich u. a. auf die Ausführungen zur materiellen Bestimmung des Raums in Naturgeschichte. Vgl. Rukgaber 2016, S. 416 und ferner die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 1.2. Siehe ferner zu den Unterschieden zwischen Kant und Newton im Hinblick auf das Raumkonzept Messina 2017, S. 49 – 55. Gloy geht in Anbetracht der Unterschiede zu Newtons Raumkonzept sicherlich zu weit, wenn sie schreibt, dass Kant „damit zum Vertreter Newtons [wird]“ (Gloy 1984, S. 12). Gleiches gilt für
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abhängig von dem Dasein aller Materie“²⁰³ ist. Entsprechend verweist beispielsweise Gotz darauf, dass Kant explizit davon spricht, dass er mit seiner Schrift versucht, selbst den „Meßkünstlern einen überzeugenden Grund an die Hand [zu] geben, mit der ihnen gewöhnlichen Evidenz die Wirklichkeit ihres absoluten Raumes“²⁰⁴ ersichtlich werden soll. Nach Gotz will Kant damit „den Beweis antreten“ für eine „absolute Realität des Raumes“²⁰⁵. Auch er sieht hier „explizit den Schluß auf die Realität des absoluten Raumes“, da Kant „expressis verbis von der Wirklichkeit des absoluten Raumes [spricht]“²⁰⁶. Der zu begründende Raum soll – um es mit Kants Worten auszudrücken – eine „eigene Realität“²⁰⁷ haben und somit „nicht für ein bloßes Gedankending“²⁰⁸ gehalten werden. Ferner betont Nakajima, dass Kant „wahrscheinlich an dem Newtonischen absoluten Raum vor allem eine positive Kraft des Raumes selbst“ erkannte, indem er „den auf der Spieglung beruhenden Unterschied auf den Raum selbst“²⁰⁹ zurückführte. Kant sind die Schwierigkeiten eines absoluten und realisitischen Raumkonzepts bereits zuvor bewusst, wie aus einer Bemerkung in seinem Handexemplar der Metaphysica hervorgeht, in der er die Schwierigkeiten konkretisiert: Ob es ein spatium absolutum oder tempus absolutum gebe, würde so viel sagen wollen, ob man zwischen zwey Dingen im Raume alles […] vernichten könne und doch die bestimte leere Lücke bleiben würde […]. Wir lösen diese Schwierigkeiten nicht auf, sondern antworten unsern Gegnern durch die retorsion, weil ihre Auffassung eben diese Schwierigkeiten hat.²¹⁰
Dennoch hält Kant expressis verbis in Über die Gegenden am absoluten Raumkonzept fest, da er zu dieser Zeit kein alternatives Konzept sieht, das diese
Kemp Smith, wenn er von einer „adoption of the Newtonian view of space in 1768“ (Kemp Smith 1923, S. 163) spricht, oder auch für Al-Azm, wenn er bei Kant von einer „conversion to the orthodox Newtonian point of view in 1768 […]“ (Al-Azm 1967, S. 7.) ausgeht. Siehe hierzu ferner die Kritik von Unruh an Gosztonyi und Friedman, wobei er Letzterem in Anbetracht der zitierten Stellen an der Anmerkung 200 im hiesigen Kapitel 1 nicht gerecht wird. Vgl. Unruh 2007, S. 49 Anm. AA II, 378. AA II, 378. Gotz 1993, S. 172. Vgl. auch Buroker 1981, S. 50 und analog Giovanelli 1974, S. 293 oder auch Baker 1935, S. 278. Ein jüngeres und differenzierteres Beispiel für die Auseinandersetzung mit Kants Argumentation für einen absoluten Raum findet sich bei Lyre 2012, S. 96 – 101. Gloy 1984, S. 12 f. AA II, 378. AA II, 383. Nakajima 1986, S. 23. Refl. 3892, AA XVII, 330.
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Schwierigkeiten lösen könnte.²¹¹ Unter diesen Gesichtspunkten fällt es insgesamt schwer – trotz offensichtlicher Unterschiede zu Newtons Konzeption – nicht von einem absoluten und realistischen Raumkonzept bei Kant zu dieser Zeit zu sprechen.²¹² Daher ist die Kritik von Falkenburg an Vaihinger nicht ohne Weiteres nachvollziehbar, denn es trifft demnach gerade nicht zu, dass Kant „die Realität des absoluten Raums nur epistemisch“²¹³ gekennzeichnet habe. Die ganze Argumentation ist von vornherein nicht nur epistemisch, sondern auch ontologisch. Wäre sie nur epistemisch, wäre damit der Raum als subjektives Konstrukt vorweggenommen. Wäre dies der Fall, dann wäre jedoch unplausibel, wie auch Falkenburg zugestehen muss, dass Kant hier noch gar nicht davon spricht, dass der Raum keine eigene Realität habe.²¹⁴ Erst in De mundi führt Kant aus, dass der Raum keine eigenständige Realität besitzt und nur subjektiv ist. Kant wird hier nicht müde, dies immer wieder hervorzuheben, woran sich auch die Neuartigkeit dieses Gedankens bei ihm zeigt.²¹⁵ Wenn also in Über die Gegenden der Realitätsbegriff nur auf die Vorstellung bezogen ist und Kant „bloß auf die Realität der Raumvorstellung“²¹⁶ schließt, wie Falkenburg behauptet, dann ist unerklärlich, wieso Kant erst in De mundi schreibt, dass der Raum nichts Reales sein kann. Stattdessen lässt sich hieran vielmehr erkennen, dass der Realitätsbegriff von vornherein nicht allein auf die Vorstellung bezogen ist, sondern auf den Raum als unabhängige Form der Außenwelt. Wie mehrmals erwähnt, ist Kant bereits seit 1747 an beiden Seiten der Thematisierung interessiert: Sowohl die objektive als auch die subjektive Dimension der Problemstellung bezüglich des Raums sind bei Kant von Beginn an im Fokus. Auch wenn Kant 1768 aus Sicht seiner kritischen Phase mit der Realitätsbehauptung eines absoluten Raums zu weit geht, kann deshalb nicht in Abrede gestellt werden, dass es eben dieses Fazit ist, dass Kant 1768 aus
Vgl. hierzu auch Earman: „What needs to be emphasized more strongly is the impetus provided by the tension in the 1768 argument […]. Kant could hardly have failed to have been aware, if only unconsciously, that Newtonian absolute space squared no better than Leibnizian relational space with his claim that the difference between right and left rests on an inner principle. The resolution called either for an abandonment of this claim or else the exhibition of a tertium quid to Newton and Leibniz. But Kant was unwilling to abandon the claim, and if space is regarded as the objective structure of things in themselves, there is seemingly no third alternative.“ (Earman 1991b, S. 249 f.). Zur Begrifflichkeit eines absoluten und realistischen Raumkonzepts im Unterschied zu einem relationalen und idealistischen siehe Kapitel 0.4. Falkenburg 2000, S. 123. Vgl. Falkenburg 2000, S. 115. Vgl. hierzu beispielsweise AA II, 391; 398; 400; 403; 406 oder 412. Falkenburg 2000, S. 100.
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seiner Argumentation zieht. Es ist aber richtig, dass Kants direkte Konklusion aus seiner Argumentation nicht ein subjektunabhängiges Raumkonzept darstellt, auch wenn Kant das wohlmöglich meint, wenn er zu Beginn der Schrift erklärt, dass er einen „Beweis“²¹⁷ für den absoluten Raum suche. Stattdessen handelt es sich dabei eher um Kants eigene Interpretation seiner Konklusion. Kant argumentiert nämlich in Über die Gegenden zunächst einmal nur für ein absolutes Raumkonzept, das den Raum als ein globales Gebilde einführt, worin Relationen eingebettet sind, ganz unabhängig davon, ob der Raum subjektabhängig existiert oder nicht. In der globalen Struktur des Raums sieht er den entscheidenden Hinweis für ein realistisches bzw. subjektunabhängiges Raumkonzept, da ihm noch nicht das Konzept eines allbefassenden Raums als subjektabhängige Anschauung zur Verfügung steht. Seine Argumentation ist prinzipiell mit beiden Konzepten (realistischem und idealistischem Raumkonzept) verträglich, nur hat er zu der Zeit noch keine Idee vom Letzteren und sieht sich deshalb trotz der Schwierigkeiten gezwungen, das Erstere anzunehmen.²¹⁸ Ausschließlich ein rein relationales Raumkonzept muss nach Kant in Anbetracht der inkongruenten Gegenstände verworfen werden. Nur vor diesem Hintergrund wird nachvollziehbar, wie Kant ab De mundi dasselbe Phänomen in der Argumentation für ein subjektabhängiges bzw. idealistisches Raumkonzept verwenden kann. Allison sieht zwar, dass das Phänomen der inkongruenten Gegenstücke sowohl mit Kants kritischer Raumtheorie als auch mit der newtonschen Behältertheorie vereinbar ist, erkennt jedoch nicht, dass diese Vereinbarkeit beider Raumkonzepte an der Gemeinsamkeit beider Konzepte hängt, nämlich dass sie beide den Raum als eine globale, alles enthaltende Einheit verstehen, die den einzelnen Teilen vorhergeht. Ferner sieht Allison auch nicht die Argumentationskraft im Zusammenhang mit den inkongruenten Gegenstücken, da er meint, dass die Auseinandersetzung mit
AA II, 378. Vor diesem Hintergrund scheint es problematisch zu sein, bei Kant in der Folgezeit von einer „Erkenntnis des Fehlers der Argumentation von 1768“ (Reich 1958, S. XV) zu sprechen. Bennett meint, dass Kants unterschiedliche Ergebnisse im Hinblick auf die Raumkonzepte darauf hinweisen, dass Kant sich unsicher war, zu welchem Raumkonzept die Auseinandersetzung mit den inkongruenten Gegenstücken führen muss: „In short, Kant could not decide which if any of his doctrines about space can draw strength from special facts about the right/left distinction.“ (Bennett 1991, S. 100). Diese Interpretation erscheint zu kritisch, denn Kant bezieht das Argument ab 1770 auf sein neues Raumkonzept, vom dem er zuvor keine Idee hatte. Andererseits ist es wiederum zu unkritisch, wenn etwa Dietrich meint, dass „in dem ursprünglichen Totumcharakter von Raum und Zeit für Kant der eigentliche Beweisgrund ihrer Idealität“ (Dietrich 1916, S. 47) liegt, denn den Totumcharakter sieht Kant schon 1768 und schließt daraus, dass ein unabhängig existierender Raum angenommen werden muss.
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den Gegenstücken immer wieder auch Newtons Theorie bestätigt.²¹⁹ Das ist zwar richtig, doch es berücksichtigt nicht Kants Entwicklung zu dem Thema: Vor dem Hintergrund der Probleme mit Newtons Raumtheorie sieht sich Kant schließlich damit konfrontiert, dass die subjektivistische Raumtheorie als einziger möglicher Ansatz verbleibt. Bereits Kemp Smith betont, dass Kants Argumentation in Über die Gegenden darauf hinausläuft, dass der Raum als Ganzes jeglicher Teilung vorhergehen muss. Kemp Smith zufolge ist anzunehmen, dass Kant 1768 nur deshalb einen realistischen Raum behauptet, weil er noch nicht das alternative Konzept eines subjektiven Anschauungsraums wie 1770 besitzt.²²⁰ Kants Auseinandersetzung mit den inkongruenten Gegenstücken zeigt als direktes Ergebnis der Argumentation nur, dass der Raum ein einheitliches bzw. holistisches Gebilde sein muss. Die Subjektivität, Realität oder Idealität des Raums folgt nicht unmittelbar. Da sich auch Unruh nur nebensächlich mit Kants Argumentation auseinandersetzt, behauptet er, dass für Kant das Phänomen der inkongruenten Gegenstücke eine „Multifunktionalität“ aufweist, die die Subjektivität, Realität und Idealität des Raums „beweisen“²²¹ kann; das ist jedoch nicht das direkte Ergebnis der Argumentation Kants. Brittan weist zu Recht darauf hin, dass es nicht unterschiedliche Argumentationsergebnisse in Kants mehrmaliger Auseinandersetzung mit den inkongruenten Gegenstücken gibt: Commentators have often pointed out that Kant uses the existence of incongruent counterparts in the early essay ʻConcerning the Ultimate Foundation of the Differentiation of Regions in Space,ʼ the Prolegomena, and the Metaphysical Foundations of Natural Science to argue very different conclusions. What is infrequently recognized is that all these arguments turn on the same consideration: that the existence of incongruent counterparts shows that the principle of the identity of indiscernibles cannot be used in a non-circular way to individuate objects and hence to construct space in terms of them, for the only differences that incongruent counterparts display are spatial differences.²²²
Im Hinblick auf die Unterschiede in Kants Auseinandersetzung mit den inkongruenten Gegenstücken weist schon Marc-Wogau darauf hin, dass alle Stellen die einheitliche Grundstruktur des Raums hervorheben: Das Gemeinsame und das Wesentliche der Kantischen Beweise an allen vier Stellen [zum Thema inkongruente Gegenstücke] ist der Schluss, dass die symmetrischen inkongruenten Körper nur als Teile eines einzigen absoluten Raumes (des Raumes als „Totum“) gedacht
Vgl. Allison 1983, S. 99 – 102. Vgl. Kemp Smith 1991, S. 45 ff. Vgl. ferner Remnant 1991, S. 54. Unruh 2007, S. 60. Brittan 1978, S. 88.
1.3 Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume
99
werden können. Der Unterschied des Resultates der Beweisführung ist dadurch bedingt, dass die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen bei Kant sich während der Zeit 1768 – 1783 wesentlich verändern.²²³
Dass Kant im Anschluss an Über die Gegenden das realistische Raumkonzept in Anbetracht seiner Schwierigkeiten wieder fallen lässt, lässt sich, wie Kemp Smith betont, an folgender Reflexion aus dieser Zeit erkennen: Der reine Raum ist blos die potentiale relation und wird vor den Dingen vorgestellt, aber nicht als etwas wirkliches. Der leere Raum ohne Erfüllung ist möglich; aber der absolute Raum, als wogegen Geschöpfe in wirklichem Verhältnis stehen, ist unmöglich.²²⁴
Diese Reflexion steht im ausdrücklichen Widerspruch zur Wortwahl in Über die Gegenden und ebnet somit den Weg zu Kants Inauguraldissertation De mundi. Die eigenständige Realität des Raums als etwas Wirkliches hält Kant nunmehr endgültig für nicht tragfähig. Übrig bleibt jedoch, dass der Raum weiterhin als eine allbefassende, mithin absolute Einheit verstanden werden muss, um inkongruente Gegenstände eindeutig differenzieren können. Mannigfaltigkeit setzt Einheit voraus. Das relationale Strukturelement des Raums muss im umfassenden Strukturelement der Einheit eingebettet sein. Der Schritt zum subjektabhängigen Raumkonzept kündigt sich in einer von Adickes bereits auf 1769 datierten Reflexion an: Die Zeit und der Raum gehen vor den Dingen vorher: das ist ganz natürlich. Beyde nemlich sind subiective Bedingungen, unter welchen nur den Sinnen gegenstande können gegeben werden, obiectiv genommen würde dieses ungereimt seyn. Daher die Schwierigkeit von dem Orte der Welt und der Zeit vor der Welt.²²⁵
Aus dem Raum als Grundbegriff in Über die Gegenden wird in einer weiteren Reflexion aus derselben Zeit der Raum als ein „reine[r] Begriff[] der Anschauung[]“²²⁶. Aus diesen Reflexionen um das Jahr, auf das Kant auch sein großes Licht datiert, entwickelt er in De mundi schließlich sein subjektab-
Marc-Wogau 1932, S. 99. Refl. 4512, AA XVII, 578. Vgl. Kemp Smith 1923, S. 163. Refl. 4077, AA XVII, 405 f. Refl. 3958, AA XVII, 367.
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1 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der vorkritischen Phase
hängiges Raumkonzept, wonach Raum und Zeit reine Anschauungen darstellen.²²⁷ Wie Koriako konstatiert, ist es in Anbetracht dieser Zusammenhänge Inwieweit das berühmte „große[] Licht“ vor diesem Hintergrund gedeutet werden kann, ist umstritten. Kant schreibt in einer oft zitierten Reflexion: „Ich sahe anfenglich diesen Lehrbegriff wie in einer Dämmerung. Ich versuchte es gantz ernstlich, Sätze zu beweisen und ihr Gegentheil, nicht um eine Zweifellehre zu errichten, sondern weil ich eine Illusion des Verstandes vermuthete, zu entdecken, worin sie stäke. Das Jahr 69 gab mir großes Licht.“ (Refl. 5037, AA XVIII, 69). Die Stelle klingt aufgrund der Metapher des Lichts, dessen sich aufklärerische Philosophen zu der Zeit gerne bedienen, mysteriös, zumal Kant nicht viel über den Übergang und die genaue Überlegung hierzu schreibt. Auch wenn daher über Einzelnes nur gemutmaßt werden kann, so meint Gotz, dass man sich in der KantLiteratur doch einig sei: „Trotz vielfältiger Differenzen im Einzelnen besteht aber in der Kant-Forschung weitgehend Konsens darüber, dass die zumindest antinomieähnlichen Widersprüche im Begriff des absoluten Raumes und der absoluten Zeit ein wesentliches Moment des Übergangs zur Position der ID [De mundi] als dem unbestrittenen Resultat des ,großen Lichtesʻ ausmachen.“ (Gotz 2001, S. 20). So einig man sich über die Dissertation als Resultat des großen Lichts ist, so umstritten bleibt die Frage nach dem entscheidenden Impuls und dem genauen Zeitpunkt für die kritische Wende: Ein Interpretationssatz sieht den entscheidenden Punkt im Anschluss an Kants Formulierung in Prolegomena, wonach ihn Hume aus dem dogmatischen Schlummer erweckt hat, und seinem Brief an Garve, wonach die Antinomien der Vernunft die entscheidende Rolle beim Übergang gespielt haben. Vgl. AA XII, 256 f. Damit soll nämlich der entscheidende empiristische Einfluss als Ausgangspunkt Einzug in Kants Denken erhalten haben, von dem aus er zu einer Skepsis gegenüber der dogmatischen Metaphysik gelangte, die ihn schließlich zur kritischen Wende führte, wonach die Antinomien der reinen Vernunft mit einem subjektiven Anschauungskonzept von Raum und Zeit aufgelöst werden können. In jüngerer Vergangenheit hat Kreimendahl mit einer detaillierten Untersuchung über den Einfluss Humes versucht, diese Interpretation weiter zu plausibilisieren. Vgl. Kreimendahl 1990. Gleichzeitig ist seine Interpretation auch ausführlich kritisiert worden. Vgl. beispielsweise Falkenburg 2000, S. 137 f; S. 156 Anm. Interessanterweise verwendet Kant die Metapher des Erweckens nicht nur in Bezug auf Hume, sondern auch im Hinblick auf die Antinomien der reinen Vernunft. In einem späteren Abschnitt der Prolegomena heißt es, dass die kosmologischen Antinomien wirkmächtig sind, um „die Philosophie aus ihrem dogmatischen Schlummer zu erwecken und sie zu dem schweren Geschäfte der Kritik der Vernunft selbst zu bewegen“ (AA IV, 338). Klemme weist darauf hin, dass diese Metapher womöglich aus dem Vorwort von Johann Georg Sulzer zur deutschen Übersetzung von Humes Enquiry stammen könnte. Vgl. hierzu Klemme 2012, S. 190 ff. Nach wie vor wird die genaue gedankliche Entwicklung Kants, die zum großen Licht geführt haben soll, kontrovers diskutiert. Engelhard beispielsweise sieht den entscheidenden „Auslöser der kritischen Wende Kants“ nicht in der Raum- und Zeittheorie oder den Antinomien, sondern im Problem „der Rechtfertigung intellektueller Wissensansprüche“ (Engelhard 2005, S. 288 Anm.). Neben den Themen der theoretischen Philosophie scheinen jedoch auch praktische Überlegungen – jedenfalls laut Kant selbst – für den Übergang in die kritische Phase nicht unerheblich gewesen zu sein: „Ursprung der critischen Philosophie ist Moral, in Ansehung der Zurechnungsfähigkeit der Handlungen“ (AA XX, 335). Siehe auch schon die intensive Diskussion im 19. Jahrhundert bei Vaihinger 1922b, S. 427– 436 und zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei Marc-Wogau 1932, S. 100 ff. Ein nüchternes Fazit zu der Auseinandersetzung mit Kants Beweggründen für die kritische Wende zieht Baker: „It seems impossible to discover now the steps which led Kant to such a radical change of opinion. But some time between 1747 and 1755 there was a contact with English thought comparable to some extent with the acquaintance that has
1.4 Raum und Zeit als sowohl mannigfaltige als auch einheitliche Anschauungen
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durchaus sinnvoll, „die Raum- und Zeitlehre von 1770 als Lösung jener Schwierigkeiten anzusehen, mit denen sich Kant durch die Adaption der Eulerschen Position konfrontiert sah“²²⁸. Ferner ist im Hinblick auf den konkreten Gedankengang der Einschätzung Natterers zum Paradox der inkongruenten Gegenstücke zuzustimmen: „Das Paradoxon der inkongruenten Gegenstücke ist ein wichtiges Argument Kants, das die Entwicklung der transzendentalen Ästhetik entscheidend angestoßen hat.“²²⁹ Der nächste Schritt in dieser Entwicklung sind Kants Überlegungen in seiner Inauguraldissertation. Zwar ist im Hinblick auf die Frage 0.1 bereits hier mit den Überlegungen von 1768 klar, dass das Einheitsmoment das Primat gegenüber dem Mannigfaltigkeitsmoment in Bezug auf die Struktur von Raum und Zeit innehaben muss, aber um auch der Frage 0.2 für die vorkritische Zeit gerecht werden zu können, muss die Schrift De mundi hinzugezogen werden, da Kant dort schließlich die Konsequenz zieht, dass Raum und Zeit ursprünglich betrachtet keine bloßen Grundbegriffe, sondern vielmehr reine Anschauungen sein müssen, wovon er zeitlebens nicht mehr abrückt.
1.4 Raum und Zeit als sowohl mannigfaltige als auch einheitliche reine Anschauungen des Subjekts in De mundi In Kants Inauguraldissertation De mundi, in der er schließlich den Schritt zur subjektabhängigen Realität des Raums vollzieht, taucht erneut das Thema der inkongruenten Gegenstände und zugleich auch die Auseinandersetzung mit den Problemen eines bloß idealistisch-relationalen oder bloß realistisch-absoluten Raumkonzepts auf. Beide Konzepte – für sich selbst betrachtet – hält Kant nunmehr für aussichtslos: Diejenigen, welche die Realität des Raumes verteidigen, denken ihn sich entweder als unbedingtes und unermeßliches Behältnis der möglichen Dinge, welche Meinung, nach den Engländern, bei den meisten Geometern Beifall findet, oder sie behaupten, er sei das Ver-
become classic as the ʻawakening from dogmatic slumbersʼ.“ (Baker 1935, S. 275). Eine nüchterne Distanz zu emphatischen Begrifflichkeiten sowie das kritische Bewusstsein für autobiographische Anmerkungen eines Denkers sind notwendig, wenn weitreichende Entwicklungen untersucht werden sollen. Vgl. hierzu die einleitende Vorbemerkung zu Kapitel 1 sowie die methodischen Überlegungen in Kapitel 0.2. Koriako 1999, S. 108. Natterer 2003, S. 131.
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1 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der vorkritischen Phase
hältnis selber der daseienden Dinge, das mit Wegnahme der Dinge völlig verschwinde und sich nur an Wirklichem denken lasse, wie es, nach Leibniz, bei uns die meisten hinstellen. Was jene erste leere Erfindung der Vernunft betrifft, so gehört sie zur Welt der Fabeln, da sie wahre unendliche Verhältnisse ohne irgendwelches Seiende, das zueinander in Verhältnis steht, erdichtet. Doch verfallen diejenigen, die sich an die letztere Meinung verlieren, in einen weit schlimmeren Irrtum. […] Denn – um nicht den offenkundigen Zirkel, in den sie sich notwendig verwickeln, wenn sie den Raum erklären, in den Mittelpunkt zu rücken – sie stürzen die Geometrie von der Höhe ihrer Gewißheit herab und überantworten sie der Prüfung durch diejenigen Wissenschaften, deren Grundsätze empirisch sind.²³⁰
Diese beiden historischen Konzepte von Leibniz und Newton führen nach Kant nunmehr zu unauflösbaren Problemen. Entweder lassen sich inkongruente Gegenstände weder ontologisch noch epistemisch eindeutig unterscheiden oder ein globaler Raum wird als conditio sine qua non angenommen, von dem wir jedoch keinen Begriff aus der Erfahrung gewinnen können, da ansonsten aufgrund der Induktionsproblematik, die Hume aufwirft, die Mathematik in ihrer Apodiktizität gefährdet wäre.²³¹ Darüber hinaus kann der Raum als allbefassende Form kein einzelner Affektionsgegenstand sein, wie Kant in folgender Reflexion auf den Punkt bringt: Weil wir nicht blos den Raum des obiects, was unsre sinne rührt, sondern den Gantzen Raum anschauend erkennen, so muß der Raum nicht blos aus der wirklichen rührung der Sinne entspringen, sondern vor ihr vorhergehen.²³²
Die inkongruenten Gegenstücke erwähnt Kant in De mundi explizit in § 15 im Zusammenhang mit seiner Thematisierung des Raums. Kant scheint hier seine Argumentation aus Über die Gegenden nicht mehr als Hinweis auf einen bloß absoluten Raum als eigenständiges Reales zu verstehen, sondern auf einen absoluten bzw. allbefassenden Raum als reine Anschauung. Aus der obigen Argumentation leitet Kant somit nicht mehr ab, dass ein subjektunabhängiger Raum, von dem wir einen Grundbegriff haben sollen, sondern stattdessen der reine, mithin subjektabhängige Anschauungsraum eine eindeutige Unterscheidung zwischen inkongruenten Gegenstücken ermöglicht: „Aus alledem ist ersichtlich, daß hier nur durch eine Art von reiner Anschauung die Verschiedenheit, nämlich die Inkongruenz, bemerkt werden kann.“²³³ Kant ist sich nunmehr sicher, dass das Problem inkongruenter Gegenstücke und unterschiedlicher Gegenden im Raum
WW V, 63. Bezüglich Kants Bewusstsein für Humes Induktionsproblem siehe AA II, 403 f. Refl. 4189, AA XVII, 450. WW V, 59.
1.4 Raum und Zeit als sowohl mannigfaltige als auch einheitliche Anschauungen
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nicht begrifflich, sondern anschaulich gelöst werden muss, da der Unterschied zwischen inkongruenten Gegenständen anders nicht bemerkt werden kann. Friebe sieht in der Thematisierung von 1770 eine Verschiebung von Kants Interesse gegenüber seiner Auseinandersetzung im Jahre 1768: Während es doch bislang darum ging, die Frage zu beantworten, was der Grund für die Verschiedenheit zweier inkongruenter Körper sei, steht nun die Frage im Mittelpunkt seines Interesses, wie diese Verschiedenheit bemerkt werden könne. Die ontologische Frage nach dem Grund und die epistemische Frage nach der Feststellbarkeit der Verschiedenheit zweier Objekte sind aber zu unterscheiden. Sie sind insbesondere deshalb zu unterscheiden, weil Kant im Text von 1768 zum einen keinen Zweifel darüber aufkommen läßt, daß es ihm um den Bestimmungsgrund von einer körperlichen Gestalt geht (und nicht um den Vergleich von zweien), und ,daß dieses Verhältnis [des einen Körpers zum Raum] nicht unmittelbar kann wahrgenommen werdenʻ.²³⁴
Die ontologische Fragestellung rückt in Anbetracht der Bedeutung der epistemischen für die Einführung eines sinnlichen Vermögens in den Hintergrund. Dass sich die Argumentation über die inkongruenten Gegenstücke auch auf die Zeit übertragen lässt, zeigt folgende Stelle aus De mundi: Wenn man sich zwei Jahre denkt, so kann man sich nur dadurch vorstellen, daß ihre Lage in Bezug aufeinander bestimmt ist, und, wenn sie nicht unmittelbar aufeinander folgen, nur dadurch, daß sie durch eine gewisse Zwischenzeit miteinander verbunden sind.Welche aber von den verschiedenen Zeiten früher ist, welche später, kann auf keine Weise durch irgendwelche dem Verstande faßbaren Merkmale erklärt werden, wenn man nicht in einen fehlerhaften Zirkel geraten will, und die Erkenntniskraft unterscheidet es nur durch eine einzelne Anschauung.²³⁵
Allison sieht diesen weiterführenden Argumentationsansatz bei Kant nicht und reduziert die Argumentation daher auf den Raumzusammenhang.²³⁶ Unruh sieht zumindest eine analoge Argumentationsmöglichkeit für die Zeit.²³⁷ Tatsächlich betont Kant selbst in den Prolegomena, dass die Auseinandersetzung mit den inkongruenten Gegenstücken für beide – „Raum und Zeit“²³⁸ – ein Hinweis auf deren Idealität liefert. Koriako beansprucht für sich, als Erster das parallele Argument für die Zeit in De mundi entdeckt zu haben.²³⁹ Doch schon Al-Azm hat sich Friebe 2006, S. 41. Für die implizit epistemische Dimension der Überlegungen Kants in Über die Gegenden siehe Kapitel 1.3.3. WW V, 47 ff. Vgl. Allison 1982, S. 100. Vgl. Unruh 2007, S. 64 Anm. AA IV, 285. Vgl. Koriako 1999, S. 111 Anm.
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ausführlich mit der Frage auseinandergesetzt, wie sich die Argumentation über das räumliche Beispiel inkongruenter Gegenstücke im Ausgang von dem entsprechenden Hinweis in De mundi auf die Zeit übertragen lässt: Now, if we consider two processes: A-B, and C-D that are widely different in nature, structure, temporal location and the rate of the unfolding of their parts, but which are temporally congruent, i. e., they can be included within the same temporal boundaries, then we may call A-B and C-D congruent non-counterparts. I shall call the temporal riddle corresponding to the spatial one considered the paradox of congruent non-counterparts. It should be noted that the puzzle of congruent non-counterparts is the exact reverse of the spatial puzzle of incongruent counterparts. In other words, although A-B, and C-D are non-counterparts being dis-similar in all respects that we can think of, including the rates at which their parts unfold, still they possess one fundamental feature in common: the temporal boundaries of A-B can be made to contain C-D. There is an inner identity or similarity between certain processes which depends neither upon the processes themselves, nor upon their relations to other processes. They possess certain purely temporal properties which indicate that time itself is independent from the processes found in time and that the properties of processes unfolding in receptacle-time are, in certain respects, dependent upon the face that they are found in such a time. […] Therefore A-B and C-D stand in certain unique relations to absolute time which determines whether they are congruent or not. Kantʼs point is that when we conceptually consider congruent non-counterparts they are very different from each other yet there remains an inner identity between them that only intuition can apprehend.²⁴⁰
Während die Auseinandersetzung mit inkongruenten Gegenstücken beim Raum zeigt, dass die Einheit des Raums vorausgesetzt werden muss, um die eindeutige Differenz der Gegenstände angeben zu können, zeigt nach Al-Azm die Auseinandersetzung mit kongruenten Nicht-Gegenstücken, dass die Einheit vorausgesetzt werden muss, um die zeitliche Kongruenz von Gegenständen zeigen zu können.²⁴¹ Nicht zuletzt zeigt auch diese Argumentationsübertragung auf die Zeit, wie wichtig die epistemische Dimension bei der Auseinandersetzung mit den inkongruenten Gegenstücken ist. Gloy beschreibt den Zusammenhang zwischen der Thematisierung der inkongruenten Gegenstücke und der Einführung des sinnlichen Erkenntnisvermögens im Hinblick auf die Frage, wieso Raum und Zeit nicht Begriffe sein können, treffenderweise wie folgt: Nur wenn der Sonderstatus von Raum und Zeit gegenüber den übrigen Gegenstandsbestimmungen erwiesen ist, wird verständlich, daß ihre Eigenständigkeit ein ebenso eigenständiges Erkenntnisvermögen verlangt. Kann die Eigentümlichkeit von Rechts- und
Al-Azm 1967, S. 25 f. Vgl. Al-Azm 1967, S. 4; S. 22– 28.
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Linkssinn wie überhaupt von Beziehungen der Gegenstände zum umgebenden Raum nicht begriffen werden, so muß sie angeschaut werden […].²⁴²
Die nichtbegriffliche Eigentümlichkeit eines eindeutigen Drehsinns zeigt, dass der Verstand als begriffliches Vermögen nicht ausreicht, um das Paradox der inkongruenten Gegenstücke aufzulösen. Somit zeigt sich, wie Gosztonyi richtig konstatiert: „Im Problem des Raumbegriffs steckt also das Problem des Begriffes schlechthin.“²⁴³ Die Antwort auf dieses Problem lautet 1770 vor diesem Hintergrund schließlich: Das Subjekt kann einen Begriff vom Raum nur haben, weil Raum und Zeit als ursprüngliche (und somit nicht abstrahierte²⁴⁴) allbefassende Anschauungsformen bereits zugrunde liegen.²⁴⁵ Weder die Empfindung wie in Träume noch der Begriff wie in Über die Gegenden sorgen für die räumliche Bestimmung von Gegenständen, sondern die reine Anschauung erfüllt ab jetzt diese Aufgabe. Die inkongruenten Gegenstücke zeigen für Kant als direktes Ergebnis der Argumentation in Über die Gegenden, dass ein allbefassender Raum als eine Einheit angenommen werden muss. Ein rein relationales Raumkonzept muss für Kant daher scheitern. Als Interpretation des direkten Ergebnisses ergibt sich hier in De mundi im Unterschied zu Über die Gegenden eine subjektabhängige Raumkonzeption, da Kant die Alternative, wonach ein Grundbegriff von einem realen Raum angenommen werden müsse, Schwierigkeiten bereitet. Kant distanziert sich von demjenigem Punkt beim absoluten Raumkonzept Newtons, wonach der Raum ein subjektunabhängiger Behälter sein soll, und hebt stattdessen hervor, dass der Raum letztlich nur etwas „subjektives, ideales, aus der Natur der Erkenntniskraft nach einem festen Gesetz hervorgehendes Schema Gloy 1984, S. 30. Gosztonyi 1976, S. 415. Vgl. zum Unterschied zwischen den Begriffen rein und abstrakt folgende Stelle in De mundi: „Hier ist es aber notwendig, eine sehr große Zweideutigkeit des Ausdrucks ‚abstrakt‘ zu bemerken; ich halte es für besser, sie vorher zu beseitigen, damit sie unsere Untersuchung über das Intellektuelle nicht verunreinigt. Eigentlich sollte man nämlich sagen: ‚von etwas abstrahieren‘, nicht ‚etwas abstrahieren‘. Das erstere zeigt an: daß wir bei einem gewissen Begriff auf anderes, wie auch immer es mit ihm verknüpft sein mag, nicht achten; das letztere aber, daß er nur in concreto gegeben wird und so, daß er von dem mit ihm Vereinigten getrennt wird. Daher abstrahiert der Verstandesbegriff von allem Sinnlichen und wird nicht vom Sinnlichen abstrahiert, und vielleicht sollte man ihn richtiger abstrahierend als abstrakt nennen. Deswegen ist es ratsamer, die Verstandesbegriffe reine Vorstellungen, diejenigen Begriffe aber, die nur empirisch gegeben werden, abstrakte zu nennen.“ (WW V, 35). Vaihinger interpretiert, dass Kant den Raum als sensorium dei, wie er bei Newton vorkommt, 1770 schließlich als Anschauungsform auf das Subjekt überträgt. Vgl. hierzu Vaihinger 1922b, S. 426 Anm. Zu der Problematik der Beschreibung des Raums als sensorium bei Newton siehe die entsprechende Darstellung der Auseinandersetzung zwischen Leibniz und Clarke in Kapitel 0.4.
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gleichsam, schlechthin alles äußerlich Empfundene einander beizuordnen“²⁴⁶, sein kann. Diese Funktion der Beiordnung oder Koordinierung unterscheidet Raum und Zeit von Begriffen, die primär die Funktion einer Unterordnung oder Subordination haben, wie es auch an späteren Stellen heißt.²⁴⁷ In der raumzeitlichen Form der Welt sind Inhalte koordiniert statt wie bei einem Begriff subordiniert: Denn das Beigeordnete [lat. coordinata] bezieht sich aufeinander wie die Ergänzungsstücke zum Ganzen, das Untergeordnete [lat. subordinata] wie das Verursachte und die Ursache, oder überhaupt wie der Grund und das Begründete. Das erste Verhältnis ist wechselseitig und gleichartig, so, daß sich jedes beliebige Verhältnisglied auf das andere als bestimmend und zugleich als bestimmt bezieht; das letztere ist ungleichartig, nämlich von der einen Seite ein Verhältnis nur der Abhängigkeit, von der anderen der Ursächlichkeit.²⁴⁸
Der Raum ist nach Kant allein schon aufgrund seiner Homogenität nicht dazu geeignet, bloß ein allgemeiner Begriff zu sein. Der Raum ist nämlich ursprünglich nicht durch Abstraktion sukzessiv von den Besonderheiten einzelner Räume gewonnen, denn die Räume sind – wie es schließlich in der KRV treffend heißt – nichts anderes als „Theile eines und desselben alleinigen Raumes“²⁴⁹. Der alleinige Raum bleibt die Bedingung der Möglichkeit solcher Teile. Das Teil-GanzeVerhältnis beim Raum (omnia in se) nimmt eine Sonderstellung ein – Entsprechendes gilt für die Zeit. Diese Formen können nicht durch Abstraktion zustande kommen, sondern sind eine „gegebene[] Vorstellung“²⁵⁰, wie Kant immer wieder betont.²⁵¹ Nachdem klar geworden ist, dass Kant Raum und Zeit als anschauliche Vorstellungen verstanden wissen möchte, lässt sich im Hinblick auf die Frage 0.2 fragen, was es bedeutet, Raum und Zeit als gegebene Vorstellungen zu bezeichnen.²⁵² Dass Raum und Zeit gegeben sind, kann für Kant nicht bedeuten, dass sie als Quasi-Behälter im Subjekt fertig vorliegen, denn der „Begriff der Zeit“ ist
WW V, 61. Vgl. B39 f. bzw. die Ausführungen in Kapitel 2.1.4 und 2.1.5. WW V, 21. B39|A25. WW V, 65. Weiteres zu der Unterscheidung zwischen Begriff und Anschauung im Hinblick auf Raum und Zeit in Kapitel 2.1 und 2.2. Der Status dieser Gegebenheit wurde in der Kant-Literatur ausgiebig diskutiert. Wohlfart meint vor der entsprechenden Parallelstelle im vierten Raumargument der B-Auflage, dass sich hier die „Kantische Raumtheorie in ihrer ganzen Problematik vielleicht am sinnfälligsten verdichtet“ (Wohlfart 1980, S. 141). Vgl. hierzu die Diskussion des vierten Raumarguments im nächsten Kapitel 2.1.5.
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„nicht […] eine Art angeborene[] Anschauung“, sondern beruht auf „einem inneren Gesetz der Erkenntniskraft“²⁵³. Mutatis mutandis gilt Entsprechendes für den Raum. Im Zusatz zum dritten Abschnitt stellt sich Kant explizit die Frage, ob Raum und Zeit „angeboren oder erworben seien“. Die erste Option hält Kant für die Antwort einer „Philosophie der Faulen“²⁵⁴. Kant betont, dass „hier nichts anderes angeboren [ist] als ein Gesetz des Gemüts, nach welchem es, was es von der Gegenwart des Gegenstandes her empfindet, auf bestimmte Art vereinigt“²⁵⁵. Hier liegt die Wurzel von Raum und Zeit als Vorstellungen des Subjekts. Als „Tätigkeit […] der Erkenntniskraft“²⁵⁶ können die Begriffe Raum und Zeit weder durch Empfindung hervorgerufen noch einfach angeboren sein, sondern sie müssen durch die Ausübung der Tätigkeit des Subjekts bei der Beiordnung von Inhalten erworben werden.²⁵⁷ „[D]adurch, daß man auf ihre Handlung bei Gele-
WW V, 55. WW V, 69. WW V, 69. WW V, 69. Hervorzuheben gilt es, dass in De mundi (im Gegensatz zur KRV) die Zeit vor dem Raum thematisiert wird. Der dortige Paragraph über die Zeit hat zudem mehr Punkte als der Paragraph über den Raum. Eigenschaften des Raums werden in Anlehnung an die Punkte bei der Thematisierung der Zeit formuliert. Somit scheint die Zeit mit der Einführung seines subjektabhängigen Raumkonzepts in den Fokus zu rücken. Es ließe sich daher spekulieren, dass Kant über die Kopplung der Zeit an den inneren Sinn zu der Subjektivierung beider Anschauungsformen gelangt. Auch wenn das Konzept des inneren Sinns bereits vor dem sog. großen Licht im Ansatz in Kants Schriften zu finden ist (z. B. in AA II, 364 oder AA I, 411) und auch wenn man davon sprechen kann, dass „die Zuordnung der Zeit zum inneren Sinn […] zwar nicht direkt ausgesprochen [ist], aber die Zeit sich doch nach ihr auf den status repraesentativus [bezieht], indem sie die Bedingungen gibt, unter welchen der Verstand seine Begriffe anwenden kann und sowohl den Raum selbst als auch das umfasst, was in räumlichen Verhältnissen gegeben ist“ (Rademaker 1908, S. 10 (Hervorhebung aufgehoben)), so wäre ein solcher Interpretationsansatz aufgrund des mangelnden Textbestands und vor dem Hintergrund der in Kapitel 0.2 dargestellten Interpretationsmaximen doch als zu spekulativ zu bewerten. Vgl. hierzu die Kritik von Monzel an Rademaker und Erdmann in Monzel 1912, S. 83.Wie in Anmerkung 227 im hiesigen Kapitel 1 ausgeführt, bleibt es schwer zu beantworten, welche Überlegung Kant zum sog. großen Licht geführt hat. Eine Darstellung der Entwicklung zum Begriff des inneren Sinns und seine Kopplung an die Zeit sowie den philosophiegeschichtlichen Kontext liefert schon die Arbeit von Monzel. Siehe hierzu Monzel 1912. Siehe darüber hinaus im Hinblick auf Locke und Leibniz die Ausführungen in Vaihinger 1922b, S. 125 – 129.Vaihinger sieht den Grund dafür, dass die Zeit vor dem Raum thematisiert wird, in dem umfassenden Zuständigkeitsbereich der Zeit als Form für innere als auch äußere Inhalte. Vgl. Vaihinger 1922b, S. 395 ff. Wie Höffe meint, könnte es auch naheliegen, dass Kant sich bei der Reihenfolge der Thematisierung der Formen einfach an Newton orientiert. Vgl. Höffe 2003, S. 89 und ferner Newton 1988, S. 44. Siehe zur Umkehrung der Reihenfolge in der transzendentalen Ästhetik die Ausführungen in Kapitel 2.1.
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genheit der Erfahrung achtet“²⁵⁸, können die entsprechenden Begriffe und auch die Anschauung von Raum und Zeit durch „Selbstgebährung“²⁵⁹ ursprünglich erworben werden, wie Kant es später formuliert. Damit scheint hier von vornherein ein dynamisches Moment involviert zu sein, das mit der Subjektabhängigkeit einhergeht. Auch wenn Kant schreibt, dass Raum und Zeit nichts Reales seien, betont er gleichzeitig, dass sie weiterhin die Formen der Erscheinungswelt darstellen.²⁶⁰ Ein Solipsismus ist für Kant nämlich keine sinnvolle Option.²⁶¹ Die subjektive und die objektive Thematisierungsebene von Raum und Zeit, die Kant in der Erstlingsschrift noch unabhängig voneinander anspricht, nähern sich in De mundi an. Trotzdem dringt Kant auch hier noch nicht zu seinem späteren transzendentalphilosophischen Ansatz durch, wonach die Bedingungen der Möglichkeit des Erkennens zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände sind. Kant spricht später von „zwei Seiten“²⁶² der Erscheinung. Hier in De mundi jedoch entspringen die zwei Bedingungssphären nicht gleichsam aus dem Subjekt. Neben den Anschauungsbedingungen, unter denen sich Subjekte eine ganzheitliche Grundform der Erscheinungswelt vorstellen können, fragt Kant ferner, „auf welchem Grunde denn eben dieses Verhältnis aller Substanzen beruhe, das anschaulich betrachtet Raum heißt“²⁶³. Kant meint, sowohl einen Schöpfer als ursprünglichen Grund als auch die physikalischen Verhältnisse zwischen den Substanzen heranziehen zu müssen, um zu erklären, wieso die Welt unabhängig vom Subjekt ein ursprüngliches totum (statt compositum) darstellt.²⁶⁴ Dies gilt es im Hinblick auf den Unterschied zur kritischen Phase zu beachten. Gleichzeitig ist dieser Hintergrund wichtig für das Verständnis von Kants Formulierungen in De mundi, wonach der Raum „nicht etwas Objektives und Reales, WW V, 39. B793|A765. Auch wenn Kant hier von Tätigkeit spricht, soll die Anschauung letztlich „leidend“ (WW V, 41) sein. Auch in der KRV wird die Frage gestellt, wie ein prinzipiell tätiges Erkenntnisvermögen zugleich passiv sein kann. Vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 2.2. Vgl. zu diesem kritischen Punkt, der Kant in der Nachfolge noch beschäftigt, das Kapitel 1.5. Vgl. AA I, 411 ff. Bereits in Neue Erhellung finden wir den Gedanken, dass ein innerer Sinn („sensum internum“ (AA I, 411)) ohne einen äußeren nicht denkbar ist. Ohne eine Außenwelt, die Inhalte stiftet, wären Inhalte in der Innenwelt nicht denkbar. Daher „muß mehreres außerhalb der Seele vorhanden sein“ (WW I, 493). Mit dieser Überlegung versucht sich Kant gegen jede Form von Solipsismus zu verteidigen. Sie lässt sich auch später in der zweiten Auflage der KRV ausmachen. Vgl. B275 ff. Zwar entstand das Kapitel zur Widerlegung des Idealismus in der KRV wohlmöglich als Reaktion auf zeitgenössische Interpretationen, die Kant in die Nähe von Berkeley rückten, doch das eigentliche Argument dieser Widerlegung findet sich bei Kant im Ansatz schon in der vorkritischen Phase. B55|A38. WW V, 71. Vgl. hierzu AA II, 408 ff.
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weder eine Substanz, noch ein Akzidenz, noch ein Verhältnis; sondern ein subjektives, ideales, aus der Natur der Erkenntniskraft nach einem festen Gesetz hervorgehendes Schema gleichsam, schlechthin alles äußerlich Empfundene einander beizuordnen“²⁶⁵ sei. Bei all ihren Gemeinsamkeiten fallen Raum und Zeit aber nicht einfach zusammen. Kant merkt zunächst an, dass das räumliche Zugleichsein nicht einfach die Negation des zeitlichen Nacheinanders sein kann: Was zugleich ist, ist dies nicht deshalb, weil es nicht aufeinander folgt. Denn dadurch, daß man die Aufeinanderfolge wegnimmt, hebt man zwar irgendeine Vereinigung auf, die durch die Zeitreihe da war, aber daher entspringt nicht sogleich ein anderes wahres Verhältnis, wie es die Vereinigung von allem in demselben Augenblick ist. Denn das Gleichzeitige wird ebenso durch denselben Augenblick der Zeit verbunden, wie das Aufeinanderfolgende durch verschiedene.²⁶⁶
Die Vereinigung von allen Inhalten in demselben Augenblick ist somit ein anderes Verhältnis als das bloße Nacheinander der Zeit. Dies äußert sich auch in Kants Modellen für das Nacheinander und das Zugleich: Deshalb fügt, mag auch die Zeit nur Eine Abmessung haben, die Überallheit der Zeit (um mit Newton zu reden), durch die alles sinnlich Denkbare irgendwann ist, doch zur Größe des Wirklichen eine andere Abmessung hinzu, sofern es gleichsam von demselben Zeitpunkt abhängt. Denn wenn man die Zeit durch eine gerade ins Unendliche fortgeführte Linie bezeichnet und das Gleichzeitige in jedem beliebigen Zeitpunkt durch der Reihe nach angelegte Linien: so wird die so erzeugte Fläche die Welt als Phaenomenon vorstellen, in Ansehung der Substanz wie in Ansehung der Akzidenzen.²⁶⁷
Durch diese weitere Dimension, die am Zeitpunkt erzeugt wird, entsteht eine Fläche, die Kant modellhaft mit der Erscheinungswelt gleichsetzt. Mit dieser Fläche, die die Form des Gleichzeitigen repräsentieren und eine andersartige Vereinigung als die Vereinigung der Zeit darstellen soll, kann letztlich nur der Raum gemeint sein. Schließlich schreibt Kant selbst kurz nach dieser Stelle, dass „Fläche und Linie [] selbst Räume“²⁶⁸ sind. Das Nacheinander der Zeit ist nicht nur eine andere Struktur als das Nebeneinander des Raums, sondern ist auch einem anderen Zuständigkeitsbereich zuzuordnen:
WW V, 61. WW V, 53 Anm. WW V, 53 Anm. WW V, 61 Anm.
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1 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der vorkritischen Phase
Der Raum ist iederzeit, dieses bedeutet: daß die Zeit sich über alle Begriffe erstreke, so wohl äussere als innere Empfindungen, nicht aber, daß der Begriff des Raumes sich über die Zeit erstreke […].²⁶⁹
Während der Raum nur für äußere Empfindungen zuständig ist, ist die Zeit sowohl für innere als auch äußere Empfindungen zuständig. Beide konstituieren somit der Form nach die objektive Realität, obwohl die Zeit auch noch für innere Zustände des Subjekts (Gefühle, Stimmungen etc.) zuständig ist. In De mundi heißt es schließlich, dass Raum und Zeit subjektive „Grundform[en]“²⁷⁰ der Welt sind, die es ermöglichen, „daß sich mehreres Wirkliche wechselweise, wie zusammengehörige Teile, aufeinander beziehe und ein Ganzes ausmache[n]“²⁷¹. Der Aspekt der Einheit aus Über die Gegenden wird in De mundi übernommen und in das neue subjektabhängige Konzept integriert. Explizit schreibt Kant, dass die „Aufeinanderfolge […] nicht den Begriff der Zeit“ erzeugt, „sondern [die Aufeinanderfolge] […] sich auf ihn [beruft]“²⁷². Anders als in der frühen vorkritischen Phase sind somit die Verhältnisse in der Welt nicht der Ursprung von Raum und Zeit, vielmehr kann man sagen, dass der Zusammenhang dieser Verhältnisse in der Welt nur durch diese Grundformen möglich ist. Die Zeit (oder auch der Raum) ist „ein unbedingt erster formaler Grund der Sinnenwelt. Denn alles auf irgendeine Art Sensible kann nur gedacht werden, wenn es zugleich oder nacheinander gesetzt, folglich im Zuge einer einzigen Zeit gleichsam einbegriffen ist und sich durch eine bestimmte Lage aufeinander bezieht, so, daß durch diesen Begriff, den vornehmsten alles Sinnlichen, notwendig ein formales Ganzes entsteht, das nicht Teil eines anderen ist […]“²⁷³. Das Primat des globalen Charakters der Formen
Refl. 4070, AA XVII, 403. Eine entsprechende Stelle finden wir auch in De mundi: „Die Zeit aber nähert sich mehr einem allgemeinen und Vernunftbegriff, indem sie schlechthin alles in ihren Beziehungen umfaßt, nämlich den Raum selber und außerdem die Akzidenzen, die in den Verhältnissen des Raumes nicht einbegriffen sind, wie die Gedanken des Gemüts.“ (WW V, 67). Diese Beschreibung der Zeit deutet bereits ihre Vorrangstellung an, die sie gegenüber dem Raum in der transzendentalen Analytik haben wird. Vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 2.2.3. WW V, 59. WW V, 25. WW V, 47. WW V, 57. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Nähe zwischen Kants kunstästhetischen Überlegungen und seiner Auseinandersetzung mit den Formen Raum und Zeit um die Phase zwischen Über die Gegenden und De mundi: „Die Bedingungen der schönen Form der Gegenstände sind vorstellungen nach Verhältissen des Raumes und Zeit.“ (Refl. 1791, AA XVI, 116). Vgl. insbesondere Refl. 672, AA XV, 299. Diese enge Bindung des Schönen an Raum und Zeit löst Kant mit der Benennung seiner Lehre von den sinnlichen Vermögen als transzendentale Ästhetik auf, da er der philosophischen Ästhetik keine apriorischen Prinzipien zutraut, wie er in
1.4 Raum und Zeit als sowohl mannigfaltige als auch einheitliche Anschauungen
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stellt sicher, dass die Welt trotz aller Mannigfaltigkeit und allen Veränderungen als ein und dieselbe vorgestellt werden kann. Der Wechsel von Inhalten, Veränderungen und Differenzen ist nur in der Grundform der Einheit möglich. Gleichzeitig sind die relationalen Verhältnisse weiterhin ein Strukturmerkmal dieser Form, wodurch das „Mannigfaltige des Gegenstandes“ zum „Ganzen der Vorstellung zusammenwachse“²⁷⁴. Die Zeit ist eine Einheit, die zwar „nicht aus Einfachem“ besteht, doch gleichzeitig heißt es, dass durch die Zeit „Verhältnisse gedacht werden, ohne daß irgendwelches Seiende gegeben ist, das zueinander in Verhältnis steht“. In ihr als Größe befindet sich eine „Zusammensetzung, die, stellt man sie sich als ganz aufgehoben vor, gar nichts übrigläßt“²⁷⁵. Dass Raum und Zeit Zusammensetzungen enthalten, obwohl sie zugleich quanta continua sind und somit etwas Holistisches darstellen, zeugt davon, dass Kant das relationale Strukturmoment nicht vollkommen ablegt, sondern vielmehr in sein subjektabhängiges Raumkonzept integriert.²⁷⁶ Dabei besitzt das einheitliche Strukturmoment weiterhin das Primat gegenüber dem relationalen, wie bereits in Über die Gegenden deutlich wurde. Mit Raum und Zeit als Formen werden somit Strukturen gedacht, die bereits auf formaler Ebene einerseits eine allbefassende Einheit und andererseits ein relationales Geflecht darstellen sollen. Zwei scheinbar unvereinbare Konzepte, nämlich das Konzept eines absoluten und eines relationalen Raums oder einer Zeit, werden somit zumindest in diesem Punkt strukturell zusammengelegt. Richtigerweise betont Marc-Wogau daher, dass Kant keineswegs mit der Argumentation im Jahr 1768 die leibniz-wolffsche Raumauffassung gänzlich fallen lässt: 1768 lehrt Kant ausdrücklich die Realität des primären Raumes. […] Indessen ist es natürlich auch 1768 Kants Ansicht, dass der Raum als Bestimmung des Körpers von den materiellen Teilen des Körpers bedingt sei. Kant verwirft nicht die Leibniz-Wolffsche Raumauffassung. Er stellt nur dem sekundären Raume einen primären zur Seite. Mit anderen Worten: Kant verdoppelt den Raum in dem von uns ausgeführten Sinne.²⁷⁷
einer Anmerkung in der KRV erklärt. Vgl. B35 Anm. Zum Zusammenhang der Themen Raum und Zeit mit Kants späterer philosophischen Ästhetik in der KU siehe die Ausführungen in Kapitel 3.1. WW V, 31. WW V, 49. Zwar kann Mohr zugestimmt werden, dass Kant in der KRV sprachlich konsequenter ist und die Formen der Sinnlichkeit explizit als Relationen (Verhältnisse) bezeichnet, aber sachlich ist dieser Gedanke bereits an der hier zitierten Stelle ausgedrückt, obwohl Kant beispielsweise mit Blick auf die Stelle AA II, 403 nicht immer konsequent verfährt. Vgl. hierzu Mohr 1998, S. 110. Marc-Wogau 1932, S. 104.
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1 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der vorkritischen Phase
Doch statt von einer Verdopplung oder gar von einer „Dialektik der Raumbestimmungen bei Kant“²⁷⁸ zu sprechen, ist es sinnvoller zu rekonstruieren, dass Kant eine Komplexierung der Raumvorstellung durchführt, indem er sowohl das einheitsstiftende Moment der newtonschen Raumauffassung als auch das mannigfaltigkeitsstiftende und relationale Moment der leibnizischen Raumauffassung unter dem Primat des Ersteren zusammendenkt. Offensichtlich scheint eine solche ambivalente Struktur für Kant nur noch als eine Form des Subjekts denkbar: Auch wenn Raum und Zeit Grundformen der Welt darstellen, soll diese Form „nicht etwas Objektives und Reales“ sein. Dieser Grundgedanke einer formalen Konstituierung wird in der KRV weiter ausgebaut und mit dem Schematismus soll zumindest bei der Zeit deutlich gemacht werden, wie aus einer Form des Subjekts zugleich eine Form des Objekts werden kann, was den transzendentalen Ansatz darstellt, wonach die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Dinge sind, den wir in De mundi noch nicht finden. Wie in der Naturgeschichte verteidigt Kant auch in De mundi die Vorstellung einer aktualen Unendlichkeit vor dem Vorwurf der Widersprüchlichkeit. Während für Kant hier die unendliche Größe einen Fortgang von den Teilen zum Ganzen darstellt, bildet die Vorstellung einer kontinuierlichen Größe den Rückgang vom Ganzen zu den Teilen. Kant räumt jedoch an dieser Stelle ein, dass weder der Fortgang noch der Rückgang anschaulich abgeschlossen werden kann. Sowohl die „vollständige Zergliederung [lat. Analysis]“ als auch die „vollständige Verbindung [lat. Synthesis]“ sind „unmöglich“, da „nach den Gesetzen der Anschauung“ weder im Hinblick auf die Analysis eine „Ganzheit [noch im Hinblick auf die Synthesis ein Ganzes] vollständig gedacht“²⁷⁹ werden können. In der dazugehörigen Anmerkung unterscheidet Kant zwischen einem quantitativen und einem qualitativen Verständnis von Analysis und Synthesis. Qualitativ kann ein Fortgang (Synthesis) genannt werden, wenn „in der Reihe des Untergeordneten vom Grund zum Begründeten“ verbunden wird. Quantitativ ist ein Fortgang (Synthesis), wenn „in der Reihe des Beigeordneten von einem gegebenen Teil durch dessen Ergänzungsstück zum Ganzen“²⁸⁰ verbunden wird. Entsprechendes gilt für die Zergliederung (Analysis). Wird dies im Zusammenhang mit Kants eingeführter Unterscheidung zwischen Anschauung und Begriff betrachtet, dann bedeutet das, dass eine anschauliche Beiordnung stets quantitativ (sukzessiv bzw. prozesshaft) und eine begriffliche Unterordnung entsprechend stets qualitativ vorgestellt werden muss. Für die Vorstellung einer aktualen Unendlichkeit bleibt Marc-Wogau 1932, S. 201 (Hervorhebung aufgehoben). Vgl. ferner Marc-Wogau 1932, S. 195 f.; S. 105 ff. WW V, 15. WW V, 15 Anm.
1.4 Raum und Zeit als sowohl mannigfaltige als auch einheitliche Anschauungen
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damit nur die begriffliche Ebene, da der anschauliche Prozess der Beiordnung nicht abgeschlossen werden kann. Kant verteidigt mit dieser Überlegung die begriffliche Vorstellung des Unendlichen gegenüber empiristischen Einwänden: Hieraus ist ersichtlich, wie es kommt, daß, da „unvorstellbar“ und „unmöglich“ gemeinhin für gleichbedeutend gehalten werden, die Begriffe des Stetigen [lat. Continui] wie des Unendlichen [lat. Infiniti] von sehr vielen verworfen werden, weil ja ihre Vorstellung, nach den Gesetzen der anschauenden Erkenntnis, völlig unmöglich ist.[…] [Es gilt aber:] alles, was den Gesetzen des Verstandes und der Vernunft widerstreitet, ist freilich unmöglich; was aber, da es Gegenstand der reinen Vernunft ist, lediglich den Gesetzen der anschauenden Erkenntnis nicht unterliegt, ist es nicht ebenso.²⁸¹
Aus der Unanschaulichkeit folgt somit noch nicht die Unmöglichkeit einer aktualen Unendlichkeit. Das Unendliche kann zumindest durch den Verstand widerspruchsfrei gedacht werden – sei es nur durch einen göttlichen Verstand, womit sich Kant der „dornigen Frage“²⁸² in diesem Zusammenhang entledigen möchte. Versteht man nämlich das „mathematische Unendliche“ nicht als eine bestimmte „unendliche Zahl“, sondern lediglich als ein „Maß“, das „größer als alle Zahl“ ist, dann kann nicht ausgeschlossen werden, dass es „einen Verstand gebe[], obgleich freilich keinen menschlichen, der, ohne das Maß nach und nach anzulegen, eine Menge mit einem Blick deutlich überschaut“²⁸³. Somit bleibt die Möglichkeit einer intelligiblen Welt in Form einer aktualen Unendlichkeit von einfachen Substanzen bestehen, womit Kant einen wesentlichen Punkt der kosmologischen Überlegungen Leibnizʼ verteidigt. In der anschaulichen Erscheinungswelt sind sowohl der Raum als auch die Zeit als „totum formale“²⁸⁴ in Form
WW V, 17 ff. WW V, 27. Ausführlich heißt es: „Diese unbedingte Ganzheit mag zwar den Anschein eines alltäglichen und leicht zugänglichen Begriffes an sich tragen, zumal wenn man sie verneinend ausdrückt, wie es bei der Erklärung geschieht. Allein, bei einer tieferen Erwägung scheint sie für den Philosophen ein Kreuz aufzurichten. Denn wie eine niemals zu vollendende Reihe von in Ewigkeit aufeinander folgenden Zuständen des Alls in ein Ganzes gebracht werden könne, das schlechthin jeden Wechsel umgreift, kann schwer begriffen werden.“ (WW V, 25). Ferner erläutert Kant: „Wer sich dieser dornigen Fragen entwinden will, mag bemerken: daß die nacheinander folgende wie die gleichzeitige Beiordnung von mehrerem (weil sie auf Begriffen der Zeit beruhen) nicht zum Verstandesbegriff des Ganzen gehören, sondern nur zu den Bedingungen der sinnlichen Anschauung; und daß sie deshalb, mögen sie auch nicht sinnlich faßbar sein, doch nicht aufhören, Verstandesbegriffe zu sein. Zu diesem Begriff aber genügt: daß es, auf welche Weise auch immer, Beigeordnetes gebe, und daß alles zu Einem gehörig gedacht werde.“ (WW V, 27). WW V, 17 Anm. AA II, 402.
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1 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der vorkritischen Phase
eines „quantum continuum“²⁸⁵ für einen durchgängigen Zusammenhang zuständig. Eine Unendlichkeit an Teilen kann bei ihnen als anschauliche Vorstellung nicht vorliegen, wie Kant in einer Reflexion zuvor festhält: Im Unendlichen ist die Schwierigkeit, die totalitaet mit der unmöglichkeit einer synthesis completae zu vereinbaren, folglich ist die Schwierigkeit subiectiv. Dagegen ist das potentialiter infinitum (infinitum coordinationis potentialis) sehr wohl begreiflich, aber ohne totalitaet.²⁸⁶
Im Erkenntnisprozess erwartet die „Erkenntniskraft“, dass der unendliche Fortoder Rückgang „zur Ruhe kommen“²⁸⁷ kann, da das Zusammengesetze, auf das es gerichtet ist, natürliche Grenzen aufzeigt. Die Auseinandersetzung mit dem aktualen Unendlichen spielt auch in der KRV eine wesentliche Rolle: Dort wird die Unendlichkeitsstruktur von Raum und Zeit insbesondere im letzten Argument der metaphysischen Erörterung thematisiert.²⁸⁸ Summa summarum wird im Hinblick auf die Frage 0.2 am Ende der vorkritischen Phase und beim Übergang in die kritische deutlich, dass Raum und Zeit nicht durch Eindrücke oder als Grundbegriffe im Subjekt vorliegen, sondern als ursprünglich reine Anschauungen durch das Subjekt hervorgebracht werden. In Bezug auf Frage 0.3 lässt sich festhalten, dass Kant zunehmend Raum und Zeit von seinem Gottesbegriff loslöst, bis er beide als reine Anschauungen gänzlich unabhängig von Gott im Subjekt verortet. Aus dem actus Gottes, wie Raum und Zeit noch in der Naturgeschichte gedacht wurden, ist somit ein Gebilde des Subjekts geworden, obwohl selbst in De mundi noch die Idee eines Schöpfers herangezogen wird, um die Einheit der Welt an sich und unabhängig vom Raum zu erklären. Die Struktur eines allbefassenden und unendlichen Gebildes verlieren Raum und Zeit durch ihre Loslösung vom Gotteskonzept in De mundi nicht, sondern behalten gegenüber der Mannigfaltigkeitsstruktur das Primat. Ausdrücklich nennt Kant den Raum ein „Omnipraesentia Phaenomenon“ und die Zeit ein „aeternitas phaenomenon“²⁸⁹ und sieht hier – ohne es näher auszuführen und
AA II, 399. Refl. 4195, AA XVII, 452. WW V, 19. Vgl. hierzu Kapitel 2.1.5. Auf die genaue Argumentationsstruktur im Kontext von Raum und Zeit in De mundi soll an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden, um Dopplungen im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit den Argumenten in der transzendentalen Ästhetik zu vermeiden. In der Auseinandersetzung mit der transzendentalen Ästhetik werden die einzelnen Überlegungen und Argumente aus De mundi aufgegriffen, um das Verständnis der Argumente in der Ästhetik zu verbessern. Vgl. hierzu Kapitel 2.1. AA II, 410.
1.5 Kants Reaktion auf die Kritik an seiner Raum- und Zeitkonzeption von 1770
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indem er „den Fuß ein wenig über die Grenzen der apodiktischen Gewißheit, die sich für die Metaphysik schickt, hinauszusetzen“²⁹⁰ – eine gewisse Korrespondenz zu der kosmologischen Unendlichkeit und Ewigkeit.²⁹¹ Diese vorkritische Entwicklung verkürzt Kant in einer (späteren) Reflexion auf den Satz: „So ist der Raum nichts an sich selbst und kein Ding als göttliches Werk, sondern liegt in uns und kann auch nur in uns statt finden.“²⁹² Systematisch sind Raum und Zeit Formen eines eigenständigen Erkenntnisvermögens, das unabhängig vom Denkvermögen seine Berechtigung hat. Gleichwohl sollen sie nichts reell Wirkliches sein, da ihr Ursprung ausschließlich im Subjekt liegt, obwohl sie als Anschauungsformen eine elementare Einheitsfunktion für die Welt und die Erkenntnis derselben besitzen. Dieser Zusammenhang wird gerade in der Folgezeit zum Problem, wie sich im Folgenden zeigen wird, sodass Kant selbst über die systematische Rolle von Raum und Zeit in seinem Denken nachdenkt. Um der Frage 0.3 weiter nachzugehen und zugleich in die Untersuchung zur KRV überzuleiten, ist es wichtig, auf Kants Reaktion bezüglich der Kritik seiner Zeitgenossen an seiner Dissertation einzugehen.
1.5 Kants Reaktion auf die Kritik an seiner Raum- und Zeitkonzeption von 1770 Nach 1770 legt Kant bis zur Erstveröffentlichung der KRV im Jahr 1781 eine knapp elfjährige Publikationspause ein. Diese Publikationspause Kants lässt sich im Vergleich zur vorkritischen Entwicklung nur schwer analysieren, da nur anhand von Reflexionen oder Briefen Kants Gedanken zu dieser Zeit im Ansatz rekon-
WW V, 79. Obwohl sich Kant zuvor von Malebranches Raumkonzept in Neue Erhellung distanziert (vgl. AA I, 415 f.), rekurriert er in De mundi auf ihn. Dabei sieht er sich in gedanklicher Nähe zu Malebranche und „dessen Meinung [, die] von der hier erörterten nicht weit entfernt ist: nämlich daß wir alles in Gott schauen“ (WW V, 81). Hierzu konstatiert Monzel: „In der Tat hat Kant in der Dissertation einerseits die phänomenalistische Auffassung Newtons endgültig als die Grundlage seines transzendental-phänomenalen, anderseits die vorübergehend spekulative, metaphysische Auffassung der Zeit als der elementaren Form der intelligiblen Welt vertreten. Damit ist der Zeit nicht bloss ein empirisch-sinnlicher, sondern auch transzendenter Inhalt zugeschrieben, sofern die Zeit als ,aeternitas phaenomenonʻ, als phänomenale Ewigkeit Gottes betrachtet wird.“ (Monzel 1912, S. 71). Vgl. hierzu auch Buchdahl 1969, S. 586. Zu berücksichtigen gilt jedoch, dass Kant bereits im § 27 in De mundi anspricht, dass sich Gott nicht mit den sinnlichen Formen vorstellen lässt. Andernfalls verstricke man sich in ein „Labyrinth“ (WW V, 93). Refl. 6057, AA XVIII, 440.
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1 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der vorkritischen Phase
struierbar sind.²⁹³ Kant arbeitet in dieser Zeit an der Systematisierung (und teilweisen Revidierung) der in De mundi angeführten Überlegungen, um sie dem Fachpublikum mit seiner ersten Kritik zu präsentieren.²⁹⁴ Bereits in einem Brief an Herz aus dem Jahr 1772 kündigt Kant den „Plan zu einem Werke“ an, „welches etwa den Titel haben könnte: Die Grentzen der Sinnlichkeit und der Vernunft“²⁹⁵. Die KRV entsteht nach Kants eigenen Worten als „Product des Nachdenkens von einem Zeitraume von wenigstens zwölf Jahren“, obwohl er die eigentliche Schrift „innerhalb etwa 4 bis 5 Monathen, gleichsam im Fluge“²⁹⁶ fertigstellt. Entsprechend finden sich in den Reflexionen zwischen 1770 und 1781 ganze Kapitel der KRV in Form einer stichpunktartigen Vorwegnahme.²⁹⁷ Kants Arbeit zwischen
Darüber hinaus finden sich hier einzelne Gedanken, die Kant aber unmittelbar wieder verwirft, wie beispielsweise die Möglichkeit eines Gottesbeweises anhand einer Raumanalyse. Vgl. Refl. 4215, AA XVII, 460. Gent bewertet diese Reflexion dahingehend, dass es ein Gedanke sei, „der, wie er auftauchte, wohl bald wieder verschwunden ist […]“ (Gent 1930, S. 7). Kant scheint in seiner elfjährigen Publikationspause stellenweise wieder in seine alte Position zurückzufallen. Vgl. beispielsweise Refl. 5329, AA XVIII, 153. Eine stringente Entwicklung ist daher auch hier nur schwer rekonstruierbar, zumal die Datierungen der Reflexionen zum Teil auch nicht zweifelsfrei sicher sind. Die Ausführungen in diesem Teilkapitel 1.5 verstehen sich in erster Linie als Versuch einer problemorientierten Einführung in Kants Gedankenwelt zu dieser Zeit. Eine nähere Untersuchung der Zeit zwischen 1770 bis 1781 würde über den Rahmen dieser Arbeit hinausgehen und ist in dieser Tiefe für die Herausarbeitung der zentralen Punkte für die Beantwortung der Fragen aus dem Kapitel 0.1 auch nicht notwendig. Vgl. AA X, 97 f. Im Vorwort zu den Prolegomena macht Kant deutlich, dass die KRV an einer gewissen „Popularität“ (AA IV, 262) zu wünschen übriglässt, was er mit den Prolegomena nachzuholen gedenkt. Sie sollen „künftige[n] Lehrer[n]“ (AA IV, 255) dienen. Die KRV zielt somit in erster Linie auf das Fachpublikum. AA X, 129. AA X, 345. Zur kritischen Einschätzung dieser zeitlichen Angaben Kants siehe Vaihinger 1922a, 138 ff. Die sog. Flickwerktheorie ist ein gängiger Interpretationsansatz in der Kant-Literatur, um viele Unstimmigkeit in der A-Auflage durch die von Kant behauptete zeitliche Kürze bei der Niederschrift der KRV zu erklären. Vgl. hierzu Klemme 1996, S. 157. Kühn hält Kants Aussage für glaubhaft und geht vor dem Hintergrund der Berichte von Hamann an Herder und Hartknoch davon aus, dass Kant erst „im Mai oder Juni 1780 mit der Niederschrift der Abschlußfassung begann“ (Kühn 2004, S. 279). Gleichwohl weist Kühn zu Recht auch darauf hin, dass „damit natürlich nur das letzte Stadium des Schreibens und der Manuskriptabschrift für den Drucker“ gemeint sein kann. Der „endgültige allgemeine Plan reicht mindestens ein Jahr weiter zurück, und einige der ersten Entwürfe stammen aus den frühen siebziger Jahren“ (Kühn 2004, S. 280), wie beispielsweise der sog. Duisburger Nachlass dokumentiert. Entsprechend schreibt Kant in einem Brief hinsichtlich der Überarbeitung der ersten Auflage der KRV, dass er „die Sachen lange genug durchgedacht hatte, ehe [er] sie zu Papier brachte, auch seitdem alle Sätze, die zum System gehören, wiederholentlich gesichtet und geprüft, jederzeit aber für sich und in ihrer Beziehung zum Ganzen bewährt gefunden habe“ (AA X, 441). Vgl. beispielsweise AA XIV, 118 f. oder auch Refl. 4756, AA XVII, 699 – 703.
1.5 Kants Reaktion auf die Kritik an seiner Raum- und Zeitkonzeption von 1770
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diesen Jahren kann in einzelnen Punkten Hinweise darauf geben, welche Gedanken oder Probleme ihn motiviert haben könnten. Im Hinblick auf Raum und Zeit wird deutlich werden, dass gerade die Kritik seiner Zeitgenossen an seinem neuen Raum- und Zeitkonzept in De mundi Kant zu schaffen gemacht hat.
1.5.1 Die Kritik der Zeitgenossen an Kants Raum- und Zeitkonzeption nach 1770 Im Anschluss an seine Veröffentlichung von De mundi schreibt Kant noch im selben Jahr an Lambert, dass er mit seiner Dissertation insbesondere bezüglich der Frage nach dem Status von Raum und Zeit unzufrieden ist.²⁹⁸ Lambert äußert sich in seiner Antwort an Kant ebenfalls kritisch zur Dissertation – vor allem im Hinblick auf die Zeitkonzeption: Alle Veränderungen sind an die Zeit gebunden und laßen sich ohne Zeit nicht gedenken. Sind die Veränderungen real so ist die Zeit real, was sie auch immer seyn mag. Ist die Zeit nicht real so ist auch keine Veränderung real. Es däucht mich aber doch, daß auch selbst ein Idealiste wenigstens in seinen Vorstellungen Veränderungen […] zugeben muß, das wirklich vorgeht und existirt. Und damit kann die Zeit nicht als etwas nicht reales angesehen werden. Sie ist keine Substanz etc. aber eine endliche Bestimmung der Dauer, und mit der Dauer hat sie etwas reales, worin dieses auch immer bestehen mag.²⁹⁹
Kant scheint auf diese Kritik zunächst nicht zu reagieren. Ein möglicher Grund hierfür könnte sein, dass Kant keine unmittelbare Antwort auf diese Kritik hat und auch selbst mit seinem Theoriestück unzufrieden ist; schließlich schreibt er bereits zuvor an Lambert, dass er den „zweyten[,] dritten und fünften“ Abschnitt seiner Dissertation gar nicht zu seiner „Befriedigung ausgearbeitet habe“ und ergänzt ferner, dass doch die Zeit entgegen dem Wortlaut seiner Dissertation „sehr real“³⁰⁰ ist. Lamberts Antwort muss ihm folglich als Bestätigung seiner Zweifel erschienen sein. Dabei kommt die Kritik nicht von Lambert allein. Auch Mendelssohn spricht diesen Punkt in einem Brief an Kant an, der ebenfalls aus dem Jahr 1770 stammt. Darin heißt es: „Daß die Zeit etwas blos Subjektives seyn sollte, kann ich mich aus mehrern Gründen nicht bereden.“³⁰¹ Eine Kritik, die in die
Vgl. AA X, 97 f. AA X, 107. AA X, 98. AA X, 115. Zur Auseinandersetzung Mendelssohns mit Kants Inauguraldissertation siehe Engel 2004. Darüber hinaus schreibt Kant in einem Brief von 1772 Folgendes im Hinblick auf die Bedeutung der Briefe: „Ein Brief von Mendelssohn oder Lambert verschlägt mehr, den Verfasser
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1 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der vorkritischen Phase
gleiche Richtung läuft, lässt sich im Ansatz auch in einem Brief von Sulzer finden. In seinem kurzen Brief schmeichelt er Kant, der ihm offenbar zuvor seine Dissertation zugeschickt hatte, indem er betont, dass mit Kants neuem Ansatz die Philosophie einen „neuen Schwung“³⁰² erleben dürfte. Doch auch Sulzer deutet an, dass er zumindest „in einer Kleinigkeit“ nicht folgen kann. Diese „Kleinigkeit“ betrifft – wie schon bei den anderen Zeitgenossen – Raum und Zeit und deren Status als bloß subjektive Formen. Auch Sulzer kann sich nicht damit abfinden, sie als etwas ausschließlich Subjektives zu verstehen. Im Gegenteil schreibt Sulzer, dass Raum und Zeit „wahre Realität“³⁰³ haben müssen. Dass Kant diese Kritik beschäftigt, davon zeugen auch seine Ausführungen in einem Brief, in dem er eine entsprechende Kritik im Hinblick auf den Raum rekapituliert, die ihm wohl von Schultz vorgetragen wurde und die an die Kritik von Lambert erinnert. Demnach soll Schultz kritisch angemerkt haben, dass der „Raum wohl vielleicht, anstatt die reine Form der sinnlichen Erscheinung zu seyn, ein wahres intellectuales Anschauen und als etwas objectives seyn möge“³⁰⁴. Doch genau gegen diese Alternative wendet sich bereits Kants Argumentation in De mundi. Dass die Kritik an seinem Ansatz Schultz dazu bewegt, die für Kant unbefriedigende Theorie eines subjektunabhängigen Raums wieder ins Spiel zu bringen, muss ihn gestört haben.
auf die Prüfung seiner Lehren zurückzuführen, als zehn solche Beurtheilungen [gemeint ist eine Rezension] mit leichter Feder“ (AA X, 133). Mohr sieht einen wesentlichen Punkt bei Mendelssohn formuliert, der bei Lambert nicht erwähnt wird: Mendelssohn macht darauf aufmerksam, dass das Subjekt sich auch selbst zum „Objekte der Vorstellungen“ (AA X, 115) machen kann. Mohr sieht in der Antwort auf diese Kritik den Ursprung der „Zwei-Seiten-Theorie“ (Mohr 1998, S. 118) des Subjekts, wonach sich bei Kant das Subjekt nur als Erscheinung und nicht als Ding an sich selbst erkennen kann. Vgl. hierzu Mohr 1998, S. 118 ff. Diese Theorie ermöglicht es für Kant, das innige Verhältnis zwischen Subjekt und Zeit widerspruchsfrei zu denken, da es dadurch möglich wird, dass das Subjekt als Erscheinung in der Zeit bestimmt ist und umgekehrt die Zeit im Subjekt als Ding an sich selbst liegt. Siehe hierzu insbesondere Kants Formulierung im handschriftlichen Nachlass, wonach es nur ein vermeintlicher Widerspruch ist, dass das Subjekt sich selbst enthält bzw. „das continens ein contentum [ist]“ (Refl. 5655, AA XVIII, 314), der sich auflöst, sobald man das Subjekt in zweifacher Hinsicht versteht.Vgl. AA XVIII, 314 ff. Diese zweifache Bedeutung spielt u. a. bei der Auflösung der Freiheitsantinomie eine wichtige Rolle. Vgl. B566 ff.|A538 ff. Zum Unterschied der Formulierungen der Kritik bei Lambert und Mendelssohn siehe ferner Kühn 2004, S. 229 – 237. AA X, 111. AA X, 112. AA X, 133. Vgl. hierzu auch die Rezension von Schultz zur Dissertation Kants, abgedruckt in Brandt 1981, S. 63 – 68. Kant scheint zu diesem Zeitpunkt noch zu keinen Zugeständnissen bereit zu sein. Im Hinblick auf den Raum hat er eine „klare Antwort“ (AA X, 133). Der Raum ist demnach „nichts objectives“ (AA X, 134), denn „wenn wir seine Vorstellung gantz zergliedern“ (AA X, 133), stoßen wir dabei auf nichts Wirkliches.
1.5 Kants Reaktion auf die Kritik an seiner Raum- und Zeitkonzeption von 1770
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Entsprechend gesteht Kant schließlich expressis verbis gegenüber Herz ein, dass die Kritik von Mendelssohn und Lambert, wonach die Zeit etwas Wirkliches sein muss, wenn doch Veränderungen in ihr wirklich sein sollen, ihn „beschäftigt“³⁰⁵ und in „einiges Nachdencken gezogen“³⁰⁶ hat. Auch wenn Kant die Kritik seiner Zeitgenossen somit ernst nimmt und im Zuge dessen (entgegen seiner Aussagen in De mundi) wiederholt eingesteht, dass die Zeit „sehr real“³⁰⁷ sein muss, fehlt ihm die systematische Reife, um dieses Zugeständnis gegenüber seinen Kritikern ohne Weiteres und unmittelbar im Anschluss an De mundi in seine Überlegungen zu integrieren. Später verweist Kant in einem Brief von 1781 an Bernoulli, dass er Lamberts Kritik erst in der „Critik der reinen Vernunft [auf] Seite 36 – 38 beantwortet“³⁰⁸ habe. Es dauert also insgesamt elf Jahre, bis Kant eine für ihn befriedigende Antwort auf diese Kritik veröffentlicht. Die Kritik trifft einen wichtigen und komplexen Punkt in Kants neuem Ansatz, denn sie berührt nicht nur Raum und Zeit, sondern Kants Verständnis von Wirklichkeit und Objektivität überhaupt. Die Frage nach dem ontologischen Status von Raum und Zeit wird somit zu einem systematischen Problem. Die Kritik an Kants Raum- und Zeitverständnis zeigt, dass das angesprochene Problem keineswegs nur auf Kants Konzeption von Raum und Zeit beschränkt sein kann, sondern eine fundamentale ontologische und erkenntnistheoretische Frage nach dem Status von Wirklichkeit berührt. Neben der Frage nach dem Wirklichkeitsstatus von Veränderung, Raum und Zeit stellt Kant zunehmend seinen Ansatz aus De mundi grundsätzlich infrage. Kant wirft dabei die Frage auf, wie die transzendenten Strukturen der Welt, die Kant in leibniz-wolffscher Tradition in De mundi noch verteidigt, überhaupt erkennbar sein sollen. Der Brief von Kant an Herz aus dem Jahr 1772 macht besonders deutlich, dass Kant auch diese Frage beschäftigt: Ich hatte mich in der dissertation damit begnügt die Natur der intellectual Vorstellungen blos negativ auszudrücken: daß sie nemlich nicht modificationen der Seele durch den Gegenstand wären. Wie aber denn sonst eine Vorstellung die sich auf einen Gegenstand bezieht ohne von ihm auf einige Weise afficirt zu seyn möglich überging ich mit Stillschweigen.³⁰⁹
AA X, 135. AA X, 134. AA X, 98. AA X, 277. AA X, 130 f. Mit Verweis auf diesen Brief stellt Falkenburg fest: „Bis einschließlich 1770 kann von einer kosmologischen Antinomie und ihrer Auflösung keine Rede sein, entgegen der traditionellen Leseart der kritischen Wende. Das Konsistenzproblem von 1768 ist keine Antinomie im späteren Sinne eines unvermeidlichen Widerstreits der Vernunft mit sich selbst, sondern ein vermeidbarer Widerspruch […]. Die Dissertation von 1770 verfolgt eine Widerspruchsvermei-
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1 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der vorkritischen Phase
Dieses Stillschweigen bezüglich einer Erklärung für einen epistemischen Zugang zur intelligiblen Welt wird ihm nunmehr zur Krux im Hinblick auf seine kosmologische Konzeption von 1770. Vor diesem Hintergrund beschreibt Gosztonyi treffend Kants Problemlage im Hinblick auf die sinnlichen Formen wie folgt: Obwohl Kant bereits in seiner Dissertation die Idealität des Raumes als eine unpersönliche subjektive Fähigkeit versteht, die der Wahrnehmung zugrunde liegt, gelingt es ihm noch nicht, die Allgemeingültigkeit der Wahrnehmung im Raume zu begründen, weil 1. die Subjektivität – wahrscheinlich unter dem Einfluß der Empiristen – noch zu stark ,subjektivitischʽ, d. h. nicht hinreichend ,überindividuellʽ (wie dann in der kritischen Philosophie ,transzendentalʽ) gefaßt wurde, 2. das Ineinandergreifen der zwei völlig heterogenen Welten keine endgültige Klärung erfuhr.³¹⁰
In Anbetracht der kosmologischen Spekulation in De mundi stellt sich somit zunehmend die Frage nach der überindividuellen Objektivität. Treffend beschreibt Monzel die Situation im Hinblick auf den Brief an Herz: „Das Problem der Deduktion ist zwar gefunden, aber nicht gelöst.“³¹¹ Ab 1772 rückt Kant vor diesem Hintergrund vom Programm der dogmatischen Metaphysik ab. Kants Augenmerk liegt in der Publikationspause zwischen De mundi und KRV auf den Denkvermögen und der Auseinandersetzung mit den Antinomien der Vernunft.³¹² Die alte
dungsstrategie. […] Erst ab 1772 rückt Kant schrittweise vom Projekt einer dogmatischen Kosmologie ab. Er beginnt, die Möglichkeit objektiver Gegenstandserkenntnis an die Bedingungen der Sinnlichkeit zu binden, und spricht dem intelligiblem Weltbegriff der Dissertation den kognitiven Gehalt ab.“ (Falkenburg 2000, S. 136). Zur Diskussion bezüglich der traditionellen Lesart, wonach Humes Einfluss entscheidend für Kants Entdeckung der Antinomien gewesen sein soll, und der Kritik Falkenburgs bezüglich der Interpretation des sog. großen Lichts in diesem Zusammenhang, siehe Falkenburg 2000, S. 137– 142. Vgl. ferner Anmerkung 227 in hiesigem Kapitel 1. Mit Bezug auf Kants Raum- und Zeittheorie konstatiert Reich folgerichtig: „Die Dissertation lehrt aber zugleich […] das Gegenteil der Grundidee der Kritik der reinen Vernunft und beweist damit durch die Tat, daß mit der spezifisch kantischen Raumtheorie als solcher der ,dogmatische Schlummerʻ noch nicht unterbrochen ist.“ (Reich 1958, S. XVI). Vor diesem Hintergrund betont Zöller treffend, dass Kant zu dieser Zeit zu einer „semi-kritische[n] Position“ (Zöller 2011, S. 15) gelangt ist, die erst in der KRV zu einer ausgereiften kritischen Position überwunden wird. Gosztonyi 1976, S. 422 (Hervorhebung aufgehoben). Monzel 1918, S. 91. Zumindest für die späteren Jahre der Publikationspause zwischen 1770 und 1781 kann dies konstatiert werden. Vgl. hierzu Dietrich 1916, S. 16 f., Vaihinger 1922b, S. 411 Anm. und Heimsoeth 1970, S. 137 f. Ferner macht Klemme darauf aufmerksam, dass Kant sich in dieser Zeit gerade in Bezug zur Stellung der Dialektik weiterentwickelt. Während nämlich in den Reflexionen der Jahre 1776 bis 1778 die Dialektik lediglich in negativer Hinsicht als eine Logik des Scheins betrachtet wird, wird sie erstmals in den Reflexionen zwischen 1778 und 1779 unter dem Gesichtspunkt des regulativen Nutzens von Ideen formuliert. Vgl. hierzu Klemme 1996, S. 239 f.
1.5 Kants Reaktion auf die Kritik an seiner Raum- und Zeitkonzeption von 1770
121
(inzwischen als dogmatisch empfundene) Metaphysik wird schrittweise durch eine neue, kritische Metaphysik ersetzt, die sich bereits in Träume als „eine Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft“³¹³ zumindest von der Wortwahl her ankündigt. Im Brief an Herz von 1772 findet sich bereits die Formulierung einer „Critick der reinen Vernunft“³¹⁴. Um eine Antwort auf die beschriebenen Probleme geben zu können, muss Kant in ein neues Stadium seiner philosophischen Entwicklung treten. Hierzu heißt es auch bei Marc-Wogau: Von entscheidener Bedeutung für die Gedankenwelt Kants war die Konzeption des Objektivitätsproblemes, die im Briefe an Marcus Herz 1772 von Kants selbst als das wichtigste Ergebnis seiner theoretischen Bestrebungen geschildert wird. Durch das Aufstellen dieses Problems und durch die Versuche, eine Lösung zu gewinnen, gelangt Kant zu seinem kritischen Standpunkt. So steht in den 70er Jahren im Mittelpunkte der Untersuchungen Kants die Frage nach der Objektivität der Erkenntnis. Durch die Stellungnahme zu dieser Frage wird der kritische Erscheinungsbegriff ausgebildet. Dass dadurch auch die Raumlehre und an sie grenzende Probleme beeinflusst werden, liegt auf der Hand.³¹⁵
1772 ist Kant der Meinung, er sei im Stande, eine „Critick der reinen Vernunft […] vorzulegen“³¹⁶. Bereits 1773 meint er dann gegenüber Herz, dass er mit seinen Arbeiten „beynahe fertig“³¹⁷ sei. 1776 glaubt Kant, er könnte im „nächsten Sommer[]“³¹⁸ fertig sein. 1777 schreibt er schließlich an Herz, dass seine „Untersuchungen systematische Gestalt gewonnen“ und ihn „allmählig zur Idee des Ganzen geführt“ haben. Seine Ausfertigungen will er nunmehr im Winter 1777 abschließen und unter dem Titel „Critik der reinen Vernunft“³¹⁹ zusammenstellen. Noch im Jahr 1778 spricht Kant aber davon, dass er „unermüdet arbeite“³²⁰ und noch nicht fertig sei, obwohl er davon ausgehe, bald fertig zu werden. Es dauert noch weitere drei Jahre, bis Kant gegenüber Herz endlich verkünden kann, dass sein Buch zur „Ostermesse“ erscheint und „den Ausschlag aller mannigfaltigen Untersuchungen“ liefert, die er gemeinsam mit Herz „unter der Benennung des mundi sensibilis und intelligib[] abdisputirte[]“³²¹. Bis zum Erscheinen seiner KRV
AA II, 368. AA X, 132. Marc-Wogau 1932, S. 127. AA X, 132. AA X, 144. AA X, 199. AA X, 213. AA X, 241. AA X, 266.
122
1 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der vorkritischen Phase
bleiben Kant somit die Dissertation und die damit einhergehenden Schwierigkeiten und Probleme präsent.³²²
1.5.2 Kants neues Erfahrungskonzept als Lösungsansatz für die Probleme nach 1770 Inhaltlich knüpft Kant nach 1770 zunehmend die gesamte Erkenntniskraft des Subjekts an die Bedingungen der Sinnlichkeit. Im Hinblick auf die Zeit heißt es: „[W]ir haben wirklich die Vorstellung von der Zeit, obgleich, was hinter dieser Erscheinung liegt, unbekannt bleibt.“³²³ Eine transzendente Struktur der Dinge an sich ist jenseits der Wirklichkeit der Erscheinung auch intellektuell nicht mehr epistemisch zugänglich.³²⁴ Die Bestimmungen unabhängig der Sinnlichkeit ver-
Vgl. hierzu ferner die Ausführungen von Kühn 2004, S. 267– 275. Refl. 5319, AA XVIII, 151. Die Auseinandersetzung mit Raum und Zeit und die Restriktion der Erkenntnis auf die Formen der Sinnlichkeit gehen einher mit der Problematik der Antinomien der Vernunft, die Kant nunmehr als unauflösbare und notwendige Widersprüche der reinen Vernunft betrachtet: „Zeit und Raum verstatten allein Grentzen, aber nicht der totaliaet. Der erste Anfang und die äußerste Grentze der Welt sind gleich unbegreiflich. Denn es ist das erste ein Seyn und Nichtseyn zugleich, und beydes scheinet eine absolute Zeit und Raum, d. i. etwas, was da begrentzt und doch nichts enthält, anzuzeigen.“ (Refl. 4503, AA XVII, 576). Vgl. hierzu bereits Reflexion 4445, AA XVII, 552 f. Nach Vaihinger besitzt Kants kritischer Erscheinungsbegriff einen weiteren Sinn, wonach er den Gegenstand als kategorial bestimmte Anschauung im transzendentalen Gegensatz zum Begriff des Dings an sich selbst bezeichnet. Daneben pflegt Kant nach Vaihinger auch einen engeren Begriffsgebrauch, wonach Erscheinung die begrifflich unbestimmte Anschauung meint.Vgl. hierzu Vaihinger 1922b, S. 32 f. Statt von einer engen und weiten Bedeutung spricht Prauss hier von zwei Thematisierungsebenen des Erscheinungsbegriffs: Demnach meint Kant auf der transzendentalphilosophischen Reflexionsebene mit Erscheinung den vom Subjekt geformten Gegenstand, der in seiner Objektivität dennoch transzendentalphilosophisch abhängig vom Subjekt bleibt. Als reflexiver Gegenbegriff, der eine weitere Bedingung für die objektive Gegenstandsbildung liefert, dient das Konzept des Dings an sich selbst. Erscheinung meint aber unabhängig von dieser transzendentalphilosophischen Reflexionsebene auch den „unbestimmte[n] Gegenstand einer empirischen Anschauung“ (B34| A20), der je nach Lage zu unseren Sinnen anders auftritt, als er es als wirklicher Erfahrungsgegenstand ist. Diesen Erfahrungsgegenstand nennt Kant dann im Unterschied zu seiner subjektiven Erscheinung das empirische Ding an sich selbst.Vgl. hier insbesondere Prauss 1971, S. 15 – 25 und ferner Prauss 1974, S. 44– 175. Um die von Prauss erarbeiteten Unterschiede auch terminologisch zu unterscheiden, plädiert Schliemann in seiner kritischen Auseinandersetzung mit Prauss und in Anlehnung an Kants Begrifflichkeit in der Preisschrift dafür, statt des doppeldeutigen Begriffs der Erscheinung die Begriffe Apparens für den unbestimmten Gegenstand einer Anschauung und Phänomen für den durch die Kategorien bestimmten Gegenstand zu verwenden. Vgl. hierzu Schliemann 2010, S. 22 f. bzw. AA XX, 269. Obwohl es grundsätzlich begrüßenswert ist,
1.5 Kants Reaktion auf die Kritik an seiner Raum- und Zeitkonzeption von 1770
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lieren somit ihre Sinnhaftigkeit: „Gedanken ohne Inhalt sind leer“³²⁵, wie es bekannterweise schließlich in der KRV mit Blick auf die Restriktionsfunktion der Anschauungsformen lautet. Durch die Kopplung zwischen Denk- und Anschauungsvermögen im Hinblick auf die menschliche Erkenntniskraft vollzieht Kant seine sog. Kopernikanische Wende, wonach „die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung […] zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung“³²⁶ darstellen. Das Ding an sich selbst ist somit nur ein „Grenzbegriff“³²⁷. Die Formen der Erscheinungswelt sind Erzeugnisse des Subjekts. Die Gesetzmäßigkeiten in der Natur müssen durch das Subjekt zuvor selbst in sie
wenn Doppeldeutigkeiten durch neue Begriffe bzw. Termini eliminiert werden, scheint dies in diesem speziellen Fall nicht sinnvoll zu sein. Schliemann geht nicht auf den von Prauss erarbeiteten und oben kurz skizzierten Unterschied der Thematisierungsebenen im Erscheinungsbegriff ein. Ersetzt man den Begriff der Erscheinung in der Form, wie Schliemann es tut, eliminiert man zwar die Doppeldeutigkeit, gleichzeitig wird dadurch jedoch auch der grundsätzliche Unterschied der Thematisierungsebenen bei dem einen oder anderen Gebrauch des Erscheinungsbegriffs verwischt. Apparens und Phänomen wirken bei Schliemann wie gleichwertige Begriffe auf derselben Thematisierungsebene. Prauss dagegen zeigt die innere Komplexität des Erscheinungsbegriffs bei Kant und bleibt somit auch näher am kantischen Sprachgebrauch. Eine den Interpretationsmaximen aus der Einführung 0.2 folgende Interpretation wird daher schwerlich auf den Erscheinungsbegriff verzichten können. B75|A51. B197|A158. Das Ding an sich selbst bleibt als Affektionsgrund eine weitere Bedingung des menschlichen Erkennens. Diese Bedingung stellt aber keine formale Konstituierung dar, sondern kann höchstens noch Inhalte durch eine Affektion spenden. Zum Affektionsproblem und der Frage, ob Kant eine empirische oder eine transzendente Affektion vertritt (oder, wie Adickes meint, sogar beide Affektionsarten), siehe die Kritik von Prauss an Adickes Doppelaffektionstheorie, die er als Folge einer Stufenverwirrung bei der Verwendung der Begriffe Erscheinung und Ding an sich selbst ansieht, in Prauss 1974, S. 192– 204 und im Ansatz auch bei Unruh 2007, S. 108 ff. Vgl. ferner auch Rohs Kritik an Adickesʼ Ansatz in Rohs 1973, S. 87. Vaihinger sieht zum Affektionsproblem bei Kant „widersprechende Auffassungen“ (Vaihinger 1922b, S. 52). Baumanns hält Adickes „waghalsige Spekulation“ gar für „unkantisch“ (Baumanns 1981, S. 89). Für Natterer stellt Adickes Doppelaffektionstheorie dagegen eine „kongeniale Interpretation“ (Natterer 2003, S. 124) dar. Zustimmung findet sie auch bei Nakajima 1986, S. 98 – 104. Hall konstatiert, dass die Doppelaffektionstheorie die widersprechenden Auffassungen, die sich dazu bei Kant finden, auflösen kann.Vgl. Hall 2015, S. 158. Gleichwohl sieht auch er Schwierigkeiten bei diesem Ansatz, da u. a. eine transzendente Affektion als Kausalursache angenommen wird. Vor diesem Hintergrund vertritt Hall mit Rekurs auf Kants neue Begrifflichkeit einer Erscheinung der Erscheinung im Opus postumum eine Doppelaffektionstheorie, die sich gänzlich in der phänomenalen Welt abspielen soll und die Dinge an sich selbst lediglich als logischen Grund bzw. als Noumena in negativer Hinsicht fordert. Vgl. hierzu Hall 2015, S. 154– 197. Für einen Literaturüberblick zum Thema des Affektionsproblems siehe die Ausführungen von Hall 2015, S. 154– 163. Zum Begriff Erscheinung der Erscheinung im Opus postumum siehe Anmerkung 199 in Kapitel 3. B311|A255.
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1 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der vorkritischen Phase
hineingelegt worden sein.³²⁸ Diese oft zitierten Stellen stehen für ein neues Entwicklungsstadium in Kants Denken, womit er schließlich die Probleme, die kurz nach 1770 entstehen, lösen möchte. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Abkehr von der traditionellen Metaphysik wäre nämlich nunmehr der Weg frei, um Raum und Zeit nicht ausschließlich als subjektive Strukturen zu verstehen, sondern als objektive Grundformen der Erscheinungswelt und als Formen der empirischen Realität, die im Zuge dessen „sehr real“³²⁹ wären, ohne dass dahinter noch eine transzendente Wirklichkeit läge, die es durch den Verstand oder die Vernunft zu erkennen gelte. Kant ist schließlich auch davon überzeugt, dass er zu einer Lösung der Probleme nach 1770 fähig ist und somit sein Eingeständnis gegenüber Lambert und Mendelssohn systematisch einlösen bzw. diese Lösung in sein System integrieren kann: Wider diese Theorie, welche der Zeit empirische Realität zugesteht, aber die absolute und transscendentale bestreitet, habe ich von einsehenden Männern einen Einwurf […] vernommen […]. Er lautet also: Veränderungen sind wirklich […]. Nun sind Veränderungen nur in der Zeit möglich, folglich ist die Zeit etwas Wirkliches. Die Beantwortung hat keine Schwierigkeit. Ich gebe das ganze Argument zu. Die Zeit ist allerdings etwas Wirkliches, nämlich die wirkliche Form der innern Anschauung. Sie hat also subjective Realität in Ansehung der innern Erfahrung, d. i. ich habe wirklich die Vorstellung von der Zeit und meinen Bestimmungen in ihr. Sie ist also wirklich, nicht als Object, sondern als die Vorstellungsart meiner selbst als Objects anzusehen […]. Es bleibt also ihre empirische Realität als Bedingung aller unsrer Erfahrungen. Nur die absolute Realität kann ihr nach dem oben Angeführten nicht zugestanden werden. Sie ist nichts, als die Form unsrer inneren Anschauung.³³⁰
Hieraus muss jedoch im Sinne der Kritiker die Frage resultieren, wie aus einer Form des Subjekts schließlich eine empirische Realität (mithin Bestandteil der Erfahrung) werden kann – obwohl es keine subjektunabhängige Form sein darf. Kant muss erklären, wie aus subjektiven Vorstellungen objektive Gegenstände konstituiert werden können, wenn er die Bedenken der Kritiker entschärfen und die Anschauungsformen als reale Formen verstehen möchte.³³¹ An dieser Stelle ist
Vgl. B241 f.|A196 f. AA X, 98. B53 f.|A37 f. Wie oben bereits erwähnt, geht aus einem Brief von 1781 an Bernoulli hervor, dass Kant glaubt, Lamberts Kritik in der „Critik der reinen Vernunft Seite 36 – 38“ (AA X, 277) beantwortet zu haben. Im Handexemplar seiner Kritik notiert Kant an dieser Stelle: „Ebenso der Raum. Dieses beweiset, daß, da hier eine Wirklichkeit (folglich auch einzelne Anschauung) gegeben ist, der doch immer die Wirklichkeit als Ding zum Grunde liegt, Raum und Zeit nicht zur Wirklichkeit der Dinge, sondern nur unserer Vorstellungsart gehören.“ (Refl. XXIX, AA XXIII, 24). Der letzte Teil-
1.5 Kants Reaktion auf die Kritik an seiner Raum- und Zeitkonzeption von 1770
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es wichtig, sich zunächst die unterschiedlichen Ebenen der Begriffe subjektiv und objektiv im kritisch-systematischen Zusammenhang bei Kant klar zu machen, um genau zu verstehen, in welchem Sinne Raum und Zeit subjektiv und objektiv sind. Kant verwendet die Begriffe objektiv und subjektiv mehrdeutig: Zum einen kann subjektiv bedeuten, dass etwas subjektiven Ursprungs und somit subjektabhängig ist – wie beispielsweise die transzendentalen Denk- oder Anschauungsformen. Zum anderen kann subjektiv aber auch bedeuten, dass etwas nur für das einzelne Subjekt gültig ist – wie beispielsweise die Empfindung von „Farben, Töne und Wärme“, die „kein Object […] erkennen lassen“³³². Entsprechendes gilt für den Begriff objektiv. Dieser kann bedeuten, dass etwas seinen Ursprung unabhängig vom Subjekt oder dass es überindividuelle Geltung hat und entsprechend einem
satz steht hierbei in einer Spannung zu den späteren Äußerungen, wonach der Raum als objektive Eigenschaft der Objekte verstanden wird und auch die Zeit ebenso wie Veränderungen in der Zeit real sein müssen. Offensichtlich verwendet Kant hier den Wirklichkeitsbegriff nicht im Sinne des Schematismuskapitels. Darüber hinaus meint Kant mit dem Wort Dinge zumeist Dinge an sich selbst. Zumindest an dieser Stelle im Handexemplar scheint dies der Fall zu sein, zumal Kant wenig später folgenden Satz im Handexemplar notiert: „Daß Raum und Zeit allerdings objective Realität haben, aber nicht für Dinge nach dem, was ihnen auch außer der Relation auf unser Erkenntnisvermögen zukommt, sondern nur in Relation auf dasselbe, und zwar auf die Form der Sinnlichkeit, mithin blos als Erscheinungen.“ (Refl. XXXI, AA XXIII, 24). Siehe hierzu und zum Vorwurf, dass Kant letztlich gar nicht auf seine Kritiker eingeht, sondern lediglich Behauptung gegen Behauptung stellt, Vaihinger 1922b, S. 402– 405 und in jüngerer Vergangenheit auch Gloy: „Genau genommen widerlegt Kant den Einwand nicht, sondern überspielt ihn durch Insistenz auf seiner epistemologischen Theorie von der transzendentalen Idealität.“ (Gloy 1990, S. 74). Auch Van Cleve betont, dass Kant das Argument seiner Widersacher nur dem Worte nach anerkennt. Vgl. Van Cleve 1999, S. 54 f. Marc-Wogau dagegen kritisiert Vaihingers Vorwurf und betont, dass Kant der Erscheinung Wirklichkeitscharakter zuschreibt und sie vom bloßen Schein unterscheidet, wodurch sein Raum- und Zeitkonzept an ontologischer Bedeutung gewinnt und gegen die Kritik von Lambert verteidigt wird. Vgl. Marc-Wogau 1932, S. 131– 141. Eine systematische Lösung der Problematik kann sich aber erst ergeben, wenn der Schematismus hinzugezogen wird. Siehe hierzu das Kapitel 2.2. B44. An diesem Beispiel zeigt sich, wie absurd es wäre, davon zu sprechen, dass die Anschauungsformen beim kritischen Kant ausschließlich subjektiv seien. Sie sind subjektiv im Hinblick auf die Ursprungsfrage, aber nicht im Hinblick auf die Zuschreibungs- und Geltungsfrage (siehe hierzu die folgende Anmerkung 333 im hiesigen Kapitel 1). Andernfalls drohen die geometrischen Eigenschaften der Gegenstände zu Gegenständen der Empfindungs- und Geschmacksfragen zu werden: „Der Wohlgeschmack eines Weines gehört nicht zu den objectiven Bestimmungen des Weines […]“ (A28). Es gehört jedoch sehr wohl zu den objektiven Bestimmungen, dass er eine gewisse Form hat. Diese Unterscheidung ist wichtig für die apriorische Geltung der Mathematik. Es verwundert daher nicht, dass Kant bei dieser Unterscheidung auf die transzendentale Erörterung verweist. Vgl. B44 und die Ausführungen in Kapitel 2.2.
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1 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der vorkritischen Phase
Objekt zugeschrieben werden kann.³³³ Aus diesen Bedeutungsfacetten von objektiv und subjektiv und den damit einhergehenden unterschiedlichen Fragen, nämlich zum einen nach Geltung und Zuschreibung und zum anderen nach Ursprung und Herkunft, ergibt sich schließlich die Möglichkeit, dass etwas zugleich subjektiv und objektiv sein kann, ohne dass daraus eine contradictio in adjecto folgen würde. Auch wenn eine Form ihren Ursprung im Subjekt hat, kann sie dieser Unterscheidung zufolge Gegenständen als deren reale bzw. objektive Eigenschaft zugesprochen werden. Das bedeutet, dass Raum und Zeit subjektiven Ursprungs sein und gleichzeitig objektive Bedeutung und Realität haben können. Dieser Punkt ist entscheidend, wenn Kant sich einerseits zum transzendentalen Idealisten und andererseits gleichzeitig zum empirischen Realisten erklärt.³³⁴ Die Erklärung eines Übergangs von subjektiver zu objektiver Form ist somit nicht nur notwendig im Hinblick auf eine systematische Antwort gegenüber Kants Kritikern, sondern auch, um sich vor einem absoluten Idealismus bzw. Solipsismus zu verteidigen. Obschon Kant bereits in der vorkritischen Phase betont, dass ein dogmatischer Idealismus für ihn nicht in Frage kommt, beschäftigt ihn im Anschluss an De mundi die Frage, wie aus einer Vorstellung im Subjekt auf die Wirklichkeit des Gegenstands dieser Vorstellung geschlossen werden kann.³³⁵ Bei der Zeit bzw. dem inneren Sinn ist es nach Kant zunächst eindeutig: Die Vorstellung eines subjektiven Inhalts garantiert die subjektive Wirklichkeit dieses Inhalts für das Subjekt. Doch nach Kant verhält es sich bei räumlichen Vorstellungen anders; dies führt er im besagten Brief an Markus Herz von 1772 aus: Warum (sagte ich zu mir selber) schließt man nicht diesem Argumente [bei der Zeit] parallel: Körper sind wirklich, (laut dem Zeugnisse der äußeren Sinne) nun sind Körper nur unter der
Vaihinger ordnet die erste Bedeutung der Ursprungsfrage zu, wohingegen er die letzte Bedeutung im Zusammenhang mit der Geltungsfrage der Formen sieht. Vgl. Vaihinger 1922b, S136 f. Anzumerken wäre hier jedoch, dass es mit objektiv im letzteren Sinne nicht nur um eine Geltungsfrage, sondern auch um eine ontische Frage geht. Dadurch, dass eine Form bei Kant objektive Geltung hat, gehört sie zur ontischen Realität als objektive Eigenschaft des Gegenstandes und ist insofern objektiv, als dass sie dem Objekt selbst zugeschrieben wird.Vgl. hierzu Rohs 1976, S. 58 f. und ferner schon Gent 1930, S. 64. Vaihinger sieht in der fehlenden Differenzierung der Ursprungs- und der Geltungsfrage den eigentlichen Grund für den historischen Streit zwischen Trendelenburg und Fischer. Vgl. Vaihinger 1922b, S. 134– 151. Vgl. hierzu Kapitel 2.1.6. Vgl. B44|A28. Die Konsequenz wird deutlicher, wenn weiter unten auf den Schematismus und die Grundsätze eingegangen wird. Vgl. hierzu Kapitel 2.2. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass Kant diese Einschätzung später auch noch einmal wiederholt. Vgl. A371 f.Vgl. hierzu ferner Allison 1983, S. 216 – 222. Siehe obige Anmerkung 261 im hiesigen Kapitel 1
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Bedingung des Raumes möglich, also ist der Raum etwas objectives und reales was den Dingen selber inhaerirt.³³⁶
Während in der Zeit vorgestellte Inhalte zugleich existierende Inhalte sein sollen, soll für räumliche Vorstellungen nicht gelten, dass etwas wirklich sein muss, nur weil es räumlich vorgestellt wird. Kant denkt hier offensichtlich an so etwas wie optische Illusionen, Luftspieglungen oder Träume: „[B]ey dem innern Sinne […] ist das Dencken oder das existiren des Gedanckens und meiner Selbst einerley.“³³⁷ Mit dem räumlichen Vorstellungsbewusstsein ist dagegen nicht zugleich die Wirklichkeit des Gegenstands dieser Vorstellung gegeben: Es lässt sich daher „in Ansehung äußerer Dinge aus der wirklichkeit der Vorstellungen auf die der Gegenstände nicht schließen“³³⁸. An dieser Stelle ließe sich jedoch anführen, dass räumliche Illusionen nicht Nichts sind, sondern auch Vorstellungsinhalte sind und bleiben, selbst wenn sich herausstellt, dass dem Vorgestellten kein realer Gegenstand entspricht. Trotzdem lässt sich ein Unterschied festmachen: Rein zeitliche Vorstellungen, die nicht beanspruchen, einen Gegenstand der Außenwelt, sondern nur einen Gegenstand der Innenwelt vorzustellen, sind vor möglichen Fehlurteilen geschützt. Gefühle, Empfindungen und Gedanken haben unabhängig der Objekte in der Außenwelt und unabhängig des Wahrheitsstatus von Urteilen eine subjektive Geltung für das Subjekt. Denken des Gedankens und Existieren des Gedankens ist „einerley“, wie Kant betont. Dies ist bei räumlichen Vorstellungen bezüglich der Außenwelt gerade nicht der Fall. Schließlich sind Urteile über Inhalte im äußeren Sinn nicht gegen Fehleinschätzungen abgesichert, wie das bei den Inhalten der Fall ist, die ausschließlich dem inneren Sinn zugerechnet werden. Da in diesem Sinne Sein und Denken im Hinblick auf die Außenwelt nicht einfach zusammenfallen, stellt sich Kant die Frage, was uns berechtigt, überhaupt die Wirklichkeit äußerer Inhalte anzunehmen. Andersherum stellt sich weiterhin die Frage, wie aus zeitlichen Inhalten empirische Realität entstehen soll, treten doch nach wie vor Veränderungen in der Außenwelt auch in der Zeit auf. Damit bleibt prima facie insgesamt die Schwierigkeit, wie die Wirklichkeit äußerer Gegenstände dargelegt werden kann, wenn wir doch nur von der Gewissheit der zeitlichen Inhalte ausgehen können. Der „Schlüssel zu dieser Schwierigkeit“ soll nach Kant an dieser Stelle darin liegen, dass es ohne außen-
AA X, 134. AA X, 134. AA X, 134. Kant verwendet hier den Begriff Wirklichkeit und Existenz natürlich noch nicht im kritischen Sinne als schematisierte Realität.Vgl. hierzu obige Anmerkung 331 im hiesigen Kapitel 1 und ferner die kritische Verwendungsweise im Zuge der Kategorienanwendung, wie sie in Kapitel 2.2.3 dargestellt wird.
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weltliche Gegenstände keine Veränderungen im inneren Sinn geben würde. Der untrügliche innere Sinn soll somit auf die Wirklichkeit von Inhalten im äußeren Sinn angewiesen sein. Dieses Argument führt Kant wiederholt gegen den dogmatischen Idealismus ins Feld.³³⁹ Prima facie ist es jedoch widersprüchlich, wenn Kant in den Prolegomena scheinbar genau das Gegenteil behauptet und den epistemischen Unterschied zwischen Inhalten der Zeit und des Raums ignoriert. Dort behauptet Kant nämlich, dass mit der Erfahrung von äußeren Gegenständen die Existenz dieser Gegenstände bewiesen wird. Die Parallelisierung zwischen räumlichen Vorstellungen und zeitlichen Vorstellungen steht dabei scheinbar in gewisser Spannung zu dem Brief von 1772 und seinem späteren Abschnitt zur Widerlegung des Idealismus in der KRV: Empirisch außer mir ist das, was im Raume angeschaut wird; und da dieser sammt allen Erscheinungen, die er enthält, zu den Vorstellungen gehört, deren Verknüpfung nach Erfahrungsgesetzen eben sowohl ihre objective Wahrheit beweiset, als die Verknüpfung der Erscheinungen des inneren Sinnes die Wirklichkeit meiner Seele […], so bin ich mir vermittelst der äußern Erfahrung eben sowohl der Wirklichkeit der Körper als äußerer Erscheinungen im Raum, wie vermittelst der innern Erfahrung des Daseins meiner Seele in der Zeit bewußt […].³⁴⁰
Kant begreift den Raum hier als Form des Äußeren und behauptet, dass im Hinblick auf die Erfahrung „bewiesen werde[]“, dass den „äußeren Wahrnehmungen etwas Wirkliches […] correspondiren müsse […]“.³⁴¹ Hier unterscheidet Kant also gerade nicht zwischen der subjektiven Geltung von rein inneren Zuständen und den stets fehleranfälligen Urteilen über äußere Zustände. Es scheint, als würde Kant im Zuge seiner Auseinandersetzung mit seinen Kritikern die Anschauungsformen einfach als etwas Objektives festsetzen. Dieser Eindruck erhärtet sich durch den Umstand, dass Kant bereits zu Beginn der Prolegomena davon ausgeht, dass die Prinzipien unserer Wirklichkeit faktische Geltung haben.³⁴² Es ist demnach schlicht der Fall bzw. Tatsache, dass es Wirkliches gibt. Oder wie Kant es in der MDS ausdrückt: „Ein jedes Factum (Thatsache) ist Gegenstand in der Erscheinung (der Sinne) […].“³⁴³ Wenn Kant aber im Zuge dessen den Raum bzw. den äußeren Sinn einfach als etwas Wirkliches festsetzt, droht er
Siehe obige Anmerkung 261 im hiesigen Kapitel 1. AA IV, 336. AA IV, 336. Vgl. AA IV, 275 f. AA VI, 371.
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in Schultzʼ Alternative zu verfallen, wonach der Raum etwas an sich Existierendes darstellt. Diese scheinbaren Spannungen lösen sich jedoch auf, wenn die genaue Wortwahl Kants berücksichtigt wird: Während er im Brief von 1772 andeutet, dass die Auseinandersetzung mit Inhalten im äußeren Sinn selbstverständlich auch fehlgehen können, da Urteile, in denen sich Erkenntnisse ausdrücken, sowohl wahr als auch falsch sein können, hält er in den Prolegomena fest, dass Erfahrung die Wirklichkeit äußerer Gegenstände beweist. Von Erfahrung ist 1772 jedoch in diesem Sinne noch keine Rede. Die Erfahrung garantiert die Objektivität der Inhalte, da Erfahrung im engeren Sinne den erfolgreichen Erkenntnisfall beschreibt: „Nun sind alle unsere Anschauungen sinnlich, und diese Erkenntniß, so fern der Gegenstand derselben gegeben ist, ist empirisch. Empirische Erkenntniß aber ist Erfahrung.“³⁴⁴ Vor diesem Hintergrund notiert Kant im Handexemplar der KRV, dass etwas, was „Erfahrung sey“, letztlich „ein Factum ist“³⁴⁵. Ausgehend von einer analytischen Herangehensweise, ist die Wirklichkeit eine selbstverständliche und faktische Gegebenheit. Ausgehend von einer synthetischen Herange-
B165 f. Dabei muss jedoch berücksichtigt werden, dass Kant den Begriff Erfahrung mehrdeutig verwendet. Vaihinger unterscheidet zwischen drei Bedeutungsebenen: Erstens kann Erfahrung gleichbedeutend mit Empfindung sein, zweitens kann der Begriff wiederholte Wahrnehmungen bedeuten und schließlich kann er drittens im strengen Sinn ein System von Erfahrungserkenntnissen meinen.Vgl.Vaihinger 1922a, S. 176 ff. An obiger Stelle geht es primär um die letzte Bedeutungsebene. Vgl. hierzu ferner die Ausführungen von Wolff zur Bedeutung des Erfahrungsganzen für die Bildung von Erfahrungsurteilen in Wolff 2012, S. 158 – 161. Den Unterschied zwischen einem Wahrnehmungsurteil und einem Erfahrungsurteil veranschaulicht Kant am Beispiel eines durch Sonnenstrahlen erwärmten Steins: „Um ein leichter einzusehendes Beispiel zu haben, nehme man folgendes: wenn die Sonne den Stein bescheint, so wird er warm. Dieses Urtheil ist ein bloßes Wahrnehmungsurtheil und enthält keine Nothwendigkeit, ich mag dieses noch so oft und andere auch noch so oft wahrgenommen haben; die Wahrnehmungen finden sich nur gewöhnlich so verbunden. Sage ich aber: die Sonne erwärmt den Stein, so kommt über die Wahrnehmung noch der Verstandesbegriff der Ursache hinzu, der mit dem Begriff des Sonnenscheins den der Wärme nothwendig verknüpft, und das synthetische Urtheil wird nothwendig allgemeingültig, folglich objectiv, und aus einer Wahrnehmung in Erfahrung verwandelt.“ (AA IV, 301 Anm.). Das Beispiel taucht in ähnlicher Weise auch noch einmal in Kants LogikHandbuch auf.Vgl. AA IX, 113. Es muss somit systematisch zwischen Anschauung, Wahrnehmung und Erfahrung unterschieden werden, auch wenn Kant selbst diese Unterscheidung begrifflich nicht immer durchhält. Prauss kritisiert, dass Kant das Verhältnis der einzelnen Bewusstseinsformen nicht genügend differenziert. Vgl. Prauss 1971, S. 128 f. Ähnlich auch bei Emundts 2012, S. 210 ff. Die mangelnde Ausdifferenzierung bei Kant rechtfertigt jedoch nicht, die Begriffe systematisch zu identifizieren, wie Prauss verständlicherweise an Körner kritisiert.Vgl. hierzu Prauss 1971, S. 151 Anm. Zu der sich hieran anschließenden und in der Forschung diskutierten Frage nach dem Verhältnis zwischen Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteil siehe Wolff 2012, S. 162– 167. Refl. XXXIII, AA XXIII, 25.
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1 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der vorkritischen Phase
hensweise, die nach den Bedingungen der Möglichkeit fragt, ist die Erfahrung etwas, das einer Erklärung im Hinblick auf ihre Konstituierung bedarf.³⁴⁶ Kant setzt somit den äußeren Sinn nicht einfach als etwas Wirkliches fest, sondern will durch die Begründung der Erfahrung erklären, wie es dazu kommt, dass subjektive Inhalte schließlich zu objektiven Gegenständen als etwas Wirkliches bestimmt bzw. gedeutet werden.³⁴⁷ Es muss daher erklärt werden, unter welchen
Im Handexemplar der KRV findet sich eine Anmerkung, wonach es gar nicht darum ginge, das Faktum der Erfahrung zu beweisen, sondern lediglich darum zu erklären, wie dieses Faktum aus transzendentalphilosophischer Sicht möglich ist: „Wir haben oben angemerkt, daß Erfahrung aus synthetischen Sätzen bestehe, und, wie synthetische Sätze a posteriori möglich seyn, nicht als eine der Auflösung bedürfende Frage angesehen, weil sie Factum ist. Jetzt läßt sich fragen, wie dieses Factum möglich sey.“ (Refl. XXXIII, AA XXIII, 24). Das Verb deuten beschreibt sinnvoll Kants immer wieder verwendetes Konzept der Bestimmung. Die Bestimmung wird an Inhalten in der kantischen Erkenntnistheorie vollzogen, um einen konkreten Erfahrungsgegenstand zu erkennen. Die Schwierigkeit an Kants Wortwahl für den Akt, um den es hier im Erkenntnisprozess geht, liegt nach Prauss darin, dass der Sinn des Worts bestimmen in seiner alltäglichen Verwendung mit sich bringt, „daß man dabei immer ,etwas als etwasʻ, zum Beispiel eine Tulpe als Pflanze, bestimmt […]. Für dieses Bestimmen oder Verstehen aber ist […] [es] kennzeichnend, daß man damit bei dem ,Etwasʻ, das man ,als etwasʻ bestimmt oder versteht, jeweils stehen bleibt. Es ist die Tulpe selbst, was man als Pflanze bestimmt […].“ Dies entspricht jedoch nicht der Struktur des Erkenntnisakts, wie Kant ihn in seiner Erkenntnissystematik beschreibt, wie Prauss ferner ausführt: „Wenn nämlich dieses Bestimmen von Erscheinung das Bestimmen eines entsprechenden objektiven Gegenstandes bedeuten soll, so bleibt man damit gerade nicht bei diesen Erscheinungen stehen, sondern geht, indem man es vollzieht, gerade über sie hinaus.“ (Prauss 1971, S. 45 f. (Hervorhebung aufgehoben)). Prauss schlägt – zum besseren Verständnis der kantischen Erkenntnissystematik – das Verb deuten anstelle des Verbs bestimmen vor: „Das Wort ,deutenʻ ist es, das alle diese Bedingungen in idealer Weise erfüllt, […] weil man mit einer Deutung eben nicht bei dem, was man deutet, stehen bleibt, sondern es gerade überschreitet und erst bei etwas ganz anderem halt macht.“ (Prauss 1971, S. 48 (Hervorhebung aufgehoben)). Zum Deutungsmodell der Erkenntnis siehe Prauss 1971, S. 38 – 57. Dieses Modell entwickelt Prauss später weiter und betrachtet vor diesem Hintergrund die Anschauung als „deutbar“, wohingegen der Begriff „deutfähig“ (Prauss 1993b, S. 678) ist.Vgl. hierzu Prauss 1993b, S. 675 – 714. Siehe in jüngerer Vergangenheit auch die ausdrückliche Zustimmung bezüglich Praussʼ Modell bei Wunsch. Vgl. Wunsch 2007, S. 79 f. Siehe hierzu ferner die Ausführungen im angelsächsischen Raum von Kemp Smith, der zumindest vom Begriff des Bestimmens abweicht: „The manifold has to be interpreted, even though the principles of interpretation may originate independently of it.“ (Kemp Smith 1923, S. 84). Ein entsprechender Ansatz, der diese Interpretation begünstigt, lässt sich auch schon bei Kant erahnen: Statt vom Bestimmen spricht Kant in den Prolegomena an einer Stelle auch davon, dass die Wahrnehmung mittels der Kategorien in Erfahrung „verwandelt“ (AA IV, 297) wird. Und im Opus postumum spricht Kant sogar davon, dass bestimmte Begriffe nicht „empirisch gegeben sondern nur a priori deutbar im Raum [sind]“ (AA XXI, 274).Vgl. entsprechend auch die Stelle AA XXII, 22. Gleichzeitig darf jedoch nicht verkannt werden, dass Kants Terminus des Bestimmens auch die Funktion erfüllt, die Architektonik der Erkenntnisvermögen zu beschreiben und somit nicht in jedem Kontext durch das Verb
1.5 Kants Reaktion auf die Kritik an seiner Raum- und Zeitkonzeption von 1770
131
Bedingungen das Subjekt dazu im Stande ist, die Strukturen und Formen zu stiften, in denen sich sinnliche Inhalte zur vertrauten (mithin faktischen) Wirklichkeit deuten lassen. Erfahrung ist schließlich das Resultat dieses Erkenntnisprozesses und kann, wenn dieser Prozess richtig abläuft, zur Erfahrung äußerer Objekte führen. Das Verständnis dieses Prozesses, der nach Kant schließlich das objektive Gegenstandsbewusstsein zur Folge hat und dieses gleichzeitig auch legitimiert, ist dann alles andere als eine bloße Festsetzung. Die obigen Ausführungen zeigen, dass Kant nunmehr eine umfangreiche Theorie der Erfahrung liefern muss, um die aufkommenden Fragen im Anschluss an De mundi beantworten zu können. Diesbezüglich konstatiert Guyer: Thus, Kantʼs problem of 1772, as well as his theory of 1770, suggest that there is at least some sense in which his ontology is to be realism and that the newly discovered need for a justification of what first seemed to be mere ʻprinciples of convenienceʼ must take place within a framework which is realistic in the requisite sense.³⁴⁸
Die Frage nach der Objektivität von Raum und Zeit und deren wirklichkeitsstiftender Funktion hängt mit der Frage zusammen, wie Erfahrung möglich ist bzw. wie Erfahrung transzendentalphilosophisch entsteht. Damit ist die Kernfrage der KRV angesprochen, denn diese Thematik greift Kant erst mit der Deduktion, dem Schematismus und den Grundsätzen in der KRV auf. Schließlich soll mit den transzendentalen Schemata erklärt werden können, „[w]ie sie […] die Erfahrung möglich machen, und welche Grundsätze der Möglichkeit [sie] derselben […] an die Hand geben“³⁴⁹. In diesen Abschnitten der KRV muss sich klären, wie aus subjektiven Strukturen des Denkens und des Anschauens schließlich auch noch Formen objektiver Gegenstände in der Erfahrung werden. Doch bevor erklärt werden kann, wie aus subjektiven Formen schließlich objektive Formen werden können, muss geklärt werden, was es mit diesen subjektiven Formen genau auf sich hat, die die Verstandesformen auf sinnliche Inhalte restringiert. Dies untersucht Kant vordergründig in der transzendentalen Ästhetik der KRV.
deuten ersetzt werden kann. In der KU wird die bestimmende Urteilskraft von der reflektierenden dadurch unterschieden, dass die bestimmende Urteilskraft das Besondere unter das Allgemeine denkt, während die reflektierende das Allgemeine zum Besonderen sucht. Vgl. hierzu AA V, 179 ff. Guyer 1987, S. 24. B167.
132
1 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der vorkritischen Phase
1.6 Zusammenfassung des ersten Kapitels Bevor im nächsten Kapitel die Entwicklung der Lehre Kants von Raum und Zeit in der kritischen Phase weiterverfolgt wird, soll hier noch einmal die vorkritische Phase in ihren wesentlichen Punkten zusammengefasst werden. Summa summarum lassen sich nach obiger Darstellung der vorkritischen Phase folgende Punkte hervorheben: Punkt 1.1: In Bezug auf die Frage nach der Struktur von Raum und Zeit (siehe Frage 0.1) lässt sich zusammenfassen, dass Kant zunächst von einem Raum- und Zeitkonzept ausgeht, das er von seinen Vorgängern her kennt. Der Raum ist dreidimensional und homogen; die Zeit ist eindimensional und gerichtet. Ferner geht Kant zu Beginn von einem relationalen Raum- und Zeitkonzept aus, welches aufgrund der Tatsache, dass Raum und Zeit durch die Substanzen und ihre Interaktionen entstehen, ermöglicht, zwischen den einzelnen Orten der Substanzen zu differenzieren. Die Lage einer Substanz definiert ihren Ort, wodurch Raum und Zeit als Mannigfaltigkeitsstrukturen vorgestellt werden können (siehe Kapitel 1.1). In Naturgeschichte wird besonders deutlich, dass neben diesen Mannigfaltigkeitsstrukturen Raum und Zeit auch Einheitsstrukturen darstellen müssen. In Raum und Zeit werden alle Substanzen als Teile dieses Raums vorgestellt. Sie sind allbefassend und ermöglichen, die Welt als eine Einheit zu betrachten (siehe Kapitel 1.2). Kant rückt immer weiter von einem rein relationalen Raumverständnis ab, bis er in Über die Gegenden im Hinblick auf die inkongruenten Gegenstücke feststellen muss, dass sich diese nur eindeutig differenzieren lassen, wenn zuvor ein allbefassender Raum angenommen wird, in dem die Gegenstücke Gegenden einnehmen können. Somit gewinnt die Einheitsstruktur das eindeutige Primat vor der Mannigfaltigkeitsstruktur, sodass entsprechende Unterschiede nur innerhalb einer Einheit vorgestellt werden können (siehe Kapitel 1.3). An dieser grundsätzlichen Struktur von Raum und Zeit hält Kant schließlich auch in De mundi fest (siehe Kapitel 1.4). Punkt 1.2: In Bezug auf die Frage nach der Art der Vorstellung bei Raum und Zeit (siehe Frage 0.2) ist festzustellen, dass Kant in der vorkritischen Phase hierzu mehrmals seine Position ändert. Während in der Erstlingsschrift noch gemutmaßt wird, dass dem Subjekt Raumstrukturen durch eine Affektion auf Grundlage des Gravitationsgesetzes bewusst werden, und in Träume wiederum, dass in der Empfindung der Ort von Gegenständen verständlich wird, kommt Kant in Über die Gegenden zu dem Schluss, dass der Raum ein Grundbegriff sein muss, obwohl er zugesteht, dass diese Überlegung nicht ohne Schwierigkeiten zu verstehen ist (siehe Kapitel 1.3). In De mundi gelangt Kant schließlich zu seinem eigenen Konzept, wonach Raum und Zeit keine Begriffe, sondern reine Anschauungen
1.6 Zusammenfassung des ersten Kapitels
133
darstellen, was ab diesem Zeitpunkt die Art von Vorstellung ist, die Kant für Raum und Zeit in ursprünglicher Hinsicht vorsieht (siehe Kapitel 1.4). Punkt 1.3: In Bezug auf die Frage nach der systematischen Stellung von Raum und Zeit in Kants vorkritischem Denken (siehe Frage 0.3) lässt sich zusammenfassen, dass Raum und Zeit zu Beginn von Kants Publikationstätigkeit systematisch von den physikalischen Objekten her bzw. innerhalb einer Monadologie gedacht werden. Die Einfachheit der Monaden bzw. die Monadenlehre und die unendliche Teilbarkeit des Raums sowie die Geometrie hält Kant im Zuge der begrifflichen Unterscheidung zwischen Teilen und Trennen für vereinbar (siehe Kapitel 1.1). In der Naturgeschichte findet sich die systematische Anbindung von Raum und Zeit an Gott. Raum und Zeit sind hier allbefassende Erscheinungsweisen und Werke Gottes, wodurch seine Omnipräsenz ermöglicht wird. Der Raum ist ein actus Gottes, worin die Gegenstände in eine Verbindung miteinander eintreten. Naturgesetze, Raum und Zeit sind keine von Gott unabhängigen Prinzipien (siehe Kapitel 1.2). Mit der Schrift Über die Gegenden ändert Kant durch die Auseinandersetzung mit den inkongruenten Gegenstücken seine Position fundamental. Die mathematische und ontologische Auseinandersetzung mit den inkongruenten Gegenstücken wird begleitet von einem epistemischen „Problem der Orientirung“³⁵⁰ (siehe Kapitel 1.3). In De mundi werden Raum und Zeit systematisch losgelöst von Gott. Stattdessen werden sie systematisch im Zuge seiner Erkenntnistheorie eng an das Subjekt gebunden (siehe Kapitel 1.4). Diese systematische Verschiebung führt jedoch zu Problemen in der Folgezeit bezüglich des Objektivitätsanspruchs dieser Formen im Zusammenhang mit den wirklichen Inhalten, die in ihnen auftreten (siehe Kapitel 1.5). Diese Problematik leitet zur KRV über, in der Kant mit seinem Erfahrungskonzept die Frage nach Wirklichkeit und Objektivität grundsätzlich neu angeht, was zur Ausreifung seiner Systematik führt. Letztlich beeinflusst dies auch sein Konzept von Raum und Zeit, wie im Folgenden weiter zu erörtern sein wird.
Vgl. Vaihinger 1922b, S. 524 Anm.
2 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der Kritik der reinen Vernunft Al-Azm stellt in Anbetracht der vorkritischen Phase die Frage: Is the critical theory of time formulated in the Dissertation and Aesthetic completely inconsistent with the early Kantian views […]?¹
Bezüglich dieser komplexen Frage betont Al-Azm vorab: „The answer cannot be a simple yes or no.“² Die Ausführungen im letzten Kapitel haben gezeigt, wie vielschichtig und bisweilen komplex Kants Überlegungen sowohl bezüglich der Zeit als auch bezüglich des Raums in der vorkritischen Phase sind. Einerseits lässt sich feststellen, dass Kant früh Raum und Zeit sowohl als relationale bzw. mannigfaltigkeitsstiftende als auch als absolute bzw. einheitsstiftende Strukturen versteht (Punkt 1.1). Andererseits zeigte das Kapitel auch, dass Kant radikale Änderungen bezüglich seiner Überlegungen in Hinblick auf Raum und Zeit durchführt – sei es in Bezug auf ihre Art der Vorstellung (Punkt 1.2) oder in Bezug auf den systematischen Hintergrund seiner Überlegungen (Punkt 1.3). Auch wenn Kant selbst in De mundi noch an kosmologischen Spekulationen festhält, ebnet er mit der Subjektabhängigkeit von Raum und Zeit als grundlegende Formen der Sinnlichkeit den Weg für seine Kopernikanische Wende in der KRV und für sein transzendentales Begriffspaar Erscheinung und Ding an sich selbst. Dieser Übergang vollzieht sich nicht schlagartig, wie man prima facie in Anbetracht der klassischen Einteilung des corpus kantianum meinen könnte, sondern geht einher mit einer tiefergehenden, schrittweisen Auseinandersetzung mit den kritischen Punkten seiner Dissertation. Wie gesehen, legt Kant zwischen De mundi und der KRV eine knapp elfjährige Publikationspause ein, in der er versucht, seine Überlegungen systematisch zu vertiefen und kritischen Anmerkungen seiner Zeitgenossen im Hinblick auf seine Dissertation zu begegnen. Das Verständnis über diese Zeit bzw. die „Jahre des Schweigens“³ ist eine wichtige Hinführung zu einer Untersuchung der kantischen Lehre von Raum und Zeit in der KRV, weil sie wichtige Motive für Kants Lehre und Entwicklung zu erkennen gibt. Wie das folgende Kapitel zeigen soll, lösen sich jedoch auch mit diesem Übergang nicht alle kritischen Punkte auf. Die systematische Entwicklung seiner Überlegungen führt schließlich zu einigen Interpretationsfragen in der KRV bezüglich der Formen Raum und Zeit im Hin-
Al-Azm 1967, S. 14. Al-Azm 1967, S. 14. Kühn 2004, S. 223 (Hervorhebung aufgehoben). https://doi.org/10.1515/9783110763553-004
2.1 Raum und Zeit als Formen der Anschauung in der transzendentalen Ästhetik
135
blick auf das Zusammenwirken der beiden Erkenntnisstämme: Verstand und Sinnlichkeit. Für eine entsprechende Untersuchung wird es notwendig sein, Raum und Zeit im Zusammenhang mit den zentralen Kapiteln der KRV zu untersuchen. Im Folgenden soll – auch unter Rückgriff auf Stellen aus anderen Werken – Kants kritische Raum- und Zeitkonzeption im Zusammenhang mit den entscheidenden Stellen aus transzendentaler Ästhetik, Analytik und Dialektik untersucht werden. Dabei werden sich mehrere Ebenen der kantischen Raumund Zeitkonzeption aufzeigen lassen. Die Auseinandersetzung mit der Ästhetik wird sich vor allem mit Frage 0.1 bzw. mit der Struktur von Raum und Zeit beschäftigen. Darüber hinaus liefert sie auch die Antwort auf Frage 0.2, wie sie schon in De mundi gegeben wurde, nämlich dass Raum und Zeit reine Anschauungen sind. Doch damit ist Kants Lehre von Raum und Zeit im Hinblick auf die Frage 0.2 nicht erschöpft. Die Auseinandersetzung mit der Analytik und Dialektik wird der Frage 0.2 weiter nachgehen, wodurch sich zeigen wird, dass Kant Raum und Zeit nicht ausschließlich als reine Anschauungen betrachtet, sodass die verschiedenen Interpretationswege, die in Kapitel 0.3 angesprochen wurden, noch einmal umfassend aufgegriffen und kritisch thematisiert werden. Die Auseinandersetzung mit der Analytik und Dialektik wird darüber hinaus in systematischer Hinsicht von Bedeutung sein, wodurch die Frage 0.3 in den Vordergrund rücken wird. Der systematische Kontext, in den Kants Raum- und Zeitlehre eingebettet ist, wird verständlich machen, welche Berechtigung die unterschiedlichen Interpretationswege haben und wie diese vom Grundsatz her zusammengedacht werden können.
2.1 Raum und Zeit als Formen der Anschauung in der transzendentalen Ästhetik 2.1.1 Kants Methode: Metaphysische und transzendentale Erörterung Bereits in der vorkritischen Phase beschreibt Kant seine Methode für die metaphysische Auseinandersetzung mit dem Raum als eine Zergliederung des gegebenen Begriffs: Ehe ich noch mich anschicke zu erklären, was der Raum sei, so sehe ich deutlich ein, daß, da mir dieser Begriff gegeben ist, ich zuvörderst durch Zergliederung diejenigen Merkmale, welche zuerst und unmittelbar hierin gedacht werden, aufsuchen müsse.⁴
AA II, 281. Messina zeigt, dass diese Methode auch schon bei dem Kant vertrauten Autor Crusius zu finden ist. Vgl. Messina 2015, S. 437– 445. Entsprechend kritisch sieht Messina solche
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2 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der Kritik der reinen Vernunft
Auch in der kritischen Phase hält Kant daran fest, dass die Auseinandersetzung mit dem Raum beim Begriff desselben ansetzen muss. In der transzendentalen Ästhetik der KRV unterscheidet Kant dabei (zumindest in der B-Auflage) zwischen einer metaphysischen und einer transzendentalen Erörterung. Wie Kant in der Methodenlehre ausführt, versteht er die Erörterung neben dem Definieren, Explizieren und Deklarieren als eine Erklärungsart von Begriffen.⁵ Unterschiedliche Erklärungsarten sind vor dem Hintergrund unterschiedlicher Begriffsarten wichtig, da sich beispielsweise apriorische Begriffe nach Kant nicht definieren lassen, weil man „niemals sicher sein [kann], daß die deutliche Vorstellung eines (noch verworrenen) gegebenen Begriffs ausführlich entwickelt worden [ist]“. Kant schreibt: „[D]ie Ausführlichkeit der Zergliederung meines Begriffs [bleibt] immer zweifelhaft und kann […] niemals […] apodiktisch gewiß gemacht werden.“⁶ Wie die transzendentale Ästhetik zu zeigen beansprucht, sind Raum und Zeit apriorische Vorstellungen. Die Erörterung von Raum und Zeit ist somit notwendigerweise fragmentarisch. So heißt es an einer Stelle im handschriftlichen Nachlass: „Raum und Zeit aber, obzwar in ihnen Zusammengesetzte objecte genug gedacht werden können, sind doch einfache Begriffe, welche die Zusammensetzung möglich machen, und lassen sich nicht erklären […].“⁷ Gleichwohl versteht Kant die Exposition bzw. Erörterung als eine „Annäherung zur Definition“⁸, wie es dann weiter in der Methodenlehre der KRV heißt. Zunächst geht es daher in beiden Abschnitten der transzendentalen Ästhetik um eine Erörterung, die Kant als „deutliche (wenn gleich nicht ausführliche) Vorstellung dessen, was zu einem Begriffe gehört“⁹, versteht. In seinem Logik-Handbuch führt Kant zudem aus, dass die Exposition „in der an einander hängenden (successiven) Vorstellung seiner [des Begriffs] Merkmale [besteht], so weit dieselben durch Analyse gefunden
Interpretationsversuche, die die methodischen Grundlagen der Erörterung in der Ästhetik bei der Rekonstruktion der einzelnen Argumente übergehen. Vgl. hierzu Messinas Kritik an Allison und Warren in Messina 2015, S. 445 – 449. Vgl. B758 f.|A730 f. B756 f.|A728 f. Refl. 2967, AA XVI, 589. Dadurch, dass die Philosophie nach Kant ihre dunklen Vorstellungen auf Begriffe bringen muss und sich somit ihren Gegenstand nicht selbst konstruieren kann, ist eine klare Definition nicht möglich. Das unterscheidet den Umgang mit Begriffen in der Philosophie von dem in der Mathematik. Zum Konzept der dunklen Vorstellungen bei Kant siehe das Kapitel 2.2.5. Zu dem Verhältnis zwischen Philosophie und Mathematik im Hinblick auf die transzendentale Erörterung siehe Rohs 1998, S. 561– 564 und siehe ferner Anmerkung 7 in Kapitel 1. Refl. 2966, AA XVI, 588. B38.
2.1 Raum und Zeit als Formen der Anschauung in der transzendentalen Ästhetik
137
sind“¹⁰. Eine Analyse von Raum und Zeit in der transzendentalen Ästhetik ist möglich, da sie als Formen der Objekte jederzeit in der Erscheinungswelt auftreten und somit gegeben sind. Im „analytische[n] Verfahren“ wird der Gegenstand der Betrachtung „als gegeben […] zu[] Grunde“¹¹ gelegt. „Raum und Zeit“ – so Kant später in der Analytik – können „wir darum allein aus der Erfahrung als klare Begriffe herausziehen […], weil wir sie in die Erfahrung gelegt hatten“¹². Mittels Abstraktion können die gegebenen Formen der Sinnlichkeit isoliert betrachtet werden, sodass wir „alles, was zur Empfindung gehört, abtrennen“¹³. Heidemann macht darauf aufmerksam, dass durch dieses analytische Verfahren Raum und Zeit nicht in ihrer unerfüllten und ursprünglichen Form ermittelt werden können, sondern lediglich in einer von empirischen Gegenständen abstrahierten Form.¹⁴ Das Abstraktionsverfahren bringt Raum und Zeit somit nicht ursprünglich hervor; schließlich stellen sie „Principien der Erkenntniß a priori“¹⁵ dar, wie sich nach Kant u. a. mit Blick auf die Notwendigkeiten in der Mathematik und der Bewegungslehre in der transzendentalen Erörterung zeigt.¹⁶ Die transzendentale Er-
AA IX, 143. B418. Vgl. diesbezüglich folgende frühere Stelle, die während Kants Publikationspause entstanden ist: „Die Form der Sinnlichkeit läßt sich durch die Vernunft beurtheilen und zergliedern (Raum und Zeit), nicht die materie der Empfindung.“ (Refl. 759, AA XV, 331). In seinem Handexemplar von Baumgartens Metaphysica notiert Kant am Rand zum §240, dass man den Raum „durch die Dinge bemerken“ (Refl. 4511, AA XVII, 578) kann.Wie der Raum als subjektive Form bei Kant schließlich als bestimmte Form der Objekte auftreten kann, wird im Kapitel 2.2 untersucht. B241|A196. B36|A22. Vgl. Heidemann, I. 1958, S. 85 f. Dörflinger führt kritisch an, dass durch das analytische Verfahren, wodurch die sinnlichen Formen als gegebene Formen isoliert betrachtet werden, Kant die Formen nicht „auf ihre Quellen zurückverfolgt“ (Dörflinger 2002, S. 13), sodass Kant vorerst in einer „eher statischen Raumkonzeption“ (Dörflinger 2002, S. 14) verhaftet bleibt. Dadurch wirkt der ursprüngliche Raum aber nach Dörflinger in der Gesamtkonzeption des Subjekts bei Kant wie ein „fremdes Zusatzstück“ (Dörflinger 2002, S. 15). Vgl. hierzu auch Praussʼ Unterscheidung zwischen einem analytischen und einem synthetischen Kontinuum in Prauss 2017, S. 110 f. bzw. Anmerkung 14 in Kapitel 0. B36|A22. Wäre beispielsweise der Raum von der Erfahrung entlehnt, so würden alle mathematischen Erkenntnisse nur „comparative Allgemeinheit“ besitzen, da sie „nämlich durch Induction“ ermittelt wären: „Man würde also nur sagen können: so viel zur Zeit noch bemerkt worden, ist kein Raum gefunden worden, der mehr als drei Abmessungen hätte.“ (A24). Das widerstrebt jedoch Kant zufolge dem Wesen der Mathematik und ihrem apriorischen Anspruch. Kant streicht diese Stelle in der B-Auflage, da sie offensichtlich und nach obiger Erläuterung nicht zur metaphysischen, sondern vielmehr zur transzendentalen Erörterung passt. Passenderweise ersetzt Kant diese Stelle durch eine kurze Erläuterung zur Intention der metaphysischen Erörterung. Gleichwohl sieht er nach wie vor in der Gültigkeit der Mathematik einen Beweisgrund für die Subjek-
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2 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der Kritik der reinen Vernunft
örterung betrachtet Raum und Zeit als Prinzipien, „woraus die Möglichkeit anderer synthetischer Erkenntnis a priori eingesehen werden“ können – also unter transzendental-systematischen Gesichtspunkten im Hinblick auf die Grundfrage der KRV: „Wie sind synthetische Urtheile a priori möglich?“¹⁷ Um diese Frage zu beantworten, wird es nach Kant nötig sein, zu zeigen, dass „diese Erkenntnisse nur unter der Voraussetzung einer gegebenen Erklärungsart dieses Begriffs möglich“¹⁸ ist. Hierzu ist es notwendig, sich genauer mit diesen Begriffen auseinanderzusetzen. In der B-Auflage schreibt Kant, dass eine Erörterung genau dann metaphysisch ist, wenn „sie dasjenige enthält, was den Begriff als a priori gegeben darstellt“¹⁹. Inhaltlich will Kant in der metaphysischen Erörterung zeigen, dass Raum und Zeit keine kontingenten Begriffe sein können, sondern erstens apriorische und zweitens anschauliche Vorstellungen darstellen, was letztlich zu ihrer charakteristischen Bezeichnung als reine Anschauungen führen soll. Dass insgesamt die Erörterungen nicht in extenso erfolgen und vergleichsweise nur einen kleinen Teil der KRV ausmachen, wird ansatzweise verständlich, wenn berücksichtigt wird, dass Kant sich bereits um 1770 intensiv mit den Themen Raum und Zeit auseinandergesetzt hat und die wesentlichen Punkte sowie auch ein Großteil der Argumente bereits in De mundi zu finden sind, wodurch dieser Teil der KRV eine große Nähe zum Text in der Dissertation aufweist.²⁰ Wie Dück
tivität des Raums. Vgl. hierzu die neuen Abschnitte zur transzendentalen Erörterung in der KRV. Siehe hierzu ferner die Ausführungen in Kapitel 1.4. B19. B40. B38. Vgl. hierzu Kapitel 2.1.6 und ferner den ausführlichen Vergleich zwischen der ersten und zweiten Auflage der KRV und De mundi bei Vaihinger 1922b, S. 156 – 275. Ein wichtiger Unterschied im Aufbau zu De mundi ist jedoch, dass Kant die Auseinandersetzung mit dem Raum hier an den Anfang stellt. Vgl. hierzu Anmerkung 257 in Kapitel 1. Das könnte damit zusammenhängen, dass die Zeit in der nachfolgenden Analytik eine wichtigere Rolle als der Raum spielt, was Kant in De mundi noch nicht voraussehen konnte. Vgl. hierzu das Kapitel 2.2. Da Kant sich für diese Umkehrung der Reihenfolge nirgends rechtfertigt, kann über den genauen Grund nur spekuliert werden. Vgl. hierzu Vaihinger 1922b, S. 134. Vaihinger beispielsweise meint, dass Kant die Reihenfolge ändert, weil die Anschauungsnatur des Raums einleuchtender sei als bei der Zeit. Vgl. Vaihinger 1922b, S. 396 f. Auch Unruh glaubt, Kant habe die Reihenfolge geändert, „weil durch den Raum, nicht durch die Zeit, Gegenstände als im vollen Sinne Gegenstehende und als dem Subjekt Äußerliches gegeben werden […]“ (Unruh 2007, S. 99). Kemp Smith meint dagegen, dass Kant Probleme mit seinem Zeitkonzept gehabt habe und deshalb den Raum an den Anfang stellen würde. Vgl. Kemp Smith 1923, S. 137 f. Klemme wiederum bezieht sich auf Kants Vorlesungen und interpretiert, dass es nach Kant kennzeichnend für idealistische Positionen sei, dass sie von der Selbstgewissheit in der Zeit ausgehen und nicht von der faktischen Wirklichkeit im Raum. Kant habe das gesehen und deshalb die Reihenfolge nach 1770 umgekehrt und nur noch von Zeit und
2.1 Raum und Zeit als Formen der Anschauung in der transzendentalen Ästhetik
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daher richtig vermutet, ist ein „Grund für diese Kürze“ der metaphysischen Erörterung „der historische Kontext der Raumdiskussion. Kants Auffassung vom Raum in der KrV ist das Ergebnis einer jahrelangen Auseinandersetzung vor allem mit den Positionen Newtons und Leibnizʼ […].“²¹ Während die metaphysische Erörterung argumentativ vorgibt, was Raum und Zeit sind und was sie ausmacht bzw. notwendig mit ihnen verbunden ist, liefert die transzendentale Erörterung mit Rückgriff auf die Geltung apriorischer Wissenschaften ein Argument, um Raum und Zeit als notwendige Prinzipien zu verstehen, die eine synthetische Wissenschaft a priori möglich machen. Auf die Analyse von Raum und Zeit folgt somit die Einführung derselben als notwendige Prinzipien synthetischer Wissenschaft, woraus dann der Schluss nahegelegt werden soll, dass Raum und Zeit transzendentale Gebilde des Subjekts sein müssen. Schließlich stellt es das übergeordnete Ziel der transzendentalen Ästhetik dar, zu zeigen, dass Raum und Zeit eine bestimmte transzendentale „Beschaffenheit“ haben und dies „nicht hypothetisch [angenommen], sondern apodiktisch bewiesen“²² werden kann. Dieser Anspruch zeigt, dass es – trotz Kants Verständnis von der Erörterung als einer Analyseform – durchaus um eine philosophische Argumentation gehen soll, denn anders wäre der Anspruch der Ästhetik insgesamt nicht zu verstehen. Zwar lassen sich die einzelnen Abschnitte in der Argumentation der Ästhetik durch eine Analyse der Raum- und Zeitvorstellung als einzelne Argumente motivieren und rekonstruieren, wie sich im Folgenden zeigen wird, doch die einzelnen durch-
Raum (anstelle von Raum und Zeit) gesprochen, wenn er idealistische Positionen wiedergeben wollte. Vgl. hierzu Klemme 1996, S. 345 f. Höffe sieht in der Umkehrung der Reihenfolge, die er in De mundi noch von Newtons Thematisierungsreihenfolge übernommen haben soll, ein textgestalterisches Argument dafür, dass die Zeit bei Kant gerade keine signifikante Vorrangstellung gegenüber dem Raum aufweist. Er betont, dass an wichtigen Stellen wie der ersten Antinomie oder den mathematischen Grundsätzen beide gleichwertig auftreten.Vgl. Höffe 2003, S. 89. Höffes These scheint vor dem Hintergrund der wesentlichen Bedeutung der Zeit für den Schematismus schwer nachvollziehbar. Es ließe sich ebenso gut interpretieren, dass Kant die Reihenfolge – wie oben bereits erwähnt – umgekehrt haben könnte, um die Zeit näher an die transzendentale Analytik zu rücken, da sie dort eine entscheidende Rolle einnimmt, wohingegen der Raum nahezu unerwähnt bleibt. Zwar trifft es zu, dass – wie Höffe betont – die Priorität der Zeit nicht so weit geht, dass „der Raum eine Unterform der Zeit wäre“ (Höffe 2003, S. 89), gleichwohl ist die Zeit in ihrer Bedeutung als Ausgangspunkt des Schematismus nicht zu bestreiten. Entsprechend konstatiert beispielsweise Krüger, dass im Ansatz bereits die Ästhetik „die Zeit vor dem Raume“ (Krüger 1967, S. 269) auszeichnet. Die Lehre vom Schematismus „rückt sie [dann] ausdrücklich in den Mittelpunkt, und die ,Grundsätze des reinen Verstandesʻ zeigen [schließlich] ihre fundamentale Bedeutung für die Konstitution der Erfahrung im einzelnen“ (Krüger 1967, S. 270). Vgl. hierzu die Diskussion in Kapitel 2.2. Dück 2001, S. 69. B XXII Anm.
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2 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der Kritik der reinen Vernunft
nummerierten Abschnitte in § 3 und § 4 lassen sich vor allem auch als eine in sich komplexe Gesamtargumentation rekonstruieren, die das Ziel verfolgt, die Idealität von Raum und Zeit zu beweisen. Entsprechend versteht Baum die einzelnen Abschnitte als Unterargumente einer komplexen Argumentation der Ästhetik, die ihren Schlussstein in den Schlüssen der Ästhetik erfährt.²³ Patt betont: „Der vollständige Beweis der Subjektivität des Raumes (und der Zeit) liegt nicht im ersten und nicht im zweiten Argument und nicht in beiden zusammen, sondern in allen zugehörigen Argumenten der Transzendentalen Ästhetik.“²⁴ Um Kants Argumentation nachzuvollziehen, wird es im Folgenden nötig sein, sich die einzelnen Argumente der transzendentalen Ästhetik genauer anzuschauen.²⁵
2.1.2 Das erste Argument der transzendentalen Ästhetik Gleich zu Beginn der Ästhetik behauptet Kant in § 1, dass die Form der Erscheinung dafür verantwortlich ist, dass „das Mannigfaltige der Erscheinung in gewissen Verhältnissen geordnet werden kann“²⁶. Viele Interpreten verstehen die
Vgl. Baum 1996, S. 47– 63. Patt 1987, S. 205. An späterer Stelle macht Patt vor allem auch auf den historischen Kontext aufmerksam; er sieht in den ersten beiden Argumenten eine Argumentation gegen die relationale Auffassung von Leibniz und in den letzten beiden Argumenten eine Argumentation gegen die realistische Auffassung von Clarke und Newton. Vgl. Patt 1988, S. 33. Für Allison ist es unzweifelhaft, dass Kant das erste Argument gegen Leibnizʼ Bedingungsverhältnis zwischen Relationen und Raum anführt. Während Leibniz behauptet, dass die Relationen dem Raum vorhergehen, kehrt Kant dieses Bedingungsverhältnis im ersten Argument um. Vgl. Allison 1983, S. 84. Vgl. ferner Patt 1988, S. 28 ff. Vgl. überdies Kants Reflexion 5327, wonach Sätze über den Raum keine apodiktische Notwendigkeit hätten, wenn sie – wie bei „Leibnitz“ – als Begriffe „von den Sachen hergenommen“ (Refl. 5327, AA XVIII, 153) wären. Koriako macht im Hinblick auf Patts Interpretation darauf aufmerksam, dass der historische Zusammenhang zwar nachvollziehbar ist, eine Interpretation sich jedoch auf diesen historischen Zusammenhang nicht beschränken darf, weil sie Kants Argumente nicht ausschöpfend erörtern kann. Vgl. Koriako 1999, S. 108 Anm. Bezüglich der Position von Leibniz und Newton bzw. Clarke siehe Kapitel 0.4. Messina betont, dass für Kant im ersten Argument der Ästhetik insbesondere die kritische Auseinandersetzung von Crusius mit Wolff im Ausgang des Briefwechsels von Leibniz und Clarke eine wichtige Rolle gespielt hat. Dieser Zusammenhang erhärtet sich insbesondere im Hinblick auf die spätere MDS von Kant, in der er explizit gegen Wolffs Position betont, dass der Raum keine empirische Wahrnehmung sein kann. Vgl. AA VI, 208 bzw. Messina 2015, S. 447– 449. Die folgende Auseinandersetzung orientiert sich primär an der Argumentation des Raums, da die Argumentation für die Zeit weitestgehend „analog“ (Cohen 1918, S. 239) abläuft, wie beispielsweise Cohen bemerkt.Wichtige Unterschiede werden angemerkt und ggf. auch im Haupttext diskutiert. B34.
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Form-Materie-Dichotomie und Kants These, wonach eine Form uns grundsätzlich nicht affizieren kann, als grundlegende Prämisse der Ästhetik, die dazu führt, dass Kants Argumente in der metaphysischen Erörterung als tautologische Schlüsse verworfen werden müssen.²⁷ Beispielsweise betont Al-Azm, „that the thesis of the first argument is at best a restatement, in a negative form, of his earlier separation of the form and matter of appearances such that neither is derivable from the other“. Er spricht vor diesem Hintergrund von einer „tautological deduction“²⁸ in der Ästhetik. Michel versucht dagegen zu zeigen, dass es sich keineswegs um bloße Tautologien handelt, sondern dass Kant zunächst diese sog. Formthese in seiner Argumentation in der metaphysischen Erörterung gar nicht in Anspruch nimmt.²⁹ Michels Verteidigung geht dabei in die richtige Richtung: Bemüht sich nämlich der Interpret im Anschluss an die Interpretationsmaximen aus Kapitel 0.2 um eine ernsthafte Rekonstruktion des ersten Arguments, lässt sich – logisch betrachtet – das Argument soweit erfolgreich rekonstruieren, dass nicht zwingend eine Tautologie entsteht. Kant geht im ersten Raumargument zunächst ganz faktisch davon aus, dass wir empirisch unterschiedliche Vorstellungen haben, die wir uns auch als voneinander Verschiedenes vorstellen, d. h. die Inhalte werden – wie Allison betont – nicht nur als qualitativ differenzierte, sondern darüber hinaus als numerisch differenzierte Vorstellungen betrachtet.³⁰ Michel gibt zu bedenken, dass dieser Unterschied nicht in einem logischen Unterschied von A und non-A aufgeht, sondern topologischer Art ist: Wenn aber in der Wahrnehmung zur logischen Verschiedenheit nicht noch die topologische hinzukäme, so könnte sich das Subjekt durch seine Empfindung nicht auf einen empfundenen Gegenstand beziehen, der eben nicht als bloß logisch mögliches, intentionales Objekt gedacht wird, sondern ein real möglicher Gegenstand der äußeren Wahrnehmung ist.³¹
Vgl. B34|A20. Al-Azm 1967, S. 41.Vgl. ferner Koriako 1999, S. 215 und schon Vaihinger 1922b, S. 165 f.Vaihinger beklagt diesbezüglich, dass Kants Argumentation in eine „petitio principii“ (Vaihinger 1922b, S. 165) läuft. Vgl. Michel 2003, S. 26 – 37. Vgl. Allison 1983, S. 83. Vgl. hierzu auch die Vorüberlegungen in Kapitel 0.1. Michel 2003, S. 45. Mit Rekurs auf Kants Logikverständnis macht Michel deutlich, dass sich die Verschiedenheit von Zeiten bei Kant nicht aus dem Begriff der Verschiedenheit gewinnen lässt, denn dieser rekurriert nur auf eine logische Differenz von A und non-A. Diese logische Differenz ist aber gegenüber der zeitlichen Differenz indifferent. Aus dem bloßen Begriff der Verschiedenheit von A und non-A kann nicht geschlossen werden, dass A früher oder später als non-A sein muss. Vgl. Michel 2003, S. 44 f.
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Oder um es mit Kants Worten auszudrücken: Die Vorstellungen sind nicht nur inhaltlich verschieden, sondern auch an „verschiedenen Orten“³². Kant ändert im ersten Argument die Formulierung „außer einander“³³ zu „außer und neben einander“³⁴. Prauss interpretiert diese Änderung dahingehend, dass Kant damit den Raum deutlicher von der Zeit unterscheiden will, da auch die Zeit zwischen Inhalten differenzieren kann und folglich Inhalte außereinander vorstellt. Prauss betont: „Space and time are alike in being conditions for the possibility that a manifold of items can appear outside one another.“³⁵ Inhalte nebeneinander vorzustellen, wäre demnach eine spezifisch räumliche Vorstellungsweise.³⁶ Obwohl diese Überlegung der Sache nach von Interesse ist, macht bereits Patt darauf aufmerksam, dass Kant vermeidet, „von den Dingen, sofern sie in der Zeit sind, ein Außereinandersein auszuzusagen[, da] Raum und Zeit […] eine je andere Art von Verschiedenheit der Dinge zur Folge [haben]“³⁷. Wie Marc-Wogau in diesem Zusammenhang beklagt, lesen wir so gut wie nichts über diesen „Unterschied zwischen Raumform und Zeitform unabhängig von der Beziehung zum ‚Sinne‘“. Stattdessen „vermissen wir bei Kant“³⁸ eine Ausführung dazu. Es liegt im Sinne einer textimmanenten Auslegung nahe, dass es an dieser Stelle in der Erörterung bzw. bei der Formulierungsergänzung um einen anderen Punkt geht als um denjenigen, den Prauss sachorientiert hineininterpretiert. Wie Baum nämlich verständlicherweise erklärt, erhob in diesem Kontext Kants enger Vertrauter Lambert 1769 Einwände gegen Wolffs Ontologie, die Kant wohlbekannt waren. Nach Lambert ist das Wort außereinander zweideutig, da es zum einen eine logische und zum anderen eine räumliche bzw. topologische Verschiedenheit meinen kann. Lambert führt dabei gegen Wolff ins Feld, dass Letzteres nicht auf Ersteres reduziert werden kann, denn um die räumliche Verschiedenheit vorzustellen, muss die Vorstellung des Raums hinzugezogen werden. Nach Baum geht es bei der Formulierungsänderung Kants also in erster Linie darum, zu unterstreichen, dass mit „außer einander“ keine logische Differenz, sondern eine reale räumliche Mannigfaltigkeit gemeint ist.³⁹ Simon spricht im Zuge dessen von ei-
B38|A23. A23. B38. Prauss 1982, S. 2. Vgl. Prauss 1982, S. 2. und insbesondere die Zustimmung bei Cramer 1985, S. 77 Anm. Siehe ferner im Ansatz auch Höffe 2003, S. 87 und Mohr 1991, S. 145 f. Patt 1987, S. 189. Marc-Wogau 1932, S. 170. Vgl. Baum 1996, S. 59 – 62. Vgl. neuerdings auch die Zustimmung zu Baums Erklärung bei Heidemann, D. 2018, S. 33 f.; ferner S. 27 f.
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nem „amphibolischen“ Doppelsinns des Worts „Außer“⁴⁰, den es in der transzendentalen Ästhetik zu vermeiden gilt. Um dies klarzustellen, fügt Kant die Charakterisierung des Nebeneinanders hinzu. Baums Interpretation stützt sich neben den entsprechenden Stellen bei Lambert auch durch den Verweis auf folgende Stelle aus Kants MDS: „Der Ausdruck: ein Gegenstand ist außer mir, kann aber entweder so viel bedeuten, als: er ist ein nur von mir (dem Subject) unterschiedener, oder auch ein in einer anderen Stelle (positus) im Raum oder in der Zeit befindlicher Gegenstand.“⁴¹ Im Hinblick auf das erste Argument lässt sich festhalten, dass die Betonung der topologischen Differenz sinnlicher Inhalte die erste Prämisse darstellt, auch wenn sie von Kant nicht explizit als solche deklariert wird. Diese Verschiedenheit von Inhalten führt sodann zu Kants zweiter Prämisse, wonach solche Vorstellungen nur außereinander bzw. numerisch und topologisch different vorgestellt werden können, wenn eine grundsätzliche Vorstellung des Außereinanders epistemologisch vorangeht. Kant drückt diesen Umstand wie folgt aus: Damit ich die Inhalte „nicht bloß verschieden, sondern als in verschiedenen Orten vorstelle[] […], dazu muß die Vorstellung des Raumes schon zum Grunde liegen“⁴². Da ein anschauendes Subjekt nach der ersten Prämisse räumliche Vorstellungen besitzt, muss es in Verbindung mit der zweiten Prämisse auch eine Grundvorstellung haben, die nicht wiederum aus diesen einzelnen, empirisch bedingten Vorstellungen hervorgeht. Dass das Subjekt den Raum als eine solche Grundvorstellung besitzt, drückt Kant damit aus, dass er den Raum als nicht abstrahierten Begriff hervorhebt, womit er Leibnizʼ Position gegen Clarke direkt wider-
Simon 2003, S. 279. Vgl. hierzu Simon 2003, 276 – 295. AA VI, 245. B38|A23. Hierzu erklärt Warren: „For, given that the representation of ʽbrighter thanʼ relations does not presuppose the representation of brightness-space, we can form the latter representation from the former. By contrast, in the case of spatial (or temporal) relations, we cannot proceed in an analogous fashion, forming the representation of space (or of time) from a concept of spatial (or temporal) relations which has been independently acquired, and more specifically, which has been independently acquired from experience.“ (Warren 1998, S. 204). In kritischer Auseinandersetzung mit Warren betont Allais allerdings, dass es gerade nicht das Ziel des Arguments ist, zu zeigen, dass Partikularitäten im Raum durch eine einheitliche Raumvorstellung bedingt sind, sondern dass dies eine Prämisse des Arguments darstellt: „In other words, the idea that space is a necessary condition of individuating or distinguishing objects does play a central role in the argument, but as a premise, and not a conclusion.“ (Allais 2009, S. 410). Vgl. ferner Allais 2009, S. 385. Vgl. hierzu auch die Kritik von Messina an Warren in Messina 2015, S. 446 ff. Dieser Sachverhalt ist wichtig für das Verständnis der Argumentation und ferner für die Frage, wieso Kant diese These als Prämisse einfach voraussetzen kann. Siehe hierzu weiter unten in diesem Kapitel.
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spricht.⁴³ Das Argument ist zunächst logisch nachvollziehbar und bildet keine Tautologie, denn es wird nicht einfach vorausgesetzt, dass der Raum kein abstrahierter oder empirischer Begriff bzw. eine Form ist, sondern es wird mit Kants zweiter Prämisse ein Bedingungsverhältnis behauptet, wonach empirische Vorstellungen auf die Vorstellung des Raums angewiesen sind, um als äußere Inhalte gelten zu können. In Verbindung mit der ersten Prämisse schließt Kant daraus, dass der Raum keine empirisch abstrahierte Vorstellung sein kann.⁴⁴ Allison betont vor diesem Hintergrund zu Recht, dass der Vorwurf einer Tautologie irreführend im Hinblick auf das Verständnis der Argumentation ist, da es suggeriert, Kant würde den Raum als nicht abstrahierte Vorstellung bzw. die Konklusion mit der zweiten Prämisse einfach voraussetzen, was aber – wie gesehen – nicht der Fall ist.⁴⁵ Einerseits ist Michel somit gegenüber Al-Azm dahingehend Recht zu geben, dass die Argumentation im ersten Argument der metaphysischen Erörterung nicht tautologisch ist, andererseits geht sie sicherlich zu weit, wenn sie darüber hinaus meint, dass Kant im § 1 mit der Formthese nur das Ergebnis der Ästhetik vorwegnähme und das erste Argument völlig unabhängig von dieser Formthese wäre bzw. die Argumentation in der Ästhetik die Formthese erstmals begründen würde.⁴⁶ Gerade die zweite Prämisse der obigen Argumentation ist der nervus probandi dieses Arguments, das nicht ohne irgendeine Variante der Formthese auskommt. Zu Recht gibt daher Kemp Smith zu bedenken, dass Kant zwar scheinbar im ersten Argument die Formthese nicht in Anspruch nimmt, indem er mit der zweiten Prämisse die Behauptung einführt, dass die „Vorstellung des Raumes schon zum Grunde liegen“ muss, damit gewisse Empfindungen „auf Vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 0.4 und ferner schon obige Anmerkung 24 im hiesigen Kapitel 2. Das erste Zeitargument verläuft prinzipiell analog – wenn auch mit Unterschieden im Detail: „Im ersten Zeit-Argument führt Kant den Nachweis, daß die Zeitvorstellung kein von irgendeiner Erfahrung abstrahierter Begriff ist. Für die Raumvorstellung wird komplementär dazu nur geltend gemacht, daß sie nicht von äußeren Erfahrungen abstrahiert sein kann.“ (Michel 2003, S. 53). Vgl. ferner Michel 2003, S. 55 f. Vgl. Allison 1983, S. 83. Auch Cohen verteidigt Kant gegen den „Vorwurf des Zirkelschlusses“ (Cohen 1918, S. 132) im ersten Raumargument. Cohen will Kant in Schutz nehmen, indem er betont, dass er an dieser Stelle noch von keinem Begriff a priori spricht. Für die negativ formulierte Konklusion, wonach der Raum kein empirischer Begriff ist, benötige Kant die Konzeption einer apriorischen Vorstellung gar nicht.Vgl. Cohen 1918, S. 132. Folgt man Cohen, stellt sich jedoch die Frage, was es sonst bedeuten kann, dass die Raumvorstellung zu Grunde liegen muss. Cohen gesteht selbst ein, dass dies erst mit den nächsten Argumenten (insbesondere der transzendentalen Erörterung) erklärlich wird, wodurch aber das erste Argument „in der Tat“ im Hinblick auf die Erklärung „nicht vollständig“ (Cohen 1918, S. 132) sein kann. Dies würde dann aber dem Status des ersten Arguments als eigenständigem Argument schaden. Vgl. Michel 2003, S. 5 f. Ähnlich im Ansatz schon zuvor bei Baum 1996, S. 45.
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etwas außer mir bezogen werden“⁴⁷ können, doch diese Behauptung bildet nach Kemp Smith letztlich nur eine Wiederholung der Formthese, wonach etwas als Äußeres nicht ohne die Grundvorstellung von Äußerem vorgestellt werden kann.⁴⁸ Bereits Vaihinger identifiziert dies im Anschluss an Cohen als problematische Voraussetzung, die Kant nicht weiter begründet. Al-Azm betont im Hinblick auf die zweite Prämisse: „We should be clear that Kant has not really ʻprovedʼ that ʻtime is not to be met with in sensationʼ, he simply established it by definition.“⁴⁹ Willaschek geht dagegen einen anderen Weg und meint, Kant würde in der Formulierung der Formthese, wonach eine Form „nicht selbst wiederum Empfindung sein kann“, durch das Wort „wiederum“⁵⁰ ansatzweise eine reductio ad infinitum andeuten: „Mit dem Wort ,wiederumʻ scheint Kant als Argument für seine Behauptung anzudeuten, daß sich sonst ein Regreß ergeben würde. (Man würde eine Form brauchen, in der sich die empfundene Ordnung ,wiederumʻ ordnet, und so weiter).“⁵¹ Selbst wenn man Kant hier wohlwollend ein solches Argument unterstellen wollte, scheint die Überzeugungskraft im Hinblick auf Kants Anspruch bezüglich der Kopernikanischen Wende zu schwach, wie schließlich auch Willaschek selbst zugesteht: Das ist aber nur dann zwingend, wenn man zwei zusätzliche Annahmen macht: Zunächst würde sich ein Regreß nur dann ergeben, wenn keine Empfindung sich selbst ordnet; würde es dagegen Empfindungen geben, zu deren Gehalt es gehört, mit anderen Empfindungen in bestimmten Beziehungen zu stehen […], so wäre offenbar nicht unbedingt eine weitere Ordnungsrelation nötig, um sich selbst einzuordnen. […]. Doch selbst wenn man dies[] zugesteht, gilt das Regreßargument nur für umfassende Ordnungsstrukturen, die sich auf alle Empfindungen beziehen sollen. Andernfalls wäre es nämlich denkbar, daß wir Empfindungen von zwei oder mehr unterschiedlichen Ordnungsmustern haben, die sich ,gegenseitigʻ ordnen.⁵²
B38|A23. Vgl. Kemp Smith 1923, S. 87. Vgl. auch Allais 2009, S. 411. Auch Cramer erscheint das erste Argument redundant im Hinblick auf Kants Einführung der Formthese in den Vorbemerkungen in §1. Vgl. Cramer 1985, S. 77. Vgl. darüber hinaus Brandt 1998, S. 88 ff. und ferner Strawson 1966, S. 57 f. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass Kant in diesem Argument das Wort Form nicht benutzt, wie Baum betont, um Kants Argument an dieser Stelle zu verteidigen. Vgl. Baum 1996, S. 44 f. Vgl. hierzu auch die gegenüber Cohen kritische Anmerkung 45 aus hiesigem Kapitel 2. Al-Azm 1967, S. 40. B34|A20. Willaschek 1997, S. 550. Willaschek 1997, S. 550.
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Willaschek stellt dabei fest, dass Kant „für diese zusätzlichen Annahmen hier nicht argumentiert“⁵³. Kant muss aber eine überzeugende Begründung liefern, wenn er – wie im Vorwort zur KRV anmerkt – die Kopernikanische Wende nicht nur voraussetzen, sondern im Laufe der Argumentation der transzendentalen Ästhetik auch beweisen will.⁵⁴ Der problematische Charakter der zweiten Prämisse löst sich auch nicht dadurch auf, dass Michel das erste Argument in direkten Bezug zur Erkenntnistheorie betrachtet bzw. weiter ausholt, indem sie darauf hinweist, dass ein Subjekt einen Gegenstand nur intendieren könne, wenn eine Grundvorstellung von etwas Äußerem als Bedingung dieser Intention vorausgesetzt wird: „Das Bewußtsein vom Verhältnis des Zugleichseins bietet allererst die Grundlage für die Möglichkeit, sich in der Wahrnehmung auf einen bestimmten Gegenstand beziehen zu können […].“⁵⁵ Dies scheint aber wieder nur auf die Formthese hinauszulaufen, denn die Vertreter einer entsprechenden Gegenposition, die die Vorstellung äußerer Inhalte auch ohne eine vorhergehende Grundvorstellung des Äußeren für möglich halten, würden diese Ausführungen nicht überzeugen. Michel kommt nicht um die Voraussetzung rum, dass die Empfindung grundsätzlich formlos gegeben ist. Genau auf diese Voraussetzung in der Argumentation und ihren problematischen Charakter weisen die Interpreten aber schon seit Vaihinger hin.⁵⁶ Der grundsätzliche Kritikpunkt ist sogar im Ansatz schon bei Hegel auszumachen: Daß etwas Äußerliches in verschiedenem Orte oder Zeit vorgestellt werde, muß die Vorstellung des Raumes und der Zeit schon vorhergegangen sein. […]. Aber daß sie vorher müssen dasein, als Vorstellung zugrunde liegen, folgt nicht.⁵⁷
Entsprechend sieht beispielsweise Tetens in Kants Argument zwar keine Tautologie, akzeptiert jedoch genau diese zweite Prämisse nicht, wonach die Vorstellung von äußerlichen Differenzen eine Grundvorstellung von Äußerem überhaupt voraussetzt. Er behauptet dagegen, man könne in der Außenwelt Inhalte als äu-
Willaschek 1997, S. 550. Vgl. B XXII Anm. Ein damit zusammenhängendes, aber nicht identisches Problem stellt die sog. Trendelenburgsche Lücke dar. Während es hier im ersten Argument letztlich darum geht, zu klären, worin der Ursprung der Formen Raum und Zeit liegen kann, geht es bei der Frage nach der Trendelenburgschen Lücke darum, ob trotz des subjektiven Ursprungs Raum und Zeit nicht auch unabhängig vom Subjekt bestehen könnten. Vgl. hierzu das Kapitel 2.1.6. Michel 2003, S. 32. Vgl. Vaihinger 1922b, S. 180. Hegel 1971, S. 339 f.
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ßere Inhalte wahrnehmen, ohne die Grundvorstellung eines Raums zu besitzen.⁵⁸ Ferner ist auch für Brandt unverständlich, warum beispielsweise „unterschiedliche, sich begrenzende Farbfelder und ertastete Gestalten (gemäß Anthropologie § 17,VII 154 ff.) uns nicht im Kantischen Sinn affizieren und somit ihre Form liefern sollen“⁵⁹. Unabhängig von der Bewertung dieser kritischen Einwände oder Gegenthesen zeigt sich bereits hier, dass die zweite Prämisse im ersten Argument der Raumund Zeiterörterung für viele Interpreten alles andere als selbstevident ist. Im Bewusstsein der Interpretationsmaximen aus Kapitel 0.2 sollte es sich ein Interpret an dieser Stelle nicht zu einfach machen; vielmehr muss er sich stattdessen die Frage stellen: Wie steht eigentlich Kant selbst zu dieser zweiten Prämisse? Vor dem Hintergrund alternativer Modelle scheint für Kant diese Prämisse selbst unproblematisch zu sein. Offensichtlich erscheint ihm das Gegenkonzept hierzu, wonach eine Form mit der Empfindung gegeben werden würde, einem Wunder gleichzukommen: „Freilich ist es auch alsdann unbegreiflich, wie die Anschauung einer gegenwärtigen Sache mir diese sollte zu erkennen geben, wie sie an sich ist, da ihre Eigenschaften nicht in meine Vorstellungskraft hinüber wandern können […].“⁶⁰ Es würde für Kant letztlich darauf hinauslaufen, dass die Beziehung zum Gegenstand auf „Eingebung beruhen“ müsste. Deshalb ist für ihn die einzige sinnvolle Option, anzunehmen, dass die „Form der Sinnlichkeit […] in meinem Subject vor allen wirklichen Eindrücken vorhergeht“. Für Kant scheint es
Vgl. Tetens 2006, S. 54. Fraglich scheint an dieser Stelle, ob Tetens den Unterschied zwischen qualitativer Differenz und numerischer Differenz bei Kant berücksichtigt. Zudem liefert Tetens keine Auseinandersetzung mit Kants Prämisse; stattdessen hält er Kants These einfach seine eigene entgegen.Vgl. Tetens 2006, S. 54 und ferner auch schon Riehl 1925, S. 137. Siehe ferner unter Berücksichtigung moderner Wahrnehmungspsychologie und Neurowissenschaft Dück 2001, S. 137 ff. Brandt 1998, S. 89. Brandt sieht hier eine Spannung zwischen den Ausführungen in §1 der transzendentalen Ästhetik und §17 der Anthropologie. Diese Spannung scheint jedoch nicht zwingend zu sein. Kant würde auch das Ertasten einer Form durch den Tastsinn als durch Raum und Zeit bedingte Prozesse betrachten. Zu Recht weist daher Unruh darauf hin, dass Brandts Beispiele alle „Fälle empirischer Formen“ (Unruh 2007, S. 137 Anm.) darstellen. Auch Allison verteidigt Kant gegen den Tautologie-Vorwurf, stellt aber ebenfalls die zweite Prämisse in Frage, indem er zu bedenken gibt, dass es auch nicht-menschliche Sinneswesen geben könnte, die nicht auf die Grundvorstellung eines Raums angewiesen sind, um sich die numerische Differenz von Objekten klar zu machen. Vgl. Allison 1983, S. 83 f. Dieser Möglichkeit war sich aber auch Kant bereits bewusst.Vgl. B43|A27 und den Einschub in der zweiten Auflage auf B33. Es ist somit davon auszugehen, dass er selbst diese Möglichkeit für unproblematisch hielt. Bei Allisons Hinweis stellt sich vielmehr die Frage, wie eine räumliche Vorstellung ohne die grundsätzliche Vorstellung eines Äußeren denkbar sein soll. Diese Frage stellt sich analog auch bei Patt. Vgl. Patt 1987, S. 200. AA IV, 282.
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schlichtweg absurd, im Anschluss an Brandt oder Tetens anzunehmen, dass Formen durch eine Affektion mit „hinüber wandern“⁶¹ könnten. Doch was für Kant abwegig erscheint, scheint seine Interpreten zur Kritik anzuregen. Es wirkt an dieser Stelle so, als stünde damit Kants These einfach gegen die These einiger seiner Interpreten. Rohs meint sogar, dass „Kant selbst […] auf diesen Einwand nie explizit zu sprechen gekommen“⁶² wäre. Fraglich wird jedoch in Anbetracht der Ausführungen im Kapitel zur vorkritischen Phase, ob man in letzter Konsequenz Kants Denkweg gerecht wird, wenn man seine Formthese lediglich als unbegründete These bzw. Prämisse versteht. Parsons gibt zu Recht zu bedenken, dass Kant das vorausgesetzte Bedingungsverhältnis auf räumliche Verhältnisse einschränkt und es gegen eine relationistische Raumposition im Sinne von Leibniz ins Feld führt. Der zweiten Prämisse geht somit die Auseinandersetzung aus der vorkritischen Phase und Kants Einsicht voraus, wonach für räumliche Verschiedenheit Einheit vorausgesetzt werden muss. Wie Parsons andeutet, scheint es für eine Rekonstruktion der Argumente der transzendentalen Ästhetik unentbehrlich zu sein, einzelne Argumente und Thesen in der Ästhetik im Hinblick auf Kants Beschäftigung mit den Themen Raum und Zeit in der vorkritischen Phase zu berücksichtigen.⁶³ Wie in Kapitel 1 gesehen, vertritt Kant bereits lange vor der KRV die sog. Formthese. Er setzt die Auseinandersetzung mit dem Reflexionsbegriffspaar Materie und Form gleich an den Anfang von De mundi. Die Form hat dort – wie auch in der KRV – die Aufgabe, „das Empfundene, das von der Gegenwart des Gegenstandes herrührt, einander beizuordnen. Denn durch Form oder Gestalt treffen die Gegenstände die Sinne nicht […].“⁶⁴ Auch wenn Kant in De mundi nicht die systematische Reife wie später in der KRV aufweist und eine andere Position zur Kosmologie hat, entsprechen die Äußerungen an dieser Stelle
AA IV, 282. Vgl. zu dieser Stelle in den Prolegomena Shabel 2012, S. 71 f. Sie spricht hier begreiflicherweise von einer reductio ad absurdum bezüglich Kant Argumentation an dieser Stelle. Eine solche reductio ad absurdum würde aber beispielsweise Tetens der Sache nach nicht akzeptieren. Vgl. Tetens 2006, S. 49 – 71. Darauf macht auch Gloy am Ende ihrer Rekonstruktionsbemühungen im Hinblick auf Kants Raumtheorie aufmerksam. Vgl. Gloy 1984, S. 34– 37. Rohs 1975, S. 291. Vgl. Parsons 1992, S. 67 ff. Parsons verweist im Zusammenhang mit den ersten beiden Argumenten der Ästhetik auf folgende Stelle in De mundi: „Denn ich kann etwas nicht als außer mir gesetzt erfassen, wenn ich es nicht als an einem Orte vorstelle, der von dem, an dem ich selbst bin, verschieden ist, und die Dinge nicht als außereinander, wenn ich sie nicht an verschiedene Orte des Raumes stelle.“ (WW V, 57). Vgl. hierzu weiter unten in diesem Kapitel und die Ausführungen in Kapitel 1.3 und 1.4 – insbesondere die Auseinandersetzungen mit Kants Schrift Über die Gegenden. Vgl. ferner die Kritik an Allisons Interpretation bei Warren 1998, S. 183 – 187 und seine Zustimmung gegenüber Parsons auf S. 202. WW V, 31.
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der Formthese aus § 1 der KRV. Im Gegensatz zum ersten Paragraphen der KRV heißt es hier jedoch weiterführend: „[…] [U]nd deshalb ist, damit das Mannigfaltige des Gegenstandes, das den Sinn affiziert, zu irgendeinem Ganzen der Vorstellung zusammenwachse, ein innerer Grund der Erkenntniskraft erforderlich […].“⁶⁵ Kant sieht sich hier gezwungen, die Formthese gleich zu Beginn von De mundi einzuführen, da sich sonst nicht erklären ließe, wie die Vorstellungen zu einem „Ganzen […] zusammenwachse[n]“ könnten. An dieser Stelle ließe sich aus der Position von Tetens heraus einwenden, dass man „[s]elbstverständlich […] in der Außenwelt etwas wahrnehmen [kann] […], ohne schon die Vorstellungen oder Begriffe des Raumes, des Ortes, eines vom eigenen Standort verschiedenen Ortes und so weiter gebildet zu haben […]“⁶⁶. Doch genau dagegen liefert Kant in De mundi einen Einwand, den wir in dieser Form nicht im ersten Paragraphen der KRV finden. Kant schreibt: Denn dadurch, daß man mehreres zusammenfaßt, bringt man ohne Mühe ein Ganzes der Vorstellung zustande, deshalb aber nicht schon die Vorstellung eines Ganzen. Wenn sich deshalb etwa gewisse Ganze von Substanzen fänden, die durch keine Verknüpfung miteinander verbunden wären, so würde ihre Zusammenfassung, mittels derer die Erkenntniskraft eine Menge in ein ideales Eines zwingt, nichts weiter besagen als eine Mehrzahl von Welten, die von Einem Gedanken umgriffen sind.⁶⁷
Würde die Form also auf eine Affektion zurückgehen, dann wäre für Kant nicht erklärlich, dass die Welt als ein Ganzes vorgestellt wird, da ein synthetisches Bündeln stets zu spät kommt, um eine kontinuierliche und holistische Vorstellung der Welt zu ermöglichen, die Kant aber bereits seit mindestens 1768 benötigt, um zwischen unterschiedlichen Richtungen im Raum unterscheiden zu können.⁶⁸ Mit
WW V, 31. Tetens 2006, S. 54. Unruhs Bekräftigung der These Falkensteins, wonach die Raumvorstellung „deswegen nicht aus den Empfindungen zu extrahieren [sei], weil räumliche Beziehungen zwischen Empfindungen [im Unterschied zu Farbunterschieden] nur festgestellt werden könnten, wenn sie in einer gewissen, nämlich der räumlichen Ordnung vorgestellt würden“ (Unruh 2007, S. 176 Anm.), ist im Grunde keine argumentative Bekräftigung, sondern lediglich die Wiederholung der kantischen Formthese. Tetens würden solche Äußerungen nicht überzeugen, da sie seiner These einfach gegenübergestellt werden. Da Unruh in seiner umfangreichen Untersuchung zum Raumkonzept bei Kant nur nebensächlich auf Kants Konzeption in De mundi eingeht, entgeht ihm die Möglichkeit, Kants Argument für seine Formthese im Hinblick auf die transzendentale Ästhetik zu rekonstruieren. WW V, 23. Sicherlich ließe sich hier einwenden, dass somit die Formthese auf den grundsätzlichen Unterschied von Anschauung und Begriff und deren Verständnis bei Kant rekurrieren muss. Beispielsweise ließe sich aus einer empiristischen Position heraus fragen, ob nicht trotz der Af-
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Blick auf den Raum deutet Kant diese Zusammenhänge in einer Reflexion zu dieser Zeit an: Weil wir nicht bloß den Raum des objects, was unsre Sinne rührt, sondern den Gantzen Raum anschauend erkennen, so muß der Raum nicht bloß aus der wirklichen rührung der Sinne entspringen, sondern vor ihr vorhergehen.⁶⁹
Heidemann hat jüngst den völlig richtigen Hinweis gegeben, dass die Schrift Über die Gegenden „eine Vorform des ersten Raumarguments enthält oder dieses doch wesentlich vorbereitet“. Denn die „dort gegen Leibniz (und seine Anhänger) entwickelten Einwände zeigen letztlich, warum Kant im ersten Raumargument überhaupt der Auffassung sein kann, dass wenn ich Gegenstände als ,außer mirʻ bzw. ,außer und neben einanderʻ vorstelle, ich sie damit im Raum vorstellen muss, da die ,Vorstellung des Raumesʻ der äußeren Erfahrung schon zugrundliegt“. Gleichzeitig merkt Heidemann kritisch an, dass dieser Zusammenhang „von der Forschung kaum einmal gesehen“⁷⁰ wurde. Wie auch immer also Kants Argumentation weiter bewertet wird, ist zumindest an dieser Stelle klar, dass Kant die Formthese mit einem Argument für sich begründet, welches er bei der Veröffentlichung der KRV im Jahr 1781 mindestens schon elf Jahre kennt. Es ist zwar im Hinblick auf die Argumentation in der transzendentalen Ästhetik kritisch zu
fektion – also dem Empfangen einer Vielheit von Eindrücken – eine Begriffsbildung durch Reflexion möglich wäre, die diese Vielheit als eine holistische Einheit denkt. Der entscheidende Punkt – so könnte man aus Kants Ansatz heraus entgegnen – ist jedoch, dass die holistische Einheit nicht abgeleitet, sondern ursprünglich sein muss. Das zeigt die Auseinandersetzung mit der Schrift Über die Gegenden im Kapitel 1.3. Kant begründet dort u. a., dass die ursprüngliche Vorstellung des Raums eine Einheit darstellen muss, da diese nach Kant für unsere Orientierung im Raum notwendig ist. Diese Auseinandersetzung offenbart, dass Kant bereits 1768 Argumente für eine ursprünglich holistische Raumvorstellung vorweisen kann, die 1770 dazu führen, dass er sich diese Vorstellung als eine reine Anschauung denkt. All dies führt dazu, dass Kant die transzendentale Ästhetik nicht in extenso ausformuliert. Das hängt möglicherweise auch damit zusammen, dass bereits elf Jahre zurückliegen, seit Kant seine Raumzeittheorie grundgelegt hat und er sich in der Zwischenzeit verstärkt auf die Denkvermögen konzentriert hat. Vgl. hierzu Kapitel 1.5. Umso wichtiger ist es jedoch, die Interpretationsmaximen aus Kapitel 0.2 zu beherzigen und diese Zusammenhänge aus der vorkritischen Zeit mitheranzuführen, um die volle Wirkkraft der transzendentalen Ästhetik entfalten zu können. Die Bedeutung des Zusammenhangs zwischen der vorkritischen und der kritischen Phase ist übrigens auch kein Einzelfall. Gloy zeigt, dass auch bezüglich der Dichotomie zwischen Begriff und Anschauung in §1 genetische Zusammenhänge wichtig sind. Vgl. Gloy 1984. Vgl. ferner auch Mihaylova 2015, S. 53 – 76. Refl. 4189, AA XVII, 450. Heidemann, D. 2018, S. 35. Einen ersten Zusammenhang zwischen dem ersten Raumargument und Kants Schrift von 1768 stellt Buroker her, die zumindest von einer Kompatibilität beider Gedankengänge spricht. Vgl. Buroker 1981, S. 76.
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sehen, dass Kant diese These dort nicht explizit begründet, doch für Kant scheint der § 1 eine Einleitung in die Erörterung zu sein, die Thesen einführt, die er größtenteils bereits 1768 und 1770 aus seiner Sicht begründet hat. Dieser Zusammenhang zeigt, dass Kants Darstellung in der metaphysischen Erörterung alles andere als unmittelbar zugänglich ist. Stattdessen gilt es hier, Dücks Hinweis zu unterstreichen: Was Kant in den vier Raumargumenten zu seiner Theorie des Raumes ausführt, weist zwar an einigen Stellen Beweisstruktur auf, ist aber in Anbetracht der vielen impliziten Prämissen eher als Entwurf einer Beweisführung zu verstehen. Vergegenwärtigt man sich zusätzlich noch die ausführliche Diskussion des Raumproblems zu Kants Zeiten (vergl. Abschnitt 1.) und die Akribie, mit der er sich mit diesen Positionen auseinandergesetzt hat (siehe Abschnitt 2.), so stellt diese metaphysische Erörterung des Raumes innerhalb der KrV nicht mehr als ein Destillat dar.⁷¹
Auch Baum warnt vor allzu „leichtfertige[n] Kritiken“ bezüglich der Argumente in der transzendentalen Ästhetik, die „bei manchen Kant-Forschern der Gegenwart“ auszumachen ist, weil man sich von der „trügerische[n] Leichtverständlichkeit der Anfangspartien der Kritik“ zu einem Urteil verleiten lässt, wonach die Argumente „augenscheinlich haltlos sind“⁷². Für eine abschließende Bewertung der kantischen Argumentation bezüglich der Idealität von Raum und Zeit reicht es somit nicht aus, Kants Prämissen als unbegründete Thesen abzulehnen. Hierfür wäre es im Hinblick auf die Interpretationsmaximen aus Kapitel 0.2 notwendig, zuvor in Kants gedanklicher Entwicklung eine Begründung dieser Prämissen nach dem hermeneutischen principle of charity zu suchen.⁷³ Auf diesen Aspekt macht Mihaylova daher zu Recht aufmerksam: Damit wird auch deutlich, dass der Theorie der Sinnlichkeit, so wie sie in Kritik der reinen Vernunft vorgestellt wird, eine sehr umfangreiche argumentative Entwicklung vorhergeht, die viele Aspekte der Transzendentalen Untersuchung vorwegnimmt und deutlich werden lässt.⁷⁴
Und auch Al-Azm deutet diesen Zusammenhang an: „[T]he theory of time expounded in the Dissertation is essentially the same as the one expounded in the
Dück 2001, S. 72. Vgl. ähnlich auch Messina 2015, S. 453. Baum 1996, S. 42. Vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 0.2. Mihaylova 2015, S. 68.
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Aesthetic“. Deshalb zählt er diese Teile aus De mundi „to the critical period“⁷⁵.Wie Heidemann ferner im Hinblick auf das erste Argument der transzendentalen Ästhetik betont, haben die philosophiegeschichtlichen Zusammenhänge bzw. der Rekurs auf die Schriften vor der KRV zumindest einen „für das Argument selbst explanatorischen Wert“⁷⁶.
2.1.3 Das zweite Argument der transzendentalen Ästhetik Unabhängig von der Bewertung des ersten Arguments steht die Argumentation im weiteren Verlauf der Erörterung in einem engen Verhältnis zum zweiten Argument: Da das Ergebnis des ersten Arguments negativ, das des zweiten dagegen positiv formuliert ist, spricht Vaihinger von einem „Theorem mit zwei Beweisen“⁷⁷. Das zweite Raumargument bzw. Zeitargument stellt dabei ein Novum dar, da dieses in dieser Form nicht in De mundi zu finden ist.⁷⁸ Kant beschreibt Raum und Zeit hier nicht nur als zugrunde liegende Vorstellungen von „gewisse[n] Empfindungen“⁷⁹, wie im ersten Argument, sondern als Vorstellungen, die sich grundsätzlich und unabhängig von der Empfindung „nicht aufheben“⁸⁰ lassen. Es lässt sich nach Kant im Hinblick auf die „Wirklichkeit der Erscheinungen“⁸¹ nicht vorstellen, dass „kein Raum [oder keine Zeit] sei“⁸². Tetens beschreibt diese Prämisse treffend damit, dass die Vorstellung des Raums nach Kant nicht weggedacht werden kann, „ohne jede Anschauung oder anschauliche Vorstellung überhaupt aufzulösen“⁸³. Ferner betont auch Cohen, dass es hier im Unterschied zum ersten Al-Azm 1967, S. 29. Gleichwohl scheint Al-Azm vor dem Hintergrund seines eingangs dargestellten Tautologie-Vorwurfs diesen Zusammenhang nicht genug berücksichtigt zu haben. Heidemann, D. 2018, S. 30. Vaihinger 1922b, S. 197. Vgl. ferner Allison 1983, S. 82. Allein schon vor diesem Hintergrund sollte man vorsichtig damit sein, die transzendentale Ästhetik als „deutsche Bearbeitung der Dissertation“ (Vaihinger 1922b, S. 411 Anm.) zu betrachten, wie Unruh berechtigterweise – aber aus anderen Gründen – an Vaihinger und Koriako kritisiert. Vgl. Unruh 2007, S. 146 Anm. Stattdessen ist, wie sich dies bereits weiter oben zeigte, bei der Untersuchung der transzendentalen Ästhetik von der interpretativen Notwendigkeit auszugehen, die Ausführungen aus De mundi miteinbeziehen zu müssen, wenn man eine umfängliche Darstellung, Analyse und Bewertung der kantischen Ästhetik anstrebt. B38|A23. B46|A31. B46|A31. B38|A24. Tetens 2006, S. 55. Das zweite Zeitargument drückt diesen Punkt deutlicher aus als das zweite Raumargument, welches suggeriert, dass man gar nicht vom Raum abstrahieren könne – nicht einmal gedanklich. Vgl. B46|A31. Vgl. diesbezüglich Michel 2003, S. 55 – 67.
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Argument „nicht bloß [um] das örtliche Verhältnis [geht]“. Stattdessen betont Kant im zweiten Argument, dass „der Gegenstand selbst […] durch die Vorstellung des Raumes bedingt [wird]“⁸⁴. Im Zusammenhang mit der These, dass etwas, das in Anbetracht der Anschauung nicht weggedacht werden kann, notwendigerweise der Anschauung zugrunde liegen muss, schlussfolgert Kant, dass Raum und Zeit apriorische Vorstellungen sind. Nach der negierten Formulierung im ersten Argument, wonach Raum und Zeit keine aus der Erfahrung gewonnenen Vorstellungen sind, konkludiert Kant im zweiten Argument, dass Raum und Zeit „Vorstellung[en] a priori“⁸⁵ sein müssen. In diesem zweiten Argument springt Kant allerdings von der These einer subjektiv-relativen Unmöglichkeit, sich den Raum (und die Zeit) „in Ansehung der Erscheinungen“⁸⁶ völlig wegzudenken, auf die Behauptung, dass Raum und Zeit ursprünglich keine Bestimmungen der Erscheinung sein können. Eine Begründung, wieso beispielsweise der Raum keine „anhängende Bestimmung“⁸⁷ der äußeren Erscheinung sein soll, liefert dieses Argument – wie beispielsweise Kemp Smith beklagt – hier nicht.⁸⁸ Patt gibt zu bedenken: Daß wir den Raum (und die Zeit) nicht wegdenken können, könnte indessen eine bloß empirische Notwendigkeit sein […]. Es könnte sein, daß wir immer nur dann, wenn wir Dinge als außer uns seiend wahrnehmen, den Raum mit-vorstellen. Dann läge das Verhältnis der wechselseitigen Implikation vor: Nehmen wir Dinge als außereinander seiend wahr, so stellen wir zugleich den Raum als den ʻRahmenʼ dieses Außereinanderseins vor, und haben wir eine Vorstellung vom Raum, so werden zugleich Dinge als in ihm befindlich wahrgenommen. Vorrangig in dieser Implikation sind die äußerlich wahrnehmbaren Dinge: Raum wird nur bei Gelegenheit von außereinander existierenden Dingen vorgestellt.⁸⁹
Damit scheint Kant also mehr zu beanspruchen, als sein Argument leisten kann, denn die Argumentation zeigt lediglich, dass die Raum- und Zeitvorstellung für das erkennende Subjekt notwendig ist. Selbst wenn berücksichtigt wird, dass es hier ferner um einen epistemologischen Punkt geht, wie einige Interpreten betonen, folgt daraus nicht ohne Weiteres, dass Raum und Zeit nicht auch unab-
Cohen 1918, S. 140. B38|A24. B46|A31. B39|A24. Vgl. Kemp Smith 1923, S. 105. Der Schluss von relativer Notwendigkeit auf absolute Notwendigkeit bzw. der Übergang von der Raumvorstellung zum Raum selbst wurde von vielen Interpreten kritisiert. Vgl. hierzu sowohl Vaihinger 1922b, S. 197– 202; S. 370 f. als auch Brandt 1998, S. 98 sowie ferner Tetens 2006, S. 55 f. Vgl. hierzu auch den Vorwurf der Trendelenburgsche Lücke und die Diskussion hierzu in Kapitel 2.1.6. Patt 1987, S. 198 f. Vgl. ferner im Ansatz auch bei Strawson 1966, S. 66.
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2 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der Kritik der reinen Vernunft
hängig vom Subjekt vorliegen bzw. keine anhängenden Bestimmungen sein könnten.⁹⁰ Andere Interpreten sehen hier daher einen Sprung oder besser gesagt eine Lücke in Kants Argumentation, die unter den Namen Trendelenburgsche Lücke in die Kant-Literatur eingegangen ist. Diese Kontroverse dauert bis heute an. Eine Diskussion bezüglich dieser Problematik soll jedoch weiter unten in Kapitel 2.1.6 nach der Besprechung der nächsten beiden Argumente erfolgen, da diese bei der Diskussion berücksichtig werden müssen bzw. in der Kant-Literatur auch regelmäßig herangezogen werden, um das zweite Argument in dieser Hinsicht zu diskutieren. Wie eingangs bereits erwähnt, betont Baum richtigerweise, dass nicht ein einzelnes Argument per se die transzendentale Idealität von Raum und Zeit nachweisen soll, sondern alle zusammen. Entsprechend sind die „ersten beiden Raumargumente […] notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzungen des Beweises für die transzendentale Idealität des Raumes“⁹¹, da sie – wie gerade gesehen – zunächst nur zeigen sollen, dass sie eine nicht-empirische Vorstellung a priori darstellen. Zunächst wäre es mit den beiden ersten Argumenten vereinbar, dass Raum und Zeit – ähnlich wie die Kategorien – apriorische Begriffe darstellen. Dass sie aber keine Begriffe, sondern Anschauungen sind, sollen schließlich die nächsten beiden Argumente zeigen.
2.1.4 Das dritte Argument der transzendentalen Ästhetik Wie bereits erwähnt, konstatiert Vaihinger, dass die ersten beiden Argumente zeigen sollen, dass Raum und Zeit subjektive Vorstellungen sind, wohingegen die nächsten beiden Argumente zeigen sollen, was für eine vermögenstheoretische Art von Vorstellung Raum und Zeit darstellen. Somit hängen das dritte und das
Allison wendet gegen Kemp Smith ein, dass das Argument nicht auf eine psychologische Komponente reduziert werden kann. Stattdessen interpretiert er Kants Argument vor allem auf einer erkenntnistheoretischen Ebene. Er verweist dabei auf die erste Antinomie, wonach die sinnliche Welt insgesamt verschwinden würde, wenn der Raum als notwendige Bedingung aufgehoben wäre. Vgl. Allison 1983, S. 87 und ferner B462|A434. Auch Unruh betont an dieser Stelle, dass es nicht um einen „psychologistischen Versuch, sich den Raum aus dem Kopf zu schlagen“ (Unruh 2007, S. 180 Anm.) geht, wie er kritisch gegenüber Strawson zu bedenken gibt. Stattdessen betont Unruh die transzendentalphilosophischen Implikationen des Arguments.Vgl. hierzu ferner auch seine Kritik an Natterer in Unruh 2007, S. 184 Anm. und ferner auch schon den Hinweis in Cohen 1918, S. 140 – 144, der die Frage nach dem nicht möglichen Wegdenken von Bedingungen der Möglichkeit der Wahrnehmung von der Frage nach der Abstraktionsmöglichkeit bei der Raumvorstellung unterscheidet. Baum 1996, S. 47; siehe ferner S. 62 f.
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vierte Argument genau wie das erste mit dem zweiten Argument eng zusammen.⁹² Die beiden letzten Argumente der metaphysischen Erörterung sollen den Nachweis liefern, dass Raum und Zeit nicht ursprünglich Begriffe, sondern reine Anschauungen sind. Während das dritte Raumargument der B-Auflage zeigt, dass Teilvorstellungen nicht vor dem Raum bestehen können (wie bei Begriffen), zeigt das vierte Raumargument in der B-Auflage, dass unendliche Teilvorstellungen, die im Raum vorgestellt werden, nicht zu der Subordinationsstruktur von Begriffen passen.⁹³ In der B-Auflage wurde das dritte Raumargument aus der metaphysischen Erörterung der A-Auflage gestrichen. Die Raumvorstellung als Grundlage für die Mathematik bzw. Geometrie als synthetische Wissenschaft a priori wird stattdessen im neuen § 3 bzw. in der transzendentalen Erörterung thematisiert.⁹⁴ Das dritte Raumargument in der B-Auflage ist im Wesentlichen deckungsgleich mit
Vgl. Vaihinger 1922b, S. 209 f. Vgl. ferner Mohr 1998, S. 111 und auch Allison 1983, S. 90. Vaihinger konstatiert daher, dass es beim vorletzten Argument um den Begriffsumfang geht, wohingegen sich das letzte Argument mit dem Begriffsinhalt beschäftigt. Vgl. Vaihinger 1922b, S. 220 und S. 261 ff. – im Anschluss hieran neuerdings auch Michel 2003, S. 85. Wie in Kapitel 2.1.1 gesehen, beansprucht die transzendentale Erörterung des Raums zu zeigen, dass der Raum als subjektabhängige Form Grundlage für synthetische Urteile a priori in der Geometrie ist. Die transzendentale Erörterung der Zeit soll ferner zeigen, dass die Zeit als subjektabhängige Form Grundlage für synthetische Urteile a priori in der allgemeinen Bewegungslehre ist, wie sie vor Veröffentlichung der B-Auflage in den MAN gebraucht wird. Dieser Zusammenhang wirkt vor dem Hintergrund der Ausführungen in den Prolegomena, wonach die Zeit als reine Anschauung die Arithmetik in ihren synthetischen Sätzen ermöglicht (vgl. AA IV, 283), überraschend – zumal Kant bereits in den MAN darauf verweist, dass Bewegung und Veränderung keine im engeren Sinne reinen Begriffe, sondern eine gewisse Empirie voraussetzende Prädikabilien darstellen. Eine mögliche Erklärung hierfür könnte das Aufgreifen eines Einwurfs aus der Rezension von Garve sein. Auf diesen Zusammenhang macht bereits Vaihinger aufmerksam. Vgl. Vaihinger 1922b, S. 387 f. Zum Verhältnis zwischen reiner und angewandter Mathematik bei Kant siehe Vaihinger 1922b, S. 275 – 286. und ferner Wolff 2012, S. 150 – 158. Kemp Smith sieht in späteren Äußerungen Kants, wonach die Zeit im Gegensatz zum Raum nicht genug enthält, um eine Wissenschaft darauf aufzubauen, eine Revidierung seiner Position bezüglich der Arithmetik in den Prolegomena und den Grund, wieso Kant dieselbe nicht in der neuen transzendentalen Erörterung anführt.Vgl. Kemp Smith 1923, S. 128 f. Siehe hierzu insbesondere Kants Äußerung in der ersten Einleitung zur KU. Vgl. AA XX, 237. Klemme meint dagegen, dass bei Kant die Arithmetik von der Geometrie vorausgesetzt werden muss und Kant deshalb eine Parallelisierung beider Wissenschaften in der transzendentalen Erörterung vermeiden wollte. Vgl. Klemme 1998, S. 254 f. Siehe auch den Hinweis von Al-Azm, dass Kant sich nie in demselben Maße ausführlich mit der Grundlegung einer Wissenschaft der Zeit beschäftigt hat, wie mit einer Wissenschaft des Raums. Vgl. Al-Azm 1967, S. 6. Bezüglich Kants axiomatischem Verständnis von Mathematik im Unterschied zur Konzeption mathematischer Wahrheit bei Leibniz, siehe die Ausführungen in Al-Azm 1967, S. 16 – 20.
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dem vierten Raumargument in der A-Auflage.⁹⁵ Das dritte Raumargument der BAuflage ist somit auch mit dem vierten Zeitargument in beiden Auflagen thematisch verbunden, denn das dritte Zeitargument wurde nicht in die entsprechende transzendentale Erörterung der Zeit verlagert.⁹⁶ Cohen versucht das zu begründen, indem er darauf aufmerksam macht, dass die Zeit nach dem Raum thematisiert wird und somit auch die Ergebnisse aus der Raumerörterung vorausgesetzt werden dürfen. Diese beweisen, dass die Anschauungsformen eine Grundlage für synthetische Wissenschaft a priori bilden.⁹⁷ Allerdings erscheint dieser Ansatz bei Cohen als eine Verlegenheitsbegründung, wie Vaihinger nachvollziehbar kritisiert. Durch Cohens Interpretation wird nämlich die Sinnhaftigkeit des ganzen Aufbaus der Zeiterörterung fraglich, wenn doch die Ergebnisse der Raumerörterung bei der Erörterung der Zeit vorausgesetzt werden können.⁹⁸ Vielmehr drängt sich der Eindruck auf, dass Kants Rekurs auf das dritte Zeitargument in der transzendentalen Erörterung gegenüber der Auslagerungslösung in der Erörterung des Raums inkonsequent wirkt. Mohr konstatiert diesbezüglich aber, dass diese „Inkonsequenz in der Darstellung“ sachlich „folgenlos“⁹⁹ bleibt. Dem schließt sich auch Michel mit ihrer Rekonstruktion des Arguments an; sie gibt allerdings zu bedenken, dass Kant möglicherweise auf eine elegante Auslagerung des dritten Zeitarguments der A-Auflage bewusst verzichtet haben könnte, da er im dritten Zeitargument die Ergebnisse der ersten beiden Argumente wiederholt und das vierte Zeitargument auf das dritte bezieht. Das dritte Zeitargument ist somit (im Unterschied zum entsprechenden Raumargument) zumindest auf der textlichen Ebene bzw. sprachlich eng mit den umliegenden Argumenten verwoben. Kant hätte in Anbetracht dessen die Formulierung des vierten Zeitarguments Vgl. B39|A24 f. Dass Kant letztlich vier Argumente in der Raumerörterung liefert und in der B-Auflage entsprechend bemüht ist, den dritten Abschnitt in eine transzendentale Erörterung auszugliedern, hängt nach Michel im Anschluss an Reichs Argumentation damit zusammen, dass die Argumente die Modalität, die Relation, die Qualität und schließlich die Quantität behandeln und sich somit die Erörterung an der Zahl der Kategorien orientiert. Vgl. Michel 2003, S. 21 f. Unruh gibt dagegen zu bedenken, dass es unklar sei, wieso Kant dann nicht explizit auf diesen Zusammenhang hingewiesen hat, „zumal ihm bekanntlich nicht wenig an äußerer Systematik lag“ (Unruh 2007, S. 169 Anm.). Diese Frage Unruhs stellt sich auch bei der Parallele, die Brandt zwischen dem Aufbau der metaphysischen Erörterung in der Ästhetik und dem Aufbau der Beweisschritte der rationalen Theologie in der Dialektik sieht.Vgl. Brandt 2010, S. 16 – 21. Cohen meint, dass Kant das dritte Argument der A-Auflage in eine separate Erörterung auslagert, weil die ersten beiden Argumente die Überlegung im Hinblick auf die Geometrie „noch nicht hinlänglich vorbereitet“ (Cohen 1918, S. 165) haben. Vgl. Cohen 1918, S. 239. Vgl. Vaihinger 1922b, S. 371 f. Mohr 1998, S. 108.
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erheblich verändern müssen, um einen sinnvollen Übergang vom zweiten zum vierten Argument zu ermöglichen, was er nach Michel „offenbar vermeiden wollte“¹⁰⁰. Ob Kant aber wirklich bewusst das dritte Argument bei der Zeit (anders als beim Raum) nicht in die transzendentale Erörterung verschoben hat, nur um eine Umformulierung des vierten Arguments zu vermeiden, ist fraglich.Vor allem, wenn berücksichtigt wird, wie elementar Kant in das letzte Raumargument eingegriffen hat. Möglicherweise ist Kant hier nicht mit aller Gründlichkeit in seiner Redaktion mit dem Text verfahren. Beispielsweise bekommt der Abschnitt „Schlüsse aus obigen Begriffen“ beim Raum keinen eigenen Paragraphen zugewiesen. Der gleiche Abschnitt bei der Zeit bildet dagegen einen eigenen Paragraphen (§ 6).¹⁰¹ Auch Vaihinger spricht von „Darstellungsmängel[n] der 2. Aufl.“¹⁰². Bezüglich der Frage nach der grundsätzlichen Auslagerung der transzendentalen Erörterung macht Kemp Smith darauf aufmerksam, dass Kant ursprünglich in der apodiktischen Gültigkeit der Geometrie einen eigenen Beweis für die Subjektivität des Raums gesehen hat.¹⁰³ Kemp Smith verweist dabei auf folgende Reflexion: Das ist ein Beweis, daß der Raum eine subiective Bedingung sey, weil, da die satze davon synthetisch [a priori] seyn […], dieses unmoglich seyn würde, wenn der Raum nicht eine subiektive Bedingung der Vorstellung dieser obiecten wäre.¹⁰⁴
Nach Allison sehen viele Interpreten gerade in der apodiktischen Gültigkeit der Geometrie das stärkste Argument für Kants subjektivistische Raumtheorie.¹⁰⁵ Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass Kant diesen § 3 ursprünglich in die metaphysische Erörterung legte. Strawson geht sogar so weit zu behaupten, dass die Argumentation, die von der apodiktischen Geltung der Mathematik ausgeht, das einzige echte Argument Kants darstellt, worauf die Erörterung insgesamt letztlich reduziert werden kann.¹⁰⁶ Doch noch im Opus postumum ist Kant davon überzeugt, dass der „Beweis der Idealität des Raumes und der Zeit nicht allein durch die Möglichkeit synthetischer Sätze a priori“¹⁰⁷ gezeigt werden kann. Patt hingegen meint, dass die transzendentale Erörterung „selbst nur möglich auf
Michel 2003, S. 82. Vgl. B42 und B49. Vaihinger 1922b, S. 335. Vgl. ferner Vaihinger 1922b, S. 371 f. Vgl. Kemp Smith 1923, S. 112. Refl. 4674, AA XVII, 645. Vgl. Allison 1983, S. 104. Vgl. Strawson 1966, S. 62; S. 66 – 71. Vgl. dazu kritisch Natterer 2003, S. 122 f. und Heinrich 1986, S. 251 f. AA XXI, 351 (Hervorhebung von mir).
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dem Boden eines Beweises der Subjektivität des Raumes in der Metaphysischen Erörterung“¹⁰⁸ sei. Unabhängig hiervon scheint angesichts der Leitfrage der KRV nach der Möglichkeit von synthetischen Urteilen a priori die Auslagerung im Hinblick auf die Beantwortung dieser Frage in eine separate transzendentale Erörterung aus architektonischen Gründen bzw. in Anbetracht des formalen Aufbaus der KRV sinnvoll.¹⁰⁹ Vom inhaltlichen Aufbau her gliedern sich das dritte B-Raumargument bzw. vierte A-Raumargument und das vierte Zeitargument in zwei Teile. Im ersten Teil geht Kant zunächst davon aus, dass wir nur eine grundsätzliche Raum- und nur eine grundsätzliche Zeitvorstellung haben. Die zweite Prämisse muss nach Tetens hinzugedacht werden, weil Kant sie nicht explizit erwähnt. Sie beinhaltet sein Anschauungsverständnis bzw. geht davon aus, dass Vorstellungen, die nur durch einen einzigen Gegenstand gegeben werden können, Anschauungen sein müssen. Diesen Satz verschweigt Kant – wie Tetens richtig feststellt – im dritten BRaumargument bzw. vierten A-Raumargument, obwohl er wichtig für die Schlüssigkeit des Arguments ist. Nach Tetens schlussfolgert Kant aus diesen beiden (zum Teil impliziten) Prämissen zunächst, dass der Raum und auch die Zeit Anschauungen sein müssen.¹¹⁰ In dieser Rekonstruktion übergeht Tetens jedoch völlig die Ausführungen Kants, wonach der Raum und die Zeit „wesentlich einig“¹¹¹ sind, d. h. dass die Teile in dieser Vorstellung nur durch Einschränkung gewonnen werden können.¹¹² Dieser Punkt ist jedoch für das kontinuierliche Strukturverständnis der Anschauungen wichtig. Er macht deutlich, dass Kant sich den Raum als ein qualitatives Ganzes vorstellt. Explizit charakterisiert Kant den Raum im dritten B-Argument als „allbefassenden Raum[]“¹¹³ und auch in seiner Metaphysik-Vorlesung heißt es : „Wegen der Einheit des Raumes ist also auch nur
Patt 1987, S. 207 (Hervorhebung aufgehoben). Vgl. hierzu die einleitenden Ausführungen zur transzendentalen Ästhetik weiter oben und ferner Vaihinger 1922b, S. 333 – 336. Zum weiteren Verhältnis der transzendentalen Erörterung zur metaphysischen siehe Heinrich 1986, S. 251 ff. und die dort diskutierte Literatur. Vgl. Tetens 2006, S. 57. Allison weist diesbezüglich zu Recht darauf hin, dass Kant die im Raumargument implizite Prämisse explizit im dritten Zeitargument anspricht. Vgl. Allison 1983, S. 91 und bei Kant B47|A31. B39|A25. Vgl. B39|A25. Der Punkt, dass Teile nur durch Einschränkungen zu gewinnen sind, wird bei der Zeit erst im fünften Argument expressis verbis angesprochen. Dennoch betont Kant den holistischen Charakter der Zeit auch schon im vierten Zeitargument. Vgl. B47 f.|A31 f. Auch Dietrich sieht damit einen eindeutigen Rekurs auf das Moment der Kontinuität der Anschauungsformen in der transzendentalen Ästhetik. Vgl. Dietrich 1916, S. 34. B39|A25 (Hervorhebung von mir). Vgl. hierzu bereits die Ausführungen in Kapitel 0.1.
2.1 Raum und Zeit als Formen der Anschauung in der transzendentalen Ästhetik
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ein Raum möglich.“¹¹⁴ Allison weist daher zu Recht darauf hin, dass aus Darstellungen des Arguments wie etwa bei Tetens noch nicht folgt, dass Raum und Zeit Anschauungen sein müssen, denn nach einer solchen Rekonstruktion müssten auch Einzelbegriffe und Namen ebenfalls Anschauungen sein. Beispielsweise wäre demnach der Begriff einer Welt, wie sie in den kosmologischen Ideen auftritt, per se eine Anschauung. Kant kann jedoch nicht behaupten wollen, dass die kollektive Totalität aller Einzeldinge in der Welt in einer Anschauung unmittelbar erfasst werden kann.¹¹⁵ Ähnlich sieht das auch Wohlfart, der die Schwierigkeit jedoch nicht als Darstellungsmangel von Interpreten, sondern von Kant selbst interpretiert.Wohlfart kritisiert, dass Kant in der Ästhetik nicht gezeigt habe, dass Raum und Zeit keine Ideen seien: Gibt es nicht außer Raum und Zeit noch andere Vorstellungen, die in ihrer Art einzig sind – ein Unikum also – und als Totum ihre Teile nicht unter sich, sondern in sich begreifen und die Kant dennoch nicht als Anschauungen, sondern als Inbegriffe und d. h. doch als Begriffe bezeichnet? Ist hier nicht zuerst an die Idee vom Inbegriff aller Möglichkeiten zu denken?¹¹⁶
Vor dem Hintergrund dieser Frage konstatiert Wohlfart, dass das dritte B-Raumargument nur „hinsichtlich des Verstandesbegriffs als gelungen zu bezeichnen ist, nicht aber hinsichtlich des Vernunftbegriffs oder der Idee“¹¹⁷. Wohlfart ist zunächst dahingehend Recht zu geben, dass es auch sicherlich andere Vorstellungen als den Raum und die Zeit gibt, die kontinuierliche Gebilde vorstellen; hier sind gerade die kosmologischen Ideen zu nennen. Doch Wohlfart scheint Kant in einem zentralen Punkt misszuverstehen: Natürlich lässt sich gedanklich ein Kontinuum vorstellen und selbstverständlich sind begriffliche Vorstellungen von nichtbegrifflichen Gebilden möglich. Das dritte B-Raumargument schließt auch keineswegs aus, dass wir uns einen Begriff von kontinuierlichen Gebilden machen können. Im Gegenteil basiert – wie einleitend in Kapitel 2.1.1 bereits ausgeführt – die ganze Erörterung darauf, dass wir bereits dunkle Begriffe von Raum und Zeit haben, die es zu erörtern gilt. Wichtig ist aber, dass diese Begriffe auf der ursprünglichen Vorstellung von Raum und Zeit als quanta continua beruhen,
AA XXVIII, 658. Vgl. Allison 1983, S. 90 ff. Baum argumentiert zwar nachvollziehbar, dass „eine Unvereinbarkeit zwischen dem Raum und dem Umfangscharakter eines Begriffs“ (Baum 1991, S. 67) besteht, allerdings übergeht er damit die Vernunftbegriffe, die tatsächlich auch nur einen Gegenstand in ihrer Extension enthalten können. Darauf weist auch schon Wohlfart zu Recht hin. Vgl. Wohlfart 1980, S. 144 ff. Wohlfart 1980, S. 141. Wohlfart 1980, S. 144.
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denn sie liegen „allen Begriffen von demselben zum Grunde“¹¹⁸. Die Begriffsvorstellung ist somit eine abgeleitete und keine ursprüngliche.¹¹⁹ Der entscheidende Unterschied zwischen einer Idee und der Anschauung von Raum und Zeit ergibt sich daraus, dass der Raum und die Zeit ihre Teile nur durch Einschränkungen erhalten. Die Einheit von Raum und Zeit geht somit den Teilen transzendentalphilosophisch voraus. Treffend formuliert Cohen, dass es sich hier um eine Einheit handelt, „aus welcher die Mannigfaltigkeit sich entfaltet“¹²⁰. Raum und Zeit sind daher gerade keine kollektiven, sondern ursprüngliche Einheiten, aus denen heraus sich Teile bilden können. Bereits in der vorkritischen Phase betont Kant im Hinblick auf die Struktur von Raum und Zeit, dass ihre Einheit im Gegensatz zum Weltbegriff kein „totum syntheticum“, sondern ein „totum analyticum“¹²¹ ist. In der transzendentalen Analytik der KRV bezeichnet Kant Raum und Zeit (wie bereits in De mundi) als „quanta continua“¹²². Somit ist der entscheidende Punkt für Kant, dass ein kontinuierliches Gebilde nicht mit der Verhältnisstruktur von Begriffen kongruiert. Das gedachte Gebilde, das durch einen Verstandes- oder einen Vernunftbegriff vorgestellt wird, muss nicht der Gedanke selbst sein bzw. in dem Begriff von sich aufgehen. Ein wichtiges Anliegen der KRV ist es, gerade hier genau zu unterscheiden. Vernunftbegriffe oder Ideen wie die Gottesvorstellungen sind für Menschen tatsächlich – zumindest in theoretischkonstitutiver Hinsicht – leere Begriffe. Mit ihnen wird etwas Nichtbegriffliches
B39|A25. Dieser Punkt wird vor allem in den Kapiteln 2.2 und 2.3 in Anbetracht des Verhältnisses zwischen Ästhetik, Analytik und Dialektik beim Thema Raum und Zeit wichtig. Angesichts der Formulierung Kants in der transzendentalen Ästhetik, dass wir eine ursprüngliche Raum- und Zeitvorstellung haben, vermisst Dietrich den entsprechenden Gegenbegriff einer abgeleiteten Raum- und Zeitvorstellung. Dietrich verweist daher auf Kants Kästner-Abhandlung, in der Kant explizit zwischen ursprünglicher und abgeleiteter Raumvorstellung differenziert. Vgl. Dietrich 1916, S. 95 – 99. Dass Kant auch in der KRV eine abgeleitete Raumvorstellung thematisiert, wird sich im nächsten Kapitel im Zusammenhang mit den Ausführungen zur formalen Anschauung im Unterschied zur Form der Anschauung zeigen. Vgl. hierzu Kapitel 2.2. Da Dück hier keinen Unterschied macht, meint er, dass die Einheit von Raum und Zeit in der Ästhetik „lediglich behauptet, nicht aber begründet wird“ (Dück 2001, S. 71). Der Anspruch der Ästhetik ist es jedoch zunächst nur – wie in Kapitel 2.1.1 bereits einleitend erwähnt – erörternd festzustellen und argumentativ zu klären, was Raum und Zeit sind und nicht wie sie erzeugt werden. Zumal in der KRV fraglich bleibt, ob die ursprüngliche Einheit von Raum und Zeit überhaupt weiter begründet werden kann. Entgegen Dücks Anmerkung liefert hierzu auch die „Theorie der formalen Anschauung des Raumes“ (Dück 2001, S. 71 Anm.) keine abschließende Antwort. Vgl. ferner Dück 2001, S. 76. Siehe dagegen das Kapitel 2.2.5. Cohen 1917, S. 29 (Hervorhebung aufgehoben). Refl. 3789, AA XVII, 293. Vgl. hierzu das Kapitel 1.2 und 1.3. B211|A169.
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vorgestellt, obwohl es keine Möglichkeit gibt, die objektive Realität einer solchen Vorstellung (zumindest in theoretischer Hinsicht) zu zeigen, sodass der Gegenstand zu diesem Begriff auch tatsächlich existieren würde. Beim Raum (und auch bei der Zeit) verhält es sich allerdings anders. Spätestens die Auseinandersetzung mit den inkongruenten Gegenstücken hat Kant gezeigt, dass der Raum unabhängig von seiner genauen Existenzweise (ideell oder reell) wirklichkeitskonstitutiv ist, da er eine notwendige Bedingung dafür darstellt, dass es den realen Unterschied zwischen linker und rechter Hand gibt. Der Raum ist somit erkenntniskonstitutiv und muss in irgendeiner Weise real sein. Diese Bedeutung kommt den Ideen, wie beispielsweise der Idee von Gott, nach der KRV nicht zu. Nun zeigt das dritte B-Raumargument, was schon 1770 ausgemacht werden konnte, nämlich dass der Raum ein kontinuierliches Gebilde ist und somit ein nichtbegriffliches Verhältnis aufweist. In conclusio zeigt Kant, dass der Raum zwar durch einen Individualbegriff gedacht werden kann, er aber nicht darin aufgeht, ein Begriff zu sein, sondern mehr sein muss als ein bloßer Begriff, denn er ist ein kontinuierliches Gebilde und erkenntniskonstitutiv, was für die Ideen eben nicht gilt. Diesen wesentlichen Punkt übersieht Wohlfart und hält es daher für „[m]erkwürdig“, dass Kant überhaupt in der Ästhetik von einem „Begriff[] des Raumes“¹²³ spricht. Das Ganze verliert jedoch seine Merkwürdigkeit, wenn das dritte B-Raumargument im genetischen Zusammenhang bei Kant eingebettet und richtig verstanden wird. Während für Wohlfart dieser Sachverhalt „[m]erkwürdig“ ist, für Tetens „rätselhaft“¹²⁴ bleibt und für Brandt dadurch sogar die „Selbstständigkeit der ,Ästhetikʻ untergraben“¹²⁵ wird, sieht Vaihinger hier eine Mehrdeutigkeit bei Kant: Begriffe seien demnach im weiteren Sinne als Vorstellungen gemeint und nur im engeren Sinne als Verstandesprodukte zu verstehen. Beide Bedeutungsebenen würden somit in der Ästhetik gebraucht.¹²⁶ Heidemann schlägt vor, den „Ausdruck ,Begriff des Raumesʻ […] objektsprachlich zu verstehen“, da Kant hier mit dem Ausdruck lediglich den Raum bezeichnen will und nicht intendiert, ihn als „Begriff vorzustellen“¹²⁷. Es besteht jedoch kein Konflikt, wenn angenommen wird, dass für Kant Raum und Zeit auch im engen Sinne Verstandesbegriffe sein können. Selbstverständlich besitzt das Subjekt einen Alltagsbegriff des Raums oder der Zeit. Erst die philosophische Reflexion ergibt nach Kant, dass diese Begriffe nicht die ursprünglichen Vorstellungen von Raum
Wohlfart 1980, S. 138. Tetens 2006, S. 58. Brandt 1991a, S. 109. Vgl. Vaihinger 1922b, S. 156 – 160. Heidemann, D. 2018, S. 25 Anm.
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und Zeit sind, sondern Raum und Zeit als reine Anschauungen. Vor diesem Hintergrund konstatiert Heinrich richtigerweise: Während die meisten Interpreten die Schwierigkeit allein in dem Beweis der Nicht-Begrifflichkeit des Raumes sehen, besteht sie für Kant darüber hinaus in einer Erklärung des Zustandekommens eines allgemeinen Begriffes vom Raum. Denn es liegt auf der Hand, daß in vielen Zusammenhängen mit dem Wort ,Raumʻ eine Vorstellung bezeichnet wird, die ganz unangesehen ihres intuitiven Grundcharakters wie jeder Allgemeinbegriff Einzelfälle zu subsumieren erlaubt; das Verhältnis dieses Begriffes zu der später so genannten ,ursprünglichen Vorstellung vom Raumʻ (4– 87) schien Kant von dem Augenblick an klärungsbedürftig, wo er das Intuitive der ursprünglichen Vorstellung formuliert hatte.¹²⁸
Auch Cramer merkt an, dass es von Kant an dieser Stelle „nicht inkonsequent“, sondern im Gegenteil geradezu methodisch „zwingend“ ist, wenn man „über Raum und Zeit in einer Theorie sprechen will“¹²⁹, über sie mit Begriffen zu sprechen. Ferner betont Unruh, dass es nicht „um eine bloße logische Begriffsanalyse, sondern um die Erörterung des Begriffs der Sache Raum [geht]“¹³⁰ und folglich die Benennung des Raums als Begriff unproblematisch ist.¹³¹ Wenn Kant folglich im dritten und vierten Raumargument der B-Auflage betont, dass der Raum kein Begriff ist, dann meint er damit, dass der Raum ursprünglich kein Begriff ist. Dass Kant eine begriffliche Vorstellung vom Raum zulässt, zeigt sich an einer Stelle aus der Methodenlehre, wonach Begriffe von Raum und Zeit als bestimmte Größen bzw. als quantis möglich, nur eben nicht die ursprüngliche Vorstellung derselben sind: Nun ist von aller Anschauung keine a priori gegeben, als die bloße Form der Erscheinungen, Raum und Zeit; und ein Begriff von diesen als quantis läßt sich entweder zugleich mit der Qualität derselben (ihre Gestalt), oder auch bloß ihre Quantität (die bloße Synthesis der gleichartig Mannigfaltigen) durch Zahl a priori in der Anschauung darstellen, d. i. construieren.¹³²
Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen muss die zweite Prämisse gegenüber Tetens Vorschlag dahingehend abgeändert werden, dass Vorstellungen nicht allein deshalb schon Anschauungen sein müssen, weil sie durch einen Gegenstand gegeben werden können, sondern darüber hinaus die Vorstellung eine konstitu-
Heinrich 1986, S. 120. Cramer 1985, S. 175 Anm. Ähnlich sehen das auch Warren (1998, S. 219 f. Anm.) und Michel (2003, S. 97). Unruh 2007, S. 160 Anm. Vgl. hierzu im Ansatz auch Simon 1969, S. 27 f. Vgl. ferner Cohen 1918, S. 170 – 173. B749|A721.
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tive sein muss, die ein kontinuierliches Teil-Ganzes Verhältnis zu ihren Teilvorstellungen aufweist. Eine solche Vorstellung widerspricht nämlich Kants Konzept von einem Begriff, der grundsätzlich ein Kollektiv von Merkmalen darstellt. Der Begriff als Ganzes ist nach Kant abhängig von den einzelnen Bestandteilen des Begriffs.¹³³ Insgesamt können Raum und Zeit unter der Voraussetzung der Prä-
Kemp Smith zeigt, dass Kants Begriffsverständnis hier eine implizite Voraussetzung der Argumentation darstellt. Er gibt zu bedenken, dass Kant zwar Raum und Zeit von gewöhnlichen empirischen Begriffen unterscheidet, jedoch (zumindest an dieser Stelle) kein Argument liefert, warum Raum und Zeit nicht reine Begriffe – wie etwa die Kategorien – darstellen können. Schließlich sind auch Kategorien keine abstrahierten Vorstellungen, deren Bestandteile vorhergehen würden.Vgl. Kemp Smith 1923, S. 106 f. Gegen Kant ließe sich im Anschluss an Kemp Smith anführen, dass Kants Ausführungen zum Begriff zunächst in einer gewissen Spannung zu den späteren Ausführungen in der Analytik stehen, wonach es auch qualitative Begriffe geben soll, deren Einheit als Begriff den einzelnen Teilvorstellungen vorhergeht. Vgl. hierzu B114 ff. und weiter unten in Kapitel 2.2. Gleichwohl scheint es vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen problematisch zu sein, eine Kategorie oder einen qualitativen Begriff als kontinuierliche Vorstellung zu verstehen. Kategorien konkretisieren sich durch die Bestimmung von Einzelvorstellungen. Dabei werden Einzelfällen allgemeine Merkmale zugesprochen. Bei Raum und Zeit werden die Einzelfälle als konkrete Teilgrößen nicht zugesprochen, sondern entstehen erst durch Einschränkungen und Beschreibung des ursprünglichen Kontinuums – wie auch schon die Orientierungsproblematik in Kapitel 1.3 zeigte. Dies scheint nach Kant ein besonderes Merkmal von Raum und Zeit zu sein. Nur dadurch, dass alle Merkmale als einem Begriff zugehörig gedacht werden, haben Begriffe einen bestimmten Sinn. Die einzelnen Merkmale sind somit für die Einheit des Begriffs unentbehrlich. Vgl. B114 ff. Im Unterschied zu Raum und Zeit ist ein Begriff keine kontinuierliche Größe, sondern lediglich der „gemeinschaftliche[] Grund[]“ (B114) der Merkmale als „Theilvorstellungen“ (B48|A32). Der Unterschied liegt darin, dass Begriffe Einzelfälle aufgrund ihrer Merkmale unter einer Allgemeinheit subsumieren sollen. Raum und Zeit sind dagegen bei Kant Formen jeglicher Erscheinung und somit unabhängig von ihren Merkmalen. Andernfalls würde das vierte Raum- und fünfte Zeitargument nicht greifen, wonach ein Begriff die Teilvorstellungen lediglich unter sich und nicht wie beim Raum und der Zeit in sich enthält. Gleiches gilt für den Unterschied zu den Vernunftbegriffen. In diesem Kontext ist es darüber hinaus wichtig anzumerken, dass die transzendentale Apperzeption als formales Selbstbewusstsein ebenfalls ursprünglich kein bloßer Begriff sein kann. Vgl. hierzu Kapitel 2.2.5. An einigen Stellen (siehe die Ausführungen in Kapitel 1.4) versteht Kant die Zeit (zusammen mit dem Raum) als Form der Koordination. An anderen Stellen betont er, dass die Zeit – wie oben gesehen – eine Form der Subordination ist. Vergleiche zu dieser Problematik Wohlfart 1982, S. 72 ff. Für einen systematischen (texttranszendenten) Ansatz, wie die Subordinationsstruktur bei Begriffen und bei der Zeit im Anschluss an Kant weitergedacht werden könnte, siehe Prauss 1993b, S. 592– 645. Eine Problematisierung des kantischen Begriffsverständnisses im Anschluss an Kants Briefwechsel mit Beck, wonach Begriffe im Unterschied zu Anschauungen keine repraesentatio singularis sein können, findet sich bei Heller 1993, S. 81– 95. Baumanns weist dagegen darauf hin, dass das dritte B-Argument nicht für ein „extensionalistische[s] Begriffsverständnis“ gelten würde, da dann „das Art-Gattungsverhältnis selbst mit [einer] ,Einschränkungʽ zusammenfiele“ (Baumanns 1981, S. 102). Vgl. ferner Unruhs Darstellung des kantischen Verständnisses von Be-
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missen somit für Kant als ursprüngliche Anschauungen behauptet werden, was jedoch nicht bedeutet, dass sie nicht auch mit abgeleiteten Begriffen vorgestellt werden können. Die Argumentation ist damit jedoch noch nicht abgeschlossen, sondern setzt sich mit einem zweiten Teil fort. Im zweiten Teil bzw. am Ende des Abschnitts schreibt Kant, dass es sich beim Raum um eine apriorische Anschauung handeln muss. Hier entsteht ein Bezug zur transzendentalen Erörterung, da über die Notwendigkeit „geometrische[r] Grundsätze“¹³⁴ bzw. der Raumaxiome argumentiert wird. In Anbetracht der Tatsache, dass die Geometrie wesentlich mit dem Raum beschäftigt ist und der Vergleich zwischen einzelnen Teilen nur vor dem Hintergrund des ursprünglich kontinuierlichen Raums erfolgen kann, muss der Raum eine notwendige Vorstellung sein, denn andernfalls droht die Mathematik, die mit „apodiktischer Gewißheit“ schlussfolgert, ihren Status einzubüßen. Kant nennt den Raum schließlich nicht mehr wie im zweiten Argument lediglich eine „Vorstellung a priori“, sondern nunmehr eine „Anschauung a priori (die nicht empirisch ist)“¹³⁵. Die Konklusion der obigen Argumentation aus dem ersten Teil des Abschnitts dient somit im zweiten Teil als Prämisse, um auf die Apriorizität der Raumvorstellung zu schließen. Analoges gilt für die Zeit und ihre Axiome, obwohl der Übergang vom zweiten über das dritte zum vierten Argument dort harmonischer wirkt.¹³⁶ Das Argument zeigt insgesamt, dass nach wie vor beide grundsätzlichen Strukturmerkmale von elementarer Bedeutung bleiben: Raum und Zeit sind nicht nur Mannigfaltigkeits- und Individualisierungsprinzipien, sondern auch Einheitsstrukturen, die eine Mannigfaltigkeit durch Einschränkung des ursprünglich unendlichen Kontinuums überhaupt erst ermöglichen. Rohs betont richtiger-
griffen, wonach sich selbst Eigennamen in einem singulären Einzelurteil sinnvollerweise nur durch Merkmale auf ein Objekt beziehen können, wohingegen Anschauungen einen unmittelbareren Objektbezug aufweisen sollen. Vgl. Unruh 2007, S. 193 – 197. B39|A25. B39|A25 (Hervorhebung von mir). Im entsprechenden Zeitargument behandelt Kant das Zeitaxiom, wonach verschiedene Zeiten nicht zugleich sein können. Nach Kant ist dieser Satz synthetisch und kann nicht aus der Analyse von Begriffen entspringen. Da Kant bei der Zeit das dritte Argument nicht auslagert, folgt auf die Feststellung der Notwendigkeit im zweiten Argument die Begründung der Notwendigkeit der Mathematik im dritten Argument, sodass das vierte Argument sich nur noch mit dem Anschauungscharakter der Zeit beschäftigt. Der Textaufbau ist hier insgesamt konsequenter als bei den Raumargumenten, in die Kant mit der Neuauflage stärker eingreift als bei den Zeitargumenten. Vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 2.1.2.
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weise, dass „Einheit und Differenz […] in der Bewegung der ursprünglichen Zeitlichkeit enthalten“¹³⁷ sind. Prauss drückt diesen Sachverhalt wie folgt aus: Es fallen Selbigkeit und Andersheit oder Identität und Differenz in ihm [dem Zeitpunkt] zusammen; oder auch: Es lassen nur noch die Begriffe ,Selbigkeitʻ und ,Andersheitʻ oder ,Identitätʻ und ,Differenzʻ sich für die Reflexion auf ihn und für die Charakterisierung von ihm auseinanderhalten.¹³⁸
Hierzu passend schreibt Kant in einer Reflexion: „Das principium der identitaet und der contradiction sind vor die Vernunft, was raum und Zeit vor die Sinne seyn.“¹³⁹ Das gilt jedoch nicht nur für die Zeit, sondern auch für den Raum. In der Reflexion 6290 schreibt Kant, dass Raum und Zeit „durch das Verhältnis des Orts und des Zeitpuncts“ die „Individualität“¹⁴⁰ einer Sache bestimmen. Ferner nennt Kant den Raum an einer späteren Stelle eine „Art, wie das Mannigfaltige einander seinen Ort bestimmen kann“¹⁴¹. Neben der Mannigfaltigkeitsstruktur gilt somit weiterhin, dass der Raum „wesentlich einig“ ist und dass das „Mannigfaltige in ihm […] lediglich auf Einschränkungen“¹⁴² beruht. Schließlich soll gelten: „Alle Gegenstande […] machen eines aus (Zusammengesetztes), welches Welt heißt (Einheit des Raums).“¹⁴³ Dabei gilt es nach wie vor zu beachten: „Was nur durch die Einschränkung getheilt werden kann, ist nicht möglich durch die Zusammensetzung; also nicht der Raum.“¹⁴⁴ Um Kants Konzeption diesbezüglich auch in der kritischen Phase genauer zu verstehen, ist es wichtig, das Verhältnis zwischen der Mannigfaltigkeits- und der Einheitsstruktur zu verstehen, was gerade im dritten B-Raumargument und vierten Zeitargument angesprochen wird. In den MAN heißt es, dass der Inhalt in der Zeit bzw. das „Mannigfaltige der inneren Beobachtung nur durch bloße Gedankenteilung [sich] von einander absondern, nicht aber abgesondert aufbehalten und beliebig wiederum verknüpfen“¹⁴⁵ lässt. Ferner greift Kant in seiner Vorlesung im Hinblick auf das besondere Teil-GanzesVerhältnis von Raum und Zeit seine Unterscheidung zwischen Teilung und Trennung aus der vorkritischen Phase wieder auf: „Raum und Zeit können metaphy-
Rohs 1973, S. 162. Siehe hierzu bereits die Ausführungen im Einführungskapitel 0.1. Prauss 1993a, S. 546. Refl. 3716, AA XVII, 256. Refl. 6290, AA XVIII, 558. Vgl. hierzu ferner Engelhard 2005, S. 26 Anm., Mohr 1991, S. 175 f. oder Strawson 1966, S. 52. B342|A285 f. B39|A25. Refl. 4758, AA XVII, 707. Refl. 4183, AA XVII, 448. AA IV, 471.
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sisch, aber nicht physisch getheilt werden, d. h. sie können nicht getrennt werden. Die Unterscheidung der Theile ist keine Trennung. Theilbar ist alles, was ausgedehnt ist.“¹⁴⁶ Diese Stellen geben im Anschluss an das dritte B-Raumargument und vierte Zeitargument weiter Aufschluss darüber, wie Kant sich das Verhältnis von Einheit und Mannigfaltigkeit vorstellt. Offensichtlich ist die Einheit von Raum und Zeit Bedingung dafür, dass Teile sich überhaupt differenzieren lassen, was von den entsprechenden Argumenten gedeckt wird. Die kontinuierliche Struktur von Raum und Zeit machen eine im Progress unendliche Teilung überhaupt erst möglich. Gleichzeitig zerfallen sie dadurch nicht zu zertrennten Formen, da „Trennung“ nur physisch bzw. zwischen „Theile[n] einer Materie“¹⁴⁷ möglich ist, ohne dass dabei der Raum selbst in verschiedene Räume zertrennt wäre, denn zwischen jedem Raum ist immer noch ein weiterer Raum, der von der Kontinuität des Raums zeugt. Somit ist nicht nur eine Teilung, sondern sogar eine (empirische) Trennung von Teilen nur durch die (nichtempirische) Einheitsstruktur des Raums möglich.¹⁴⁸
2.1.5 Das vierte Argument der transzendentalen Ästhetik Dass die zuletzt angesprochene Teilung im Raum unendlich weit fortgesetzt werden kann, ist Thema im letzten Argument der metaphysischen Erörterung. Bei der Raumerörterung ist die Variante des letzten Arguments in der B-Auflage grundverschieden von der Variante in der A-Auflage.Wie sich zeigen wird, sind die Unterschiede so eklatant, dass nicht mehr von demselben Argument gesprochen werden kann. Wie Vaihinger zunächst in Bezug auf die Textgestaltung Kants interpretiert, hat Kant in der B-Auflage – vor allem bei der Umarbeitung des fünften A-Raumarguments – versucht, eine Angleichung der Formulierung der Raumargumente an die Zeitargumente durchzuführen. Während Vaihinger diese Änderung als eine Verschlechterung im Hinblick auf die Verständlichkeit der Argumentation bewertet, weil Kant beim letzten Raumargument in der B-Auflage grundsätzlich anders vorgeht als in der A-Auflage, sieht Allison eine inhaltliche Verbesserung der Argumentation gegenüber der A-Auflage.¹⁴⁹ Die Argumentation in der A-Auflage gestaltet sich in nuce wie folgt: Kant geht davon aus, dass ein allgemeiner bzw. abstrahierter Begriff des Raums nicht in der Lage wäre, die AA XXVIII, 568. Vgl. hierzu auch die Ausführungen in den MAN in AA IV, 502 f.; 530. Siehe ferner zur vorkritischen Phase Kapitel 1.1 und 1.2. AA IV, 530. Vgl. hierzu bereits die einführenden Erläuterungen in Kapitel 0.1. Vgl. Vaihinger 1922b, S. 379 ff. und Allison 1983, S. 92 ff.
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unendliche Größe des Raums vorzustellen. Trotzdem besitzt das Subjekt eine allbefassende Raumvorstellung. Mit Bezug auf seine Terminologie schließt Kant daraus, dass das Subjekt ohne die ursprüngliche Raumvorstellung, die eine „Grenzenlosigkeit im Fortgange der Anschauung“ darstellt, „kein Begriff von Verhältnissen das Principium der Unendlichkeit derselben bei sich führen“¹⁵⁰ würde. Allison kritisiert hier zu Recht, dass Kant gar nicht zeigt, dass der Raum eine Anschauung ist, sondern lediglich, dass er kein empirisch abstrahierter Begriff sein kann. Natürlich ließe sich hier wieder auf das dritte B-Raumargument verweisen, doch dann wäre letztlich das vierte Argument nur eine Wiederholung des dritten und hätte für sich selbst keine argumentative Funktion. Ein Rekurs auf das erste Anschauungsargument kommt nicht in Frage, wenn man daran festhalten will, dass Kant zwei Argumente für die Anschaulichkeit von Raum und Zeit liefert. Vor diesem Hintergrund ist es überraschend, dass Kant im fünften Zeitargument dennoch wieder auf die kontinuierliche Struktur der Zeit rekurriert. Damit weist das fünfte Zeitargument diesbezüglich eine Nähe zum dritten B-Raumargument auf. In der B-Auflage versucht Kant sowohl dem Problem beim Aufbau der Erörterung durch eine Annäherung der Formulierungen an die letzten Raum- und Zeitargumente als auch dem Argumentationsproblem durch eine neue Argumentation beim letzten Raumargument zu begegnen.¹⁵¹ Vaihinger und Kemp Smith sehen den entscheidenden Unterschied zwischen der A-Argumentation und der neuen B-Argumentation des letzten Raumarguments in der unterschiedlichen Stellung der Unendlichkeitsstruktur innerhalb der jeweiligen Argumentation.¹⁵² Während die Unendlichkeitsstruktur des Raums beim fünften A-Raumargument nach Kemp Smith eine Folge der Argumentation darstellt, ist sie im vierten BRaumargument eine Voraussetzung.¹⁵³ Die B-Argumentation verläuft im Kern folgendermaßen: Zu Beginn geht Kant davon aus, dass der Raum eine „unendlich gegebene Größe vorstellt“, die eine „Menge von Vorstellungen in sich“ enthält. Diese Struktur widerspricht jedoch seinem Strukturverständnis eines Begriffs. Ein Begriff weist nach Kant nämlich eine Subordinationsstruktur auf. Teilvorstellungen enthält ein Begriff lediglich „unter sich“. Der Begriff gibt bloß ein „gemeinschaftliches Merkmal“ der Teilvorstellungen wieder, sodass diese Gemeinschaft lediglich eine logische ist. Die Unendlichkeit eines Begriffs bezieht sich nur auf eine potenziell unendliche Extension des Begriffs. Beim Raum hingegen ist diese Gemeinschaft nicht bloß logisch, sondern „alle Teile des Raumes ins Unendliche sind zugleich“. Daraus schließt Kant, dass der Raum „nicht Begriff“, sondern eine
A25. Vgl. Vaihinger 1922b, S. 377– 381. und Allison 1983, S. 92 f. Vgl. Vaihinger 1922b, S. 253 und Kemp Smith 1923, S. 109. Vgl. Kemp Smith 1923, S. 109.
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„Anschauung a priori [ist]“¹⁵⁴. Allison stellt hierzu die kritische Frage, die sich auch in ähnlicher Weise schon beim vorherigen Argument der Erörterung stellte, nämlich, wieso wir nach Kant beim Raum von der Unendlichkeit auf die Anschaulichkeit schließen können, dies aber dem Leser der transzendentalen Dialektik bei der Idee der Welt als einer unendlichen Größe im Hinblick auf die entsprechenden Antinomien nicht möglich sein soll.¹⁵⁵ Zur Beantwortung dieser Frage muss das entsprechende Zeitargument herangezogen werden: Im fünften Zeitargument weist Kant nämlich darauf hin, dass „die Unendlichkeit der Zeit […] nichts weiter [bedeutet], als daß alle bestimmte Größe der Zeit nur durch Einschränkungen einer einigen zum Grunde liegenden Zeit möglich sei“¹⁵⁶. Auch später in der Dialektik betont Kant, dass ein „unendliche[s] Ganze[s] […] nicht de[m] Begriff eines Maximum[s]“ entspricht, sondern dadurch „nur sein Verhältniß zu einer beliebig anzunehmenden Einheit, in Ansehung deren dasselbe größer ist als alle Zahl, gedacht [wird]“¹⁵⁷. Gleichwohl handelt es sich im letzten Argument der metaphysischen Erörterung nicht bloß um eine potenzielle Unendlichkeit. Für Unruh hat die zweite Auflage gerade den Vorteil, dass sie dies klarstellt, wie allein schon die Umstellung von der A-Formulierung „Der Raum wird als eine unendliche Größe gegeben vorgestellt“¹⁵⁸ auf die B-Formulierung „Der Raum wird als eine unendliche gegebene Größe vorgestellt“¹⁵⁹ deutlich
B40. Vor dem Hintergrund der vorherigen Argumente der metaphysischen Erörterung kann hier keine ursprüngliche Gegebenheit von diskreten Teilen gemeint sein. Hierzu erscheint auch folgende Reflexion hilfreich: „Es kann uns kein qvantum als infinitum gegeben seyn, denn es wird nicht an sich selbst gegeben, sondern nur durch den progressus, der niemals als infinitus gegeben ist. Aber ein progressus in infinitum kann gegeben seyn; indefinitum: dessen Grenze wir unbestimmt lassen.“ (Refl. 5334, AA XVIII, 154). Kemp Smith interpretiert die Gegebenheit der Formen im Hinblick auf den Verstand, der diese Formen zunächst gegeben vorfindet. Vgl. Kemp Smith 1923, S. lii-lv. Ferner lässt sich die Gegebenheit von Raum und Zeit auch im Hinblick auf die analytische Methode der Erörterung beziehen. Vgl. hierzu die einleitenden Ausführungen im Kapitel 2.1.1 weiter oben sowie in Kapitel 2.1.6. Kemp Smiths Behauptung einer Unvereinbarkeit zwischen der Unendlichkeit und dem Gegebensein der Anschauungsformen trifft nur zu, wenn der Raum als ein quantitatives Ganzes bzw. als totum synthetica statt als totum analytica betrachtet wird, wie Al-Azm gegenüber Kemp Smith kritisch betont. Vgl. Al-Azm 1968, S. 156 f. Vgl. hierzu ferner Anmerkung 166 im hiesigem Kapitel 2. Vgl. Allison 1983, S. 92. B47 f.|A32. Siehe hierzu folgende Begriffserläuterung Kants: „Ein qvantum, durch dessen Begrif der quantitaet die Menge der Theile bestimmt ist, ist discretum; durch dessen Begrif der quantitaet die Menge der Theile vor sich unbestimmt ist, ist continuum.“ (Refl. 5844, AA XVIII, 367 f.). B459 f.|A431 f. Vgl. hierzu auch Engelhard 2005, S. 345 ff. Ferner auch Unruh 2007, S. 208 f. A25. B39.
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macht. Hier bezieht sich das „gegeben“ nunmehr auf den Raum selbst und nicht nur auf den Akt des Vorstellens.¹⁶⁰ Mit der Neuformulierung des Arguments in der B-Auflage vermeidet Kant somit das „Mißverständnis eines lediglich potentialen Unendlichkeitsbegriffs“, da er den Raum als „aktuale[] Unendlichkeit“¹⁶¹ verstehen will, wie Unruh konstatiert. Michel betont folgerichtig, dass mit der Unendlichkeit von Raum und Zeit von Kant eine aktuale Unendlichkeit im Sinne von „größer […] als alle Zahl“¹⁶² gefordert wird. Da Raum und Zeit stets größer als alle Konstrukte und Gestalten in denselben sind, sind sie aktual unendlich groß.¹⁶³ Auch in der Reflexion 5338 heißt es: „Unendlich bedeutet mehr als nicht endlich oder begrentzt, sondern auch im Gantzen genommen über alle Maaße groß.“¹⁶⁴ Der Raum und die Zeit sind daher nicht nur indefinit unendlich, sondern infinit unendlich. Die Voraussetzung einer Unendlichkeit des Raums und der Zeit im letzten Argument darf dabei nicht im Widerspruch zur Dialektik betrachtet werden, wie dies beispielsweise Vaihinger tut.¹⁶⁵ Wolff-Metternich macht darauf aufmerksam, dass die Ästhetik in der KRV damit gerade nicht in Widerspruch zur Dialektik steht, weil es sich hierbei nicht um ein unanschauliches zusammengesetztes Unendliches handelt, sondern um eins, das größer als jeder in ihr zu konstruierende Gegenstand ist.¹⁶⁶ Krausser versteht Kant dabei als „Vertreter ei Vgl. Unruh 2007, S. 210. Vgl. dagegen Krausser 1972, S. 87. Unruh 2007, S. 209. B460|A432. Vgl. Michel 2003, S. 103 – 108. Refl. 5338, AA XVIII, 155. Vgl. Vaihinger 1922b, S. 254 ff. oder auch Natterer 2003, S. 122. Vgl. Wolff-Metternich 1995, S. 86 f. sowie analog schon Hinsch 1986, S. 91– 96. und auch McLear 2015, S. 96. Diese Interpretationsmöglichkeit sehen Röd (vgl. Röd 1990, S. 503 f.), Platt (vgl. Patt 1988, S. 35 und bereits Patt 1987, S. 220 ff.), Natterer (vgl. Natterer 2003, S. 122) sowie auch schon Vaihinger (vgl. Vaihinger 1922b, S. 259 f.) nicht und behaupten daher, dass Kant in der KRV nur eine potenzielle Unendlichkeit für Raum und Zeit akzeptiert. Vgl. hierzu jedoch die Kritik von Engelhard an Röd in Engelhard 2005, S. 358 Anm.; S. 353, S. 345 ff. sowie die Kritik von Unruh an Vaihinger und Patt in Unruh 2007, S. 210 – 213. Vgl. auch Kapitel 2.3. Für eine Auseinandersetzung mit der vorkritischen Periode, in der Kant die aktuale Unendlichkeit noch an die Gottesvorstellung koppelt, siehe Kapitel 1.2 und 1.4. Gerade die Ausführungen von Wolff-Metternich, Michel, Hinsch und Engelhard zeigen, dass es eben nicht so ist – wie Unruh zu Unrecht über die Kant-Literatur urteilt – dass die „Bestimmung des Raumes als aktual unendlich […] etwas [sei], dass der Sekundärliteratur seit Jahr und Tag unbequem ist“ (Unruh 2007, S. 210). Vielmehr zeigen obige Interpreten, dass dieses Problem – auch in der von Unruh angedeuteten Lösung (vgl. Unruh 2007, S. 214 ff.) – seit Jahr und Tag bereits ausführlich diskutiert und nachvollziehbar in Interpretationskonzepte eingebaut wurde. Bereits Heidegger beschreibt die gegebene Unendlichkeit des Raums wie folgt: „Der Raum ist eine Größe, heißt nicht: er ist ein soundso Großes, unendliche Größe heißt daher auch nicht: ein ,endlosʽ Großes, sondern ,Größeʽ bedeutet hier Großheit, die allererst ein soundso Großes (,Quantitätenʽ) ermöglicht.“ (Heidegger 1951, S. 49).
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nes Begriffes aktualer intensional […] ,gegebenerʻ Unendlichkeit und eben darum […] notwendig ineins [als] Vertreter eines Begriffes potentieller extensionaler Unendlichkeit“¹⁶⁷, da bei Kant Letzteres Ersteres voraussetzt. Aktual intensionale Unendlichkeit versteht Krausser dabei im Sinne einer „durch die Konstitutionsregel bedingte[] Grenzenlosigkeit“, wie sie für den Raum als unendliche Größe im letzten Argument der metaphysischen Erörterung gelten soll. Dagegen wird nach Krausser „erst in der Dialektik“ die „Idee des extensional aktual Unendlichen“ behandelt, die es von der intensional aktualen Unendlichkeit der ursprünglichen Formen von Raum und Zeit „wohl zu unterscheiden“¹⁶⁸ gilt, sodass sich durch die Unterscheidung ein angeblicher Widerspruch zwischen Ästhetik und Dialektik vermeiden lässt. Diese Kohärenz zwischen Ästhetik und Dialektik ermöglicht, dass das Einheitsprinzip weiterhin das dominierende Strukturmerkmal bleibt, wodurch Teile nur durch Einschränkungen in dieser unendlichen Form auftreten können.Vor diesem Hintergrund nennt Kant den Raum an einer späteren Stelle in der A-Auflage auch „die Vorstellung einer bloßen Möglichkeit des Beisammenseins“¹⁶⁹. Der Raum wird „als eine unendliche gegebene Größe vorgestellt“¹⁷⁰, die zunächst bzw. ursprünglich keine Grenzen aufweist, da mit Blick auf das dritte BArgument und in Erinnerung an Kants vorkritische Raumlehre die Grenzen der Einschränkungen nicht a priori vorgegeben, sondern empirisch bestimmt werden.¹⁷¹ Analoges gilt auch für die Zeit.¹⁷² Das ursprüngliche Kontinuum kennt somit bei Kant keine Grenzen. Rohs geht dabei so weit, dass er selbst die grundsätzliche Struktur des Nacheinanders und Nebeneinanders in einer Abhängigkeit zur Empfindung betrachtet: „Insbesondere ergibt sich, daß die zweistelligen Prädikate ,nebeneinanderʻ und ,nacheinanderʻ empirische Prädikate sind […], obwohl das Neben- und Nacheinander als solches etwas ist, das das Ich in die Welt einbringt.“¹⁷³ Entsprechend konstatiert auch Prauss kritisch gegenüber Kant: [W]as auch immer zueinander ein Verhältnis des ,Außereinanderʻ bildet, sei es nun ein ,Nacheinanderʻ oder ein ,Zugleichʻ, verhält sich dabei als ein wechselseitig Anderes zueinander, so dass es wie Teil zu Teil oder wie Schnitt zu Schnitt in einem Fremdverhältnis zueinander steht.¹⁷⁴
Krausser 1981, S. 60. Krausser 1981, S. 60. A375. B39. Vgl. AA II, 405. Vgl. B46 ff.|A30 ff. Rohs 1973, S. 82 (Hervorhebung aufgehoben). Prauss 2013, S. 27.
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Auch Prauss spricht daher von „mehrstellige[n] Prädikat[en]“¹⁷⁵ im Zusammenhang mit Kants Charakterisierung von Raum und Zeit als Neben- und Nacheinander. Cramer sieht dagegen mit Verweis auf Kants Ausführungen bezüglich einer reinen Mannigfaltigkeit auch die Möglichkeit einer Mannigfaltigkeit in Raum und Zeit „ohne einen Gegenstand der Empfindung“¹⁷⁶ und identifiziert mit dieser Möglichkeit das formale Nebeneinander und Nacheinander von Raum und Zeit. Auch Simon versteht die reine Mannigfaltigkeit „ganz allgemein, ohne nähere Bestimmtheit, einzig zufolge der Regel des Nacheinander“¹⁷⁷. Doch dabei bleibt unklar, woher diese Differenzen in der Mannigfaltigkeit herrühren sollen, wenn nicht von der materiellen Empfindung her. Zwar betont Unruh, dass die Mannigfaltigkeit a priori nicht schon ein „synthetisiertes Mannigfaltiges“¹⁷⁸ sein kann, da es jeglicher Synthesis vorausgehen muss, doch auch Unruh liefert keine Erklärung, woher diese reine Mannigfaltigkeit stammen soll, wenn nicht durch eine Einschränkung des ursprünglichen Kontinuums seitens der Materie.¹⁷⁹ Bereits Kemp Smith gibt dabei den wichtigen Hinweis, dass der Status der zu synthetisierenden reinen Mannigfaltigkeit, die nach der A-Auflage ursprünglich vorliegen soll¹⁸⁰, vor allem in Bezug auf die beanspruchte Kontinuität der Anschauungsformen im dritten B-Raumargument und vierten Zeitargument höchst fraglich erscheint: In what this pure manifold consists, and how the description of it as a manifold, demanding synthesis for its apprehension, is to be reconciled with its continuity, Kant nowhere even attempts to explain. Nor does he show what the simple elements are from which the synthesis of apprehension and reproduction in pure intuition might start.¹⁸¹
Prauss 2013, S. 27. Cramer 1985, S. 77 und entsprechend auch Mohr 1991, S. 76 f. Ferner anscheinend auch Unruh 2007, S. 150 f. Simon 1969, S. 91. Unruh 2007, S. 150. Vgl. Unruh 2007, S. 150. Vgl. hierzu A99 f. Vgl. ferner auch B102|A77. Kemp Smith 1923, S. 97. Auch Mohr hält Kants Rede vom Mannigfaltigen a priori oder dem reinen Mannigfaltigen für eine „zunächst schwer verständliche Rede“ (Mohr 1991, S. 76). Folgt man Praussʼ Unterscheidung zwischen analytischem (abstrahiertem) und synthetischem (ursprünglichem) Kontinuum, dann wäre die reine Mannigfaltigkeit als das relationale Verhältnis im analytischen Kontinuum zu verstehen. Im ursprünglich synthetischen Kontinuum dagegen kann es keine Mannigfaltigkeit bzw. keine Fremdverhältnisse geben, da Teile – Kants Ausführungen im dritten B-Raumargument folgend – nur durch Einschränkungen der Materie möglich sind. Das einzige Verhältnis, das hier noch denkbar ist, ist ein Selbstverhältnis des Kontinuums. Vgl. hierzu Prauss 2015, S. 39 – 71. bzw. Kapitel 0.1. Siehe darüber hinaus zum Verständnis von unbestimmter Mannigfaltigkeit als ungedeuteten Realem die Ausführungen von Wunsch mit dem Rekurs auf
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Es zeigt sich, dass die Einheit auch in der kritischen Phase das klare Primat gegenüber der Mannigfaltigkeitsstruktur von Raum und Zeit beibehält. Somit gilt es festzuhalten, dass Raum und Zeit „nicht bloß als Formen der sinnlichen Anschauung, sondern als Anschauungen selbst (die ein Mannigfaltiges enthalten), also mit der Bestimmung der Einheit dieses Mannigfaltigen in ihnen a priori vorgestellt […]“¹⁸² werden.
2.1.6 Die Kontroverse um die Trendelenburgsche Lücke im Hinblick auf die Schlüsse der transzendentalen Ästhetik Wenn die Argumente der Erörterungen zeigen sollen, dass Raum und Zeit reine Anschauungen a priori darstellen und keine Begriffe – jedenfalls nicht ursprünglich – sind, dann stellt sich im Hinblick auf den von Kant erhobenen Anspruch seiner Ästhetik die Frage, ob damit schon gezeigt wird, dass sie ideelle Gebilde sein müssen? Anders ausgedrückt: Ergibt sich aus den obigen Argumenten schon der Schluss aus § 3 und § 6, dass Raum und Zeit keine Eigenschaften der Dinge an sich oder selbst Dinge an sich sein können? Wie sich schon oben in der Auseinandersetzung mit dem zweiten Argument andeutet, hat Trendelenburg dies bekanntermaßen bestritten und hier eine Lücke in der Argumentation der transzendentalen Ästhetik gesehen.¹⁸³ Auch wenn es als eine natürliche Folge Kants Kopernikanischer Wende erscheint, dass das Ding an sich keine bestimmten Formen und Gesetzmäßigkeiten haben kann, äußert sich Kant gelegentlich schon in der KRV dahingehend, dass das Noumenon lediglich epistemisch unzugänglich wäre und hinter der epistemischen Grenze die Möglichkeit für ganz eigene Gesetzmäßigkeiten läge.¹⁸⁴ Damit ergibt sich die Frage, ob die
Praussʼ Deutungsmodell in Wunsch 2007, S. 74– 83 und S. 134. An dieser Stelle deutet sich bereits an, dass zwischen der selbstbezüglichen Einheit des Selbstbewusstseins und der kontinuierlichen Einheit von Raum und Zeit ein thematischer Zusammenhang bei Kant besteht. Vgl. hierzu die Diskussion dieses Punktes im Kapitel 2.2.5. B160. Siehe zu der historischen Kontroverse um die sog. Trendelenburgsche Lücke Vaihinger 1922b, S. 135– 156 und ferner Marc-Wogau 1932, S. 267– 273. Auch Marc-Wogau merkt an: „Die Raumargumente der Ästhetik beweisen nicht direkt die Subjektivität des Raumes.“ (Marc-Wogau 1932, S. 259 Anm.). Zustimmung findet Trendelenburgs Kritik neuerdings auch bei Kanterian.Vgl. hierzu Kanterian 2013. Vgl. beispielsweise B308 f., wo Kant vom „Noumenon in positiver Bedeutung“ spricht und gleichzeitig erwähnt, dass es „Verstandeswesen geben“ könne, die ein Noumenon ohne Anschauung (bzw. durch eine intellektuelle Anschauung) erkennen könnten. Siehe hierzu ferner die Ausführungen in Ameriks 1992 und Sans 2005, S. 725 – 730.
2.1 Raum und Zeit als Formen der Anschauung in der transzendentalen Ästhetik
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subjektiven Formen letztlich in einer Entsprechung zu den Dingen an sich stehen könnten, was bekanntermaßen historisch zur Trendelenburg-Fischer-Kontroverse um den Vorwurf der sog. Trendelenburgschen Lücke geführt hat.¹⁸⁵ Baum argumentiert gegen Trendelenburg, dass Kant eine dritte Möglichkeit ausschließt, wonach Raum und Zeit zusätzlich zu ihrer Rolle als subjektive Vorstellungen auch unabhängig vom Subjekt an sich bestehen könnten. Für Baum steckt nämlich in den Anschauungsargumenten der transzendentalen Ästhetik ein implizierter Beweis für die transzendentale Idealität der beiden Formen: Denke ich also den uns bekannten Raum à la Trendelenburg in seiner notwendigen Homogenität und aktualen Unendlichkeit als ein Ding an sich oder Verstandesding, so darf sich wenigstens sein Begriff, den ich dabei von ihm habe, nicht widersprechen. Die oben analysierte Inkompatibilität des Raumes mit der Natur des Begriffes selbst führt dazu, daß im Begriffe des Raumes als eines durch Verstandesbegriffe denkbaren Gegenstandes Widersprüche auftreten: (1) Ein Ganzes von Teilen setzt seinem Begriffe nach diese Teile voraus. Sollen diese Teile aber als Teile des homogenen und einzigen Raumes ein Ganzes voraussetzen (und im übrigen selbst Ganze sein), so würde ein durch Verstandesbegriffe ursprünglich gedachtes derartiges Raumganzes sich selbst voraussetzen, was sich widerspricht. (2) Ein Ganzes ist dem Begriff seiner Größe nach die Summe seiner Teile. Jede solche Summe von Teilen ist aber einer Zahl gleich oder endlich. Also müßte ein aktual unendliches Ganzes größer als es selbst sein. Das aber enthält einen Widerspruch. Der Raum also als ein durch Begriffe als Verstandesding gedachtes Ding an sich ist gemäß dem 3. und 4. Raumargument unmöglich, ein nihil negativum.¹⁸⁶
Vor dem Hintergrund der beiden Anschauungsargumente in der transzendentalen Ästhetik schlussfolgert Baum im Hinblick auf die Frage nach einer argumentativen Lücke in den Schlüssen der transzendentalen Ästhetik: Kant glaubte, auf eine eigene Widerlegung der transzendentalen Realität des Raumes verzichten zu können, weil er es für selbstverständliche Implikationen der Widerlegung der diskursiven Begriffsnatur unserer Vorstellung vom Raume hielt, daß (1) das a priori Anschaubare nur eine subjektive Bedingung von Erscheinungen sein könne und daß (2) das a priori Unbegreifbare kein Verstandesding oder Ding an sich sein könne.¹⁸⁷
Zwar gibt Baum den wichtigen Hinweis, dass diese Argumente für Kant bereits seit 1770 gültig sind, allerdings ist seine Polemik gegen Trendelenburg überzogen, wonach der Vorwurf, Kant habe an die dritte Möglichkeit kaum gedacht, „nur durch Unkenntnis der Entstehungsgeschichte des Kantischen Idealismus zu er-
Vgl. Anmerkung 54 im hiesigen Kapitel 2. Baum 1991, S. 71. Vgl. erneut in Baum 1996, S. 62 f. Baum 1991, S. 72.
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2 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der Kritik der reinen Vernunft
klären“¹⁸⁸ sei. Gerade in De mundi vertritt Kant trotz der Idealität von Raum und Zeit eine dogmatische Kosmologie, in der eine nicht sinnlich fassbare bzw. transzendente Unendlichkeit angenommen wird. Für Trendelenburg muss Kants Position um 1770 sogar als eine Bestätigung seines Vorwurfs erscheinen, da dort nahezu die gleichen Argumente offenbar mit einer transzendenten Realität von relationalen Verhältnissen vereinbar sind. Der Vorwurf einer mangelnden Berücksichtigung der Entwicklungsgeschichte Kants fällt daher in gewisser Weise auf Baum selbst zurück. Unabhängig von Baum versucht Willaschek, eine lückenlose Argumentation unter der Voraussetzung der Formthese Kants zu rekonstruieren, sodass gezeigt werden soll, dass der Raum bei Kant nicht sowohl als Form der Erscheinung als auch als Ding an sich bestehen kann.¹⁸⁹ Willaschek geht dabei davon aus, dass Kant ein externalistisches Konzept seines Anschauungsbegriffs vertritt, wodurch die Ursache der Raumvorstellung festlegt, was der Raum sein soll. Da eine Form jedoch bei Kant nicht durch äußere Affektion verursacht sein kann, kann es sich beim Raum nur um die ursprüngliche reine Anschauung handeln. Willaschek schlussfolgert daraus, dass selbst wenn es einen Raum an sich gäbe, dieser nicht der Raum der transzendentalen Ästhetik wäre, da er nicht die Ursache unserer Raumvorstellung sein könne.¹⁹⁰ Prima facie ist jedoch fraglich, ob solch eine Begegnung Kants selbst gestelltem Anspruch aus der Vorrede der KRV gerecht wird, wonach die Kopernikanische Wende nicht nur vorausgesetzt, sondern sogar im Laufe des Werks bewiesen werden soll.¹⁹¹ Mit seiner Lösung verlagert Willaschek nämlich das Problem der lückenhaften Argumentation bei Kant einfach nur auf die Formthese aus § 1, nach der uns Formen nicht affizieren können.¹⁹² Die Formthese schließt aber nicht aus, dass es unabhängig vom Subjekt transzendente Formen geben könnte – selbst wenn sie nicht die Formen des Subjekts wären und keine Wirkung auf uns hätten. Streng genommen hätte Kant an dieser Stelle zeigen müssen, dass es Formen per se nicht ohne menschliche Subjekte geben kann. Auch wenn also der Formthese zugestimmt wird, schließt dies nicht aus, dass es neben den subjektiven Formen auch transzendente Formen an sich geben könnte – obwohl diese Formen nicht die Formen der transzendentalen Ästhetik bzw. in epistemischer Hinsicht für uns nichts wären, wie die Antinomien in der transzendentalen Dialektik ferner zeigen.¹⁹³ Zwar ist es richtig, dass Kant
Baum 1991, S. 72. Siehe zur Formthese bei Kant die Ausführungen in Kapitel 2.1.2. Vgl. Willaschek 1997, S. 555 f. Vgl. B XXII Anm. Vgl. hierzu die Kritik an Willaschek in Höffe 2003, S. 110. Vgl. hierzu Kapitel 2.3.
2.1 Raum und Zeit als Formen der Anschauung in der transzendentalen Ästhetik
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einen transzendenten Realismus ausschließt, wonach wir eine transzendente Welt erkennen, wie sie an sich ist, doch das heißt noch nicht, wie etwa Höffe meint, dass es im Widerspruch zur Kopernikanischen Wende stehen würde, wenn die Dinge unabhängig vom menschlichen Erkennen Strukturen aufweisen würden.¹⁹⁴ Um auszuschließen, dass Dinge an sich Strukturen aufweisen, reicht es nicht aus zu zeigen, dass das Subjekt der Ursprung von bestimmten Strukturen ist. Entsprechend verteidigt auch Kanterian den Einwand Trendelenburgs gegen die Kritik von Graham Bird: „Pace Bird […], the only way in which Kant considers the first two alternatives is with an exclusivity assumption, i. e. that space and time attach only to empirical objects or only to noumena. But this is to ignore 3 A [3 A: Space and time are both objective and subjective].“¹⁹⁵ Kanterian argumentiert, dass die Kritik an Trendelenburg seit Fischer auf dem Missverständnis beruht, Trendelenburg würde mit der Frage, ob Raum und Zeit neben ihrem subjektiven Charakter auch objektive Formen sein können, objektiv im Sinne von empirisch objektiv meinen: Trendelenburg would be surprised to hear that he has committed a fallacy, just because the subjective-objective contrast can be given several senses. P3 [P3: Whatever is subjective may still be objective] surely means not that subjectivity, in the transcendental sense (subjectivityt), does not exclude objectivity in every other sense, including the empirical sense (objectivitye), but that it does not exclude objectivity in the transcendental sense (objectivityt).¹⁹⁶
Demnach richten sich Trendelenburgs Überlegungen auf die Frage nach der Möglichkeit von transzendenten Formen. Dass eine Möglichkeit transzendenter Formen besteht, kann im Prinzip gar nicht ausgeschlossen werden, weil ein solcher Ausschluss eine transzendente Behauptung wäre. Falkenstein bringt diesen Sachverhalt auf den Punkt: But if N-S [the non-spatiotemporality thesis about things in themselves] were true then we would know a great deal about things as they are in themselves: we would know that they do not have spatiotemporal predicates and we would know that the set of things in themselves does not include anything satisfying our concepts of space and time […].¹⁹⁷
Der Ausschluss transzendenter Formen widerspricht Kants fundamentaler These, dass wir über Dinge an sich selbst nichts wissen können: „[…] N-S appears to
Vgl. Höffe 2003, S. 109 Kanterian 2013, S. 269 (Hervorhebung aufgehoben). Kanterian 2013, S. 274. Zur Mehrdeutigkeit des Begriffspaars subjektiv und objektiv siehe die Ausführungen in Kapitel 1.5.2. Falkenstein 1989, S. 265.
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2 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der Kritik der reinen Vernunft
violate a second, more fundamental Kantian thesis which we can call the unknowability thesis (UK). According to this second thesis, we can have no knowledge of things as they are in themselves.“¹⁹⁸ In der jüngeren Literatur wurde aber zu Recht betont, dass eine konsequente Interpretation der Kopernikanischen Wende bzw. Kants erkenntnistheoretischer Programmatik gar nicht erst zu der Frage führen darf, ob über die Formen des Subjekts hinaus auch noch zusätzlich Formen an sich bestünden, da sie als Frage bereits falsch gestellt ist. Kants Theorie braucht nämlich keine Doppelstruktur, da sie auch ohne diese die Grundfrage der KRV beantwortet und die Grundlegung der Wissenschaften systemintern ermöglicht.¹⁹⁹ Allison beispielsweise betont im Zuge dessen, dass in der metaphysischen Erörterung gezeigt wird, wie die bestimmten Vorstellungen von Raum und Zeit zu verstehen sind, da Kant unsere Vorstellungen von Raum und Zeit analysiert. Diese Vorstellungen können der Argumentation der transzendentalen Ästhetik folgend nicht von außen herrühren. Die nach Allison hiervon unabhängige Argumentation aus der transzendentalen Dialektik zeigt ferner, dass sie epistemisch nicht auf die Dinge an sich angewandt werden können.²⁰⁰ Die Frage, die sich vor diesem Hintergrund stellt, ist somit, ob die beschriebene argumentative Lücke und der damit zusammenhängende Ausschluss transzendenter Formen bzw. einer dritten Möglichkeit ein gravierendes Problem für die kantische Erkenntnistheorie darstellt. Offensichtlich scheint dies nicht der Fall zu sein, denn die empirische Realität von Raum und Zeit, die in den Naturwissenschaften wichtig ist, gesteht Kant unter dem Primat ihrer Idealität zweifelsohne zu.²⁰¹ Zu einer entsprechenden Schlussfolgerung gelangt auch Falkenstein in Auseinandersetzung mit dem Vorwurf einer lückenhaften Argumentation bei Kant: [T]he conclusion is that space and time are real features of the empirically given world, but only of the empirically given world – that as soon as we transcend the bounds of experience and try to talk about objects which do not interact with our sense organs or objects con-
Falkenstein 1989, S. 265. Vgl. im Ansatz auch in Brandt 1998, S. 104 f. und erneut ähnlich in Brandt 2010, S. 24 ff. Vgl. Höffe 2003, S. 109 und ferner hierzu bei Natterer 2003, S. 135. Vgl. Allison 1983, S. 111– 114 und ferner schon im Ansatz Cohen 1918, S. 226 ff. Guyer kritisiert Allison dahingehend, dass seiner Ansicht nach Kants These, wonach Raum und Zeit ursprünglich ideell sein müssen, dadurch motiviert ist, dass sie nicht von den Objekten herrühren können. Im Vergleich zu Allison kehr Guyer somit die Argumentationsrichtung um. Vgl. Guyer 1987, S. 333 – 344. Doch wenn Kants Argumentation erfolgreich wäre, dann müssten beide Argumentationsrichtungen – sowohl vom Subjekt als auch vom Objekt aus – plausibel sein. Jedenfalls greift die Umkehrung Allisons fundamentalen Punkt nicht an, wonach Raum und Zeit als transzendentale Vorstellungen nicht auf transzendente Dinge an sich angewandt werden dürfen. Vgl. hierzu Kapitel 2.2.
2.1 Raum und Zeit als Formen der Anschauung in der transzendentalen Ästhetik
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sidered as they may be in themselves apart from all reference to how they act on our sense organs then the notion of spatiotemporal location no longer has the same meaning. This, I think, is the proper way in which Kantʼs non-spatiotemporality thesis should be read. When it is read in this way it is not a non-sequitur – it does indeed follow from the metaphysical exposition of space and time as orders in which items are presented or laid out in experience. And it does not contradict UK [unknowability thesis about things in themselves] – things in themselves could possibly have monadic positional properties and be in a space and time otherwise isomorphic to experienced space and time. We can make no claim to know that they do not possess such properties, so we can neither affirm nor deny that they are in such a space or time.²⁰²
Wie bereits Baum anhand der Ästhetik zeigt und Allison im Hinblick auf die Dialektik andeutet, lässt sich ferner anführen, dass es für Kant eindeutig ist, dass unsere Vorstellungen von Raum und Zeit, wie sie in der Ästhetik begriffen werden, nicht einfach auf die Dinge an sich übertragen werden können bzw. dass für die menschliche Vernunft keine sinnvollen Vorstellungen von Raum und Zeit an sich selbst möglich sind, weil sie notwendigerweise widersprüchlich sind bzw. zu Antinomie führen.²⁰³ Summa summarum lässt sich festhalten: Auf der einen Seite liefert Kant eine Argumentation, die zeigen soll, dass unsere Vorstellungen von Raum und Zeit nicht auf eine Affektion durch Formen außerhalb des Subjekts zurückgeführt werden können. Auf der anderen Seite kann er in der KRV nicht beweisen, dass Strukturen nicht trotzdem unabhängig vom menschlichen Erkennen in irgendeiner transzendenten, also für den Menschen nicht weiter vernünftig zu bestimmenden Weise an sich existieren. In Ende aller Dinge diskutiert Kant den Gedanken einer unsterblichen Seele, die auch nach dem Ende aller irdischen Dinge weiter existieren könnte. Kant schreibt explizit, dass man sich bei einem solchen Gedanken die Fortdauer der Seele als „eine mit der Zeit ganz unvergleichbare[n] Größe (duratio Noumenon)“ vorstellt, „von der wir uns freilich keinen (als bloß negativen) Begriff machen können“²⁰⁴. Das transzendente Ding an sich selbst könnte also „unvergleichbare“ bzw. ganz andere Formen als die sinnlichen Erscheinungen haben. Der Gedanke aus Ende aller Dinge setzt jedenfalls zumindest die Möglichkeit einer irgendwie gearteten Größe unabhängig der Erscheinung voraus. Genauso wie wir nicht ausschließen können, ob es Gott, ein Reich der Zwecke oder eine unsterbliche Seele gibt, können wir auch nicht gänzlich ausschließen, dass es Formen und Strukturen unabhängig vom Menschen bzw. an sich gibt. Doch ebenso wie das Erstere für uns zwar eine prinzipielle epistemische
Falkenstein 1989, S. 282 f. Vgl. hierzu Kapitel 2.3. AA VIII, 327.
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2 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der Kritik der reinen Vernunft
Grenze, aber eben kein epistemisches Problem in Hinblick auf unsere Erfahrungswirklichkeit darstellt, tut das Letztere dies auch nicht: Es spielt für die kritische Grundfrage und die Grundproblematik der kantischen Erkenntnistheorie nämlich keine Rolle, welche transzendenten Strukturen an sich bestehen, da ein epistemischer Bezug ausgeschlossen ist und unsere erkenntnis- und wirklichkeitskonstitutiven Vorstellungen unabhängig von diesen Strukturen arbeiten. Entsprechend konstatiert Simon: „Wir ,befindenʻ uns, wenn wir denken, immer schon anschauend in Raum und Zeit, und es ist für uns keine sinnvolle, sondern eine desorientierende Frage, was Raum und Zeit ,an sichʻ sein mögen.“²⁰⁵ Die Realität für das Subjekt spielt sich nämlich diesseits und nicht jenseits der Erscheinung ab, denn „was die Dinge an sich sein mögen, weiß ich nicht und brauche es auch nicht zu wissen, weil mir doch niemals ein Ding anders als in der Erscheinung vorkommen kann“²⁰⁶. Dass Kants Augenmerk diesseits der Erscheinung liegt, zeigt sich schon an der methodischen Herangehensweise in den Erörterungen.²⁰⁷ Wie Willaschek und Allison betonen, beansprucht Kant in den Erörterungen von unserem Begriff von Raum und Zeit auszugehen, um ihn zu zergliedern, woraus sich für ihn schließlich ergibt, dass diese Vorstellungen Grundvorstellungen sind, die nicht von außen herrühren können. Dies führt dann dazu, dass Kant in § 3 und § 6 darauf schließt, dass diese Vorstellungen ideell sein müssen. Auch wenn eine transzendente Lücke vor diesem Hintergrund weder in der Ästhetik noch in der Dialektik argumentativ geschlossen werden kann, weil sie argumentativ grundsätzlich nicht schließbar ist, da es den Bereich des Glaubens betrifft, ist dies für das immanente kantische Erkenntnisprojekt, das sich mit der kritischen Frage nach dem Wissen beschäftigt, grundsätzlich unproblematisch.²⁰⁸
Simon 2003, S. 277. B332 f.|A277. Vgl. hierzu nochmals Kapitel 2.1.1. Vgl. dagegen die Kritik in Kanterian 2013, S. 279 ff. und Baiasu 2011, S. 187 f. Im Anschluss an Allison versucht auch Michel anhand der Rekonstruktion der Argumente in der transzendentalen Ästhetik den Vorwurf der Lücke zu entkräften, wobei sie sich– ähnlich wie Willaschek und Baum –auf den subjektiven Punkt des Problems konzentriert. Vgl. Michel 2003, S. 210 – 214. Interessant ist ihr Hinweis im Hinblick auf die praktische Philosophie, dass, wenn die ideellen Formen auch an sich bestünden, der Freiheitsbegriff bei Kant gefährdet wäre, da dann auch Kausalität an sich bestünde und der Determinismus einen Fatalismus nach sich ziehen würde bzw. für Freiheit kein Platz mehr wäre. Vgl. Michel 2003, S. 214– 218. Vgl. ferner Michel 2014, S. 47 ff. Siehe hierzu bei Kant AA XXI, 416 f. Wie oben bereits gesehen, macht bereits Willaschek deutlich, dass die von Kant bestimmten und analysierten Formen nicht in gleicher Weise an sich selbst bestehen können. Darüber, was für Strukturen unabhängig unserer Denk- und Anschauungsformen bestehen könnten und welche Implikationen dies für die menschliche Freiheit haben würde, lässt sich außerhalb des Glaubensbereichs nichts vernünftig sagen.
2.1 Raum und Zeit als Formen der Anschauung in der transzendentalen Ästhetik
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Im Hinblick auf das Ergebnis der transzendentalen Ästhetik lässt sich somit festhalten: Raum und Zeit sind wie schon in De mundi keine empirisch abstrahierten Begriffe (siehe 1. Argument)²⁰⁹, sondern apriorische Vorstellungen (siehe 2. Argument).²¹⁰ Wie zuvor in De mundi kennzeichnen Raum und Zeit ihre kontinuierliche Einheitsstruktur, was sie somit von Begriffen abgrenzt (siehe 3. Raumargument der B-Auflage und 4. Zeitargument).²¹¹ Sowohl Raum als auch Zeit sind unendliche Gebilde (siehe 4. Raumargument der B-Auflage und 5. Zeitargument).²¹² Aufgrund ihrer Aprioritizität dienen sie als Prinzipien der synthetischen Wissenschaft der Mathematik, die somit nach Kant in der transzendentalen Ästhetik die Begründung für ihre Apodiktizität findet (siehe das dritte A-Raumargument und das dritte Zeitargument bzw. die transzendentale Erörterung).²¹³ Diese Ergebnisse der Erörterungen führen nach Kant zusammen zu dem Schluss, dass Raum und Zeit transzendentale Idealitäten darstellen müssen, was Kant expressis verbis in den anschließenden Schlüssen konkludiert. Im Unterschied zur Erörterung von Raum und Zeit gibt es bei den Schlüssen ein inhaltliches Ungleichgewicht, sodass das äußere Ungleichgewicht in der Textgestaltung hier auch gerechtfertigt werden kann und nicht über Mängel bei der Redaktion spekuliert werden muss.²¹⁴ Während beim Raum lediglich angeführt wird, dass er a) keine Eigenschaft der Dinge an sich oder selbst ein Ding an sich ist und b) Form aller Erscheinungen des äußeren Sinns und somit trotz seiner Idealität wirklichkeitskonstitutiv ist, betont er bei der Zeit noch zusätzlich, dass sie c) Form aller Erscheinungen sowohl des äußeren als auch des inneren Sinns ist.²¹⁵ Während der
Vgl. AA II, 398 f; 402. Vgl. ferner Vaihinger 1922b, S. 368 f. Die Unterschiede zum entsprechenden Argument in De mundi sind nach Heidemann bloße Formulierungsänderungen und können daher „vernachlässigt werden“ (Heidemann, D. 2018, S. 26). Krüger merkt an, dass Kants De mundi „bereits alle wesentlichen Lehren ,der transzendentalen Aesthetikʽ enthält“ (Krüger 1967, S. 271 Anm.). Dieses zweite Argument hat – wie oben schon angemerkt – keine direkte Entsprechung zu den Ausführungen in De mundi. Gleichwohl findet sich auch dort die Aussage, dass Raum und Zeit keine Begriffe sind. Vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 1.4. Vgl. AA II, 398 f; 402 und ferner die Ausführungen in Kapitel 1.4. Vgl. zu diesem komplexen Punkt in De mundi die Ausführungen in Kapitel 1.4. Vgl. AA II, 397 f.; 405 f. Zum Ungleichgewicht zwischen den Erörterungen siehe die Ausführungen in Kapitel 2.1.4. Kant koppelt hier die Zeit an den inneren Sinn. Hierzu schreibt Monzel: „Nunmehr macht entsprechend der Gegenüberstellung von Raum und Zeit der gesamte Bereich der Sinnlichkeit eine hemisphäre Teilung in einen äusseren und inneren Sinn notwendig. Das Jahr 1769 ist also auch das Geburtsjahr des inneren Sinnes in seinem typischen sensuellen Charakter für die Kantsche Philosophie. Zugleich aber ist es dadurch noch bedeutungsvoll, dass jetzt zum ersten Male in der gesamten Philosophie der innere Sinn in eine nähere Beziehung zur Zeitform zu treten scheint.“ (Monzel 1912, S. 67). Zwar scheint auch der vorkritische Kant – entgegen Monzels Ein-
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2 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der Kritik der reinen Vernunft
Raum lediglich für äußere Anschauungen zuständig ist, ist die Zeit Form sowohl äußerer als auch innerer Anschauungen. Oder anders ausgedrückt: Für äußere Anschauungen sind sowohl Raum als auch Zeit zuständig. Bereits in De mundi erwähnt Kant, dass die Zeit „den Raum selber“ in „ihren Beziehungen umfaßt“²¹⁶. Ein solches inhaltliches Ungleichgewicht bzw. ein solcher Unterschied zwischen Raum und Zeit ist umso bedeutender, da – wie Krüger richtig feststellt – Kant in der Ästhetik primär „um die für Raum und Zeit gemeinsamen Momente“²¹⁷ bemüht erscheint. In Anbetracht dessen kann Krüger im Vergleich zum sonstigen Vorgehen in der Ästhetik konstatieren, dass die „Parallelität des Aufbaus der Raum- und der Zeituntersuchung […] nur an dem einen Punkte auf[hört], [nämlich] wo die Zeit als ,formale Bedingung a priori aller Erscheinungen überhauptʻ (der inneren unmittelbar, der äußeren mittelbar) ausgezeichnet wird“²¹⁸. Für Simon ist dieser spezifische Punkt aber entscheidend, denn er kündigt an, dass die Zeit in der Analytik eine größere Rolle als der Raum spielen wird. Es deutet sich an, dass „das Hauptgewicht auf der Zeit“ liegen wird, wenn es um die „Ausführung des transzendentalidealistischen Ansatzes“²¹⁹ geht. Diese Vorrangstellung der Zeit führt zu einer Schwierigkeit, wenn Kant versucht, beide Formen der Sinnlichkeit strukturell zu charakterisieren und damit auch zu unterscheiden. Raum und Zeit werden dabei in der Literatur in erster Linie strikt danach differenziert, dass der Raum als Form des äußeren Sinns die Form des Nebeneinanders, die Zeit hingegen als Form des innerer Sinns die Form des Nacheinanders darstellt.²²⁰ Darüber hinaus beschreibt Kant die Zeit jedoch bereits in der Ästhetik als Form des „Zugleichseins“²²¹. Parallel hierzu weist auch der Raum eine gewisse Nähe zu dieser zeitlichen Struktur auf, da die „Theile des Raumes […] zugleich
schätzung an dieser Stelle – einen inneren Sinn bzw. ein „sensum internum“ (AA I, 411) zu kennen, gleichwohl war dort noch keine Rede davon, dass die Zeit die Form dieses inneren Sinns darstellt. Die Kopplung ist eine wichtige und systemrelevante Neuerung, wie sich in der Auseinandersetzung mit dem Schematismus noch zeigen wird.Vgl. hierzu weiter unten in Kapitel 2.2.3 und Hinblick auf die vorkritische Phase die Anmerkung 261 in Kapitel 1. Gleichwohl ist im Hinblick auf Monzels pathetische Einschätzung zu berücksichtigen, dass der Zusammenhang zwischen Zeit und Geist ein „uraltes Erbe“ (Gloy 2008, S. 144) der Philosophiegeschichte darstellt, worauf Gloy berechtigterweise hinweist. Vgl. Gloy 2008, S. 144. WW V, 67. Vgl. zu dieser Stelle die Ausführungen in Prauss 2015, S. 251 ff. und ferner Prauss 2019, S. 409. Krüger 1967, S. 270. Gleichwohl sieht es Krüger als ein Versäumnis Kants an, „weniger das spezifisch Zeitliche als die Analogie der Zeit mit dem Raum betont“ (Krüger 1967, S. 280) zu haben. Krüger 1967, S. 271. Simon 1969, S. 36. Vgl. hierzu die Kritik von Mohr an Rohs und Vaihinger in Mohr 1998, S. 114 f. B67.
2.1 Raum und Zeit als Formen der Anschauung in der transzendentalen Ästhetik
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[sind]“²²². Schon an der strukturellen Beschreibung der Formen zeigt sich somit, dass die Formen einen gemeinsamen Gegenstandsbereich haben, für den sie beide zuständig sind. Durch den größeren Zuständigkeitsbereich der Zeit zeigt sich an dieser Stelle bereits ihr besonderer Status beim Erkenntnisprozess, der in der Analytik expliziert wird.²²³
2.1.7 Inkongruente Gegenstücke in der kritischen Phase Bevor im nächsten Kapitel die transzendentale Analytik im Hinblick auf die Themen Raum und Zeit behandelt wird, soll hier übergangsweise noch auf ein Thema eingegangen werden, das in der vorkritischen Phase von besonderer Bedeutung war: nämlich die inkongruenten Gegenstücke. In Anbetracht der vorkritischen Phase ist es auffällig, dass das Thema der inkongruenten Gegenstücke in der transzendentalen Ästhetik zunächst nicht weiter aufgegriffen wird. Prima facie ist das erstaunlich, da das Thema nach den Ausführungen zur vorkritischen Phase eine wichtige Rolle für den Übergang in die kritische Phase spielte. Ferner wird auch in der Kant-Literatur gelegentlich hervorgehoben, dass die Auseinandersetzung mit den inkongruenten Gegenstücken ein von den Argumenten der Erörterungen unabhängiges Argument für die Idealität der Anschauungsformen bietet.²²⁴ Wie lässt es sich dann aber erklären, dass die inkongruenten Gegenstücke in der transzendentalen Ästhetik keine Rolle spielen? Zunächst gilt es
B40. Wie verständlich werden kann, dass sowohl im Raum als auch in der Zeit Teile zugleich auftreten, wird in Kapitel 2.2.3 thematisiert. Vor dem Hintergrund sowohl der Bedeutung der Zeit zum Schluss der Ästhetik als auch der Abhängigkeit der Konstruktion bestimmter Räume von der Zeit in der Analytik hält Riehl die gleichberechtigte Parallelisierung der beiden Anschauungsformen in der Ästhetik für einen Fehler: „Ich halte daher die parallele Behandlung von Raum und Zeit in der transzendentalen Ästhetik für einen Fehler.“ (Riehl 1925. S. 146). Obwohl Riehl mit der Betonung des Vorrangs der Zeit einen interessanten Punkt anspricht, scheint er hier nicht zwischen dem ursprünglichen Anschauungsraum und abgeleiteten bestimmten Räumen, wie sie in der Analytik Thema werden, zu unterscheiden. Vgl. Riehl 1925. S. 146. Trotz seines Verweises auf den Unterschied zwischen subjektiver Wahrnehmung und objektiver Erfahrung, woraus sich eine „Auffassung der Zeit [als] objektiv[e]“ gewinnen ließe, kommt Riehl zu dem Schluss, dass eine „Diskrepanz zwischen der subjektiven und objektiven Zeit […] vom Standpunkte der Kantschen Lehre aus wenigstens schwer und nur gezwungen erklärlich“ (Riehl 1925, S. 161) werden könnte. Gloy kritisiert zu Recht, dass Riehl die ursprüngliche Struktur des Raums ungerechtfertigterweise mit der Apprehension von bestimmten Räumen gleichsetzt. Die ursprünglich homogene und kontinuierliche Struktur des Raums lässt sich nach Kant gerade nicht sukzessiv zusammensetzen. Vgl. Gloy 2008, S. 152 ff. Siehe hierzu Weiteres in Kapitel 2.2. Vgl. beispielsweise Allison 1983, S. 81.
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2 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der Kritik der reinen Vernunft
darauf aufmerksam zu machen, dass Kant in der Analytik zumindest eine Auseinandersetzung mit kongruenten Gegenständen im Hinblick auf Leibnizʼ Satz des Nichtzuunterscheidenden bietet, die eine „evidente Ähnlichkeit“²²⁵ zur Auseinandersetzung mit den inkongruenten Gegenständen aufweist, wie Giovanelli richtigerweise betont. In der vorkritischen Phase führte Kant – wie im Kapitel 1.3 gesehen – gegen Leibnizʼ metaphysischen Satz die inkongruenten Gegenstücke an, die einen Unterschied aufweisen, der für Kant begrifflich nicht eindeutig erfasst werden kann. In der KRV reicht ihm hingegen Clarkes Beispiel mit den „zwei Tropfen Wasser“, bei denen wir von „aller innern Verschiedenheit […] völlig abstrahieren“²²⁶ und somit zwei kongruente Gegenstände erhalten. Denn damit zeigt sich für Kant erneut, dass Gegenstände nur durch ihre Stellung im Raum eindeutig unterschieden werden können.²²⁷ Der Raum kann in der transzendentalen Logik vor dem Hintergrund der Ergebnisse der transzendentalen Ästhetik als Mannigfaltigkeitsprinzip vorausgesetzt werden. Der Raum muss an dieser Systemstelle nicht auch noch als Mannigfaltigkeitsprinzip begründet werden, denn die „Vielheit und numerische Verschiedenheit [ist] schon durch den Raum selbst als die Bedingung der äußeren Erscheinungen angegeben“, was somit nichts anderes als eine Schlussfolgerung und Anwendung der transzendentalen Ästhetik darstellt. Infolgedessen kann er in der transzendentalen Logik behaupten: „Die Verschiedenheit der Örter macht die Vielheit und Unterscheidung der Gegenstände […], ohne weitere Bedingungen schon für sich nicht allein möglich, sondern auch nothwendig.“²²⁸ Entsprechend konstatiert auch Gloy: Was für die Wassertropfen gilt, gilt auch für die übrigen Raum- und Zeitgestalten und damit für alle Raum- und Zeitteile, so daß nicht nur die relativ seltenen Fälle inkongruenter spiegelsymmetrischer Raum- und Flächengestalten, auch nicht nur bestimmte kongruente Raum- und Zeitkonfigurationen, sondern insgesamt alle Raum- und Zeitteile zum Erweis der
Giovanelli 2010, S. 297. B319|A263 f. Kant greift dieses Beispiel der Wassertropfen auch später in seiner Preisschrift noch einmal auf. Vgl. AA XX, 280 f. Ferner thematisierte Kant dieses Beispiel auch in seinen Vorlesungen.Vgl. AA XXVIII, 567 f. Das Beispiel findet sich schon im Briefwechsel zwischen Clarke und Leibniz. Vgl. hierzu die Ausführungen im Einführungskapitel 0.4 und ferner auch die Ausführungen in Patt 1987, S. 191 ff. Kants ambivalentes Verhältnis zu Leibniz drückt sich auch hier aus. Während er in der KRV versucht, Leibnizʼ Satz zu entkräften, versucht er in zumindest nach der Aufzeichnung seiner Metaphysik-Vorlesung aus dem Jahr 1792 seine Position unter dem Titel des leibnizischen Prinzips zu vertreten. Dort heißt es: „Zwei Oerter machen den Unterschied im Raume, dieser Leibnitzische Satz wird genannt, principium identitatis indiscernibilium, interne indiscernibilium sollte man es ausdrücken.“ (AA XXVIII, 645). Bezüglich Kants ambivalentem Verhältnis zu Leibniz siehe auch Baumgarten, H. 1997. B328|A272.
2.1 Raum und Zeit als Formen der Anschauung in der transzendentalen Ästhetik
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Eigenständigkeit des Raumes und der Zeit und deren Anschauungscharakter herangezogen werden können; denn allesamt unterstehen dem paradoxen Sachverhalt von Identität und Differenz, der anschaulich Form von Homogenität, d. h. durchgängiger Gleichartigkeit und Austauschbarkeit der Teile, und Stellenverschiedenheit, d. h. durchgängiger Unvertauschbarkeit der Teile, auftritt.²²⁹
Raum und Zeit werden in der Analytik somit als notwendige Prinzipien des sinnlichen Anschauens und Differenzierens vorausgesetzt. Unabhängig von dieser Auseinandersetzung mit den kongruenten Gegenständen in der KRV geht Kant explizit in den Prolegomena und den MAN auf die inkongruenten Gegenstücke ein. In den Prolegomena ist Kant um eine „analytisch[e]“ Methode bemüht, die sich von der „synthetisch[en]“²³⁰ der KRV in ihrer Vorgehensweise unterscheidet. Konkret bedeutet das für Kant, wie er wenig später ausführt, dass „man von dem, was gesucht wird, als ob es gegeben sei, ausgeht und zu den Bedingungen aufsteigt, unter denen es allein möglich“ ist. Diese „analytische Methode“ beschreibt Kant daher als „regressive Lehrart“²³¹. Wird die Erfahrung dann im Hinblick auf Raum und Zeit analysiert, kommt es nach Kant notwendigerweise zu einem „Paradoxon“, wenn zugleich vorausgesetzt wird, dass „Raum und Zeit wirkliche Beschaffenheiten […] [der] Dinge[] an sich selbst“²³² seien. Es ist das Paradox der inkongruenten Gegenstücke, dass Kant zwar nicht in der KRV, dafür aber in den Prolegomena erneut aufgreift, um zu zeigen, dass der „Raum die Form der äußeren Anschauung“ sein muss. Nach Gloy behandelt Kant die inkongruenten Gegenstücke in den Prolegomena, weil sie markante Beispiele für die Analyse der Erfahrung darstellen. Als markante Beispiele macht es durchaus Sinn, sie in einer Schrift wie den Prolegomena, die methodisch von der Faktizität der Erfahrung ausgeht, anzuführen und zu diskutieren.²³³ Auch Lyre meint, dass eine Erklärung, wieso die inkongruenten Gegenstücke nicht in der
Gloy 1990, S. 35. AA IV, 274 f. Inwieweit beide Schriften strikt nach dieser methodischen Unterscheidung zu differenzieren sind, bleibt fraglich, spielt doch beispielsweise bei der Gewinnung der Urteils- und Schlussformen das analytische Verfahren auch in der KRV eine wesentliche Rolle.Vgl. B95 f.|A70 f. bzw. B378 f.|A321 f. Vgl. hierzu Al-Azm 1967, S. 30 ff. Guyer bemerkt zu Recht sowohl über die Prolegomena als auch über die KRV: „both use an analytic method“ (Guyer 2012, S. 292). Trotzdem legt Guyer nachvollziehbar dar, dass es gerade im Hinblick auf die Stellung von Kants Lehre vom Schematismus sinnvoll ist, beide Schriften zumindest dem Prinzip nach anhand dieser methodischen Unterscheidung Kants zu differenzieren. Vgl. Guyer 2012, S. 292– 298. Vgl. auch Schliemann 2012, S. 26 – 30. AA IV, 276 Anm. AA IV, 285. Vgl. Gloy 1990, S. 34 f.
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2 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der Kritik der reinen Vernunft
KRV angesprochen werden, darin besteht, dass die KRV beansprucht, primär nach einer synthetischen Methode vorzugehen.²³⁴ Für Riehl dienen die inkongruenten Gegenstücke in der kritischen Phase nur „zur Erläuterung, nicht zum Beweise, der Idealität des reinen Raumes“²³⁵. Genauer betrachtet soll das Beispiel der inkongruenten Gegenstücke in den Prolegomena vor Augen führen, dass „die innere Bestimmung eines jeden Raumes […] nur durch die Bestimmung des äußeren Verhältnisses zu dem ganzen Raume, davon jener ein Theil ist, […] d. i. der Theil ist nur durchs Ganze möglich, welches bei Dingen an sich selbst als Gegenständen des bloßen Verstandes niemals, wohl aber bei bloßen Erscheinungen stattfindet“²³⁶. Kant sieht in der kontinuierlichen Struktur von Raum und Zeit ein Argument gegen die aus transzendentalphilosophischer Sicht naive Vorstellung, dass Gegenstände bereits vor dem Erkenntnisprozess vollständig bestimmt bereit stünden. Erkenntnistheoretisch hält Kant im gleichen Atemzug fest, dass inkongruente Gegenstücke in ihrem inneren Unterschied durch keinen Begriff verständlich gemacht werden können, „sondern nur durch das Verhältniß zur rechten und linken Hand, welches unmittelbar auf Anschauung geht“²³⁷. Damit ist nicht gemeint, dass mit der bloßen Raumvorstellung eine objektkonstituierende Bestimmung möglich wäre; bekannterweise Vgl. Lyre 2005, S. 58 Anm. Riehl 1924, S. 336. Analog auch bei Koriako 1999, S. 111. Dass Kant – wie Al-Azm meint – von der Beweiskraft des Beispiels nicht mehr überzeugt war, entbehrt einer textlichen Grundlage, da Kant dies nirgends expressis verbis erwähnt oder auch nur andeutet. Vgl. Al-Azm 1967, S. 27. AA IV, 286. Da Kant in den Prolegomena die inkongruenten Gegenstücke nutzt, um zu zeigen, dass Raum und Zeit keine Dinge an sich sind, wurde in der Kant-Literatur in Frage gestellt, ob Kants Auseinandersetzungen mit den inkongruenten Gegenstücken über die Jahre inkonsequent seien oder nicht sogar in einer Spannung zueinander stünden. Beispielsweise meint Bennett, hier eine Unsicherheit Kants bezüglich der Konsequenzen seiner Auseinandersetzungen mit den inkongruenten Gegenstücken feststellen zu müssen; deshalb habe Kant sie in der KRV gar nicht erst erwähnt. Vgl. Bennett 1991, S. 99 f. In Kapitel 1.4 konnte gezeigt werden, dass Kant 1768 noch zu einer anderen Interpretation seiner Argumentation als 1770 gelangt, weil er über das Raumkonzept, wonach der Raum eine reine Anschauung ist, im Jahr 1768 noch nicht verfügte und sich daher gezwungen sah, vorerst ein realistisches Raumkonzept zu behaupten – trotz der Schwierigkeiten, die ihm schon 1768 bewusst waren. Ähnlich verhält es sich auch im Vergleich zwischen den Ausführungen von 1770 in De mundi und 1783 in den Prolegomena. 1770 hatte Kant seine Kopernikanische Wende noch nicht vollzogen, sodass er an einer transzendenten Kosmologie festhielt. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass Kant 1783 nicht zu denselben Konsequenzen gelangen kann wie 1770. Das eigentliche Argument aber, dass die Differenzierung inkongruenter Gegenstücke einen globalen Raum als Einheit voraussetzt, bleibt im Kern dasselbe. Es scheint vor diesem Hintergrund sinnvoll, nicht von Spannungen bei Kant, sondern eher von einer Weiterentwicklung bei diesem Thema zu sprechen. Vgl. hierzu insbesondere den Aufsatz Buroker 1991. Vgl. hierzu Van Cleve 1991a, S. 24 f. AA IV, 286.
2.1 Raum und Zeit als Formen der Anschauung in der transzendentalen Ästhetik
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gilt in der KRV, dass „Anschauungen ohne Begriffe […] blind“²³⁸ sind. Um objektive Gegenstände zu gewinnen, muss die Anschauung zum Objekt bestimmt werden. Denn das ursprüngliche und gleichförmige Kontinuum, in dem Teile nur durch Teilung möglich sind, ist noch nicht das konkrete, zeitliche und objektive Kausalverhältnis oder die konkrete messbare und objektive Raumform bzw. Gestalt eines Erfahrungsobjekts, wie beispielsweise die Figur eines kegelförmigen Gegenstands, sondern vielmehr die objektlose, mithin subjektive Form der Sinnlichkeit. Vor diesem Hintergrund stellt sich also die Frage, wie aus der ursprünglich subjektiven Form letztlich eine Form der Objekte wird. Deutlich macht Kant diesen Unterschied und die Notwendigkeit der Überführung eines subjektiven in einen objektiven Raum an folgender Stelle in den Prolegomena: Der Raum ist etwas so Gleichförmiges und in Ansehung aller besondern Eigenschaften so Unbestimmtes, daß man in ihm gewiß keinen Schatz von Naturgesetzen suchen wird. Dagegen ist das, was den Raum zur Cirkelgestalt, der Figur des Kegels und der Kugel bestimmt, der Verstand, so fern er den Grund der Einheit der Construktion derselben enthält. Die bloße allgemeine Form der Anschauung, die Raum heißt, ist also wohl das Substratum aller auf besondere Objecte bestimmbaren Anschauungen, und in jenem liegt freilich die Bedingung der Möglichkeit und Mannigfaltigkeit der letzteren; aber die Einheit der Objecte wird doch lediglich durch den Verstand bestimmt […].²³⁹
Zwar ist es prima facie nachvollziehbar, wenn Vaihinger in Anbetracht der transzendentalen Ästhetik kritisiert, dass dort ein „wichtiges Element“ fehlt, wodurch die Frage beantwortet werden könnte, wieso „ich mir diesen Gegenstand viereckig, jenen dreieckig, diesen rund, jenen oval“ vorstelle, doch dass „bei Kant der
B75|A51. AA IV, 321 f. Mit Bezug auf diese Stelle führt Brittan aus, dass der ursprünglich bloß topologische Raum durch die Bestimmung des Verstandes zu konkreten Formen eine Metrik enthält, wodurch sich Kant von Newton unterscheidet, für den der Raum ursprünglich ein metrischer Raum ist: „[…] Kant rejects the Newtonian view. For Kant, space and time do not have an intrinsic metric. Rather, a metric is ʻbrought toʼ space and time by the understanding – that is, they are conceptualized in certain ways. The activity of the understanding thus makes measurement of objects with respect to their spatial and temporal properties possible. To repeat a point already made, the understanding thereby makes possible determinate space and time.“ (Brittan 1978, S. 99). Vgl. hierzu ferner Palter: „In a (purely) topological space such geometric notions as parallelism and distance are not defined.“ (Palter 1971, S. 49 f.). Gloy dagegen meint, dass Metrik und Topologie überhaupt erst durch die Anwendung der mathematischen Kategorien und der Relationskategorien entstehen: „So wie die Anwendung der Quantitätskategorien auf die Zeit im Schema der Zeitreihe zur Zeitmetrik (Zeitmessung) führt, so führt die Anwendung der Relationskategorien auf die Zeit zur Topologie, zur Aufstellung aller möglichen und erdenkbaren Zeitbeziehungen und -ordnungen.“ (Gloy 1990, S. 65). Vgl. ferner Anmerkung 161 in Kapitel 0.
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2 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der Kritik der reinen Vernunft
Grund [hierfür] vollständig“²⁴⁰ fehle, wie Vaihinger ferner kritisiert, stimmt nicht. Wie das Zitat aus den Prolegomena zeigt, ist für die Bestimmung einer konkreten Form der Verstand zuständig. Auch Rohs meint, dass der Einwand, wonach bei Kant auch formale Bestimmungen wie „rund“, „eckig“ oder „oval“ empfindungsabhängig sein müssen, letztlich unproblematisch für Kant ist und entgegen der Kritik Vaihingers gerade nicht auf eine „förmliche[] Widerlegung der transzendentalen Ästhetik hinaus[läuft]“²⁴¹, da Kant deutlich macht, dass die räumliche Bestimmung am Objekt (d. i. die Gestalt) nicht nur von der Empfindung, sondern auch von den apriorischen Formen des Erkenntnisvermögens – Sinnlichkeit und Verstand – abhängt.²⁴² Die Antwort auf Vaihingers Frage darf somit nicht nur in der Ästhetik, sondern muss auch in der Analytik gesucht werden. Entsprechend betont Dörflinger, dass im Kontext der kantischen Lehre von Raum und Zeit auch die Analytik berücksichtigt werden muss, denn einer „bloß von der Rezeptivität her verstandenen Sinnlichkeit kommt nicht das Vermögen der Vorstellung bestimmter Raumstruktur zu, also nicht das Vorstellen einer bestimmten Teile- bzw. Gestaltartikulation, insofern dafür doch Verbindung, Zusammenfassung zu Einheit und also ein Beisammen-Sein von Mannigfaltigem vorauszusetzen sind“. Damit ist für Dörflinger klar: „Ohne Synthesisbehandlung […] würde keine solche Artikulation [entspringen].“²⁴³ An dieser Stelle wird deutlich, dass die einheitsstiftende Funktion von Raum und Zeit auch in der Analytik von Bedeutung sein muss, vor allem im Unterschied zur einheitsstiftenden Funktion des Verstandes. In der Analytik gelangt Kant seiner Meinung nach dann auch schließlich zu seiner systematischen Lösung der Probleme, die sich in den Briefen nach 1770 angekündigt haben.²⁴⁴ Schließlich führt Kant dort auch seine gegenüber De mundi neue Konzeption eines transzendentalen Schematismus ein.
Vaihinger 1922b, S. 180. Rohs 1975, S. 291. Vgl. hierzu Rohs 1975, S. 295 f. Dörflinger 2002, S. 15 f. Vgl. hierzu Kapitel 1.5.
2.2 Raum und Zeit als formale Anschauungen in der transzendentalen Analytik
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2.2 Raum und Zeit als formale Anschauungen in der transzendentalen Analytik 2.2.1 Die holistische Einheit von Raum und Zeit und die synthetische Einheit des Verstandes im Hinblick auf Kants Unterscheidung zwischen Form der Anschauung und formaler Anschauung als Interpretationsproblem Die letzten Ausführungen zeigen, dass für das Verständnis der kantischen Lehre von Raum und Zeit eine Auseinandersetzung mit der transzendentalen Analytik unentbehrlich ist. Der Zusammenhang zwischen Ästhetik und Analytik wird sich dabei besonders an Kants Einheitsverständnis festmachen lassen. Wie das vorherige Kapitel nämlich zeigt, stellt sich Kant die Formen der Sinnlichkeit weiterhin als einheitliche Vorstellungen vor, denn Anschauungen sollen gerade solche einheitlichen Vorstellungen sein: Sie enthalten mehr als „bloß Mannigfaltiges“, „nämlich Zusammenfassung […] [und] Einheit der Vorstellung“²⁴⁵. Bereits in De mundi hieß es bezüglich der Sinnlichkeit: Die „Form der Sinnlichkeit […] gehört zur reinen Anschauung“²⁴⁶. Kant folgt diesem Ansatz in der KRV: „Diese reine Form der Sinnlichkeit wird auch selber reine Anschauung heißen“²⁴⁷, denn in dieser Form kann „alles Mannigfaltige der Erscheinungen in gewissen Verhältnissen angeschauet“²⁴⁸ werden. Der Raum ist eine „Einheit, mithin reine Anschauung“²⁴⁹. In der A-Auflage spricht Kant der Sinnlichkeit sogar eine eigene Art von Verbindung zu: Die „Synopsis des Mannigfaltigen a priori durch den Sinn“ hat sowohl einen empirischen als auch einen transzendentalen Gebrauch, dabei geht der letztere Gebrauch „lediglich auf die Form“²⁵⁰. Trotz der Mannigfaltigkeit ist die Sinnlichkeit vermögend, eine ganzheitliche Anschauung vorzustellen, weshalb Kant ihr die „Synopsis beileg[t]“. Gleichzeitig betont er, dass „jederzeit eine Synthesis“ zu dieser Synopsis der Sinnlichkeit „correspondirt“²⁵¹, da sonst keine
B160 Anm. WW V, 43. B34 f.|A20. Vgl. ferner in den Prolegomena AA IV, 284. B34|A20. Refl. 4756, AA XVII, 700. A94. A97. Für Heidemann zeigt der Begriff Synopsis bei Kant an, dass die Zeit einer „Einigung von sich aus fähig ist“, was zugleich aber die Frage nach der „Aktivität der Zeit“ (Heidemann, I. 1958, S. 140) im Hinblick auf die Heterogenität zwischen Verstand und Sinnlichkeit aufwirft. Und auch schon bei Heidegger heißt es: „Die reine Anschauung muß ursprünglich einigend, d. h. Einheit gebend, die Einheit erblicken. Kant spricht daher mit Recht hier nicht von einer Synthesis, sondern von der ,Synopsisʻ“ (Heidegger 1951, S. 131). Gleichwohl interpretiert Heidegger, dass die einfache Synthesis und die Synopsis von einer höherstufigen Synthesis umgriffen werden, was
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2 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der Kritik der reinen Vernunft
Erkenntnis zustande käme. Wie das genaue Verhältnis dieser Korrespondenz zu denken ist, lässt Kant hier offen. Entsprechend stellt Heidemann berechtigterweise folgende Frage: Handelt es sich nun um eine Korrespondenz, oder handelt es sich vielleicht um ein Abhängigkeitsverhältnis, nach dem Spontaneität und Rezeptivität nicht nur aufeinander bezogen sind, sondern in dem Denken und Zeit auf Grund eines Fundierungsverhältnisses aufeinander beruhen?²⁵²
Auch jüngst ist diese Frage bei Wunsch angesprochen worden: „Da auch die Synthesis der Einbildungskraft das sinnliche Mannigfaltige betrifft, bleibt insbesondere unklar, worin sich die Synopsis des Sinns und die ihr korrespondierende Synthesis der Einbildungskraft unterscheiden sollen.“²⁵³ Unabhängig hiervon scheint Kant bereits in den Vorarbeiten zur KRV bewusst zu sein, dass die Einheit der Anschauung mit der Einheit der Apprehension in Verbindung gebracht werden muss: „Die Einheit der apprehension ist mit der Einheit der Anschauung Raum und Zeit nothwendig verbunden, denn ohne diese würde die letztere keine realvorstellung geben.“²⁵⁴ In der A-Deduktion führt Kant aus, dass wir ohne eine Synthesis der Apprehension in der Anschauung „weder die Vorstellung des Raumes, noch der Zeit a priori haben können: da diese nur durch die Synthesis des Mannigfaltigen, welches die Sinnlichkeit in ihrer ursprünglichen Receptivität darbietet, erzeugt werden können. Also haben wir eine reine Synthesis der Apprehension“²⁵⁵. Ferner betont Kant im Anschluss, dass auch die mit der Apprehension verbundene, transzendentale Synthesis der Reproduktion in Verbindung mit Raum und Zeit steht, denn hätten wir eine Vorstellung, bei der ich beim Durchlaufen des Mannigfaltigen das Vorherige „immer aus den Gedanken verlieren [würde] und sie nicht reproduciren [könnte], indem ich zu den folgenden jedoch im Hinblick auf die nicht-synthetische Einheit von Raum und Zeit fraglich ist. Vgl. Heidegger 1951, S. 131. Wunsch gelangt in Anbetracht des kontinuierlichen Strukturmoments folgerichtig zu der Schlussfolgerung, dass die Synopsis eine vorsynthetische Einheit darstellen und den Synthesen der Einbildungskraft zugrunde liegen muss. Wunsch betont: „Der Gesichtspunkt der Synopsis ist in diesem Sinne grundlegender als der der Synthesis.“ (Wunsch 2007, S. 136). Auch nach Unruh leistet die „synoptische[] Anschauung des Raumes […] die Einheit der Mannigfaltigkeit“. Dies geschieht jedoch gerade nicht – und somit im Unterschied zur Synthesis – „additiv zusammengesetzt“ (Unruh 2007, S. 199), sondern ursprünglich. Vor diesem Hintergrund kann auch Hoppes einfacher Gleichsetzung von Synopsis und Synthesis, wonach sie „das Resultat einer auf Spontaneität beruhenden Synthesis“ (Hoppe 1998, S. 166) sei, nicht zugestimmt werden. Heidemann, I. 1958, S. 79. Wunsch 2007, S. 135. Refl. 4678, AA XVII, 660. A100 f.
2.2 Raum und Zeit als formale Anschauungen in der transzendentalen Analytik
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fortgehe, so würde niemals eine ganze Vorstellung […], ja gar nicht einmal die reinste und erste Grundvorstellungen von Raum und Zeit entspringen können“²⁵⁶. In der B-Auflage finden wir diese Stellen aus der A-Auflage nicht mehr: Kant wird nunmehr vorsichtiger, Synthesis und Anschauungsformen miteinander in Verbindung zu bringen. Die Sinnlichkeit soll das rezeptive und passive bzw. leidende Vermögen darstellen, das „nichts als Empfänglichkeit ist“²⁵⁷, da es mittels Affektion erst erweckt werden muss, um Inhalte aufzunehmen.²⁵⁸ Dass Raum und Zeit eine gegebene Größe darstellen, scheint von dieser Passivität des rezeptiven Erkenntnisvermögens zu zeugen, die Kant im Zusammenhang mit der Sinnlichkeit immer wieder betont, um sie vom spontanen Erkenntnisvermögen des Verstandes zu unterscheiden. Gleichwohl soll Gegebenheit – wie bereits in De mundi und im obigen Kapitel zur Ästhetik ausgeführt – nicht einfach bedeuten, dass die sinnlichen Formen angeboren sind.²⁵⁹ Vor diesem Hintergrund spricht Kant stellenweise auch noch in der B-Auflage der Sinnlichkeit eine gewisse Aktivität zu. In den Amphibolien der Reflexionsbegriffe führt Kant aus, was es bedeutet, dass Raum und Zeit reine Anschauungen sind. Damit ist zunächst nicht gemeint, dass die „Form[en] der Anschauung“ einzelne „Gegenstände“ wären, „die angeschauet werden“ und somit einfach vorliegen würden: Raum und Zeit „als die bloße Form der Anschauung sind ohne ein Reales keine Objecte“²⁶⁰. Gleichwohl sind sie aber „Etwas“, nämlich „als Formen anzuschauen“²⁶¹. Sie sind demgemäß nicht nur Formen der Anschauung, sondern auch Formen des Anschauens. Sie sind nicht nur Formen des Produkts der Anschauung, sondern auch Formen des Anschauens selbst, das dieses Produkt hervorbringt.²⁶² Obwohl Kant in der B-Auflage „alle A102. B129. Vgl. hierzu folgende Stelle aus der Dialektik: „Das sinnliche Anschauungsvermögen ist eigentliche nur eine Receptivität, auf gewisse Weise mit Vorstellungen afficiert zu werden, deren Verhältniß zu einander eine reine Anschauung des Raumes und der Zeit ist (lauter Formen unserer Sinnlichkeit), und welche, so fern sie in diesem Verhältnisse (dem Raum und der Zeit) nach Gesetzen der Einheit der Erfahrung verknüpft und bestimmbar sind, Gegenstände heißen.“ (B522| A494). Vgl. hierzu Kapitel 1.4 bzw. 2.1.5. B349|A292. B347|A291. Vgl. darüber hinaus Refl. 5377, AA XVIII, 166. Vor diesem Hintergrund weist Vaihinger auf den „Doppelsinn des Ausdrucks ,Formʻ“ hin. Zum einen ist damit eine „formirende Thätigkeit“ gemeint, zum anderen wird damit die „Beschaffenheit der Erscheinung“ (Vaihinger 1922b, S. 82 (Hervorhebung aufgehoben)) bezeichnet. Krausser macht darauf aufmerksam, dass es bei der Kant-Interpretation wichtig ist, auf die „allgemeine Mehrsinnigkeit von Wörtern, die im Deutschen auf ,–ungʻ enden“, zu achten. So kann das Wort Anschauung „sowohl den Akt […] anschauen […], als auch das intendierte Korrelat des Aktes: […] das Angeschaute [bedeuten]“ (Krausser 1981, S. 44 f.). Vgl. ferner Krausser 1972,
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2 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der Kritik der reinen Vernunft
Verbindung“ an die „Verstandeshandlung“²⁶³ koppelt, spricht er auch hier noch von einer „eigene[n] Tätigkeit“ der Sinnlichkeit: Nun ist das, was als Vorstellung vor aller Handlung irgend etwas zu denken vorhergehen kann, die Anschauung und, wenn sie nichts als Verhältnisse enthält, die Form der Anschauung, welche, da sie nichts vorstellt, außer so fern etwas im Gemüthe gesetzt wird, nichts anders sein kann als die Art, wie das Gemüth durch eigene Thätigkeit, nämlich dieses Setzen seiner Vorstellung, mithin durch sich selbst afficirt wird, d. i. ein innerer Sinn seiner Form nach.²⁶⁴
In Bezug auf diese Formulierung eines Setzens der Sinnlichkeit spricht Mohr aber von einer gewissen Schwierigkeit im Hinblick auf die Heterogenität von Sinnlichkeit und Verstand und fragt zu Recht: „Was soll unter einer Tätigkeit des Setzens von Vorstellungen verstanden werden, ohne Kants Heterogenitätsthese (die Sinnlichkeit denkt nicht, der Verstand schaut nicht an) zu widersprechen?“²⁶⁵ Bereits Vaihinger macht auf die Schwierigkeit aufmerksam, dass Kant der „Sinnlichkeit eine gewisse Activität zugestanden [hat]“²⁶⁶. Für Kant stellt es aber ein wichtiges Anliegen seiner Systematik dar, die Dichotomie zwischen rezeptiver Sinnlichkeit und spontanem Verstand herauszuarbeiten. Auf B130 betont Kant daher, dass „Selbstthätigkeit“²⁶⁷ nur dem Verstand zugeschrieben werden kann. Und kurz zuvor heißt es: „Allein die Verbindung (conjunctio) eines Mannigfaltigen überhaupt kann niemals durch Sinne in uns kommen […].“²⁶⁸ Zudem verwendet er den Begriff einer Synopsis der Sinnlichkeit in der B-Auflage nicht mehr und versucht stattdessen, die Spannungen zwischen den Ausführungen in der S. 83. Baumanns betont die zugrunde liegende Aktivität der Rezeptivität: „,Anschauungʻ als ,Rezeptivitätʻ und ,Passivitätʻ von ,Spontaneitätʻ abgrenzen zu wollen, ist ein Vorhaben, das den doppelten Tätigkeitscharakter der Untätigkeit – das Gewolltsein des Mit-sich-geschehen-Lassens – verkennt.“ (Baumanns 1981, S. 72). Prauss spricht von einer „Autonomie zur Heteronomie“ (Prauss 1983, S. 12). Damit wird Kants Heterogenitätsthese im Lichte eines Primats der intentional werdenden Spontanität des Subjekts interpretiert, wodurch die Affektion als eine vom Subjekt zugelassene Fremdbestimmung verstanden wird. Vgl. hierzu Prauss 1983, S. 19 – 28; S. 52– 61 und insbesondere S. 160 – 204. Siehe auch mit Verweis auf Kants Fortschritte zu diesem Thema im Opus postumum Prauss 1990, S. 281– 312. Vgl. auch Dörflinger 2000, S. 63 – 66; S. 91– 101. Siehe hierzu die Auseinandersetzung mit dem Opus postumum in Kapitel 3.2. B130. B67 f. In Kants Metaphysik-Vorlesung heißt es darüber hinaus: „[Die Zeit] ist die Verbindung des Mannigfaltigen der Vorstellungen des inneren Sinnes […].“ (AA XXVIII, 653). Mohr 1998, S. 126. Vgl. dagegen Willaschek 1997, S. 552 ff. und ferner auch Baumanns 1981, S. 93 f. Vaihinger 1922b, S. 23 Anm. Vgl. auch Heidemann, I. 1958, S. 140 und Allison 1983, S. 265. B130. B129.
2.2 Raum und Zeit als formale Anschauungen in der transzendentalen Analytik
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Ästhetik und denen in der Analytik durch folgende Anmerkung ein Stück weit aufzulösen: Der Raum, als Gegenstand vorgestellt (wie man es wirklich in der Geometrie bedarf), enthält mehr als bloße Form der Anschauung, nämlich Zusammenfassung des mannigfaltigen nach der Form der Sinnlichkeit Gegebenen in eine anschauliche Vorstellung, so daß die Form der Anschauung bloß Mannigfaltiges, die formale Anschauung aber Einheit der Vorstellung giebt. Diese Einheit hatte ich in der Ästhetik bloß zur Sinnlichkeit gezählt, um nur zu bemerken, daß sie vor allem Begriffe vorhergehe, ob sie zwar eine Synthesis, die nicht den Sinnen angehört, durch welcher aber alle Begriffe von Raum und Zeit zuerst möglich werden, voraussetzt. Denn da durch sie (indem der Verstand die Sinnlichkeit bestimmt) der Raum oder die Zeit als Anschauung zuerst gegeben werden, so gehört die Einheit dieser Anschauung a priori zum Raume und der Zeit und nicht zum Begriffe des Verstandes (§ 24).²⁶⁹
Dem Verstand wird hier eindeutig die Kompetenz zugesprochen, selbst sinnliche Einheiten hervorzubringen. Diesem Ansatz folgend versteht Kant den Verstand an späterer Stelle (neben der Vernunft) als „Vermögen der Einheit“²⁷⁰. Die formale Anschauung soll nunmehr eine vom Verstand bestimmte und verbundene räumliche Anschauung darstellen. Die Anmerkung steht dabei jedoch in einer Spannung zu folgender Stelle in der KRV: Da aber die sinnliche Anschauung eine ganz besondere subjective Bedingung ist, welche aller Wahrnehmung a priori zum Grunde liegt, und deren Form ursprünglich ist: so ist die Form für sich allein gegeben, und weit gefehlt, daß die Materie (oder die Dinge selbst, welche erscheinen) zum Grunde liegen sollte […], so setzt die Möglichkeit derselben vielmehr eine formale Anschauung (Zeit und Raum) als gegeben voraus.²⁷¹
Hiernach ist bereits die formale Anschauung von Raum und Zeit eine gegebene Vorstellung, die als ursprüngliche Form eine Bedingung der Möglichkeit des bewussten Auftretens von Materie (mithin von Empirie) darstellt. Die Einheit von Raum und Zeit und somit auch die formale Anschauung haben – dieser Stelle folgend – einen transzendentalen Status. Auch an folgender Stelle identifiziert Kant die Form der Anschauung mit der formalen Anschauung: „Der Raum ist bloß
B160 f. Anm. Eine im Vergleich zu der Anmerkung B160 f. ähnlich lautende Stelle, die jedoch auf die Objekte in der Erscheinung und nicht auf die Geometrie bezogen ist, findet sich in der späteren Preisschrift: „Die subjective Form der Sinnlichkeit, wenn sie […] auf Objecte […] angewandt wird, führt in ihrer Bestimmung eine Vorstellung herbey, die von dieser unzertrennlich ist, nämlich die des Zusammengesetzten. Denn einen bestimmten Raum können wir uns nicht anders vorstellen, als, indem wir ihn ziehen, d. i. einen Raum zu dem andern hinzuthun, und ebenso ist es mit der Zeit bewandt.“ (AA XX, 271). Vgl. ferner die gedankliche Nähe zu A97. B359|A302. B324|A268.
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die Form der äußeren Anschauung (formale Anschauung), aber kein wirklicher Gegenstand, der äußerlich angeschauet werden kann.“²⁷² Im Hinblick auf die bis dato wichtige Bedeutung der Einheitsfunktion der Sinnlichkeit, die vor allem im dritten B-Raumargument und vierten Zeitargument angesprochen wurde, und der anfänglich angeführten Stellen, wonach die Form der Anschauung selbst schon eine einheitliche Anschauung ist, muss die Anmerkung B160 f. zunächst im weiteren Kontext der KRV irritierend wirken. Der Anmerkung folgend wäre nämlich die Form der Anschauung plötzlich nicht mehr per se reine Anschauung. Die Form selbst soll hier nur Mannigfaltigkeiten geben, wohingegen Anschauungen ganzheitliche Vorstellungen sein sollen, wie Kant wiederholt betont. Auf diese Spannung im Text macht auch schon Vaihinger aufmerksam, der dabei betont, dass im Zuge der zweiten Auflage Form der Anschauung und formale Anschauung schärfer von Kant unterschieden werden als zuvor.²⁷³ Ferner meint Dück, dass Kant die Theorie der formalen Anschauung des Raums „erst in der 2. Auflage der KrV von 1787, also ein Jahr nach den M.A. [MAN]“ entdeckt: „Kant hatte während der Arbeiten zu den M.A. bemerkt, daß für die Entwicklung des absoluten Raumbegriffs noch ein ,einheitsstiftendes transzendentales Prinzipʻ fehlte.“²⁷⁴ Für Brandt ist die Restriktion der Einheitsfunktion auf den Verstand eine neue Tendenz der B-Auflage: Kant zieht hiermit die Konsequenz aus der neuen ,Transzendentalen Erörterung des Begriffs vom Raumeʻ und aus einer neuen Tendenz der Transzendentalen Analytik, die 1787 lehrt, daß der Begriff alle Einheit, auch die des Raumes und der Zeit, stiftet, die folglich in der 2. Auflage nur durch den Verstand geleistet wird.²⁷⁵
Damit ignoriert Brandt jedoch ebenfalls die Bedeutung der vorsynthetischen Einheit von Raum und Zeit in der Ästhetik.²⁷⁶ Heidegger beispielsweise vertritt vor
B458 Anm.|A430 Anm. Vgl. Vaihinger 1922b, S. 106 f. Dück 2001, S. 106 Anm. Brandt 1998, S. 91. Vgl. hierzu entsprechend auch Haas 1996, S. 154. Dieses Problem ergibt sich auch für diejenigen Positionen, die eine vorkategoriale Synthesis annehmen, um die ursprüngliche Einheit von Raum und Zeit zu erklären. Hierzu heißt es bei McLear im Hinblick auf die entsprechende Interpretation von Longuenesse: „Thus, if a representation has a structure in which the parts depend on the whole rather than a structure in which the whole is dependent on its parts, that representation cannot be a product of intellectual activity, but must rather be given in sensibility independently of any such activity.“ (McLear 2015, S. 90). McLear spricht daher von einem „Intellectualism“ (McLear 2015, S. 81) bezüglich solcher Positionen, die die Synthesis des Verstandes für die ursprüngliche Einheit von Raum und Zeit verantwortlich machen. Auch Messina kritisiert Longuenesses Interpretation, die sie zum „Syn-
2.2 Raum und Zeit als formale Anschauungen in der transzendentalen Analytik
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diesem Hintergrund genau die gegenteilige Position und meint, dass die Anmerkung ganz im Sinne der A-Auflage zu verstehen sei, wonach die vorsynthetische Einheit von Raum und Zeit als Synopsis betrachtet werden müsse.²⁷⁷ Hinsch bringt die für den Interpreten ambivalente textliche Situation auf den Punkt: Einerseits gehört es zu den grundlegenden Prämissen der kritischen Philosophie Kants, alle Einheit von Mannigfaltigem auf synthetisierende Aktivitäten des Verstandes zurückzuführen. Andererseits übernimmt Kant die Einheit von Raum und Zeit aus der Transzendentalen Ästhetik, in der von Synthesis zunächst einmal gar nicht die Rede ist. Dadurch entsteht für den Begriff der formalen Anschauung eine gewisse Spannung […].²⁷⁸
Diese Spannung führt zu unterschiedlichen und zum Teil radikalen Interpretationsansätzen in der Literatur, die stellenweise – wie Düsing anmerkt – historisch weit zurückreichen.²⁷⁹ Während Jacobi in der Unterscheidung zwischen Form der Anschauung und formaler Anschauung einen Widerspruch sieht²⁸⁰, war Hegel davon überzeugt, dass die Einheit von Raum und Zeit mit der synthetischen Einheitsfunktion der Denkvermögen zusammenhängt.²⁸¹ Cohen will vor dem Hintergrund der Einheitsstruktur Raum und Zeit gleich als eigentliche Kategorien verstanden wissen.²⁸² Im Gegensatz dazu will Rohs Kants Betonung der Einheit in der Ästhetik dahingehend „modifizieren“, dass Raum und Zeit entgegen dem Wortlaut der Anmerkung B160 f. ausschließlich als Formen der Anschauungen verstanden werden. Nach Rohs sind Raum und Zeit somit „nicht auch selbst
thesis Reading“ (Messina 2014, S. 8) zählt, dahingehend, dass mit dieser Interpretation systematisch unklar bleibt, wie ein Unterschied zwischen den Erkenntnisstämmen im Hinblick auf die Heterogenitätsthese zu verstehen sei: „Namely, if a form of intuition requires the influence of the understanding in order to be actualized, then what principled reason could Kant have for attributing forms of intuition to a distinct stem of cognition? What principled reason could he have for thinking that sensibility is not simply a branch of the understanding? This, after all, is the position taken by Fichte and Hegel.“ (Messina 2014, S. 21). Siehe ferner auch die Kritik von Roche an Longuenesse in Roche 2018, S. 45 – 53. Vgl. Heidegger 1951, S. 134 Anm. Vgl. ferner Unruhs Kritik an Heideggers Interpretation, die jedoch das Problem der vorsynthetischen Einheit von Raum und Zeit einfach übergeht. Unruh 2007, S. 199 Anm.; S. 219 f. Anm. S. 148 Anm. Anders Gloy: „Ein Problem, das sowohl bei Heidegger wie bei Krüger sichtbar wird, ist das, wie aus der Diskretheit des momentanen Ich die Kontinuität, Homogenität und Unendlichkeit des Zeitflusses hervorgehen soll […].“ (Gloy 1990, S. 74 Anm.). Die gleiche Kritik an Krüger lässt sich bei Gloy auch später noch finden.Vgl. hierzu Gloy 2008, S. 145 f. Hinsch 1986, S. 88. Vgl. Düsing 1980, S. 8 Anm. Vgl. Jacobi 2004, S. 269 ff. Vgl. Hegel 1970, S. 304 ff. Zur Kritik von Hegel an Jacobis Auslegung der Anmerkung B160 f. siehe den aufschlussreichen Aufsatz Neumann 2017. Vgl. Cohen 1918, S. 275.
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2 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der Kritik der reinen Vernunft
Anschauung“. Anschauungen seien sie nur als empirische Vorstellungen: „Reine Anschauungen des Raumes und der Zeit gibt es – soweit Raum und Zeit hier betrachtet werden – überhaupt nicht […].“²⁸³ Eine solche Interpretation scheint aber vor dem Hintergrund der eindeutigen Stellen, nach denen Raum und Zeit reine Anschauungen sind, schwerlich mit textimmanenten Interpretationsmaximen vereinbar zu sein.²⁸⁴ Andere Interpreten haben zu weniger radikalen Interpretationsmitteln gegriffen und stattdessen versucht, textimmanent die genaue Rolle des Verstandes in der Anmerkung B160 f. herauszuarbeiten: Beispielsweise beruft sich Friedman auf die Prolegomena, wonach der „Raum, wie ihn sich der Geometer denkt, ganz genau die Form der sinnlichen Anschauung ist, die wir a priori in uns finden, und die den Grund der Möglichkeit aller äußern Erscheinungen (ihrer Form nach) enthält“²⁸⁵. Nach Friedman weist die Formulierung in der Anmerkung B160 f., wonach der Verstand die Sinnlichkeit bestimmt und ihr somit Einheit verleiht, auf die kurz zuvor von Kant angesprochene figürliche Synthesis hin, die aber nicht nur eine mathematische, sondern auch eine erkenntniskonstituierende Funktion hat.²⁸⁶ Nach Kant ist es „dieselbe bildende Synthesis, wodurch wir in der Einbildungskraft einen Triangel construiren […] [und wodurch wir die] Apprehension einer Erscheinung ausüben, um uns davon einen Erfahrungsbegriff zu machen […].“²⁸⁷ Auch Michel plädiert dafür, die produktive, blinde Einbildungskraft als dasjenige Vermögen anzusehen, dass die Einheit der formalen Anschauung auf Grundlage einer reinen Mannigfaltigkeit der bloßen Form stiftet. Dabei soll die Einbildungskraft die „vorgegebene, unverbundene Mannigfaltigkeit von Leerstelle“ durch „ihre Synthesisfunktion […] in Zusammenhang bringen“²⁸⁸, wodurch die Einheit von Raum und Zeit ursprünglich entstünde. Entsprechend betont Al-Azm, dass durch diese Verstandessynthesis die Einheit zeitlicher Mannigfaltigkeit ursprünglich ermöglicht wird: „[T]he unity of the temporal manifold is not really an independent form of sensibility but is itself a product of the synthetic activities of the understanding.“²⁸⁹ Al-Azm geht sogar so weit, das vierte Zeitargument, demgemäß die Zeit eine holistische Struktur aufweist, vor dem Hintergrund der Anmerkung B160 f. zu interpretieren, sodass die holistische Einheit nur möglich sein soll, weil sie zuvor synthetisiert wurde. Nach Al-Azm würde Kant von der Zeit als vorsynthetischer Einheit nur aus
Rohs 1973, S. 83. Vgl. hierzu Kapitel 0.2. AA IV, 288. Vgl. Friedman 1992, S. 197– 202. B271|A224. Michel 2003, S. 177. Al-Azm 1967, S. 46 f.
2.2 Raum und Zeit als formale Anschauungen in der transzendentalen Analytik
195
der Perspektive einer analytischen Herangehensweise sprechen und nicht aus der Perspektive einer transzendentalphilosophisch vorgeordneten synthetischen Betrachtung: I do not think there is a genuine contradiction in the views of Kant on the subject. The analytic approach which dominates the Aesthetic, advances the critical philosophy to a certain provisional point at which time is revealed as an intuitive whole which conditions its parts. However, once the critical philosophy has advanced beyond the strict limitations imposed upon the Aesthetic, and is permitted to adopt the constructive approach of the synthetic method, it becomes evident that it was possible for the whole of time to be given in intuition only because it had been already generated by the understanding. Otherwise such an intuition would be simply blind, if not altogether impossible. The Aesthetic is concerned with the nature of time as a ready made product and in ideal isolation from the conditions that made it possible in the first place.²⁹⁰
Simon meint sogar, dass der Raum als einheitlicher Anschauungsraum abhängig von der Vernunft sei, „der zu der Vollständigkeit seiner Vorstellung als dem Zusammen verschiedener Richtungen (Linien) einer Verknüpfung durch die Vernunft bedarf“²⁹¹. Metz meint hingegen, dass die Versinnlichung des Verstandes über die Anwendung der Kategorien zu verstehen sei und somit die ursprüngliche Einheit, die Kant in der Ästhetik für Raum und Zeit anspricht, mittels der kategorialen Synthesis zusammengesetzt wäre.²⁹² Ausdrücklich stellt er sich gegen eine Interpretation, die synthetische und sinnliche Einheiten voneinander unterscheidet; er spricht dagegen von der „synthetische[n] Einheit der Zeit und des Raumes“²⁹³. Baumanns hält vor dem Hintergrund dieser Auslegung eine Differenzierung zwischen Form der Anschauung und formaler Anschauung für gänzlich aussichtslos. Er sieht sich anlässlich der Schwierigkeiten mit der Anmerkung B160 f. zu einer Interpretation gezwungen, derzufolge „in Wahrheit bereits die Form der Anschauung – formale Anschauung“²⁹⁴ sei. Ähnlich sieht sich auch Haas zu der These veranlasst, wonach die „formale Anschauung Form der Anschauung ist“²⁹⁵. Entgegen Baumanns versteht Haas diese nicht bloß als „zu spät gekommene[n] Rettungsversuch“, sondern sogar als „Präzision der inneren Artikulation der Anschauungsformalität“²⁹⁶. Ferner hält auch Ebbinghaus eine Al-Azm 1967, S. 61. Simon 1969, S. 251. Zur Diskussion dieses Interpretationsweges siehe insbesondere das Kapitel 2.3. Vgl. Metz 1991, S. 93 Anm. Metz 1991, S. 106. Vgl. ferner Metz 1991, S. 94 Anm. Baumanns 1981, S. 81. Haas 1996, S. 153. Haas 1996, S, 153 f.
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2 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der Kritik der reinen Vernunft
konsistente Interpretation der Erörterungen in der Ästhetik nur für möglich, wenn der Raum von vornherein als formale Anschauung und somit als einige und allbefassende Vorstellung zu Grunde gelegt wird.²⁹⁷ Doch bereits Marc-Wogau konstatiert bezüglich der Identifizierung beider Ausdrücke: Es verhält sich nun doch so, dass Kant trotzt [sic!] der Unterscheidung dieser beiden Ausdrücke sie auch identifiziert und promiscue gebraucht. In der Kantliteratur hat man hierin einen unerklärlichen Widerspruch (Vaihinger) oder eine unverzeihliche Nachlässigkeit (B. Erdmann) sehen wollen […]. Beide Deutungsversuche sind unbefriedigend.²⁹⁸
Darüber hinaus machen Onof und Schulting darauf aufmerksam, dass eine Interpretation, die den Begriff Form der Anschauung mit dem Begriff formale Anschauung bei Kant identifiziert, letztlich gegen die Intention der zu interpretierenden Anmerkung vorgeht, deren Ziel es gerade ist, zwischen beiden Begriffen zu unterscheiden.²⁹⁹ Wie bereits in Kapitel 0.3 einführend erwähnt, subsumiert Messina solche Interpretationen, die den synthetischen Verstand für die ursprüngliche Einheit von Raum und Zeit verantwortlich machen, unter dem Titel „Synthesis Reading“³⁰⁰. Wie bei einer solchen Lesart die kontinuierliche Struktur von Raum und Zeit im Kontext einer Zusammensetzung durch das Denkvermögen erhalten bleiben soll, ist unklar und wird sowohl von Friedman als auch von Michel und AlAzm oder den anderen hier angesprochenen Interpreten völlig übergangen. Damit wird aber keine „Vergegenständlichung“³⁰¹ von Raum und Zeit erklärt, wie etwa Michel meint; stattdessen führt eine solche Interpretation zu einer Verdinglichung der subjektiven Formen.³⁰² Unruh andererseits legt sich völlig unkritisch einfach
Vgl. Ebbinghaus 1973, S. 57– 61. Marc-Wogau 1932, S. 177. Vgl. hierzu Onof / Schulting 2014, S. 292 f. Messina 2014, S. 7 (Hervorhebung von mir). Hierzu heißt es: „According to […] ʻthe Synthesis Reading,ʼ the unity of space is a synthetic unity necessitated by the OSUA [original synthetic unity of apperception]; this unity is further taken to be the output of an act of what Kant calls the ʻfigurative synthesisʼ […]. The Synthesis Reading presupposes that the unity of space and the unity of a formal intuition of space are the very same (synthetic) unity. It construes the difference between a form of intuition and a formal intuition of space as the difference between a ʻpotentialityʼ for a certain sort of intuition and the (actual) intuition itself.“ (Messina 2014, S. 7 f.). Im Anschluss daran hat auch Roche diese Bezeichnung übernommen. Vgl. Roche 2018, S. 41 f. Michel 2003, S. 183. Vgl. Michel 2003, S. 174– 185. Vgl. analog bei Allison 1983, S. 158 – 167; S. 181; S. 94– 98 oder Thöle 1998, S. 272 f. und im Ansatz auch Schliemann 2010, S. 134 f. und Dück 2001, S. 71– 76. Die Liste lässt sich noch beliebig weiterführen, sodass der Eindruck entsteht, dass diese einfache Verdinglichung von Kants Raum- und Zeitkonzeption zu einem Konsens in Teilen der Kant-Lite-
2.2 Raum und Zeit als formale Anschauungen in der transzendentalen Analytik
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auf das Konzept der Synopsis fest, um die Besonderheit der holistischen und vorsynthetischen Einheit zu verteidigen. Unkritisch und problematisch ist eine derart einfache Festlegung auf das Konzept der Synopsis, weil Kant sie in der BAuflage zugunsten einer Stärkung des Verstandes vollständig eliminiert.³⁰³ Im Unterschied zu den Interpreten, die zum „Synthesis Reading“ gezählt werden können, vertreten Interpreten wie Unruh die Ansicht, dass die holistische Einheit von Raum und Zeit mit diesen Formen einfach gegeben und dadurch nicht weiter erklärbar ist. Wie bereits erwähnt, bezeichnet u. a. Messina die Lesart solcher Interpreten als „Brute Given Reading“³⁰⁴. In Anbetracht dieser Bandbreite an Interpretationen verwundert es nicht, dass „Meinungsverschiedenheiten“³⁰⁵ in der Kant-Literatur bezüglich Kants Raumkonzeption zu verzeichnen sind. Im Hinblick auf Kants Zeitkonzeption spricht Heidemann vor dem Hintergrund, dass in der Zeit bereits „geeintes Mannigfaltiges“ auftritt, der Verstand aber das eigentliche Vermögen der Verbindung darstellt, von einem „Dilemma“³⁰⁶, zu dem in der Kant-Literatur grundsätzlich zwei Lösungen angeboten werden: „die These der ursprünglichen Identität von Denken und Zeit und die entgegengesetzte These, in der die Bedingung der Sinnlichkeit auf die Gegenstandserfahrung eingeschränkt wird“³⁰⁷.Wie bereits im Kapitel 0.3 einleitend thematisiert, entsprechen diese Thesen zwei der drei Grundinterpretationen der Kant-Literatur. Der dritte Weg hat sich zeitlich vor allem nach Heidemanns Gegenüberstellung in der Literatur etabliert.³⁰⁸ Im Hinblick auf Kant Raumkonzeption spricht auch Kemp Smith wörtlich von einem Dilemma, das für ihn darin besteht, dass der Raum zum einen als gegebene Unendlichkeit eines Kontinuums und zum anderen als synthetisch-gemachte Einheit betrachtet
ratur geworden ist. Siehe dagegen jedoch die entsprechenden Gegenpositionen beispielsweise bei Dörflinger 2002, S. 23 – 29, Prauss 2015, 71– 99 oder auch Hinsch 1986, S. 88 ff. Vgl. Unruh 2007, S. 199. Vgl. hierzu kritisch bereits Anmerkung 251 im hiesigen Kapitel 2. Messina 2014, S. 8 (Hervorhebung von mir). Hierzu heißt es: „According to the second reading, which I call the ʻthe Brute Given Reading,ʼ the unity of space is a ʻbrute given.ʼ As such, it is not a synthetic unity produced by the figurative synthesis. The Brute Given Reading implies that the unity of space is not identical with the unity of a formal intuition. It construes the difference between a form of intuition and a formal intuition as the difference between the unitary whole of which we have a pure intuition and a ʻdeterminate intuitionʼ: an intuition of a finite region of space that has been assigned definite properties […].“ (Messina 2014, S. 8). Siehe ferner im Anschluss an Messina auch Roche 2018, S.41 f. Vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 0.3. Ebbinghaus 1973, S. 57. Heidemann, I. 1958, S. 44. Heidemann, I. 1958, S. 45. Vgl. Wohlfart 1980, Heinrich 1986, S. 210 – 253 und jüngst Unruh 2007, S. 337– 344. Dieser Interpretationsweg wird vor allem in Kapitel 2.3 thematisiert.
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2 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der Kritik der reinen Vernunft
wird: „In terms of the frist distinction we are compelled to recognise that the view of space which underlies the Aesthetic is out of harmony with the teaching of the Analytic.“³⁰⁹ Böhme scheint dieses Problem ebenfalls zu erkennen: Er spricht in diesem Kontext vom „Problem der Kontinuität der Zeit“³¹⁰ in Kants System. Bezüglich des Dilemmas lässt sich festhalten, dass dieses Problem schon lange in der Kant-Literatur bekannt ist. Bereits Vaihinger stellt in seinem Kommentar grundsätzlich fest: „[…] [D]er Geist der transc. Aesthetik […] [lässt] sich nicht mit der Lehre von der Erwerbung der Raumvorstellung vereinigen.“³¹¹ Und auch schon Dietrich bemängelt bezogen auf die Anmerkung B160 f., wonach erst durch die gegenständliche Bestimmung des Verstandes der Raum als einheitliche Anschauung entstehen soll, dass dies „in dem von Kant gegebenen [geometrischen] Zusammenhange völlig unverständlich“³¹² bleibt, weil Kant immer wieder betont, dass der ursprüngliche Raum vor aller Bestimmung des Verstandes und somit vor Geometrie und Erfahrung gegeben sein muss. Bereits Dietrich spricht damit den entscheidenden Punkt an, den viele Interpretationsansätze übergehen, nämlich die grundsätzliche Frage, wie die im dritten und vierten Argument der Erörterung beanspruchte holistische Einheit von Raum und Zeit mit der synthetischen Verbindungsleistung des gegenüber der A-Auflage dominanter werdenden Verstandes zusammengedacht werden kann.³¹³ Basierend auf der viel zitierten Anmerkung B160 f. haben viele Interpreten eine Deutung vorgenommen, der zufolge die Form der Anschauung bloß eine Vielheit vorgibt, deren Einheit erst durch den Verstand entsteht; der dargestellte Forschungskonflikt zeigt aber bereits, dass eine einfache Lösung wie diese nicht überzeugen kann, da hierdurch die ursprüngliche Einheit der Form der An-
Kemp Smith 1923, S. 95. Sein Ansatz, „das Problem der Kontinuität der Zeit zu lösen“, erscheint jedoch unverständlich. Böhme schreibt: „Zeit also kann nur als Quantum begriffen werden über den Umweg empirischer Zeitbestimmung und ihrer Anschauung unter dem Bild des Raumes. Deshalb ist die Zeit nur, insofern sie mit einer empirischen Veränderung und im Bilde einer Linie angeschaut wird, ein Quantum. Ein quantum continuum kann sie endlich nur sein, insofern ihr als unter dem Bilde einer Linie angeschauter deren Teilbarkeitseigenschaften mitfolgend zukommen.“ (Böhme 1986, S. 66). Wie bereits im Einführungskapitel 0.3 kritisiert, kehrt Böhme damit das von Kant beschriebene Abhängigkeitsverhältnis einfach um. Raum und Zeit wären demnach nicht ursprünglich unendlich und kontinuierlich, wie es die Ästhetik vorsieht, sondern als formale Anschauungen nur abgeleitet. Ihre Kontinuität ergäbe sich erst in der mathematischen Analyse der Erfahrungsgegenstände. Das ist keine Lösung der Kontinuumsproblematik, sondern eine Eliminierung derselben. Vgl. hierzu die Kritik in Gloy 1990, S. 74 Anm. sowie Kapitel 0.3. Vaihinger 1922b, S. 95 (Hervorhebung aufgehoben). Dietrich 1916, S. 97. Vgl. diesbezüglich auch Hinsch 1986, S. 86 – 89. Vgl. Dietrich 1918, S. 97– 106.
2.2 Raum und Zeit als formale Anschauungen in der transzendentalen Analytik
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schauung, die zugleich eine reine Anschauung sein soll, in Frage gestellt wird. Mehr noch: Die quantitativ bestimmte Einheit der formalen Anschauung ist nicht in der Lage, das zu leisten, was Kant bereits seit 1768 von der Raumvorstellung fordert, nämlich eine allbefassende Einheit zu sein, worin Gegenden und Richtungen voneinander unterschieden werden können. Zu Recht stellt Brandt daher die wichtige Frage: „Aber kann die reine Anschauung derart Gegenstand der formalen Anschauung sein, dass die letztere eine Erkenntnis der inkongruenten Gegenstücke gewinnt?“ Die Frage muss hier den obigen Ausführungen folgend verneint werden, denn dazu „bedürfte es eines Zugriffs auf das Ganze des Raums bzw. seiner Anschauung […], aber dieser Zugriff ist der formalen Anschauung gerade versagt“. Brandt kommt daher zu der drastischen Einschätzung: „Der Anlaß von 1768, der zur kritischen Philosophie führte, ist [damit] verschwunden.“³¹⁴ Um diese drastische Einschätzung abzuwenden, muss die ursprüngliche reine Anschauung bzw. Form der Anschauung mehr als nur aus bloßer Mannigfaltigkeit bestehen. Stattdessen muss sie vielmehr eine ursprüngliche Einheit als Kontinuum darstellen, worin eine Mannigfaltigkeit entstehen kann. Im Gegensatz dazu muss die formale Anschauung die quantitativ bestimmte und begriffliche Vorstellung von Räumlichem bedeuten. Entgegen dem Anschein der Anmerkung B160 f. kann die formale Anschauung gerade nicht im strengen Sinne vorbegrifflich sein. Zumindest kann sie nicht vorbegrifflich im Sinne der reinen Verstandesbegriffe sein, denn selbst wenn für die Bestimmung einer konkreten Gestalt zwar keine inhaltlich ausgereiften konkreten Begriffe benötigt werden, so werden doch zumindest die reinen Verstandesbegriffe als gegenstandskonstituierende Denkformen benötigt. Um an dieser grundsätzlichen Unterscheidung zwischen der Form der Anschauung und formaler Anschauung festzuhalten, muss der „Versuch einer transzendentalen Fundierung der Ästhetik in der Kategoriendeduktion aufgegeben werden“³¹⁵, wie Hinsch konsequenterweise fordert.
Brandt 2010, S. 42. Hinsch betont ferner, dass gerade die letzten beiden Argumente in der metaphysischen Erörterung darauf beruhen, „daß in Raum und Zeit eine Einheit vorgestellt wird, die von der durch Begriffe gedachten diskursiven Einheit spezifisch unterschieden ist. […]. Die Bestimmung von Raum und Zeit als Anschauungen folgt nun daraus, daß die Einheit einer solchen Mannigfaltigkeit allein mit den Mitteln konzeptueller Synthesis nicht erfaßt werden kann […].“ (Hinsch 1986, S. 88 f.). Hinsch 1986, S. 99. Unmittelbar vor der hier zitierten Stelle führt Hinsch aus: „In der Ästhetik wird nun aber gerade das die gesamte Philosophie Kants tragende Theorem des Anschauungscharakters von Raum und Zeit auf die in ihnen vorgestellte Einheit gegründet. Wir drehen uns dann im Kreise. Einmal wird die Bestimmung von Raum und Zeit als Anschauungen im Rückgang auf ihre a priori gewußte Einheit begründet (in der Ästhetik), dann wird umgekehrt ihre Einheit auf den Subjektbezug, der ihnen als Anschauungen a priori eigen ist, zurückgeführt (in der Kategoriendeduktion).“ (Hinsch 1986, S. 98 f.).
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2 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der Kritik der reinen Vernunft
Vor dem Hintergrund der Problemlage und der kontrastierten Positionen konstatiert auch Natterer einen „Streit der jüngsten Kantauslegung“. Natterer betont aber vermittelnd, dass „beide Standpunkte teilweise im Recht sind, aber nur zusammengenommen richtig sind“³¹⁶. Er lässt jedoch offen, wie diese Standpunkte genau zusammengenommen werden können. Einen ausgereifteren Vermittlungsvorschlag liefert Natterers Gedanken folgend Messina. Messina schlägt ebenfalls einen dritten, vermittelnden Weg zwischen den beiden zuvor genannten Interpretationsmöglichkeiten vor: Unter dem Titel Part-Whole Reading möchte er einerseits der in der Ästhetik beanspruchten holistischen Einheit Rechnung tragen, indem er betont, dass diese ursprüngliche Einheit nicht synthetisiert werden kann; andererseits soll auch berücksichtigt werden, dass Kant gelegentlich von Synthesis im Zusammenhang mit Raum und Zeit spricht. Hierfür soll die ursprüngliche Einheit als eine holistische Einheit interpretiert werden, in der einzelne Räume und Zeiten durch die Synthesis des Verstandes bestimmt werden. In diesem Zusammenhang ließe sich nach Messina dann auch davon sprechen, dass die ursprüngliche Einheit eine synthetische Einheit sei: The Part-Whole Reading is so-called because it understands the relationship between form of intuition and formal intuition as that between a manifold of given parts and the whole within which they are contained. […] First, the (metaphysical) unity of space is not a brute given. Instead, it is necessitated by the OSUA [original synthetic unity of apperception] […]. On this point, the Part-Whole Reading is in agreement with the Synthesis Reading. Moreover, both readings hold that the unity of space is a synthetic unity. The Part-Whole reading denies, though, that this unity is the output or result of the figurative synthesis, or any other act of synthesis for that matter. […] As I will argue below, what makes this representation synthetic is both that it is a whole (in Kant’s strict sense) and that it makes possible a combination of the manifold contained within it. As we will see, the combination at issue results in a unitary, complex world consisting of many unitary entities.³¹⁷
Damit vertritt Messina keinen prinzipiellen neuen Interpretationsweg, sondern versucht zwischen den beiden zuerst genannten zu vermitteln und einen Mittelweg einzuschlagen. Mit seiner Interpretation möchte Messina aber vor allem das Brute Given Reading kritisieren. Raum und Zeit können nach Messina nicht einfach gegeben sein, weil Kant seit der vorkritischen Phase bemüht ist, die Einheit des Raums zu erklären. Doch wenn die Part-Whole-Interpretation die Gegebenheit des Raums im Hinblick auf den Status des Ursprungs der Anschauungsformen verneint, dann muss sie behaupten, dass Raum und Zeit nicht bloß gegeben, sondern ursprünglich hervorgebracht werden. Tertium non datur. Trotzdem wird
Natterer 2003, S. 148. Messina 2014, S. 22 f.
2.2 Raum und Zeit als formale Anschauungen in der transzendentalen Analytik
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von Messina selbst ausdrücklich bestritten, dass der Raum synthetisch erzeugt wird. Wie soll der Raum aber gleichzeitig weder gegeben noch durch Synthesis hervorgebracht sein? Zum Schluss seines Aufsatzes behauptet er sogar, dass der Raum „a product of an act of synthesis“ sei, wobei er einschränkend hinzufügt, dass dies nicht heißen soll, dass die holistische Einheit „produced by synthesis“³¹⁸ sei. Aber wie entsteht dieses Produkt dann? Dass „the unity of this intuition […] a result of the ʻunity of the subjectʼ“³¹⁹ ist, ist hier keine befriedigende bzw. explanative Antwort auf diese Frage. Denn wie ein solches Verhältnis zwischen der sinnlichen Einheit und der Einheit des Subjekts bzw. des transzendentalen Selbstbewusstseins zu verstehen ist, bleibt unklar.³²⁰ Tatsächlich scheint es vor dem Hintergrund, dass sowohl ein Brute Given Reading als auch ein Synthesis Reading einschlägige Stellen bei Kant für sich geltend machen können, nahe zu liegen, beide Interpretationswege in Verbindung miteinander zu bringen. Es stellt sich aber angesichts der Interpretationsfrage 0.3 die Frage, ob ein kombinierter und somit komplexer Interpretationsvorschlag auch systematisch bei Kant verankert werden kann. Einen systematischen Ansatz, das Verhältnis zwischen qualitativer Einheit der Sinn-
Messina 2014, S. 39. Messina 2014, S. 37. Die Einheit des Subjekts identifiziert Messina mit der synthetischen Einheit der Apperzeption, die die Bedingung der Möglichkeit für die Einheit von Raum und Zeit sein soll. Entsprechend sieht Messina das auch schon in seiner Dissertation. Vgl. Messina 2011, S. 108 – 115. Messinas Verweis auf die vorkritische Phase, wonach Kant die Einheit des Raums stets als erklärungsbedürftig betrachtet und zugleich unabhängig jeglicher Synthesis denkt, überzeugt nicht. Messina erklärt zwar, dass die holistische Einheit des Raums im Subjekt begründet liegen muss, doch er erklärt nicht, wie diese holistische Einheit im Subjekt entsteht, wodurch die Problematik aus Kapitel 0.1 nicht gelöst wird. Vgl. Messina 2014, S. 28-Messina 2011, S. 124 f. Spätestens im Opus postumum greift Kant aber die Frage nach dem Ursprung der Einheit von Raum und Zeit wieder auf. Vgl. hierzu Kapitel 3.2. Diese Zusammenhänge müssen berücksichtigt werden, um ein umfassendes Bild von Kants Raum- und Zeitlehre zu erlangen. Ein grundlegender Unterschied zu der vorliegenden Untersuchung ist ferner, dass Messina den dritten Interpretationsweg, wonach Raum und Zeit als Ideen interpretiert werden, nicht berücksichtigt und nicht in seine kombinatorische Interpretation integriert. Diese Dimension des Einheitsverständnisses von Raum und Zeit wird bei ihm nicht erwähnt oder gar erörtert. Vgl. dagegen die Ausführungen in Kapitel 2.3. Trotz der Tatsache, dass im Folgenden Messinas inkludierender Ansatz weiter ausgebaut wird, werde ich nicht dazu übergehen, bei Raum und Zeit in ihrer holistischen Einheit von synthetischen Gebilden zu sprechen, wie Messina dies aber tut. Messina merkt selbst richtig an, dass dies zunächst „paradoxical“ (Messina 2014, S. 23) erscheint. Darüber hinaus bleibt fraglich, ob es Messina in Anbetracht der obigen Kritik überhaupt gelingt, aus diesem Paradox zu entkommen. Siehe hierzu Weiteres in Kapitel 2.2.5. Dort wird gezeigt, dass der Zusammenhang zwischen der Einheit der Anschauungsformen und der Einheit des Subjekts alles andere als selbstverständlich ist.
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2 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der Kritik der reinen Vernunft
lichkeit und quantitativer Einheit des Verstandes widerspruchsfrei zu denken, liefert Kants spätere Auseinandersetzung mit dem Raum in der sog. Kästner-Abhandlung. Mit Hilfe der Überlegungen aus der Kästner-Abhandlung wird schließlich ein tiefergehender Blick auf die zentralen Kapitel bezüglich der dargestellten Interpretationsproblematik in der Analytik möglich.
2.2.2 Exkurs: Kants Kästner-Abhandlung als Lösungsansatz für das Interpretationsproblem bezüglich der Unterscheidung zwischen Form der Anschauung und formaler Anschauung Um der zuletzt skizzierten Interpretationsfrage bezüglich der Anmerkung B160 f. weiter nachzugehen bzw. um das Verhältnis zwischen Form der Anschauung und der formalen Anschauung genauer zu verstehen, müssen Parallelstellen hinzugezogen werden. In seiner unveröffentlichten Kästner-Abhandlung³²¹ äußert sich Kant ausführlicher zu den unterschiedlichen Ebenen der Raumkonzeption und schreibt, dass in der Metaphysik der Raum „vor aller Bestimmung desselben“ als etwas „betrachtet“ wird, das „gegeben ist“, wohingegen in der Geometrie der Raum „gemacht“ wird. Ferner wird in der Metaphysik der Raum als ein „ursprünglich[er] und […] (einiger) Raum“ verstanden, in der Geometrie dagegen werden „Räume“ als „abgeleitet[e]“ betrachtet, wobei der Geometer „gestehen muß“, dass seine Räume nur durch die „Grundvorstellung des Raums […] als Theile“³²² desselben gedacht werden können. Während der ursprüngliche Raum dabei ein „subjectiv gegebene[r]“ und „unendliche[r]“ ist, ist der „geometrisch und objektiv gegebene Raum jederzeit endlich“. Der objektive Raum ist somit „nur dadurch gegeben, daß er gemacht wird“³²³. Baumanns kritisiert, dass Kant es auch in der Kästner-Abhandlung nicht schafft, zwischen Form der Anschauung und formaler Anschauung scharf zu trennen und sich somit vom „Banne der
Der Mathematiker Kästner wollte gegenüber Kant zeigen, dass es in der Mathematik nicht um aktuale Konstruktionen, sondern um mögliche Konstruktionen bzw. Konstruierbarkeit geht. Kästner wollte vor diesem Hintergrund den Begriff der potenziellen Unendlichkeit gestärkt wissen. Kant entwarf zu Kästners Aufsatz eine Rezension, die er seinem Schüler Schultz zur Verfügung stellte, der diese wiederum für seine Rezension gegen Eberhard nutzte. Zu diesen Zusammenhängen siehe Koriako 1999, S. 242 f.; S. 279 – 282. Sowohl hatte Kästner gegenüber Kant einen gewissen wissenschaftlichen Respekt als auch Kant gegenüber Kästner – jedenfalls mehr als gegenüber Eberhard. Vgl. hierzu die Ausführungen von Onof / Schulting 2014, S. 285 ff. AA XX, 419. AA XX, 420. Vgl. hierzu auch folgende Notiz Kants: „Die Ursprüngliche Größe wird nicht durch die synthesis gedacht. Alle abgeleitete Größe ist nur comparativ nemlich verhältnisweise zum Maaße.“ (AA XXIII, 475).
2.2 Raum und Zeit als formale Anschauungen in der transzendentalen Analytik
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,formalen Anschauungʻ des Raumes zu befreien“³²⁴. Doch was Baumanns als Versäumnis Kants auslegt, ist für die obige Interpretationsproblematik im Zusammenhang mit der Anmerkung B160 f. zunächst ein Gewinn, da es eine Parallelstelle liefert, die das Konzept der formalen Anschauung verständlicher machen kann.³²⁵ Beispielsweise identifiziert Dietrich die Ausführungen zum objektiven bzw. abgeleiteten Raum in der Kästner-Abhandlung mit der formalen Anschauung aus der Anmerkung B160 f. Die Form der Anschauung identifiziert er dabei mit dem subjektiven bzw. ursprünglichen Raum.³²⁶ Gleich zu Beginn der BDeduktion in der KRV führt Kant aus, dass die Verbindung eines Mannigfaltigen „niemals durch Sinne in uns kommen“ und auch „nicht in der reinen Form der sinnlichen Anschauung zugleich mit enthalten sein“³²⁷ kann. Das trifft vor dem Hintergrund der Ästhetik zu, weil die Einheit der Ästhetik keine verbundene, sondern eine ursprünglich kontinuierliche ist. Kant betont wiederholt: „[…] durch die Zusammenfügung entspringt keine wahre continuitaet“³²⁸. Mit der Unterscheidung zwischen der Form der Anschauung und der formalen Anschauung trennt sich im Hinblick auf das Einheitsverständnis die Logik von der Ästhetik. Den Ausführungen in der Kästner-Abhandlung folgend könnte die formale Anschauung nämlich jene abgeleiteten Räume als vom Verstand bestimmte und konkrete Räume meinen, die nur dadurch möglich sind, dass der ursprünglich subjektive und unendliche Raum als ein Gegebener bereits transzendentalphilosophisch zu Grunde liegt. Folglich ginge es in der Anmerkung B160 f. lediglich um den Raum als vorgestellten Gegenstand, „wie man es wirklich in der Geometrie bedarf“³²⁹ bzw. wie er als konkreter Raum zu etwas Räumlichem gemacht wird.³³⁰ Es ginge also bei der formalen Anschauung in der Anmerkung B160 f. nicht um den ursprünglich subjektiven Anschauungsraum, wie er in der Ästhetik eingeführt wurde, denn dieser ist als ursprüngliches Kontinuum vielmehr für die Überlegungen in der Analytik vorausgesetzt. Stattdessen handele es um die
Baumanns 1981, S. 107. Vgl. hierzu entsprechend auch Unruhs kritische Anmerkung gegenüber Baumanns in Unruh 2007, S. 213 Anm. Vgl. Dietrich 1916, S. 98. B129 f. Refl. 5380, AA XVIII, 167. B160 Anm. Vgl. hierzu auch folgende Stelle aus einem Brief von Kant: „Die Zusammensetzung können wir nicht als gegeben warnehmen, sondern wir müssen sie selbst machen: wir müssen zusammensetzen, wenn wir uns etwas als zusammengesetzt vorstellen sollen (selbst den Raum und die Zeit).“ (AA XI, 515).
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konkrete Einheit eines Objekts als formale Anschauung.³³¹ Und wenn Kant davon spricht, dass die Form der Anschauung nur Mannigfaltigkeit gibt, dann wäre das hier wörtlich zu verstehen. Die Sinnlichkeit kann dem Verstand als zusammensetzendes Vermögen nur Mannigfaltiges in ihrer sinnlichen Einheit geben bzw. anbieten, da ihre Einheit gerade nicht zusammengesetzt ist. Die ursprünglich kontinuierliche Einheit von Raum und Zeit kann sie ihm somit nicht anbieten.³³² Eine vor diesem Hintergrund interessante Reflexion aus dem Duisburger Nachlass thematisiert dieses Verhältnis zwischen dem Verstand und den sinnlichen Formen: Die Verkettung gründet sich […] nicht auf die bloße Erscheinung, sondern ist eine Vorstellung von der innern Handlung des Gemüths, Vorstellungen zu verknüpfen, nicht blos bey einander in der Anschauung zu stellen, sondern ein Gantzes der Materie nach zu machen.
Entsprechend gelangt auch Marc-Wogau im Hinblick auf die Anmerkung B160 f. zu dem Fazit, dass Kant, „wo er den verbindenden Charakter des Raumes (als Form) zu verneinen scheint, doch auch sagt, die Einheit der Apperzeption gehöre zum Raume a priori. Die apriorische Synthesis der Einbildungskraft ist ja durch die Form des Raumes bedingt. Wie wir sahen, wurde die Synthesis als Fortgang in der Form des Raumes gedacht. Das räumliche In-Beziehung-Setzen ist dann durch den Raum als Form bedingt.“ (Marc-Wogau 1932, S. 185). Vgl. hierzu im Ansatz auch Onof / Schulting 2014, S. 297 f. Onof und Schulting sehen das Hinzuziehen der Kästner-Abhandlung zur Interpretation der Anmerkung B160 f. kritisch, weil sie den metaphysischen Raum in der Kästner-Abhandlung nicht mit der Form der Anschauung in der Anmerkung identifizieren wollen. Der metaphysische Raum ließe sich demnach sowohl auf die Form der Anschauung als auch auf die formale Anschauung in der Anmerkung B160 f. beziehen. Der geometrische Raum in der Kästner-Abhandlung ist zwar bedingt durch die Ganzheit des metaphysischen Raums, doch nach Onof und Schulting könnte der metaphysische Raum auch mit der formalen Anschauung in Verbindung stehen. Vgl. hierzu Onof / Schulting 2014, S. 293 f. Doch selbst wenn dem so wäre, entstünde trotzdem die problematische Interpretationsfrage, wie denn der ursprüngliche (metaphysische) Raum in seiner Kontinuität vereinbar sein soll mit der vom Verstand synthetisch bestimmten Einheit der formalen Anschauung. Um dieser Frage zu entgehen, behaupten Onof und Schulting schließlich, dass es in der Anmerkung B160 f. bzw. der transzendentalen Deduktion nur um objektive Einheiten von Raum und Zeit gehen kann, sodass die Form der Anschauung nur unter objektiven Gesichtspunkten ohne Einheit wäre. Als subjektive Form gelte nach wie vor, dass sie eine holistische Einheit darstelle. Hierzu schreiben sie abschließend: „With this interpretation, we can therefore explain how metaphysical space is presented by Kant both as subjectively given, and as conforming to a concept of object to the extent that space is categorially determinable: it is the same space that is considered, first as mere form of receptivity, i. e. as a receptacle for manifolds of outer sense, and second, in the grasp of its unity by means of synthesis (through the imagination, and hence involving an application of the categories) through which any such manifolds are taken as manifolds for my cognition.“ (Onof / Schulting 2014, S. 297). Im Resultat folgt aber auch aus dieser Interpretation, dass der ursprüngliche Raum gegenüber der synthetischen Einheit der formalen Anschauung vorausgesetzt werden muss.
2.2 Raum und Zeit als formale Anschauungen in der transzendentalen Analytik
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Hie ist also Einheit, nicht der vermöge desienigen: worin, sondern: wodurch das Manigfaltige in eines gebracht wird, mithin allgemeingültigkeit. Daher sind es nicht formen, sondern functionen, worauf die relationes der Erscheinungen beruhen. Die exposition der Erscheinungen ist also die Bestimmung des Grundes, worauf der Zusammenhang der Empfindungen derse in denselben beruht.³³³
Die Bestimmung des Verstandes ist eine Funktion, wodurch gegebenes Mannigfaltiges zum Ganzen „der Materie nach“ gebracht wird, wohingegen Raum und Zeit Formen sind, worin Mannigfaltiges in einem gegenstandsübergreifenden Ganzen „bey einander“ gestellt wird. Das Auftreten in der einheitlichen Form von Raum und Zeit bzw. das Beieinandersein „in der Anschauung“ ist bei der gegenständlichen Einheitsbestimmung durch den Verstand bereits vorausgesetzt. Brandt schreibt treffend, dass die „formale Anschauung“ letztlich „in den Augen der ‚reinen Anschauung‘ ein Ermächtigungsgesetz [darstellt], das den Verstand befugt, das in der Anschauung zu ein Ermächtigungsgesetz“³³⁴. Zu ergänzen ist hier jedoch, dass der Verstand dabei nur auf das Mannigfaltige bzw. das Einzelne und nicht das Ganze der Anschauung zielt, denn die besondere holistische Einheit von Raum und Zeit kann der Verstand mit seinen Kategorien weder erzeugen noch denken. Entsprechend heißt es in einer Reflexion bei Kant, dass die Tatsache, dass „alles, was Erscheint, im Verhaltnisse zum Gantzen erscheinen müsse, […] aus Raum und Zeit zu ersehen [ist]. Daß […] aber [dagegen etwas] unter einer Regel stehe, ist daraus zu ersehen, weil es sonst nicht in diesem Gantzen nach der Einheit des Verhaltnisses zum selben erscheinen würde.“³³⁵ Legt man die Anmerkung B160 f. mit Hinzunahme der Kästner-Abhandlung in dieser Weise aus, dann ist hier auch keine „Abweichung von der ,Ästhetikʻ“³³⁶ festzustellen, wie etwa Nakajima meint, sondern gerade die konsequente Weiterführung der Theorie im Hinblick auf die Bestimmung eines konkreten Objekts als Erfolgsfall einer Erkenntnisintention. Damit wäre prima facie ein Unterschied zwischen einem subjektiven und einem objektiven Raum gewonnen, wobei Letzterer durch Ersteren bedingt wäre, da der Letztere nur ein abgeleiteter bzw. vom Verstand bestimmter und erzeugter Raum wäre.³³⁷ Entsprechend konstatiert auch Buchdahl
Refl. 4674, AA XVII, 643. Brandt 2010, S. 47. Refl. 5211, AA XVIII, 119. Nakajima 1986, S. 38. Eine solche Unterscheidung vertritt beispielsweise Allison, obwohl er eine Interpretation im Sinne des Synthesis reading verfolgt.Vgl. Allison 1983, S. 96 f. Auch Shabel identifiziert die formale Anschauung mit „einzelnen sinnlichen Formen, die Gegenstände annehmen können“ (Shabel 2012, S. 75). Diese „zusammengefasste[n] sinnliche[n] Mannigfaltigkeiten“ betrachtet sie „als das Ergebnis einer Synthesis“ (Shabel 2012, S. 75 Anm.).
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mit Blick auf die Entwicklung der kantischen Raumkonzeption von der Erstlingsschrift bis hin zur KRV: „[W]e have noted that the ‘transcendental approachʼ is directed both to providing a framework for the notion of indeterminate space (spatiality), and that of a determinate space.“³³⁸ Trotz eines solchen ersten Unterscheidungsansatzes und der Bereitstellung eines „framework“ für die subjektive und objektive Ebene der kantischen Raumkonzeption bleiben zunächst Fragen offen. Es stellt sich insbesondere die Frage, wie eine formale Anschauung genau entsteht und wie die hier gewonnene Unterscheidung hilft, um schließlich Kants Probleme aus den Briefen nach 1770 zu lösen.³³⁹
2.2.3 Der transzendentale Schematismus und die transzendentalen Grundsätze im Hinblick auf Kants Unterscheidung zwischen Form der Anschauung und formaler Anschauung Für die Verfolgung der Unterscheidung zwischen subjektivem und objektivem Raum aus der Kästner-Abhandlung im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen reiner Anschauung bzw. subjektiven Anschauungsformen und formaler Anschauung bzw. objektiven Gegenstandsformen in der Anmerkung B160 f. ist es wichtig, sich mit der Deduktion, dem Schematismus und den Grundsätzen in der Analytik bezüglich der Thematisierung von Raum und Zeit auseinanderzusetzen. Kant merkt selbst an, dass die Frage nach der Einheit bei Raum und Zeit wichtig
Buchdahl 1969, S. 587. Auch ohne den Rekurs auf die Kästner-Abhandlung gelangt Buchdahl zu einer treffenden Rangordnung der beiden Raumkonzeptionen Kants: „Clearly, the answer is that in the sense of ʻform of intuitionʼ (what we may call the aspect of ʻspatialityʼ, of ʻbeing in spaceʼ), it is primary; but quâ ʻformal intuitionʼ, what we may call ʻdeterminate spaceʼ, or ʻbeing a spaceʼ, it is secondary, and presupposes categorial concepts.“ (Buchdahl 1969, S. 579). Vgl. ferner die Zustimmung bei Krausser 1981, S. 54. Ähnlich lautet es auch bei Dietrich: „Wenn Kant, wie er es zumeist tut, unter Denken ,Zusammensetzenʻ des Verstandes versteht, dann kann er mit Fug und Recht behaupten, daß ,die Anschauung auf keine Weise der Funktion des Denkens bedarfʻ, denn die unbestimmte Anschauung von Raum und Zeit entspringt nicht aus der Zusammensetzung. Daß gleichwohl Raum und Zeit die Funktion des Denkens vertragen, um ,hernach der Kategorien gemäß gedachtʻ zu werden, giebt Kant das Recht, von der bestimmten Anschauung bei Raum und Zeit zu sprechen.“ (Dietrich 1916, S. 100 f.). Auch wenn Buchdahl im Gegensatz zu Dietrich die dritte Interpretationsebene ernst nimmt, wonach der Raum auch als eine Idee verstanden werden kann, geht er nicht weiter darauf ein, wie das Verhältnis zu den ersten beiden Ebenen zu interpretieren ist.Vgl. Buchdahl 1969, S. 600 f. Ähnlich auch schon bei Vaihinger 1922b, S. 88. Vgl. hierzu insbesondere die Ausführungen im Kapitel 2.3. Vgl. Kapitel 1.5.
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„in der Anwendung“ ist und verweist dabei auf „§ 25“³⁴⁰, also auf den zweiten Beweisschritt der B-Deduktion, in dem es zumindest dem Anspruch nach darum gehen soll, zu erklären, wie die Kategorien sich objektiv anwenden lassen. Schließlich sind es die Kategorien, die „es eben machen, daß das Erfahrungsurtheil objectiv gültig ist“³⁴¹. Der Überschrift von § 24 der B-Deduktion folgend besteht das Ziel der transzendentalen Deduktion u. a. in der Erklärung der Möglichkeit einer „Anwendung der Kategorien auf Gegenstände der Sinne überhaupt“³⁴². Auf B117 heißt es ferner: „Ich nenne daher die Erklärung der Art, wie sich Begriffe a priori auf Gegenstände beziehen können, die transscendentale Deduction derselben […].“³⁴³ Wie sich die Kategorien anwenden lassen und „[w]ie sie […] die Erfahrung möglich machen“³⁴⁴, thematisieren darüber hinaus das Schematismus- und ferner auch das Grundsatzkapitel. Eine „Anwendung der Kategorien auf Erscheinungen“ erfolgt „vermittelst der transscendentalen Zeitbestimmung, welche als das Schema der Verstandesbegriffe die Subsumtion der letzteren unter die erste vermittelt“³⁴⁵. Zwar soll somit nach Kant neben der Deduktion auch das Schematismuskapitel die Anwendung der Kategorien verständlich machen, doch Freuler gibt zu Recht zu bedenken, dass es sich in der Deduktion um eine andere Anwendungsfrage als im Schematismuskapitel handelt.³⁴⁶ Während die Deduktion die grundsätzliche Frage behandelt, wie sich
B136 Anm. Hinsch versteht diesen Hinweis Kants so, dass die ursprüngliche „Einheit der Anschauungen von Raum und Zeit als Prämisse [in der Analytik] […] in Anspruch genommen wird“ (Hinsch 1986, S. 87). Dass die reine Anschauung von Raum und Zeit für die Anwendung der Grundsätze von Bedeutung ist, merkt Kant auch in den MAN an: „[O]hne reine Anschauung [kann] kein Grundsatz […] stattfinde[n].“ (AA IV, 475 Anm.). AA IV, 298. B150. B117. B167. B178|A139. Vgl. Freuler 1991, S. 400 – 405. Bekannterweise argumentiert Henrich in seinem Aufsatz Die Beweisstruktur von Kants transzendentaler Deduktion, dass die Deduktion grundsätzlich in einem Zweischritt vorgeht. Vgl. Henrich 1973, S. 97 ff. Aus Kants Formulierungen bezüglich einer transzendentalen Deduktion geht hervor, dass es sich bei der Zweiteilung der Deduktion in einen ersten (§16-§20) und in einen zweiten Abschnitt (§21-§26) nur um eine Aufteilung in zwei Argumente handeln kann, die zusammen einen Beweis ergeben sollen. Denn in beiden Abschnitten soll, wie Kant auf B143 und B161 deutlich macht, aufgezeigt werden, dass das Mannigfaltige in einer Anschauung notwendig unter den Kategorien steht. In B145 betont Kant, dass dieses Ziel erst am Ende der Deduktion erreicht wird. Ausgehend von Henrichs Argumentation, wonach – entgegen Kants eigener Aussage in der A-Auflage – die Deduktion nicht das Wie der Anwendung zeigt, spaltet Cramer die gesamte Analytik in zwei Teile: Die Deduktion soll demnach die allgemeine Bezogenheit der Kategorien auf die Anschauung beweisen, wohingegen das Schematis-
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allgemein die „Kategorien auf Gegenstände der Sinnlichkeit überhaupt“ beziehen, thematisiert der Schematismus, wie sich die Kategorien konkret auf einen bestimmten sinnlichen Gegenstand bzw. auf bestimmte zeitlich strukturierte Inhalte anwenden lassen: Also sind die Kategorien ohne Schemate nur Functionen des Verstandes zu Begriffen, stellen aber keinen Gegenstand vor. Diese Bedeutung kommt ihnen von der Sinnlichkeit, die den Verstand realisirt, indem sie ihn zugleich restringirt.³⁴⁷
muskapitel zusammen mit dem Grundsatzkapitel die konkrete Anwendung der Kategorien zeigen soll. So stellt er als einen Vorteil von Henrichs Rekonstruktion Folgendes heraus: „[Der] Vorteil von Henrichs Interpretation besteht darin, daß sie den von Kant geführten Nachweis, auf welche Weise sich die Kategorien als einheitsstiftende Funktionen des Verstandes auf das gegebene Mannigfaltige unserer Sinnlichkeit beziehen, aus dem Beweisprogramm der transzendentalen Deduktion, zu dem ein solcher Nachweis per definitionem des kantischen Begriffs von einer solchen Deduktion nicht gehört und auch nicht gehören kann, exportieren und Folgetheoremen zuweisen kann – nämlich dem Kapitel über den Schematismus der Kategorien und dem Grundsatzkapitel. Sie löst somit eine Schwierigkeit auf, welche für diejenige Interpretation, die im zweiten Schritt der Deduktion nicht die Komplettierung des ʻDaßʼ–Beweises, sondern den Nachweis des ʻWieʼ der Funktionen der Kategorien mit Bezug auf unsere Sinnlichkeit (unter der Voraussetzung, daß der ʻDaßʼ–Beweis mit § 20 bzw. § 21 schon abgeschlossen ist) sieht, unüberwindlich ist: Eine solche Interpretation kann nicht erklären, weshalb Schematismus- und Grundsatzkapitel der Kritik der reinen Vernunft nicht selber als Teile einer transzendentalen Deduktion der Kategorien konzipiert worden sind.“ (Cramer 1985, S. 263). Siehe hierzu auch die Kritik von Cramer an Plaass in Cramer 1985, S. 157– 161. Trotz dieser von Cramer angesprochenen Schwierigkeit für alternative Interpretationen gibt es auch Ansätze, die Henrichs Ausgrenzung der Anwendungsfrage aus der Deduktion bestreiten. Vgl. hierzu Allison 1983, S. 134– 172, Klemme 1996, S. 168 f. oder auch Baumgarten, der ebenfalls Henrich dafür kritisiert, dass er verkennt, dass der zweite Teil der Deduktion einen klaren Anwendungsbezug aufweist.Vgl. Baumgarten, H. 1997, S. 418 f. Freulers Hinweis, dass der Schematismus im Gegensatz zur Deduktion nicht allgemein, sondern ganz konkret auf sinnliche Verhältnisse eingeht, um eine konkrete Anwendungsfrage zu behandeln, kann einen solchen Ansatz gegenüber der von Cramer angesprochenen Schwierigkeit stützen.Vgl. Freuler 1991, S. 404.Vgl. ferner im Ansatz auch Hoppe 1991a, S. 63. Für eine Übersicht zu dieser Diskussion in der Kant-Literatur siehe Cramer 1985, S. 259 f. und zur Übersicht über den „aktuellen Forschungshorizont zum kantischen Lehrstück des Schematismus“ (Natterer 2003, S. 387) siehe Natterer 2003, S. 387– 398. Siehe ferner im Hinblick auf die Diskussionen zur transzendentalen Deduktion Metz 1991, S. 26 f. Auch wenn hier nicht auf alle Einzelheiten der Kapitel bezüglich der Deduktion, des Schematismus und der Grundsätze eingegangen werden kann, bleibt eine Bezugnahme zu diesen Theoriestücken wichtig für das Verständnis von Kants Raumund Zeitkonzeption, wie Nakajima richtig festhält: „[W]enn man nur die ,Deduktionʻ getrennt von den ,Grundsätzenʻ liest, kann man auf keinen Fall zu einem angemessenen Verständnis der eigentlichen Bedeutung der Konstruktion der objektiven Zeit gelangen.“ (Nakajima 1986, S. 40). B187|A147.
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Treffend heißt es in der KU, dass für die Darlegung der „Realität unserer Begriffe […] immer Anschauungen erfordert [werden]“. Im Hinblick auf die reinen Verstandesbegriffe schreibt Kant ferner: „Sind es empirische Begriffe, so heißen die letzteren Beispiele. Sind jene reine Verstandesbegriffe, so werden die letzteren Schemate genannt.“³⁴⁸ Somit ist es die „Vorzeigung des Objects […] [, wodurch] dem Begriffe die objective Realität gesichert wird“³⁴⁹. Durch den Prozess des Schematismus wird ermöglicht, dass die Kategorien die Inhalte der Sinnlichkeit zu realen Objekten der Erfahrung im Raum bestimmen. Treffend schreibt Kaulbach, dass die „ontologische Rolle des Schemas“ darin besteht, einen „Übergang […] vom Inneren zum Äußeren“³⁵⁰ zu ermöglichen. Ferner beschreibt Schliemann die Schemata pointiert als Bedingungen, die eine „Transformation subjektiver Vorstellungen in objektive erlauben“. Vor diesem Hintergrund betont er: Somit ist das durch den Schematismus zu lösende Problem ein wesentlicher Bestandteil des Problems der Objektivität, d. h., der Schematismus gibt eine partielle Antwort auf die Frage, was das Vorstellungssubjekt zu der Annahme berechtigt, dass sich einige seiner Vorstellungen auf etwas beziehen, das von ihm selbst verschieden ist.³⁵¹
Der Schematismus erklärt also, wie sinnliche Inhalte ge-deutet werden, indem aus ihnen Objekte der Erfahrung er-deutet werden.³⁵² Hierfür muss erklärt werden, wie sich die Kategorien als reine Verstandesbegriffe konkret anwenden lassen. Die reinen Schemata sind nämlich „Bestimmungen ihrer [der Kategorien] Anwendung auf Sinnlichkeit überhaupt (Schema)“³⁵³ und als solche „transscendentale[] Product[e] der Einbildungskraft“³⁵⁴. Sie sollen durch den Schematismus der transzendentalen Urteilskraft zwischen den Kategorien und der Sinnlichkeit vermitteln; dafür müssen sie nach Kant „einerseits intellectuell, anderseits sinnlich
AA V, 351. AA V, 343. Kaulbach 1973, S. 109. Schliemann 2010, S. 36 f. Zum Verständnis von Bestimmen im Sinne von Deuten siehe Anmerkung 347 in Kapitel 1. A245. B181|A142. Die Einbildungskraft gilt neben Verstand und Sinnlichkeit in der A-Auflage als ein unabhängiges Erkenntnisvermögen. In der B-Auflage reduziert Kant die Anzahl an unabhängigen Erkenntnisvermögen wieder auf zwei Stämme. Die berühmte Stelle, wonach die Einbildungskraft eine „blinde[], obgleich unentbehrliche[] Function der Seele“ (B103|A78) ist, ändert Kant im Handexemplar der KRV dahingehend ab, dass er das Wort Seele durch den Begriff Verstand ersetzt. Vgl. AA XXIII, 45. Würker sieht in der Degradierung der Einbildungskraft in der zweiten Auflage der KRV eine stärkere Anbindung des Schematismus an die transzendentale Apperzeption. Vgl. Würker 2008, S. 111 f.
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sein“³⁵⁵. Sie sollen „nichts als Zeitbestimmungen a priori nach Regeln“³⁵⁶ sein. Kant betont, dass durch den Schematismus die hervorgebrachte gegenständliche Einheit des Erfahrungsobjekts letztlich der Einheit des Selbstbewusstseins gemäß sein muss. Für ihn ist nämlich klar, dass „der Schematismus des Verstandes […] auf nichts anders, als die Einheit alles Mannigfaltigen der Anschauung in dem inneren Sinne, und so indirect auf die Einheit der Apperception […] hinauslaufe“³⁵⁷. An dieser Stelle ist es wichtig, die Unterscheidung zwischen subjektivem und objektivem Raum, die in der Kästner-Abhandlung angesprochen wird, heranzuziehen: Die Einheit, die durch die Anwendung der Kategorien und durch die Bildung von konkreten Urteilen entspringt, ist zunächst lediglich die formale Anschauung bzw. die objektive Einheit eines Gegenstands der Erfahrung. Wenn Kant also im Hinblick auf die Zahl als das „Schema der Größe“ schreibt, dass die Zeit überhaupt erst durch die Anwendung der entsprechenden Kategorien auf zeitliche Verhältnisse von Inhalten, wodurch „die successive Addition von Einem zu Einem (gleichartigen) zusammenbefaßt“ wird, „erzeug[t]“³⁵⁸ wird, dann kann es sich hierbei nicht um die bloß subjektive Zeit handeln, denn diese muss den Schemata als reinen Zeitbestimmungen vorausgehen.³⁵⁹ Es ist also für das Ver-
B177|A138. B184|A145. An dieser Stelle wird die Rolle von Raum und Zeit als Formen des sinnlichen Erkenntnisvermögens deutlich.Vgl. hierzu auch folgende Notiz von Kant: „Raum und Zeit sind die Formen der Verbindung in der Anschauung und dienen, die Categorien in concreto anzuwenden.“ (Refl. 5934, AA XVIII, 393). B185|A145. B182|A142 f. Das Bedingungsverhältnis, wonach die subjektiven Anschauungsformen als grundlegend betrachtet werden müssen, drückt sich gerade beim Konstrukt der Zahl aus: „Die Zahl ist eine Menge, welche Grentzen hat; eine bestimmte große in Raum und Zeit entspringt aus den Grentzen der Unendlichkeit.“ (Refl. 4322, AA XVII, 505). Die Zahl ist als Schema für die Schematisierung der Quantitätskategorie elementar und setzt dabei die mit Inhalt besetzten Kontinua von Raum und Zeit voraus. Dabei betont Kant folgerichtig, dass „nicht umgekehrt“ gelte, dass jede Größe einer Zahl entsprechen muss, denn die ursprünglichen Größen Raum und Zeit sind keine schematisierten bzw. quantifizierten Größen. Entsprechend heißt es in der Reflexion 4666: „Alle qvanta discreta [nicht continua!] sind zahlen.“ (Refl. 4666, AA XVII, 631). Gleichwohl ist die Zahl als Schema in erster Linie als „eine Regel, nach der der Verstand den inneren Sinn bestimmt, d. h. aber eine Regel für die transzendentale Einbildungskraft“ (Böhme 1986, S. 56) zu betrachten, wie Böhme pointiert betont. Ferner heißt es: „Zahl ist also nicht so viel wie vorliegende Anzahl von etwas, sondern vielmehr die ‚Vorstellung von einem allgemeinen Verfahren der Einbildungskraft‘ (KdrV B 179, 180/A 140) […].“ (Böhme 1986, S. 57). Vgl. hierzu ferner Kants Ausführungen im Opus postumum in AA XXI, 454 ff. Auch dort führt Kant den Begriff einer extensiven Größe auf die entsprechende Kategorie bzw. die „wiederholte Setzung“ in der „apprehension“ (AA XXI, 454) zurück: „Der Begrif der Größe ist kein von der Erfahrung abgeleiteter Begrif Er liegt lediglich a priori im Verstande obgleich wir ihn nur in der Erfahrung entwickeln.“ (AA XXI, 456).
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ständnis dieser Stelle wichtig zu betonen, dass die Zeit hier lediglich als aus den Zeitbestimmungen a priori bzw. der Schematisierung gewonnene Größe eines Erfahrungsgegenstands auftritt, wodurch dieser erst ermöglicht wird. Böhme konstatiert im Hinblick auf diese Stelle daher ganz richtig: „Was hier als Zeit erzeugt wird, ist die formale Anschauung Zeit.“³⁶⁰ Als solche objektive Größe ist sie nunmehr nach Kant auch quantifizierbar und lässt sich als extensive Größe am Erfahrungsgegenstand messen, wie er bezüglich der Axiomen der Anschauung ausführt.³⁶¹ Durch den „Fortgang von einem Augenblick zum anderen“ wird „durch alle Zeittheile [zusammen] und deren hinzuthun endlich eine bestimmte Zeitgröße erzeugt“³⁶². Schließlich gilt aufgrund der grundsätzlichen Kontinuität: „Verschiedene Zeiten sind nur Theile eben derselben Zeit.“³⁶³ Durch die Bestimmung einer Größe mittels der Anwendung des Schemas der Zahl bzw. der „Synthesis des Gleichartigmannigfaltigen“ erhalten wir sogar einen „Begriff“ von „Raum und Zeit […] als quantis“³⁶⁴. Entsprechend ist die reine Vorstellung einer quantitativen Einheit am Gegenstand ein reiner Verstandesbegriff der Quantitätskategorien und tritt dort zusammen mit dem quantitativen Gegenbegriff der Kategorie der Vielheit auf, wobei sich durch die dritte Quantitätskategorie die Allheit einer begrenzten Menge vorstellen lässt. Schließlich soll die „Allheit (Totalität) nichts anderes“ sein als die „Vielheit, als Einheit betrachtet“³⁶⁵. Ein Blick in die Prolegomena zeigt, dass Kant dort hinter den einzelnen Kategorien der Quantität (und, nebenbei erwähnt, nur der Quantität) ergänzende Begriffe hinzufügt, um die Mehrdeutigkeit der Kategorietitel auf eine Bedeutung im Hinblick auf bestimmte Größen einzuschränken. Mit der Kategorie der Einheit ist „das Maß“, mit Vielheit „die Größe“ und mit Allheit ein bestimmtes „Ganze[s]“³⁶⁶ gemeint. Durch die Quantitätskategorien werden also Größen gedacht, die als ein konkretes Ganzes ein bestimmtes Maß aufweisen und somit quanta discreta darstellen. Insgesamt ist der Begriff des Zusammengesetzten „keine besondere Categorie, sondern in allen Categorien (als synthetische Einheit der Apperception) enthalten“³⁶⁷, wie Kant in einem Brief an Tieftrunk betont. Die Kategorien können folglich nicht die ursprünglich gegebene Einheit der sinnlichen Formen erzeugen.
Böhme 1986, S. 61. Vgl. ferner Riehl 1924, S. 497 f. sowie Düsing 1980, S. 8 Anm. Vgl. B203 ff.|A163 ff. B203|A163. Vgl. ferner B750 Anm.|A722 Anm. B47|A31 f. B748|A720. B111. AA IV, 303. Vgl. auch AA X, 367 und Refl. 5892, AA XVIII, 377. Vgl. hierzu auch Dietrich 1916, S. 37; S. 59 – 66. AA XII, 222.
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Für diese gilt vielmehr, dass sie eben nicht durch „hinzuthun“³⁶⁸ erzeugt werden kann. Vor diesem Hintergrund greift Kant in den Antizipationen der Wahrnehmungen auf seine Formulierung aus De mundi zurück, wonach Raum und Zeit als quanta continua zu verstehen sind: Raum und Zeit sind quanta continua, weil kein Theil derselben gegeben werden kann, ohne ihn zwischen Grenzen (Punkten und Augenblicken) einzuschließen, mithin nur so, daß dieser Theil selbst wiederum ein Raum, oder eine Zeit ist.³⁶⁹
An dieser Stelle werden Raum und Zeit als ursprüngliche und subjektive Formen der Sinnlichkeit angesprochen, zumal dies an die Formulierung des dritten BRaumarguments der transzendentalen Ästhetik erinnert, wonach Teile nur durch Einschränkungen möglich sind. Es ist daher wichtig, zwischen den unterschiedlichen Bedeutungsfacetten des Einheitsbegriffs bei Kant zu unterscheiden, die bereits im Einführungskapitel 0.1 thematisiert wurden. Es stellt sich hier die Frage, welche Art von Einheit für die sinnlichen Formen beansprucht wird; gleichwohl ist diese Frage – wie sich bereits angedeutet hat – an dieser Stelle in einem viel systematischeren Kontext zu betrachten als in den vorkritischen Überlegungen. Auch an dieser Stelle in den Antizipationen der Wahrnehmung zeigt sich wie schon in De mundi, dass Raum und Zeit als ursprüngliche Formen nicht quantifizierte Kontinua darstellen. Auch in der KRV betont Kant: „Stellen aber setzen jederzeit jene Anschauungen, die sie beschränken oder bestimmen sollen, voraus […].“³⁷⁰ Der Inhalt bzw. die sinnliche Affektion ermöglichen die Einschränkung bzw. Teilung der sinnlichen Formen. Dafür müssen die sinnlichen Formen als einheitliche Gebilde jedoch bereits zugrunde liegen, denn „aus bloßen Stellen als aus Bestandtheilen, die noch vor dem Raume oder der Zeit gegeben werden könnten, kann weder Raum noch Zeit zusammengesetzt werden“³⁷¹. Vor dem Hintergrund dieser Formulierungen scheint es prima facie widersprüchlich, wenn Kant zuvor in den Axiomen der Anschauung schreibt, dass die Erschei-
B203|A163. Dass Raum und Zeit als unendliche Größen gegeben sind, zeugt davon, dass sie nicht Folgen einer Zusammensetzung sein können. In einem Brief an Schultz aus dem Jahr 1784 grenzt Kant den ursprünglichen Raum explizit von jeder bestimmten Größe ab: „[…] [D]ie Begriffe quantum, compositum, totum gehören unter die Categorien der Einheit, Vielheit, Allheit; allein ein quantum als compositum gedacht würde doch noch nicht den Begriff der totalitaet geben, ausser so fern der Begriff des quanti durch die composition als bestimmbar gedacht wird, welches nicht bey allen quantis z. B. dem unendlichen Raume angeht.“ (AA X, 367). Vgl. ferner Refl. 5896, AA XVIII, 378. B211|A169. B211|A169. B211|A169 f.
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nungen „insgesamt Größen und zwar extensive Größen [seien], weil sie als Anschauungen im Raume oder der Zeit durch dieselbe Synthesis vorgestellt werden müssen, als wodurch Raum und Zeit überhaupt bestimmt werden“. Dieser vermeintliche Widerspruch, der beispielsweise von Vaihinger behauptet wird, hebt sich jedoch auf, sobald berücksichtigt wird, dass Kant hier im Unterschied zu der obigen Stelle aus dem Abschnitt zu den Antizipationen der Wahrnehmung von Raum und Zeit als „bestimmt[en]“³⁷² Größen eines Gegenstands spricht.³⁷³ Hierzu macht bereits Gent darauf aufmerksam, dass „kein Widerspruch“ vorliegt, solange man die Zeit als „extensive Größe“ von der Zeit als „echtes Kontinuum“³⁷⁴ bei Kant unterscheidet. Kant schreibt zuvor, dass die Erscheinungen nicht anders apprehendiert werden können „als durch die Synthesis des Mannigfaltigen, wodurch die Vorstellungen eines bestimmten Raumes oder Zeit erzeugt werden“³⁷⁵. Es geht also um Raum und Zeit als bestimmte Größen eines Gegenstands und nicht als ursprüngliche Formen der Sinnlichkeit. Kant macht in den Antizipationen deutlich, dass die Erscheinung nur extensive und intensive Größen beinhalten kann, weil die ursprünglichen kontinuierlichen Formen der Sinnlichkeit vorliegen: Raum und Zeit sind quanta continua […]. Der Raum besteht also nur aus Räumen, die Zeit aus Zeiten. Punkte und Augenblicke sind nur Grenzen, d. i. bloße Stellen ihrer Einschränkung; Stellen aber setzen jederzeit jene Anschauungen, die sie beschränken oder bestimmen sollen, voraus, und aus bloßen Stellen, als aus Bestandtheilen, die noch vor dem Raume oder der Zeit gegeben werden könnten, kann weder Raum noch Zeit zusammengesetzt werden. Dergleichen Größen kann man auch fließende nennen, weil die Synthesis (der productiven Einbildungskraft) in ihrer Erzeugung ein Fortgang in der Zeit ist, deren Continuität man besonders durch den Ausdruck des Fließens (Verfließens) zu bezeichnen pflegt. Alle Erscheinungen überhaupt sind demnach continuierliche Größen sowohl ihrer Anschauung nach als extensive, oder der bloßen Wahrnehmung (Empfindungen und mithin Realität) nach als intensive Größen.³⁷⁶
B203. Siehe zur Behauptung eines Widerspruchs schon Vaihinger 1922b, S. 224 f. Siehe hingegen Allisons Hinweis auf diesen vermeintlichen Konflikt in Allison 1983, S. 94. Gent 1930, S. 68.Vgl. auch Allison 1983, S. 95 f. Zuvor kritisierte schon Krausser an Wolff, dass er hier von einem Widerspruch bei Kant ausgeht. Vgl. Krausser 1981, S. 44. Der vermeintliche Widerspruch in Kants Lehre von Raum und Zeit löst sich auch nach Krausser durch eine scharfe Trennung in Kants Unterscheidung zwischen Form der Anschauung und formaler Anschauung auf. Vgl. Krausser 1981, S. 54. B202. B211 f.|A169 f.
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Hier gilt es somit genau zu unterscheiden, denn der subjektive „Raum ist eine blosse Möglichkeit, aber an wirklichen Dingen [ist er dagegen] etwas wirkliches“³⁷⁷. Es geht also bei den objektiven Formen um die Synthesis, die „eine bestimmte Zeitgröße erzeugt“³⁷⁸, was allein von der Wortwahl her wieder an den Schematismus erinnert, worauf Klemme richtigerweise hinweist.³⁷⁹ Wie Kant ferner in einem Brief betont, werden „die Anschauungsformen nicht unmittelbar als objectiv[,] sondern bloß als subjective Formen der Anschauung“³⁸⁰ vorgestellt, doch vermittels des Schematismus werden objektive und konkrete Zeit- und Raumvorstellungen ermöglicht. Die figürliche Synthesis der Einbildungskraft wendet den Begriff der Quantität durch das entsprechende Schema der Zahl auf Anschauungen im ursprünglich subjektiven Raum an und erhält dadurch sukzessiv extensive und durch den Begriff der Qualität auch intensive Gegenstände in der Erscheinung. Diese Einschränkung im ursprünglichen Raum, der einen konkreten Raum in der Erfahrung ermöglicht, beschreibt Kant auch als ein Ausschneiden von Teilen: „Man kan sich nur räume gedenken, in so fern man aus dem allgemeinen Raum was ausschneidet.“³⁸¹ Hinsch sieht in der figürlichen Synthesis vor dem Hintergrund dieser Wirkweise eine „vermittelnde Stellung zwischen der Spontaneität des Verstandes und der Rezeptivität der Anschauung“³⁸². Treffend spricht Unruh bezüglich des „Übergang[s] von der Form der Anschauung zu einer formalen Anschauung“³⁸³ davon, dass durch die „Bewegung der transzendentalen Einbildungskraft […] ein Teilraum allererst beschrieben und so ein bestimmter Raum dargestellt [wird], in dem die Figuren der erscheinenden Gestalten gleichsam eingezeichnet“³⁸⁴ werden. Das ist ein treffendes Bild: zum einen, weil Kant selbst von der „Bewegung als Handlung des Subjects“³⁸⁵ und „Beschreibung eines Raumes“³⁸⁶ spricht, zum anderen, weil es noch einmal verdeutlicht, dass die Deutung zum Objekt eine Bestimmung von Gestalten im ursprünglich subjektiven und kontinuierlichen Raum darstellt. In der KU heißt es bei Kant: „Messung eines Raums (als Auffassung) ist zugleich Beschreibung desselben, mithin objective Bewegung in der Einbildung und ein Progressus; die
Refl. 5318, AA XVIII, 151. B203|A163. Vgl. Klemme 1998, S. 254 f. AA XII, 224 (Hervorhebung von mir). Refl. 4315, AA XVII, 503. Hinsch 1986, S. 91. Unruh 2007, S. 277 (Hervorhebung aufgehoben). Unruh 2007, S. 284. B154. B155 Anm.
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Zusammenfassung der Vielheit in die Einheit, nicht des Gedankens, sondern der Anschauung […].“³⁸⁷ Kaulbach bringt diese Charakterisierung der Bewegung als Beschreibung eines Raums nachvollziehbar in einen Zusammenhang mit dem Schematismus: Ein reiner Grundbegriff (Kategorie) wie z. B. derjenige der ,Größeʽ (Quantität) wird ,schematischeʽ Bewegung, er legt sich im Vollzuge seiner ,Beschreibungʽ in eine bestimmt geartete einzelne Figur aus. Der Begriff der Größe geht durch ,Schematisierungʽ über in den Zustand der Bewegung und wird zur Beschreibung der Figur.³⁸⁸
Diese Bewegung des Schematismus ermöglicht schließlich den Übergang zum bestimmten Raum der formalen Anschauung, denn „sie macht aus dem Raum erst den bestimmten, beschriebenen Raum“³⁸⁹, wie Kaulbach weiter ausführt.³⁹⁰ Prauss erklärt, dass die subjektive Erscheinung, „obwohl notwendigerweise räumlich geformt[,] […] deshalb durchaus nicht etwa ,im Raumʻ, sondern nur in der Zeit, im inneren Sinn“³⁹¹ ist. Des Weiteren führt er aus: „Im entsprechenden Sinne ,in den Raumʻ setzen wir vielmehr nur die beharrlichen objektiven Gegenstände, indem wir sie uns aus den räumlich geformten Erscheinungen heraus gleichsam in ihn hinein erdeuten, wobei wir uns auch diesen ihren objektiven Raum erst miterdeuten.“³⁹² Die Unterscheidung zwischen subjektiver und objektiver Zeit ist auch wichtig, wenn Kant in den Analogien der Erfahrung von den Modi der Zeit spricht: „Die drei modi der Zeit sind Beharrlichkeit, Folge und Zugleichsein.“³⁹³ Entsprechend muss es nach Kant auch „drei Analogien der Erfahrung“ geben, denn sie „sind nichts andres, als Grundsätze der Bestimmung des Daseins der Erscheinungen in der Zeit nach allen drei modis derselben“³⁹⁴. Kant macht zu Beginn der ersten AA V, 258. Kaulbach 1973, S. 109. Kaulbach 1973, S. 112. Vor dem Hintergrund dieser Anwendbarkeit von Raum und Zeit ist die Benennung dieser als ein „Qvantum continuum et discretum“ (Refl. 5726, AA XVIII, 337) zu verstehen. Ursprünglich sind Raum und Zeit quanta continua. Als bestimmte Form bzw. Gestalt können sie auch als quanta discreta auftreten. Vgl. ferner B554 f.|A526 f. Prauss 1971, S. 108 Anm. Prauss 1971, S. 108 Anm. B220|A177. B262|A215. Vor diesem Hintergrund ließe sich fragen, ob nicht auch der Raum Modi haben müsste. Zum Schluss der transzendentalen Ästhetik spricht Kant davon, dass eine „runde Gestalt“ eine „Modifikation[] […] unserer sinnlichen Anschauung“ (B63|A46) darstellt. Gloy schlägt vor, die Zeitmodi zugleich als Raummodi zu interpretieren, da sich gerade bei den Analogien eine deutliche Interdependenz zwischen Raum und Zeit offenbart: „Wie das Nacheinander (die konstante
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2 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der Kritik der reinen Vernunft
Analogie deutlich, was es heißt, dass etwas in einem zeitlichen Modus auftritt: „Die Zeit also, in der aller Wechsel der Erscheinungen gedacht werden soll, bleibt und wechselt nicht, weil sie dasjenige ist, in welchem das Nacheinander- oder Zugleichsein nur als Bestimmungen derselben vorgestellt werden können.“³⁹⁵ Die Modi der Zeit sind letztlich abhängig vom Inhalt, der in der Zeit erscheint, und von der Bestimmung durch die Anwendung der Kategorien.³⁹⁶ Es gibt gar „nichts Beharrliches, was wir dem Begriffe einer Substanz als Anschauung unterlegen könnten, als bloß die Materie“³⁹⁷. Entsprechend gilt, dass „aller Wechsel und Zugleichsein nichts, als so viel Arten (modi der Zeit) sind, wie das Beharrliche existiert“³⁹⁸. Das Schema der Substanz „ist die Beharrlichkeit des Realen in der Zeit, d. i. die Vorstellung desselben als eines Substratum der empirischen Zeitbestimmung überhaupt“³⁹⁹. Sans konstatiert diesbezüglich treffend: „Gäbe es nichts Beharrliches, so die Überlegung [Kants], wäre keine objektive Bestimmung der Zeitverhältnisse möglich, und wir könnten keine Gegenstände erkennen.“⁴⁰⁰ Der „Wechsel trifft die Zeit selbst [aber] nicht“⁴⁰¹, was auch im Hinblick auf die Paralogismen der reinen Vernunft wichtig ist, denn aufgrund dessen, dass in der reinen Zeit nichts Beharrliches vorliegt, kann der innere Sinn, dessen Form die Zeit ist, oder auch die Seele nicht als eine von der Körperwelt unabhängige Substanz bestimmt werden, da Beharrlichkeit als notwendiges Schema für die Bestimmung als Substanz zugrunde liegen muss.⁴⁰² Die Modi der Zeit entstehen erst durch die Anwendung der Kategorien auf die subjektiven Zeitverhältnisse. Dadurch werden überhaupt objektive Zeitverhältnisse ermöglicht, wie es schon
Form) das spezifische, freilich nur aus dem Rekurs auf den Raum zu gewinnende Zeitkriterium ist, so ist das Zugleich das spezifische, freilich nur aus dem Rekurs auf die Zeit zu gewinnende Raumkriterium. Wenn Kant daher Nacheinander, Zugleich und Beharrlichkeit, welche aus der Verbindung beider resultiert, als ,Zeitmodiʻ klassifiziert […], so ist dies, wie man jetzt sieht, nur eine einseitige Bestimmung, statt deren man ebensowohl von ,Raummodiʻ sprechen könnte, da das Nacheinander nur eine besondere Auslegung des Mannigfaltigen bzw. des Außer- und Nebeneinander, das Zugleich die spezifische Bestimmung des Raumes und die Beharrlichkeit das Resultat der Verbindung beider ist.“ (Gloy 2008, S. 147 Anm.). Vgl. hierzu kritisch weiter unten in diesem Kapitel. B225. Dies wird auch durch einen Blick in §108 der Metaphysica von Baumgarten gestützt, wonach ein Modus eine Bestimmung an einem Ding ist. Vgl. Baumgarten, A. 2011, S. 93. Vgl. hierzu auch schon Cramer 1985, S. 298 f.; S. 304 ff. oder ferner auch Thöle 1998, S. 273. B278. B226|A182. B182|A144. Sans 2005, S. 715. B226|A183. Vgl. hierzu den ersten Paralogismus in der A-Auflage ab A348.
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zuvor im Schematismus hieß. In der ersten Analogie schreibt Kant in der A-Auflage, dass mit dem Modus des „nach einander […] die Zeit als Zeitreihe […] betrachtet“⁴⁰³ wird, wodurch erneut eine Referenz zum Schematismus entsteht, heißt es doch dort, dass die Schemata u. a. „auf die Zeitreihe“⁴⁰⁴ gehen. Hierzu heißt es ganz richtig bei Höffe: „Eine Differenzierung, die in Zeitreihe, Zeitinhalt, Zeitordnung und Zeitinbegriff, gehört nicht mehr zur reinen Anschauungsform, sondern zur Vermittlung von Sinnlichkeit und Verstand, zur Schematisierung nach Maßgabe der vier Klasse von Kategorien […].“⁴⁰⁵ Die Modi der Zeit entstehen erst dadurch, dass die Zeit als konkrete zeitliche Größe eines Objekts erzeugt wird. Die Beharrlichkeit, wovon die Modi nach obiger Stelle abhängen, ist selbst das „Schema der Substanz“⁴⁰⁶. Auch Brittan sieht die Grundsätze im Zusammenhang mit einer Konstituierung von objektiver Zeit: „In particular, he [Kant] argues that unless the Axioms of Intuition, the Anticipations of Perception, and the Analogies of Experience are presupposed, space and (especially) time will not have a determinate structure.“⁴⁰⁷ Wenn Kant einerseits schreibt, dass die Zeit unwandelbar ist, und andererseits, dass sie es nicht ist, dann kann dies nur durch das Hinzuziehen der Modi bzw. der Bestimmung von Gegenständen im Raum verständlich werden. Entsprechend konstatiert Marc-Wogau: Sollen sich die beiden Lehren vertragen, so muss mit der Zeit als Form, die unabhängig vom Wechsel, vom Nacheinander bestimmt wird, gerade der Raum als das Beharrliche im Wechsel gedacht sein.Wird die Zeit bei Kant als Substanz gedacht – und dieser Gedanke liegt bei ihm vor –, so ist sie dem Begriffe nach mit dem Raume identisch.⁴⁰⁸
A182. B185|A145. Höffe 2003, S. 88. B183|A144. Brittan 1978, S. 89. Marc-Wogau 1932, S. 171. Nicht verschwiegen werden kann, dass es durchaus Stellen gibt, die suggerieren, dass die Zeit selbst als ursprüngliche Form bereits beharrlich sei: „Die Beharrlichkeit drückt überhaupt die Zeit, als das beständige Correlatum alles Daseins der Erscheinungen, alles Wechsels und aller Begleitung, aus.“ (B226|A183). Cramer hält es jedoch für unhaltbar, der Zeit selbst Beharrlichkeit zuzusprechen. Er interpretiert Kant dahingehend, dass die Zeit nicht als solche betrachtet wird, „sondern nur, […] insofern […] als in ihr aller Wechsel der Erscheinungen gedacht werden muß, d. h. der Wechsel von solchem, was von dem reinen Mannigfaltigen der Zeitanschauung gerade unterschieden ist“. Vor diesem Hintergrund interpretiert Cramer weiter: „Insofern der Begriff des Wechsels als der der Aufeinanderfolge von Erscheinungen in der Zeit definiert ist, gilt streng genommen, daß die Zeit an sich selbst betrachtet weder wechselt, noch behaart (dauert), sondern eine Ordnung des reinen Nacheinander ist, in der die Beharrlichkeit, das Zugleichsein und der Wechsel von etwas von dieser Ordnung Unterschiedenem, das in dieser Ordnung gegeben ist, allein vorgestellt werden kann […].“ (Cramer 1985, S. 177). Zur Stütze seiner Interpretation zitiert Cramer folgende Stelle: „Wollte man der Zeit selbst eine Folge nach einander
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Über die Bestimmung der zeitlichen Modi durch den Erkenntnisprozess entsteht überhaupt erst die Erfahrung. Für Kant ist es wichtig, dass die Erfahrung über die bloße Wahrnehmung hinausgeht, da „durch die bloße Wahrnehmung das objective Verhältniß der einander folgenden Erscheinungen unbestimmt“⁴⁰⁹ bleibt. Es bedarf vor diesem Hintergrund einer notwendigen Regel der Verknüpfung, denn nur so ist es möglich, dass „ich meine subjective Synthesis (der Apprehension) objectiv mache“⁴¹⁰. Nur „dadurch, daß eine gewisse Ordnung in dem Zeitverhältnisse unserer Vorstellungen nothwendig ist, [kann] ihnen objective
beilegen, so müßte man noch eine andere Zeit denken, in welcher diese Folge möglich wäre.“ (B226|A183). Die Bestimmung der reinen Zeit als wechselnde oder behaarende würde somit in einen infiniten Regress führen. Dieses Problem ergibt sich aber nur, wenn man nicht zwischen subjektiver und objektiver Zeit bei Kant unterscheidet. Spricht Kant davon, dass die Zeit substanzhaft ist, dann muss dies im Zusammenhang mit objektiver Zeit und objektivem Raum verstanden werden. Entsprechend konstatiert Gloy kritisch gegenüber der Interpretation von Düsing, wonach das Wesen der Zeit die Beharrlichkeit sein soll, Folgendes: „Ohne Zweifel ist richtig, daß die Beharrlichkeit der Zeit dem Substanzsatz zugrunde liegt und die Folge und Gleichzeitigkeit dem Kausal- und Wechselwirkungssatz; das Wesen und den eigentlichen Charakter der Zeit aber deswegen als Beharrlichkeit zu bestimmen, erscheint problematisch. Denn damit ginge das Spezifikum der Zeit, das Nacheinandersein, gerade verloren. Besser sollten in bezug auf die Zeit Schichten unterschieden werden, wie die lagezeitliche in der ,Transzendentalen Ästhetikʻ und die topologische in der ,Transzendentalen Analytikʻ“ (Gloy 2008, S. 137 Anm.). Vgl. hierzu auch Sans 2005, S. 716 – 719. Mit diesem kritischen Punkt bei den Analogien hängt möglicherweise auch die Problematik zusammen, dass Kant sich widersprüchlich zu der Anzahl an Modi äußert. Auf der einen Seite heißt es, dass es „drei modi der Zeit“ (B219|A177) gäbe. Vgl. auch B262|A215. Auf der anderen Seite heißt es, es gäbe nur zwei Modi der Zeit.Vgl. B224 f.|A182 f. Nach A182 f. ist die Dauer kein Modus der Zeit. Nach B67 ist sie ein kombinierter Modus aus den ersten beiden. Düsing spricht hierbei von „schwankenden Bestimmungen“ (Düsing 1980, S. 6) bei Kant. Siehe hierzu ferner Mohr 1991, S. 77 Anm. Mohr schlägt vor, das Nacheinander als „Grundform“ zu verstehen, worauf die Dauer und das Zugleichsein als Modi aufbauen. Vgl. Mohr 1998, S. 116. Thöle schlägt vor, die „Schwierigkeit“ zu lösen, indem man die Zeit an der einen Stelle als Grundform versteht, die gar keinen Modus hat, und an der anderen Stelle als objektive Zeit, in der Verhältnisse einen bestimmten Modus annehmen. Vgl. Thöle 1998, S. 273. Vaihinger sieht in diesem Zusammenhang eine „tiefe Unklarheit“ in „Ks. Zeitlehre“ (Vaihinger 1922b, S. 394). Vgl. auch die Zustimmung gegenüber Vaihinger bei Wohlfart 1982, S. 73. Einen kritischen Überblick zu diesem Thema verschaffen sich Sans 2005 und ferner Cramer 1985, S. 303 – 306. Die Diskussion zeigt insgesamt, dass Kant insbesondere bei der Frage nach der Anzahl und dem Zusammenhang der Modi mit der Anschauungsform des Raums interpretationsbedürftig bleibt. Wohlfart konstatiert: „Auf die Frage, […] ob die drei Abmessungen des Raumes in eine Beziehung zu den drei Modi der Zeit zu setzen sind, hat Kant keine befriedigende Antwort gefunden.“ (Wohlfart 1982, S. 73). Vgl. hierzu die Anmerkung 394 in hiesigem Kapitel 2. B234. B240|A195.
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Bedeutung ertheilt“⁴¹¹ werden. Die Anwendung der dynamischen Kategorien führt zu einer objektiven Zeit, wodurch „Wahrnehmung in Erfahrung verwandelt“⁴¹² wird. Die Relationsverhältnisse in der Erfahrung drücken die objektive Zeit durch ihre bestimmte Ordnung in Form einer objektiven früher-später-Relation aus.⁴¹³ Prauss sieht hier die Abhängigkeit einer objektiven Zeit von der Bestimmung zeitlicher Verhältnisse an einem Erfahrungsgegenstand: Erst auf diese Weise wird jene Zeit zur objektiven Zeit als Dauer dieses beharrlichen Objekts gestaltet, in der alle objektive Wechsel dann prinzipiell nur etwas an ihm, nämlich niemals dieses Objekt selbst als beharrlich-dauernde ,Substanzʻ, sondern allein ihre ,Akzidenzenʻ betreffen kann, die aber als wechselnde Zustände dieser Substanz selbst, das heißt als ihre Veränderungen gegenüber dem bloßen Wechsel der subjektiven Erscheinungen, zureichend nur begriffen werden können, sofern sie sich als objektiv-notwendig wechselnd, nämlich auch noch unter der schematisierten Kausalkategorie zu Wirkungen von Ursachen bestimmen lassen.⁴¹⁴
Durch den Übergang zur objektiven Erfahrung ist es der Zeit möglich, nicht mehr nur als subjektive Form zu fungieren, sondern nunmehr eine objektive Funktion zu erfüllen, indem objektive zeitliche Verhältnisse in ihr vorgestellt werden, wodurch sich ggf. zeitliche Verhältnisse im Hinblick auf ihre zunächst nur subjektive Reihenfolge objektiv neu ordnen – sei es im Hinblick auf das Verhältnis von Ursache und Wirkung oder Substanz und Akzidenz oder die Gemeinschaft der Dinge. In der zweiten Analogie hebt Kant hervor, dass „es auf die Ordnung der Zeit, und nicht auf den [bloß subjektiven] Ablauf derselben“ ankommt. Schließlich ist ein bestimmtes Kausalverhältnis auch möglich, selbst „wenn gleich keine Zeit verlaufen ist. Die Zeit zwischen der Causalität der Ursache und deren unmittelbaren Wirkung kann verschwindend (sie also zugleich) sein, aber das Verhältniß der einen zur anderen bleibt doch immer der Zeit nach bestimmbar.“⁴¹⁵ Und auch die dritte Analogie zielt auf das Zustandekommen eines objektiven Verhältnisses, geht es doch darum zu zeigen, wie die „subjective Gemeinschaft auf
B243|A197. AA IV, 301 Anm. Vgl. hierzu Prauss 1971, S. 300. Prauss 1971, S. 309 (Hervorhebungen aufgehoben).Vgl. ferner Nakajima 1986, S. 43 und Thöle 1998, S. 268 ff. B248|A203. Bieri spricht vor dem Hintergrund der zweiten Analogie von einer Kausaltheorie der Zeit im strikten Sinne bei Kant. Mittels der Kausalität soll eine „B-Reihe objektiviert werden“ (Bieri 1972, S. 139). Friebe dagegen ordnet Kant in der modernen Debatte einer A-Theorie der Zeit zu.Vgl. Friebe 2012, S. 33 – 40. Möchte man Kant in die moderne Zeitdebatte einordnen, ist es auch hier wichtig, zwischen seinem subjektiven und seinem darauf aufbauenden objektiven Zeitkonzept zu unterscheiden.
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einem objectiven Grunde beruh[t], oder auf Erscheinungen als Substanzen bezogen werden [kann]“⁴¹⁶, wodurch schließlich die Erscheinung als ein „Zusammengesetztes […] (compositum reale)“⁴¹⁷ betrachtet werden soll. Wie Cohen interpretiert, hebt Kant hier hervor, dass durch die dritte Analogie das subjektive Beisammensein des Raums zum Zugleichsein der dynamischen Gemeinschaft der objektiven Gegenstände bestimmbar wird.⁴¹⁸ Nach Edwards erklärt die dritte Analogie, wie ein „Raum zu einem dynamisch bestimmten Raum wird“⁴¹⁹. Die objektiven Verhältnisse in der Zeit sind schließlich auch die objektiven Modi der Zeit, die in der subjektiven Zeit noch nicht realisiert werden können, da die Anwendung der Kategorien hierfür vorausgesetzt wird. In diesem Kontext spricht Kant von „der empirischen Einheit der Zeit“⁴²⁰ und betont, dass die Zeit nunmehr „erzeug[t]“⁴²¹ wird. Diese „Einheit der Zeitbestimmung ist durch und durch dynamisch“⁴²², wie es schließlich heißt. Vor diesem Hintergrund betont Nakajima, dass durch die Zeitbestimmungen letztlich das „bloße[] Nacheinander […] ins objektive Nacheinander, das die Bewegung der äußeren Körper messen kann, umgestaltet wird. Die Zeit als Form des inneren Sinnes wird dabei in die Zeit als Form des inneren und äußeren Sinnes umgestaltet.“⁴²³ Was die Analyse in der Ästhetik ergab, nämlich dass die Zeit die Form für innere und äußere Inhalte darstellt, wird hier in der Analytik transzendentalphilosophisch erklärt. Nakajima schreibt treffend über den Schematismus: Das Kapitel ,Schematismusʻ kann nämlich vom Standpunkt der Zeit-Konstruktion aus als ein Kapitel angesehen werden, in dem Kant versucht, die Frage zu beantworten, warum bloßes Nacheinander mit der neuen von außen kommenden Bedingung, d. h. der Dynamik der Materie, ins objektive Nacheinander umgestaltet werden kann.⁴²⁴
Dieser von Nakajima sogenannte Umgestaltungsprozess zeigt die enge Verbindung zwischen subjektiver und objektiver Zeit, sodass nicht davon gesprochen werden kann, wie dies beispielsweise Düsing tut, dass die objektive Zeit „selbstständige Bestimmungen“⁴²⁵ darstellt, denn diese Bestimmungen sind nur auf der
B261|A214. B262|A215. Vgl. Cohen 1917, S. 97. Edwards 1991, S. 85. B231|A188. B182|A143. B262|A215. Nakajima 1986, S. 63. Nakajima 1986, S. 64. Düsing 1980, S. 2.
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Grundlage der Verhältnisse in der subjektiven Zeit möglich. Für die Konstruktion objektiver Zeit ist und bleibt die subjektive Zeit – samt ihrer subjektiven Verhältnisse – eine transzendentale Bedingung.⁴²⁶ Dabei gilt es jedoch zu beachten, dass die Inhalte nicht nur in eine objektive Zeit überführt werden, sondern dass gleichzeitig auch objektive Verhältnisse im Raum entstehen, denn anhand der dynamischen Gemeinschaft der Substanzen lässt sich klären, ob Gegenstände nur subjektiv nebeneinander stehen und aufeinander folgen oder ob sie dies darüber hinaus auch objektiv tun. Kant beschreibt die Ausgangsfrage anhand eines Beispiels: Zugleich sind Dinge, wenn in der empirischen Anschauung die Wahrnehmung des einen auf die Wahrnehmung des anderen wechselseitig folgen kann (welches in der Zeitfolge der Erscheinungen, wie beim zweiten Grundsatze gezeigt worden, nicht gesehen kann). So kann ich meine Wahrnehmung zuerst am Monde und nachher an der Erde, oder auch umgekehrt zuerst an der Erde und dann am Monde anstellen, und darum, weil die Wahrnehmungen dieser Gegenstände einander wechselseitig folgen können, sage ich, sie existiren zugleich.⁴²⁷
Nur dadurch, dass die Gegenstände wechselseitig voneinander abhängen, sodass die Reihenfolge der Sukzession unerheblich für deren objektives Verhältnis ist, wird klar, dass nacheinander auftretende Bewusstseinsinhalte von Gegenständen objektiv in demselben Raum zugleich existieren. Oder wie Kant es ausdrückt: „[Es] kann das Zugleichsein der Substanzen im Raume nicht anders in der Erfahrung erkannt werden, als unter Voraussetzung einer Wechselwirkung derselben untereinander […].“⁴²⁸ Kant argumentiert ferner, dass in einer Welt, in der Substanzen ohne dynamische Verhältnisse losgelöst voneinander wären, keine objektive Reihenfolge im subjektiven Nach- und Nebeneinander bestimmbar wäre: Nehmet nun an: in einer Mannigfaltigkeit von Substanzen als Erscheinungen wäre jede derselben völlig isoliert, d. i. keine wirkte in die andere und empfinge von dieser wechselseitig Einflüsse, so sage ich: daß das Zugleichsein derselben kein Gegenstand einer möglichen Wahrnehmung sein würde, und daß das Dasein der einen durch keinen Weg der empirischen Synthesis auf das Dasein der anderen führen könnte. Denn wenn ihr euch gedenkt sie wären durch einen völlig leeren Raum getrennt, so würde die Wahrnehmung, die von der einen zur andern in der Zeit fortgeht, zwar dieser ihr Dasein vermittelst einer folgenden Wahrnehmung bestimmen, aber nicht unterscheiden können, ob die Erscheinung objectiv auf die erstere folge, oder mit jener vielmehr zugleich sei.⁴²⁹
Vgl. hierzu auch die Kritik von Nakajima an Düsing in Nakajima 1986, S. 72 f. B256 f. B258. B258 f. Hoppe meint, dass mit dem Beweis der dritten Analogie bereits die „Ätherdeduktion des Opus postumum vorweggenommen ist“ (Hoppe 1991a, S. 56). Auch Edwards sieht in der Ar-
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Vor dem Hintergrund dieser Zusammenhänge ist es prima facie erstaunlich, dass der Raum zuvor beim Schematismus keine explizite Erwähnung findet. Beispielsweise beklagt bereits Riehl, dass „nicht einzusehen [ist], warum sich […] [für den Schematismus] der Raum nicht ebensogut eignen sollte. Die Kategorien der Substanz- und Wechselwirkung wenigstens lassen sich ohne die Raumvorstellung, die Form, in der wir die Gleichzeitigkeit anschauen, nicht schematisieren.“⁴³⁰ Entsprechend konstatiert Kemp Smith insgesamt für die Analytik: „In the Analytic space, by comparison, falls very much into the background.“⁴³¹ Diese Stellung des Raums sieht er allerdings kritisch, und letztlich erscheint es ihm in Anbetracht des Anspruchs des Schematismus unbefriedigend: „It may be asked why Kant in this chapter so completely ignores space. No really satisfactory
gumentation gegen den leeren Raum in der dritten Analogie die Exigenz „eines Daseinsbeweises a priori für eine dynamische Weltmaterie“ (Edwards 1991, S. 89). Edwards spricht vor dem Hintergrund der Bedeutung der Analogien der Erfahrung von einem „transzendentalen Feld[]“ (Edwards 1991, S. 89 (Hervorhebung aufgehoben)). Fraglich bleibt jedoch, ob es bei Kant an dieser Stelle nicht weniger um ein empirisches Einheitsprinzip als vielmehr um einen transzendentalen Grundsatz geht, der die konkrete materielle Umsetzung zunächst offenlässt. Hall meint, dass Kant in den Analogien einen mehrdeutigen Substanzbegriff gebraucht. Einerseits benötigt Kant nach Hall ein partikuläres Substanzverständnis, wonach es viele einzelne Substanzen gibt, an denen Wechsel auftreten. Anderseits versteht Hall Kants Ausführungen in der dritten Analogie dahingehend, dass eine allverbreitete, umfassende bzw. omnipräsente Substanz vorausgesetzt werden muss. Dass „allerwärts Materie“ (B260|A213) verbreitet sein soll, interpretiert Hall als Anknüpfung an eine Äthertheorie, wie sie auch in den MAN stellenweise zum Ausdruck kommt. Vgl. hierzu Hall 2015, S. 36 – 61; S. 144 f. Hall geht sogar so weit, dass er aufgrund der Doppeldeutigkeit des Substanzbegriffs in den Analogien ein Dilemma bei Kant zu erkennen glaubt, wodurch eine Lücke in Kants System entstünde, das die Arbeit am Opus postumum und die dort entwickelte Äthertheorie und Ätherdeduktion überhaupt notwendig machen würde. Vgl. Hall 2015, S. 51. Unabhängig davon, dass Hall nicht hinreichend zwischen der subjektiven Einheit und der objektiven Einheit von Raum und Zeit bzw. zwischen Form der Anschauung und formaler Anschauung differenziert, wodurch der Eindruck entsteht, dass der Äther notwendig wäre, damit Raum und Zeit überhaupt irgendeine Einheit erhalten, erscheint der Rückgriff auf Kants Äthertheorie bei der Diskussion der dritten Analogie allein schon vor dem Hintergrund, dass Kant den Äther in den Analogien überhaupt nicht erwähnt, schwierig. Vordergründig geht es in der dritten Analogie um eine dynamische Gemeinschaft der Erscheinung. Wie diese dynamische Gemeinschaft empirisch garantiert wird – sei es durch einen Äther oder durch ein physikalisches Feld – bleibt zunächst offen. Dass Kant selbst in der dritten Analogie keinen Ätherbeweis gesehen hat, ergibt sich auch daraus, dass der Äther in den MAN als Hypothese betrachtet wird.Vgl. hierzu AA IV, 534. Auch Hall macht auf diesen Umstand aufmerksam, dennoch meint er, Kant hätte diesen Beweis im Hinblick auf den Anspruch der Analogie liefern müssen. Vgl. Hall 2015, S. 56 f.; S. 72– 77; S. 82 f.Vgl. ferner im Ansatz schon Friedman 1992, S. 323 ff.Vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 3.2.1. Riehl 1926, S. 68 f. Anm. Kemp Smith 1923, S. 137.
2.2 Raum und Zeit als formale Anschauungen in der transzendentalen Analytik
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answer seems to present itself. […]. Kantʼs concentration on the temporal aspect of experience is exceedingly arbitrary, and results in certain unfortunate consequences.“⁴³² Auch Allison stellt die Frage nach dem Raum im Schematismuskapitel: „At this point the question naturally arises: What has happened to space? This question occurs with respect to all of the schemata […].“⁴³³ Ferner konstatiert auch Baumgarten, dass die Ursache für die „Schwierigkeit“ im Schematismuskapitel u. a. darin liegt, „daß Kant die Raumform für die Anwendung der Kategorien nicht in Betracht zieht“⁴³⁴. Schließlich könnte analog beim Raum gefragt werden, wie aus der subjektiven Form letztlich die konkrete räumliche Gestalt eines Objekts bestimmt wird, zumal Kant selbst schreibt, dass im Raum bzw. in der „äußeren Anschauung“ gewisse „formale äußere Verhältnisse“ vorliegen, die „als Bedingungen der Möglichkeit der realen“⁴³⁵ Verhältnisse fungieren. Anders als bei der Zeit wird nicht explizit erklärt, wie aus den Anschauungsverhältnissen des Raums reale Verhältnisse des empirischen Objekts werden. Kant führt dies lediglich bei der Zeit aus, die die Form aller Erscheinungen – sowohl innerer als auch äußerer – ist. Durch den Schematismus wird geklärt, wie die Verhältnisse des materiellen Inhalts dazu geeignet sind, als Grundlage zu gelten, um objektive Gegenstände zu konstituieren. Dabei betont Kant, dass die „Möglichkeit der Dinge als Größen“, und somit die objektive Realität der Kategorie der Größe, „nur in der äußeren Anschauung könne dargelegt“⁴³⁶ werden. Darüber hinaus heißt es im Kapitel zur Widerlegung des Idealismus: „Alle Zeitbestimmung setzt etwas Beharrliches in der Wahrnehmung voraus. Dieses Beharrliche aber kann nicht etwas in mir sein, weil eben mein Dasein in der Zeit durch dieses Beharrliche allererst bestimmt werden kann.“⁴³⁷ Ferner betont er, dass das „reine Bild aller Größen […] der Raum“ ist, obwohl das „reine Schema der Größe […] die Zahl“ ist, die durch „successive Addition von Einem zu Einem (gleichartigen) zusammenbefaßt“⁴³⁸ wird. Wenn der Raum also eine entscheidende Rolle spielen soll, muss das Schema der Zahl in irgendeiner Weise einen Zusammenhang mit dem Raum aufweisen. Doch dazu führt Kant in der KRV nichts weiter aus. In De mundi zeigt sich diese Abhängigkeit jedoch an der Stelle, an der Kant über die Notwendigkeit mathematischer Wissenschaften reflektiert:
Kemp Smith 1923, S. 341. Allison 1983, S. 190. Baumgarten, H. 2001, S. 494. Vgl. ferner auch Prauss 1993b, S. 748 – 755. B293. B293. B275. B182|A142.
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Daher betrachtet die reine Mathematik den Raum in der Geometrie, die Zeit in der reinen Mechanik. Zu diesen kommt ein gewisser Begriff hinzu, der an sich zwar intellektuell ist, dessen Verwirklichung in concreto aber dennoch die Hilfsbegriffe von Zeit und Raum fordert (dadurch, daß man mehreres nacheinander hinzutut und nebeneinander zugleich setzt); das ist der Begriff der Zahl, den die Arithmetik behandelt.⁴³⁹
1770 hatte Kant seine Lehre vom Schematismus zwar noch nicht entwickelt, die Stelle zeigt aber, dass er das Konzept von Zahlen so versteht, dass zu dessen „Verwirklichung in concreto“ sowohl Zeit als auch Raum benötigt werden, da das zeitliche Nacheinander zugleich in ein räumliches Nebeneinander gesetzt werden muss. Erst durch diese Verräumlichung zeitlicher Verhältnisse ist es möglich, das zeitliche Nacheinander zu einem zeitlichen Zugleich zu bestimmen, wodurch die bestimmte Gestalt eines Objekts als bestimmte Quantität erzeugt wird. Umgekehrt zeigt dies, dass der Ausgriff der Zeit bei Kant nicht ohne Rückgriff auf den Raum zu verstehen ist. Die Kopplung der Zeitbestimmung ans Beharrliche offenbart damit eine Abhängigkeit des Schematismus vom Raum im Hinblick auf die dynamischen Kategorien.⁴⁴⁰ In diesem Kontext schreibt Kant eine interessante Randnotiz in sein Handexemplar der KRV an der Stelle zur ersten Analogie, wo es um den Grundsatz der Beharrlichkeit geht: Hier muß der Beweis so geführt werden, daß er nur auf Substanzen als Phänomena äußerer Sinne paßt, folglich aus dem Raume, der und dessen Bestimmung zu aller Zeit ist.⁴⁴¹
Bezüglich dieser Notiz Kants interpretiert Brittan: Space is generally the permanent ʻbackgroundʼ against which objects, and eventually events, can be located. But, more specifically, the existence of motion, in the first place change of relations in space, requires it. And motion is, for Kant, the empirical representation of time.
WW V, 45. Buchdahl betont, dass die dynamischen Kategorien nicht nur für die Konstituierung objektiver Zeit, sondern auch für den objektiven Raum eine wichtige Bedeutung haben: „[W]hatever it is that makes it possible to speak of space (quâ determinate space) will be equivalent to the feature that makes it possible to speak of physical interaction between substances; the general notion behind this still being that space depends on physical interaction.“ (Buchdahl 1969, S. 585). Buchdahl sieht hier eine Parallele zu Kants vorkritischer Behandlung des Raums. In der Erstlingsschrift war der Raum ebenfalls bedingt durch die influxus physicus; gleichwohl ist hier in der kritischen Periode natürlich der ursprünglich subjektive Raum vorgeschaltet. Außerdem sind die physikalischen Interaktionen bedingt durch die reinen Verstandesbegriffe, die die Erscheinung konstituieren.Vgl. Buchdahl 1969, S. 585. Nichtsdestoweniger lässt sich auch hier feststellen, dass Kant das Erbe des relationalen Raumkonzepts nicht einfach verwirft, sondern in seine Konzeption integriert. Vgl. hierzu Kapitel 0.4 bzw. Kapitel 1.6. Refl. LXXX, AA XXIII, 30.
2.2 Raum und Zeit als formale Anschauungen in der transzendentalen Analytik
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Once again, therefore, space (ʻthe enduring spatial frameworkʼ) is required by the possibility of objective time-relations.⁴⁴²
Darüber hinaus schreibt Kant in der ersten Analogie, dass „der Raum allein beharrlich bestimmt“, wodurch dem „Begriffe der Substanz […] etwas Beharrliches“ korrespondiert; dadurch kann „die objective Realität dieses Begriffs“⁴⁴³ gezeigt werden. Im Hinblick auf die „Veränderungen, als die dem Begriffe der Causalität correspondirende Anschauung“, konstatiert Kant, dass wir sie uns allein als „Veränderung im Raume […] anschaulich machen“⁴⁴⁴ können. Und so thematisiert Kant dieses Abhängigkeitsverhältnis gelegentlich selbst und wundert sich darüber: Es ist auch in der That sehr merkwürdig (kann aber hier nicht ausführlich vor Augen gelegt werden), daß die allgemeine Metaphysik in allen Fällen, wo sie Beispiele (Anschauungen) bedarf, um ihren reinen Verstandesbegriffen Bedeutung zu verschaffen, diese jederzeit aus der allgemeinen Körperlehre, mithin von der Form und den Principien der äußeren Anschauung hernehmen müsse und, wenn diese nicht vollendet darliegen, unter lauter sinnleeren Begriffen unstät und schwankend herumtappe.⁴⁴⁵
Auch in der KRV heißt es entsprechend: Noch merkwürdiger aber ist, daß wir, um die Möglichkeit der Dinge zu Folge der Kategorien zu verstehen und also die objective Realität der letzteren darzuthun, nicht bloß Anschauungen, sondern sogar immer äußere Anschauungen bedürfen.⁴⁴⁶
In Bezug auf diese Stelle konstatiert Heidegger: „Hier kommt die transzendentale Funktion des Raumes zum Vorschein. Es ist unverkennbar, daß Kant selbst damit vor einer neuen Einsicht steht. Der Raum geht mit in den reinen Schematismus ein.“⁴⁴⁷ Auch wenn diese Einschätzung vor dem Hintergrund, dass in beiden Auflagen der Schematismus nur als Zeitbestimmung dargestellt wird, etwas zu
Brittan 1978, S. 148. B291. Erdmann ändert diese Stelle dahingehend ab, dass er statt „beharrlich bestimmt“ die Formulierung „beharrlich bestimmt ist“ einsetzt, was jedoch den Sinn des Satzes verändert; außerdem harmoniert der Satzbau grammatikalisch an dieser Stelle durch die Änderung nicht mehr mit dem Satzbau von Kant, da der darauffolgende Nebensatz nicht im Passiv steht. Vgl. AA III, 200. Für Prauss etwa hätte dieser Änderungsvorschlag Erdmanns sogar eine „fälschliche Verdinglichung von Raum zur Folge“ (Prauss 1993b, S. 752 Anm.). B291. AA IV, 478. B291. Heidegger 1951, S. 181.
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optimistisch anmutet, trifft Heidegger doch einen wichtigen Punkt, wenn er betont, dass der Raum im Hinblick auf den Schematismus nicht vollkommen unberührt bleibt. Auch Prauss interpretiert den Schematismus dahingehend, dass dadurch sowohl objektive Zeit als auch objektiver Raum entstehen: Also nicht nur das, was man ,den Raumʻ zu nennen pflegt, nämlich der objektive Raum, sondern auch das, was man ,die Zeitʻ zu nennen pflegt, nämlich die objektive Zeit, wird danach unter Anwendung dieser schematisierten Relationskategorien bei der Erdeutung von Objekten allererst miterdeutet, womit dann auch der fundamentale Unterschied von Substanz und Akzidenz überhaupt erst gesetzt wird.⁴⁴⁸
Noch in seiner Anthropologie hebt Kant hervor, dass der innere Sinn „die Verhältnisse seiner Bestimmungen nur in der Zeit [sieht], mithin im Fließen, wo keine Dauerhaftigkeit der Betrachtung, die doch zur Erfahrung nothwendig ist, statt findet“. Dagegen lässt sich nur „von Gegenständen im Raum“ sagen, dass sie „nebeneinander und als bleibend festgehalten erscheinen“⁴⁴⁹. Gleichwohl benennt Kant das Schema nicht als transzendentale Raumbestimmung und erklärt auch den hier implizit bestehenden Zusammenhang zwischen Schematismus und Raum nicht weiter.⁴⁵⁰ Um diesen Zusammenhang weiter zu erhärten, ist die Erinnerung daran hilfreich, dass der zeitliche Modus des Zugleichseins bereits an einigen Stellen in der transzendentalen Ästhetik von Kant benutzt wird, um auch den Raum als Form des äußeren Sinns zu charakterisieren. Bereits in der metaphysischen Erörterung spricht Kant davon, dass „alle Theile des Raumes ins Unendliche […] zugleich“⁴⁵¹ sind und dass „verschiedene Räume nicht nach einander, sondern zugleich sind“⁴⁵². Diese Dopplung bei der Charakterisierung der sinnlichen For-
Prauss 1971, S. 309. Vgl. ferner Allison 1983, S. 189 – 192 und Würker 2008, S. 135 f. AA VII, 134. Ausnahmsweise spricht Kant an folgender Stelle vom Raum als Schema; jedoch scheint Kant dies nicht in transzendentaler Hinsicht bzw. nicht mit Blick auf den transzendentalen Schematismus zu meinen: „Selbst der Raum und die Zeit […] würden […] ohne Sinn und Bedeutung sein, wenn ihr nothwendiger Gebrauch an den Gegenständen der Erfahrung nicht gezeigt würde; ja ihre Vorstellung ist ein bloßes Schema, das sich immer auf die reproductive Einbildungskraft bezieht, welche die Gegenstände der Erfahrung herbei ruft, ohne die sie keine Bedeutung haben würden […].“ (B195|A156). B40. B47|A31. Vgl. auch B320|A264: „[…] was in den mancherlei Stellen des Raums zugleich ist […]“. Vgl. ferner auch eine entsprechende Stelle in der Dialektik auf B438 f.|A412 f. Baumgarten weist darauf hin, dass diese Charakterisierung des Raums bereits bei Leibniz zu finden ist. Vgl. Baumgarten, H. 1997, S. 414 Anm. und Kapitel 0.4. Heidemann macht sie auch in der Metaphysik von Wolff aus. Vgl. Heidemann, D. 2018, S. 34. Hierzu kann ergänzt werden, dass eine entspre-
2.2 Raum und Zeit als formale Anschauungen in der transzendentalen Analytik
227
men, die in der Ästhetik noch irritierend wirkte, kann im Hinblick auf die Abhängigkeit zwischen dem zeitlichen Schematismus und dem Raum als Form des Äußeren in der Analytik erklärlich gemacht werden: Zwar hat die Zeit – wie in der Ästhetik gesehen – einen umfangreicheren Gegenstandsbereich, da sie auch auf Gegenstände des inneren Sinns Anwendung findet, doch für die äußeren Inhalte ist nicht nur die Zeit, sondern auch der Raum zuständig. Wenn Kant also schreibt, dass die Teile im Raum zugleich angeordnet sind, dann heißt dies im Zusammenhang mit den obigen Ausführungen, dass die Teile im Raum, die durch Einschränkungen des ursprünglich kontinuierlichen Raums entstehen, bereits in einem zeitlichen Modus im Raum auftreten. Gelingt vor diesem Hintergrund der Schematismus, durch den die Kategorien angewandt werden können, dann wird durch die Vorstellung der Beharrlichkeit im zeitlichen Modus des Zugleichseins auch die Vorstellung der Beharrlichkeit im räumlichen Zugleichsein der Teile gewonnen. Schließlich ist das Beharrliche etwas, „was mit dem Nacheinandersein zugleich ist“⁴⁵³. Es ist somit kein Widerspruch, wie Mohr festhält, wenn die Zeit inhaltlich auf den äußeren Sinn angewiesen ist und gleichzeitig als Form aller Erscheinungen zuständig für alle Inhalte ist.⁴⁵⁴ Im Gegenteil wird hier vielmehr klar, dass sie es als Form aller Inhalte möglich macht, dass durch den Schematismus äußere Inhalte in den Raum gestellt werden können.⁴⁵⁵ Die Dopplung der Charakterisierung bleibt für Unruh dagegen rätselhaft. Statt dem Verhältnis zwischen Raum und Zeit näher auf den Grund zu gehen, konstatiert Unruh, dass diese Dopplung zeigen würde, „daß die beiden Anschauungsformen Raum und Zeit innigst miteinander verflochten sind und sich nicht ohne weiteres und in jeder Beziehung einen Vorrang des einen vor dem anderen erkennen läßt“⁴⁵⁶. Hinsichtlich der konkreten Dimension eines bestimmten Raums im Unterschied zum ursprünglichen Anschauungsraum spricht Unruh vom „Raum des Räumlichen“⁴⁵⁷ einerseits und vom „Urraum“ oder „Raum aller Räume“⁴⁵⁸ andererseits. Zwar sieht Unruh die Vielschichtigkeit des kantischen Raumkonzepts und erkennt auch die „Notwendigkeit einer Verobjektivierung des Raums“⁴⁵⁹, um den „Über-
chende Charakterisierung auch in §239 der Metaphysica von Baumgarten zu finden ist. Vgl. Baumgarten, A. 2011, S. 147; ferner S. 205. B67. Vgl. Mohr 1991, S. 98 ff. Vgl. hierzu auch schon Prauss 1981, S. 5 – 11. Unruh 2007, S. 236 Anm. Unruh 2007, S. 13. Unruh 2007, S. 204 (Hervorhebung aufgehoben). Unruh 2007, S. 275 (Hervorhebung aufgehoben).
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2 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der Kritik der reinen Vernunft
gang von der Form der Anschauung zu einer formalen Anschauung“⁴⁶⁰ zu erklären, trotzdem greifen seine Ausführungen – insbesondere bezüglich des Schematismus – nicht die Dependenz zur Zeit auf und liefern somit keinen Erklärungsansatz, wieso der Raum keine nennenswerte Rolle im Schematismuskapitel spielt.⁴⁶¹ Und das, obwohl er ebenfalls zu der Schlussfolgerung gelangt, dass das „Schematisieren der Kategorie der Quantität im Bestimmen des Raumes zur formalen Anschauung zum Ziehen einer Linie und so zu dem für die Konstruktion von Figuren geltenden Grundsatz der extensiven Größe führt“⁴⁶². Doch gerade dann muss es für Unruh überraschend sein, dass der Raum beim Schematismus keine Rolle spielt. Eine Erklärung hierfür bleibt er jedoch schuldig.⁴⁶³ Vom Endprodukt der Erkenntnis her ist das Objekt zwar analytisch betrachtet abhängig von beiden Anschauungsformen, doch gerade der Schematismus zeugt von einem Vorrang der Zeit gegenüber dem Raum im Hinblick auf den synthetischen Erkenntnisprozess. Haas spricht daher von einer „Priorität der Zeit im Schematismus“, die „sachlich notwendig“ ist, weil „der Raum an ihm selbst nichts Daseiendes“⁴⁶⁴ hat und in ihm etwas Daseindes erst auftreten kann, wenn Zeitliches bestimmt wird. Auch Wohlfart spricht von einem „Primat der Zeit vor dem Raum“, das besonders „deutlich im Schematismuskapitel“⁴⁶⁵ wird. Ferner betont Würker: „Der Schematismus des leeren Raumes ist als unbedingte Voraussetzung für die Gegenstandserkenntnis schon in der ,Kritik der reinen Vernunftʻ angelegt, wird aber, weil die Zeit die umfassendere Anschauung des inneren Sinns ist, dieser untergeordnet.“⁴⁶⁶ Dass die Zeit den Ausgangspunkt für den Schematismus bei Kant bilden muss, zeigt sich auch am Unterschied zwischen Zeit und Raum. Ein wesentlicher Unterschied für Kant ist nämlich, dass „die Theile des Raums einander nicht untergeordnet, sondern beigeordnet sind, so [dass] […] ein Theil nicht die Bedingung der Möglichkeit des anderen [ist], und [der Raum] […] nicht, so wie die Zeit an sich selbst eine Reihe aus[macht]“. Für sich ist der Raum bloß „ein Aggregat, aber keine Reihe“⁴⁶⁷. Das Schema der Größe ist aber
Unruh 2007, S. 277 (Hervorhebung aufgehoben). Vgl. Unruh 2007, S. 303 – 316. Unruh 2007, S. 314. In vergleichbarer Weise spricht neben Unruh auch Gloy von einer Interdependenz zwischen Zeit und Raum. Vgl. Gloy 2008, S. 140. In Anbetracht der hiesigen Interpretationsmöglichkeit überzeugt ferner auch Al-Azms Vorschlag nicht, wonach Kant den Raum im Schematismuskapitel nicht berücksichtigt, weil die Zeit bessere Beispiele liefern würde. Vgl. Al-Azm 1967, S. 5 f. Haas 1996, S. 155. Wohlfart 1982, S. 72. Vgl. ferner den Vorrang der Zeit in der Dialektik bzw. die Ausführungen hierzu im Kapitel 2.3.1. Würker 2008, S. 118. Vgl. auch Guyer 2012, S. 296 f. und Rohs 1973, S. 9. B439|A412.
2.2 Raum und Zeit als formale Anschauungen in der transzendentalen Analytik
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bezogen auf die Zeitreihe.⁴⁶⁸ Kant fügt deshalb passenderweise hinzu: „Allein die Synthesis der mannigfaltigen Theile des Raumes, wodurch wir ihn apprehendiren, ist doch successiv, geschieht also in der Zeit und enthält eine Reihe.“⁴⁶⁹ Wenn aber das Apprehendieren eines objektiven Raums selbst zeitlich ist bzw. eine Zeitreihe ausmacht, dann wird trotz des Primats der Zeit mit der Bestimmung der Zeitreihe im Schematismus auch der objektive Raum des zum Gegenstand werdenden Inhalts bestimmt.⁴⁷⁰ Damit wäre mit der Bestimmung einer Zeitreihe im Schematismus bzw. der Erzeugung eines objektiven Zeitverhältnisses auch der objektive und messbare Raum des Gegenstands bestimmt; schließlich betont Kant selbst, dass das „Messen eines Raumes auch als eine Synthesis einer Reihe“⁴⁷¹ zu verstehen ist. Vor dem Hintergrund, dass die „subjektive Raumanschauung gemäß den Axiomen der Anschauung in der Zeit erzeugt wird“, interpretiert auch Brandt, dass „der Raum also die Zeit voraussetzt und nur als Zeitraum konzipierbar ist“⁴⁷². Erkenntniskonstitutiv kann es in der Erfahrung keinen objektiven Raum ohne Zeit geben. Der Raum ist damit immer schon ein Zeitraum. Die Bewegung des Subjekts geht von der Zeit als dem Hort aller Inhalte aus, um über den Raum die Erkenntnis von etwas anderem als sich selbst zu erzielen. Die Inhalte in der Zeit müssen für eine Objekterkenntnis ver-räumlicht werden: „Denn im Raume allein setzen wir das Beharrliche, in der Zeit ist unaufhörlicher Wechsel.“⁴⁷³ Indem somit die Er-
Vgl. B184 f.|A145 f. B439|A412. Am objektiven empirischen Objekt entstehen demnach Raum und Zeit in ihren objektiven Rollen. Im Abschnitt zur Widerlegung des Idealismus schreibt Kant, dass wir „alle Zeitbestimmung nur durch den Wechsel in äußeren Verhältnissen (die Bewegung) in Beziehung auf das Beharrliche im Raum (z. B. Sonnenbewegung in Ansehung der Gegenstände der Erde) wahrnehmen können“ (B277 f.). In der Ästhetik schreibt er, dass durch Bewegung in der Erscheinung „beide Stücke [Raum und Zeit] vereinigt“ (B58|A41) werden. In den MAN macht Kant darauf aufmerksam, dass bei der Phoronomie die Bewegung nicht nur als „Beschreibung eines Raumes […] wie in der Geometrie“, sondern mit Rücksicht „auf die Zeit“ (AA IV, 489) betrachtet werden muss. Siehe Friedmans weiterführenden Überlegungen zur Erzeugung einer „spatio-temporal structure“ (Friedman 1992, S. 199 Anm.) im Anschluss an diese Stellen in Friedman 1992, S. 198 ff. Vgl. ferner auch Brandt 2010, S. 62 f. B439|A412. Brandt 2010, S. 62. Refl. 5653, AA XVIII, 307. Da Gosztonyi den Schematismus in dieser Hinsicht gar nicht berücksichtigt, gelangt er vorschnell zu der kritischen Beurteilung, dass beim „Übergang vom philosophisch-ontologischen Raum zum physikalischen ein[] Sprung [vorliegt], der einem Bruch in seinem [Kants] Denken gleichkommt“ (Gosztonyi 1976, S. 454). Systemintern soll aber gerade der Schematismus diesen Übergang leisten, wie die obigen Ausführungen zeigen. Auf der anderen Seite geht Gloy zu weit, wenn sie schreibt, dass Kant durch seine Arbeit in den MAN auf die Bedeutung des Raums aufmerksam wird, sodass er in der zweiten Auflage der KRV „den Zeit-
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2 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der Kritik der reinen Vernunft
fahrung konstituiert wird, ist auch die objektive Realität von Inhalten im Raum garantiert, wie Kant in einem Brief treffend erläutert: Die Nothwendigkeit der Verknüpfung der beyden sinnlichen Formen, Raum und Zeit, in der Bestimmung der Gegenstände unserer Anschauung, so daß die Zeit, wenn sich das Subject selbst zum Objecte seiner Vorstellung macht, als eine Linie vorgestellt werden muß […] – diese Einsicht der nothwendigen Verknüpfung des inneren Sinnes mit dem äußeren selbst in der Zeitbestimmung unseres Daseyns, scheint mir zum Beweise der objectiven Realität der Vorstellungen äußerer Dinge (wider den psychol. Idelism.) Handreichung zu thun […].⁴⁷⁴
Somit wird mit der zeitlichen Schematisierung der reinen Verstandesbegriffe das Erfahrungsobjekt im Raum als objektive raumzeitliche Vorstellung gewonnen. Dies könnte ein systematischer Zusammenhang in Kants Transzendentalphilosophie sein, der konträr zu Riehls Meinung, nach der der Raum ebenso gut für den Schematismus anzuführen wäre wie die Zeit, erklärt, wieso der Raum beim Schematismus gerade nicht die primäre und tragende Rolle spielt, sondern vielmehr die Zeit als Form aller Anschauungen.⁴⁷⁵ Dies wird auch durch den Hinweis von Schliemann unterstrichen, der das Übergehen des Raums beim Schematismus „dadurch erklären [will], dass sich nur auf die erste [zeitliche] Art alle transzendentalen Schemata bezeichnen lassen, während sich nicht alle Schemata auch auf den Raum beziehen“⁴⁷⁶. Auch wenn Kant – wie bereits erwähnt – in De mundi noch keine Schematismuslehre konzipiert, deutet sich nach Wohlfart bereits dort in einer Anmerkung eine gewisse Abhängigkeit der räumlichen Dimensionen von der Zeit in der Erscheinungswelt an: Was zugleich ist, ist dies nicht deshalb, weil es nicht aufeinander folgt. Denn dadurch, daß man die Aufeinanderfolge wegnimmt, hebt man zwar irgendeine Vereinigung auf, die durch die Zeitreihe da war, aber daher entspringt nicht sogleich ein anderes wahres Verhältnis, wie es die Vereinigung von allem in demselben Augenblick ist. Denn das Gleichzeitige wird ebenso durch denselben Augenblick der Zeit verbunden, wie das Aufeinanderfolgende durch verschiedene. Deshalb fügt, mag auch die Zeit nur Eine Abmessung haben, die Überallheit der Zeit (um mit Newton zu reden), durch die alles sinnlich Denkbare irgendwann ist, doch
schematismus grundsätzlich durch einen Raumschematismus ergänzt wissen will“ (Gloy 2008, S. 140).Von einem expliziten Raumschematismus spricht Kant jedoch auch in der zweiten Auflage nicht. Stattdessen müssen seine Überlegungen rekonstruiert werden, um zu solch einer Einschätzung zu gelangen. Wäre Kant der Zusammenhang vollends deutlich geworden, hätte er das Schematismuskapitel grundsätzlich neu formulieren müssen. Gloy verweist jedoch auch auf das Opus postumum, wo ihrer Einschätzung nach die Gleichberechtigung von Zeit und Raum deutlich wird. Vgl. Gloy 2008, S. 140. Siehe hierzu die Ausführungen in Kapitel 3.2.2. AA XI, 210. Vgl. Riehl 1926, S. 68 f. Anm. Schliemann 2010, S. 111 Anm.
2.2 Raum und Zeit als formale Anschauungen in der transzendentalen Analytik
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zur Größe des Wirklichen eine andere Abmessung hinzu, sofern es gleichsam von demselben Zeitpunkt abhängt. Denn wenn man die Zeit durch eine gerade ins Unendliche fortgeführte Linie bezeichnet und das Gleichzeitige in jedem beliebigen Zeitpunkt durch der Reihe nach angelegte Linien: so wird die so erzeugte Fläche die Welt als Phaenomenon vorstellen, in Ansehung der Substanz wie in Ansehung der Akzidenzen.⁴⁷⁷
Zwar schlägt auch Guyer vor, durch den Rückgriff auf die Ästhetik und die Bestimmung der Zeit als Form aller Erscheinungen zu erklären, wieso Kant den Raum beim Schematismus nicht anführt; gleichwohl kritisiert Guyer zu Recht, dass Kant für diesen Zusammenhang zusätzlich hätte zeigen müssen, „that every category must be applicable to every one of our representations considered in isolation from all others, which would be a necessary premise for any conclusion that each category must have a strictly temporal schema“⁴⁷⁸. Um aber zumindest den Ansatz dieses Zusammenhangs deutlich zu machen, verweist Guyer auf B156, wo Kant immerhin behauptet, dass wir die „Bestimmungen des inneren Sinnes gerade auf dieselbe Art als Erscheinungen in der Zeit ordnen müssen, wie wir die der äußeren Sinne im Raum ordnen“⁴⁷⁹. Darüber hinaus wird dieses Verhältnis zwischen Zeit und Raum in der dritten Analogie beschrieben, in der es um das Zugleichsein als objektives Verhältnis der Objekte in der Erfahrung geht: Nun ist das Zugleichsein die Existenz des Mannigfaltigen in derselben Zeit. Man kann aber die Zeit selbst nicht wahrnehmen, um daraus, daß Dinge in derselben Zeit gesetzt sind, abzunehmen, daß die Wahrnehmungen derselben einander wechselseitig folgen können. Die Synthesis der Einbildungskraft in der Apprehension würde also nur eine jede dieser Wahrnehmungen als eine solche angeben, die im Subjecte da ist, wenn die andere nicht ist und wechselweise, nicht aber daß die Objecte zugleich seien, d. i., wenn das eine ist, das andere auch in derselben Zeit sei, und daß dieses nothwendig sei, damit die Wahrnehmungen wechselseitig auf einander folgen können. Folglich wird ein Verstandesbegriff von der wechselseitigen Folge der Bestimmungen dieser außer einander zugleich existirenden Dinge erfordert, um zu sagen, daß die wechselseitige Folge der Wahrnehmungen im Objecte gegründet sei, und das Zugleichsein dadurch als objectiv vorzustellen. […] Also kann das Zugleichsein der Substanzen im Raume nicht anders in der Erfahrung erkannt werden, als unter Voraussetzung einer Wechselwirkung derselben untereinander […].⁴⁸⁰
WW V, 53 Anm. Die in dieser Anmerkung angesprochene Fläche könnte letztlich das Gesichtsfeld meinen, wodurch das Subjekt Inhalte zunächst zweidimensional aufnimmt, um sie schließlich dreidimensional zu erdeuten. Prauss nimmt die Zeit als transzendentalphilosophischen Ausgangspunkt für eine Theorie der Erfahrung im Ausgang an Kant ernst. Bezüglich seines Ansatzes siehe Prauss 2015, S. 13 – 267. Vgl. zu Kants Anmerkung ferner Wohlfart 1982, S. 72 f. Vgl. hierzu auch die Ausführungen in Kapitel 1.4. Guyer 1998, S. 303. B156. B257 f.
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2 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der Kritik der reinen Vernunft
Wie Kant schließlich in den MAN ausführt, liefert die erste Anwendung der Verstandesbegriffe auf die im Raum befindliche Materie schließlich die Zuschreibung einer konkreten Raumgestalt an einem bestimmten Erfahrungsgegenstand, wodurch Wahrnehmung überhaupt erst zu Erfahrung wird: Also ist klar: daß die erste Anwendung unserer Begriffe von Größen auf Materie, durch die es uns zuerst möglich wird, unsere äußere Wahrnehmungen in dem Erfahrungsbegriffe einer Materie als Gegenstandes überhaupt zu verwandeln, nur auf ihre Eigenschaft, dadurch sie einen Raum erfüllt, gegründet sei, welche vermittelst des Sinnes des Gefühls uns die Größe und Gestalt eines Ausgedehnten, mithin von einem bestimmten Gegenstande im Raume einen Begriff verschafft, der allem übrigen, was man von diesem Dinge sagen kann, zum Grunde gelegt wird.⁴⁸¹
Nur dadurch, dass ein von Materie erfüllter Raum zu Grunde liegt, ist es möglich, einem Objekt eine bestimmte Gestalt in der Erfahrung zuzusprechen. Alle „Figuren [sind] nur als verschiedene Arten, den unendlichen Raum einzuschränken, möglich“⁴⁸². Ferner heißt es in den Axiomen der Anschauung: „Die Synthesis der Räume und Zeiten als der wesentlichen Form aller Anschauung ist das, was zugleich die Apprehension der Erscheinung, mithin jede äußere Erfahrung, folglich auch alle Erkenntniß der Gegenstände derselben möglich macht […]“⁴⁸³. Dabei macht der ursprüngliche Raum „alle Gestalten, die lediglich verschiedene Einschränkungen desselben sind, ursprünglich möglich“⁴⁸⁴. Somit ermöglicht die Bestimmung der Gestalt im Prozess der Erfahrungskonstitution die Bestimmung eines objektiven Raums auf Grundlage des durch Materie eingeschränkten subjektiven Raums. Denn nach wie vor gilt: „Alle Theile des Raumes sind wiederum Räume.“⁴⁸⁵ Aufgrund dieses Bedingungsverhältnisses bzw. der transzendentalen Vorrangigkeit der subjektiven Formen gegenüber den Gegenstandsformen als Gestalten kann Kant bereits zu Beginn der Ästhetik einführend betonen: „Ausdehnung und Gestalt […] gehören zur reinen Anschauung“⁴⁸⁶. Die formalen An-
AA IV, 510. B606|A578. B206|A165 f. B647|A619. Refl. 4756, AA XVII, 699. B35|A21. Dennoch betont Kant in der Preisschrift einschränkend, dass, „um genau zu sprechen“ und somit reine Anschauung und formale Anschauung zu unterscheiden, was er aber selbst nicht immer tut, man „nicht sagen [kann], daß von uns die Form des Objectes in der reinen Anschauung vorgestellt werde“ (AA XX, 267), denn in der reinen Anschauung selbst sind noch gar keine Objektformen. Diese entstehen erst durch eine synthetische Bestimmung des Verstandes. Das ändert jedoch nichts daran, dass die ursprünglichen Anschauungsformen Bedingungen dieser Bestimmung darstellen, worauf Kant in §1 der Ästhetik mit seiner Äußerung hinaus will.
2.2 Raum und Zeit als formale Anschauungen in der transzendentalen Analytik
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schauungen sind, da sie Einschränkungen in der ursprünglichen Form der Anschauung voraussetzen, Teile der „allbefassenden“⁴⁸⁷, ursprünglichen und reinen Anschauungen. Vor diesem Hintergrund kann Kant in den MAN vom „Raum, der selbst beweglich ist“, sprechen, da er als bestimmter Raum eines empirischen Gegenstands auftritt, denn nur „Materie ist das Bewegliche“. Einen solchen Raum nennt Kant deshalb auch einen „materielle[n], oder auch […] relative[n] Raum“, wovon er den „reine[n], oder auch absolute[n] Raum“ abgrenzt, da in diesem reinen Raum „alle Bewegung zuletzt gedacht werden muß“ und er selbst somit „unbeweglich ist“⁴⁸⁸. Die Materie erfüllt einen Raum, was ihn zu ihrer Form macht, denn einen „Raum einnehmen“ heißt, „in allen Punkten desselben unmittelbar gegenwärtig sein“⁴⁸⁹, was die Materie durch die „repulsive[n] Kräfte aller ihrer Theile, d. i. durch eine ihr eigene Ausdehnungskraft“⁴⁹⁰, erreicht. Kant möchte damit den „Raum ganz nothwendig als Eigenschaft der Dinge“⁴⁹¹, mithin als einen objektiven Raum, betrachtet wissen. An einer früheren Stelle betont Kant treffend: „Die Idealitaet des Raumes hebt dessen realitaet in ansehung der Korper, d. i. aller sinnl außern Gegenstande der sinnlichkeit, nicht auf, und ihnen kommt wirklich der Raum zu, sondern unterscheidet nur Gegenstande der Sinne als solche von Dingen an sich selbst.“⁴⁹² Auf einem losen Blatt finden wir hierzu passend folgende Notiz: „Das, was den Raum zum Gegenstande äußerer Sinne macht, ist Materie.“⁴⁹³ Dabei ist es Kant wichtig, dass der Raum – wie er auch in der Dialektik ausführt – nicht „absolut (für sich allein) […] als etwas Bestimmendes in dem Dasein der Dinge“ verstanden wird, sondern als bestimmter Raum der GegenVgl. hierzu Kapitel 2.1.1 und ferner im Ansatz auch Unruh 2007, S. 143. Unruh verpasst es jedoch aufgrund seiner alleinigen Fokussierung auf den Raum, dieser Bestimmung genauer auf den Grund zu gehen. Vgl. hierzu die Kritik an Unruh weiter unten in diesem Kapitel. B39|A25. AA IV, 480. Vgl. ferner B155 Anm. Zur Rekonstruktion von Kants Argument für den Ausschluss der Bewegung aus dem Themenbereich der transzendentalen Ästhetik siehe Cramer 1985, S. 89 – 100. Entsprechend gilt nicht nur für den Raum im Hinblick auf Bewegung, sondern auch für die Zeit im Hinblick auf Veränderung, dass sie an sich selbst keine Veränderung aufweist. Vgl. Cramer 1985, S. 176 ff. AA IV, 497. AA IV, 499. AA IV, 484. An einer frühen Stelle spricht Kant sogar vom „Raum des obiects, [der] unsre sinne rührt“ (Refl. 4189, AA XVII, 450). In der Reflexion 6316 betont Kant, dass das Subjekt prinzipiell in der Lage ist, zwischen der Form, die den Objekten anhängt, und der Form, die bloß unserem Vorstellungsvermögen anhängen, zu unterscheiden und gibt hierzu auch gleich mehrere Beispiele an, wie etwa das Verhältnis zwischen Ton und Schall. Vgl. Refl. 6316, AA XVIII, 621 ff. Refl. 4673, AA XVII, 640. Refl. 4850, AA XVIII, 8.
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2 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der Kritik der reinen Vernunft
stände: „Dinge also als Erscheinungen bestimmen wohl den Raum, d. i. unter allen möglichen Prädicaten desselben (Größe und Verhältniß) machen sie es, daß diese oder jene zur Wirklichkeit gehören […].“⁴⁹⁴ Die räumlichen Prädikate bzw. die räumliche Gestalt der Dinge gehören zur Wirklichkeit dieser Dinge dazu. Und wenn Kant im nächsten Satz dann davon spricht, dass der Raum nichts Wirkliches ist, dann steht dies eben nicht im Widerspruch zu den vorigen Ausführungen. Denn der Raum ist nur „an sich selbst nichts Wirkliches“⁴⁹⁵. Als objektive Größe gehört er zur Wirklichkeit der Dinge, denn „Materie und Form“ sind „in einer und derselben empirischen Anschauung verbunden“⁴⁹⁶. Entsprechend beschreibt Kant treffend an einer Stelle, dass sich nicht nur das „Ding im Raume“ befindet, sondern „außerdem, daß auch Raum in ihm (d. i. es selbst ausgedehnt)“⁴⁹⁷ ist. Die Bewegung des materiellen Raums kann damit sogar aufgrund seiner Zugehörigkeit zum empirischen Objekt in der Erfahrung „wahrgenommen“ werden, das ihn zum „Object derselben“ macht und somit rechtfertigt, ihn auch einen „empirische[n] Raum“⁴⁹⁸ zu nennen. Prima facie liegt hier die Befürchtung nahe, dass
B460|A432. B460|A432. Dass Raum und Zeit einerseits subjektiv (im Sinne von subjektabhängig) und andererseits objektiv (im Sinne von objektiv gültig) sein können, ohne dass sich hieraus ein Widerspruch ergibt, hängt mit der mehrdeutigen Verwendungsweise von subjektiv und objektiv bei Kant zusammen. Siehe hierzu die Ausführungen in Kapitel 1.5.Vor diesem Hintergrund konstatiert Vaihinger folgerichtig: „Für das empirische Ich ist daher (wie auch Beck und Fichte geschlossen haben) eigentlich der Raum aposteriorisch, und nur für das transscendentale apriorisch. Dieser empirischen Entstehung der Raumvorstellung trägt Kant, wie wir sehen werden, zwar nicht in der Ästhetik selbst, aber in einigen anderen Stellen, Rechnung.“ (Vaihinger 1922b, S. 55). Wenn Kant daher vom „spatium insensibile[,] […] von welchem keine Wahrnehmung möglich ist“ (AA XXI, 232), spricht, bezieht sich das auf den subjektiven Raum. Bereits in der KRV spricht Kant vom Raum als einem ens imaginarium im Hinblick auf die Wirklichkeit der Erscheinungsgegenstände. Allerdings gilt dies nur für den Raum als „[l]eere Anschauung ohne Gegenstand“, mithin für den „reine[n] Raum“. Nur für die „bloße Form der Anschauung ohne Substanz“ gilt, dass sie „keine Gegenstände“ sind. Sie sind lediglich „[l]eere Anschauung ohne Gegenstand, ens imaginarium“ (B347 f.|A291 f.). Bereits Cramer weist darauf hin, dass Kant mit der Behauptung, wonach der „Raum selbst kein Gegenstand der äußeren Sinne“ ist, nicht zugleich behauptet, dass „der Raum überhaupt nicht als Gegenstand vorgestellt werden kann“ (Cramer 1985, S. 80). Auch Krausser betont, dass sich der vermeintliche Widerspruch auflöst, wenn berücksichtigt wird, dass Kant den Raum als eine Handlung des Gemüts betrachtet, wenn er betont, dass er nicht wahrnehmbar sei. Vgl. Krausser 1972, S. 82 f.; S. 86 f. Als eine solche Handlung kann der Raum dann selbstverständlich kein Gegenstand der Wahrnehmung sein. Wahrnehmungsgegenstand kann er nur als bestimmter Raum eines Gegenstands bzw. als Gestalt sein, die wiederum im ursprünglichen Raum als Teil desselben auftritt. B458 Anm.|A430 Anm. AA VIII, 153. Vgl. ferner AA V, 483. AA IV, 481.
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eine Spannung zu der Formthese aus der transzendentalen Ästhetik entsteht. Doch zum einen geht es hier um den objektiven Raum als Gestalt eines Gegenstandes und nicht um den ursprünglich subjektiven Raum als Form des Subjekts und zum anderen präzisiert Kant seine Redeweise vom wahrnehmbaren Raum an einer anderen Stelle in den MAN, in der er sogar davon spricht, dass der Raum „empfindbar“ sein muss. Doch „empfindbar“ heißt für Kant an dieser Stelle, „durch das, was empfunden werden kann, bezeichnet [zu] sein“⁴⁹⁹. Der Raum wird also durch den empfundenen Gegenstand bezeichnet, da er als Form mit in den Gegenstand eingeht. Durch die Schematisierung der Kategorien über die transzendentalen Zeitbestimmungen ist die Bestimmung einer Bewegung als die Bewegung eines empirisch wahrnehmbaren Raums bzw. einer objektiven Form möglich. Dies drückt sich in Kants Formulierung aus, wonach es die Bewegung ist, die „beide Stücke [Zeit und Raum] vereinigt“⁵⁰⁰. Die Vereinigung beider Formen im Erfahrungsgegenstand bedeutet allerdings nicht, dass die Formen aufeinander reduzierbar wären. Die Zeit selbst wird nicht auf eine wahrnehmbare räumliche Gestalt reduziert. Mehrmals betont Kant nämlich: „[D]ie Zeit selbst […] [kann] nicht wahrgenommen werden“⁵⁰¹. Ausdrücklich schreibt er: Denn die Zeit kann keine Bestimmung äußerer Erscheinungen sein: sie gehöret weder zu einer Gestalt, oder Lage etc.; dagegen bestimmt sie das Verhältniß der Vorstellungen in unserm innern Zustande. Und eben weil diese innre Anschauung keine Gestalt giebt, suchen wir auch diesen Mangel durch Analogien zu ersetzen und stellen die Zeitfolge durch eine ins Unendliche fortgehende Linie vor, in welcher das Mannigfaltige eine Reihe ausmacht, die nur von einer Dimension ist, und schließen aus den Eigenschafen dieser Linie auf alle Eigenschaften der Zeit außer dem einigen, daß die Theile der erstern zugleich, die der letztern aber jederzeit nach einander sind. Hieraus erhellt auch, daß die Vorstellung der Zeit selbst Anschauung sei, weil alle ihre Verhältnisse sich an einer äußern Anschauung ausdrücken lassen.⁵⁰²
Umgekehrt trifft dieser Mangel auch den Raum in Bezug auf den inneren Sinn: „Äußerlich kann die Zeit nicht angeschaut werden, so wenig wie der Raum als etwas in uns.“⁵⁰³ Die Zeit kann weder auf den Raum noch kann umgekehrt der Raum auf die Zeit reduziert werden. Bis zuletzt ist Kant dabei bewusst, dass die Linie, „die doch ein Raum ist“, nur ein „Schematism der Verstandesebegriffe“⁵⁰⁴
AA IV, 481. B58|A41. Vgl. Anmerkung 470 im hiesigen Kapitel 2. B219. Vgl. darüber hinaus beispielsweise auch B225. B50 f.|A33. Vgl. ferner B154 f. und B292. B37|A23. Refl. 6359, AA XVIII, 687.
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von der Zeit ist. Gleichwohl betont Kant den Zusammenhang bei den Formen im Hinblick auf die Bestimmung konkreter Größen, wie er in folgender Reflexion deutlich macht: „In Raumes Vorstellung ist zwar nichts von Zeit gedacht, aber sofern in der Construction ders des Begriffs von einem gewissen Raum, e. g. einer Linie wie. Alle Größe ist Erzeugung in der Zeit durch wiederholte position eben desselben.“⁵⁰⁵ Umgekehrt gilt für die Zeit: „Aber ohne Raum würde Zeit selbst nicht als Größe vorgestellt werden und überhaupt dieser Begriff keinen Gegenstand haben.“⁵⁰⁶ Trotz dieser zunächst klaren Verteilung der Formen auf den inneren und äußeren Sinn bleibt die Zeit als transzendentale Form objektiv, da in ihr nicht nur vorgestellt wird, wie etwas zufällig „in der Zeit zusammengestellt wird, sondern wie es objektiv in der Zeit ist“⁵⁰⁷. Die Linie bleibt eine bloße Analogie und
Refl. 13, AA XIV, 54. Refl. 13, AA XIV, 55. Die Auseinandersetzung mit dem Konstrukt der irrationalen Zahlen macht für Kant deutlich, dass bei der Realität äußerer Objekte die Verbindung beider Formen der Sinnlichkeit wichtig ist. Nach Kant zeigt nämlich gerade die Tatsache, dass wir uns eine Größe mit der Länge einer irrationalen Zahl geometrisch bestimmt veranschaulichen können (z. B. als Diagonale im Quadrat), dass eine irrationale Zahl Bedeutung haben und auch arithmetisch definierbar sein muss. Auch hier zeigt sich die Unabhängigkeit und die Nichtreduzierbarkeit des Raums gegenüber der Zeit als Anschauungsform, was nochmals die Auswirkung des zeitlichen Schematismus auf den Raum deutlich macht. Siehe hierzu AA XI, 207– 210. B219. Versucht man das Zeitmodell in Kants Sinne weiterzudenken, ergibt sich die Schwierigkeit, wie denn bei der Zeit noch von einem Kontinuum gesprochen werden kann, wenn streng genommen immer nur ein Zeitmoment aktual ist. Es stellt sich die Frage, wie – obwohl nur ein Punkt aktual ist – der Zeitpunkt in einem Zeitganzen eingebunden sein kann. Vgl. hierzu Michel 2003, S. 75 f. Michel spricht vor dem Hintergrund dieser Schwierigkeit von der Zeit als einer „Punktbewegung“ (Michel, 2003, S. 188), die dadurch zustande kommen soll, dass der Verstand Mannigfaltigkeiten synthetisch zu einem Zeitverlauf verbindet. Damit übergeht sie jedoch völlig die Kontinuumsstruktur der Zeit, die nach Kant gerade nicht zusammengesetzt sein kann, sondern ursprünglich vorliegen muss. Eine Antwort auf die Frage, wie die Zeit weiterhin „kontinuierlich“ (Michel 2003, S. 189) gedacht werden soll, bleibt Michel schuldig.Vgl. Michel 2003, S. 187– 190. Ein Modell für Kants Zeitkonzeption als absolute Punktbewegung liefert bereits Prauss mit einer entsprechenden Veranschaulichung: „Daß ich Sie damit [Punktbewegung als Entstehen zum Vergehen] keineswegs zu etwas Unvorstellbarem, weil Widersprüchlichem auffordere, ersehen Sie zum Beispiel daraus: Trotz der Selbigkeit des Zuges, worin sie erfolgen sollen, widersprechen sich der Zuwachs und der Wegfall dieser Linie deshalb nicht, weil sie ja keineswegs auf einer und derselben Seite vor sich gehen, sondern gerade auf entgegengesetzten […]. Dementsprechend können Sie auch ohne grundsätzliche Schwierigkeiten ein Schreibzeug bauen und benutzen, derart, daß unmittelbar im Anschluß beispielsweise an ein Kreidestück ein Schwamm sein Werk vollbringt, indem er es in einem und demselben Zug von vornherein zur Zeichnung einer Linie gar nicht kommen, sondern immer wieder unmittelbar lediglich als eines Punktes zuläßt.“ (Prauss 1990, S. 365 f. Anm.). Haas kritisiert Praussʼ Veranschaulichung u. a. damit, dass es eine „unzulängliche Analogie zum Raum“ (Haas 1996, S. 157) darstelle. Damit übersieht Haas jedoch, dass diese Ausführungen Praussʼ nur zur Veranschaulichung dienen. Entsprechend liefert
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kann das Nacheinander als Eigenschaft der Zeit nicht räumlich darstellen, was Kant bereits in der vorkritischen Phase bewusst war.⁵⁰⁸ Die Zeit wird nur „nach der Analogie […] wie eine Linie vorgestellt“⁵⁰⁹, wie es selbst in Kants Vorlesungen heißt. Patt betont daher: „Die Linie ist eine Verräumlichung der Zeit, die nicht verdecken sollte, daß Zeitteile wesentlich in Sukzession begriffen sind.“⁵¹⁰ Dieser Punkt ist von besonderer Bedeutung für Kants Konzeption der Sinnlichkeit, denn die Irreduzibilität der Zeit auf die Linie – darauf macht Mohr zu Recht aufmerksam – rechtfertigt, dass die Zeit eine selbstständige Form der Sinnlichkeit neben dem Raum ist.⁵¹¹ Vor dem Hintergrund dieses Zeitmodells ist es nachvollziehbar, dass die objektive Zeit – anders als der objektive Raum – nicht empirisch durch Wahrnehmung, sondern nur durch Erfahrung an einem Objekt vorstellbar ist. Sie ist und bleibt eine nichträumliche und nicht wahrnehmbare Struktur. Gleichwohl gehört sie zur empirischen Wirklichkeit der Erfahrung dazu, sodass auch eine „empirische Vorstellung der Zeit“ möglich ist. Doch hierfür bildet die Beharrlichkeit das entsprechende „Substratum“, auf dessen Grundlage die Zeit eines Objekts erzeugt werden kann. Objekte treten somit in der Erfahrung nur im Modus der Zeit auf, ohne dass die „Zeit an sich selbst […] wahrgenommen werden [kann]“⁵¹². Hierzu heißt es bei Kant: Daß die Zeit die Form des innern Sinnes sey, ist daraus zu ersehen, weil man sie zwar in Gedanken haben, niemals aber als etwas äußeres anschauen kan so wie die Ausdehnung.
Prauss später eine abstrahierte Beschreibung. Vgl. hierzu bereits Prauss 1993b, S. 914 f. Anm. und insbesondere Prauss 1999, S. 322 Anm. Für Praussʼ aktuelle Modellbildung, wonach auch die Anisotropie der Zeit widerspruchsfrei abgebildet werden soll, siehe Prauss 2015, S. 185 – 199 und insbesondere S. 191 Anm. Das Zeitmodell hat zur Folge, dass die Zeit selbst nicht wahrnehmbar ist. Kausalität ist beispielsweise ein objektives zeitliches Verhältnis, ohne dass die konkrete Beziehung sinnlich wahrnehmbar wäre, obwohl sie zur Erfahrung gehört. Das Kausalverhältnis ist ein apriorisches Verhältnis der Erfahrung. Das Verhältnis resultiert nach Kant aus einer apriorischen Bestimmung von sinnlichen Inhalten (d. i. der Schematismus). Räumliche Verhältnisse sind hingegen – auch nach Kant – als Gestalt konkret wahrnehmbar. Siehe hierzu Anmerkung 495 im hiesigen Kapitel 2. Vor dem Hintergrund der Linienanalogie wurde Kant teilweise eine eternalistische Zeitauffassung zugesprochen. Der von Kant selbst angesprochene Mangel dieser Analogie deutet stattdessen auf eine präsentistische Zeitauffassung hin. Vgl. zu dieser modernen Debatte Friebe 2012, S. 33 – 40 und ferner 158 f. sowie die Anmerkung 159 in Kapitel 1. Vgl. AA II, 339. Siehe ferner Kapitel 1.1. AA XXVIII, 93. Patt 1987, S. 217. Vgl. ferner Gloy 1990, S. 60. Vgl. Mohr 1998, S. 114 ff. B226|A183. Im Opus postumum spricht Kant dagegen von der „sensibelen Zeit“ (AA XXII, 518). Siehe hierzu jedoch die Ausführungen in Kapitel 3.2.1 bzw. die dortige Anmerkung 160.
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Die substantzen sind im Raume, ihr Zustand (accidentia) in der Zeit. Alle praedicate haben zur copula: est, fuit, erit.⁵¹³
Michel argumentiert vor diesem Hintergrund zu Recht gegen Kemp Smith, dass es kein Widerspruch ist, wenn Kant in § 6 davon spricht, dass die Zeit keine Bestimmung der Erscheinung ist und gleichzeitig die Form aller Erscheinungen darstellt. Die Zeit kann nämlich nicht wie der Raum als eine wahrnehmbare Form auftreten, dennoch ist sie als apriorische Form erfahrungskonstitutiv.⁵¹⁴ Zu betonen gilt es immer wieder, dass die Zeit erst in der Erfahrung zur objektiven Form der Gegenstände erdeutet wird, indem aus subjektiven zeitlichen Wahrnehmungsverhältnissen objektive zeitliche Kausalverhältnisse werden. Somit ist die Zeit zwar nicht wahrnehmbar, aber gleichwohl am empirischen Objekt erfahrbar, da sie zur Wirklichkeit dieses Gegenstandes gehört.⁵¹⁵ Treffend schreibt vor diesem Hintergrund Weizsäcker: „Da die Zeit [bei Kant] selbst nicht wahrgenommen wird, tritt für sie eine in den Anschauungen anzutreffende Größe ein […].“⁵¹⁶ Diese Zuschreibung von objektiver Zeit durch den Schematismus bringt Allison folgendermaßen auf den Punkt: Putting this together and applying it to time, we arrive at the result that a transcendental determination of time must be a conceptualization of time in accordance with an a priori concept, which refers time to an object or objectifies it, while also providing objective reality for the concept involved. To objectify time means to represent a temporal order as an in-
Refl. 4518, AA XVII, 579. Vgl. Michel 2003, S. 198 ff. Auch Kants Zeitmodell scheint einen Zusammenhang mit dem Unterschied zwischen subjektiver und objektiver Zeit aufzuweisen. In folgender früher Anmerkung scheint er für die objektive Zeit Dreidimensionalität zu fordern: „Obgleich die Zeit nur eine dimension hat, so sind doch in der Kraft der Vorstellung wirklich drey: nemlich das Gegenwärtige wird mit allen Elementen des Vergangenen nicht allein verknüpft, sondern dadurch in Wirksamkeit Gesetzt und gleichsam multiplicirt, um sich einen Begriff von der Gegenwart zu machen. Dieses Product in die dimension der Zukunft multiplicirt giebt die Voraussehung. So ist das factum aus der vorigen Erfahrung in die Beobachtung der Gegenwartigen Zeit ein Erkenntnis Grund des Gegenwartigen Zustandes der Welt, und beydes in die künftige Zeit der ein Grund der Vorhersehung.“ (Refl. 371, AA XV, 145; vgl. ferner auch Refl. 4071, AA XVII, 404). Vaihinger sieht vor diesem Hintergrund ein Schwanken Kants bei der Frage nach der Dimensionalität der Zeit.Vgl.Vaihinger 1922b, S. 393 und im Anschluss Gent 1930, S. 26 sowie Wohlfart 1982, S. 72 f. In der KRV legt Kant sich auf die Eindimensionalität der Zeit fest. Vgl. hierzu Anmerkung 507 im hiesigen Kapitel 2. Wohlfart zieht dabei ein kritisches Fazit: „Auf die Frage, ob weder die (eindimensionale) Linie, noch die (zweidimensionale) Fläche, sondern erst der (dreidimensionale) Raum die angemessene figürliche Vorstellung der Zeit ist, […] hat Kant keine befriedigende Antwort gefunden.“ (Wohlfart 1982, S. 73). Von Weizsäcker 1974, S. 160.
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tersubjectively valid order of events or states of affairs in the phenomenal world, in contrast to a merely subjective or ʻsubjectively valid’ order of representations in an individual consciousness. […] Consequently, a transcendental determination of time must be regarded as a universal and necessary characteristic of things in time (phenomena) […].⁵¹⁷
Obwohl Kant erst in der B-Auflage gezielt die beiden Ebenen seines Anschauungskonzepts anspricht, wonach wir sowohl Formen der Anschauung als auch formale Anschauungen haben, findet sich der Ansatz für die Unterscheidung zwischen subjektiver und objektiver Form schon in der Dissertation. Dort heißt es bezüglich der Zeit: Daß wir aber die Größe einer Zeit nur in concreto schätzen können, nämlich entweder an einer Bewegung oder an einer Gedankenreihe, das rührt daher, daß der Begriff der Zeit lediglich auf einem inneren Gesetz der Erkenntniskraft beruht, nicht aber eine Art angeborener Anschauung ist, und daß folglich nur mit Hilfe der Sinne diese Handlung des Gemüts, das sein Empfundenes einander beiordnet, hervorgerufen werden kann.⁵¹⁸
Bereits in De mundi spricht Kant somit von einer bestimmten Zeit bzw. von einem Begriff der Zeit, der auf die Erkenntnisvermögen des Subjekts zurückgeht. Erst in der KRV – genauer gesagt in der transzendentalen Analytik – wird klar, was es bedeutet, dass wir eine Zeitgröße „nur in concreto“ angeben können, wodurch wir auch noch einen bestimmten Begriff bzw. eine formale Anschauung der Zeit erhalten. Darüber hinaus liefert Kant eine Antwort auf die Frage, wie die ursprüngliche Zeitanschauung mit der formalen Anschauung der Zeit bzw. wie subjektive Zeit mit objektiver Zeit zusammenhängt. Erst durch diese Systematik wird das Objektivitätsproblem, das Kant im unmittelbaren Anschluss an De mundi eingesteht, für ihn schließlich lösbar.
2.2.4 Kants Lösung der Probleme nach 1770 durch seine Lehre von der Wirklichkeit der Erfahrung im Hinblick auf Raum und Zeit Vor dem Hintergrund der Bedeutung von Raum und Zeit für die Wirklichkeit der Erfahrung bzw. der empirischen Objekte ist es schlussendlich nachvollziehbar, dass Kant auf Raum und Zeit zu sprechen kommt, wenn er im Anschluss an das neue Erfahrungskonzept seine Lösung der Probleme, die sich kurz nach 1770 er-
Allison 1983, S. 183. WW V, 55.
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gaben, thematisiert.⁵¹⁹ Entsprechend führt Kant schließlich in den Prolegomena als Reaktion auf die Göttinger Rezension von Garve Folgendes aus: Daß unseren äußeren Wahrnehmungen etwas Wirkliches außer uns nicht bloß correspondire, sondern auch correspondiren müsse, kann […] zum Behuf der Erfahrung bewiesen werden. […] Empirisch außer mir ist das, was im Raum angeschaut wird; und da dieser sammt allen Erscheinungen, die er enthält, zu den Vorstellungen gehört, deren Verknüpfung nach Erfahrungsgesetzen eben sowohl ihre objective Wahrheit beweiset, als die Verknüpfung der Erscheinungen des innern Sinnes die Wirklichkeit meiner Seele […], so bin ich mir vermittelst der äußern Erfahrung eben sowohl der Wirklichkeit der Köper als äußerer Erscheinungen im Raume, wie vermittelst der innern Erfahrung des Daseins meiner Seele in der Zeit, bewußt […].⁵²⁰
Durch „Raum und Zeit (in Verbindung mit den reinen Verstandesbegriffen) a priori“, die „aller möglichen Erfahrung ihr Gesetz vorschreiben“, ist ein „sichere[s] Kriterium“ gefunden, um „Wahrheit von Schein zu unterscheiden“⁵²¹, wie Kant ferner im Anhang zu den Prolegomena schreibt, um sich von jeglichem nichtkritischen Idealismus zu distanzieren. Durch die Anwendung der Kategorien mittels des Schematismus und der Grundsätze ist es damit nach Kant gelungen, „das Dasein [der Dinge] mittelbar zu beweisen“⁵²². Den unmittelbaren Beweis soll dann der Abschnitt zur Widerlegung des Idealismus in der KRV liefern, denn „das Bewußtsein meines eigenen Daseins ist zugleich ein unmittelbares Bewußtsein des Daseins anderer Dinge außer mir“⁵²³. Diese Einsicht soll nach Kant als
Vgl. zu den Problemen im Anschluss an De mundi die Ausführungen in Kapitel 1.5. AA IV, 336. Ferner heißt es schon in der A-Auflage der KRV: „Alle äußere Wahrnehmung also beweiset unmittelbar etwas Wirkliches im Raume, oder ist vielmehr das Wirkliche selbst, und in so fern ist also der empirische Realismus außer Zweifel […].“ (A375). AA IV, 375. B274. B276. Dass Kant überhaupt die Notwendigkeit eines unmittelbaren Beweises sieht, hängt mit der Kritik in der sog. Göttinger-Rezension zusammen, in der kritisiert wird, dass Kant nach der AAuflage zwischen Traum und Realität gar nicht unterscheiden könne. Vgl. hierzu Kants Eingehen auf diese Rezension in den Prolegomena AA IV, 372 f. Kant streicht die Stellen aus der A-Auflage, nach denen bereits die „Empfindung“ dasjenige sei, „was eine Wirklichkeit im Raume und der Zeit bezeichnet“ (A374 f.), und wonach die Existenz konkreter Dinge als „unmittelbare[s] Zeugniß meines Selbstbewußtseins“ (A371) beschrieben wird. Stattdessen rückt in der zweiten Auflage die Argumentation im Abschnitt über die Widerlegung des Idealismus nach. Vgl. zu den Einzelheiten Klemme 1996, S. 399 – 403. Bezüglich Kants Unterscheidung zwischen Traum und Wirklichkeit im Kontext der Erfahrung siehe Klemme 2012, S. 181 f. und ferner auch Emundts 2012, S. 208 ff.Wie in Kapitel 2.2.3 schon gesehen, ist bereits Kants transzendentale Lehre vom Schematismus eine implizite Theorie, die zeigen soll, wie aus ideellen Strukturen schließlich reale werden können. Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass Kant für die erste Auflage kein gesondertes
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Lehrsatz bewiesen werden, indem gezeigt wird, dass ein innerer Sinn gar nicht möglich wäre ohne den äußeren Sinn bzw. den materiellen Inhalt, der von einer Außenwelt zur Verfügung gestellt wird.⁵²⁴ Bereits in der A-Auflage bekräftigt Kant, dass durch die Raumvorstellung und die „unmittelbare Wahrnehmung (Bewußtsein) zugleich ein genugsamer Beweis“ der „Wirklichkeit des Gegenstandes“⁵²⁵ gegeben wird. Dabei ist es auch überhaupt nicht nötig, „in Absicht auf die Wirklichkeit äußerer Gegenstände […] zu schließen“⁵²⁶, denn sie ist vor dem Hintergrund der objektiven Realität der Erfahrung unmittelbar evident.⁵²⁷ Den Zweifel an der Wirklichkeit des äußeren Sinns überhaupt hält Kant hier für einen Paralogismus der reinen Vernunft. Die Wirklichkeit ist ein Faktum der Erfahrung.
Kapitel zur Widerlegung des Idealismus schreibt und gereizt auf die Göttinger Rezension von Garve reagiert, stellt diese doch gerade mit der behaupteten Nähe zum absoluten Idealismus das Ergebnis des Schematismus in Frage. Kant fordert den damals noch unbekannten Rezensenten auf, aus dem „Incognito zu treten“ (AA IV, 379). Als Garve 1783 in einem Brief an Kant erklärt, dass er Abstand von der Rezension nimmt, weil sein ursprünglicher Text massiv verändert worden wäre, ist Kant zunächst befriedet und antwortet Garve versöhnlich. Als Garve seine Rezension final publiziert, ist Kant jedoch enttäuscht. Vgl. hierzu Kühn 2004, S. 291– 295; 309 ff. und auch Washburg 1975, S. 278 f. Noch im Jahr 1792 schreibt Kant in einem Brief an Beck, dass „Eberhards und Garven Meynung von der Identität des Berkleyschen Idealisms mit dem critischen, den ich besser das Princip der Idealität des Raumes und der Zeit nennen könnte, […] nicht die mindeste Aufmerksamkeit“ (AA XI, 395) verdient. Denn Garve – so Kant weiter – „rede von der Idealität in Ansehung der Form der Vorstellung: jene aber machen daraus Idealität derselben in Ansehung der Materie d. i. des Objects und seiner Existenz“ (AA XI, 395). Freilich heißt das nicht, dass ideelle Formen nicht auch real sein können, denn sie gehören als objektive Form auch zum Objekt, wie sich in der Auseinandersetzung mit dem Schematismus zeigte. Diese Realität gilt jedoch – das ist für Kant der entscheidende Punkt – nur im Hinblick auf die Erscheinung und nicht im Hinblick auf die Dinge an sich selbst. Wie Nakajima interpretiert, ist das spätere Kapitel zur Widerlegung des Idealismus für Kant hinter den Grundsätzen „an der rechten Stelle“ (B274), da gerade durch die Analytik gezeigt wurde, wie Wirklichkeit konstituiert wird. Vgl. hierzu Nakajima 1986, S. 78 f. und ferner Mathieu 1989, S. 227 f. Trotz allem ist das Verhältnis zwischen diesen beiden Beweisen bzw. zwischen den Grundsätzen und dem Abschnitt zur Widerlegung des Idealismus weiterhin Gegenstand von Diskussionen. Während Allison und Strawson interpretieren, dass der besagte Abschnitt mit dem Grundsatzkapitel zusammenhängt, meint Bennett dagegen, dass die Argumentationen unabhängig voneinander sind. Vgl. hierzu Allison 1983, S. 297– 304 und Strawson 1966, S. 125 – 132. Vgl. hierzu ferner Gloy 2008, S. 139 – 157 und für einen ersten Überblick Guyer 1998, S. 308 – 324. Zu Kants Replik auf die Rezension in der Tradition der Metaphysik nach Christian Wolff siehe Klemme 1996, S. 208 – 214. Einen ersten Überblick zur unmittelbaren Rezeption nach der Veröffentlichung der KRV liefern Mohr und Willaschek. Vgl. hierzu Mohr / Willaschek 1998, S. 31– 36. Vgl. hierzu B275 ff. A371. A371. Vgl. hierzu Prauss 1971, S. 147 f. Anm.
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Was diesem unmittelbaren Beweis fehlt, wird durch den mittelbaren Beweis in Form seiner Erkenntnistheorie ergänzt: Daraus, daß die Existenz äußerer Gegenstände zur Möglichkeit eines bestimmten Bewußtseins unserer selbst erfordert wird, folgt nicht, daß jede anschauliche Vorstellung äußerer Dinge zugleich die Existenz derselben einschließe, denn jene kann gar wohl die bloße Wirkung der Einbildungskraft (in Träumen sowohl als im Wahnsinn) sein […].⁵²⁸
Der Beweis des Lehrsatzes im Abschnitt zur Widerlegung des Idealismus garantiert somit nicht, dass jede Erfahrung prinzipiell richtig sein muss. Die Möglichkeit des Irrtums kann durch keinen Beweis ausgeschlossen werden, sondern ist vielmehr der prinzipiellen Möglichkeit von „Fehltritte[n] der Urtheilskraft“⁵²⁹ geschuldet. Daher betont Kant, dass „nur bewiesen werden soll[te], daß innere Erfahrung überhaupt nur durch äußere Erfahrung überhaupt möglich sei. Ob diese oder jene vermeinte Erfahrung nicht Einbildung sei, muß nach den besondern Bestimmungen derselben und durch Zusammenhaltung mit den Kriterien aller wirklichen Erfahrung ausgemittelt werden.“⁵³⁰ Wie in Kants Logik-Handbuch ausgeführt, haben wir nämlich einen natürlichen „Hang zu urtheilen und zu entscheiden, auch da, wo wir wegen unsrer Begrenztheit zu urtheilen und zu entscheiden nicht vermögend sind“. Durch den „Mangel an erforderlicher Aufmerksamkeit“ werden wir verleitet „bloß subjective Bestimmungsgründe des Urtheils für objective zu halten“⁵³¹. Um dabei nicht einer „Täuschung“, der Möglichkeit eines „Traum[s]“ oder „falsche[m] Schein[]“ zu erliegen, gibt Kant bereits in der A-Auflage folgende konkrete „Regel“ vor, nach der zu verfahren sei: „Was mit einer Wahrnehmung nach empirischen Gesetzen zusammenhängt, ist wirklich.“⁵³² Durch die Beachtung dieser Regel soll die „empirische Wahrheit der Erscheinung [im Raum und in der Zeit] genugsam gesichert, und von der Verwandtschaft mit dem Traum hinreichend unterschieden“ werden. Indem die zu prüfende Wahrnehmung in ein Erfahrungsganzes eingebettet wird, kann geprüft werden, ob sie Sinn ergibt bzw. objektiv bestehen kann. Durch diese Einbettung lässt sich feststellen, ob die Wahrnehmung in die objektive Erfahrung passt oder nicht, weil Räumliches und Zeitliches „nach empirischen Gesetzen in einer Erfahrung richtig und durchgängig zusammenhängen“⁵³³. Die empirischen Gesetze
B278. A376. B278 f. AA IX, 54. A376. B521|A492.
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hängen mit dem Verstand zusammen, da empirische Gesetze bzw. synthetische Urteile a priori nur durch die Anwendung des Verstandes bzw. der Kategorien möglich sind. Denn alle „Gesetze der Natur [stehen] unter höheren Grundsätzen des Verstandes, indem sie diese nur auf besondere Fälle der Erscheinung anwenden“⁵³⁴. Und so heißt es schließlich im Kapitel über die Grundsätze des reinen Verstandes: Das Postulat, die Wirklichkeit der Dinge zu erkennen, fordert die „Wahrnehmung nach den Analogien der Erfahrung [zu bestimmen], welche alle reale Verknüpfung in einer Erfahrung überhaupt darlegen“⁵³⁵. Zwar betont Kant, dass die „Grundsätze der Modalität“ bzw. die Postulate nicht „objectiv-synthetisch“, sondern „nur subjectiv“ sind, da sie den Begriff eines Gegenstandes „nicht im mindesten vermehren“, jedoch darf man dabei nicht unterschätzen, dass sie „dem Begriffe eines Dinges (Realen), von dem sie sonst nichts sagen, die Erkenntniskraft hinzu[fügen]“⁵³⁶. Auch wenn Erkenntnis prinzipiell fehlschlagen kann, ist es für Kant der Schematismus, der letztlich den Verstand „realisirt“⁵³⁷ und somit zugleich den sinnlichen Formen objektive Bedeutung zukommen lässt. Lässt sich demnach mit einer Vorstellung keine „Zusammenhaltung“ mit dem Erfahrungsganzen und dessen Grundsätzen erreichen, kann diese Vorstellung nur eingebildet bzw. das Ergebnis eines falschen Urteils sein. Kant schreibt nämlich im Hinblick auf das dritte Postulat Folgendes: „[…] so kann die Nothwendigkeit der Existenz niemals aus Begriffen, sondern jederzeit nur aus der Verknüpfung mit demjenigen, was wahrgenommen wird, nach allgemeinen Gesetzen der Erfahrung erkannt werden.“⁵³⁸ Wie die Ausführungen zum Schematismus und zu den Grundsätzen oben zeigten, ist für die Konstituierung der Erfahrung wichtig, dass Raum und Zeit zu objektiven Formen eines Gegenstandes bestimmt werden. Zwar gesteht Kant in einer Anmerkung ein, dass es „paradox[]“ und „befremdlich klingen muß“, wenn einerseits der Raum „nichts anders als Vorstellung“ ist und andererseits in ihm etwas „wirklich vorgestellt“ wird, doch „das Anstößige“⁵³⁹ löst sich nach Kant auf, wenn berücksichtigt wird, dass es sich bei dem Wirklichen nicht um transzendente Dinge an sich, sondern um Erscheinungen handelt. Zwar betont Kant immer
B198|A159. B272|A225. B286|A233 f. B187|A147. B279|A227. Im Opus postumum heißt es: „Nicht von Außen hinein sondern von innen hinaus die Begriffe a priori bestimmen sich selbst in einem System machen und sich zu einem Objeckt construiren“ (AA XXI, 97). A374 Anm.
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wieder, dass „Raum […] und Zeit […] beide nur in uns anzutreffen [sind]“⁵⁴⁰, dennoch sieht Kant hier keine Spannung zu seinen Aussagen, wonach der Raum auch objektiv vorgestellt werden kann. Im Gegenteil gilt, dass die „Form[en] der Anschauung […] ohne ein Reales[] keine Objecte“⁵⁴¹ sein können.⁵⁴² Raum und Zeit haben trotz ihres reinen Ursprungs nur „Sinn und Bedeutung“ durch ihren „Gebrauch an den Gegenständen der Erfahrung“. Sie erhalten nur dadurch „objective Gültigkeit“⁵⁴³.Vor allem mit Bezug auf den Ausdruck „objektive Gültigkeit“ ist es schließlich auch nicht verwunderlich, dass Kant die transzendentale Ästhetik bereits als eine transzendentale Deduktion ansieht: „Wir haben oben [in der Ästhetik] die Begriffe des Raumes und der Zeit vermittels einer transscendentalen Deduction zu ihren Quellen verfolgt, und ihre objective Gültigkeit a
A373. B349. Es gibt auch Stellen, die hier gerade vor dem Hintergrund der Widerlegung des Idealismus genau gegenteilig formuliert sind: „Denn sich auch einen äußeren Sinn bloß einzubilden, würde das Anschauungsvermögen, welches durch die Einbildungskraft bestimmt werden soll, selbst vernichten.“ (B276 Anm.). Ferner heißt es in einer Reflexion, dass „ich mir keinen Raum als in mir denken“ (Refl. 5653, AA XVIII, 307) kann. Ameriks betont daher zu Recht, dass Kant „in mir“ in zweifacher Bedeutung verwendet – einmal empirisch und einmal transzendental. Der Raum ist in empirischer Hinsicht nicht „in mir“, wohingegen er in transzendentalphilosophischer Hinsicht sehr wohl „in mir“ betrachtet wird. Vgl. Ameriks 1998, S. 387. Vgl. auch schon Vaihinger 1922b, S. 129 und ferner Rohs, 1973, S. 71 f. Dass sich Kant dieser Doppeldeutigkeit wohl bewusst war und somit keinesfalls von einem Widerspruch gesprochen werden kann, zeigt sich an Kants Äußerungen zu dem sprachlichen Pendant „außer uns“: „Weil indessen der Ausdruck: außer uns, eine nicht zu vermeidende Zweideutigkeit bei sich führt, indem er bald etwas bedeutet, was als Ding an sich selbst von uns unterschieden existirt, bald was blos zur äußeren Erscheinung gehört, so wollen wir, um diesen Begriff in der letzteren Bedeutung, als in welcher eigentlich die psychologische Frage wegen der Realität unserer äußeren Anschauung genommen wird, außer Unsicherheit zu setzen, empirisch äußerliche Gegenstände dadurch von denen, die so im transscendentalen Sinne heißen möchten, unterscheiden, daß wir sie gerade zu Dinge nennen, die im Raume anzutreffen sind.“ (A374). Diese Unterscheidung ist wichtig, um zu erklären, wie Kant einerseits vom wirklichen Raum sprechen kann, der jedoch andererseits nur in mir zu finden ist. Dass Kant diese Unterscheidung prinzipiell machen muss, zeigt sich auch daran, dass er selbst bei empirischen Körpern in seinem Handexemplar davon spricht, dass sie „in mir“ sind: „Wenn ich Körper blos als Phänomena betrachte, die in mir sind, kann das Erkenntnisvermögen des inneren Sinns wohl mit denen des äußern in Gemeinschaft stehen.“ (Refl. LXXXVI, AA XXIII, 32). „In mir“ kann hier aber gerade nicht bedeuten, dass ein Körper allein im Subjekt auftritt, denn das würde einen absoluten Idealismus zur Folge haben, den Kant unbedingt vermeiden möchte. Wird die Formulierung „in mir“ exklusiv verstanden, führt dies somit zu fatalen Konsequenzen im Hinblick auf den realistischen Anspruch der kantischen Theorie. Vgl. hierzu die Ausführungen bei Baumgarten, H. 2001, S. 495 ff. B195|A156.
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priori erklärt und bestimmt.“⁵⁴⁴ Damit ist ihre Bedeutung und ihr objektiver Gebrauch abgesichert. Mehr noch gilt, dass durch ihre Verbindung mit der Materie und der resultierenden objektiven Bestimmung des Gegenstands der „Raum […] in Ansehung aller äußeren Erscheinungen (die auch nichts anders als bloße Vorstellungen sind) objective Realität“⁵⁴⁵ erlangt. Raum und Zeit „sind in Ansehung der äusseren Erscheinungen real“⁵⁴⁶, wie Kant in einer frühen Reflexion während seiner Publikationspause und seinen Vorarbeiten zur KRV explizit anmerkt. Aber auch später betont Kant beispielsweise in der KU, dass „der Raum […] seiner bloß subjektiven Qualität ungeachtet[] gleichwohl doch ein Erkenntnisstück der Dinge als Erscheinungen“ darstellt. Dabei zieht er hier eine Parallele zur Empfindung, die, obwohl sie zunächst auch nur ein subjektiver Inhalt ist, durch den Erkenntnisprozess als objektive Qualität eines Gegenstands gedeutet wird: Empfindung (hier die äußere) drückt eben sowohl das bloß Subjective unserer Vorstellungen der Dinge außer uns aus, aber eigentlich das Materielle (Reale) derselben (wodurch etwas Existirendes gegeben wird), so wie der Raum die bloße Form a priori der Möglichkeit ihrer Anschauung; und gleichwohl wird jene auch zum Erkenntniß der Objecte außer uns gebraucht.⁵⁴⁷
Wie Empfindungen zu Bestimmungen am Objekt gedeutet werden können, so können auch die subjektiven Raumzeitverhältnisse zu formalen Anschauungen am wirklichen Objekt bestimmt werden. Wie Kant im Handexemplar der KRV ferner notiert, gilt auch für den Inhalt der Anschauungsformen: „Was in der Zeit und Raum bestimmt ist ist wirklich.“⁵⁴⁸ Deshalb kann der „transscendentale Idealist“ zugleich als „empirischer Realist“⁵⁴⁹ auftreten. An dieser Stelle wird ersichtlich, dass die Lehre von der „Idealität des Raumes und der Zeit […] zugleich eine Lehre der vollkommenen Realität derselben in Ansehung der Gegenstände der Sinne“⁵⁵⁰ ist, wie Kant später in der Preisschrift betont. Ohne näher auf diese Zusammenhänge einzugehen, formuliert Klemme treffend, dass Kant mit der „transzendentalen Logik ein formales Kriterium zur Hand [hat], [um] Traum und B119 f.|A87. A377. Refl. 40, AA XIV, 121. AA V, 189. Refl. XC, AA XXIII, 32. A370. Kant scheint sich in einer Reflexion sogar selbst als Realist und nicht als Idealist zu verstehen.Vgl. Refl. 5395, AA XVIII, 171. Es ist fraglich, ob Kant nach den heutigen Maßstäben des philosophischen Diskurses als Realist gelten kann. Siehe hierzu die Auseinandersetzung Engelhards mit dem Realismusbegriff und den Bedingungen, unter denen Kant im modernen Sinne als Realist gelten könnte. Vgl. Engelhard 2014. AA XX, 268.
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Wirklichkeit zu unterscheiden“⁵⁵¹. Treffend erklärt ferner Prauss in seinem Aufsatz Zum Wahrheitsproblem bei Kant den Unterschied zwischen formaler Logik und der transzendentalen Logik bei Kant anhand des Wahrheitsproblems und stellt dabei fest: „Gerade am Wahrheitsproblem scheiden sich offenbar prinzipiell die Wege der formalen und der transzendentalen Logik.“⁵⁵² Summa summarum haben Raum und Zeit somit nicht nur subjektive Idealität, sondern auch die geforderte empirische Realität. Damit ist das Problem aus dem Brief von 1770 für Kant gelöst, wie er sogar explizit in der KRV als Antwort an seine Kritiker schreibt.⁵⁵³ Der Schematismus stellt aus systematischer Sicht ein Herzstück der KRV dar und ist eine tragende Säule für Kants Antwort auf die Frage, wie Wissen entsteht, da er zusammen mit den Grundsätzen erklärt, wie Kategorien sich konkret anwenden lassen und daraus ein notwendiges Ganzes der Erfahrung entsteht.⁵⁵⁴ Zumindest als Indiz dafür, dass Kant früh ein Bewusstsein für die Bedeutung dieser Systemstelle hatte, zeugt der Umstand, dass Kant das Schematismuskapitel unverändert für die B-Auflage übernimmt und den Schematismus auch noch im Opus postumum an entscheidender Stelle thematisiert.⁵⁵⁵
Klemme 1996, S. 210. Prauss 1973b, S. 74 f. Siehe hierzu bereits Anmerkung 331 in Kapitel 1. Kemp Smith behauptet, dass in Anbetracht der Tatsache, dass über den Schematismus in den Reflexionen nichts zu finden ist, Kant denselben erst kurz vor der ersten Auflage entdeckt und eingearbeitet haben muss. Vgl. Kemp Smith 1923, S. 334 Anm. Zu der Frage, inwieweit sich Kants Theoriestück des Schematismus bereits in der vorkritischen Phase ankündigt, siehe die Ausführungen in Jiménez Rodríguez 2016. Im Anschluss an Düsing führt Würker aus, dass Kant, nachdem er der Einbildungskraft das Recht abgesprochen hat, ein eigenständiges Erkenntnisvermögen zu sein, das Schematismuskapitel hätte überarbeiten müssen, da der Schematismus nunmehr enger an die Apperzeption bzw. die Spontanität des Subjekts gekoppelt sein müsste, weil die Vermittlungsfunktion der Einbildungskraft wegfallen würde: „[Es] folgt, dass es eine ,Vermittlungʻ durch ein eigenständiges Vermögen zwischen den beiden heterogenen Bereichen nicht mehr gibt. Die Synthesis muss nun die direkte Wirkung der Apperzeption auf das gegebene Zeitmannigfaltige sein. Diesen Abschnitt hat Kant in der ,Kritik der reinen Vernunftʻ aber nicht mehr neu bearbeitet, so dass die ,alteʻ Schematismus-Version der ersten Auflage nicht ganz den Ansprüchen der Umarbeitung der zweiten Auflage gerecht wird.“ (Würker 2008, S. 112). Nach Würker holt Kant dieses Versäumnis mit seinen Entwürfen im Opus postumum ein Stück weit nach. Vgl. hierzu Würker 2008, S. 107– 113. Siehe hierzu die Ausführungen in Kapitel 3.2.
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2.2.5 Form der Anschauung und formale Anschauung im Hinblick auf die ursprünglich synthetische Einheit der Apperzeption bzw. das transzendentale Selbstbewusstsein Bereits Cohen betont: „Ohne das Verhältnis von Raum und Zeit zur transscendentalen Apperzeption im Ganzen und im Einzelnen klar gestellt zu haben, darf man nicht hoffen, die Kantische Raumlehre prüfen zu können.“⁵⁵⁶ Um Kants Konzeption im Hinblick auf den Unterschied zwischen Form der Anschauung und formaler Anschauung aus dem letzten Kapitel im Hinblick auf die Interpretationsfrage 0.3 systematisch weiter zu vertiefen und ihr näher auf den Grund zu gehen, ist es in Anbetracht der Differenzierung zwischen der ursprünglichen Einheit der Sinnlichkeit in der Ästhetik und der synthetischen Einheit des Verstandes in der Analytik wichtig, die Stellung der transzendentalen Apperzeption nachzuvollziehen. In der transzendentalen Analytik schreibt Kant explizit, dass „die analytische Einheit der Apperception […] nur unter der Voraussetzung irgend einer synthetischen möglich“⁵⁵⁷ ist und dass diese Einheit „als der Verstand selbst“⁵⁵⁸ betrachtet werden muss. Kant schreibt mehrmals, dass das Mannigfaltige unter die Apperzeption gebracht wird, weil die Anwendung der Kategorien einen entsprechenden Bezug sicherstellt: „Diejenige Handlung des Verstandes aber, durch die das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen […] unter eine Apperception überhaupt gebracht wird, ist die logische Function der Urtheile (§ 19).“⁵⁵⁹ Kant identifiziert damit die Möglichkeit zu urteilen mit der Möglichkeit, etwas unter die Einheit des Selbstbewusstseins zu bringen. Folglich ist für ihn „ein Urtheil nichts andres […] als die Art, gegebene Erkenntnisse zur objectiven Einheit der Apperception zu bringen“⁵⁶⁰. Im Hinblick auf die Einheit einer Anschauung heißt es, dass es sich dabei um die „ursprüngliche synthetische Einheit der Apperception [handelt], weil durch diese die Einheit der Anschauung allein möglich ist (§ 17)“⁵⁶¹. An dieser Stelle stellt sich die Frage, wie die Einheit eines Gegenstands oder auch der Anschauung mit der ursprünglichen Einheit des Selbstbewusstseins genau zusammenhängt. Baumanns stellt diese Frage als Problem dar:
Cohen 1918, S. 252. B134. B134 Anm. B143. B141. B143.
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Wie ist es denkbar, so kann gefragt werden, daß eine Apperzeption – eine Verichlichung der Subjektsmodifikationen – statthabe, wenn Apperzeption Bearbeitung (Synthesis) von Gegebenem bedeutet, mit der Gegebenheit aber ein bereits ichzugehöriges Material und damit Apperzeption vorausgesetzt ist? Wie ist die Apperzeptivität des Gegebenen denkbar, über die Kant, den Blick auf die fortgesetzte Apperzeption des apperzeptiven Gegebenen gerichtet, nicht reflektiert? Wie ist der Zirkel zu vermeiden, daß Apperzeption Gegebenheit, Gegebenheit aber Apperzeption voraussetzt?⁵⁶²
Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen in Kapitel 2.2 und im Hinblick auf die Interpretationsfrage 0.3 kann die Frage auch folgendermaßen gestellt werden: Wie hängt die transzendentale Apperzeption systematisch mit der Form der Anschauung und der formalen Anschauung zusammen? Aus dieser komplexen Frage heraus haben sich viele unterschiedliche Beantwortungsstrategien in der Kant-Literatur entwickelt. Für Henrich ist das Selbstbewusstsein eng mit dem Verstand verbunden. In Anbetracht dessen behauptet er: „Sinnlichkeit ist von Selbstbewußtsein verschieden.“ Demnach wäre das Mannigfaltige der Anschauung so zu verstehen, dass es „nicht ›meines‹ [ist], sondern nur ›in Beziehung zu mir‹“⁵⁶³ stünde. Damit wäre aber das Mannigfaltige des Sinnlichen nicht einmal mehr im Selbstbewusstsein und streng genommen auch nicht mehr im Subjekt.⁵⁶⁴ Im Zuge dessen spricht Brandt sogar von einer „Subjektlosigkeit der ,Transzendentalen Ästhetikʻ“ und sieht sich ferner gezwungen, zu fragen, wie vor diesem Hintergrund „noch von Vorstellungen und besonders Anschauungen gesprochen werden kann“⁵⁶⁵. Brandt begründet seine Interpretation u. a. mit dem Verweis auf die Verbindungstätigkeit des Verstandes. Subjektlos soll die Ästhetik demnach sein, „weil die Einheit der Anschauung und die Einheit des Urteils und damit des Denkens immer schon Einheitsleistungen des Ich“ sind. Dieses Ich soll jedoch „erst nach der Entfaltung der Ästhetik“⁵⁶⁶ auf den Plan treten. Und tatsächlich legen Kants Worte dies stellenweise auch nahe: „[…] Vorstellungen gehören mir insgesamt zu, heißt demnach so viel, als ich vereinige sie in einem Selbstbewußtsein […].“⁵⁶⁷ Cohen stellt vor dem Hintergrund der Paralogismen fest: Baumanns 1981, S. 73. Henrich 1973, S. 100 f. Vgl. ferner auch Kemp Smith 1923, S. xlii und darüber hinaus Düsing 1980, S. 23 f. Vgl. hierzu insbesondere die Kritik an Henrichs Ansatz bei Hinsch 1986, S. 36 – 43; S. 104– 107. Vgl. ferner die Kritik von Haas an Henrich in Haas 1996, S. 145 Anm. Vgl. hingegen die Ausführungen von Prauss bezüglich des Zusammenhangs von Selbstbewusstsein und raumzeitlicher Einheit in Prauss 1993a, S. 550 – 556. An späteren Stellen scheint Henrich vorsichtiger bei den Formulierungen zu werden. Vgl. hierzu Henrich 1976, S. 58 – 76 oder Henrich 1988, S. 44 ff. Brandt 1998, S. 95. Brandt 1998, S. 95. B134.
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Wir wissen, daß die ,transzendentale Apperzeptionʻ in den Kategorien sich vollziehen muß, mithin in ihnen besteht. Freilich wissen wir anderseits auch, daß die Kategorien demzufolge eben auch ihre Einheit in der Apperzeption haben, deren Selbstentfaltung sie darstellen.⁵⁶⁸
Cohen versteht diese Charakterisierung dahingehend, dass er als ihre Konsequenz eine vollkommene Identifizierung zwischen Apperzeption und Kategoriensynthesis vorschlägt.⁵⁶⁹ Eine solche Interpretation führt jedoch unweigerlich zu Problemen für Kants Systematik. Marc-Wogau sieht diesen Zusammenhang entsprechend kritisch: Die reine Einheit der Apperzeption ist etwas absolut Primäres, enthält aber doch auch eine Synthesis und ist dann von dieser abhängig. Anschauung und Begriff, Unabhängigkeit von der Synthesis und Abhängigkeit von ihr, fallen hier, in dieser Einheit, zusammen. Das Primäre, das Bedingende ist auch das Sekundäre, das Bedingte.⁵⁷⁰
Ein solches Verhältnis führt nach Marc-Wogau zu einem „inneren Widerspruch[] des Begriffes des reinen Selbstbewusstseins“, sodass er von einer „Dialektik“⁵⁷¹ bei Kant spricht, womit Kant selbst unmöglich zufrieden sein kann. Im Hinblick auf den Raum konstatiert Marc-Wogau ferner: Durch die Verknüpfung des Raumes mit dem Begriffe des Selbstbewusstseins ergibt sich als eine selbstverständliche Konsequenz, einerseits das oben erörterte Gleiten zwischen den Gedanken: der Raum ist ein Objekt (etwas Sekundäres, durch die Synthese Bedingtes), und der Raum ist etwas Abstraktes, ‚zu Grunde Liegendes‘ (somit auch etwas Primäres), anderseits die Identifizierung dieser beiden Bestimmungen des Raumes. […]. Ein Widerspruch wird durch einen anderen maskiert. So wird der Gegensatz der Verdopplung des Raumes und der Identifizierung der beiden Bestimmungen des Raumes bei Kant durch den Begriff des Selbstbewusstseins maskiert.⁵⁷²
Eine solche Interpretation hätte zur Folge, dass auch die Einheit von Raum und Zeit, die sich schon in der vorkritischen Phase als wichtiges Element Kants Raumund Zeitlehre etabliert hatte, als Stör- und Fremdkörper in der transzendentalen Ästhetik erscheinen würde, weil eine Einheit ohne die Synthesis des Verstandes nicht möglich wäre. Im Zusammenhang mit dieser Problematik gilt es zu beachten, wie Kant methodisch auf die Erkenntnisstämme stößt. Bereits die Ausführungen in Kapi-
Cohen 1917, S. 134. Vgl. Cohen 1918, S. 401. Marc-Wogau 1932, S. 265. Marc-Wogau 1932, S. 265. Marc-Wogau 1932, S. 266 f.
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tel 2.1.1 haben gezeigt, dass Kant insbesondere bei den Erörterungen in der transzendentalen Ästhetik analysierend vorgeht und bemüht ist, unser Raumzeitverständnis zu explizieren. Es ist somit sein Isolationsverfahren, das überhaupt eine gedankliche Trennung der Vermögen ermöglicht, die in einer konkreten Erkenntnis stets gemeinsam auftreten und realisiert werden. Eine Sinnlichkeit kann es im menschlichen Subjekt ebenso wenig ohne Verstand geben, wie es einen Verstand ohne Sinnlichkeit geben kann. Dies geht aus dem viel zitierten Kernsatz der kantischen Erkenntnistheorie hervor: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“⁵⁷³ Ferner heißt es, dass nur „daraus, daß sie sich vereinigen, […] Erkenntniß entspringen“⁵⁷⁴ kann. Hoppe versteht diese Äußerungen Kants wörtlich und gibt zu bedenken: [Man kann] sich leicht klarmachen, daß es an sich reine, d. h. bloße Anschauungen nicht geben kann, ebensowenig wie es ,reineʻ Begriffe geben kann. Die Gründe sind bereits angedeutet worden; sie liegen darin, daß reine Anschauungen zur absoluten Vereinzelung und Isolierung all dessen führen müßten, was in der Wahrnehmung gegeben ist. Die unbestreitbare Zusammengehörigkeit aller Vorstellungsgegebenheiten, und zwar zunächst auch in einem noch ganz passiven Gesamtzusammenhang des Bewußtseins, zeigt aber, daß unser Bewußtsein jedes einzelne in ihm Gegebene stets schon übergreift und zusammenfaßt.⁵⁷⁵
Auch Heidemann betont die Zusammengehörigkeit von Verstand und Sinnlichkeit im Hinblick auf die Erkenntnis: Doch sollte man die Grenze zwischen Sinnlichkeit und Verstand in Kants Erkenntnistheorie nicht zu scharf ziehen. Vermögenstheoretisch sind sie auf der einen Seite zwar nicht aufeinander reduzierbar, epistemologisch relevant ist die Sinnlichkeit auf der anderen Seite aber nur, sofern sie rational bestimmt ist – sowie gemäß Kant der Verstand, wenn er sich auf die Sinnlichkeit bezieht.⁵⁷⁶
Nimmt man diesen methodischen Ansatz ernst, dann muss in Hinblick auf Henrich und Brandt konstatiert werden, dass, wenn die Ästhetik ohne Subjekt B75|A51. Dieses gemeinsame Auftreten der beiden Erkenntnisvermögen im Erkenntnisprozess ist für Kant so wichtig, dass er – wie Heller zeigt – Schwierigkeiten damit hat, die Anschauung gegenüber der Forderung von Beck als objektlose Vorstellung zu akzeptieren. Kant will bei der „Definition der Anschauung“ nicht darauf verzichten, dass „die durchgängige Bestimmung […] objectiv und nicht als im Subject befindlich verstanden“ (AA XI, 347) wird. Dies hat jedoch zu Diskussionen darüber geführt, inwieweit die Anschauung dann überhaupt noch als blinde Vorstellung verstanden werden kann. Vgl. zu dieser Problematik Heller 1993, S. 72– 79 und zu der entsprechenden Diskussion in der Kant-Forschung insbesondere Heller 1993, S. 78 Anm. B75 f.|A51. Hoppe 1991b, S. 134. Heidemann, D. 2003, S. 39.
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sein soll, weil sie kein Selbstbewusstsein enthält, ebenso die Analytik kein Subjekt enthalten kann. Nur beide Vermögen zusammen ergeben die Einheit des Subjekts als erkennendes Selbstbewusstsein, das Fremdbewusstsein überhaupt erst möglich macht. Schließlich gilt, wie Hoppe auf den Punkt bringt: „Kommen reine Anschauungen in Wirklichkeit nicht vor, so gilt umgekehrt, daß auch reine Begriffe, d. h. Begriffe ohne internen Bezug auf sinnliche Gegebenheiten, nicht denkbar sind.“⁵⁷⁷ Ferner ist Metz zuzustimmen, wonach die „Rezeptivität“ nicht subjektlos, sondern stattdessen als die „Grenze“ des „transzendentalen Subjekt[s]“⁵⁷⁸ angesehen werden kann, denn sie ist das Vermögen, das den Verstand auf die sinnlichen Inhalte der Außenwelt begrenzt, wodurch schließlich ein Erkenntnisurteil ermöglicht wird. Metz betont: Ohne Rezeptivität keine Spontaneität, bzw. ohne Konstitution des Gegebenen zum Objekt kein Sicht-Konstituieren des Selbstbewußtseins. Beides bezeichnet eine und dieselbe Synthesis. Das transzendentale Selbstbewußtsein ist demnach keine leere, in sich geschlossene Ich-Identität, noch auch in sich selbst zurücklaufende absolute Spontaneität.⁵⁷⁹
Was die Interpretation von Henrich und Brandt schuldig bleibt, ist eine Antwort auf die Frage, wie eine Vorstellung in Beziehung zum Subjekt stehen kann, ohne dass sie zum Subjekt gehört bzw. dem Subjekt bewusst ist. Neben Henrich und Brandt behauptet auch Ameriks, Kant würde Vorstellungen annehmen, „die zwar irgendwie mental, aber unterhalb der Schwelle des Seins für jemanden anzusiedeln sind“⁵⁸⁰. Aber genau dieses „irgendwie“ bildet die Krux, denn es bleibt völlig unklar, was es heißen soll, solche Vorstellungen zu haben. Ohne ein Selbstverhältnis als Verhältnisstruktur bleibt nur noch ein Fremdverhältnis als Alternative übrig. Somit wäre aber die Sinnlichkeit auf ein bloß körperliches Vermögen, zu dem ein Subjekt in einer äußeren Beziehung stünde, reduziert, was Kant im Zuge seiner philosophischen Subjektsystematik unmöglich plausibel behaupten
Hoppe 1991b, S. 134. Gleichwohl wirft Hoppe die Frage auf, ob Kant sich an diese methodologischen Überlegungen hält. Nach Hoppe verfällt Kant einer „höchst problematischen Ontologisierung eines an sich bloß funktionalen Unterschieds“ (Hoppe 1991b, S. 136) zwischen Sinnlichkeit und Verstand, denn nur vor diesem Hintergrund macht die Frage nach Hoppe Sinn, wie die beiden Vermögen wieder zueinander finden können. „[N]ur deshalb ergibt sich ein Schematismus-Problem“ (Hoppe 1991b, S. 142), weil Kant zuvor Sinnlichkeit und Verstand auf diese problematische Weise voneinander trennt. Ähnlich sieht das auch Baumgarten, der in Kants spätem Opus postumum daher eine Revidierung bei Kant vermutet. Vgl. Baumgarten, H. 2001, S. 500 ff. Zum Opus postumum siehe Kapitel 3.2. Metz 1991, S. 121. Metz 1991, S. 69. Ameriks 2003, S. 85.
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kann.⁵⁸¹ Auch der Rekurs auf Kants Konzeption dunkler Vorstellungen, wie er etwa Düsing vorschwebt, hilft bei einem solch reduktionistischen Verständnis des kantischen Selbstbewusstseins nicht weiter.⁵⁸² In seiner späteren Schrift Anthropologie betont Kant an der Stelle, an der er darüber nachdenkt, ob es ein „Widerspruch“ sei, „Vorstellungen zu haben und sich ihrer doch nicht bewußt zu sein“, dass auch die Sinnlichkeit durch eine Anschauung zu einem klaren und deutlichen Bewusstsein fähig ist: Allein wir können uns doch mittelbar bewußt sein eine Vorstellung zu haben, ob wir gleich unmittelbar uns ihrer nicht bewußt sind. – Dergleichen Vorstellungen heißen dann dunkele; die übrigen sind klar und, wenn ihre Klarheit sich auch auf die Theilvorstellungen eines Ganzen derselben und ihre Verbindung erstreckt, deutliche Vorstellungen, es sei des Denkens oder der Anschauung.⁵⁸³
Kant möchte sich damit explizit von Leibniz distanzieren, nach welchem die sinnlichen Vorstellungen grundsätzlich dunkel und verworren seien.⁵⁸⁴ Wenn
Es ist für Kant unproblematisch, dass seine Theorie ein voll funktionsfähiges, menschliches Gehirn voraussetzt, dessen scheint sich Kant sogar bewusst zu sein. Obwohl es sich hier nämlich um eine Subjekttheorie handelt, ist für Kant klar, dass alle geistigen Prozesse im Zusammenhang mit einem körperlichen Korrelat stattfinden. Der angeborene Grund der Formen hat nach einer Reflexion Kants seine physische Entsprechung im Gehirn, da er Vorstellungen hier als eine „Geburth meines gehirns“ (Refl. 4473, AA XVII, 564) bezeichnet. Über das genaue Verhältnis dieser Entsprechung schreibt Kant nur selten etwas Konkretes. Klar ist jedoch, dass Kant damit alles andere als einen Reduktionismus vertreten möchte. Im Gegenteil: Kants Theorie schließt nicht aus, dass aufgrund pathologischer bzw. biologischer Umstände weniger komplexe Bewusstseinsformen möglich sind. Kant schreibt auch Tieren eine Art Bewusstsein zu, auch wenn es kein komplexes Selbstbewusstsein wie beim Menschen ist. Im Opus postumum schreibt Kant, dass Tiere „nicht bloße Maschinen[,] aber doch belebt“ sind und spricht im Zuge dessen von „Thierseelen“ (AA XXII, 369). Siehe hierzu auch schon die Ausführungen Baumgartens in §792 seiner Metaphysica. Vgl. Baumgarten, A. 2011, S. 433. Allais schreibt zu diesem Thema Folgendes: „Kant may have had implausible views about animals. However, while Kant does not say much about non-human animals, he does not deny that they are conscious or that they perceive the world, and in some of the few places where he explicitly mentions them, he says the opposite.“ (Allais 2009, S. 406).Vgl. hierzu ferner McLear 2015, S. 98 – 106. Roche betont vor diesem Hintergrund, dass eine Interpretation, die darauf basiert, dass Raum und Zeit ursprünglich synthetisierte Formen seien (wie beim Synthesis Reading), zu dem Problem gelangt, dass sie Tieren jegliche Raum- und Zeitvorstellungen absprechen müsste, was schwerlich mit Kants Aussagen über Tiere und deren Sinnlichkeit vereinbar ist. Vgl. hierzu Roche 2018, S. 46. Vgl. Düsing 1980, S. 23 f. AA VII, 135. Vgl. AA VII, 140 f. Anm. Die Unterscheidung zwischen notiones clarae und distinctae notiones übernimmt Leibniz aus der rationalistischen Tradition. Er baut sie jedoch zu einem dreistufigen System aus, indem er zwischen dunklen und klaren Vorstellungen unterscheidet, wobei die klaren
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Kant also davon spricht, dass wir uns einer Vorstellung, die wir haben, nicht bewusst seien, dann meint er hier in der Anthropologie damit, dass wir uns ihrer nicht unmittelbar bewusst sind, sondern ihrer nur mittelbar bewusst werden. Oder wie Kant es metaphorisch ausdrückt: Wir sind uns ihrer nur dunkel bewusst. Kant spricht davon, dass es Vorstellungen gibt, die uns „nicht bewußt“ sind, „ob […] gleich […] wir sie haben“, und nennt sie „dunkle[] Vorstellungen“. Diese dunklen Vorstellungen identifiziert er allerdings zuvor mit Vorstellungen, die „mittelbar bewußt“ sind. Im engeren Sinne sind somit auch dunkle Vorstellungen in einer Weise bewusst. Im Anschluss hieran schlägt Klemme vor, diesen Unterschied als einen bloß empirischen zu betrachten: Da nun unbewußte oder dunkle Vorstellungen nach Kant ebenso unter der objektiven Einheit des Selbstbewußtsein stehen können wie diejenigen Vorstellungen, die wir mit Bewußtsein begleiten, kann und muß von der Unterscheidung zwischen bewußten und unbewußten Vorstellungen im folgenden abgesehen werden; sie ist eine bloß empirische, keine transzendentalphilosophische.⁵⁸⁵
Vorstellungen in verworrene und deutliche Vorstellungen unterteilt sind. Letztere teilen sich wiederum in adäquate, nicht-adäquate, symbolische und intuitive Vorstellungen auf. Wolff und Baumgarten greifen diese Systematik in ihrer Metaphysik auf. Vgl. hierzu Baumgarten, A. 2011, S. 271– 279. Bereits bei Baumgarten ist jedoch aus § 520 der Metaphysica ersichtlich, dass dunkle Vorstellungen eine Erkenntnisart der Seele sein müssen: „Meine Seele erkennt einiges dunkel, einiges verworren (§ 510). Nun nimmt sie, wenn sie ein Ding wahrnimmt, und zwar als verschieden von anderem, unter sonst gleichen Umständen mehr wahr als eine, welche die Sache wahrnimmt, aber ohne zu unterscheiden (§ 67). […] Folglich ist Dunkelheit ein geringerer, Klarheit ein größerer Grad der Erkenntnis (§ 160, 246) […].“ (Baumgarten, A. 2011, S. 277). Für einen Überblick bezüglich der Auseinandersetzung mit dunklen Vorstellungen in der rationalistischen Psychologie und Kants Aufgreifen dieser Unterscheidungen in seinen Vorlesungen siehe Gloy 1990, S. 3 – 11. Ferner weist Monzel darauf hin, dass Kant die Redeweise von dunklen Vorstellungen auch aus der Psychologie von Johannes Tetens übernommen haben könnte. Die unterschiedlichen Vorstellungsarten bei Tetens sind dabei in erster Linie empirische Unterschiede, sodass – wenn man diesem Ansatz folgt – auch bei Kant der Unterschied zwischen dunklen und klaren Vorstellungen in erster Linie empirisch gemeint sein könnte. Alle empirischen Unterschiede des Bewusstseins stehen bei Kant unter dem transzendentalen Selbstbewusstsein. Vgl. hierzu Monzel 1912, S. 126 ff. Klemme 1996, S. 191 f. Prinzipiell deckt sich Klemmes Einschätzung mit der von Prauss. Prauss sieht jedoch in Kants Unterscheidung zwischen klarem und dunklem Bewusstsein auch einen formalen Unterschied. Er greift die Unterscheidung auf und ersetzt Kants Metaphern durch die präziseren Begrifflichkeiten eines thematisierenden und eines nicht-thematisierenden Bewusstseins. Vgl. hierzu Prauss 2015, S. 344 ff.; S. 398 – 433. Michel führt dagegen obige Stellen aus der Anthropologie an, um eine Interpretation zu stützen, nach der nicht alle „Vorstellungen zugleich auch bewußt sein müssen“ (Michel 2003, S. 232), was unweigerlich zu der oben skizzierten Problematik bei dem Interpretationsvorschlag von Henrich und Brandt führt. Ähnlich auch bei Carl 1998, S. 192 f., Mohr 1991, S. 106 – 119 und mit Bezug zu der Stelle aus der Anthropologie auch
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Gestützt wird Klemmes Interpretationsvorschlag durch eine Anmerkung in der KRV: Klarheit ist nicht, wie die Logiker sagen, das Bewußtsein einer Vorstellung; denn ein gewisser Grad des Bewußtseins, der aber zur Erinnerung nicht zureicht, muß selbst in manchen dunkelen Vorstellungen anzutreffen sein, weil ohne alles Bewußtsein wir in der Verbindung dunkeler Vorstellungen keinen Unterschied machen würden, welches wir doch bei den Merkmalen mancher Begriffe […] zu thun vermögen. Sondern eine Vorstellung ist klar, in der das Bewußtsein zum Bewußtsein des Unterschiedes derselben von andern zureicht. Reicht dieses zwar zur Unterscheidung, aber nicht zum Bewußtsein des Unterschiedes zu, so müßte die Vorstellung noch dunkel genannt werden. Also gibt es unendlich viele Grade des Bewußtseins bis zum Verschwinden.⁵⁸⁶
Vorstellungen, die vollkommen losgelöst vom Bewusstsein sind, können aus transzendentalphilosophischer Sicht keine Vorstellungen sein. Es gehört nach Kant vielmehr zum Bedeutungsgehalt einer Vorstellung, dass sie einen Inhalt darstellt, den sich ein Subjekt vor-stellt, indem er ihn sich vor-hält. Dass das Natterer 2003, S. 160 – 165. Entsprechend konstatiert Klemme bezüglich solcher Interpretationen folgerichtig: „Da die Ich-Identität aber Bedingung der Möglichkeit der Meinigkeit von Vorstellungen ist […], wären rein zeitlich bestimmte Vorstellungen auch nicht meine Vorstellungen. Mit anderen Worten: Vorstellungen wären nur dann meine Vorstellungen, wenn sie als im Begriff eines Objekts verknüpfte Vorstellungen gedacht werden können. […]. Würde mit diesen Charakterisierungen eine zutreffende Skizze der Kantischen Position gegeben, ergäben sich eine Reihe von systematischen Problemen, die die Kantische Erkenntnistheorie ad absurdum führen würden.“ (Klemme 1996, S. 182). Analog argumentiert Guyer: „[…] Kant carefully describes the distinction as one between clear and obscure perceptions, rather than as one between conscious and unconscious perceptions, so that even the recognition of the distinction does not commit him to the supposition that there can be any representations inexorably barred from the reach of apperception.“ (Guyer 1987, S. 143). Klemme vertritt nach La Rocca einen von drei möglichen Interpretationswegen in dieser Problematik: „Eine erste Position, die eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen psychologischem und transzendentalem Bewusstsein als Ausgangsbasis annimmt, folgert daraus, dass ,unbewußte oder dunkle Vorstellungen nach Kant ebenso unter der objektiven Einheit des Selbstbewusstsein [sic!] stehen können wie diejenigen Vorstellungen, die wir mit Bewusstsein begleitenʻ. […]. Eine zweite Position behauptet, dass die transzendentale Subjektivität ,die Einheit des Bewussten und Unbewusstenʻ darstelle. […]. Eine dritte Position besteht darin, die transzendentalen Leistungen der Subjektivität, die Anwendungen der Kategorien, mit den vom Gehirn auf nichtbewusster Ebene vollzogenen Operationen gleichzusetzen […].“ (La Rocca 2008, S. 465). Vor dem Hintergrund der von Klemme angedeuteten Konsequenzen und den obigen kritischen Ausführungen in Bezug auf Henrichs Position (zweite Position) schließe ich mich hier der Position von Klemme (erste Position) an. Die dritte Position argumentiert aus meiner Sicht nicht textimmanent. Kant würde eine solche reduktionistische Position jedenfalls nicht innerhalb seiner Systematik vertreten können. Vgl. Anmerkung 581 in hiesigem Kapitel 2. B414 f. Anm.
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Selbstbewusstsein auf die synthetische Leistung des Verstandes zurückgeht, heißt somit noch nicht, dass Anschauungen völlig losgelöst vom Subjekt sind. Schließlich ist eine Erscheinung transzendentalphilosophisch betrachtet stets beides: Anschauung und Begriff. Treffend beschreibt Höffe dieses Verhältnis der Erkenntnisvermögen im Hinblick auf das Subjekt: „Das passive bzw. rezeptive Ich der Sinnlichkeit ist für die Anschauung, das aktive bzw. spontane Ich des Verstandes für das Denken zuständig, und nur beide zusammen bilden das eine theoretische, erkenntnisstiftende Subjekt.“⁵⁸⁷ Das gilt somit nicht nur für objektive, sondern auch für subjektive Vorstellungen. Während im Wahrnehmungsbewusstsein konkrete raumzeitliche Inhalte bzw. Anschauungen miteinander verbunden werden, ohne dass deren Zusammenhang objektiv notwendig wäre, werden im Erfahrungsbewusstsein notwendige Verknüpfungen hervorgebracht. Die entsprechende Synthesis führt daher zu einem objektiven Erfahrungsbewusstsein, denn „Erfahrung ist eine verstandene Wahrnehmung“⁵⁸⁸. Doch weder das, durch Apprehension hervorgebrachte, subjektive Wahrnehmungsbewusstsein noch das objektive Erfahrungsbewusstsein können ein vorsynthetisches Bewusstsein darstellen. Aus alldem folgt, dass Anschauungen nicht per se auftreten, sondern immer nur im Zusammenhang mit Verstand und Bewusstsein. Gleichwohl stellt die Sinnlichkeit analytisch betrachtet einen unabhängigen Stamm der Erkenntnis dar, deren Formen Raum und Zeit sind, die durch ihre besondere vorbegriffliche und vorsynthetische Einheit nicht auf die synthetische Leistung des Verstandes reduziert werden können. Von einer „Intellektualisierung der transzendentalen Ästhetik“⁵⁸⁹ kann und darf vor dem Hintergrund der dargestellten Problematik und den Argumenten der Ästhetik nicht gesprochen werden – schließlich sind Verstand und Sinnlichkeit „zwei ganz heterogene Stücke“⁵⁹⁰. Auch wenn Kant an anderer Stelle betont, dass „die Anschauung […] [die] Functionen des Denkens auf
Höffe 2003, S. 81. Gleichwohl sieht Höffe in seiner Darstellung keine Schwierigkeiten darin, von Vorstellungen „ohne Bewußtsein“ (Höffe 2003, S. 82) auszugehen. Refl. 4680, AA XVII, 664. Klemme 1996, S. 170. Vor dem Hintergrund dieses Zusammenhangs kann Klemmes Optimismus nicht geteilt werden, wonach „das Problem“ mit der „Einheit, die mit den Anschauungen gegeben ist, […] gelöst“ (Klemme 1996, S. 170) wäre, sobald klar ist, wie der Verstand diese Einheit mit der Einheit der Apperzeption identifiziert. Das trifft nämlich nur für die Einheit der formalen Anschauung zu. Klemme sieht dabei nicht das Problem mit der holistischen Struktur der reinen Anschauungen, die nach den Argumenten der Ästhetik gerade nicht synthetisch hervorgebracht werden kann. Ähnlich problematisch ist dieser Zusammenhang auch beispielsweise bei Höffe 2003, S. 140 und auch schon bei Krüger 1967, S. 280 ff. AA V, 401.
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keine Weise“⁵⁹¹ benötigt, weil wir sie als Anschauung erfolgreich isoliert betrachten können und sie somit selbstständig ist, zeigen die angeführten Stellen, dass zur Gegenstandskonstituierung die Bestimmung der Anschauung durch den Verstand, wodurch die Vorstellung einer objektiven Einheit im Selbstbewusstsein möglich wird, erfolgen muss. Die Konstituierung einer objektiven Einheit im Selbstbewusstsein ist somit von der kategorialen Synthesis abhängig, denn – wie bereits erwähnt – gilt: Die abgeleitete „analytische Einheit der Apperception ist nur unter der Voraussetzung irgend einer synthetischen möglich“⁵⁹². Gleichwohl soll diese ursprünglich synthetisierende Einheit als eine Einheit „vor allen Begriffen“ bzw. als eine qualitative Einheit bereits transzendentallogisch vorhergehen und somit den Kategorien zu Grunde liegen. Sie geht jeder Verstandesaktivität transzendentallogisch voraus, da sie systematisch der erste Ausgangspunkt ist. Im Hinblick auf die ursprüngliche „Einheit der Apperception“ hält Kant fest: „Diese Einheit, die a priori vor allen Begriffen der Verbindung vorhergeht, ist nicht etwa jene Kategorie der Einheit […].“⁵⁹³ Hinsichtlich dieser Stelle merkt Hinsch kritisch an: „Es ist aber nicht ohne weiteres zu sehen, warum und in welchem Sinne im Begriff der Verbindung, durch die doch Einheit des Mannigfaltigen erst hervorgebracht werden soll, bereits Einheit vorausgesetzt ist.“⁵⁹⁴ Ferner konstatiert Mohr, dass die Schwierigkeit im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen subjektiver und objektiver Einheit des Bewußtseins „mitten in die höchst komplexe und vermutlich kaum völlig befriedigend auszulösende Problematik der Kantischen Bestimmung der transzendentalen Apperzeption als objektiver Einheit des Bewußtseins [führt], dergemäß verschiedene Vorstellungen in einen Begriff vom Objekt vereinigt und so kategorial auf einen Gegenstand bezogen werden“⁵⁹⁵. Trotz dieser Schwierigkeiten gilt es festzuhalten, dass Kant sich stellenweise zu der besonderen Einheit des Selbstbewusstseins äußert. Auf B131 führt Kant aus,
B123|A91. Vgl. ferner B132. B133. Den Unterschied zwischen der Synthesis, die sukzessiv vorgeht, und der Analysis, die vom Ganzen und nicht von den Teilen ausgeht, wiederholt Kant in seinem Logik-Handbuch. Vgl. AA IX, 63 f. Vor diesem Hintergrund versteht Kant die Analysis auch als Gegenoperation zur Synthesis: „[…] Analysis, die ihr Gegentheil [der Synthesis] zu sein scheint, [setzt] sie doch jederzeit voraus[] […].“ (B130). Prauss gibt zu Recht zu bedenken, dass streng genommen die Analysis nicht die Gegenoperation zur Synthesis sein kann, da ein holistisches Ganzes, wovon eine Analysis (zumindest bei einem Kontinuum) ausgehen kann, sich nicht durch die Synthesis wiederherstellen lässt. Das Produkt der Synthesis entspricht somit nicht dem Ausgangspunkt der Analysis. Damit können aber Analysis und Synthesis keine Operationen sein, die sich lediglich durch ihr Vorzeichen unterscheiden. Vgl. Prauss 2015, S. 137 ff. B131. Hinsch 1986, S. 21. Mohr 1991, S. 134.
2.2 Raum und Zeit als formale Anschauungen in der transzendentalen Analytik
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was er zuvor zunächst offenließ, nämlich welche besondere Art von Einheit es ist, die er mit einer vorkategorialen Einheit meint, und wo diese zu finden ist: Also müssen wir diese Einheit (als qualitative, § 12) noch höher suchen, nämlich in demjenigen, was selbst den Grund der Einheit verschiedener Begriffe in Urtheilen, mithin der Möglichkeit des Verstandes sogar in seinem logischen Gebrauche enthält.⁵⁹⁶
Dieser Grund ist dann die transzendentale Apperzeption, deren Einheit Kant auch die transzendentale Einheit des Selbstbewusstseins nennt.⁵⁹⁷ Weiterhin führt er
B132. Vgl. B132. Das reine Selbstbewusstsein der transzendentalen Apperzeption soll bloß das Subjekt als Intelligenz bzw. als bloßes Dasein bezeichnen. Die Apperzeption, die ein „Bewußtsein dessen [ist], was der Mensch thut“, ist nicht der innere Sinn, denn dieser ist ein Bewusstsein davon, „was er leidet“ (AA VII, 161). Die reine Apperzeption enthält „kein Mannigfaltiges in sich und ist […] [das] Förmliche des Bewußtseins“ (AA VII, 141). Der innere Sinn bietet dieses Mannigfaltige, wodurch das Subjekt als ein inneres Objekt erscheinen kann. Vgl. B156 Anm. Diese Unterscheidung zwischen reiner Apperzeption und innerem Sinn macht Kant besonders in der KRV deutlich. Vgl. B157 f. Anm. Zu den Interpretationsproblemen, die sich aus der Beziehung zwischen der Zwei-Welten Lehre und Kants Unterscheidung zwischen Apperzeption und innerem Sinn ergeben, siehe Allison 1983, S. 272– 293. Allison und Prauss vertreten eine Zwei-AspektenInterpretation, wonach die eine Welt sowohl auf einer philosophisch-reflexiven als auch auf einer empirisch-alltäglichen Ebene als Erscheinung oder Ding an sich selbst betrachtet werden kann. Es sind nur zwei Betrachtungsweisen einer numerisch identischen Welt.Vgl. Allison 1983, S. 237– 254; S. 272– 293, Prauss 1971, S. 15 – 25 und Prauss 1974, S. 44– 175. Vgl. ferner auch die zustimmende Kommentierung von Praussʼ Ansatz bei Parsons 1992, S. 89 f. Dagegen vertritt beispielsweise Guyer eine Zwei-Welten-Interpretation, die beide Sphären ontisch unterscheidet und eine numerische Differenz zwischen dem Erscheinungsgegenstand und dem Ding an sich vertritt. Vgl. Guyer 1987, S. 333 – 344. Siehe auch die gegenüber Praussʼ Ansatz kritische Auseinandersetzung bei Gerhardt / Kaulbach 1979, S. 42– 46 und ferner Engelhard 2014, S. 23 – 34. Wie Kühn richtig konstatiert, ist die Diskussion zu diesem Thema „sehr extensiv“ (Kühn 2012, S. 251 Anm.). Siehe zu dieser Diskussion den Überblick bei Willaschek 1997, S. 560 – 563 und auch die Gegenüberstellung beider Ansätze sowie die Entwicklung der beiden Interpretationsansätze bei Klemme 1996, S. 245 – 250 und in Bezug auf das Objektivitätsproblem Engelhard 2014, S. 23 – 30. Einen vermittelnden Ansatz schlägt Kühn vor. Er verweist vor dem Hintergrund der Themen in der transzendentalen Dialektik berechtigterweise darauf, dass „unsere Moralität (und Religion) der Hoffnung auf eine andere Welt bedarf“ (Kühn 2012, S. 253) – zumindest nach Kants Postulaten in der KPV. Vgl. AA V, 101. Vor diesem Hintergrund muss nach Kühn die „Zwei-Welten-Theorie ernster genommen werden […], als Prauss, Allison“ und andere dies getan haben. In Anbetracht der Argumente der Interpreten, die eine Zwei-Aspekten-Interpretation stark machen, behauptet Kühn: „Kants Lehre von zwei Standpunkten ist letztlich auf der Zwei-Welten-Theorie gegründet. Wir können zwei Standpunkte annehmen, weil wir zwei Welten angehören.“ (Kühn 2012, S. 252). Ein solcher Ansatz kann somit die Argumente beider Seiten inkludieren. Siehe im Ansatz auch schon bei Willaschek 1998, S. 349 f. Auch Unruh stellt vor dem Hintergrund der „zahlreichen Bedeutungen des Begriffs des Dinges an sich“ fest, dass „all die genannten Auslegungen sehr wohl ihr
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aus: „Und so ist die synthetische Einheit der Apperception der höchste Punkt, an dem man allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik und nach ihr die Transscendental-Philosophie heften muß, ja dieses Vermögen ist der Verstand selbst.“⁵⁹⁸ Als höchster Punkt ist die Apperzeption eine Voraussetzung des Gebrauchs des kategorialen Verstandes: „Die Synthesis der Vorstellungen beruht auf der Einbildungskraft, die synthetische Einheit derselben aber (die zum Urtheile erforderlich ist) auf der Einheit der Apperception.“⁵⁹⁹ Die „Einheit des Bewußtseins“ ist es, „worauf […] selbst die Möglichkeit des Verstandes beruht“⁶⁰⁰. Es muss also eine vorkategoriale und vorgegenständliche Einheit sein, die der Wahrnehmung und der Erfahrung transzendentallogisch vorhergeht. Entsprechend konstatiert auch Simon: Soll solche Einheit [eines Urteils], d. h. begriffliche Erkenntnis bewirkt werden können, dann dürfen Urteile nur auf das ihnen gegenüber äußere Auseinander angewendet werden. Einheit muß also auch in ihnen selbst und gegen das Auseinander ihrer eigenen Form bestimmend bleiben. Sie dürfen nicht auf das urteilende Subjekt oder das Denken selbst angewendet werden. Dieses muß dunkel, unerkannt als Vermögen zu Urteilen vorausgesetzt bleiben, als ,qualitative Einheitʻ. Da ,Einheitʻ zu den quantitativen Kategorien gehört, soll der Ausdruck ,qualitative Einheitʻ den Gedanken abwehren, mit dem Begriff ,Einheitʻ sei schon eine quantitative Aussage gemacht und das, was Einheit sein soll, schon dem quantitativen Auseinander zumindest in der Problemstellung ausgesetzt.⁶⁰¹
Daher spricht Simon stellenweise statt von synthetischer Apperzeption präziser von einer „Apperzeption, die seine Synthesis bewirkt“⁶⁰². Dieses Bedingungsverhältnis zwischen Selbstbewusstsein und Synthesis wird deutlicher im Kapitel über die Paralogismen der reinen Vernunft in der A-Auflage ausgedrückt: Die Apperception ist selbst der Grund der Möglichkeit der Kategorien […]. Daher ist das Selbstbewußtsein überhaupt die Vorstellung desjenigen, was die Bedingung aller Einheit und doch selbst unbedingt ist. […] Man kann daher von dem denkenden Ich […] sagen: daß
Recht für sich beanspruchen können“ (Unruh 2007, S. 324). Unruhs Vorschlag, das Noumenon in positiver Bedeutung für das Praktische einzugrenzen, überzeugt aber nicht, da die Dialektik auch ein offensichtlich theoretisches Problem behandelt: Schließlich lässt sich nichts praktisch sinnvoll postulieren, woran es zu glauben gilt, wenn es theoretisch unmöglich ist.Vgl. Unruh 2007, S. 325 f. Vgl. hierzu auch Kapitel 2.1.6. B134 Anm. B194. B137. Simon 1969, S. 65 f. Simon 1969, S. 69.
2.2 Raum und Zeit als formale Anschauungen in der transzendentalen Analytik
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es nicht sowohl sich selbst durch die Kategorien, sondern die Kategorien, und durch sie alle Gegenstände in der absoluten Einheit der Apperception, mithin durch sich selbst erkennt.⁶⁰³
Die qualitative Einheit der Apperzeption ist als Ausgangspunkt jeglicher Selbstentfaltung somit als höchster Punkt der Transzendentalphilosophie unbedingt und absolut.⁶⁰⁴ Im obigen Zitat verweist Kant zum Verständnis dieser vorbegrifflichen, qualitativen Einheit des Selbstbewusstseins zudem auf § 12. Dort versucht er, diese eigentümliche Einheitsstruktur an einem Beispiel zu erklären: Er schreibt, dass eine „qualitative Einheit“ eine „Einheit der Zusammenfassung des Mannigfaltigen“ darstellt, „wie etwa die Einheit des Thema[s] in einem Schauspiel, einer Rede, einer Fabel“⁶⁰⁵. Kant verweist hier offensichtlich auf die Ganzheit eines Sinnzusammenhangs, um klar zu machen, dass eine qualitative Einheit eine Ganzheit darstellt, bei der ein Teil nicht ohne das Ganze verstanden werden kann. Im Gegensatz zur quantitativen bzw. sukzessiv zusammengesetzten Einheit geht hier das Ganze den Teilen voraus. Beispielsweise lässt sich der Teil
A401 f. Die transzendentale Apperzeption ist daher transzendentalphilosophisch nicht weiter hintergehbar. Dies scheint Kant stellenweise auch der Sinnlichkeit vorzubehalten, was neben der qualitativen Struktur eine weitere Gemeinsamkeit darstellt: „Wie aber diese eigenthümliche Eigenschaft unserer Sinnlichkeit selbst, oder die unseres Verstandes und der ihm und allem Denken zum Grunde liegenden nothwendigen Apperception möglich sei, läßt sich nicht weiter auflösen und beantworten, weil wir ihrer zu aller Beantwortung und zu allem Denken der Gegenstände immer wieder nöthig haben.“ (AA IV, 318). Vgl. ferner Refl. 5041, AA XVIII, 70. Damit stellen Verstand und Sinnlichkeit die zwei Stämme unserer Erkenntnis dar, deren Wurzel für Kant nicht zugänglich ist: „Nur so viel scheint zur Einleitung oder Vorerinnerung, nöthig zu sein, daß es zwei Stämme der menschlichen Erkenntniß gebe, die vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel entspringen, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, durch deren ersteren uns Gegenstände gegeben, durch den zweiten aber gedacht werden.“ (B29|A15). Im Hinblick auf diese Stelle hält Vaihinger fest, dass es sich zwar „bloss um eine vage Vermuthung [handelt], dass Sinnl. und Verstand eine gemeinschaftliche Abstammung haben – dass aber diese Stelle hier, […] eine monistische Tendenz Ks. überh. verrathe, ist unleugbar“ (Vaihinger 1922a, S. 488 (Hervorhebung aufgehoben)). Gleichwohl betont Gloy, dass Kant trotz dieser Betonung des transzendentalen Selbstbewusstseins keine ausführliche Auseinandersetzung liefert: „[Kants] Interesse am Selbstbewußtsein [erstreckt sich] nur so weit […], wie dasselbe zur Errichtung seines Lehrgebäudes dient, nicht mehr aber bezieht sich sein Interesse auf eine strukturelle Analyse als solche. Zudem kommt die dem Selbstbewußtsein zugeschriebene fundamentale Rolle in der methodischen Darstellung des K.d.r.V. überhaupt nicht zum Tragen.“ (Gloy 1990, S. 115). Genauso schnell wie Kant zum höchsten Punkt aufsteigt, genauso schnell steigt er von diesem wieder ab. Gloy spricht daher von einer übereilten „Zickzackbewegung“ (Gloy 1990, S. 116) bei Kant. Vgl. hierzu die weiterführenden Ausführungen im Zusammenhang mit dem Opus postumum in Kapitel 3.2.2. B114.
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einer Rede, einer Argumentation oder einer Geschichte nicht vernünftig erschließen, ohne das Ganze, in das dieser Teil eingebettet ist, zu kennen und zu berücksichtigen.⁶⁰⁶ Dieses holistische Modell einer qualitativen Einheit, in der kein Teil ohne das Ganze verstanden werden kann, soll – wie im Kapitel 2.1 gesehen – nach der Ästhetik auch für die Einheit von Raum und Zeit charakteristisch sein, da Teile „nur durch Einschränkungen […] möglich“⁶⁰⁷ sind und nicht der Einheit vorhergehen.⁶⁰⁸ Denn genauso wie beim Schauspiel würde auch bei raumzeitlichen Verhältnissen der Zusammenhang verloren gehen, wenn das Subjekt das Vorherige „immer aus den Gedanken verlieren“⁶⁰⁹ würde, wie im letzten Kapitel bereits ausgeführt wurde. Vor dem Hintergrund der Unterscheidung von qualitativer und quantitativer Einheit und der Parallelen zwischen der Einheit der sinnlichen Formen und der geforderten vorkategorialen und qualitativen Einheit des formalen Selbstbewusstseins ist es – wie auch Hinsch meint – prima facie naheliegend, „eine Begründung der Einheit von Raum und Zeit im Rückgang auf das Apperzeptionsprinzip zu versuchen“⁶¹⁰ bzw. das begleitende Ich denke mit der Einheitsqualität von Raum und Zeit zu identifizieren. Dies gilt umso mehr, da Kant die Zeit zwar nicht als Form der Apperzeption, aber zumindest als Form des inneren Sinns versteht, der schließlich auch mit der „Einheit der Apperception […] correspondirt“⁶¹¹. Beide Strukturen beschreiben ferner qualitative Einheiten in einem holistischen Sinne. Kant betont immer wieder die Bedeutung der transzendentalen Apperzeption für seine Systematik und spricht an einer Stelle in der A-Auflage sogar von ihr als „Bedingung aller Einheit“⁶¹². Als höchster Punkt der Transzendentalphilosophie und Bedingung aller Einheit müsste sie somit auch die sinnliche Einheit der kontinuierlichen Formen Raum und Zeit
Zur veranschaulichenden Erläuterung hierzu siehe Wachter 2006, S. 215 ff. B47 f.|A32. Vgl. B130 f. und beispielsweise das vierte und fünfte Zeitargument. Auf diese Gemeinsamkeit zwischen transzendentalem Selbstbewusstsein und den reinen Anschauungsformen macht auch Dörflinger aufmerksam. Vgl. Dörflinger 2002, S. 18 – 29. A102. Hinsch 1968, S. 97. B185|A145. Das Begleiten des Ich denke dürfte dann – entgegen Kants eigener Worte – nicht nur möglich, sondern durchgehend wirklich sein: „Es [das Ich denke] muß, wenn der Einheitszusammenhang des Bewußtseins gewährleistet sein soll, immer vorliegen, nicht nur vorliegen können.“ (Gloy 1990, S. 120). Mohr konstatiert, dass bezüglich der Frage, „ob eine Vorstellung begleitet werden muß oder begleitet werden können muß, damit sie etwas ‚für mich‘ ist, […] nach wie vor Uneinigkeit in der Kant-Literatur [besteht]“ (Mohr 1991, S. 123 Anm.). Zum problematischen Verhältnis zwischen innerem Sinn und Apperzeption siehe ferner Mohr 1991, S. 171 ff. und auch Anmerkung 597 im hiesigen Kapitel 2. A401.
2.2 Raum und Zeit als formale Anschauungen in der transzendentalen Analytik
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betreffen. In der B-Auflage scheint Kant diesen Ansatz stellenweise auch anzudeuten: Dagegen steht die reine Form der Anschauung in der Zeit, bloß als Anschauung überhaupt, die ein gegebenes Mannigfaltiges enthält, unter der ursprünglichen Einheit des Bewusstseins lediglich durch die nothwendige Beziehung des Mannigfaltigen der Anschauung zum Einen: Ich denke, also durch die reine Synthesis des Verstandes […].⁶¹³
Dörflinger kommentiert die Bezogenheit des synthetischen Selbstbewusstseins auf das Mannigfaltige der Anschauung wie folgt: Das kann nun bei einem doch als ursprünglich beizubehaltenden ʻIch denkeʼ nicht bedeuten, daß aus vorausgesetzter Anschauung erklärt werden könnte, wie daraus Selbstbewußtsein ermöglicht sein sollte, sondern wird umgekehrt bedeuten müssen, daß das ursprüngliche Selbstbewußtsein gleichursprünglich ein sich auf Anschauung hin erweiterndes denkendes Ich zu sein hat, d. h. ein sich Anschauung eröffnendes Denken, wobei diese Eröffnung also im Verständnis eines eigenursprünglichen Richtungsnehmens aus sich hinaus mit einem darin projektierten Gegenüber zu sich selbst als denkendem Ich zu nehmen ist.⁶¹⁴
Natterer spricht in Anbetracht dieses Zusammenhangs von einer „gemeinsamen Wurzel von Einheit der Anschauung und ursprünglich-synthetischer Einheit der Apperzeption“⁶¹⁵. Und auch Riehl schlägt vor: „Die Vorstellung der Stetigkeit ist aus der Permanenz des Bewußtseins in der Auffassung des Nacheinander abzuleiten.“⁶¹⁶ Tatsächlich gehen Reflexionen Kants aus der Mitte der siebziger Jahre und vor der Veröffentlichung der ersten Auflage der KRV genau in diese Richtung. Brandt arbeitet heraus, dass Kant vor der Veröffentlichung der KRV an eine umfangreiche Fundierung der Anschauungs- und Denkformen in der transzendentalen Apperzeption als Ableitungsgrund glaubt: „Das Ich ist in der Mitte der siebziger Jahre nicht bloße Form der Einheit wie 1781, sondern begründet diese substantiell.“⁶¹⁷ In den Vorarbeiten zur KRV heißt es in einer Reflexion: Der Raum „ist eine einzelne Vorstellung wegen der Einheit des Subiekts […]“⁶¹⁸. In einer anderen Reflexion ist Folgendes zu lesen: „[Die reine Anschauung] ist nichts
B140. Vgl. ferner B157 f. Anm. Darüber hinaus spricht Kant noch in der A-Auflage von „einer allbefassenden reinen Apperception“ (A123). Als allbefassend wurde der Raum im dritten BRaumargument der Ästhetik aufgrund der Tatsache, dass er ein holistisches Kontinuum darstellt, bezeichnet. Vgl. hierzu Kapitel 2.1.4. Dörflinger 2002, S. 21. Natterer 2003, S. 151. Riehl 1925, S. 156. Brandt 1991a, S. 107. Refl. 4673, AA XVII, 638.
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anders als das Bewustseyn seiner eignen receptivitaet […].“⁶¹⁹ Wenig später heißt es ferner: „Der Raum ist Einig, weil er die Form der Vorstellungen […] in einem einigen Subiekt ist.“⁶²⁰ Auch die Sinnlichkeit muss demnach systematisch ans Subjekt gebunden bleiben; andernfalls droht dieser Erkenntnisstamm seine Verwurzelung im Subjekt zu verlieren. Schließlich soll gelten, dass das „Ich, als denkendes Wesen, […] mit mir, als Sinnenwesen, ein und dasselbe Subject“⁶²¹ ausmacht.Wie in Kapitel 2.2.1 gesehen, bietet die A-Auflage einige Stellen, wonach Raum und Zeit ursprünglich erzeugte Formen darstellen könnten, was Vertretern, die dem Synthesis Reading zuzuordnen sind, Auftrieb bei der Interpretation der Anmerkung B160 f. verleiten dürfte. Darüber hinaus schreibt Kant in der B-Auflage, dass es das „Subject“ ist, „in welchem die Vorstellung der Zeit ursprünglich ihren Grund hat“⁶²², und dass die Form der Anschauung nichts anderes darstellt als die Art, „wie das Gemüth durch eigene Thätigkeit, nämlich dieses Setzen seiner Vorstellung, […] sich selbst afficiert“⁶²³. Sogar in seiner späteren Streitschrift spricht Kant noch in Anlehnung an seine Formulierungen aus De mundi von der Raumvorstellung als eine „ursprünglich erworbenen Vorstellung“⁶²⁴. Weder Raum noch Zeit nimmt „unser Erkenntnißvermögen von den Objecten, als in ihnen an sich selbst gegeben, her, sondern bringt sie aus sich selbst a priori zu Stande“⁶²⁵. In der Streitschrift scheint Kant – wie stellenweise schon in der KRV – seine Unterscheidung zwischen Form der Anschauung und formaler Anschauung aus der Anmerkung B160 f. zu ignorieren. Explizit heißt es: So entspringt die formale Anschauung, die man Raum nennt, als ursprünglich erworbene Vorstellung (der Form äußerer Gegenstände überhaupt), deren Grund gleichwohl (als bloße Receptivität) angeboren ist, und deren Erwerbung lange vor dem bestimmten Begriffe von Dingen, die dieser Form gemäß sind, vorhergeht […].⁶²⁶
Refl. 4673, AA XVII, 639. Refl. 4673, AA XVII, 641. AA VII, 142. B422. B67 f. AA VIII, 222. AA VIII, 221. AA VIII, 222. Zum Konzept der ursprünglichen Erwerbung, das Kant von den „Lehrer[n] des Naturrechts“ (AA VIII, 221) entlehnt, führt Kant mit Blick auf die Praxis in MDS Folgendes aus: „Eine Erwerbung aber ist ursprünglich diejenige, welche nicht von dem Seinen eines Anderen abgeleitet ist.“ (AA VI, 258). Durch die ursprüngliche Erwerbung gelangt das Subjekt in Besitz von etwas, „was vorher gar noch nicht existirt“ (AA VIII, 221). Bei einer ursprünglichen Erwerbung geht mit der Erwerbung somit die Erzeugung des Erworbenen einher, wie beispielsweise beim Zimmern eines Tisches (ursprünglichem Erwerben) durch einen Tischler im Unterschied zum
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Kemp Smith sieht diese Ausführungen aus der Streitschrift von 1790, die sich mit den Ausführungen aus De mundi decken, in einem Spannungsverhältnis mit der dazwischenliegenden KRV. ⁶²⁷ Nach Brandt korrigiert Kant mit der B-Auflage seine Position, wodurch die Formen nunmehr als nicht ableitbare Gegebenheiten betrachtet werden: „Das Ich wird depotenziert, und die Formen der Anschauung und des Denkens werden für sich entwickelt, bevor sie in der transzendentalen Deduktion als Ich-Leistungen (wenigstens im Hinblick auf ihre Einheit, nicht das Gegebensein als solches) aufgenommen und aufeinander bezogen werden.“⁶²⁸ Als Leitfaden zur Entdeckung der Kategorien gilt ausschließlich die Urteilstafel, wodurch Brandt zum abschließenden Fazit gelangt: Nicht das Ich, sondern das als Einheit erwiesene Urteil ist bei Kant die ratio cognoscendi der Titel und Momente, die alle Verstandeshandlungen überhaupt darstellen; die ratio essendi dieser Form ist dem Menschen ebenso entzogen wie die ratio essendi der Raum- und Zeitanschauung; die transzendentale Apperzeption kann jedoch post festum und für uns erkennbar die Einheitsleistung beanspruchen, weil sie ein Monopol apriori auf Einheitsleistung überhaupt besitzt; in der Version von 1781 ist sie nichts anderes.⁶²⁹
Aufgrund der Problematik, dass die Gültigkeit der Denkformen bereits vorausgesetzt werden muss, um über einen Herleitungsversuch zu reflektieren, steht Brandt solchen Versuchen, entgegen der Interpretation von Reich, der entsprechende Fundierungsversuche nicht erst bei Fichte und dem Deutschen Idealismus, sondern schon bei Kant selbst rekonstruieren möchte, prinzipiell skeptisch gegenüber. Ein solches Vorhaben bezeichnet er daher als „Münchhausen-Versuch“⁶³⁰. Anders bewertet dagegen Messina Kants Herleitungsversuche aus den siebziger Jahren. Für ihn sind die Stellen aus den Reflexionen zu den Vorarbeiten der KRV ein Argument gegen jeden Interpretationsweg, der Raum und Zeit als bloß gegebene Formen in der KRV verstehen möchte. Stattdessen legitimieren nach Messina diese Stellen ein Verständnis, wonach auch die ursprünglichen Formen der Anschauung ein Produkt der spontanen Tätigkeit der synthetischen Apperzeption sein sollen.⁶³¹ Wie alle Interpretationen, die dem Ansatz eines Synthesis Reading darin folgen, die ursprünglichen Anschauungsformen als Produkte eines Synthesisaktes zu verstehen, läuft auch dieser Ansatz Gefahr, der holistischen
Kaufen eines Tisches (nicht ursprünglichem Erwerben) bei einem Händler. Vgl. hierzu die Ausführungen in Prauss 1990, S.191 ff. Vgl. Kemp Smith 1923, S. 92 f. Brandt 1991a, S. 107. Brandt 1991a, S. 116. Vgl. hierzu auch Brandt 1991a, S. 85 f. Brandt 1991a, S. 40. Vgl. Messina 2014, S. 38 ff.
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Struktur von Raum und Zeit bei Kant nicht gerecht zu werden. Ferner bleibt bei dieser Interpretation unklar, wieso Kants Formulierungen in der KRV uneindeutiger sind als die Formulierungen in den Vorarbeiten, auf die sich Messina beruft.⁶³² Zwar gesteht Dörflinger angesichts dieser Problematik ein, dass Kants Fundierungsüberlegungen zumindest in der B-Auflage der KRV „keinen expliziten Niederschlag gefunden haben“⁶³³; dennoch sieht er in den frühen Überlegungen bereits den Ansatz, den Kant schließlich im Opus postumum zu einer grundsätzlichen Fundierung der Erkenntnisvermögen im transzendentalen Subjekt ausbaut. Im Opus postumum sieht Dörflinger schließlich den entscheidenden „Fortschritt in Kants Reflexionen über den Raum“ und somit eine „Entwicklung hin zu einem angemesseneren Verständnis jenes Formalen der Sinnlichkeit des Erkenntnisvermögens“⁶³⁴. Die Diskussion um die Bewertung dieser Reflexionen Kants zeigt, dass eine weitergehende Auseinandersetzung mit Kants Nachlass im Opus postumum wichtig sein wird, um diese Diskussion bewerten zu können und um das systematische Verhältnis zwischen Selbstbewusstsein, Raum und Zeit weiter zu ergründen. Immerhin geht Kant im Opus postumum mit seiner späten Lehre von der „Setzung seiner selbst“⁶³⁵ das Problem noch einmal grundlegend an, indem er weitreichende Gedanken zur Frage entwickelt, wie sich das Subjekt selbst ursprünglich konstituiert. Es ist daher nachvollziehbar, wenn Heidemann angesichts der Problematik von Raum und Zeit im Zusammenhang mit der Heterogenitätsthese der Erkenntnisvermögen zugesteht: „Erst ein vom Text der Kritik der reinen Vernunft abgelöstes Weiterdenken kann die Frage aufwerfen, ob nicht der Zeit Aktivität zukomme.“⁶³⁶ Bevor diese Problematik in Kants Entwicklung bzw. im Opus postumum weiterverfolgt werden kann, wird aber noch über eine dritte Ebene der kantischen Lehre von Raum und Zeit zu sprechen sein, die sich in der transzendentalen Dialektik offenbart. Ferner wird dadurch ein Zusammenhang mit dem Problem der transzendenten Kosmologie aus De mundi entstehen, das sich im bereits zitierten Brief von 1772 niederschlägt.
Vgl. Messina 2014, S.36. Dörflinger 2002, S. 26. Dörflinger 2002, S. 11. Vgl. Näheres hierzu in Kapitel 3.2. AA XXII, 418. Heidemann, I. 1958, S. 152. Vgl. Näheres hierzu in Kapitel 3.2.
2.3 Raum und Zeit als Ideen der Vernunft in der transzendentalen Dialektik
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2.3 Raum und Zeit als Ideen der Vernunft in der transzendentalen Dialektik 2.3.1 Raum und Zeit als falsch verstandene konstitutive Ideen Al-Azm betont: „No account of Kantʼs philosophy of time can be considered adequate without some discussion of the first antinomy of pure reason.“⁶³⁷ Dieser Hinweis gilt natürlich entsprechend auch für den Raum. Innerhalb einer Auseinandersetzung mit Kants Raum- und Zeitkonzeption ist es nämlich wichtig, sich mit der transzendentalen Dialektik auseinanderzusetzen. Zum einen wird sich dies ex post facto dadurch rechtfertigen lassen, dass damit eine neue Ebene der Konzeption erschlossen werden kann. Zum anderen betont auch Kant selbst, dass die Dialektik „die transscendentale Idealität der Erscheinungen“ und somit auch die Idealität von Raum und Zeit unabhängig von der konkreten Argumentation in der transzendentalen Ästhetik „indirect zu beweisen“ fähig ist. Daher kann Kant demjenigen Leser, der „an dem directen Beweise in der transscendentalen Ästhetik nicht genug hätte“⁶³⁸, nahelegen, sich in dieser Hinsicht auch mit der Dialektik zu beschäftigen. Indirekt soll die Beweisführung der Dialektik sein, weil sie zunächst nur zeigt, dass ein Raum- und Zeitverständnis, welches Raum und Zeit ein absolutes Sein an sich zuschreibt, sich in Widersprüche verstrickt. Erst die Beschränkung der Erkenntnis auf Erscheinungen und die Konzeption einer idealen Raum- und Zeittheorie heben diese Widersprüche auf und sollen indirekt die Richtigkeit der kantischen Konzeptionen beweisen.⁶³⁹ Indem Kant davon ausgeht, dass Raum und Zeit an sich bestehen, und indem er diese Annahme in einen Widerspruch führt, zeigt sich für ihn, dass die gegenteilige Annahme, nämlich dass Raum und Zeit nicht an sich bestehen, richtig sein muss. Dabei werden Raum und Zeit in erster Linie in der Kosmologie thematisiert.⁶⁴⁰ Die mathematischen Antinomien greifen bei den kosmologischen Ideen besonders auf Raum und Zeit zurück, da sie sich auf Reihen erstrecken, die im Gegensatz zu
Al-Azm 1967, S. 71. B534|A506. Vgl. B534|A506. Siehe hierzu ferner die Ausführungen in Kapitel 2.1.6. Bezüglich der Paralogismen der reinen Vernunft siehe bereits weiter oben in Kapitel 2.2.4. Einen ersten Forschungsüberblick zum Paralogismuskapitel und den Unterschieden in den beiden Auflagen liefert Sturma 1998, S391 ff. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Paralogismuskapitel liefert Ameriks Monographie zu diesem Abschnitt der KRV. Siehe Ameriks 2000.
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den dynamischen Antinomien eine Synthesis des Gleichartigen vorstellen.⁶⁴¹ Da „die Vernunft eigentlich gar keinen Begriff erzeuge, sondern allenfalls nur den Verstandesbegriff von den unvermeidlichen Einschränkungen einer möglichen Erfahrung frei mach[e]“, sind die kosmologischen Ideen insgesamt nichts weiter „als bis zum Unbedingten erweiterte Kategorien“⁶⁴². Diese Freimachung von Einschränkungen der möglichen Erfahrung betrifft jedoch insbesondere auch die Vorstellungen von Raum und Zeit, denn die Anmaßung der reinen Verstandesbegriffe in ihrer transzendenten Verwendung führt dazu, dass sie „auch jenen Begriff des Raumes zweideutig machen, dadurch daß sie ihn über die Bedingungen der sinnlichen Anschauung zu gebrauchen geneigt sind, weshalb auch oben von ihm eine transscendentale Deduction von nöthen war“⁶⁴³. Wenn ein Grund für die Erörterungen in der Ästhetik darin liegt, dass die Begriffe von Raum und Zeit Gefahr laufen, transzendent verwendet zu werden, dann ist damit zugleich die Notwendigkeit eröffnet, Raum und Zeit als transzendente Konzepte in der Dialektik zu diskutieren bzw. im kantischen Sinne zu kritisieren. Nach Wohlfart lässt sich somit zunächst festhalten, dass das „Verfolgen des Problems reiner Anschauung unendlicher gegebener Größen […] auf das Feld der Ideen“⁶⁴⁴ führt. Auch Heinrich sieht eine Notwendigkeit darin, Kants Raum- und Zeitkonzept im Hinblick auf die Vernunftideen genauer zu untersuchen, und attestiert Wohlfart daher, auf der „richtigen Spur“⁶⁴⁵ zu sein. Und auch Unruh findet trotz seiner Kritik den Ansatz Wohlfarts „inspirierend[]“⁶⁴⁶. Bereits Marc-Wogau betont, dass der „Versuch, den Raum als reine unendliche Form mit der Idee gleichzustellen, […] nicht gänzlich grundlos zu sein [scheint]“ und daher auch „nicht ohne weiteres verworfen werden darf“⁶⁴⁷. Doch wie lassen sich vor dem Hintergrund dieser Einschätzungen Raum und Zeit als transzendente Konzepte oder Ideen verstehen? Hierzu geben Kants Äußerungen in der Dialektik Aufschluss: Da die Zeit „an sich selbst eine Reihe (und die formale Bedingung aller Reihen)“ ist, lässt sich in ihr „in Ansehung einer gegebenen Gegenwart“ zwischen dem „Vergangene[n]“ und „dem Künftigen […] unterscheiden“. Die Reihe wird durch die Vernunft zu Ende gedacht: „Es wird nach der Idee der Vernunft die ganze verlaufene
Vgl. hierzu B558 f.|A529 f. Gegenüber der Ungleichartigkeit von Ursache und Wirkung in einer dynamischen Reihe sieht Kant eine rein zeitliche Reihe von Augenblicken als eine Reihe von Gleichartigem an. Vgl. B558 f.|A529 f. B435 f.|A409. B121|A88. Wohlfart 1980, S. 152. Heinrich 1986, S. 211. Unruh 2007, S. 235 Anm. Marc-Wogau 1932, S. 212.
2.3 Raum und Zeit als Ideen der Vernunft in der transzendentalen Dialektik
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Zeit als Bedingung des gegebenen Augenblicks nothwendig als gegeben gedacht.“⁶⁴⁸ Die Vernunft denkt die durch den Schematismus erzeugte objektive früher-später-Relation der Erfahrung in beide Richtungen ins Unbedingte weiter, wodurch aus einzelnen zeitlichen Relationen eine globale Zeitvorstellung als Idee entsteht. Wie schon in der Analytik ist auch hier in der Dialektik das Verhältnis zwischen Raum und Zeit wichtig, da den obigen Zitaten folgend der Raum nur durch die Zeit als Reihe betrachtet werden kann. Damit erweist sich sowohl der objektive Raum eines Gegenstands (im Hinblick auf den Schematismus) als auch die entsprechende kosmologische Raumidee als von zeitlichen Vorstellungen abhängig. Auch hier funktioniert also der Ausgriff auf den Raum über den Rückgriff auf die Zeit. Dadurch, dass wir den Raum „apprehendiren“, indem wir die „mannigfaltigen Theile des Raumes“ sukzessiv in der Zeit synthetisieren, „enthält [er] eine Reihe“⁶⁴⁹. Damit lässt sich schließlich sagen: „[…] [D]ie transscendentale Idee der absoluten Totalität der Synthesis in der Reihe der Bedingungen trifft auch den Raum, und ich kann eben sowohl nach der absoluten Totalität der Erscheinung im Raume, als der in der verflossenen Zeit, fragen.“⁶⁵⁰ Die Beantwortung dieses Fragens führt zum „dialektischen Kampfplatz“⁶⁵¹ und mündet bekanntermaßen in einen „Widerstreit der transscendentalen Ideen“ bzw. der ersten „Antinomie der reinen Vernunft“. Kant will mit der ersten Antinomie zeigen, dass sowohl die eine Antwort, wonach die Welt „einen Anfang in der Zeit“ habe und dem Raum nach „in Grenzen eingeschlossen“ sei, als auch die gegenteilige Antwort, wonach die Welt „keinen Anfang, und keine Grenzen im Raume [habe], sondern […] unendlich“⁶⁵² sei, bewiesen werden können, sodass sich beide Behauptungen letztlich als falsch erweisen sollen. Was Kant hier also verfolgt, ist in beiden Fällen letztlich ein Widerspruchsbeweis. Die Beweisführung für die These geht zunächst von der Annahme aus, dass die Welt keinen Anfang in der Zeit habe. Dies impliziert nach Kants zu kritisierender Idee einer Zeit an sich, dass zu jedem Zeitpunkt „eine Ewigkeit abgelaufen“ sein muss. Eine unendliche Reihe kann aber nicht synthetisiert und somit nicht konkret vorgestellt werden,
B438 f.|A411 f. B439|A412.Vor diesem Hintergrund schreibt Kant metaphorisch, dass Raum und Zeit fließen: „Erzeugung des raumes durch Bewegung, weil er continuirlich ist. Die Zeit und Raum sind fließend.“ (Refl. 40, AA XIV, 131). Während die erste Antinomie sowohl die Zeit als auch den Raum in den Blick nimmt, konzentriert sich die zweite Antinomie (bzw. die dazugehörige Anmerkung) auf den Raum. Die Zeit spielt am Ende der Anmerkung nur eine Nebenrolle. Vgl. hierzu Engelhard 2005, S. 82. B440|A413. B450|A422. B454 f.|A426 f.
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2 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der Kritik der reinen Vernunft
woraus sich ergeben soll, dass „eine unendliche verflossene Weltreihe unmöglich, mithin ein Anfang der Welt eine nothwendige Bedingung ihres Daseins [ist]; welches zuerst zu beweisen war“⁶⁵³. Entsprechend wird die Antithese bewiesen, indem zunächst angenommen wird, dass es einen Anfang in der Zeit gäbe. Dies impliziert wiederum, dass es eine Zeit vor allen Dingen gab, „d. i. eine leere Zeit“. In der leeren Zeit sind nach Kant jedoch keine Unterschiede auszumachen, da alle Teile äquivalent zueinander sind, sodass in ihr „kein Entstehen irgend eines Dinges möglich“ ist: „Also kann zwar in der Welt manche Reihe der Dinge anfangen, die Welt selbst aber kann keinen Anfang haben, und ist also in Ansehung der vergangenen Zeit unendlich.“⁶⁵⁴ Somit wird die erste kosmologische Idee durch den Rückgriff auf „die zwei ursprünglichen Quanta aller unserer Anschauung“ und „nach der Tafel der Kategorien“ als erster Bestandteil der „Tafel der Ideen“⁶⁵⁵ eingerichtet. Hier geht es um die Frage, ob die Welt der Zeit und dem Raum nach unendlich ist oder nicht. Dabei gilt es hervorzuheben, dass „hier also Erscheinungen als gegeben betrachtet“ werden und es sich somit um eine „absolute Vollständigkeit“ in einem quantitativen Sinne handelt: „Der Begriff der Totalität ist in diesem Falle nicht anderes, als die Vorstellung der vollendeten Synthesis seiner Teile […] [die wir] wenigstens in der Idee fassen können.“⁶⁵⁶ Gefragt wird also nicht nach einer ursprünglichen Unendlichkeit von Raum und Zeit, denn diese ist zweifelsohne Bestandteil der transzendentalen Kennzeichen von Raum und Zeit in der transzendentalen Ästhetik. Stattdessen wird nach einer Unendlichkeit in Anbetracht der diskreten Zeit- und Raumreihen und somit in einem kosmologischen Kontext gefragt.⁶⁵⁷ An dieser Stelle ist es entscheidend zu B455|A427. B456.|A428. Vergleichbar argumentiert Kant bezüglich der Frage nach der Unendlichkeit des Raums. Der Unterschied liegt darin, dass Kant beim Raum nicht über das unmögliche Entstehen eines Dinges im leeren Raum argumentiert, sondern über die Unmöglichkeit einer Relation zu einem leeren Raum, der gar kein Gegenstand der Anschauung ist. Analog argumentiert Kant bezüglich der Frage nach der Endlichkeit des Raumes. Auch hier ist das zentrale Argumentationsmotiv die Endlichkeit des Synthesisprozesses. Vgl. B454|A426-B462|A434. B438|A411. B456 Anm.|A428 Anm. In der Kästner-Abhandlung wird dies besonders deutlich, da Kant hier den Vorwurf abwehrt, seine Dialektik würde einen unendlichen Raum, wie ihn die Ästhetik fordert, unmöglich machen. Vgl. AA XX, 417 ff. Damit ist für Kant klar, dass die Vorstellung einer ursprünglich kontinuierlichen Unendlichkeit von Raum und Zeit als reine Anschauungen auch inhaltlich von der transzendenten Vorstellung einer diskret gegebenen Unendlichkeit von Raum und Zeit als Ideen zu unterscheiden ist. Das Teil-Ganzes-Verhältnis ist bei Letzterem ein Anderes als bei Ersterem. Berücksichtigt man den elementaren Unterschied zwischen beiden Vorstellungen, ist Dörflingers Argumentation, wonach die regulativen Ideen letztlich vor dem Hintergrund der Ergebnisse aus der Ästhetik und Analytik „überflüssig“ (Dörflinger 2011, S. 113) seien, nicht ohne Weiteres
2.3 Raum und Zeit als Ideen der Vernunft in der transzendentalen Dialektik
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verstehen, dass die mathematischen Antinomien dadurch entstehen, dass Raum und Zeit widersprüchlicher Weise als an sich vorhandene Gegenstände der Erfahrungen vorausgesetzt werden: „[D]ie Falschheit der Voraussetzung [besteht] darin: daß, was sich widerspricht (nämlich Erscheinung als Sache an sich selbst), als vereinbar in einem Begriffe vorgestellt würde.“⁶⁵⁸ Doch die „Begrenzung der Welt durch einen leeren Raum oder eine vorhergehende leere Zeit“ ist nicht als Bestandteile der Erfahrung möglich, denn Raum und Zeit in diesem Sinne „sind nur Ideen“⁶⁵⁹. Da die zugrunde liegenden Ideen somit gar keine Gegenstände möglicher Erkenntnis darstellen, korrigiert Al-Azm, dass Kant streng genommen nicht von falschen Thesen in der Antinomie sprechen dürfte, sondern stattdessen von Thesen sprechen müsste, die letztlich keine Behauptung über unsere Erfahrungswirklichkeit aufstellen und somit irrelevant für die menschliche Erkenntnis sind, da diese auf die Erfahrung beschränkt ist: [S]trictly speaking Kant cannot infer that the two sides of the antinomy are false since he made it quite clear that neither pure reason nor experience can refute either of the two claims. It would be more accurate to infer that neither thesis nor antithesis is really making a genuine claim about appearances and that, therefore, the conflict between them is irrelevant since human knowledge is limited to appearances.⁶⁶⁰
nachvollziehbar. Riehl dagegen schreibt treffend: „Die falsche Unendlichkeit entsteht aus dem subjektiven Bemühen, das, was seiner Natur nach nicht zählbar ist, die Qualität der Größe, doch zählen, den Begriff des Diskreten auf den davon verschiedenen, ganz ungleichartigen des Kontinuums anwenden zu wollen. […] Wird […] die Kontinuität der Zeit und des Raumes nach innen hin zugestanden und zugleich begreiflich gemacht, so folgt daraus noch keineswegs die Möglichkeit einer unbegrenzten Fortsetzung beider oder ihre äußere Unendlichkeit, also eine unendliche Anzahl unterschiedener Akte und die unendliche Größe der Materie. Die letztere ist vielmehr unter der Annahme eines diskreten Aufbaues der Materie, nach der atomistischen Theorie, ausgeschlossen.“ (Riehl 1925, S. 213 f.). Schon Vaihinger thematisiert den vermeintlichen Widerspruch zwischen Ästhetik und Dialektik im Hinblick auf das Raumverständnis. Dabei gibt er kritisch zu bedenken, dass Kants Position, wonach der Raum ursprünglich eine Anschauung sein muss, nicht bedeutet, dass nicht auch „wohl ein Begriff von ihm gebildet werden“ (Vaihinger 1922b, S. 233) kann.Vor diesem Hintergrund ist Vaihinger gegenüber der Kritik von Marc-Wogau in Schutz zu nehmen. Vgl. Marc-Wogau 1932, S. 215. Zur Kritik an Vaihingers Vorstellung einer unbewussten Anschauungsform siehe jedoch die Ausführungen in Kapitel 2.2.5. Zum Verhältnis zwischen der transzendentalen Ästhetik und Dialektik im Hinblick auf die Frage nach der Unendlichkeit siehe ferner die Ausführungen zum letzten Raumargument in Kapitel 2.1.5. AA IV, 343. Al-Azm identifiziert These und Anti-These der ersten Antinomie mit den Positionen von Clarke und Leibniz.Vgl. hierzu Al-Azm 1968, S. 151 ff. Siehe ferner die Ausführungen im Einführungskapitel 0.4. AA IV, 342. Al-Azm 1967, S. 84.
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Wie in Kapitel 2.1.6 erörtert, ist es zwar grundsätzlich richtig, dass Kant die transzendenten Formen, von denen wir nichts wissen können, nicht ausschließen kann, doch die Antinomien sollen zeigen, dass die von Kant in der transzendentalen Ästhetik erörterte Vorstellung von Raum und Zeit nicht an sich selbst widerspruchsfrei gedacht werden kann. Schließlich zieht Kant seinen Beweis „aus der Sache Natur“⁶⁶¹. In Anbetracht dessen ist es folgerichtig, wenn Kant hier zu dem Schluss gelangt, dass sowohl These als auch Antithese falsch sind. Das schließt aber nicht aus, was grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden kann, nämlich dass es Strukturen und Formen unabhängig vom Subjekt geben kann. Darüber lässt sich im Bereich des Wissens nur in negativer Hinsicht sprechen. Dieser Zusammenhang betrifft nicht nur Raum und Zeit als reine Größen in der ersten Antinomie, sondern auch in der zweiten Antinomie, in der es um die Teilbarkeit der Materie geht.⁶⁶² B458|A430. Auch im Hinblick auf das transzendentale Ideal wird der Raum angesprochen: Sowohl Heinrich als schon Heidemann weisen auf eine strukturelle Nähe zwischen dem Raum und dem transzendentalen Ideal in der KRV hin. Vgl. Heinrich 1986, S. 210 – 232 und Heidemann, I. 1958, S. 66 – 80 und insbesondere S.72 Anm.Vgl. hierzu ferner bei Kant B605 ff.|A577 ff. Kant spricht hier davon, dass das transzendentale Ideal den „Inbegriff[] aller Realität“ ausdrückt, bei dem nicht „alle Prädicate […] unter sich, sondern […] in sich“ gedacht werden. Explizit vergleicht Kant den „Begriff der höchsten Realität“ mit dem Raum. Er führt aus, dass die Dinge diesen Begriff einschränken, „so wie alle Figuren nur verschiedene Arten, den unendlichen Raum einzuschränken“ (B605 ff.|A577 ff.) sind. Gleich darauf relativiert Kant diesen Vergleich jedoch wieder: „Die Ableitung aller anderen Möglichkeiten von diesem Urwesen wird daher, genau zu reden, auch nicht als eine Einschränkung seiner höchsten Realität und gleichsam als eine Theilung derselben angesehen werden können; denn alsdann würde das Urwesen als ein bloßes Aggregat von abgeleiteten Wesen angesehen werden, welches nach dem vorigen unmöglich ist, ob wir es gleich anfänglich, im ersten rohen Schattenrisse, so vorstellten.“ (B605|A577). Ausdrücklich betont Kant, dass das transzendentale Ideal kein „objective[s] Verhältniß eines wirklichen Gegenstandes zu andern Dingen, sondern der Idee zu Begriffen“ (B605|A577) bedeutet. In Bezug auf diese Stelle konstatiert Ferrari, dass Kant damit eine „klare Zurückweisung [gegenüber] jeder realistischen Konzeption“ (Ferrari 1998. S. 500) und somit auch gegenüber einem Spinozismus erteilt. Zu den Gründen, wieso Kant nicht direkt mit einer konsequenten Formulierung beginnt, um somit eine Relativierung im Nachhinein zu vermeiden, siehe Ferraris Unterscheidung zwischen der Perspektive einer gemeinen und der Perspektive einer kritischen Vernunft, aus denen heraus dieser Abschnitt der KRV formuliert wird. Vgl. Ferrari 1998, S. 500 ff. Für Hall ist ein regulatives Verständnis des transzendentalen Ideals zu schwach, um Kants Anspruch in der Dialektik gerecht zu werden. Vgl. Hall 2015, S. 55. Für ihn übernimmt Kants späte Äthertheorie im Opus postumum diese konstitutive Rolle des transzendentalen Ideals aus der KRV. Vgl. hierzu Hall 2015, S. 100. Kruck macht unabhängig von der Frage nach der Interpretation des Ideals bei Kant darauf aufmerksam, dass Kant diese Überlegung in Anlehnung an Leibniz formuliert. Vgl. Kruck 2011, S. 124 f. Vgl. hierzu auch die Beziehung zwischen Kants Gottesbegriff und dem Raum in der vorkritischen Phase in Kapitel 1.2.
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Die Auseinandersetzung mit der zweiten Antinomie zeigt, dass die Unendlichkeit von Raum und Zeit, die Kant in der Ästhetik anspricht, nicht im Sinne einer quantitativen Unendlichkeit der Materie bzw. als eine Unendlichkeit an sich selbst verstanden werden kann. Nach der transzendentalen Ästhetik gilt: „[D]ie Zeit macht nicht ein Maas von der Weltgröße, sondern das Gantze ihrer Zustände.“⁶⁶³ Mit der zweiten Antinomie versucht Kant zu zeigen, dass sich die Vernunft in Widersprüche verstrickt, sobald sie die Welt an sich als eine unendliche oder endliche Menge von Teilen bzw. als ein Aggregat versteht. Kant betont: „Alle Antinomien kommen daher, weil man das Unbedingte in der Sinnenwelt sucht.“⁶⁶⁴ In concreto wird mit der Thesis der zweiten Antinomie behauptet, dass „jede zusammengesetzte Substanz in der Welt […] aus einfachen Theilen“⁶⁶⁵ besteht, wohingegen mit der Antithesis behauptet wird, dass kein „zusammengesetztes Ding in der Welt […] aus einfachen Theilen“⁶⁶⁶ besteht. Dabei versucht Kant – wie schon bei der ersten Antinomie – zu zeigen, dass beide Thesen beweisbar sind, woraus schließlich ein Widerspruch der reinen Vernunft resultieren soll. Die Beweisführung für die Thesis geht zunächst von der entgegengesetzten Behauptung aus, dass Substanzen nicht aus einfachen Teilen bestünden, was nach Kant impliziert, dass bei der Aufhebung aller Zusammensetzung kein Teil übrig bliebe. Wenn aber nichts übrig bleibt, kann nach Kant auch keine Substanz mehr vorliegen. Dies widerspricht jedoch dem Ausgangspunkt, nämlich dass es Substanzen gibt, die ohne einfache Teile existieren können.⁶⁶⁷ Mit der Antithesis wird behauptet, dass es nichts Einfaches in der Welt gibt, und setzt hierfür ebenfalls zunächst die gegenteilige Behauptung an den Anfang. Würde die Welt demnach aus einfachen Teilen bestehen, dann müsste auch der Raum, in dem alle Zusammensetzung möglich ist, aus ebenso vielen Teilen bestehen. Im Raum ist jedoch alles zusammengesetzt. Jeder Inhalt wird – wie beispielsweise schon im dritten B-Raumargument erörtert – durch diese Form bedingt, wodurch „alles Reale, was einen Raum einnimmt, ein außerhalb einander befindliches Mannigfaltiges in sich faßt, mithin zusammengesetzt ist […]“⁶⁶⁸. Dies widerspricht allerdings der Behauptung vom Anfang.⁶⁶⁹ Die Frage nach der Einfachheit der Welt
Refl. 6417, AA XVIII, 710. Refl. 6418, AA XVIII, 710. B462|A434. B463|A435. Vgl. B462 ff.|A434 ff. B463|A435. Vgl. ferner Kapitel 2.1.4. Vgl.463 ff.|A435 ff. Es soll hier nicht weiter auf die Argumentationsstruktur der kosmologischen Antinomien und die damit zusammenhängenden Interpretationsfragen eingegangen werden. Dies wurde im Hinblick auf die zweite Antinomie umfangreich von Engelhard getan.
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entpuppt sich als eine falsch gestellte Frage, weil sie ein transzendentes Dingverständnis voraussetzt. Sie ist insofern nicht a priori beantwortbar, als dass lediglich die „Erfahrung“ zeigen kann, inwieweit Materie de facto teilbar ist: „Aber wie weit sich die transscendentale Theilung einer Erscheinung überhaupt erstrecke, ist gar keine Sache der Erfahrung […]“, denn diese ist nie für „schlechthin vollendet zu halten“⁶⁷⁰. Kant löst somit den Widerspruch der Thesen auf, und zwar durch einen Verweis auf die grundsätzliche Unendlichkeitsstruktur des Raums, wie sie bereits in der transzendentalen Ästhetik eingeführt wurde: „Die Theilbarkeit desselben [des Körpers] gründet sich auf die Theilbarkeit des Raumes, der die Möglichkeit des Körpers als eines ausgedehnten Ganzen ausmacht. Dieser ist also ins Unendliche theilbar, ohne doch darum aus unendlich viel Theilen zu bestehen.“⁶⁷¹ Obwohl der Widerspruch zwischen These und Antithese nach Kant dadurch zustande kommt, dass beide Thesen eine aktual unendliche Welt an sich annehmen, bedeutet das für Kant nicht gleichzeitig die Unmöglichkeit eines Begriffs vom aktual Unendlichen. Explizit heißt es in der KU: „Das gegebene Unendliche aber dennoch ohne Widerspruch auch nur denken zu können, dazu wird ein Vermögen, das selbst übersinnlich ist, im menschlichen Gemüthe erfordert.“⁶⁷² Ein „sich selbst widersprechender Begriff“ ist nur die Vorstellung einer „zusammengefaßte[n] Unendlichkeit“ als einem „Maßstab der Sinne“, weil mit dieser Vorstellung eine „absolute[] Totalität“ als ein „Progressus ohne Ende“⁶⁷³ gedacht wird, dessen konkrete Vorstellung mittels der Einbildungskraft unmöglich ist. Wäre ein widerspruchsfreier Begriff vom Unendlichen grundsätzlich unmöglich, wären die entsprechenden Ideen für sich selbst nicht einmal verständlich, und zwar ganz unabhängig davon, ob sie zu Widersprüchen untereinander führen oder nicht. Anders als in De mundi ist das aktual Unendliche in Sinne einer vorhandenen Menge (extensional unendlich) nicht nur unanschaulich, sondern auch begrifflich leer, da für Kant Gott als Argumentationshilfe aus der vorkritischen Phase mit seiner Restriktion der Erkenntnis auf die Sinnlichkeit nicht mehr zur
Siehe hierzu die ausführliche Darstellung der Argumentation der Antinomien – auch bezüglich des Unendlichkeitsbegriffs – bei Engelhard 2005, S. 158 – 234; S. 366 – 385. Vgl. ferner für einen ersten Forschungsüberblick Kreimendahl 1998, S. 442 ff. und die Kommentierung in Watkins 1998, S. 451– 464. Die obigen Ausführungen reichen aus, um zu zeigen, dass Kants Raum- und Zeitlehre eine neue Ebene in der Dialektik gewinnt, die nicht auf die bisher erörterten Ebenen aus Ästhetik und Analytik reduzierbar ist. B555|A527. B553|A525. AA V, 254. AA V, 255 (Hervorhebung von mir).
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Verfügung steht.⁶⁷⁴ Trotzdem bleibt die Idee einer aktualen Unendlichkeit zumindest denkbar. Kant versteht die Ideen in der Dialektik keineswegs als sinnlose Vernunftbegriffe, sondern als regulative Prinzipien eines „hypothetische[n] Vernunftgebrauch[s]“⁶⁷⁵, die eine systematische Einheit von Begriffen ermöglichen. Im allgemeineren Sinne heißt es gleich zu Beginn der Dialektik, dass die Ideen „nicht willkürlich erdichtet [sind], sondern durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben“ werden. Sie beziehen sich „nothwendiger Weise auf den ganzen Verstandesgebrauch“⁶⁷⁶. Schließlich betont Kant im Anhang zur Dialektik, dass man zwar nicht wissen könne, ob „die Beschaffenheit der Gegenstände […] zur systematischen Einheit bestimmt sei“⁶⁷⁷; die Vorstellung derselben diene dem erkennenden Subjekt aber als Orientierung, solange es die „Vernunfteinheit […]
Wie bereits in Anmerkung 166 im hiesigen Kapitel 2 angedeutet, sehen hier einige Autoren einen der entscheidenden Unterschiede zu De mundi. Röd weist gleichwohl darauf hin, dass Kant trotz seiner Überzeugung, dass das aktual Unendliche als compositum keine objektive Realität aufweist, die Möglichkeit, sich eine aktuale Unendlichkeit zumindest als Idee vorzustellen, nie ganz aufgegeben hat. Darüber hinaus meint Röd jedoch, Kant würde über die KRV hinausgehen, wenn er in der KU behauptet, man könne sich das aktual Unendliche widerspruchslos vorstellen. Vgl. Röd 1990, S. 503 f. Ähnlich sieht das auch schon Vaihinger, der diesbezüglich einen „üble[n] Widerspruch“ (Vaihinger 1922b, S. 260) bei Kant vermutet. Klemme betont dagegen zu Recht mit dem Verweis auf die entsprechende Stelle bei Kant, dass die „spekulative Vernunft [erst] in ihrem transscendentalen Gebrauche […] dialektisch“ (B805|A777) bzw. widersprüchlich ist, nicht aber bereits die Idee für sich selbst.Vgl. Klemme 1996, S. 231. Im Hinblick auf die Frage, wie Raum und Zeit als ursprüngliche Anschauungen aktual unendlich sein können, siehe die Ausführungen zum Unterschied zwischen aktual-intensionaler und aktual-extensionaler Unendlichkeit in Kapitel 2.1.5. B675|A647. B384|A327. B676|A648.Vgl. ferner auch B722 f.|A694 f. Die reinen Grundsätze des Verstandes können eine systematische Einheit der Erfahrungswelt nicht garantieren, da sie nicht aus Prinzipien abgeleitet sind und somit auch kein nach Prinzipien geordnetes Ganzes ergeben (d. i. ein System).Vgl. hierzu B357 f|A300 f. Ferner heißt es auf B676|A648: „Ob aber die Beschaffenheit der Gegenstände oder die Natur des Verstandes, der sie als solche erkennt, an sich zur systematischen Einheit bestimmt sei […] das würde ein transscendentaler Grundsatz der Vernunft sein, welcher die systematische Einheit nicht bloß subjectiv- und logisch-, als Methode, sondern objectiv notwendig machen würde.“ Prima facie widersprechend äußert sich Kant hierzu in der ersten Einleitung der KU, wonach die KRVgezeigt haben soll, dass die Natur ein „System nach transscendentalen Gesetzen“ (AA XX, 208) ausmachen soll. Vgl. zu dieser Problematik die Ausführungen von Engelhard 2011, S. 80 ff. und auch von Seide 2013, S. 90 – 99. Aus Sicht der KRV ist das Streben nach systematischer Einheit ein gleichberechtigtes Interesse der Vernunft neben dem Interesse an der Betrachtung der Natur als differenzierte Mannigfaltigkeit. Vgl. hierzu die Ausführungen im Anhang zur Dialektik von B670|A642 bis B697|A669. Folgerichtig betont La Rocca, dass die beiden Interessen als zwei Maxime betrachtet werden müssen, die sich nicht widersprechen, sondern beide dem „Erkenntnisinteresse der Vernunft dienen“ (La Rocca 2011, S. 30).
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nicht objectiv zu einem Grundsatze, […] sondern subjectiv als Maxime […]“ verstünde. Diese Maxime ist somit wichtig, um die „Eröffnung neuer Wege, die der Verstand nicht kennt, ins Unendliche (Unbestimmte) zu befördern und zu befestigen, ohne dabei jemals den Gesetzen des empirischen Gebrauchs im Mindesten zuwider zu sein“. Da dadurch nicht nur der „empirische[] Verstandesgebrauch[]“ ausgeweitet, sondern „auch zugleich die Richtigkeit desselben“ bewährt wird, ist das Prinzip einer solchen systematischen Einheit nach Kant „auf unbestimmte Art“⁶⁷⁸ objektiv. Ohne das Ganze näher auszuführen, sieht er hier sogar die Möglichkeit einer „Deduction“, die zwar nicht „von der Art“ der Deduktion der „Kategorien“ sein soll, die aber absichern können muss, dass die Ideen keine „leere[n] Gedankendinge“ sind und stattdessen eine „unbestimmte, objektive Gültigkeit haben“⁶⁷⁹, nämlich als regulative Prinzipien, die nur von einer „faulen Vernunft“⁶⁸⁰ für konstitutive Prinzipien gehalten werden. Im Hinblick auf den Raum konstatiert Riehl richtigerweise: Der Name Idee, von der Vorstellung des absoluten Raumes gebraucht, sollte nur ausdrücken, daß diese Vorstellung gleich den eigentlichen Ideen oder reinen Vernunftbegriffen bloß ,regulativeʻ Bedeutung hat, die Bedeutung einer Regel der vollständigen Vorstellung der Objekte der Erfahrung, und daß ihr wie den Ideen der theoretischen Vernunft, kein Objekt in der Erfahrung entspricht.⁶⁸¹
Kant wiederholt daher die Grundgedanken der Antinomieauflösungen auch in den MAN, in denen es letztlich um die Anwendung der reinen Grundsätze des Verstandes auf dem Feld der Materie geht, um konkrete Lehrsätze der Physik zu erhalten. Auch hier spricht Kant von der „unendlichen Theilbarkeit des Raumes“⁶⁸², die sogar den Ausgangspunkt für den Beweis des vierten Lehrsatzes der Dynamik darstellt, wonach die Materie „ins Unendliche theilbar“⁶⁸³ ist.
B708|A680. B697|A669. B717|A689. Riehl 1924, S. 464. AA IV, 505. AA IV, 503. Engelhard sieht hier einen Widerspruch zum zweiten Lehrsatz der Mechanik, wonach bei „allen Veränderungen […] die Quantität der Materie im Ganzen dieselbe, unvermehrt und unvermindert“ (AA IV, 541) bleibt. Hall meint dagegen, dass Kant einen mehrdeutigen Substanzbegriff besitzt, wonach mit dem Wort Substanz sowohl partikulare Substanzen als auch ein allverbreiteter Äther, dessen Quantität insgesamt stets unverändert bleibt, gemeint sein kann. Vgl. hierzu Hall 2015, S. 36 – 61; S. 144 f. und Anmerkung 429 im hiesigen Kapitel 2. Engelhard identifiziert darüber hinaus den Lehrsatz der Mechanik mit der Thesis der zweiten Antinomie, obwohl nach Kant beide Thesen der mathematischen Antinomien falsch sind. Um die fatale Schlussfolgerung zu vermeiden, dass Kant in den MAN in eine dogmatische Metaphysik zu-
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rückfällt, schlägt sie vor, die Lehrsätze als regulative Anwendung der Ideen aus der Dialektik zu verstehen. Vgl. Engelhard 2005, S. 414– 426. Dies steht aber in einer Spannung dazu, dass Kant hier eine reine Naturwissenschaft a priori als besondere Metaphysik begründen will. Die Lehrsätze können daher nicht bloß von regulativer Art sein. Möglicherweise lässt sich der vermeintliche Widerspruch dadurch lösen, dass die genaue Formulierung des zweiten Lehrsatzes der Mechanik berücksichtigt wird. Denn dort wird weder von einfachen Teilen noch von einer vollständigen Teilung gesprochen. Dies ist ein entscheidender Unterschied zu der Formulierung der Antithese in der zweiten Antinomie (vgl. B462 f.|A434 f.), den Engelhard nicht thematisiert. Es kann nicht als dogmatisch gelten, wenn behauptet wird, dass Objekte Teile haben; schließlich ist Teilung möglich. Entsprechend beschreibt Kant das Verfahren eines Physikers im Opus postumum wie folgt: „Da die Materie nicht aus einfachen Theilen besteht so muß die Einheit immer wiederum als ein Quantum gedacht werden […]. [Es] giebt keine schlechthin erste Theile der Materie sondern was de Laplace materielle Puncte nennt sind nicht einfache Theile sondern bloß Stellen für Theile der Materie welche man sich so klein vorstellen kann wie man will ohne zu hoffen vermittels der Theilung zum Absolut//kleinesten zu gelangen.“ (AA XXII, 207). Dogmatisch ist also lediglich die Annahme einer Existenz einfacher Teile a priori. Außerdem sind die Thesen der Antinomien Aussagen über alle Dinge in der Welt, wohingegen die Lehrsätze zwar eine apriorische Geltung haben, aber bezogen auf einen Körper formuliert sind. Die Lehrsätze behandeln Körper, die stets eine „Masse von bestimmter Gestalt“ (AA IV, 537) darstellen. Es ist daher selbstverständlich möglich, dass ein Physiker einen bestimmten Körper in bestimmte Teile einteilt, bevor er mit ihm rechnet. Dass Kant hier selbst keinen Widerspruch zu der unendlichen Teilbarkeit der Materie gesehen hat, zeigt sich insbesondere beim ersten Lehrsatz der Mechanik. Hier versteht Kant die Quantität der Materie als „die Menge des Beweglichen in einem bestimmten Raum. Dieselbe, so fern alle ihre Theile in ihrer Bewegung als zugleich wirkend (bewegend) betrachtet werden, heißt die Masse. […]. Eine Masse von bestimmter Gestalt heißt ein Körper […].“ (AA IV, 537). Gleich im Anschluss heißt es am Anfang des Beweises zum Lehrsatz: „Die Materie ist ins Unendliche theilbar […].“ (AA IV, 537). Kant sieht also zwischen den beiden Behauptungen überhaupt keine Schwierigkeiten. Im Gegenteil: Dass Gegenstände der Wahrnehmung als Aggregate vorgestellt werden, fordert allein schon der Grundsatz der Antizipation. Dies macht auch Kants Taler-Beispiel deutlich, wonach mehrere Erscheinungen als Aggregate verstanden werden können, auch wenn die „Erscheinung als Einheit ein Quantum“ ausmacht, und als ein solches jederzeit ein „Continuum“ (B212|A171). Vgl. hierzu Schliemann 2010, S. 49 ff. Siehe auch die Ausführungen von Brittan zum Verhältnis zwischen den transzendentalen Grundsätzen und den Lehrsätzen der Mechanik in Bezug auf den Raum in Brittan 1978, S. 145 – 165. Ferner wäre der von Engelhard behauptete Widerspruch auch schon in der KRV vorzufinden, da der Lehrsatz der Mechanik eine Folge der Anwendung der ersten Analogie auf den Materiebegriff ist. Bereits die erste Analogie fordert, dass bei „allem Wechsel der Erscheinungen […] die Substanz [behaart], und das Quantum derselben […] in der Natur weder vermehrt noch vermindert [wird]“ (B224).Vgl. hierzu Marc-Wogau 1932, S. 203 f., der einen solchen Widerspruch tatsächlich meint behaupten zu müssen. Auf B228 bringt Kant das dazu bekannte Beispiel zur Bestimmung der Masse von Rauch beim Verbrennen von Holz, was einen unmittelbaren Übergang zu den Überlegungen in MAN erlaubt. Zu berücksichtigen gilt hier jedoch auch, dass der Lehrsatz der Mechanik nicht mit der ersten Analogie identisch ist. Allison macht deutlich, dass Ersteres einen empirischen und Letzteres einen transzendentalen Sinn aufweist. Ersteres bezieht sich auf die Materie als das „Bewegliche im Raume“ (AA IV, 541), Letzteres dagegen auf Materie als „undurchdringliche leblose Ausdehnung“ (B876|A848). Da der Bewegungsbegriff zu den Prädikabilien zählt und et-
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2.3.2 Raum und Zeit als richtig verstandene regulative Ideen Der Rekurs auf die MAN ist für die Erörterung der komplexen kantischen Raumund Zeitkonzeption wichtig, da hier das Verhältnis zwischen dem ursprünglichen Raum, dem formalen Raum in der Erfahrung und dem abgeleiteten Raum als Idee besonders deutlich wird. Die Unterscheidung dieser Konzeptionsebenen ist vor dem Hintergrund der dialektischen Gefahren aus dem letzten Kapitel (Kapitel 2.3.1) von besonderer Bedeutung, der sich auch Kant bewusst wird, wenn er beispielsweise in seinen Vorarbeiten zur KRV hervorhebt, dass die „principien der absoluten Einheit der Vernunft nicht mit denen der empirischen Einheit zu vermengen“⁶⁸⁴ sind. Kant schreibt in den MAN, dass der empirisch relative Raum, „wenn seine Bewegung soll wahrgenommen werden können“, einen absoluten Raum, „d. i. einen solchen, der […] nicht materiell ist“⁶⁸⁵, in dem sich der empirische Raum bewegt, voraussetzt. In einer Reflexion führt Kant dazu weiter aus: Weil nun in jeder relation ein Correlatum ist, so ist dieses entweder der relative Raum oder der Absolute. Der erstere, da er selbst beweglich ist, so giebt er kein erstes Correlatum ab; also ist der absolute Raum nur die Idee von dem ersten Substrato der Bewegungen. Da dieser aber nicht wargenommen werden kann, so kann nichts von ihm abgeleitet werden, und er dient nur zum Correlato der Mittheilung aller Bewegungen […].⁶⁸⁶
Durch die reflexive Auseinandersetzung mit Bewegungen in der Natur gewinnt das beobachtende Subjekt also eine Idee von einem absoluten Raum, in dem sich alles Bewegliche befindet: „Überhaupt ist hier der absolute Raum, in welchen alle Bewegung gesetzt wird, das mittel, die Wirkungen nach ihren Ursachen bestimmt
was Empirisches voraussetzt, benutzt Kant den Materiebegriff in den MAN in einem empirischen Kontext, wohingegen der Materiebegriff in der KRV in erster Linie als Gegenbegriff zum Reflexionsbegriff Form gebraucht wird.Vgl. hierzu Allison 1983, S. 210 ff. Im Opus postumum spricht Kant explizit an, dass man „Materie auf zweyerlei Art definieren [kann] (im Gegensatz mit der Form) nämlich der Ausdehnung des Raums und ihrer Bewegung in der Zeit.“ (AA XXI, 340). Kant meint jedoch, dass er im Opus postumum über die MAN hinausgehen muss, weil die Materie nicht nur als das Bewegliche im Raum (wie in den MAN), sondern auch als sich „bewegende[] Kräfte[] [,] wie sie die Erfahrung lehrt“ (AA XXI, 526), betrachtet werden muss.Vgl. hierzu kritisch Tuschling 1971, S. 8 ff., ferner Tuschling 1973, S. 179 ff. und zum kontrovers diskutierten Verhältnis zwischen Opus postumum und MAN Anmerkung 134 in Kapitel 3. Die Details zum Materiebegriff sollen hier nicht weiterverfolgt werden, siehe hierzu jedoch den Forschungsüberblick in Natterer 2003, S. 406 – 409. Refl. 4757, AA XVII, 705. AA IV, 481. Refl. 59, AA XIV 465.
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zu erkennen.“⁶⁸⁷ Trotz dieses Verhältnisses darf ein Naturwissenschaftler bzw. Physiker diese „logische Allgemeinheit irgend eines Raums“ nicht mit „eine[r] physischen Allgemeinheit des wirklichen Umfangs verwechseln und [somit] die Vernunft in ihrer Idee mißverstehen“⁶⁸⁸, denn schließlich gilt, dass der absolute Raum „kein Raum ist“⁶⁸⁹, sondern eine „bloße[] Idee“⁶⁹⁰. Kant schreibt: Einen absoluten Raum, d. i. einen solchen, der, weil er nicht materiell ist, auch kein Gegenstand der Erfahrung sein kann, als für sich gegeben annehmen, heißt etwas, das weder an sich, noch in seinen Folgen (der Bewegung im absoluten Raum) wahrgenommen werden kann, um der Möglichkeit der Erfahrung willen annehmen, die doch jederzeit ohne ihn angestellt werden muß. Der absolute Raum ist also an sich nichts und gar kein Object, sondern bedeutet nur einen jeden andern relativen Raum, den ich mir außer dem gegebenen jederzeit denken kann, und den ich nur über jeden gegebene in Unendliche hinausrücke, als einen solchen, der diesen einschließt und in welchem ich den ersteren als bewegt annehmen kann. Weil ich den erweiterten, obgleich immer noch materiellen, Raum nur in Gedanken habe und mir von der Materie, die ihn bezeichnet, nichts bekannt ist, so abstrahire ich von dieser, und er wird daher wie ein reiner, nicht empirischer und absoluter Raum vorgestellt, mit dem ich jeden empirischen vergleichen und diesen in ihm als beweglich vorstellen kann, der also jederzeit als unbeweglich gilt.⁶⁹¹
Vor dem Hintergrund dieser Bedeutung der Idee des Raums kann Kants Charakterisierung der Raumidee nicht einfach übergangen werden, wie das beispielsweise Dietrich tut, indem er Kants Kennzeichnung des Raums als Idee als einen bloßen „Nebengebrauch“⁶⁹² diskreditiert. Marc-Wogau betont dagegen angesichts Kants Auseinandersetzung mit der Raumidee den Unterschied zwischen der Vorstellung des Raums als „konstitutiver Form“ und „als regulativer Idee“⁶⁹³. Im Ansatz scheint diese Unterscheidungsmöglichkeit auch Heimsoeth bewusst zu sein.⁶⁹⁴ Ohne näher darauf einzugehen und die verschiedenen Bedeutungsebenen des Raumbegriffs zu interpretieren, stellt schon Vaihinger eine entsprechende Vielschichtigkeit des Raumbegriffs fest: R1 = (unbewusste, potentielle) transscendentale Anschauungsform, welche vor aller Erfahrung da ist; R2 = die besondere räumliche Gestalt, welche mit einem sinnlichen Empfindungscomplex zusammen die empirische Anschauung ausmacht und insofern in der Er-
Refl. 59, AA XIV 466. AA IV, 482. AA IV, 521. AA IV, 559. AA IV, 481 f. Dietrich 1916, S. 82. Marc-Wogau 1932, S. 214. Vgl. Heimsoeth 1970, S. 119 f.
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fahrung enthalten ist (deren gibt es unbestimmt viele, also = n R2); R3 = die Vorstellung des unendlichen mathematischen Raumes, welche erst aus der Erfahrung gewonnen ist, indem R2 aus der empirischen Anschauung herausgelöst und in infinitum erweitert wird.⁶⁹⁵
Allison formuliert das Verhältnis der verschiedenen Raumvorstellungen im Ausgang vom ersten Anschauungsargument der transzendentalen Ästhetik wie folgt: Kant seems to have in mind a two-step procedure. First, through the introduction of limitations, which is itself a conceptual activity, we produce the idea of determinate spaces (figures and magnitudes); then, on the basis of these determinations, we form by abstraction general concepts of spaces.⁶⁹⁶
Um zu erklären, wieso die Vorstellung des absoluten und substanzischen Raums nur als regulative Idee in Anspruch genommen wird, ist es hilfreich, erneut die Orientierungsproblematik heranzuziehen, die Kant mit seinem epistemischen Beispiel in Über die Gegenden tangiert. Wie in Kapitel 1.3.3 gesehen, gelangt Kant in Über die Gegenden zu der Schlussfolgerung, dass es einen absoluten Raum geben muss, um zwischen inkongruenten Gegenständen zu differenzieren und um zwischen verschiedenen Seiten unterscheiden bzw. sich orientieren zu können. Schließlich gilt: „Im raum muß ich unterscheiden können, wo ich bin.“⁶⁹⁷ In De mundi wird ihm jedoch klar, dass ein solcher Raum ursprünglich kein Grundbegriff sein kann, sondern vielmehr eine reine Anschauung des Subjekts sein muss. Dieser Zusammenhang wird sowohl in den MAN als auch in den Prolegomena wiederholt und in Orientieren später noch einmal hervorgehoben. Es liegt also nahe anzunehmen, dass die Funktionen, die im naturwissenschaftlichen Kontext dem absoluten Raum zugesprochen werden, in philosophietheoretischer bzw. transzendentaler Hinsicht Funktionen der reinen Anschauung sind. Und tatsächlich merkt Kant noch in der transzendentalen Dialektik an, dass der Raum „unter dem Namen des absoluten Raumes nichts anderes [ist], als die bloße Möglichkeit äußerer Erscheinungen“⁶⁹⁸. Ferner heißt es auch in den MAN, dass ein abstrakter Raum letztlich „wie ein reiner, nicht empirischer und absoluter Raum vorgestellt“ wird. Passend hierzu greift Kant in den MAN sein Problem der inkongruenten Gegenstücke aus der vorkritischen Phase auf und betont nochmals,
Vaihinger 1922b, S. 88. Allison 1983, S. 91. Refl. 5341, AA XVIII, 156. B458 Anm.|A430 Anm. Bereits vor der KRV merkt Kant auf einem Brief Folgendes an: „Das spatium absolutum, dieses Rätzel der Philosophen, ist ganz was richtiges […].“ Später fügt Kant nachträglich – gleich im Anschluss an diesen Satz – Folgendes hinzu: „aber nicht reale, sondern ideale“ (Refl. 4673, AA XVII, 639).
2.3 Raum und Zeit als Ideen der Vernunft in der transzendentalen Dialektik
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dass durch die „subjectiven Form[en] unserer sinnlichen Anschauung“ das Problem inkongruenter Gegenstücke gelöst wird, da der „Unterschied [inkongruenter Gegenstände] zwar in der Anschauung [gezeigt] […], aber [sich] gar nicht auf deutliche Begriffe bringen, mithin nicht verständlich erklären (dari, non intelligi) läßt“. Beispielsweise lässt sich der Unterschied zwischen zwei Kreisbewegungen, die sich „in allen Stücken gleichen, der Richtung nach aber verschiedene[] Kreisbewegungen“⁶⁹⁹ sind, nur durch die Anschauung nachvollziehen. Der reine Anschauungsraum ist letztlich diejenige Form, die eine Unterscheidung von Richtungen möglich macht und vermittels derer wir räumliche Verhältnisse verstehen können. Der absolute Raum als Idee einer Totalität ist hierbei nur ein Reflexionsprodukt des aus Kants Sicht philosophisch naiven Naturwissenschaftlers, der sich der Widersprüchlichkeit dieser Vorstellung in kosmologischer bzw. metaphysischer Hinsicht nicht bewusst ist. Er muss vielmehr in physikalischer Hinsicht einen Raum annehmen, der als Grundlage dient, um relative Bewegungen zu bestimmen. Der absolute Raum ist daher eine Idee, „deren Gebrauch in der allgemeinen Naturwissenschaft unvermeidlich [ist]“⁷⁰⁰. Zum Schluss der MAN zeigt Kant, dass die Idee eines leeren Raums zwar hilfreich, aber nirgends a priori notwendig ist, sondern lediglich regulativen Nutzen hat.⁷⁰¹ Dieser Nutzen von Ideen in den Naturwissenschaften zeigt sich nicht nur bei der Raumidee, sondern soll nach Kant einen grundsätzlichen Aspekt des Forschens von Naturwissenschaftlern ausmachen:
AA IV, 484. AA IV, 558. Auch wenn Kant sich hier auf die Idee eines Raums konzentriert, lässt sich diese Überlegung auch auf die Idee einer Zeit übertragen, was Kant auch gelegentlich tut. Vgl. hierzu beispielsweise Refl. 4673, AA XVII, 640 f. oder auch Refl. 4516, AA XVII, 579. Es gibt jedoch einen Unterschied zur Idee des Raums: Während beim Raum als Idee und beim Raum als Eigenschaft eines Objekts oder als subjektive Form stets die Struktur eines Nebeneinanders erhalten bleibt, scheint dies für die Zeit nicht zu gelten. Sobald die Zeit zu einer substanzischen Entität vergegenständlicht wird, wird ihre genuin zeitliche Struktur auf eine quasi-räumliche reduziert: In seinem Handexemplar zu Baumgartens Metaphysica notiert Kant Folgendes im Hinblick auf §239: „Nach der Vernunft ist die Zeit der nexus der coordinatio, nach der Sinnlichkeit aber der subordinatio. Das erste und letzte ist im Raum willkürlich anzugeben.“ (Refl. 4514, AA XVII, 578).Wird die Zeit als eine Idee verstanden, dann werden damit alle Zeitmomente gleichzeitig gedacht und damit als eine Verknüpfung von koordinierten Elementen. Dagegen ist sie als ursprünglich sinnliche Form ein reines Nacheinander von Momenten, worin jeder Zeitmoment durch den vorherigen bedingt ist. Daraus ergibt sich die besondere Schwierigkeit, dass ein philosophisches Zeitmodell stets Gefahr läuft, die Zeit nicht so zu verstehen, wie sie als ursprünglich subjektive Form auftritt. Die subjektive Zeit läuft somit Gefahr, durch eine räumliche Darstellung verdinglicht zu werden. Dass Kant sich dieser Problematik bewusst war, zeigt sich an seinen Ausführungen zum Linienmodell der Zeit. Vgl. hierzu obige Anmerkung 507 in Kapitel 2. Vgl. AA IV, 563 ff.
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2 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der Kritik der reinen Vernunft
Auch äußert sich dieses [widerstreitende Interesse der Vernunft] an der sehr verschiedenen Denkungsart der Naturforscher, deren einige (die vorzüglich speculativ sind), der Ungleichartigkeit gleichsam feind, immer auf die Einheit der Gattung hinaussehen, die anderen (vorzüglich empirische Köpfe) die Natur unaufhörlich in so viel Mannigfaltigkeit zu spalten suchen, daß man beinahe die Hoffnung aufgeben müßte, ihre Erscheinungen nach allgemeinen Principien zu beurtheilen.⁷⁰²
Diesen Gedanken aus der transzendentalen Dialektik der KRV entwickelt Kant in der ersten Einleitung zur KU weiter: Wir haben in der Kritik der reinen Vernunft gesehen, daß die gesamte Natur als Inbegriff aller Gegenstände der Erfahrung, ein System nach transscendentalen Gesetzen […] ausmache. […]. Daraus folgt aber nicht, daß die Natur auch nach empirischen Gesetzen ein für das menschliche Erkenntnißvermögen faßliches System sey, und der durchgängige systematische Zusammenhang ihrer Erscheinungen in einer Erfahrung, mithin diese selber als System, den Menschen möglich sey. Denn es könnte die Mannigfaltigkeit und Ungleichartigkeit der empirischen Gesetzte so groß seyn, daß es uns zwar theilweise möglich wäre, Wahrnehmungen nach gelegentlich entdeckten besondern Gesetzen zu einer Erfahrung zu verknüpfen, niemals aber diese empirische Gesetze selbst zur Einheit der Verwandtschaft unter ein gemeinschaftliches Princip zu bringen, wenn nämlich […] die Mannigfaltigkeit und Ungleichartigkeit dieser Gesetze […] unendlich groß wäre und uns an diesen ein rohes chaotisches Aggregat und nicht die mindeste Spur eines System darlegte, ob wir gleich ein solches nach transscendentalen Gesetzen voraussetzen müssen. Denn Einheit der Natur in Zeit und Raume und Einheit der uns möglichen Erfahrung ist einerley, weil jene ein Inbegriff bloßer Erscheinungen (Vorstellungsarten) ist, welcher seine objective Realität lediglich in der Erfahrung haben kann, die, als System selbst nach empirischen Gesetzen möglich seyn muß, wenn man sich jene (wie es denn geschehen muß) wie ein System denkt.⁷⁰³
B682 f.|A654 f. AA XX, 208 f. Gerade die Frage nach dem Status von empirischen Naturgesetzen hat in der jüngeren Kant-Literatur für Diskussionen gesorgt. Dabei ist vor allem die Frage diskutiert worden, wie die empirischen Naturgesetze ihre Notwendigkeit erlangen sollen. Grundsätzlich sind hierzu vier Positionen in der Literatur zu unterscheiden: Die erste Position vertritt, dass die Notwendigkeit der empirischen Naturgesetze von den transzendentalen Grundsätzen und ihrem Verhältnis zu diesen herrührt. Die zweite Position vertritt, dass die empirischen Naturgesetze in Anlehnung an das obige Zitat ihre Notwendigkeit dadurch erhalten, dass sie ein eigenständiges und kohärentes System ausmachen, d. h. die Notwendigkeit von einzelnen empirischen Gesetzen kommt zustande „by being brought into a system“ (Seide 2013, S. 95). Die dritte Position vertritt, dass Notwendigkeiten eine intrinsische Eigenschaft von einzelnen kausalen Ereignissen sind. Dabei ist wichtig, unter welchen Umständen die Substanzen ihre kausale Kraft ausüben. Vgl. Engelhard 2018, S. 24– 34. Eine vierte Position wird von Hall vertreten. Nach Hall soll Kants Äthertheorie im Opus postumum das Prinzip liefern, wonach eine systematische Einheit aller empirischen Verhältnisse und Gesetzmäßigkeiten garantiert werden kann. Vgl. Hall 2015, S. 138 – 149. Vgl. ferner Mathieu 1989, S. 39 – 57. Auf die Einzelheiten kann hier nicht weiter eingegangen werden. Das Verhältnis der ersten drei Interpretationsmöglichkeiten und eine Diskussion der-
2.3 Raum und Zeit als Ideen der Vernunft in der transzendentalen Dialektik
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Solange der Naturwissenschaftler der Idee eines absoluten Raums oder einer absoluten Zeit keine objektive substanzische Realität zuspricht, muss er sich über Raum und Zeit keine weiteren Gedanken machen. Denn nach den „transscendentalen Principien“ kann der „leere Raum, so fern er durch Erscheinungen begrenzt wird, […] eingeräumt (obgleich darum seine Möglichkeit nicht sofort behauptet) werden“⁷⁰⁴. Ferner betont Kant: Wenn ich mir demnach alle existirende Gegenstände der Sinne in aller Zeit und allen Räumen insgesamt vorstelle: so setze ich solche nicht vor der Erfahrung in beide hinein, sondern diese Vorstellung ist nichts andres, als der Gedanke von einer möglichen Erfahrung in ihrer absoluten Vollständigkeit.⁷⁰⁵
Erst die philosophische Reflexion ergibt, dass die vom Naturwissenschaftler benötigten Eigenschaften eines absoluten Raums und einer absoluten Zeit letztlich in dem sinnlichen Anschauungsraum und der Anschauungszeit als quanta continua verwurzelt werden können. Sie leisten nämlich dasjenige, was der Naturwissenschaftler benötigt, um zwischen Richtungen im Raum zu unterscheiden. Der Anschauungsraum ermöglicht eine Unterscheidung, ohne dass dafür der Raum zum Behälter gemacht wird, der eine quantitative Vollständigkeit von Teilen umfassen würde. Schließlich betont Kant in der transzendentalen Ästhetik, dass der Raum als „Anschauung a priori (die nicht empirisch ist) allen Begriffen von demselben zum Grunde liegt“⁷⁰⁶. Der Anschauungsraum hat dabei auch „objective Gültigkeit“⁷⁰⁷, wie die transzendentale Ästhetik gezeigt hat. Letztlich ist es dieser subjektive „Raum in Gedanken[, der] den physischen, d. i. die Ausdehnung der Materie selbst, möglich mache“⁷⁰⁸. Daher ist es für Kant wichtig, „zwischen dem Begriffe eines wirklichen Raumes, der gegeben werden kann, und der bloßen Idee von einem Raume, der lediglich zur Bestimmung des Verhältnisses gegebener Räume gedacht wird, in der That aber kein Raum ist“⁷⁰⁹, zu unterscheiden. Der substanzische Raum kann „kein Gegenstand der Erfahrung sein; denn der Raum ohne Materie ist kein Object der Wahrnehmung, und dennoch ist er ein nothwendiger Vernunftbegriff, mithin nichts weiter als eine bloße
selben sowie der Positionen in der Kant-Literatur liefert jedoch Engelhard. Vgl. Engelhard 2018, S. 24– 34.Vgl. ferner Engelhard 2011. Für die vierte Position siehe die Ausführungen bei Hall 2015, S. 138 – 149. B460 f. Anm.|A432 f. Anm. Vgl. ferner AA IX, 92 f. B523 f|A495. B39|A25. Vgl. auch Brandt 1998, S. 87 ff. B195|A156. AA IV, 288. AA IV, 521.
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2 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der Kritik der reinen Vernunft
Idee“⁷¹⁰. Es kann daher gerade nicht der Fall sein, dass der ursprüngliche Anschauungsraum oder die ursprüngliche Anschauungszeit in irgendeiner Weise die Vernunft voraussetzen würden, um als Einheit vorgestellt werden zu können, wie etwa Simon meint, der vor dem Hintergrund dieser falschen Annahme eine Spannung bei Kant sieht: Bei Kant führt schon der Begriff des einen Raumes über den des Anschauungsraumes hinaus zu einer bloßen Idee der Vernunft, die als solche nur regulativ sein kann. In der Bestimmung als transzendentale Anschauungsform aber ist diese ,Ideeʻ für den Begriff des objektiven Gegenstandes konstitutiv.⁷¹¹
Dass Simon in Anbetracht dieser Position nur zu dem fatalen Urteil kommen kann, dass Kants Lehre vom Raum „nicht frei von Widersprüchen“⁷¹² sei, ist nicht verwunderlich. Dörflinger folgt Simon in diesem Punkt und merkt an, dass es eine „Besonderheit“ bezüglich des „Ideencharakter[s] des Raums“ in den MAN sei, dass die „Idee hier nicht als regulative, sondern als konstitutive zu denken“⁷¹³ wäre. Doch diese Einschätzungen übersehen die Vielschichtigkeit der kantischen Raumkonzeption. Die hiesigen Ausführungen zeigen, dass der Raum als konstitutiv verstandene Idee in eine Dialektik der Vernunft führt und nur als regulative Idee einen epistemisch sinnvollen Bezug aufweist. Alle notwendigen und konstitutiven Strukturelemente des Raums sind in ihm als ursprünglichem Anschauungsraum begründet. Unabhängig vom Nutzen der Raum- und Zeitidee in der theoretisch wissenschaftlichen Praxis schlägt Wohlfart darüber hinausgehend vor, den ursprünglichen Raum im ästhetisch-praktischen Zusammenhang als ästhetische Idee zu verstehen.⁷¹⁴ In der KU erklärt Kant nochmals, was er unter einer Idee versteht, und führt gleichsam neben der theoretischen Idee der Vernunft die Möglichkeit einer ästhetischen Idee der Einbildungskraft ein. Beide sind jedoch keine konstitutiven Prinzipien der Erfahrungserkenntnis:
AA IV, 559. Simon 1969, S. 250. Simon 1969, S. 251. Es ist ferner nicht verwunderlich, dass für Simon selbst die Abhängigkeit der Einheit des Raums von der Vernunft merkwürdig erscheint: „Dieser eine nach Kant nicht anzuschauende, sondern nur erschließbare Raum bleibt aber eine Idee der Vernunft – wenngleich dann auch, wie ausgeführt, die Dimension des Äußeren, der Unterschied zwischen Raum und Zeit und damit letztlich die Objektivität als Inbegriff alles objektiv Gültigen sich merkwürdigerweise bei Kant aus der Vernunft ableiten.“ (Simon 1969, S. 263). Dörflinger 2002, S. 27 Anm. Vgl. Wohlfart 1980, S. 149 – 154.
2.4 Zusammenfassung des zweiten Kapitels
283
Ideen in der allgemeinsten Bedeutung sind nach einem gewissen (subjectiven oder objectiven) Princip auf einen Gegenstand bezogene Vorstellungen, sofern sie doch nie eine Erkenntniß desselben werden können. Sie sind entweder nach einem bloß subjectiven Princip der Übereinstimmung der Erkenntnißvermögen unter einander (der Einbildungskraft und des Verstandes) auf eine Anschauung bezogen: und heißen alsdann ästhetisch; oder nach einem objectiven Prinzcip auf einen Begriff bezogen, können aber doch nie eine Erkenntniß des Gegenstandes abgeben: und heißen Vernunftideen; in welchem Falle der Begriff ein transscendenter Begriff ist, welcher vom Verstandesbegriff, dem jederzeit eine adäquat correspondirende Erfahrung untergelegt werden kann, und der darum immanent heißt, unterschieden ist. Eine ästhetische Idee kann keine Erkenntniß werden, weil sie eine Anschauung (der Einbildungskraft) ist, der niemals ein Begriff adäquat gefunden werden kann. Eine Vernunftidee kann nie Erkenntniß werden, weil sie einen Begriff (vom Übersinnlichen) enthält, dem niemals eine Anschauung angemessen gegeben werden kann.⁷¹⁵
Eine ästhetische Idee ist daher eine „inexponible“ und eine Vernunftidee eine „indemonstrabele[]“⁷¹⁶ Vorstellung. Trotz der Verschiedenheit der Erkenntnisvermögen fasst Kant beide Vorstellungsarten unter dem Konzept der Idee zusammen: Man kann dergleichen Vorstellungen der Einbildungskraft Ideen nennen: eines Theils darum, weil sie zu etwas über die Erfahrungsgränze hinaus Liegendem wenigstens streben und so einer Darstellung der Vernunftbegriffe (der intellectuellen Ideen) nahe zu kommen suchen, welches ihnen den Anschein einer objectiven Realität giebt; andererseits und zwar hauptsächlich, weil ihnen als innern Anschauungen kein Begriff völlig adäquat sein kann.⁷¹⁷
Allgemein betrachtet, zeichnen sich Ideen also durch die Transzendenz aus, die sie für das Gegenvermögen zu dem Vermögen darstellen, dessen Vorstellung sie sind. Um Wohlfarts Vorschlag, die reine Anschauung als eine ästhetische Idee zu betrachten, bewerten zu können, ist es an dieser Stelle wichtig, auf die philosophische Ästhetik Kants in der KU einzugehen.
2.4 Zusammenfassung des zweiten Kapitels Bevor der Zusammenhang der Konzeptionsebenen in Kants Lehre von Raum und Zeit abschließend in der KU und im Opus postumum weiterverfolgt wird, soll an dieser Stelle noch ein zusammenfassender Rückblick im Hinblick auf Kants kritische Auseinandersetzung mit den Themen Raum und Zeit erfolgen.
AA V, 342. AA V, 342. AA V, 314. Vgl. ferner AA V, 316.
284
2 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der Kritik der reinen Vernunft
Punkt 2.1: In Bezug auf die Frage nach der Struktur von Raum und Zeit (siehe Frage 0.1) lässt sich zusammenfassen, dass Kant wie schon in der vorkritischen Phase die beiden Strukturmerkmale von Raum und Zeit konsequent beibehält (siehe Punkt 1.1). Raum und Zeit sind als Formen des Neben- und Nacheinanders Mannigfaltigkeitsstrukturen, durch die zwei gleiche Wassertropfen im Zusammenhang mit den Orten, die sie besetzen, unterschieden werden können. Gleichzeitig hebt Kant die Kontinuität der beiden Formen bereits in der transzendentalen Ästhetik hervor. Die Auseinandersetzung mit den Argumenten der transzendentalen Ästhetik unterstreicht, dass diese Einheit transzendentalphilosophisch primär gegenüber der Mannigfaltigkeit in dieser Einheit ist. Wie schon in der vorkritischen Phase bleibt auch in der kritischen Phase das Moment der Einheit die primäre Struktur von Raum und Zeit. Diese subjektive und holistische Einheit, die allen Teilen transzendentalphilosophisch vorhergeht, gilt es jedoch strikt von der objektiven Einheit des Verstandes zu unterscheiden. Vor diesem Hintergrund nennt Kant Raum und Zeit als ursprüngliche Anschauungsformen auch qualitative Einheiten. Punkt 2.2: In Bezug auf die Frage nach der Art von Vorstellung im Zusammenhang mit Raum und Zeit (siehe Frage 0.2) ist festzustellen, dass diese Frage nicht mehr so eindeutig zu beantworten ist wie zuvor. In erster Linie sind Raum und Zeit weiterhin reine Anschauungen. Anlässlich der Kritik seiner Zeitgenossen am Raum- und Zeitkonzept bemüht sich Kant jedoch in der KRV insbesondere um die Frage nach Begründung von Wirklichkeit und Objektivität. Gleichzeitig zeigt sich bei Kant ab 1772 ein grundsätzlicher Zweifel an seiner transzendenten Kosmologie aus De mundi. Kants Ansatz, beide Probleme zu lösen, ist sein neues systematisches Konzept der Erfahrung, das das Zentrum seiner Kopernikanischen Wende darstellt (siehe Kapitel 2.2.4). Wie der Exkurs bezüglich der Ausführungen Kants in der sog. Kästner-Abhandlung deutlich zeigt, unterscheidet Kant zwischen einem subjektiven und einem objektiven Raum (siehe Kapitel 2.2.2). Entsprechendes gilt auch für die Zeit. Im Schematismuskapitel der KRV gewinnt die Zeit im Hinblick auf die Konstituierung der Erfahrung an systematische Bedeutung. In diesem Zusammenhang ist auch die formale Anschauung zu sehen, die durch die Bestimmung von subjektiven Zeitinhalten mittels des transzendentalen Schematismus zustande kommen muss, um die Erfahrung zu konstituieren und somit eine Verobjektivierung von Zeit und Raum erklärlich zu machen.⁷¹⁸ Daraus ergibt Entsprechend dieser synthetischen bzw. systematischen Vorrangstellung der Zeit im Hinblick auf die Konstituierung der Erfahrung mittels des Schematismus wird im Titel der hiesigen Untersuchung von Zeit und Raum statt von Raum und Zeit gesprochen. Damit wird nicht beabsichtigt, Kant als einen absoluten Idealisten misszuverstehen. Für die Konstituierung der Erfahrung ist es zwingend, dass die Inhalte schlussendlich im Raum bestimmt werden. Die Analyse der
2.4 Zusammenfassung des zweiten Kapitels
285
sich der Unterschied zwischen der Form der Anschauung und der formalen Anschauung bzw. der ursprünglich subjektiven Form als reine Anschauung und der konkreten Gestalt eines Objekts als synthetische Raumgröße oder das objektive Kausalverhältnis als synthetische Zeitgröße (siehe Kapitel 2.2.3). Die Konstituierung der Erfahrung durch eine Verobjektivierung von Raum und Zeit löst für Kant parallel auch das Problem von 1772 bzw. die Frage nach dem epistemischen Zugang zu einer transzendenten Welt, denn Raum und Zeit restringieren die Erkenntnis auf die Sinnlichkeit (siehe Kapitel 2.2.4). Wie ferner die Auseinandersetzung in Kapitel 2.3 gezeigt hat, sind Raum und Zeit nicht nur als reine Anschauungen und als vom Verstand begrifflich bestimmte Gestalten an Objekten, sondern auch als Ideen zu verstehen. Durch das unbedingte Weiterdenken von objektiven Zeitverhältnissen durch die Vernunft entsteht die Möglichkeit globaler Zeit- und Raumvorstellungen als Ideen. Damit eröffnet sich eine dritte Bedeutungsebene in Kants Lehre von Raum und Zeit, die sich nicht auf die ersten beiden reduzieren lässt. Als konstitutive Ideen sind sie leer und haben keinen Nutzen für das erkennende Subjekt, doch in ihrem Gebrauch als regulative Ideen erweisen sie sich für das erkenntnisstrebende Subjekt als nützliche Orientierung bei der Vorstellung der Welt als Ganzes. Im Hinblick auf den in Kapitel 0.3 dargestellten Forschungsstand ergibt sich daraus, dass in gewisser Hinsicht alle drei grundsätzlichen Interpretationsstränge ihre Berechtigung haben, denn Raum und Zeit können sowohl als anschauliche als auch als begriffliche Vorstellungen verstanden werden. Doch erst die Kombination der verschiedenen Interpretationsstränge ermöglicht eine umfassende Interpretation der kantischen Lehre von Raum und Zeit. Dabei reicht es nicht aus, nur die Interpretation im Sinne des Brute Given Reading und des Synthesis Reading zu verbinden, wie dies Messina mit seinem Part-Whole Reading vorschlägt. Erst wenn die Interpretationen im Sinne des Brute Given Reading und des Synthesis Reading mit der Interpretation, wonach Raum und Zeit Ideen darstellen, verbunden werden, ergibt sich eine kombinierte Gesamtinterpretation, die Kants komplexem Verständnis von Raum und Zeit gerecht werden kann. Die Krux bei dieser Gesamtinterpretation ist die Frage, wie die verschiedenen Interpretationsansätze genau verbunden werden müssen, um eine plausible Lesart im Sinne der in Kapitel 0.2 dargestellten Interpretationsmaximen zu gewinnen. Diese Frage stellt sich vor allem im Hinblick auf Kants Systematik bzw. im Hinblick auf die Beantwortung der Frage 0.3.
Erfahrung muss an diesen Dingen im Raum ansetzen. Die Kapitelüberschriften der hiesigen Untersuchung gehen im Gegensatz zum Titel stets von Raum und Zeit aus, denn erst nach der Analyse ergibt sich die synthetische Vorrangstellung der Zeit. Vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 2.2.4. Zu Kants idealistischen Tendenzen im Opus postumum siehe Kapitel 3.2.
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2 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der Kritik der reinen Vernunft
Punkt 2.3: In Bezug auf die Frage nach der systematischen Stellung von Raum und Zeit (siehe Frage 0.3) lässt sich zusammenfassen, dass Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit bzw. die Unterscheidung zwischen Form der Anschauung und formaler Anschauung insbesondere im Hinblick auf das transzendentale Selbstbewusstsein Fragen aufwirft (siehe Kapitel 2.2.5). Wie Kapitel 2.2.5 zeigt, sind in der KRV unterschiedliche Tendenzen bezüglich der Frage nach dem genauen Verhältnis zwischen Raum und Zeit und transzendentalem Selbstbewusstsein festzustellen, das als qualitative Einheit eine wesentliche Gemeinsamkeit mit den Formen der Sinnlichkeit aufweist. In Anbetracht der Anmerkung B160 f. sowie den Vorarbeiten zur KRV und einigen Stellen der AAuflage stellt sich die Frage, wie weit ein Interpretationsansatz im Sinne des Synthesis Reading gehen kann, um Raum und Zeit bei Kant zu erklären. Bis zuletzt klingt es stellenweise so, als sei auch die ursprüngliche Anschauungsform vom Verstand erzeugt, was jedoch schwerlich mit Kants Anspruch einer qualitativen Einheit, die gerade nicht zusammengesetzt sein soll, vereinbar erscheint. Dieser Zusammenhang wird auch im Opus postumum von besonderem Interesse sein, wie sich im Folgenden zeigen wird. Über diese Frage hinaus zeigt die Auseinandersetzung mit Raum und Zeit im Hinblick auf die Frage 0.3 ferner die volle Komplexität der kantischen Systematik auf. Als kontinuierliche, ursprüngliche Formen, die die Inhaltsaufnahme des Bewusstseins bedingen, sind sie die elementaren Formen der Sinnlichkeit. Als objektive und bestimmte Formen am Gegenstand sind sie vom Verstand erzeugte Formen. Als globale Orientierung für den theoretisch denkenden und praktisch handelnden Menschen sind sie nützliche Ideen. Systematisch haben sie somit nicht nur für die Theorie, sondern auch für die Praxis eine besondere Bedeutung. Kants systematischen Schlussstein, der Theorie und Praxis verbindet, soll die philosophische Ästhetik als Lehre vom Schönen und Erhabenen bilden. Zuletzt hat sich die Frage gestellt, ob auch hier Raum und Zeit eine Rolle spielen. Die Beantwortung dieser Frage soll im folgenden Kapitel erfolgen.
3 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der Kritik der Urteilskraft und im Opus postumum Die Auseinandersetzung mit der transzendentalen Dialektik hat zuletzt gezeigt, dass Kant Raum und Zeit auch als Ideen versteht. Werden diese Ideen in einem konstitutiven Sinne grenzüberschreitend gebraucht, entstehen widersprüchliche und transzendente Aussagen. Ihr regulativer Gebrauch hingegen eröffnet eine nützliche Dimension im Umgang mit diesen Ideen, sodass sie nicht nur erkenntnisbegrenzend, sondern sogar erkenntnisfördernd wirken können. Diese Dimension beim Gebrauch der Ideen hat Kant auch in der Zeit nach der KRV beschäftigt. Im Zusammenhang mit der reflektierenden Urteilskraft spielt das Thema in der philosophischen Ästhetik – insbesondere beim ästhetischen Phänomen des Erhabenen – eine wichtige Rolle. Darüber hinaus thematisiert Kant im Opus postumum noch einmal alle drei Ebenen seiner Raum- und Zeitlehre und experimentiert fundamental mit seinem System. Auch in Kants Spätwerk zeigen sich somit wichtige Überlegungen im Hinblick auf die Beantwortung der in Kapitel 0.1 gestellten Interpretationsfragen.
3.1 Raum, Zeit und Ideen im Kontext der philosophischen Ästhetik und der Kultur Kants Auseinandersetzung mit der philosophischen Ästhetik hat ihren Ausgangspunkt in seiner Unterscheidung zwischen dem Schönen und dem Erhabenen. Bereits 1764 schreibt Kant die kurze Abhandlung Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, in der er anhand von Beispielen zwischen dem „Gefühl des Erhabenen und des Schönen“¹ differenziert. Vorkritische Reflexionen aus dieser Zeit zeigen, dass Kant den Formen Raum und Zeit auch bei diesem Thema eine elementare Rolle zuspricht. Kant geht dabei so weit, dass er in einer frühen Reflexion die Begründung der Geschmackslehre durch seine Raumund Zeitlehre erwägt: Das, was am Gegenstande Gefalt und was wir als eine Eigenschaft die beyfa desselben ansehen, muß in dem bestehen, was vor jedermann gilt folglich. Nun gelten die Verhältnisse des Raumes und der Zeit vor jedermann, welche Empfindungen man auch haben mag.
AA II, 208. https://doi.org/10.1515/9783110763553-005
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3 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der KU und im OP
Demnach ist in allen Erscheinungen die Form allgemein gültig; diese Form wird auch nach gemeinschaftlichen Regeln der coordination erkannt; was also der Regel der Coordination in Raum und Zeit gemäß ist, daß gefällt nothwendig jedermann und ist schön.²
Ferner heißt es in einer anderen Reflexion zu dieser Zeit: Der Geschmak in der Erscheinung gründet sich auf die Verhältnisse des Raumes und der Zeit, die vor jeden Verständlich seyn, und auf die regeln der reflexion.³
Dennoch scheint Kant mit dem Eintritt in die kritische Phase jegliche Fundierungsversuche einer apriorischen Geschmackslehre aufzugeben. Er schließt in seiner transzendentalen Ästhetik der KRV, die der Ort sein könnte, um eine entsprechende Fundierung des Geschmacks anzusprechen, das Vorhaben einer apriorischen Geschmackslehre bzw. philosophischen Ästhetik im engeren Sinne aus, wodurch er sich berechtigt sieht, den Ausdruck „Ästhetik“ nunmehr für seine erkenntnistheoretische Lehre von den sinnlichen Formen zu reservieren: Die Deutschen sind die einzigen, welche sich jetzt des Worts Ästhetik bedienen, um dadurch das zu bezeichnen, was andre Kritik des Geschmacks heißen. Es liegt hier eine verfehlte Hoffnung zum Grunde, […], die kritische Beurteilung des Schönen unter Vernunftprinzipien zu bringen, und die Regeln derselben zur Wissenschaft zu erheben. Allein diese Bemühung ist vergeblich. Denn gedachte Regeln, oder Kriterien, sind ihren vornehmsten Quellen nach bloß empirisch, und können also niemals zu bestimmten Gesetzen a priori dienen, wonach sich unser Geschmacksurteil richten müßte, vielmehr macht das letztere den eigentlichen Probierstein der Richtigkeit der ersteren aus.⁴
Entgegen dieser viel zitierten Anmerkung in der transzendentalen Ästhetik, wonach es für Kant keine philosophische Ästhetik im engeren Sinne bzw. keine Kritik des Geschmacks geben kann, da der Geschmack keine apriorischen Prinzipien aufweist, schreibt Kant 1787 in einem Brief an Reinhold, dass er eine neue „Art von Principien a priori entdeckt“⁵ habe, die eine „Kritik der Geschmaks“⁶ ermögliche.
Refl. 672, AA XV, 298. Auch Wohlfart verweist darauf, dass Kant bereits in der vorkritischen Phase die „schönen Formen in den reinen Formen der Sinnlichkeit“ (Wohlfart 1980, S. 150) begründet wissen möchte. Vgl. hierzu Wohlfart 1980, S. 150 Anm. und ferner Anmerkung 273 in Kapitel 1. Refl. 648. AA XV, 284. Konkreter schreibt Kant in der Reflexion 685: „Das Spiel der Gestalten und der Empfindungen erfordert erstlich gleiche Abtheilungen der Zeit (Einförmigkeit im Zeitmaaße) oder den Tact […].“ (Refl. 685, AA XV, 305). Zum Begriff des Spiels im Zusammenhang mit Kants philosophischer Ästhetik siehe Kapitel 3.1.1. B35 Anm. Vgl. ferner auch schon A21 Anm. AA X, 514. AA X, 515.
3.1 Raum, Zeit und Ideen im Kontext der philosophischen Ästhetik
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Diese dort nur angedeutete Einsicht bereitet den Weg für eine dritte Kritik vor, die sich mit den ästhetischen Vermögen im engeren Sinne auseinandersetzt.⁷ Kant knüpft somit zumindest ansatzweise an vorkritische Überlegungen an und ändert erneut seine Position bezüglich der Möglichkeit einer apriorischen Geschmackslehre bzw. philosophischen Ästhetik im engeren Sinne. Die Lehre von den sinnlichen Formen und die philosophische Ästhetik sind somit spätestens mit der KU nicht mehr nur über den Ausdruck „Ästhetik“ miteinander verbunden, sondern weisen wieder einen inneren Zusammenhang auf. Denn Raum und Zeit spielen nicht mehr nur bei der sinnlichen Wahrnehmung im Erkenntnisfall eine bedingende Rolle, sondern nunmehr auch im ästhetischen Erleben vom Schönen und Erhabenen: „Alle Form der Gegenstände der Sinne (der äußern sowohl als mittelbar auch des innern) ist entweder Gestalt, oder Spiel […].“⁸ Konkrete raumzeitliche Formen bzw. Gestalten bilden den Anknüpfungspunkt im ästhetischen Erleben, sodass die „schöne Gestalt einer wilden Blume“⁹ das Subjekt dazu reizen kann, sich in einem ästhetischen Zustand aufzuhalten. Um die Bedeutung der kantischen Lehre von Raum und Zeit für seine in der KU entwickelten apriorischen Lehre des Geschmacks zu verstehen, wird es notwendig sein, seine Auseinandersetzung mit dem ästhetischen Erleben vom Schönen und Erhabenen zu thematisieren, das sich seinem Ansatz folgend in ästhetischen Reflexionsurteilen ausdrückt. Nach einer kurzen Einordnung zum ästhetischen Reflexionsurteil im folgenden Kapitel 3.1.1 soll im Kapitel 3.1.2 die Erhabenheit bei Kant thematisiert werden, um schließlich das Thema der philosophischen Ästhetik mit den Themen Raum und Zeit in Kapitel 3.1.3 in einen Zusammenhang zu bringen.
3.1.1 Das ästhetische Reflexionsurteil im Hinblick auf das Phänomen des Schönen Erstens zeichnen sich nach Kant ästhetische Reflexionsurteile (oder auch Geschmacksurteile genannt¹⁰) dadurch aus, dass sie der Qualität nach interessenlos sind.¹¹ Das bedeutet nach Kant, dass die Urteile ein Wohlgefallen ausdrücken,
Für eine Auseinandersetzung mit diesem Doppelsinn des Ausdrucks Ästhetik, der dadurch bei Kant entsteht, siehe die Aufarbeitung bei Wohlfart 1982. AA V, 225. AA V, 299. Vgl. AA V, 204 f.; 211. Dass Kant die Reihenfolge der Kategorien bei der Thematisierung des Geschmacksurteils in der KU vertauscht bzw. dass er mit der Qualität und nicht wie in der KRV mit der Quantität beginnt, ist zunächst überraschend. Vgl. hierzu den Erklärungsversuch bei Fœssel 2008, S. 103 ff.
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ohne dass das Subjekt hierzu den Gegenstand als etwas Angenehmes empfindet oder etwas Nützliches betrachtet. Weder das Interesse „der Sinne, noch das der Vernunft, zwingt den Beifall ab“, sodass das Urteil ein „freie[s] Wohlgefallen“¹² ausdrückt. Damit unterscheidet Kant das Phänomen des Schönen vom Angenehmen und vom Guten. Letztere sind beide interessenorientiert. Das Angenehme ist das, „was den Sinnen in der Empfindung gefällt“. Das Wohlgefallen „ist selbst Empfindung“¹³ und das Subjekt hat ein unmittelbares Interesse am Dasein des Gegenstands dieser Lust. Das Gute wiederum ist das, „was vermittelst der Vernunft durch den bloßen Begriff gefällt“. Hier ist „immer der Begriff eines Zwecks, mithin das Verhältniß der Vernunft zum (wenigstens möglichen) Wollen, folglich ein Wohlgefallen am Dasein eines Objects oder einer Handlung, d. i. irgend ein Interesse, enthalten“¹⁴ – sei es aus subjektivem Nutzen oder aus moralischen Überlegungen heraus.¹⁵ Zweitens kennzeichnen sich ästhetische Reflexionsurteile der Quantität nach dadurch aus, dass sie ein allgemeines Urteil darstellen, obwohl sie sich stets auf einen konkreten bzw. einzelnen Gegenstand beziehen. Kant betont zwar, dass wir ein schönes Objekt unseren „eigenen Augen unterwerfen“¹⁶ müssen, um es als etwas Schönes zu erfahren, aber dennoch drückt dabei das entsprechende äs-
AA V, 210. AA V, 205. AA V, 207. Im Hinblick auf die Spielmetapher konstatiert Wachter: „Für die Lust im Spiel ist nicht entscheidend, ob das Intendierte wirklich wird oder nicht, und der spielerisch-ästhetische Vollzug ist freudvoll ganz unabhängig von der Frage, ob die Erkenntnistätigkeit erfolgreich verläuft.“ (Wachter 2006, S. 214). Entsprechend büßt Kant folgend eine ästhetische Erfahrung auch nicht an Qualität ein, wenn sie bloß halluziniert ist, wie beispielsweise in einem Rausch oder in einem Traum. Kants Ausführungen zu der Metapher des freien Spiels sollten aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass „der Begriff des freien Spiels hochproblematisch ist“ (Ginsborg 2008, S. 75) und intensiv diskutiert wurde. Vgl. hierzu Ginsborg 2008, S. 75 ff. Für Guyer ist der Spielbegriff innerhalb eines apriorischen Ansatzes überhaupt nicht zu retten. Guyer reduziert Kants Ansatz daher auf eine empirische Theorie. Vgl. hierzu Guyer 2010, S. 61– 72. Eine systematische Untersuchung der Metapher des Spiels liefert Wachter 2006, S. 88 – 120. Nach Wachters Einschätzung kann Kants Metapher für die ästhetische Einstellung ernst genommen und für gewinnbringend erklärt werden, da Kants Kriterium der Interessenlosigkeit auch für das spielerische Wohlgefallen zutrifft. Vgl. hierzu Wachter 2006, S. 134 f. Gleichwohl sieht Wachter auch Grenzen für die Metapher des Spiels im Hinblick auf die Ästhetik.Vgl. hierzu die kritische Auseinandersetzung mit dem Spielbegriff in Wachter 2006, S. 179 – 220. Gerhardt und Kaulbach erwähnen, dass somit „die Urteilsmomente durch das erläutert [werden], was sie nicht sind: keine wissenschaftlich-begrifflichen Aussagen, keine normativen Sätze und auch keine Bedürfnisäußerungen“ (Gerhardt / Kaulbach 1979, S. 118). AA V, 216. Vgl. zu dieser Formulierung die Ausführungen bei Ginsborg 2008, S. 67.
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thetische Urteil das Wohlgefallen „ohne Begriff allgemein“¹⁷ aus. Wie Teichert allerdings zu Recht betont, darf man diesen Satz „nicht aus seinem Zusammenhang herauslösen, da man ihn [sonst] leicht mißversteht“¹⁸. Denn „ohne Begriff“ heißt gerade nicht, dass der Verstand hier gar keine Rolle spielen würde, „da es sonst keine Erscheinung gäbe, die wir als ,schönʻ beurteilen könnten“¹⁹, wie Rivera de Rosales treffend kommentiert. Entsprechend schreibt auch Prauss: Nur durch ein […] mitenthaltenes theoretisches Urteil wie ,Dies ist eine Tulpe…ʻ nämlich vermag ein Subjekt im Rahmen eines ästhetischen Urteils wie ,Diese Tulpe ist schönʻ überhaupt ein Objekt zu gewinnen und damit sicherzustellen, daß es auch durch ,… ist schönʻ, nämlich auch ästhetisch in jedem Fall von einem Objekt spricht. Ein jedes ästhetische Urteil enthält somit notwendigerweise als solches selbst schon immer ein theoretisches, weil es allein im Anschluß daran sich als ein ästhetisches Urteil von einem Objekt überhaupt zu entfalten vermag.²⁰
Vor diesem Hintergrund ist auch Kants Formulierung zu verstehen, dass in der ästhetischen Einstellung „die Einbildungskraft ohne Begriff schematisirt“²¹. Die Einbildungskraft bewahrt sich eine gewisse Offenheit und betrachtet beispielsweise eine Tulpe nicht nur vor dem Hintergrund der Merkmale des Tulpenbegriffs, sondern losgelöst vom bestimmten Begriff; sie verweilt dabei ganz bei dem, was der Gegenstand dem Subjekt gibt bzw. was sich das Subjekt am Gegenstand ästhetisch vorstellt. Fricke schreibt treffend, dass die Einbildungskraft des Subjekts in der ästhetischen Einstellung nicht gezwungen ist, „bestimmte Elemente des Gegebenen vorrangig zu berücksichtigen und andere zu vernachlässigen. Sie bleibt in ihrer Suche nach der figürlichen Ordnung in dem Gegebenen auf die Totalität seiner Elemente bezogen.“²² Während für Kant in einem Erkenntnisurteil die Bestimmung der Anschauung durch einen Begriff mit der Unterordnung dieser Anschauung unter einem bestimmten Begriff abgeschlossen ist, da somit ein Gegenstand erkannt und der Intention einer alltäglichen Erkenntnissituation erfolgreich nachgekommen wurde, ist damit in einer ästhetischen Einstellung noch kein Abschluss erzielt bzw. die Intention der ästhetischen Einstellung noch nicht befriedigt. Stattdessen wird der Gegenstand durch die Einbildungskraft, die „für die Zusammensetzung des Mannigfaltigen der Anschauung“²³ zuständig ist, ge-
AA V, 219. Teichert 1992, S. 31. Rivera de Rosales 2008, S. 80. Prauss 1983, S. 286 f. AA V, 287. Fricke 2008, S. 132. AA V, 217.
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geben und der Verstand wird dabei angeregt, weiter nach begrifflichen Bestimmungen zu suchen und sich auszuprobieren, wodurch sich nach Kant eine Harmonie zwischen den Erkenntniskräften einstellen soll.²⁴ Dieses anregende Verhältnis zwischen den beiden Erkenntnisvermögen beschreibt Kant auch und vor allem mit der Metapher des „freien Spiels“. Es ist frei, weil „kein bestimmter Begriff sie [die Erkenntnisvermögen] auf eine besondere Erkenntnißregel einschränkt“²⁵. Hierzu heißt es bei Kant: [Das Geschmacksurteil beruht] auf einer bloßen Empfindung der sich wechselseitig belebenden Einbildungskraft in ihrer Freiheit und des Verstandes mit seiner Gesetzmäßigkeit, also auf einem Gefühle […], das den Gegenstand nach der Zweckmäßigkeit der Vorstellung (wodurch ein Gegenstand gegeben wird) auf die Beförderung der Erkenntnißvermögen in ihrem freien Spiele beurtheilen läßt […].²⁶
Dabei enthält die Urteilskraft „ein Princip der Subsumtion, aber nicht der Anschauungen unter Begriffe, sondern des Vermögens der Anschauungen oder Darstellungen (d. i. der Einbildungskraft) unter das Vermögen der Begriffe (d. i. der Verstand), sofern das erstere in seiner Freiheit zum letzteren in seiner Gesetzmäßigkeit zusammenstimmt“²⁷. Um Erkenntnis geht es in der ästhetischen Einstellung also nicht primär bzw. die Erkenntnis ist nicht die primäre Intention in dieser Bewusstseinseinstellung:
Wachter äußert sich vor dem Hintergrund des genauen Verhältnisses zwischen Verstand und Einbildungskraft kritisch zu Kants Charakterisierung einer Harmonie: „Der Ausdruck ,Harmonie der Erkenntnisvermögenʻ aus dem §9 ist durch die ,Anmerkungʻ prinzipiell fragwürdig geworden. Denn in regulärer Erkenntnistätigkeit, so heißt es dort, ist die Einbildungskraft dem Verstand gewissermaßen zu Diensten, so daß hier jede ,Zusammenstimmungʻ nur durch das Diktat des Verstandes, aus der Sicht der Einbildungskraft also nur unfrei zustande kommen kann. Und soll es die Einbildungskraft sein, die auf ihre Kosten kommt, dreht sich das Verhältnis um, so daß es dann der Verstand ist, der die Rolle des Zurückgestellten einzunehmen hat. Weil es gemäß der ,Allgemeinen Anmerkungʻ im Zustand des freien Spiels eindeutig der Verstand ist, der sich fremden Anforderungen zu unterwerfen hat, ist auch nicht denkbar, daß die ,Harmonieʻ des §9 durch einen Ausgleich der Interessen von Verstand und Einbildungskraft geleistet wird. Bei der geforderten ,freien und unbestimmt zweckmäßigen Unterhaltung der Gemütskräfteʻ sei schließlich ,der Verstand der Einbildungskraft, und nicht diese jenem zu Dienstenʻ (71). Der Verstand gibt diesem ,Spiel der Vorstellungskräfteʻ allenfalls eine Grenze, soweit es nämlich nur ,unter der Bedingung, daß der Verstand dabei keinen Anstoß leideʻ (ebd.), stattfinden kann. […]. Ein solches Kräfteverhältnis zwischen Einbildungskraft und Verstand ist mit der im §9 beschriebenen ,Harmonieʻ […] kaum zu vereinbaren.“ (Wachter 2006, S. 91 f.). AA V, 217. AA V, 287. AA V, 287.
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Die Regelmäßigkeit, die zum Begriffe von einem Gegenstande führt, ist zwar die unentbehrliche Bedingung (conditio sine qua non), den Gegenstand in eine einzige Vorstellung zu fassen und das Mannigfaltige in der Form desselben zu bestimmen. Diese Bestimmung ist ein Zweck in Ansehung der Erkenntniß; und in Beziehung auf diese ist sie auch jederzeit mit Wohlgefallen (welches die Bewirkung einer jeden auch bloß problematischen Absicht begleitet) verbunden. Es ist aber alsdann bloß die Billigung der Auflösung, die einer Aufgabe Genüge thut, und nicht eine freie und unbestimmt-zweckmäßige Unterhaltung der Gemüthskräfte mit dem, was wir schön nennen, und wobei der Verstand der Einbildungskraft und nicht diese jenem zu Diensten ist.²⁸
Vor dem Hintergrund dieser Stelle ist das ästhetische Urteil als ein Urteil „ohne Begriff“ zu verstehen. Das freie und anregende Verhältnis erweckt ein Lustgefühl, wodurch das Schöne das Subjekt reizt. So gelangt das Subjekt schlussendlich zu dem Urteil: Dies ist schön.²⁹
AA V, 242. Ob bei der ästhetischen Einstellung in Kants Überlegungen überhaupt Intentionalität involviert ist, wird in der Kant-Literatur kontrovers diskutiert. Vgl. hierzu die Hinweise bei Ginsborg 2008, S. 64. Eine systematische Auseinandersetzung mit dieser Frage liefert auch hier Wachter. Siehe Wachter 2006, S. 146 – 178. Er macht darauf aufmerksam, dass Kant Intentionalität als „absichtliche Hervorbringung“ (AA V, 408) kennt und auch in Anspruch nimmt. Vgl. Wacher 2006, S. 146 Anm. In diesem Kontext spricht Wachter bei der ästhetischen Einstellung von einem prima facie widersprüchlich anmutenden „Intendieren ohne Interesse“ (Wachter 2006, S. 132). Für einen systematischen Ansatz, theoretische, praktische und ästhetische Bewusstseinseinstellungen im Hinblick auf Kants Charakterisierung des ästhetischen Urteils zu differenzieren, siehe Prauss 1983, S. 277– 308. Im Zusammenhang mit der Frage nach der Intentionalität ist es wichtig festzuhalten, dass nach Kant die ästhetische Einstellung jedenfalls keine moralischen, technischen oder epistemischen Zwecke verfolgt. Das Geschmacksurteil ist „bloß contemplativ“ (AA V, 222). Gleichwohl lässt sich diese Kontemplation auch als eine aktive „Verweilung“ (AA V, 222) lesen, wie Prauss im Zuge seiner Interpretation anmerkt. Vgl. Prauss 1983, S. 289 f. Anm. Die Schönheit betrifft „eigentlich bloß die Form“ (AA V, 223), sodass ein Sinnesreiz nur als Begleiterscheinung auftreten darf. Mit Reiz meint Kant daher auch das nicht-empirische, spielerische – und insofern reizvolle – Verhältnis zwischen den Vorstellungsvermögen. In diesem Sinne ist Reiz also nicht mit Annehmlichkeit gleichzusetzen, sondern im Gegenteil als aufregendes Spiel der Vorstellungskräfte zu verstehen. Die Abwesenheit des ästhetischen Reizes ist somit in erster Linie als ein ästhetisches Missfallen bzw. als Langeweile zu deuten. Vgl. hierzu Wachter 2006, S. 103. In §13 spricht Kant daher auch von der Möglichkeit eines „reinen Geschmacksurteil[s]“, das ohne sinnliche Rührung auskommt. Trotz dieser Möglichkeit eines reinen Geschmacksurteils bedeutet dies nicht, dass beispielsweise geometrische Formen als reine Formen per se schön wären. Nach Kant sind sie es gerade nicht, da sie im Endeffekt nur eine Darstellung eines Begriffs sind. Sie bilden kein Spiel zwischen den Erkenntnisvermögen. Genau genommen müsste man demnach sagen, dass zwar einige Formen eine besonders gute und adäquate Darstellung eines Begriffs sind, ästhetisch betrachtet aber letztlich langweilig bleiben. Vgl. hierzu AA V, 240 ff. Wachter betont jedoch, dass Kant stellenweise dazu neigt, die Schönheit
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Drittens drückt ein Geschmacksurteil der Relation nach aus, dass etwas zweckmäßig ist, ohne dass ein Zweck an diesem etwas wahrgenommen wird. In Kants Worten ausgedrückt: „Schönheit ist Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, sofern sie ohne Vorstellung eines Zwecks an ihm wahrgenommen wird.“³⁰ Um diesen, wie Engelhard betont, nur „scheinbar widersprüchlichen Ausdruck ,Zweckmäßigkeit ohne Zweckʻ“³¹ nachvollziehen zu können, ist es wichtig, den Begriff der Zweckmäßigkeit bei Kant genauer zu erläutern. Im Allgemeinen ist etwas zweckmäßig, wenn es dem Subjekt als Mittel zur Befolgung seiner Intention behilflich ist. Beispielsweise ist ein Werkzeug zweckmäßig, da es für einen bestimmten Zweck hergestellt wurde und ich mit diesem eine Intention erfüllen kann. Kant spricht in diesem Kontext auch von „Nützlichkeit“³². Doch darüber hinaus kann etwas auch zweckmäßig sein, ohne dass es für einen bestimmten Zweck hergestellt wurde bzw. ohne dass man ein Subjekt voraussetzen muss, das dieses Zweckmäßige zu einem bestimmten Zweck hergestellt hat. Kant formuliert diesen Sachverhalt wie folgt: Zweckmäßig aber heißt ein Object, oder Gemüthszustand, oder eine Handlung auch, wenn gleich ihre Möglichkeit die Vorstellung eines Zwecks nicht nothwendig voraussetzt, bloß darum, weil ihre Möglichkeit von uns nur erklärt und begriffen werden kann, sofern wir eine Causalität nach Zwecken, d. i. einen Willen, der sie nach der Vorstellung einer gewissen Regel so angeordnet hätte, zum Grunde derselben annehmen.³³
Veranschaulichen lassen sich diese abstrakten Überlegungen an komplexen biologischen Naturgegenständen wie etwa Organismen. Die Betrachtung einer Pflanze erschöpft sich nach Kant nicht in einer kausal-mechanischen Betrachtungsweise. Um eine Pflanze vollumfänglich zu erfassen, müssen wir sie nach Zwecken denken bzw. nach einer „Causalität nach Zwecken, d. i. eine[m] Willen“, auch wenn kein Wille diese Pflanze konkret hergestellt hat. Doch nur dadurch, dass wir uns die Teile einer Pflanze im Hinblick auf einen gemeinsamen Zweck vorstellen, können wir uns einen Organismus adäquat verständlich machen: „Also können wir eine Zweckmäßigkeit der Form nach, auch ohne daß wir ihr einen Zweck […] zum Grunde legen, wenigstens beobachten und an Gegenständen, wiewohl nicht anders als durch Reflexion, bemerken.“³⁴ Kant führt dies
auf die Verhältnisse von Formen und deren adäquate Abbildung zurückzuführen. Vgl. hierzu Wachter 2006, S. 181. AA V, 236. Engelhard 2003, S. 368. AA V, 226. AA V, 220. AA V, 220.
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insbesondere im zweiten Teil der KU aus, in dem es um die teleologische Urteilskraft geht. Doch auch für die ästhetische Urteilskraft ist das Konstrukt der „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“, die Kant auch „formale Zweckmäßigkeit“³⁵ nennt, wichtig. Für Kant kann es nämlich Gegenstände geben, die nicht wie im Falle eines Organismus objektiv, sondern subjektiv, also im Hinblick auf das Spiel unserer Erkenntnisvermögen, zweckmäßig sind: Denn jene Auffassung der Formen in die Einbildungskraft kann niemals geschehen, ohne daß die reflctierende Urtheilskraft, auch unabsichtlich, sie wenigstens mit ihrem Vermögen, Anschauungen auf Begriffe zu beziehen, vergliche. Wenn nun in dieser Vergleichung die Einbildungskraft (als Vermögen der Anschauungen a priori) zum Verstande (als Vermögen der Begriffe) durch eine gegebene Vorstellung unabsichtlich in Einstimmung versetzt und dadurch ein Gefühl der Lust erweckt wird, so muß der Gegenstand alsdann als zweckmäßig für die reflectierende Urtheilskraft angesehen werden.³⁶
Kant spricht in diesem Kontext, um eine Abgrenzung von der teleologischen Urteilskraft zu gewährleisten, auch von einer „formale[n] subjective[n] Zweckmäßigkeit“³⁷. Die vierte und letzte Charakterisierung, der Kategorientafel entsprechend, betrifft die Modalität des Geschmacksurteils. Schön ist demnach, „was ohne Begriff als Gegenstand eines notwendigen Wohlgefallens erkannt wird“. Das ästhetische Urteil drückt also eine gewisse Notwendigkeit aus. Diese Notwendigkeit darf jedoch nicht mit der Notwendigkeit von theoretischen Sätzen verwechselt werden, obwohl es sich auch hier um „synthetische Urtheile a priori“³⁸ handeln soll: Vom Schönen aber denkt man sich, daß es eine nothwendige Beziehung auf das Wohlgefallen habe. Diese Nothwendigkeit nun ist von besonderer Art: nicht eine theoretische objective Nothwendigkeit, wo a priori erkannt werden kann, daß jedermann dieses Wohlgefallen an dem von mir schön genannten Gegenstande fühlen werde; auch nicht eine praktische, wo durch Begriffe eines reinen Vernunftwillens, welcher freihandelnden Wesen zur Regel dient, dieses Wohlgefallen die nothwendige Folge eines objectiven Gesetzes ist und nicht anders bedeutet, als daß man schlechterdings (ohne weitere Absicht) auf gewisse Art handeln solle. Sondern sie kann als Nothwendigkeit, die in einem ästhetischen Urtheile gedacht wird, nur exemplarisch genannte werden, d. i. eine Nothwendigkeit der Beistimmung aller zu einem Urtheil, was als Beispiel einer allgemeinen Regel, die man nicht an-
AA V, 226. AA V, 190. AA V, 228. Zu einer Übersicht bezüglich der Unterscheidung zwischen sowohl subjektiver und objektiver als auch formaler und materialer sowie relativer und absoluter Zweckmäßigkeit in der KU siehe Teichert 1992, S. 105 – 111 und ferner auch Wachter 2006, S. 48 – 55. AA V, 289.
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geben kann, angesehen wird. Da ein ästhetisches Urtheil kein objectives und Erkenntnißurtheil ist, so kann diese Nothwendigkeit nicht aus bestimmten Begriffen abgeleitet werden und ist also nicht apodiktisch. Viel weniger kann sie aus der Allgemeinheit der Erfahrung […] geschlossen werden.³⁹
Somit handelt es sich letztlich um eine bedingte Notwendigkeit, wodurch das „Sollen im ästhetischen Urtheile […] nur bedingt ausgesprochen“⁴⁰ werden kann. Doch auch eine bedingte Notwendigkeit wäre niemals gerechtfertigt, wenn der Grund eines ästhetischen Urteils allein in der Erfahrung angesetzt wäre, wie schon die theoretische Auseinandersetzung mit apriorischen Ansprüchen von Urteilen und Humes Skeptizismus gezeigt haben.⁴¹ In Anbetracht dessen unterstellt man nach Kant in einem ästhetischen Urteil einen „Gemeinsinn“, sodass man „um jedes andern Beistimmung“⁴² wirbt und erwartet, dass sie einem im ästhetischen Urteil zustimmen. Wie Teichert treffend beschreibt, gleicht das ästhetische Urteil einem „Appell an die anderen“⁴³. Engelhard spricht beim sensus communis von einer „notwendige[n], regulative[n] Voraussetzung des ästhetischen Urteilens“⁴⁴. Nach Kant hängt dies damit zusammen, dass das ästhetische Urteil im Prinzip durch das Verhältnis zwischen den Erkenntnisvermögen begründet wird, sodass die Möglichkeit der ästhetischen Einstellung von jedermann erwartet werden kann, vorausgesetzt das jeweils andere Subjekt betrachtet den Gegenstand ebenfalls interessenlos. Somit ist die „Nothwendigkeit der allgemeinen Beistimmung, die in einem Geschmacksurtheil gedacht wird, […] eine subjective Nothwendigkeit[,] die unter der Voraussetzung eines Gemeinsinns als objectiv vorgestellt wird“⁴⁵. Wie Fricke betont, kann das Subjekt auf einer Allgemeingültigkeit beharren, weil es sein Urteil gerade nicht auf die bloße Affektion von Sinnesreizen bzw. angenehmen Empfindungen stützt, sondern es stattdessen auf einem Spiel seiner apriorischen Erkenntniskräfte beruht.⁴⁶ Entsprechend heißt es schon in der Einleitung zur KU ausführlich: Ein einzelnes Erfahrungsurtheil, z. B. von dem, der in einem Bergkristall einen beweglichen Tropfen Wasser wahrnimmt, verlangt mit Recht, daß ein jeder andere es eben so finden müsse, weil er dieses Urtheil nach den allgemeinen Bedingungen der bestimmenden Urt-
AA V, 236 f. AA V, 237. Vgl. Anmerkung 231 aus Kapitel 1. AA V, 237. Teichert 1992, S. 52. Engelhard 2003, S. 373. AA V, 239. Vgl. Fricke 2008, S. 135 f. Vgl. hierzu auch Engelhard 2003, S. 372.
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heilskraft unter den Gesetzen einer möglichen Erfahrung überhaupt gefällt hat. Eben so macht derjenige, welcher in der bloßen Reflexion über die Form eines Gegenstandes ohne Rücksicht auf einen Begriff Lust empfindet, obzwar dieses Urtheil empirisch und ein einzelnes Urteil ist, mit Recht Anspruch auf Jedermanns Beistimmung: weil der Grund zu dieser Lust in der allgemeinen, obzwar subjectiven Bedingung der reflectirenden Urtheile, nämlich der zweckmäßigen Übereinstimmung eines Gegenstandes (er sei Product der Natur oder der Kunst) mit dem Verhältnis der Erkenntnißvermögen unter sich, die zu jedem empirischen Erkenntniß erfordert werden (der Einbildungskraft und des Verstandes), angetroffen wird. Die Lust ist also im Geschmacksurtheile zwar von einer empirischen Vorstellung abhängig und kann a priori mir keinem Begriffe verbunden werden (man kann a priori nicht bestimmen, welcher Gegenstand dem Geschmacke gemäß sein werde, oder nicht, man muß ihn versuchen); aber sie ist doch der Bestimmungsgrund dieses Urtheils nur dadurch, daß man sich bewußt ist, sie beruhe bloß auf der Reflexion und den allgemeinen, obwohl nur subjectiven Bedingungen der Übereinstimmung derselben zum Erkenntniß der Objecte überhaupt, für welche die Form des Objects zweckmäßig ist.⁴⁷
Die entsprechende Deduktion, die sich auf diesen apriorischen Zusammenhang gründet, zeigt nach Kant, dass „wir berechtigt sind, dieselben subjectiven Bedingungen der Urtheilskraft allgemein bei jedem Menschen vorauszusetzen“⁴⁸.
AA V, 191. AAV, 290. Aufgrund dieses Anspruchs, der sich auch darin ausdrückt, dass ästhetische Urteile nach Kant „synthetische Urtheile a priori“ (AA V, 289) sind, bedürfen die Geschmacksurteile einer Deduktion, wie auch schon die synthetischen Urteile a priori in der KRV. Eine entsprechende Deduktion, d. i. „Legitimation seiner Anmaßung“ (AA V, 279), die erklären soll, „wie ein ästhetisches Urtheil auf Nothwendigkeit Anspruch machen könne“ (AA V, 288), liefert Kant im späteren Verlauf der Analytik der ästhetischen Urteilskraft. Das soll hier aber nicht weiter untersucht werden, da es primär um das Erhabene geht, das nach Kant aber keiner Deduktion bedarf, denn ästhetische Urteile über das Erhabene beziehen sich letztlich bloß auf die menschliche „Denkungsart“. Dabei ist der Gegenstand nur eine „Veranlassung“, wodurch er zwar subjektiv zweckmäßig ist, jedoch „nicht als ein solcher für sich und seiner Form wegen beurtheilt wird“. Die Auseinandersetzung mit dem Erhabenen und der Reflexion der Urteilskraft in den entsprechenden Urteilen zeigt nach Kant, dass ein „zweckmäßiges Verhältniß der Erkenntnißvermögen“ vorliegt, „welches dem Vermögen der Zwecke (dem Willen) a priori zum Grunde gelegt werden muß und daher selbst a priori zweckmäßig ist: welches denn sofort die Deduction, d. i. die Rechtfertigung des Anspruchs eines dergleichen Urtheils auf allgemeine-nothwendige Gültigkeit, enthält“. Deshalb kommt Kant zu dem Schluss, dass die „Exposition der Urtheile über das Erhabene der Natur zugleich ihre Deduction“ (AA V, 280) ist. Nach Teichert ist eine Deduktion nur dann erforderlich, „wenn ein Urteil Anspruch auf Notwendigkeit erhebt, und wenn es möglich scheint, übergeordnete a priori-Prinzipien zu finden, aus denen das Urteil abgeleitet werden kann“. Nach der Analyse des Erhabenen entfällt dieses Erfordernis nach Teichert jedoch, weil die „Analyse des Erhabenen […] insofern bereits eine Rechtfertigung gegeben [hat], als gezeigt wurde, daß sich der Urteilende im Fall des Erhabenen nur seiner eigenen Vernunftfähigkeit bewußt wird“.Weiter heißt es: „Die Ideen der Vernunft, die hier von Bedeutung sind, werden als universal
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3.1.2 Das ästhetische Reflexionsurteil im Hinblick auf das Phänomen des Erhabenen Wie eingangs erwähnt, stellt Kant bereits 1764 in Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen heraus, dass die Analyse unserer ästhetischen Erfahrung neben dem Schönen auch das ästhetische Erlebnis des Erhabenen beherbergt. Entsprechend heißt es zu Beginn der KU: Die Empfänglichkeit einer Lust aus der Reflexion über die Formen der Sachen (der Natur sowohl als der Kunst) bezeichnet aber nicht allein eine Zweckmäßigkeit der Objecte im Verhältniß auf die reflectirende Urtheilskraft, gemäß dem Naturbegriffe, am Subject, sondern auch umgekehrt des Subjects in Ansehung der Gegenstände, ihrer Form, ja selbst ihrer Unform nach, zufolge dem Freiheitsbegriffe; und dadurch geschieht es: daß das ästhetische Urtheil nicht bloß als Geschmacksurtheil auf das Schöne, sondern auch, als aus einem Geistesgefühl entsprungenes, auf das Erhabene bezogen wird, und so jene Kritik der ästhetischen Urtheilskraft in zwei diesen gemäße Haupttheile zerfallen muß.⁴⁹
Das Erhabene stimmt mit dem Schönen zunächst insofern überein, als dass beide für sich selbst (also interessenlos) gefallen und beide als ästhetische Einstellung des Subjekts ästhetische Reflexionsurteile ausdrücken, da es nicht um objektive Beschaffenheiten am Gegenstand geht. Folglich ist „das Wohlgefallen, nicht an einer Empfindung, wie die des Angenehmen, noch an einem bestimmten Begriffe, wie das Wohlgefallen am Guten“ orientiert, sondern an dem, „wodurch […] die Einbildungskraft bei einer gegebenen Anschauung mit dem Vermögen der Begriffe des Verstandes oder der Vernunft, als Beförderung der letztern, in Einstimmung betrachtet wird“⁵⁰. Im Unterschied zum Schönen entspringt die Lust am Erhabenen jedoch nicht direkt, sondern „indirect[]“⁵¹. Die ästhetische Einstellung beim Erhabenen bringt nämlich ein Gefühl der Überwindung „einer augenblicklichen Hemmung“ mit sich und ist somit „kein Spiel“, sondern vielmehr „Ernst in der Beschäftigung der Einbildungskraft“. Da es mit den „Reizen unvereinbar ist“, weil das Subjekt nicht nur angezogen, „sondern wechselweise auch immer wieder abgestoßen wird“, nennt Kant es auch eine „negative Lust“⁵².
angesehen und können nicht mehr aus einem höherstufigen Prinzip abgeleitet werden.“ (Teichert 1992, S. 71). AA V, 192. AA V, 244. AA V, 245. AA V, 245. Gleichwohl ist diese sich schließlich einstellende Lust am Erhabenen umso stärker, da uns das „Gefühl des Erhabenen […] mehr hinreißt als alles Schöne“ (AA VI, 23 Anm.), wie Kant in seiner Religionsschrift im Hinblick auf Schillers Kritik in Anmut und Würde anmerkt. Bezüglich der Kritik Schillers in diesem Kontext siehe Prauss 1983, S. 240 – 326. Zur Ernsthaftigkeit des Er-
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Während das Schöne uns darauf vorbereitet, etwas „ohne Interesse zu lieben“, bereitet das Erhabene uns darauf vor, etwas „selbst wider unser (sinnliches) Interesse hochzuschätzen“⁵³. Teichert spricht bezüglich dieser Ambivalenz beim Erhabenen treffend von einem „Mischaffekt“⁵⁴, da die anfängliche Hemmung sich im nächsten Schritt bzw. in der ästhetischen Beurteilung in ein Wohlgefallen verwandelt und sich das Phänomen schließlich als zweckmäßig für die Reflexion über die Ideen des Subjekts erweist. Ferner findet das Subjekt beim Erhabenen nach Kant nicht nur Gefallen an wohlgeformten Gegenständen, wie etwa beim Schönen, sondern findet „auch [an] einem formlosen“ Gegenstand gefallen, „sofern Unbegränztheit an ihm oder durch dessen Veranlassung vorgestellt und doch Totalität derselben hinzugedacht wird“⁵⁵. Aufgrund dieses Bezugs zur Totalität wird das Erhabene im Unterschied zum Schönen, das mit Verstandesbegriffen zusammenhängt, auch als „Darstellung […] eines dergleichen Vernunftbegriffs“⁵⁶ betrachtet. Wir erfahren bei dem Erhabenen statt einer unmittelbaren subjektiven Zweckmäßigkeit zunächst eine gefühlte Zweckwidrigkeit, da die Betrachtung eines entsprechenden Gegenstandes „gleichsam gewaltthätig für die Einbildungskraft erscheinen mag“⁵⁷, wodurch unser Darstellungsvermögen die zunächst negative Erfahrung macht, dass es den Inhalten gleichsam nicht mehr hinterherkommt. Vielmehr müssen wir uns konzentrieren und fokussieren, um den gewaltigen Inhalt zu erfassen. Diese Erfahrung erweckt gleichzeitig jedoch eine Idee von etwas Größerem als unserem eigenen Fassungsvermögen. Das Erhabene führt somit nach Kant in das Feld der Ideen bzw. zum Vermögen der Vernunft, wodurch sich die Erfahrung der anfänglichen Hemmung insgesamt und schlussendlich als zweckmäßig für die Reflexion erweist. Wie Fœssel daher richtig konstatiert, wäre es „falsch, von dieser Zweckwidrigkeit des Gefühls auf die des Urteils selbst zu schließen“⁵⁸. Kant beschreibt diese Ambivalenz treffend wie folgt: „Erhaben ist das, was durch seinen Widerstand gegen das Interesse der Sinne unmittelbar gefällt.“⁵⁹ Die „Lust am Erhabenen der Natur“ ist somit eine „Lust der vernünftelnden Contemplation“⁶⁰. Vor dem Hintergrund, dass die Chahabenen im Hinblick auf die Spielmetapher siehe die Ausführungen zum mathematisch Erhabenen weiter unten in diesem Kapitel. AA V, 267. Teichert 1992, S. 57. AA V, 244. AA V, 244. AA V, 245. Fœssel 2008, S. 105. AA V, 267. AA V, 292. Dabei ist die Kontemplation als eine „Kontemplation nach Ideen“ (AA V, 292) zu verstehen.
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rakterisierung des ästhetischen Urteils in der Analytik des Schönen im Prinzip auch auf das ästhetische Urteil im Zusammenhang mit dem Erhabenen zutrifft, sieht Kant von einer erneuten Bestimmung des ästhetischen Urteils mittels der Kategorientafel ab. Ästhetische Urteile, die die ästhetische Einstellung beim Erleben des Erhabenen ausdrücken, sind – ebenso wie die ästhetischen Urteile, die das Schöne ausdrücken – der Quantität nach allgemein, der Qualität nach interessenlos, der Relation nach subjektiv zweckmäßig und der Modalität nach notwendig. Statt eine erneute Charakterisierung zu formulieren, unterscheidet Kant zwei grundsätzliche Arten der Erhabenheit – nämlich das mathematisch Erhabene und das dynamisch Erhabene, worauf im Folgenden einzugehen sein wird. Die Ausführungen in Kapitel 2.2.3 bezüglich des Schematismus in der KRV haben gezeigt, dass durch die Schematisierung des quantitativen Einheitsbegriffs das Erkennen von gegenständlichen Einheiten ermöglicht wird. Dadurch erscheint die Welt als eine komplexe Vielheit von Räumlichem und Zeitlichem, die innerhalb der ursprünglichen Anschauungsformen von Raum und Zeit auftritt. Wie Kant es in der KU ausdrückt, bedeutet ein „Quantum in die Einbildungskraft aufzunehmen“, es „zum Maße oder [es] als Einheit zur Größenschätzung durch Zahlen“⁶¹ fähig zu machen. Wie Fœssel richtig feststellt, knüpft Kant hier somit an seine Überlegungen aus der KRV bzw. den Axiomen der Anschauung bezüglich extensiver Größen an.⁶² Die Schematisierung der Quantitätskategorie durch das Schema der Zahl liefert die Vorstellung einer bestimmten Größe in der Erscheinung. Trotzdem ist dadurch noch nicht bestimmt, wie groß ein Gegenstand in Anbetracht anderer Gegenstände ist. Hierzu bedarf es neben der kategorialen Bestimmung noch einer Bestimmung durch ein Maß, das allerdings nicht a priori gegeben werden kann, wie Kant in der KU weiter ausführt: Daß etwas eine Größe (quantum) sei, läßt sich aus dem Dinge selbst ohne alle Vergleichung mit andern erkennen: wenn nämlich Vielheit des Gleichartigen zusammen Eines ausmacht. Wie groß es aber sei, erfordert jederzeit etwas anderes, welches auch Größe ist, zu seinem Maße. Weil es aber in der Beurtheilung der Größe nicht bloß auf die Vielheit (Zahl), sondern auch auf die Größe der Einheit (des Maßes) ankommt, und die Größe dieser letztern immer wiederum etwas Anderes als Maß bedarf, womit sie verglichen werden könne: so sehen wir, daß alle Größenbestimmung der Erscheinungen schlechterdings keinen absoluten Begriff von einer Größe, sondern allemal nur einen Vergleichsbegriff liefern könne.⁶³
AA V, 251. Vgl. Fœssel 2008, S. 108 f. AA V, 248.
3.1 Raum, Zeit und Ideen im Kontext der philosophischen Ästhetik
301
Wenn man folglich über die Bestimmung von etwas als bloße Größe hinaus auch noch bestimmen möchte, wie groß etwas in concreto ist, setzt dies einen Vergleich mit einer anderen Größe und somit auch ein Maß voraus. Die Bestimmung eines konkreten Größenwerts nach einem objektiven Maß ist also relativ. Doch unabhängig von diesem „mathematisch-bestimm[ten]“ Vergleich ist es möglich, etwas als schlechthin groß zu beurteilen: Wenn ich nun schlechtweg sage, daß etwas groß sei, so scheint es, daß ich gar keine Vergleichung im Sinne habe, wenigstens mit keinem objectiven Maße, weil dadurch gar nicht bestimmt wird, wie groß der Gegenstand sei. […] Wenn wir (unter der obengenannten Einschränkung) von einem Gegenstand schlechtweg sagen, er sei groß: so ist dies kein mathematisch-bestimmendes, sondern ein bloßes Reflexionsurtheil über die Vorstellung desselben, die für einen gewissen Gebrauch unserer Erkenntnißkräfte in der Größenschätzung subjectiv zweckmäßig ist […].⁶⁴
Diese Auseinandersetzung mit einem schlechthin Großen führt zum ästhetischen Phänomen des Erhabenen: Aber eben darum, daß in unserer Einbildungskraft ein Bestreben zum Fortschritte ins Unendliche, in unserer Vernunft aber ein Anspruch auf absolute Totalität als auf eine reelle Idee liegt: ist selbst jene Unangemessenheit unseres Vermögens der Größenschätzung der Dinge der Sinnenwelt für diese Idee die Erweckung des Gefühls eines übersinnlichen Vermögen in uns; und der Gebrauch, den die Urtheilskraft von gewissen Gegenständen zum Behuf des letzteren (Gefühls) natürlicher Weise macht, nicht aber der Gegenstand der Sinne ist schlechthin groß, gegen ihn aber jeder andere Gebrauch klein. Mithin ist die Geistesstimmung durch eine gewisse die reflectirende Urtheilskraft beschäftigende Vorstellung, nicht aber das Objekt erhaben zu nennen.⁶⁵
Erhaben nennen wir vor diesem Hintergrund nach Kant dasjenige, „was schlechthin groß ist“⁶⁶. Es ist das „mit welchem in Vergleichung alles andere klein ist“. Ferner ist das erhaben, „was auch nur denken zu können ein Vermögen des Gemüths beweiset, das jeden Maßstab der Sinne übertrifft“⁶⁷. Auch wenn die Stimmung im ästhetischen Erleben des Erhabenen ernst und nicht spielerisch wie beim Schönen ist, zeigen bereits diese Stellen, dass es sich auch hier um ein Spiel zwischen den Erkenntnisvermögen handelt, allerdings nicht wie beim Schönen zwischen Einbildungskraft und Verstand, sondern zwischen Einbildungskraft und Vernunft:
AA V, 248 f. AA V, 250. AA V, 248. AA V, 250.
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3 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der KU und im OP
Das Urtheil selber bleibt aber hierbei immer nur ästhetisch, weil es, ohne einen bestimmten Begriff vom Objecte zum Grunde zu haben, bloß das subjective Spiel der Gemüthskräfte (Einbildungskraft und Vernunft) selbst durch ihren Contrast als harmonisch vorstellt. Denn so wie Einbildungskraft und Verstand in der Beurtheilung des Schönen durch ihre Einhelligkeit, so bringen Einbildungskraft und Vernunft hier durch ihren Widerstreit subjective Zweckmäßigkeit der Gemüthskräfte hervor: nämlich ein Gefühl, daß wir reine, selbstständige Vernunft haben, oder ein Vermögen der Größenschätzung, dessen Vorzüglichkeit durch nichts anschaulich gemacht werden kann, als durch die Unzulänglichkeit desjenigen Vermögens, welches in Darstellung der Größen (sinnlicher Gegenstände) selbst unbegränzt ist.⁶⁸
Wenn also die Aussage, dass etwas groß ist, nicht relativ zu anderen Objekten, sondern relativ zum Subjekt formuliert wird, dann handelt es sich um ein Reflexionsurteil. Etwas ist für das menschliche Subjekt groß, weil es für die menschliche Einbildungskraft schwerlich zu fassen ist: Anschaulich ein Quantum in die Einbildungskraft aufzunehmen, um es zum Maße oder als Einheit zur Größenschätzung durch Zahlen brauchen zu können, dazu gehören zwei Handlungen dieses Vermögens: Auffassung (apprehensio) und Zusammenfassung (comprehensio aesthetica). Mit der Auffassung hat es keine Noth: denn damit kann es ins Unendliche gehen; aber die Zusammenfassung wird immer schwerer, je weiter die Auffassung fortrückt, und gelangt bald zu ihrem Maximum, nämlich dem ästhetisch-größten Grundmaße der Größenschätzung. Denn wenn die Auffassung so weit gelangt ist, daß die zuerst aufgefaßten Theilvorstellungen der Sinnenanschauung in der Einbildungskraft schon zu erlöschen anheben, indeß daß diese zu Auffassung mehrerer fortrückt: so verliert sie auf einer Seite eben so viel, als sie auf der andern gewinnt, und in der Zusammenfassung ist ein Größtes, über welches sie nicht hinauskommen kann.⁶⁹
Das Subjekt gerät in eine Spannung zwischen seiner „Auffassung“ und der Bestimmung dieser zu einem konkreten Erfahrungsgegenstand bzw. seiner „Zusammenfassung“⁷⁰. Die quantitativen Kategorien lassen sich durch das Zahlschema nicht so anwenden, dass ein Quantum konkret bestimmt werden kann. Stattdessen läuft die Einbildungskraft ins Leere und muss erstaunt vor der Größe des betrachteten Objekts resignieren. Obwohl diese ästhetische Größenschätzung relativ zum menschlichen Subjekt erfolgt, liefert es somit einen absoluten Maßstab, denn für die ästhetische Größenschätzung gibt es im Gegensatz zu der mathematischen durch Zahlen sehr wohl „ein Größtes“, das als „absolutes Maß“ dient und das, wenn etwas in der ästhetischen Erfahrung als solches beurteilt
AA V, 258. AA V, 251 f. AA V, 251.
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wird, „die Idee des Erhabenen bei sich führ[t]“⁷¹. Durch diesen intersubjektiven Maßstab im Zusammenhang mit der Einbildungskraft fordert auch ein ästhetisches Reflexionsurteil im Hinblick auf das Erhabene allgemeinen Beifall und führt somit eine gewisse Notwendigkeit bei sich, wie schon die Analyse des Reflexionsurteils zeigte.⁷² Um seine abstrakten Erklärungen plastisch zu machen, führt Kant einige Beispiele zum mathematisch Erhabenen an, wie das Erlebnis beim Eintritt in die „St. Peterskirche in Rom“ oder die Betrachtung der ägyptischen „Pyramiden“, bei denen „das Auge einige Zeit [benötigt], um die Auffassung von der Grundfläche bis zur Spitze zu vollenden“, sodass in dieser Zeit die ersteren Eindrücke von der Grundfläche wieder „erlöschen […], ehe die Einbildungskraft die letzteren [von der Spitze] aufgenommen hat“. Doch auch wenn unsere Einbildungskraft die Erfahrung macht, dass sie solche Phänomene wie die Gewaltigkeit der ägyptischen Pyramiden „nie vollständig“⁷³ fassen kann, erweist sich die ästhetische Reflexion dennoch als lustvoll, weil sie auf das Feld der Ideen führt, die trotz der Mannigfaltigkeit der Erfahrung Orientierung stiften können, indem sie immer schon über die einzelnen Momente der Erfahrung hinweg auf die Welt vorstellend ausgreifen. Damit hört das Subjekt „auf die Stimme der Vernunft“ in sich, die „zu allen gegebenen Größen, selbst denen, die zwar niemals ganz aufgefaßt werden können, gleichwohl aber (in der sinnlichen Vorstellung) als ganz beurtheilt werden, Totalität fordert“⁷⁴. Die Vorstellung einer Totalität ist die „Idee des absoluten Ganzen“. Das Erhabene zeigt uns die „Unzweckmäßigkeit des Vermögens der Einbildungskraft“ bei der vollständigen Auffassung, die sich jedoch „für Vernunftideen und deren Erweckung als zweckmäßig“⁷⁵ herausstellt. Dadurch, dass dieses ästhetische Erlebnis anhand von überwältigenden Phänomenen auftrifft, sind wir nach Kant bei der Beurteilung eines Dinges als erhaben geneigt, diese Qualität dem Ding selbst zuzusprechen, obwohl die „wahre Erhabenheit nur im Gemüthe der Urtheilenden, nicht in dem Naturobjecte, dessen Beurtheilung diese Stimmung desselben veranlaßt, müsse gesucht werden“⁷⁶. Kant spricht hier von einer „Subreption“, d. i. die „Verwechslung einer Achtung für das Object statt der für die Idee der Menschheit in unserm Subjecte“⁷⁷. Als
AA V, 251. Vgl. AA V, 248. AA V, 252. AA V, 254. AA V, 260. AA V, 256. AA V, 257. Ferner heißt es: „Zum Schönen der Natur müssen wir einen Grund außer uns suchen, zum Erhabenen aber bloß in uns […].“ (AAV, 246).Vgl. hierzu erläuternd Fœssel 2008, S. 105 und Engelhard 2003, S. 370.
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Achtung bezeichnet Kant dies, weil Achtung das „Gefühl der Unangemessenheit unseres Vermögens zur Erreichung einer Idee, die für uns Gesetz ist“⁷⁸, darstellt. Zwar liefern die Ideen keine konstitutiven Vorstellungen, wie die Dialektik in der KRV gezeigt hat, gleichwohl stiften sie sowohl in theoretisch-wissenschaftlicher als auch in praktisch-moralischer Hinsicht durch ihre regulative Funktion Orientierung und somit auch eine gewisse Befriedigung durch heuristische Prinzipien oder eben durch den Glauben.⁷⁹ Neben der mathematischen Erhabenheit gibt es nach Kant noch eine zweite Erscheinungsweise der ästhetischen Erfahrung des Erhabenen – nämlich die dynamische Erhabenheit. Zu dem Verhältnis zwischen mathematischer und dynamischer Erhabenheit führt Kant in der KU nichts weiter aus. Gleichwohl ist klar, dass die Grundlage für beide Weisen des Erhabenen das Verhältnis zwischen Einbildungskraft und Vernunft ist. Diese Gemeinsamkeit legt es nahe, hier von „zwei Modalitäten“⁸⁰ zu sprechen, wie Fœssel vorschlägt. Während sich dabei die mathematische Erhabenheit auf die quantitative Weite und Größe der Erscheinung bezieht, bezieht sich die dynamische Erhabenheit auf die Macht derselben. Daher spielen bei der dynamischen Erhabenheit die Begriffe Macht und Gewalt eine zentrale Rolle für Kant: Macht ist ein Vermögen, welches großen Hindernissen überlegen ist. Eben dieselbe heißt eine Gewalt, wenn sie auch dem Widerstande dessen, was selbst Macht besitzt, überlegen ist. Die Natur, im ästhetischen Urtheil als Macht, die über uns keine Gewalt hat, betrachtet, ist dynamisch-erhaben.⁸¹
Das dynamisch Erhabene hat somit einen starken Bezug zu den praktischen bzw. moralischen Ideen des Subjekts.⁸² Kant macht seine Überlegungen auch hier AA V, 257. Vgl. Kapitel 2.3. Fœssel 2008, S. 106. AA V, 260. Um diese praktische Dimension deutlich zu machen, schlägt Schiller in Auseinandersetzung mit Kants Begrifflichkeit eine alternative Benennung vor: „Kant nennt […] das Praktisch-Erhabene das Erhabene der Macht oder das Dynamisch-Erhabene, im Gegensatz von dem MathematischErhabenen.Weil aber aus den Begriffen dynamisch und mathematisch gar nicht erhellen kann, ob die Sphäre des Erhabenen durch diese Einteilung erschöpft sei oder nicht, so habe ich die Einteilung in das Theoretisch- und Praktisch-Erhabene vorgezogen.“ (Schiller 1975, S. 167 (Hervorhebung aufgehoben)). Vgl. hierzu Anmerkung 88 im hiesigen Kapitel 3. Ferner führt Schiller aus: „Das Praktisch-Erhabene unterscheidet sich also darin von dem Theoretisch-Erhabenen, daß es den Bedingungen unserer Existenz, dieses nur den Bedingungen der Erkenntnis widerstreitet. […]. Wir erliegen an dem Versuch, uns von dem ersten eine Vorstellung zu machen. Wir erliegen an dem Versuch, uns der Gewalt des zweiten zu widersetzen. Ein Beispiel des ersten ist der Ozean in
3.1 Raum, Zeit und Ideen im Kontext der philosophischen Ästhetik
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anhand von Beispielen plastisch, wie die Betrachtung von „Vulkane[n]“, oder von „am Himmel sich aufthürmende Donnerwolken“⁸³ etc. Das Erhabene kann sich in Anbetracht einer solchen Situation nur einstellen, wenn sich das Subjekt gewissermaßen „in Sicherheit“⁸⁴ wiegt und nicht um sein Leben fürchten muss, obwohl der Anblick dieser Naturgewalten furchterregend ist. Im Zusammenhang mit dem dynamischen Erhabenen kann sich „das Gemüth [dann] die eigene Erhabenheit seiner Bestimmung […] fühlbar machen“⁸⁵. Das Subjekt wird sich in seiner Auseinandersetzung mit der Macht der Natur, die ungeachtet dieser Macht keine Gewalt über das Subjekt hat, selbst als von der Sinnlichkeit freies sowie moralfähiges und somit machtvolles Wesen bewusst. Diese „Selbstschätzung“⁸⁶ im Hinblick auf die eigene Konstitution und die damit verbundene Achtung vor der Menschheit und der Würde in seiner eigenen Person erweisen sich für den Betrachter als lustvoll, sodass die Erhabenheit als zweckmäßig verstanden werden kann, da sie die Einbildungskraft anhält, auf die praktischen Ideen des Subjekts zu reflektieren. Menschen, die Erhabenheit schätzen, weisen somit eine Kultur der Vernunft auf, denn nach Kant hat das Gefühl für seine „übersinnliche[] Bestimmung, […] so dunkel es auch sein mag“, stets „eine moralische Grundlage“⁸⁷.
Ruhe, der Ozean im Sturm ein Beispiel des zweiten.“ (Schiller 1975, S. 168). Und schließlich beschreibt Schiller den Unterschied im Hinblick auf die Gemütskräfte wie folgt: „Nun ist zwar jedes mißlingende Bestreben nach Erkenntnis mit Unlust verbunden, weil einem tätigen Trieb [dem Erkenntnis- bzw. Vorstellungstrieb] dadurch widersprochen wird. Aber bis zum Schmerz kann diese Unlust nie steigen, solange wir unsere Existenz von dem Gelingen oder Mißlingen einer solchen Erkenntnis unabhängig wissen, und unsere Selbsterhaltung nicht dabei leidet. […]. Unsre Sinnlichkeit ist also bei dem furchtbaren Gegenstand [des Praktisch-Erhabenen] ganz anders interessiert, als bei dem unendlichen; denn der Trieb der Selbsterhaltung erhebt eine viel lautere Stimme als der Vorstellungstrieb.“ (Schiller 1975, S. 169 (Hervorhebung aufgehoben)). Auf das Verhältnis zwischen Schiller und Kant kann hier nicht weiter eingegangen werden. Vgl. hierzu insbesondere die Ausführungen von Prauss unter besonderer Berücksichtigung der kantischen Ästhetik bezüglich Schillers Freiheitsverständnis in Prauss 1983, S. 240 – 326. AA V, 261. AA V, 261. AA V, 262. AA V, 262. AA V, 292. Nach Kant kann das Schöne – auch wenn es vom Guten klar unterschieden werden muss – zumindest als „Symbol des Sittlich-Guten“ (AA V, 353) betrachtet werden. Kant hält fest: „Der Geschmack macht gleichsam den Übergang vom Sinnesreiz zum habituellen moralischen Interesse ohne einen zu gewaltsamen Sprung möglich, indem er die Einbildungskraft auch in ihrer Freiheit als zweckmäßig für den Verstand bestimmbar vorstellt und sogar an Gegenständen der Sinne auch ohne Sinnenreiz ein freies Wohlgefallen finden lehrt.“ (AA V, 354).
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3.1.3 Raum, Zeit und Kultur: Kants Lehre von Raum und Zeit im Zusammenhang mit dem Erhabenen Vor dem Hintergrund der Charakterisierung des Erhabenen (vor allem des mathematisch Erhabenen) ist es naheliegend, hier die Idee des Raums näher zu betrachten; schließlich zeigte das Kapitel über die transzendentale Dialektik, dass gerade der Raum bei Kant eine Idee darstellt, mit der wir die Totalität der Welt denken können. Dieser Zusammenhang wurde auch in der Kant-Literatur wiederholt angesprochen und hervorgehoben.⁸⁸ Bereits Vaihinger verweist auf den § 26 der KU, wenn er sich mit der Idee des Raums auseinandersetzt.⁸⁹ Gleichwohl erklärt er den Zusammenhang zwischen dem Raum und der Vorstellung einer Totalität nicht; er würdigt diesen auch nicht genug, wie Wohlfart berechtigterweise kritisch anmerkt.⁹⁰ Dabei hat bereits Krüger diesen Zusammenhang erkannt und auf knapp fünf Seiten seiner Monographie ausgeführt.⁹¹ Schon er hat dabei im Ausgang von Vaihinger zwischen den drei Ebenen der Raum- und Zeitkonzeption bei Kant unterschieden. Insbesondere sah er eine Verbindung zwischen der Zeit als formaler Anschauung und der Idee von Raum und Zeit als Ganzes im ästhetischen Erleben des Erhabenen: Die Zeit aber erweist sich für ihn [Kant] auch darin als Grenze der wissenschaftlichen Erkennbarkeit der Welt, daß sie bei dem mathematischen Durchmessen der Natur auf besonders eindrucksvolle, ,erschütterndeʻ Phänomene führt, die die ,Größenschätzungʻ scheitern lassen, und die uns eben ausdrücklich fühlbar machen, daß der Sinnenwelt die Dinge an sich als ein ,intelligiblesʻ Substrat zugrunde liegen, zu dem wir nicht mehr als
Fœssel sieht einen thematischen Zusammenhang zwischen dem Erhabenen und der ersten kosmologischen Antinomie: „Inmitten der diskursiven Arbeit des die Welt zu verstehen suchenden Verstandes ertönt die Stimme, die nichts Weiteres ist, als die Stimme der Vernunft, insofern sie sich mit dem Bedingten nicht begnügt. Nun ist das Erhabene ein vergleichbarer Prozeß, in dem die Einbildungskraft ihre Weisung von einer anderen, den Übergang vom gegebenen Sinnlichen zum Übersinnlichen fordernden Instanz bekommt. Die ,Analytik des Erhabenenʻ ist nichts Weiteres als das Auftreten – inmitten des Gefühls – der Souveränität der rationalen Instanz“ (Fœssel 2008, S. 107). Siehe ferner die sprachliche Nähe bei den Formulierungen zwischen Kants Auseinandersetzung mit dem Erhabenen und der ersten Antinomie, die Fœssel anspricht.Vgl. Fœssel 2008, S. 111 f. Das dynamisch Erhabene sieht er dabei im Zusammenhang mit der dritten Antinomie. Vgl. Fœssel 2008, S. 113 ff. Auch Engelhard sieht hier einen Anschluss an die transzendentale Dialektik.Vgl. Engelhard 2003, S. 364, ferner auch Dörflinger 2000, S. 128. Darüber hinaus entsteht schon durch die Unterscheidung zwischen dem mathematischen und dem dynamischen Erhabenen eine Nähe zur transzendentalen Dialektik, die die Unterscheidung zwischen mathematischen und dynamischen Antinomien beinhaltet. Vgl. Kapitel 2.3.1. Vgl. Vaihinger 1922b, S. 261. Vgl. Wohlfart 1980, S. 151 Anm. Vgl. Krüger 1967, S. 290 – 294.
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sinnliche Menschen, sondern nur als moralische Persönlichkeiten ein positives Verhältnis haben. Es sind die Phänomene des ,Mathematisch-Erhabenenʻ, von denen die ,Kritik der Urteilskraftʻ spricht (§ 25 ff.).⁹²
Später hat Wohlfart diesen Zusammenhang zwischen Raum und Zeit einerseits und dem ästhetischen Phänomen des Erhabenen andererseits aufgegriffen und die Frage gestellt, ob und inwiefern der Raum bei Kant als Idee betrachtet werden kann, wodurch das Thema nach dem Verhältnis der Konzeptionsebenen in Kants Lehre von Raum und Zeit in der Kant-Literatur erhöhte Aufmerksamkeit erfuhr. Indem Wohlfart im Zuge seiner Auseinandersetzung mit Raum und Zeit betont, dass sie insbesondere „mit den ästhetischen Ideen in Verbindung gebracht werden können – wobei insbesondere an die Idee des Erhabenen zu denken ist“⁹³, wirft er wichtige Fragen auf und macht auf den Zusammenhang zwischen den Anschauungsformen und dem ästhetischen Erleben aufmerksam. Entscheidend ist dabei Wohlfarts Verweis auf die Strukturähnlichkeit des Erhabenen mit der Vorstellung einer Ganzheit von Raum und Zeit in Kants theoretischer Philosophie – auch wenn Wohlfart dies nur andeutet und darüber hinaus nicht zwischen den unterschiedlichen Ebenen der Raum- und Zeitkonzeption bei Kant unterscheidet.⁹⁴ Stattdessen sieht Wohlfart die reine Anschauung selbst in der Nähe der ästhetischen Idee und regt an, den Raum als eine Art „Vernunftschema“⁹⁵ zu verstehen, obwohl er gleich im Anschluss betont, dass diese Überlegungen über den kantischen Text hinausführen und durchaus problematisch im systematischen Kontext sein könnten. Tatsächlich entbehrt sein Interpretationsvorschlag einer validen textlichen Grundlage und scheint damit auf ein sachorientiertes Philosophieren hinauszulaufen. Explizit weist Wohlfart darauf hin, dass seine Überlegungen dazu führen, „mit Kant über Kant hinauszugehen“⁹⁶. Für eine textimmanente Interpretation der kantischen Theorie (im Sinne der Ausführungen in Kapitel 0.2) muss jedoch herausgearbeitet werden, welcher Zusammenhang zwischen Kants vielschichtiger Lehre von Raum und Zeit einerseits und der ästhetischen Einstellung andererseits rekonstruiert werden kann. Entsprechend bedauert Heinrich, dass dieser Zusammenhang bisher in der Kant-Literatur nicht umfangreicher untersucht wurde.⁹⁷ Diesem Wunsch ist Unruh mit einem Kapitel in seiner Dissertation Transzendentale Ästhetik des Raumes ein Stück weit
Krüger 1967, S. 292. Wohlfart 1980, S. 152. Vgl. Wohlfart 1980, S. 151 f. und das obige Kapitel 2.3. Wohlfart 1980, S. 153 (Hervorhebung aufgehoben). Wohlfart 1980, S. 154. Heinrich 1986, S. 211.
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nachgekommen, indem er sich ausführlicher mit der Erhabenheit im Hinblick auf Kants Raumkonzeption beschäftigt und auch zwischen den einzelnen Ebenen der Raumkonzeption differenziert hat. Den „Raum des Erhabenen“⁹⁸ unterscheidet Unruh dabei von der „aktuale[n] Unendlichkeit der reinen Anschauung“⁹⁹ und auch von dem objektiv apprehendierten Raum eines Gegenstandes: Erhaben ist daher ,die Natur in derjenigen ihrer Erscheinungen, deren Anschauung die Idee ihrer Unendlichkeit bei sich führtʻ (KU 93), und zwar präzise einer solchen Idee von Unendlichkeit, die weder nur das ungegenständlich gegebene Unendliche der reinen Anschauung des Raumes meint, noch das unbegrenzte potentiale Unendliche der apprehensiven Raumdurchmessung, sondern ein als ,ein Ganzesʻ (KU 92) gegeben gedachtes komprehensives Unendliches.¹⁰⁰
Diese Präzisierung verdeutlicht die drei Ebenen der kantischen Raum- und Zeitkonzeption im Kontext des Erhabenen. Das Erhabene führt letztlich zu der dritten Ebene der Raumkonzeption, nämlich der Vernunftvorstellung des Raums als eines Ganzen, worin alles enthalten ist. Dennoch setzt die ästhetische Reflexion am einzelnen raumzeitlichen Objekt an, das durch die Deutung von Mannigfaltigkeiten im unendlich gegebenen Anschauungsraum und der Anschauungszeit entstanden ist. Es ist dieser Zusammenhang der Konzeptionsebenen, der nunmehr am Fallbeispiel des Erhabenen besonders deutlich wird. Da durch die Ideen von Raum und Zeit ein globaler Kontext vorgestellt wird, worin alle einzelnen Zusammenhänge eingebettet werden, sieht Dörflinger hier eine strukturelle Nähe zu der Vorstellung von Raum und Zeit als ursprüngliches Kontinuum, in das alle Inhalte einbettet werden: Denn es ist hier daran zu erinnern, daß auch die originäre Raumvorstellung des einen und ganzen Raums keinen Raum unter Räumen innerhalb der sinnlichen Verhältnisse vorstellt […], sondern die Voraussetzung dieser Verhältnisse. In der originären Vorstellung des Raums selbst liegt demnach ein Enthoben- oder Erhaben-Sein des vorstellenden Subjekts in Absetzung von einem bloß in den Verhältnissen des Sinnlichen verhafteten Selbstverständnis, allerdings […] ein weiterhin und allein auf diese Verhältnisse bezügliches Erhaben-Sein, weil eben der eine Raum Grund der Verhältnisse nach Räumen in ihm ist.¹⁰¹
Ferner heißt es:
Unruh 2007, S. 340. Unruh 2007, S. 341. Unruh 2007, S. 341 f. (Hervorhebung aufgehoben). Dörflinger 2000, S. 129.
3.1 Raum, Zeit und Ideen im Kontext der philosophischen Ästhetik
309
Zum Erhabenen ist erforderlich, daß sich im Ausgang von der Unbegrenztheit des Fortschritts im Zusammenhang der bestimmten Größen ,Größe … blicken läßtʻ. Diese letztere, nur im Singular anzusprechende Größe, ein schlechthin Großes, legt den Gedanken an jenen einen alleinigen allbefassenden Raum der ,Transzendentalen Ästhetikʻ nahe, von dem alle bestimmten Räume nur Einschränkungen sind.¹⁰²
Damit schließt sich der Kreis: Das Phänomen des Erhabenen führt zu einer nicht konstitutiven intellektuellen Vorstellung der Welt als Idee eines Ganzen, die zumindest von der holistischen Struktur her rückbezüglich auf ihren Ursprung verweist, nämlich auf die konstitutive Vorstellung von Raum und Zeit als allbefassende reine Anschauungen. Erst durch Berücksichtigung dieses Zusammenhangs wird schließlich die ästhetische Reflexion in ihrer systematischen Verankerung mit Bezug auf die Anschauungsformen deutlich. Umgekehrt eröffnet die Auseinandersetzung mit der ästhetischen Einstellung eine zusätzliche inhaltliche Dimension in Kants Lehre von Raum und Zeit. Dadurch nämlich, dass sich das Subjekt in einer ästhetischen Einstellung zu der Idee eines globalen Raums aufschwingt, eröffnet sich die Möglichkeit, dieses Raumganze inhaltlich zu thematisieren. Mutatis mutandis gilt Entsprechendes auch für die dritte Ebene der Zeitkonzeption: In Ende aller Dinge schreibt Kant über den Gedanken einer Ewigkeit außerhalb aller Zeit bzw. dem globalen „Ende aller Zeit“: Es ist furchtbar-erhaben: zum Teil wegen seiner Dunkelheit, in der die Einbildungskraft mächtiger als beim hellen Licht zu wirken pflegt. Endlich muß er doch auch mit der allgemeinen Menschenvernunft auf wundersame Weise verwebt sein: weil er unter allen vernünftelnden Völkern, zu allen Zeiten, auf eine oder andere Art eingekleidet, angetroffen wird.¹⁰³
Durch die ästhetische Einstellung im Hinblick auf die Ideen von Raum und Zeit werden kulturelle Betrachtungsweisen des einen allbefassenden Raums und der einen allbefassenden Zeit als der einen Welt des Menschen möglich. Die Ästhetik liefert Sinnzusammenhänge zwischen den einzelnen räumlichen und zeitlichen Dingen der formalen Anschauung, die jene epistemischen Zusammenhänge überformt.¹⁰⁴ Während der Naturwissenschaftler durch die regulative Idee eines Dörflinger 2000, S. 130. AA VIII, 327. In einer Vorlesung heißt es: „Der Raum, in dem alle assignable Theile enthalten sind, heißt der unendliche oder absolute Raum. Die Zeit, in der alle assignable Theile enthalten sind, ist die Ewigkeit. Dieses sind aber Ideen, die wir nicht fassen können.“ (AA XXVIII, 561). Folgende Bemerkung, die Kant mit Bleistift auf einen Brief von Herz notiert, bringt die Bedeutung dieser Überformung für den Menschen deutlich zum Ausdruck: „Die schöne Dinge zeigen an, daß der Mensch in die Welt passe und selbst seine Anschauung der Dinge mit den Gesetzen seiner Anschauung stimme.“ (Refl. 1820a, AA XVI, 127).
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absoluten Raums Räumliches in einem globalen physikalischen Zusammenhang denkt, kann der Geisteswissenschaftler Räumliches durch die regulative Idee des Raums in einem globalen kulturellen Zusammenhang interpretieren, wodurch die praktische Idee eines Kulturraums entsteht. Gleiches gilt im Hinblick auf die Zeit als Kulturzeit oder kulturelle Epoche. Im Zusammenhang mit seinem Konzept eines Reichs der Zwecke merkt Kant bereits in der GMS an: Die Teleologie erwägt die Natur als ein Reich der Zwecke, die Moral ein mögliches Reich der Zwecke als ein Reich der Natur. Dort ist das Reich der Zwecke eine theoretische Idee zu Erklärung dessen, was da ist. Hier ist es eine praktische Idee, um das, was nicht da ist, aber durch unser Thun und Lassen wirklich werden kann, und zwar eben dieser Idee gemäß zu Stande zu bringen.¹⁰⁵
Selbst praktische Ideale sind von diesem Zusammenhang nicht ausgenommen, wenn man sich Kants Schrift Zum ewigen Frieden vor Augen hält, in der das Ideal eines zukünftigen moralischen Zustands zwischen den Menschen propagiert wird.¹⁰⁶ Wie im Kapitel 2.3 gesehen, ermöglicht die Vernunft als Vermögen der Ideen eine globale Betrachtung von Zeitlichem in einer globalen Vorstellung der Zeit. Da die Zeit „an sich selbst eine Reihe (und die formale Bedingung aller Reihen) ist“, lässt sich in ihr „in Ansehung einer Gegenwart“, die durch den Schematismus als eine objektive früher-später Relation bestimmt ist, zwischen einem im historischen Sinne „Vergangene[n]“ und „Künftigen […] unterscheiden“. Durch diese globale, mithin historische Vorstellung wird – wie bereits in Kapitel 2.3 zitiert – „die ganze verlaufene Zeit als Bedingung des gegebenen Augenblicks nothwendig als gegeben gedacht“¹⁰⁷. Somit kann die ganze Menschheitsgeschichte beispielsweise unter der „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“¹⁰⁸ betrachtet werden, die „Hoffnung [gibt], daß nach manchen Revolutionen der Umbildung endlich das, was die Natur zur höchsten Absicht hat, [nämlich] ein allgemeiner weltbürgerlicher Zustand“¹⁰⁹, entsteht. Auch wenn Raum und Zeit in theoretischer Hinsicht keinen konstitutiven Charakter beanspruchen können, können sie in praktisch-moralischer Hinsicht als Ideen zur Grundlage für Postulate oder als Ideale der praktischen Vernunft dienen. Zwar stehen unsere Rechte und Pflichten unter „gar keinen Zeit- und Raumes Bedingungen“¹¹⁰, doch durch die Vorstellung von globalen raumzeitlichen Zu-
AA IV, 436 Anm. Vgl. hierzu auch Heinrichs 1968, S. 92 f. Vgl. AA VIII, 360 ff. B439|A412. AA VIII, 15. AA VIII, 28. Vgl. ferner AA VIII, 360 ff. AA XXIII, 213.
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sammenhängen können Sinnzusammenhänge vorgestellt werden, denen sich ein Subjekt oder sogar eine ganze Gesellschaft verpflichtet fühlen kann oder auch soll, wie Kant in Beantwortung geradezu von seinen Zeitgenossen fordert.¹¹¹ Diese „Zeitlichkeit der Praxis“¹¹² wird in der Kant-Forschung nur vereinzelt registriert. Sie liefert jedoch einen neuen zusätzlichen kulturellen Aspekt in Kants Lehre von Raum und Zeit. Treffend beschreibt Rivera de Rosales diesen Zusammenhang wie folgt: Kant hat die Zeit spezifisch nur für das Theoretische in der Kritik der reinen Vernunft behandelt. In seinem Werk finden sich aber auch andere Arten der Zeitlichkeit, die nicht einfach durch die Schemata der Einbildungskraft und die theoretisch verstandenen Kategorien zu verstehen wären: die Zeit der inneren Revolution zum Guten oder die der Geschichte wären zwei Beispiele dafür. Dasselbe könnte auch für den Raum gelten. Mit der Umkehrung des Blickes zur Interessenlosigkeit treten wir in eine andere Art von Zeitlichkeit ein, ohne die alte zu verlieren (wir betrachten in der Kritik der Urteilskraft eine Spezifikation der Erfahrung, aber innerhalb der in der Kritik der reinen Vernunft dargestellten allgemeinen Natur, nicht in einer anderen Welt) […]. Nun ist aber mit der Umkehrung des Blickes und der Interessenlosigkeit eine andere auslegende, ordnende Spontaneität, die frei gestaltende Einbildungskraft gemeinsam mit der reflexiven Urteilskraft, entstanden, die innerhalb der alten Ordnung eine neue hineinbringt, eine Art Windung oder Schleife, eine neue Form vom räumlichen und zeitlichen In-der-Welt-Sein.¹¹³
Vgl. AA VIII, 35 ff. Kirste 1999, S. 57. Rivera de Rosales 2008, S. 86 f. Neben den Ausführungen von Kirste und Rivera de Rosales sei hier auch noch auf die Dissertation Das Problem der Zeit in der praktischen Philosophie Kants von Jürgen Heinrichs verwiesen. Heinrichs weist darauf hin, dass für Kant die Gültigkeit der Moral zeitlos ist und dass die empirische Natur kausal determiniert ist, wohingegen die intelligible, mithin zeitlose Welt mit Blick auf die dritte Antinomie Freiheit ermöglicht. Kants Handlungsmodell benötigt eine offene Zukunft, in die sich Zwecke hineinprojizieren lassen: „Die Vernunft spannt, indem sie sich den Bereich des Willens vorgibt, sich diese Zeitdimension auf, um über den Naturmechanismus hinausgehen und also praktisch sein zu können. […]. Kant hat ein solche Strukturierung der Zeit nicht in seine Lehre aufgenommen; er sah sich auch nicht dazu genötigt, denn er hatte den Bereich der praktischen Vernunft von dem durch Zeitlichkeit gekennzeichneten phänomenalen Bereich abgehoben und die Denkbarkeit der Freiheit nur durch Zeitunabhängigkeit erklären können. Andererseits ist auch für Kant der Gegenstand des Willens einer, der noch nicht ist. Die Tendenz in den Bereich der Möglichkeit und des Noch-nicht ist für den Willen kennzeichnend. Er eröffnet den Bereich der Zukunft für jegliche Projektion.“ (Heinrichs 1968, S. 92). Vgl. zu dieser Problematik und Fragestellung Heinrichs 1968, S. 17– 23. Vgl. ferner auch Kümmel 1972, S. 26 ff. Heinrichsʼ Überlegungen zum Schematismus einer praktischen Vernunft durch den Willen führen bewusst weg vom kantischen Text und werden hier vor dem Hintergrund der Interpretationsmaximen in Kapitel 0.2 nicht weiter thematisiert. Vgl. hierzu jedoch Heinrichs 1968, S. 75 – 100. Zur textlichen Ausgangslage bezüglich des Verhältnisses von Zeit und Freiheit bei Kant siehe Michel 2014, S. 44– 52.
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3 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der KU und im OP
Diesem Zusammenhang folgend geht Kant in Orientieren von der geographischen Orientierung am bestirnten Himmel aus, um im Anschluss die Parallele zur praktischen Orientierung anzusprechen: Endlich kann ich diesen Begriff [der geographischen und mathematischen Orientierung] noch mehr erweitern, da er denn in dem Vermögen bestände, sich nicht bloß im Raume, d. i. mathematisch, sondern überhaupt im Denken, d. i. logisch, zu orientieren. Man kann nach der Analogie leicht errathen, daß dieses ein Geschäft der reinen Vernunft sein werde, ihren Gebrauch zu lenken, wenn sie, von bekannten Gegenständen (der Erfahrung) ausgehend, sich über alle Grenzen der Erfahrung erweitern will und ganz und gar kein Object der Anschauung, sondern bloß Raum für dieselbe findet, da sie alsdann gar nicht mehr im Stande ist, nach objectiven Gründen der Erkenntniß, sondern lediglich nach einem subjectiven Unterscheidungsgrunde in der Bestimmung ihres eigenen Urtheilsvermögens ihre Urtheile unter eine bestimmte Maxime zu bringen. Dies subjective Mittel, das alsdann noch übrig bleibt, ist kein anderes, als das Gefühl des der Vernunft eigenen Bedürfnisses.¹¹⁴
Dieser Übergang von der geographischen Orientierung am bestirnten Himmel zur praktischen Orientierung im „Raum“ der Ideen ist nicht willkürlich, denn der bestirnte Himmel ist nach Kant ein Phänomen, an dem sich das Erhabene als ästhetisches Phänomen einstellen und das Subjekt zu der Frage nach der Moral führen kann, wie er in seiner Vorlesung zur Anthropologie ausführt.¹¹⁵ An diesem
AA VIII, 136. Kant merkt an dieser Stelle an: „Sich im Denken überhaupt orientiren, heißt also: sich, bei der Unzulänglichkeit der objectiven Principien der Vernunft im Fürwahrhalten nach einem subjectiven Princip derselben bestimmen.“ (AA VIII, 136 Anm.). Diese Bestimmung führt zu einem „Vernunftglaube[n]“ und den „Postulat[en] der Vernunft“ (AA VIII, 141), wie Kant sie in der KPV thematisiert. Vgl. hierzu AA V, 124– 146. Zur Formulierung eines gefühlten Bedürfnisses ergänzt Kant in einer späteren Anmerkung: „Die Vernunft fühlt nicht; sie sieht ihren Mangel ein und wirkt durch den Erkenntnißtrieb das Gefühl des Bedürfnisses. Es ist hiermit, wie mit dem moralischen Gefühl bewandt, welches kein moralisches Gesetz verursacht, denn dieses entspringt gänzlich aus der Vernunft; sondern durch moralische Gesetze, mithin durch die Vernunft verursacht oder gewirkt wird, indem der rege und doch freie Wille bestimmter Gründe bedarf.“ (AA VIII, 139 f. Anm.). Vgl. AA XXV, 389. Der „Raum“ der Ideen ist hier als ein metaphorischer Raum zu verstehen. Hierzu schreibt Stegmaier: „Die Vernunft soll nun also ,ganz und gar kein Objekt der Anschauungʻ mehr vorfinden und insofern als ,reine Vernunftʻ agieren (ebd.), wie sie das nach Kant in ihrem moralisch-praktischen Gebrauch tun muss. Damit müsste nun aber auch alles Räumliche zurückgelassen sein. Doch Kant gebraucht den Ausdruck ,Raumʻ weiterhin: Die Vernunft finde nun, schreibt er, ,ganz und gar kein Objekt der Anschauung, sondern bloß Raum für dieselbeʻ (ebd.). Dies aber ist nun ein nicht-räumlicher und insofern metaphorischer Raum, nämlich der ,unermeßliche und für uns mit dicker Nacht erfüllete Raum des Übersinnlichenʻ (O, 5, 271). Kant hält am Ausdruck ,Raumʻ offenbar fest, weil er festhalten will, dass die reine Vernunft auch und gerade hier der Orientierung bedarf, der Orientierung zu ihrem moralisch-praktischen Gebrauch. Sie hat hier jedoch nichts mehr, woran sie sich halten kann, sie muss sich nun ,lediglich durch ihr eigenes
3.2 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit im Opus postumum
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Punkt in Kants System verdichten sich somit die verschiedenen Ebenen der kantischen Raum- und Zeitlehre. Durch den Zusammenhang der einzelnen Ebenen der Raumkonzeption eröffnet sich ein tieferes Verständnis der einen menschlichen Vernunft im Zusammenhang von Theorie, Praxis und dem Bindeglied Ästhetik: Zwei Dinge erfüllen das Gemüth mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.¹¹⁶
3.2 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit im Opus postumum Das Opus postumum stellt einen nicht abgeschlossenen Manuskriptversuch des älteren Kant dar. Das Interpretieren des Opus postumum wird dadurch erschwert, dass viele Ansätze immer wieder nahezu wortgleich wiederholt werden. Kants Überlegungen stellen sich teilweise, so formuliert es Tuschling, in „schier unerschöpflichen Wiederholungen“¹¹⁷ dar. Darüber hinaus ist die Zusammenstellung in der Akademieausgabe nach wie vor unbefriedigend. Viele Teile, die zu dem von Kant mit „Übergang von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik“¹¹⁸ betitelten Werk gehören müssten, befinden sich in anderen Bänden der Akademieausgabe der kantischen Werke. Dagegen sind Teile in den Bänden XXI und XXII der Akademieausgabe abgedruckt, die nach Einschätzung mancher Interpreten nicht zum Opus postumum gehören dürften.¹¹⁹
Bedürfnis […] orientierenʻ. (O, 5, 271) […].“ (Stegmaier 2010, S. 212). Gleichwohl unterschätzt Stegmaier hier, welche Bedeutung der Anschauungsraum für die praktischen Ideen der Vernunft hat. Der metaphorische Raum der Ideen entsteht vor dem Hintergrund der Deutung von Räumlichem bzw. der Herstellung von Sinnzusammenhängen im Anschauungsraum. Da Stegmaier sich damit jedoch nicht auseinandersetzt, gelangt er vorschnell zu der These, dass Kants vielfältiger Horizontbegriff „keinem Prinzip“ folge und sich auch nicht „in ein System“ (Stegmaier 2010, S. 214) bringen ließe. In Anbetracht der hier gewonnenen Raumkonzeption bei Kant lässt sich der Horizontbegriff in seiner Vielseitigkeit sehr wohl einordnen. Wie Simon nämlich treffend formuliert, gilt: „Weil wir selbst in Raum und Zeit leben und anschauen, sind Raum und Zeit für uns überhaupt ein Thema unserer philosophischen Orientierung im Denken.“ (Simon 2003, S. 277). AA V, 161. Tuschling 1971, S. 8. Vgl. Kühn, 2004, S. 472– 478 und ferner Hall 2015, S. 94. AA XXI, 174. Vgl. hierzu die Ausführungen von Brandt 1991b, S. 7– 20 und die Uneinigkeit über diese Frage beispielsweise bei Tuschling 1971, S. 6 Anm. Der Titel Opus postumum stammt nicht von Kant selbst, sondern findet sich bei Vaihinger, der diesen Titel wählt, weil er von einer Zwei-Werke-
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3 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der KU und im OP
Außerdem wird immer noch über die genaue Datierung der einzelnen Bögen des Nachlasswerks gestritten.¹²⁰ Seel gibt zudem zu bedenken, dass an einigen Stellen grundsätzlich geprüft werden muss, ob „es sich bei einer Stelle überhaupt um die Formulierung einer Lehrmeinung Kants handelt“¹²¹ oder bloß um die Wiedergabe einer anderen Position. Wie Brandt verständlicherweise beklagt, steht der Interpret angesichts dieser textlichen Schwierigkeiten wie vor einer „Ruinenlandschaft“¹²². Auch wenn durch das zunehmende Interesse am Opus postumum dasselbe keine „terra incognita“¹²³ der Kant-Literatur mehr darstellt, bleibt eine kritische Ausgabe des Opus postumum ein Desiderat der Forschung – zumal sich mittlerweile das alte Klischee, wonach das Opus postumum die Arbeit eines senil gewordenen alten Philosophen darstellt, als zu kurzsichtig erwiesen hat.¹²⁴ Wie u. a. Hall mit Verweis auf die Korrespondenz Kants mit Kiesewetter deutlich macht, gehen Kants Auseinandersetzungen mit der Übergangsproblematik minThese ausgeht. Der eigentliche Titel, den Kant als Arbeitstitel nutzte und für das Werk vorgesehen hatte, lautet: Übergang von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik. Üblicherweise werden die Bände XXI und XXII der Akademieausgabe als Opus postumum zitiert. Brandt macht jedoch darauf aufmerksam, dass einige lose Blätter, die zumindest zu den Vorarbeiten zählen, in anderen Bänden zu finden sind. Hierzu zählt beispielsweise die Stelle XXIII, 484. Andersherum wurde in den Bänden XXI und XXII das Konvolut XIII abgedruckt, das nach Brandt nicht zum eigentlichen Werk gehören kann. Vgl. Brandt 1991b, S. 15 f. Brandt plädiert deshalb dafür, zum ursprünglichen Titel zurückzukehren und nicht mehr vom Opus postumum zu sprechen, da es uneindeutig ist, ob man von den Bänden XXI und XXII oder von allen relevanten Bögen und Blättern ausgeht, die eben nicht immer nur in diesen beiden Bänden zu finden sind. Vgl. hierzu Brandt 1991b, S. 4 ff. Kritisch gegenüber Vaihingers Zwei-Werke-These äußert sich Tuschling. Vgl. Tuschling 1971, S. 9 f. und ferner Tuschling 1973, S. 178 f. Die vorliegende Untersuchung kann selbstverständlich keine vollumfängliche und kritische Rekonstruktion des Opus postumum bzw. des kantischen Nachlasswerks leisten. Es wird sich im Folgenden auf die für Kants Raum- und Zeitlehre relevanten Stellen konzentriert. Da noch keine kritische Ausgabe des Werks vorliegt, wird auch hier auf die Bezeichnung Opus postumum zurückgegriffen. Dabei geht es vor allem um die Inhalte der Bände XXI und XXII der Akademieausgabe der kantischen Schriften. Bekanntermaßen stellt die Akademieausgabe das Nachlasswerk nicht in chronologischer Reihenfolge dar. Nach wie vor wird sich bei der zeitlichen Einordnung der einzelnen Seiten an Adickesʼ Arbeit orientiert, obwohl sie im Einzelnen kritisch gesehen wird. Vgl. hierzu Tuschling 1971, S. 4– 8 und vor allem die übersichtliche Darstellung der Datierungsvorschlägen Adickesʼ in Tuschling 1971, S. 6 f. Seel 2010, S. 196. Brandt 1991b, S. 7. Zur Geschichte des Manuskripts und dem Verbleib der Bögen nach Kants Tod bis zum Abdruck in der Akademieausgabe siehe die Ausführungen in Hall 2015, S. 6 ff. Förster 2000, S. X. Es herrscht mittlerweile Konsens darüber, dass Kants Nachlasswerk nicht mehr wie einst als die Arbeit eines senil gewordenen Philosophen zu verstehen ist, sondern sich durchaus mit einem berechtigten Anliegen auseinandersetzt. Vgl. hierzu Förster 2000, S. 48 ff. und Friedman 1992, S. 240 sowie neuerdings auch Hall 2015, S. 4 f.
3.2 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit im Opus postumum
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destens auf das Jahr 1790 zurück. In dieser Zeit hat Kant noch rege publiziert: Im gleichen Jahr veröffentlicht Kant seine KU. 1793 publiziert er seine Religionsschrift. Zum Ewigen Frieden wird 1795 veröffentlicht. Noch im Jahr 1797 folgt die Metaphysik der Sitten. In diesen Jahren hat Kant schon intensiv am Opus postumum gearbeitet. Nach Hall war Kants erster Entwurf einer Übergangsschrift 1801 bereits ausgereift. Seiner Einschätzung folgend lassen erst ab dann Kants geistige Kräfte nach.¹²⁵ Kühn verweist hingegen auf Aussagen von Kants Vertrauten, wonach Kant selbst 1799 ausgesagt haben soll, dass er alt und schwach sei und man ihn wie ein Kind betrachten müsse.¹²⁶ Kühn zeigt ferner mit Verweis auf Vermerke in den Universitätsakten aus Königsberg, die Kant selbst geschrieben hat, dass er „seit dem Sommer 1796“ aus gesundheitlichen Gründen „seine Vorlesungen einschränken mußte“¹²⁷. Kants Veröffentlichungen nach 1796 basierten größtenteils auf Vorlesungsmanuskripten und enthielten nach Kühn keine wesentlich neuen Ideen.¹²⁸ Auch zu Kants Lebzeiten wurde sein Gesundheitszustand unter seinen Freunden und Gästen rege diskutiert. Während der Mediziner Meckel bereits 1797 öffentlich kund gibt, dass Kants Zustand schwinde und philosophisch nicht mehr viel von ihm zu erwarten sei, versucht Pörschke, Kants Geisteszustand in einem Brief an Fichte zu verteidigen.¹²⁹ Auch wenn die genauen Zeitangaben mit Bezug auf das Opus postumum und Kants mentalen Zustand schwierig bleiben, ist zumindest klar, dass er mindestens ein halbes Jahrzehnt mit seiner Übergangsschrift beschäftigt war, bevor er aus gesundheitlichen Gründen seinen Vorlesungsbetrieb an der Universität einschränken musste. Unabhängig von den philologischen Schwierigkeiten sind auch viele philosophische Fragen Gegenstand von Kontroversen in der nicht sehr ausgedehnten Forschung zum Opus postumum, sodass Tuschling konstatiert, dass in der Forschung inhaltlich bei „so gut wie nichts Einigkeit“¹³⁰ in Bezug auf das Opus postumum herrscht. Nach wie vor wird beispielsweise darüber gestritten, ob das Opus postumum als ein Rückfall in dogmatische bzw. vorkritische Positionen und somit als Bruch mit der kritischen Phase zu verstehen ist oder ob die Überlegungen im Einklang mit der kritischen Phase und als natürliche Fortsetzung der Überlegungen aus der KU zu sehen sind.¹³¹ Es stellt sich außerdem die Frage, ob
Vgl. hierzu Hall 2015, S. 4 f. Vgl. Kühn 2004, S. 478. Kühn 2004, S. 447. Vgl. Kühn 2004, S. 456 – 467. Vgl. hierzu Kühn 2004, S. 452 f. Tuschling 1973, S. 177. Für Hoppe ist die „Ätherdeduktion, insofern in ihr ein materiales Einheitsprinzip für die Objektivität der Erkenntnis hergeleitet sein soll, […] mit dem kritischen Grundgedanken Kants
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3 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der KU und im OP
Kant hier wohlmöglich sogar in eine eigenständige postkritische Phase eintritt und falls dem so sein sollte, inwiefern sich diese Phase von der kritischen unterscheiden lässt. Hall übernimmt von Förster die Bezeichnung einer postkritischen Phase. Gleichwohl sieht er in „Kantʼs post-Critical philosophy“ keinen Bruch mit der kritischen Konzeption Kants, sondern vielmehr „a major reorientation“¹³², die als eine kritische Auseinandersetzung und neuorientierte Weiterführung und Vervollständigung kritischer Überlegungen verstanden werden soll, sodass der Unterschied zwischen der postkritischen und der kritischen Phase gänzlich anders zu bewerten ist als der Bruch zwischen vorkritischer und kritischer Phase.¹³³ In diesem Kontext wird ferner diskutiert, wodurch Kants spätes Unternehmen überhaupt motiviert wurde. Während für einige Interpreten eine Unzufriedenheit Kants mit seinen bisherigen Lösungsansätzen den neuen Versuch für einen Übergang zur Physik motiviert, vertreten andere die Position, dass die bisherigen Schriften für Kant keinen Mangel aufweisen, sondern lediglich eine Leerstelle zurücklassen, die er in einem letzten Werk konsequenterweise schließen möchte.¹³⁴ Entsprechend finden sich in der Kant-Forschung auch im Hinblick
unvereinbar“ (Hoppe 1991a, S. 49 f.). Vgl. ferner Hoppe 1991a, S. 61 ff. Baumgarten wertet zumindest die Stellen, wonach der Äther die Einheit der Erfahrung bedingen soll, als zwischenzeitlichen Rückfall in dogmatische Positionen. Vgl. Baumgarten, H. 2001, S. 499 bzw. die Anmerkung 196 weiter unten im hiesigen Kapitel 3. Nach Tuschling bleibt Kant auch im Opus postumum den Grundgedanken seines klassischen Kritizismus treu.Vgl. Tuschling 1991, S. 110.Vgl. entsprechend auch Mathieu 1991, S. 65 ff. Für Carrier schließt Kants „Aggregatszustandstheorie […] unmittelbar an die in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft ausgearbeitete Problemstellung an“. Das Opus postumum stellt daher für ihn „eine konsequente Fortschreibung“ (Carrier 1991, S. 224) der MAN dar. Förster versucht Kants Ätherkonzeption im Opus postumum in Verbindung mit Kants kritischem Konzept des transzendentalen Ideals zu bringen. Vgl. hierzu Förster 2000, S. 82– 101. Auch die jüngste Untersuchung von Hall kommt zu dem Schluss, dass das Opus postumum nicht mit der kritischen Phase bricht, sondern ein Problem der Analogien in der KRV zu lösen versucht. Vgl. hierzu Hall 2015, S. 2 f. bzw. die Anmerkung 429 in Kapitel 2 und Anmerkung 134 im hiesigen Kapitel 3. Hall 2015, S. 2. Vgl. Hall 2015, S. 2. und ferner S. 209. Die in der Forschung zum Opus postumum vielbeachteten Arbeiten von Mathieu 1989 und Tuschling 1971 gelangen beide zu dem Fazit, dass Kant noch bis zuletzt mit einem Übergang zur Physik hadert, weil er Probleme in seinen früheren Schriften erkennt. Während Tuschling meint, dass die vom naturwissenschaftlichen Fachpublikum größtenteils ignorierten oder kritisch gesehenen MAN aufgrund zahlreicher immanenter Widersprüche Kants Übergangsproblem nicht lösen und er deshalb an einem letzten Werk arbeitet (siehe Tuschling 1971, S. 39 – 46; S. 158 – 160 und Tuschling 1973, S. 179 ff.), meint Mathieu dagegen, dass es in den MAN primär um eine Begründung von Naturwissenschaft überhaupt geht und erst in der KU die Frage gestellt wird, wie die Einheit der Erfahrung beim Forschen hergestellt werden kann. Vgl. Mathieu 1989, S. 39 – 46; S. 65 ff. und ferner Friedman 1992, S. 239 f. In Opposition hierzu positioniert sich Förster. Für
3.2 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit im Opus postumum
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auf die Themen Raum und Zeit unterschiedliche Einschätzungen und Bewertungen des Opus postumum. ¹³⁵ Die folgende Auseinandersetzung mit dem Opus postumum kann in Anbetracht der textlichen und inhaltlichen Schwierigkeiten und offenen Fragen nur als abschießende Überlegungen bewertet werden. Sie beziehen sich in erster Linie auf die Stellen, die für die kantische Raum- und Zeitlehre von Bedeutung sind. Es bleibt gerade auch vor dem Hintergrund, dass das Nachlasswerk eine Zeitspanne von rund 15 Jahre abdeckt, schwierig, einzelne Passagen herauszugreifen und zu interpretieren. Wie Tuschling richtigerweise mahnt, fügt eine solche Interpretation dem Text zwangsläufig Gewalt zu. Es ist daher auch nicht verwunderlich, wenn ein solcher Interpretationsansatz auf Schwierigkeiten, Widersprüche oder Unklarheiten stößt.¹³⁶ Gleichwohl wäre eine Untersuchung zu Kants Raum- und Zeitlehre nicht vollständig, wenn sie nicht zumindest um eine Auseinandersetzung mit Kants späten Überlegungen im Opus
Förster soll die MAN – wie zunächst auch Mathieu betont – bloß die grundsätzlichen Prinzipien einer Naturwissenschaft überhaupt aufstellen. Doch auch die KU liefert ihm zufolge keinen konkreten Übergang, sondern zeigt nur, wie das zufällige Aggregat von einzelnen Urteilen zu einem zweckmäßigen System zusammen gedacht werden kann. Nach Förster liefert auch die KU keine Antwort auf die Frage, was ein Physiker ganz konkret in die Natur hineinlegen muss, um von ihr systematisch belehrt zu werden. Die Motivation für ein Übergangswerk liegt somit nach Förster nicht in Kants Einsicht eines Fehlers, sondern vielmehr in seine Einsicht einer Lücke im bisherigen System. Vgl. Förster 1991, S. 30 f. Der entscheidende Punkt für Förster ist, dass es für einen Übergang zur Physik nicht mehr um die Möglichkeit der Materie überhaupt oder der grundsätzlichen Möglichkeit systematischen Denkens geht, sondern um die „Möglichkeit einer Materie von bestimmter Form – eines Körpers“ (Förster 1991, S. 39), wodurch eine konkrete Systematik einer Einzelwissenschaft ermöglicht wird. Für Förster entsteht diese Übergangsfrage dadurch, dass Kant den Raum im Schematismuskapitel der KRV völlig übergeht. Vgl. hierzu Förster 2000, S. 59 – 75 und ferner seine Kritik an Mathieu und Tuschling in Förster 2000, S. 1– 23. Auch Gerhardt und Kaulbach sehen zwischen den Schriften zuvor und dem Opus postumum keinen Bruch. Entsprechend sehen sie Tuschlings Erklärung kritisch. Vgl. Gerhardt / Kaulbach 1979, S. 53 f. Hall dagegen sieht in Kants ambivalentem Substanzbegriff in den Analogien der KRV ein Problem, wodurch eine Lücke in Kants System entsteht, die es mit dem Opus postumum zu schließen gilt. Vgl. Hall 2015, S. 36 – 61 und Anmerkung 429 in Kapitel 2. Nach Hoppe befriedigt Kant der subjektive Ansatz mittels der reflektierenden Urteilskraft und den regulativen Prinzipien nicht mehr, sodass er im Spätwerk versucht, ein neues Prinzip zu finden, das die Notwendigkeit der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise absichert und sich nicht bloß auf ein subjektivistisches Prinzip gründet. Vgl. hierzu Hoppe 1991a, 57 ff. und ferner Friedman 1992, S. 249 – 264. Für einen Forschungsüberblick zur Frage nach der genauen Bedeutung der von Kant gesehenen Lücke siehe die Aufarbeitung bei Hall 2015, S. 13 – 23. Für das Verhältnis zwischen der KRV und der KU im Hinblick auf die Frage nach dem Status von empirischen Gesetzen siehe Anmerkung 703 in Kapitel 2. Vgl. hierzu die Ausführungen in den Kapitel 3.2.1, 3.2.2 und 3.2.3. Vgl. hierzu Tuschling 1971, S. 11 ff. und ferner Tuschling 1973, S. 178 f.
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3 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der KU und im OP
postumum bemüht wäre. Die folgenden Kapitel sind vor dem Hintergrund dieser Schwierigkeiten zu verstehen.
3.2.1 Raum, Zeit, Äther und Schematismus im Opus postumum Das grundsätzliche Problem, das Kant im Opus postumum beschäftigt, ist der Übergang von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik. Dies betont Kant schon in einem Brief, in dem er sich zum Vorhaben eines Spätwerks äußert: Die Aufgabe, mit der ich mich jetzt beschäftige, betrifft den ,Übergang von den metaphys. Anf. Gr. d. N. W. zur Physikʻ. Sie will aufgelöset seyn; weil sonst im System der crit. Philos. eine Lücke seyn würde. Die Ansprüche der Vernunft darauf lassen nicht nach: das Bewußtseyn des Vermögens dazu gleichfalls nicht; aber die Befriedigung derselben wird, wenn gleich nicht durch völlige Lähmung der Lebenskraft, doch durch immer sich einstellende Hemmungen derselben bis zur höchsten Ungedult aufgeschoben.¹³⁷
Ein „Tantalischer Schmertz“¹³⁸ plagt ihn bezüglich dieses noch fehlenden Übergangs. Im Opus postumum heißt es entsprechend: Zwischen Metaphysik und Physik ist noch eine weite Kluft (hiatus in systemato) wo der Übergang nicht durch einen Schritt sondern nur durch eine Brücke von Zwischenbegriffen welche ein besonderes Bauwerk ausmacht möglich gemacht wird. – Aus blos empirischen Begriffen kann nie ein System gezimmert werden.¹³⁹
Für diesen Übergang haben aber gerade Raum und Zeit und die Bestimmung dieser Formen als objektive Gestalten eine besondere Bedeutung: Die Bestimmbarkeit des Raumes und der Zeit durch den Verstand a priori in Ansehung der bewegenden Kräfte der Materie ist die Tendenz der Metaph. A.Gr. der NW zur Physik und der
AA XII, 257. AA XII, 257. AA XXI, 476. Wie Hall feststellt, schwankt Kant in den Formulierungen, wenn es darum geht, von welchem Übergang genau die Rede sein soll: „Kantʼs characterization of the transition project itself also seems to change as Convolut 7 progresses. Whereas up to this point the transition had been characterized as between the metaphysical foundations of natural science and physics, Kant now oscillates between this formulation and two others. The first describes the transition as between the metaphysical foundations of natural science and transcendental philosophy. The second describes the transition as progressing from the metaphysical foundations of natural science to transcendental philosophy and then finally to physics.“ (Hall 2015, S. 12). Vgl. die entsprechenden Stellen bei Kant in AA XXII, 129; 86.
3.2 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit im Opus postumum
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Übergang zu ihr ist die Erfüllung des Leeren durch die Formen welche alle mögliche Gegenstände der Erfahrung in ihrer Einheit betrachten.¹⁴⁰
Das Kapitel 3.1 hat zuletzt noch einmal verdeutlicht, wie vielschichtig Kants Lehre von Raum und Zeit ist. Aus systeminterner Sicht lässt sich Kants Lehre nicht darauf reduzieren, Raum und Zeit als bloße Anschauungsformen zu verstehen. Das mögen sie bei Kant zwar ursprünglich und an erster Stelle sein, doch damit wird man der vielseitigen Verwendung der Begriffe Raum und Zeit bei Kant nicht gerecht. Bereits das Schematismuskapitel in der KRV zeigt, dass Raum und Zeit auch als objektive Formen interpretiert werden müssen, die sich als Gestalt am Objekt manifestieren. Mit der formalen Anschauung differenziert Kant in der zweiten Auflage der KRV auch begrifflich zwischen dieser abgeleiteten Raumbzw. Zeitvorstellung und der ursprünglich subjektiven. Diese Vielschichtigkeit zeigt sich schließlich auch im Opus postumum. An erster Stelle gilt es dabei herauszustellen, dass auch im Opus postumum vertreten wird, dass der Ursprung von Raum und Zeit im Subjekt liegt. Sie sind „Formen der Receptivität“¹⁴¹ und keine Dinge an sich: „Der Raum ist kein Wesen, auch die Zeit nicht sondern nur Form der Anschauung nichts als subjective Form der Anschauung.“¹⁴² Da sie ursprünglich Anschauungen sind, heißt dies im Umkehrschluss: „Raum u. Zeit sind nicht Begriffe […].“¹⁴³ Als reine Anschauung ist der Raum ferner „keine Idee“¹⁴⁴ und auch nicht „spührbar“¹⁴⁵. Das „Nebeneinander u. außer einander sind positus (Stellen)“¹⁴⁶ in ihm. Analoges gilt für die Zeit: Sie ist die Form des „Nach einander“¹⁴⁷. Für die ursprüngliche Raum- und Zeitvorstellung heißt dies somit nach wie vor, dass sie beide Strukturelemente in sich vereint. Unter dem Primat einer allbefassenden ursprünglichen Einheit sind Raum und Zeit mannigfaltigkeitsstiftende Strukturen, die Unterscheidungen innerhalb eines Ganzen durch die Einteilung von Materie ermöglichen. Daher „kann [man] eben so wenig von Göttern und Welten als von Räumen und Zeiten sprechen: denn alle diese sind
AA XXII, 193. AA XXII, 79. Vgl. ferner AA XXII, 12. AA XXI, 18. Vgl. ferner auch AA XXI, 62; 64; 66. AA XXII, 9. Vgl. ferner AA XXII, 12; 15; 19. AA XXI, 87. Vgl. ferner auch AA XXI, 151. AA XXI, 136. Ohne Inhalte hat der Raum nämlich noch gar keine objektive Realität: „Es würde kein Raum seyn welcher den netwonischen Kräften der Anziehung zum Grunde läge wenn nicht Stoff gegeben wäre welcher bewegende Kräfte der Abstoßung gegeben wären welche dieser Realität gäben – Licht in Ansehung der äußeren, Wärme in Ansehung der inneren […].“ (AA XXI, 124). AA XXII, 5. AA XXII, 25. Vgl. ferner AA XXII, 435.
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3 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der KU und im OP
nur Theile Eines Raumes und Einer Zeit“¹⁴⁸. Kant betont daher, dass der Raum ein „einiges absolutes Ganze ist“¹⁴⁹. Auch wenn Kant nicht mehr explizit auf inkongruente Gegenstücke oder die Orientierungsfrage eingeht, so ist doch vor dem Hintergrund der kontinuierlichen Formen klar, dass auch hier weiterhin die Einheit der Anschauungsformen die Orientierung im Raum ermöglicht. Kant deutet das an folgender Stelle an: „Das Sehen würde eine unmittelbare Berührung der Augen seyn bey der das Subject immer noch blind ist. Man muß zuvor vom Raum und seinen Abmessungen Vorstellungen haben um zu sehn.“¹⁵⁰ Etwas später greift Kant ansatzweise die Frage nach unterschiedlichen Richtungen im Raum auf: „Wir können vom Daseyn des uns Nahen oder Weiten nicht belehrt werden ohne eine Erfüllung des zwischen beyden Puncten liegenden Raumes vorauszusetzen wir mögen nun davon Empfindung haben oder nicht.“¹⁵¹ Um demnach überhaupt zwischen nahen und weiten Punkten zu unterscheiden, müssen wir uns einen allbefassenden erfüllten Raum denken, in dem diese Punkte unterschieden werden. Dies erinnert an Kants Auseinandersetzung mit den Gegenden des Raums in Über die Gegenden. Schließlich gilt auch hier im Opus postumum: „Die Lagen Richtungen und Weiten sind der Messung nach allen 3 Dimensionen unterworfen.“¹⁵² Die kontinuierliche Einheit bildet die Grundlage, dass Raum und Zeit als unendliche Strukturen vorgestellt werden können, wie es Kant bereits in der transzendentalen Ästhetik herausstellte: „Sowohl der Raum als die Zeit machen jeder ein absolutes Gantze aus mithin kommt ihnen unendlichkeit zu.“¹⁵³ Im Hinblick auf die Komplexität der kantischen Raum- und Zeitlehre sollte betont werden, dass Kant auch im Opus postumum die zweite Ebene seiner Lehre berücksichtigt, wonach Raum und Zeit in ihrer objektiven Bedeutung und Rolle konkret wahrnehmbar sind. Kant betont dabei die wichtige Rolle dieser zweiten Ebene: Wir können uns also keine Bewegung denken als in einem mit Materie erfülleten Raum der ein Continuum derselben ausmacht. Der empfindbare Raum, der Gegenstand der empirischen Anschauung derselben ist der Inbegriff der bewegenden Kräfte der Materie ohne welche es kein Gegenstand möglicher Erfahrung und als leer gar kein Sinnenobject seyn würde.¹⁵⁴
AA XXI, 10. AA XXI, 62. AA XXI, 56. AA XXI, 220. AA XXI, 231. AA XXII, 9. AA XXI, 219.
3.2 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit im Opus postumum
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Kant spricht explizit vom „perceptibele[n] Raum“¹⁵⁵ oder „matrielle[n] Raum“¹⁵⁶ – eine Formulierung, die an die Ausführungen in den MAN erinnern, wie Hall richtigerweise bemerkt.¹⁵⁷ Ferner spricht Kant vom „den Sinnen vorliegenden (empirisch bestimmten) Raum“¹⁵⁸. Der „empfindbare Raum (spatium sensibile) dessen Mannigfaltiges in der Coexistenz sich als einen Gegenstand möglicher Erfahrung darbietet (spatium cogitabile) ist doch ein wirkliches (existirendes) Object möglicher Wahrnehmungen“¹⁵⁹. Selbst die Zeit wird an einer Stelle im Zusammenhang mit dem Grad bzw. der Intensität einer Empfindung als „sensibele[] Zeit“¹⁶⁰ bezeichnet. Der „Raum als Expansum“¹⁶¹ ist der Raum eines Körpers. Dabei gilt: „Der Raum als Gegenstand der Sinnenanschauung ist etwas wirkliches […].“¹⁶² Dieser objektive und wirkliche Raum lässt sich nicht auf eine bloß begriffliche Vorstellung reduzieren. Stattdessen wird er durch den physischen Körper, dessen Eigenschaft dieser Raum als seine Figur oder Gestalt ist, selbst zu etwas Wahrnehmbarem: Wir stellen uns den Raum so wie jedes Object der Sinnlichkeit auf zwiefache Art vor erstlich als etwas denkbares (spatium cogitabile) da er als eine Größe des Mannigfaltigen ausser ein ander eine bloße Form des Gegenstandes der reinen Anschauung lediglich in unserer Vorstellungskraft liegt: zweytens aber auch als etwas Spürbares (spatium perceptibile) als etwas außer unserer Vorstellung Existirendes was wir warnehmen und zu unserer Erfahrung ziehen können und als empirische Vorstellung ein Sinnenobject den Stoff der den Raum erfüllt ausmacht.¹⁶³
Noch deutlicher als zuvor hebt Kant die objektive Rolle von Raum und Zeit als Eigenschaften am Erfahrungsobjekt hervor: „Daß ein Raum und eine Zeit sey stimmt gar wohl mit den Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung indem jene beyde zu den realen Bestimmungen der existirenden Dinge gehören.“¹⁶⁴ Im Hinblick auf die beiden ersten Ebenen der kantischen Raum- und Zeitlehre, die im
AA XXI, 224. AA XXI, 223. Vgl. Hall 2015, S. 128. AA XXII, 316. AA XXII, 332. Vgl. ferner AA XXII, 431; 436 ff.; 508; 513 f.; 523. AA XXII, 518. Die „sensibele[] Zeit“ kann aber nach Kants Ausführungen in der KRV nicht ohne Weiteres als etwas Wahrnehmbares im engeren Sinne verstanden werden. Stattdessen ist die Zeit in der Erfahrung verwirklicht, ohne dass sie im engen Sinne wahrnehmbar wäre. Vgl. hierzu die Ausführungen in 2.2.3. AA XXII, 431. AA XXII, 523. AA XXI, 235. Vgl. ferner AA XXI, 593 f. AA XXI, 230.
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3 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der KU und im OP
Opus postumum offen zu Tage treten, stellt Tuschling verständlicherweise die kritische Frage: „Wie verhält sich […] der subjektive reine Anschauungsraum (Gegenstand der Mathematik) zum objektiven empirischen Weltraum (Gegenstand der Physik)?“¹⁶⁵ Die Antwort auf diese Frage gilt es jedoch nicht erst im Opus postumum zu suchen: Überlegungen zum Verhältnis seiner Konzeptionsebenen entwickelt Kant schon in der KRV. ¹⁶⁶ Die Auseinandersetzung mit der Dialektik in Kapitel 2.3 hat darüber hinaus gezeigt, dass Kant Raum und Zeit auch als Ideen verstanden wissen möchte. Obwohl diese Vorstellungen nicht für die Erfahrungsobjekte konstitutiv sind, sondern konstituierte Erfahrungsobjekte bereits voraussetzen, bleiben diese globalen Vorstellungen des Raums und der Zeit wichtige Instrumente für die intellektuelle Orientierung von Subjekten und stellen somit eine weitere Ebene der kantischen Raum- und Zeitlehre dar. Entsprechend hat sich auch gezeigt, wie wichtig für Kant die regulativen Ideen eines globalen Raums oder einer globalen Zeit für das Forschen eines Naturwissenschaftlers sind. Dabei dienen sowohl der leere Raum als auch der durchgehend mit Materie erfüllte Raum bzw. der Äther als Ideen, mit deren Hilfe ein Naturwissenschaftler gezielt forschen kann, ohne dass er die Realität dieser Idee behaupten muss. Im Opus postumum spielt der Äther aber eine entscheidende Rolle. Der Übergang von der ersten zur zweiten Ebene der kantischen Lehre von Raum und Zeit hängt nämlich davon ab, dass die Anschauungsformen mit Materie erfüllt werden: Gleichwie nun nur Ein Raum und nur eine Zeit ist wenn man beyde gleichsam hypostasirt (sie zu wirklichen Gegenständen der Erfahrung macht) so liegt beyden eine Materie zum Grunde welche die bewegende Kräfte welche blos zur Erfahrung überhaupt gehören zum Grunde legt […].¹⁶⁷
Diese zugrunde liegende Materie muss eine kontinuierliche allverbreitete Materie sein, die Kant auch Wärmestoff nennt: Der Raum selbst als Gegenstand möglicher Erfahrung vorgestellt ist der Elementarstoff. Er macht den Raum sensibel heißt Wärmestoff ohne daß gerade Wärme die Function seiner Thätigkeit sey primitive Idee der bewegenden Kräfte.¹⁶⁸
Tuschling 1971, S. 150. Vgl. hierzu Kapitel 2.2. AA XXI, 227. AA XXI, 228. Vgl. ferner AA XXI, 553.
3.2 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit im Opus postumum
323
Es ist der subjektive Raum, der durch die Aufnahme des empirischen Inhalts ermöglicht, sich zu objektiven Räumen bestimmen zulassen: Zuerst muß eine allen Raum (der Welt) einnehmende (ob erfüllende oder nicht) Materie seyn um den Raum der sonst nur die subjective Form der Anschauung seyn würde zum Sinnengegenstand (also auch möglicher Wahrnehmung) zu machen.¹⁶⁹
Aus der Bestimmung der Materie in Raum und Zeit entsteht die objektive Vorstellung von Räumlichem und Zeitlichem: Der Raum ist ein Gegenstand der Anschauung a priori und in so fern dem Subject angehörig als das Formale und das Subjective desselben. Aber eben derselbe Raum wird auch als ein ausser uns in der Vorstellung gegebenes d. i. als etwas Objectives Existirendes Bewegbares als Materie so aber als Gegenstand möglicher Erfahrung vorgestellt und so der Raum durch bewegende Kräfte der Anziehung und Abstoßung erfüllt gedacht ohne welche beyde continurlich die Materie agitirende (d. i. wirklich bewegende) Kräfte er nichts Perceptibeles und kein Gegenstand möglicher Erfahrung seyn würde.¹⁷⁰
Es ist „derselbe Raum“, der als ein objektiver Raum vorgestellt wird, indem seine Inhalte zu Erfahrungsgegenständen bestimmt werden. Es ist notwendig, „den Raum durch empirische Vorstellung zu realisiren (der Form nach)“¹⁷¹. Dieser notwendige Übergang setzt zwangsläufig die zu bestimmende Materie voraus. Damit ist für Kant klar, dass wir berechtigt sind, eine solche allverbreitete Materie auch anzunehmen: Nicht blos die Befugnis dazu sondern auch die Nothwendigkeit dergleichen allgemein verbreiteten Stoff zu postuliren hat ihren Grund in den Begriffe desselben als hypostatisch gedachten Raumes.¹⁷²
Der Äther steht somit in einem elementaren Zusammenhang mit den Ebenen der kantischen Raum- und Zeitlehre. Entsprechend konstatiert Tuschling pointiert: Aus all diesen Bestimmungen folgt unzweideutig: Dieser Elementar-,Stoffʻ ist für Kant Bedingung a priori möglicher Erfahrung von Raum und Zeit, in Raum und Zeit und von Gegenständen in Raum und Zeit. Und zwar ist die Idee dieses ,Stoffsʻ der Begriff von einem Gegenstand, der weder in einer sinnlichen Anschauung (rein oder empirisch) gegeben werden kann, noch transzendent ist […].¹⁷³
AA XXII, 429. AA XXI, 542 (Hervorhebung von mir). Vgl. ferner AA XXII, 106 f.; 115. AA XXII, 326. AA XXI, 221. Vgl. ferner auch AA XXI, 236. Tuschling 1971, S. 176.
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3 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der KU und im OP
Aufgrund dieser wichtigen Stellung des Äthers für die objektive Raumvorstellung kann die Annahme eines solchen allverbreiteten Stoffes „nicht Hypothese [sein,] sondern liegt identisch im Begriff in der Vorstellung des Raumes überhaupt als Gegenstandes der empirischen Sinnenanschauung überhaupt“¹⁷⁴. An einer Stelle heißt es sogar: „Wärmestoff ist der perceptibele Raum […].“¹⁷⁵ Der Wärmestoff ist „gleichsam der hypostasirte Raum selbst in dem sich alles bewegt“¹⁷⁶. Der Äther soll hier eine Idee sein, die etwas Apriorisches darstellt, das zur Realisierung des objektiven Raums vorausgesetzt werden muss. Dabei scheint der Äther selbst einen hypostasierten materiellen Raum darzustellen.¹⁷⁷ Somit zeigt sich, dass für die Ausgangsfrage im Opus postumum nicht nur Raum und Zeit als Formen, sondern auch die Materie als Inhalt eine wichtige Rolle für den Übergang von der Metaphysik zur Physik spielt. Kants Ätherkonzeption geht hier im Opus postumum damit einen maßgeblichen Schritt weiter als in den vorherigen Werken. Schon in der vorkritischen Phase ist sich Kant mit seinen Ausführungen in De igne bewusst, welche vielseitige und wichtige Rolle der Äther im Hinblick auf die Konstitution der Materie spielt.¹⁷⁸ Auch in der kritischen Phase bzw. in den MAN findet vor diesem Hintergrund der Äther Erwähnung. Dort hat er jedoch eher hypothetischen Charakter.¹⁷⁹ In seinem Logik-Handbuch wird der Äther als eine Idee angesprochen, deren Gegenteil stets möglich bleibt.¹⁸⁰ Auch in der KU bezeichnet
AA XXII, 10. Vgl. ferner AA XXII, 605 f.; 613 f. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die Idee von einem leeren Raum auch als Hypothese nicht mehr zugelassen werden kann. Wenn vom leeren Raum gesprochen wird, dann kann es sich nur noch um einen komparativ leeren Raum, niemals aber um einen absolut leeren Raum handeln. Vgl. AA XXII, 192. Damit revidiert Kant den Schlussteil der MAN und seine Überzeugung in der KRV bezüglich der Möglichkeit eines leeren Raums. Siehe hierzu Kapitel 2.3.2.Vgl. ferner Unruh 2007, S. 187; ferner S. 23; S. 132 Anm., S. 144 f., S. 254 f. und zuvor schon Tuschling 1971, S. 148 – 154. AA XXI, 224. AA XXI, 224. Vgl. hierzu Friedman 1992, S. 321 f. Vgl. Kapitel 1.2. Vgl. AA IV, 564; 534. Vgl. hierzu Carrier 1991, S. 221 f. und auch Friedman 1992, S.217 f. Engelhard interpretiert, dass Kant hoffte, seine Anforderung an ein Konzept der Grundmaterie in der Ätherkonzeption seiner Zeit wiederzufinden. Aus heutiger Sicht ließen sich seine Anforderung möglicherweise auch auf den Begriff des physikalischen Feldes übertragen. Nach Engelhard ist Kant hier auf kein bestimmtes physikalisches Konzept festgelegt. Vor diesem Hintergrund weist sie darauf hin, dass Kant eher vorsichtig bei den Formulierungen ist, wonach es der Äther sein soll, der diese Anforderung erfüllt. Vgl. Engelhard 2005, S. 421 f. Siehe bei Kant beispielsweise AA XXI, 192. Ferner meint Mathieu sogar, dass Kant „vermutlich an die Stelle der alten Dynamik der Ätherkräfte“ (Matthieu 1991, S. 73) die heutige Wellenmechanik der Quantenphysik setzen würde. Vgl. hierzu auch Kötter 1991, S. 177 f. AA IX, 67.
3.2 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit im Opus postumum
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Kant den Äther als „bloße Meinungssache“¹⁸¹. Noch im Opus postumum heißt es an einigen Stellen, dass der Äther lediglich hypothetisch angenommen werden kann. Stellenweise wird der Äther als ein Axiom gedacht, das „keines Beweises bedürftig[]“¹⁸² ist. Ferner betont Kant, dass der Äther – ähnlich wie die regulativen Ideen – nur ein hypothetischer Gedanke sei.¹⁸³ Selbst als er überzeugt ist, den Äther a priori beweisen zu können, scheint ihm das zunächst befremdlich: Es ist befremdlich: es scheint so gar unmöglich die Existenz eines Gegenstandes der Sinne und Objects bloß möglichen Erfahrung a priori beweisen zu wolle wie dieses der Fall mit der Annahme des allverbreiteten Wäremestoffs ist von dem hier behauptet wird daß er nicht als blos hypothetischer Stoff gedacht werden solle […].¹⁸⁴
Dennoch finden sich eben auch solche Stellen, die den Äther als a priori beweisbaren Stoff annehmen.¹⁸⁵ Der Äther übernimmt dabei die Rolle, die Kant der Materie als dem zu Bestimmenden bereits in der KRV zugesprochen hat. Die Materie wurde dort als dasjenige verstanden, das der Form als deren Inhalt gegenübersteht. Die Materie liefert den Inhalt, den wir durch die Affektion mittels unserer Sinnlichkeit empfangen und verarbeiten können.¹⁸⁶ Im Opus postumum ist der Äther das materielle Prinzip, das eine sinnliche Affektion sicherstellt und physisch ermöglicht:
AA V, 467. AA XXI, 600. Vgl. beispielsweise AA XXII, 551. AA XXI, 538. Auch die „Leichtigkeit“ der Überlegungen sind für Kant „verdächtig“ (AA XXII, 615). Vor diesem Hintergrund wird in der Kant-Literatur diskutiert, ob Kant die Beweisbarkeit des Äthers für sich entdeckt und dann auch festhält oder ob sie nur eine „Episode“ (Edwards 1991, S. 80) seines Denkens darstellt, die Kant gegen Ende der Konvolute wieder aufgibt. Vgl. zu dieser Diskussion Hoppe 1991a, S. 61 und auch Tuschling 1991, S. 116 f. Mathieu meint, dass Kant nach anfänglicher Polemik gegen eine Äthertheorie zuletzt an einer Ätherdeduktion im Hinblick auf die gesuchte Einheit der Erfahrung festhält und dies auch mit seinem grundsätzlichen Ansatz einer Transzendentalphilosophie verträglich ist. Vgl. hierzu Mathieu 1991, S. 72– 75 und insbesondere Mathieu 1989, S. 92– 110; S. 169 – 173; 185 – 188; 214– 220 sowie Edwards 1991, S. 80 f. und Hall 2015, S. 96 – 106. In Anbetracht der Bedeutung des Äthers als eines für die Formen des Subjekts notwendigen Stoffes im Opus postumum stellt Hall fest, dass der Äther hier einen konstitutiveren Status besitzt als noch in den MAN.Vgl. Hall 2015, S. 83. Im Hinblick auf Raum und Zeit konstatiert er in diesem Zusammenhang: „Although the formal transcendental character of space and time remain unchanged in OP [Opus postumum], the conditions of their empirical reality are modified by the conclusion of the Ether Deduction.“ (Hall 2015, S. 128). Vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 2.1.2.
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3 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der KU und im OP
Denn wenn von dem Gegenstande im Raum zu mir nicht eine Empfindung als Wirkung der bewegenden Kraft von dem Puncte aus auf meinen Sinn gar nicht wirkte so würde ich von seiner Anwesenheit gar nicht benachrichtigt werden […].¹⁸⁷
Der Äther steht jetzt für den materiellen Affektionsgrund: Man kann auch (aber nur auf bedingte Weise) a priori die Existenz einer durch den ganzen Weltraum verbreiteten Lichtmaterie postuliren weil wir sonst die Gegenstände im Raum in allen Weiten nicht warnehmen würden.¹⁸⁸
Nur unter dieser Bedingung ist es dem Subjekt möglich, ein Erfahrungsobjekt erfolgreich zu bestimmen bzw. aus diesem Inhalt heraus zu erdeuten. Kant scheint im Opus postumum nun das materielle Prinzip, das den Inhalt für Erkenntnisprozesse zur Verfügung stellt, näher charakterisieren zu wollen. Vor dem Hintergrund des erkenntnistheoretischen Kontextes schreibt Kant, dass die Äthertheorie eine apriorische Theorie sein muss. Er sieht sich dabei im Stande, den Äther indirekt zu beweisen: Dieser Beweis der Existenz einer solchen alldurchdringenden und innerlich allbewegenden Materie kann nur indirect nämlich als zum Behuf der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt erforderlich und kann doch Principien a priori d. i. mit dem Bewußtseyn ihrer inneren Nothwendigkeit gemäß geführt werden; – also nicht aus der Erfahrung […].¹⁸⁹
Dazu führt Kant ferner aus: „Dieser Beweis ist indirect so daß wen man das Gegenteil annimmt man mit sich selbst in Widerspruch geräth.“¹⁹⁰ Der Äther wird a priori benötigt, um zu erklären, wie es überhaupt Erfahrung geben kann: Nun kann man im leeren […] Raume keine Erfahrung machen als nur in so fern er ein mit Materie erfülleter Raum ist und dieser also nicht bloßes Gedankending sondern ein existirendes Object möglicher Erfahrung und ausser der Vorstellung wirklich ist.¹⁹¹
Da das Subjekt für jegliche Differenzierung und Zusammensetzung in der Welt verantwortlich ist, beschreibt Kant den Äther als einen „formlosen alle Räume durchdringenden […] Urstoff[]“¹⁹². Der Äther wird als ein „im Gantzen Weltraum
AA XXI, 537. AA XXII, 84. Vgl. ferner AA XXII, 110; 298; 425 f. AA XXI, 540. AA XXI, 551 f. Für eine Rekonstruktion der Ätherdeduktion siehe die neuere Ausarbeitung von Hall 2015, S. 96 – 117 und im Vergleich hierzu Förster 2000, S. 82– 101. AA XXI, 538. AA XXI, 219.
3.2 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit im Opus postumum
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[…] verbreitete [und] alle Körper gleichförmig durchdringend erfüllend[e] (mithin keiner Ortsveränderung unterworfene) Materie“ gedacht. Die Materie ist ein „Continuum“¹⁹³, wie Kant hier expressis verbis schreibt, was sie mit Raum und Zeit als kontinuierliche Formen gemein hat. Der Äther stellt für das Subjekt den ursprünglich unbearbeiteten Inhalt zur Verfügung, um sich Erfahrungsgegenstände aus diesem Inhalt zu erdeuten. Somit kann er in dieser elementaren und transzendentalen Funktion „kein hypothetischer Stoff [sein] […] sondern als zum Übergange von den met. A. Gr. der NW. zur Physik nothwendig gehörendes Stück a priori“¹⁹⁴. Er kann daher auch kein „Erfahrungsobject“¹⁹⁵ sein, da er die Erfahrung bedingt.¹⁹⁶
AA XXI, 218. AA XXI, 218. AA XXI, 219. Inwieweit diese Äthertheorie im Opus postumum einen dogmatischen Rückfall in vorkritische Überlegungen darstellt oder nicht, ist umstritten. Förster schreibt hierzu: „Bevor der Verdacht eines Rückfalls in den vorkritischen Dogmatismus aufkommt, sei an den wesentlichen Unterschied zwischen den Kantschen Gottesbeweisen und der Deduktion des Äthers erinnert. Während die Gottesbeweise versuchten, aus begrifflicher Notwendigkeit auf notwendige Existenz – von der unbedingten Notwendigkeit der Urteile auf die absolute Notwendigkeit der Sachen (III 397 f. [B 621]) – zu schließen und an der Unmöglichkeit eines solchen Schlusses grundsätzlich scheitern mußten, kam es Kant nie in den Sinn, die absolute Notwendigkeit des Äthers zu beweisen; ihm geht es lediglich um die Notwendigkeit der Annahme eines Äthers in Bezug auf mögliche Erfahrung. Und auch hierbei schwankt Kant auffällig, ob seine Wirklichkeit außer der Idee (XXI 559,19) oder nur in der Idee (XXI 553,8) zu beweisen sei.“ (Förster 1991, S. 42). Für Förster ist Kants Äthertheorie primär die Antwort auf ein Problem, das er bei Kants Versuch sieht, die bewegenden Kräfte nach den Kategorien einzuteilen. Nach Förster bricht Kant in den Konvoluten seine Bestimmungsversuche immer wieder ab, weil die Kategorien zwar einen Leitfaden zur Bestimmung bieten, aber kein Prinzip, nach dem die Einteilung stattfinden kann. Erst der Äther gibt ein materielles Prinzip vor, woraus sich alle bewegenden Kräfte und die Materie erfolgreich zu einem Elementarsystem bestimmen lassen, weil der Äther alle Aspekte der Materie umfasst bzw. empirisch bedingt und schließlich auch stets bei jeder Form von Materie involviert ist. Vgl. hierzu Förster 1991, S. 28 – 48. Für Hall übernimmt der Äther somit sogar die Funktion des transzendentalen Ideals aus der KRV. Vgl. Hall 2015, S. 100; S. 81 ff. Auch Friedman behauptet diesen Zusammenhang und meint, dass die Ätherdeduktion dem Äther eine mit dem transzendentalen Ideal vergleichbare Rolle zuspricht. Um aber die von Kant behauptete Lücke in seinem System zu schließen, muss nach Friedman das transzendentale Ideal in Form des Äthers nunmehr konstitutiv gedacht werden. Vgl. Friedman 1992, S. 301– 306. Für Baumgarten dagegen stellt sich die Situation wie folgt dar: „Der Äther soll nun [im Opus postumum] der Garant dafür sein, daß die disparaten Einzelerfahrungen miteinander verbunden sind in dem von der physikalisch-naturwissenschaftlichen Forschung behaupteten Gesamtzusammenhang der Welt.“ (Baumgarten, H. 2001, S. 498). Das hat nach Baumgarten jedoch Problematisches zur Folge: „Damit bildet nun allerdings nicht mehr der Verstand das Einheitsprinzip für die empirische Erkenntnis, sondern der Natur selbst wird eine formale Einheitsfunktion ontologisch zuerkannt. Mit seiner Theorie des
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3 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der KU und im OP
Im Kapitel 2.2.3 wurde gezeigt, dass die Bestimmung subjektiver Inhalte in Raum und Zeit zu objektiven Erfahrungsgegenständen, die etwas Räumliches und Zeitliches darstellen, über den Schematismus erfolgt. Die von Kant im Opus postumum angesprochene „Bestimmung von Raum und Zeit in Ansehung der materiellen Kräfte“ muss daher im Kontext des Schematismus betrachtet werden. Es ist gerade der transzendentale Prozess der Schematisierung, durch den Verhältnisse in den subjektiven Anschauungsformen zu objektiven raumzeitlichen Bestimmungen der Erfahrung werden. Folgerichtig muss somit auch der Schematismus neben Raum, Zeit und Äther eine wichtige Rolle beim Übergang von Metaphysik zu Physik spielen:
Äthers weicht Kant daher von der Grundannahme seiner kopernikanischen Wende ab. […]. Damit bleibt aber die Theorie des Äthers ein Stück weit dogmatische Metaphysik.“ (Baumgarten, H. 2001, S. 499). Vgl. ferner Baumgarten, H. 2001, S. 502. Daher versteht Baumgarten Kants Konzentration auf die Selbstsetzung „in den spätesten Manuskripten“ des Opus postumum, in denen „die Ausführungen zum Äther nur noch vereinzelt auftauchen, […] und auch nicht mehr im Zusammenhang [mit] der Einheitsthematik [stehen]“ (Baumgarten, H. 2001, S. 499), als Einsicht Kants in das Scheitern einer Äthertheorie als Garant für die Einheit der Erfahrung. Tatsächlich schreibt Kant im Opus postumum, dass der Äther die Einheit der Erfahrung garantieren soll: „Weil ohne ein stetiges Fortschreiten der bewegenden Kräfte keine Einheit der Materie und Verbindung der bewegenden Kräfte derselben in einer Erfahrung sondern bloß isolierte Vorstellungen als gesetzloses Aggregat daraus entspringen würde.“ (AA XXI, 536 f.). Nach Tuschling löst Kants Selbstsetzungslehre die anfängliche Ätherdeduktion ab, weil sie keine „orthodoxe[]“ (Tuschling 1991, S. 116) Überlegung innerhalb Kants kritischer Systematik darstellt. Nach Tuschling ist sie nämlich – ähnlich wie bei Baumgarten – unvereinbar mit dem Anspruch seiner Transzendentalphilosophie. Die Selbstsetzungslehre soll hingegen einen orthodoxeren Lösungsversuch für das Problem nach der Einheit der Erfahrung liefern.Vgl. Tuschling 1991, S. 116. Nach Mathieu geht es Kant jedoch nicht um eine ontologische Einheit der Erfahrung, sondern um die Einheit der physikalischen Welt aus der Sicht eines Naturwissenschaftlers. Es geht demzufolge um eine systematische Einheit der Erfahrung, die – wie Kant gelegentlich betont – nur „asymptotisch“ (AA XXI, 90) erreicht werden kann.Vgl. hierzu AA XXI, 585. Um diese systematische Einheit zu suchen, muss der Wissenschaftler sich Konstrukte bzw. indirekte Gegenstände zum Behufe der Erfahrung überlegen, um mittels Experimente die systematische Einheit der Erfahrung näher zu ergründen. In diesem Kontext sieht Mathieu Kants neuen Begriff der „Erscheinung der Erscheinung“ (AA XXII, 339). Vgl. Mathieu 1991, S. 67– 71 und ferner Mathieu 1989, S. 214– 220. Diese unterschiedlichen Interpretationsstandpunkte deuten bereits an, wie vielfältig, uneinheitlich und komplex Kants Thematisierung des Äthers im Opus postumum ist. Engelhard plädiert daher sogar dafür, zwischen „verschiedenen Ätherbegriffen“ (Engelhard 2005, S. 424) im Opus postumum zu unterscheiden. In Anbetracht der in Kapitel 0.2 dargestellten Interpretationsmaxime und vor dem Hintergrund der in Kapitel 3.2.1 dargestellten textlichen Schwierigkeiten bleibt es fraglich, ob eine finale und textimmanente Antwort auf die Frage nach der genauen Rolle und Stellung des Äthers im Opus postumum überhaupt möglich ist.
3.2 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit im Opus postumum
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Der Schematism der Verstandesbegriffe macht hier wie überhaupt in der transscendental// Philosophie für die durchgängige Bestimmung des Systems der bewegenden Kräfte die Schwierigkeit des Überganges zur Physik. Der Schematism der Verstandesbegriffe ist der Vorhof (atrium) des Überganges von den Met. A. Gr. zur Physik. – Ein Augenblick in welchem Metaph. und Phys. beyde Ufer zugleich berühren Styx interfusa.¹⁹⁷
Der Schematismus erklärt, wie der materielle Inhalt in Raum und Zeit bestimmt werden kann. Er liefert somit nicht nur den Übergang von subjektiven zu objektiven Vorstellungen, indem er die transzendentalen Denk- und Anschauungsformen zusammenbringt und somit empirische Erfahrungsgegenstände hervorbringt, sondern liefert zugleich auch die Grundlage für den Übergang von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft, die die allgemeinen Prinzipien einer Erfahrungswissenschaft thematisieren, hin zur konkreten Naturwissenschaft selbst, die den Erfahrungsgegenstand untersucht.¹⁹⁸ Damit hat
AA XXII, 487. Vgl. ferner AA XXII, 494 f. Im Zusammenhang mit der Selbstsetzungslehre sieht Würker vor dem Hintergrund der Übergangsfrage im Opus postumum eine weitergehende und gegenüber der KRV neuartige Schematismuslehre. Nach Würker wird vor allem deutlich, dass Kant den Schematismus hier endgültig als „Wirkung der Apperzeption“ (Würker 2008, S. 112) versteht und somit der Umgestaltung nachkommt, die er bereits in der zweiten Auflage in Anbetracht der Degradierung der Einbildungskraft als Erkenntnisvermögen hätte durchführen müssen. Vgl. Würker 2008, S. 109 – 113. Siehe ferner Anmerkung 555 im 2. Kapitel. Im Opus postumum sieht Würker nunmehr eine Aufwertung des Raums im Hinblick auf den Schematismus: „Der ,neueʻ Schematismus des Opus postumum stützt sich nicht mehr nur auf den Vermittlungsanspruch der Zeit, sondern auch auf den der a priori gedachten Materie. Wenn man dieser Interpretation folgt, dann ist die apriorische Bestimmung des mit Ätherkräften erfüllten Raums die Bedingung der Möglichkeit für die schematisierte Naturerkenntnis.“ (Würker 2008, S. 131). Als Fazit hält Würker somit fest: „Es ist festzuhalten, dass der Schematismus aus der ,Kritik der reinen Vernunftʻ um den mit Ätherkräften erfüllten Raum erweitert worden ist. Er erhält nun einen gleichwertigen Platz neben der Zeit, die in der ,Kritik der reinen Vernunftʻ zunächst die beherrschende Form der Anordnungsverhältnisse im inneren Sinn war.“ (Würker 2008, S. 133). Auch Gloy sieht im Opus postumum eine deutlich werdende Interdependenz zwischen Zeit und Raum. Sie spricht davon, dass „das Theorem der Gleichwertigkeit von Zeit und Raum fester Bestandteil des Systems“ (Gloy 2008, S. 140) wird. Drastischer sieht Mathieu die Thematisierung des Raums im Kontext des Schematismus im Opus postumum: „Infolge seines Bezugs zum Äther verdrängt der Raum im OP die Zeit in der Rolle der „apriori gegebenen Materie“ des Schematismus. Als „Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit“ (B152) benötigte der Schematismus der KV die Zeit als Material; der neue „Schematism der Begriffe der Composition welche zum Empirischen erforderlich ist“ (I, 174, 7) dagegen braucht für denselben Zweck den Raum, nämlich den „realisierten Raum“ des Wärmestoffes.“ (Mathieu 1989, S. 120). Hall dagegen macht darauf aufmerksam, dass die Vorrangstellung der Zeit in der KRV es fraglich erscheinen lässt, ob überhaupt ein Schematismus mit explizitem Bezug zum Raum notwendig ist. Vgl. Hall 2015, S. 22. Auch wenn Hall den richtigen Hinweis gibt, dass der Schematismus in der KRV einen impliziten Raumbezug aufweist, ist nicht zu leugnen, dass es eine
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3 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der KU und im OP
Kant die drei entscheidenden Themen zusammen, um diesen Übergang zu behandeln: Raum und Zeit (Form), Äther (Inhalt) und Schematismus (Bestimmungsprozess des Inhalts durch die Form). Einen Zusammenhang dieser Themen konstatiert auch Würker: Im Opus postumum werden durch die apriorische Selbstaffektion nicht mehr nur zeitliche, sondern räumliche Strukturen für die Erkenntnis herausgebildet, denn Kant lässt die Äthertheorie an den Schematismus anknüpfen. Die Begriffe des Schematismus und der Selbstaffektion werden im Opus postumum in der Selbstsetzung wieder verwendet, aber das Selbstaffizieren vollzieht sich dann nicht nur durch die Anordnung der Erscheinungen unter den Kategorien in Zeitverhältnissen, sondern die apriorische Anordnung der geregelten Affektionen des a priori angenommen erfüllten Raumes tritt als die Möglichkeit zur Bildung eines metaphysischen Prinzips für die Naturerkenntnis hinzu. Diese Raumerfüllung, die a priori mit Notwendigkeit denkbar ist, wird in der Ätherdeduktion im Übergang 1– 14 erwiesen.¹⁹⁹
auffällige Neuerung darstellt, dass Kant im Opus postumum den Raum beim Schematismus von vornherein mit im Blick hat. Würker 2008, S. 122. Würker meint, dass Kant den Schematismus nunmehr auch für die Übergangsproblematik bemühen möchte, um zu erklären, wie spezielle empirische Naturgesetze transzendental zu verstehen sind. Vgl. Würker 2008, S. 123 f. Vor diesem Hintergrund gilt es nach Würker zu differenzieren: „Der ,neueʻ Schematismus basiert nun nicht nur auf der Anwendung der reinen Verstandesbegriffe, der Kategorien, auf das in der Anschauung gegebene Mannigfaltige, sondern er umfasst nun den ganzen Bereich der Anschauung der Naturwissenschaften, die Gegenstand der Urteilskraft gewesen sind. Der ,alteʻ Schematismus der reinen Verstandesbegriffe ist also nicht gleichzusetzen mit dem neuen Schematismus. Dieser leistet mehr als der vorherige, indem er nun in der Lage ist, a priori nicht nur die allgemeinen Gesetze der Natur zu erklären, sondern auch die gesetzmäßigen Bestimmung [sic!] der besonderen Kräfte der Natur zu gewährleisten.“ (Würker 2008, S. 153). In diesem Kontext sieht Würker auch Kants neuen Terminus der Erscheinung der Erscheinung bzw. der indirekten Erscheinung: „Die Bildung der ,indirecten Erscheinungʻ kommt intensional der Funktion der apriorischen Schemabildung der ,Kritik der reinen Vernunftʻ sehr nahe, führt aber über sie hinaus. Nicht nur einfache mathematische und geometrische Schemata und prototypische Abbilder können auf diese Weise vom Verstand gebildet werden, sondern auch durch die Schematisierung entstandene erkennbare ,Erscheinungʻ als ein Zusammengesetztes aus apriorischer Selbstaffektion und Mannigfaltigem, welches als theoretische naturwissenschaftliche Erkenntnis für das erkennende Subjekt Wahrheitsgehalt aufweist.“ (Würker 2008, S. 155). Würker sieht in dieser Weiterentwicklung Kants eine „taugliche Wissenschaftstheorie“ (Würker 2008, S. 151). Vgl. hierzu auch Mathieu 1991, S. 67– 71 und ferner Mathieu 1989, S. 214– 220 bzw. obige Anmerkung 196 im hiesigen Kapitel 3. Dass Kant bereits zuvor wissenschaftstheoretische Überlegungen insbesondere im Hinblick auf den Status von empirischen Naturgesetzen anstellt, wurde bereits in Anmerkung 703 in Kapitel 2 thematisiert. Hübner sieht Kants neue Begrifflichkeit einer Erscheinung der Erscheinung im Kontext der ursprünglichen Erfahrungskonstitution. Demnach ist die Erscheinung der Erscheinung als eine terminologische Bezeichnung der Hervorbringung und Formung der sinnlichen Erscheinung zur objektiven Erscheinung mittels des Verstandes zu verstehen. Vgl. Hübner 1973, S. 197 f.
3.2 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit im Opus postumum
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Im Kapitel 2.2.5 hat sich angedeutet, dass Schwierigkeiten im Hinblick auf die Frage nach dem Status der ursprünglichen Vorstellung von Raum und Zeit im Zusammenhang mit Kants transzendentalem Selbstbewusstsein bleiben. Wie sich dort zeigte, klingt es vor allem angesichts der A-Auflage immer wieder so, als seien Raum und Zeit selbst ursprünglich erzeugt. Wie ferner gesehen, betont Kant auch nach der KRV in seiner Streitschrift, dass Raum und Zeit nicht angeboren, sondern ursprünglich erworben sein müssen. In Kapitel 2.2.1 wurde dargestellt, dass viele Interpreten vor diesem Hintergrund dazu neigen, auch die Anmerkung B160 f. im Sinne eines Synthesis Reading auszulegen. Dies tut auch Würker und sieht hier einen unmittelbaren Anschluss im Opus postumum. In Bezug auf die Anmerkung B160 f. konstatiert sie: Dass die Anordnungsverhältnisse von Raum und Zeit nicht angeboren, sondern durch das Subjekt a priori erzeugt werden, scheint ein Gedanke, der sich schließlich wieder im Opus postumum auffinden lässt und dort ausführlicher als in der ,Kritik der reinen Vernunftʻ behandelt wird. Diese Erzeugung der Anschauungsformen von Raum und Zeit ist auch bei Fichte zu finden, so dass hier möglicherweise eine Anregung aufgenommen worden ist. Dennoch ist es keine neuartige Idee, sondern es lässt sich hier eine Kontinuität seiner Konzeption feststellen.²⁰⁰
Um diese Anknüpfung im Opus postumum genauer zu verstehen, ist es wichtig, sich Kants fragmentarische Selbstsetzungslehre anzuschauen. Nur in diesem Zusammenhang werden die Impulse für seine Raum- und Zeitkonzeption im Opus postumum ansatzweise verständlich.
3.2.2 Kants späte Selbstsetzungslehre im Hinblick auf Raum und Zeit im Opus postumum Kant stellt mit seinem neuen Ansatz einer Selbstsetzung die Frage nach der Wurzel seiner transzendentalphilosophischen Systematik, denn die Transzendentalphilosophie soll nunmehr dadurch gekennzeichnet sein, dass „das Subject sich selbst constituirt“²⁰¹. Kant denkt mit seinem neuen Ansatz einer Selbstsetzung den Erkenntnisprozess radikal vom Subjekt her und geht damit entschieden weiter als in der KRV. ²⁰² Das drückt sich nicht zuletzt in seiner neuen Wortwahl aus: „Der Welt erkenen will muß sie zuvor zimern und zwar in ihm selbst.“²⁰³
Würker 2008, S. 139. AA XXI, 85. Vgl. hierzu auch Würker 2008 S. 57 f. und Mathieu 1989, S. 185 – 188. AA XXI, 41.
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3 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der KU und im OP
Damit ist das „Ich der Inhaber der Welt“²⁰⁴. Der Grundgedanke lautet: „Wir machen alles selbst.“²⁰⁵ Dadurch, dass wir die Objekte „selber machen“, sind wird „Zuschauer und zugleich Urheber“²⁰⁶. Es ist eine neue „Dynamik[,] die sich selbst a priori zum Gegenstande macht“²⁰⁷. Als Antwort auf die Frage, wie synthetische Urteile a priori möglich sind, heißt es nunmehr: Antwort durch die Vorstellung der Gegenstände im Raum und Zeit (coexistentia et succeßio) als einem Verhältnis des Subjects, zu sich selbst als Gegenstande in der Erscheinung mithin nach einem formalen Princip der Verbindung.²⁰⁸
Kant versucht im Opus postumum das Subjekt in ursprünglichen Akten zu verstehen. Das Bewusstsein ist nun nicht mehr nur der höchste Punkt der Transzendentalphilosophie, sondern auch der erste Punkt, von dem alles ausgehen muss: „Der Verstand fängt mit dem Bewußtseyn seiner selbst (apperceptio) an […].“²⁰⁹ Von diesem Punkt aus geht es weiter: „Das logische Bewußtseyn führt zum Realen und schreitet von der Apperception zur Apprehension und deren Synthesis des Mannigfaltigen.“²¹⁰ Konkret bedeutet das: Der erste Act des Vorstellungsvermögens ist das Bewußtseyn meiner Selbst welches ein blos logischer Act ist der aller übrigen Vorstellung zum Grunde liegt, wodurch das Subject sich selbst zum Objecte macht. – Der zweite ist dieses Object als reine Anschauung a priori und zugleich als Begriff zu bestimmen, d. i. zur Erkenntnis als Inbegriff (complexus) der Vorstellungen nach dem Prinzip der Categorien nämlich dem System der Categorien […] als zur Einheit der Erfahrung gehörend (als existirend) vorzustellen.²¹¹
In der KRV wurde trotz des bestimmenden Verstandes immer wieder betont, dass die Sinnlichkeit zumindest in analytischer Hinsicht einen gleichwertigen Erkenntnisstamm neben dem Verstand darstellt. Im Opus postumum wird die Sinnlichkeit nun expressis verbis in synthetischer Hinsicht dem Verstand untergeordnet.Was im Schematismus zunächst nur erahnt werden konnte, nämlich die aktive synthetische Rolle des Verstandes, bestätigt sich nunmehr: „Es sind zwey Elemente der Erkenntnisprincipien Anschauung u. Begriff wovon das eine gegeben das andere gedacht wird und die einander nicht analytisch sondern syn
AA XXI, 45. AA XXII, 82. AA XXII, 421. AA XXI, 117. AA XXII, 67. AA XXII, 82. AA XXII, 96. AA XXII, 77. Vgl. ferner AA XXII, 20 f.; AA XXII, 28 und AA XXII, 405.
3.2 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit im Opus postumum
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thetische untergeordnet (die Anschauung dem Begriff) ein Princip a priori der Erkenntnis bestimmen.“²¹² Die Rezeptivität ist nur noch eine bedingte Passivität; sie ist eine Passivität, die der Verstand zulässt: „Die Mancherley Arten von Gegenständen afficirt zu werden d. i. der Recpetivität der Sinneneinflüsse bestimmen systematisch die Art wie sie uns erscheinen müssen und zwar vor aller Wahrnehmung. Das Bewußtseyn meiner selbst der Verstand trägt diese Anschauung hinein.“²¹³ Es ist das Subjekt als Spontanität, das die Inhalte hineinträgt und somit eine Rezeptivität bzw. Passivität seiner Selbst ermöglicht: „Die Receptivität der Erscheinungen beruht auf der Spontaneitat des Zusammensetzens in der Anschauung seiner selbst […].“²¹⁴ Hierzu konstatiert Dörflinger treffend: „Spontaneität ist nun nicht länger auf das intellektuelle Subjekt zu restringieren und charakterisiert jetzt gleichermaßen das sich durch seine Anschauungsformen auf ein Anschauen hin disponierende Subjekt.“²¹⁵ Dies hat zur Folge, dass Kant die Spontanität stellenweise auch bei den ursprünglichen Anschauungsformen der Sinnlichkeit berücksichtigt: „Die reine Anschauung a priori enthält die actus der Spontaneität und Receptivität und durch Verbindung derselben zur Einheit der Act der Reciprocität und zwar in dem Subject als Dinge an sich und durch Subjective Bestimmung derselben als Gegenstande in der Erscheinung […].“²¹⁶ Raum und Zeit sind somit nicht nur Formen der Rezeptivität, sondern auch der Spontanität, wie Kant jetzt deutlich sieht: „Raum u. Zeit sind einerseits Actus der Spontaneität des Subjects in der Anschauung andererseits affectionen der Receptivität: jene in der Zusammensetzung des Mannigfaltigen diese der Darstellung des Zusammengesetzten in der Einheit des Begriffs.“²¹⁷ Raum und Zeit werden jetzt als „Geschöpfe meines Vorstellungsvermögens“²¹⁸ bezeichnet. Sie stellen eine Form dar, die „sie selbst machen müssen“²¹⁹. Sie sind „actus der Vorstellungskraft sich selbst zu setzen, wodurch sich das Subject selbst zum Object
AA XXII, 417. AA XXII, 412. AA XXII, 535. Hierzu schreibt Würker: „Durch den ersten Akt der Selbstsetzung bin ich als ,cogitabileʻ gesetzt. Nun wird im weiteren Verlauf der idealgenetischen Darstellung dieses ,cogitabileʻ stufenweise zusammengesetzt zu einem ,dabileʻ als ein existierendes, denkendes Wesen, als empirischer Gegenstand. Dadurch kann es sich nun selbstaffizierend durchgängig bestimmen und dadurch ein einheitliches empirisches System bilden.“ (Würker 2008, S. 62). Dörflinger 2000, S.98. AA XXII, 28. Siehe zu Kants Weiterentwicklung im Opus postumum gegenüber der Trennung von Spontanität und Rezeptivität in der KRV die Ausführungen bei Prauss 1990, S. 281– 312. AA XXII, 42 f. AA XXII, 45. AA XXII, 76.
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macht“²²⁰. Doch wie lässt es sich genau verstehen, dass Raum und Zeit Spontanität voraussetzen? Kant liefert hierzu ein anschauliches Bild: Es fragt jemand die schönste Bildsäulen liegen schon im Marmorblock man hat nur nöthig theile davon wegzuschaffen d. i. man kann die Statue darin durch Einbildungskraft vorstellen und der Bildhauer legt sie auch hinein. Es ist nur die Erscheinung eines Körpers. – Raum und Zeit sind Producte (aber primitive Porducte) unserer eigenen Einbildungskraft mithin selbst geschaffene Anschauungen indem das Subject sich selbst afficirt und dadurch Erscheinung nicht Sache an sich ist. Das Materiale – das Ding an sich – ist = X ist die bloße Vorstellung seiner eigenen Thätigkeit […].²²¹
Verstand und Sinnlichkeit werden hier in ihrem Verhältnis zueinander als Grundvermögen des Subjekts thematisiert. Rezeptivität und Spontanität stehen sich nicht mehr als Gegensätze statisch gegenüber, sondern werden in einem Akt der Einheit unter dem Primat der Spontanität als reziproke bzw. wechselbezügliche Vermögen zusammengedacht.Was bezüglich der KRV zunächst nur vermutet werden konnte, nämlich dass Verstand und Sinnlichkeit in der transzendentalen Apperzeption begründet liegen, wird im Opus postumum stellenweise deutlich ausgesprochen: Die Vorstellung der Apperception die sich selbst zum Gegenstande der Anschauung macht enthält eine zwiefachen Act: erstlich den sich selbst zu setzen (der Spontanetiät) und den von Gegenstanden afficirt zu werden und das Mannigfaltige in der Vorstellung zur Einheit a priori zusammen zu fassen (den der Receptivität). Im erstern Fall ist das Subject sich selbst ein Gegenstand blos in der Erscheinung welche a priori als das Formale gegeben im zweyten ein Aggregat des Materialen der Wahrnehmung in so fern es in der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung a priori im Raum und der Zeit gedacht wird.²²²
Die Sinnlichkeit bzw. Raum und Zeit sind Strukturen des Bewusstseins: Der Raum kann mit seinem Mannigfaltigen nicht apprehendirt werden sondern wird als ursprüngliches Bewußtseyn seiner selbst ein solches Mannigfaltige zu setzen appercipirt.²²³
Der Raum ist somit ein Glied des Bewusstseins seiner selbst. Das Selbstbewusstsein ist nicht exklusiv verstandesmäßig, sondern beinhaltet die Sinnlichkeit. Der Raum ist nicht nur gegeben, sondern nunmehr ein „Product des Vor-
AA XXII, 88. Vgl. ferner AA XXII, 96. AA XXII, 37. Vgl. ferner AA XXII, 76. AA XXII, 31. AA XXII, 41.
3.2 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit im Opus postumum
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stellungsvemögens als Selbstthätigkeit (Spontaneitas nicht Receptivitas)“²²⁴. Explizit betont Kant: „Raum und Zeit sind keine Dinge sondern bloße Vorstellungsarten der Dinge […]. Die Setzung beyder vereinigt enthält nicht etwas was gegeben sondern gemacht ist […].“²²⁵ Raum und Zeit werden ferner als „Formen unserer Wirkungskräfte“²²⁶ oder als „Selbstbestimmung“²²⁷ und „Act des Subjects“²²⁸ verstanden. Sie werden jetzt nicht mehr einfach als statisch gegebene Formen, sondern als dynamische Konstrukte gedacht, die in einem dynamischen Subjekt gesetzt werden. Wie zuvor erörtert, beschreibt Kant bereits in der KRV die Form der Anschauung an einer Stelle als ein „Setzen“²²⁹. Was Kant in der KRV jedoch nur angedeutet hat und wie ein Fremdkörper in Anbetracht der Dichotomie zwischen Verstand und Sinnlichkeit wirkte, nämlich dass Raum und Zeit in ihrer subjektiven Form vom Subjekt bzw. Verstand nicht nur abgeleitet, sondern sogar ursprünglich erzeugte Formen sind, wird hier im Opus postumum vielerorts explizit betont.²³⁰ Doch auch hier zeigt sich wieder das Problem, das sich schon in der KRV zum Schluss angedeutet hat: Bei seinem Versuch, Verstand und Sinnlichkeit näher aneinander zu rücken, läuft Kant erneut Gefahr, die besondere, holistische Einheit von Raum und Zeit zu übergehen. Er schreibt: Spatium, Tempus, Positus sind nicht Objecte der Anschauung sondern selbst Anschauungsformen die a priori synthetisch aus dem Erkenntnisvermögen hervorgehen […].²³¹
Synthetisch oder zusammengesetzt dürfen Raum und Zeit ursprünglich aber nicht sein; das hatte sich Kant bereits in der vorkritischen Phase erarbeitet.²³² Entsprechend konstatiert Prauss: „Nur entgleitet ihm [Kant] das Ursprünglich-Dynamische solcher Erzeugung [des Kontinuums von Raum und Zeit], weil er diese ,Synthesisʻ im Sinn einer ,Zusammensetzungʻ immer wieder fälschlich-wörtlich nimmt.“²³³ Lediglich die abgeleitete Vorstellung kann nämlich synthetisch hervorgebracht sein. Im Konflikt mit der zuletzt zitierten Stelle im Opus postumum heißt es dann an einer anderen Stelle:
AA XXII, 42. AA XXII, 439. AA XXI, 38. AA XXII, 74. AA XXII, 76. B67. Vgl. hierzu Kapitel 2.2.1 und 2.2.5. Auf diesen Zusammenhang weist schon Adickes hin. Vgl. hierzu Adickes 1920, S. 655 – 659. AA XXII, 68. Vgl. Kapitel 1.3 und 1.4. Prauss 2019, S. 407.
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Der Raum und die Zeit ist nicht die Synthesis d. i. Zusammensetzung des Mannigfaltigen der Anschauung durch Begriffe denn er und die Zeit sind schon mit der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung identisch gegeben (nicht davon abgeleitet). Das Formale der Anschauung als Einheit ist in der Synthesis des Mannigfaltigen derselben a priori identisch enthalten. Das Mannigfaltige der Anschauung derselben ist nicht durch Warnehmung (empirische Vorstellung mit Bewußtseyn) sondern a priori in der reinen Anschauung gegeben und das Aggregat der letzteren zum Behuf der Möglichkeit der Erfahrung setzt jene (Anschauung) das Formale vor dem Materialen voraus […].²³⁴
Die Frage, wie Raum und Zeit als ursprünglich holistische Anschauungsformen konsistent im Subjekt vorgestellt werden können, beschäftigt Kant somit bis zuletzt. Immer wieder wird Kant klar, was dabei auf dem Spiel steht; es ist nichts Geringeres als die Einheit des Subjekts und seiner Welt: Das Formale dieser Anschauung ist Eines und Alles zusammengefaßt ist die Vorstellung von Raum und Zeit welche nicht analytisch aus Begriffen sondern synthetisch durch Construction der Begriffe eine Unendlichkeit (unbegrentzte Größe) vorstellt Es ist ein Raum und Eine Zeit und Einheit der Erfahrung im Raum u. der Zeit, beyde in Einem Bewußtseyn einander wechselseitig bestimmend.²³⁵
Mit seiner Selbstsetzungslehre ringt Kant um eine Lösung des Kontinuumproblems. Sie liefert einen Ansatz, wie Raum und Zeit ursprünglich im Subjekt verankert werden können. Nicht nur die Inhalte werden in Raum und Zeit gesetzt, sondern auch die Anschauungsformen selbst sollen gesetzt werden: Die postion von etwas ausser mir geht selbst zuerst von mir aus in den Formen von Raum u. Zeit in welche ich selbst die Gegenstände der äußeren u. des inneren Sinnes setz und welche darum unendliche Setzungen sind.²³⁶
AA XXII, 446. AA XXII, 99. AA XXII, 97. Das Konstrukt der Selbstsetzung hat im Opus postumum einen vielfältigen Verwendungszusammenhang. Adickes unterscheidet hier gleich vier Arten der Verwendung: „Folgendes sind die drei Möglichkeiten, die ich als 2– 4 beziffere, indem ich die rein logischformelle Scheidung von Subjekt und Objekt, die Voraussetzung jedes Selbstbewußtseins, als 1. Fall zähle. Die Selbstsetzung seitens des Ich bezieht sich entweder 2. auf seine formalen Erkenntnisbedingungen: die reinen Anschauungsformen Raum und Zeit (2 a) und die Kategorialfunktionen als die reinen Form der Synthesis (2 b), oder 3. auf den Bewußtseinsinhalt an Empfindungen, Wahrnehmungen usw. in Raum und Zeit (3 a), seine Vereinigung unter die Einheit der transzendentalen Apperzeption vermöge der durch die Kategorialfunktionen ausgeübten Synthesis und seine auf diesem Wege erfolgende Vergegenständlichung (3 b), oder 4. auf die gesamte Erfahrungswelt in ihrer ganzen Objektivität und Gesetzmäßigkeit.“ (Adickes 1920, S. 633). Für die erste Ebene der kantischen Raum- und Zeitkonzeption ist vor allem die Möglichkeit 2a bedeutend. Für die zweite Ebene ist es die Möglichkeit 3a. Für die dritte Ebene ist die Möglichkeit 4 relevant.
3.2 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit im Opus postumum
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U. a. im Konvolut VII geht Kant näher auf die „unbedingte[] Einheit des Raumes und der Zeit als reiner Anschauungen“ ein und betont, dass „deren Qualität darin besteht daß das Subject sich selbst als gegeben (dabile) setzt“²³⁷. Ferner heißt es: Raum und Zeit […] machen eine reine a priori gegebene Vorstellung aus wodurch das Subject sich selbst setzt und zum Object der Sinne macht aber nur in der Erscheinung = X nicht als Ding an sich (ens per se) und zwar nicht blos analytisch nach Begriffen sondern synthetisch durch Construction derselben in dem Complexus des Mannigfaltigen der Anschauung als wahres Object (nicht als ens rationis ein bloßes Gedankending). Raum und Zeit sind nicht apprehensibele Gegenstände der Anschauung denn sonst wären sie empirische Anschauungen […].²³⁸
Kant wiederholt immer wieder: Raum und Zeit sind „dem Subject als einem Act desselben angehöriges wodurch dieses sich selbst setzt, d. i. sich selbst zum Gegenstande seiner Vorstellungen macht“²³⁹. Doch was bedeutet es, dass Raum und Zeit gesetzt werden? Prima facie ist dies ein Fortschritt gegenüber der Charakterisierung einer bloßen Gegebenheit. Wie Würker betont, haben wir es bei dem Verb setzen mit zwei Konnotationen zu tun: „Einerseits die im Sinne von Hervorbringen, Erzeugen, Bewirken und Gründen und andererseits die im Sinne von Bestimmen, Festsetzen, Ansetzen.“²⁴⁰ Während das Adjektiv gegeben suggeriert, dass etwas ohne eigene Hervorbringung einfach vorgefunden wird, impliziert das Verb setzen, dass es aktiv von einem Subjekt vorgesetzt wird. Allein die neue Wortwahl deutet somit darauf hin, dass Kant die Sinnlichkeit intentionaler denkt bzw. sie enger an den Verstand rückt. Tatsächlich sieht Kant dabei sowohl die alte als auch die neue Charakterisierung in einem engen Zusammenhang, sodass er der Formulierung „selbst setzt“ in Klammern „dabile“ anfügt:
Alle Möglichkeiten sind jedoch nach Adickes bedingt durch den ursprünglichen Akt der Setzung der reinen Apperzeption. Hierzu heißt es: „Das sachliche Motiv, das Kant zu den Typen 1, 2 a und 2 b der Selbstsetzung drängt, ist also der Wunsch, die Spontaneität, die vom Standpunkt der empirischen Affektion aus dem empirischen Ich mit Bezug auf das Selbstbewußtsein überhaupt und mit Bezug auf die Betätigung der apriorischen Formen und Funktionen zugesprochen werden muß, begreiflich zu machen. Und er löst das Problem dadurch, daß er sie als eine abgeleitete hinstellt, die ihren Grund in der ursprünglichen Spontaneität des Ich an sich und seinen Setzungen hat […].“ (Adickes 1920, S. 664). AA XXII, 11. AA XXII, 25. Vgl. ferner auch AA XXII, 47. AA XXII, 409. Würker 2008, S. 28.
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Das Vorstellungsvermögen (facultas repraesentativa) geht von innen hinaus mit etwas was sie selbst setzt (dabile) dem Raume u. der Zeit der Anschauung.²⁴¹
Allein durch den neuen Begriff des Setzens scheint die Spontanität des Subjekts von vornherein bei der Sinnlichkeit mit einbezogen zu sein. Gleichwohl erklärt dieses Setzen nicht, wie es genau zu verstehen ist, dass das Subjekt seine Anschauungsformen selbst konstituiert. Nach wie vor stellt sich die Frage, wie dieser Akt mit der holistischen Einheit von Raum und Zeit zusammengedacht werden soll. Kants neuer Ansatz beantwortet diese offene Frage nicht. Im Hinblick auf die Frage nach dem Verhältnis der Erkenntnisvermögen im Subjekt wertet Dörflinger Kants neuen Ansatz im Opus postumum dennoch als einen „Fortschritt im Vergleich dazu, daß das Subjekt sich bloß als mit einer Sinnlichkeit und deren formaler Beschaffenheit ausgestattet vorfände“²⁴², wie dies in der KRV, wo Kant den Raum eben nicht „von seinem Ursprung her […] definiert“²⁴³, noch der Fall zu schein scheint. Dörflinger zufolge scheint Kant damit eine neue Stufe seiner Reflexionen über den Raum und die Sinnlichkeit als Erkenntnisvermögen des Subjekts erreicht zu haben: Mit Kants jetzt erreichter Einsicht in die Subjektursprünglichkeit ist die Stufe des Verständnisses der Anschauungsformen erreicht, auf der diese nicht mehr bloß als am Subjekt haftend verstanden werden bzw. als bloß vorfindliche formale Beschaffenheiten seiner isolierten Sinnlichkeit.²⁴⁴
Nach Dörflinger respektiert Kant somit vor allem die qualitative Struktur des Raums, wodurch nunmehr „dieser Raum keine Vorfindlichkeit, sondern Entwurf eines auch in seinem Selbstverständnis nicht quantitativen Subjekts [ist], d. h. er ist durch Subjektivität selbst eröffnetes Raumthema“. Für Dörflinger wird nun explizit, dass „auf der Grundlage der qualitativen Einheit des Raumthemas die Einschränkungen und Zusammensetzungen von Einschränkungen möglich sind, welche ihrerseits dann die formalen Voraussetzungen für das Erscheinen existierender Dinge sind“. Daraus ergibt sich schlussendlich ein Primat dieser qualitativen Struktur gegenüber jedem Quantifizierungsansatz: „Das nichtquantitative Selbstverständnis des Subjekts erhält sich so einschließlich seines originären
AA XXII, 73. Es ist daher nicht zwingend, die Gegebenheit mit der Erzeugung von Raum und Zeit in einem ständigen Widerspruch miteinander zu sehen, wie das anscheinend Würker tut.Vgl. Würker 2008, S. 140. Dörflinger 2002, S. 29. Dörflinger 2002, S. 15. Dörflinger 2002, S. 25.
3.2 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit im Opus postumum
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Raumentwurfs als des Ermöglichungsgrundes für sein quantitatives Weltverständnis.“²⁴⁵ Auch Baumgarten wertet Kants späte Überlegungen zur Selbstsetzung als Fortschritt gegenüber der statischen Konzeption in der KRV. Kants neuen Einsichten bewegen ihn nach Baumgarten dazu, „seine erkenntnistheoretische Konzeption, wie sie in seiner Kritik durch die Trennung der transzendentalen Ästhetik von der transzendentalen Analytik festgeschrieben hatte, zumindest ansatzweise noch zu revidieren“²⁴⁶. Dass das Subjekt sich selbst zum Objekt machen soll, interpretiert Baumgarten dahingehend, dass Kant die Entstehung der Erfahrung im Zuge einer dynamischen Selbstentfaltung des Subjekts verstehen möchte.²⁴⁷ Damit geht schließlich nach Baumgarten auch die „Verobjektivierung des Raums“²⁴⁸ einher, die Kant im Hinblick auf die „spätesten Manuskripte seines Nachlaßwerkes“²⁴⁹ nicht mehr mit seiner Äthertheorie verdinglicht, was Baumgarten als zwischenzeitlichen Rückfall in „dogmatische Metaphysik“²⁵⁰ wertet, sondern als Folge seiner neuen Selbstsetzungslehre interpretiert. Trotz dieses Fortschritts empfindet auch Baumgarten die „Formulierungen der Selbstsetzung“ als „unglücklich“²⁵¹. Außerdem wird deutlich, dass es Kant „nicht mehr gelungen [ist]“, die Überlegungen zur Selbstsetzung „argumentativ vollständig zu entfalten“²⁵².
3.2.3 Ausblick: Kants späte Überlegungen bezüglich Raum und Zeit im Hinblick auf Fichte und den frühen Schelling Es verwundert vor dem Hintergrund der zuletzt dargestellten Entwicklungen bei Kant nicht, dass einige Interpreten sich bei seinen Formulierungen bezüglich einer Selbstsetzung im Opus postumum an die Philosophie von Fichte erinnert fühlen.²⁵³ Tatsächlich schreibt Fichte bereits 1794 in seiner Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre Folgendes:
Dörflinger 2002, S. 28. Baumgarten, H. 2001, S. 500. Vgl. hierzu insbesondere die Kritik von Baumgarten an Hoppe in Baumgarten, H. 2001, S. 500 f. Baumgarten, H. 2001, S. 502. Baumgarten, H. 2001, S. 499. Baumgarten, H. 2001, S. 499. Vgl. ferner Tuschling 1971, S. 177 f. Baumgarten, H. 2001, S. 501. Baumgarten, H. 2001, S. 502. Vgl. hierzu schon Adickes 1920, S. 659 ff.; S. 668. Adickes verweist ferner darauf, dass u. a. schon Beck den Begriff des Setzens in seine Terminologie aufgenommen hat. Vgl. hierzu Adickes 1920, S. 611 f. Vgl. hierzu auch Kemp Smith 1923, S. 628 – 632. Förster argumentiert, dass Kant die
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Das Ich setzt sich selbst, und es ist, vermögen dieses bloßen Setzens durch sich selbst; und umgekehrt: Das Ich ist, und es setzt sein Sein, vermögen seines bloßen Seins. – Es ist zugleich das Handelnde, und das Produkt der Handlung; das Tätige, und das, was durch die Tätigkeit hervorgebracht wird; Handlung und Tat sind Eins und ebendasselbe, und daher ist das: Ich bin, Ausdruck einer Tathandlung; aber auch der einzigen möglichen, wie sich aus der ganzen Wissenschaftslehre ergeben muß.²⁵⁴
Ferner heißt es in einer Anmerkung im zweiten Teil der Grundlage im Hinblick auf Kant und die Themen Raum und Zeit: Kant erweist die Idealität der Objekte aus der vorausgesetzten Idealität der Zeit und des Raumes: wir werden umgekehrt die Idealität der Zeit und des Raumes aus der erwiesenen Idealität der Objekte erweisen. Er bedarf idealer Objekte, um Zeit und Raum zu füllen; wir bedürfen der Zeit und des Raumes, um die idealen Objekte stellen zu können. Daher geht unser Idealismus, der aber gar kein dogmatischer, sondern ein kritischer ist, um einige Schritte weiter, als der seinige.²⁵⁵
Zwei Jahre vorher, nämlich im Jahr 1792, lobt Kant noch den „Verfasser des Versuchs einer Kritik aller Offenbarung“, namentlich „Hr. Fichte“, dessen Werk von der Arbeit eines „geschickten Mannes“²⁵⁶ zeugt. Doch schon aus Kants Korrespondenzen zwischen 1792 und 1799 wird deutlich, dass sich seine Meinung über Fichte verschlechtert. Vor allem Kants Anhänger bringen Fichtes Wissenschaftslehre immer wieder zur Sprache. In einem Brief aus dem Jahr 1798 fragt Garve Kant nach seiner Einschätzung zur Wissenschaftslehre von Fichte.²⁵⁷ Kant antwortet unmittelbar, erwähnt jedoch Fichte und seine Wissenschaftslehre mit keinem Wort, sondern erklärt stattdessen, dass er an einem Übergangswerk arbeitet.²⁵⁸ Auch im Brief an Kiesewetter, der ein paar Wochen später geschrieben wird, erwähnt Kant, dass er daran arbeitet, eine Lücke in seinem System zu schließen. Explizit geht er hier auf Reinhold ein, „der Fichten seine Grundsätze abtrat“ und
Begrifflichkeit des Setzens schon vor Fichte verwendet hat. Vgl. Förster 2000, S. 75 ff. und auch Kemp Smith 1923, S. 633 f. Zu Fichtes Selbstbewusstseinstheorie im Anschluss an Kant siehe Gloy 1991, 149 – 176. Zu Fichtes Synthesisbegriff im Anschluss an Kant siehe Metz 1991, S. 242– 247. Fichte 2013, S. 290 (Hervorhebung aufgehoben). Wie Kemp Smith erklärt, ist Fichte bereits 1794, als Kant also am Opus postumum arbeitet, im deutschsprachigen Raum weit bekannt und als Philosoph anerkannt. Vgl. hierzu Kemp Smith 1923, S. 631 f. Fichte 2013, S. 381 Anm. AA XII, 359. Da Fichte die Kritik aller Offenbarung anonym publiziert und das Werk von Kants Transzendentalphilosophie ausgeht, sieht Kant sich gezwungen, zu erklären, dass er „weder schriftlich noch mündlich auch nur den mindesten Antheil [an] dieser Arbeit“ (AA XII, 359) hat. Vgl. AA XII, 255. Vgl. AA XII, 256 ff.
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„neuerdings wiederum anderes Sinnes geworden und reconvertirt habe“²⁵⁹. Kant versucht, es gelassen zu betrachten: „Ich werde diesem Spiel ruhig zusehen und überlasse es der jüngeren und kraftvollen Welt, die sich dergleichen ephemerische Erzeugnisse nicht irren läßt, ihren Werth zu bestimmen.“²⁶⁰ Kant wird immer wieder zum Verhältnis seiner kritischen Philosophie zu Fichtes Wissenschaftslehre befragt.²⁶¹ Tieftrunk distanziert sich zwar von Fichte, interpretiert jedoch Kants Darstellungen aus der KRV mit Fichtes Begriff des Setzens, den auch Kant im Opus postumum immer wieder benutzt.²⁶² Selbst Kant fragt bei seinen Brieffreunden nach, wie sie zur Wissenschaftslehre stehen, die ihm zu idealistisch erscheint, da sie „ohne Stoff“ auf das „bloße Selbstbewußtsein“²⁶³ fixiert ist. Zweifellos beschäftigt Kant der aufkommende Zuspruch für Fichtes Wissenschaftslehre. Kant lässt sich von Kiesewetter berichten, wie es um Fichte steht.²⁶⁴ Mellin fragt bei Kant kritisch nach, wie die transzendentale Ästhetik mit der transzendentalen Logik zusammengedacht werden kann und kommt zu dem Schluss, dass „man die transscend. Aesthetik nicht von der Analytik des reinen Verstandes trennen“²⁶⁵ kann. Die „Schwierigkeit“ in dieser Frage bestärkt seiner Meinung nach den Ansatz eines „Entwurf[s] gegen die kritische Philosophie“²⁶⁶. Eine Antwort von Kant ist nicht überliefert, aber es wird klar, dass Fichtes neuer Ansatz einer Wissenschaftslehre zunehmend zur Konkurrenz für Kants Werk wird. Richardson schreibt an Kant, dass das Aufkommen der Philosophie Fichtes mit der Unverständlichkeit der KRV zusammenhinge: Ihr System [ist] wenigstens zwölf Jahre hindurch unverständlich geblieben, und was noch schlimmer ist, hat Gelegenheit zu absurden Theorien, und ungeheuren Verirrungen gegeben. Ein Beweis hievon ist Fichte, unter dem ich, verleitet durch den großen Ruf dieses Mannes, die Philosophie studiren wollte, der mir aber in weniger als zehn Tagen seine Philosophie so verekelte, daß ich sein Auditorium nicht mehr besuchte.²⁶⁷
Kant setzt zwar dazu an, diesen Brief zu beantworten, doch hiervon bleiben nur Bruchstücke eines Entwurfs zurück.²⁶⁸ Im Jahr 1799 kommt es schließlich zum
AA XII, 258 f. AA XII, 259. Vgl. beispielsweise AA XII, 185 ff. Vgl. AA XII, 212– 219. AA XII, 241. Vgl. AA XII, 294. AA XII, 303 f. AA XII, 304. AA XII, 245. Vgl. hierzu AA XII, 246.
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öffentlichen Bruch mit Fichte. In einer seiner letzten öffentlichen Äußerungen betont Kant mit seiner Erklärung in Beziehung auf Fichtes Wissenschaftslehre: [Ich halte] Fichtes Wissenschaftslehre für ein gänzlich unhaltbares System […]. Denn reine Wissenschaftslehre ist nichts mehr oder weniger als bloße Logik, welche mit ihren Principien sich nicht zum Materialen des Erkenntnisses versteigt, sondern vom Inhalte derselben als reine Logik abstrahirt, aus welcher ein reales Object herauszuklauben vergebliche und daher auch nie versuchte Arbeit ist, sondern wo, wenn es die Transscendental-Philosophie gilt, allererst zur Metaphysik übergeschritten werden muß.²⁶⁹
Vor diesem Hintergrund scheint es problematisch, Kants Selbstsetzungslehre im Opus postumum als eine Annäherung an Fichte zu verstehen – zumal Kant auch dort gegen die „Wissenschaftslehre“ schreibt, dass sie eine „reine Logik“ und somit „ein vergebliches Umdrehen im Kreise mit Begriffen“²⁷⁰ sei. Gleichwohl scheint Kant an anderer Stelle im Opus postumum eine Wissenschaftslehre grundsätzlich für möglich zu erachten: „Philosophie kann (als reines Vernunft// product) Wissenschafts oder Weisheitslehre seyn“²⁷¹. Kant formuliert sogar stellenweise seinen eigenen Versuch unter dem Titel einer „Philosophie als Wissenschaftslehre in einem vollständigen System“²⁷². Um diese Spannung aufzulösen, plädiert Tuschling dafür, hier statt einer Annäherung an Fichte eine Annäherung
AA XII, 370. AA XXI, 207.Vor diesem Hintergrund gibt Kühn zu bedenken, dass Kants Ausführungen auch nur einen rein experimentellen Charakter haben könnten: „Obgleich er Fichte im Opus postumum nie erwähnt und obgleich es Zeugnisse dafür gibt, daß er gegen ihn eine persönliche Abneigung hatte, ist es ganz eindeutig im Sinne Fichtes, wenn er in diesem Werk von ‚Selbstsetzung‘ spricht. Doch ob Kant stärker von Beck, von Fichte oder von Schelling beeinflußt war, ist kaum von Belang. Es ist auch nicht klar, ob Kant die Argumente in einer veröffentlichten Version des Buches gutgeheißen hätte. Er könnte einfach den Versuch unternommen haben, die Position Fichtes zu verstehen, indem er sie auf seine Weise zu Papier brachte.Wichtig ist, daß er hier nicht mehr seine eigenen Theorien ausarbeitet, sondern die Anschauungen anderer bearbeitet.“ (Kühn 2004, S. 477). Diese Skepsis geht jedoch bei aller Vorsicht, die bei einer Interpretation des Opus postumum walten muss, eindeutig zu weit; schließlich gesteht Kant selbst ein, dass seine bisherige Transzendentalphilosophie eine Lücke aufweist, die im Opus postumum geschlossen werden soll. Das Opus postumum kann vor diesem Hintergrund nicht als Ausarbeitung fremder Gedanken betrachtet werden. Würker sieht zu Recht auch inhaltliche Differenzen zwischen Kant und Fichte beispielsweise bei dem Begriff der Selbstsetzung. Würker zufolge besteht der entscheidende Unterschied darin, dass Kant die Selbstsetzung nicht als „eine unmittelbare intellektuelle Selbstanschauung im Sinne einer Selbsterkenntnis als ursprüngliches Ich [versteht], welches […] in dem selbst gewählten Akt […] als ein […] absolutes Ich dem Nicht-Ich […] gegenübertritt“ (Würker 2008, S. 89), wie dies bei Fichte aber der Fall sein soll. Vgl. Würker 2008, S. 89 f. AA XXI, 156. AA XXI, 155.
3.2 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit im Opus postumum
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an den frühen Schelling zu sehen, der seine Philosophie ebenfalls als Wissenschaftslehre formuliert.²⁷³ Und tatsächlich erwähnt Kant Schelling (im Gegensatz zu Fichte) auch namentlich im Opus postumum: Transsc. Phil. ist das formale Princip sich selbst als Object der Erkentnis systematisch zu constituiren System des transsc: Idealism von Schelling.²⁷⁴
Ferner schreibt Kant an folgender Stelle: System des transsc. Idealisms durch Schelling, Spinoza, Lichtenberg etc. gleichsam 3 Dimensionen: Die Gegenwart, Vergangenheit u. Zukunft.²⁷⁵
Tuschling interpretiert diese Stelle dahingehend, eine „zeitliche Zuordnung“²⁷⁶ in dem Zitat zu erkennen, wonach für Kant Schelling als der gegenwärtige Vertreter der Transzendentalphilosophie zu verstehen sei.²⁷⁷ Vor dem Hintergrund, dass Kant nach Tuschling im Opus postumum mit „idealistischen Konzeptionen nicht nur kokettiert, sondern systematisch experimentiert“²⁷⁸, fragt Tuschling, ob die Stelle dahingehend verstanden werden kann, dass Kant hier den „spekulativen Idealismus als legitime[n] Erbe[n] des transzendentalen Idealismus“²⁷⁹ anerkennt. Unabhängig von einer Beantwortung einer solchen tiefreichenden Frage
Vgl. Tuschling 1991, S. 123 – 133. Vgl. dagegen Mathieu 1989, S. 182 ff., der hier keinen Unterschied zwischen Fichte und Schelling im Hinblick auf das Opus postumum sieht. AA XXI, 97. AA XXI, 87. Interessant ist zudem, dass Schelling offensichtlich auch wusste, dass Kant an einem Übergangswerk arbeitete. Darauf weist Förster hin: „In his obituary of Kant in the Fränkische Staats- und Gelehrtenzeitung 49/50 (March 1804), Schelling mentions that in 1801 Kant was still working on a book, ʻTransition from Metaphysics to Physics,ʼ which would have been ʻof the highest interestʼ if Kant had lived to finish it, but he gives no indication of any knowledge of its contents […].“ (Förster 2000, S. 184). Vgl. hierzu ferner auch Tuschling 1991, S. 123 f. Tuschling 1991, S. 115. Vgl. Tuschling 1991, S. 115. Kemp Smith erklärt dagegen die zeitliche Zuordnung durch den Verfall von Kants mentaler Verfassung und rät, sie nicht allzu ernst zu nehmen. Vgl. Kemp Smith 1923, S. 635. Tuschling 1991, S. 114. Tuschling 1991, S. 115. Tuschling geht sogar so weit anzunehmen, dass Kant „zumindest vorübergehend“ (Tuschling 1991, S. 122) eine Außenwelt leugnen und somit seine Position in der KRV bzw. die Widerlegung des Idealismus aufgeben würde.Vgl. Tuschling 1991, S. 122. Ferner sieht Tuschling in Kants Formulierungen Indizien dafür, dass Kant sich mit Schellings Schriften, die vor 1800 publiziert wurden, in irgendeiner Form beschäftigt haben muss.Vgl. Tuschling 1991, S. 123 ff. Hall dagegen verweist auf die grundsätzliche Angewiesenheit auf die Materie des Äthers für die Aktivität des Subjekts, das neben seiner Spontanität stets auch rezeptiv gedacht wird. Vgl. hierzu Hall 2015, S. 142 f.
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3 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der KU und im OP
und ihren Folgeproblemen kann nicht bestritten werden, dass zumindest für die Themen Raum und Zeit konstatiert werden kann, dass Kants Überlegungen im Opus postumum eine gewisse Nähe zu den Überlegungen des frühen Schellings aufweisen. In seiner sog. Systemschrift entwickelt Schelling Überlegungen zum Ursprung von Raum und Zeit, die sich wie eine Weiterentwicklung der kantischen Überlegungen zum Setzen oder Konstituieren von Raum und Zeit im Opus postumum lesen lassen: Das reine Selbstbewußtsein ist ein Akt, der außerhalb aller Zeit liegt und alle Zeit erst constituiert […].²⁸⁰
Auch beim frühen Schelling werden die ursprünglichen Anschauungsformen durch einen Akt des Subjekts produziert. Dabei löst sich Schelling von einem statischen Verständnis des Begriffs des Setzens. Setzen versteht Schelling hier nämlich nicht als ein bloßes sich-selbst-geben oder sich-selbst-vorlegen, sondern als einen Akt des Subjekts, durch den es „sich expandiren kann“²⁸¹. In Bezug auf die ursprünglichen Anschauungsformen heißt es: Denn die Zeit an und für sich gedacht ist nur die absolute Grenze, daher die Synthesis der Zeit mit dem Raum […] nur durch die Linie oder durch den expandirten Punkt ausgedrückt werden kann. ²⁸²
Schelling scheint – zumindest an dieser Stelle – das Synthetisieren als Expandieren zu verstehen. Anders ausgedrückt, versteht Schelling das Synthetisieren als Ausdehnen. Während Kant im Opus postumum vom „Raum als Expansum“²⁸³ spricht, bezieht Schelling das Expandieren nicht nur auf den (abgeleiteten) Raum, sondern auf das (ursprüngliche) Setzen und Konstituieren des Subjekts. Dadurch löst Schelling zunächst einmal die Schwierigkeit, den ursprünglichen Raum und die ursprüngliche Zeit trotz ihrer Kontinuität als synthetisch erzeugte Produkte des Subjekts zu verstehen, denn synthetisieren bedeutet bei Schelling anscheinend ausdehnen. Jedenfalls hätte Schelling mit diesem Verständnis nicht mehr das Problem, dass diskrete Teile zusammengesetzt werden müssten, um Raum und Zeit zu konstituieren, da er Synthesis (zumindest an dieser Stelle) nicht als zusammensetzen, sondern als expandieren bzw. ausdehnen verstehen könnte.
Schelling 1985, S. 443. Schelling 1985, S. 534. Schelling 1985, S. 535 (Hervorhebung von mir). AA XXII, 431.
3.3 Zusammenfassung des dritten Kapitels
345
Ausdehnung impliziert eo ipso, dass sich von vornherein etwas Einheitliches nach außen hinbewegt bzw. weiterformt.²⁸⁴ Tuschling ist somit zuzustimmen, wenn er behauptet, dass es für Schellings Ansatz charakteristisch ist, dass er „ein Moment der Raum-Zeitlehre“ aufgreift und weiterdenkt, „das der Kritik der reinen Vernunft fremd, dagegen für die Selbstsetzungslehre des opus postumum konstitutiv ist: […] die Herleitung von Raum und Zeit […] aus der ursprünglichen Tätigkeit des Ich“²⁸⁵. Dieser Ansatz, der sich gerade im Opus postumum bei Kant findet, soll nach Tuschling dazu geführt haben, dass Kant „sich selbst in Schelling wiedererkennen“²⁸⁶ konnte und er ihn somit als gegenwärtigen Vertreter seiner Transzendentalphilosophie bestimmte. Auf diesen Zusammenhang zwischen Kants späten Überlegungen und Schellings frühen Ansätzen kann hier nur ausblickend eingegangen werden.²⁸⁷ Der Ausblick macht jedoch deutlich, dass Kants Auseinandersetzung keineswegs mit der KRV endet bzw. seine Lehre dort bereits vollständig abgeschlossen wäre und keine weiteren Änderungen mehr erfahren würde, wie dies teilweise von Interpreten vertreten wird.²⁸⁸ Stattdessen zeigen diese Ausführungen, dass Kant noch bis zuletzt an allen Ebenen seiner Raum- und Zeitlehre zusammenhängend weiterarbeitet und der anschließende Deutsche Idealismus an Kants Überlegungen anknüpft, um zugleich über ihn hinauszugehen.
3.3 Zusammenfassung des dritten Kapitels Bevor abschließend in der Schlussbetrachtung die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung zusammengefasst werden, soll hier noch einmal das Wesentliche aus dem dritten Kapitel festgehalten werden:
Dabei greift Schelling die zweite Ebene der kantischen Raum- und Zeitlehre auf und versucht im Zuge seiner Erklärung von der ursprünglichen Setzung von Raum und Zeit auch deren Verobjektivierung zu erklären: „Die Zeit wird nur durch den Raum, der Raum nur durch die Zeit endlich. Eins wird durch das andere endlich, heißt, eins wird durch das andere bestimmt und gemessen. Daher das ursprüngliche Maß der Zeit der Raum, den ein gleichförmig bewegter Körper in ihr durchläuft, das ursprüngliche Maß des Raums die Zeit, welche ein gleichförmig bewegter Körper braucht ihn zu durchlaufen. Beide zeigen sich also als absolut unzertrennlich.“ (Schelling 1985, S. 536). Siehe ferner Schelling 1985, S. 544 ff. Vgl. hierzu ferner die Ausführungen in Gent 1954, S. 356 ff. Tuschling 1991, S. 124. Tuschling 1991, S. 131. Für eine Auseinandersetzung mit der Sache selbst bezüglich dieser Zusammenhänge im Anschluss an Kant siehe insbesondere Prauss 2015, 13 – 267 und Prauss 2017, S. 11– 109. Vgl. beispielsweise Gent 1930, S. 44.
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3 Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der KU und im OP
Punkt 3.1: In Bezug auf die Frage nach der Struktur von Raum und Zeit (siehe Frage 0.1) lässt sich zusammenfassen, dass auch in Kants späten Überlegungen im Opus postumum bei allem Experimentieren mit seinem System deutlich bleibt, dass Raum und Zeit einerseits als Formen des Neben- und Nacheinanders Mannigfaltigkeitsstrukturen und andererseits als Formen des Kontinuums Einheitsstrukturen bleiben (siehe Kapitel 3.2.1). Bis zuletzt, als Kant noch Überlegungen im Zusammenhang mit seinen philosophiegeschichtlichen Nachfolgern anstellt, bleibt seine Raum- und Zeitlehre eine Antwort auf den Streit zwischen den Vertretern eines relationalen und eines absoluten Raumkonzepts, wie er in Kapitel 0.4 dargestellt wurde (siehe Kapitel 3.2.3). Punkt 3.2: In Bezug auf die Frage nach der Art von Vorstellung bei Raum und Zeit (siehe Frage 0.2) ist festzustellen, dass Kant im Opus postumum deutlicher zwischen den Ebenen seiner Raum- und Zeitkonzeption unterscheidet. Raum und Zeit bleiben in erster Instanz als ursprünglich subjektive Formen reine Anschauungen. Als Eigenschaften am Objekt treten sie auch als abgeleitete bzw. begrifflich bestimmte Formen der Objekte auf (siehe Kapitel 3.2.1). Darüber hinaus wird insbesondere in der Auseinandersetzung mit Kants philosophischer Ästhetik noch einmal die Bedeutung von Raum und Zeit als Ideen deutlich (siehe Kapitel 3.1.2). Das ästhetische Phänomen des Erhabenen illustriert besonders deutlich, wie die Vorstellungsebenen bei Raum und Zeit zusammenwirken, um die ästhetische Einstellung beim Erhabenen im Subjekt zu ermöglichen. Dabei hat sich ergeben, dass gerade in der praktischen Philosophie eine globale Räumlichkeit und Zeitlichkeit benötigt wird, um Sinnzusammenhänge zu postulieren (siehe Kapitel 3.1.3). Punkt 3.3: In Bezug auf die Frage nach der systematischen Stellung von Raum und Zeit (siehe Frage 0.3) lässt sich zusammenfassen, dass dieses dritte Kapitel einiges Neues im Hinblick auf diese Frage offenbarte. Wie gesehen, hängen die Themen Raum und Zeit eng mit Kants Anspruch in der KU zusammen, seine Theorie und Praxis durch die Ästhetik miteinander zu verbinden. Dabei spielt die reflektierende Urteilskraft eine entscheidende Rolle, die aber von etwas raumzeitlich Konkretem ausgehen muss, um – wie beispielsweise beim Erhabenen – über raumzeitlich globale Zusammenhänge zu reflektieren, wodurch die Möglichkeit entsteht, Sinnzusammenhänge inhaltlich vorzustellen. Durch das Hinzuziehen der drei Ebenen in der kantischen Lehre von Raum und Zeit wird somit ein systematischeres Verständnis von Kants philosophischer Ästhetik möglich (siehe Kapitel 3.1). Im Opus postumum hat sich ferner gezeigt, dass Kant diese unterschiedlichen Ebenen seiner Raum- und Zeitlehre und auch den Übergang zwischen subjektiver und objektiver Ebene klarer differenziert und anspricht. Der Schematismus drückt daher deutlicher seine Übergangsfunktion von der subjektiven Ebene zur objektiven Ebene der Raum- und Zeitlehre aus. Kant verbindet
3.3 Zusammenfassung des dritten Kapitels
347
diesen Übergang mit seinem systematischen Schlussstein bzw. mit der Frage nach dem Übergang von einer Metaphysik der Natur zu einer konkreten Naturwissenschaft und geht dabei vor allem auf die Grundeigenschaften der Materie ein. An diesem Punkt spielt die Idee des Äthers eine besondere Rolle. Die Auseinandersetzung konnte andeuten, wie vielfältig Kants Äthertheorie ist. Der Äther ist nicht nur im Hinblick auf den zuletzt genannten Übergang wichtig, sondern repräsentiert auch Kants Lehre von der Materie. Die Materie wird dabei sowohl im Gegensatz zur Form als auch als inhaltlicher Affektionsgrund thematisiert. Er ist somit nicht nur empirisch, sondern auch transzendental von Bedeutung. Darüber hinaus ist die Idee des Äthers auch für die Systematisierung naturwissenschaftlicher Überlegungen wichtig, da er ein systematisches Einheitsprinzip darstellt (siehe Kapitel 3.2.1). Doch nicht nur der systematische Schlussstein, sondern auch der systematische Anfangsstein bleibt für Kant im Opus postumum von Interesse. Es wurde nämlich deutlich, dass Kant die durch seine Auseinandersetzung in der KRV offen gebliebene Frage nach dem genauen Zusammenhang der sinnlichen Formen Raum und Zeit mit dem transzendentalen Selbstbewusstsein weiter beschäftigt. Kant versucht hier – offensichtlich mit Blick auf Fichte und den frühen Schelling –, sein System noch einmal grundsätzlich neu zu strukturieren (siehe Kapitel 3.2.3). Seine neue Selbstsetzungslehre hat auch Auswirkungen auf seine Lehre von Raum und Zeit. Raum und Zeit werden jetzt systematisch enger an eine Ursprungshandlung des Subjekts gebunden. Kant rückt davon ab, die Gegebenheit von Raum und Zeit als etwas bloß Passives zu betrachten. Stattdessen denkt Kant das Subjekt unter dem Primat der Spontanität, was eine systematische Verschiebung zugunsten der Aktivität des Subjekts bedeutet (siehe Kapitel 3.2.2).
4 Schlussbetrachtung: Zeit und Raum In der Einführung wurde dargestellt, welche Ziele die vorliegende Untersuchung verfolgt bzw. welche Fragen beantwortet werden und unter welchen methodischen Gesichtspunkten diese Fragen im Hinblick auf die bisher erschienene Literatur zu diesem Thema behandelt werden sollen. Jedes der drei Hauptkapitel endete mit einer zusammenfassenden Beantwortung der gestellten Fragen im Hinblick auf den behandelten Zeitraum bzw. im Hinblick auf die in dem jeweiligen Kapitel diskutierten Texte Kants. Die Beantwortung der Fragen und die Diskussion der Literatur erfolgte unter Berücksichtigung der Interpretationsmaximen nach maximaler Textkonsistenz (siehe erste Interpretationsmaxime in Kapitel 0.2), logischer Konsistenz (siehe zweite Interpretationsmaxime) und Autorkonsistenz (siehe dritte Interpretationsmaxime). Der rote Faden, der sich mittels der Kapitelzusammenfassungen durch die Arbeit zog, soll nun abschließend noch einmal aufgenommen werden, um die zentralen Ergebnisse dieser Arbeit in nuce wiederzugeben: Welche Struktur weisen Raum und Zeit als Gebilde bei Kant auf?
(0.1)
Bereits in Auseinandersetzung mit der vorkritischen Phase hat sich gezeigt, dass für Kant im Anschluss an die Diskussion, die von Leibniz und Clarke ausging, zwei Strukturmerkmale von besonderer Bedeutung für seine Raum- und Zeitlehre sind. Dabei ging es darum, dass Raum und Zeit zum einen so strukturiert sind, dass sie eine Mannigfaltigkeit ermöglichen, sodass Inhalte raumzeitlich unterschieden werden können und zum anderen, dass Raum und Zeit auch so strukturiert sind, dass diese Mannigfaltigkeit innerhalb einer allbefassenden bzw. kontinuierlichen Einheit vorgestellt werden kann. Gerade Kants Auseinandersetzung in Über die Gegenden macht dabei deutlich, dass die Einheitsstruktur das Primat in dieser Konstellation innehaben muss. Die Differenz zwischen inkongruenten Gegenstücken kann im Sinne der Which-is-which-Frage nur verständlich werden, wenn ein holistischer Raum, in dem diese Gegenstücke unterschieden werden können, vorausgesetzt wird (siehe Kapitel 1). An dieser Struktur von Raum und Zeit hält Kant konzeptionell auch in der KRV fest, was besonders durch die Argumente der transzendentalen Ästhetik und Kants Unterscheidung zwischen quantitativen und qualitativen Einheiten in der transzendentalen Analytik deutlich wird. Vor diesem Hintergrund erfüllen strukturell betrachtet zwei Dinge ein Gemüt, indem die Differenz als Teilung des ursprünglich allbefassenden Kontinuums des mit sich selbst identischen Subjekts vorgestellt wird. Die Auseinandersetzung mit der KRV hat dabei gezeigt, dass eine strukturelle Verwandtschaft zwischen den Anschauungsformen und dem transzendentalen Selbstbewusstsein besteht, wodurch die Frage https://doi.org/10.1515/9783110763553-006
4 Schlussbetrachtung: Zeit und Raum
349
motiviert wurde, in welchem Verhältnis Raum und Zeit ursprünglich zum Subjekt stehen (siehe Kapitel 2). Auch in der Auseinandersetzung mit dem Opus postumum wurde deutlich, dass Kant grundsätzlich das Primat des Kontinuums gegenüber der Mannigfaltigkeitsstruktur von Raum und Zeit aufrechterhält. Kant versucht dort, Raum und Zeit in ein ursprüngliches Verhältnis zum Subjekt zu setzen, indem das Subjekt als die Aktivität betrachtet wird, die die kontinuierliche Einheit von Raum und Zeit setzt (siehe Kapitel 3). Was für eine Art von Vorstellung stellen Raum und Zeit bei Kant dar?
(0.2)
In der Auseinandersetzung mit der vorkritischen Phase hat sich gezeigt, dass Kant zu Beginn seiner Publikationstätigkeit stark von der relationalen Raumtheorie beeinflusst ist, wodurch er den Raum als ein Produkt der relationalen Verhältnisse zwischen den Objekten betrachtet. Selbst die Raumvorstellung des Subjekts ist bestimmt von den Verhältnissen zwischen den Objekten. In Über die Gegenden gelangt Kant zu dem Schluss, dass der Raum etwas Apriorisches darstellt, wodurch unsere Vorstellung vom Raum kein bloß abgeleiteter Begriff, sondern ein Grundbegriff sein muss. Schließlich gelangt Kant in De mundi zu seiner neuartigen Überlegung, dass Raum und Zeit reine Anschauungen sein müssen, da die eindeutige Differenz zwischen inkongruenten Gegenstücken nur anschaulich dargestellt werden kann (siehe Kapitel 1). Dass Raum und Zeit ursprünglich reine Anschauungen sind, daran hält Kant bis zum Schluss fest. In der KRV entwickelt Kant gleich mehrere Argumente, um den Anschauungscharakter von Raum und Zeit zu zeigen. Dennoch schließt dies für Kant nicht aus, dass Raum und Zeit auch als konkrete bzw. begrifflich bestimmte Formen am Objekt erfahren werden können, was eine zweite Ebene seiner Raum- und Zeitlehre eröffnet. Dabei zeigte die Auseinandersetzung mit dem zentralen Theoriestück des Schematismus, wie subjektive Zeitverhältnisse zu objektiven Bestimmungen eines Objekts im Raum gedeutet werden können. In diesem Zusammenhang behalten die subjektiven Formen allerdings das Primat gegenüber den konkreten raumzeitlichen Bestimmungen. Schließlich konnte die Auseinandersetzung mit der Dialektik zeigen, dass Raum und Zeit in letzter Instanz auch als Ideen vorgestellt werden können, was eine dritte Ebene der kantischen Raum- und Zeitlehre offenbarte. Zwar sind die entsprechenden Ideen in konstitutiver Hinsicht epistemisch belanglos, doch ihr regulativer Gebrauch eröffnet intellektuelle Perspektiven für das denkende und handelnde Subjekt, anhand derer es sich in der Welt gedanklich orientieren kann. Wie sich gerade bei der Auseinandersetzung mit der KRV zeigte, lässt sich im Hinblick auf den in Kapitel 0.3 dargestellten Forschungsstand festhalten, dass alle drei wesentlichen Interpretationsstränge in der Kant-Literatur grundsätzlich ihre Berechtigung haben. Gleichwohl liefert erst die Kombination der unterschiedlichen
350
4 Schlussbetrachtung: Zeit und Raum
Stränge ein umfängliches Bild der kantischen Raum- und Zeitlehre, was mit dieser Arbeit erstmals versucht wurde. Weder eine Interpretation im Sinne des Synthesis Reading oder des Brute Given Reading allein noch eine Kombination aus diesen beiden Interpretationen im Sinne des Part-Whole Reading liefern ein umfängliches Verständnis der kantischen Lehre von Raum und Zeit. Denn erst wenn neben der Sinnlichkeit und dem Verstand auch noch die Dimension der Vernunft als Vermögen der Ideen mit Blick auf Raum und Zeit hinzugezogen wird, ergibt sich eine umfängliche Interpretation, die alle wesentlichen Facetten der kantischen Raumund Zeitlehre und somit die Stärken der einzelnen Interpretationsstränge zu einer vollständigen Gesamtinterpretation verbindet (siehe Kapitel 2). Das Zusammenspiel der drei aufeinander nicht reduzierbaren Ebenen der Raum- und Zeitlehre Kants wurde in der Auseinandersetzung mit der philosophischen Ästhetik in der KU besonders deutlich. Das ästhetische Phänomen des Erhabenen zeigt, wie ein Subjekt von konkreten raumzeitlichen Gegenständen, die in seiner ursprünglichen Form von Raum und Zeit auftreten, ausgeht, um durch das Spiel seiner Vorstellungsvermögen dazu angeregt zu werden, raumzeitlich globale Denkperspektiven einzunehmen, sodass es schließlich zu einer Reflexion über sich und die Welt in praktisch-moralischer Hinsicht gelangt. Dabei zeigt sich der Vorteil der Gesamtinterpretation, die alle Konzeptionsebenen der kantischen Lehre von Raum und Zeit hinzuziehen kann, um die ästhetische Einstellung adäquat zu beschreiben und um diese somit systematisch in Kants philosophischer Gesamtkonzeption zu verankern. Dennoch löst diese Gesamtinterpretation nicht alle Probleme: Zum Schluss des zweiten Kapitels ließ sich nicht ausschließen, dass Kant auch die ursprünglichen Vorstellungen von Raum und Zeit als vom Subjekt erzeugte Formen versteht. Dieser Eindruck erhärtete sich in Auseinandersetzung mit dem Opus postumum, wo Kant endgültig dazu übergeht, Raum und Zeit als Produkte einer Spontanität des Subjekts zu verstehen. Dort spricht Kant alle drei Ebenen seiner Raum- und Zeitlehre an und differenziert noch deutlicher als zuvor zwischen den einzelnen Ebenen seiner Lehre. Dennoch ließ sich auch hier nicht eindeutig textimmanent klären, wie Kant die ursprünglichen Anschauungsformen als eine vom Subjekt gesetzte bzw. erzeugte Vorstellung verstehen möchte, ohne dabei die Kontinuität dieser Formen zu verletzen (siehe Kapitel 3). In welchem systematischen Kontext stehen Raum und Zeit bei Kant?
(0.3)
Die dritte Frage ist diejenige, deren Beantwortung am stärksten davon abhängt, welche Schaffensphase bei Kant in den Fokus gerückt wird. Zu Beginn der vorkritischen Phase ist Kants Auseinandersetzung mit Raum und Zeit zunächst systematisch eng an monadologische Überlegungen gebunden, wodurch er Raum und Zeit noch in enger Abhängigkeit von den Substanzen denkt. In Naturgeschichte
4 Schlussbetrachtung: Zeit und Raum
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werden Raum und Zeit dagegen als Instrumentarien Gottes betrachtet. Der Raum ist ein actus Gottes, worin die Gegenstände in eine Verbindung miteinander treten. Raum und Zeit sind keine von Gott unabhängigen Prinzipien. In De mundi werden Raum und Zeit im Zuge Kants neuer Erkenntnistheorie systematisch an das Subjekt gebunden. Wie Kants Zeitgenossen monieren, führt diese systematische Verschiebung zu Problemen bezüglich des Objektivitätsanspruchs dieser Formen im Zusammenhang mit den wirklichen Inhalten, die in ihnen auftreten (siehe Kapitel 1). Mit seinem neuen transzendentalen Erfahrungskonzept in der KRV unterscheidet Kant im Hinblick auf Raum und Zeit zwischen einer subjektiven und einer objektiven Ebene bzw. zwischen Form der Anschauung und formaler Anschauung. Der Schematismus soll erklären, wie Inhalte in subjektiven Formen zu Objekten mit objektiven Formen gedeutet werden können. Trotz der textlichen Situation, dass Raum und Zeit primär vor dem Hintergrund der Thematisierung des Raums erörtert werden, gewinnt die Zeit mit dem Schematismus an systematischer Bedeutung, sodass die Erfahrung nicht ohne Zeit und Raum ermöglicht werden kann. Vor dem Hintergrund der zentralen Rolle der Zeit als Form des inneren Sinns und als Ausgangspunkt für den Schematismus wird auch das systematische Verhältnis zwischen den Erkenntnisvermögen näher beschrieben. Gleichzeitig stellt sich damit aber die Frage, in welchem systematischen Verhältnis die Erkenntnisvermögen zum transzendentalen Selbstbewusstsein stehen, wodurch sich ein Folgeproblem ergab (siehe Kapitel 2). Dieser Frage geht Kant im Opus postumum noch einmal grundsätzlich nach und liefert mit seiner Selbstsetzungslehre einen systematischen Neuansatz, um Zeit und Raum ursprünglich im Subjekt zu verankern und auch zu erklären. Zeit und Raum sollen unter dem systematischen Primat der Spontanität des Subjekts nicht mehr als bloß passive Gegebenheiten, sondern als aktive Setzungen verstanden und erklärlich werden. Damit nimmt Kant einen wichtigen Gedanken des Deutschen Idealismus im Hinblick auf Zeit und Raum vorweg, der einen Ausweg aus dem Problem des Kontinuums andeutet. Gleichwohl bleiben diese Überlegungen im unveröffentlichten Opus postumum lediglich Ansätze, deren Bewertung in der Forschung nach wie vor sehr umstritten ist (siehe Kapitel 3). Zwar kann Kant bereits früh in der vorkritischen Phase die Frage für sich klären, wie es strukturell zu verstehen ist, dass zwei Dinge ein Gemüt erfüllen, doch in systematischer Hinsicht beschäftigt ihn diese Frage bis ihn seine Kräfte verlassen. Im Hinblick auf die methodischen Vorüberlegungen aus der Einführung dieser Arbeit zeigt sich auch bei Kant, dass bei der Interpretation philosophischer Texte gilt: „[Eine] letzte Deutlichkeit ist nicht möglich.“¹
Simon 2003, S. 42 (Hervorhebung von mir).
Abkürzungsverzeichnis und Zitierweise der Schriften von Immanuel Kant Die Schriften von Immanuel Kant wurden standardmäßig nach der Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften (Akademieausgabe) zitiert. Reflexionen aus dem handschriftlichen Nachlass werden nach der Nummerierung der Akademieausgabe angegeben. Kants Briefe werden nach der zweiten Ausgabe der jeweiligen Bände in der Akademieausgabe (Bd. X, XI und XII) zitiert. Bei der Kritik der reinen Vernunft werden die Seitenzahlen der ersten (A) und/oder der zweiten Ausgabe (B) angegeben. Orthographisch sind die Zitate der KRV an der zweiten Auflage orientiert. Abgekürzt wird die Akademieausgabe in den jeweiligen Fußnoten mit AA und der Bandzahl dahinter. Die Reflexionsnummer steht ggf. vor dieser Angabe in der Fußnote. In die beschwerliche Orthographie im handschriftlichen Nachlass wurde grundsätzlich nicht eingegriffen. Sperrungen und Hervorhebungen in der Akademieausgabe wurden grundsätzlich aufgehoben. Die Übersetzung der lateinischen Schriften Kants wurde mittels folgender Ausgabe wörtlich zitiert: Kant Immanuel, Werke in zehn Bänden, Weischedel Wilhelm / Hinske Nobert / Bock Monika [Hrsg. und übers.], Darmstadt 1983. Abgekürzt wird diese Ausgabe in den jeweiligen Fußnoten mit WW und der Bandzahl dahinter. Für sinngemäße Zitate wird auf das lateinische Original in der Akademieausgabe verwiesen. Sperrungen wurden auch hier grundsätzlich aufgehoben. Die zitierten Kantischen Schriften werden wie folgt abgekürzt: KRV: KPV: KU: Erstlingsschrift: Naturgeschichte: De igne: Neue Erhellung:
Kritik der reinen Vernunft (1781/1787) Kritik der praktischen Vernunft (1788) Kritik der Urteilskraft (1790) Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte (1746) Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755) Meditationum quarundam de igne succincta delineatio (1755) Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio (1755) MCG: Metaphysicae cum geometria iunctae usus in philosophia naturalis, cuius specimen I. continet monadologiam physicam (1756) Theorie der Winde: Neue Anmerkungen zur Erläuterung der Theorie der Winde (1756) Neue Lehrbegriff: Neuer Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe und der damit verknüpften Folgerungen in den ersten Gründen der Naturwissenschaft (1758) Optimismus: Versuch einiger Betrachtungen über den Optimismus (1759) Falsche Spitzfindigkeit: Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren (1762) Einzig mögliche Beweis- Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Dagrund: seins Gottes (1763) Negative Größe: Versuch, den Begriff der negativen Größen in der Weltweisheit einzuführen (1763) https://doi.org/10.1515/9783110763553-007
Abkürzungsverzeichnis und Zitierweise der Schriften von Immanuel Kant
Beobachtungen: Natürliche Theologie: Träume: Über die Gegenden: De mundi: Prolegomena: Ideenschrift: Beantwortung: GMS: MAN: Orientieren: Streitschrift: Religionsschrift: Ende aller Dinge: Friedensschrift: MDS: Streit der Fakultäten: Anthropologie: Logik-Handbuch:
Preisschrift:
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Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764) Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral (1764) Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik (1766) Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume (1768) De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis (1770) Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (1783) Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung (1784) Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1786) Was heißt: sich im Denken orientieren? (1786) Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll (1790) Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) Das Ende aller Dinge (1794) Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf (1795) Die Metaphysik der Sitten (1797) Der Streit der Fakultäten (1798) Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) Immanuel Kants Logik [ursprünglich ediert und herausgegeben von Gottlob Benjamin Jäsche nach Vorlesungsskripten und Notizen] (1800) Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnizens und Wolfs Zeiten in Deutschland gemacht hat? (1804)
Literaturverzeichnis Bei der zitierten Literatur wurden Besonderheiten wie Kursivsetzungen, Klammern, Hervorhebungen etc. entsprechend übernommen. Veränderungen am Original wurden entweder mit eckigen Klammern direkt in den Text eingefügt oder in der entsprechenden Zitation in der Fußnote angemerkt. Die eckigen Klammern mit Punkten geben an, dass Wörter bzw. Sätze vom zitierten Text an der jeweiligen Stelle ausgelassen wurden. Leere eckige Klammern geben an, dass nur einzelne Buchstaben entfernt wurden. Fremdwörter, Titel und hervorzuhebende Begriffe wurden im eigenen Text kursiv gesetzt. Adickes, Erich: Kant als Naturforscher, Bd. 1, Berlin 1924. Adickes, Erich: Kants Opus postumum (Kant-Studien Ergänzungshefte, 50), Berlin 1920. Al-Azm, Sadik J.: „Absolute Space and Kantʼs First Antinomy of Pure Reason“, in: Kant-Studien 59 (1968), S. 151 – 164. Al-Azm, Sadik J.: Kantʼs Theory of Time, New York 1967. Allais, Lucy: Kant, „Non-Conceptual Content and the Representation of Space“, in: Journal of the History of Philosophy 47/3 (2009), S. 383 – 413. Allison, Henry E.: Kantʼs Transcendental Idealism. An Interpretation and Defense, New Haven / London 1983. Ameriks, Karl R.: „Apperzeption und Subjekt. Kants Lehre vom Ich heute“, in: Heidemann, Dietmar H. / Engelhard, Kristina [Hrsg.]: Warum Kant heute?, Berlin 2003, S. 76 – 99. Ameriks, Karl R.: Kantʼs Theory of Mind. An Analysis of the Paralogisms of Pure Reason, 2. Auflage, Oxford 2000 (Neudruck: Oxford 2005). Ameriks, Karl R.: „Text and Context: Hermeneutical Prolegomena to Interpreting a Kant Text“, in: Schönecker, Dieter / Zwenger, Thomas [Hrsg.]: Kant verstehen / Understanding Kant. Über die Interpretation philosophischer Texte, Darmstadt 2010, S. 11 – 31. Ameriks, Karl R.: „The critique of metaphysics: Kant and traditional ontology“, in: Guyer, Paul [Hrsg.]: The Cambridge Companion to Kant, Cambridge 1992, S. 249 – 279. Ameriks, Karl R.: „The Paralogisms of Pure Reason in the Frist Edition (A338/B396-A347/B406; A348 – 380)“, in: Mohr, Georg / Willaschek, Marcus [Hrsg.]: Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (Klassiker Auslegen, 17/18), Berlin 1998, S. 371 – 390. Aristoteles: Metaphysik, zitiert nach: Bonitz, Hermann / Seidl, Horst [Hrsg. und übers.]: Aristoteles. Philosophische Schriften, Bd.5: Metaphysik, Hamburg 1995. Averroes: Die Widerlegung des Gazali, zitiert nach: Horten, Max [Hrsg. und übers.]: Die Hauptlehren des Averroes. Nach seiner Schrift: Die Widerlegung des Gazali, Bonn 1913. Baiasu, Sorin: „Space, Time and Mind-Dependence“, in: Kantian Review 16/2 (2011), S. 175 – 190. Baker, John T.: „Some Pre-Critical Developments of Kantʼs Theory of Space and Time“, in: The Philosophical Review 44/3 (1935), S. 267 – 282. Baum, Manfred: „Kants Raumargumente und die Begründung des transzendentalen Idealismus“, in: Oberer, Hariolf [Hrsg.]: Kant: Analysen – Probleme – Kritik, Bd. 2, Würzburg 1996, S. 41 – 63.
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Sachindex Analytik 110, 135, 137 – 139, 160, 163, 180 – 183, 186 f., 191 f., 202 f., 206 f., 220, 222, 227, 239, 241, 247, 251, 267 f., 272, 297, 300, 306, 339, 341, 348 Analytisch 5, 13, 15, 17 f., 46, 129, 137, 168, 171, 183, 195, 228, 247, 255 f., 332, 336 f. Anschauung 3, 7, 9, 24 f., 27, 40, 48, 61 f., 90, 97, 99 – 103, 105 f., 108, 112 – 114, 122, 124, 129 f., 132, 135, 138, 147, 149 f., 152 – 155, 158 – 160, 162 – 164, 167 f., 172, 174, 180, 183 – 185, 187 – 192, 194, 198 f., 203 – 207, 209 – 216, 221, 223, 225, 228 – 230, 232 – 235, 238 f., 244 f., 247 – 252, 255 f., 261, 266, 268 f., 273, 277 – 279, 281, 283 – 285, 291 f., 295, 298, 300, 307 – 309, 312, 319 – 321, 323, 330, 332 – 338, 342, 346, 349 – Formale Anschauung 7, 27, 160, 187, 191 – 196, 198 f., 202 – 206, 210 f., 213 – 215, 222, 228, 232 f., 239, 245, 247 f., 255, 262, 284 – 286, 306, 309, 319, 351 – Form der Anschauung 7, 26 f., 135, 160, 185, 187, 189 – 193, 195 f., 198 f., 202 – 204, 206, 213 f., 222, 227, 233 f., 239, 247 f., 261 – 263, 285 f., 319, 323, 335, 351 Anthropologie 87, 147, 226, 252 f., 312, 353 Antinomie 52, 76, 100, 119 f., 122, 139, 154, 168, 174, 177, 265 – 267, 269 – 272, 274 f., 306, 311 A posteriori 84, 90, 130, 234 Apperzeption 163, 201, 204, 209, 246 – 249, 255 – 261, 263, 329, 334, 336 f. Apprehension 27, 171, 181, 188, 194, 210, 218, 229, 231 f., 255, 332 A priori 7, 26, 48, 87, 110, 125, 130, 136 – 139, 144, 153 – 158, 162, 164, 168, 170 – 173, 179 f., 186 – 188, 191, 194, 199, 204, 207, 210 f., 222, 234, 237 f., 240, 243, 245, 256, 262, 272, 275, 279, 281, 288 – 290, 295 – 297, 300, 318, 323 – 327, 329 – 337, 349
https://doi.org/10.1515/9783110763553-009
Ästhetik 2, 7, 18 – 21, 24 – 26, 28, 85, 101, 107, 110 f., 114, 131, 135 – 137, 139 – 141, 143 f., 146 – 152, 154, 156, 158 – 161, 166, 169 f., 172 – 174, 176 – 182, 185 – 187, 189, 191 – 193, 195 f., 198 – 200, 203, 212, 215, 220, 226 f., 229, 231 – 235, 244, 247 – 250, 255, 260 f., 265 f., 268 – 272, 278, 281, 283 f., 286 – 290, 305, 307, 309, 313, 320, 339, 341, 346, 348, 350 Äther 55 – 57, 59, 222, 274, 316, 318, 322 – 330, 343, 347 Begriff 3 – 7, 10, 12 f., 21, 24 f., 27, 30, 35, 40, 42, 46 f., 49, 56 f., 60 – 62, 67, 74, 81, 84 f., 89 – 92, 94, 99 f., 102, 104 – 107, 110, 112 f., 122 f., 125, 127, 129 f., 132, 135 – 138, 140 f., 143 f., 149 f., 154 f., 157, 159 – 168, 170, 172 f., 177 – 179, 184 f., 187, 190 – 193, 196, 198 f., 202, 207 – 212, 214 – 217, 219, 224 f., 232, 236 – 239, 243 f., 249 – 251, 254 – 258, 262, 266, 268 – 270, 272 f., 279, 281 – 283, 288, 290 – 298, 300, 302, 304, 312, 318 f., 323 f., 328 – 330, 332 f., 336 – 339, 341 f., 344, 349, 352, 354 Bestimmung 2 – 4, 7 f., 10 – 14, 16, 19, 27 f., 30, 32, 35 f., 41 f., 44, 50 f., 56, 60 – 63, 65, 68, 72 – 80, 82 f., 85 – 87, 89 f., 93 f., 103, 105 – 107, 110 f., 113, 117 f., 122, 124 f., 130, 137, 139, 145 f., 153 f., 162 f., 165, 168 – 170, 172, 175 f., 178, 181 f., 184 – 186, 191, 194, 198 – 200, 202 – 206, 208 – 221, 223 – 239, 242 – 245, 249 f., 254, 256, 262, 273, 275 f., 279, 281 f., 284 – 286, 288, 291 – 294, 296 – 298, 300 – 302, 305, 309 f., 312, 317 f., 321, 323 f., 326 – 330, 332 f., 337, 341, 345 f., 349 Bewusstsein 1, 5, 12, 15 f., 101 f., 147, 246, 252 – 255, 257, 261, 286, 332, 334
Sachindex
Dasein 52 f., 59 f., 95, 128, 146, 215, 217, 221, 223, 233, 240, 257, 268, 290, 352 Deduktion 75, 120, 131, 188, 199, 203 f., 206 – 208, 244, 263, 274, 297, 327 Deutung 18, 23, 57, 82, 100, 130 f., 198, 209, 214, 238, 245, 293, 308, 313, 328, 349, 351 Dialektik 1, 112, 120, 135, 156, 160, 168 – 170, 174, 176 – 178, 189, 226, 228, 233, 249, 257 f., 264 – 270, 272 f., 275 f., 278, 280, 282, 287, 304, 306, 322, 349 Differenz 6, 42, 51, 100, 104, 111, 141 – 143, 146 f., 165, 171, 183, 257, 342, 348 f. Ding 1, 4, 31 – 33, 36, 38 – 42, 50, 55, 58 – 60, 77, 79, 84, 87 f., 90 f., 95, 99, 101, 112, 115, 124 f., 127, 137, 142, 148, 153, 175, 177 f., 183, 191, 214, 216, 219, 221, 223, 225, 230 – 234, 240, 242 – 245, 253, 262, 268, 270 f., 275, 285, 300 f., 303, 309, 313, 321, 335, 338, 348, 351, 353 Ding an sich 5, 118, 122 f., 125, 134, 172 – 179, 184, 233, 241, 243 f., 257, 306, 319, 333 f., 337 Dogmatismus 8, 38, 44, 56, 100, 120 f., 126, 128, 174, 274 f., 315 f., 327 f., 339 f. Eigenschaft 31, 33 f., 49, 52, 54, 56, 63, 71 f., 74 f., 79, 91, 107, 125 f., 147, 172, 179, 185, 232 f., 235, 237, 259, 279 – 281, 287, 321, 346 Einbildungskraft 26, 49, 188, 194, 204, 209 f., 213 f., 226, 231, 242, 244, 246, 258, 272, 282 f., 291 – 293, 295, 297 – 306, 309, 311, 329, 334 Einheit 1 – 8, 26 – 28, 38, 53, 57, 60, 63 f., 76, 97, 99, 104 f., 110 f., 114, 132, 148, 150, 158, 160, 163, 165 f., 168, 172, 184 – 189, 191 – 207, 210 – 212, 215, 220, 222, 247 – 249, 251, 253 – 261, 263, 273 – 276, 280, 282, 284, 286, 300, 302, 316, 319 f., 325, 328, 332 – 338, 348 f. Empfindung 61, 89 – 91, 105, 107, 110, 125, 127, 129, 132, 137, 141, 144 – 147, 149, 152, 170 f., 186, 205, 213, 240, 245, 287 f., 290, 292, 296, 298, 320 f., 326, 336
369
Erfahrung 62, 85, 91, 102, 107, 123 f., 128 – 131, 137, 139, 144, 150, 153, 181, 183, 189, 198, 207, 209 f., 214 f., 218 f., 221 f., 226, 229 – 232, 234, 237 – 244, 246, 255, 258, 266 f., 269, 272, 274, 276 – 278, 280 f., 283 – 285, 290, 296 – 299, 302 – 304, 311 f., 316, 319 – 323, 325 – 328, 332, 336, 339, 351 Erhabenheit 289, 300, 303 – 305, 308 Erkenntnis 27, 88, 97, 112 f., 115, 121 f., 130, 138, 178, 188, 199, 228 f., 238, 243, 250, 253, 255, 258 f., 265, 269, 272, 285, 292, 304 f., 315, 327, 330, 332 f. Erkenntnistheorie 8, 19, 130, 133, 146, 176, 178, 242, 250, 254, 351 Erscheinung 46, 53, 108, 118, 122 f., 125, 128, 130, 134, 140, 152 f., 162 f., 173 f., 177 – 180, 182, 184, 187, 189, 191, 194, 204 f., 207, 213 – 224, 227, 229, 231 f., 234 f., 238, 240 – 245, 255, 257, 265, 267 – 269, 272, 275, 278, 280 f., 288, 291, 300, 304, 308, 328, 330, 332 – 334, 337 Faktum 130, 241 Form 1, 4 – 7, 19, 22 f., 25, 27 f., 31 – 33, 44, 47, 50, 52, 59, 71, 79, 81, 89 f., 94, 96, 102, 106 – 113, 115 f., 118, 120, 122 – 126, 128, 131, 133 f., 137, 140 f., 143 – 149, 152, 155, 162 f., 166, 168, 170, 172 – 181, 183, 185 – 187, 189 – 194, 196 f., 200, 203 – 206, 210 – 217, 219 f., 222 f., 225 – 227, 230 – 239, 241 – 245, 252, 255, 258, 260 – 263, 266, 270 f., 276 – 279, 284 – 289, 293 – 295, 297 f., 311, 317 – 321, 323 – 325, 327, 329 f., 333, 335 – 337, 343, 346 f., 349 – 351 Freiheit 178, 292, 298, 305, 311 Gegend 6, 8, 22, 39 – 41, 55, 60 f., 64 – 66, 72 – 74, 83 – 99, 102 f., 105, 110 f., 132 f., 148, 150, 199, 278, 320, 348 f., 353 Gemüt 1, 25 f., 107, 110, 190, 204, 234, 239, 262, 272, 301, 303, 305, 313, 348, 351 Gewalt 304 f., 317 Glauben 178, 258, 304
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Sachindex
Gott
33 – 39, 57 – 64, 92, 114 f., 133, 161, 177, 272, 351 f. Größe 2, 30 f., 40 f., 53, 61 f., 67, 72, 75, 83, 109, 111 – 113, 162 f., 167 – 170, 173, 177, 189, 202, 210 – 213, 215, 217, 223, 228, 231 f., 234, 236, 238 f., 266, 269 f., 300 – 304, 309, 321, 336, 352
Heterogenität 120, 187, 190, 246, 255 Holismus 8, 64, 98, 111, 149 f., 158, 187, 194, 197 f., 200 f., 204 f., 255 f., 260 f., 263, 284, 309, 335 f., 338, 348 Homogenität 31, 36 f., 70 f., 106, 132, 173, 181, 183, 193 Ideal
64, 105, 109, 130, 149, 195, 265, 270, 278, 310, 316, 327, 340 Idealismus 52, 108, 126, 128, 173, 223, 229, 240 – 242, 244, 263, 340, 343, 345, 351 Idee 24 f., 91, 94, 97, 114, 120 f., 159 – 161, 168, 170, 201, 206, 265 – 270, 272 – 279, 281 – 283, 285 – 287, 297, 299, 301, 303 – 310, 312 f., 315, 319, 322 – 325, 327, 331, 346 f., 349 f., 353 Inkongruenz 36, 66, 69, 93, 98, 102, 104, 182 f. Intentionalität 2, 11, 16 f., 137, 146, 196, 291 – 294 Interpretation 9 – 21, 23 – 26, 28 – 30, 44, 50, 82 f., 93 f., 97, 100, 105, 107 f., 120, 123, 130, 140 f., 143, 147 f., 150 f., 156, 176, 184, 189, 192 – 197, 200 f., 204 f., 208, 217 f., 248 f., 251 – 254, 257, 262 – 264, 270, 285, 293, 307, 311, 317, 328 f., 342, 348, 350 f. Kategorie 54, 122, 130, 154, 156, 163, 185, 193, 195, 205 – 211, 215 – 217, 219 f., 222 – 225, 227 f., 235, 240, 243, 246 f., 249, 254, 256, 258 f., 263, 266, 268, 274, 289, 295, 300, 302, 311, 327, 330 Kausalität 178, 218 f., 237, 280, 294, 311 Kontinuum 1 – 8, 21, 27 f., 31, 35 f., 61 f., 67 – 71, 75 f., 112, 137, 149, 158 – 161, 163 f., 166 f., 170 – 172, 179, 181, 184 f., 188, 196 – 199, 203 f., 213 f., 227, 236,
256, 260 f., 268 f., 286, 308, 320, 322, 327, 335, 346, 348 f., 351 Kopernikanische Wende 23, 48, 90, 123, 134, 145 f., 172, 174 – 176, 184, 284, 328 Lage
10, 32, 35 f., 38, 40 f., 47, 49, 56, 60 f., 67, 72 – 74, 84 f., 87 f., 103, 110, 122, 132, 166, 199, 233, 235, 320, 330 Logik 7, 12 f., 120, 129, 136, 182, 203, 242, 245 f., 254, 256, 258, 324, 341 f., 353 Lust 290, 295, 297 – 299 Mannigfaltigkeit 1, 3 f., 6 f., 20, 26 – 28, 47, 51, 56, 61, 63, 99, 101, 111, 121, 140, 142, 149, 160, 162, 164 – 166, 171 f., 185 – 188, 190 – 194, 197, 199, 203 – 205, 207 f., 210, 213, 216 f., 221, 229, 231, 235 f., 247 f., 256 f., 259, 261, 267, 271, 273, 280, 284, 291, 293, 303, 308, 321, 330, 332 – 334, 336 f., 348 Materie 4, 38 f., 41, 54, 57 f., 60 f., 91, 94 f., 137, 141, 148, 166, 171, 191, 204 f., 216, 220, 222, 232 – 234, 241, 245, 269 – 272, 274 – 277, 281, 317 – 320, 322 – 329, 343, 347 Mathematik 34, 41, 43, 45 f., 49, 51, 54, 63, 68, 84, 86, 89 f., 102, 125, 136 f., 155, 157, 164, 179, 202, 224, 322 Metaphysik 2, 30, 34, 36, 39, 45 f., 52, 54, 56, 59 f., 62 f., 67, 91, 100, 115, 120 f., 124, 158, 182, 190, 202, 225 f., 241, 253, 274 f., 315, 318, 324, 328, 339, 342, 347, 353 Monade 34, 46 f., 51, 53 f., 61, 92, 133 Monadologie 46, 48, 52 f., 133 Moral 100, 310 – 312, 353 Nacheinander 4, 31, 46, 82, 109 f., 113, 170 f., 180, 215 – 218, 220 f., 224, 237, 261, 279, 284, 346 Natur 31, 47, 50, 57 f., 63, 65, 67, 78, 80, 82, 104 f., 109, 119, 123, 173, 195, 243, 269 f., 273, 275 f., 280, 297 – 299, 303 – 306, 308, 310 f., 317, 327, 330, 347 Nebeneinander 6, 31, 46, 109, 142 f., 170 f., 180, 216, 221, 224, 226, 279, 319
Sachindex
Objekt 1, 7, 31, 50, 62, 66, 72, 77, 79, 81 f., 86 – 88, 92, 103, 112, 118, 125 – 127, 131, 133, 137, 141, 147, 164, 176, 185 f., 191, 204 f., 209, 214, 217, 219, 223 f., 226, 228 f., 231 – 234, 236 – 239, 241, 245, 249, 251, 254, 256 f., 274 f., 279, 285, 290 f., 301 f., 308, 312, 319, 332, 336, 339 f., 346, 349, 351 Objektiv 1, 11, 46, 50, 61, 72, 86, 88, 96, 108, 110, 112, 120, 122, 124 – 126, 128, 130 f., 161, 175, 181, 185, 202 – 211, 214 – 224, 226, 229 – 239, 241 – 245, 253 – 256, 267, 273 f., 281 f., 284 – 286, 295, 298, 301, 308, 310, 318 – 324, 328 – 330, 346, 349, 351 Ontologie 19, 142 Orientierung 10, 17, 65, 67, 73 f., 77, 85 – 90, 92, 150, 273, 278, 285 f., 303 f., 312 f., 320, 322, 349, 353 Person 1, 36, 81, 305, 342 Primat 2, 4, 6, 76, 101, 110 – 112, 114, 132, 172, 176, 190, 228 f., 319, 334, 338, 347 – 349, 351 Prinzip 14, 31, 37 f., 46, 51, 56, 60, 76, 175, 182 f., 274, 280, 296, 298, 300, 313, 317, 325 – 327, 330, 332 Qualität 2, 5, 8, 51 f., 62, 66, 94, 112, 141, 147, 156, 158, 162 f., 201, 214, 245, 256 – 260, 269, 284, 286, 289 f., 300, 303, 337 f., 348 Quantität 2, 52, 62, 66, 75, 112, 156, 162, 168, 199, 202, 211, 214 f., 224, 228, 258 – 260, 268, 271, 274 f., 281, 289 f., 300, 302, 304, 338 f., 348 Realismus 175, 240 Realität 60 f., 90 – 96, 98 f., 101, 110 f., 118, 124 – 127, 161, 173 f., 176, 178, 209, 213, 223, 225, 230, 236, 240 f., 244 – 246, 270, 273, 280 f., 283, 319, 322 Reflexion 17 f., 23, 42, 53, 55 f., 61, 66, 90 f., 99 f., 102, 114 – 116, 120, 122, 140, 150, 157, 161, 165, 168 f., 204 f., 210, 233, 236, 244 – 246, 252, 261, 263 f.,
371
276, 281, 287 f., 294, 297 – 299, 303, 305, 308 f., 338, 346, 350, 352 Relation 31, 34, 41, 47, 60, 65 f., 74, 76 – 80, 87 f., 92, 97, 99, 104, 111, 125, 140, 143, 156, 205, 219, 224 f., 267 f., 276, 294, 300, 310 Rezeptivität 186, 188, 190, 214, 251, 333 f. Schema 105, 109, 185, 207, 209 – 211, 214, 216 f., 223, 226, 228, 231, 300 Schematismus 22, 112, 125 f., 131, 139, 180, 183, 186, 206 – 210, 214 f., 217, 220, 222 – 231, 236 – 238, 240 f., 243, 246, 251, 267, 284, 300, 310 f., 318, 328 – 330, 332, 346, 349, 351 Schönheit 14, 58, 63, 110, 286 – 290, 293 – 295, 298 – 303, 305, 309, 353 Seele 34, 50, 53 f., 87, 89, 108, 119, 128, 177, 209, 216, 240, 253 Selbstbewusstsein 5, 163, 172, 201, 210, 247 – 249, 251 – 261, 264, 286, 331, 334, 347 f., 351 Selbstsetzung 328, 330 f., 333, 336 f., 339, 342 – Selbstsetzungslehre 328 f., 331, 336, 339, 342, 345, 347, 351 Sinnlichkeit 7 f., 23, 25 – 28, 52, 89, 111, 116, 120, 122, 125, 134 f., 137, 147, 151, 179 f., 185 – 192, 194, 197, 202, 204, 208 f., 212 f., 217, 233, 236 f., 247 f., 250 – 252, 255, 259, 262, 264, 272, 279, 285 f., 288, 305, 321, 325, 329, 332 – 335, 337 f., 350 Spiel 9, 11, 44, 84, 118, 180 f., 223, 286, 288 – 293, 295 f., 298, 301 f., 304, 328, 336, 341, 350 Spontanität 25, 190, 246, 333 f., 338, 343, 347, 350 f. Subjekt 1, 5 f., 8, 24, 31, 40, 50, 61, 66, 76, 80, 82, 85 – 92, 105 – 108, 110, 112, 114 f., 118, 122 – 127, 131 – 133, 137 – 139, 141, 143, 146, 153 f., 161, 167, 173 – 178, 190, 201, 229, 231, 233, 235, 239, 244, 246, 248, 250 f., 254 f., 257 f., 260, 262, 264, 270, 273, 276, 278, 285, 289 – 291, 293 f., 296, 298 f., 302 – 305, 308 f.,
372
Sachindex
311 f., 319, 322, 325 – 327, 330 – 339, 343 f., 346 – 351 Subjektiv 1, 32, 50, 72, 86, 88 – 90, 96, 98, 100, 105, 108 – 110, 117 f., 120, 122, 124 – 128, 130 f., 137, 146, 153 f., 173 – 175, 178, 181, 185, 196, 203 – 206, 209 f., 212, 214 – 216, 218 – 224, 229, 232, 234 f., 238 f., 245 f., 255 f., 269, 279, 281, 284 f., 290, 295, 297, 299 f., 317, 319, 322 f., 328 f., 335, 346, 349, 351 Synthese 7 f., 25 f., 28 f., 112, 114, 162, 171, 187 – 189, 191 – 197, 199 – 202, 204 f., 211, 213 f., 218, 221, 229, 231 f., 246, 248 f., 251 f., 255 f., 258, 261 – 263, 266 – 268, 285 f., 331 f., 336, 344, 350 Synthetisch 4 f., 7 f., 26, 46, 129 f., 137 – 139, 149, 155 – 158, 164, 171, 179, 183 f., 187 f., 193, 195 – 198, 200 f., 204, 211, 228, 232, 236, 243, 247, 255 f., 258, 261, 263, 284 f., 295, 297, 332 – 337, 344 System 15, 60, 84, 93, 116, 124, 129, 198, 222, 243, 252, 273, 280, 287, 313, 317 f., 327, 329, 332 f., 340 – 343, 346 f. Teilen 2 – 6, 17, 21, 31 f., 34 – 36, 38 f., 48, 52 – 54, 62, 66, 73 f., 97 f., 106, 110 – 112, 114, 116, 132 f., 138, 152, 158 – 160, 163 – 168, 170 f., 173, 179, 181, 183, 185 f., 193, 196, 207 f., 212, 214, 227, 233 f., 253, 256, 259 f., 268, 271, 275, 281, 284, 294 f., 309, 313, 340, 344, 348 Transzendent 57, 59, 115, 119, 122 – 124, 174 – 178, 184, 243, 264, 266, 268, 270, 272, 284 f., 287, 323 Transzendental 2, 4, 7, 18 – 21, 23 f., 26, 28, 64, 85, 101, 107, 110, 112, 114 f., 122, 125 f., 131, 134 – 140, 143 f., 146 – 152, 154 – 158, 160, 163 f., 166, 168, 172 – 174, 176, 178 f., 181 f., 185 – 188, 191 – 193, 199, 201, 204, 206 – 210, 212, 214 f., 218, 221 f., 225 f., 230, 232 f., 235 f., 239 f., 244 – 251, 253 – 257, 259 – 261, 263 – 265, 268 – 272, 275, 278, 280 – 282, 284, 286 – 288, 306 f., 309, 316, 320, 327 – 331, 334, 336, 339, 341, 343, 347 f., 351
– Transzendentalphilosophie 230, 259 f., 325, 328, 331 f., 340, 342 f., 345 Trennen 6, 11, 35, 52 – 54, 63, 133, 165 f., 202, 213, 250, 333, 339, 341 Unendlichkeit 2, 4, 24 f., 31, 34, 45, 48, 52 – 54, 57 – 59, 61 – 63, 70, 72, 102, 109, 112 – 115, 133, 155, 164, 166 – 170, 173 f., 179, 193, 197 f., 202 f., 210, 212, 218, 226, 231 f., 235, 254, 266 – 275, 277 f., 280, 301 f., 305, 308 f., 320, 336 Urteil 46, 91, 127 – 129, 151, 155, 158, 183, 210, 243, 247 f., 258, 263, 282, 289 – 291, 293, 295 – 297, 299 f., 317, 327, 332 Urteilskraft 209, 287, 292, 295, 297, 311, 330, 352 – Bestimmende Urteilskraft 131 – Reflektierende Urteilskraft 287, 317, 346 Vermögen 7 f., 25 f., 59, 103, 105, 110, 186, 189, 191, 194, 197, 204, 246, 250 f., 254, 258, 262, 272, 280, 283, 289, 292, 295, 297 – 299, 301 – 304, 310, 312, 318, 334, 340, 350 Vernunft 7, 10, 20, 55, 93, 100, 102, 113, 116, 119 – 122, 124, 137, 151, 165, 177, 191, 195, 208, 216, 241, 258, 264 – 267, 270 f., 273 f., 276 f., 279 f., 282, 285, 290, 297 – 299, 301 – 306, 310 – 313, 318, 342, 345, 350, 352 f. Verstand 5, 7 f., 10 f., 17, 24 – 29, 31, 34 f., 40 f., 47, 58 – 62, 64, 72, 74, 76, 84, 93 f., 99 f., 103, 105 – 107, 113, 124 f., 135, 160 f., 168, 184 – 187, 189 – 198, 200, 202 – 206, 208 – 210, 214, 217 f., 232 f., 236, 243 f., 247 – 251, 255 – 261, 271, 273 – 275, 279, 283 – 286, 291 – 293, 295, 297 f., 301 f., 305 f., 316, 318, 321 f., 325, 327, 329 f., 332 – 335, 337 f., 341, 343, 350 f. Vielheit 1 – 3, 6, 48, 150, 182, 198, 211 f., 215, 300 Vorstellung 4 – 8, 15, 24 – 29, 32, 42, 46, 50, 54 – 56, 60 – 62, 64, 71 f., 76, 86, 88, 91 f., 94, 96, 105 – 107, 110 – 114, 117 – 119, 122, 124, 126 – 128, 132 – 134, 136, 138, 141 – 144, 146 f., 149 f., 152 – 154,
Sachindex
157 – 159, 161 – 164, 167, 170, 173, 176 – 179, 184, 186 – 192, 194 – 196, 199, 204, 209 – 211, 213, 216, 218, 226 f., 230, 235 – 238, 240 – 243, 245, 247 f., 250 – 256, 258, 260 – 262, 266 – 270, 272 – 274, 277 – 279, 281, 283 – 285, 292 – 295, 297, 300 f., 303 f., 306 – 310, 320 – 324, 326, 328 f., 331 f., 334 – 337, 346, 349 f. Wahrheit 15 f., 128, 155, 195, 240, 242 Wahrnehmung 33, 87, 120, 128 – 130, 140 f., 146 f., 149, 153 f., 181, 191, 212 f., 218 f., 221, 223, 229, 231 f., 234, 237, 240 – 243, 250, 255, 258, 275, 280 f., 289, 321, 323, 333 f., 336 Wärme 55 – 57, 59, 222, 274, 316, 318, 322 – 330, 343, 347 Wille 277, 294, 297, 311 f. Wirklichkeit 93, 95, 119, 122, 124, 126 – 129, 131, 133, 138, 152, 234, 237 – 241, 243, 246, 251, 284, 327
373
Wissen 58, 72, 85, 87, 93, 106, 175, 178, 193, 202, 230, 233, 246, 249, 270, 273, 288, 305, 322 Wissenschaft 17, 52, 54, 63, 102, 121, 139, 155 f., 176, 179, 223, 288, 342, 352 f. – Geisteswissenschaft 10 – Naturwissenschaft 4, 84, 90, 92, 176, 275, 279, 313 f., 316 – 318, 329 f., 347, 352 f. Wissenschaftslehre 339 – 343 Zahl
44, 49, 61, 113, 156, 162, 168 f., 173, 210 f., 214, 223 f., 236, 300, 302 Zeitmodell 236 – 238, 279 Zusammensetzung 2 – 5, 7 f., 38, 49, 91, 111, 136, 165, 169, 181, 188, 191, 195 f., 203 f., 206, 211 – 213, 220, 236, 259, 271, 286, 291, 326, 330, 333, 335 f., 338, 344 Zweck 27, 31, 177, 290, 292 – 295, 297 – 303, 305, 310 f., 317, 329
Namensindex Adickes, Erich 44, 54, 99, 123, 314, 335 – 337, 339 Al-Azm, Sadik J. 21 f., 32, 51, 94 f., 103 f., 134, 141, 144 f., 151 f., 155, 168, 183 f., 194 – 196, 228, 265, 269 Al-Ghazali 36 Allais, Lucy 143, 145, 252 Allison, Henry E. 7, 26 f., 97 f., 103, 126, 136, 140 f., 144, 147 f., 152, 154 f., 157 – 159, 166 – 168, 176 – 178, 181, 190, 196, 205, 208, 213, 223, 226, 238 f., 241, 257, 275 f., 278 Ameriks, Karl R. 13, 15, 30, 172, 244, 251, 265 Aristoteles 2, 4, 8, 36 Averroes 36 Avicenna 36 Baiasu, Sorin 178 Baker, John T. 50, 65, 70, 95, 100 f. Baum, Manfred 41 f., 89, 140, 142 – 145, 151, 154, 159, 173 f., 177 f. Baumanns, Peter 123, 163, 190, 195, 202 f., 247 f. Baumgarten, Alexander G. 3, 31 f., 42, 45, 47, 67, 137, 216, 227, 252 f., 279 Baumgarten, Hans-Ulrich 23, 27, 182, 208, 223, 226, 244, 251, 316, 327 f., 339 Beck, Jacob S. 163, 234, 241, 250, 339, 342 Bencivenga, Ermanno 11 Bennett, Jonathan 36, 81, 83, 90, 97, 184, 241 Berkeley, George 108, 241 Bieri, Peter 82, 219 Böhme, Gernot 27 f., 198, 210 f. Brandt, Reinhard 19, 24, 26, 48, 118, 145, 147 f., 153, 156, 161, 176, 192, 199, 205, 229, 248, 250 f., 253, 261, 263, 281, 313 f. Brittan, Gordon G. 42, 98, 185, 217, 224 f., 275 Buchdahl, Gerd 48, 115, 205 f., 224
https://doi.org/10.1515/9783110763553-010
Buroker, Jill V. 150, 184
22, 48, 50, 54, 70 f., 92 f., 95,
Calinger, Ronald 55 Carl, Wolfgang 27, 253 Carrier, Martin 55, 316, 324 Clarke, Samuel 30, 33 – 42, 45, 51 f., 54, 72 f., 77, 84, 105, 140, 143, 182, 269, 348 Cocco, María I. 64 Cohen, Hermann 22, 140, 144 f., 152 – 154, 156, 160, 162, 176, 193, 220, 247 – 249 Cramer, Konrad 24, 142, 145, 162, 171, 207 f., 216 – 218, 233 f. Crusius, Christian A. 42, 135, 140 Curd, Martin 81, 83 Dietrich, Albert J. 2, 21, 25, 64, 97, 120, 158, 160, 198, 203, 206, 211, 277 Dörflinger, Bernd 23, 137, 186, 190, 197, 260 f., 264, 268, 282, 306, 308 f., 333, 338 f. Dück, Michael 23, 59 f., 75, 93, 138 f., 147, 151, 160, 192, 196 Düsing, Klaus 193, 211, 218, 220 f., 246, 248, 252 Earman, John 41 f., 71, 75, 78, 80, 96 Ebbinghaus, Julius 26, 195 – 197 Edwards, Jeffrey B. 220 – 222, 325 Emundts, Dina 129, 240 Engel, Eva J. 117 Engelhard, Kristina 61 f., 100, 165, 168 f., 245, 257, 267, 271 – 275, 280 f., 294, 296, 303, 306, 324, 328 Erdmann, Benno 107, 196, 225 Euklid 48, 68 Euler, Leonhard 34, 41, 45, 52, 84, 90 f. Falkenstein, Lorne 149, 175 – 177 Ferrari, Jean 270 Fichte, Johann G. 10, 193, 234, 263, 315, 331, 339 – 343, 347
Namensindex
375
Fischer, Kuno 12 f., 126, 173, 175 Förster, Eckart 314, 316 f., 326 f., 339 f., 343 Frederick, Robert E. 22, 69, 71, 80 Freuler, Léo 207 f. Fricke, Christel 291, 296 Friebe, Cord 79, 82, 103, 219, 237 Friedman, Michael 27, 48, 60, 93 – 95, 194, 196, 222, 229, 314, 316 f., 324, 327
Hinsch, Wilfried 169, 193, 197 – 199, 207, 214, 248, 256, 260 Hoppe, Hansgeorg 188, 208, 221, 250 f., 315 – 317, 325, 339 Höffe, Otfried 107, 139, 142, 174 – 176, 217, 255 Hume, David 62, 100, 102, 120, 296 Hübner, Kurt 330
Gardner, Martin 69, 81 – 83 Garve, Christian 100, 155, 240 f., 340 Gent, Werner 21 f., 33, 59, 63, 116, 126, 213, 238, 345 George, Rolf 36, 72, 83 Gerhardt, Volker 11, 13, 19, 257, 290, 317 Ginsborg, Hannah 290, 293 Giovanelli, Marco 67, 90, 95, 182 Gloy, Karen 28, 31, 43, 74 – 76, 94 f., 104, 125, 148, 150, 180 – 183, 185, 193, 198, 215 f., 218, 228 – 230, 237, 241, 253, 259 f., 329, 340 Gosztonyi, Alexander 21, 41 – 43, 55, 60 f., 95, 105, 120, 229 Gotz, Gerhard 95, 100 Guyer, Paul 131, 176, 183, 228, 231, 241, 254, 257, 290
Jackson, Frank C. 83 Jacobi, Friedrich H. 193 Jammer, Max 74 Jiménez Rodríguez, Alba 246
Haas, Bruno 192, 195, 228, 236, 248 Hall, Bryan W. 16 f., 123, 222, 270, 274, 280 f., 313 – 318, 321, 325 – 327, 329, 343 Hamann, Johann G. 116 Harper, William 71, 80, 83, 88 Hartknoch, Johann F. 116 Hegel, Georg W.F. 14, 146, 193 Heidegger, Marin 169, 187 f., 192 f., 225 f. Heidemann, Dietmar H. 80, 142, 150, 152, 161, 179, 226, 250 Heidemann, Ingeborg 26, 137, 187 f., 190, 197, 264, 270 Heimsoeth, Heinz 120, 277 Heinrich, Richard 24 f., 157 f., 162, 197, 266, 270, 307 Heinrichs, Jürgen 310 f. Heller, Edmund 163, 250 Henrich, Dieter 207 f., 248, 250 f., 253 f. Herder, Johann G. 59, 116 Herz, Marcus 116, 119 – 121, 126, 309
Kant, Immanuel 1 – 36, 38 – 74, 76 – 103, 105 – 257, 259 – 301, 303 – 353 Kanterian, Edward 172, 175, 178 Kaulbach, Friedrich 11, 13, 19, 31, 86 f., 89 f., 93 f., 209, 215, 257, 290, 317 Kästner, Abraham G. 160, 202-206, 210, 268, 284 Kemp Smith, Norman 25 f., 28, 55, 91, 93 – 95, 98 f., 130, 138, 144 f., 153 – 155, 157, 163, 167 f., 171, 197 f., 222 f., 238, 246, 248, 263, 339 f., 343 Kiesewetter, Johann G. 314, 340 f. Kirste, Stephan 311 Klemme, Heiner F. 11 f., 15, 19, 26 f., 100, 116, 120, 138 f., 155, 208, 214, 240 f., 245 f., 253 – 255, 257, 273 Knutzen, Martin 55 Koriako, Darius 100 f., 103, 140 f., 152, 184, 202 Kötter, Rudolf 324 Krausser, Peter 5, 169 f., 189, 206, 213, 234 Krämer, Sybille 70, 85 Kreimendahl, Lothar 100, 272 Kreis, Guido 76 Kruck, Günter 270 Krüger, Gerhard 139, 179 f., 193, 255, 306 f. Kühn, Manfred 44, 55, 57, 65, 116, 118, 122, 134, 241, 257, 313, 315, 342 Kümmel, Friedrich 311 La Rocca, Claudio 254, 273 Lambert, Johann H. 42, 117 – 119, 124 f., 142 f.
376
Namensindex
Leibniz, Gottfried W. 18, 30, 33 – 42, 45 f., 48, 50 – 52, 55, 60 f., 67, 72, 75, 77, 84, 90, 94, 96, 101 f., 105, 107, 111, 140, 148, 150, 155, 182, 226, 252, 269 f., 348 Locke, John 107 Loh, Werner 28 f. Longuenesse, Béatrice 192 f. Lyre, Holger 22, 68 f., 75, 79, 81, 86, 95, 183 f. Malebranche, Nicolas 115 Malzkorn, Wolfgang 54 Marc-Wogau, Konrad 1, 21 – 23, 25, 51, 55, 61, 77, 98 – 100, 111 f., 121, 125, 142, 172, 196, 204, 217, 249, 266, 269, 275, 277 Mathieu, Vittorio 241, 280, 316 f., 324 f., 328 – 331, 343 McLear, Colin 169, 192, 252 Meckel, Philipp F. 315 Mellin, Georg S. 341 Mendelssohn, Moses 117 – 119, 124 Messina, James A. 26 f., 29, 42, 48, 63, 94, 135 f., 140, 143, 151, 192 f., 196 f., 200 f., 263 f., 285 Metz, Wilhelm 195, 208, 251, 340 Michel, Karin 11, 20 – 22, 27, 141, 144, 146, 152, 155 – 157, 162, 169, 178, 194, 196, 236, 238, 253, 311 Mihaylova, Katerina 150 f. Mohr, Georg 26, 111, 118, 142, 155 f., 165, 171, 180, 190, 218, 227, 237, 241, 253, 256, 260 Monzel, Alois 107, 115, 120, 179 f., 253 Möbius, August F. 70 f., 86 Mühlhölzer, Felix 22, 36, 67 f., 75 Nakajima, Yoshimichi 20, 93, 95, 123, 205, 208, 219 – 221, 241 Natterer, Paul 26, 101, 123, 154, 157, 169, 176, 200, 208, 254, 261, 276 Nerlich, Graham 73, 78 – 81 Neumann, Peter 193 Newton, Isaac 30 – 38, 41 f., 45, 48, 54 f., 57, 60, 62, 74, 88, 91, 93 f., 96, 98, 102, 105, 107, 109, 115, 139 f., 185, 230 Onof, Christian
196, 202, 204
Palter, Robert 185 Parsons, Charles 14, 70, 148, 257 Patt, Walter 140, 142, 147, 153, 157 f., 169, 182, 237 Plaass, Peter 208 Pörschke, Karl L. 315 Prauss, Gerold 2, 5 f., 8, 17, 76, 122 f., 129 f., 137, 142, 163, 165, 170 – 172, 180, 190, 197, 215, 219, 223, 225 – 227, 231, 236 f., 241, 246, 248, 253, 256 f., 263, 291, 293, 298, 305, 333, 335, 345 Puntel, Lorenz B. 10, 12, 15 Rademaker, Franz 107 Reich, Klaus 97, 120, 156, 263 Reidemeister, Kurt 74 f. Reinhold, Carl L. 288, 340 Remnant, Peter 78, 98 Richardson, Johann 341 Riehl, Alois 25, 48, 65, 89, 147, 181, 184, 211, 222, 230, 261, 269, 274 Rivera de Rosales, Jacinto 291, 311 Roche, Andrew F. 26, 29, 193, 196 f., 252 Rohs, Peter 27, 123, 126, 136, 148, 164 f., 170, 180, 186, 193 f., 228, 244 Röd, Wolfgang 62, 169, 273 Rukgaber, Matthew S. 89, 94 Rusnock, Paul 36, 72, 83 Sans, Georg 172, 216, 218 Schelling, Friedrich W. J. 339, 342 – 345, 347 Schiller, Friedrich 298, 304 f. Schliemann, Oliver 122 f., 183, 196, 209, 230, 275 Schönecker, Dieter 10 f., 13 – 16 Schulting, Dennis 196, 202, 204 Schultz, Johann F. 118, 202, 212 Seel, Gerhard 11, 14 – 18, 314 Seide, Ansgar 273, 280 Shabel, Lisa 148, 205 Simon, Josef 4, 10 f., 25, 142 f., 162, 171, 178, 180, 195, 258, 282, 313, 351 Sklar, Lawrence 73 Stegmaier, Werner 10, 85, 87, 312 f. Strawson, Peter F. 145, 153 f., 157, 165, 241
Namensindex
Sturma, Dieter 265 Sulzer, Johann G. 100, 118 Teichert, Dieter 291, 295 – 299 Teske, Johann G. 55 Tetens, Holm 146 – 149, 152 f., 158 f., 161 f. Tetens, Johannes N. 253 Theis, Robert 92 Thöle, Bernhard 196, 216, 218 f. Tieftrunk, Johann H. 211, 341 Tuschling, Burkhard 55 f., 276, 313 – 317, 322 – 325, 328, 339, 342 f., 345 Unruh, Patrick 4 f., 20 – 23, 29, 36, 42, 46, 48, 55, 59, 64, 72, 74, 85, 87, 94 f., 98, 103, 123, 138, 147, 149, 152, 154, 156, 162 – 164, 168 f., 171, 188, 193, 196 f., 203, 214, 227 f., 233, 257 f., 266, 307 f., 324 Vaihinger, Hans 20, 24, 26, 36, 42, 44, 52, 70 – 72, 85, 91 – 93, 96, 100, 105, 107, 116, 120, 122 f., 125 f., 129, 133, 138, 141, 145 f., 152 – 158, 161, 166 f., 169, 172, 179 f., 185 f., 189 f., 192, 196, 198, 206,
377
213, 218, 234, 238, 244, 259, 269, 273, 277 f., 306, 313 f. Van Cleve, James 77 f., 81 – 83, 89, 125, 184 von Weizsäcker, Carl F. 238 Wachter, Alexander 260, 290, 292 – 295 Walker, Ralph 72, 90 Warren, Daniel 136, 143, 148, 162 Watkins, Eric 272 Willaschek, Marcus 145 f., 174, 178, 190, 241, 257 Wittgenstein, Ludwig 69 Wohlfart, Günter 2, 24 f., 106, 159, 161, 163, 197, 218, 228, 230 f., 238, 266, 282 f., 288 f., 306 f. Wolff, Christian 18, 42, 140, 142, 226, 241, 253 Wolff, Michael 129, 155, 213 Wolff-Metternich, Britta-Sophie 93 f., 169 Wunsch, Matthias 130, 171 f., 188 Würker, Katarina 209, 226, 228, 246, 329 – 331, 333, 337 f., 342 Zöller, Günter 120 Zwenger, Thomas 11