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German Pages X, 223 [225] Year 2020
Wanying Liu
Zeit und Sein des Sinnlichen Zur ontologischen Zeitkonzeption bei Platon, Plotin und Kant
Zeit und Sein des Sinnlichen
Wanying Liu
Zeit und Sein des Sinnlichen Zur ontologischen Zeitkonzeption bei Platon, Plotin und Kant
Wanying Liu Beijing, China Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Fassung der Dissertation der Autorin, die im Wintersemester 2019/20 mit dem ursprünglichen Titel „Zeit und das Sein des Sinnlichen. Zur ontologischen Zeitkonzeption in dem antiken Platonismus und der Transzendentalphilosophie Kants“ von der Philosophischen Fakultät der RuprechtKarls-Universität Heidelberg angenommen wurde.
ISBN 978-3-662-61923-0 ISBN 978-3-662-61924-7 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-61924-7 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Carina Reibold J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
Vorwort
Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Wintersemester 2019/20 mit dem ursprünglichen Titel „Zeit und das Sein des Sinnlichen. Zur ontologischen Zeitkonzeption in dem antiken Platonismus und der Transzendentalphilosophie Kants“ von der Philosophischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg angenommen wurde. Danken möchte ich hier denen, die mir bei der Entstehung dieses Buchs Hilfe angeboten haben. Prof. Dr. Anton F. Koch danke ich für seine Betreuung beim Studiengang meiner Promotion und auch für seine Hilfe inzwischen. Des Weiteren danke ich Prof. Dr. Peter McLaughlin, der das zweite Gutachten freundlich übernommen hat. Nicht zuletzt möchte ich Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Dieter Henrich meinen herzlichsten Dank sagen, der mir in mehrmaligen Diskussionen und Zusammenarbeiten Denkanregungen gebracht hat, vor dessen philosophischen Bemühungen und Leistungen ich großen Respekt habe. Hier sei auch die richtige Stelle, wo ich meinen Eltern den besten Dank ausdrücke, für ihre Liebe und ihre vorbehaltlose Unterstützung. Die Entstehung dieser Arbeit wurde durch ein Promotionsstipendium von China Scholarship Council gefördert, wofür ich sehr dankbar bin. Beijing 25.04.2020
Wanying Liu
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Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Teil I
Die ontologische Zeitkonzeption des antiken Platonismus
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Das Problem der Seinsbestimmung des Sinnlichen bei Platon. . . . . . 11 2.1 Immanenz und Transzendenz der Ideen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2.2 Die Stelle der Dianoia in der Bestimmung des Seins des Sinnlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
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Die ontologische Zeitkonzeption und ihre vermittelnde Leistung in der Übertragung des Intelligiblen auf das Sinnliche bei Platon. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 3.1 Eine vorbereitende Bemerkung: Rechtfertigung der „bildlichen Rede“ bei Platon. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 3.2 Die Definition der Zeit in Timaios. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 3.3 Die Ewigkeit als das Urbild der Zeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 3.4 Die Seele als die Instanz der Bewegung der Zeit. . . . . . . . . . . . . . 32 3.5 Die Bewegung der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 3.5.1 Zeitteilen oder Zeitformen?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 3.5.2 Die Bewegungsweise der Zeit I: gegen die Interpretation einer zyklischen Zeit. . . . . . . . . . . . . . . . . 40 3.5.3 Die Bewegungsweise der Zeit II: gegen die Interpretation einer zählenden Seele . . . . . . . . . . . . . . . . 43 3.6 Die Zahl und die vermittelnde Rolle der ontologischen Zeit. . . . . 47
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Inhaltsverzeichnis
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Die Affinität zwischen Zeit und Denken. Die ontologische Zeit in der Bestimmung des Seins hinsichtlich der Geistmetaphysik Plotins. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 4.1 Vorbemerkung zur plotinischen Fragestellung nach dem Wesen und dem Ursprung der Zeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 4.2 Die Ewigkeit als das Leben des Geistes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 4.2.1 Erklärung des Ewigkeitsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 4.2.2 Die Aspekte der Ewigkeit und die Charakteristiken des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 4.2.3 Das Leben des Geistes als Selbstbewusstsein. . . . . . . . . 67 4.3 Die Zeit als die Selbstentfaltung der Seele und das bestimmende Prinzip des Seins des Sinnlichen. . . . . . . . . . . . . . . 73 4.3.1 Die Entstehung der Zeit in der Selbstentfaltung der Seele. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 4.3.2 Die Affinität zwischen der Zeit und dem diskursiven Denken der Seele. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 4.3.3 Die Zeit als das bestimmende Prinzip der sinnlichen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 4.4 Das Materie/Raum-Prinzip bei Plotin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
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Die Auffassung des Seins in der Antike und in der Neuzeit . . . . . . . . 89 5.1 Die Einheit der Aspekte des Seinsbegriffs im antiken Platonismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 5.1.1 Die zwei Bedeutungsaspekte des Seinsbegriffs in der Gattungslehre. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 5.1.2 Die Erklärung des Seinsbegriffs bei Platon gegenüber einigen modernen Interpretationen . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 5.2 Die Wandlung in der Neuzeit: die Trennung des Was-Seins von dem Dass-Sein. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
Teil II 6
eit und die Bestimmung des Seins der sinnlichen Z Dinge bei Kant
Leitfrage und Grundansatz der Transzendentalphilosophie . . . . . . . 107 6.1 Die Leitfrage der Transzendentalphilosophie: das Problem der Gegenstandsbeziehung der apriorischen Begriffe. . . . . . . . . . 109 6.2 Der Grundansatz der Theoriebildung Kants: Die Bestimmung des Denkens als spontane Synthesis . . . . . . . . . 113
Inhaltsverzeichnis
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Die Konzeption der ontologischen Zeitbestimmung . . . . . . . . . . . . . . 121 7.1 Vom reinen Denken zum Denken der Gegenstände: die figürliche Synthesis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 7.2 Das transzendentale Schemata und die Bestimmung des Was-Seins des Gegenstandes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 7.3 Kants Zeitkonzeption und der Gedanke der ontologischen Zeitbestimmung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
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Das Problem der Zufälligkeit der Anschauungsformen des Menschen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
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Überwindung der Zufälligkeit und die Affinität zwischen den Kategorien und der Zeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 9.1 Die Notwendigkeit der Bezogenheit der Kategorien auf unsere Anschauungsformen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 9.1.1 Die Ausschließung der intellektuellen Anschauung. . . . . 144 9.1.2 Die menschliche sinnliche Anschauung als das notwendige Anwendungsfeld der Kategorien. Vom ersten Denkexperiment Kants. . . . . . . . . . . . . . . . . 145 9.1.3 Von der Unmöglichkeit, die Bedeutung der Kategorien durch andere Anschauungsformen zu verschaffen. Vom zweiten Denkexperiment Kants. . . . . . . . . . . . . . . . 147 9.1.4 Von der Unmöglichkeit eines anderen Gegenstandsbereiches. Kants Lehre des Noumenon als Grenzbegriff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 9.2 Die Eindimensionalität der Zeit selbst und die strukturelle Affinität zwischen Zeit und Kategorien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 9.3 Die transzendentale Unbestimmbarkeit des Raums und anderer weiteren möglichen Anschauungsformen durch die Kategorien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 9.3.1 Die transzendentale Unbestimmbarkeit des Raums. . . . . 156 9.3.2 Die transzendentale Unbestimmbarkeit anderer möglichen Anschauungsformen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158
10 Die ontologische Bestimmung der ontischen Zeit nach den Kategorien. Zeit als Prinzip des Was-Seins der sinnlichen Dinge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 10.1 Die Erzeugung der Zeit und deren Kontinuität. Die ontische Zeitbestimmung nach der Quantität-Kategorie. . . . . . . . . . . . . . . 164 10.2 Die Füllung der Zeit. Die ontische Zeitbestimmung nach der Qualität-Kategorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168
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10.3 Die Einheit und Eindimensionalität der Zeit. Die ontische Zeitbestimmung nach den Relationskategorien. . . . . . . . . . . . . . . 171 10.3.1 Das einheitliche Substrat der Zeitbestimmtheit. Die ontische Zeitbestimmung nach der Substanz-Kategorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 10.3.2 Die Zeitfolge und die Zukunftsgerichtetheit der Zeit. Die ontische Zeitbestimmung nach der Kausalität-Kategorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 10.3.3 Das Zugleichsein und die Eindimensionalität der Zeit. Die ontische Zeitbestimmung nach der Gemeinschaft-Kategorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 10.4 Die eine und einzige objektive Zeit der Erfahrung. Die ontische Zeitbestimmung nach den Modalitätskategorien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 11 Von der eigentlichen Bedeutung des Begriffs des Dings an sich in der theoretischen Philosophie Kants. . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 11.1 Ding an sich im negativen Sinne als Stellebegriff und als Grenzbegriff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 11.1.1 Der Stellebegriff des Dings an sich. . . . . . . . . . . . . . . . . 185 11.1.2 Der Grenzbegriff des Dings an sich. . . . . . . . . . . . . . . . . 188 11.2 Ding an sich als Quelle der Affektion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 11.3 Ding an sich und das Problem des Dass-Seins der Gegenstände. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 12 Der Raum als das Prinzip des Dass-Seins der sinnlichen Gegenstände und die spannungsvolle Einheit der Subjektivität . . . . 195 12.1 Die Besonderheit des Raums in Kants Denkentwicklung. . . . . . . 196 12.2 Der Raum als das Prinzip des Dass-Seins der Gegenstände. . . . . 198 12.3 Die Konzeption der spannungsvollen Einheit der Subjektivität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 13 Ein Ausblick: das Problem der Notwendigkeit der endlichen Subjektivität und der Weg zur Konzeption des absoluten Subjekts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Schluss. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217
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Einleitung
Man geht in der Alltagserfahrung mit Dingen um, die in der Zeit existieren. Sie sind nicht nur den Sinnen zugänglich, sondern sie müssen auch von den Begriffen erfasst werden, sofern wir objektive Erkenntnis von ihnen bilden wollen. Im Allgemeinen ist man oft der Überzeugung, dass die Begriffe als reine Formen des Denkens selbst zeitlos sind. Aber im philosophischen Nachdenken fragt es sich dann, inwiefern die Begriffe als zeitlos bezeichnet werden können und was man unter „zeitlos“ verstehen soll. Darf man sagen, dass das Denken sich zeitlos vollzieht und daher keinen Bezug auf die Zeit nimmt? Was heißt es, dass das Denken zeitlos ist? Natürlich kann man die Begriffe selbst als zeitlos betrachten, aber darf man daraus schließen, dass die Art und Weise, wie die Begriffe verbunden werden, auch zeitlos ist, besonders wenn wir diese Begriffe zum Erfassen der Dinge gebrauchen? Oder mit anderen Worten: Was meinen wir eigentlich, wenn wir in einem gründlichen philosophischen Nachdenken über die Zeit sprechen? Man sagt, dass die Dinge „in der Zeit“ existieren. Was aber ist die Zeit? Man kann die Zeit von verschiedenen Hinsichten denken. In dem Alltag erfährt man das stetige Vergehen der Zeit. Man kann dann die Zeit mit der klassischen Physik als eindimensional und sukzessiv denken, oder mit der relativitätstheoretischen Physik als krümmbar bezeichnen. Diese Zeit, die man im alltäglichen Leben oder in den physikalischen Wissenschaften erfährt, nenne ich die ontische Zeit, sofern sie zur Beschreibung der Zustände der Dinge und Ereignisse – mit einem Wort, des Seienden –, dient. Aber philosophisch können wir weiter fragen, ob man die Zeit auf einer höheren Ebene betrachten kann, welche die Grundlage für alle oben genannten ontischen Zeitverständnisse bildet und das Wesen der Zeit in ihrem ontologischen Sinne erläutert. Die Zeit auf dieser ontologischen Ebene heißt es, dass sie als die apriorische konstitutive Bedingung für die Bestimmung des Seins der Dinge fungiert. Nach dieser Konzeption existieren die Dinge nur deswegen in © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Liu, Zeit und Sein des Sinnlichen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61924-7_1
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1 Einleitung
der Zeit, weil diese, hinsichtlich ihres Seins, schon vermittels der ontologischen Zeit apriorisch bestimmt werden.1 Meine vorliegende Arbeit nimmt die Frage, wie das Sein der sinnlichen Dinge apriorisch von dem Denken erfasst wird, als die Leitfrage der Untersuchung. Sie versucht, mittels der Untersuchung des antiken Platonismus (Platon und Plotin) und der kantischen Transzendentalphilosophie zu zeigen, dass das Medium, mit dem die zeitlosen Begriffe die in der Zeit existierenden Dinge erfassen, eben die ontologische Zeit ist. Oder mit anderen Worten: Dass vermittels der ontologischen Zeit die intelligiblen Denkbestimmungen, die in den reinen Begriffen enthalten sind, apriorisch auf die sinnlichen Dinge übertragen und angewandt werden, so dass diese Dinge hinsichtlich ihres Seins bestimmt werden können, ist einer der grundsätzlichen Denkmodi der klassischen Philosophie, wenn sie das Problem der apriorischen Bestimmung des Seins der sinnenhaften Dinge oder die verwandten Probleme in Betracht zieht. Ich wähle den antiken Platonismus und Kant deswegen für diesen Zweck aus, weil dieser Denkmodus sich am deutlichsten bei den beiden zeigt, obwohl sie diesen nicht immer explizit thematisieren. Der antike Platonismus vertritt die Überzeugung, dass es einen von der sinnlichen Welt unabhängigen Bereich der begrifflichen Intelligiblen gibt, der alle möglichen Seins- und Denkbestimmungen in sich enthält und daher den ontologischen und epistemischen Grund der sinnlichen Welt ausmacht. Deswegen muss die Bestimmung des Seins der sinnlichen Dinge auf diesen begrifflichen und intelligiblen Bereich zurückgeführt werden. Dabei entsteht aber die Frage, auf welche Weise jene Bestimmungen des intelligiblen Bereichs auf die sinnlichen Dinge übertragen werden und also sich in die Seinsbestimmungen der letzteren verwandeln. Eben bei diesem Problem spielt die ontologische
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nehme das Begriffspaar „ontologisch-ontisch“ von Heidegger auf. Bei ihm charakterisiert dieses Begriffspaar zwei unterschiedliche Betrachtungsaspekte der Seinsfrage: während die ontologische Betrachtungsweise das Seiende hinsichtlich seines Seins untersucht, und zwar hinsichtlich dessen, aus welchem das Seiende als Seiendes bestimmt wird, bleibt die ontische Untersuchung bei den Seienden als solchen und ihrer Beziehung aufeinander stehen, ohne auf ihr Sein und ihren Seinsgrund einzugehen. (Vgl. Heidegger 2006, S. 11.) Ausgehend davon steht die „Zeitlichkeit des Daseins“ in der ontologischen Ebene, welche die physische, „vulgäre“ Zeit bzw. die ontische Zeit möglich macht. (Heidegger 2006, § 65, § 81.) Daher bedeutet das Ontologische das, was das Ontische ermöglicht; das erstere ist sozusagen die Bedingung der Möglichkeit des letzteren. Mit der „ontologischen Zeit“ möchte ich eben diejenige Zeit bezeichnet, die als eine solche Möglich keitsbedingung fungiert.
1 Einleitung
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eitkonzeption ihre besondere Rolle, nämlich als die vermittelnde Bedingung Z dieser Übertragung und folglich als die prinzipielle Form des Seins der sinnlichen Dinge. Die Transzendentalphilosophie Kants als die Vertreterin der neuzeitlichen Subjektivitätsphilosophie hat in der entsprechenden Problematik Ähnlichkeiten mit dem antiken Platonismus, freilich aus anderen Ansätzen. Kant unterscheidet zwischen Sinnlichkeit und Verstand als zwei Erkenntnisvermögen mit jeweiligen eigenen Formen. Aber es ist bemerkenswert, dass die Formen der Sinnlichkeit bei Kant nur die Bedingungen für den Empfang des Gegebenen sind und in diesem Sinne in sich keine weiteren Bestimmungen enthalten. Daher ist klar, dass die sinnlichen Dinge nicht ausschließlich durch diese sinnlichen Formen bestimmt werden können. Vielmehr liegt der apriorische Bestimmungsgrund der sinnlichen Dinge in dem Verstand, der die reinen intelligiblen Formen für Bestimmung dieser Dinge, nämlich die Kategorien, enthält. So wird das platonische Problem, auf welche Weise die intelligiblen Momente des Ideen-Bereichs als Gründe der Bestimmungen des Seins der sinnlichen Dinge auf diese übertragen werden, nun bei Kant als die Frage nach der Bedingung der Anwendung der Kategorien auf das Sinnliche ausgedrückt. Gleichwie bei dem antiken Platonismus macht gerade die ontologische Zeit für Kant die Möglichkeitsbedingung dieser Anwendung aus. Es soll klargemacht werden, dass es bei der apriorischen Bestimmung des Seins der Dinge in Kants Philosophie eigentlich um den erfahrungsunabhängigen Bezug des begrifflichen Denkens auf das Sein der Dinge geht, nicht etwa um die Bestimmung des konkreten, materialen Seins derselben, nämlich ihre empirischen Eigenschaften und Bestimmtheiten, die ihrerseits der Erfahrung entspringen und daher als den Dingen zukommend angesehen werden. Erst jener apriorische Bezug, der eigentlich die Möglichkeitsbedingung aller empirischen Eigenschaften und Bestimmtheiten der Dinge und folglich die Möglichkeitsbedingung der Erfahrung überhaupt ausmacht, ist der Gegenstand des philosophischen Unternehmens, das Kant Transzendentalphilosophie nennt. Also fungiert die ontologische Zeit sowohl bei dem antiken Platonismus wie auch bei Kant als die vermittelnde Bedingung, unter der die intelligiblen Seinsbestimmungen apriorisch auf die sinnlichen Dinge übertragen werden. Sie hat aber eben deswegen diese Leistung, weil sie in den beiden philosophischen Ansätzen als etwas verstanden wird, was mit dem Denken, und zwar mit dem reinen Intellektuellen, Strukturgleichheit und Affinität hat. Aber bei Kant wird der Fall komplizierter, wenn man die Unterscheidung zwischen Erscheinungen und Dingen an sich in Betracht zieht. Da die raumzeitlichen Erscheinungen nach Kant keine Dinge an sich sind, die von den subjektiven Erkenntnisbedingungen unabhängig sind, entsteht ein schweres
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1 Einleitung
Problem: Man könnte sagen, dass die durch die Kategorien bzw. die intelligiblen Denkbestimmungen bestimmte Erscheinung kein „wahrhaftes“ Sein sei, sondern nur das erscheinende Sein. Dieses Problem wird aber dann durch das Problem der Zufälligkeit der menschlichen Anschauungsformen schwieriger: wenn die Zeit und der Raum als Formen der Erscheinung nur zufällig dem Menschen zukommen und daher ebenso zufällig mit dem reinen Verstand und seinen Kategorien zur Bestimmungen des Seins der Dinge zusammenarbeiten, sei das so bestimmte phänomenale Sein nur ein zufälliges Sein derselben. Folglich sei die ontologische Zeit, auch wenn sie sich, mit den Kategorien zusammen, als das bestimmende Prinzip des Seins der sinnlichen Dinge erweist, jedoch wegen ihres Verzerrungscharakters nichts anderes als das Prinzip des zufälligen Seins. Um nun zu beweisen, dass die Zeit die prinzipielle Form der Bestimmung des Seins der sinnlichen Dinge und nicht nur des zufälligen Seins derselben ist, ist es also nötig zu erläutern, dass Kant mit seiner Konzeption des Dings an sich keine Ansicht eines weiteren Gegenstandbereiches vertritt, sondern vielmehr die Ansicht, dass es keine andere Seinsbestimmung der Dinge als das durch Kategorien und die raumzeitlichen Sinnlichkeitsformen bestimmte Sein gibt. Dafür sind natürlich die Beseitigung der Zufälligkeit der Anschauungsformen und eine Analyse der eigentlichen Bedeutung und theoretischen Funktion des Begriffs des Dings an sich erforderlich. Ein anderes wichtiges Problem hinsichtlich der Bestimmung des Seins der sinnlichen Dinge bei Kant, das die neuzeitliche Philosophie im Allgemeinen prägt, ist es, dass es für das Sein der sinnlichen Dinge kein einheitliches Prinzip zu denken gibt, was anders als bei dem antiken Platonismus und sogar in der gesamten antiken Philosophie ist. Das Sein muss vielmehr von zwei verschiedenen Aspekten her bestimmt werden: dem Was-Sein und dem Dass-Sein. In dieser Hinsicht können, wie ich zeige werde, die Kategorien bei Kant nur das Was-Sein der sinnlichen Dinge bestimmen, und dies bedeutet wiederum, dass die ontologische Zeit als das Vermittelnde der intelligiblen Seinsbestimmungen nur das bestimmende Prinzip des Was-Seins der Dinge ist. Um auch das D ass-Sein der Dinge zu bestimmen, und zwar um einer vollständigen Bestimmung des Seins willen, ist ein anderer Bestimmungsgrund erforderlich – ich würde hier ankündigen, dass dies in der Tat der Raum ist. Meine Arbeit hat die Absicht, die Affinität der ontologischen Zeit mit der begrifflichen intelligiblen Struktur des Denkens und die Leistung derselben in der Übertragung der intelligiblen Seinsbestimmungen auf die sinnlichen Dinge bei dem antiken Platonismus und bei Kant darzustellen, um dies als einen der grundsätzlichen Denkmodi der klassischen abendländischen Philosophie zu charakterisieren. Dafür werde ich die Bedeutung der ontologischen
1 Einleitung
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eitkonzeption jeweils in dem antiken Platonismus (Platon und Plotin) und in der Z Transzendentalphilosophie Kants erörtern. So wird meine Arbeit in zwei Hauptteile gliedert. Der erste Teil widmet sich dem Problem der Bedeutung der ontologischen Zeit bei Platon und Plotin. Schon bei Platon ist die Bestimmung des Seins der sinnenhaften Dinge problematisch. Platon führt diese Bestimmung auf die Ideen zurück. Aber das, mittels dessen die Seinsbestimmungen in der Ideenwelt auf die sinnlichen Dinge übertragen werden können, ist gerade die Zeit. Natürlich wird dieser Gedanke Platons nur in Timaios angedeutet und nicht ausgeführt, so dass seine Grundinhalte nur durch intensive Analyse herausgearbeitet werden. Erst Plotin bildet in der Schrift Über Ewigkeit und Zeit diesen Gedanken in der Gestalt einer Theorie und entwickelt ihn weiter, indem er die Zeit als die Form der Selbstentfaltung der Seele bzw. die Form der Suche nach der Selbstbezüglichkeit des diskursiven Denkens betrachtet, in welcher die sinnliche Welt hinsichtlich ihres Seins bestimmt wird. Der antike Platonismus stellt damit die Lehre von der Affinität zwischen Zeit und dem (diskursiven) Denken und die These von der Zeit als Prinzip des Seins der sinnenhaften Dinge dar. In dem zweiten Teil meiner Arbeit, in dem eine kritische Kant-Deutung ausgeführt wird, gehe ich von Kants Grundbestimmung des menschlichen Denkens als diskursive Synthesis aus und betrachte ich, wie die apriorische Bestimmung des Seins der sinnlichen Gegenstände vermittels der ontologischen Zeit vollzogen wird. Für Kant ist das Problem der apriorischen Bestimmung des Seins der sinnlichen Dinge in der Tat das Problem der Gegenstandsbeziehung der intellektuellen Vorstellungen a priori oder das Problem der objektiven Gültigkeit der Kategorien. Obwohl Kant in dem Schematismus die sinnliche Bedingung der objektiven Anwendung der Kategorien als transzendentale Zeitbestimmung feststellt, kann sich die These über die Affinität zwischen Zeit und Denken dennoch nicht wie bei dem antiken Platonismus einfach daraus ergeben, weil die Sinnlichkeit und der Verstand bei Kant nur als zwei voneinander selbständige Erkenntnisvermögen gleichsam äußerlich aufeinander beziehen. Daher muss man, wie zuvor gesagt, die Zufälligkeit der menschlichen Anschauungsformen und besonders der Zeit beseitigen und die eigentliche Bedeutung der Konzeption der Dinge an sich erklären, um die gedachte Affinitätsthese bei Kant zu begründen. Diese Beseitigungs- und Erklärungsarbeit sollen nicht durch die Einführung eines neuen Theorienrahmens (wie die nachkantische Idealisten tun), sondern mithilfe von Gedanken, die bei Kant schon angedeutet werden, durchgeführt werden. Auf dem Grund dieser Affinität wird die Zeit dann als die Vermittlung in der Übertragung der kategorialen Seinsbestimmungen auf die sinnlichen Erfahrungsgegenstände und das Prinzip des Was-Seins dieser Gegenstände erwiesen, indem es
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1 Einleitung
dargestellt wird, wie die Kategorien die ontologische Zeit als die eindimensionale objektive ontische Zeit bestimmen und konstituieren. Sie wird dann als das paradigmatische Seiende erklärt, weil sie als das Rahmenwerk dient, in dem die sinnlichen Dinge bestimmt werden und ihre vielfältigen Seinsbestimmungen erhalten können. Außerdem muss man aber, um das Sein der sinnlichen Dinge vollständig zu bestimmen, noch weiter erklären, was das bestimmende Prinzip des Dass-Seins der Erfahrungsgegenstände bei Kant ausmacht. Durch diese Überlegung endet meine Arbeit mit der Konzeption der spannungsvollen Einheit der Subjektivität bei Kant.
Teil I Die ontologische Zeitkonzeption des antiken Platonismus
Das Verhältnis der Zeit zum Sein des Dings behandelt Platon innerhalb des Rahmens seiner sogenannten Zwei-Welten-Lehre, und vor allem im Kontext des Bezugs der sinnlichen Welt auf die intelligible Welt.1 Platons Einführung der Zwei-WeltenLehre hat unter anderen den Zweck, das Problem der Erkennbarkeit und des Seins der sinnlichen Dinge bzw. der sinnlichen Welt zu lösen, das durch Heraklit und Parmenides in Schwierigkeiten gerät. Für Heraklit steht alles, was in unserer Welt (κόσμος) vorkommt, stets im Wandel, weil alles nicht aufhört, zu entstehen und zu vergehen. Dies gelte nicht nur für die wahrnehmbaren Dinge und Sachen, sondern auch für die Seelen, die diese wahrnehmen. Daher können wir von den Dingen in der Welt nur in dem relativen, nicht in dem absoluten Sinne sprechen.2 Parmenides stimmt mit Heraklit überein in dem wandelnden Charakter der wahrnehmbaren Dinge, obwohl er diese nicht für die wahren Seienden hält.
1Man
pflegt zwar zu behaupten, dass Platon von einer „intelligiblen Welt“ (κόσμος νοητός) im Sinne einer Ideenwelt und einer „sinnlichen Welt“ (κόσμος αἰσθητός) im Sinne von dem Bereich der wahrnehmbaren Dinge redet. Aber beide Termini kommen in Platons Texten eigentlich nicht einmal vor. Erst bei dem Platoniker Philon wird der Gegensatz zwischen einem κόσμος νοητός und einem κόσμος αἰσθητός terminologisch ausdrücklich. Vgl. Runia 1999, pp.154–158. Freilich spricht Platon stets von zwei voneinander unterschiedlichen und getrennten Welten (Vgl. u. a. Phaidon 79a, Politeia VI, 509d, Timaios, 27d–28a), von „dieser Welt hier“ (ὅδε ὁ κόσμος) als der Sinnenwelt (Timaios, 29a2) und von „dem dem Denken zugänglichen Reich und Ort“ (τὸ μὲν νοητοῦ γένους τε καὶ τόπου) als der Ideenwelt (Politeia, VI, 509d2). Daher hat man Recht, das Begriffspaar der intelligiblen/sinnlichen Welt auf die Platon-Interpretation anzuwenden. 2DK 22, B 2: „Obwohl der Logos gemeinsam ist, leben die Vielen so, als ob sie eine eigene Einsicht hätten.“ (Eigene Übersetzung d. Verf.)
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Teil I
Das wahre Seiende entsteht nämlich nicht und vergeht nicht; es „war“ nie und „wird“ nicht sein, sondern ist immer im Gegenwart,3 hat also keinen Anfang und kein Ende. In Gegensatz dazu sind die sinnlichen Dinge nur Phänomena; über die Welt dieser Dinge herrschen zwei Prinzipien, die bei Parmenides nur metaphorisch als „das ätherische Flammenfeuer“ und „die lichtlose Nachte“ ausgedrückt werden.4 Daher stellt sich die Frage nach der Möglichkeit des gesicherten Wissens der sinnlichen Welt: Wenn alles in dieser Welt, wie Heraklit und Parmenides beide meinen, im stetigen Werden steht und nicht aufhört, zu entstehen und zu vergehen, ist es fragwürdig, ob man noch von etwas mit Gewissheit sagen kann. Wenn alles unsicher wäre, könnten wir darum nur schwebende Meinungen haben, die aber mit der Wahrheit nichts zu tun haben. Darum sei ein wahrheitsfähiges Begreifen der Welt auch nicht möglich; von dem Sein der sinnlichen Dinge könne deshalb überhaupt keine Rede sein. In der Zwei-Welten-Lehre Platons wird eine jenseits der sinnlich wahrnehmbaren Welt liegende intelligible Welt konzipiert, die aus den Ideen besteht, von denen die sinnlichen Dinge sowohl ontologisch als auch epistemisch abhängig sind. Sie ist die Welt des Seins, ähnlich wie das wahre Sein bei Parmenides. Aber anders als das parmenideische Sein ist die intelligible Welt nicht einfach und homogen, sondern strukturiert. In Sophistes stellt Platon vermittels der Theorie der wechselseitigen Teilhabe der Ideen, nämlich der Lehre der höchsten Gattungen (μεγίστα γενή), die prinzipiellen Momente der Strukturierung der Ideenwelt auf. Jede Idee ist demnach ein Seiendes (τὸ ὂν), hat Bezugnahme auf die andere (Bewegung, κίνησις), bleibt an sich selbst (Ruhe, στάσις), ist identisch mit sich selbst (Selbigkeit, ταὐτός) und verschieden von den anderen (Verschiedenheit, ἕτερος).5 Die sinnliche Welt muss ihrerseits von der intelligiblen Welt ihre Bestimmungen erhalten, indem die Sinnendinge an den Ideen teilhaben, welche
28, B 8: ουδέ ποτ' ἦν ουδ' εσται, έττει νυν εστίν. 28, B 8, Z. 53–61. Darüber, was genau diese zwei Prinzipien sind und wie sie in der Welt des Phänomens wirken, gibt Parmenides keine Auskunft. 5Platon erhebt hier keinen Anspruch auf die Vollständigkeit in der Aufzählung der höchsten Gattungen (und geschweige denn diese zu beweisen). Cornford ist aus diesem Punkt sogar der Ansicht, dass man nicht von „den“ höchsten Gattungen im Sophistes reden darf. Vgl. Cornford 1951, p. 273 f., n. Obgleich es bei Platon noch unklar bleibt, ob noch andere höchsten Gattungen angenommen werden können, präsentieren sich diese fünf m. E. schon als die unentbehrlichen strukturellen Momente der Ideenwelt. 3DK 4DK
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die Seins- und Denkbestimmungen überhaupt in sich enthalten. Die Theorie dieser einseitigen Teilhabe ist also der Schlüssel, mit dem Platon das Problem des Seins und der Erkennbarkeit der sinnlichen Dinge zu lösen versucht. Dies bedeutet schon, dass die sinnliche Welt sich irgendwie auf die Ideenwelt auf grundliegende Weise beziehen muss. In Timaios bezeichnet Platon mit der bildlichen Redeweise der Kosmogonie, wie sich diese Beziehung grundsätzlich verhält, wo die ontologische Zeit die vermittelnde Rolle in der Übertragung der intelligiblen Struktur und Ordnung der Ideenwelt auf die sinnliche Welt spielt. Dabei zeigt sich implizit die Zeit als das Prinzip für die Bestimmung des Seins der sinnlichen Dinge. Obwohl diese vermittelnde Funktion der ontologischen Zeit bei Platon nur kurz angedeutet und nicht ausgeführt wird, setzt er die Grundrichtung für das Nachdenken über das Verhältnis der Zeit zu dem Sein der sinnlichen Dinge deutlich fest, indem er die ontologische Zeit von allen physikalischen und kosmologischen Zeitverständnissen unterscheidet. Sein Nachfolger und der Gründer des Neuplatonismus, Plotin, ist sich der Wichtigkeit des Zeitbegriffs und dessen Funktion in der Verbindung der beiden Welten ganz klar bewusst und bringt im Rahmen der Geistmetaphysik seinen Zeitbegriff mit anderen ontologischen Grundbegriffen in einen systematischen Zusammenhang, damit er die Weise erklärt, wie die Zeit die beiden Welten miteinander verbindet bzw. zur Bestimmung des Seins der sinnlichen Welt dient. Es lässt sich also sagen, dass Plotin den platonischen Gedanken über das Verhältnis der ontologischen Zeit zu dem Sein der sinnlichen Dinge theoretisiert und vervollständigt. Der vorliegende Hauptteil handelt davon, wie der antike Platonismus, und zwar Platon und Plotin, den Denkmodus aufstellt und vervollständigt, nach dem die ontologische Zeit als Prinzip des Seins der sinnlichen Dinge dient, indem sie eine Strukturgleichheit und Affinität zu der intelligiblen Welt hat und deren strukturelle Ordnung auf die sinnliche Welt überträgt. Dafür werde ich zuerst durch die Erklärung der Konzeption der Ideen und durch eine ontologische Deutung des Liniengleichnisses die Grundgestalt für Platons Überlegungen über das Problem der Bestimmung des Seins der sinnlichen Dinge erklären (Kapitel 2). Danach sind zwei Kernkapitel des vorliegenden Teils: Ich gehe vor allem ausführlich auf die ontologische Zeitkonzeption Platons ein, um seinen Gedanken von der Zeit als dem Prinzip des Seins der sinnenhaften Dinge herauszuarbeiten und die Grundrichtung für das Verständnis der ontologischen Zeit festzustellen (Kapitel 3); und dann betrachte ich, wie Plotin im Rahmen der Geistmetaphysik die Grundgedanken Platons über den ontologischen Zeitbegriff entfaltet und weiter entwickelt, um die These der Affinität zwischen Zeit und dem diskursiven Denken aufzuzeigen und die Grundzüge des Verhältnisses
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der Zeit zum Sein des Sinnlichen in dem antiken Platonismus zu verdeutlichen (Kapitel 4). Dadurch wird versucht, die Lehre von der ontologischen Zeit als dem bestimmenden Prinzip für das Sein der sinnlichen Dinge vollständig aufzubauen. Zum Schluss dieses Hauptteils thematisiere ich, spezifisch um des Übergangs zu dem nächsten Hauptteil willen, den einheitlichen Seinsbegriff der Antike und besonders denjenigen bei Platon, im Vergleich zu dem das Sein der Dinge in der Neuzeit nach zwei Aspekten, dem Was-Sein und dem Dass-Sein, getrennt betrachtet werden muss (Kapitel 5).
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Das Problem der Seinsbestimmung des Sinnlichen bei Platon
Das Problem, wie die sinnlichen Dinge hinsichtlich ihres Seins bestimmt werden, erörtert Platon in seiner Ideenlehre. Nach dieser Lehre erhalten die sinnlichen Dinge durch die Teilhabe an den entsprechenden Ideen ihr Sein. In dem vorliegenden Kapitel geht es vor allem um den Problemkontext, in dem Platon die Ideen als Grundlage des sinnlichen Seins aufstellt, und von diesem Kontext aus möchte ich die Grunddimensionen des Verhältnisses der Ideen zu den sinnlichen Dingen, nämlich die Immanenz und die Transzendenz der Ideen, erörtern. Danach werde ich mittels der Deutung des Liniengleichnisses in Politeia den impliziten Gedanken Platons zeigen, dass die Gegenstände der Dianoia, nämlich die mathematischen Gegenstände, eine vermittelnde Rolle in der Verbindung der Ideen mit den sinnhaften Dingen spielen, was als eine Vorbereitung für weitere Untersuchungen der ontologischen Bedeutung der Seele und der Zeit im nächsten Kapitel dient.
2.1 Immanenz und Transzendenz der Ideen Keine explizite Definition für den Begriff „Idee“ wird zwar von Platon in seinen Dialogen gegeben. Aber in Bezug darauf lässt es sich leicht erkennen, dass das Problem der Idee bei Platon immer mit der Stellung einer definitorischen Frage und mit der Forderung der entsprechenden Antwort zusammenhängt – die Fragen, in der man von etwas fragt, „Was ist es?“, oder tiefer, „Was es selbst ist?“ Wenn man genau auf solche Frage Aufmerksamkeit schenkt, dann sieht man ein, dass
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Liu, Zeit und Sein des Sinnlichen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61924-7_2
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2 Das Problem der Seinsbestimmung des Sinnlichen bei Platon
sie eine definitorische Antwort erwartet, die den Begriff Idee in seiner kürzesten Form skizziert, nämlich: „es selbst, was es ist.“1 Platon stellt seine Lehre von den Ideen in ausdrücklicher Form unter dem Thema der Seelenunsterblichkeit auf,2 indem er von allem handelt, „was wir als ‚dies selbst, was es ist‘ (τὸ ‘αὐτὸ ὃ ἔστι’) bezeichnen, in unseren Fragen, wenn wir fragen, und in unseren Antworten, wenn wir antworten.“3 Damit versucht Platon zu zeigen, auf welchem Grund ein Ding „X“ ist, z. B. auf welchem Grund ein Ding schön ist oder gut ist. Er greift sich dann eine sichersten Antwort, dass das Ding schön ist gerade „durch“ (διά) das Schöne selbst.4 Dieses Wort „durch“, verstandenen als „auf Grund des...“, heißt genauer: „durch das Teilhaben an dem Schönen“ (διότι μετέχει ἐκείνου τοῦ καλοῦ).5 Es ist nun wichtig zu merken, wie man diese Teilhabe und dieses „durch“ verstehen soll, denn dies führt zum Verständnis von dem, was eigentlich eine Idee ist. Grob gesprochen kann dieses „durch“ nach zwei Richtungen weiter erklärt werden, nämlich nach der immanenten und der transzendenten Verständnisweise. In der immanenten Erklärung wohnt die Idee z. B. des Schönen dem schönen Ding inne, anders formuliert, als ein Ausdruck der Bestimmung des schönen Dings. Dabei ist die Idee ein Etwas, das in einem anderen liegt, sei es ein wesentliches „In-Sein“, und zwar eine wesentliche Bestimmung, oder ein nur zufälliges. In der transzendenten Interpretation hingegen steht die Idee des Schönen dem schönen, aber sinnlichen Ding gegenüber und ist von diesem getrennt. Generell werden diese beiden Verständnisweisen als einander entgegen und daher inkompatibel angesehen. Seit Aristoteles’ bekannter Diskussion über den Chorismus der platonischen Ideenlehre wird bei meisten Interpreten der transzendente Charakter der Ideen als die Grundthese von Platon verstanden. Manche modernen Platon-Forschungen sind stattdessen der Meinung, dass der transzendente Charakter Nachteil und Fehler der platonischen Philosophie sei,
1Phaidon,
78d. 100b. 3Phaidon, 75d. Paul Natorp weist richtig darauf hin, dass das Fragen und Antworten hier „nicht bloß eine ‚Rede‘, die das Bewußtsein bei sich führt, ein logos, sondern eine innere Unterredung, ein sich selber Fragen und sich selbst Antwortgeben, ja und nein Sagen, also nicht ein Monolog, sondern ein Dialog in der Seele ist“. Ihm gemäß findet hier eine „Denkkunde“ (hê peri tous logous technê, 90b) oder ein innerer Dialog der Seele statt. Vgl. Natorp 1921, S. 133 f. 4Phaidon, 100d, 105b. Über die sichere Antwort, vgl. auch Vlastos 1973, pp. 76 ff. 5Phaidon, 100c. 2Phaidon,
2.1 Immanenz und Transzendenz der Ideen
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dessen Platon sich selbst schon bewusst worden sei und den er auch endlich durch das immanente Verständnis der Idee überwunden habe.6 Dennoch halte ich den transzendenten Charakter hingegen nicht für fehlerhaft, und ebenso wenig bin ich mit der Inkompatibilität zwischen Immanenz und Transzendenz einverstanden. Vielmehr sind beide Charaktere m. E. für die platonische Ideenlehre notwendig. In der Tat können beide Verständnisrichtungen aus Platons Texten Unterstützungen erhalten, denn Platon selber, wie ich zeigen werde, hat die Idee schon auf zweifache Weise betrachtet.7 Und dies geschieht schon in dem loco classico des Dialogs Phaidon.8 Im Kontext der gerade betroffenen Textstelle in Phaidon (102a–105b) ist eine immanente Verständnisweise der Idee natürlich richtig. Denn in diesem Teil diskutiert Platon ja das eidos in den Dingen, wobei 102a–103c ein zufälliges In-Sein und 103d–105b das wesentliche in Betracht ist. Hier nennt Platon zwar eidos
6So
ist es in Paul Natorps bahnbrechendes Werk Platons Ideenlehre. Er sieht den doppelten Charakter der Ideen in Phaidon als ein „Schwanken“, das am Ende des Phaidon und dann in Symposium überwunden worden ist: „Wir setzen das Gastmahl nach dem Phaedo, mit dem es jedenfalls eng zusammengehört, hauptsächlich aus diesem Grunde: Im Phaedo war, was das Verhältnis der Idee zur Erscheinung trifft, immerhin ein Schwanken zwischen starrer Absonderung und strenger methodischer Beziehung, zwischen ‚Transzendenz‘ und ‚Immanenz‘ zu beobachten, so sicher im Schlußteil die Immanenz den Sieg behielt. Im Gastmahl ist jede Zweideutigkeit in dieser Hinsicht überwunden, die Immanenz in völliger Reinheit durchgeführt und recht absichtlich zum Mittelpunkt der Darstellung gemacht.“ (Natorp 1921, S. 167) Er gründet seine Behauptung in seiner Interpretation des definitorischen „Fragen und Antwort“ als innerer Rede der Seele (vgl. S. 134, das Sein der Idee sei auch selbst nur ein „Sein in der logisch gegründeten Antwort auf die Frage: Was ist das Schöne, Gute, usf.“), die ich zuvor gezeigt habe. Aber diese Begründung geht m. E. zu weit, denn, wie ich zeigen werde, die Auffassung der Ideen als bloß immanente Ideen ist nur einseitig. 7Dies hat nichts zu tun mit einer Interpretation der Verschiedenheiten in Textbelegen als einer chronologischen Gedankenveränderung (von Immanenz zu Transzendenz oder umgekehrt) bei Platon selbst. Diese Interpretation wird von Eric Perl mit Recht zurückgewiesen. Vgl. Perl 1999, und vgl. besonders p. 340: “The movement from the early to the middle dialogues, then, is not the rejection of one position and the adoption of another, but simply the express articulation of what was implicit in the original position. Thus we find, not a fundamental change in Plato's thought from one period to another, but a single consistent and coherent theory of forms which is developed throughout these dialogues.” 8Gail Fine ist der Meinung, dass Platon in Phaidon die Ideen als in dem Sinnending betrachtet. Vgl. Fine 1986. Ganz in Gegenteil steht Daniel Devereux, der glaubt: “[F]rom the Phaedo on, he [sc. Plato] denies that Forms are immanent in their participants.” Vgl. Devereux 1994, hier p. 63.
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2 Das Problem der Seinsbestimmung des Sinnlichen bei Platon
und idea,9 aber offenbar nicht in dem Sinne einer transzendenten Idee, einer „Idee selbst“, sondern einer dem Ding immanenten Bestimmung. Außerdem geht es zwar in 103b (wo Sokrates auf den Zweifel eines ungenannten Gesprächspartners erwidert) um das „Entgegengesetzte“ (τὸ ἐναντίον) selbst (περὶ ἐκείνων αὐτῶν), nämlich um das eidos selbst, weil „durch dessen Dasein das Genannte seine Benennung erhält“; aber dieses soll hier auch nicht als eine Idee in dem transzendenten Sinne verstanden werden, denn seine Anwesenheit in der Dinge beweist schon seinen nicht-transzendenten Charakter: es kann aufdrängen (ἐπιούσης) und vergehen (ἀπολλύμενα), was für eine transzendente Idee nicht möglich ist. Die immanente Idee, das eidos, unterscheidet sich also einerseits von dem werdenden Ding, dem diese immanente Idee innewohnt, und andererseits natürlich auch von der transzendent verstandenen „Idee selbst“ in der Ideenlehre. Aber es ist doch klar, dass bei Platon auch immer noch von der transzendenten Idee als dem X selbst, wie z. B. dem Schönen selbst, die Rede ist. Insbesondere ist es zu bemerken, dass Platon im einleitenden Wort für den Teil 99d–102b eine sogenannte „Hypothese“ (ὑποθέμενος) aufstellt, dass es die Idee an sich selbst wirklich gibt.10 Diese „Hypothese“ soll, wie Gadamer richtig betont, nicht von der Sicht der heutigen Naturwissenschaften verstanden werden, nach der sie an der Erfahrung erst geprüft wird, sondern sie soll umgekehrt der Prüfstein der Erfahrung sein, der freilich unabhängig von den sinnlichen Dingen ist.11 Außerdem kann durch den Unsterblichkeitsbeweis im der ersten Hälfte des Dialogs (wo Platon von seiner Wiedererinnerungslehre redet)12 und die Ergänzung zu diesem Beweis in dem Teil 105b–106d geschlossen werden, dass die von dem Körper unabhängige Seele mit dem speziellen Gebiet der transzendenten Ideenwelt in eins verbunden ist, obwohl die Seele selbst nicht der Ideenwelt gehört. Laut Platon haben die Dinge dann an der Idee selbst teil13, um nach dem Schönen selbst ein Ding überhaupt schön zu nennen. Dieses „Schöne
9Vgl.
jeweils 104c7 und 104b9, d2, d9. 100b: „ὑποθέμενος εἶναί τι καλὸν αὐτὸ καθ᾽ αὑτὸ καὶ ἀγαθὸν καὶ μέγα καὶ τἆλλα πάντα.“ („Ich setze also voraus, daß es ein Schönes an ihm selbst gibt und ein Gutes und ein Großes und all das.“, Gadamers Übersetzung in Gadamer 1986, S. 23.) 11Vgl. Gadamer 1986, S. 76: „Die Hypothese des Eidos dagegen wird nicht geprüft, sondern auf ihre Konsequenzen hin entwickelt, um selbst den Prüfstein zu bilden, an dem die Sachangemessenheit von Rede und Argumentation sich prüfen lassen muß.“ 12Phaidon, 72ff. 13Phaidon, 100c. 10Phaidon,
2.1 Immanenz und Transzendenz der Ideen
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selbst“ ist deshalb nicht mehr eine immanente Idee, sondern eine transzendente Idee. Daher bilden die Ideen einen ontologischen Bereich, der von der Welt der sensiblen Dinge unterschieden ist. Die Unabhängigkeit der Ideen von den sinnlichen Dingen zeigt gerade die Transzendenz derselben. Diese Transzendenz stellt ein Überstiegsverhältnis, deshalb auch ein selbstständiges Seinsbereich jenseits der wahrnehmbaren Dingen dar.14 Eben in diesem Sinne redet Platon von den „zwei Arten zu sein“ (δύο εἴδη τῶν ὄντων).15 Die Ideen sind dann immer sich gleich verhaltend, eingestaltig (μονοειδές), unverändert, an sich selbst bleibend, unteilbar (ἀδιαίρετον), und schließlich transzendent sein.16 Und eben „aus“ den transzendenten Ideen „besteht“ derjenige Bereich, der bei Platon „der dem Denken zugängliche Reich und Ort“ (τὸ μὲν νοητοῦ γένους τε καὶ τόπου)17 oder „außerhalb des Himmels“ (ἔξω τοῦ οὐρανοῦ)18 ist und in der Forschungsliteratur üblich „die Ideenwelt“ oder „die intelligible Welt“ genannt wird. Wie viele Textbelege für eine immanente Interpretation der Idee man bei Platon finden mag und wie sehr diese Interpretation mit irgendeiner bevorzugten philosophischen Absicht übereinstimmen mag, ist die transzendente Dimension der Idee bei Platon nicht zu leugnen. Die Immanenz und die Transzendenz der Ideen sind nicht inkompatible, sondern sie zeigen zwei Aspekte der Ideen, die miteinander vereinigt werden können und müssen. Das In-Sein der Ideen schadet dem transzendenten Charakter derselben nicht, und ebenso wenig umgekehrt; vielmehr können die immanenten Ideen in der Tat erst durch die Teilhabe an den transzendenten Ideen, welche ihrerseits mit gewissen strukturellen Momenten eine Ideenwelt konstituieren, ihre Inhalte gewinnen. Daher gründet sich die Leistung und Bedeutung der immanenten Ideen sozusagen in den transzendenten. Wie findet dies eigentlich statt, ist in der Tat gerade das Problem, wie die intelligible Struktur der Ideenwelt auf die sinnlichen Dinge übertragen wird, damit diese ihr Sein und ihre Bestimmungen erhalten. Ich werde in dem nächsten Abschnitt mithilfe der Deutung des Liniengleichnisses in Politeia die διάνοια und die mathematischen Gegenstände als das Medium dieser Ü bertragung
14Jens Halfwassen nennt diese Transzendenz die „graduelle Transzendenz“, die in Unterschied zu der absoluten oder reinen Transzendenz, die eine radikale Jenseitigkeit des Einen darstellt, steht. Vgl. Halfwassen 2015, S. 29. 15Phaidon, 79a6. 16Vgl. Phaidon, 102b, 103b. 79a. 17Politeia, VI, 509d2. 18Phaidros, 247c2.
16
2 Das Problem der Seinsbestimmung des Sinnlichen bei Platon
v orläufig zeigen, und dann in dem nächsten Kapitel diese durch διάνοια vermittelte Übertragung in der Analyse der ontologischen Zeitkonzeption Platons näher untersuchen.
2.2 Die Stelle der Dianoia in der Bestimmung des Seins des Sinnlichen Die Übertragung der intelligiblen Struktur der Ideenwelt auf die sinnlichen Dinge betrifft in der Tat das Problem der Beziehung der intelligiblen Welt auf die sinnliche. Platon hat auf verschiedene Weisen von dieser Beziehung gesprochen. Aber im Liniengleichnis in der Politeia zeigt sich ein spezifischer Gedanken Platons, nach dem das dianoetische Denken (διάνοια) mit seinen Gegenständen, nämlich den mathematischen Gegenständen, das Medium zwischen der wahren Erkenntnis und der Meinung ist, was dann dazu führen kann, dass die Seele, deren Denkweise eben dieses dianoetische Denken ist, als Vermittlung dient und jene genannte Beziehung zwischen beiden Welten zustande bringt. Dieser Gedanke hat dann aufschlussreiche und einleitende Bedeutung für die Untersuchung über das Verhältnis der Zeit zu dem Sein der Dinge bei Platon, das ich in der vorliegenden Arbeit thematisieren möchte. Daher mache ich hier eine Erläuterung zu diesem Gedanken als Vorbereitung für die Arbeit des nächsten Kapitels. In dem Liniengleichnis wird die gesamte Sphäre aller Wirklichkeit in einer Linie repräsentiert, die ihrerseits senkrecht als zwei Hauptteile geteilt wird, denen jeweils der sichtbare Bereich und der denkbare von unten nach oben der Proportion gemäß zuordnen. Darin werden sie weiter unterteilt nach der gleichen Proportion in zwei Teile. So haben wir vier Linienabschnitte.19 Es gibt aber in der Platon-Forschung Meinungsverschiedenheit darüber, was Platon mit diesem Gleichnis eigentlich meint. Soll es unmittelbar als eine Unterscheidung der Seinsbereichen gedeutet sein,20 oder bedeutet es eher eine Unterscheidung der Wissensformen oder der Einstellungsmodi?21 Im ersten Fall wird die Linie in den sichtbaren Bereich und den denkbaren Bereich, ferner in Schatten, sinnliche Dinge, mathematische Gegenstände und Ideen eingeteilt,
19Politeia, VI,
509d–510a. Ross z. B. hält das Liniengleichnis für eine gute Symbolisierung der Kontinuität der Seinsstufen. Vgl. Ross 1951, S. 47 f. 21Diese Deutung vertritt Wolfgang Wieland. Vgl. Wieland 1999. 201 ff. 20David
2.2 Die Stelle der Dianoia in der Bestimmung des Seins des Sinnlichen
17
während sie im zweiten Fall zunächst in δόξα und νόησις, ferner in εἰκασία, πίστις, διάνοια und νόησις eingeteilt wird. Beide Deutungen scheinen zurecht zu sein, und es sieht auch so aus, dass Platon die Linienabschnitte auf zweifache Weise betrachtet, nämlich sowohl als Gegenstandsbereiche wie auch als die diesen entsprechenden Wissensformen. Aber dieser Deutungsstreit betrifft eigentlich ein tiefer liegendes Problem, das mit dem Thema der vorliegenden Arbeit eng zusammenhängt, nämlich das Problem, ob das in dem dritten Linienabschnitt Demonstrierte als ontologisch anerkannte Gegenstände betrachtet werden soll, d. h., ob der dritte Linienabschnitt wirklich auf die eigenständige Existenz der mathematischen Gegenstände hinweist.22 In dem Dialog kommt diesem dritten Abschnitt die Funktion der Vermittlung zu, explizit in Politeia 511d4, weil die ihm entsprechende Wissensform διάνοια zwischen δόξα und νοῦς steht.23 So kann man mit Recht sagen, dass ihre entsprechenden Gegenstände, nämlich die mathematischen Gegenstände, auch diese vermittelnde Funktion haben. Aber es ist fragwürdig, ob dies schon zugleich bedeutet, dass dieser Vermittlung eine eigenständige Seinsstufe zukommt? Gegen diese Eigenständigkeit der mathematischen Gegenstände ist zuerst ein Punkt sehr bemerkenswert: In der Konstruktionsvorschrift, die Platon für die Einteilung der Linie angibt, sind der zweite Abschnitt (Symbol für πίστις oder sinnliche Dinge) und der dritte Abschnitt (Symbol für διάνοια oder mathematische Gegenstände) gleichlang. Dies können wir einfach ausrechnen.24 Obwohl Platon nicht explizit erwähnt hat, dass die beiden genannten Abschnitte gleichlang sind, kann man aufgrund Platons stetiger Betonung der Wichtigkeit der Mathematik mit Recht vermuten, dass Platon dies absichtlich konstruiert.25 Die Bedeutung davon, dass diese zwei Abschnitte gleichlang sind, kann man dann so interpretieren, dass die Gegenstände in beiden Abschnitten miteinander zusammenfallen können, oder zumindest in Extension äquivalent sind. Bei diesem Fall
22Vgl.
Ross 1951. 45 ff. 511 d4: ὡς μεταξύ τι δόξης τε καὶ νοῦ τὴν διάνοιαν οὖσαν. 24Nehmen wir an, dass die Längen der vier Linienabschnitte jeweils a, b, c und d sind. Nach der Konstruktionsvorschrift wird gegeben, dass a:b = c:d = (a + b):(c + d). Wir nehmen das Verhältnis a:b als 1:n. ∵a:b = c:d = 1:n, ∴b = a·n, d = c·n. ∵(a + b):(c + d) = 1:n, ∴c + d = a·n + b·n = a·n + a·n2 = a·n·(n + 1). ∵c + d = c + c·n = c·(n + 1), ∴a · n·(n + 1) = c · (n + 1), ∵c = a · n = b. 25Vgl. Wieland 1999, S. 203, 209, auch Ross 1951, p. 45. 23Politeia,
18
2 Das Problem der Seinsbestimmung des Sinnlichen bei Platon
handelt es dann für beide Abschnitte um einen identischen Gegenstandsbereich, und der Unterschied zwischen beiden Abschnitten gilt deshalb nur als ein Unterschied der Funktionen, nicht der Gegenstandsbereiche.26 D. h., während es bei dem zweiten Abschnitt direkt um die sinnlichen Dinge geht, geht es beim dritten Abschnitt nicht mehr direkt um diese Dinge selbst, sondern nur um ihre Funktion als die Abbilder von der Intelligiblen. Der zweite wichtige Kritikpunkt zum Problem der Eigenständigkeit der mathematischen Gegenstände ist, dass das im dritten Abschnitt Gezeigte, so sagt Platon, durch „Hypothese“ behandelt. wird.27 Das Wort „Hypothese“ darf nicht in seinem heutigen Sinne als ein Satz verstanden werden, die sich verifizieren oder falsifizieren lässt. Es geht hier vielmehr um die Gegenstände, nämlich um die geometrischen Figuren, auf die sich die mathematischen Sätze beziehen und mittels deren ein Mathematiker diese Sätze formuliert.28 Jede dieser Hypothesen wird also auf die Sensiblen des zweiten Abschnitts angewiesen sein, sofern die Möglichkeit der Mathematik nur mithilfe dieser wahrnehmbaren Dinge als Bedienungsmittel, nämlich als Abbilder,29 eröffnet wird. Nicht nur so, sondern die ganze Wissensform von dem dritten Abschnitt, die διάνοια, muss auch auf die Sensiblen angewiesen sein.30 Aber dies darf auch nicht so missverstanden werden, dass die Hypothesen an den Sensiblen gehaftet sind. Denn in dem dritten Abschnitt als einem Bereich über den sinnlichen Dingen zielt die Wissensform διάνοια hier eigentlich auf das Intelligible hin, wobei die sinnlichen Dinge nur als ein Hilfsmittel dienen, den perfekten Intelligiblen näher zu sein. Also bleibt man in dieser dianoetischen Wissensform nur bei den Hypothesen stehen und steigt nicht zu den Prinzipien (ἀρχαί) auf, die über den Hypothesen liegen. Aber man verkennt dabei diese Hypothesen andererseits als die Prinzipien. Der Grund dieser Verkennung liegt darin, dass die Hypothesen in
26Vgl.
Wieland 1999, S. 208 f. 511a. 28Vgl. Wieland 1999, S. 209: „Der Geometer macht in diesem Sinne eine Hypothese, wenn er ein bestimmtes Ding aus dem Bereich der sensiblen Welt als Kreis bezeichnet und es als Abbild dessen behandelt, im Blick auf das er seine Sätze formuliert und beweist. Die hier gemeinten Hypothesen sind also durchaus keine Sätze; sie sind etwas, was der Mathematiker bereits zugrunde gelegt und vorausgesetzt hat, wenn er auch nur einen Satz aus dem Bereich seiner Disziplin formuliert.“ 29Vgl. Politeia, 510b4. 30Dabei ist die Wissenschaften Mathematik und Geometrie nur die Beispiele dieser Wissensform. 27Politeia,
2.2 Die Stelle der Dianoia in der Bestimmung des Seins des Sinnlichen
19
der Tat nicht über sich hinausgehen und nach ihren höheren Prinzipien hinterfragen können, um sich selbst als bloße Hypothese zu behandeln.31 Nur in einer höheren Wissensform, nämlich in der νόησις, kann man die Hypothesen nicht als Prinzipien, sondern wahrhaft als Hypothesen betrachten, die einerseits auf die sinnlichen Gegenstände angewiesen sind und andererseits als „Einschritts- und Anlaufungspunkte“ fungieren, mit denen man zu den Prinzipien gehen kann.32 Deswegen ist es festzustellen, dass die Gegenstände der Dianoia zwar gleichsam auf eine eigenständige Realität hinzuweisen scheinen, dass ihnen selbst in der Tat aber keine eigene Existenz zukommt. Daraus kann man einsehen, dass die von dem dritten Abschnitt repräsentierten Gegenstände keinen eigenständigen Seinsbereich bildet. Dies bedeutet schon, dass es im Liniengleichnis mehr um die Einteilung der Erkenntnisformen bzw. der Erkenntnisgegenstände als um eine Kontinuität der Seinsstufe geht. In der Tat scheint eine andere Teilungsmöglichkeit vernünftiger als das hier Angegebene, wenn Platon hier wirklich die Kontinuität der Seinsstufe direkt behandeln wollte – eine andere Teilungsmöglichkeit, z. B. nach einer geometrischen Reihe, in der jeder Abschnitt in gleicher Proportion zu seinem Vor-Abschnitt steht.33 Dann könnten die Linienabschnitte vermittels ihrer spezifischen Längen die verschiedenen Gegenstandsbereiche repräsentieren, anstatt dass der zweiten und der dritten Abschnitt gleichlang sind, wie in dem gegebenen Liniengleichnis. Außerdem ist es auch zu sehen, dass Platon bei den ersten beiden Abschnitten eigentlich immer von der Meinung und nicht von der Wahrnehmung redet.34 Die Wahrnehmung ist nämlich in der Tat keine Wissensform, sofern ein Wissen immer die Dinge als etwas Bestimmtes auffasst.35 So sind die Korrelaten der beiden Abschnitte keine Wahrnehmung, sondern die Meinung über die wahrnehmbaren Dinge, der aber noch das Element des Urteils hinzugefügt werden muss (obwohl der ersten Abschnitt noch kein klares und eigentliches propositionales Urteil ist). Das heißt wiederum, dass die Linienabschnitte und die
31Hier
wird die Traummetapher von Platon ins Spiel gebracht, wonach der Träumende das nur Traumhaftes als Reales betrachtet. Vgl. Politeia, 533b–c. 32Vgl. Politeia, 510b–511b. 33Die Proportion der Längen der vier Linienabschnitte wird in einer geometrischen Reihe als z. B. a:b:c:d = 1:2:4:8 festgelegt. Diese Teilungsmöglichkeit gibt Wolfgang Wieland an. Er hält sie für zweckmäßiger, wenn es im Liniengleichnis wirklich um den vierstufigen Modus der Wirklichkeiten gehen würde. Vgl. Wieland 1999, S. 203. 34Vgl. Politeia, 511e. 35Vgl. Wieland 1999, S. 204 f.
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2 Das Problem der Seinsbestimmung des Sinnlichen bei Platon
Linienteilung in der Tat nicht die Seinsstufe symbolisieren, sondern nur die entsprechenden Gegenstände der verschiedenen Wissensformen darstellen. Dies erklärt auch die Aussage, die Platon am Ende des sechsten Buches der Politeia gibt: „Die vier Abschnitte des Seins sind die vier in der menschlichen Seele davon herrührenden Zustände“.36 Mit einem Wort können wir von der Erläuterung des Liniengleichnisses folgende Konklusionen ziehen: (1) Die sinnlichen Dinge als Gegenstände der πίστις und die mathematischen Figuren als Gegenstände der διάνοια haben den gleichen Umfang und gehören wahrscheinlich zu demselben Gegenstandsbereich; (2) Die Gegenstände der διάνοια machen keine eigenständige Seinsstufe aus, sondern sie sind „Hypothesen“, die einerseits auf die sinnlichen Dinge angewiesen sind und andererseits auf die intelligiblen Gegenstände (die Ideen) zielen. Sie dienen daher als Vermittlung zwischen den Sensiblen und den Ideen. Aus ihnen besteht sozusagen eine Quasi-Seinsstufe, die zwar existiert, aber nicht selbständig. Darüber, wie man diese von den mathematischen Gegenständen und dem Seelenvermögen διάνοια gespielten Vermittlungsrolle verstehen soll, werde ich in dem nächsten Kapitel mittels der ontologischen Zeitkonzeption Platons in Timaios eine Erläuterung geben.
36Politeia, VI,
511d.
3
Die ontologische Zeitkonzeption und ihre vermittelnde Leistung in der Übertragung des Intelligiblen auf das Sinnliche bei Platon
Um zu verstehen, auf welche Weise die ontologische Zeit in der Übertragung der intelligiblen Struktur der Ideenwelt auf die sinnlichen Dinge eine vermittelnde Rolle spielt, muss man auf das Zeitverständnis Platons eingehen. Von der Zeit spricht Platon unter anderen Dialogen vor allem in Timaios, und zwar in dem Kontext der Kosmogonie. Dies führt zum Missverständnis in der P laton-Forschung, Platon spreche von der Zeit nur in der Kosmologie und besonders nur auf mythische Weise. Dieses Missverständnis verstärkt sich wegen der „bildlichen Redeweise“ (εἰκώς λόγος), die Platon in Timaios gebraucht, sofern man sie fälschlicherweise mit etwas Mythischem und mithin Unrealistischen gleichsetzt. Ich bin aber der Ansicht: Obwohl der Zeitbegriff Platons in Timaios nach verschiedenen Richtungen interpretiert werden kann, ist es aber eben die ontologische Funktion der Zeit in der Übertragung der intelligiblen Struktur der Ideenwelt auf die sinnlichen Dinge, welche die wahre und wesentliche Absicht Platons bei der Rede der Zeit ist, wobei die kosmogonische Zeitauffassung nur als Hilfsmittel zur Darstellung dieser Absicht fungiert. Da nun wegen der ambivalenten Redeweise über die Zeit in Timaios viele komplizierten Forschungsdiskussionen über dieses Problem entstanden sind, ist es für meine Arbeit nötig, vermittels der Auseinandersetzung mit einschlägigen Interpretationen ein richtiges Verständnis von dem platonischen Zeitbegriff herauszuarbeiten. In diesem Kapitel werde ich zur Vorbereitung für folgende Untersuchungen zuerst den Gebrauch der bildlichen Rede in Timaios als rechtfertigt beweisen. Dann werde ich die Definition der Zeit, die Platon gibt, als Ausgangspunkt nehmen und vermittels der Feststellung der Bedeutung des Begriffs der Ewigkeit, die Platon als Urbild der Zeit bestimmt, eine Basis für weitere Erörterungen geben. Und dann werde ich den platonischen Zeitbegriff am © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Liu, Zeit und Sein des Sinnlichen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61924-7_3
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3 Die ontologische Zeitkonzeption und ihre vermittelnde Leistung …
Leitfaden der Bewegung der Zeit nach verschiedenen Aspekten – dem Verhältnis zwischen Zeit und Weltseele, den Formen der Zeit („was“ und „wird-sein“), der Bewegungsweise der Zeit und dem Verhältnis der Zeit mit der Zahl – erläutern, um schließlich zum Grundgedanken in Platons Ontologie zu kommen: Die ontologische Zeit ist die Vermittlung für die Übertragung der intelligiblen Struktur der Ideenwelt auf die sinnlichen Dinge und macht daher das Prinzip des Seins der sinnlichen Dinge aus.
3.1 Eine vorbereitende Bemerkung: Rechtfertigung der „bildlichen Rede“ bei Platon Platon verwendet überall, und besonders in dem bekannten Höhlengleichnis, ein Paar der Termini zur Beschreibung des Verhältnisses der zwei Welten: Urbild/ Abbild.1 Obwohl Platon in Politeia bekanntlich schon eine Memisis-Kritik, und zwar eine Bild-Kritik, geübt hat, ist es doch unleugbar, dass das Urbild/AbbildVerhältnis für die Ontologie Platons und sogar für seine ganze Theorie wesentlich. Denn der Schwerpunkt der platonischen Kritik an der Nachahmung liegt tatsächlich darin, dass man dabei getäuscht wird, so dass er einfach die Abbilder für die wahrhaften Dinge halten. Das Problem bei der Nachahmung ist deshalb nur, dass man sich täuschen wird, indem man die Erkenntnis und die Nachahmung nicht voneinander unterscheiden kann.2 Aber außer diesem Punkt ist die Benutzung des Ausdrucks „Bild“ oder „Abbild“ nicht nur zu Recht, sondern er gilt genau als der theoretische Anhaltspunkt für Platons Ontologie und seine Ideenlehre.3 In der Tat muss man einsehen, dass genau dieser gedankliche Leitfaden der beständigen Nachahmung und Abbildung die Verbindung zwischen der intelligiblen und der sinnlichen Welt bei Platon charakterisiert. Denn es ist eben die Nachahmung des Urbildes (der intelligiblen Welt), welche jene Verbindung erst erstellt. So ist die Frage, wie die Vermittlung der intelligiblen Seinsbestimmungen an die sinnlichen Dinge überhaupt möglich ist, bei Platon zugleich die Frage, wie die sinnlichen Welt die urbildliche intelligible Welt „nachahmt“.
1Vgl.
z. B. Politeia, VI 516a. Politeia, 598b f. „διὰ τὸ αὐτὸς μὴ οἷός τ᾽ εἶναι ἐπιστήμην καὶ ἀνεπιστημοσύνην καὶ μίμησιν ἐξετάσαι.“ 3Vgl. Robinson 1953. S. 218 ff., auch Wieland 1999. 206 f. 2Vgl.
3.1 Eine vorbereitende Bemerkung: Rechtfertigung …
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Bemerkenswert ist es sogar, dass Platon immer mit der „bildlichen“ Rede und Ausdrucksweise spricht, wenn er die verschiedenen Seinsstufen zu charakterisieren versucht. Dies zeigt sich besonders klar in dem Dialog Timaios, wenn er unsere Welt als Abbild (ὄντος εἰκόνος) betrachtet.4 Das Wortwahl „bildliche Rede“, εἰκώς λόγος, ist sehr ambivalent. Es ist in der Platon-Forschung ein interessantes Thema, ob es in diesem Ausdruck εἰκώς um probabile oder verisimile handelt, genauer gesagt, ob er eine höchste Möglichkeit oder eine Ähnlichkeit bedeutet. Wenn εἰκών ins Deutsch als „das Wahrscheinliche“ übersetzt wird, drückt es vielleicht gerade das Richtige aus, sofern man an die eigentliche Bedeutung des Worts „wahrscheinlich“ und nicht an seiner heute vorläufigen Bedeutung denkt. Von der etymologischen Betrachtung bedeutet εἰκώς nicht zuerst „eine mehr oder weniger begründete Vermutung“ (und zwar als probabile), sondern „das der Wahrheit Verwandte, das ihr ähnlich ist“, und zwar verisimile.5 Nach Boehmes Untersuchung deuten sowohl die Texte, in denen die Bedeutung von probabile benutzt wird, als auch die Tradition, zu der Platon und sein Wortgebrauch gehört, darauf hin, dass die Erzählungsweise in der „bildlichen Rede“ nicht eine unsichere Vermutung, sondern die Ähnlichkeit der beiden Welt (in einem Urbild/Abbild-Verhältnis) betrifft. Dieses scheinbare oberflächliche Problem der Wortbedeutung enthält deshalb reiche Gehalte, die sogar die ganze Naturlehre Platons mitbestimmen. Das Wort εἰκών besitzt auch deshalb statt einer spielerischen Funktion ein ontologisches Verhältnis.6 Wenn nun Platon in der Tat eine bildliche Ausdrucksweise benutzt, vor allem in dem Dialog Timaios, ist es fragwürdig, was Platon in einer solchen Rede eigentlich meinen will. In Kratylos findet man einige Bemerkungen zu der Nachahmung im Allgemeinen, die für die Erklärung des Verhältnisses zwischen dem Urbild und dem Bild und mithin auch für das Verständnis der bildlichen Redensweise erwähnenswert sind.7 Der erste Punkt ist, dass das Bild in 4Vgl.
Timaios, 29b–d. Boehme 1974, S. 18 ff., hier S. 19. 6Es könnte doch eingewendet werden, dass der εἶδος in der Rhetorik deutlich auch als probabilis verstanden wird, wie in Phaidros 266e. Dennoch ist eine übliche Rhetorik, die von der „wahren“ Rhetorik zu unterscheiden ist, praktisch orientiert und, nach Platons Maßstab der auf der Dialektik beruhenden wahren Rhetorik, gerade als reine rhetorische Technik zu kritisieren. So soll der εἶδος als „Wahrscheinlich“ im Timaios als „verisimilis“ verstanden werden. Vgl. Mesch 2003. S. 163 ff. 7Das Hauptthema dieses Dialogs sind die Sprache und ihre Nachahmung und das Problem der richtigen Benennung. Platon bezieht die Benennung oft auf das Bild, das ein wahrhaftes Ding nachahmt. Er hat hier einen eher positiven Eindruck über das Bild und seine 5vgl.
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3 Die ontologische Zeitkonzeption und ihre vermittelnde Leistung …
der Tat etwas Richtiges in sich enthält, wenn es etwas nachahmt.8 Aber gerade dazu kommt der zweite Punkt, dass es nicht so perfekt wie das, was es nachahmt, weil es nicht identisch mit dem Nachgeahmten sein kann, auch wenn es viele Einstimmigkeiten mit seinem Urbild teilt. Denn sonst könnte das Bild nicht mehr von seinem Urbild unterschieden werden und stände mit diesem in einer numerischen Identität.9 So ist es festzustellen, dass das Bild wegen seiner speziellen Eigenschaft des Mediums dem Urbild nicht vollkommen nachahmen kann10 und folglich ontologisch seinem Urbild untergeordnet sein muss. Außerdem muss das Medium des Bildes drittens auch dem Urbild möglichst ähnlich sein, um das Urbild viel besser zu repräsentieren als ein herkömmlich verstandenes Symbol.11 Und schließlich soll das Bild eine wesentliche Nachahmung sein. Denn eine äußerliche Nachahmung ist doch noch nicht der richtige Weg, ein Ding nachzuahmen, sofern es könnte sein, dass sie nur die zufälligen Qualitäten des Dings betrifft, wie eine Farbe oder ein Klang. Um dem Ding einen Namen zu geben, muss es deshalb etwas Essentielles betreffen, nämlich das Wesen eines Dings (οὐσία). So soll eine richtige Nachahmung des Bilds, eine besondere Art von Nachahmung12, auch tief in das Wesen des Dings eingehen.13 Diese vier Bemerkungen über das Verhältnis zwischen dem Urbild und dem Abbild zeigt die wesentlichen Merkmale, die dasjenige U rbild/Abbild-Verhältnis, das als Voraussetzung der Ausdrucksweise von Timaios gilt, noch an sich trägt. Sie sind besonders wichtig für die Kosmologie in dem Timaios, weil es bei dieser nun um den ganzen Kosmos (die gesamte sinnliche Welt) und seine Nachahmung von der ganzen Ideenwelt – nicht mehr nur eine einzelne Idee und ihr nachahmendes einzelnes Abbild – geht14 und die größtmögliche Ähnlichkeit
Beziehung aufs Urbild erörtert, obwohl er endlich noch den gleichen Schluss gezogen hat, wie in der Politeia, dass man besser tun soll, die Dinge von ihnen selbst zu erkennen, nicht von ihrem Bild. 8Platon, Kratylos, 432c, εἰκόνος ὀρθότητα. 9Kratylos, 432b, d. „ἀλλὰ τὸ ἐναντίον οὐδὲ τὸ παράπαν δέῃ πάντα ἀποδοῦναι οἷόν ἐστιν ᾧ εἰκάζει, εἰ μέλλει εἰκὼν εἶναι.“ 10Vgl. Mesch 2002, auch Mesch 2003, S. 147 ff. 11Kratylos, 435c. „ὁμολογίαν καὶ συνθήκην“. 12Anstatt der Art der Kunst, die auch in dem Dialog erwähnt ist, wobei sie hauptsächlich mit den Qualitäten zu tun hat. Vgl. Kratylos, 423d. 13Vgl. Robinson 1953, p. 230 f. 14Vgl. Halfwassen 2000.
3.2 Die Definition der Zeit in Timaios
25
zwischen dem Urbild und dem Abbild des Kosmos betrifft. So ist der Kosmos als das Abbild auch tief in das Wesen der Ideenwelt einbezogen. Obgleich der Kosmos aus der Materie und deshalb den Körpern als seinem Medium besteht, gilt er doch als das zwar unvollkommene, aber größtrichtige Abbild der Ideenwelt. Er ist deshalb als das Werden dem Sein in der Ordnung der Seinsstufen untergeordnet, dennoch das einzige, weil er das Schönste und Vollkommenste neben der Ideenwelt ist. Mit dem Begriff der Bildlichkeit ist festzustellen, dass die Verbindung der sinnlichen Welt mit der intelligiblen bei Platon im Wesentlichen so verstanden werden soll, dass die sinnliche Welt im Ganzen bzw. der Kosmos mit der größtmöglichen Ähnlichkeit die Ideenwelt nachahmt. In Timaios kann man aber weiter entdecken, dass die Weltseele und die Zeit, die ihre Bewegung ist, in dieser Nachahmung eine entscheidende Rolle spielen, wie Platon im Kontext der Kosmogonie erzählt. Im Folgenden werde ich mich auf den Zeitbegriff Platons in Timaios konzentrieren, und zwar auf seinen ontologischen Aspekt, woraus man die Funktion der Zeit für die Übertragung der intelligiblen Bestimmungen auf die sinnliche Welt mithilfe von Platons Andeutungen herauslesen kann.
3.2 Die Definition der Zeit in Timaios Man fragt sich zuerst, wieso Platon überhaupt über die Zeit schreibt. Man kann in Timaios sehen, dass der Textabschnitt über die Zeit unmittelbar nach dem Abschnitt folgt, wo Platon das Konstrukt der Weltseele einigermaßen konkret erläutert und diese in der Mitte des Körpers des Kosmos setzt, indem er die beiden (Weltseele und Kosmos) miteinander durchdringen und die Weltseele dem Kosmos das Leben schenken lässt.15 Im Anschluss daran, sagt Platon, möchte der „erfreute Demiurg“ es weiter treiben, damit dieses Geschaffene seinem Urbild ähnlicher ist. Eben auf dieser Grundlage führt Platon die Erzählung der Entstehung der Zeit ein. So hat die Erörterung der Zeit in diesem Zusammenhang den Zweck, einerseits die Kosmogonie darzustellen, was von dem Text leicht abgelesen werden kann, andererseits sich mit dem Problem zu verbinden, wie sich die intelligible Welt auf die Dinge der sinnlichen Welt bezieht. Es ist schon bekannt, dass Platon die Beziehung der zwei Welten mit dem Urbild/Abbild-Verhältnis bezeichnet. Das Teilhaben und die Nachahmung ist
15Timaios,
36e–37b.
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3 Die ontologische Zeitkonzeption und ihre vermittelnde Leistung …
demnach nur der Prozess, worin das Bild das Urbild abbildet. Dennoch ist bemerkenswert, dass Platon zwar die Idee und das entsprechende an ihr teilhabende sinnliche Ding überall mit demselben Namen (homonym) bezeichnen,16 dass es trotzdem aber noch einige Ausnahmen gibt, in denen zwei „Dinge“, obwohl sie ähnliche und entsprechende systematische Stellen in den beiden Welten zeigen, aber unterschiedlichen Namen tragen. Eine davon ist die Zeit und Ewigkeit, die ich hier thematisieren möchte.17 Im Timaios definiert Platon die Zeit wie folgt: Die Zeit ist „ein gemäß Zahl gehendes (ἰοῦσα) ewiges Bild der im Einen verharrenden Ewigkeit“18, oder prägnanter, „ein bewegendes (κινητός) Bild der Ewigkeit“, oder auch ähnlich: „ein in Zahlen fortschreitendes ewiges Abbild von der im Einen verharrenden Ewigkeit.“19 Wir können natürlich den Zeitbegriff im Timaios in alle Richtungen ausdeuten. Nennenswert sind drei voneinander unterschiedenen Deutungsmöglichkeiten: nach dem kosmologischen, dem ontischen und dem ontologischen Aspekt der Zeit. Um Deutlichkeit willen gebe ich hier eine kurze Erklärung für diese Aspekte. Unter dem kosmologischen Aspekt der Zeit verstehe ich eine solche Zeit, die vollständig durch die Kosmogonie oder die eigene Bewegung des Kosmos allein physikalisch bestimmt werden kann. Unter dem ontischen Aspekt verstehe ich die Zeit in dem Sinne, dass sie durch unsere tägliche Erfahrung erklärt wird, so z. B. eine eher gnoseologische von objektiven Zeiterfahrung gewonnenen Zeitexplikation, obgleich es oft mit der physikalischen Zeitausdeutung eng verbunden ist.20 Unter 16Ausführlich
zu diesem Problem vgl. Böhme 1974, S. 45 f., Schmidt 2012, S. 20 f., 63 f. diesen Ausnahmen teilen eine Gemeinsamkeit, dass sie alle eine besondere ontologische Stelle in Platons System haben. Dies gilt für Ewigkeit und Zeit, die wir in diesem Kapitel erörtern. Eine andere nennenswerte Ausnahme ist das Gute und die Sonne in der Politeia. Dabei ist dies auch ihrer besonderen ontologischen Stelle zu verdanken, weil sie jeweils über den Ideen und den sinnlichen Dingen stehen und sogar die Ursache der jeweiligen Seinsstufen sind. 18Timaios, 37d. 19Timaios, 37d. 20Diese zwei Ausdeutungen von Zeit sind oft verwechselt mit dem Wesen der Zeit, die Platon ontologisch wirklich behandeln will. Die Vertreter dieser zwei Deutungsrichtungen sind sich manchmal deren Unterschieds nicht klar bewusst, so dass sie in ihren Interpretationen den Schwerpunkt des Textes oft falsch legen. Mit den Einzelheiten davon werde ich mich noch später auseinandersetzen. Aber vor allem seien manche Forscher, die diese zwei Deutungen vielleicht unbewusst vertreten, zu erwähnen: John Callahan (Callahan 1948, Chapter 1), Rémy Brague (Brague 1982, nach Schmidt 2012), Ernst Schmidt (Schmidt 2012). 17Alle
3.2 Die Definition der Zeit in Timaios
27
dem ontologischem Aspekt verstehe ich die Zeit in Bezug auf ihre Funktion in der konstitutiven Bestimmung des Seienden als solches, wobei ihr Wesen betroffen ist, nämlich in der Frage, die Platon oft stellt, „was etwas ist“21 – in diesem Fall dann, was eigentlich „Zeit“ ist. Mit diesem letzten Aspekt zeigt es sich, dass es in den beiden ersteren Aspekten eher um eine Beschreibung der Zeit als um das Wesen derselben geht. Der Dialog Timaios lässt offenbar alle diesen drei Ausdeutungsrichtungen in sich kompatibel koexistieren. Dennoch wird nur der ontologische Aspekt das Thema des Dialogs vollkommen zutreffen, weil er das Verhältnis zwischen Ewigkeit und Zeit, und den Grund, warum ein solches Bild, der Kosmos, überhaupt notwendig ist, am besten erklärt. Als vorläufige Bemerkung möchte ich nun ankündigen, dass es sich in der Rede von Zeit und Ewigkeit nicht mehr um zwei „Substanzen“ und ihr Verhältnis handelt, sondern um die Seinsstufen und ihre ὄν, und zwar um die grundlegenden Seinsweisen der Seinsstufen, welche alle Seienden darin wesentlich bestimmen. Demnach ist ihnen (Ewigkeit und Zeit) auch der Ausdruck „Bestimmung“ eines Seienden nicht angemessen, weil eine Bestimmung oft nur eine von den vielen Bestimmungen eines Dings bedeutet, während die Ewigkeit und Zeit, wie wir bald sehen, eine viel wichtiger und fundamentaler Rolle in den beiden Welten spielen.22 Sie sind fundamentaler als die anderen Bestimmungen, weil sie gerade mit dem Wesen der jeweiligen Seinsstufen zusammenhängen und die wesentliche Seinsweise von den beiden charakterisieren.23 Und die Ungleichnamigkeit der Ewigkeit und Zeit besagt
21Diese Frage leitet normalerweise zu der Festlegung einer „Idee“, aber hier wird die Zeit natürlich nicht verstanden als nur im Sinne von dem Wesen eines Dings. 22Gernot Böhme hat dies nicht richtig gesehen und der Ewigkeit ein selbständiges Wesen zugeschrieben. Er nennt den Aion „das Seiende mit Bestimmung“, eine Beschreibung, die zwar ähnlicherweise auch von Plotin benutzt wird, aber nichts Substantielles andeutet. Vgl. Böhme 1974, S. 46. Auch der Versuch, die Ewigkeit einfache als Bestimmung zu nennen, scheint voreilig zu sein, wie Schmidt 2012, S. 64 zeigt. Außerdem kann die Ewigkeit auch nicht, wie Schmidt in seinem Ausdruck „einen Aspekt des Modells, seinen Aion“ (S. 20) möglicherweise andeutet, als nur „einen“ Aspekt des Seienden unter vielen gedacht werden. Siehe auch eine philologische Interpretation von Enzo Dagani (wiedergegeben von Schmidt 2012, S. 64). In einem Wort sind beide Lesarten einseitig, obwohl sie nicht falsch sind. 23Die Verbundung der Seinsweise der Ideen mit Aion kann man auf den Dialog Parmenides beziehen. Die Verbindung der Seinsweise der sinnlichen Dinge mit Zeit ist gerade das Thema des Dialogs Timaios, wobei das wesentliche Verhältnis der Zeit zu der Seele eine bedeutungsvolle Rolle spielt. Auf diese Punkte werde ich später eingehen.
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3 Die ontologische Zeitkonzeption und ihre vermittelnde Leistung …
schon, dass das Verhältnis der beiden nicht als das normal verstandene Urbild/ Abbild-Verhältnis (wie zwischen einer Idee und einem sinnlichen Ding) angesehen werden darf. Daher ist klar, dass das Problem der Zeit und deren Beziehung auf Ewigkeit vor allem aus der grundlegendsten ontologischen Hinsicht betrachtet werden soll, in der die jeweiligen Seinsweisen der beiden Seinsstufen behandelt wird. Nach diesem ontologischen Aspekt kann man die oben gezeigte Zeitdefinition Platons nach den folgenden Fragen entfalten und näher erörtern: (1) Was soll man unter „der im Einen verharrenden Ewigkeit“ verstehen? (2) Auf welche Weise „geht“ oder „bewegt“ sich die Zeit? (3) Wie bezieht sich die Bewegung der Zeit auf die „Zahl“? (4) Inwiefern ist die Zeit ein solches „Bild“ der Ewigkeit? Für die vierte Frage ist offensichtlich eine zusammenfassende Antwort erforderlich, so dass sie der Sache nach erst am Ende beantwortet wird, und zwar nach der Beantwortung obiger drei Fragen. Um alle diese Fragen herum sind schon viele Forschungsdiskussionen stattgefunden sind. Im Folgenden werde ich also meine Erläuterung und Herausarbeitung der ontologischen Zeitkonzeption Platons auch mittels der Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur entfalten.
3.3 Die Ewigkeit als das Urbild der Zeit Nun soll die Ewigkeit zuerst erklärt werden, um dann ihr Abbild, die Zeit, zu erläutern. Die Ansicht von einigen Forschern, dass das Urbild (Ewigkeit) nur von der Seite des Abbildes erklärt werden könne, weil wir seine Bedeutung nur durch seine Relation zum Abbild gewinnen könnten,24 wird hier nicht akzeptiert. Diese Ansicht stellt in der Tat die U rbild/Abbild-Relation auf den Kopf. Denn nur aus der Seite unseres Verstehens, und zwar nur epistemisch betrachtet, können wir bloß sagen, dass wir mithilfe des Abbildes das Urbild besser verstehen können. In dieser Weise kann man in Bezug auf den ontologischen Status dieser Relation nur zeigen, dass das Urbild ontologisch höher als das Abbild ist – sonst würde es nicht als ein Urbild genannt; aber außerdem nichts mehr. Daher soll man auf umgekehrte Weise denken, d. h. das Urbild muss seine eigene Selbstständigkeit
24Vgl.
Gloy 1986, Kapitel IV.
3.3 Die Ewigkeit als das Urbild der Zeit
29
von seiner Seite aus und durch sich selbst begründet werden, damit es dann die ontologische Grundlage für die weitere Seinsstufe in Platons Theorie bietet. Die Definition der Ewigkeit, die Platon zunächst gibt, lautet: sie „verharrt in Einen“25. In den jeweiligen Definitionen von Ewigkeit und Zeit springen allererst ins Auge zwei gegensätzlichen Formulierungen: „Verharren – Bewegung“ und „Eines – nach Zahl“. Als Ergänzung zu dieser Definition stellt Platon also die Zeit und das Werden als Kontrast zur Ewigkeit und schreibt der Ewigkeit das IST allein (τὸ ἔστιν μόνον) zu. So ist sie das „stets sich selbst gleich und unbeweglich Verhaltende“ und ihr kommt nichts dem Werden Gehöriges zu: „weder älter noch jünger zu werden im Verlaufe der Zeit, noch es ehemals oder jetzt geworden zu sein oder es in Zukunft werden zu sollen“26. Diese Ergänzungen zur Charakterisierung der Ewigkeit sind aber nicht sehr klar und können es nicht ausschließen, die verharrende Eigenschaft derselben auf eine oberflächliche Weise zu verstehen. Da aber bei Platon leider weitere Textquelle fehlt, die unmittelbar das Thema der Ewigkeit behandelt, damit wir selbstständig das Urbild „die Ewigkeit“ von sich selbst und allein durch ihre entsprechende „Substanz“ verstehen kann,27 können wir nicht umhin, von diesen Charakterisierungen und der Verbindung zwischen Ewigkeit und Ist auszugehen.
25Timaios,
37d. 38a. 27Eine scheinbare Erklärung findet man im Dialog Parmenides, wo Platon das hier erwähnte „Eine“ aus dem Entweder/Oder-Verhältnis (z. B. zwischen Jünger oder Älter) zieht. In der ersten Hypothese des Parmenides lehnt Platon nämlich zum Verstehen des „Einen“ alle diese gegensätzlichen Bestimmungen ab. Aber dort behandelt er nicht wirklich das Problem des Seins, nämlich die Sphäre der Ewigkeit, sondern – je nach den verschiedenen Interpretationen – entweder das absolute Transzendenz von Einen, welches jenseits des Seins ist, oder eine von dem Begriff ausgehende begriffliche Operation, die später dann zum einen ontologischen Sinne steigt (eine Interpretation, die ich für vernünftig halte). Aber beide sind keine kräftige Erklärung für das Problem der „im Einen verharrenden“ Ewigkeit hier. Darauf werde ich nicht weiter eingehen, nur so viel: Die erste Interpretationsrichtung folgt der herkömmlichen Tradition von Neuplatonismus. Zu dieser Richtung kann man auch viele Anhänger finden, vor allem die „Tübinger-Schule“. Es gibt offensichtlich viele anderen Interpretationsrichtungen, die ich hier nicht ausführlich erwähnen will, z. B. diejenige, die die zweite Hälfte des Parmenides für eine logische oder dialektische Übung halten. Dies vertreten etwa O. Apelt, H.F. Cherniss, G. Ryle und W.D. Ross. Zur dieser Kontroverse vgl. J. Halfwassen 2006, S. 267 ff. 26Timaios,
30
3 Die ontologische Zeitkonzeption und ihre vermittelnde Leistung …
Die herkömmliche Bedeutung von αἰών vor Platons Zeit bedeutet die Lebenszeit, oder die Lebenskraft.28 Dadurch wurde sie anscheinend noch mit der Prädikation „ewig“ (ἀίδιος) eng verbunden, weil sie eine unendliche Lebenskraft, und zwar eine besondere Zeitlichkeit bedeutete, wie die unendliche Lebenszeit des Sphairos bei Empedokles.29 Dennoch schließt die Ewigkeit bei Platon nicht an solcher Tradition an, sondern an der Seinstheorie Parmenides. Denn bei Parmenides wurden auch ähnliche Ausdrücke benutzt, wie diejenige zur Charakterisierung der Ewigkeit im Timaios, nämlich „ungeworden“, „unvergänglich“ oder „einheitlich“, oder sogar präziser „es war nicht und wird nicht sein“. Aber bei ihm fehlt das Wort Ewigkeit, weil damals noch überhaupt kein Unterschied zwischen der Zeitlichkeit und einem Unzeitlichen ausgedrückt wurde. Indem Platon den Terminus „Zeit“ in seiner Theorie einführt, unterscheidet er erstmal die Ewigkeit klar von irgendeiner Zeitlichkeit: Die Zeit ist bei Platon ontologisch der Ewigkeit untergeordnet, da sie das Abbild von Ewigkeit ist. Durch diese Befreiung der Ewigkeit von der Zeitlichkeit ist nun klar, dass die Ewigkeit weder als zeitliche noch sogar als unzeitlich betrachtet wird. Vielmehr betrifft sie gar nicht mehr die Zeitlichkeit und ist deshalb „überzeitlich“. Die Ewigkeit hat also in der Tat nur mit der Seinsweise des Seienden zu tun, die besonders durch die parmenideische Seinstheorie geprägt wird. Nun können wir jene Urbedeutung von Ewigkeit als „Leben“ wieder aufnehmen, aber nur insofern, als sie metaphorisch ein Leben (und zwar ein noetisches Leben) des Seienden bedeutet.30 Dabei zeigt sich das Leben eigentlich als eine innerliche artikulierte Struktur des Seienden und deshalb die Seinsweise desselben. Es ist besonders wichtig, dass dadurch eine „Einheit“ geschildert wird, und zwar die Ideenwelt als ein einheitliches Leben. Mit der Lehre der höchsten Gattungen werden die Ideen in der Ideenwelt schon als miteinander verflochten erwiesen. Nun wird der gesamte Zustand des Seienden, und zwar seine gesamte Seinsweise,
28Eine
einschlägige historische und etymologische Forschung hat Böhme betrieben, wobei er sich vor allem die Forschungen von Lackeit, Benveniste, Festugiere und Dagani berufen. Vgl. Böhme 1974, S. 75. Zum Streit von der Bedeutung der Ewigkeit vor Platon siehe auch Schmidt 2012, S. 192. 29Vgl. Empedokles, DK 31, Fr.16: „Denn wie diese beiden Kräfte (Streit und Liebe) zuvor waren, so werden sie auch künftig sein, und ich glaube, dass die unendliche Ewigkeit (ἄσπετος αἰών) dieser beiden niemals/beraubt sein wird.“ (Eigene Übersetzung d. Verf.) 30Denn die Ideenwelt als ganze kann als ein allumfassendes intelligibles Lebewesen bezeichnet werden, ein νοητὸν ζῷον. Vgl. Timaios, 30cff.
3.3 Die Ewigkeit als das Urbild der Zeit
31
mit dem Begriff der Ewigkeit bzw. eines „noetischen Lebens“ als die einheitliche Ganzheit charakterisiert. Wenn aber die Ewigkeit als das „Im-Einen-verharren“ definiert wird, fragt es sich offensichtlich, ob sie mit der Gattung „Bewegung“ vereinbar ist. Anders gesagt: ob die Ewigkeit auch die Bewegung des wahren Seienden beschreiben kann.31 Dieser scheinbare Widerspruch ist sofort aufgehoben, wenn die Bedeutung der Bewegung in der Ideenwelt richtig verstanden wird. Bei Platon gibt es zwei grundlegende Bewegungsbegriffe anhand der zwei Seinsbereiche: die intellektuelle Bewegung und die Bewegung in der sinnlichen Welt. Die letztere ist vielfältig32 und betrifft den Zustand der Veränderungen der Sinnenwelt (als Gegensatz zum „Verharren“). Die intellektuelle Bewegung, ähnlich wie die höchste Gattung der Bewegung, ist dagegen eher ein ontologisches Prinzip, als irgendeine Bewegung, der „das Verharren“ gegenüber steht. Die Bewegung als ein ontologisches Prinzip betrifft nur die Beziehungen innerhalb der Ideen, insofern eine Idee mit den anderen im Verhältnis steht. Es ist natürlich noch bemerkenswert, dass die Gattung „Bewegung“ doch noch im Gegensatz zur „Ruhe“ steht, die für die Eigenschaft „Verharren“ der Ewigkeit repräsentativer ist.33 Dennoch gehört dieses ontologische Prinzip der Bewegung freilich noch zu der Ideenwelt, nämlich: sie tritt noch nicht aus dem verharrenden Zustand aus und wird diese Einheit des Seienden nicht aus sich selbst abreißen und zerstören. Dieser an sich bleibende einheitliche Zustand des Seienden ist deshalb charakteristisch für die Ewigkeit und daher für die Ideenwelt und macht die Definition der Ewigkeit – „im Einen verharrend“ – begreifbar. Die Verflechtung der Ideen miteinander ist deshalb nur innerhalb des Einen (der Einheit) möglich; sie unterscheiden sich voneinander, aber bleiben zugleich auch in der höchsten Einheit. Platon befreit also erstmal die Ewigkeit total von irgendeiner Zeitlichkeit und bildet dadurch eine neue Seinsweise für diejenige ontologische Ebene, in der die wahren Seienden frei an sich bewegen und transzendent und daher von der
31Die
Ideendialektik ist mit der Ewigkeit vereinbar. Vgl. Mesch 2003, S. 182, auch Gloy 1986, S. 60, Halfwassen, 2000. 32In Nomoi X listet Platon zehn Arten von Bewegungen (κίνησις) auf. Vgl. Nomoi X, 893b1–894c9. 33Die Ruhe hat in diesem Sinne gewissermaßen die Oberhand gegen die Bewegung unter den Gattungen, so wie die Identität gegenüber Andersheit. Dieser Unterschied zeigt auch in der Abstufung von Sein, indem das Sein immer näher zur Ruhe und Identität und Nichtsein immer näher zur Bewegung und Andersheit steht. Vgl. Gaiser 1963, S. 191.
32
3 Die ontologische Zeitkonzeption und ihre vermittelnde Leistung …
Wandelbarkeit des Werdens unabhängig sind. Deshalb kommt der Ewigkeit nur das IST zu, sofern es allein die wahren Seienden darstellt und sein Name davon bekommt. Oder man kann sagen, dass die Ewigkeit den Wesenszustand des IST charakterisiert. Sie ist überzeitlich und das Urbild für irgendeine Zeitlichkeit. Jeder Versuch der Verzeitlichung des Aion soll und muss nun sogleich ausgeschlossen werden.
3.4 Die Seele als die Instanz der Bewegung der Zeit Als Urbild der Zeit charakterisiert die Ewigkeit die Seinsweise der Ideen in deren Einheit. Die Zeit aber ist mit einer Art der Bewegung verbunden, die von der intellektuellen Bewegung der Ewigkeit bzw. den Beziehungen der Ideen aufeinander unterschieden ist. Wir kommen nun zur Frage nach der Bewegung der Zeit, und zwar der zweiten Frage, die ich vorher nach der Zeitdefinition gestellt habe. Dies ist ein kompliziertes Problem, dessen Erklärung nach verschiedenen Aspekten entfaltet werden soll. Zunächst begegnen wir dem Aspekt: wer oder was die Instanz dieser Bewegung ist. Dazu sagt Platon in dem Text eigentlich nicht explizit. Aber aus dem Aufbau des Textes, in dem Platon „die Erzeugung der Zeit unmittelbar auf die Erzeugung der Seele folgen lässt“34, und aus dem engen Bezug der durch die Weltseele belebenden Himmelsbewegungen auf die Zeit darf man schließen, dass die Instanz dieser Bewegung die Seele ist – hier als die Weltseele, nicht als die einzelne menschliche Seele verstanden. Denn die Himmelskörper als die Werkzeuge der Zeit bewegen sich allein auf die Bahnen, die aber durch die Weltseele und ihre Gestaltungsweise bestimmt werden, nämlich die Bahn der Selbigkeit und die der Verschiedenen.35 Außerdem kann man zum zweiten Grund für diese Behauptung sagen, dass uns sonst keine andere Alternative dafür zur Verfügung steht. Denn zwar bewegt die Zeit „sich“, aber ihre Bewegung ist gerade diejenige, durch welche die Zeit erst erzeugt wird, damit sie sich bewegen kann. Deshalb können wir die Zeit selbst nicht für die Instanz der Bewegung halten, sonst wäre die Rede zirkulär.36 Die Zeit, wie bald gezeigt, ist keine substantielle Seinsstufe, sondern nur eine Lebensweise
34Schmidt
2012, S. 31. 38c–e. 36Dasselbe gilt auch für die Ewigkeit. Denn obwohl wir sagen, dass sie verharrt, bedeutet es aber eigentlich, dass das Sein (die Ideenwelt) verharrt. Denn die Ewigkeit ist nur die ontologische Beschreibung für diesen Zustand. 35Timaios,
3.4 Die Seele als die Instanz der Bewegung der Zeit
33
oder Seinsweise des Werdens; daher kann sie auch keine Instanz irgendeiner Bewegung sein.37 Um diese Instanz genauer zu bestimmen, soll man zunächst erklären, wie sich die Seele bzw. die Weltseele verhält, und zwar nach ihrem ontologischen Status und ihrer Gestaltung. Nach den Angaben in Timaios, 35a–c besteht die Seele aus der Mischung von dem unteilbaren und immer sich gleich verhaltenden Sein einerseits und dem teilbaren, in den Körpern werdenden Sein. In diesem Sinne zeigt sich die Seele als eine dritte Form von Sein. Außerdem wird in der Seele auch die Mischung von der unteilbaren und der teilbaren Identität und die Mischung von des unteilbaren und des teilbaren Verschiedenen, und zwar eine dritte Form der Identität und eine dritte Form des Verschiedenen, angetroffen. So ist die Seele eine einheitliche Gestalt dieser drei „dritten Formen“ und bildet sich als die dritte Art des Seins. Aber an einer späteren Stelle von Timaios (wo Platon wieder einen erzählenden Neuanfang macht)38 spricht Platon zwar ebenso von drei Arten des Seins, dennoch zählt er die folgenden drei Formen des Seins auf: das Sein als die Form des Urbildes, das Werden als die Nachbildung des Vorbildes, und letztlich das „Amme“ des Werdens, ein Aufnahmebehälter des Werdens.39 Von einer Form des vermischten dritten Seins ist dort aber keine Rede. Die Ambivalenz der Redeweise Platons in Timaios, in der viele wichtigen theoretischen Elemente nicht voneinander klar unterschieden und gut geordnet werden, bringt uns Schwierigkeit, wenn wir die ontologische Rolle der (Welt-) Seele verstehen möchten. Ist sie eine selbständige Art von Sein bzw. eine Seinsstufe? Zur Erklärung der Ambivalenz soll man über die bildlichen, oft sogar mystischen Formulierungen Platons hinausgehen und das, was Platon eigentlich meinen wollte, herauszufinden. Dafür müssen zwei Probleme erklärt werden: das erste betrifft den Ausdruck der „Amme“ des Werdens als eine selbständige Seinsstufe bei Platon, und es geht bei dem zweiten um den ontologischen Status der Werdewelt in Bezug auf die Seele. Zunächst sehen wir die Formulierung Platons, die „Amme“ des Werdens sei eine Art von Sein. Wie wird man dieser Formulierung gerecht? Man weiß schon, dass das Werden bei Platon zwar eigentlich ein Mitte-Sein zwischen Sein und
37Die
anderen in der Forschungsliteratur befindlichen Spekulationen dafür, warum die Weltseele die Instanz ist, setzen zu viele Annahme voraus, wie z. B. eine zählende Instanz, eine Beobachtung und die Erinnerungs- und Erwartungsvermögen usw. Vgl. Schmidt 2012, S. 29, 31. Diese Annahmen finden sich aber in dem Dialog Timaios leider nicht. 38Timaios,48e f. 39Timaios, 49a.
34
3 Die ontologische Zeitkonzeption und ihre vermittelnde Leistung …
Nichtsein sein soll, dass es dennoch selbst eine selbstständige Seinsstufe ausmacht. Der Grund ist teilweise aus dem Folgenden zu erklären: Während in Platons Dialogen das Sein bzw. die Ideenwelt, wo das wahre Seiende wohnt, selbstständig ist, ist aber das Nichtsein (Materie, auch Raum in gewissem Sinne), oder bildlich in dem Dialog Timaios gesagt, die „Amme“, in der Tat vielmehr nur ein ontologisches Prinzip statt einer selbständigen Seinsstufe, die mit ihren reichhaltigen Seinsinhalten befüllt wird und deshalb erklärbar ist. Denn dieser immer-seiende Raum, der in höchst erklärlicher Weise als das Worin des Alls alles aufnimmt, ist unsichtbar und gestaltlos und kann weder durch Denken noch durch Wahrnehmung erfasst werden. Wir können uns ihn nur durch ein „Undenken“ (λογισμῷ τινι νόθῳ) annähern.40 Nur mittels dieses immerseienden Raums wird eine sich entfaltende Welt des Werdens durch das wahre Seiende hervorgebracht, in der alles wie ein Phantom entsteht und vergeht.41 Die Formulierungen dieses Raum/Materie-Prinzips in Timaios sind deshalb eine bloße metaphorische, und zwar ein bildliche Redeweise, um die besondere Bewandtnis zu erklären, die es mit der Materie hat – genau wie das, was Platon mit der Erzählung des „Demiurg“ machen will.42 Und andererseits können wir auch die Behauptung Platons, die Gestaltung der Seele sei eine Mischung von Sein und Werden, nicht einfach akzeptieren. Diese Behauptung kann nämlich den Anschein geben, als ob das Werden vor der Bewegung der Seele schon da wäre, und als ob die „Wirkungsursache“ dieser Bewegung dem Werden zu verdanken wäre – sofern die intelligible Bewegung der Seienden oder das Sein aus der Sicht der seelischen Bewegung als etwas Verharrendes anzusehen ist und ihrerseits daher keine Wirkungsursache der seelischen Bewegung angeben kann. Dies ist aber gar nicht der Fall. Denn, wie gesagt, das Werden ist das Mitte-Sein zwischen Sein und Nicht-Sein bzw. eine Mischung aus der Seinswelt und dem Raum/Materie-Prinzip, und in
40Timaios,
52b. Die Amme begrifflich zu machen, ist nach Platon äußerst schwierig wegen seiner ontologischen Stelle und der beschränkten Sprache, die wir benutzen, sogar auf philosophische Weise. Vgl. Timaios, 49ff. 41Timaios, 52c. 42Denn die Erzählung eines Demiurgs soll eigentlich die Rolle der Ideenwelt vertreten. Nur aufgrund einer bildlichen Rede und der Eigenschaft unserer ambiguen Sprache verzichtet Platon hier auf eine reine philosophische Theorie. Vgl. Halfwassen 2000. Dennoch ist der theoretische Kern des Dialogs keine Mystik, sondern äußerst logisch, wie Gadamer sagt, „durchaus im Sinne des Logos einsehbar.“ Vgl. Gadamer 1985. Dagegen interpretiert Karen Gloy einheitlich die Bildlichkeit als das Abbild, indem sie εἰκώς (bildliche Rede) mit εἰκών (Abbild) verbindet. Vgl. Gloy 1986, S. 10.
3.4 Die Seele als die Instanz der Bewegung der Zeit
35
der Entfaltung des Werdens als einer beweglichen Welt hat die Seele und ihre Bewegung schon eine äußerst bedeutungsvolle Rolle gespielt. Die Seele fällt von der Ideenwelt43, indem sie sich mit dem Materie-Prinzip vermischt und die Materie berührt44, und gerät in einer Bewegung, die dann irgendwie räumlich gefasst werden kann, was schließlich es ermöglicht, dass das Werden sich als das Kosmos entfaltet. Und davon ist klar, dass die Bewegung der Seele ihren Ursprung und ihre Ursache noch in ihrem Urbild zu finden ist statt in dem Werden. So muss man in den Formulierungen Platons sorgfältig einsehen, was Platon in Timaios eigentlich ausdrücken wollte, um den ontologischen Status der Seele richtig zu verstehen. Sie ist keine selbständige Seinsstufe (wie Sein und Werden), sondern gilt ontologisch nur als eine Quasi-Seinsstufe. D. h. sie ist nur eine vermittelnde ontologische Seinsstufe, die wegen des Mischungscharakters die Funktion hat, das Sein der Seinswelt an dem Werdenden zu vermitteln, indem sie abbildhaft das Urbild in das Abbild überträgt, oder umgekehrt, indem sie den Kosmos möglichst ähnlich seinem Urbild nachahmen lässt. Dies ist m. E. das, was Platon über die ontologische Rolle der Seele reden wollte. Mit dieser Erläuterung des ontologischen Status können wir jetzt eine zuvor nur angekündigte Anmerkung, die Zeit solle streng gesagt nicht eigentlich als das normal verstandene Abbild betrachtet werden, weiter erklären. Denn der Begriff des Abbilds kann nur auf die Kennzeichnung einer selbstständigen Seinsstufe angewendet werden. Da nun sogar das die Zeit tragende Substantielles, nämlich die Seele, nicht als eine wirkliche Seinsstufe gilt, kann die Zeit selbst nicht als ein eigentliches Abbild bezeichnet werden.45 Der Ausdruck „Bild“ in der Definition von Zeit – „ein bewegendes Bild“ – bedeutet nur, dass sie ein abgemaltes Bild der Ewigkeit in seinem übertragenden Sinne ist, nicht aber, dass sie auf der gleichen Ebene mit dem Urbild/Abbild-Verhältnis zwischen der Idee und dem sinnlichem Ding mitgemeint ist.46 Die Zeit gilt vielmehr als die allumfassende Seinsweise des abbildlichen Werdens, wie bald zu zeigen ist.
43Vgl.
Phaidon, z. B. 79c ff. anders gesagt: da die Seele auch aus dem Werden besteht. 45Dasselbe gilt auch für die Ewigkeit: sie kann nicht einfach als „Urbild“ bezeichnet werden. 46Hier soll auch ferner die Bildlichkeit dieses Dialogs zweierlei verstanden werden, nämlich, Bildlichkeit im Sinne von Abbild und die Bildlichkeit im Sinne von Bild, wobei das Letztere ein Gegenpaar mit dem Intelligiblen ausmacht, d. h. dass es dem wahren Dings ähnlich ist, aber nicht mehr rein zu fassen ist, d. h. nicht mehr rein begrifflich, sondern mit der Sinnlichkeit und diskursiver Sprache vermischt ist. 44Oder
36
3 Die ontologische Zeitkonzeption und ihre vermittelnde Leistung …
3.5 Die Bewegung der Zeit Um der Ewigkeit möglichst gut nachzuahmen, muss die Zeit ständig bewegend sein, nämlich als ein gehendes ewiges Bild (ἰοῦσαν αἰώνιον εἰκόνα) der Ewigkeit (αἰῶνος).47 Hier ist der Ausdruck „ewig“ von der „Ewigkeit“ zu unterscheiden: die Ewigkeit ist überzeitlich, während das „ewiges“ im „ewigen Bild“ als ein Adjektiv zeitlich ist, weil dieses gehende Bild schon als ein Prozess der Verzeitlichung verstanden werden soll. So ist dieses „ewig“ von einem zeitlichen Sinnen zu verstehen; es ist der Prozess der Verzeitlichung selbst ist, aber „ununterbrochen und endlos“. D. h. die Bewegung der Nachahmung ist eine ununterbrochene endlose Bewegung, welche zeitlich ausgedrückt eine immerwährende Bewegung ist. Diese Bewegung ist insofern endlos, als die Nachahmung der Zeit nach Ewigkeit niemals vollkommen kann. Es ist nämlich nicht möglich, die Vollkommenheit des Urbildes ungestört dem Erzeugten (Abbild) zu übergeben. Dennoch könnte diese Nachahmung ein periodisches Stadium in ihre aionische Bewegung erreichen, damit wir anerkennen können, dass sie gewisse Vollkommenheit hat, nämlich die vollkommene Zeitzahl (τέλεος ἀριθμὸς χρόνου). Nach Platon sei das Weltganze dadurch „dem vollkommenen und noetischen Lebewesen, dessen ewige Natur nachahmend, so ähnlich wie möglich.“48 Besonders wenn es keinen bestimmten Anfang für diesen Prozess gibt, d. h. wenn dieser Prozess in jedem Augenblick anfangen könnte, wird es auch kein bestimmtes Ende für einen solchen Prozess geben. Deshalb darf der Prozess in jedem Augenblick als das Gelangen dieser vollkommenen Zeitzahl betrachtet werden.49 Dennoch bedeutet dies noch nicht sofort eine zyklische Zeitkonzeption, wie einige Forscher vertreten.50 Auf diese Frage gehe ich später in Abschnitt 3.6 ein; hier möchte ich nur einen Hauptgrund für diesen Einwand nennen: die Interpretation der zyklischen Zeitkonzeption hat einen Fehler darin, dass man die Bewegung der Planeten mit
47Timaios,
37d. 39d7–e2. 49Vgl. Cornford 1937, p. 117, Schmidt 2012, S. 33 f. 50Unter den Vertretern dieser Ansicht ist vor allem Karen Gloy zu erwähnen. Vgl. Gloy 2008, S. 15–35. Ein Gegenargument zu dieser Ansicht gibt Schmidt 2012, S. 96 ff. 48Timaios,
3.5 Die Bewegung der Zeit
37
der Bewegung der Zeit und deren jeweilige Eigenschaft verwechselt hat. Der gedachte Zyklus betrifft in Wahrheit nur die Bewegung der Planeten.51
3.5.1 Zeitteilen oder Zeitformen? Jetzt sprechen wir von zwei Punkten, die mit der o. g. endlosen Bewegung der Zeit eng zusammenhängen und auch von meisten Platon-Forschern bemerkt werden, nämlich das Problem von den Teilen der Zeit (μέρη χρόνου) und das von den Formen derselben (χρόνου γεγονότα εἴδη).52 Diese zwei Punkte, von denen der eine die alltäglichen Benutzung von Zeit (wie z. B. Tage, Monate usf.) darstellt, der andere ein entscheidendes „Aussehen“ der Zeit im Gegensatz zu ihrem Urbild „Ewigkeit“ zeigen (nämlich das „War“ und das „Wird-sein“)53, scheint mit dem Wesen der Zeit oder dem Wesen der Bewegung derselben verbunden zu sein, weil sie im Text des Timaios im unmittelbaren Anschluss an der Definition der Zeit vorkommen. Sie scheinen also gleichsam als die Erklärung für die Zeitdefinition zu dienen. Aber ist es der Fall? Wir betrachten nun den ersten Punkt. Die Zeitteile hängen mit der Bewegung der Planeten im Himmel zusammen. Wenn wir aber die ontologische Hinsicht der Zeit von der kosmologischen und der ontischen unterscheiden, wird es offensichtlich, dass der Himmel und die Bewegung ihrer Planeten nur als das Werkzeug der Zeit bzw. des Zeitmessens betrachtet werden, nicht als die Zeit selbst. Denn sie sind nur erzeugt, um die Zahl der Zeit zu unterscheiden und zu bewahren.54 Dies gilt auch für die Zeitteile, die durch die Bewegung der Planeten erst entstanden sind. Dadurch ist klar, dass wir die sogenannten Zeitteile nicht als eine zusätzliche Erklärung der Zeitdefinition annehmen können. Vielmehr müssen alle Zeitteile ihrerseits schon die Zeit selbst voraussetzen. Sie sind bestenfalls nur die Zeichen und Repräsentationen der Zeit selbst sein. Die Einbeziehung der Zeitteile in die Definition von Zeit begeht eigentlich den
51Eine
solche Verwechselung ist häufig auch bei den Forschern, die die Zeit mit der Bewegung des Himmels gleichgesetzt haben, wie Remy Brague. Vgl. Remy Brague, Du Temps chez Platon et Aristote, Paris, 1982, wiedergegeben von Schmidt 2012, S. 70 ff. 52Timaios, 37e–38b. Sie schließen an der Definition der Zeit unmittelbar an, um die Zeitdefinition weiter zu erklären. 53Die Benutzung von „Aussehen“ entnehme ich direkt von seiner ursprünglichen Bedeutung von „εἴδη“. Vgl. Timaios, 37e. 54Timaios, 38c. “εἰς διορισμὸν καὶ ϕυλακὴν ἀριθμῶν χρόνου γέγονεν.”
38
3 Die ontologische Zeitkonzeption und ihre vermittelnde Leistung …
Fehler, eine kosmologische Beschreibung der Zeit mit dem Wesen derselben zu verwechseln. Außerdem ist auch die Deutung, dass diese Teile der Zeit ein Zeichen der Teilbarkeit des Werdens sind, nur oberflächlich. Man gründet diese Deutung darin, dass der Gegensatz zwischen der Unteilbarkeit der Ewigkeit und der Teilbarkeit der Zeit gerade dem Gegensatz von Sein und Werden entsprechen, weil das Gegenpaar Einheit-Zahl bzw. Unteilbarkeit-Teilbarkeit gerade der Kern des Urbild/Abbild-Verhältnisses ist.55 Es ist zwar sicher, dass die Teilbarkeit eine Charakteristik der Zeit ist, weil sie dem Werden eigen ist. Daraus darf man aber nicht sofort schließen, dass die Zeit wie ein Körper geteilt werden kann. Denn die Zeit kann zwar wegen ihrer Vereinigung mit dem Kosmos wirklich so geteilt werden kann, aber dies ist nur ihre Erscheinung. Man bedarf aber hier einer Erläuterung, die ontologisch ist und das Wesen der Zeit betrifft, statt nur ihrer äußerlichen Erscheinung. Und es ist nicht zu übersehen, dass die Teilbarkeit nicht unbedingt mit dem Teil eines Dings zu tun hat, weil das Teilen zufällig sein kann, je nachdem, auf welche Weise es geteilt wird. Vielmehr liegt der Grund der Teilbarkeit in dem Austreten (der Bewegung) aus dem verharrenden und unteilbaren Einen; gerade hier geht es eigentlich darum, warum die Zeit Teile hat. Da nun die Teile der Zeit nur das Phänomen derselben zeigen, betreffen sie das Wesen der Zeit nicht. Vielmehr soll das Wesen mit den Formen des „war“ und „wird sein“ verstanden werden. Denn allein diese Formen der Zeit macht den Unterschied der Zeit von der „im Einen verharrenden“ Ewigkeit. Sie machen erst den Antrieb aus, die Zeit in Bewegung zu bringen (und zwar, sie ist eine Präsenzform dieser Bewegung) und die Seinsweise des Werdens wesentlich zu bestimmen. Nur in diesen Formen der Zeit besteht der größte Unterschied zwischen „im Einen verharren“ und „nach Zahl gehen“, weil diese Formen diejenige sind, mit denen sich die Ewigkeit nicht mehr als „zugleich ganz ist“ betrachten lässt.56 Man sagt oft, dass die Zeit drei „Modi“ hat, nämlich Vergangenheit, Gegenwart und die Zukunft – anders ausgedrückt: „war“, „ist“ und „wird sein“. Darunter sind aber Platon zufolge nur „war“ und „wird sein“ eigentümlich für die Zeit, und er schließt das „ist“ aus den Formen der Zeit aus.57 Der Grund dafür
55Vgl.
Schmidt 2012, S. 24. diesem ähnlichen Ausdruck findet man im Fragment von Parmenides, DK 28, Fr. 8: “νῦν ἔστιν ὁμοῦ πᾶν”. 57Er spricht nur von „war“ und „wird sein“ als die gewordenen Formen der Zeit (χρόνου γεγονότα εἴδη). 56Einen
3.5 Die Bewegung der Zeit
39
ist, das „Ist“ (ἔστιν) für Platon die einzige geeignete Form für das ewige Sein (ἀίδιον οὐσίαν) ist.58 Die Benutzung von „ist“ in den zeitlichen Ausdrücken, wie „das Gewordenes ist ein Gewordenes (τό τε γεγονὸς εἶναι γεγονὸς)“, ist deshalb nicht genau zutreffend.59 Aber weil die Zeit die Ewigkeit nachahmt, sind das „war“ und „wird sein“ nur als gewordene Formen des „ist“ zu verstehen. Da aber, so Platon, die die Zeit antreibende Weltseele ohnehin an dem unteilbaren Sein teilhat und das Werden noch als eine Seinsstufe gilt, ist es nur fragwürdig, wie wir das „ist“ in unserer alltäglichen Sprache verstehen, wenn es doch nicht als das wahrhafte „ist“ gelten soll, und wie wir eigentlich diese Formen von Zeit verstehen sollen. Eine mögliche Antwort auf die erste Frage liegt in der Gestaltung der Weltseele. Da sie, wie oben gesagt, aus zwei Arten von Sein (auch zwei Arten von Identität und Andersheit) besteht, so hat sie eine zweifache Seinsweise: sie hat einerseits ihre Wurzel in der intelligiblen unveränderlichen Seinswelt, andererseits aber berührt auch unmittelbar die veränderliche werdende Welt. Dies zeigt sich an den Textstellen, wo Platon die Einsetzung der Weltseele in der Mitte des Kosmos schildert.60 Dadurch wird der unveränderliche ewige Kern der Weltseele als einer immer mit sich identischen Weltseele gegründet. Und genau dieser identische Ewigkeitskern der Weltseele macht den flüchtigen Zeitpunkt jedes jetzigen „ist“ aus, nämlich den Jetztpunkt.61 Nur weil er, da das Werden auch dort 58Timaios, 37e–38a, auch „τῇ δὲ τὸ ἔστιν μόνον κατὰ τὸν ἀληθῆ λόγον“ für die wahrhafte Form. 59Timaios, 38b. 60Timaios, 36d f., 40b–c. Kosmologisch argumentiert dafür Schmidt 2012, S. 31 f. Dabei wird die Identität der Weltseele im Kosmosmittelpunkt mit Hilfe von Kreis des Selben und des Verschiedenen in eins gegründet. 61Viele Forscher halten einen solchen aionischen Kern der Weltseele für wichtig, dennoch aus ganz verschiedenen Gründen. Schmidt betrachtet diesen Kern als die Selbstidentität und Selbstgegenwart einer zählenden Instanz, einen Ausgang, ein Zentrum für die Bewegung der Seele, was aber in gewissem Maß falsch ist, wie ich später zeigen werde. Vgl. Schmidt 2012, S. 32 f. Günter Figal hält diesen Kern als die „Selbigkeit“, die neben der „Verschiedenheit“ ist, und macht diese Identität deshalb zu dem Kern der Zeit. Diese Deutung ist aber problematisch, weil die Identität der Weltseele hier nicht aus der „Selbigkeit“ gestaltet ist, sondern aus dem unteilbaren Sein. Denn die Selbigkeit selbst besteht auch aus der Mischung von zwei Arten des Seins. Die wörtliche Annäherung der „Selbigkeit“ und Identität (in dem Sinne von Selbstidentität), obwohl sehr verführerisch scheint, rechtfertigt nicht die Ansicht, dass dadurch die Weltseele selbstidentisch ist. Vgl. Figal 1992. Böhme betont, dass das Wesen der Zeit der Aion ist. Aber er verfehlt so sehr, dass die Zeit bei ihm entzeitlicht wird, indem er zu viel Wert auf die Zahl liegt. Dazu aber auch später. Vgl. Böhme 1974, S. 17 ff.
40
3 Die ontologische Zeitkonzeption und ihre vermittelnde Leistung …
wirksam ist62, daran nicht bleiben kann, „ist“ er daher nicht genau. Er ist deshalb zeitlos und gehört nicht wirklich der Zeit und dem Werden.63 Wir verstehen jetzt, warum Platon das „war“ und das „wird sein“ als Formen (εἴδη) der Zeit beschreiben. Dies bedeutet eigentlich, dass die Zeit nur in diesen zwei Formen gezeigt wird, weil sie bloß die defizienten Abbilder der Ewigkeit sind. Das heißt, dass sie den Ursprung in dem „ist“ haben, und ihre Bedeutung allein davon schöpfen können.64 Platon sagt zwar auch nicht viel darüber, aber es ist offenbar, dass das Werden in der Zeit entweder in der Form der Vergangenheit oder in der Form der Zukunft ist, wobei die Gegenwart leider in diesem Sinne verschwindet, weil die Zeit nur eine gewordene Form haben kann,65 die mit dem schlechthin „ist“ oder einer verharrenden Gegenwart nicht zu vereinbaren ist. Aber bemerkenswert ist es, dass Platon sie nicht nur als Formen, sondern auch an einer Stelle als Bewegungen (κινήσεις) bezeichnet.66 Was bedeutet diese Benennung? Heißt es, dass die beiden Formen auch die Bewegungsweise der Zeit charakterisieren?
3.5.2 Die Bewegungsweise der Zeit I: gegen die Interpretation einer zyklischen Zeit Nun kommen wir zum Problem über die Bewegungsweise der Zeit. Man könnte vielleicht einfach diese Bewegung mit der Bewegung des Kosmos vergleichen, weil die Zeit mit dem Himmel immer zugleich erzeugt und zugleich zerlegt wird.67 Und die Bewegung der Zeit als die der Weltseele werde demnach eine zyklische Bewegung.
62Nämlich,
dass sie „verharrt“ nicht, sondern sich bewegt. diesen zeitlosen Augenblick oder Jetztpunkt kann man auf den Dialog Parmenides beziehen. Vgl. Parmenides, 156 d1–e7. Dazu vgl. Beierwaltes 1966/7. Da Platon über dieses Jetzt nichts mehr sagt, ist man nicht imstande, mehr darüber zu entfalten. Vielen Forschungen über die Jetztpunkte fehlen leider die soliden Textbeweise von Platon. Für sie ist Aristoteles Lehre eine stützende erklärende Kraft. Aber man muss bemerken, dass die Zeitlehre Aristoteles im Grunde nicht mit der Platons Lehre einerlei. 64Vgl. Schmidt 2012, S. 25. 65Timaios, 37e: „χρόνου γεγονότα εἴδη“. 66Timaios, 38a. 67Timaios, 38b. 63Über
3.5 Die Bewegung der Zeit
41
Dies ist eine Meinung, die zwar viele Forscher vertreten, die aber sehr irreführend ist. Denn diese zyklische Bewegung des Himmels ist zwar der einzige Hinweis, den Platon in dem Text gibt, wenn er von der Bewegung der Zeit spricht. Aber dieser Gedanke hat eine Beschränkung und eine Schwäche: diese zyklische Bewegung ist eigentlich nur die kosmologische Darstellung der Bewegung der Zeit. Die höchste verwirrende Stelle im Text, die oft als Beleg dient, ist die Formulierung: „die nach Zahl umlaufend Zeit“68. Eine Stelle, die schwer zu erklären scheint, wenn wir die zyklische Zeitkonzeption ableugnen wollen. Aber diese „umlaufende“ zyklische Bewegung, wie Schmidt argumentiert, hat eigentlich nur mit der Zahl der Zeit zu tun, und der Ausdruck „dass sie auf Einheiten von Kreisbewegungen beruht“, bedeutet aber nicht, dass die Zeit „ein zahlenmäßig strukturierter Kreis ist oder aus solchen Kreisen besteht.“69 Die Zeit ist, wie Vlastos sagt, nur „imaged“ als eine Kreisbewegung, aber nicht so „conceived“,70 obwohl sie immer mit dem Umschwung des Himmels unzertrennbar bleibt. Solche Argumente sind sehr erhellend, weil sie den Kritikpunkt einer solchen zyklischen Zeitauffassung betroffen haben. Die Zeit als die Seinsweise des Werdens muss sich in dem Kosmos zeigen, der immer mit Räumlichkeit zu tun hat. Die Zeit selbst aber als die Bewegung der Weltseele muss nicht unbedingt eine solche zyklische Darstellung haben, weil die Zeit kein Körper ist und deshalb nicht als ein Körper betrachtet wird, auch wenn sie räumlich dargestellt werden kann.71 Für diesen Punkt gelten die Formen der Zeit, „war“ und „wird sein“, schon als ein Beweis. Denn wenn die Zeit total zyklisch wäre, würde das „war“ und „wird sein“ ineinander fallen, was aber unvernünftig ist. Interessanterweise dient aber gerade dieser Punkt bei manchen Forschern umgekehrt als ein Beweis, der die zyklische Zeitauffassung unterstützt, und zwar in der Form des „Jünger-und-Älterwerden“.72 Diese Forscher ziehen den Dialog Parmenides heran, um ihre Interpretation zu unterstützen. Im Anschluss an Parmenides 151e4–153b8 interpretieren sie die Formulierung „älter und jünger werden der
38a7. „κατ᾽ ἀριθμὸν κυκλουμένου“ aus “ἀλλὰ χρόνου ταῦτα αἰῶνα μιμουμένου καὶ κατ᾽ ἀριθμὸν κυκλουμένου γέγονεν εἴδη”. 69Schmidt 2012, S. 102. 70Dies argumentiert Vlastos gegen Cornford. Vgl. Vlastos 1965, p. 409; Cornford 1937, p. 103. 71Dies besagt auch nicht, dass es für die Zeit unmöglich ist, zyklisch zu sein, sondern nur, dass sie nicht unbedingt wegen der Himmelsumschwung zyklisch ist. 72Vor allem Böhme und Gloy. 68Timaios,
42
3 Die ontologische Zeitkonzeption und ihre vermittelnde Leistung …
Zeit“73 des Dialogs Timaios so, dass sie wie die anderen Gegensatzpaare (Einheit-Vielheit, Ähnlichkeit-Unähnlichkeit, usw.) die „durch den Kreis bedingten Koinzidenz“74 aufweist und dadurch auf die Einheit der Zeit hindeutet. Diese Berufung auf Parmenides ist leider zunächst problematisch, weil es an dieser Stelle im Parmenides nicht um das Zeitliche und Sinnliche, sondern um das seiende Eine geht, das in der Tat mit der Ewigkeit des Seins im Timaios gleichgesetzt wird. Daher soll diese Textstelle nicht auf die Erklärung der Zeit angewendet werden.75 Aber auch wenn wir von der Unangemessenheit dieser Berufung absehen, bleibt der Grund für diese Interpretation der Bewegung der Zeit wegen der beiden Formen „was“ und „wird sein“ schwerlich haltbar. Denn die Zeit wird mit dem Himmel immer zugleich erzeugt und ihre Bewegung hört nicht auf, insofern der Himmel existiert. Das heißt, insofern der Himmel sich immer bewegt, hat die Zeit auch kein Ende. Aber wenn man die Bewegung der Zeit als zyklisch annimmt, muss man auch ein Ende für die Zeit voraussetzen, das mit dem Anfang dasselbe ist – und zwar, wie Schmidt richtig zeigt,76 muss man voraussetzen, dass der Zeitkreis sich kontinuierlich in jedem Augenblick schließt und öffnet und sowohl einen Anfang als auch ein Ende hat. Aber man muss weiter bemerken, dass auch unter dieser Voraussetzung der Anfang und das Ende eben wegen dieser Kreisbewegung nicht ein und dasselbe sein können, sondern verschieden. Deshalb ist die Zeit auch immer ein Verschiedenes von sich selbst, was die Vorstellung einer Kreisbewegung widerlegt.77 73Timaios,
38a3. Gloy 2008, S. 55 f. 75Schmidt kritisiert diese Ansicht Gloys in der Hinsicht der A-Reihe und B-Reihe der Zeittheorie von McTaggarts weiter. Er ist der Meinung, dass Gloy diese zwei Reihe von Zeittheorie in ihrer Interpretation verwechselnd benutzt, weil sie um der Geschlossenheit und Ganzheit der Zeit willen das Jünger- und Älterwerden als B-Reihe betrachtet, wobei es aber im Kontext von der A-Reihe („war“ und „wird sein“) stehen soll. Vgl. Gloy 2008, Schmidt 2012, S. 80. Die gleiche Ansicht vertritt auch Böhme 1974, S. 117 ff. 76Schmidt 2012, S. 34, 99 ff. Dazu fügt Schmidt noch hinzu, dass man nicht die Wiederkehr von Natur- und Weltereignis mit einer zyklischen Zeit verwechseln soll. Sogar die wiederkehrende Bewegung wird nicht die gleiche sein, ganz zu schweigen von einer gleichen Zeit. So bewegt die Zeit sich immer weiter und zeigt sich nicht als eine zyklische Wiederkehr. Auch die zyklische Natur des Lebewesens bedeutet nur, wie Romilly sagt, “a continuous movement of all thing according to the nature laws”. Vgl. Romilly 1968, S. 91. 77Das Resultat dieser Diskussionen, dass die Bewegung der Zeit keine zyklische ist, gilt als eine Vorbereitung auf die Erläuterung des diskursiven Charakters der Zeit bei Plotin, die ich im Abschnitt 4.3 thematisieren werde. 74Vgl.
3.5 Die Bewegung der Zeit
43
Der Fehler hier besteht tatsächlich in der falschen Vorstellungsweise der Zeit. Man gerät leicht in dem Falle, die Zeit körperlich zu betrachten. Mit dieser falschen Vorstellung wird die Kontinuität und Sukzession der Zeit vernachlässigt und nur ihre körperlich-räumliche kosmologische Darstellung beachtet.78 Der Fehler besteht auch darin, dass man den Timaios-Text und die Funktion der Himmelsbewegung nicht richtig versteht.79 Diese hat in der Tat nur die Funktion, der Zeit und dem Werden Zahl und Ordnung zu geben. Ich werde im Abschnitt 3.6 zu diesem Punkt zurückkommen.
3.5.3 Die Bewegungsweise der Zeit II: gegen die Interpretation einer zählenden Seele Aber aus den beiden Formen, „war“ und „wird sein“, ergibt sich ein weiteres Problem hinsichtlich der Bewegung der Zeit, nämlich: wie sollen wir den Zusammenhang der beiden Formen mit der Bewegung der Zeit verstehen? Im Anschluss an die Erklärung für die Instanz der Bewegung der Zeit wird eine Interpretation für dieses Problem aufgestellt, die ebenfalls verführerisch ist, insbesondere wenn sie einfach mit modernen Zeitmodellen vereinbaren zu können scheint. Der Vertreter dieser Interpretation ist Ernst Schmidt. Für diese Interpretation werden das „war“ und das „wird sein“ als die zweifache Bewegung der Zeit gedeutet. Das heißt, wir sollten diese Bewegung nicht einfach so betrachten, dass sie nur eine einzige Richtung hat. Mit anderen Worten orientiere sich die Bewegung der Zeit nicht allein in die Zukunft oder habe immer nur einen die Bewegung begleitenden Prozess, sondern sie könne auch rückwärts laufen.80 Wie ist dies aber dann möglich? Meint es, dass wir die Zeit wie eine Uhr sogar zurückdrehen kann? So etwas ist hier sicher nicht möglich, zumindest ist es nicht das, was hier mit der Bewegung der Zeit gemeint wird. Schmidt macht klar, dass es hier in der Tat um das in der Zeit „gehende“ Werden geht, nicht
78Es
ist besonders so, wenn man die kontinuierliche Bewegung der Zeit nach einem Kreis noch als Kreisbewegung kennt. Man muss die Verbildlichung der Zeit als einen nachträglichen Prozess von einem räumlichen Zeitbild in dem Prozess unterscheiden. 79Schmidt diskutiert ausführlich das Zeitverständnis bei den Griechen und behauptet sogar, dass es in der griechischen Geschichte gar keine zyklische Zeit geben können, obwohl es immer eine Tradition gibt, die die Zeit mit einem Kreis vergleicht oder eine Ansicht von periodischen Natur- und Weltgeschehens hat. Vgl. Schmidt 2012, 96 ff. 80Schmidt 2012, S. 25.
44
3 Die ontologische Zeitkonzeption und ihre vermittelnde Leistung …
um die Bewegung der Zeit selbst.81 So geht es hier tatsächlich nur um die zeitliche Bewegung des Werdens, und das Substantielles ist noch das Werden, nicht die Zeit. Daher ist die Frage dann als folgendes gestellt: Wie wird ein Werden als in der Bewegung und in dem Zustande des „war“ oder „wird sein“ befindlich beobachtet, so dass wir sagen können, dass etwas (ein Werden) in der Bewegung des „war“ oder „wird sein“ ist? Aber wenn wir darüber tiefer nachdenken, finden wir, dass diese Betrachtungsweise der Bewegung der Zeit nach dem „war“ und dem „wird sein“ eigentlich vieles voraussetzt: vor allem (1) einen Beobachter, nämlich ein beobachtendes Subjekt; (2) und weiter, wie Schmidt selbst argumentiert, die entsprechenden Vermögen, Erinnerung und Erwartung, weil im Vorgriff auf das Definitionselement „Zahl“ diese Vermögen vorausgesetzt werden müssen; (3) und ferner auch das Zählen und das zu Zählende. Nur aus allen diesen darf die Zeit als eine Bewegung in die Vergangenheit und in die Zukunft (gemäß dem „war“ und „wird sein“) angesehen werden. Aber wie schön auch immer es scheint, muss man dennoch sich fragen, ob alle genannten Voraussetzungen im Dialog Timaios ihre Textbeweise finden können. Leider nicht. Der Text spricht weder viel von dem Zählen noch von dem Vermögen, das zu Zählende zu zählen. Die einschlägigen Belege dafür sind allenfalls die Formulierung in der Definition, „nach Zahl gehend/umlaufend“82, und die Rede von der Zahl der Zeit, die von der Himmelskreisbewegung her in der Tat dem Menschen zur Unterscheidung und Bewahrung dient.83 Aber beide deuten nicht sofort darauf hin, dass diese Zahl ein Zählen oder ein zählendes Vermögen voraussetzt;84 sogar könnte der letztere Punkt umgekehrt besagen, dass erst die Bewegung des Himmels den Menschen das Zählen und die Zahl lehrt. Nicht nur fehlen dieser Interpretation Textbelegen von Platon; auch einige ihrer Annahmen sind nicht richtig. Die theoretische Grundlage dieser Interpretation kann nämlich so formuliert werden: die Seele geht von einem ruhenden selbstidentischen Mittelpunkt, der sowohl der Kosmosmittelpunkt als auch das
38a. “περὶ τὴν ἐν χρόνῳ γένεσιν ἰοῦσαν”. 37d6f, 38a7f. 83Timaios, 38c, 39c. 84Eine Ansicht, „das Zählen gilt: nicht nur hängt Zeit an Zahl, sondern auch Zahl an Zeit, weil Zahl und Zählen etwas Zeitliches sind“, verwechselt das grundlegende Verhältnis von Zahl und Zeit. Während das Wissen von Zahl und das Zählen die Zeit vielleicht braucht, hängt die Zahl ontologisch gar nicht von Zeit ab. Vgl. Schmidt 2012, S. 28. Mehr über Zahl werde ich bald erörtern. 81Timaios, 82Timaios,
3.5 Die Bewegung der Zeit
45
aionische Wesen von der Weltseele ist, als dem zeitlosen Jetzt und Ist aus, um die Bewegung der Zeit (ihre eigene Bewegung) durch das erinnernde und erwartende Vermögen der Seele in die Vergangenheit und in die Zukunft zu zählen.85 Ich möchte sagen, dass der Fehler von dieser Ansicht tiefe theoretische Ursachen hat, deren Erklärung für das richtige Verständnis des Zeitbegriffs Platons hilfreich ist: Zunächst hat Schmidt niemals eine klare Unterscheidung zwischen der Weltseele und der menschlichen Seele gemacht. Und daher verwechselt er oft das Erkennen von Zeit mit der Entstehung von Zeit. Der obige letztere Beleg (Timaios, 38c, 39c) zeigt gerade die Bedeutung von Zahl und Zählen für uns als Menschen und menschliche Seele, damit wir die Zeit erkennen können. Die Weltseele ist aber dagegen nicht zählend, sondern zahlgebend. Dieser große Unterschied ist in der Tat der wichtigste in einer ontologischen Interpretation von Zeit. Ähnlich dürfen wir natürlich sagen, dass die Seele eine zeitliche Struktur hat, dennoch ist dies nur teilweise richtig, weil die Weltseele eigentlich dafür zuständig ist, die Zeitlichkeit zu geben. Sie verzeitlicht sich selbst in diesem gleichen Prozess. Zweitens scheint der Grund für einige Forscher, welche die Zeit als „ein aionisch gegründetes Zählen der Lebensbewegung der Seele“86 betrachten, in dem großen Einfluss von der Zeitlehre Aristoteles‘ zu bestehen, wobei das Zählen und ein zählendes Subjekt eine große Rolle in der Zeitdefinition spielen. Obwohl Schmidt schon versucht, sich selbst von Aristoteles und seiner Lehre zu unterscheiden87, kann er diesen Einfluss doch nicht vermeiden. Die Einbeziehung der Vermögen der Seele hier ist schon ein Indiz dafür, weil diese Vermögen erstens nur der Einzelseele der Menschen gehören und sie zweitens gar keine Spur in der Entstehung von Zeit in Timaios haben. Der dritte, aber philosophisch wichtigere Grund für eine solche Interpretation ist vielleicht es, dass diese Ansicht de facto von einem ontischen Zeitverständnis ausgeht, und zwar von einer sogenannten „Zeiterfahrung“. Was Schmidt hier macht, ist eigentlich der Versuch, eine von uns als Menschen erkannte Zeit zu erklären, nicht aber das Wesen der Zeit. Denn er geht immer nur von dem gnoseologischen Aspekt aus: wie erkennen wir die Zeit, nicht wirklich von dem Aspekt aus: was bedeutet die Zeit eigentlich ontologisch als ein Bild der Ewigkeit.
85Vgl.
Schmidt 2012, S. 32 f. 2012, S. 33. 87Schmidt 2012, S. 26, 37 ff. 86Schmidt
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3 Die ontologische Zeitkonzeption und ihre vermittelnde Leistung …
Sicher, man könnte Schmidt dabei helfen durch die Verteidigung, dass Schmidts Interpretation schon ontologisch ist, weil er alle drei Betrachtungsaspekten (den kosmologischen, ontologischen und gnoseologischen) schon zusammen in eins verschmolzen und uns genau den sich daraus ergebenden gnoseologischen Aspekt gezeigt hat, und dass wir davon gleichsam ein wunderbares Bild von der Entstehung der Zeit vor Augen haben können. Aber es ist schon genug, diese Verteidigung widerzulegen, wenn man sich erstens auf das Fehlen von Textbelegen dafür und zweitens auf die Tatsache, dass dieses Bild, wie ich sofort behandeln werde, auf einem falschen und eingeschränkten Verständnis von Zahl basiert, aufmerksam macht. Ganz geschweige davon, dass die Interpretation noch eine große Schwierigkeit hervorbringt, nämlich das Fehlen eines Standpunkts in der Zeit. Es fragt sich nämlich nun, wo das Jetzt ist, von dem das Zählen vorwärts und rückwärts operieren kann. Darauf könnte man antworten, dass das Jetzt zeitlos sei, wie Platon schon sagt. Aber hier diskutieren wir nicht darüber, ob es ein Jetzt in den Formen von Zeit gibt, sondern das Problem, von welchem Punkt die Weltseele diese Bewegung machen soll, um entweder rückwärts oder vorwärts zu zählen und bestimmen. Denn das Zählen muss schon ein zeitliches Jetzt als Ausgangspunkt des Zählens voraussetzen. Und dadurch muss das Zählen sich endlich auch in der Zeit zeigen, was aber einen Widerspruch mit dieser Interpretation hervorbringt, nach der die Zeit erst durch das Zählen erzeugt werde. Wichtiger ist es noch, dass eine solche Ansicht immer voraussetzt, dass ein neuer Anfang von dem Aspekt des Beobachters ausgehen soll. Dies ist nur insofern richtig, als es für jedes endliche Subjekt gilt, die Welt auf diese Weise zu betrachten, jedoch nicht geeignet für eine Weltseele. Sonst würde der Zusammenhang der Zeit mit der ontologischen Ordnung der Ideenwelt überhaupt verlieren, der seinerseits erst der Grund für die Erzeugung der Zeit und die Vermittlungsfunktion der Weltseele ist. Aus diesen Gründen muss jene Interpretation also auch widergelegt werden. Wir haben Einwände gegen die Vorstellungen über die Bewegungsweise der Zeit bei Platon ausgeführt, die in der Forschung sehr bekannt sind. Aber eine positive Antwort darauf, wie eigentlich diese Bewegung von der Weltseele ist, bleibt leider noch im Dunkel. Denn es gibt tatsächlich gar kein deutlicher Hinweis von den Texten, mit dem man dieses Problem im Einzelnen lösen kann. Vielleicht muss man hier dieses Problem bei Platon vorläufig offen lassen. Nun kommen wir endlich zu einem der wichtigsten Definitionsmomente der Zeit, das in den obigen Diskussionen schon vielmals auftauchte, nämlich das Moment der Zahl. Die Bewegung der Zeit oder die der Weltseele hängt mit der Zahl eng zusammen, wie in der Zeitdefinition gezeigt. Im Folgende werde ich den Begriff der Zahl in Timaios thematisieren, um schließlich die vollständige
3.6 Die Zahl und die vermittelnde Rolle der ontologischen Zeit
47
o ntologische Zeitkonzeption und ihre vermittelnde Rolle festzustellen. Dies kann endlich auch erklären, inwiefern genau die Zeit ein Bild der Ewigkeit ist.
3.6 Die Zahl und die vermittelnde Rolle der ontologischen Zeit Im Ausdruck der Zeitdefinition „nach Zahl gehend“ wird der Begriff „Zahl“ als ein Gegenpaar von „Einheit“ in der Ewigkeitsdefinition herausgehoben. Aber bedeutet es schon, dass in der Ewigkeit gar keine Zahl existiert? Natürlich nicht so definitiv. Denn die Definitionen von Zeit und von Ewigkeit beide haben eine Beschränkung in sich, nämlich „gehend“ und „verharrend“, und besonders ist es wichtig zu sehen, dass die Zeit nicht als bloße Zahl, sondern als „nach Zahl“88 definiert ist. Es ist deshalb erstens einzusehen, dass jeder Versuch, die Zeit und Zahl gleich zu setzen, völlig grundlos ist.89 Denn die Zahl ist nicht unbedingt mit der Zeit verbunden. Ein kleiner Beweis kann in der „ungeschriebenen Lehre“ Platons gefunden werden, nach der die Idealzahl ontologisch in einer höheren Seinsstufe als die Zeit steht und das Mathematisches auch einen höheren ontologischen Status als dieselbe hat (obwohl das Mathematische in derselben Seinsstufe mit der Zeit liegt). Auf ihrer Grundlage kann man zwar vielleicht auch einwenden: wenn die Zeit in der Tat die Bewegung der Seele ist und das Mathematische der eigene Bereich der Seele sein soll, warum haben sie nicht den gleichen ontologischen Status? Im gewissen Sinne gehören die Zeit und die Zahl zwar dem gleichen Seinsbereich. Dennoch bleibt die Zeit im hiesigen Kontext noch von der Zahl unterschieden. Die Besonderheit hier liegt gerade in der zweifachen Rolle, welche die Weltseele an sich trägt. Denn nach ihrer Gestaltungsweise ist Weltseele einerseits intelligibel, indem sie aus dem unteilbaren Sein besteht, andererseits aber auch sinnlich, weil sie auch das teilbare Sein in sich hat. So hat die Zeit als die Bewegung der Seele eher mit der Seite der Sinnlichkeit zu tun und herrscht über das Sinnliche (das Werden), nicht umgekehrt. Der Bereich des Mathematischen soll dagegen als der Wohnraum der Weltseele, in dem ihr Ewigkeitskern ruht, vielmehr die Ordnung der intelligiblen Welt zeigen. So muss das
37d. “κατ᾽ ἀριθμὸν ἰοῦσαν”. Schmidt 2012, S. 28.
88Timaios, 89Vgl.
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3 Die ontologische Zeitkonzeption und ihre vermittelnde Leistung …
oberflächliche Vorurteil, nach der Definition die Zahl mit der Zeit in eins zu setzen, zuerst aus dem Weg geräumt werden. Zweitens muss man auch die genaue Bedeutung des Adjektivs „gehend“ bzw. „verharrend“ ermitteln. Das Verharren im Einen, wie wir schon bei der Ewigkeit erörtert haben, bezieht sich in der Tat auf einen Lebenszustand der Ideenwelt, wo alles miteinander verflechtet und nicht voneinander trennt. Das Wort „Eine“ bedeutet hier die Einheit und zugleich die Ganzheit, was aber auf keinen Fall die Vielheit oder Zahl ausschließt. Deshalb ist der Versuch, die Zahl nur der Zeit zuzurechnen, auch völlig grundlos.90 Mit dieser Hinsicht können wir sehen, dass die Zahl nicht einfach nur als die Zahl bei dem Zählen der Einheiten der Zeit91 mithilfe des Himmelsumschwungs betrachtet werden. Obwohl der Schwerpunkt in der Zeitdefinition wohl auf die Zahl in diesem Sinne legt, entspricht es dem ganzen Zusammenhang des Textes aber nicht, die Zahl nur so zu verstehen. Die Planetenbewegungen und ihre Verhältnisse lehren uns zwar die Zahl, so dass wir über diese verfügen können. In diesem Sinne sagt Platon, dass die Planeten zur Unterscheidung und Bewahrung der Zahl erzeugt sind92. Das ist teilweise die gnoseologische Ursache für die „Erzeugung“ der Zeit. Aber die Ansicht, die Zahl nur nach dem Zählen zu verstehen, verliert gerade den Zusammenhang mit der Erzeugung der sinnlichen Welt, die ihrerseits aber die ontologische Ursache für die „Erzeugung“ der Zeit ist. Wir müssen also die Zahl so verstehen, dass sie eine zweifache Bedeutung hat. Einerseits wird die Zahl so vorgestellt, wie sie mit dem Zählen verbunden ist. Aber andererseits muss man die Zahl mit der ganzen Gestaltung der Weltseele und Kosmos verbinden. Dies befindet sich offensichtlich in dem Text Timaios. Der Teil über die Erzeugung der Zeit in Timaios behandelt ausführlich das mathematische Verhältnis der Konstruktion der Weltseele.93 Und gerade nach der Erzählung der Zeit-Erzeugung zeigt Platon die Anordnung der Planeten, die sich in unterschiedlichen Bahnen mit unterschiedlichen Geschwindigkeit bewegen.94 Dort wird sogar ausführlich erzählt, wie sie einander jagen und schließlich das Vollkommen-Jahr erreichen, damit der Himmel durch die Nachahmung seiner
90Von
einer geschichtlichen Forschung über die Zahl in der Ewigkeit vgl. Böhme 1974, S. 123 ff. 91Das Erkennen von der Zeit bedarf eines solchen Zählens. 92Timaios, 38c. 93Vgl. Timaios, 35 ff. 94Timaios, 38b ff.
3.6 Die Zahl und die vermittelnde Rolle der ontologischen Zeit
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ewigen Natur dem vollkommenen intelligiblen Lebewesen (die Ideenwelt) möglichst ähnlich ist,95 und insbesondere auf der Bahn des Selben und des Verschiedenen, welche die Weltseele bestimmt. Alle diesen Erzählungen zeigen deutlich, dass die Konstruktion des Alls komplett auf der durch die Weltseele klar bestimmte und geordnete Zahl basiert. Jede Interpretation, die Zahl nur mit einem Zählen auf der Weise des Nacheinanders, wie des „früher“ und „später“ (oder Vergangenheit und Zukunft), zu verbinden, oder die Zahl mit den Teilen der Zeit, wie Tagen, Monaten usw., zu verbinden, ist also einseitig und vernachlässigt die Absicht Platons in der Erzählung der Erzeugung der Zeit im Kontext der Erzeugung des Weltalls. Die Ursache dieser Einseitigkeit hängt in der Tat teils davon ab, dass man zu viel Wert auf den ontischen Aspekt der Zeit und auf ihre physikalische Erscheinungsweise legt. Die Zeittheorie Platons ist aber in der Tat gar nicht ontisch orientiert, obgleich sie in diese Richtung geleitet werden kann. Die theoretische Absicht, eine Zeittheorie zu entwickeln, ist für Platon vor allem immer ontologisch. Denn womit die Zeittheorie Platons – und auch seine Hauptlehre – sich beschäftigen will, ist immer die wesentliche Erklärung für das konstitutive „Warum“ der Welt in Bezug auf das Sein, nicht aber eine bloße inhaltslose Form. Es ist daher zu beobachten, dass die εἴδη in Platons Philosophie oft zuerst mit dem Wesen verbunden sind. Deshalb ist eine Interpretation, die sich allein auf eine physikalische-ontische Zeit konzentriert und den ganzen ontologischen Hintergrund von der Platons Ontologie vernachlässigt, einseitig. Der Ausdruck „nach Zahl gehend“96 oder „gemäß Zahl sich drehend“97 soll deshalb nicht einfach als die Zahl im Sinne von Nacheinander abgelesen werden. Diese Ausdrücke können zugleich auch den Sinn einer komplizierten Ordnung des Weltalls in sich enthalten, was sich deutlicher in der letzteren Formulierung („gemäß Zahl sich drehend“) zeigt98, obwohl die Zeit sich endlich in der Weise der Zeitformen „war“ und „wird sein“ darstellt, nämlich als eine lineare Zeitauffassung. Allein wenn diese zwei Bedeutungen von der Zahl völlig geklärt werden, wird die ontologische Funktion der Zeit erst ans Licht gebracht. Die Gestaltung
95Timaios,
38d ff. 37d6. 97Timaios, 38a7. 98Dies erklärt zugleich die verwirrende Benutzung von „drehend“, was den typischen Fehler einer zyklischen Zeitauffassung leicht auslösen wird. 96Timaios,
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3 Die ontologische Zeitkonzeption und ihre vermittelnde Leistung …
und Konstruktion der Weltseele stellt die Konstruktion der Ideenwelt in einem zahlenmäßigen Verhältnis dar, indem die Bahnen des Selben und Verschiedenen diese komplizierte Aufgabe an sich tragen. Von dem unteilbaren Sein nimmt die Weltseele diese Vernunft (λογισμοῦ) und Harmonie (ἁρμονίας) auf99, und weil sie das teilbare Sein auch in sich enthält, kann sie sich durch den körperlichen Kosmos hindurch (διὰ πάσης ἑαυτῆς) bewegen und den Kosmos bestimmen. Und dies geschieht in der Weise von proportionalen (ἀνὰ λόγον)100 Verhältnis, nämlich nach der Zahl. Dies erklärt auch, warum Platon im Anschluss an dem Textteil 36d-37c sofort die Erzeugung der Zeit erörtern muss. Denn die Zeit als die Bewegung der Weltseele soll das Mittel sein, die intelligible Ordnung komplett auf das Werden zu übertragen. Diese Textstelle ist deshalb besonders wichtig für die Interpretation der Zeit in ihrem ontologischen Sinne. Ich zitiere hier eine besonders interessante und bedeutungsvolle Formulierung: „So wird sie [d. i. die Seele], wenn sie mit irgendetwas in Berührung tritt, mag nun dasselbe ein teilbares Wesen haben oder ein unteilbares, durch ihr ganzes Selbst hindurch bewegt und gibt eben hierdurch kund, womit nur immer irgendetwas dasselbige oder wovon es verschieden ist, und in was für Beziehung vornehmlich und auf welche Art und Weise und wann für dasselbe der Fall eintritt, was immer und im Verhältnis zu wem immer sowohl von dem Werdenden als auch von dem immer sich Gleichbleibenden zu sein sowie zu erleiden.“101 Dies zeigt besonders klar, wofür eigentlich die Weltseele hier zuständig ist. Es ist die Beziehung zwischen den Seienden, sowohl den des Werdens als auch den des Seins, welche die Weltseele zu ihrer eigenen Aufgabe macht. Die Weltseele bestimmt deshalb das Grundverhältnis, in dem jedes Seiende zu den anderen stehen soll. Und durch ihre Durchdringungskraft herrscht sie über den ganzen Kosmos und seine Bewegung. Sie gehört beiden Bereichen, so dass sie einerseits imstande ist, das wesentliche Verhältnis aller Seienden in der Welt des Seins (und wie sie sich überzeitlich miteinander verbinden) zu zeigen, und andererseits,
99Timaios,
37a1. 37a3. Proportional geteilt, „ἀνὰ λόγον μερισθεῖσα“. 101Timaios, 37a–b: ὅταν οὐσίαν σκεδαστὴν ἔχοντός τινος ἐϕάπτηται καὶ ὅταν ἀμέριστον, λέγει κινουμένη διὰ πάσης ἑαυτῆς ὅτῳ τ᾽ ἄν τι ταὐτὸν ᾖ καὶ ὅτου ἂν ἕτερον, πρὸς ὅτι τε μάλιστα καὶ ὅπῃ καὶ ὅπως καὶ ὁπότε συμβαίνει κατὰ τὰ γιγνόμενά τε πρὸς ἕκαστον ἕκαστα εἶναι καὶ πάσχειν καὶ πρὸς τὰ κατὰ ταὐτὰ ἔχοντα ἀεί. Übersetzung nach Susemihl. 100Timaios,
3.6 Die Zahl und die vermittelnde Rolle der ontologischen Zeit
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hinsichtlich der Welt des Werdens, auch alle sinnlichen Seienden und ihr kompliziert Beziehungen nach dem Urbild des Kosmos regelt.102 Diese zweifache Aufgabe zeigt eben die Vermittlungsrolle der Weltseele. Sie demonstriert ihre Bestimmungskraft dann in der Erzeugung der Zeit, weil sie nur durch ihre gehende Bewegung ihr Urbild, die Welt des Seins, möglichst ähnlich nachahmt.103 Die Zahl, welche die Bewegung der Planeten inklusive ihrer komplizierten Anordnung zeigt, ist eben eine abbildende Darstellung von dem Nachgeahmten.104 Deswegen wird die daraus erzeugte Zeit auch eine ähnliche vermittelnde ontologische Rolle spielen. Zusammenfassend kann man sagen, dass die Weltseele und die daraus erzeugte Zeit eine Vermittlungsfunktion haben, weil sie mit den beiden Bereichen verkehren können und imstande sind, die Bestimmung in der Welt des Seins möglichst ähnlich auf die Welt des Werdens zu übertragen. Die Zeit ist das Medium, auf eine eigenständige Weise mittels des von der Ideenwelt Erhaltenden die Welt des Sinnlichen zu bestimmen, die sich in der Form des „war“ und „wird sein“ vorkommt.
102Timaios,
37b–c. ähnliche Einsicht hat auch Walter Mesch. In seinem Buch erörtert er die Vermittlungsrolle der Zeit und ihre ontologische Bedeutung. Er beruft auf der zeittranszendierenden Ideendialektik als die Bewegtheit und Lebendigkeit der Ewigkeit. Dadurch spielt die Zeit die ontologische Rolle, „das vollkommene Sein der Ideen im Kosmos an das defiziente Sein der Bewegung“ zu vermitteln. Vgl. Mesch 2003, S. 167 ff. 104Gernot Böhme äußert eine ähnliche Ansicht. Seine Erklärung ist in vielen Hinsichten erhellend. Dennoch gerät er auch in ein großes Problem, wenn er die Formen der Zeit („war“ und „wird sein“) von dem Begriff der Zeit ausschließt und das Wesen der Zeit ausschließlich mit dem Aion gleichsetzt. Der Irrtum liegt in der Tat darin, dass Böhme nur einseitig das Verhältnis zwischen der Zahl und Zeit betont. In seiner Sicht ist die Zeit eine bloße mechanische und statische Darstellung für die Konstruktion des Himmels und Zahl. Es zeigt sich besonders in seiner Betonung auf den Zeitteilen, wobei sie de facto das Verhältnis zwischen dem Himmel und Zahl betreffen. Er sieht leider darin kein wesentliches Verhältnis zwischen dem Werden und Zeit, insbesondere im ontologischen Aspekt. Deshalb betrachtet er die Zeit immer von der Seite des Seins und seinen komplizierten ruhenden Ordnungen und betont einseitig die Beziehung zwischen der Zeit und Gestaltung der Weltseele. Dies führt leicht zu einer Entzeitlichung der Zeit, was aber leider komplett falsch ist. Denn die Zeit als die wesentliche Seinsweise des Werdens hat ihren eigenen besonderen ontologischen Wesenscharakter, der sie von dem Aion wesentlich unterscheidet. Vgl. Böhme 1974, S. 17 ff. 103Eine
4
Die Affinität zwischen Zeit und Denken. Die ontologische Zeit in der Bestimmung des Seins hinsichtlich der Geistmetaphysik Plotins
Das Verhältnis der ontologischen Zeit zu der Bestimmung des Seins der sinnlichen Dinge und die Rolle der Weltseele in diesem Verhältnis, wie wir dies in Kapitel 2 argumentativ abgelesen haben, werden bei Platon nur angedeutet. Gebunden mit einer bildlichen Rede und dem kosmogonischen Kontext wird nämlich dort eine ontologische Zeitkonzeption nicht in der Form einer Theorienbildung deutlich aufgestellt. Eine solche ontologische Zeitkonzeption wird erst von Plotin, dem Gründer des Neuplatonismus, vollständig entwickelt, der die genannten Thesen Platons nicht nur aufnimmt, sondern auch vermittels seiner eigenen philosophischen Ansätze begründet. Anders als Platon, der das bestimmende Prinzip des Seins der sinnlichen Dinge in dem statischen Rahmen der Zwei-Welten-Theorie untersucht, entwickelt Plotin eine Lehre von dem Ableitungssystem der einander untergeordneten Seinsstufen, wo diese sich aufeinander ununterbrochen und dynamisch beziehen. An der Spitze dieses Ableitungssystems steht das transzendente Eine, das einerseits völlig absolute ist, so dass es jenseits des Seins und Denkens und deshalb auch jenseits der Vielheit ist, aber andererseits die Quelle aller anderen Seinsstufen ausmacht. Dann bringt jede obergeordnete Seinsstufe aus ihren eigenen Kräften (δυνάμεις) die untere Seinsstufe hervor, und jede untergeordnete Seinsstufe erhält ihre Kräfte und ihr Sein von der oberen. Diese Dynamik kann auf Plotins Theorie der δύναμις zurückgeführt werden. Die δύναμις ist eines der stiftenden Momente des Ableitungsprozesses, das alles erst in die Bewegung bringt. Plotin führt hier eine Lehre von zweifacher Dynamis ein, nach der die δύναμις nicht mehr nur die reine Potentialität ist, und zwar die als unvollkommen verstandene Möglichkeit, etwas zu werden, wie Aristoteles in seiner Lehre sagt, sondern zugleich die Potentialität und die Potenz – die letztere bedeutet groß gesprochen die Kraft, sich zu verwirklichen (ή δύναμις κατά © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Liu, Zeit und Sein des Sinnlichen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61924-7_4
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4 Die Affinität zwischen Zeit und Denken. Die ontologische Zeit …
τό ποιεῖν).1 Diese Potenz, die zwar zur Beschreibung des Einen erstmals eingeführt wird,2 kann doch auf jede Seinsstufe angewendet werden, sofern in dieser Seinsstufe etwas den Seinsgrad hat und sich entfalten will. Diese Dynamik der δύναμις ist dann mit ihrer entsprechenden Aktivität (ἐνέργεια) zusammen die strukturale treibende Kraft für das ganze Ableitungssystem der Ontologie Plotins. Unter allen Seinsstufen sind drei die ursprünglichen, nämlich das transzendente Eine (ἕν), der Geist (νοῦς), welcher der platonischen Ideenwelt gleich ist, und die Seele (ψυχή). Plotin nennt sie drei Hypostasen (ὑπόστασις), welche die wesentlichsten Seinsweisen und deshalb ursprünglich sind.3 Es ist aber bewundernswert zu sehen, dass die sinnliche Welt in der Theorie Plotins allerdings nicht zu den drei Haupthypostasen gehört, obgleich sie doch als eine Art von Sein anzusehen, daher als eine Seinsstufe, die dem Ableitungssystem von dem Einen angehört. Schon hier zeigt sich der grundlegende Unterschied zur Platons Lehre, wo die Welt des Werdens, zumindest in den Dialogen, für eine wahre Seinsstufe gehalten wird, während die Seele nur eine Quasi-Stufe ausmacht.4 Plotin wird sicher sagen, dass die sinnliche Welt, oder besser in seinem Wort, die Natur (ϕύσις), auch als eine Seinsstufe gilt; aber er ist der Ansicht, dass die sinnliche Welt doch sicher nicht eine von jenen selbstständigen Seinsstufen ist wie die ursprünglichen Hypostasen, weil sie in der Tat das Produkt der Selbstentfaltung der Seele ist und nur als eine unterste Stufe derselben angesehen werden kann.5 Dies bedeutet, dass das Sein der sinnlichen Welt nur in Rückbezug auf die Bewegung der Selbstentfaltung der Seele zu verstehen ist. Es ist daher klar, dass es in dem Problem der Bestimmung des Seins der sinnlichen Welt darauf ankommt, wie die innere Verfassung der Selbstentfaltung der
1Diese
Bedeutung des Begriffs der δύναμις wird von L. Sweeney richtig erklärt. Vgl. Sweeney 1957, p. 713 f. 2Enneaden, V 3, 15. „δύναμις πάντων”. 3Bezüglich dieses Problems beruft Plotin auf Platon, dem zufolge „aus dem Guten der Geist und aus dem Geist die Seele hervorgeht“, und er vergleicht seine Theorie der drei ursprünglichen Hypostasen – des Einen, des Geistes und der Seele – mit der Lehre, die der „Parmenides“ in Platons Dialog Parmenides ausspricht, nämlich, der Lehre über die Unterscheidung zwischen dem ersten Einen, dem „Einen-Vielen“ und dem „Einen und Vielen“. Enneaden, V 1, 8. Dies basiert natürlich auf eine neuplatonische Lesart von Parmenides, wobei die Hypothesen dort keine bloß logischen Übungen sind, sondern mit metaphysischer Bedeutung verbunden. Dazu vgl. Proklos, In Parmenides, 638–640f. 4Vgl. Abschnitt 3.4 der vorliegenden Arbeit. 5Enneaden, IV 4, 13f. Zum Begriff von ϕύσις vgl. Müller 1916.
4 Die Affinität zwischen Zeit und Denken. Die ontologische Zeit …
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Seele beschaffen ist. Dies ist aber hinsichtlich des ganzen Ableitungssystems gerade die Problematik des Übergangs vom Geist zu der Seele oder der Übertragung der Seinsbestimmungen im Geist auf die sinnlichen Dinge. Eben in der Erörterung dieser Problematik redet Plotin spezifisch von Ewigkeit und Zeit, und zwar in der Schrift „Über Ewigkeit und Zeit“ (Περὶ αἰῶνος καὶ χρόνου) in Enneaden, III 7, indem er sie jeweils als die Seinsweise des Geistes und der Seele bestimmt. Damit stellt Plotin deutlich aus dem Zusammenhang der Zeit mit der Bewegtheit der Seele den Gedanken auf, dass die Zeit das bestimmende Prinzip des Seins der sinnlichen Dinge ist, die in der Bewegung der Seele hervorgebracht werden. Dadurch wird das bei Platon nur angedeutete Verhältnis zwischen der Seele, der Zeit und der sinnlichen Welt nun von Plotin bereichert und entwickelt.6 Außerdem ist zu bemerken, dass Plotin sich bei der Rede von dem Geist, der Seele und dem Verhältnis der beiden in einem Denkmodus befindet, der von manchen Forschern als „Geistmetaphysik“ bezeichnet wird.7 Nach diesem Denkmodus wird die Selbstvermittlung des Seins von dem Selbstbewusstsein des Geistes und der Seele her betrachtet; Die innere Struktur und Bewegtheit des Seins entfaltet sich also auf die Weise des Denkens. Der Geist und die Seele werden daher als Arten des „seinshaften Denkens“ (οὐσιῶδες νόησις) angesehen.8 Dabei wird das Selbstverhältnis des Seins in dem Prozess der Bewegung des Geistes bzw. der Seele, und zwar mit dem Denken in seiner Konkretheit dargestellt. Daher ist für Plotin jede Seinsstufe die Identität von der ihr entsprechenden Seins- und Denkensart. So enthält der ontologische Aspekt eines Seienden zugleich auch den epistemischen Aspekt desselben, und umgekehrt auch. In der Erläuterung der
6Der
Zeitbegriff Plotins gehört zu den meistdiskutierten Themen der NeuplatonismusForschung des 20. Jahrhunderts. Darunter ist vor allem das sehr ausführliche Kommentar von Beierwaltes zu III 7 der Enneaden zu erwähnen. Vgl. W. Beierwaltes 2010. Zu nennen sind außerdem noch Halfwassen 2002; Smith 1996; Gloy 1989; Manchester 1978; Jonas 1962; Simons 1985. Dank dessen, dass Plotin seine eigenen Thesen sehr deutlich ausdrückt, haben diese Forschungen im Ganzen nur wenige Meinungsunterschiede, was aber von dem Fall der Interpretation über Platons Zeitlehre ganz unterschiedlich ist. Meine folgende Erläuterung des Zeitbegriffs Plotins beruht auf den Ergebnissen dieser Forschungen, berücksichtigt aber, wie bald gesagt, besonders seinen geistmetaphysischen Aspekt und seine ontologische Rolle der Vermittlung der intelligiblen Bestimmung an den sinnlichen Dingen. Bei deutschen Übersetzung von Plotins Texten in III 7 der Enneaden folge ich Beierwaltes mit wenigen Abweichungen. 7Vor allem Krämer 1964 und Halfwassen 2006. 8Enneaden, V 3, 5, 37.
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4 Die Affinität zwischen Zeit und Denken. Die ontologische Zeit …
plotinischen Zeitkonzeption und der damit verwandten Begriffe soll diese geistmetaphysische Identität dieser zwei Aspekte immer beachtet werden.9
4.1 Vorbemerkung zur plotinischen Fragestellung nach dem Wesen und dem Ursprung der Zeit Die Frage nach dem Wesen der Zeit und der Rolle derselben in der Bestimmung des Seins der sinnlichen Dinge hat Beierwaltes m. E. auf die richtige Weise gestellt: um die Frage, was Zeit ist, begründet zu entfalten, soll man zuerst fragen, warum Zeit ist.10 Die letztere Frage führt uns zu einem neuen Horizont fürs Verständnis der Zeit. Schon das Phänomen, dass die Zeit oft als ein begleitender Zustand der Bewegung beschrieben wird, deutet etwas über die Zeit an: Sie sieht so aus, dass sie nicht völlig selbstständig ist, sondern einen Zustand von etwas ist. Diese Formulierung „Zustand von etwas“ passt zwar nicht ganz genau, aber sie drückt aus, dass die Zeit einen Zugrundeliegenden haben soll. Denn ohne jede Art von Seiendem als dem Zugrundeliegenden ist es nicht möglich, die Existenz der Zeit darzustellen, obwohl die Zeit tatsächlich, wie wir bald sehen werden, mit
9Es
ist aber nötig, zu bemerken, dass das Denken sowohl des Geistes als auch der Seele nicht unmittelbar mit dem der Menschen gleichgesetzt werden kann, wie man oft in der neuzeitlichen Philosophie seit Descartes und besonders in der gegenwärtigen Philosophy of Mind sieht. Denn der Geist und die Seele vielmehr den von den Menschen unabhängigen ontologischen Status ausdrücken. Obwohl wir Menschen als die von der Seele konstruierten Lebewesen auch dieses Denken besitzen, oder eher: dieses ist das bestimmende Merkmal des Menschen, gehören wir Menschen und das Denken, das wir haben, aber nur als ein Teil zum ganzen Prozesses der Weltschaffung. D. h. obgleich die Menschen Tätigkeiten parallel zum Denken haben, sind diese menschlichen Tätigkeiten dennoch nicht zentral für das Denken überhaupt. Die besondere Stellung der Menschen besteht tatsächlich nur darin, dass sie die höchste Stufe von Seele haben, so dass sie noch der intelligiblen Welt gehören. Wir können sogar ferner behaupten, dass auch der Geist zu uns Menschen gehört, weil er in einer eingefalteten Einheit der Grund unserer „ersten Seele“ ist, so dass er uns immer gegenwärtig ist. In diesem Sinne ist unsere Erkenntnis in der Tat nur ein kleines Abbild und Nachahmung des Ganzen der ontologischen Erkenntnismöglichkeiten. Wir Menschen sind nur ein verkörpertes Beispiel dieser geistigen Ontologie, und zwar der Geistmetaphysik, indem wir die Fähigkeit haben, zum Selbstbewusstsein gelangen zu können, zumal die Seele, die wir haben, aufsteigen und dem Geist zuwenden können. Deshalb kann eine solche Geist-Ontologie das Vorbild bzw. Prototyp für unser Erkennen dienen. Mit dieser Hinsicht sollen wir uns von einigen Vorurteilen der heutigen Erkenntnistheorie befreien und das Denken bei Plotin als dasjenige, das mit dem Sein dasselbe ist, ontologisch bzw. geistmetaphysisch behandeln. 10Beierwaltes 2010, S. 62.
4.1 Vorbemerkung zur plotinischen Fragestellung nach dem Wesen …
57
diesem sogenannten Zugrundeliegenden unzertrennt, sogar eine und dieselbe ist.11 Dieses Zugrundeliegende der Zeit ist bei Plotin nicht die sinnlichen Erfahrungsgegenstände, wie wir heute vielleicht vermuten, sondern die Seele als eine der ursprünglichen Hypostasen; dies bedeutet, dass die Zeit mit dem Leben bzw. der Seinsweise der Seele verbunden ist und ihr Ort in der Seele festgestellt wird. Aber wie und warum ist die Zeit die Lebensform und Seinsweise der Seele? Die Frage danach, warum Zeit ist, führt uns also weiter zur Betrachtung des Ursprungs der Seele. Da in Plotins Ableitungssystem die Seele eigentlich erst in der Selbstentfaltung des Geistes nach außen hervorgebracht wird, ist das Verständnis der Zeit, sofern sie das Leben der Seele ist, sachgemäß ein Verständnis ihres Ursprungs, nämlich ein Verständnis der Seinsweise des Geistes, voraussetzt. Dadurch wird die Frage nach dem Warum des Seins der Zeit erst beantwortet. Ich möchte nun diese Frage so formulieren: warum und wie die Zeit entsteht und nicht vielmehr in dem zeittranszendenten Geist verharrt. Mit dieser Frage zieht man auf eine ontologische bzw. geistmetaphysische Weise den Ursprung der Zeit in Erwägung und versucht, aus diesem Grund zu erklären, warum die Zeit die Leistung hat, die intelligible Struktur und Ordnung bzw. die Seinsbestimmungen im Geist auf die sinnlichen Dinge zu übertragen. Hierbei kann man also nicht mehr bei dem phänomenalen Verhältnis zwischen Zeit und Bewegung der sinnlichen Dinge stehenbleiben, wie üblich getan wird,12 sondern in den Zusammenhang zwischen
11Enneaden,
III 7, 5. übt eine systematische Kritik an den antiken Zeitauffassungen, welche die Zeit aus ihrem Bezug auf die Bewegung der sinnlichen Dinge erklärt. Plotin teilt die Zeitauffassungen in drei Gruppen ein, nämlich: (a) Zeit sei Bewegung; (b) Zeit sei das Bewegte; und (c) Zeit sei etwas an der Bewegung; die Gruppen haben dann weitere Varianten, wie z. B. in der ersten Gruppe: ob die Zeit die gesamte Bewegung oder Bewegung des Weltalls ist, oder ob sie den Abstand der Bewegung bedeutet, oder das Maß der Bewegung, oder eine Folge von ihr. Besonders wichtig ist seine Kritik an Aristoteles’ Zeitdefinition: die Zeit sei die nach Früher und Später bewegende Zahl. (Physik, Δ4. 219b2–3. „ἀριθμός κινήσεως κατὰ τὸ πρότερον καἰ ὕστερον.“) Diese Ansicht heißt zugleich, die Zeit als Zahl oder Maß der Bewegung zu betrachten. Nach Plotin aber bleibt in dieser aristotelischen Definition doch das verborgen, was die Zeit wirklich ist. Ich werde im Folgenden einige Argumente Plotins kurz erwähnen. Wenn man die Zeit als ein Maß ansieht, das festgelegt ist, bedeutet dies einfach nur, dass die Zeit als das Maß von der Bewegung gelten kann, um diese zu messen. Für diese Definition ist es wichtig, welches Wesen diese Zahl oder das Maß hat. Zu diesem Problem schließt Plotin zuerst die abstrakte Zahl aus, weil diese mit der gemessenen Bewegung nicht gleichartig ist. Dann wird auch das kontinuierliche Maß ausgeschlossen, weil dieses eine bestimmte Größe braucht, um etwas messen zu können, was wiederum die Zahl braucht. Denn die Größe kann entweder an dem Ort (τόπος) gemessen werden, oder 12Plotin
58
4 Die Affinität zwischen Zeit und Denken. Die ontologische Zeit …
Zeit, Seele und Geist gebracht werden, damit wir von dem ontologischen Aspekt das Wesen der Zeit und ihrer Rolle in der Bestimmung des Seins der sinnlichen Dinge denken können. Meine Betrachtung beginnt also mit der Erläuterung der Seinsweise des Geistes, die Plotin als Ewigkeit bezeichnet, und geht in Bezug darauf zur inneren Verfassung der Bewegtheit der Seele, in der durch ständige Kontinuität (συνέχεια). Aber im ersten Fall kann die Zeit zu etwas Räumlichem gemacht werden, welches schon widersprüchlich ist; in dem letzteren Fall ist die zu messende Größe entweder Zahl, die aber schon als Definitionsmoment der Zeit widerlegt wurde, oder „der an der Masse der Bewegung erscheinende Abstand (διάστημα)“. Das letzteres gilt auch nicht, weil eine solche Größe nicht die Zeit in sich enthält, sondern sie liegt umgekehrt in der Zeit, sonst würde die Zeit immer mit Bewegung selbst als ihrem Substrat verbunden sein, welche die Zeit aber in einigen Umständen vernichten könnte, z.B. wenn etwas sich nicht bewegt – was aber nicht möglich ist, weil die Zeit überall ist. Auch wenn diese Größe etwas messen kann, ist sie doch schon eine Zeitspanne, nicht die Zeit selbst. (Enneaden, III 7, 9, 35–50.) Ähnlicherweise wird auch die Auffassung der Zeit als desjenigen, „welches das Früher oder Später der Bewegung abschreitet und sie danach misst“ (Enneaden, III 7, 9, 55f.: Ἢ οὗτος, ὃς κατὰ τὸ πρότερον καὶ ὕστερον τῆς κινήσεως παραθέων ἐμέτρησεν.), nämlich als die messende Zahl, laut Plotin in einen Zirkel geraten. Denn das sogenannte Messen nach dem Früher und Später muss sich selbst an der Zeit verbinden und dadurch unterschieden werden. Das Früher und Später (τὸ πρότερον καὶ ὕστερον) ist für die Menschen in der sinnlichen Welt entweder räumlich oder zeitlich ist. Das räumliche gilt hier nicht, weil es äußerlich bleibt. Daher kann hier nur eine Zeitlichkeit angedeutet werden. So ist klar, dass die Zeit schon vorausgesetzt werden muss, um zu dem Messen zu gelingen. Hier sollte man aber beachten: obwohl Plotin hier die Definition der Zeit von Aristoteles kritisiert, stimmt aber sein Verständnis von der Zeitdefinition des Aristoteles nicht völlig mit Aristoteles’ eigenes Verständnis überein. Bei Aristoteles gründet sich die Zeit gerade auf die Größe und Bewegung, und deshalb bedeutet die Zahl in seiner Definition möglicherweise eher die zählbare Zahl, nicht eine messende Zahl. Außerdem ist nicht zu bezweifeln, dass die Bewegung wirklich auch mit der Zeit gegenseitig gemessen werden kann. So besteht Aristoteles’ Verständnis der Zeit in der Bewegung des Weltalls, was mit der Ganzheit seiner Theorie übereinstimmt. (Physik, 220b. 223b.) Trotzdem muss aber Plotin zufolge eben die Bewegung des Weltalls noch näher erklärt werden, und die daraus entstehende Zahl wird deshalb auch noch nicht erklärt. Also darf man die Kritik Plotins an Aristoteles weiter als gültig ansehen. Ferner bezieht Plotin sich noch auf eine Ansicht von Aristoteles, dass die Addition der Zahl die Zeit konstituiert. Dabei muss aber eine zählende Seele schon vorausgesetzt werden, die zwischen Vorher und Nachher unterscheiden kann. Diesem würde Aristoteles vielleicht auch zustimmen, weil er die Ansicht hat, dass die Bewegung allein die Funktion nicht erfüllen kann, das Vorher und Nachher voneinander richtig zu trennen, dass die Bewegung vielmehr nur mit einer weiteren Bedingung, und zwar mit der Existenz eines zählenden Subjekts, erst zählbar gemacht werden kann. Aufgrund dessen werde die Zeit erst entstehen. So sind bei Aristoteles die Bewegung und die Zählbarkeit der Bewegung in
4.2 Die Ewigkeit als das Leben des Geistes
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die Zeit ihre wahrhafte Stelle erhält. Als Ergänzung zu dem Zeitproblem und dem Konstitutionsproblem der sinnlichen Welt handele ich spezifisch zum Schluss dieses Kapitels kurz von dem Materie/Raum-Begriff des antiken Platonismus.
4.2 Die Ewigkeit als das Leben des Geistes Platon hat schon die Ewigkeit als Urbild der Zeit verstanden; d. h., das Wesen der Zeit muss aus der Ewigkeit her aufgefasst werden. Aber dort hat er die Ewigkeit nur als das „Verharren im Einen“ definiert, ohne es weiter zu entfalten. Außerdem wird auch nicht ausführlich erklärt, wie die Zeit als Abbild der Ewigkeit diese nachahmt. Plotin erläutert seinerseits den platonischen Gedanken der Ewigkeit mit weiterer Entwicklung, indem er die Ewigkeit mit der Lebensform des Geistes verbindet. Dadurch wird eine vollständigere Theorie erreicht, der zufolge die Ewigkeit kein beschreibender oder begleitender Zustand des Geistes ist, sondern sie ist der Grundbegriff, der die spezifische Art und Weise wesentlich charakterisiert, wie der Geist das Sein im Ganzen bestimmt. Daher geht es hier um einen ontologischen Ewigkeitsbegriff. Ich werde im Folgenden die ontologische Bestimmung dieses Begriffs bei Plotin erläutern, um das Verhältnis der Zeit bzw. der Seele zu dem Geist von ihrem Ursprung aus festzulegen.
4.2.1 Erklärung des Ewigkeitsbegriffs Plotin übernimmt von dem Mittelplatonismus die Bestimmung des Geistes als des Orts der Ideen.13 Der Geist als die seiende Einheit enthält alle Ideen in sich, wo diese Ideen gegenseitig aneinander teilhaben, so dass sie alle in dem Geist der Tat die notwendigen Bedingungen für die Existenz der Zeit, wobei aber die Zählbarkeit ihrerseits einer zählenden Seele bedarf, oder zumindest in einer engen Beziehung zu einem solchen zählenden Subjekt steht. (Aristoteles, Physik, 223a. Dazu vgl. Conen 1964, S. 166.) Jedoch ist Plotin der Ansicht, dass die Zeit ohnehin existieren soll, auch ohne eine messende Seele. Zugegeben, dass das Maß gewiss eine Seele braucht, um eine Größe festzusetzen und diese zur Messung zu benutzen, aber dies hat in der Tat mit der Zeit selbst nichts zu tun. Die Zeit ist vielmehr selbständig und „ist so groß, wie sie ist, auch wenn sie keiner misst.“ (Enneaden, III 7, 9.) Deshalb soll die Zeit sich von einer solchen messenden Seele trennen, obwohl sie eigentlich auch aus einer Seele erst vorkommt, die aber, wie wir in der Auslegung von Timaios schon erklärt haben, eine Weltseele ist, die von einer schon verzeitlichten bzw. zeithaften Seele, nämlich einer messenden Seele unterscheidet werden muss. Daher ist auch diese Alternative bei Plotin nicht mehr möglich. 13Über die Ideen als die „Gedanken Gottes“, vgl. Albinos, Didaskalikos IX 1. Dazu vgl. Krämer 1964, S. 110 ff., Dillon 1996, S. 272 ff.
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eingefaltet sind. Diese Vielheit der Ideen entsteht nach Plotin erst dann, wenn die Ideen durch die Selbstunterscheidung und Selbstvermittlung des Geistes als Momente vorkommen,14 die dem Ganzen des Seins bzw. dem Ganzen der Seinsbestimmungen gehören. Die Selbstvermittlung des Geistes (des Seins) ist eigentlich die Zurückkehrung des Denkens in sich (durch sich selbst), und deshalb als Einheit, aber zugleich mit der Vielheit zusammen betrachtet. Diese Art von Selbstbezug nennt Plotin das Leben. Das Wort „Leben“, ζωή, bedeutet in Plotins Zeit überhaupt eine Tätigkeit des Ganzen, in der es sich zu sich selbst verhält. Dabei verhält sich das Ganze eben in dieser Tätigkeit als Einheit des Vielen.15 Der Selbstbezug des Geistes ist nun ein Leben, sofern das Denken als das Bewegungsprinzip das Sein zu sich selbst vermittelt. Eben dieses Leben definiert Plotin dann als die Ewigkeit.16 Dieser Begriff der Ewigkeit wird in der Enneaden III7 mit dem Titel „Über Ewigkeit und Zeit“ (Περὶ αἰῶνος καὶ χρόνου) dargestellt. Zur Erklärung dieses Begriffs unterscheidet Plotin ihn von ähnlichen, leicht mit ihm verwechselten Begriffen: erstens von der Ständigkeit und zweitens von der Immerwährendheit. Man kann von diesen Unterscheidungen ablesen, wie das „Leben“ des Geistes richtig zu verstehen ist. (1) Es ist erstens vorstellbar, dass man oft den Zustand des Geistes als eine Ständigkeit (στάσις) beschreiben will, weil der Geist so aussieht, dass er im Gegensatz zu der werdenden sinnlichen Welt, die immer sich verändert, unveränderlich ist. Dennoch ist dieser Eindruck völlig falsch, denn die Unveränderlichkeit des Geistes bedeutet gar keine Ständigkeit. Die Ideenwelt bzw. der Geist wird – so bei Platon und ihm folgend auch bei Plotin17 – durch die fünf höchsten Gattungen strukturiert, nämlich: Seiendes, Bewegung, Ständigkeit, Anderes und Selbiges, und die Bewegung ist auch eine der Gattungen und mithin ein Moment in dem Geist. Dafür, dass der Geist nicht ständig ist, liefert Plotin hier ein dialektisches Argument: wenn der Geist ständig wäre, müsste die Bewegung auch als ständig beschrieben werden, was aber sich widerspricht, weil die Bewegung keine Ständigkeit sein kann.18 Also erläutert Plotin: wenn Platon
14Enneaden, VI
2, 3. diesem Problem vgl. Halfwassen 2005, S. 132 f., und prägnanter Halfwassen 2002, S. 226. 16Enneaden, III 7, 3. 17Enneaden, VI 2. 18Die Bewegung ist nicht nur nicht mit der Ruhe inhaltsgleich und in diesem Sinne keine Ruhe, sondern sie hat auch nicht an der Ruhe teil. Vgl. Sophistes, 256b 6–9. 15Zu
4.2 Die Ewigkeit als das Leben des Geistes
61
die Ewigkeit oder der Geist als „Verharren im Einen“ bestimmt, bedeutet es nur, dass die Ewigkeit an der Ständigkeit teilhat,19 und besagt nicht, die Ewigkeit sei die Ständigkeit. Für Plotin ist die Bewegung daher niemals aus dem Geist ausgeschlossen, sondern gerade ein wichtiges Moment des Geists und auch der Ewigkeit.20 Demnach kann man den plotinischen Geistesbegriff wie folgt verstehen: Der Geist ist die Gesamtheit aller Ideen und aller Seinsbestimmungen, in der jede Seinsbestimmung in Verhältnis zu allen anderen und auch zu dem Ganzen steht. Betrachtet man den Geist von unterschiedlichen Perspektiven, kann man ihn vielfältig fassen. Er ist also zugleich Bewegung, Ständigkeit, Selbiges, Anderes und Seiendes, je nachdem, ob man ihn als Leben, Unverändertes, Einheit des Vielfachen oder Zugrundeliegendes betrachtet. Aber alle diese Gattungen oder Seinsbestimmungen sind in dem Geist nur als Vermögen (πολλά δυνάμεις) wirksam. Denn als Einheit ist der Geist nur ein einziges Leben, wobei er „in diesem [d. h. Leben] die Andersheit zusammenzieht und die Unermüdlichkeit der Wirksamkeit (Tätigkeit) und das Selbige, das niemals anders ist, das Denken oder Leben, das nicht aus einem Anderen zu einem Anderen wird, sondern das Unveränderliche und immer Unausgedehnte, sieht.“21 Das so beschriebene Ganze ist insgesamt das, was die Ewigkeit und folglich das Leben des Geistes bedeutet. Die Ewigkeit ist also zunächst keine Ständigkeit, sondern vor allem das Leben und die Bewegtheit des Ganzen der Ideenwelt, in der alle Seinsbestimmungen enthalten sind und aufeinander beziehen. (2) Ferner unterscheidet Plotin die Ewigkeit noch von dem Immerwährend (ἀιδιότης). Das griechische Wort ἀίδιος und seine Substantivform ἀιδιότης dienen häufig zur Beschreibung eines immer dauernden Zustandes in der Zeit. So versteht es z. B. Aristoteles.22 Aber bei Plotin ist es nicht der Fall; das
19Enneaden,
III 7, 2. schließt dies offensichtlich an der Gattungslehre in Sophistes an und bringt diese in den platonischen Ewigkeitsbegriff in Timaios ein. 21Enneaden, III 7, 3, 11–15: „Οὕτω δὴ καὶ συνθεὶς πάλιν αὖ εἰς ἓν ὁμοῦ [ὥστε] εἶναι ζωὴν μόνην, ἐν τούτοις τὴν ἑτερότητα συστείλας καὶ τῆς ἐνεργείας τὸ ἄπαυστον καὶ τὸ ταὐτὸν καὶ οὐδέποτε ἄλλο καὶ οὐκ ἐξ ἄλλου εἰς ἄλλο νόησιν ἢ ζωήν, ἀλλὰ τὸ ὡσαύτως καὶ ἀεὶ ἀδιαστάτως,…“ 22Aristoteles, Metaphysica, XII 7, 1072b 27–30: „ἐνέργεια δὲ ἡ καθ' αὑτὴν ἐκείνου ζωὴ ἀρίστη καὶ ἀΐδιος. ϕαμὲν δὴ τὸν θεὸν εἶναι ζῷον ἀΐδιον ἄριστον, ὥστε ζωὴ καὶ αἰὼν συνεχὴς καὶ ἀΐδιος ὑπάρχει τῷ θεῷ“. 20Plotin
62
4 Die Affinität zwischen Zeit und Denken. Die ontologische Zeit …
Immerwährend bedeutet keinen zeitlichen, sondern einen zeittranszendenten Zustand, so dass es auch zur Charakterisierung des Geistes dienen kann. Platon hat schon dieses Wort für Bezeichnung der Ewigkeit gebraucht,23 und ihm folgt auch Plotin in diesem Punkt. Aber Plotin sieht darin notwendig, auch zwischen Immerwährend und Ewigkeit zu unterscheiden: Das Immerwährend zeigt nur „den entsprechenden Zustand (κατάστασις) des Zugrundeliegenden, der aus ihm und in ihm ist“, während die Ewigkeit als eine Einheit „das Zugrundeliegende samt dem entsprechenden, in ihm in Erscheinung tretenden Zustand“ betrifft.24 Die Immerwährendheit bei Plotin ist also nur eine Beschreibung des Zustandes des Geistes. Dagegen betrifft die Ewigkeit nicht nur den Zustand, nämlich „dasjenige, was aus dem Zugrundeliegenden gleichsam erstrahlt gemäß seiner Selbigkeit [mit dem Zugrundeliegenden]“,25 sondern enthält auch das Zugrundeliegende selbst in sich; d. h. sie ist das Ganze und enthält alle Charaktere des Geistes in sich. Diese plotinische Unterscheidung hat die Absicht, zu zeigen, dass die Ewigkeit keine bloße Beschreibung des begleitenden Zustandes des Geistes, nämlich nur eines Aspektes desselben, sondern sie betrifft die Ganzheit des Geistes selbst und alle seinen Momente (alle Seinsbestimmungen).26 In dem Begriff der Ewigkeit geht es um die grundlegende Seinsweise des Geistes: Mit der Ewigkeit wird der Geist so verstanden, dass er immer im Selben bleibt und nicht zu anderem übergeht; er hat immer das Ganze der Seinsbestimmungen gegenwärtig und alles zugleich, wo nichts in ihm vergangen oder zukünftig ist. So bedeutet die Ewigkeit die teillose Vollendung, die völlige Gegenwart der Gesamtheit aller Seinsbestimmungen im Geist. Der Geist ist in seinem Sein wie er ist, so dass dieses ein immer gegenwärtiges Sein ist, das zugleich als das Leben zu betrachten ist, das alles nach einer gänzlichen Einheit in sich hat.
etwa Platon, Timaios, 37d 1, wo sich ζῷον ἀίδιον auf die intelligible Welt bezieht. III 7, 5, 15–18. Dies ist aber anders als die Umstände in Timaios, weil die Ewigkeit dort nicht als ein Substantielles betrachtet werden soll. 25Enneaden, III 7, 5, 3. 26Hans Jonas sieht den Unterschied zwischen αἰών und ἀιδιότης keinen wesentlichen, sondern nur in Wortgebrauch. Sein Grund liegt darin, dass der αἰών kein Abstractum wie αἰώνιότης hat, und wenn Plotin αἰών und ἀιδιότης nicht für bedeutungsidentisch betrachten würden, hätte er selbst wie gewöhnlich das Abstraktum αἰώνιότης gebildet und nicht ἀιδιότης zu diesem Zweck benutzt, wie er in Wirklichkeit macht. Vgl. Jonas 1962, S. 297, Anm.3. Nach meiner Interpretation versieht Janos die oben genannte wesentliche Hinsichtsunterscheidung zwischen beiden Wörtern. 23Vgl.
24Enneaden,
4.2 Die Ewigkeit als das Leben des Geistes
63
4.2.2 Die Aspekte der Ewigkeit und die Charakteristiken des Geistes Von den beiden theoretischen Unterscheidungen erkennen wir, dass die Ewigkeit erstens keine Ruhe ist, sondern das Leben und Bewegtheit der Gesamtheit aller Seinsbestimmungen im Geist, und dass sie zweitens die grundlegende Seinsweise des Geistes als völlige Gegenwart aller Seinsbestimmungen. Daraus ergibt sich eine vollkommene Definition für die Ewigkeit bei Plotin: Die Ewigkeit ist „das am Seienden sich vollziehende im Sein seiende Leben, welches zugleich umfassende Gesamtheit, Erfülltheit und völlige Unausgedehntheit ist.“27 Die drei Momenten in der Ewigkeitsdefinition: Gesamtheit, Erfülltheit und Unausgedehntheit, bezeichnen die wesenhafte Charakteristiken des Geistes, die für das Verständnis der Seinsweise des Geistes relevant sind. (1) Die Gegenwärtigkeit des Geistes hebt die Ewigkeit von der Zeit dadurch ab, dass sie die Vergangenheit und die Zukunft von dem Geist ausscheidet und nur das IST, die Gegenwart vom Geist selbst und allen seinen Momenten, bleiben lässt. Aber dieses Ausschließen bedeutet nicht zugleich, dass es einige Dinge noch geben könnte, die außerhalb des Geistes stünden. Dieses Ausschließen besagt nur, dass es im Geist kein „war“ und „wird sein“ geben kann; er „ist“ nur, unveränderlich und wird weder in das „wird-sein“ gewandelt noch in dieses gewandelt hat. Dieses IST macht deshalb die Ewigkeit sowohl zeitlos als auch zeittranszendent. Dieses Sein der Ewigkeit ist von dem Sein des gewordenen, sinnlichen Dings zu unterscheiden: das Leben des Geistes als Ewigkeit ist, während das Leben des gewordenen Dings war und sein-wird, damit es ist, d. h., das Sein des gewordenen Dings erhält sein Sein durch das „wird-sein“. Es muss das „wird-sein“ immer weiter hinzuerwerben, um zu sein. Sobald man das „wirdsein“ wegnimmt, hört die Existenz dieses Gewordenen sofort auf. Das Sein eines Gewordenen besteht deshalb darin, „von einem Anbeginn seines Werdens zu sein,
III 7, 3: Γίνεται τοίνυν ἡ περὶ τὸ ὂν ἐν τῶι εἶναι ζωὴ ὁμοῦ πᾶσα καὶ πλήρης ἀδιάστατος πανταχῆι τοῦτο, ὃ δὴ ζητοῦμεν, αἰών. Hier kann man zugleich die Ewigkeit auch irgendwie von dem Geist unterscheiden, weil die Weise, wie die Ewigkeit ihre Momente in sich befasst, anders ist als die Weise, wie der Geist seine Inhalte enthält. Der Geist verhält sich als Umfassen von Teilen, während die Ewigkeit gar keine Teile hat und alles darin Bestehende in ihrer Weise als ewig existiert. Der Unterschied zwischen beiden ist also nicht inhaltlich, sondern perspektivisch. Vgl. Enneaden, III 7, 2.
27Enneaden,
64
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bis es in das Ende seiner Zeit gelangt, an dem es nicht mehr ist.“28 Dieses Sein macht folglich das Leben des Gewordenen aus und ist dessen „IST“, das eben die Idee und das Wesen dieses Gewordenen ist. Es ist parallele zu dem Leben des Geistes, aber das Lebensdauer des Gewordenen und auch das Sein desselben ist beschränkt und fehlerhaft. Dagegen soll das wahrhafte Sein immer in der Gegenwart sein und bedarf keines „wird-sein“, weil es immer schon die Gesamtheit ist; das „wird-sein“ würde umgekehrt das Sein zu einem nicht wahren Sein machen. Durch diese Erklärung dafür, wie sich das Sein des gewordenen Dings zu seinem „wird-sein“ verhält, wird die Ewigkeit von der Zeit als dem Leben des Gewordenen schlechthin getrennt, wodurch der Ewigkeitsbegriff in Platons Theorie weiter bereichert wird.29 Der Geist also, als das wahrhafte Ganze aller Seinsbestimmungen, ist immer, weil er einerseits in dem wahrhaften Sein ist, andererseits schon das Ganze in sich hat, das er braucht, um das Leben zu sein. Diese vollendete Seinsheit des Seienden bedeutet bei Plotin nicht allein, dass es alles hat; wichtiger ist aber auch, dass ihm nichts fehlt und nichts Nichtseiendes zu ihm hinzutreten wird. Das heißt, das, was nicht in ihm ist, kann auch nicht sein. Dies ist die Verfasstheit (διάθεσις) des Seins des Geistes als Ewigkeit,30 die genau dem ersten genannten Moment in der Ewigkeitsdefinition, nämlich der umfassenden Gesamtheit, entspricht. Als diese Gesamtheit bedeutet Ewigkeit nichts anders als die völlige Gegenwart aller Seinsbestimmungen bzw. des IST, im Geist. (2) Die Ewigkeit ist zweitens auch die Erfülltheit. Diese bedeutet, dass das absolute Sein des Geistes „die absolute Erfüllung aller ontologischen Möglichkeiten“ ist, als reine Seinsfülle. In ihr sind „alle denkbaren Seinsgehalte und Seinsgrade“ schon wirklich.31 Dies macht die Ewigkeit eine unerschöpfte Quelle aller Endlichen. Näher gesagt: weil der Geist alles in sich erhält, und nichts außer ihm existiert, so muss dieses „Nicht-Fehlen“ eine unendliche Mächtigkeit aufweisen – das Wort „unendlich“ (ἄπειρον) bedeutet schon gerade „nicht fehlen“, unbeschränkt und unbegrenzt.32 Dieser Begriff soll deshalb laut Plotin nicht
28Enneaden,
III 7, 4. ist auch verstehbar, warum das Weltall auch in die kosmologische Bewegung gestürzt werden muss – weil es durch das Zukünftige nach dem Immer-Sein streben muss, um dessen Sein zu erhalten und nicht zugrunde zu gehen. 30Enneaden, III 7, 4. αὕτη ἡ διάθεσις αὐτοῦ καὶ ϕύσις εἴη ἂν αἰών· 31Vgl. Halfwassen 2005, S. 354 f. 32Enneaden, III 7, 5. 29Dadurch
4.2 Die Ewigkeit als das Leben des Geistes
65
nur als einen Gegensatz zum Endlichen begriffen werden, sondern es bedeutet auch einen unerschöpflichen Ursprung alles Endlichen und liegt deswegen über allem Endlichen. Der Geist, als der Ursprung aller Seinsbestimmungen, dringt jedes Einzelne in der geistigen Welt mit seiner unendlichen Mächtigkeit durch, wobei er als ganz anwesend bleibt. Dadurch enthält jedes Einzelne in der geistigen Welt auch eine solche Mächtigkeit.33 Dies bedeutet: Von dem Geist als der ursprünglichen und unendlichen Gesamtheit aller Seinsbestimmungen erhält jede einzelne Idee bzw. jede Seinsbestimmungen ihre unendliche Bestimmtheit. Diese Anwesenheit als ein Ganzes in jedem Einzelnen wird bei Plotin durch die Formulierung „Alles in Allem“ näher erläutert.34 Und der Geist bleibt unendlich, weil er sich nicht erschöpft und „nichts von sich selbst aufzehrt“;35 Er ist diese uneingeschränkte Einheit, die als der nicht erschöpfte Ursprung von allem gilt. So ist die Ewigkeit als das unendliche Leben ein vollendet-unendliches, sofern sie trotz der Vielheit noch Einheit ist. Sie ist die Ganzheit des Lebens, d. h. sie ist schon ganz das, was es ist, und vollendet und steht deshalb immer in dem IST. Diese Unendlichkeit der Ewigkeit macht es sogar möglich, dass alles in ihr enthalten wird, sofern es in irgendeiner Weise als seiend betrachtet wird, nämlich alle möglichen Seinsbestimmungen. Alles wird in ihr eingeschlossen, denn sie ist vollkommen, und es ist nicht möglich, dass irgendetwas ausgelassen sei. Daher wohnt sogar das sämtliche Lebewesen dem Geist inne. So kann Plotin sagen, dass „der Geist diese Zusammenfügung und gleichsam Verflochtenheit aller Dinge ist, die in dem Einen sind.“36 In diesem Sinne ist der Geist das vollendete Lebewesen (ζῷον), und die Ewigkeit das vollendet-unendliche Leben (ζωή).37 (3) Aber die Ewigkeit als eine solche alles besitzende Einheit ist nicht nur ein Seiendes, „das sich selbst zu sich selbst hin in Einheit führt“,38 sondern sie ist auch dasjenige, das im Einen verharrt, wie Platon schon gesagt hat.39 Daher
33Dazu.
Beierwaltes 2010, S. 197. Vgl. auch Enneaden, V9, 6, 8. Diese Art der unbegrenzten Mächtigkeit kann man auch an der Idee und ihrer Weise (dem als „Alles in Allem“ Formulierten) sehen. Diese Mächtigkeit beschränkt sich nicht in jeder einzelnen Idee, aber dringt alles durch. 34Im Abschnitt 4.2.3 werde ich wieder zum Begriff „Alles in Allem“ zurückkommen. 35Enneaden, III 7, 5, 25. 36Enneaden, VI 2, 21, 55–56. 37Vgl. Enneaden, VI 2, 21, III 6, 6. 38Enneaden, III 7, 6. 39Vgl. Abschnitt 3.3 der vorliegenden Arbeit.
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soll sie „unveränderlich das Leben des Seienden [sein], welches um das Eine kreist“.40 Dennoch enthält der Geist dieses Verharren im Einen nur dadurch, dass der Geist in dem Transzendenzbezug mit dem Einen stehen muss.41 Nach Plotins Lehre des Ableitungssystems des Seins kommt der Geist von dem Einen her und richtet sich auf das Eine und auch verharrt in ihm. Durch dieses immer „Sich-richten-auf“ erhält der Geist nicht nur die Tätigkeit des Lebens, wie schon gezeigt, sondern auch die Unveränderlichkeit. Die letztere bedeutet, dass das wahre Sein (ἀληθῶς εἶναι) unveränderliches Sein (ὡσαύτως εἶναι, sich gleichbleibend sein) und ununterschiedenes Sein (ἀδιαϕόρως εἶναι) ist, das „niemals nicht sein und niemals anders sein“ wird.42 Dies macht die unzertrennbare Einheit aus, in der alle Momente des Geistes miteinander eng verbunden sind. Man kann zwar durch das Denken seine Momente vorläufig als getrennt selbständig denken; in der Sache hat die Ewigkeit aber kein „Bald-so-bald-anders-Sein“. Auseinandertreten, Entfaltung und Ausdehnung – diese alle gelten dem Geist nicht. In ihm muss alles nur zugleich gefasst werden, weil jede der oben genannten Umformungen dazu führt, dass etwas ihm fehlt. Nur das IST ist das wahrhafteste Sein. In diesem Sinne ist die Ewigkeit die völlige Unausgedehntheit, nach der die Momente des Geistes bzw. die Seinsbestimmungen nicht voneinander streng unterschieden werden. Jede Seinsbestimmung befindet sich, als ein unendliches, und zwar noch nicht „verendlichtes“ Moment, noch immer in der Einheit des Geistes und der Verflochtenheit mit den anderen, ohne sich als eine selbständige Bestimmtheit von den anderen zu trennen. Damit wird bei Plotin das zeitliche Früher und Später aus dem Sein und Leben des wahrhaften Seienden ausgeschieden, und die Ewigkeit und das IST als diese unveränderliche Immer-Gegenwart zieht sich aus der Zeit heraus. Freilich sind diese Aussagen nur dann gültig, wenn man einen Vergleich mit der Zeit machen will, weil die Zeit nun eigentlich noch gar nicht entstanden ist43 und keine Rolle zum Verständnis der Ewigkeit spielen soll.44
40Enneaden, 41Ein
III 7, 6. ähnlicher Bezug muss auch die Seele haben, doch nicht mehr zu Einen, sondern zum
Geist. 42Enneaden,
III 7, 6. III 7, 6. 44Im Anschluss an der Erläuterung der Unausgedehnheit möchte ich hier eine Bemerkung zu der oftmaligen Benutzung des Worts „immer“ von dem „wahren Seienden“ geben. Nach dem oben Gesagten ist das wahre Seiende schon das immer Seiende. Denn das Wahre verändert nicht und braucht deswegen auch die Zeit nicht. Aber auch die sinnlichen Dinge teilen in gewissen Maß an dem Seinsgrad, und es ist also berechtigt über sie zu sagen, dass 43Enneaden,
4.2 Die Ewigkeit als das Leben des Geistes
67
Mit der Unterscheidung von der Ständigkeit sowie von der Immerwährendheit und mit der Erklärung der drei Definitionsmomente (Gesamtheit, Erfülltheit und Unausgedehntheit) wird nun der Begriff der Ewigkeit bei Plotin begründet und deutlich von allen zeitlichen Vorstellungen befreit, der seinerseits die Seinsweise bzw. das Leben des Geistes charakterisiert. In diesem Sinne ist der Geist: (1) die Gesamtheit aller Seinsbestimmungen in ihrer völligen Gegenwart; (2) der unendliche Ursprung aller möglichen Seinsbestimmungen; (3) die einheitliche Verflochtenheit aller diesen Seinsbestimmungen miteinander. Es lässt sich dadurch einsehen, dass der platonische Ewigkeitsbegriff durch die Einführung der Konzeption des Lebens und dessen begrifflicher Beziehung auf das Sein bereichert wird.
4.2.3 Das Leben des Geistes als Selbstbewusstsein Nach dem oben Erläuterten kann jede Seinsbestimmung nur in dem Seinsganzen des Geistes bestimmt werden. Dies ist aber wiederum nur dann möglich, dass das Seinsganze selbst schon bestimmt wird. Aber diese Bestimmung des Seinsganzen darf nicht vermittels eines dem Geist Äußerlichen ausgeführt werden, denn sonst würde der Geist nicht als eine umfassende Gesamtheit gedacht, in dem nichts fehlt; alle möglichen Bestimmungen sind schon in diesem Seinsganzen enthalten. Daher muss dieses Seinsganze Plotin zufolge von sich selbst bestimmt werden. Die Weise dieser Selbstbestimmung ist also die Selbstbeziehung des Geistes, oder
sie auch Seiende sind. Aber, obwohl sie so beschrieben werden können, sind sie doch nur namensgleich mit dem Seienden, nicht das wahre Seiende selbst. Denn sie sind bedürftig und bedürfen beständig des „nachher“, um zu sein, was sie sind. Obwohl manche sinnlichen Dinge vollkommen aussehen, wie der Kosmos, geraten sie noch in dem Zustand des Immermehr-wollens. Deshalb kann diese verwirrende Benutzung von „immer“ eigentlich dazu führt, dass die wahre Bedeutung des Seienden als immer Gegenwart leicht verloren und von uns vergessen wird, als ob es noch wahre Seiende gäbe, die nicht immer wahr seiend sind. Plotin macht es deshalb klar, dass das Hinzufügen des Wortes „immer“ nur diesen Unterschied zwischen beiden Arten des Seienden zu betonen versucht. Dabei besagt das Wort „immer“ nur die Unveränderlichkeit und die reine wahre Gegenwart. Laut Plotin vielleicht kommt auch dieser Ausdruck „Ewigkeit“ selbst eben von dem Ausdruck „immer Seiende“ her (αἰών – ἀεί ὄντος), vgl. Enneaden, III 7,4. Und die Wahrheit, die das Sein hat, sowie das Immer-sein sind auch nur das, was es selbst ist, nämlich die Übereinstimmung mit sich selbst. (Enneaden, III 7,4. V5, 1–2. Über die Wahrheitslehre Plotins, vgl. W. Beierwaltes 2001, S. 30 ff. Auch, vgl. Beierwaltes 1991, S. 110 ff., 195 ff. auch vgl. Blumenthal 1993.)
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das Selbstbewusstsein desselben, sofern der Geist nach Plotins Geistmetaphysik neben dem wahrhaften Sein auch eine Art des Denkens, das „seinshafte Denken“ (οὐσιῶδες νόησις), ist.45 Hier übernimmt Plotin die berühmte aristotelische Lehre von νόησις νοήσεως46 und macht sie zu dem Kern der Selbstvermittlung des Geistes. Das Selbstbewusstsein charakterisiert also die eigentümliche Weise des Geistes, sich selbst zu bestimmen, damit das Seinsganze bestimmt wird. Dabei wird das Denken in dem Geist und deshalb die Bewegtheit innerhalb seiner immer gegenwärtigen Erfülltheit dynamisch dargestellt. Nur aufgrund dieses dynamischen Prozesses wird die spezielle Gegenwart von Geist und die Verflechtungsweise seiner Momente (Ideen) erst vollständig erklärt. Das Problem des Selbstbewusstseins des Geistes ist also das Wesentliches der Bewegtheit und des Lebens desselben. Allgemein gesehen braucht das Denken zuerst eine Vielheit, um sich dann auf etwas richten zu können. Aber wenn das Denken sich auf etwas richtete, das aber außer ihm läge, wäre dieses Denken bedürftig und fehlte ihm etwas – was bei dem Geist nicht möglich ist. So muss der Geist sich selbst zu dem Gedachten machen, um die Vollendet-Unendlichkeit zu erreichen.47 Aber ein solches Selbstbewusstsein könnte manchmal leicht in die Gefahr des Reflexionsmodells gebracht werden, wie die neuzeitlichen Auseinandersetzungen (wie bei Fichte) es schon vorgebracht haben, und zwar in einen unendlichen Regress.48 Dies könnte stattfinden, wenn wir das Denkende und das Gedachte als zweier voneinander trennen. Denn das Denkende denkt in diesem Fall das Gedachte, ohne sich selbst in dem Gedachten einschließen zu können. Um sich selbst dann auch mitgedacht werden, muss ein weiteres Denkendes ins Spiel gebracht werden. Deshalb scheint es fast unmöglich, ein Selbstbewusstsein für den Geist zu erlangen. Dieses Reflexionsmodell ist aber gar nicht neu; es ist tatsächlich ein sehr altes Modell: Schon Numenios folgt einmal einem ähnlichen Gedankengang.49 Er unterscheidet den Geist in drei Stufen:
45Enneaden, V
3, 5, 37. Metaphysik, XII 9, 1074 b 34: νόησις νοήσεως. 47Das Denken des Geistes kommt von dem Ur-Akt des Denkens, wobei der Geist durch Hervorgang und Zurückwendung auf das Eine selbst seine vielfältigen Momente sich entfaltet und vermittelt. Vgl. Krämer 1964, S. 312 ff., auch Beierwaltes 2001, Halfwassen 2006, S. 130 ff. 48Dazu vgl. Henrich 1967a. 49Vgl. Kräme 1964, 87 ff. 46Aristoteles,
4.2 Die Ewigkeit als das Leben des Geistes
69
das Gedachte, das Denken und ein reflexives Denken, das denkt, dass das Denken denkt. Mit diesen drei Stufen versucht Numenios, es zu ermöglichen, dass der Geist sich selbst denkt, da das Gedachte angeblich identisch mit dem Denken sei. Aber das reflexives Denken andererseits kann gar nicht mehr darin eingeschlossen werden, weil es immer ein Außenstehender ist, wenn es noch diese Einheit von Selbstbewusstsein pflegen möchte. Das Selbstbewusstsein des Geistes, das mit diesem Modell der drei Stufen gedacht wird, ist deshalb fehlerhaft und es gelingt offensichtlich nicht.50 Plotin löst diese Paradoxie dadurch, dass er (1) die Konzeption der ἐνέργεια zur Erklärung des Denkakts (νόησις) und (2) den Gedanken von „Alles-in-allem“ für die Erläuterung der Selbstbeziehung des Geistes einführt. (1) In dem Geist werden drei Momente unterschieden, das Denkende (νοῦς), der Denkakt (νόησις, Denken) und das Gedachte (νοητόν). Der Denkakt ist in beiden anderen Momenten tätig. Er soll als das Leben und die Bewegung des Seinsganzen betrachtet werden,51 und zwar als die Selbstvermittlung selbst, deshalb hier als die Einheit der beider.52 Plotin gibt hier zwei verschiedene Argumente. Das erste entfaltet sich aus der statischen Hinsicht und beruht auf dem Gedanken, dass alles in dem Geist wahr ist. Dies ist ein relatives schwaches Argument. Erst das zweite Argument, das von dem Gedanken der ἐνεργεία ausgeht, ist eine wahre Begründung für die Lösung des genannten Problems. Das erste Argument läuft wie folgt. Damit der Geist sich selbst denkt, muss es zuerst sicher sein, dass das Denkende und Gedachte das Gleiche ist. Plotin macht es erst klar, dass das Denkende mit dem Gedachten dadurch identisch ist, dass der Denkakt von sich selbst aus das Denkende (Gedachthabende) dem Gedachten hinzufügt; d. i. das Denkende denkt sich selbst, nämlich das Denkende. Dadurch wird deshalb zugleich auch das Gedachte (die gedachte Dinge), das er denkt, darin mitenthalten. Weil die Dinge in diesem Denken ferner nicht Abdrücke (τύποι) sein können, sondern alles in dem Geist wahr sein soll,53 soll das Denkende deshalb jene Dinge selbst (also nicht die Abdrücke jener Dinge) wirklich besitzen. Dann kann der Geist folglich nur vor der Teilung ins Denkende und
50Enneaden,
III 9, 1, II 9, 1. Dazu vgl. auch Halfwassen 1994. findet sich schon bei Platons in Sophistes, 248e, wo er das Denken, Bewegung und Leben irgendwie gleichsetzt. 52Dies wird bald weiter erklärt. Vgl. Halfwassen 2005, S. 373 ff. 53Enneaden, V 5, 2. 51Dies
70
4 Die Affinität zwischen Zeit und Denken. Die ontologische Zeit …
das Gedachte sie denken und besitzen. Daher ist das Denkende als der Geist und das Gedachte als das Sein miteinander in höchster Ebene identisch. Diese erste Stufe von Identität der beiden nennt Plotin das erste Seiende (πρῶτον ὄν) und den ersten Geist, der die seienden Dinge (τά ὄντα) besitzt.54 Dies ist aber nur eine statische Beschreibung für ihre Identität. Sofern das Selbstbewusstsein noch nicht dynamisch dargestellt worden ist, kann das Wesen (οὐσία) von diesem Geist auch nicht enthüllt werden. Es könnte sein, dass sie beide nur einfach identisch seien oder in dem Verhältnis der Einbeziehung ständen. Denn es gibt noch gar keine thematische Selbstbeziehung auf dieser ersten Ebene. Dieses Problem löst Plotin durch ein weiteres, aus der dynamischen Weise entwickeltes Argument, und zwar dadurch, dass er auf Aristoteles beruft und seinen Terminus energeia übernimmt und ihm eine zentrale Rolle in seiner eigenen Lehre gibt.55 Denn das Gedachte, weil es gedacht wird, muss aktual (Aktuelles, ἐνεργεία) sein, da es unmöglich potentiell (δύναμις) ist, sonst würde es etwas sein, das nicht gedacht wäre. Dieses Gedachtwerden als ein Aktuelles ist gerade das Leben dessen, was von sich selbst das Gedachte wesentlich erhalten soll. Deshalb ist das Gedachte für Plotin die erste und ursprüngliche Ousia (Substanz). Da es auch das Aktuelles und sogar das erste Aktuelle ist, ist es aufgrund ihrer eigenen Ousia ein wesenhaftes oder seinshaftes Denken (οὐσιώδης νόησις).56 Aber ein ursprüngliches Denken kann nichts anderes sein, als der erste Geist. Denn der erste Geist kann auch nicht potentiell sein, sondern immer aktuell, weil sein Wesen eben in dem Denkvollzug selbst besteht; ein nicht denkender Geist wird nicht mehr ein Geist sein können. Deshalb ist der Geist als das Denkende diese ἐνεργεία und das Gedachte bzw. das Seiende auch diese ἐνεργεία. Durch diese gleiche ἐνεργεία als die Vermittlung ist das Denken (der Denkakt) eigentlich der Schlüssel zu dem Selbstbewusstsein des Geistes. Denn das Denken ist die Einheit von beiden anderen. Das Denkende, das Denken und das Gedachte als die Trias von Geist, Leben und Sein sind deshalb ein und dasselbe.57 Mit dieser dreifachen Struktur ist der Geist folglich imstande, sich selbst zu denken. Er denkt sich selbst vermittels sich selbst; und er denkt in beiden Hinsichten sich selbst. Dies ist eine νόησις νοήσεως, genau wie der aristotelische
54Enneaden, V
3, 5. Metaphysik, 1072b 26–28. 56Enneaden, V 3, 5. Vgl. Halfwassen 1994, S. 29 f. 57Vgl. Szlezák 1979, S. 133. 55Vgl. Aristoteles,
4.2 Die Ewigkeit als das Leben des Geistes
71
vollkommenste göttliche Nous. Er denkt sich selbst, indem er von seiner Natur ausgeht und wendet sich auf sich selbst zurück.58 Dieses Von-sich-selbst-Ausgehen und Zurückwendung (ἐπιστροϕή) zu sich selbst macht deshalb das Selbstbewusstsein des Geistes ein vollendet-unendliche Vorbild für irgendein weiteres mögliches Selbstbewusstsein.59 (2) Dies Argument aus dem Begriff der Energeia wird durch den Gedanken des „Alles-in-Allem“ gut ergänzt und erläutert. Mit „Alles-in-Allem“ meint Plotin, dass jede Idee Alles in sich hat und wiederum auch im Anderen Alles sieht, weil jede Idee dort wechselseitig bestimmt wird. Plotin beschreibt diesen Zustand metaphorisch: „Alles ist klar und durchsichtig, … jeder ist jedem durchsichtig bis ins Innere und durch alles hindurch“, wie „Licht zur Licht.“60 Diese Art der Durchdringung jeder Idee hat ihre Wurzel in ihrem ontologischen Status, dem gemäß jede Idee aneinander teilhat. Dabei sind sie wesentlich voneinander untrennbar, obwohl sie im Denken noch nur als verschiedene Momente betrachtet werden können. Diese Teilhabe der Ideen selbst aneinander bzw. die Ideenverflechtung ist die ontologische Grundlage für die Erkennbarkeit ihrer selbst. So ist es für jede Idee, die durch die Selbstentfaltung des Geistes erst vorkommt, der Fall, dass alle anderen Ideen als ein Ganzes sie notwendig unterstützen. Deshalb muss jede Idee noch tief in dem Ganze des Ideenkosmos verwickelt sein und in jeder Idee zeigt sich zugleich alles. Man kann also sagen, dass in diesem Gedanken „Alles in Allem“ jede Idee bzw. Seinsbestimmung eine unendliche Bestimmung des Seinsganzen ist. Diese ontologische Grundlage macht das Selbstbewusstsein des Geistes ersichtlicher. Denn zu den wichtigsten Faktoren in einem Selbstbewusstsein gehören erstens, dass das Gedachte dasselbe wie der Denkende ist, und zweitens, dass das Denkende sich dieses Sich-Selbst-Denkens bewusst ist. Der ontologische Zustand der Ideen, dass alles im jedem und jedes alles ist, ermöglicht im Großen die Selbstbeziehung, und zwar das Selbstbewusstsein des Geistes. Da der Geist sich selbst als denkend sehen muss, ist in diesem ursprünglichen Akt des Denkens auch das Denken, dass er denkt, als eine Einheit mitenthalten. Eine Scheidung von Subjekt und Objekt kommt dort gar nicht vor. So wird dieses Selbstbewusstsein nicht nachträglich und reflexiv durch eine zweistufige Reflexion durchgeführt.61
58Enneaden, V
3, 5–6. II9, 1. diesem Punkt vgl. J. Halfwassen 2005, S. 373 ff. 60Enneaden, V 8, 4. 61Enneaden, II 9, 1. 59Zu
72
4 Die Affinität zwischen Zeit und Denken. Die ontologische Zeit …
Nachdem diese Struktur des Geistes erklärt wurde, ist uns deutlicher, dass der Geist bei Plotin derjenige ist, der die Selbstentfaltung zur Vielheit der Ideen und die Zurückwendung zu sich selbst als eine Einheit ist, ein Denken des Denkens. Diese Vollkommenheit und Selbstgenugsamkeit des Denkens wird nur durch seine Ganzheit erreicht, indem „es aus allen seinen Teilen her zureichend wird und so bei sich selber weilt und sich auf sich selber richtet.“62 Dieses Mitgewahren (συναίσθησις) der Ganzheit als sich selbst ist deshalb ein Vorgang, „bei dem viele Momente in einen Punkt zusammentreten und dann ein gemeinsames Gewahren des Ganzen stattfindet.“ Hier ist es interessant, dass Plotin das Wort „mitgewahren“ benutzt, weil es etymologisch eine Unmittelbarkeit auszudrücken scheint, und es entspricht deshalb vollkommen einer Formulierung, die den Zustand des Selbstbewusstseins des Geistes gut beschreibt, d. h. der Formulierung der „intellektuellen Anschauung“. Diese ist die eigentliche Art des wahrhaften Erkennens in Plotins Theorie.63 Das Selbstbewusstsein des Geistes ist also ein ursprüngliches Denken oder das Urbild des Denkens überhaupt. Es ist als eine wichtige theoretische Entwicklung der zeittranszendierenden Ewigkeitskonzeption und der Lehre der Ideenwelt Platons zu betrachten. Als die grundlegende Weise der Selbstbestimmung des Seinsganzen enthält dieses Selbstbewusstsein alle Momente in sich, deren ein jedes selbstbewusste Denken bedarf: das Denkende, der Denkakt und das Gedachte. In dem Selbstbewusstsein des Geistes, dessen grundlegende Seinsweise bzw. Leben die Ewigkeit ist, werden alle drei Momente miteinander vereinheitlicht, so dass es als ein unmittelbares Denken des Denkens oder eine geistige Selbstanschauung des Seinsganzen erwiesen wird. In der Seele aber, wo die Seinsbestimmungen nicht mehr unendlich sind, sondern verendlicht werden, können diese drei Momente jenes Einheitsverhältnis nicht mehr beibehalten. Vielmehr verhalten sie sich auf diskursive Weise zueinander. Mit der Entfaltung dieses Verhältnisses hängt dann die plotinische ontologische Lehre vom Wesen der Zeit und ihre Rolle in der Bestimmung des Seins der sinnlichen Dinge zusammen, für die Platon schon Ansätze geboten hat.
62Enneaden, V
3, 13. kann auch leicht sehen, dass eine solche Lehre der intellektuellen Anschauung auch in dem deutschen Idealismus als die theoretische Mittel zur Lösung des Problems des unendlichen Regressus des Selbstbewusstseins dient.
63Man
4.3 Die Zeit als die Selbstentfaltung der Seele …
73
4.3 Die Zeit als die Selbstentfaltung der Seele und das bestimmende Prinzip des Seins des Sinnlichen Nach den Bestimmungen des Geistes und seiner Lebensform gewinnt Plotin einen neuen theoretischen Horizont, die Konzeptionen von der ontologischen Zeit wieder zu denken, die bei Platon nur angedeutet werden. Wie zuvor gesagt stehen die Seinsbestimmungen, die der Ewigkeit gemäß in dem Seinsganzen des Geistes aufeinander bezogen werden, auf eine unendliche Weise in diesem Ganzen. Aber in der Hypostase der Seele behalten diese Seinsbestimmungen nicht mehr ihre unendliche Mächtigkeit; vielmehr treten sie auseinander, um ihre eigene Bestimmtheit zu erhalten. Dadurch werden sie verendlicht. Aber jede Seinsbestimmung bekommt ihren Bestimmungsinhalt nur aus dem Seinsganzen. Daher muss jede der voneinander abgetrennten Seinsbestimmungen ihrerseits das Ganze wieder gewinnen, um schließlich ihren Bestimmungsinhalt und ihr Selbst zu besitzen. Gerade in diesem Prozess des Selbstbesitzes der Seele bzw. der Seinsbestimmungen wird das Sein der Dinge in der sinnlichen Welt erst bestimmt. Die Form dieses Selbstbesitzes der Seele oder der Selbstentfaltung derselben ist eben das, was Plotin die Zeit nennt. Er definiert Zeit als „das Leben der Seele in einer Bewegung, die aus einem Lebenszustand in einen anderen übergeht.“64 In Folgenden betrachtet ich den ontologischen Zeitbegriff Plotins in diesem theoretischen Kontext und konzentriere mich darauf, wie die Zeit die intelligiblen Seinsbestimmungen in dem Geist auf die sinnlichen Dinge übertragt und daher das bestimmende Prinzip des Seins dieser Dinge ausmacht. Dadurch wird erwartet, dass die ontologische Zeitkonzeption des antiken Platonismus ihre vollständige theoretische Gestalt bekommt.
4.3.1 Die Entstehung der Zeit in der Selbstentfaltung der Seele Plotins Grundgedanke bezüglich des Verhältnisses zwischen der Seele und der Zeit ist es: Die Seele ist das Bild des Geistes, die durch die innere Entfaltung des Geistes in einem Anderen erscheinen, damit sie durch die äußere Selbstentfaltung
III 7, 11: Εἰ οὖν χρόνον τις λέγοι ψυχῆς ἐν κινήσει μεταβατικῆι ἐξ ἄλλου εἰς ἄλλον βίον ζωὴν εἶναι…
64Enneaden,
74
4 Die Affinität zwischen Zeit und Denken. Die ontologische Zeit …
eine weitere Stufe von Wirklichkeit hervorbringt. Dabei zertrennt die vorher ungetrennte Ideenwelt des Geistes zu den einzelnen Formbestimmungen, die nun nicht mehr die unendliche Mächtigkeit haben und deshalb nur endlich sind.65 Auf gleiche Weise verhält sich die Zeit als das Bild der Ewigkeit: Während die Ewigkeit das erfüllte vollendet-unendliche Leben ist, ist die Zeit nun das Auseinandertreten dieses Lebens. Die Entstehung der Zeit hat also mit der Selbstentfaltung der Seele eng verbunden. Zu diesem Prozess der Entstehung von Zeit spricht Plotin von einer geschäftigen (πολυπράγμων) und strebenden Natur, welche die unruhige Kraft (δύναμις) der Seele ist, die wegen der Potenz immer ihre Auswirkung üben möchte. Da der Potenz-Lehre Plotins gemäß jede Seinsstufe ihre Formkräfte (λόγοι) möglichst weit bis zum Verschwinden zu entfalten versucht, insofern sie noch Sein enthält, so muss auch die Seele, anstatt einer beharrenden Einheit, aus dieser hinaustreten. Hierfür stellt Plotin einen komplizierten Gedanken auf: Als die Momente in dem Geist sind die Seelen als die Seinsbestimmungen noch bei sich selbst, wo alles zugleich ist und jedes auch das Ganze ist. Dennoch wird die Seele durch ihre Energeia bzw. Aktivität ihre Potenz vollständig ausfalten. So muss sie zuerst sich selbst sein, um zugleich ihre Kräfte auszuwirken. Das heißt, die Seele muss sich zuerst von der Einheit und dem Ganzen des Seins trennen, um sie selbst zu sein, weil sie in jenem beharrenden Zustand nicht vereinzelt werden kann und noch in Vielheit steht, und zwar von anderen unzertrennt ist. Diese Vielheit macht sie unendlich; aber diese Unendlichkeit ist keine Eigenschaft, welche die Seele besitzen kann. Die Seele will vielmehr endlich sein und ihre eigene Einheit besitzen. Sie ist damit nicht zufrieden, dass „das Ganze in ihr versammelt gegenwärtig war“.66 So versucht sie immer das, was sie in der geistigen Welt geschaut hat, auf Anderes67 zu übertragen. Trotzdem muss ihr das Ganze gegenwärtig sein, damit sie erst ihren Selbstbesitz verwirklicht. Die vielen Momente in diesem komplizierten Gedanken Plotins sind auf folgende Weise zu interpretieren: Zuerst betrachten wir die Selbstverwirklichung und der Selbstbesitz der Seele. Der sich selbst vermittelte Geist hat alle Ideen bzw. Seinsbestimmungen verflechtend und aneinanderteilend in sich. Aber jede dieser Ideen als ein Moment
65Dazu
vgl. Halfwassen 2004, S. 98 ff. III 7, 11. 67Dieses „Andere“, das Plotin im Text benutzt, bezieht sich, wie später gezeigt, auf die sinnliche Welt, die durch die Selbstentfaltung der Seele erst hervorgebracht wird. 66Enneaden,
4.3 Die Zeit als die Selbstentfaltung der Seele …
75
dieses Geistes, der in sich dynamis hat, will ihre Auswirkung nach außen bzw. nach unten wirken, indem sie von den anderen unterschieden ist und sich selbst verwirklicht. So tritt jede der Ideen in ihrer Selbstverwirklichung aus ihrem Ursprung und verliert den Zusammenhang des Geistes. Dennoch liegt das Eigensein jeder Seinsbestimmung oder jeder Seele doch in diesem ursprünglichen Seinsganzen, in dem alle Momente zugleich da sind, weil eine Seinsbestimmung nur in Bezug auf dieses Ganze ihren Bestimmungsinhalt erhalten und bestimmen kann. Dabei muss sie versuchen, sich von allen anderen Seinsbestimmungen des Seinsganzen zu unterscheiden, um schließlich in einem durchgängig bestimmten Verhältnis zu dem Seinsganzen zu stehen. Deshalb kann die Seele nicht umhin, immer nach dem Künftigen und Späteren zu streben, um sich selbst dadurch zu besitzen, dass sie diesen Zusammenhang des Ganzen der Selbstbestimmungen in dem Ursprung wiedergewinnen kann. Damit wird die Seele zum Immer-wieder-Anderen geführt, wodurch sie eine Streckung des Weges durchmisst.68 Auf diese Weise steht das Gegenpaar von Ganzen und Einzelnen also immer als eine Spannung im Vordergrund. Genau diese Selbstverwirklichung und der Selbstbesitz der Seele bzw. der Seinsbestimmung verlangt weiter die Selbstentfaltung derselben. In der Ewigkeit gibt es keine Ausdehnung, mit der die Seele sich auf ein Anderes richtet, und deswegen gibt es keinen bestimmten Unterschied der Momente voneinander, weil dieser sofort aufgehoben wird. Da nun aber jedes dieser Momente (Seinsbestimmungen) durch seine Selbstverwirklichung von den anderen Momenten des Geistes unterschieden wird, geht jedes Moment dieses Ganzen dann erst zu einem Individuum über. Eben dieses Individuum ist erst die Seele.69 Die Seele aber, um sich selbst zu besitzen, muss sich bewegen, und zwar in der Tätigkeit, die „immer wieder andere nacheinander gewährt“.70 Dies ist die Bewegung der Seele, die ihrerseits nicht mehr die innere Verwirklichung des Geistes ist, sondern eine Bewegung des Durchlaufens nach dem immer Späteren, das sie noch nicht besitzt, wodurch das Nacheinander in der Zeit entsteht. Die Unausgedehntheit des Geistes gerät nun in die „Ausdehnung“ der Seele, nämlich den Abstand zwischen
68Dies
ist eigentlich die räumlich-bildliche Darstellung der Zeit, die schon die Ausdehnung voraussetzt, die aber ihrerseits erst dann möglich und verständlich ist, wenn die Seele die Materie und die sinnliche Welt gebracht hat. 69Es ist also zu bemerken, dass in dieser Selbstentfaltung des Geistes streng gesprochen noch keine Seele, sondern nur die Momente des Geistes (Ideen) existieren. 70Enneaden, III 7, 11.
76
4 Die Affinität zwischen Zeit und Denken. Die ontologische Zeit …
Individuen.71 Diese Bewegung ist Plotin zufolge eben das, was eigentlich die Zeit ist. Die Zeit ist also mit dem Auseinandertreten des Lebens der Seele verbunden, sogar ist dieses Auseinandertreten selbst; die verschiedenen Phasen des Lebens entsprechen folglich der verschiedenen Zeit. Allein mit dieser immer fortschreitenden Zeit kann die Seele das v ollendet-unendliche Leben des Geistes nachahmen. Auf solche Weise entsteht die Zeit, welche wesentlich die Lebensform der Seele in ihrer Selbstentfaltung ist. Eben dies drückt das Wesen der Zeit aus, das Plotin in seiner Zeitdefinition angibt: die Zeit ist „das Leben der Seele in einer Bewegung, die aus einem Lebenszustand in einen anderen übergeht.“72 Oder man sagt aus anderer Hinsicht, dass die Seele bzw. die Seinsbestimmung durch diese Bewegung sich selbst verzeitlicht. Aber da die Seele sich selbst dank ihrer eigenen Entfaltung erst verzeitlicht und nur insofern als „zeitlich“ bezeichnet werden kann, darf man nicht sagen, dass die Seele in der Zeit ist. Vielmehr als Leben der Seele ist die Zeit umgekehrt in der Seele.73 Mit den Eigentümlichkeiten dieser Bewegungsform der Seele wird der Unterschied der Zeit von der Ewigkeit des Geistes nach verschiedenen Aspekten gezeigt. Diese Tätigkeit der Seele ist, statt der intelligiblen (teillosen) Bewegung in dem Seinsganzen des Geistes, nun die Bewegung eines Teils der Seele,74 weil die Seele nicht zugleich als das Ganze gegenwärtig ist. Die Selbigkeit, die Unveränderlichkeit oder das Verharren des Geistes wird nun zu dem immer wieder Anderes (immer Neues) Tätigenden der Seele; die gegenwärtige Ganzheit und umfassende Gesamtheit des Geistes wird zu einem stückhaften und immer nur künftigen Ganzen der Seele; die vollendete Unendlichkeit bzw. die Erfülltheit des Geistes wird zum Immer-im-Nacheinander-ins-Unendliche der Seele; die abstandslose und unzerteilte Einheit des Geistes wird also zu einem durch Kontinuität und Zusammenhang ausgemachten Einen, in dem zwischen den Momenten Ausdehnung besteht und das aber ein Nachbild der Einheit des Geistes ist. Man kann aus diesen offensichtlich sehen, wie die Tätigkeit der Seele ein Abbild der Ewigkeit des Geistes ist: Die Zeit ahmt die Ewigkeit dadurch nach, dass die Seele immer Sein hinzuwerbt und am Sein zuzunehmen trachtet.
71Diese Ausdehnung
muss aber nur nach der Weltschöpfung erst sinnvoll sein. III 7, 11. 73Jens Halfwassen zeigt, dass die Zeit darum nur als in der Seele betrachtet werden kann, dass die Seele das Nacheinander der Zeitmomente in sich selbst umfasst. Vgl. Halfwassen 2002, S. 230. Dazu vgl. Enneaden, IV 4, 16, 4–6, IV 4, 12, 18–28. 74Enneaden, III 7, 11, 50. 72Enneaden,
4.3 Die Zeit als die Selbstentfaltung der Seele …
77
4.3.2 Die Affinität zwischen der Zeit und dem diskursiven Denken der Seele Die Seele als die Selbstentfaltung des Geistes zum Äußeren tritt aus dem Leben des Geistes heraus, um sich selbst zu beherrschen. Dieses Auseinandertreten des Lebens des Geistes ermöglicht zwar einerseits die Selbstständigkeit jeder Seele, aber lässt andererseits jede Seele als eine vereinzelte und verendlichte Idee von ihrem Ganzen trennen, zu dem ihr eigentliches Selbst tatsächlich gerade gehört. Die Seele muss also in ihrem Versuch, sich selbst zu beherrschen, zugleich streben, sich selbst durch die Zurückwendung zu dem Ganzen zu besitzen. Dies kommt erst in der Bewegung bzw. der Selbstentfaltung der Seele zustande. Ähnlich wie die Bewegung des Geistes ist dabei die Bewegtheit der Seele auch ein Denken, aber in einer anderen Art, und zwar ein sogenanntes diskursives Denken bzw. διάνοια. Der Selbstbesitz der Seele wandelt sich deswegen aus einer anderen Hinsicht in ein Selbstbewusstsein derselben um. Das Selbstbewusstsein der Seele kann aber nicht mehr in einer vollendeten Form sein wie die Selbstbeziehung des Geistes. Denn seitdem die Seelen auseinandertreten, stehen sie nicht mehr in der engsten Verbindung miteinander, in der sie nicht voneinander trennen, d. h., sie stehen nicht mehr in dem Zustand der wechselseitigen Teilhabe aneinander. Sie löst sich von dem Seinsganzen ab, um selbstständig zu sein. Aber nach der Forderung des Selbstbesitzes kann jede Seele tatsächlich nur durch ein wechselseitiges Verhältnis zu den anderen bestimmt werden. Also braucht sie wiederum das Ganze, um sich selbst zu bestimmen und zu besitzen, deshalb auch sich selbst bewusst zu werden. Daher muss sie wieder das Ganze erkennen. Dennoch steht sie nun schon in dem Zustand, wo alle Seelen auseinanderfallen. Deshalb muss die Seele einen anderen Weg finden, um dieses Ganze wieder zu gewinnen. Dies ist der Weg des diskursiven Denkens. Auf diesem Weg muss die Seele alle getrennten Ideen bzw. Seinsbestimmungen durchlaufen, sofern das Ganze nur aus dem Zusammenhäufen aller diesen abgetrennten Ideen besteht. Aber das Durchlaufen durch die Ideen kann nur in dem Sinne des Bewusstwerdens dieser Ideen sinnvoll sein. Deshalb gerät die Seele in der Bewegung, die jede der Seinsbestimmungen nacheinander denkend durchlaufen muss, damit sie sich jeder bewusst werden kann. Da aber in dem Ganzen unendlich viele Momente enthalten sind, kann nun der Versuch der Seele, als ein Moment des Ganzen diskursiv dieses Ganze zu begreifen, nie vollendet werden kann. Dies bestimmt die Charakteristik dieser Bewegung des Denkens als unvollendet-unendlich – ein Abbild des vollendet-unendlichen Geistes in seinem Selbstbewusstsein.
78
4 Die Affinität zwischen Zeit und Denken. Die ontologische Zeit …
Diese unvollendet-unendliche Form der Bewegung der Seele ist gerade die wesentliche Beschaffenheit der Zeit, wie wir sie zuvor als die immer fortdauernde, zukunftsgerichtete Selbstentfaltung der Seele bestimmen. Dies heißt doch schon, dass die genannte Spannung zwischen dem strebenden Selbstbewusstsein der Seele und dem unvermeidlichen Scheitern zu diesem Zweck ebenfalls die einzige Lebensform der Seele, nämlich die Zeit, charakterisiert. Deshalb ist diese Erkennensform der Seele, und zwar das Denken der Seele, das wir diskursives nennen (διάνοια), mit der Zeit strukturgleich ist. Wir können sogar behaupten, dass das diskursive Denken wesentlich mit der Lebensform der Seele verbunden und identisch ist: Wenn wir sagen, dass die Zeit das Leben der Seele ist, und das Leben der Seele selbst von Seele so geführt wird, dass sie nur diskursiv denkt, dann bedeutet es nicht nur, dass die Wurzel der Zeit in dem diskursiven Denken der Seele liegt, sondern ferner, – so interpretiere ich -, dass die Zeit und das diskursive Denken tatsächlich ein und dasselbe „Ding“ sind. Freilich manifestieren sie beide sich in verschiedenen Formen: Bei der Zeit liegt die Betonung mehr darauf, dass sie ein Ergebnis dieser Manifestation des Lebens zeigt, wenn wir Zeit als eine sukzessive, unendliche, zukunftsgerichtete Linie verstehen – ein Ganzes, dennoch ein zukünftiges Ganzes; bei dem diskursiven Denken ist aber die Betonung mehr auf die Verfahrensweise oder Selbstentfaltungsweise der Seele selbst – Die Bewegtheit ihrer selbst ist das diskursive Denken. Dadurch zeigt sich die Affinität der Zeit zu dem Denken, hier dem diskursiven Denken. Das diskursive Denken kann deswegen nur in der Zeit durchgeführt werden. Dies wird von der Entfaltungsweise und dem Zu-erreichenden-Selbstbewusstsein der Seele her geeignet bestimmt. Aber in einer anderen Perspektive kann man auch sagen, dass die Zeit in der Form der Vorstellung erscheint, während das diskursive Denken noch seinen Charakter des Denkens behält. Es ist daher nur ein Unterschied in Betrachtungshinsicht: Wenn es sich auf die Vorstellung bezieht, erschient es als Zeit; aber wenn es sich auf das Denken bezieht, erscheint es als das diskursive Denken. Die konkrete Denkweise des diskursiven Denkens wird daher auch durch die Dynamik der Seele stark geprägt. Während der Geist sein ursprüngliches Denken als eine Art intellektuelle Anschauung durch seine Trias-Einheit (das Denkende, Denken und Gedachte in eins) erreicht ist, existiert diese Einheit bei der Seele leider nicht mehr: Diese Dreiheit zerfällt sich in jeweilige unterschiedliche Momente. Eine Diskursivität entsteht dadurch, dass sie nicht mehr durch sich selbst den Denkprozess durchführen kann, sondern das Denkende erst mithilfe des anderen als des Gedachten das Denken vollenden muss. Diese immer etwas erwerbende Tätigkeit der Seele ist gerade der Denkprozess, sich selbstbewusst zu werden. Und das Gedachte kann aber nicht mehr bei sich selbst sein; stattdessen
4.3 Die Zeit als die Selbstentfaltung der Seele …
79
muss das Denkende immer fortschreiten, um das Andere (das Gedachte) zu erwerben und zu vereinigen. Dies ist eine Spaltung, die nur durch die Zeit vereinigt werden kann. Die Affinität zwischen dem Denken und der Vorstellung von Zeit ist deshalb wesentlich in der Seele tief verwurzelt.
4.3.3 Die Zeit als das bestimmende Prinzip der sinnlichen Welt Mit der dynamischen Beschreibung der Entstehung der Seele aus dem Geist, wo die Seele bzw. die Seinsbestimmung sich verzeitlicht und individuiert, beantwortet Plotin die Frage, warum die Zeit aus dem zeitlosen Geist bzw. der Ewigkeit entsteht. Aber nach Plotins Lehre der Potenz findet nun mit dieser inneren Selbstentfaltung der Seele zusammen eine äußere Selbstentfaltung derselben zugleich statt, indem die Seele sich nach außen entfaltet und mit der ununterbrochenen und unermüdlichen Tätigkeit in Schöpfung und Werden wirkt. D. h., die innere Entfaltung der Seele bringt ihrerseits unumgänglich die sichtbare sinnliche Welt hervor, indem die Seele die Wirksamkeit nach außen wirkt. In diesem Prozess bringt die Seele die entsprechende Materie erst hervor, an der die sinnliche Welt sich entfaltet.75 Da die innere und äußere Entfaltung der Seele ein und derselbe Prozess ist, ahmt die sinnliche Welt, indem die Seele durch die Nachahmung der intelligiblen Welt des Geistes die sinnliche Welt hervorbringt, auch die wesentlichen Eigenschaften intelligiblen Welt nach. Folglich setzt die Seele die durch sie erst hervorgebrachte Welt auch in der Zeit. Die Welt bewegt sich deswegen in der Seele und ferner in der Zeit der Seele. Ohne diese Bewegung, welche die Zeit hervorbringt, könnte die Welt auch gar nicht geschaffen werden. Sofern die innere und äußere Entfaltung der Seele ein und derselbe Prozess sind, finden die Erzeugung der Zeit und die der Welt „zugleich“ statt. Oder man kann sagen, dass die Seele in ihrer Tätigkeit die Welt erzeugt, wobei diese Tätigkeit selbst als die Zeit betrachtet werden kann.76
75Durch
die Betrachtung (θεωρίαν) entsteht diese Welt, ein wenig wie die Zurückwendung der Geist zu dem Einen. Vgl. Enneaden, III 9, 3. 76Da die sinnliche Welt für Plotin das Produkt der Seele durch die Vermittlung der Zeit ist, steht die Zeit sozusagen näher zu der Seele als zu der Welt, die sie durch die in die Materie dringende Form erst hervorbringt. So ist die Bewegung (der Umlauf) der Gestirne allenfalls eine Anzeige für uns, womit wir die Zeit verstehen, weil wir die Zeit nicht unmittelbar
80
4 Die Affinität zwischen Zeit und Denken. Die ontologische Zeit …
Als Leben der Seele bietet die Zeit folglich das sowohl ontologische als auch epistemische Indiz dafür an, wie die zeitlose bzw. überzeitliche Idee sich veranschaulicht (oder mittels des Bild-Ausdrucks, „verbildlicht“) und zeitlich wird, und wie sie von uns als den zeitlich-denkenden Menschen begriffen werden kann.77 Die Zeit erweist sich daher als die Vermittlung, mit der sich die Ideenwelt zu einer sinnlichen Welt entfaltet. Sie herrscht also über unsere sinnliche Welt durchaus und prägt jedes einzelne sinnliche Ding in ihre Seinsweise. In diesem Sinne können wir sagen, dass die sinnlichen Dinge in der Zeit sind: Die sinnlichen Dinge und die Zeit stehen also nicht auf einem gleichen Niveau, sondern die Dinge als die durch Seele Hervorgebrachten sind in der Zeit. Die Zeit fungiert daher als das ontologische Rahmenwerk der wahrnehmbaren Dinge, in dem das
wahrnehmen und begrenzen können; sie hat aber niemals mit der Zeit selbst zu tun. Die Zeit selbst ist wesentlich kein Maß, sondern dasjenige, mit dessen Hilfe (oder: auf Grundlage dessen) man erst die Bewegung messen kann, das heißt: die Zeit ist vielmehr die Grundlage für jedes mögliche Maß. Die Größe der Zeit, die wir normalerweise mit der Größe der Bewegung in Zusammenhang bringen, ist nur eine abgeleitete und nebensächliche Funktion der Zeit, ein Maß für die Bewegung zu geben, wobei das Wesen der Zeit davon unberührt bleibt. Dies kann das Argument ergänzen, das in Platons Timaios fehlt, und mithin die Missverständnisse von der platonischen Zeitlehre klären, d. h. die Zeit ist nicht deswegen überall, weil sich die Gestirne und die Welt überall bewegen, sondern weil die Seele überall in der Welt ist. Vgl. Enneaden, III 7, 12 und 13. 77Die ontologische Vermittlung der Zeit lässt sich auch in dem Prozess der Teilhabe sehen, der eben als der vorstellend umgekehrte Prozess des oben dargestellten Übergangs zwischen den Seinsstufen oder der Weltentstehung zu betrachten ist. Im Prozess der Teilhabe der sinnlichen Dinge an den Ideen dient die Zeit ebenso als das Medium, um diesen Prozess zu verwirklichen. Dies ist eine statische Beschreibung des Übergangsprozesses, den wir dynamisch gezeigt haben. Das zeithafte sinnliche Ding erhält sein Sein und Wesen durch die Verbildlichung der Idee und deshalb eine Verzeitlichung der Seele, die ihrerseits nur durch die Beteiligung der Zeit möglich ist. Wir können auch sagen, dass das Erkennen der Idee des teilhabenden Dings umgekehrt eine Entbildlichung und Entzeitlichung des sinnlichen Dings ist. Die Teilhabe ist daher die Weise, wie das sinnliche Ding durch die Zeit die Idee erhalten kann; sie kann also nur durch die Zeit geschaffen werden. Auch die epistemische Rückkehr in die Ideenwelt oder den Geist kann nur durch eine Beschäftigung mit der Zeit durchgeführt werden, z. B. durch die Methode der Dialektik. Vgl. Plotin, Enneaden, I 3. Zu der Rolle der Zeit in der Dialektik vgl. auch Beierwaltes 2010, S. 75 ff. So können die beide Richtungen der Verbindung zwischen den zwei Welten, entweder hinab oder hinauf, im Prinzip allein durch die Zeit geklärt und gegründet werden. Dies zeigt auch, wie die Verzeitlichung der Seele einerseits und die Entzeitlichung der sinnlichen Dinge andererseits für die Vermittlung und Verbindung zwischen der intelligiblen Welt bzw. des Geistes und der sinnlichen Welt entscheidend sind.
4.3 Die Zeit als die Selbstentfaltung der Seele …
81
Sein dieser Dinge bestimmt werden kann. Sie ist also das grundliegende Prinzip des Seins und der Bestimmtheit der sinnlichen Dinge. Dieses Zeitverständnis holt die Zeit aus dem physikalischen Bereich heraus und führt dazu, das Wesen der Zeit, und zwar der ontologischen Zeit, richtig zu bestimmen. Nun ist die Zeit das bewegte Abbild der Ewigkeit. Wir haben zuvor von zwei unterschiedlichen Arten der Bewegungen gesprochen, und die Bewegung der Zeit ist die eigenkräftige Tätigkeit der Seele, die von der Bewegung der Körper in der sinnlichen Welt unterschieden werden muss. Nach Plotin ist die Bewegung der Körper eigentlich nur eine Nachahmung der eigentlichen Bewegung der Seele, d. h. die Bewegung der Seele ist der Prototyp der Bewegung der sinnlichen Welt, indem sie als das Auseinandertreten des Lebens und als die „innere Bewegtheit der Seele“ erst den Abstand (διάστασις) möglich macht.78 Die Bewegung der sinnlichen Welt ist also nur eine weitere Nachbildung von ihr und besitzt noch geringere Einheit.79 Durch die obige Erläuterung des Wesens der Zeit werden die Charakteristiken derselben erhellt: Das Nacheinander macht die Sukzessivität der Zeit aus. Die beständig sich ablösende Lebenszustände der Seele als des Seins machen die Kontinuität der Zeit möglich. Die Irreversibilität der Zeit besteht darin, dass die Seele nicht mehr dasjenige zu besitzen braucht, das sie schon besessen hat. Sie will nur immer fortschreiten, und immer mehr Sein für sie erhalten, und ist daher ein immer fortdauernd ins Unendliche schreitendes Nacheinander, weil sie zu dem vollendeten Selbstbesitz nicht einmal gelangen kann. Endlich ist die Zukunftsgerichtetheit der Seele daran orientiert, dass sie sich in der Zukunft durch das Durchlaufen der Ideen immer der Ganzheit ihres Selbst nähert. Sie muss versuchen, durch das in der Kontinuität (συνέχεια) erzeugte Eine das vollendete Eine des Geistes als Ganzheit zu erreichen. Deshalb ist diese Ganzheit für die Seele und die Zeit nur ein immer künftiges Ganzes, ein Ziel in der Zukunft, die
78Vgl.
Enneaden, III 7, 13. Vgl. auch Beierwaltes 2010, S. 290. Wie oftmals schon erwähnt muss diese Bewegung der Seele sich von der Bewegung des Geistes unterscheiden, weil dort die Bewegung die Verwirklichung des Geistes ist. Dennoch gibt es dort, wie vorher schon gezeigt, keinen Abstand, so ist die Bewegung des Geistes nur eine Art von Beziehung unter den Ideen. 79Dies wird laut Plotin die aristotelische Zeitdefinition vom Grunde ausstreichen. Denn das Früher und Später in der Bewegung der sinnlichen Welt (der räumlichen Bewegung) ist erst durch die wirkliche Bewegung der Seele möglich, nicht aber umgekehrt. Es ist die Bewegung der Seele, die selbstwirkend ist und „ihre jeweiligen Tätigkeiten selbst zeugt“, und deshalb auch das Nacheinander, das Früher und Später. Eine Zeitdefinition, die das Früher und Später als Momente benutzt, wird dann in Zirkelschluss geraten.
82
4 Die Affinität zwischen Zeit und Denken. Die ontologische Zeit …
unendlich fortgehen wird.80 Die Dinge in der sinnlichen Welt, die eben durch die Bewegung der Seele hervorgebracht werden, müssen hinsichtlich ihres Seins auch durch diese genannten Charakteristiken der Zeit bestimmt und verstanden werden. Diese Charakteristiken der Zeit, die tief in dem Wesen der Seele und ihren Tätigkeiten verwurzelt sind, bestimmen in der äußeren Selbstentfaltung der Seele unser ganzes Weltall mit. Denn die Entstehung der Welt ist eben das Produkt dieser Selbstentfaltung der Seele. Das Gestalten der Welt übernimmt deshalb auch dieses Leben der Seele, d. h. die Zeit und alle ihre Charakteristiken. Da alles in der sinnlichen Welt auch in der Seele ist, und alle Seelen wegen ihres gleichen Ursprungs von Geist die gleiche Entfaltungsweise haben, nämlich die Zeit, sind alle Dinge in der Welt derselben Zeit unterworfen, die ihrerseits einheitlich bleibt. Obwohl die durch die Bewegung der Seele entstehende Welt ihrerseits eine materielle sinnliche Welt ist,81 ist es schließlich zu bemerken, dass man die sinnliche Welt dennoch so verstehen muss, dass sie ganz und gar durch die Seele bestimmt werden, indem alle Seinsbestimmungen von den Seelen gewährt sind.82 Dabei spielt die Materie nur eine sehr geringe Rolle, weil sie eher ein bloßes ontologisches Prinzip ist als etwas Substantielles, was von dem heute üblichen Verständnis ganz unterschiedlich ist.83 Hinsichtlich dessen ist die Seele und ihre Lebensform, nämlich die Zeit, das bestimmende Prinzip des Sein der sinnlichen Dinge. Die Dinge in der sinnlichen Welt sind also nicht durch die Materie, sondern allein durch die Seinsstufe der Seele erklärbar und können auch dadurch ihre Bestimmungen haben. Trotzdem muss man die sinnliche Welt als eine andere Seinsstufe als die Seele, und zwar als eine andere Wirklichkeit begreifen, die nicht bloß reine Seele enthält. In diesem Sinne dient die Seele, zugleich mit ihrem Leben, der Zeit, als eine ontologische Vermittlung, die die intelligible Struktur der Ideenwelt auf die sinnlich wahrnehmbaren Dinge überträgt.84
80Zu diesem Thema ausführlicher vgl. Pannenberg 1988, S. 57. und Halfwassen 2002, S. 231 f. 81Enneaden,
III 8, 4. IV 4, 13ff. 83Enneaden, II 4. Zu dem Problem des Materiebegriffs vgl. Abschnitt 4.4 der vorliegenden Arbeit. 84Dies erinnert uns an die Mittestelle der Seele zwischen der intelligiblen Welt und der sinnlichen materiellen Welt bei Platon, wo die Seele aber nur eine Quasi-Seinsstufe ist, keine selbständige. Plotin bezeichnet die Mittestelle der Seele durch den Gedanken ihres doppelten Charakters der Teilbar- und Unteilbarkeit. Nach Plotins Ableitungssystem 82Enneaden,
4.3 Die Zeit als die Selbstentfaltung der Seele …
83
Es ist deshalb klar, dass bei Plotin die Zeit als Lebensform der inneren sowie äußeren Selbstentfaltung der Seele nicht nur die Affinität zu dem diskursiven Denken hat, sondern auch die Seinsbestimmungen, die in dem Geist einheitlich miteinander verbunden sind, verendlicht und auf die sinnlichen Dinge überträgt; Sie macht daher das bestimmende Prinzip des Seins dieser Dinge aus. Dies gehört zu den wichtigsten Beiträgen, die Plotin nicht nur zu einer Zeittheorie, sondern auch zu der Ontologie der sinnlichen Dinge leistet. Dadurch wird die ontologische Zeitkonzeption des antiken Platonismus, die von Platon angedeutet aufgestellt hat, ihre vollständige Gestalt bekommt, in der die Zeit in einem wesentlichen Verhältnis zu dem Geist, der Seele und der sinnlichen Welt steht.
kommt die Seele als eine spezielle Hypostase aus der geistigen Welt her, wodurch sie die Unteilbarkeit mit sich bringt. Gleichzeitig drängt sie als ein Heraustreten von sich selbst zu der anderen Natur (ϕύσις) und kommt dann in die Mitte zwischen beiden, „dem Unteilbaren und dem den Körpern zugehörigen Teilbaren“ (Enneaden, IV 2, 1.). Mit diesem doppelten Charakter ist die Seele sowohl unteilbar als auch teilbar. Dies ist aber eigentlich keine Paradoxie. Denn die Seele als Dolmetscher (ἑρμηνεύς) vermittelt also das, was sie von dem Höheren bekommt hat, an ein Niedrigeres, das eigentlich erst dadurch hervorgebracht wird, indem sie diese Wirkung unermüdlich nach unten übt. Sie ist nicht primär schon teilbar wie der Körper, sondern „sie wird teilbar an den Körper“.(Enneaden, IV 2, 1, 33–35: μεριστὴ μὲν οὐ πρώτως, ὥσπερ τὰ σώματα, μεριστή γε μὴν γιγνομένη ἐν τοῖς σώμασιν. Herv. d. Verf.) Das heißt, auch wenn sie geteilt ist, bleibt sie doch eins, und zwar nicht eins in der Weise von Körper durch Kontinuität, wobei er die Teile nacheinander hat, welche voneinander gänzlich getrennt sind. Sie ist teilbar tatsächlich durch die Affektion der Körper: wenn die Körper geteilt sind, muss die Seele in einer Weise auch geteilt werden. Nach Plotins Wort, „sie ist teilbar, sofern sie in allen Teilen des Dinges ist, dem sie beiwohnt“ (Enneaden, IV 2, 1, 65–66.). Dennoch besteht sie noch in jedem geteilten Körper als ein Ganzes. Denn, während sie „zu den über alle Dinge erhabenen Naturen gehört“, ist sie aber auch unteilbar, weil sie in jedem beliebigen Teil als ganze dieselbe bleibt. Das heißt, „das, was an ihr geteilt wird, wird ohne Teilung geteilt“. Die Seele ist so, weil sie nicht völlig von der geistigen Welt getrennt sind und ein Stück von ihr nicht herabgestiegen ist; sie kann auch dieser Teilung in der Tat nicht unterliegen. Diese komplizierte Erklärung Plotin wird dann verständlich, wenn es klar ist, dass die sogenannte Teilung der Seele tatsächlich nur die Eigenschaft der Körper ist, was durch das Wort „an dem Körper“ nuancierterweise ausgedrückt wird. Dabei ist der eigentliche Charakter der Seele nach Plotin immer unteilbar von der Sicht des Körpers ist. Sie ist nur insofern teilbar, als sie auseinandertritt und in die Körper tritt. In diesem Sinne sagt Plotin, dass die Seele „aus einer oberen und unteren, oder aus einer ans Jenseits geknüpften und sich bis ins Diesseits ausbreitenden besteht, etwa wie ein Radius vom Zentrum ausgeht.“ (Enneaden, IV 1) So ist die Seele die rationale Form, welche die unterste in dem geistigen Bereich, aber zugleich die erste in der sinnlichen Welt ist. (Vgl. Enneaden, IV 6, 3)
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4 Die Affinität zwischen Zeit und Denken. Die ontologische Zeit …
4.4 Das Materie/Raum-Prinzip bei Plotin Die Weltkonstitution und Welterschaffung ist allein durch die Selbstentfaltung der Seele möglich, wobei in dieser Selbstentfaltung auch das Materie-Prinzip ins Spiel gebracht werden muss. Denn die Konstitution der sinnlichen Welt ist zugleich die Formung der Materie. Dennoch ist es fragwürdig, welche ontologische Stelle in der Philosophie Plotins, in der es sich um eine Geistmetaphysik und ein Ableitungssystem handelt, die Materie besitzen kann. Man kann sagen, dass der Begriff der Materie zu den schwierigsten Problemen der Plotins Philosophie gehört, und dass die Erklärung der Rolle der Materie in der Konstitution der sinnlichen Welt erst die plotinische Geistmetaphysik vollständig macht. In Platons Dialogen ist das Problem der Materie kein vordergründig dargestelltes Thema.85 Eine umfassende Darstellung über dieses Problem befindet sich in dem Dialog Timaios. Dort spricht Platon von einer dritten Seinsart, dem „Worin es [d. h. das werdende Ding] wird“ (τὸ δ᾽ ἐν ᾧ γίγνεται),86 einer „Aufnehmerin und gleichsam Amme alles Werdens“ (πάσης εἶναι γενέσεως ὑποδοχὴν αὐτὴν οἷον τιθήνην). Sie wird näher beschrieben als ein solches, worin alles Werdende zur Erscheinung kommt, und worein es, aus derselben entschwindend, wiederum zurückgeht.87 Durch die Ausschließung aller Bestimmungen behauptet Platon ferner, dass sie ein immer-seiender Raum (χώρα) ist, der sich dem Untergang nicht unterwirft und „allem, was ein Werden hat, eine Stätte (ἕδραν) gewährt“. Es ist sichtbar, dass Platon zwei Funktionen der Chora zuteilt: die eine das Prinzip der Materie, die andere das des Raumes, wenn wir sie getrennt betrachten.88 Dies bedeutet zwar nicht, dass die beiden
85Hauptsächlich
in dem Dialog Timaios und spärlich in Sophistes, Parmenides und Philebos können die Erwähnungen von Materie und Raum gefunden werden. Manche Dialoge zeigen nur Spuren davon, die man tatsächlich uminterpretieren muss, um sie in diesem sachlichen Zusammenhang zu bringen. In einer späteren Fußnote des vorliegenden Abschnitts werde ich diese Erwähnungen in Platons Dialogen ausführlicher erklären. 86Platon, Timaios, 47ff. Nämlich das dritte neben „dem Werdenden“ (γιγνόμενον) und „dem, dessen nachgebildetes Erzeugnis es ist“ (τὸ δ᾽ ὅθεν ἀϕομοιούμενον ϕύεται τὸ γιγνόμενον). 87Platon, Timaios, 49ff. Vgl. Cherniss 1954, pp. 713–130. 88Wenn Platon dennoch dies gegenüber der Vernunft mit Notwendigkeit verbindet, löst es viele Probleme in Bezug auf diese bewegende Aufnehmerin aus, was diese Lehre von Materie in Schwierigkeit geraten lässt. Die zeigt sich vor allem die Kritik von Aristoteles. Vgl. Aristoteles, Über Entstehen und Vergehen, 329a. Vgl. auch Happ 1971, S. 122.
4.4 Das Materie/Raum-Prinzip bei Plotin
85
miteinander identisch sind, aber es ist auch nicht zu leugnen, dass die beiden oft Hand in Hand in den Dialogen auftauchen und miteinander eng verbunden sind. Zudem ist sie selber nicht den Sinnen zugänglich, und wegen ihres bestimmungslosen Zustands kann sie von Geist auch nur durch einen Bastardschluss (νόθῳ) erfasst werden: einen Schluss, der auf eine dem Denken umgekehrte Weise läuft, und zwar ein Undenken.89 Dies verursacht mehr Verwirrung darüber, was eigentlich diese Chora und Aufnehmerin ist. Aber es ist zumindest klar, dass Platon den Raum und die Materie immer in eins denkt. Da diese Chora kein stoffliches Ding ist und nicht durch das Sein erklärt werden kann, ist es berechtigt zu sagen, dass sie eigentlich als ein ontologisches Prinzip fungiert,90 wobei sie für das Sein der sinnlichen Dinge aber keine bestimmende Funktion hat. Sie wird in der „ungeschriebenen Lehre“ Platons besonders klar als ein ontologisches Prinzip, „das unbestimmte Zwei“,91 dargestellt, während sie in den Dialogen in Dunkel bleibt.92 Plotin nimmt gerade diesen Gedankenleitfaden Platons weiter auf. Obwohl Plotin selbst den Ausdruck von dem „zweiten Prinzip“ nicht häufig verwendet, gibt er aber dem Begriff der Materie fast die gleiche Beschreibung wie Platon. Er hat ausdrücklich einen Text geschrieben, die sich konzentriert mit der Materie befasst.93 Für ihn ist die Materie ebenfalls nur ein ontologisches Prinzip. Sie ist ein wahrhaftes Nichtseiendes (ὄντως μὴ ὄν), und zwar ein Nichtseiendes in Wirklichkeit (ἐνεργείᾳ). Das bedeutet: wenn sie rein für sich betrachtet wird,
89Platon,
Timaios, 52b. hat Halfwassen richtig gezeigt, vgl. Halfwassen 2004, S. 120 f. 91Die von Aristoteles referierte De Bono und andere überlieferten Texte haben ein spezielles Prinzip, die unbestimmte Zweiheit (ἀόριστος δυάς) oder das Große-und-Kleine, erstmal ins Licht gebracht. 92Es gibt andere Spuren in den Dialogen für dieses Prinzip. Die unbestimmte Vielheit (ἄπειρον πλῆθος) in Parmenides als τὴν ἑτέραν ϕύσιν τοῦ εἴδους, nämlich als Andersheit, zeigt den Aspekt der Materie in ihrer intelligiblen Funktion. Dazu passt auch das ἄπειρον in dem Dialog Philebos, obwohl vielleicht in ihrer Funktion in der werdenden Welt. Ferner ist das Nichtseiende als die Andersheit in Sophistes ein klareres Indiz, wenn es dabei um die Materie geht. Diese alle Charakteristiken zeigen, dass das Materie-Prinzip in Platons Theorie schwerer und ungewöhnlicher ist, als das, was wir normal über die Materie denken. Es ist vielmehr ein ontologisches Prinzip. Aus Umfangsgründen werde ich nicht weiter auf dieses zweite Prinzip in Platons ungeschriebener Lehre eingehen. Die meisten Inhalte dieser Lehre hat Plotin schon in seine Theorie übernommen. 93Vgl. Plotin, Enneaden, II 4: „Über die beiden Materien“ (Περὶ τῶν δύο ὑλῶν). 90Dies
86
4 Die Affinität zwischen Zeit und Denken. Die ontologische Zeit …
steht sie „außerhalb des wahrhaft Seienden“ und hat sie „ihr Sein im Nichtsein“.94 Weil sie nicht Seiendes ist, kann sie nicht durch das Denken erfasst werden, sondern durch ein Undenken (ἄνοια),95 ein unechtes Denken, welches alle Bestimmungen ausscheidet, und nur das Denken des allen Bestimmungen Zugrundeliegenden übrigbleiben lässt. Dieses begriffliche Übrigbleibende, weil ohne jede Bestimmung, ist für die Seele unklar und dunkel, und zwar ein Schatten (ϕάντασμα).96 Es ist nicht etwas Körperliches, weil der Körper etwas „Späteres“ als dieses ist. Dennoch als ein ontologisches Prinzip ist sie nicht nur für den Bereich der sinnlichen Welt zuständig, sondern auch wirksam in der intelligiblen Welt (Geist).97 Plotin unterscheidet deshalb zwei Arten von Materie,98 nämlich die intelligible Materie und die Materie für unsere sinnliche Welt (die untere Materie). Die erstere bezieht sich auf die Konstitution des Geistes und ist nicht unser Schwerpunkt hier, so lasse ich sie beiseite.99 Ich werde mich deshalb nur auf die Materie für die sinnliche Welt und ihre Rolle in der Erschaffung der Welt konzentrieren.100 Die Materie als ein ontologisches Prinzip bedeutet zuerst die Unbestimmtheit101 – ihr Name „unbestimmte Zweiheit“ erweckt schon diesen Eindruck. Ferner wird die Materie erst durch die Selbstentfaltung des höheren Seinsstufe hervorgebracht, und zwar als die Materie für die untere Seinsstufe, denn alles bedarf eines Substrates.102 Dennoch mithilfe der Macht der oberen Seinsstufe als des Ursprungs wendet sich das Hervorgebrachte dann zurück zu dieser oberen
94Plotin,
Enneaden, II 5,5, 28f. II 4, 10, 8. 96Enneaden, II 4, 10. III 6,7. II 4,12. 97Die Materie als ein ontologisches Prinzip wirkt in allen Bereichen der Seinsstufen, wobei sie besonders wichtig für das Auseinandertreten der Seele. Dazu vgl. Enneaden, II4. Dies hat ihre Tradition in der „Altakademie“, dazu vgl. Schwyzer 1973, Halfwassen 2015, S. 128 ff, Theiler 1967. 98Enneaden, II4, 5. „Allerdings das Dunkle im Intelligiblen und das Dunkle im sinnlich Wahrnehmbaren ist verschieden, und verschieden die Materie wie auch die an beiden haftende Form verschieden ist.“ 99Es ist nur bemerkenswert, dass sie in der Einheit der Bestimmtheit des Geistes aufgehoben wird, weil sie sich zu einem „selbstbestimmtes, geisthaftes Leben“ aufhebt. 100Dennoch sind die Funktion und der Prozess der Erzeugung der beiden Materien ähnlich, denn in beiden Fällen handelt es sich bei der Materie um das Substrat (ὑποκείμενον). 101Als Gegensatz zum Sein als Bestimmtheit. Zu diesem Punkt vgl. Halfwassen 2015, S. 154. 102Enneaden, II 4, 4. 95Enneaden,
4.4 Das Materie/Raum-Prinzip bei Plotin
87
Seinsstufe um. Eben diese Umwendung lässt die Materie die Bestimmtheit von der oberen Seinsstufe erhalten.103 Auf diese Weise ist die untere Materie für die sinnliche Welt, anders als die intelligible Materie, nichtseiend,104 weil die Materie immer um eine Stufe niedriger als deren Ursprung ist. Deshalb ist in dem Fall der unteren Materie die Hauptrolle bei der Hervorbringung die Seele. Der Prozess läuft auf folgende Weise ab: die Seele entfaltet sich selbst, wodurch die Materie als schlechthin Unbestimmtes erst hervorgebracht wird, denn „wenn sie für sich sein will, so bringt sie das hervor, was nach ihr ist, [nämlich] ein Schattenbild ihrer selbst, das Nichtseiende“.105 Aber nur mit einem sozusagen anderen „Hinblick“ auf diesen Schatten kann die Seele erst der Materie die Form geben und sie gestalten.106 Die Materie hat daher ursprünglich überhaupt keine Seinsbestimmung in sich, sondern erhält nur die Form und die Seinsbestimmung der Seele; erst die gestaltete Materie, und zwar der Körper, kann Seinsbestimmung haben. Die gestaltete Materie ist der Körper, ohne den die Materie auch gar nicht existieren kann.107 Die Materie ist deshalb „der Aufnahmeort“,108 und die Erschaffung der Dinge ist auch die Erschaffung
103So läuft der Prozess der Erzeugung von intelligible Materie folgendermaßen. Die Andersheit als eine Repräsentation der unbestimmten Zweiheit bringt erst die Materie hervor, die ihrerseits tatsächlich „die zweite Einheit“ ist, welche die Entzweiung daran vollziehen kann, die unbestimmt ist. Vgl. Enneaden, V4,2. V1,5. Dazu vgl. Halfwassen 2004, S. 86 ff. („Ein zweistufiger Hervorgang des Zweiten aus dem absoluten Einen.“, S. 88), und Krämer 1964, 312 ff: „Ein Urakt des Denkens“, und Halfwassen 2015, S. 163. Diese Andersheit ist der Ursprung der Materie und zugleich auch die erste Bewegung, die der Geist hat. Mithilfe der Übermacht des Einen wendet sie sich dann zu diesem um. Wenn sie sich umwendet, erhält sie dann die Bestimmtheit von Einen. Die Materie ist deswegen für den Bereich des Geistes das Andere (τὸ ἕτερον). Vgl. Enneaden, II 4, 5. 104Die intelligible Materie darf noch als seiend betrachtet werden. Denn das Eine, das jenseits des Seins ist, steht vor ihr und gibt ihr Sein als Bestimmtheit. Vgl. Enneaden, II 4,16. 105Enneaden, III9,3. Denn die Materie ist die Unbestimmtheit, das schlechthin Nichtseiende, der Schatten. Sie ist total unbestimmt und unbegrenzt, und ist das Andere, indem sie im Verhältnis zu den anderen Dingen steht, aber sie ist „nur anderes“, als ein Vergleich zu den anderen Dingen, die andererseits „etwas Anderes“ sind; deshalb nennt Plotin sie „ANDERE“ (ἄλλα, Enneaden, II4, 13, 30–32), welche die bloße Andersheit ist, nämlich diejenige Andersheit, der alle eigentlichen Seienden entgegengesetzt sind. Vgl. Enneaden, II4, 13,15,16. Und sie ist auch die Privation, insofern sie der Gegensatz zu allem in der Vernunft Seienden ist. Nur aufgrund deren Eigenschaften darf man die plotinische Materie als diejenige betrachten, die wir normalerweise in unserem alltäglichen Leben Materie nennen. 106Enneaden, III 9, 3, IV3, 9. 107Enneaden, IV 3, 9. 108Enneaden, IV 3, 11.
88
4 Die Affinität zwischen Zeit und Denken. Die ontologische Zeit …
des Raumes (τόπος) und des Wo (πού). Die Materie selbst als die Unbegrenztheit entrinnt von der endlichen Begrenzung der Formen, während jede flüchtige Erscheinung als eine vorläufige geformte Masse (oder ein Körper) „von außen umschlossen (ἁλίσκεται) und ertappt (περιληϕθέν)“ wird, wodurch „der Ort (τόπος) zur Existenz kommt“.109 Den ganzen „heiligen“ Ort (Raum) (πᾶς ὁ χῶρος ἱερός) nennt Plotin den Raum.110 So hat dieses ontologische Prinzip deshalb auch in Plotins Theorie eine zweifache Funktion, nämlich sowohl als Prinzip der Materie als auch als das Prinzip des Raumes. Davon aus können wir sagen, dass bei Platon und bei Plotin die unbestimmte Zweiheit als ein ontologisches Prinzip immer als ein Raum- und zugleich Materie-Prinzip fungiert. Ein fester Zusammenhang zwischen Materie und Raum ist dadurch in die platonische Philosophietradition gesetzt. Ein in der Neuzeit gewöhnliches Weltbild, nach dem die jeder Form gleichgültige Materie unter den miteinander gleichgestellten Formenprinzipien Raum und Zeit liegt und diesen zur Verfügung steht, ist nicht der Fall des antiken Platonismus, für den die Zeit und der Raum ganz unterschiedliche Rollen in der Weltentstehung spielen: Die Zeit ist die Lebensform der inneren Selbstentfaltung der Seele und steht der Seele näher, während der Raum als der Aufnahmeort der erscheinenden Dinge das Produkt der äußeren Entfaltung der Seele ist. Alle Bestimmungen für die sinnliche Welt sind dann allein der Seele zu verdanken, indem die Seele, die an sich zeitlos ist, in ihrer Verzeitlichung erst der Materie die Form gibt. Die Zeit fungiert also als die prinzipielle Form des Seins der sinnlichen Dinge. Daraus ergibt sich nicht nur die ontologische Rolle der Zeit als der Vermittlung zwischen der intelligiblen und der sinnlichen Welt, sondern auch das (neu-)platonische Verhältnis des Denkens (der Seele) zur Zeit und zum Raum in der Entstehung der sinnlichen Welt, das dann als ein Bezugspunkt meine Auseinandersetzung mit der kantischen Transzendentalphilosophie gelten kann.
109Enneaden, VI 110Enneaden,
6, 3, III 6, 7, VI 6, 3. I 8, 14.
5
Die Auffassung des Seins in der Antike und in der Neuzeit
Wir haben bei dem antiken Platonismus gesehen, dass die χώρα (Materie/ Raum) sich zwar an die Konstitution der sinnlichen Welt beteiligt, dass sie aber kein Prinzip des Seins des Sinnlichen ist, weil sie die sinnlichen Dinge hinsichtlich deren Seins nicht bestimmt. Die ontologische Zeit hingegen, indem sie das Sein der Ideenwelt auf die sinnlichen Dinge überträgt, reicht allein aus, die prinzipielle Form des sinnlichen Seins zu sein. Mit Platons Wort „hat“ das sinnliche Sein an dem intelligiblen Sein der Ideenwelt durch die Zeit „teil“. Aber es fragt sich, was eigentlich das Sein bedeutet, das hier vermittelt und übertragen wird. Soll das Sein aus einem einheitlichen Sinne verstanden werden, oder hat es eine Mehrdeutigkeit? Diese Frage kann in dem Hintergrund bleiben, wenn wir nur von der Rolle der Zeit als Vermittlung der intelligiblen Struktur an dem sinnlichen Ding reden. Aber wenn wir nun den Übergang vom Problem der Zeit als Vermittlung in dem antiken Platonismus zum Problem des Verhältnisses des Denkens zu dem Sein des Dings bei Kant behandeln, muss diese Frage eigens thematisiert werden. Platon denkt im Kontext der Lehre der höchsten Gattungen über die Idee des Seins nach und entdeckt die Zweideutigkeit, die in diesem Begriff enthalten ist. Diese Zweideutigkeit hat zwar keine Wirkung in der Erörterung des sinnlichen Seins bei dem antiken Platonismus, aber sie wird eine wichtige Rolle für die folgende Untersuchung meiner Arbeit in dem nächsten Teil spielen. In dem vorliegenden Kapitel betrachte ich zuerst das theoretische Ergebnis des Nachdenkens Platons über den Seinsbegriff. Dann stelle ich als Vorbereitung für die Erörterung des nächsten Teils kurz dar, welche Veränderung das Philosophieren über das Sein des Dings seit der Neuzeit erfährt.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Liu, Zeit und Sein des Sinnlichen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61924-7_5
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5 Die Auffassung des Seins in der Antike und in der Neuzeit
5.1 Die Einheit der Aspekte des Seinsbegriffs im antiken Platonismus Platons Nachdenken über den Seinsbegriff steht in dem Kontext der Lehre der höchsten Gattungen in Sophistes. Dort entwickelt Platon eine Theorie der wechselseitigen Teilhabe der Ideen aneinander (unterschieden von der einseitigen Teilhabe der sinnlichen Dinge an den Ideen), wodurch die Ideen in der Seinswelt sich aufeinander beziehen. Ich gehe hier nicht auf die Einzelheiten der Theorie der wechselseitigen Teilhabe bzw. der Lehre der höchsten Gattungen ein, sondern konzentriere mich auf Platons Überlegungen über den Begriff des Seins. Bei Platon werden die Ideen als die wahren Seienden bezeichnet. Aber in der Lehre der höchsten Gattungen wird das Seiende auch als eine der Gattungen aufgelistet. Es ist dann fragwürdig, wie wir den Unterschied zwischen diesen Bedeutungsaspekten des Seins verstehen sollen?
5.1.1 Die zwei Bedeutungsaspekte des Seinsbegriffs in der Gattungslehre Die Überlegungen Platons über den Seinsbegriff gehen von einer scheinbar para doxen Formulierung aus: τὸ μὴ ὂν εἶναι.1 Wörtlich übersetzt man sie wie folgt: „es gibt etwas, was es nicht gibt“, oder „das Sein des Nicht-Seienden“, was widersprüchlich zu sein scheint. Aber Platon erklärt diese Formulierung als verständlich und konsequent, indem er einerseits die Bedeutung von Sein differenziert und andererseits die Gattung des Verschiedenen nach ihren unterschiedlichen Aspekten untersucht.2 Die Gattung des Verschiedenen hat die Besonderheit, dass sie immer in Beziehung auf ein anderes steht (τὸ δέ γ᾽ ἕτερον ἀεὶ πρὸς ἕτερον).3 Dies zeigte sich schon dann, wenn Platon zwischen der Gattung des Seienden und der des Verschiedenen unterscheidet, weil das Seiende nicht nur in Beziehung auf ein anderes stehen kann, sondern auch an und für sich sein (τὰ αὐτὰ καθ᾽ αὑτά), und zwar absolut sein kann.4 Die Gattung des Verschiedenen ist also speziell und
1Sophistes,
237a. 263b ff. 3Sophistes, 255c–255e. 4Sophistes, 255c–d. 2Sophistes,
5.1 Die Einheit der Aspekte des Seinsbegriffs im antiken Platonismus
91
dient als die Funktion, das Andere von ihm selbst zu zeigen. So ist jede Idee verschieden von anderen Ideen, indem sie an der Gattung des Verschiedenen teilhat. Umgekehrt kann auch jede der anderen Ideen als ein Verschiedenes von der genannten Idee betrachtet werden, und ist deshalb nicht diese Idee. Dies eröffnet uns eine neue Hinsicht für den Begriff des Nicht-Seins: wenn jemand von etwas (und zwar von einem Seienden) sagt, dass es nicht ist, meint er nicht, dass es überhaupt „nicht existiert“ (also als Gegensatz zum Sein), sondern er möchte nur meinen, dass es anders von der getroffenen Idee ist, indem es an der Gattung Verschiedene teilhat. Als Beispiel kann das „Nichtschöne“ genannt werden.5 Das „Nichtschöne“ heißt nicht, dass das Schöne nicht existiert und folglich nicht ausdrückbar ist, sondern dass etwas nicht an dem Schönen teilhat. Das Wort „nicht“ zieht nur eine Grenze, die rund um die in dem Satz gesprochene Idee („Schöne“) liegt; der breite Bereich außerhalb der Idee des „Schönen“ ist der Bereich dieses Worts „Nichtschönen“. Aus diesem Grund ist das Nichtschöne ebenso seiend als die Idee des „Schönen“ selbst. Wenn der „Fremder“ im Dialog erklärt, dass die Natur des Verschiedenen jedes Seiende zum einem Nichtseienden macht, heißt es bloß, dass diese Gattung jedes Seiende einer Idee zu etwas macht, das verschieden von dem Seienden derselben Idee ist.6 Dennoch bleibt dieses Nichtseiende noch seiend, weil es, und zwar der breite Bereich außerhalb der getroffenen Idee, auch an dem Seienden teilhaben muss.7 Der Vielheit des Seienden entsprechend ist „das Wesen des Verschiedenen ebenso ins Kleine zerteilt wie die Erkenntnis“, weil es für das Wesen des Verschiedenen wie für die Erkenntnis gilt, dass es zwar eins ist, dass seine Teile aber voneinander abgesondert sind.8 Da sich die Verschiedenheit selbst auch unter dem Seienden zeigen muss, sind ihre Teile daher auch gleichermaßen seiend, und „mit zu zählen als ein Begriff unter das viele Seiende“ (ἐνάριθμον τῶν πολλῶν ὄντων εἶδος ἕν).9 Außerdem, da die Verschiedenheit „verteilt unter alles (πάντα) Seiende gegeneinander“ ist, darf man von jedem Teil des Verschiedenen sagen, dass es als Nicht-Seiendes wahrhaft seiend ist (ἐστιν ὄντως τὸ μὴ ὄν).10
5Dieses
ist eines der von Platon genannten Beispiele, vgl. Sophistes, 255d–e. 256a. Klaus Düsing zeigt zu Recht, dass diese platonische Entdeckung der neuen Auffassung der Negation die Vorzeichnung der später in der Philosophie bedeutsamen Kategorie der „Limitation“ ist. Vgl. Düsing 1980b, S. 118, Anm. 45. 7Sophistes, 256a. 8Sophistes, 257c–257e. 9Sophistes, 258c. 10Sophistes, 258e. 6Sophistes,
92
5 Die Auffassung des Seins in der Antike und in der Neuzeit
Daher erweist sich die Teilhabe einer Idee an der Gattung des Verschiedenen in der Tat als eine Veränderung des Blickwinkels, wobei man sich von einer Idee (z. B. der Idee des „Schönen“) zu den anderen Ideen (insgesamt „den Nichtschönen“) hinwendet. Sie gilt also als ein methodischer Begriff, mit dem das Verhältnis der Ideen zueinander und insbesondere zu der Gattung des Seienden gedacht werden kann. Die Gattung des Seienden, wie auch die des Verschiedenen, geht durch alle obersten Gattungen und daher auch durch alle Ideen in der Ideenwelt hindurch, so dass alle Ideen an der Gattung des Seienden und zugleich an der des Verschiedenen teilhaben.11 Wenn wir nun die Aufmerksamkeit auf eine Idee richten und sagen, dass sie ist, dann bedeutet es, dass diese Idee an dem Seienden teilhat (wie immer). Und wenn wir sagen, dass sie nicht ist, bedeutet es nicht, dass diese Idee nicht an dem Seienden Anteil hat – was in der Tat nicht möglich ist -, sondern es bedeutet, dass diese Idee nicht dem Seienden inhaltsgleich ist.12 Ihre Teilhabe am Seienden kommt dabei nicht in den Blick, so dass sich diese Idee selbst nicht als Seiendes zeigt. So ist es klar, dass die Untersuchung des Begriffs des Nicht-Seins uns Hinweise gibt, wie der Sinn des Seins verdeutlicht werden kann. Mit den differenzierten Weisen des Nicht-Seins (μὴ ὄν), die wir auf Deutsch jeweils als „Nicht-Existieren“ und als „Verschiedenheit“ formulieren können, hängen zwei Bedeutungen des Seins zusammen, mit denen wir von einer Idee reden können. Ich bediene mich zwei Benennungen, um die beiden Bedeutungsaspekte des Seinsbegriffs zu bezeichnen, sofern sie das Wesentliche dieser Aspekte präzise repräsentieren: (1) das „Dass-Sein“, oder das Sein einer Idee hinsichtlich ihrer Beziehung auf die Gattung des Seienden; (2) das „Was-Sein“, oder das Sein einer Idee hinsichtlich ihrer Beziehung auf alle fünf Gattungen. Das Dass-Sein einer Idee bedeutet die Teilhabe dieser Idee an der Gattung des Seienden, z. B. in dem Fall „Bewegung ist“13 oder „das Haus selbst ist“. Und das Was-Sein einer Idee bedeutet die Teilhabe derselben an allen Gattungen (einschließlich der Gattung des Seienden), z. B. in dem Fall „Bewegung ist das Selbe“, wo die Bewegung am Selben teilhat.14 In dem zweiten Fall hat eine Idee zwar an einer anderen teil, 11Sophistes,
259a. vgl. Düsing 1980b, S. 119. 13Sophistes, 249b. 14Beide Aussagen über die Bewegung nehme ich von Sophistes, 256a. Zu diesem Bedeutungsunterschied des Seinsbegriffs redet Klaus Düsing von dem „absoluten“ Gebrauch und dem „prädikativen“ Gebrauch des Seins. Vgl. Düsing 1980b, S. 119. Diese letzte Benennung ist nur insofern richtig, als das „Prädikative“ hier nicht missverständlich die Logik vom Subjekt-Prädikat voraussetzt, sondern nur die „Verbindung mit einem 12Dazu
5.1 Die Einheit der Aspekte des Seinsbegriffs im antiken Platonismus
93
verliert ihren eigenen Inhalt aber nicht, bzw. ist mit der Idee, an der sie teilhat, nicht inhaltsgleich.15 Wir können davon leicht einsehen, dass der Unterschied beider Bedeutungen nur die Unterscheidung der Betrachtungshinsichten betrifft, gleich wie wir bei dem Bedeutungsunterschied des „Nichts“ sehen, denn das Was-Sein einer Idee besagt gar nicht, dass diese Idee nicht am Seienden teilhat. Dies ist, wie gezeigt, überhaupt nicht möglich. Und mit diesem Bedeutungsunterschied des Seins können wir die Besonderheit der Gattung des Seienden deutlich erkennen: jede Idee erhält einerseits ihr Sein (Dass-Sein) durch die Teilhabe an dem Seienden, um selbst auch Seiendes sein zu können; und jede Idee (darunter auch die Gattung des Seienden) hat andererseits in ihrem „Was-Sein“ den Anteil an allen anderen Ideen, ohne aber mit den letzteren inhaltsgleich zu sein, so dass der ganze Bereich der Ideenwelt in der Tat ein Bereich des Was-Seins, aus dem die Ideen ihre Inhalte schöpfen können. Die Gattung des Seienden erweist sich deshalb als eine besondere gegenüber den anderen obersten Gattungen, sozusagen als eine zentrale Gattung.
5.1.2 Die Erklärung des Seinsbegriffs bei Platon gegenüber einigen modernen Interpretationen Um den Seinsbegriff bei Platon näher festzustellen und seine Bedeutung für die Entwicklung der Ontologie klarer zu zeigen,16 möchte ich hier einige Bemerkungen zu denjenigen Platon-Forschungen hinzufügen, die von dem heute gewöhnlichen Unterschied zwischen dem kopulativen und dem existentiellen Gebrauch des Ausdrucks des „Seins“ ausgehend den oben gedachten Seins-
anderen“ bedeutet. Auch den Ausdruck „Gebrauch“ wird man möglicherweise mit dem Problem des Sprachgebrauchs assoziieren, was auch nicht der Fall bei Platon ist. (Zu beiden hier genannten Punkten komme ich bald zurück.) Um Missverständnisse zu vermeiden, folge ich also der Benennung von Düsing nicht. 15Das heißt, „Die Bewegung ist das Selbe“ bedeutet nicht, dass die Bewegung wegen dieser Teilhabe mit dem Selben identisch ist. Dieser Aspekt wird von Düsing besonders betont. Vgl. Düsing 1980b, S. 118, auch Düsing 1983, S. 82 f. 16Koch sieht in diesem Bedeutungsunterschied des Seinsbegriffs die Spaltung zwischen dem Wesen und dem reinen An-sich-sein und zeigt richtig, dass der Begriff des formalen Seins („Dass-Sein“) und sein Unterschied zu dem Begriffsaspekt des Wesens bei Aristoteles unbemerkt wird und erst in der monotheistischen Schöpfungstheologie bei Avicenna und Thomas von Aquin ihre theoretische Rolle erhält. Vgl. Koch 2019, Manuskript S. 7 f.
94
5 Die Auffassung des Seins in der Antike und in der Neuzeit
begriff in Sophistes deuten. Diese Untersuchungen haben Unterschiede in Einzelheiten und Konklusionen: teils erklären das Dass-Sein als Existenz, das Was-Sein als kopulatives Sein;17 teils versuchen zu zeigen, dass Platon dabei die Bedeutung der Existenz nicht thematisiert hat;18 teils behalten den Bedeutungsaspekt der Existenz zwar bei, wollen aber die scharfe Unterscheidung zwischen dem kopulativen und dem existentiellen Sein aufheben und das letztere auf das erstere gründen.19 Trotz der genannten Unterschiede haben diese Untersuchungen aber Gemeinsame: (a) sie nehmen den sprachlichen Gebrauch des griechischen Verbs εἶναι als Ausgangspunkt der Erläuterung; (b) sie halten mehr oder weniger den kopulativen Gebrauch des „Seins“ für grundlegender gegenüber den anderen Gebräuchen. Im Folgenden werde ich diese beiden gemeinsamen Thesen kritisch betrachten. Scheinbar kann die platonische Unterscheidung zwischen Dass-Sein und Was-Sein ohne weiteres als die zwischen dem existentiellen und dem kopulativen Gebrauch erklärt werden. Denn der Satz „S existiert“ heißt das Dasein des „S“ und drückt den Fall dieses Daseins aus, den man mit einem Dass-Nebensatz zur
17Dies
ist eigentlich die Ansicht von J.L. Ackrill (vgl. Ackrill 1957), der viele ihm folgenden Untersuchungen motiviert. Er argumentiert, dass die Kopula sich bei Platon vor allem durch das Wort „Teilhaben“ (μετέχειν) statt direkt durch das „Sein“ ausdrückt. Obwohl er außerdem eine dritte Bedeutung, nämlich das Sein als Identität, nennt, spricht er sie aber ebenso nicht dem Ausdruck „Sein“ (εἶναι oder εστί), sondern dem Ausdruck „an dem Selben teilhaben“ (μετέχει ταὐτοῦ) oder „ist identisch mit“, und zwar der Kombination des kopulativen Seins mit der Identitätsgattung (vgl. p. 2). Daher kann man seine Ansicht so verstehen, dass die Bedeutung des identitativen Seins auf die des kopulativen zurückgeführt werden kann. 18Vgl. Owen 1971. 19Vgl. Brown 1999. Die Autorin argumentiert, dass der „unvollständige Gebrauch“ (incompete use) des Seins, nämlich der existentielle Gebrauch, nur eine Abkürzung des vollständigen bzw. des kopulativen Gebrauchs und dass zwischen beiden keine Bedeutungsänderung besteht. Sie nimmt als Beispiel das englisch Wort „teach“: man kann es in unvollständiger Weise gebrauchen, „Jane is teaching French“, und auch in vollständiger Weise gebrauchen, „Jane is teaching“. Die vollständige Verwendung von „teach“ ist eine Abkürzung der unvollständigen, ohne die Bedeutung von diesem Wort zu ändern. Dasselbe gelte auch für die Kopula „Sein“, so glaubt Brown (vgl. p. 460). Charles Kahn entwickelt Browns Ansicht weiter, indem er die verschiedenen Verwendungen des Worts „einai“ sowohl in alltäglichem Altgriechisch als auch bei Platon syntaktisch und semantisch tiefgehend untersucht. Er kommt zu der Konklusion, dass der kopulative Gebrauch erstrangig ist gegenüber den anderen Gebräuchen. Vgl. Kahn 2013, p. 96, auch Kahn 2009, p. 112.
5.1 Die Einheit der Aspekte des Seinsbegriffs im antiken Platonismus
95
Sprache bringen kann, während das „Ist“ in dem Satz „S ist p“ die Verbindung des „S“ mit „p“ bzw. mit einem „Was“ bedeutet. Aber, egal ob man diese Gleichsetzung der platonischen Unterscheidung mit der modernen akzeptiert oder zurückweist, ist es zunächst zu bemerken, dass Platon hier eigentlich das Verhältnis der Ideen in der Ideenwelt berücksichtigt, nicht aber die Prädikation eines Satzsubjekts in den Aussagen. In diesem Sinne kommt es im Platons Seinsbegriff nicht auf den sprachlichen Gebrauch des „Seins“ an, sondern auf die ontologische Beziehung der Ideen mit der Gattung des Seienden in der Ideenwelt.20 Dies zeigt schon einen Aspekt des wesentlichen Unterschieds zwischen der platonischen Seinslehre in Sophistes und dem Sprachgebrauch des „Seins“, obwohl es zwischen beiden viele Ähnlichkeiten gibt. Und darin lässt sich schon die grundsätzliche Differenz zwischen der platonischen Ideendialektik und der aristotelischen Logik vom Subjekt-Prädikat sehen.21 Dieser Punkt soll in Kopf behalten werden, wenn man in dem heutigen Kontext der Philosophie die platonische Lehre vom Sein untersucht.
20Gordon
C. Neal zeigt in seiner Kritik an Owen richtig, dass das, was Platon hier zu Thema macht, das Sein als solches ist, nicht aber der Gebrauch des Seins: “Plato is discussing Being, not uses of ‘…is...’” Daher steht Platon vor allem auf der metaphysischen statt der logischen Ebene. Aber er geht auch zu weit, wenn er sagt, dass für Platon das Sein nicht die bloße Möglichkeit der Prädikation, sondern ein reales Attribut der Dinge (“... for Plato Being is not simply the possibility of predication, it is an actual attribute of things”). Denn das Sein, wie andere höchste Gattungen, ist wie gezeigt als keine Eigenschaft der Dinge zu betrachten, sondern es ist die Strukturprinzip der Ideenwelt. Vgl. Neal 1975, pp. 18 f. 21Ich bin mit Düsings Beurteilung einverstanden: „ …Daher geht die Frage, ob die Umkehrung etwa der Aussage: ,Bewegung ist‘ im Sinne von: ‚Bewegung hat teil am Sein‘ zu der Aussage: ‚Sein hat teil an der Bewegung‘ oder: ‚Sein ist bewegt‘ erlaubt und sinnvoll ist oder nicht, eigentlich an Platos Ansatz vorbei. Sie unterstellt offensichtlich ein aristotelisch geprägtes, ontologisches Aussagemodell, in dem das Hypokeimenon zuletzt als das eigentliche, substantielle Seiende angenommen wird. Dies ist hier jedoch weder Platos Problem noch seine Lösung; er untersucht vielmehr die reinen Begriffe oder Ideen, die im Ansprechen von etwas Konkreterem als seiend bereits vorausgesetzt sind, in ihren Relationen.“ (Düsing 1980b, S. 121) Auch Cornford behält den Unterschied zwischen Platons Ideenteilhabe und Aristoteles‘ Prädikation im Sinn, indem er die erste als symmetrische, die zweite als asymmetrische Beziehung betrachtet (vgl. Cornford 1951, p. 256, 296 f.). Aber die Begründung von Cornford ist m. E. schwach, weil die Teilhabe der Gattungen aneinander in der Tat nicht einfach symmetrisch. Sein und Bewegung z. B. haben aneinander zwar wechselseitig teil, aber die Teilhabe des Seienden an der Bewegung macht nicht zugleich die Teilhabe der Bewegung an dem Seienden möglich noch umgekehrt.
96
5 Die Auffassung des Seins in der Antike und in der Neuzeit
Aber dies wird uns nicht daran hindern, zu meinen, dass die Unterscheidung zwischen Dass-Sein und Was-Sein in der Lehre der höchsten Gattung bei Platon es ermöglicht, zwischen verschiedenen Sprachgebräuchen des Ausdrucks „Seins“ zu unterscheiden. Freilich nicht einfach in der erwähnten oberflächlichen Weise. Denn das Wort „Sein“ hat auch in dem modernen Sprachgebrauch viele Bedeutungen und diese können den jeweiligen Bedeutungsaspekten jenes Worts bei Platon nicht einfach entsprechen. Im gegenwärtigen philosophischen Kontext kann der Ausdruck „Sein“ semantisch nicht nur als existentielles („existieren“) und kopulatives Sein („ist“ im Satz „Sokrates ist Mensch, ist weiß“) gedacht werden, sondern auch als veritatives Sein („Es ist der Fall, dass …“) und als Identität („ist identisch mit“, und zwar im Satz „Der Morgenstern ist die Venus“).22 Grob gesagt kann man das Verhältnis zwischen der platonischen Lehre des Seins und den modernen Wortgebräuchen von „Sein“ so verstehen: auf das Dass-Sein bzw. die Teilhabe einer Idee am Seienden gründen sich nicht nur das existentielle Sein, wie schon verbreitet gemerkt, sondern auch das veritative Sein bzw. das Bestehen eines Sachverhalts, der in einer propositionalen Aussage ausdrückbar ist.23 Und mit dem Was-Sein verbindet sich das kopulatives Sein, weil es dabei von der Verbindung zweier Termini die Rede ist und daher von dem „Was“ des Satzsubjekts. Aber das Sein als Identität kann nicht auf dieses WasSein (und offenbar weniger auf das Dass-Sein) zurückgeführt werden, denn ein identisches Verhältnis mit dem anderen wird, wie gezeigt, offensichtlich nicht in der Bedeutung des Was-Seins einer Idee eingeschlossen. Auch wenn man aus der Gattung der Selbigkeit die Verbindung der modernen Bedeutung des Seins als Identität mit dem Was-Sein einer Idee verteidigen will, ist dies offensichtlich eine Missinterpretation, denn die Gattung der Selbigkeit bedeutet bei Platon eigentlich nur die Gleichheit einer Idee mit sich selbst, nicht aber mit einer anderen Idee. Auf Ausführlicheres würde ich hier nicht eingehen; ich möchte dadurch nur zeigen, dass der Versuch, die platonische Seinslehre aus dem Aspekt des Sprachgebrauchs zu erklären oder diesen mit jener zu vergleichen, zwar noch machbar bleibt, aber man muss dabei immer vorsichtig sein. Andererseits kann das Wesentliche in Platons Seinslehre verloren werden, wenn man den existentiellen Bedeutungsaspekt des Seinsbegriffs bei Platon
22Vgl.
Tugendhat 1983, S. 201 ff. Koch sieht darin sehr richtig, dass die Gattung des Dass-Seins (auch das „formale Sein“ mit seinem eigenen Wortgebrauch) ist noch „neutral gedacht zwischen D er-Fall-Sein und Existenz“, und zwar zwischen dem veritativen und dem existentiellen Gebrauch des „Seins“. Vgl. Koch 2019, Manuskript S. 7, auch S. 3.
23Anton
5.1 Die Einheit der Aspekte des Seinsbegriffs im antiken Platonismus
97
schwächt. Es lässt sich nämlich aus dem oben Gesagten erkennen, dass das Dass-Sein nicht weniger grundlegend als das Was-Sein ist. Denn das Dass-Sein und das Was-Sein drücken nur Differenz der Betrachtungshinsichten aus und können sich nicht aufeinander reduzieren. Außerdem, nur wenn eine Idee schon am Seienden teilgehabt worden ist, ist es ihr möglich, mit anderen Ideen zu verbinden, die ihrerseits auch schon am Seienden teilgehabt worden sind, so dass man sagen kann: „X ist...“ Da nun das Dass-Sein, wie oben gezeigt, der Ursprung des existentiellen sowie des veritativen Gebrauch des Seins ist, werden diese beiden Gebräuche nicht sekundär gegenüber dem kopulativen Gebrauch sein, der mit dem Was-Sein verbunden ist. Die Ansicht, der kopulative Gebrauch sei erstrangig, geht eher von der syntaktischen und semantischen Analyse des Wortgebrauchs in Sprachpraxis (obwohl in Altgriechisch) aus als von Platons eigener Lehre des Seinsbegriffs in Sophistes. Mit diesen Bemerkungen ist klar, was Platon unter „Sein“ eigentlich versteht. Obwohl wir die beiden Bedeutungen in der Betrachtung voneinander unterscheiden können, muss man sagen, dass diese Ambivalenz des Seinsbegriffs eben der Kern ist, um die Ontologie Platons zu verstehen. Der ganze Bereich der Ideenwelt ist bei Platon in der Tat das Sein, das nicht nur Inhalte und Wesen in sich hat, sondern auch das Dass-Sein, wenn überhaupt das Was-Sein jeder Idee im gewissen Sinne zuerst „existieren“ muss. Alle Ideen und daher auch die ganze Ideenwelt müssen an dem Seienden teilhaben; nur unter gewissem Aspekt kommt diese Teilhabe am Seienden nicht in den Vordergrund. Diese doppelten Bedeutungen hat der Begriff des Seienden also zugleich in sich. Der wesentliche Charakter der Gemeinschaft der höchsten Gattungen liegt gerade darin, dass die Gattungen nicht getrennt sein sollen, sondern im ursprünglichsten Sinne aneinander teilhaben. Dies gilt für jede Idee, nämlich für jedes Seiende, und deshalb für das Sein überhaupt. Diese zwei Bedeutungsaspekte des Seins beziehen sich nicht nur aufeinander, sondern notwendigerweise aufeinander. Man sieht darin eine sozusagen Gleichursprünglichkeit der Gattungen überhaupt, wobei die Gattung des Seienden natürlich noch im Zentrum steht. In diesem Sinne zeigt die Theorie der Gemeinschaft der höchsten Gattungen deutlich, wie die Aspektveränderung schließlich zur der Bereicherung der konkreten Inhalte des Seienden führt.24
24Dies
gilt für das Seiende insgesamt; aber für jede Idee wird natürlich ihr An-sich-Sein nicht berührt, sondern ihre „nach außen, in den Ideenkosmos hinein gekehrte Beschaffenheit“ wird dadurch begründet. Vgl. Koch 2019, Manuskript S. 7.
98
5 Die Auffassung des Seins in der Antike und in der Neuzeit
5.2 Die Wandlung in der Neuzeit: die Trennung des Was-Seins von dem Dass-Sein Obwohl der Seinsbegriff in der Gattungslehre Platons eine Zweideutigkeit hat, ist er ein einheitlicher Begriff, denn das Dass-Sein einer Idee ist in dem Ganzen des Was-Seins derselben eingeschlossen; der Begriff des Seins ist mit seinen beiden Bedeutungsaspekten in jeder Idee der Ideenwelt enthalten. Indem ein sinnliches Ding an einer Idee teilhat, hat es zugleich auch an den beiden Aspekten des Seins teil. Wenn daher ein sinnliches Ding durch Teilhabe seine wesentlichen Bestimmungen bekommt, erhält es sein Was-Sein und sein Dass-Sein zugleich. In der altgriechischen Philosophie werden das Was-Sein und das DassSein der sinnlichen Dinge ontologisch nicht getrennt thematisiert.25 Erst in der scholastischen Schöpfungstheologie im Mittelalter, wie bei Avicenna und dann bei Thomas von Aquin, hat der Unterschied zwischen dem Was-Sein und dem DassSein eines sinnlichen Dings – nun unter dem Namen des ens creatum – seine ontologische Bedeutung, und zwar als die Unterscheidung zwischen essentia und existentia. Dem Thomismus zufolge ist das endliche Seiende insofern Geschaffenes, als seine Existenz nicht von seinem Wesen verursacht wird; vielmehr muss die Existenz dem Wesen hinzugefügt werden, damit das endliche Seiende wirklich existiert. Wir möchten hier nicht weiter auf diesen scholastischen Unterschied zwischen essentia und existentia eingehen, denn weder diese beiden noch ihr Unterschied geht auf die Leistungen des Denkens in dessen Erfassen des Seins der Dinge zurück; sie betreffen daher dasjenige Problem nicht, das der Leitfaden meiner Arbeit ist, nämlich das Problem der apriorischen Beziehung des Denkens bzw. des Subjekts auf das Sein der Dinge. Seit der Neuzeit tritt dieses Problem aber noch einmal zum Vordergrund, und die Differenz zwischen Was-Sein und Dass-Sein an dem sinnlichen Ding gewinnt ihre neue ontologische Bedeutung. Denn der scharfe Unterschied der endlichen Substanzen in res cogitans und res extensa bei Descartes, in dem eine direkte Verbindung zwischen beiden nicht möglich ist, kann dazu führen, dass ein spezifisches Moment entsteht, das ganz von dem Denken unabhängig und daher nicht durch dieses unmittelbar begriffen wird. Dieses Moment bezieht sich eben auf das Dass-Sein der sinnlichen Dinge. Wenn nun eine philosophische Theorie noch den
25Auch
Aristoteles thematisiert diesen Unterschied an dem sinnlichen Ding ontologisch nicht. Denn obwohl er in den Zweiten Analytiken zwischen dem Dass-Sein und dem WasSein unterscheidet (vgl. 89b 23–90a 33), aber dies geschieht nicht auf ontologischer Ebene, sondern nur hinsichtlich des methodologischen Problems des wissenschaftlichen Beweises.
5.2 Die Wandlung in der Neuzeit: die Trennung des Was-Seins …
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Versuch unternehmen will, von dem Aspekt des Subjekts bzw. des Denkens her das Sein des Gegenstandes, der von dem Subjekt unterschiedlich ist, zu bestimmen, dann muss sie sich eines neuen Prinzips bedienen, um dieses von dem Denken unabhängigen Moment zu erklären. Damit ist auch eine neue Erörterung darüber nötig, in welchem Verhältnis das Denken zu dem Was-Sein des Dings steht. Mit anderen Worten muss eine solche Theorie darüber erneut nachdenken, wie das Denken sich a priori auf die verschiedenen Aspekte des Seins der Dinge bezieht. Die Erläuterung zu dieser Problematik ist die Aufgabe des nächsten Teils meiner Arbeit.
Teil II Zeit und die Bestimmung des Seins der sinnlichen Dinge bei Kant
Wir haben bei dem antiken Platonismus gesehen, dass die Zeit eine strukturelle Affinität zu dem diskursiven Denken hat und dadurch das Prinzip für die Bestimmung des Seins der sinnlichen Dinge ausmacht. Kant bemerkt seinerseits auch die besondere Bedeutung der Zeit, indem er die Zeit, im Sinne der transzendentalen Zeitbestimmung (der Zeitschemata), zum Medium der Anwendung der Kategorien auf die sinnlichen Erscheinungen dienlich macht und dabei eine gewisse Affinität zwischen der Zeit und den Kategorien darlegt. Aber Kant hat diese Affinität nicht als solche thematisiert, und diese soll nicht sofort mit der platonischen strukturellen Affinität gleichgesetzt werden. Außerdem scheint der ontologische Gedanke über die Zeit als Prinzip des Seins der sinnlichen Dinge kein Leitfaden für die transzendentalphilosophischen Untersuchungen von den Möglichkeitsbedingungen der Erfahrungsgegenstände zu sein. So ist die Rolle der ontologischen Zeit, die intelligible Struktur in dem reinen begrifflichen Denken auf die sinnlichen Dinge zu übertragen, bei Kant nicht explizit zu sehen. Dieser Fall wird eigentlich dadurch verursacht, dass bei Kant die Zeit (sowie der Raum) und das diskursive Denken bzw. der Verstand in einem äußerlichen Verhältnis zueinander stehen, das in der These der Unterscheidung zwischen zwei selbständigen Erkenntnisstämmen, der Sinnlichkeit und dem Verstand, zum Ausdruck kommt. Aus der Trennung zwischen diesen zwei Erkenntnisvermögen unter sucht Kants transzendentale Philosophie, was in dem Subjekt die apriorischen Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrungsgegenstände ausmacht. Diese apriorischen Bedingungen, die in den Erkenntnisvermögen enthalten sind, müssen zusammen wirken, bzw. die Sinnlichkeit und der Verstand müssen sich aufeinander beziehen, um objektive Erkenntnis von den Erfahrungsgegenständen, als Erscheinung, zu bilden. So stellt Kant durch den Schematismus den Gedanken auf, dass die transzendentale Zeitbestimmung das Medium für die
102
Teil II
Verbindung beider Vermögen ist. Aber der Versuch, nach dem Rahmen des Verhältnisses der Erkenntnisvermögen die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrungsgegenstände zu betrachten, wird unvermeidlich zu dem Problem der Äußerlichkeit und mithin der Zufälligkeit der menschlichen Anschauungsformen führen: die Zeit und der Raum als apriorische Formen, die nicht dem Verstand, sondern einem anderen Erkenntnisstamm entspringen, werden so verstanden, dass sie nur aufgrund der Eigentümlichkeit der menschlichen Anschauung zufällig zu dem Verstand hinzugefügt würden, der seinerseits die Gegenstände überhaupt denkt. Davon ausgehend wird weiter gedacht, dass die unter diesen sinnlichen Bedingungen erkannten Gegenstände nicht die Dinge selbst, sondern nur die durch die menschlichen Anschauungsformen „verzerrten“ Erscheinungen der Dinge wären. Mit Kants Unterscheidung zwischen Erscheinungen und Dingen an sich scheint also die Zufälligkeit der Zeit bzw. des Raums noch problematischer, indem das Sein der erscheinenden Gegenstände der raumzeitlichen Erfahrung im Vergleich zu dem Sein der Dinge an sich auch als nur zufällig angesehen wird. Wenn die scharfe Trennung zwischen der Sinnlichkeit und dem Verstand unvermeidlich das Problem der Äußerlichkeit und Zufälligkeit der Anschauungsformen verursacht, ist es nun zu denken, ob man diese Trennung als Ausgangspunkt der gesamten Theorienbildung der transzendentalen Philosophie fungieren muss. Ist es möglich, dass man einen anderen Denkansatz nimmt, die Aufgabe der Transzendentalphilosophie Kants und die Grundtheorien, mit denen er diese Aufgabe behandelt, neu zu verstehen und zu interpretieren, damit man das Problem der Zufälligkeit nur mithilfe von Kants eigenen Theorien überwindet? Meine folgende Kant-Interpretation beschränkt sich also nicht auf den Rahmen der Trennung und Verbindung zwischen der Sinnlichkeit und dem Verstand aus, sondern nimmt hinsichtlich der konstitutiven Leistung der Subjektivität für die Gegenständlichkeit die Frage nach der apriorischen Beziehung des Subjekts auf das Sein der Gegenstände und weiter nach der inneren Verfassung dieser Beziehung als den Leitfaden. Eine solche Interpretation versucht, durch die Überwindung des Zufälligkeitsproblems auf eine neue Weise verständlich zu machen, wie das Denken die Erfahrungsgegenstände durch die Bestimmungen der Kategorien erfasst. Darin können wir wiederum einsehen, dass die ontologische Zeit eine strukturelle Affinität zu dem kategorialen Denken hat und folglich im Erfassen der Erfahrungsgegenstände als das Vermittelnde der kategorialen Struktur fungiert, ähnlich wie wir es bei dem antiken Platonismus erfahren haben. Wenn wir bei Platon und dem Neuplatonismus sagen, die Zeit sei das Prinzip des Seins des Sinnlichen, wird der Seinsbegriff dort einheitlich aufgefasst, und zwar, sowohl das Was-Sein als auch das Dass-Sein sind darin mitenthalten, wie in dem abschließenden Kapitel des letzten Teils (Abschnitt 5.1) gezeigt. Bei Kant
Teil II
103
ist der Fall aber ganz anders: wenn wir die apriorische Beziehung des Subjekts auf das Sein der Gegenstände und die innere Verfassung dieser Beziehung untersuchen, müssen wir dieses Sein einerseits vom Was-Sein und andererseits vom Dass-Sein her getrennt denken, und zwar nicht von einem einzigen Prinzip begreifen. Das Was-Sein der sinnlichen Dinge bedeutet hier den intellektuellen Grundrahmen, der bei den sinnlichen Dingen durch Denken und Begriffe erfasst wird, nämlich die fundamentalen Bestimmungen der Dinge überhaupt. Das so verstandene Was-Sein unterscheidet sich einerseits von dem Wesen (essentia), sofern dieses die grundliegenden Beschaffenheiten ist, mittels deren ein Ding von einem anderen Ding differenziert werden kann, ganz abgesehen vom Verhältnis des Dings zum Subjekt, das dieses Ding als Gegenstand denkt; dieses WasSein unterscheidet sich andererseits auch von dem Inbegriff aller konkreten empirischen Eigenschaften und Bestimmtheiten eines Dings, der für Kant zum Thema der Forschung der empirischen Wissenschaften und also nicht der Transzendentalphilosophie gehört. Das Dass-Sein der sinnlichen Dinge verweist dagegen auf die Existenz derselben außerhalb des Denkens und des Subjekts. Dennoch hat meine Kant-Interpretation keine Absicht, Kants Philosophie als einen subjektivistischen Produktionsidealismus zu deuten, als ob die Gegenstände völlig aus dem erkennenden Subjekt konstruiert würden. Vielmehr möchte ich mich auf die Betrachtung darüber konzentrieren, mit welchen Leistungen des Subjekts die Gegenständlichkeit und das Sein der Gegenstände apriorisch bestimmt werden können,1 ohne den realistischen Aspekt der kantischen Theorie zu leugnen, nach dem die Gegebenheit der Dinge für das Zustandebringen der Erkenntnis der Gegenstände durch das Subjekt noch eine wichtige Rolle spielt. Wenn wir also in dieser Hinsicht sagen, dass bei Kant die Zeit in der Erfassung der Erfahrungsdinge die intelligible kategoriale Struktur des Ver standes auf die sinnlichen Dinge überträgt und folglich als das Prinzip des Seins derselben fungiert, bedeutet das Sein hier nur das Was-Sein, nämlich die grundlegende Rahmenbestimmung für die vielfältigen konkreten Bestimmtheiten eines Dings. Um das Sein der sinnlichen Dinge vollständig zu begreifen, muss ein zweites Prinzip eingeführt werden, um das Dass-Sein zu bestimmen. Dies ist eben die
1Diese
Interpretationsweise stimmt mit dem Ausdruck der „Hauptfrage“ der Kritik in ihrer 1781-Vorrede überein: „[D]ie Hauptfrage [bleibt] immer, was und wie viel kann Verstand und Vernunft, frei von aller Erfahrung, erkennen.“ (KrV, A XVII.)
104
Teil II
ontologische Bedeutung des Raums bei Kant.2 – Dass ich dadurch keine These vertrete, es sei etwas, das nur in der Zeit und nicht in dem Raum existiere, wird später erklärt.3 Nach dem oben Gesagten werde ich in dem vorliegenden Teil von der Erklärung des Grundansatzes der kantischen Philosophie, nämlich der Bestimmung des menschlichen Denkens als diskursive Synthesis, ausgehen, um den grundlegenden Rahmen Kants über das Verhältnis der beiden Grundvermögen der Erkenntnis zu betrachten, in dem der kantische Gedanke der transzendentalen Zeitbestimmung seinen theoretischen Ursprung hat. (Kapitel 6–7.) Anschließend werde ich zeigen, wie diesem Rahmen das Problem der Zufälligkeit der menschlichen Anschauungsformen entspringt. (Kapitel 8.) Danach versuche ich, mithilfe der Deutung der Texte Kants und meiner eigenen
2In
seiner „realistischen Interpretation“ von Kant deutet Anton Koch die Zeit als Form des ass-Seins und den Raum als Form des Was-Seins. (Vgl. Koch 2019, S. 120.) Diese Deutung D scheint meiner Interpretation gegenüber zu stehen. Aber dies ist nicht der Fall; beide Interpretationen widersprechen einander in der Tat nicht. Denn die Bedeutungen von „Was-Sein“ und „Dass-Sein“ in Kochs Interpretation sind unterschiedlich von denjenigen in meiner Kant-Deutung. In der realistisch orientierten Interpretation Kochs, welche die Bezugnahme auf die körperlichen Einzeldinge in Raum und Zeit als Ausgangspunkt nimmt, wird das WasSein des Einzeldings als der Inbegriff der konkreten, empirischen, erst von der Erfahrung abgewonnenen Bestimmungen eines Dings verstanden. Unter dieser Perspektive ist selbstverständlich zu sehen, dass der Raum als Form des äußeren Sinnes die formale Bedingung der empirischen Bestimmungen der äußeren Einzeldinge (sc. Kochs „Was-Sein“) ausmacht, weil die äußeren Vorstellungen „den eigentlichen Stoff“ des inneren Sinnes ausmachen (KrV B 67) und die inhaltlichen Bestimmungen der Dinge in dem Raum dargestellt werden müssen. Das Dass-Sein dieser Einzeldinge hat hingegen mit jenen inhaltlichen Bestimmungen nichts zu tun. Vielmehr betrifft es die Gegebenheit der Dinge in der Zeit, indem das Dasein der Dinge in dem Zeitschema der Wirklichkeit-Kategorie bestimmt wird. Daher ist die Zeit die Form der Existenz bzw. des Dass-Seins der Einzeldinge. Was meine eigene Interpretation betrifft, versucht sie eigentlich zu zeigen, welche ontologische Leistungen die Zeit und der Raum spielt, wenn unser Verstand das Sein der Erfahrungsgegenstände apriorisch erfasst und bestimmt. In diesem Deutungsansatz ist die Zeit, sofern sie mit den Kategorien zusammen den Grundrahmen möglicher Inhaltbestimmungen der Erfahrungsgegenstände bildet, als das Prinzip des Was-Seins derselben zu denken. Dadurch bleibt unbestimmt, ob diese Gegenstände wirklich außer mir existieren oder nicht. Nur wenn aber dieselben Erfahrungsgegenstände zugleich auch in dem äußeren Sinne präsentiert werden, werden sie in ihrem Dass-Sein bestimmt. In diesem Sinne ist der Raum als Form des äußeren Sinnes als das Prinzip des Dass-Seins der Gegenstände zu verstehen. Kochs und meine Interpretation können also m. E. einander ergänzen und zusammen zu einem inhaltsreicheren Bild von Kants Philosophie des Raums und der Zeit führen. 3Vgl. Abschnitt 12.3 der vorliegenden Arbeit.
Teil II
105
Argumente die Zufälligkeit der Anschauungsform zu überwinden und auf diesem Grund die strukturelle Affinität zwischen Zeit und Kategorien aufzuweisen. (Kapitel 9.) Dann wird die Grundthese über die Zeit (mit den Kategorien zusammen) als das Prinzip des Was-Seins der Dinge durch die Analyse der Konstitution der objektiven Zeit begründet. (Kapitel 10.) Anschließend an diese Erörterung werde ich die eigentliche Absicht des kantischen Gebrauchs des Begriffs „Ding an sich“ erklären (Kapitel 11), um das von der Zufälligkeit der Anschauungsformen verursachte Problem der Zufälligkeit der Erscheinung weiter aufzulösen und zum Gedanken über den Raum als das Prinzip des Dass-Seins der Dinge zu führen (Kapitel 12). So wird als das zusammenfassende Resultat der beiden Grundthesen dargestellt, dass in der Philosophie Kants und innerhalb des Grundansatzes derselben ein Gedanke der spannenden Einheit der Subjektivität enthalten ist, wobei die Zeit und der Raum nicht äußerlich und zufällig dem Verstand hinzugefügt werden. Abschließend werde ich zum Ausblick das Problem der Zufälligkeit der endlichen Subjektivität als solcher, das innerhalb des Grundansatzes der kantischen Philosophie nicht zu lösen ist, kurz zu Thema machen, um einen grundlegenden Gedankengang der Wandlung von Kant zu dem nachkantischen Idealismus zu zeigen. (Kapitel 13.)
6
Leitfrage und Grundansatz der Transzendentalphilosophie
Wie überall bekannt entwickelt Kant in der Kritik eine Lehre der Zweistämmigkeit der Erkenntnis als die fundamentale Voraussetzung seiner gesamten Theoriebildung der transzendentalen Philosophie: Durch die Sinnlichkeit werden uns Gegenstände gegeben, durch den Verstand werden sie gedacht. Diese beiden einander prinzipiell ungleichartigen Stämme werden als zwei Vermögen des Subjekts bezeichnet, mit ihren jeweiligen Vorstellungsarten: Anschauung und Begriff. Jeder Erkenntnisstamm hat vor aller Erfahrung seine eigene Formen a priori, mit denen er seine eigentümliche Funktion leisten kann. Die Sinnlichkeit wird als die Fähigkeit definiert, „die Vorstellungen durch die Art, wie wir von den Gegenständen affiziert werden, zu bekommen“.1 Sie bedeutet also nichts anders als die Rezeptivität, in der eine unmittelbare Beziehung zwischen unserer Erkenntnis und Gegenständen stattfindet. Die sinnlichen Vorstellungen sind also unmittelbare Anschauungen der Gegenstände, deren apriorischen Prinzipien Raum und Zeit sind: Der Raum ist die Form des äußeren, die Zeit die Form des inneren Sinnes und gültig für alle anschaulichen Gegebenen.2 Die Beziehung dieser Formen auf die Gegenstände ist auch unmittelbar, weil die Empfindungen nur in ihnen geordnet werden können;3 das 1KrV, A
19/B 33. Longuenesse kommt diese kantische Verbindung des Raums mit dem äußeren bzw. der Zeit mit dem inneren Sinnen aus Lockes statt aus der deutschen Schulphilosophen her, obwohl bei den letzteren die Begriffe des äußeren und des inneren Sinnes ganz verbreitet sind. Vgl. Longuenesse 1998, p. 234. 3Freilich ist das Ordnen der Empfindungen in Raum und Zeit die Leistung der Verstandeshandlung; durch die Sinnlichkeit allein kann das Ordnen nicht durchgeführt werden. Dies wird später durch die Erläuterung der Konstitution der ontischen Zeit noch deutlicher gezeigt, vgl. Kapitel 10 der vorliegenden Arbeit. 2Nach
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Liu, Zeit und Sein des Sinnlichen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61924-7_6
107
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6 Leitfrage und Grundansatz der Transzendentalphilosophie
heißt: Weil die Gegenstände sich hier auf die empirische Anschauung durch Empfindungen unmittelbar beziehen, bezieht sich die Form der Anschauung überhaupt zugleich direkt auf diese Gegenstände. Der Verstand ist hingegen das Vermögen der Spontaneität des Subjekts. Er hat seinen eigenartigen Gebrauch, entweder logischen oder realen. Bei seinem realen, ihm wesentlichen Gebrauch kommt es darauf an, dass er die Ursprünge der Begriffe in sich enthält, und vor allem der apriorischen Begriffe.4 So ist zuerst festzustellen, dass die Vorstellungen des Verstandes bzw. des intellektuellen Vermögens überhaupt, mit denen wir Gegenstände denken, Begriffe sind, und wir können den Verstand überhaupt als Vermögen der Begriffe bezeichnen. Anders als Anschauung ist der Begriff immer allgemein und diskursiv, weil er nicht wie die Anschauung einzelne Vorstellung ist, die „durch einen einzigen Gegenstand gegeben werden kann“5. Der Begriff ist vielmehr „eine Vorstellung, die in einer unendlichen Menge von verschiedenen möglichen Vorstellungen (als ihr gemeinschaftliches Merkmal) enthalten ist, mithin diese unter sich enthält.“6 In diesem Kontext zeichnet sich der Begriff dadurch aus, dass er ein gemeinschaftliches Merkmal bei sich trägt und verschiedene Vorstellungen unter sich hat.7 Aber die Gemeinsamkeit eines Begriffs bedeutet nicht, dass er alles Einzelne in sich einschließt – mit Kants eigenem Wort: ein Begriff kann nicht so gedacht werden, „als ob er eine unendliche Menge von Vorstellungen
4Die
Erzeugung der apriorischen Vorstellung in den Erkenntnisvermögen, sowohl bei der Sinnlichkeit als auch bei dem Verstand, wird von Kant als „ursprüngliche Erwerbung“ (acquisitio originaria) verstehen, in der zwar auch Affektion immer erforderlich ist, aber die Ursprünge der apriorischen Vorstellungen in den Erkenntnisvermögen allein liegen. Dieser Gedanke wird ausdrücklich in der späten Schrift „Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll“ (vgl. KGS, VIII, S. 222 f.) erläutert. Ich möchte hier nicht weiter darauf eingehen. Ausführlich zu diesem Thema vgl. Oberhausen 1997. 5KrV, A 32/B 47. 6KrV, B 40. 7Dieser kantische Gedanke vom gemeinschaftlichen Merkmal kann auch als eine theoretische Umdeutung dessen betrachtet werden, was in der Baumgartens Bestimmung der sinnlichen Vorstellung liegt, die undeutlich ist und als eine Verwirrung erscheint. Bei Baumgarten wird der Terminus „Verworrenheit“ (confusio) durch seine Verbform confundere („zusammengießen“) gedeutet, und damit wird gemeint, dass in der sinnlichen Vorstellung viele Merkmalen in einem Ganzen zusammengegossen werden. Kant hat dies aber so umgedacht, dass jedes dieser Merkmale dann durch einen Begriff ausgedrückt werden kann, das aber seinerseits vielen sinnlichen Vorstellungen gemeinsam ist. Zu diesem Gedanken Baumgartens vgl. Cassirer 1998. S. 463.
6.1 Die Leitfrage der Transzendentalphilosophie …
109
in sich enthielte“8; dieses letztere ist vielmehr die Beschaffenheit des Raums und der Zeit, freilich als reiner Formen der Anschauung statt als Begriffe (Raumbegriffs und Zeitbegriffs).9 So ist ein Begriff als eine allgemeine Vorstellung nicht etwas Konkretes und kann nicht ein solches sein, und deshalb können sich die Begriffe nicht unmittelbar auf die äußeren Gegenstände beziehen. Dies ist die Diskursivität der Begriffe: Nur vermittels der Anschauung ist es ihnen möglich, die Gegenstände zu bestimmen. Unter verschiedenen Arten der Begriffe10 stehen die reinen Verstandesbegriffe im Zentrum der Transzendentalphilosophie, welche die apriorischen Formen und Prinzipien des Verstandesgebrauchs ausdrücken und die Grundstruktur aller intellektuellen Tätigkeiten des erkennenden Subjekts ausmachen. Das vorliegende Kapitel wird erläutern, was die Leitfrage ist, die Kant auf der Grundlage der oben geklärten Zweistämmigkeitstheorie zur Entfaltung der gesamten Theoriebildung der Transzendentalphilosophie führt. Damit werde ich weiter erörtern, wie die Überlegungen über die Grundzüge des menschlichen Denkens, zu denen jene Leitfrage führt, den Grundansatz und -rahmen der theoretischen Philosophie Kants bilden.
6.1 Die Leitfrage der Transzendentalphilosophie: das Problem der Gegenstandsbeziehung der apriorischen Begriffe Da Kant nun die subjektiven Vermögen und ihre Vorstellungen als Ausgangspunkt für die Betrachtung der Möglichkeit nimmt, einen Gegenstand zu erkennen, ist es fragwürdig, ob und wie diese Vorstellungen sich auf den zu erkennenden Gegenstand beziehen. Dies ist zugleich die Frage nach dem Grund der Wahrheit, d. h. der Entsprechung des intellectus mit der res. Sie betrifft die Gewissheit bzw. die objektive Notwendigkeit der Erkenntnis des Seienden, sofern in der neuzeitlichen Philosophie die Vorstellung eines Dings von seinem Sein getrennt wird, wie im Abschnitt 5.2 gezeigt. Während es bei Locke, Leibniz und Wolff noch erlaubt
8KrV,
B 40. B. kann der Begriff „rot“ nicht alle Roten in sich enthalten, aber der Raum als reine Form der Anschauung kann alle bestimmten „Räume“ in sich einschließen. 10Bei Kant werden insgesamt vier Arten der Begriffe genannt: die empirischen Begriffe, die rein sinnlichen Begriffe (z. B. den Begriff eines Dreiecks), die reinen Verstandesbegriffe und die Ideen. 9Z.
110
6 Leitfrage und Grundansatz der Transzendentalphilosophie
ist, die Gründe der Wahrheit einheitlich zu diskutieren und festzustellen, weil bei ihnen die Vorstellungen sich nur in einer kontinuierlich-graduellen Stufenfolge liegen und ohne realen Unterschied gleichartig sind, ist der Fall bei Kant dennoch ganz anders: Da die Vorstellungen sich in zwei unterschiedliche Arten (Anschauung und Begriff) eingeteilt sind, muss die Entsprechung der Vorstellungen mit den Gegenständen auch getrennt erörtert werden. Schon 1772 war Kant sich dieses Problems bewusst. In einem nun bekannten Brief, den er am 21. Februar 1772 an seinen ehemaligen Lieblingsschüler Marcus Herz schrieb, wird die Frage nach der Gegenstandsbeziehung der Vorstellungen ausgedrückt: „... so bemerkte ich: daß mir noch etwas Wesentliches mangele, welches ich bei meinen langen metaphysischen Untersuchungen, sowie andere, aus der Acht gelassen hatte und welches in der Tat den Schlüssel zu den ganzen Geheimnissen, der bis dahin sich selbst noch verborgenen Metaphysik, ausmacht. Ich frug mich nämlich selbst: auf welchem Grunde beruht die Beziehung desjenigen, was man in uns Vorstellung nennt, auf den Gegenstand?“11
In dieser Fragestellung wird die sinnlichen Vorstellungen in der Tat nicht betroffen: Da Kant die Sinnlichkeit mit der Rezeptivität gleichsetzt, durch die das Ding dem erkennenden Subjekt gegeben wird, ist die Entsprechung der sinnlichen Vorstellungen mit den äußeren Dingen nicht schwer zu erklären. Die sinnliche Vorstellung kann nämlich nur durch Affektion mittels der Rezeptivität bzw. Empfänglichkeit des Subjektes ganz passiv bekommen. Diese Empfänglichkeit zeigt schon die Beziehung auf die äußeren Dinge: „Enthält die Vorstellung nur die Art, wie das Subjekt von dem Gegenstande affiziert wird, so ist es leicht einzusehen, wie er diesem als eine Wirkung seiner Ursache gemäß sei und wie diese Bestimmung unseres Gemüts etwas vorstellen d. i. einen Gegenstand haben könne. Die passiven oder sinnlichen Vorstellungen haben also eine begreifliche Beziehung auf Gegenstände … so würde auch die Konformität derselben mit den Objekten verstanden werden können.“12 Vielmehr denkt Kant in der obigen Fragestellung vor allem an den apriorischen Begriffen bzw. intellektuellen Vorstellungen, die ihren Ursprung allein in dem Verstand haben und mithin keine unmittelbare Gegenstandsbeziehung
11Kants 12Kants
Briefwechsel, KGS X, S. 130 f. Briefwechsel, KGS X, S. 130.
6.1 Die Leitfrage der Transzendentalphilosophie …
111
besitzt.13 Daher ist es immer fragwürdig, ob und wie sich die begrifflichen Vorstellungen a priori auf die Gegenstände beziehen. Man kann den Zusammenhang dieser Frage mit der Aufgabe der transzendentalen Deduktion der Kategorien in der Kritik einfach einsehen:14 Diese Deduktion ist „die Erklärung der Art, wie
13„Ich
hatte mich in der Dissertation damit begnügt die Natur der intellectual Vorstellungen bloß negativ auszudrücken: daß sie nämlich nicht Modifikationen der Seele durch den Gegenstand wären. Wie aber denn sonst eine Vorstellung die sich auf einen Gegenstand bezieht ohne von ihm auf einige Weise affiziert zu sein möglich überging ich mit Stillschweigen.“ (KGS X, S. 130 f.) 14Es ist in der Kant-Forschung umstritten, wie man die Frage nach der Gegenstandsbeziehung der intellektuellen Vorstellungen a priori in dem Herz-Brief verstehen soll. Was meint Kant hier mit „Gegenstand“? Betrifft die Gegenstandsbeziehung in dieser Frage eigentlich das sinnliche Gegebene (Phänomen), oder die intelligiblen Gegenstände bzw. Noumena, oder noch andere? Ich folge in diesem Problem der Interpretation von Wolfgang Carl. (Vgl. Carl 1989b. Siehe auch Carl 1989a, Kapitel 1, S. 16 ff.) Nach ihm wird in jener Frage eigentlich das Problem von der Möglichkeit der Beziehung der intellektuellen Vorstellungen a priori auf das sinnliche Gegebene ausgedrückt, das dann zur Aufgabe der transzendentalen Deduktion der Kritik führt. Dies kann schon in einer anderen Stelle desselben Briefs Beweis finden: „… wie mein Verstand gäntzlich a priori sich selbst Begriffe von Dingen bilden soll, mit denen nothwendig die Sachen einstimmen sollen, wie er reale Grundsätze über ihre Möglichkeit entwerfen soll, mit denen die Erfahrung getreu einstimmen muß und die doch von ihr unabhängig sind.“ (KGS, X, S. 131, Herv. d. Verf.) Diese Interpretation kann auch durch die Forschung Norbert Hinskes unterstützt werden, der durch die Analyse der Reflexionen Kants beweist, dass Kant gerade um etwa 1772 zur Einsicht kam, dass auch die intellektuellen Vorstellungen, die durch den realen Gebrauch des Verstandes erzeugt werden, sich auf die Gegenstände der Erfahrung statt auf die Noumena beziehen sollen. Vgl. Hinske 1970, S. 63. Es gibt in der Kant-Forschung zwei Interpretationen gegen Wolfgang Carl. Die eine interpretiert jene Frage im Herz-Brief als das Problem von der Möglichkeit der Beziehung der intellektuellen Vorstellungen a priori auf die intelligiblen Gegenstände bzw. Noumena, das dann zur Aufgabe der transzendentalen Dialektik führt. (Vgl. Beck 1989). Die zweite ist der Ansicht, dass Kant sich dort um die Frage kümmert, ob die intellektuellen Vorstellungen a priori sich überhaupt auf irgendein Objekt, sei es Erscheinung oder Noumena, beziehen können, und dass Kant dieses Problem dadurch aufzulösen sucht, dass er alle Grundbegriffe des reinen Verstandes nach Prinzipien findet (so wie Kant in den späten Zeilen des Briefs ausdrückt, vgl. KGS X, S. 132); so führe die Frage zur Aufgabe der metaphysischen Deduktion der Kategorien in der Kritik. (Vgl. Cicovacki 1991.) Ich siehe die Beweisgründe für diese beiden Gegeninterpretationen nicht so zureichend wie diejenige für die Deutung Carls bzw. Hinskes. Aber trotzdem ist es auch sehr wahrscheinlich, dass Kant, obwohl er schon 1770 die Unterscheidung zwischen Phänomenon und Noumenon aufgestellt hat, bei der Frage nach der Gegenstandsbeziehung 1772 diese Unterscheidung nicht im Sinne hatte und also nicht als Voraussetzung in der Fragestellung impliziert. Die Frage nach der Gegenstandsbeziehung
112
6 Leitfrage und Grundansatz der Transzendentalphilosophie
sich Begriffe a priori auf Gegenstände beziehen können“.15 In der Tat macht diese Frage nach der Gegenstandsbeziehung der intelligiblen Vorstellungen a priori die Leitfrage der Transzendentalphilosophie aus, nach der sich die ganze Kritik der reinen Vernunft entwickelt. In dieser Frage wird im Wesentlichen darüber nachgedacht, wie das Subjekt apriorisch das „Sein“ eines Gegenstandes denken kann. Die apriorischen Formen der Verstandesvorstellungen können nicht direkt auf Gegenstände bezogen werden. Aber eine solche unmittelbare Gegenstandsbeziehung kann man in den Formen der Sinnlichkeit finden. Man kann damit natürlicherweise zu einem Gedankengang kommen: Sofern es möglich ist, dass die apriorischen Formen des Verstandes irgendwie mit den Formen der Sinnlichkeit verbunden werden oder sogar diese bestimmen, kann das Problem der Gegenstandsbeziehung für die reinen Verstandesbegriffe gelöst werden. Für diesen Gedankengang muss man aber zunächst überlegen: Was heißt überhaupt Denken als das intellektuelle Vermögen? Was sind seine wesentlichen Beschaffenheiten? Kann es sich mit diesen Beschaffenheiten irgendwie auf die Formen der sinnlichen Anschauung beziehen? Wenn ja, wie soll sich
der intellektuellen Vorstellungen a priori zielt vielmehr darauf ab, jene Unterscheidung erneut zu überlegen. Erst in der Kritik wird diese Überlegung erledigt und jene Unterscheidung wird erst dabei neu begründet. 15KrV A85/B117. Es gibt kontroverse Verständnisse von dieser Formulierung der Aufgabe der Deduktion. Um nur einige von ihnen zu nennen: Rudolf Zocher sieht diese Aufgabe darin, „daß Kategorien überhaupt ein notwendiges Anwendungsgebiet in der Sphäre der sinnlich anschaulichen Erfahrung haben und… daß dieses Anwendungsgebiet das einzig möglich ist.“ Vgl. Zocher 1954, S. 189. Für Hans Georg Hoppe muss die Deduktion beweisen, „daß in aller Begriffsverwendung das Bezogensein unserer Vorstellungen auf Gegenstände wesentlich und notwendig vorausgesetzt ist.“ Vgl. Hoppe 1983, S. 153. Nach Günter Zöller ist dies aber „die Frage nach dem Grund der Prinzipienfunktion der Kategorien gegenüber Erscheinungen.“ Vgl. Zöller 1984, S. 158. Henry Allison versteht das „Zentralproblem“ der Deduktion als die „Demonstration der Verbindung zwischen den intellektuellen und sinnlichen Bedingungen der menschlichen Erkenntnis“ („…that the central problem is the demonstration of a connection between the intellectual und sensible conditons of human cognition“). Vgl. Allison 2004, p. 159. Mario Caimi versucht, diese verschiedene Interpretationen auf ein Grundproblem zusammenzufassen: „Im Zuge der Deduktion muss also bewiesen werden, dass die Kategorien nicht leer sind.“ Vgl. Caimi 2001, hier S. 55. Ich siehe die Auslegungen von Allison und von Caimi als zutreffendsten an, denn in dem Textstück von A90/B123 liegt meiner Meinung nach das wesentlichste Problem, das Kant mit der Deduktion lösen will: die Sinnlichkeit könnte so beschaffen sein, dass sie den Bedingungen der Einheit des Verstandes gar nicht entspräche, so dass die Kategorien leer wären.
6.2 Der Grundansatz der Theoriebildung Kants …
113
diese Beziehung verhalten? Diese Fragen führen uns zu dem Grundansatz der transzendentalphilosophischen Theoriebildung Kants, nämlich dem Problem der Bestimmung des menschlichen Denkens bei Kant.
6.2 Der Grundansatz der Theoriebildung Kants: Die Bestimmung des Denkens als spontane Synthesis Die Bestimmung des Denkens gehört zu den Problemen, mit denen Kant sich seit seiner vorkritischen Zeit stets beschäftigt. Erst mit langjährigen Bemühungen gelangt Kant zu der in der Kritik dargestellten Konzeption des Verstandes, in der das Denken mit zwei Grundcharakteristiken bestimmt wird: Synthetizität und Spontaneität. Dies ist eine neuartige Bestimmung des Denkens, auf der nicht nur die Zweistämmigkeitsthese Kants, sondern auch die grundliegende Theorienbildung seiner Subjektivitätslehre beruhen. Es ist also nötig, die Grundbestimmung des Denkens bei Kant nach den genannten beiden Momenten, Synthetizität und Spontaneität, zu erklären. Dabei wird auch der entwicklungsgeschichtliche Aspekt in die Erörterung einbezogen, um die Eigentümlichkeiten aufzuweisen, die Kant in seiner Beschäftigung mit diesem Problem gezeigt hat. (1) Die Suche nach der grundsätzlichen Art und Weise des Denkhandlung gehört zu den Hauptinteressen der philosophischen Bemühungen Kants. In der frühen Schrift „Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral“ (1764) bestimmt Kant, der traditionalen Metaphysik folgend, das Denken zuerst als Analysis der Begriffe, in der die eigentliche Aufgabe der Metaphysik besteht. Erst danach dürfe man die abstrakten Begriffe synthetisch miteinander verbinden.16 Seitdem hat Kant mehrere Versuche gemacht, die grundlegenden Handlungen des Verstandes herauszuarbeiten, die er mit dem Aristoteles´ Terminus „Kategorien“ näher bestimmt und bezeichnet hat – freilich verwendet in dem objektiv-konstitutiven Sinne.17 In einigen Versuchen glaubte er, es gebe drei Klassen von Kategorien: Thesis, Synthesis und Hypothesis, wobei er möglicherweise die beiden letzteren
16Vgl.
KGS II, S. 289 ff., 276 ff. Klassische Forschung dazu vgl. Henrich 1967b. Reflexion 4276: „Categorien sind die allgemeinen Handlungen der Vernunft, wodurch wir einen Gegenstand überhaupt (zu den Vorstellungen, Erscheinungen) denken. Aristoteles.“ KGS XVII, S. 492.
17Vgl.
114
6 Leitfrage und Grundansatz der Transzendentalphilosophie
jeweils mit der coordinatio und der subordinatio etwa anglich.18 In einem anderen Versuch aber verwendete er andere Einteilungsweise: „[D]ie Idee der Thesis: Realitas….der Synthesis: Materia et forma…der Analysis: qvantitas et qvalitas“, wobei die Kategorien der Synthesis als Substantia, Causatum et independens, Compositum et simplex und diejenigen der Analysis als Totale, perfectum, completum et partiale, finitum et infinitum, unum et plura weiter aufgelistet werden.19 Diese unterschiedlichen Versuche fanden dann ihren soliden Anhaltspunkt, als Kant etwa in der frühen Mitte der 70iger Jahre endlich die Verstandeshandlung mit den Urteilsfunktionen in Verbindung brachte. Für ihn ist es immer klarer geworden, dass die Erkenntnis vor allem in Urteilen besteht und dass die logische Stelle eines Objekts durch einen reinen realen Verstandesbegriff angewiesen werden soll.20 Mit diesem Zusammenhang der Verstandesbegriffe mit den logischen Funktionen der Urteile kann Kant eine besondere Bedeutung der Synthesis in der Verstandeshandlung aufweisen. Denn die Urteile mit ihren logischen Funktionen handeln hauptsächlich von der Verbindung bzw. Synthesis der Vorstellungen miteinander, und wenn nun die Grundhandlung des Denkens sich als Urteilen ausdrücken, ist es selbstverständlich, dass die Synthesis als die wesentliche Eigenschaft des Denkens angesehen wird.21 Das Urbild solcher Synthesis ist das „Gemüth“ oder die Apperzeption, die alle Quelle der Synthesis in sich enthält.22 In der Kritik wird deutlich, dass die Synthesis die grundlegende Handlung des reinen Denkens ist. Die Kategorien als Grundregeln des Denkens überhaupt sind nichts anders als die Grundregeln der Synthesis der Vorstellungen. Die Kategorie der Analysis kommt nicht mehr in Betracht.
18Reflexion
4276, KGS XVII, S. 492. 4476, KGS XVII, S. 565. Vgl. auch Reflexion 4493, KGS XVII, S. 571. Klaus Düsing stellt die Entwicklung der frühen Theorie von Denken Kants ausführlicher dar, vgl. Düsing 2013, S. 42–52. 20Reflexion 4629, KGS XVII, S. 614: „Die Vorstellung, wodurch wir einem obiect seine eigenthümliche logische Stelle, anweisen, ist der reale Verstandesbegrif und rein: z. E. Etwas, was ich jederzeit nur als subiect brauchen kann; Etwas, wovon ich hypothetisch auf ein conseqvens schließen muß etc. etc.“ Vgl. auch Reflexion 4638, 4672, KGS XVII, S. 614, 629, 636. Datiert etwa 1772–1773. 21Reflexion 4836, KGS XVII, 620. 22Reflexion 4674, KGS XVII, 646. 19Reflexion
6.2 Der Grundansatz der Theoriebildung Kants …
115
Wenn nun die grundlegende Handlung des reinen Denkens Synthesis ist, ist es noch weiter zu überlegen, was das zu Synthetisierende ist. Dies kann nicht von dem Denken selbst herkommen, denn sonst wäre die Grundhandlung des Denkens nicht Synthesis, sondern vielleicht Analysis, die durch Begriffszerlegung den Inhalt aus dem Denken selbst herausarbeitet. Die Bestimmung der Grundhandlung des Denkens als Synthesis stellt daher zugleich die Diskursivität oder inhaltliche Bedürftigkeit des Verstandes fest. Es ist Kant schon früh klar worden, dass es etwas Anderes vorausgesetzt werden muss, nämlich das Reale, damit das Denken daran bearbeiten oder sogar erst als solches zustande kommen kann. Im Verständnis des Begriffs des Realen folgte Kant in seiner frühen vorkritischen Zeit zunächst der Tradition der Schulmetaphysik, nach der das Reale letztendlich seinen Grund in dem ersten Seienden, dem Gott, finden muss23 – etwa ein Gedanke, den Kant später im Kapitel über „das Ideal der reinen Vernunft“ der Kritik kritisiert. Danach (besonders nach der Veröffentlichung der Inauguraldissertation) kam Kant aber zur Einsicht, dass das Reale, das dem Denken gegeben wird, nicht als allein im Gott befindlich gedacht wird; es kann auch in der Anschauung der Sinne sein. Diese beiden gehören zu unterschiedlichen Welten, der intelligiblen zu einem und der sinnlichen zu anderem. Die Distanzierung des endlichen Denkens von dem Gott als seiner Grundlage in der Erscheinungswelt kann als der erste Schritt, die Sinnlichkeit von dem Denken zu trennen, verstanden werden. In dieser Hinsicht kann man die These der Zweistämmigkeit der Erkenntnis so verstehen, dass Kant die Anschauung bzw. Sinnlichkeit als ein weiteres ontologisches Prinzip neben dem Denken einführt und ihr eine selbstständige ontologische Stelle gibt, was erst die transzendentale Philosophie ermöglicht.24 Nur unter dieser Voraussetzung der Sinnlichkeit, die das Gegebene von außen bekommt, ist die Synthesis erst die grundlegendste Eigenschaft des Denkens. Denn das durch die Sinnlichkeit allein gegebene Mannigfaltige der Erscheinung enthält in sich keine Synthesis, und die Verbindungen der Vorstellungen eines
23Vgl. Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes, in: KSG, II, S. 63. 24Die Kant-Forscher haben oft über den Mangel an Begründung für die Zweistämmigkeit-These bei Kant beklagt, auch wenn man diese durch Zurückführung auf die Problemgeschichte vor Kant kompensieren kann. (Vgl. Gloy 1984, S. 1. und Heidemann 2002.) Aber nach dem Obigen können wir vielleicht diese These aus der Charakterisierung des Verstandes als ein synthetisches Vermögen beweisen, nämlich aus der inhaltlichen Bedürftigkeit der Handlung der Synthesis.
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6 Leitfrage und Grundansatz der Transzendentalphilosophie
Objekts können nur durch die Handlung des Denkens hinzugefügt werden.25 Das Reale in der Form vom sinnlichen Mannigfaltigen muss zwar nur in der Empfindung gegeben sein. Aber für die Aufgabe, dieses mannigfaltige Reale irgendwie zu verbinden, um es schließlich auf ein einheitliches Objekt zu beziehen, ist nur die Handlung des Verstandes zuständig, und zwar die Synthesis. Die Synthesis ist also eine spezielle Funktion des Denkens, insofern sie auf die mannigfaltigen Anschauungen der Sinnlichkeit bezogen wird. Denn durch die sinnliche Anschauung erhalten wir etwas als unverbundene und zerstreut, womit das Denken als Synthesis erst dann eine bedeutungsvolle Rolle gewinnt, nämlich die Funktion, das Gegebene der Sinnlichkeit zu bearbeiten.26 Dies zeigt sich schon bei derjenigen sukzessiven Synthesis, die sich auf das Quantum bezieht.27 Denn ohne die Synthesis wäre sogar die fundamentale Bestimmung der Quantität uns nicht möglich.28 (2) Zur wesentlichen Bestimmung des reinen Denkens gehört noch ein Moment. Wenn die mannigfaltigen Erscheinungen sich den Regeln der diskursiven Synthesis unterwerfen, indem sie zum Objekt des Denkens gemacht werden, und wenn das Denken die Apperzeption ist, die allen Synthesen als ein Urbild dient, ist danach zu fragen, worin das Fundament bzw. die Instanz für diese Verstandeshandlung liegt, und zwar, wer solche Synthesis durchführt und wie. Dies ist das Problem der Spontaneität des Denkens bzw. des Ich. Dadurch unterscheidet sich das Denken streng von der Anschauung, die auf der Affektion beruht.29
25Reflexion
4674: „Es sind die… Funktionen der Apperzeption, welche bei dem Denken unseres Zustandes überhaupt angetroffen werden und worunter alle Erscheinung deswegen passen muß, weil in ihr keine Synthesis an sich selbst liegt, wenn das Gemüt solche nicht hinzufügt oder aus den Datis derselben macht.“ Vgl. KGS, XVII, S. 646 f. 26Reflexion 4678: „Die Synthesis [...] enthält Regeln des Denkens a priori, aber in so fern es auf Objekte bestimmt ist. Also ist darin 1. das reine Denken (a) und die Regel desselben, 2. die Bedingung des Objekts, d. i. unter der etwas als Objekt zu denken gegeben ist (x) (oder gebracht wird), 3. die Bestimmung des Gedankens aus diesem Verhältnis (b).“ KGS XVII, S. 661. 27Dies ist noch nicht die Kategorie der Quantität, die Kant in der Kritik nennt. 28Reflexion 4079: „Die Schwierigkeit, sich ein Quantum simultaneum als unendlich vorzustellen, beruht auf der Natur des Menschlichen Verstandes, der ein totum seiner Möglichkeit nach nur synthetisch denken kann, d. i. successive addendo unum uni. Die Synthesis aber, die ins unendliche gehen soll, ist niemals komplett.“ KGS XVII, S. 406. 29Vgl. KrV, A 68/B 93.
6.2 Der Grundansatz der Theoriebildung Kants …
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Kant kam früh zu dem Gedanken, dass die Spontaneität des Denkens in dem Ich oder Ich-denke liegt. Aber Kant bezieht dieses zuerst nicht auf die Sinnlichkeit und die Erscheinungen. Er war der Ansicht, dass man, außer der reinen Erkenntnis des Gottes, noch eine Art der intellektuellen Erkenntnis habe, die mit der Sinnlichkeit oder mit der Anwendung der Denkhandlungen auf die sinnlichen Anschauungen gar nichts zu tun hat: die Erkenntnis des Ich als einer Substanz. Diese Ich-Substanz sei die einzige, die wir unmittelbar anschauen können.30 Die Vorstellung des Ich und der absoluten Einheit „ich sei“, die unerklärlich ist, sei daher selbstständig gesichert durch die intellektuelle Anschauung seiner selbst als einer unwandelbaren Substanz, wodurch das Ich sich erstmal der Wirklichkeit der Freiheit, nämlich der Selbsttätigkeit, unmittelbar bewusst ist.31 Diese reine Selbsttätigkeit und Spontaneität des Ich zeigt schon, dass die Handlung des Ichs allein von sich selbst ausgeht und nicht mehr durch ein höheres Seiendes bestimmt wird. Das Ich ist also selbst das Prinzip seiner Tätigkeit.32
30Kant
1821. S. 133. Sogar kurz nach 1770 vertrat Kant noch diese Ansicht der unmittelbaren intellektuellen Anschauung von dem reinen Ich. Vgl. Reflexion 4225: „Das Ich ist eine unerklärliche Vorstellung. Sie ist eine Anschauung, die unwandelbar ist.“ KGS XVII, S. 465. 31Reflexion 4220: „Freyheit ist eigentlich nur die Selbstthatigkeit, deren man sich bewust ist. Wenn man sich etwas beyfallen läßt, so ist dieses ein actus der Selbstthatigkeit aber man ist sich hiebey nicht seiner Thatigkeit, sondern der Wirkung bewust. Der Ausdruck: ich denke (dieses obiect), zeigt schon an, daß ich in Ansehung der Vorstellung nicht leidend bin, daß sie mir zuzuschreiben sey, daß von mir selbst das Gegentheil abhange.“ KGS XVII, S. 462. Vgl. auch Reflexion 4232, KGS XVII, S. 470; Reflexion 4336, KGS XVII, S. 509. 32In diesem Sinne unterscheidet Kant sich von dem Neuplatonismus, der die Tätigkeit im Ich auf ein göttliches Wesen zurückführt, wie Klaus Düsing zeigt. Vgl. Düsing 2013, S. 45. Es ist also berechtigt zu behaupten, dass Kant der erste ist, der das Ich als eine völlig selbständige Substanz, später Instanz, betrachtet. Selbst bei Descartes, obwohl er die res cogitans auch als ein eigenständiges Wesen beschreibt, ist doch nicht klar, woher die Tätigkeit der res cogitans wirklich kommt. Außerdem wird die Stellung dieser Selbstständigkeit durch die Einführung des Gottes als Grundes der realitas formalis der in der res cogitans befindlichen Vorstellungen wieder beschädigt, sofern die Inhalte der Vorstellungen (nämlich die realitas objectiva der ideae) eigentlich als die Wirkung des von dem Cogito unabhängigen wahrhaften Seienden (der realitas formalis) zu verstehen und mithin auf das letztere zurück zu beziehen sind. Zu diesem Punkt vgl. Wagner 1967, S. 333.
118
6 Leitfrage und Grundansatz der Transzendentalphilosophie
Aber mit der zunächst in der Inauguraldissertation entwickelten Trennung zwischen Sinnlichkeit und Verstand ist es Kant allmählich immer klarer geworden, dass die Spontaneität zwar dem Ich, genauer dem „Ich denke“ gehört, dass dessen Existenz dennoch nicht dadurch unmittelbar mitbestimmt wird. Denn auch die Existenz des Ich, und zwar das phänomenale Reale desselben, ist mit der Sinnlichkeit verbunden und wird nicht durch das reine Denken allein aufgewiesen. Die Spontaneität des Ich besteht nunmehr nicht in der Möglichkeit der unmittelbaren intellektuellen Selbstanschauung desselben, sondern in der Notwendigkeit der Verknüpfbarkeit aller gegebenen Vorstellungen mit der reinen Vorstellung des Ich-denke, die Kant in der Kritik transzendentale Apperzeption nennt. Erst in diesem Sinne wird die Spontaneität als ein wesentliches Moment des diskursiven, synthetischen Denkens des Menschen bestimmt. In der Kritik wird die Spontaneität des reinen Verstandes als der Grundcharakter des intellektuellen Vermögens bezeichnet, auf dem alle Begriffe sich gründen.33 Dass das Ich-denke „alle meine Vorstellungen begleiten können“ muss, ist nun die Grundlage aller möglichen Erkenntnis. Die Apperzeption ist die ursprünglichste Handlung des Denkens, in der alle gegebenen Vorstellungen mit dem Ich-denke verbunden werden und nach bestimmten Regeln (Kategorien) meine Vorstellungen sind. Erst dadurch ist es möglich, die Einheit des Gegenstandes als solches zu begründen und Erkenntnis desselben zu bilden. So kommt Kant durch langjährige Überlegungen über die wesentlichen Charakteristika des menschlichen Denkens schließlich zu dem Hauptgedanken der Transzendentalphilosophie in der Kritik: Das menschliche Denken wird in seiner grundlegenden Verfahrensweise als Synthesis bestimmt, welche ursprünglich die spontane Tätigkeit des Ich bzw. der Apperzeption ist; von dem Denken selbst stammt kein Reales, welches das Denken bzw. das Ich synthetisiert, sondern dieses Reale wird nur von außen gegeben, und zwar in der sinnlichen Anschauung als unverbundenes Mannigfaltiges. Dieser Gedanke zeigt, dass der menschliche Verstand endlich ist; mit anderen Worten: es muss etwas vom Denken Unterschiedenes sein, woran das Denken seine Handlungen, nämlich die Synthesis, vollziehen kann. Diese Quelle der Inhalte ist dann nach Kant die Sinnlichkeit, oder die Rezeptivität. Die grundsätzliche Stämme-Dualität, die üblich als die fundamentale Voraussetzung der kantischen Philosophie betrachtet wird, soll daher schließlich auch auf diesen Gedankengang des frühen Kant zurückgehen. Die Bestimmung des reinen Denkens als spontane Synthesis macht also
33Vgl.
KrV, A 68/B 93.
6.2 Der Grundansatz der Theoriebildung Kants …
119
den Grundansatz und Grundrahmen der gesamten theoretischen Philosophie Kants aus.34 Meine folgende kritische Deutung des Problems über das Verhältnis zwischen der Subjektivität und dem Sein der Gegenstände wird zwar sich mit einigen basalen Thesen Kants auseinandersetzen, aber nicht über diesen Grundrahmen hinausgehen.
34Dies zeigt Klaus Düsing mit gutem Grund in seiner Auseinandersetzung mit Martin Heideggers Kant-Deutung. Heidegger ist der Meinung, dass die Endlichkeit der menschlichen Subjektivität, welche die kantische Philosophie charakterisiert, in der Natur unserer Anschauung liegt. Vgl. Heidegger 1973, S. 21. Düsing weist aber darauf hin, dass Kant in der 1770-Dissertation zwar schon die Anschauung auf die sinnliche beschränkt, dennoch daraus keine These der Endlichkeit des Menschen gezogen hat, zu der Kant aber erst in der Kritik gelangen kann. Vgl. Düsing 2013, S. 42. Henry Allison sieht auch die These über die Diskursivität des Verstandes als den Kern der kantischen theoretischen Philosophie. Vgl. Allison 2004, p. 13.
7
Die Konzeption der ontologischen Zeitbestimmung
Wenn das reine Denken nun als spontane Synthesis bestimmt wird, ist dann zu betrachten, wie dieses Denken seine Gegenstandsbeziehung zustande bringen und mithin die Gegenstände hinsichtlich ihrem Sein bestimmen kann. Die reine Synthesis des Denkens drückt ihre Einheit a priori in den Kategorien aus, was die Kategorien zu den strukturellen Bestimmungen aller Seienden macht, sofern diese Seienden Gegenstände des reinen Denkens sind. Aber die Kategorien sind nur dann zugleich auch die Grundbestimmungen des sinnlichen Seienden, wenn jene strukturellen Bestimmungen auch auf die sinnlichen Erscheinungen übertragen werden können. Es ist zu überlegen, wie diese Wandlung der kategorialen Bestimmungen in die Bestimmungen des Was-Seins der sinnlichen Gegenstände möglich ist. Dieses Problem macht gerade die Kernaufgabe der transzendentalen Deduktion aus: Wie ist es überhaupt möglich ist, dass die sinnlichen Erscheinungen, die dem Verstand ungleichartig sind, durch diesen gültig bestimmt werden? Verschiedene Aspekte dieses Problems führen uns zu Überlegungen Kants über die transzendentale Einbildungskraft, aus denen Kant den Gedanken der transzendentalen Zeitbestimmung entwickelt. In diesem Kapitel erörtere ich, wie die transzendentale Zeitbestimmung bei Kant als das Vermittelnde fungiert, mit dem das reine Denken das Sein der Dinge bestimmt, so dass sich die Bestimmungen im Denken schließlich zu den Seinsbestimmungen der Dinge verwandeln.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Liu, Zeit und Sein des Sinnlichen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61924-7_7
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7 Die Konzeption der ontologischen Zeitbestimmung
7.1 Vom reinen Denken zum Denken der Gegenstände: die figürliche Synthesis Das Problem, wie das reine Denken sich auf die Gegenstände beziehen und diese hinsichtlich des Seins bestimmen kann, wird in der transzendentalen Deduktion als Problem der „Anwendung der Kategorien auf Gegenstände der Sinne“ gestellt.1 „Anwendung“ heißt hier die Vermittlung der intelligiblen Struktur, die sich in den vier Klassen der Kategorien ausdrückt, an die sinnlichen Gegenstände, wodurch diese nach jener Struktur bestimmt werden. In der Rede von diesem Problem der Anwendung führt Kant den Gedanken der synthesis speciosa (der figürlichen Synthesis) ein, die von der synthesis intellectualis unterschieden wird. Die intellektuelle Synthesis richtet sich auf das Mannigfaltige der Anschauung überhaupt, was schon in der Konzeption der Synthetizität des Denkens enthalten ist. Sie zeigt die Regeln für die Gegenstände des reinen Denkens, die Kant dann Noumena nennt. Die figürliche Synthesis dagegen ist die Synthesis des Mannigfaltigen der sinnlichen Anschauung und richtet sich also auf die Bestimmungen der sinnlichen Gegenstände. Kant nennt sie „die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft“2. Dabei arbeitet das reine Denken mit der transzendentalen Einbildungskraft zusammen. Streng genommen ist die Synthesis überhaupt schon die Leistung der Einbildungskraft.3 Aber Kant will hier betonen, dass die Einbildungskraft das Vermögen ist, „einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen“.4 Damit wird ihr eine zweifache Identität zugeschrieben: In Bezug auf die subjektive Bedingung der Gegebenheit eines Gegenstandes ist sie sinnlich, und zugleich insofern intellektuell, als sie die reine Form des Sinnes der Einheit der Apperzeption bzw. den Kategorien gemäß a priori bestimmen kann und mithin spontan ist.5 Kraft dieser doppelten Identität gibt die transzendentale Einbildungskraft einerseits die Verbindungen und Synthesen von dem Verstand weiter, und andererseits leitet und ordnet sie unmittelbar die Anschauungen. Sie
1Vgl.
den Titel des § 24 der B-Deduktion, KrV, B 150. B 151. 3KrV, A 78/B 103: „Die Synthesis überhaupt ist… die bloße Wirkung der Einbildungskraft…“ 4KrV, B 151. 5KrV, B 151f. 2KrV,
7.1 Vom reinen Denken zum Denken der Gegenstände …
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hat deshalb die Funktion, „eine Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit“ zu üben. Die figürliche Synthesis ist im Wesentlichen die Funktion, „den inneren Sinn durch das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen der synthetischen Einheit der Apperzeption gemäß [zu] bestimmen“.6 In dieser Bestimmung ist die Wirkung auf die Form des inneren Sinnes, nämlich auf die Zeit, die „erste Anwendung desselben [sc. des Verstandes]… auf Gegenstände der uns möglichen Anschauung“.7 Sie ist die „erste“ Anwendung, weil sie allen anderen Anwendungen zugrunde liegt, nämlich den Anwendungen auf die Erfahrungsgegenstände, wodurch diese erst ihre vielfältigen, konkreten empirischen Bestimmtheiten bekommen (daran beteiligt schon die Erfahrung a posteriori).8 Dies heißt, die figürliche Synthesis durch die transzendentale Einbildungskraft erweist sich gerade als die Möglichkeit dafür, dass diese sinnlichen Gegenstände durch die intelligible Struktur der Kategorien bestimmt werden können. Die Kategorien im Verstand sind also dadurch möglich, die grundlegenden Bestimmungen des Was-Seins der sinnlichen Dinge zu sein. Der Gedanke der figürlichen Synthesis wird in der „Deduktion“ nur prinzipiell charakterisiert. Aber Kant bleibt bei dieser prinzipiellen Charakterisierung nicht stehen. Über das Problem, auf welche Weise die intelligible Struktur der Kategorien auf die sinnlichen Gegenstände übertragen wird, denkt Kant mit dem Schematismus weiter nach.9 Die transzendentale Synthesis der reinen Einbildungskraft, nämlich die genannte „erste Anwendung“ des Verstandes auf die Gegenstände der Sinne wird in dem Schematismus als transzendentale Zeitbestimmung bezeichnet. Darin können wir einsehen, wie die Zeit eine entscheidende Rolle in jener Übertragung spielt. Ich werde in den kommenden Abschnitten versuchen, den Gedanken dieser Übertragung in dem Schematismus
6KrV,
B 150. B 152. 8Henry Allison interpretiert richtig die „erste“ Anwendung als die Verbindung des Verstandes mit der Zeit als Form des inneren Sinnes durch die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft und die zweite Anwendung als die empirische Synthesis der Apprehension, welche die gegebenen Inhalte des inneren Sinnes betrifft. Vgl. Allison 2015, p. 384. 9KrV, B 167: „Wie sie [die Kategorien] aber die Erfahrung möglich machen, und welche Grundsätze der Möglichkeit derselben sie in ihrer Anwendung auf Erscheinungen an die Hand geben, wird das folgende Hauptstück von dem transz. Gebrauche der Urteilskraft das mehrere lehren.“ 7KrV,
124
7 Die Konzeption der ontologischen Zeitbestimmung
ontologisch zu interpretieren und davon aus die Unterscheidung des Zeitbegriffs bei Kant zu thematisieren, die für unsere folgenden Erörterungen relevant ist.
7.2 Das transzendentale Schemata und die Bestimmung des Was-Seins des Gegenstandes Das Medium für die Vermittlung der in einem Begriff enthaltenen Bestimmungen an die sinnliche Anschauung wird das Schema dieses Begriffs genannt. Allgemein gesprochen bezeichnet ein Schema überhaupt die sinnliche Bedingung bzw. die Versinnlichungsmöglichkeit eines Begriffs. Für alle drei Begriffsarten des Verstandes (die empirischen Begriffe, die reinen sinnlichen Begriffe und die reinen Verstandesbegriffe), die ihrerseits allgemein sind, ist es unmöglich, mit dem Gegenstand in concreto unmittelbar in Kontakt zu stehen. Denn ein Gegenstand ist immer im Einzelnen und niemals dem allgemeinen Begriff völlig adäquat, sei es ein besonderer Triangel (in dem Fall eines reinen sinnlichen Begriffs), sei es das empirisch allein darbietende einzige besondere Bild oder ein Gegenstand (wie in dem Fall des empirischen Begriffs), weil diese alle nur jeweilig auf einen Teil der allgemeinen Begriffe eingeschränkt sind.10 Es muss deshalb für die Zusammenstimmung der Anschauung mit dem Begriff bzw. für die Subsumtion der ersteren unter den letzteren so laufen, dass die allgemeinen Begriffe die Regeln zuerst geben, welche die Synthesis der Einbildungskraft leiten. Dann wird das Schema durch diese geregelte Synthesis der Einbildungskraft hervorgebracht. Und schließlich wird die Anschauung vermittels des Schemas den Regeln gemäß geordnet. Dies ist das Verfahren des Schematismus. Das Schema ist also der Grundstein für jede mögliche Verkoppelung zwischen einem Gegenstand und einem Begriff. Nach den drei Begriffsarten werden also drei Arten der Schemata genannt. Das Schema eines empirischen Begriffs (wie „Haus“) ist „eine Regel der Bestimmung unserer Anschauung gemäß einem gewissen allgemeinen Begriff“. Und das Schema eines rein sinnlichen Begriffs (wie „Triangel“) ist „eine Regel der Synthesis der Einbildungskraft in Ansehung reiner Gestalten im Raume“.11 Schließlich ist das Schema eines reinen Verstandesbegriffs dasjenige, was die
10KrV, A 11KrV, A
141/B 180. 141/B 180.
7.2 Das transzendentale Schemata und die Bestimmung des ...
125
Subsumtion der Erscheinungen überhaupt unter einer Kategorie vermittelt.12 D. h. es ist das gedachte Dritte bzw. Medium zwischen einem reinen Verstandesbegriff und der sinnlichen Erscheinung überhaupt. Dieses „transzendentale Schema“13 wird (1) gemäß der Besonderheit der Zeit einerseits, dass die Zeit als die formale Bedingung aller Erscheinungen überhaupt den ganzen Bereich der Sinnlichkeit dem Inhalt nach vertreten kann, und (2) gemäß der Bestimmung andererseits, die von dem Verstand bzw. von den Kategorien allein zustande gebracht werden kann, als „transzendentale Zeitbestimmung“ definiert. Diese transzendentale Zeitbestimmung ist dasjenige, was von dem Inhalt betrachtet „ein Mannigfaltiges a priori in der reinen Anschauung“ enthält,14 von der Weise ihrer Bestimmung betrachtet aber je nach der reinen synthetischen Einheit der Kategorien zustande kommt. So ist sie einerseits „allgemein und auf einer Regel a priori beruht“ und mithin intellektuell wie die Kategorien, und ist andererseits auch mit der Erscheinung gleichartig, weil sie nichts anderes als die Zeit ist, die „in jeder empirischen Vorstellung des Mannigfaltigen enthalten“ wird. Alle diesen drei Arten der Schemata müssen durch die figürliche Synthesis der Einbildungskraft hervorgebracht werden, obwohl sie auf verschiedene Arten der Einbildungskraft gründen. Sie unterscheiden sich von anderen bildlichen Vorstellungen der Begriffe, und vor allem von den Bildern der Begriffe, dadurch, dass ein Bild eine „besondere Gestalt, die mir die Erfahrung darbietet“ ist, während ein Schema die „Vorstellung… von einem allgemeinen Verfahren der Einbildungskraft“ ist15 und die Gestalt des Begriffs „allgemein verzeichnen kann, ohne auf irgend eine einzige besondere Gestalt… eingeschränkt zu sein“.16 In diesem Sinne ist das Schema nicht nur das Produkt der Einbildungskraft, sondern sogar das Korrelat dieses Verfahrens selbst. Aber es besteht ein wesentlicher Unterscheid der transzendentalen Schemata von den beiden übrigen (den Schemata der empirischen Begriffe und denjenigen der reinen sinnlichen Begriffe). Mit den beiden übrigen Arten des Schemas wird ein Bild des Begriffs hervorgebracht, das eine anschauliche besondere Gestalt des im Begriff bestimmten Gegenstandes enthält. In diesem Sinne bezeichnet Kant das Schema als die Vorstellung von dem „allgemeinen Verfahren der
12KrV, A
139/B 178. 142/B 181. 14KrV, A 138/B 177. 15KrV, A 140/B 179. 16KrV, A 141/B 180. 13KrV, A
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7 Die Konzeption der ontologischen Zeitbestimmung
Einbildungskraft, einem Begriff sein Bild zu verschaffen“17 oder als das „Monogramm…, wodurch und wonach die Bilder allererst möglich werden.“18 Aber diese Bezeichnung gilt nicht für die transzendentalen Schemata, weil diese gar nicht ins Bild gebracht werden können.19 Denn um ein Bild zu werden, muss ein Schema seine Bestimmungen in einer einzelnen Anschauung vorstellig und daher gegenständlich machen.20 Aber ein transzendentales Schema als ein „transzendentales Produkt“ der reinen Einbildungskraft zeigt sich nur als eine Regel, die von einer Kategorie gegeben wird und die Anschauung ihrer Form nach bestimmt. Es fehlt ihm überhaupt an der Möglichkeit, in einer einzelnen Anschauung dargestellt zu werden. D.h. als ein solches „transzendentales Produkt“ ist ein transzendentales Schema nichts anderes als eine Vorstellung des Verfahrens der transzendentalen Einbildungskraft, die allein in der transzendentalen Ebene operiert und kann selbst nicht als solches objektiviert werden und in der gegenständlichen Ebene liegen. Die transzendentalen Schemata sind der Grund der Operation anderer Arten der Schemata. Denn sie sind, als Produkte der figürlichen Synthesis der transzendentalen Einbildungskraft, die Verknüpfung der Kategorien mit der allgemeinen Form aller sinnlichen Erscheinungen, nämlich mit der Zeit. Sie haben den intellektuellen Charakter, weil sie nach den Kategorien bestimmt werden, und zugleich den sinnlichen Charakter, sofern sie nichts anders als „Zeit“-Bestimmung sind. Eben in diesem Doppelcharakter der transzendentalen Schemata wird schon angedeutet, dass die Zeit eine gewisse entscheidende Rolle in der Vermittlung der intelligiblen Struktur des Was-Seins in den Kategorien an die sinnlichen Gegenstände spielt. In den kommenden Kapiteln wird die Vermittlungsrolle der Zeit in einer kritischen Betrachtung der kantischen Theorie näher untersucht. Nun möchte ich aber, den Gedanken der transzendentalen Zeitbestimmung als Ausgangspunkt nehmend, eine Bemerkung zu der Grundunterscheidung des kantischen Zeitbegriffs machen, um für unsere weitere Erörterung des Problems der Vermittlung besser vorzubereiten.
17KrV, A
140/B 179f. 142/B 181. 19Vgl. KrV, A 142/B 181. 20Vgl. KrV A 140/B 179: „Das Schema ist an sich selbst jederzeit nur ein Produkt der Einbildungskraft; aber indem die Synthesis der letzteren keine einzelne Anschauung, sondern die Einheit in der Bestimmung der Sinnlichkeit allein zur Absicht hat, so ist das Schema doch vom Bilde zu unterscheiden.“ (Herv. d. Verf.) 18KrV, A
7.3 Kants Zeitkonzeption und der Gedanke der ontologischen ...
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7.3 Kants Zeitkonzeption und der Gedanke der ontologischen Zeitbestimmung Kant benutzt die transzendentale Zeitbestimmung als die sinnliche Bedingung der Anwendung der reinen Verstandesbegriffe. Als solche muss sie (1) einerseits intellektuell und andererseits sinnlich sein, damit sie die Vermittlung zwischen beiden sein kann; (2) sie muss außerdem rein sein, und zwar frei von Empirischen, damit sie a priori das Verfahren der Anwendung der reinen Verstandesbegriffe auf die räumzeitlich gegebenen Erscheinungen angeben; (3) sie muss schließlich allem Sinnlichen gemeinsam sein und den Bereich der Sinnlichkeit vertreten. Man fragt sich selbstverständlich, warum die Zeit diese genannten Bedingungen erfüllen kann. Warum nicht vielmehr der Raum oder noch etwas anderes? Natürlich kann man eine Erwiderung darauf in der Ästhetik-Lehre Kants finden. In der „transzendentalen Ästhetik“ definiert Kant den Raum als „die Form aller Erscheinungen äußerer Sinne“ und daher als die subjektive Bedingung für die Möglichkeit unserer äußeren Anschauung.21 Und als „die beständige Form der Rezeptivität“ ist er „eine notwendige Bedingung aller Verhältnisse, darinnen Gegenstände als außer uns angeschaut werden“.22 Daher wird er auf die äußeren Erscheinungen allein beschränkt. Die Zeit ist dagegen „die Form des inneren Sinnes, d. i. des Anschauens unserer selbst und unseres inneren Zustandes“.23 Weil alle Vorstellungen grundsätzlich nur die Bestimmungen unseres Gemüts, d. h. die Bestimmungen des inneren Zustandes sind, gehören sie folglich offensichtlich notwendigerweise der formalen Bedingung des inneren Sinnes, der Zeit. Deshalb ist die Zeit „die formale Bedingung a priori aller Erscheinungen überhaupt“, und zwar „die unmittelbare Bedingung der inneren… und eben dadurch mittelbar auch der äußeren Erscheinungen“.24 Aus diesen Gründen kann der Anschauungsbereich seinen Inhalten nach überhaupt von der Zeit vertreten werden. Kant versucht also, von dem Unterschied zwischen dem inneren und dem äußeren Sinn her zu erklären, warum die Zeit als das Medium und die Bedingung der Anwendung der Kategorien auf die sinnlichen Erscheinungen dient. Für Kant reicht diese Erklärung zwar schon aus. Aber aus einer anderen Perspektive ist
21KrV, A
26/B 42. 27/B 43. 23KrV, A 33/B 49. 24KrV, A 34/B 50 22KrV, A
128
7 Die Konzeption der ontologischen Zeitbestimmung
zu bemerken, dass gerade (1) die gewisse Affinität zwischen der Zeit und dem kategorialen Denken, (2) die Unbestimmbarkeit des Raums durch die Kategorien und mithin (3) die jeweiligen ontologischen Rollen der Zeit und des Raums die Gründe sind, auf denen die Verbindung der Zeit mit dem inneren Sinn und die Verbindung des Raums mit dem äußeren Sinn beruhen. Dies ist eben das Thema der vorliegenden Arbeit. Ich werde in Kapiteln 9–10 zurück zu diesem Punkt kommen. Kant hält seit frühem den Gedanken einer Priorität der Zeit vor dem Raum. In seiner vorkritischen Zeit hat Kant den inneren Sinn sogar als die Grundkraft intellektueller Leistung bezeichnet, was ein klares Zeichen ist, wie Kant auf den speziellen Status der Zeit hinwies.25 In der kritischen Zeit trennt er aber den inneren Sinn scharf und sorgfältig von dem Vermögen der Apperzeption. Er nennt den inneren Sinn nun das passive Subjekt, von dem alle Spontaneität, die jetzt nur dem Verstand zukommt, durchaus abgezogen ist.26 Der innere Sinn ist deshalb nicht mehr die Grundkraft intellektueller Leistung27, und gehört sogar nicht mehr zu einer der intellektuellen Leistungen bzw. dem intellektuellen Bereich, der nun mit dem Verstand und seinen Leistungen identifiziert wird und hauptsächlich die Aktivität bzw. Spontaneität des Subjekts darstellt. D.h. der innere Sinn zeigt nun nur die Passivität eines Subjekts. Dies hindert aber die Zeit als die Form des inneren Sinnes nicht daran, eine engere Verbindung mit dem Verstand zu haben, als dass man bei dem Raum sehen kann.
25In
dem frühen Aufsatz „Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren erwiesen“ (1762) sagt Kant: „Man kann… die Veranlassung ziehen, dem wesentlichen Unterschiede der vernünftigen und vernunftlosen Tiere besser nachzudenken. Wenn man einzusehen vermag, was denn dasjenige für eine geheime Kraft sei, wodurch das Urteilen möglich wird, so wird man den Knoten auflösen. Meine jetzige Meinung geht dahin, daß diese Kraft oder Fähigkeit nichts anders sei als das Vermögen des inneren Sinnes, d. i. seine eigenen Vorstellungen zum Objekte seiner Gedanken zu machen. Dieses Vermögen ist nicht aus einem andern abzuleiten, es ist ein Grundvermögen im eigentlichen Verstande und kann, wie ich dafür halte, bloß vernünftigen Wesen eigen sein. Auf demselben aber beruht die ganze obere Erkenntniskraft.“ (KGS II, S. 60) Dazu vgl. Düsing 1980a, S. 21. Ausführlicher zur theoretischen Entwicklung der Theorie des inneren Sinnes bei Kant vgl. Longuenesse 1998, p. 233 f. 26KrV, B 153. 27Ein ähnlicher Gedanke hält Locke, indem er den inneren Sinn mit dem Reflektieren etwa gleichsetzt. Vgl. Locke 1795, Buch II, chap. i, §4, §§ 24–25. Dabei wird diese Funktion in Kants reifer Theorie durch die Selbstaffektion ersetzt, die als eine Tätigkeit des Subjekts nicht mehr dem inneren Sinn zukommt.
7.3 Kants Zeitkonzeption und der Gedanke der ontologischen …
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Dass der Raum die Form der äußeren Erscheinung und die Zeit die Form unseres inneren Zustands und mithin die Form aller Erscheinungen in uns ist, ist schon genug, es begreiflich zu machen, warum Kant die Schemata, die zum Medium der Vermittlung der intelligiblen Struktur an die sinnlichen Gegenstände dienen, aus der Zeit zu erklären. Man muss aber zugleich bemerken, dass der Gedanke der Priorität der Zeit vor dem Raum nicht übertreiben werden soll; sie bedeutet nicht, dass die Zeit auch den Raum ersetzen würde. Vielmehr besagt sie nur einen epistemischen und mithin relativen Vorrang: Die Zeit kann den sinnlichen Bereich nur den Inhalten nach im Ganzen vertreten.28 Wichtiger ist es, dass, sofern nun Raum und Zeit beide nur subjektive Bedingungen sind (wie Kant mit dem Gedanken der „transzendentalen Idealität“ von Raum und Zeit ausdrücklich macht), ein tieferer Grund dieser Priorität in der Erkenntnisweise des Menschen bzw. in der inneren Verfassung der Subjektivität zu suchen ist. Dazu sagt aber Kant nichts Ausführliches; er sagt nur rätselhaft, dass im inneren Sinn „das Geheimnis des Ursprungs unserer Sinnlichkeit“ liegt.29 In den späten Kapiteln werde ich dies thematisieren. Hier möchte ich mich darauf aufmerksam machen, dass der Gedanke der transzendentalen Zeitbestimmung eine neue Dimension in den Zeitbegriff Kants bringt. Hier ist zunächst zu bemerken, dass die Zeit, die zur Vermittlung bzw. als Schema dient und eine Priorität vor dem Raum hat, nicht ontisch, sondern ontologisch aufzufassen ist. Wir haben schon bei dem antiken Platonismus diesem Unterschied des Zeitbegriffs in die ontische und ontologische Zeit begegnet. In Kants Kontext kann diese Unterscheidung ebenfalls eine relevante Rolle spielen. Wenn Kant die Form des inneren Sinnes mit der Zeit gleichsetzt und das Schema als transzendentale Zeitbestimmung bezeichnet, bedeutet hier die Zeit nicht das, was wir in unserem alltäglichen Leben als Zeit erfahren. In der alltäglichen Zeiterfahrung sieht man die Eigenschaften wie Sukzessivität und Kontinuität, die basalen Zeitverhältnisse wie Beharrlichkeit, Folge und Zugleichsein und die drei Modi: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie liegen der Erscheinung zugrunde, weil diese allein in einer solchen Zeit bestehen kann. Wir nennen sie die Erfahrungszeit, weil wir ihr gemäß unsere Erfahrung messen und weil sie immer mit einer bestimmten Erfahrung zusammen vorgestellt wird.
28Dies
wird ausführlicher erklärt von Höffe 2003, S. 89 f. KrV, A 278/B 334. Dieser Satz gibt uns nur Hinweis darauf, inwiefern Kant die Wichtigkeit des inneren Sinnes gegenüber dem äußeren betont.
29Vgl.
130
7 Die Konzeption der ontologischen Zeitbestimmung
Alle diese genannten Bestimmungen der Erfahrungszeit gründen sich aber in der Tat auf die bildliche Vorstellung der Zeit analog zu einer „ins Unendliche fortgehende Linie“,30 die ihrerseits schon eine räumliche Gestalt hat. Diese Vorstellung ist eigentlich der Ausdruck der eindimensionalen, für unsere Welt allgemeingültigen und selbst auch objektiv vorgestellten Zeit. Sie hängt nicht mehr mit einer bestimmten Erfahrung zusammen, sondern abstrahiert davon mit Hilfe des Verstandes. Wir können sie die „objektive Zeit“ nennen. Die Bestimmung dieser „objektiven Zeit“ ist eigentlich das Ergebnis der Handlung des Verstandes; sie selbst ist nicht fähig, ihre eigene Struktur zu bestimmen. Folglich ist diese objektive Zeit auch in gewisser Weise eine abgeleitete Zeit, keine „ursprüngliche“. Diese objektive Zeit, und auch die oben genannte Erfahrungszeit, nenne ich zusammen die ontische Zeit.31 Beide sind weder diejenige Zeit, die Kant als Form des inneren Sinnes bezeichnet, noch die transzendentalen Zeitschemata. Die Zeit in diesem ontischen Sinne hat keine Priorität vor dem Raum; vielmehr hängen alle ontischen Zeitbestimmungen mit dem Raum bzw. der äußeren Anschauung zusammen, wie Kant selbst in der „Allgemeinen Anmerkung zum System der Grundsätze“ in der B-Auflage der Kritik betont.32 Die Zeit als Form der Anschauung nenne ich dagegen die ontologische Zeit. Sie ist deswegen ontologisch, weil sie für die Erfahrung und für Gegenstände der Erfahrung konstitutiv ist. D. h. sie ist keine äußerliche Bestimmung für die Gegenstände der Erfahrung mehr, sondern diejenige, welche die Gegenstände der Erscheinung als solche möglich macht. Man kann die konstitutive bzw. ontologische Bedeutung der Zeit als der Form des inneren Sinnes leicht verstehen, weil sie die formale Bedingung der Erscheinung überhaupt ist. Aber wie diese ontologische Zeit an der Konstitution der Erscheinungswelt beteiligt und daher
30Vgl.
KrV, A 33/B 50. alltäglich sog. objektive Zeit und subjektiv-psychische Zeit gehört natürlich auch zu dieser ontischen Zeit. 32Vgl. KrV, B 291ff., und besonders B 291: „Noch merkwürdiger aber ist, daß wir, um die Möglichkeit der Dinge, zu Folge der Kategorien, zu verstehen, und also die objektive Realität der letzteren darzutun, nicht bloß Anschauungen, sondern sogar immer äußere Anschauungen bedürfen.“ Dieser Gedanke wird von Eckart Förster besonders berücksichtigt und für den Anlass weiterer Entwicklung der Philosophie Kants zu Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft und schließlich zu Opus Postumum gehalten. Vgl. Förster 2014, S. 65 f, S. 77 ff. u. a. Ich halte dieses Urteil Försters für richtig. Aber er geht m. E. zu weit, wenn er dann diese Wichtigkeit des Raums als Andeutung zur Aufstellung einer „Raumschematismus“ ansieht. 31Die
7.3 Kants Zeitkonzeption und der Gedanke der ontologischen …
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diese Konstitution der Erscheinung a priori der Form nach mitbestimmt, kann erst klar werden, nachdem wir später in Kapitel 10 die ontologische Grundlage für die Bestimmung der objektiven Zeit erklärt haben. Oben haben wir gezeigt, dass das transzendentale Schema nicht ins Bild gebracht werden kann. Dieser Gedanke ist sehr wichtig für das Verständnis des Schematismus und der Transzendentalphilosophie Kant überhaupt, weil es den Unterschied zwischen der ontologischen bzw. transzendentalen Betrachtungsebene einerseits und der ontischen bzw. gegenständlichen andererseits zeigt. Die transzendentale Zeitbestimmung bzw. das Schema des reinen Verstandesbegriffs ist das transzendentale Produkt der reinen produktiven Einbildungskraft, die von dem Verstande geleitet wird und die Anschauung der Form nach bestimmt und ordnet. Sofern der Terminus „ontologisch“ die konstitutive Bedingung der Gegenstände der Erfahrung bezeichnet, können wir ihn hier mit dem Terminus „transzendental“ vergleichen, denn dieser bedeutet ebenfalls die Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung – nur mit dem Unterschied, dass der Terminus „transzendental“ eigentlich von dem Erkennen des Subjekts für die Gegenstände der Erfahrung ausgeht, während „ontologisch“ sich auf die Betrachtung von der Seite der Gegenstände der Erfahrung richtet. Deshalb ist es berechtigt zu sagen, dass die transzendentale Zeitbestimmung zugleich die ontologische Zeitbestimmung genannt werden kann, und zwar als die Bestimmung der ontologischen Zeit (genitivus objectivus). So erweist sich bei Kant die transzendentalen Schemata als die Bestimmungen der ontologischen Zeit nach den Kategorien durch den Verstand. Die unüberbrückbare Kluft zwischen dem transzendentalen Schema und dem Bild gibt uns deshalb wichtige Hinweise dafür, wie das transzendentale Schema als ontologische Zeitbestimmung verstanden und von allen ontischen Zeitkonzeptionen unterschieden werden soll: Die ontische Zeit kann in einer bildlichen Vorstellung (wie in einer Linie) vergegenständlicht, während die ontologische Zeitbestimmung (das transzendentale Schema) sowie die ontologische Zeit selbst (als die Form des inneren Sinnes) gar nicht als solche in einer Vergegenständlichung vorgestellt werden können. In diesen transzendentalen Schemata zeigt sich einerseits die Bestimmung der ontologischen Zeit (als Form der Anschauung) durch den Verstand. Und andererseits können die Beschaffenheiten der ontischen Zeit auch durch diese ontologische Zeitbestimmung begründet werden: nicht nur die Erzeugung der ontischen Zeit selbst, ihre Kontinuität und Zukunftsgerichtetheit, sondern auch ihr Verhältnis zu ihren Inhalten, sowie die möglichen Zeitverhältnisse dieser Inhalten zueinander, und schließlich auch die mögliche Zustände aller Inhalte in Bezug auf die Zeit, usw. – das besagt: Alle ontischen Zeitbestimmungen, entweder
132
7 Die Konzeption der ontologischen Zeitbestimmung
über die Zeit selbst oder über die Zeitlichkeit der Gegenstände, müssen auf die transzendentalen Schemata gründen. Nachdem diese Probleme in dem nächsten Kapitel erläutert worden ist, können wir klarer einsehen, wie die ontologische Zeit bzw. Zeitbestimmung bei Kant als Vermittlung der intellektuellen Struktur an die Erfahrungswelt ihre Leistung vollbringt.
8
Das Problem der Zufälligkeit der Anschauungsformen des Menschen
Wir sehen oben, dass Kant von der Bestimmung des menschlichen Denkens ausgeht und vermittels des Gedankens der figürlichen Synthesis und des darauf geründeten Schematismus das Problem behandelt, wie die Kategorien auf die sinnlichen Gegenstände anwenden und zu den Grundbestimmungen derselben werden. Kant will dadurch zeigen, dass es eine Tatsache ist, dass das kategoriale Denken mit unserer sinnlichen Anschauung übereinstimmt. Da aber das kategoriale Denken und die sinnliche Anschauung von verschiedener Quellen sind, können wir weiter fragen, ob diese Übereinstimmung notwendig ist, oder vielmehr aleatorisch geschieht und mithin nur zufällig ist. Sofern dieses Problem nicht gelöst bleibt, kann die Einheit zwischen der Sinnlichkeit und dem Verstand innerhalb des Subjekts als äußerlich verstanden werden. Dies kann dazu führen, dass die Objektivität und die Notwendigkeit der Erkenntnis gefährdet wird. Ich werde in dem vorliegenden Kapitel überlegen, was dieses Problem wesentlich ist und wie es geschieht. Der menschliche Verstand als diskursive Synthesis vollzieht sich nach den Kategorien. Kant entschlüsselt die Kategorien von der Urteilstafel als ihrem Leitfaden, welche die logischen Funktionen in allen möglichen Urteilen enthält. Die formale Urteilslogik abstrahiert von allen Inhalten der Vorstellungen. Daher ist es ihr nicht möglich, die Inhalte einer Synthesis, deren Einheit der analytischen Einheit in einem Urteil entspricht,1 näher zu bestimmen. Kant gibt
1Vgl.
KrV, A 79/B 104f.: „Dieselbe Funktion, welche den verschiedenen Vorstellungen in einem Urteile Einheit gibt, die gibt auch der bloßen Synthesis verschiedene Vorstellungen in einer Anschauung Einheit, welche, allgemein ausgedruckt, der reine Verstandesbegriff heißt.“
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Liu, Zeit und Sein des Sinnlichen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61924-7_8
133
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8 Das Problem der Zufälligkeit der Anschauungsformen des Menschen
zwar nicht an, von woher die verschiedenen Momente der logischen Funktionen der Urteile entstammen, sondern er nimmt sie direkt von der traditionellen allgemeinen Logik über. Dennoch hat er immer vor Augen, dass ein wahrhaftiges Urteil nur die raumzeitlichen Erfahrungsgegenstände betreffen kann. Trotzdem kann er aber, der alten Metaphysik gegenüberstehend, nicht unmittelbar behaupten, dass die Verstandesformen sich von vornherein schon nur mit den Erfahrungsgegenständen, mithin nur mit Zeit und Raum verbinden und dass ihr Gebrauch daher ursprünglich immer schon empirisch ist, weil die Begründung einer solchen Behauptung zu viel Mühe kosten, aber trotzdem schwerlich gutes Ergebnis erzielen könnte. Vielmehr nimmt Kant den folgenden Gedankengang: Er führt außer dem Verstand bzw. den Kategorien eine andere Bedingung für unsere Erkenntnis ein, nämlich die Bedingung der Sinnlichkeit, um dann den Gebrauch der Verstandesformen auf das Empirische zu begrenzen, das seinerseits der Bedingung der Sinnlichkeit schon entspricht. Dadurch hat Kant zugleich den Weg eines reinen Denkens für den Bereich der Erkenntnis blockiert: Das reine Denken, ohne Bezug auf das uns gegebene und noch zu erkennende Sinnliche, kann unsere Erkenntnis nicht erweitern. Anders als die alte Metaphysik wie die bei Platon und Plotin, welche die Sinnlichkeit bzw. Zeit und Raum als etwas dem Denken abgesetztes und untergeordnetes betrachtet, hält Kant die Bedingung der Sinnlichkeit für gleichrangig mit dem Verstand, und zwar dem Denken. Sie ist nicht mehr die nur unstabile Form der sinnlichen Dinge selbst, sondern eine ebenso bedeutungsvolle Quelle für unsere Erkenntnis wie der Verstand, weil die Erkenntnis beide Erkenntnisstämme unbedingt zugleich haben soll, um sich selbst zustande zu bringen. Die Form der Sinnlichkeit ist daher eine neu eingeführte und den Kategorien hinzugefügte Bedingung, auf die Kant die Gültigkeit der Urteile beschränkt. Vermittels dieses Gedankengangs ist Kant endlich imstande, den Gebrauch des Denkens bzw. die Erkenntnis allein auf das Empirische zu restringieren. Ohne dieses Restringieren würden wir in die Gefahr geraten, den Verstand und das Denken ohne irgendeinen Bezug auf die Erfahrung anzuwenden und mittels der leeren Verstandesformen und Schlüsse die Erkenntnis bedeutungslos zu erweitern, sofern die Erfahrung die einzige Möglichkeit ist, den reinen Begriffen Bedeutung zu verschaffen.2 Damit gelangt Kant zu dem Gedanken, dass die reinen Verstandesbegriffe nur für die sinnliche Erscheinung Geltung haben, und dass es in dem Bereich der Erkenntnis über die Welt kein reines Denken überhaupt geben kann.
2Vgl.
KrV, B 149.
8 Das Problem der Zufälligkeit der Anschauungsformen des Menschen
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Aber gerade mit diesem Gedankengang ist das Problem der Zufälligkeit von den menschlichen Anschauungsformen hervorgebracht. Die alte, platonisch-neuplatonische Ontologie, wie in den vorigen Kapiteln gezeigt, betrachtet die Zeit und den Raum als die abgeschwächte Erkenntnisform: Die Zeit ist die Form des diskursiven Denkens (der Seele) als die Entfaltung des eigentlichen Denkens (Nous), und der Raum ist die Form des Unbestimmten, nämlich die Form für die losgelösten Denkmomente.3 So sind die Zeit und der Raum notwendigerweise die Formen für die sinnliche Erkenntnis, obgleich sie nur eine gestörte, unscharfe Form für die wahre Erkenntnis darstellt. Wenn aber nun bei Kant die Zeit und der Raum als die Anschauungsformen dagegen mit dem Verstand bzw. dem diskursiven Denken gleichgestellt werden, muss das Problem der Notwendigkeit dieser bloß hinzugefügten Bedingung der Anschauungsformen in Erwägung gezogen werden. Denn die bloße Rede von der extra sinnlichen Bedingung kann offensichtlich nicht ohne weiteres die Möglichkeit anderer Formen von sinnlichen Anschauung ausschließen. Und es scheint so, die Menschen hätten zufällig die Zeit und den Raum als ihre Anschauungsformen und nicht andere, und die Erscheinungen, die unter ihnen uns gegeben sind, seien auch mit dieser Zufälligkeit verbunden; d. h. wir Menschen haben zufällig die so gegebene Erscheinung zu unserer Erkenntnis. In der Kategoriendeduktion, besonders in ihrem zweiten Beweisschritt (§§22–26), versucht Kant auch zu begründen, dass die Kategorien außer dem empirischen Gebrauch für die Erscheinungen keinen anderen Gebrauch haben.4 Diese Begründung wird durch die Einführung der Erklärung von der Rolle der transzendentalen Einbildungskraft für die Anwendung der Kategorien auf die
3Vgl.
Kapitel 3–4 und besonders Abschnitte 3.3 und 3.4. Kants eigener Formulierung ist schon klar, dass die B-Deduktion in zwei Teile gegliedert ist. Dennoch ist umstritten, wie die beiden Teile sich aufeinander beziehen, und insbesondere, wozu der zweite Teil dient. Die Deutung des ersten und des zweiten Teils jeweils als „objektive“ und „subjektive“ Deduktion bei Paton ist seit Dieter Henrichs bekannten Forschung nicht mehr verbreitet akzeptiert. Vgl. Paton 1936, Vol. 1, pp. 499 ff., 526 ff.; Henrich 1973. Nach Henrich ist die B-Deduktion eine einheitliche Argumentation, die aus zwei Beweisschritten besteht. Er sieht in dem ersten Schritt eine Einschränkung des Umfangs der Gültigkeit der Kategorien, die aber in dem zweiten Schritt aufgegeben werde. Die gedachte Einschränkung zeigt sich in dem Wort „sofern“, das in §20 der Deduktion mit dem großgeschriebenen Ausdruck „Einer empirischen Anschauung“ verbunden auftaucht. Die Deutungsansatz Henrichs von „einem Beweis in zwei Schritten“ ist nun in der Kant-Forschung allgemein akzeptiert, aber seine Deutung erweckt viele Diskussionen in Einzelheiten. Z. B. Hans Wagner, Konrad Cramer und Heine Klemme sind der Meinung, dass das Wort „sofern“ nur eine Hinsicht für Betrachtung des Mannigfaltigen
4In
136
8 Das Problem der Zufälligkeit der Anschauungsformen des Menschen
Anschauung vollbracht: Die Synthesis der Kategorien muss in die figürliche Synthesis transformiert werden, damit sie erst die Gegenstände erkennen, anstatt diese nur zu denken. Dies scheint zu bedeuten, dass die Verbindung der Kategorien mit der Sinnlichkeit eine gewisse Notwendigkeit in sich trägt, und dass diese beiden notwendigerweise miteinander übereinstimmen. Aber dies reicht nicht aus, das Problem der Zufälligkeit der Anschauungsformen zu überwinden. Denn was Kant in der Deduktion zeigt, beweist nur, dass die Verbindung der beiden Vermögen für die Menschen bzw. für die den Menschen erscheinenden Gegenstände notwendig ist. Es bleibt aber noch offen und unbewiesen, ob diese Verbindung auch für die Gegenstände selbst notwendig gilt. Die Zufälligkeit von Zeit und Raum ist also wesentlich und unvermeidlich in der kantischen Theorie enthalten, sofern diese von der Hinsicht des Verhältnisses verschiedener Vermögen ausgeht. In Kants Theoriebildung taucht das Problem der Zufälligkeit der Anschauungs formen im Vergleich zu dem Verstand und den reinen Verstandesbegriffen auf. Dieses Problem der Zufälligkeit liegt eigentlich darin, dass die Tatsache, Zeit und Raum seien Bedingungen der Rezeptivitätsfähigkeit des Subjekts, oder sogar die
der Anschauung bedeutet und keine Einschränkung ausdrückt. Vgl. Henrich/Wagner, u. a. 1984, S. 37 ff. (Wagners Ansicht) und S. 47 ff. (Cramers Ansicht); Klemme 1996, S. 175. Auch Henrich selbst kritisiert seine frühe Interpretation in dem Punkt, dass er das Verständnis der kantischen Deduktion als eine syllogistische Argumentation voraussetzte und nicht daran dachte, dass die Deduktion in Kants Zeit vor allem durch den Aufweis des gerechtfertigten Ursprungs der Ansprüche zustande kommen soll. Vgl. Henrich/Wagner, u. a. 1984, S. 84 ff. Henrich gibt dann eine ausführlichere Untersuchung des Begriffs der Deduktion bei Kant in Henrich 1989. Zu anderen Deutungen für das Verhältnis zwischen beiden Beweisschritten vgl. Klemme 1996, S. 157–179, besonders S. 177; Baum 1986, besonders S. 12 f.; Allison 2004, pp. 161 f. Koch 2004, S. 178 ff. Aus Umfangsgründen kann ich hier diese Deutungen nicht wiedergeben, auch nicht mit Begründung darüber entscheiden, welche von ihnen Kants eigene Absicht am besten zutrifft. Meiner Meinung nach sind diese Deutungen jeweils ihr Recht haben und zeigen Gemeinsamkeit im Ganzen. Den Grund dafür, dass Kant den zweiten Beweisschritt hinzufügen muss, liegt in dem möglichen Zweifel, das Kants selbst schon ausdrückt: „Denn es könnten wohl allenfalls Erscheinungen so beschaffen sein, daß der Verstand sie den Bedingungen seiner Einheit gar nicht gemäß fände, und alles so in Verwirrung läge, daß z. B. in der Reihenfolge der Erscheinungen sich nichts darböte, was eine Regle der Synthesis an die Hand gäbe, und also dem Begriffe der Ursache und Wirkung entspräche, so daß dieser Begriff also ganz leer, nichtig und ohne Bedeutung wäre. Erscheinungen würden nichtsdestoweniger unserer Anschauung Gegenstände darbieten, denn die Anschauung bedarf der Funktionen des Denkens auf keine Weise.“ (KrV, A 90/B 123)
8 Das Problem der Zufälligkeit der Anschauungsformen des Menschen
137
Formen des Gegebenwerdens überhaupt, prinzipiell auf andere Weise gedacht werden könnten. Kant spricht in der Deduktion schon oft von der Möglichkeit einer weiteren Anschauungsart als diejenigen, die wir als sinnliche Anschauung besitzen, sogar von einer anderen sinnlichen Anschauung, die anders als Zeit- und Raumanschauung ist.5 Daher kann man sagen, dass die Zeit und der Raum, oder die so beschaffene Zeit und der so beschaffene Raum, nur zufällig an denjenigen Objekten heften, die wir zugleich vermittels des Verstandes erkennen. Dagegen sind aber nach Kant die reinen Verstandesbegriffe für die Objekte notwendig, weil sie für alle Anschauung überhaupt gültig ist. Denn die Spontaneität des Denkens, mithin die sie entsprechenden reinen Verstandesbegriffe, richtet sich in der Tat auf die Gegenstände der Anschauung überhaupt,6 und werden nicht unbedingt auf eine sinnliche Anschauung und ihre Formen, Zeit und Raum, beschränkt. Denn der Verstand ist derjenige, der erst die Objektivität eines Dings erstellt.7 Obwohl diese Objektivität bloß den leeren Begriff von Objekt darstellt, der irgendeiner Art von Anschauung bedarf, um ihm selbst dann Sinn und Bedeutung zu geben, ist hier dennoch nicht diejenige sinnliche Anschauung notwendig, die wir haben, sondern dies gilt auch für andere mögliche Anschauungsart. Die sogenannte Notwendigkeit der Kategorien liegt zudem auch darin, dass der Verstand und seine entsprechenden reinen Verstandesbegriffe nicht von dem Subjekt weg zu denken sind. Denn das Subjekt kann außer dem Verstand und den reinen Verstandesbegriffen gar nicht denken, ganz zu schweigen davon, etwas als ein Objekt zu denken.8 Die reinen Verstandesbegriffe sind also für das Subjekt unaufhebbar. Das Abziehen aller Kategorien von dem Denken, in diesem Fall unserem Denken, macht es sogar unmöglich, dass überhaupt irgendetwas in unseren Horizont treten kann.
5Vgl.
z. B. KrV, B 146, B 149. B 148: „Die reinen Verstandesbegriffe sind von dieser Einschränkung frei, und erstrecken sich auf Gegenstände der Anschauung überhaupt, sie mag der unsrigen ähnlich sein oder nicht, wenn sie nur sinnlich und nicht intellektuell ist.“ 7KrV, B 137: „Folglich ist die Einheit des Bewußtseins dasjenige, was allein die Beziehung der Vorstellungen auf einen Gegenstand, mithin ihre objektive Gültigkeit, folglich, daß sie Erkenntnisse werden, ausmacht, und worauf folglich selbst die Möglichkeit des Verstandes beruht.“ (Herv. d. Verf.) 8Vgl. die Formulierung in der Kritik der praktischen Vernunft: „… ich nichts ohne Kategorien denken kann“ (KGS IV, S. 103) 6KrV,
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Es könnte auch eingewendet werden wie folgt: Kant hat ebenfalls von einer anderen Art von Verstand gesprochen wie von einer anderen Art der Anschauung; er sagt, dass wir nicht begründen können, wieso wir genau diese Funktionen des Urteilens und nicht anderes haben: „Von der Eigentümlichkeit unsers Verstandes aber, nur vermittelst der Kategorien und nur gerade durch diese Art und Zahl derselben Einheit der Apperzeption a priori zu Stande zu bringen, läßt sich eben so wenig ferner ein Grund angeben, als warum wir gerade diese und keine andere Funktionen zu Urteilen haben, oder warum Zeit und Raum die einzigen Formen unserer möglichen Anschauung sind.“9 Aber man muss bemerken, dass diese Formulierung eigentlich nicht besagt, dass die anderen Kategorienmöglichkeiten offen gelassen werden, sondern nur, dass wir nach dem Grund dieser Gestaltung von Objektivität nicht forschen können. Die Notwendigkeit der Kategorien bedeutet nichts anders, als dass diese vom Verstand und Denken nicht weggedacht werden können, sofern wir nur auf diesen reinen Verstandesbegriffen beruhen, ein Objekt überhaupt in Hinsicht seiner Objektivität zu erstellen.10 Und sie müssen unbedingt dafür gelten, solange der Verstand sein ganzes Vermögen im Denken liegt.11 Bei der Sinnlichkeit ist es aber anders, weil keine Beziehung von ihren Vorstellungen auf irgendein Objekt möglich wird, wenn alles Denken weggenommen würde und diese Vorstellungen mithin allein auf die Anschauung basierten.12
9KrV,
B145f. KrV, A 254/B 309: „Wenn ich alles Denken (durch Kategorien) aus einer empirischen Erkenntnis wegnehme, so bleibt gar keine Erkenntnis irgend eines Gegenstandes übrig; … Lasse ich aber hingegen alle Anschauung weg, so bleibt doch noch die Form des Denkens, d. i. die Art, dem Mannigfaltigen einer möglichen Anschauung einen Gegenstand zu bestimmen. Daher erstrecken sich die Kategorien so fern weiter, als die sinnliche Anschauung, weil sie Objekte überhaupt denken, ohne noch auf die besondere Art (der Sinnlichkeit) zu sehen, in der sie gegeben werden mögen. Sie bestimmen aber dadurch nicht eine größere Sphäre von Gegenständen, weil, daß solche gegeben werden können, man nicht annehmen kann, ohne daß man eine andere als sinnliche Art der Anschauung als möglich voraussetzt, wozu wir aber keineswegs berechtigt sind.“ 11KrV, B 145: „Sie sind nur Regeln für einen Verstand, dessen ganzes Vermögen im Denken besteht, d. i. in der Handlung, die Synthesis des Mannigfaltigen, welches ihm anderweitig in der Anschauung gegeben worden, zur Einheit der Apperzeption zu bringen, der also für sich gar nichts erkennt, sondern nur den Stoff zum Erkenntnis, die Anschauung, die ihm durchs Objekt gegeben werden muß, verbindet und ordnet.“ 12KrV, B 309: „… denn durch bloße Anschauung wird gar nichts gedacht, und, daß diese Affektion der Sinnlichkeit in mir ist, macht gar keine Beziehung von dergleichen Vorstellung auf irgend ein Objekt aus.“ 10Vgl.
8 Das Problem der Zufälligkeit der Anschauungsformen des Menschen
139
Damit unterscheidet Kant sich selbst von der skeptizistischen Behauptung über die subjektive Notwendigkeit des begrifflichen Denkens. Denn das, was die reinen Verstandesbegriffe aus sich selbst denken, geht für Kant nicht an einen subjektiven Zustand, sondern richtet sich allein an das Objekt überhaupt.13 Sie müssen in einem Objekt gedacht werden, nicht in dem Zustand unseres Subjekts. Die Kategorien sind also mit der Möglichkeit eines Objekts notwendig verbunden. Obwohl es bei Kant klar ist, dass ohne unsere Anschauung das Objekt nicht bestimmt werden bzw. die Möglichkeit eines Objekts nicht verständlich sein kann,14 kann man dennoch zumindest sagen, dass die Anschauungsart nicht unbedingt unsere sinnliche Anschauung ist. In diesem Sinne sind nur die Formen der sinnlichen Anschauung zufällig, nicht die Kategorien. Unsere Anschauungsformen sind für Kant zufällige Bedingungen, die uns allein auf die uns zugänglichen sinnlichen Anschauung beschränken, während die Kategorien für sich genommen weit über unsere Erfahrung hinausliegen und sich auf die Gegenstände überhaupt richten, wie Kant mit dem ersten Beweisschritt der B-Deduktion zeigt, der unabhängig von der Bedingung der Gegebenheit des Mannigfaltigen der Anschauung entfaltet wird.15 Dies bedeutet aber nicht sofort, es gebe wirklich einen anderen Gegenstandsbereich als den Bereich der Erscheinung, der von dem Verstand allein erstellt wird. Ob das von den reinen Verstandesbegriffen gedachte Ding an sich als Noumenon in der Tat über den Bereich der Erscheinung hinaus eine andere und größere Sphäre von Gegenstände weist oder nicht, ist aber eine ganz andere Sache, die ich später im Kapitel 11 thematisieren werde. Mit der Erörterung hier möchte ich nur zeigen, dass Kant die folgende These zu vertreten scheint: es gebe zumindest theoretisch die Möglichkeit, dass unsere sinnlichen Anschauungsformen zufällig sind, während die reine Verstandesbegriffe für das Objekt aber dagegen notwendig sein müssen. Dies ist das Problem der Zufälligkeit der
13KrV,
B 168. B 300: „… daß wir so gar keine einzige derselben [d. i. der Kategorien] real definieren, d. i. die Möglichkeit ihres Objekts verständlich machen können, ohne uns so fort zu Bedingungen der Sinnlichkeit, mithin der Form der Erscheinungen, herabzulassen…“ 15KrV, B 144: „Im obigen Satze ist also der Anfang einer Deduktion der reinen Verstandesbegriffe gemacht, in welcher ich, da die Kategorien unabhängig von Sinnlichkeit bloß im Verstande entspringen, noch von der Art, wie das Mannigfaltige zu einer empirischen Anschauung gegeben werde, abstrahieren muß, um nur auf die Einheit, die in die Anschauung vermittelst der Kategorie durch den Verstand hinzukommt, zu sehen.“ 14KrV,
140
8 Das Problem der Zufälligkeit der Anschauungsformen des Menschen
menschlichen Anschauungsformen bei Kant. Da der Verstand mit der Sinnlichkeit verbunden werden muss bzw. die beiden grundsätzlichen Fähigkeiten des Subjekts vereinigt werden müssen, um die Erkenntnis von Objekten zu bilden, macht die Zufälligkeit der Anschauungsformen zugleich diese Vereinigung äußerlich, als ob diese Formen, die dem Verstand ganz gleichgültig sind, den reinen Verstandesbegriffen nur hinzugefügt würden. In diesem Sinne führt das Problem der Zufälligkeit der Anschauungsformen als Raum und Zeit zu dem Problem der Äußerlichkeit der Einheit der Subjektivität.16 Und da der Begriff des
16Das
Problem der Äußerlichkeit der Einheit der Subjektivität bei Kant wurde schon früh von den Idealisten nach Kant (wie Ficht, Schelling und Hegel) bemerkt. Sie waren sich klar bewusst, dass der kantische Denkrahmen des Vermögenpluralismus und seine Begründung für Einheit der Subjektivität problematisch seien. Denn sie glauben, mit Hegels Worten, dass dieser Denkrahmen bei Kant, in dem der Geist als „Sack von Vermögen“ betrachtet werden soll, der Natur eines lebendigen Geistes widerspricht, weil er keinen notwendigen Lebensprozess (durch Schlussfolgerung des Denkens) zeigt und so aussieht, als ob der Geist in sich steif und äußerlich zusammengestellt wäre. (Vgl. Hegel, „Verhältnis des Skeptizismus zur Philosophie. Darstellung seiner verschiedenen Modifikationen und Vergleichung des neuesten mit dem alten“. In: GW 04, S. 237. Ähnliche Formulierung befindet sich auch in Hegel, Phänomenologie des Geistes, (GW 09) Hamburg 1980, S. 169. Vgl. auch Schelling, Vom Ich als Prinzip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen: „Die voll endete Wissenschaft scheut alle philosophischen Kunststücke, durch die das Ich gleichsam zerlegt und in Vermögen, die unter keinem gemeinschaftlichen Prinzip der Einheit denkbar sind, zerspaltet wird. Die vollendete Wissenschaft geht nicht auf tote Vermögen, die keine Realität haben und nur in der künstlichen Abstraktion wirklich sind, vielmehr geht sie auf lebendige Einheit des Ich, das in allen Äußerungen seiner Tätigkeit dasselbe ist.“ (SW, Bd. 1, S. 162, Fußnote.) Daher sehen die Idealisten es dringend, den Rahmen des Vermögenspluralismus bei Kant nach ihrem eigenen Systembedürfnis zu beheben und die ungeeignete Vergegenständlichung der Vermögen zu überwinden. Außerdem bewegt sich auch Martin Heideggers berühmte Kant-Deutung, in der er die transzendentale Einbildungskraft als die „gemeinsame Wurzel“ beider Vermögen (der Sinnlichkeit und des Verstandes) interpretiert, in diesem Problemzusammenhang der Überwindung der Äußerlichkeit der Subjektivitätseinheit. Dadurch erklärt er die transzendentale Einbildungskraft als den Grund der Einheit der Subjektivität bei Kant. Aber offenbar geht seine Interpretation sehr weit über Kants eigene Theorie hinaus, so dass die „Gewaltsamkeit der Auslegungen“ in dem Text des Kant-Buchs oft spürbar ist, wie Heidegger zwanzig Jahre später in der Vorrede zur zweiten Auflage zugibt. (Vgl. Heidegger 1973, S. XVII.) Dieter Henrich kritisiert, dass die deutschen Idealisten und Heidegger den Kontext des Streits um den Vermögenspluralismus, in dem sich Kant befindet, übersehen haben, und dass ihre Interpretationen und Lösungsversuche daher zu weit über Kant hinaus gehen. Henrich stellt selber als Lösung der Äußerlichkeit die „innersubjektive Teleologie“ auf, nämlich die zweckmäßige Zusammenstimmung der Sinnlichkeit und des Verstandes zu
8 Das Problem der Zufälligkeit der Anschauungsformen des Menschen
141
Dings an sich mit der Sinnlichkeit wesentlich verbunden wird, wird dasjenige theoretische Ergebnis, welches das Problem der Zufälligkeit der Anschauungsformen hervorbringt, durch die Einführung des Begriffs des Dings an sich hinsichtlich des Objekts auffallender. D. h. das Problem der Zufälligkeit hängt nicht nur von Kants Formulierung ab, in der die Möglichkeit anderer Anschauungsformen geäußert wird, sondern es zeigt sich als ein sachliches Problem: Das, was wir erkennen, ist an unseren zufälligen sinnlichen Formen gebunden und hat daher auch Zufälligkeit in sich; es unterscheidet sich dadurch von dem reinen Gegenstand des Verstandes (dem Noumenon bzw. dem Ding an sich), der wegen der Notwendigkeit der reinen Verstandesbegriffe gleichsam ebenfalls Notwendigkeit in sich enthält. Daher wird durch das Problem der Zufälligkeit des Seins der erkannten Gegenstände, das durch das Problem der Zufälligkeit der menschlichen Anschauungsformen verursacht wird und in der Zweistämmigkeitstheorie Kants notwendig verwurzelt ist, die Gewissheit der Erkenntnis der Gegenstände gefährdet.17 Ich bin aber der Ansicht, dass, obwohl die transzendentale Deduktion und der Schematismus dieses Problem nicht endgültig lösen können, es in der
der Bildung der Erkenntnis. (Henrich 1955, S. 45.) Aber eine solche Rede ist in gewissem Sinne unangemessen, weil sie eine „Analogie zu den Kunstgriffen eines überirdischen Ingenieurs“ impliziert, wie er in einem späteren Aufsatz kommentiert. (Henrich 2017, pp. 45 f. Diesen Aufsatz verfasste Henrich am Ende 2016 unter meiner Einladung zur Fortsetzung seines frühen Gedankens vom Aufsatz „Über die Einheit der Subjektivität“, und er betitelte ihn mit „Rückblick auf ,Über die Einheit der Subjektivität‘ (1955)“. Ich übersetzte ihn ins Chinesisch und veröffentlichte ihn in der chinesischen Zeitschrift Weltphilosophie. Die deutsche Fassung bleibt leider noch unveröffentlicht.) Ich selber versuche später in meiner Kant-Deutung den Gedanken der spannungsvollen Einheit der Subjektivität darzustellen, der als eine Lösung zu diesem Problem der Äußerlichkeit gelten kann. 17Offenbar ist dieses das Problem, das die deutschen Idealisten nach Kant zu überwinden versuchen. Interpreten wie John McDowell sehen also die Möglichkeit, mit den idealistischen Theorien (wie die Hegels) dieses Problem zu lösen. Vgl. McDowell 2009. McDowell sieht die Zufälligkeit der menschlichen Sinnlichkeit als Verderben der transzendentalen Deduktion Kants, deren Ziel in der Verflochtenheit zwischen Sinnlichkeit und Kategorien liege. Nach ihm kann Kant die echte Objektivität der Kategorien nicht erreichen, wenn man nicht beweist, dass die Dinge als solche unbedingt raumzeitlich geordnet sind, sondern nur wissen, dass sie uns in der raumzeitlichen Anschauung erscheinen. McDowell will zeigen, dass man diese Äußerlichkeit beseitigen muss, um Kants subjektiven Idealismus zu überwinden und von Kant zu Hegel überzugehen. Sebastian Rödl kritisiert McDowells Interpretation. Vgl. Rödl 2007. Er zeigt, dass
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8 Das Problem der Zufälligkeit der Anschauungsformen des Menschen
Philosophie Kants wirklich noch einige wichtigen Gedanken gibt, die zur Lösung dieses Problems dienen können. In den kommenden Kapiteln werde ich mit einer kritischen Deutung diese Gedanken herausarbeiten, um schließlich zu zwei Grundthesen über die Zeit respektive über den Raum zu kommen, mit denen das Problem der Zufälligkeit der menschlichen Anschauungsformen gelöst werden kann. Die Zeit, weil sie die Vermittlung in der Übertragung der kategorialen Struktur auf die sinnlichen Gegenstände ist, gilt mit den Kategorien zusammen als das Prinzip des Was-Seins der sinnlichen Dinge, während der Raum das Prinzip des Dass-Seins derselben ist.
McDowells Versuch zu Identifizierung der Kategorien mit den Schemata führen wird, die aber widerlegt werden muss. Rödl betrachtet durch seine Analyse der transzendentalen Deduktion die Form der Anschauung nicht als die Bedrohung der Gültigkeit der Kategorien, sondern als den Ausgangspunkt des Beweises dieser Gültigkeit (Vgl. S. 180: „The form of intuition enters not as a threat to the validity of the category, but as that fom which ist validity must be established“). Diese Behauptung ist m. E. zwar nicht falsch, aber gilt nur für die raumzeitlich gegebene Erscheinung; die Möglichkeit, die Gültigkeit der Kategorien durch andere Anschauung zu beweisen, wird dadurch nicht ausgeschlossen. D. h. die Notwendigkeit der Verbindung der Kategorien mit der Sinnlichkeit wird dadurch nur für uns Menschen, nicht aber als solche überhaupt begründet. Außerdem ist seine Erklärung zum Problem der Äußerlichkeit der unseren Sinnlichkeit gegenüber dem Verstand bzw. dem Ich-Denken nicht auf das Wesen dieses Problems gerichtet: Es soll dabei nicht darauf ankommen, die Sinnlichkeit dem Denken zuzuordnen, sondern darauf, wie den Grund der notwendigen Verknüpfung der Kategorien mit der Zeit und dem Raum erklärt wird.
9
Überwindung der Zufälligkeit und die Affinität zwischen den Kategorien und der Zeit
Um die Affinität zwischen der Zeit und dem Verstand bei Kant zu begründen, muss das Problem der Zufälligkeit der sinnlichen Anschauungsformen überwunden werden. Dafür muss man nicht nur beweisen, dass sich die Zeit und die Kategorien wesentlich aufeinander beziehen, sondern auch erklären, dass andere Formen der Anschauung, auch wenn sie möglich sind, nicht durch unseren Verstand und seine Kategorien bestimmt werden können – mit anderen Worten: dass der Verstand gar keine andere Anschauungsform als die so beschaffene Zeit bestimmen kann. Erst dann wird die innere und strukturelle Affinität zwischen der Zeit und dem kategorialen Denken schließlich begründet. Dies ist die Aufgabe des vorliegenden Kapitels. Ich werde diese Aufgabe mit drei Argumenten zu erfüllen versuchen. Ersten wird gezeigt, wie Kant mit einigen Denkexperimenten und vor allem mit der Lehre von dem Grenzbegriff des Noumenon im negativen Sinne erläutern wollte, dass die Kategorien und unsere Sinnlichkeit notwendig zusammengehen, und dass die beiden auf keine anderen Vorstellungsvermögen als aufeinander beziehen müssen, um Erkenntnis zustande zu bringen. Zweitens wird argumentiert, dass die Kategorien, die wir haben, die ontologische Zeit nichts andere denn als die eindimensionale ontische Zeit bestimmen, während die ontologische Zeit als solche ursprünglich schon ebenfalls eindimensional ist. Dies stellt die besondere Affinität zwischen der Zeit und unseren Kategorien dar. Schließlich wird weiter verdeutlicht, dass keine anderen möglichen Anschauungsformen unmittelbar durch die Kategorien bestimmt werden können, wie es bei der Zeit ist, so dass eine strukturelle Ähnlichkeit nicht zwischen diesen gedachten Anschauungsformen und unseren Kategorien zu finden ist. Dies gilt sogar für den Raum, die zweite Form unserer Sinnlichkeit.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Liu, Zeit und Sein des Sinnlichen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61924-7_9
143
144
9 Überwindung der Zufälligkeit und die Affinität …
9.1 Die Notwendigkeit der Bezogenheit der Kategorien auf unsere Anschauungsformen Das menschliche Denken wird als diskursive, spontane Synthesis bestimmt. An sich selbst betrachtet hat die Synthesis Geltung für alle Arten der Anschauungen, nämlich für die „Anschauung überhaupt“. Dies zeigt sich in dem Gedankengang des ersten Beweisschritts der B-Deduktion, wo Kant sich nur auf die Einheit, die „in die Anschauung vermittelst der Kategorien durch den Verstand hinzukommt“, konzentriert, weil diese Kategorien allein aus dem Verstand und unabhängig von der Art, wie wir affiziert werden, und zwar unabhängig von der Sinnlichkeit und ihren Formen, entspringen.1 Natürlich besitzen wir Menschen nur zwei Formen der Anschauung, nämlich die mit der Sinnlichkeit verbunden Formen von Zeit und Raum. In dem zweiten Schritt der B-Deduktion versucht Kant zu beweisen, dass die Einheit der empirischen, raumzeitlichen Anschauung nichts anderes als die Einheit der reinen Kategorien ist, die auf die gegebene Anschauung überhaupt angewendet werden.2 Aber trotzdem wird in dem gesamten Argumentationsgang die Beziehung der Kategorien auf die Formen der raumzeitlichen Sinnlichkeit des Menschen nur als ein Faktum erwiesen, das seinerseits wegen der Möglichkeit anderer Anschauungsformen als bloß zufällig scheint. Allein in einigen Stellen konzipiert Kant, was passieren würde, wenn die Kategorien mit anderer Formen der Anschauung verbunden würden, um den einzigen möglichen Umfang der Erkenntnis zu explizieren. Dies zeigt sich schließlich deutlicher in Kants Lehre von dem Grenzbegriff des Noumenon im negativen Sinne.
9.1.1 Die Ausschließung der intellektuellen Anschauung Es wird zuerst die Möglichkeit einer nicht sinnlichen, und zwar intellektuellen Anschauungsform ausgeschlossen. Davon hat Kant selbst gesprochen, obwohl aus einer anderen Absicht als meine hier. Es ist klar, dass die reinen Verstandesbegriffe zu dieser Anschauungsform nicht passen. Denn die reinen Verstandesbegriffe sind eine Erkennensweise, die diskursiv verfährt, d. h. sie müssen auf die gegebene sinnliche Anschauung angewendet werden – eine sinnliche Anschauung, die mit Rezeptivität notwendig verbunden ist, deshalb ein
1KrV, 2KrV,
B 144. B 145, B 169.
9.1 Die Notwendigkeit der Bezogenheit der Kategorien …
145
sogenannter intuitus derivativus.3 Die intellektuelle Anschauung ist hingegen eine „ursprüngliche“ Anschauung, die durch sich selbst ihre Inhalten anbieten können, nämlich „eine solche ist, durch die selbst das Dasein des Objekts der Anschauung gegeben wird.“4 Dieser intuitus originarius geht wegen seines Anschauungscharakters direkt auf die Objekte und braucht deshalb kein diskursives Denken mehr, wie das unsere Denken. Folglich würde eine spontane Synthesis unseres Verstandes überflüssig sein, und auch die Kategorien als die Einheiten dieser Synthesis würden alsdann überflüssig sein. Die Kategorien gelten also nicht für eine solche intellektuelle Anschauung. Die Inhalte einer solchen Anschauung drängen sich einander durch, und alles wäre einmal durchsichtig und ineinander enthalten – eine mögliche Szene, wie man bei der alte, (neu)platonischen Ontologie einmal vorgestellt hat. Außerdem ist ebenso offensichtlich, dass diese Art des Erkennens der intellektuellen Anschauung für Kant und auch für uns nicht vorstellbar ist, weil es außer den Grenzen unserer Fähigkeiten des Erkennens liegt. Deshalb ist sie für die transzendentale Philosophie, die sich nur mit den Bedingungen der Möglichkeit unserer Erkenntnis beschäftigt, gar kein Thema. Aus diesen Gründen kann der Begriff der intellektuellen Anschauung als eine Grenze für unsere Erkenntnisfähigkeiten dienen.
9.1.2 Die menschliche sinnliche Anschauung als das notwendige Anwendungsfeld der Kategorien. Vom ersten Denkexperiment Kants Wenn es überhaupt nicht möglich, dass eine intellektuelle Anschauung zu unserem Denken passt, könnte es sich aber weiter fragen, ob es darüber hinaus noch andere Formen der sinnlichen Anschauung geben könne, die mit den Kategorien des menschlichen Verstandes zusammenstimmen. Zu diesem Problem hat Kant selbst in der Kritik zwei Denkexperimente durchgeführt. In den beiden Kontexten, in denen sich die zwei Denkexperimente befinden, geht es ursprünglich um das Problem, die Grenze des Gebrauchs der reinen Verstandesbegriffe zu bestimmen, aber wir können diese Denkexperimente zum Zweck der Begründung der notwendigen Bezogenheit der Kategorien auf die Formen der Sinnlichkeit, besonders auf die Zeit, interpretieren. Diese beiden Denkexperimente können von
3KrV, 4KrV,
B 72. B 72.
146
9 Überwindung der Zufälligkeit und die Affinität …
Kant nur auf negative Weise ausgedacht werden, weil Kant auch nicht fähig ist, sich eine Erkenntnis ohne Anschauung zu denken. Davon kann man deshalb auch nichts positives Inhaltliches über andere möglichen Anschauungen abgewinnen. Man kann darin nur einsehen, dass wir ohne unsere Anschauungsformen von gar keiner Erkenntnis reden könnten. Das erste Denkexperiment liegt in der B-Deduktion der Kategorien. Nachdem Kant es klar dargestellt hat, dass die reinen Formen unserer sinnlichen Anschauung ihre Geltung in dem Bereich der Sinnengegenstände, und zwar der Erfahrung, einschränken, sagt Kant sofort in dem § 23, dass die reinen Verstandesbegriffe aber von dieser Einschränkung befreit sind, so dass sie auf die Gegenstände der Anschauung überhaupt erstrecken können.5 Dadurch, wie vorher erklärt, zeigt sich gleichsam die Zufälligkeit unserer sinnlichen Anschauungsformen, weil es so scheint, dass unsere sinnlichen Anschauungsformen nur zufällig in der Zeit und dem Raum gelandet werden, wobei die Möglichkeit aller anderen sinnliche Anschauungsformen uns noch offen zu sein scheinen. Er argumentiert aber anschließend sofort, dass ohne unsere sinnlichen Anschauungen die Begriffe leer und bloße Gedankenformen, deswegen ohne Bedeutung und Sinn, sind. Um dies zu begründen, führt er ein Denkexperiment durch, indem er ein Objekt einer nicht-sinnlichen Anschauung annimmt. Wenn er dennoch alles von dem Objekt wegnimmt, das der sinnlichen Anschauung gehört, können wir dann keine Erkenntnis besitzen, weil wir alsdann nur die Anschauung des Objekts negativ mit dem Prädikat „nicht sei“ anzeigen können, wie z. B. „man kann sich bei diesem Objekt kein Quantum denken“ oder „die Dauer dieses Objekts sei keine Zeit“, wodurch wir leider gar keine positive Erkenntnis über ein Objekt bekommen. Deshalb liegt die einzige Möglichkeit einer Vorstellung des Objekts, mithin die Möglichkeit des Objekts selbst, allein in unserer sinnlichen Anschauung; für uns ist die sinnliche Anschauung das notwendige und einzige Anwendungsfeld.
5KrV,
B 148: „Die reinen Verstandesbegriffe sind von dieser Einschränkung frei, und erstrecken sich auf Gegenstände der Anschauung überhaupt, sie mag der unsrigen ähnlich sein oder nicht, wenn sie nur sinnlich und nicht intellektuell ist.“
9.1 Die Notwendigkeit der Bezogenheit der Kategorien …
147
9.1.3 Von der Unmöglichkeit, die Bedeutung der Kategorien durch andere Anschauungsformen zu verschaffen. Vom zweiten Denkexperiment Kants Dennoch rechtfertigt dies die innere Bezogenheit des Verstandes auf unsere sinnliche Anschauung noch nicht, weil, obwohl die Bedeutung der Kategorien nur vermittels unserer sinnlichen Anschauung geschaffen wird, es auch sein könnte, dass es überhaupt andere sinnliche Anschauungsart als Raum und Zeit gibt. Das Problem der Zufälligkeit der menschlichen Anschauungsformen wird dadurch noch nicht gelöst. Nun stellt sich aber die Frage: was wollte Kant eigentlich damit meinen? Ist er wirklich der Überzeugung, dass unsere Sinnlichkeit ausschließlich auf dem Faktum beruht, dass wir nur diese Anschauungsformen Raum und Zeit haben? Mit anderen Worten: Haben wir diese zwei Anschauungsformen nur aus purer Zufälligkeit, und zwar als ein Faktum, sofern es immer die Möglichkeit gibt, dass es andere Lebewesen geben könnte, die andere sinnliche Anschauungsformen besitzen? Im Hauptstück „Phänomena und Noumena“ in der Kritik kann man etwas Aufschlussreiches für die Lösung dieses schwierigen Problems finden. Dort betont Kant, dass der Verstand niemals von seinen Begriffen einen transzendentalen Gebrauch machen soll, weil ihnen dabei Inhalte fehlen, ohne welche die Begriffe der Möglichkeit eines Objekts überhaupt beraubt werden. Darum begrenzt er die reinen Verstandesbegriffe auf ihren empirischen Gebrauch. Kant schreibt folglich ein weiteres Denkexperiment auf, in dem dargestellt wird, was bei den Kategorien passieren würde, wenn man die Bedingung der Sinnlichkeit, und vor allem die Zeit, wegnähme.6 Mit der Aufzählung aller Kategorien zeigt Kant schließlich, dass jede dieser Kategorien in der Tat nur in der Sinnlichkeit, und hier besonders in der Zeit, Sinn und Bedeutung haben kann. Sonst wäre ein reiner Verstandesbegriff nichts anderer als die „logische Vorstellung“; er hat „keine Bestimmung […], wie er auf irgend ein Objekt passe“.7 – Ohne die Beharrlichkeit in der Zeit z. B. wäre die Kategorie der Substanz eine bloße logische Vorstellung von etwas, was nur als Subjekt stattfindet, ohne Bedingung für eine Gegenstandesbestimmung anzugeben. Und ohne die Sukzession in der Zeit bezeichnete die Kategorie der Kausalität nur den logischen Begriff der Zufälligkeit eines Dings, sofern sein Dasein auf das Dasein eines anderen Dings angewiesen wird, aber die Bedingung, unter deren sich diese Angewiesenheit erkennen lässt, würde
6Vgl.
KrV, B 300ff. 243/B 301.
7KrV, A
148
9 Überwindung der Zufälligkeit und die Affinität …
dadurch nicht angeben. – Daraus schließt Kant, dass wir die Kategorie nicht real definieren können, es sei denn, dass wir „uns sofort zu Bedingungen der Sinnlichkeit … herab[]lassen“8, weil uns die Möglichkeit eines Objekts allein mit dem Bezug auf die sinnlichen Anschauung erst verständlich ist. Denn die Beziehung auf einen Gegenstand oder die Gegebenheit eines Gegenstandes uns erst durch die Form der Sinnlichkeit möglich ist. Mit diesem weiteren Gedankenexperiment zeigt Kant einerseits, dass wir keinen transzendentalen Gebrauch von Kategorien machen können, wo wir die Bedingung der Sinnlichkeit wegnehmen. Andererseits aber, dass es für Kant gar nicht möglich ist, eine andere sinnliche Form der Anschauung anzunehmen, die unseren Kategorien Sinn und Bedeutung geben kann. Denn sogar dieses Experiment macht Kant nur auf negative Weise, d. h., er kann auch nicht positiv eine andere Anschauungsform annehmen, damit er die Kategorien andersartig darlegen sollte. Doch mit dieser Erklärung können wir auch noch nur das Ergebnis erzielen, dass die Kategorien und unsere Anschauungsformen (hier besonders die Zeit) sich für uns notwendig aufeinander beziehen sollen, aber noch nicht, dass sie beide schon an sich selbst notwendig aufeinander beziehen.
9.1.4 Von der Unmöglichkeit eines anderen Gegenstandsbereiches. Kants Lehre des Noumenon als Grenzbegriff Die obigen Deutungsversuche können durch Kants Lehre des Grenzbegriffs des Noumenon weiter ergänzt werden. Diese Lehre erläutert Kant in seiner Theorie von Noumenon im negativen Sinne. Ein Noumenon kommt dadurch vor, dass wir natürlicherweise ein Objekt, das über die Sinnlichkeit hinaus geht, annehmen würden, während wir der transzendentalen Ästhetik gemäß die uns durch die Formen der Sinnlichkeit gegebenen Gegenstände als „Erscheinungen“ betrachten.9 Dennoch nimmt Kant immer die Stellung eines Noumenon „im
8KrV,
B 300 /A241f. A 251f.: „… es folgt auch natürlicher Weise aus dem Begriffe einer Erscheinung überhaupt: daß ihr etwas entsprechen müsse, was an sich nicht Erscheinung ist, … mithin, … das Wort Erscheinung schon eine Beziehung auf Etwas anzeigt, dessen unmittelbare Vorstellung zwar sinnlich ist, was aber an sich selbst, auch ohne diese Beschaffenheit unserer Sinnlichkeit, … d. i. ein von der Sinnlichkeit unabhängiger Gegenstand sein muß.“ Vgl. auch Prolegomena, KGS IV, S. 355: „… Erscheinungen doch jederzeit eine Sache an sich selbst voraussetzen, und also darauf Anzeige tun, man mag sie nun näher erkennen, oder nicht.“ 9KrV,
9.1 Die Notwendigkeit der Bezogenheit der Kategorien …
149
negativen Verstande“, und zwar keines positiven bestimmten Begriffs desselben. Für Kant ist es sehr klar, dass eine Erkenntnis als solche jederzeit eines positiven bestimmten Begriffs von ihrem Gegenstand bedarf, und dass jede Denkhandlung ihren Gegenstand erst dann bestimmen kann, wenn ihr der Gegenstand gegeben wird. Dies besagt, dass ein Noumenon erst dann ein positiver Begriff ist, wenn diesem Noumenon zugleich sein Inhalt gegeben wird. Man kann aber sofort einsehen, dass von einem sich über die Sinnlichkeit erstreckendes Gedankending, nämlich dem Ding an sich, weit noch kein bestimmter Begriff gemacht werden kann, weil dieses Gedankending allein allenfalls ein unbestimmter Gedanke von Etwas überhaupt ist.10 Es ist nur ein formaler Platzhalter des bloßen Gedachtwerdens ist, der noch auf eine gegebene Anschauung wartet. Ein Noumenon im positiven Sinne kann nur „ein Objekt einer nicht sinnlichen Anschauung“ sein,11 wofür nach Kant eine besondere Anschauungsart angenommen werden muss, nämlich eine intellektuelle Anschauung, die durch ihr Anschauen zugleich das Angeschaute hervorbringt. Aber wir haben leider gar kein Recht, ein solche Anschauungsart als etwas über unsere Fähigkeiten hinaus grundlos zu setzen. Vielmehr ist eine solche Setzung allenfalls eine negative Erweiterung einer unserer Fähigkeiten. Denn die Möglichkeit einer solchen Anschauung ist dadurch offen, dass wir uns ein Ding noch vorstellen wollen, wenn wir von unserer sinnlichen Bedingung abstrahiert haben. Dieses Ding ist ein postuliertes Etwas, indem wir bloß den Verstand und seine Funktion isoliert betrachtet und alles, was der Sinnlichkeit gehört, wegnehmen. Dadurch aber erhalten wir in der Tat nur die Vorstellung eines Gegenstandes der sinnlichen Anschauung überhaupt, der das Korrespondierende der synthetischen Einheit des Selbstbewusstseins ist. Kant nennt ein solches Gedankending in dieser Hinsicht das Noumenon im negativen Sinne, ein Ding an sich.12 Es ist deshalb nur ein postuliertes Etwas, eine negative Erweiterung des Verstandes, eine unvermeidliche Setzung, wenn wir die Sinnlichkeit und den Verstand trotz ihrer unzertrennbaren Beziehung isoliert betrachten wollen. Dies ist der Gedanke des „transzendentalen Gegenstandes = X“ in der Kategoriendeduktion der A-Auflage13, und ist m. E. auch gerade der implizierte Gedankengang, dem Kant folgt, wenn er die B-Deduktion in zwei Schritte einteilt, in dem ersten von denen die synthetische Einheit der Kategorien abstrahiert von den Arten der sinnlichen
10KrV, A
253. B 307f. 12KrV, B 307. 13Vgl. KrV, A 104. 11KrV,
150
9 Überwindung der Zufälligkeit und die Affinität …
Gegebenheit in Betracht kommt, obwohl er das Korrespondierende dieser Einheit nicht explizit als Noumenon oder transzendentalen Gegenstand nennt.14 Ich möchte diese Funktion des Begriffs des Noumenon einen „Stellebegriff“ nennen, denn er gilt als ein Platzhalter für den gedanklichen Gegenstand überhaupt, der noch durch die sinnliche Anschauung ergänzt werden muss. Die Funktion des Noumenon im negativen Sinne kann sich auch von diesem Stellebegriff in einen „Grenzbegriff“ verwandeln. Mit der Kennzeichnung des Noumenon als Grenzbegriff hat Kant den Zweck, die Sinnlichkeit zu beschränken. D. h., die sinnliche Anschauung soll sich nicht auf die Dinge an sich erstrecken, sondern bei dem Phänomen stehen bleiben, das durch die Einheit der Apperzeption bestimmt wird. Deshalb ist der Fall nicht es, wie die Argumentation in der Deduktion zuerst scheint, dass die Sinnlichkeit den Verstand hinsichtlich seiner Anwendungsgültigkeit einschränkt, sondern gerade umgekehrt, dass der Verstand die Sinnlichkeit einschränken soll.15 Dadurch schränkt er sich selbst auch zugleich ein,16 so dass er dasjenige nicht erkennen darf, das nicht sinnlich gegeben werden kann. Daher bedeutet der Grenzbegriff nicht, dass man durch die Ausmalung der Grenze einen Gegenstandsbereich zunächst konzipiert und ihn für unerkannt hält. Dies setzt seinerseits eigentlich schon die Überschreitung der Erkenntnisvermögen des Subjekts voraus.17 Vielmehr verweist Kant mit jener
14Vgl.
KrV, B 144. A 256/B 312: „Unser Verstand bekommt nun auf diese Weise eine negative Erweiterung, d. i. er wird nicht durch die Sinnlichkeit eingeschränkt, sondern schränkt vielmehr dieselbe ein…“ 16KrV, A 256/B 312: „Aber er [d. i. der Verstand] setzt sich auch so fort selbst Grenzen, sie [d. i. Noumena] durch keine Kategorien zu erkennen, mithin sie nur unter dem Namen eines unbekannten Etwas zu denken.“ 17Eben auf diese Weise versteht Peter Strawson die Konzeption des Grenzbegriffs Kants und kritisiert er daher, dass Kant bei dieser Konzeption sich selbst widerspreche. Vgl. Strawson 1966, p. 12: “Dogmatic rationalism exceeds the upper bound of sense, as classical empiricism falls short of the lower. But Kant’s arguments for these limiting conclusions are developed within the framework of a set of doctrines which themselves appear to violate his own critical principles. He seeks to draw the bounds of sense from a point outside them, a point which, if they are rightly draw, cannot exist.” Ihm folgt Henry Allison auch in dieser Ansicht, indem in seiner Interpretation der „Grenzbegriff“ des Dings an sich nur streifend auf folgende Weise gedeutet wird: Da wir Menschen kein Vermögen der intellektuellen Anschauung haben, wird das Noumenon unter unseren Erkenntnisbedingungen nur als ein unbekanntes Etwas gedacht, das seinerseits die Grenz unserer sinnlichen Erkenntnis ausmacht. (Allison 2004, p. 58 ff.) Nach meiner Deutung in dem kommenden Text ist eine solche Interpretation einseitig und in der Tat irrführend. 15KrV,
9.1 Die Notwendigkeit der Bezogenheit der Kategorien …
151
doppelten Beschränkung, in der sowohl die Sinnlichkeit als auch der Verstand betroffen werden, auf die notwendige Übereinstimmung zwischen beiden. Mit anderen Worten wird durch den Grenzbegriff des Noumenon gekennzeichnet, wie weit unsere Erkenntnisvermögen ihre Leistungen vollbringen. Und dafür ist nicht nötig, die Erkenntnisfähigkeiten zu überschreiten. Mit dem Gedanken des Grenzbegriffs wird die Bedeutung des Noumenon im negativen Sinne auch tiefer bestimmt. Dieses ist nun nicht deswegen im „negativen Sinne“, weil von ihm wir zwar einen Begriff, aber keine adäquate Anschauung und also kein bestimmter Begriff haben können, sondern deswegen, weil die Annahme des Noumenon zugleich die Aufhebung der Möglichkeit jeder Einsicht von ihm in sich impliziert. Der Begriff des Noumenon hat keine inhaltliche Bestimmung; mit seiner Annahme wird nur gezeigt, dass „der Umfang außer der Sphäre der Erscheinungen“ gar kein Gegenstand der Erkenntnis ist.18 In dieser Hinsicht nennt Kant das Noumenon die „negative Erweiterung“ unseres Verstandes.19 Es ist eine „Erweiterung“, weil man sich durch es einen andersartigen, intuitiven Verstande vorstellt, der es in einer nichtsinnlicher Anschauung erkennt.20 Diese Erweiterung ist aber eigentlich „negative“, d. h. kein wahrhafter Gegenstandsbereich wird dadurch eingeführt; diese „negative Erweiterung“ bedeutet vielmehr, dass der Verstand und die Sinnlichkeit sich auf keine anderen möglichen Vorstellungsvermögen als aufeinander beziehen können. Kant redet nicht nur von der Zufälligkeit der Sinnlichkeit, sondern auch, wie schon erwähnt, einmal in der B-Deduktion von der Zufälligkeit unserer Verstandesbegriffe: Wir können kaum einen Grund angeben, „warum wir gerade diese und keine anderen Funktionen zu urteilen haben, oder warum Zeit und Raum die einzigen Formen unserer möglichen Anschauung sind.“21 Man kann diese beiden Klassen der Erkenntnisformen demnach sogar so betrachten, dass sie für uns in gleicher Maße zufällig bzw. notwendig sind. Obwohl Kant aufgrund seines eigenen Standpunkts die Möglichkeit anderer Vorstellungsvermögen nicht ausschließen kann, wollte er mit dem Gedanken des Grenzbegriffs des Noumenon die notwendige Bezogenheit des menschlichen Verstandes auf die sinnliche
18KrV, A
255/B 310. 256/B 312. 20KrV, A 256/B 311f. 21KrV, B 146. 19KrV, A
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9 Überwindung der Zufälligkeit und die Affinität …
Anschauung beweisen, indem er darin eine doppelte Beschränkung und eine negative Erweiterung denkt. Dass die Beschränkung der Sinnlichkeit außerdem auch praktisch-philosophische Absicht impliziert, nämlich den Schutz des Bereichs der Moral gegen die Gefährdung von dem Sinnlichen, ist kein Thema der theoretischen Philosophie und wird also hier nicht weiter besprochen.
9.2 Die Eindimensionalität der Zeit selbst und die strukturelle Affinität zwischen Zeit und Kategorien Nun werden die menschlichen Sinnlichkeitsformen und die Kategorien als einander notwendig zusammenstimmend betrachtet. Sie gelten als die einzigen Bedingungen der Erkenntnis; die anderen Anschauungsformen, auch wenn sie möglich sind, haben nichts mit der Erkenntnis der Gegenstände zu tun. Aber die obige Erklärung dieser Zusammenstimmung betrachtete nur das funktionale Verhältnis der beiden und betraf noch nicht die innere Verfassung der Anschauungsformen und die der Kategorien. Im Folgenden möchte ich aus dem Problem der Eindimensionalität der ontischen Zeit die Affinität zwischen Kategorien und Zeit in ihrer inneren Struktur zeigen. Wir haben nicht nur die Zeit unbewusst als eine Form unserer Anschauung, sondern wir können uns sie auch als objektive Zeit vorstellen. Aber ohne Kategorien könnten wir nichts denken und hätten also überhaupt kein Zeitbewusstsein. Die Zeit würde für uns alsdann vor allem eine Differenzierungsfunktion sein. Wir hätten also nur viele schon differenzierte Mannigfaltigen, die uns überall ungeformt und unregelmäßig nacheinander vorliegen – ein totales Chaos. Das Selbstbewusstsein und die Kategorien geben erst diejenigen Regeln, welche die objektive Zeit für uns verständlich und begreifbar machen. Die ontische Zeit ist deshalb schon die bestimmbare Zeit. Allein durch solche Kategorien wird die Zeit mit Bestimmtheit konstituiert und scheint uns deshalb als etwas Vorstellbares. Man kann sich aber weiter fragen, wie die Zeit als die Form der Anschauung (die ontologische Zeit), die dann auf der ontischen Ebene als eindimensionale objektive Zeit bestimmt wird, an sich selbst beschaffen ist. Da sie nichts andere als die formale Bedingung der Anschauung ist, können wir uns diese Bedingung nicht unmittelbar vorstellen, wie sie ist. Aber andererseits bemerken wir, dass wir uns das Mannigfaltige der Anschauung nicht als ein solches vorstellen können, wenn wir die Zeit nicht zuerst in der Folge der Eindrücke aufeinander unterscheiden – so spricht Kant über die Synthesis der Apprehension in der ersten
9.2 Die Eindimensionalität der Zeit selbst und die strukturelle …
153
Auflage der Kategoriendeduktion.22 Dies deutet schon an, dass die Zeit als ontologische Zeit bzw. Form der Anschauung schon eine eindimensionale Vorgestalt hat: Die Zeit ist verantwortlich für die Differenzierung des Mannigfaltigen und auch dafür, dass das differenzierte Mannigfaltige in eine nacheinander durchlaufende Reihenfolge geordnet werden kann, und hat schon von sich selbst her die Vorform des Nacheinanders bzw. der Eindimensionalität, auch ohne die Mitwirkung der Kategorien, obwohl wir diese Zeit als solche in ihrer Eindimensionalität nicht begreifen können. Dies zeigt, dass die ontologische Zeit und die ontische Zeit in der Tat eine und dieselbe Zeit ist, obwohl einmal auf der transzendentalen Ebene als Form der Anschauung, ein andermal aber auf der ontischen und gegenständlichen Ebene als die objektiv vorgestellte Zeit.23 Ich möchte hier verdeutlichen, dass die von uns besessenen Kategorien nur imstande sind, die eindimensional vorgeformte Zeit schließlich als eindimensionale objektive Zeit zu bestimmen. Es ist nun ein Faktum, dass die objektive Zeit, die wir jetzt haben, eindimensional ist. Und zuvor haben wir erwähnt, dass die ontologische Zeit, weil das Mannigfaltige in der Apprehension nacheinander vorgestellt wird, ebenfalls eine eindimensionale Vorform haben soll. Es fragt sich aber, mit welcher Struktur die Kategorien dazu fähig sind, vermittels dieses nacheinander apprehendierten Mannigfaltigen die eindimensional vorgeformte Zeit als eine einheitliche eindimensionale objektive Zeit zu bestimmen und vorstellig zu machen. Denn das Mannigfaltige wird zwar immer nacheinander apprehendiert, aber die Apprehensionen können vielmals getrennt geschehen, wenn man z. B. jederzeit ein Ding wahrzunehmen anfängt und zur Apprehension bringt. Dadurch könnten viele „Zeitstücken“ entstehen, die verstreut und voneinander unabhängig wären. Diese durch die in verschiedenen Fällen apprehendierten Mannigfaltigen separat und getrennt vorgestellten Zeitstücke könnten dazu führen, dass man die Zusammenhänge der Dinge nicht in einer einheitlichen objektiven Zeit denken kann. Dabei könnten wir uns auch keine einheitliche eindimensionale Zeit vorstellen, denn die Eindimensionalität
22KrV,
A 99: „Jede Anschauung enthält ein Mannigfaltiges in sich, welches doch nicht als ein solches vorgestellt werden würde, wenn das Gemüt nicht die Zeit, in der Folge der Eindrücke auf einander unterschiede: denn als in einem Augenblick enthalten, kann jede Vorstellung niemals etwas anderes, als absolute Einheit sein.“ Zu diesem Punkt vgl. Abschnitt 10.1 über die Zeitbestimmung nach der Quantität-Kategorie in der vorliegenden Arbeit. 23Hier liegt wahrscheinlich der Grund dafür, warum Kant selber nicht explizit zwischen der ontologischen Zeit als Form der Anschauung und der ontischen, objektiven Zeit eine terminologische Unterscheidung gemacht hat.
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9 Überwindung der Zufälligkeit und die Affinität …
der Zeit kann nur auf der den Dingen gemeinsamen einzigen Zeit beruhen. In diesem Sinne können wir uns durch die Vorform des Nacheinander des Mannigfaltigen allein die eindimensionale objektive Zeit nicht vorstellen, obwohl das Eintreten des Mannigfaltigen in unsere Vorstellungen, und zwar die Apprehension, notwendigerweise in der Gestalt des eindimensionalen Nacheinander geschieht. Nun ist es eben die spezifischen Funktionen der Relationskategorien, welche es ermöglichen, eine eindimensionale Vorform der ontologischen Zeit als eindimensionale objektive Zeit zu bestimmen: (1) Die Kategorie der Substanz bezeichnet die Zeit selbst als das verbleibende, unwandelbare und einheitliche Substrat aller Zeitbestimmungen und Zeitveränderungen, was dazu führt, dass diese Zeitbestimmungen und -veränderungen einer und derselben Zeit gehören.24 (2) Die Kategorie der Kausalität ermöglicht durch die Sukzessivität, in der eines folgt, wenn anderes gesetzt wird, die Irreversibilität der Zeit; d. h., diese richten sich nur auf die Zukunft, was gerade mit der NacheinanderFolge des Mannigfaltigen in der Apprehension übereinstimmt. (3) Auch unter den Umständen, dass die Zeit das unwandelbare Substrat und irreversibel ist, ist es doch möglich, dass mehrere sukzessive Reihen der Nacheinander-Folge des Mannigfaltigen ohne allen Bezug aufeinander selbständig verlaufen. Die Kategorie der Gemeinschaft bzw. der Wechselwirkung dient dann dazu, die verschiedenen sukzessive Zeitreihen aufeinander zu beziehen, so dass sie sich auf eine und dieselbe Zukunft (statt auf mehrere „Zukünften“) richten und daher zu derselben Zeitdimension gehören,25 wobei die Vielfältigkeit der Erfahrung aber nicht dadurch aufgehoben wird, weil in diesen Zeitreihen verschiedene kausale Verhältnisse bestehen. In dem Kapitel 10 werde ich die konstitutive Leistung der Relationskategorien für die objektive Zeit ausführlicher behandeln; hier möchte ich aus den obigen kurzen Erläuterungen nur zeigen, dass die Kategorien der
24KrV,
A 188/B 232: „Substanzen (in der Erscheinung) sind die Substrate aller Zeitbestimmungen. Das Entstehen einiger, und das Vergehen anderer derselben, würde selbst die einzige Bedingung der empirischen Einheit der Zeit aufheben, und die Erscheinungen würden sich alsdenn auf zweierlei Zeiten beziehen, in denen neben einander das Dasein verflösse, welches ungereimt ist. Denn es ist nur Eine Zeit, in welcher alle verschiedene Zeiten nicht zugleich, sondern nach einander gesetzt werden müssen.“ 25KrV, A 213f./B 261: „Ohne Gemeinschaft ist jede Wahrnehmung (…) von den anderen abgebrochen, und die Kette empirischer Vorstellungen, d. i. Erfahrung, würde bei einem neuen Objekt ganz von vorne anfangen, ohne daß die vorige damit im geringsten zusammenhängen, oder im Zeitverhältnisse stehen könnte.“
9.3 Die transzendentale Unbestimmbarkeit des Raums …
155
Relation, wenn sie zugleich durch die anderen Kategorien ergänzt werden, die zureichende Bedingung für die Konstitution einer einheitlichen eindimensionalen Zeit aus dem nacheinander apprehendierten Mannigfaltigen sind. Es ist dadurch ein zusehen, dass es eine strukturelle Affinität zwischen unseren Kategorien einerseits und der Zeit andererseits, sowohl der eindimensional vorgeformten ontologischen Zeit als auch der eindimensionalen ontischen, objektiven Zeit, besteht. Aus dieser Erläuterung ist einzusehen, dass die Zeit als Form der Anschauung von vorherein eindimensional ist. Diese ist eine spezielle Form, die wir nur mithilfe des Verstandes begreifen können, die aber selbst nicht intelligibel ist. Wir können davon sogar weiter feststellen: Die Tatsache, dass die Zeit selbst als Form der Anschauung eindimensional und die durch die Kategorien bestimmte Zeit auch ebenso eindimensional ist, bedeutet, dass die Kategorien die Zeit unbedingt nicht anders als eindimensional bestimmen. Darin zeigt sich die strukturelle Ähnlichkeit zwischen der Zeit und unseren Kategorien, die ich als Affinität beider bezeichne. Sie beide sind aufeinander gegenseitig bezogen, oder man kann sogar sagen: sie beide sind wesentlich voneinander abhängig. Freilich will meine Arbeit sich nicht anmaßen, zu begründen, dass der menschliche Verstand und die eindimensionale Zeit in ihrem Wesen und inneren Auffassungen miteinander übereinstimmen; ich möchte vielmehr durch die obige Erläuterung nur zeigen, dass die beiden zumindest in gleicher Maße notwendig bzw. zufällig und hinsichtlich ihrer Formen voneinander abhängigen sind. Diese gegenseitige formale Abhängigkeit der beiden erweist sich als eine Notwendigkeit der menschlichen Erkenntnisfähigkeit.
9.3 Die transzendentale Unbestimmbarkeit des Raums und anderer weiteren möglichen Anschauungsformen durch die Kategorien Wir haben zuvor hinsichtlich dessen, dass die Zeit durch die Kategorien als eindimensional bestimmt wird, die Affinität zwischen den Kategorien und der Zeit erörtert. Um diese Affinität weiter zu beweisen, möchte ich im Folgenden versuchen, zu zeigen, dass andere möglichen Anschauungsformen nicht durch die Kategorien auf ähnliche Weise bestimmt werden, so dass man bei diesen Anschauungsformen keine Strukturgleichheit mit den Kategorien zu sehen. Dies gilt auch für den Raum, die zweite Anschauungsform des Menschen. Wir beginnen unsere Erläuterung also mit dem Verhältnis des Raums zu den Kategorien.
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9 Überwindung der Zufälligkeit und die Affinität …
9.3.1 Die transzendentale Unbestimmbarkeit des Raums Dass der Raum dreidimensional ist und deshalb drei Abmessungen hat, und dass der Raum der Grund für das Außer- und Nebeneinandersein der Gegenstände ist, wird von Kant akzeptiert.26 Die Bestimmungen der Dreidimensionalität und dieses Neben- und Außereinanderseins des Raumes näher zu explizieren, dafür hat Kant aber in der Kritik niemals die Möglichkeit. Obwohl Kant in der zweiten Auflage der Kritik einige Ergänzungen und Änderungen über den Raum hinzufügt, wird die Betonung dennoch niemals auf die Bestimmungen des Raumes als solche gelegen, sondern nur auf die Rolle des Raums für den Beweis der Außerwelt und für die Darstellung der objektiven Realität der Kategorien. Es ist auch bemerkenswert, dass Kant in dem Schematismus-Kapitel nur die transzendentalen Zeitbestimmungen als die Bedingung für die Anwendung der Kategorien auf die Sinnlichkeit betrachtet. Manche interpretieren dies als eine Vernachlässigung von Kant und behaupten, Kant sollte die Raum-Schemata ausarbeiten, um die sinnlichen Bedingungen für die Anwendung der Kategorien vollkommen darzutun. Ich habe anderswo argumentiert, dass in der Tat ein RaumSchematismus, und besonders ein transzendentales Raumschema, für Kant nicht nur unnötig, sondern auch unmöglich ist.27 Für Kant wird mit dem Raum als der Form der äußeren Anschauung das Mannigfaltige immer schon in dem Zustand des Nebeneinanderseins vorgestellt. Dass der Raum dabei als dreidimensional vorgestellt wird, darauf haben die Kategorien aber keine Auswirkung. Der Grund dafür kann erstens darin liegen, dass die Kategorien, soweit die Bestimmungen durch sie nur in unserem Gemüt bzw. dem inneren Sinn als die Modifikationen desselben geschehen können, den Raum auf transzendentale Weise nicht bestimmen können. Es gibt
26KrV, A
23/B 38, B 41. Liu 2018. Ich zeige dort, dass die Gründe, ein räumliches Verhältnis in einem Gegenstand zu bestimmen, nicht unbedingt in etwas wie einem Raum-Schema liegen, weil eine solche Bestimmung des Raumverhältnisses durch die Schemata von den Kategorien der Quantität und Qualität allein zustande kommen kann, indem der Raum dasselbe Mannigfaltige mit der Zeit als seinen Gegenstand teilt. Deswegen ist ein transzendentales Raumschema nicht nötig für die Konstitution eines Raumverhältnisses in dem Gegenstand. Außerdem sind die transzendentalen Raumschemata auch nicht möglich, weil der Raum nur die Form der äußeren Anschauung ist, aber die Anwendung der Kategorie auf die Sinnlichkeit allein in dem inneren Zustand unseres Gemütes stattfinden kann. Also spielt der Raum in dieser Anwendung gar keine Rolle.
27Vgl.
9.3 Die transzendentale Unbestimmbarkeit des Raums …
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deshalb nur unmittelbare, und zwar transzendentale kategoriale Bestimmungen der Zeit, nicht aber des Raums. Natürlich bedeutet dies nicht, dass die Kategorien einfach deswegen die Zeit transzendental bestimmen können und den Raum aber nicht, weil die Zeit die Form des „inneren“ Sinnes ist und der Raum aber die Form des „äußeren“ Sinnes. Das sogenannte „Innere“ und „Äußere“ ist nur eine oberflächliche Beschreibung. Vielmehr ist die „Innerlichkeit“ des inneren Sinnes und die „Äußerlichkeit“ des äußeren Sinnes und ihre Beziehung auf das Denken umgekehrt nur dann begründet wird, wenn die Affinität zwischen Zeit und dem kategorialen Verstand, die besondere Stelle des Raums (nämlich die transzendentale Unbestimmbarkeit desselben durch die Kategorien) sowie die jeweiligen ontologischen Leistungen der Zeit und des Raums zureichend erklärt werden. Der zweite Grund dafür kann es sein, dass die Dreidimensionalität des Raums nicht die Leistung der kategorialen Bestimmungen sein kann. Es ist kaum möglich zu sehen, wie die Kategorien diesen Raum als eine Form der Anschauung zum ontischen Raum bestimmen und konstituieren, wie man bei der Zeit erfährt. Auch wenn die Kategorien irgendwie den Raum bestimmen könnten, würde auch keine Konstitution eines dreidimensionalen Raums dadurch vollzogen werden. Denn die Kategorien, wie Kant sie definiert, enthalten keine Elemente, die diese Arbeit leisten können, sofern die Relationskategorien, wie gezeigt, schon mit der Eindimensionalität eng verbunden werden und daher mit der Dreidimensionalität des Raums nicht übereinstimmen. Der Raum ist also nicht mit den Kategorien der Struktur nach einstimmig, wie man bei der Zeit eingesehen hat. Die transzendentale Bestimmung des Raums durch die Kategorien ist also nicht möglich. Dies bedeutet natürlich nicht, dass keine Bestimmungen des Raums möglich sind. Wir haben ohnehin objektive räumliche Bestimmungen. Aber diese objektiven Raumbestimmungen werden nicht unmittelbar von den Kategorien geleistet. Denn die objektiven Raumbestimmungen der Dinge werden in der Tat von den entsprechenden empirischen Begriffen (z. B. dem Begriff des Hauses) oder reinen sinnlichen Begriffen (z. B. dem Begriff des Dreiecks) geliefert; die Kategorien bieten hingegen nur die transzendentale Grundlage dafür. Aber diese empirischen und reinen sinnlichen Begriffe bedürfen ihrerseits auch Zeitschemata, um ihre Gegenstände zu bestimmen. Die Bestimmung eines Raums kann deswegen nur dadurch zustande kommen, dass bei der objektiven Bestimmung der Zeit auch der Raum zugleich mitbestimmt wird. Dies hat die Wurzel wiederum darin, dass Gegenstand der Form des äußeren Sinnes und der Gegenstand der Form des inneren Sinnes dasselbe Mannigfaltige sind. Die Raumbestimmungen und den Raum überhaupt als dreidimensional zu begreifen, ist nur
158
9 Überwindung der Zufälligkeit und die Affinität …
durch die transzendentale Zeitbestimmung mittels der Kategorien möglich. Das in dem äußeren Sinn Gegebene kann sich uns also erst durch die transzendentalen Zeitbestimmungen als etwas Bestimmtes, und zwar als ein Gegenstand, zeigen.28 Dadurch ist auch deutlich, dass der Raum, sofern bei ihm keine unmittelbare, transzendentale Bestimmung durch die Kategorien möglich ist, keine innere Bezogenheit auf die Kategorien hat, d. h., keine strukturelle Gleichheit mit den Kategorien, wie es bei der Zeit erkannt wird. So ist dies auch eine indirekte Erhellung der besonderen Affinität der Zeit zu unserem kategorialen Denken. Ob der Raum sich außerdem auf irgendeine von unserem Verstand unerkennbare Weise mit den Kategorien innerlich verbindet, ist kein Thema unserer Erörterung hier, weil es das Affinitätsproblem nicht betrifft. Die faktische Erklärung reicht schon aus, zu zeigen, dass die Zeit eine strukturelle Affinität zu den Kategorien hat und dass der Raum eine solche Affinität nicht besitzt. Dies bedeutet freilich gar nicht, dass der Raum keine Rolle in der Bestimmung des Seins der Dinge durch die Leistung der Subjektivität spielt. Und welche ontologische Rolle spielt der Raum noch, ist das Thema des Kapitel 12 meiner Arbeit.
9.3.2 Die transzendentale Unbestimmbarkeit anderer möglichen Anschauungsformen Schließlich gehen wir zu der Frage, ob es außer der Zeit und dem Raum noch andere Anschauungsformen gibt, die von den Kategorien auf transzendentale Weise bestimmt werden können, um die These der spezifischen Affinität zwischen Zeit und unseren Kategorien endlich zu rechtfertigen.
28Dabei
vertritt Caimi eine sehr aufschlussreiche Einsicht, dass das Zeitschema der Gemeinschaft-Kategorie erst es ermöglicht, dass die Zeit auch die Vorstellung von Raum in sich enthält, weil die Zeit dadurch „mutiple events and chains of causes“ in sich „embraces“. Vgl. Caimi 2012, S. 424. Caimi hat nicht erklärt, was er genau damit meinen, die Vorstellung von Raum in sich zu enthalten. In der Tat gibt die Kategorie bzw. das Schema der Gemeinschaft die Möglichkeit dafür, dass in einem gewissen Zeitpunkt mehrere Gegenstände in einem Verhältnis zueinander stehen, das anders als das Nacheinander des Zeitverhältnisses ist. Dadurch eröffnet sich eine weitere Möglichkeit, dieses neue Verhältnis, vermittels des Raums als Form der äußeren Anschauung, weiter als räumliches Verhältnis zu bestimmen; diese Bestimmung jenes neuen Verhältnisses der Gegenstände als ein räumliches Verhältnis ist aber ihrerseits nur eine logische Möglichkeit und findet nicht unbedingt statt. Die Kategorie der Gemeinschaft selbst gibt also keine unmittelbare Bestimmung des Außer- und Nebeneinanderseins des Raums.
9.3 Die transzendentale Unbestimmbarkeit des Raums …
159
Wir stellen uns nun zuerst vor, es gäbe wohl eine andere sinnliche Anschauungsform außer der eindimensionalen Zeit und dem dreidimensionalen Raum, wie z. B. eine Form von Anschauung, die fünf-dimensionale wäre. Wenn sie die sinnliche Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis wäre, dann müssten auch die Kategorien, die schon gegeben sind, zu ihnen passen, weil die reinen Verstandesbegriffe sich auf Gegenstände der Anschauung überhaupt erstrecken sollen.29 Weil die Kategorien von unseren Anschauungsformen befreit sind, und wenn die Zeit und der Raum als Anschauungsformen nur etwas Zufälliges wären, sollten diese Kategorien auch in der Lage sein, eine solche fünf-dimensionale Anschauungsform zu bestimmen. Wenn die Kategorien diese fünf-dimensionale Anschauungsform bestimmen wollten, müsste das Ergebnis dieser Konstruktion auch fünf-dimensionen bleiben. D. h. sie sollte so bestimmt werden, wie sie selbst wäre, anstatt eine andere Form als sie selbst aufzuzeigen. Deswegen müsste die daraus bestimmte Erscheinung auch eine fünf-dimensionale Struktur an sich haben. Wir können natürlich noch sagen, dass die Kategorien von Quantität und Qualität eine solche Anschauungsinhalte bestimmen können, damit die auf diese Anschauungsform basierten Erscheinungen noch den Charakter der unendlichen Teilbarkeit und deshalb Kontinuität besitzen und auf etwas hinweisen, das außer uns als die Affektionsquelle zu betrachten ist. Jedoch ist es nicht möglich, dass die Kategorie der Relation, die wir jetzt haben, zu einer fünf-dimensionalen Erscheinung weiter passen, wobei diese Kategorien eine große Rolle in der Bestimmung der eindimensionalen ontischen Zeit spielen. Wenn eine Kategoriesgruppe sich überhaupt einer solche Anschauungsformen anpassen müsste, dann würde vielleicht unsere reinen Verstandesbegriffe so verschafft sein, dass sie eine ganz andere Synthesis-Weise an sich hätte, und zwar statt der einfachen Synthesisform „Ursache-Wirkung“, wohl vielleicht „Ursache-Wirkung←Wirkung“ (oder anders??) für die Kausalität – zumindest eine solche, die wir uns nicht vorstellen können. Denn nur mit dieser Art von Kategorien und Synthesis dürfte eine fünf-dimensionale Anschauungsform von der transzendentalen bzw. ontologischen Ebene zu der ontischen Ebene werden, was zugleich dazu führt, dass die Erscheinung diese fünf-dimensionale Form trägt. Das heißt, die Kategorien könnten nur in diesen Umständen für die fünf-dimensionale Erscheinung gelten und diese Erscheinung angemessen konstruieren.
29KrV,
B 148.
160
9 Überwindung der Zufälligkeit und die Affinität …
Offensichtlich sind unsere reinen Verstandesbegriffe nicht dazu geeignet und können jene Aufgabe nicht erfüllen. Die uns zugehörige Kategorien können nur die Anschauungsform der eindimensionalen Zeit adäquat zur ontischen Zeit bestimmen, die ebenfalls eindimensionale ist; die Zeit ist die einzige Anschauungsform, welche die Kategorien entsprechend bestimmen können. Und die durch Verstand konstruierte Zeit ist gerade dieselbe Zeit, wie wir sie als die Form der Anschauung denken. In diesem Denkexperiment ist also festzustellen, dass die reinen Verstandesbegriffe, die Kant auflistet, und die eindimensionale Zeit als wesentlich miteinander verbunden betrachtet werden können. D. h. die beide sind notwendigerweise innerlich aufeinander bezogen und haben eine strukturelle Affinität zueinander.30 Dadurch wird den Gedankenexperimenten, die Kant selbst auf eine negative Weise durchführt hat,31 eine positive Ergänzung gemacht. Obwohl die Kategorien nicht an sich selbst zeitlich sind, da sie reine zeitlos Verstandesformen sind, können sie aber ihre Bedeutung erst in der Zeit finden. Anders gesagt: die Kategorien müssen an der Zeit entwickelt werden, ihre Anwendung darf nur in der Zeit realisiert werden. Die Zeit ist die einzige Art, wodurch das Denken sich selbst in dem Bereich der Erkenntnis entfalten kann. Wir sehen in der Tat, dass Kant zwischen zwei Gedanken schwankt: einerseits kann er die Möglichkeit anderer Anschauungsformen nicht ausschließen und betrachtet die Kategorien so, dass sie ihrerseits für das Gegebene aller Anschauung überhaupt gelten; andererseits können die Kategorien aber nur die eindimensionale Zeit bestimmen und sich wesentlich und notwendig auf die Zeit und mithin auch auf die in der Zeit gegebenen Erscheinungen beziehen. Aus den Erläuterungen des vorliegenden Kapitels kann man aber endlich schließen, dass es nicht zu behaupten ist, dass Kant wirklich die Meinung vertritt, die Zeit und der Raum seien bei uns die zufälligen Anschauungsformen und es möge noch
30Es
bedeutet aber nicht gerade, dass unsere Kategorien an sich schon zeitlich sind. Sie sind vielmehr gewiss zeitlos, oder zeittranszendent, weil sie an sich selbst einfach nur Regeln der reinen Verbindung und Synthesis sind. Dennoch ist eine zeitlose Kategorie nicht unbedingt zeitunbezogen: Die Begriffe sollen zwar an sich selbst zeitlos sein, da sie selbst mit der Zeit nicht in Berührung kommen; allerdings können die Bedeutung solcher Begriffe nur in der Zeit verstanden werden. Etwas Analoges kann man an dem Beispiel des Begriffs der Materie sehen: Es ist vorstellbar, dass es den Begriff der Materie gibt. Und man will natürlich nicht diesen Begriff selbst schon als Materie betrachten, sondern nur seine Bedeutung und Inhalte als etwas Materielles vorstellen. Es verhält sich genauso wie der Fall der Kategorien hier. 31Vgl. Unterabschnitte 9.1.2 und 9.1.3 des vorliegenden Kapitels.
9.3 Die transzendentale Unbestimmbarkeit des Raums …
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andere Formen der Anschauung geben. Vielmehr wollte Kant damit meinen, dass wir uns darauf konzentrieren sollen, was wir für die Bedingung der Möglichkeit unserer Erkenntnis halten, nämlich auf die Facta, die für unsere Erkenntnis eine transzendentale Grundlage schaffen. In der Rede von der Möglichkeit der anderen Anschauungsformen wird also keine Sphäre von Möglichkeiten aufgewiesen, die uns zulässt, uns einige anderen Anschauungsformen vorzustellen, sondern ergibt sich daraus in der Tat eine begrenzende Funktion, um schließlich genau zu bestimmen, was unsere Fähigkeit zu einer Erkenntnis der Dinge eigentlich ist. Denn wir denken immer innerhalb unserer Grenze, die ihrerseits eben von uns selbst bzw. dem Verstand gesetzt wird. Dennoch dient diese Grenze in der Tat gar nicht zur Einschränkung unserer Erkenntnis, als ob unsere Erkenntnis nur ein Teil des unbekannten Ganzen wäre. Vielmehr setzt der Verstand durch diese Selbstbegrenzung fest, dass das Faktum unseres Verstandes und unserer ihm entsprechenden sinnlichen Anschauung das einzige Fundament der Erkenntnis ist, von dem wir ausgehen können und müssen. Dieses Fundament, das eben aus unserem Verstand und der ihm notwendigerweise entsprechenden Anschauung besteht, ist also ein robustes Fundament, auf dem wir die Erkenntnis der Gegenstände und ontologisch gesehen auch das Sein derselben aufbauen. Insofern sind die Kategorien und die raumzeitliche Sinnlichkeit in der Hinsicht der theoretischen Philosophie nicht nur faktisch aufeinander bezogen, sondern wesentlich aufeinander bezogen, womit auch die in dieser Sinnlichkeit gegebenen Vorstellungen nicht als bloß zufällige Erscheinungen betrachtet werden können. Freilich wird dies nur dann vollständig erläutert, wenn die ontologische Rolle des Raums in der Bestimmung des Seins der sinnlichen Dinge in der Subjektivität erklärt wird.
Die ontologische Bestimmung der ontischen Zeit nach den Kategorien. Zeit als Prinzip des Was-Seins der sinnlichen Dinge
10
In dem letzten Kapitel argumentiere ich für die strukturelle Affinität zwischen der Zeit und unseren Kategorien, mit der die Zufälligkeit der Zeit überwunden wird. Auf dem Grund dieser Affinität kann weiter gezeigt werden, dass die Zeit als die Vermittlung fungieren kann, die kategorialen intellektuellen Bestimmungen auf die sinnlichen Dinge zu übertragen, so dass diese hinsichtlich ihres Was-Seins bestimmt werden können. Dies bedeutet, dass die ontologische Zeit, mit den Kategorien zusammen, das Prinzip des Was-Seins des sinnlichen Dings bildet. In dem vorliegenden Kapitel wird vor allem die innere Verfassung dieser Affinität weiter entfaltet. Damit werde ich ferner nach dem paradigmatischen Beispiel der Konstitution der objektiven Zeit durch die Kategorien darstellen, wie die Kategorien und die ontologische Zeit zusammen die fundamentalen Bedingungen ausmachen, unter denen alle Dinge ihre empirischen Bestimmungen erhalten können, sofern die objektive Zeit die fundamentale Stätte für den Empfang der empirischen Bestimmungen ist. Dieses Argument gründet sich auf eine kritische Deutung des Schematismus Kants. Da Kant in dem Schematismus-Kapitel nur die Darstellung der Elemente der sinnlichen Bedingung für die Anwendung der Kategorien zum Zweck hat, thematisiert er dort den Aspekt der Konstitution der objektiven Zeit und damit zusammen die Affinität zwischen Zeit und Kategorien nicht, was zugleich dazu führt, dass dieser Aspekt in der Kant-Forschung im Allgemeinen nicht berücksichtigt wird. Ich bin aber der Ansicht, dass die Begründung der ontischen und objektiven Bestimmung der Zeit als einen der wichtigsten Beiträge angesehen werden muss, die Kant zum philosophischen Problem der Zeit überhaupt geleistet hat. Wir konzentrieren uns nun also, den jeweiligen Kategorien bzw. Schemata gemäß, auf das Problem, warum die ontische Zeit so beschaffen ist, wie wir sie in der Erfahrung als objektive Zeit verstehen. Mit anderen Worten: Wie werden © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Liu, Zeit und Sein des Sinnlichen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61924-7_10
163
164
10 Die ontologische Bestimmung der ontischen Zeit …
die Beschaffenheiten und Grundbestimmungen der ontischen Zeit durch die transzendentalen Zeitbestimmungen und die reinen Verstandesbegriffe begründet? In der transzendentalen Ästhetik werden zwar einige Eigenschaften der ontischen Zeit genannt, aber dort wird nicht erklärt, was sie eigentlich bedeuten und warum die Zeit so bestimmt und vorgestellt werden kann. Diese Fragen kann nämlich nur im Kontext der Problemstellung, wie der Verstand die sinnlichen Dinge bestimmt, und zwar im Kontext der Doktrin der transzendentalen Urteilskraft und besonders des Schematismus, konkret entfaltet werden. Meine folgende Erläuterung der Konstitution der objektiven Zeit wird nach derselben Folge der Kategorien durchgeführt, wie Kant selbst macht, und zwar in der Folge von der Quantität, Qualität, Relation und der Modalität. Jede Klasse der Kategorien hat die eigene Weise, ihre Inhalte zu behandeln. Die ersten beiden Klassen von Kategorien bestimmt Kant als mathematische Kategorien, weil sie nur unmittelbar auf die Anschauung geht, d. h. sie regelt die Anschauung selbst. Das einzige Verhältnis, das diese zwei Klassen von Kategorien behandeln müssen, ist das Verhältnis zwischen den Kategorien als solchen und der Anschauung, und dadurch wird die erste Erstellung der ontischen Zeit selbst möglich. Erst danach, dass die ontische Struktur der Zeit selbst und ihrer Erfüllungsweise schon klar werden, sind die Regeln von den Relations- und Modalitätskategorien, welche die Existenz der Gegenstände in der Zeit und zu der Zeit bestimmen und von Kant als „dynamische“ bezeichnet werden, möglich.1
10.1 Die Erzeugung der Zeit und deren Kontinuität. Die ontische Zeitbestimmung nach der Quantität-Kategorie Wir betrachten zuerst das reine Schema der Quantität, der Größe. Ihr entsprechendes Schema ist die Zahl. Kant beschreibt die Zahl als „eine Vorstellung [...], die die sukzessive Addition von Einem zu Einem (Gleichartigen) zusammenbefaßt.“2 Wie soll man diese „sukzessive Addition“ verstehen?
1Die
Kant-Forschung hat leider nicht ausreichend Berücksichtigung direkt zu dieser Problematik gegeben. Als relevante Forschungen seien vor allem die Arbeit von Mario Caimi und auch die von Béatrice Longuenesse, Alfredo Ferrarin, und Karin Michel zu nennen. Ich werde mich in der folgenden Analyse mit ihren Forschungsergebnissen auseinandersetzen. Vgl. Caimi 2012. Longuenesse 1998, Chapter 9–11. Ferrarin 1995. Michel 2003. 2KrV, A 142/B 182.
10.1 Die Erzeugung der Zeit und deren Kontinuität …
165
Dafür muss man zuerst klar sein, was die Inhalte dieser Addition sind bzw. was das Gleichartiges ist. Wenn die Zahl, wie Kant weiter erklärt, nichts anderes als die „Einheit der Synthesis des Mannigfaltigen einer gleichartigen Anschauung überhaupt“ ist, ist es klar einzusehen, dass das Gleichartige eigentlich die gleichartige Anschauung bedeutet; d. h. der Gehalt der Addition in diesem Schema ist das Mannigfaltige der Anschauung, das hinsichtlich seiner Form gleichartig ist. Daher ist die „sukzessive Addition“ natürlich als das Zusammennehmen dieses gleichartigen anschaulichen Mannigfaltigen nacheinander zu denken. Aber diese sukzessive Addition der mannigfaltigen Anschauung ist nur dadurch möglich, dass das Mannigfaltige in der Apprehension aufgenommen wird. Kant bestimmt das Schema der Quantität als „die Erzeugung (Synthesis) der Zeit selbst in der sukzessiven Apprehension eines Gegenstandes“.3 Was meint er aber damit? Hier ist die enge Verbindung der Apprehension mit der Kategorie der Quantität zu beachten. In der ersten Auflage der Deduktion sagt Kant über Synthesis der Apprehension: „Damit nun aus diesem Mannigfaltigen Einheit der Anschauung werde, so ist erstlich das Durchlaufen der Mannigfaltigkeit und dann die Zusammennehmung desselben notwendig“.4 Erst wenn die Anschauung getrennt und als ein Mannigfaltiges verstanden wird, ist es dann möglich, danach das Mannigfaltige in irgendeiner Weise zueinander hinzuzutun, weil sonst die Vorstellung eine absolute Einheit wäre5 und es nicht möglich würde, dass das Mannigfaltige sich für uns als ein Mannigfaltiges zeigte.6
3KrV, A
145/B 184. 99 5Vgl. KrV, A 99: „Jede Anschauung enthält ein Mannigfaltiges in sich, welches doch nicht als ein solches vorgestellt werden würde, wenn das Gemüt nicht die Zeit in der Folge der Eindrücke auf einander unterschiede: denn als in einem Augenblick enthalten kann jede Vorstellung niemals etwas anderes als absolute Einheit sein.“ (Herv. d. Verf.) 4KrV, A
6Hier
ist auch eine interessante intertextuelle Beziehung bemerkenswert: Während Kant in der ersten Auflage der Deduktion über die Synthesis der Apprehension sagt, dass das Mannigfaltige nicht als solches vorgestellt werden kann, „wenn das Gemüt nicht die Zeit in der Folge der Eindrücke aufeinander unterschiede“ (KrV, A 99), sagt er in dem Schematismus-Kapitel, dass wir „die Zeit selbst in der Apprehension erzeuge[n]“. Dies zeigt gerade die Funktion der Zeit als der Form der Anschauung hier, nämlich dass sie das Prinzip der Differenz für die Unterscheidung von Mannigfaltigen ist, und zugleich die Rolle der Zeit als einer objektiven Zeit, nämlich einer schon konstituierten formalen Zeit. Eine ähnliche Einsicht hält Ferrarin, der die Zeit als Form der Anschauung als „a representation of changes in inner sense“ betrachtet. Dennoch begeht er den Fehler, wenn er die Bestimmung
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10 Die ontologische Bestimmung der ontischen Zeit …
Nur daran ist es möglich, die Zeit so zu betrachten, dass sie unendliche viele Zeitmomente in sich enthält. Und erst danach kann die Zeit weiter durch die Kategorie der Quantität als kontinuierlich angesehen werden. Hier gilt die Apprehension aber nur als die erste Phase der dreifachen Synthesis. Auch wenn wir aber diese Lehre der dreifachen Synthesis in der ersten Auflage der Deduktion beiseite lassen, darf die Apprehension noch problemlos verstanden werden wie folgt: etwas zu apprehendieren, heißt, es ins empirische Bewusstsein aufzunehmen.7 Sie muss also noch immer als die Grundlage dienen, denn nur mit der Apprehension kann die Anschauung nicht als eine „absolute Einheit“ angesehen werden (aber doch in einer Vorstellung) und mithin für die weitere Bestimmung bereit sein.8 Die Apprehension als die Modifikationen des Gemüts in der Anschauung fungiert also als die anschauliche Grundlage aller weiteren begrifflichen Bestimmungen der Zeit. Auf dieser Grundlage kann eine Verstandeshandlung erst ausgeübt werden, und in diesem Fall vor allem nach der Kategorie der Quantität. Bei dieser Synthesis soll jeder Moment in der Zeit, nämlich das Mannigfaltige, gleichartig sein, weil diese Synthesis den Charakter hat, dass das zu Verbindende nicht „notwendig zueinander gehört“9, und sie deshalb, wie Kant sagt, „mathematisch“ ist. Diese mathematische Gleichartigkeit jedes einheitlichen Moments ist die Grundlage dafür, dass die daraus gewonnene Einheit der Anschauung (nämlich die Zeit) mathematisch bestimmbar ist.10 Und die
der Zeit der „Synopsis der Sinne“ in der ersten Auflage (KrV, A 94, A 97) verdankt, die aber schon von Kant in der zweiten Auflage aufgegeben worden ist. Denn die Bestimmung der Zeit kann nicht durch die Sinne allein zustande kommen; die Beteiligung des Verstandes und die Synthesis der Einbildungskraft ist immer erforderlich. Vgl. Ferrarin 2006, p. 22. 7KrV, B 202. 8Die dreifachen Synthesen, die Apprehension in der Anschauung, die Reproduktion in der Einbildung und die Recognition im Begriffe, sind in der Tat voneinander untrennbar. Kant hat nur um der Erklärung willen diese drei Aspekte getrennt dargestellt, die alle aber tatsächlich in jedem Erkennensvorgehen geschehen müssen. Vgl. KrV, A 163/B 204, wo Kant sagt, dass die Erscheinung „nur durch sukzessive Synthesis in der Apprehension erkannt werden kann“. (Herv. d. Verf.) 9KrV, B201 Anm. 10Diese einheitlichen Momente sollen auch nicht schon selbstständige diskrete Elemente sein, weil man im inneren Sinnen allein keine Einheit finden kann, die für die Diskretheit erforderlich ist. So gibt es ein schon festgesetztes diskretes Element in der Zeit nicht, denn sonst wird die potentielle Kontinuität der Zeit nicht möglich. Vgl. Ferrarin 1995, S. 131, Friedman 1994, S. 105.
10.1 Die Erzeugung der Zeit und deren Kontinuität …
167
Addition, die das Schema „Zahl“ besagt, ist eben diese Zusammennehmung oder Zusammensetzung des Mannigfaltigen nach dieser bestimmten Regel. Daher ist die Synthesis der Quantität ein notwendiger Schritt, durch das Schema der Zahl die ontologische Zeit (als die bloße Form der Anschauung), die ohne irgendeine Bestimmtheit ist, in die Zeitvorstellung bzw. die ontische Zeit überhaupt zu verwandeln. Erst diese a priori ausgeübte Synthesis nach der Kategorie der Quantität ist die erste Gestaltung bzw. die Erzeugung der ontischen Zeitvorstellung selbst, indem sie die Ordnung solcher Gleichartigen darin konkreter konstituiert. Die ontische Zeit gilt in diesem Sinne, so Kant, als „das reine Bild aller Größe [...] der Sinne [...] überhaupt“11, und zwar als ein Resultat der Anwendung der Synthesis nach der Quantität. Eben aus diesem Grund bestimmt Kant das Schema der Quantität als „die Erzeugung (Synthesis) der Zeit“. Die ontische Zeit ist deshalb eine solche bildliche Vorstellung auf der Basis der Apprehension; ohne eine solche Zusammensetzung würden wir „die Vorstellungen der Zeit a priori“ nicht haben können, „da diese nur durch die Synthesis des Mannigfaltigen … erzeugt werden können.“12 Und als die Regel einer solchen Zusammensetzung und Addition ist die Zahl deshalb eine fortsetzende Bestimmung der bloßen Apprehension. Folglich bringt das Schema der Zahl erst die ontische Zeit ins Bewusstsein und macht sie begrifflich. Und erst danach kann die ontische Zeit weiter als die Einheit der Einheiten der Zusammensetzung des mannigfaltigen Gleichartigen verstanden werden.13 Außerdem bringt gerade dieses Schema der Quantität, die Zahl, die Charakteristik der Kontinuität in die Anschauung und deshalb auch in die ontische Zeitvorstellung. Die Kontinuität bedeutet einfach, dass „kein Teil der kleinstmögliche (kein Teil einfach) ist“.14 Aber sie wird nur an der Größe, d. h. an der Quantität, durchgeführt; ohne Größe ist die Kontinuität nicht vorstellbar. Eben in diesem Sinne sagt Kant, dass die Zeit ein quantum continua ist. Aber, obwohl die Eigenschaft der unendlichen Teilbarkeit schon in der Anschauung selbst liegt, sind die Einheiten jedoch nur durch das Schema Zahl erst möglich,
11KrV, A142/B
182. 100 13Vgl. KrV, B203. Die genannte erstere Einheit kann erst durch die späteren Schemata erklärt werden, und zwar vor allem durch das Schema der Substanz. 14KrV, A 169/B 211 12KrV, A
168
10 Die ontologische Bestimmung der ontischen Zeit …
das eine Anwendung der Kategorie der Quantität auf die Sinnlichkeit ist.15 Da ohne die Einheiten es nicht möglich wird, das Teilen der Anschauung als einer Gleichartigen zu denken, ist es deshalb vernünftig zu sagen, dass jedes Gleichartige eine Einheit dieser Quantität ist. Aber dies ist noch keine bestimmte Größe, weil sie wegen der Kontinuität der Größen (nämlich die unendliche Teilbarkeit) gerade nicht als bestimmt festgesetzt werden kann.16 Deshalb bekommt die ontologische Zeit (als Form der Anschauung) erst durch die Kategorie der Quantität die Charakteristiken der Kontinuität und der Gleichartigkeit der jeden Zeitmomente als die Bestimmung der ontischen Zeit. Die grundlegende Struktur der Zeit überhaupt wird folglich ebenso bestimmt.
10.2 Die Füllung der Zeit. Die ontische Zeitbestimmung nach der Qualität-Kategorie Das Schema der zweiten Kategorien zeigt aber erstmals das Verhältnis des Seins mit der Zeit (des Daseins in der Zeit). Kant definiert das Schema der Realität so, dass es „eben diese kontinuierliche und gleichförmige Erzeugung derselben [scil. ‚der Quantität von Etwas, so fern es die Zeit erfüllt‘] in der Zeit“ ist.17 Wie ist es zu verstehen? Solcher Ausdruck gibt den Anschein, als ob die Realität wirklich in der Zeit verändern oder erzeugen würde, welches aber nicht der Fall ist. Vielmehr soll dies davon erklärt werden, wie eine Empfindung dieselbe Zeit erfüllt. Jede Empfindung hat eine Größe oder einen Grad, d. h. wir stellen uns sie als ein Quantum vor. Aber wir können dieses Quantum nicht bei der sukzessiven Synthesis apprehendieren, weil es für jeden Zeitaugenblick nur die Möglichkeit
15Die
Anschauung selbst bietet nur die potentielle Fähigkeit, eine Kontinuität zu sein. D. h. sie enthält in sich selbst nur das Mannigfaltige, das beliebig geteilt werden kann. Dennoch kann eine Teilung, die ein quantum continua braucht, allein durch die Verstandeshandlung geschafft werden. Erst hinsichtlich eines geteilten Teils darf die Rede von der Kontinuität sein, der leider nur potentiell in der Anschauung ist. Die unendliche Teilbarkeit darf nicht mit Kontinuität verwechselt und gleichgesetzt werden. Darüber, wem eigentlich die Kontinuität zuschreiben wird, ist aber umstritten. Mellin glaubt ähnlicherweise, dass das Begreifen der Kontinuität nur durch Kategorie der Quantität möglich ist. Dennoch die Kontinuität selbst liegt in der Form der Anschauung. Vgl. Mellin 1797, S. 845. Vgl. auch Caimi 2012, S. 421 f. 16Dementsprechend hat man verschiedene Zeitmaßstäbe je nach einer Zeitmessungsweise, z. B. Sekunde, Minute usw. 17Kant, KrV, A 143/B 183.
10.2 Die Füllung der Zeit. Die ontische Zeitbestimmung …
169
gibt, entweder als erfüllt oder als leer vorzustellen. D. h., es gilt für eine einzelne augenblickliche Apprehension, dass ihre Größe nur als eine Einheit, nicht von den Teilen zum Ganzen apprehendiert wird.18 Da nun dieses Quantum in einem Augenblick als Einheit erfasst werden muss, ist es schwer, die Größe zu messen, weil ohne jede sukzessive Apprehension kein direkter Maßstab für die Messung der Größen verfügbar ist. Daher müssen wir diese Größe durch andere Methode messen, die nur vermittelst deren Übergangs in der Zeit sichtbar gemacht werden kann: entweder soll die Realität zur Negation übergehen oder umgekehrt. D. h., es muss ein Vergleichspunkt für das Quantum geben, der im Gegensatz zum Sein als Nichtsein in der Zeit einfach steht, weil eine solche Vielheit dann „nur durch Annäherung zur Negation (0) vorgestellt werden kann“19; d. h. allein durch einen kontinuierlichen Übergang kann das Reale als ein Quantum in der Zeit vorgestellt werden, und erst dann ist der Grad der Realität verstehbar.20 Die Realität ist vermittels dieses Übergangs tatsächlich eine Synthesis der Größenerzeugung von dem Realen, das den Empfindungen korrespondiert, in derselben Zeit;21 eine Synthesis, die allein durch das Schema der Qualität möglich ist.22 Ohne eine solche Synthesis ist eine bestimmte Größe für das Reale nicht möglich. 18Vgl.
KrV, A 168/B 210: „[D]as Reale in der Erscheinung hat jederzeit eine Größe, welche aber nicht in der Apprehension angetroffen wird, indem diese vermittelst der bloßen Empfindung in einem Augenblicke und nicht durch sukzessive Synthesis vieler Empfindungen geschieht, und also nicht von den Teilen zum Ganzen geht; es hat also zwar eine Größe, aber keine extensive.“ 19KrV, A 168/B 210. 20Dies ist ein kontinuierlicher Zusammenhang von möglichen Realitäten, der nur durch Annäherung zur Negation (0) jeweilig vorgestellt werden kann. Anders gesagt: nur in einer stufenartigen Veränderung zu einem bloßen Nichtsein in der Zeit als einem Gegensatz kann ein Reales als gewisser Grad von Sein in der Zeit vorgestellt werden. 21Diese Synthesis als Schema ist tatsächlich nur ein Verfahren der transzendentalen Einbildungskraft, indem es zeigt, wie die Realität mit der Vorstellung der Zeit zu denken ist, sofern das Reale mit einem Grad die Zeit erfüllt. 22Diese Synthesis ist aber schwer vorzustellen, insbesondere weil Kant oft die Formulierung „in der Zeit“ benutzt, ohne eine deutliche Erklärung dafür zu geben, was eigentlich diese Formulierung „in der Zeit“ bedeutet. Einige Forscher versuchen diese Formulierung als „durch die Zeit“ zu verstehen. Dieser Versuch ist aber höchst verwirrend. Denn dabei kann zwar diese Synthesis von der sukzessiven Apprehension unterschieden werden, aber, wenn die Formulierung der „Steigerung der Größe von 0 bis zu einem Grad von Realen“ zu erklären ist, wird wiederum die kontinuierliche Quantität in einem Moment als die Weise benutzt, die kontinuierliche Steigerung von Intensität zu erklären. Genau so ist der Versuch von Longuenesse. (Vgl. B. Longuenesse 2000, S. 313 ff.) Sie unterscheidet zwar die sukzessive Synthesis der Quantität von der „one whose successive degrees can be represented as continuously generated through time“. Dennoch glaubt sie
170
10 Die ontologische Bestimmung der ontischen Zeit …
Deshalb sagt Kant, dass das Schema der Realität „eben diese kontinuierliche und gleichförmige Erzeugung derselben in der Zeit“ ist, „sofern es die Zeit erfüllt“, „indem man von der Empfindung, die einen gewissen Grad hat, in der Zeit bis zum Verschwinden derselben hinabgeht, oder von der Negation zu der Größe derselben allmählich aufsteigt“.23 Es ist überhaupt ein Schema, das „die Synthesis der Empfindung (Wahrnehmung) mit der Vorstellung der Zeit, oder die Erfüllung der Zeit“24 ist. Dieses Schema zeigt daher, dass die Inhalte der Zeit, oder die in der Zeit sich befindende Erfüllung, nur die Realität sein können, nicht etwas anderes.25 So ist die Zeit die Stätte für das durch die Wahrnehmung unmittelbar erhaltende, der
noch, dass das Quantum „as continuously generated from 0 to 1 between two instants in time“ zu betrachten ist. Dazu begeht sie leider Fehler, deren Grund in der Eigenschaft unserer Vorstellungsweise zu finden ist. Denn, da wir daran gewohnt sind, alles in der Form der Anschauung zu repräsentieren, so, wenn wir von der extensiven Größe abstrahieren und uns nur auf die Empfindung in einem Moment konzentrieren, ist es für uns natürlich schwer, so etwas als Größe vorzustellen. Daher können wir sie, mittels der Analogie mit dem ersten Schema der Quantität, durch die Zeit äußerlich als Größe vorstellig machen (nämlich nicht mehr so, als sie die innerhalb eines Augenblicks unvorstellbare intensive Größe ist), d. h. durch diesen Übergang (in der Zeit) sie als ein Quantum vorstellig machen. Für Longuenesse findet dieser Übergang „betwenn two instants“ statt. Es ist natürlich eine nützliche Weise, diese intensive Steigerung so vorzustellen, damit sie uns verständlich ist. Dennoch mit einer solchen Vorstellungsweise, wenn sie es für die Tatsache hier hält, behandelt sie diese intensive Größe leider als eine extensive Größe. Dies ist aber de facto der Tatsache der Synthesis der Qualität wider. Denn wenn Kant sagt, dass diese Größe „als Einheit apprehendiert wird“ (KrV, A 168/B 210), ist diese Einheit schon diejenige Einheit, die nicht mehr extensiv als Vielheit verstanden werden kann. Aber die Aussage, zwischen „two instants“ gebe es ein quantum continuum, ist schon eine extensive Betrachtung. D. h. die Steigerung der Größe between two instants ist auch schon eine sukzessive Apprehension in Gang, wobei es hier aber um keine sukzessive Apprehension geht. Deshalb ist zwar eine solche Erklärung verführerisch und leicht vorzustellen, ist sie bestenfalls nur eine nützliche Vorstellungsweise, aber keine Tatsache. 23KrV, A 143/B 183. Dieser Übergang von Realität zur Negation bezeichnet in der Tat die Weise, wie man den Grad als eine kontinuierliche Größe von Realen (Quantität von der Qualität) in einem Moment, sofern es die Zeit erfüllt, denkt. 24KrV, A 145/B 184. 25Obwohl es in diesem Schema um die Inhalte der Zeit geht, weist es dennoch auf die Empfindung, deshalb etwas Gegebenes hin, das dem Realen korrespondiert ist, hin. Denn die Realität als der reine Verstandesbegriff ist gerade ein Korrelatum von Empfindung überhaupt in unserem Subjekt. Vgl. KrV, A 143/B 182.
10.3 Die Einheit und Eindimensionalität der Zeit …
171
Empfindung korrespondierte Reale, das also nur in der Zeit gemessen werden kann. Und ferner ist dadurch jeder Zeitmoment nicht völlig gleich, weil jeder Zeitmoment innerlich auch einen Grad, nämlich eine intensive Größe, als seine möglichen Inhalte in sich enthält.26 So sind die Zeitmomente zwar der Form nach gleichartig, aber den Inhalten nach ungleichartig; d. h. sie sind sowohl gleichartig (nach dem ersten Schema) als auch nicht gleichartig, wenn sie als die Stätte für die Empfindung dienen. Das Reale im Raum kann nach Kant nicht „allerwärts einerlei“ sein, und die darin sich befindende Empfindung ist auch nicht einerlei.27 So gewinnt die ontologische Zeit dadurch eine neue Bestimmung für die ontische Zeit: diese kann an jedem ihren Moment eine inhaltliche Verschiedenheit haben. Eine leere Zeit ist also unmöglich, und in der objektiven Zeit muss das Reale und zumindest das mögliche Reale schon gegeben sein. Es lässt sich einfach sehen, dass diese ersten zwei Schemata die Gegenstände der Anschauungen unmittelbar behandeln:28 Das erste bereitet die Struktur der Zeitvorstellung a priori für unsere Erfahrung methodisch vor; das zweite bestimmt, wie die Sachheit durch die Zeit für uns verständlich wird, wenn wir von ihr (also von etwas) affiziert werden. Einerseits werden die Gegenstände der Anschauung dadurch bestimmbar, und andererseits, von der Zeit gesprochen, bestimmt das Schema der Realität auch die Erfüllung der Zeit. Deshalb wird die Zeit durch das Reale so erfüllt, dass die Zeit selbst nicht mehr eine bloß reine Vorstellung ist, sondern auch eine Form der Erscheinung ist und eine Form für die Erscheinung sein muss. Das Sein und die Zeit werden dann erst zusammengebracht, und nur durch diese Verbindung sind die Bestimmungen des Daseins in der Zeit erst möglich.
10.3 Die Einheit und Eindimensionalität der Zeit. Die ontische Zeitbestimmung nach den Relationskategorien Mit den Schemata der übrigen Kategorien, die inhaltlich komplizierter als die beiden ersten sind, hat es aber eine besondere Bewandtnis. Als die Verstandesverbindung sind die Kategorien der Relation und Modalität die
26Vgl.
Caimi 2012, S. 422. Ähnlicherweise in Caimis Wort, dass „each one of the instants of time has a quantitatively determined form of receptivity, even if such instants have no duration.“ 27Kant,
KrV, A174/B215. Der genannte Fall von „allerwärts einerlei“ wäre nur dann möglich, wenn der Grad allein durch die Synthesis des Verstands, nämlich durch das Schema der Kategorie der Qualität, möglich wäre. 28Kant, KrV, B110.
172
10 Die ontologische Bestimmung der ontischen Zeit …
dynamischen Kategorien, denn sie betreffen das Dasein dieser Gegenstände.29 Während die beiden ersten Klassen von Kategorien sich direkt auf die Anschauung richten und daher keine Korrelate brauchen, gibt es aber bei den Kategorien der Relation und Modalität immer Korrelate,30 oder genauer, Paare.31 Wenn wir sie dann als figürliche Verbindung (synthesis speciosa) betrachten, sofern es bei ihnen um die Synthesis des Mannigfaltigen geht, müssen wir sie so verstehen, dass das ihnen zugeordnete Mannigfaltige „notwendig zueinander gehört“.32 Das heißt, sie treten immer in der Form der zueinander gehörigen Paare auf. Allein in einer gewissen Beziehung, und zwar in Beziehung auf einander im ersten Fall (den Relationskategorien) und in Beziehung auf den Verstand selbst im zweiten Fall (den Modalitätskategorien), gewinnen sie dann die Regeln, das Mannigfaltige zu ordnen. Zuerst betrachten wir die Schemata der Relation. Da diese Kategorien richten sich auf die Existenz der Gegenstände, sind ihre Schemata auch diejenigen, die „das Verhältnis der Wahrnehmungen untereinander zu aller Zeit“ bestimmen,33 und zwar die Zeitordnung der möglichen Gegenstände der Erscheinung. In jedem Schema wird ein besonderer Aspekt der objektiven Zeitvorstellung gezeigt, die dann unsere üblichen Zeitbestimmungen der Gegenstände völlig bestimmt. Sie bestimmen daher die eindimensionale objektive Zeit, auf welcher die empirischen Zeitvorstellungen und mithin unsere Erfahrungszeit überhaupt beruhen.
10.3.1 Das einheitliche Substrat der Zeitbestimmtheit. Die ontische Zeitbestimmung nach der Substanz Kategorie In dem Schema der Substanz ergibt sich erstmals die Vorstellung der Zeit selbst, obwohl sie, nur als eine Struktur, eine ontologische Zeitbestimmung, noch nicht die ontische oder bildliche Zeit selbst ist. Denn als ein Produkt der transzendentalen Einbildungskraft ist diese „transzendentale“ Zeitbestimmung, wie in dem Abschnitt 7.2 der vorliegenden Arbeit gezeigt, bloß ein Produkt des
29KrV A
160/B 199, B 201 Anm. KrV, B 100. 31Z. B. die Paare Ursache-Wirkung, Notwendigkeit-Zufälligkeit. 32KrV. B 201f. Anm. 33KrV, A 145/B 184. 30Vgl.
10.3 Die Einheit und Eindimensionalität der Zeit …
173
Verfahrens der Einbildungskraft, wobei diese Zeitbestimmung nicht direkt ins Bild gebracht werden kann. Kants Definition des Schemas der Substanz ist „die Beharrlichkeit des Realen in der Zeit“.34 Zuerst muss es klar sein, dass dieses Schema die Erfüllung der Zeit bereits voraussetzt, wie mit dem Wort des „Realen“ aufgewiesen.35 Weil wir nichts bekommen können, sogar keine leere Zeit noch leeren Raum, wenn wir nicht schon etwas wahrnehmen und die Empfindung haben. Denn die Zeit ist nicht anders als die Zeit der Erscheinung, und es gibt keine leere Zeit als Gegenstand der Erfahrung. Das besagt: erst wenn das Reale als „ein Substratum der empirischen Zeitbestimmung überhaupt“ vorgestellt ist,36 können wir überhaupt dann von einer Zeit, sogar der Zeitbestimmung, sprechen. Ohne eine solche unwandelbare Grundlage fehlt jeder Zeitbestimmung ein notwendiger Maßstab und Standpunkt.37 Denn die Zeit muss sich als eine Einheit zeigen. Wenn gar kein Reales als Vergleichsmaßstab und -grundlage diente, wäre die Zeit nur die formale Bedingung der Erscheinung und könnte nicht zum Bezugspunkt der empirischen Bestimmung der Dinge dienen. Dabei würden die Verhältnisse zwischen Dingen nicht bestimmt und die Zeit selbst könnte auch nicht von uns vorgestellt und begriffen werden. Außerdem wird hier das Dasein der Gegenstände und ihrer Zeitbestimmung betroffen. Während die Substanz „das Substrat alles Realen“ ist, und das accidens aber nur als deren Bestimmung gedacht werden kann, gilt das Gleiche
34KrV, A
144/B 183. betrachtet aber das Schema der Substanz als Zeit selbst: „Zeit ist… das Schema der Substanz“ (Vgl. Heidegger 1976, S. 352), indem er dieses Schema als Beharrlichkeit als solche (und nicht als die Beharrlichkeit des Realen), welche die Zeit selbst vorstellig macht, interpretiert. (Vgl. auch Heidegger 1973, S. 101 ff.) Denn er betrachtet das Schema überhaupt als die „reine Anblicksmöglichkeit“ für die Verstandesbegriffe und deshalb als den reinen Anblick für die Zeit. (Vgl. auch Heidegger 1973, S. 98 f.) Für ihn ist die Zeit selbst als Anschauung nicht direkt bestimmbar; die Bestimmung der Zeit ist deshalb erst durch den Weg über die Regel des Verstandes möglich. Die Zeit wird dadurch vorgestellt, dass „sie selbst versinnlicht sich qua Beharrlichkeit in der Substanz.“ (Vgl. Heidegger 1976, S. 352.) So stellt Heidegger zufolge das Schema die Zeit selbst vor. Deshalb kommt das Reale für Heidegger etwa später als die Zeit, während bei Kant hier aber umgekehrt das Reale schon vorausgesetzt wird. Denn für Kant ist die Zeit immer die Zeit für die Erscheinung; eine Zeit selbst ohne Bezug auf die Erscheinung ist für ihn nicht möglich. Diese Heideggers Deutung des Substanz-Schemas wird von Düsing mit Recht kritisiert, vgl. K. Düsing 1980a, S. 28 f. 36KrV, A 144/B 183. 37Vgl. auch Mesch 2001, S. 186. 35Heidegger
174
10 Die ontologische Bestimmung der ontischen Zeit …
ebenso für die Zeit selbst: Die Zeit wird auch ähnlicherweise als das Substrat aller Zeitbestimmung gedacht, wobei das accidens aber auf die Veränderung in der Zeit hinweist. Deshalb ist es klar, dass die entsprechende ontologische Zeitbestimmung der Substanz sich die Zeit selbst vorstellt und aufweist, allerdings mit der Bedingung des „Realen“ zugefügt;38 sie dient also als die Basis für irgendeine Zeitbestimmung. Die Zeit ist deswegen bleibend und unwandelbar, indem sie dem Unwandelbare im Dasein, und zwar der Substanz korrespondiert. Dabei besagt das accidens demgegenüber eine Veränderung in der Zeit, aber auf die Grundlage dieser bleibenden unwandelbaren Zeit, indem es dem Wandelbaren im Dasein korrespondiert. Deshalb als die Basis verläuft sich die Zeit selbst nicht, „sondern in ihr verläuft sich das Dasein des Wandelbaren“.39 So ist die Zeit einerseits die bleibende Grundlage für alle Zeitbestimmungen, andererseits muss sie auch die Veränderungsmöglichkeit in ihr zulassen. Auf dieser Grundlage ist die andere Zeitbestimmung wie die Folge und das Zugleichsein erst vorstellbar. So ist das Schema der Substanz das Beharrliche des Realen in der Zeit, aber zugleich auch das ontologische Substratum aller anderen Zeitbestimmungen.40 Da die Zeit das Substrat aller Zeitveränderungen und Zeitbestimmungen ist, gehören diese daher einer und derselben Zeit, so dass man sich nicht von mehreren Zeiten sprechen kann.41 Die Zeit gilt also als die einheitliche Basis für
38D. h.,
Sie stellt die Zeit selbst nur insofern vor, als die Zeit die Form der Anschauung, folglich die Form der Erscheinung ist, die das Reale als ihre Inhalte hat. Die Zeit ist als die konstituierte Form erst die ontologische Bedingung für das Seiende, oder besser in Kants eigenem Wort, als die formale Anschauung. 39KrV, A 144/B 183. 40Karin Michel bezieht die Kategorie der Subsistenz und Inhärenz auf ihr sogenannte zweites Zeitargument (§4), damit sie die relative Notwendigkeit des Zugrundliegenden der Zeit für das Zeitliche beweist. Dennoch glaubt sie, dass der Substratumscharakter der Zeit durch den 4. Paragraph der transzendentalen Ästhetik schon bewiesen ist, und vor allem durch das Wegdenkbarkeit-Experiment. Dennoch beruht diese Einsicht m. E. auf eine falsche Voraussetzung, dass es in der metaphysischen Exposition von Zeit in dem ÄsthetikKapitel nicht um die Form der Anschauung gehe, sondern um den Begriff von Zeit, indem sie das Wort „Begriff“ in den Titeln der §§ 4–6 wörtlich nimmt. Vgl. Michel 2003, S. 55, 58 ff. Die Kritik an Michel vgl. Caimi 2012, S. 417. 41KrV, A 188/B 232: „Substanzen (in der Erscheinung) sind die Substrate aller Zeitbestimmungen. Das Entstehen einiger, und das Vergehen anderer derselben, würde selbst die einzige Bedingung der empirischen Einheit der Zeit aufheben, und die Erscheinungen würden sich alsdenn auf zweierlei Zeiten beziehen, in denen neben einander das Dasein verflösse, welches ungereimt ist. Denn es ist nur Eine Zeit, in welcher alle verschiedene Zeiten nicht zugleich, sondern nach einander gesetzt werden müssen.“
10.3 Die Einheit und Eindimensionalität der Zeit …
175
alle möglichen Zeitbestimmungen, was eines der entscheidenden Momente für die Konstitution der Eindimensionalität der objektiven Zeit ist, wie im Abschnitt 9.2 der vorliegenden Arbeit schon gezeigt.
10.3.2 Die Zeitfolge und die Zukunftsgerichtetheit der Zeit. Die ontische Zeitbestimmung nach der Kausalität-Kategorie Was das Schema der Ursache bzw. Kausalität angeht, liegt es der Folge der Erscheinungen in der Zeitvorstellung zugrunde. Es ist bei Kant „das Reale, worauf, wenn es nach Belieben gesetzt wird, jederzeit etwas anderes folgt.“42 Denn es geht bei diesem Schema um die Regel, die Sukzession des Mannigfaltigen näher zu bestimmen. Die Apprehension unseres Mannigfaltigen ist jederzeit unbestimmt, wenn ihr keine bestimmte Regel zugeteilt wird. Das heißt, sie soll den verschiedenen Regeln unterworfen werden, sonst würde sie nur auf beliebige Weise geschehen. Das Schema der Ursache und Kausalität bietet eine solche Regel an, und zwar mit Notwendigkeit. Allein dadurch sind uns eine allgemeine Zeitfolge und ihr sogenannter „Fluss“ zugänglich. Die Folge der Erscheinungen ist daher auf dieser Grundlage nicht mehr beliebig und subjektiv, sondern wird als eine objektive Zeitfolge geordnet. Übrigens ist das, was wir normalerweise als die Eigenschaften der Zeit bezeichnen, auch diesem Schema zu verdanken, wie die Sukzessivität (mit Regel)43, die Zeitpfeile, die Irreversibilität, oder genauer die Zukunftsgerichtetheit der Zeit, und der Fluss der Zeit. Denn dieses Schema beansprucht, unsere Wahrnehmungen nach der Struktur der Ursache-Wirkung zu verknüpfen. Daher verlangt dieses Schema eine Folge der Erscheinungen, die nur so abläuft: wenn etwas beliebig gesetzt ist, wird etwas anderes folgen, nicht umgekehrt. Deshalb wird die Folge der Erscheinungen nur auf eine Richtung gehen können. Unsere Wahrnehmung der Veränderung, und auch das Verhältnis der Gegenstände zueinander in der Zeit, sind dadurch bestimmt.
42KrV, A
144/B 183. Sukzessivität selbst ist durch die Kategorie der Quantität erst aufgetaucht, die dort aber unbestimmt ist und sich keiner bestimmten Regel unterwirft. Die Sukzessivität, mit der wir die Zeitfolge bezeichnen, ist allerdings mit Regel und wird erst durch die Kausalität hervorgebracht.
43Die
176
10 Die ontologische Bestimmung der ontischen Zeit …
10.3.3 Das Zugleichsein und die Eindimensionalität der Zeit. Die ontische Zeitbestimmung nach der Gemeinschaft-Kategorie Auf gleiche Weise macht das Schema der Gemeinschaft (Wechselwirkung) erst den Aspekt des Zugleichseins der Zeitvorstellung möglich. Kant bestimmt dieses Schema so, dass es „das Zugleichsein der Bestimmungen der Einen, mit denen der Anderen, nach einer allgemeinen Regel“ ist.44 Dieses Schema muss auf das Schema der Substanz, und zwar Beharrlichkeit der Zeit, basieren, weil es bei ihm tatsächlich um die „wechselseitige Kausalität der Substanzen in Ansehung ihrer Akzidenzen“ geht. Nach Kants Theorie setzt unsere Apprehension unbestimmt fort, d. h. die Ordnung in der Synthesis der Apprehension eines Mannigfaltigen ist immer gleichgültig,45 wenn sie nicht einer bestimmten Regel folgt. Allein wenn die Apprehension wechselseitig gegeneinander laufen kann, und genauer, wenn die Substanz „die Kausalität gewisser Bestimmung in der anderen“, und gleichermaßen umgekehrt, „die Wirkungen von der Kausalität der anderen in sich“ enthält,46 kommt dann mit dieser Regel das Zugleichsein in der Zeit vor. Das Schema der Gemeinschaft bietet folglich eine solche allgemeine Regel, die sich in der sinnlichen Form der Zeit als Gleichzeitigkeit zeigt.47 Die Vorstellung des Zugleichseins ermöglicht es, dass verschiedene Reihen der Zeitbestimmungen irgendwie aufeinander bezogen werden. Sonst würden verschiedene Kausal-Reihen, die jeweils auf die Sukzessivität der Zeit beruhen, voneinander unabhängig laufen und es keine Einheit und kein Zusammenhang zwischen ihnen geben. Die transzendentale Zeitbestimmung durch die Gemeinschaft-Kategorie macht gerade es möglich, dass sich die verschiedenen sukzessiven Zeitreihen auf eine einheitliche Dimension beziehen, indem sie diese Reihen auf eine und dieselbe Zukunft statt auf mehrere „Zukünfte“ richtet. Daher sieht man in der Zeit nur eine Dimension. Die Eindimensionalität, welche die
44KrV, A
144/B 183f. 211/B 258. 46KrV, A 212/B 259. 45KrV, A
47Dabei
vertritt Caimi eine sehr aufschlussreiche Einsicht, dass dieses Schema der Zeit es erst ermöglicht, dass die Zeit auch die Vorstellung von Raum in sich hält, weil die Zeit dadurch „mutiple events and chains of causes“ in sich „embraces“. Vgl. Caimi 2012, S. 424.
10.3 Die Einheit und Eindimensionalität der Zeit …
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Zeit charakterisiert, wird also schließlich durch die Kategorie bzw. das Schema der Gemeinschaft vervollständigt. Von dem oben Gesagten sieht man, dass eben diese drei Schemata die drei Modi der ontischen Zeit vorbringen: die Beharrlichkeit, die Folge und das Zugleichsein.48 Diese drei Modi der Zeit gelten als die Darstellung der ontischen Zeit, die wir normalerweise auch die objektive Zeit nennen. Und ihre entsprechenden Schemata sind der Erfahrung vorangehende strukturelle Bedingungen, die als Regeln alle Zeitverhältnisse der Erscheinung ihrem Dasein nach „in Ansehung der Einheit aller Zeit“ bestimmen.49 Natürlich sind diese drei Modi nicht die Zeit selbst in ihrem ontologischen Sinne, weil die Zeit selbst bloß die Form der Anschauung ist. Weil wir die Zeit nicht per se, sondern nur dann wahrnehmen können, wenn wir von der Wahrnehmung einer Erscheinung affiziert werden, sind uns die konkrete Darstellung der Zeit deshalb nur mit Hilfe des Daseins der Erscheinung möglich. Anders gesagt: um die Zeit darzustellen, müssen diese Zeitbestimmungen das „Reale“ enthalten.50 Deshalb sind diese Schemata als transzendentale Zeitbestimmungen auch ontologisch, indem sie erst die ontischen Zeitverhältnisse der Erscheinung und Erfahrung möglich machen.51 Kant macht folglich klar, dass wir mit den transzendentalen Zeitbestimmungen tatsächlich die ontologischen Zeitbestimmungen meinen. Und da die Zeit per se (ontologische Zeit) uns nicht spürbar ist, weil sie eine Form unserer Anschauung ist, hat die Zeit in dem Sinne der ontischen Zeit endlich eine äußere Form für das Dasein und für die Erscheinung getragen, nämlich als eine objektive Zeit.
48KrV, A
177/B 219. 177/B 219. 50Daran lässt sich eine andere Formulierung von der transzendentalen Idealität der Zeit sehen. 51Kant hat dies mehrmals betont. Im Abschnitt von der „Analogien der Erfahrung“ wird ausdrücklich gesagt, dass „diese Einheit der Zeitbestimmung durch und durch dynamisch“ ist, „d. i. die Zeit wird nicht als dasjenige angesehen, worin die Erfahrung unmittelbar jedem Dasein seine Stelle bestimmte, welches unmöglich ist, weil die absolute Zeit kein Gegenstand der Wahrnehmung ist, womit Erscheinungen könnten zusammengehalten werden; sondern die Regel des Verstandes, durch welche allein das Dasein der Erscheinungen synthetische Einheit nach Zeitverhältnissen bekommen kann, bestimmt jeder derselben ihre Stelle in der Zeit, mithin a priori, und gültig für alle und jede Zeit.“ (Vgl. KrV, A 215/B 262). 49KrV, A
178
10 Die ontologische Bestimmung der ontischen Zeit …
10.4 Die eine und einzige objektive Zeit der Erfahrung. Die ontische Zeitbestimmung nach den Modalitätskategorien Schließlich kommen wir zu den Schemata der Modalität. Wie Kant in der Kritik vielmals gesagt,52 haben die Kategorien der Modalität eine besondere Stellung gegenüber anderen Kategorien. Während alle anderen Kategorien mit der Bestimmung des Objekts zu tun haben, betreffen die Kategorien der Modalität aber das Erkenntnisvermögen selbst. Sie drücken keine realen Inhalte zu dem Begriff des Objekts aus, weil sie sich nur mit der Beziehung des Objekts auf das Subjekt beschäftigen. Mit anderen Worten haben die vorige drei Klassen von Kategorien schon die Bestimmungen eines Objekts vervollständigt. Wir können damit einwandfrei ein synthetisches Urteil machen, ohne Rücksicht auf den Status dieses Urteils zu nehmen, ganz gleich, ob es wirklich oder nicht ist. Wir behaupten dadurch keine Existenz eines Objekts, sondern nur die realen Bestimmungen dieses Objekts. Die Kategorien der Modalität sind ganz anders. Mit ihrem Gebrauch wird noch ein synthetisches Urteil möglich, allerdings ein subjektives. Es fragt sich eigentlich, „wie es sich zum Verstande“, „zur empirischen Urteilskraft“ und „zur Vernunft verhalte“53, und zwar mit einem Wort, zum Subjekt. Gleicherweise gilt es auch für die Schemata der Modalitätskategorien. Sie betreffen gar keine Inhalte des Begriffs des Objekts in Ansehung seiner Zeitbestimmungen, und deshalb vermehren sie den Inhaltlichen nicht. Sie bestimmen vielmehr, wie die Objekte sich zur ontologischen Zeit selbst verhalten, so dass Kant sagt, dass „das Schema der Modalität und ihrer Kategorien, die Zeit selbst, als das Korrelatum der Bestimmung eines Gegenstandes, ob und wie er zur Zeit gehöre, enthalte, und vorstellig mache“.54 (1) Das Schema der Möglichkeit ist „die Bestimmung der Vorstellung eines Dinges zu irgendeiner Zeit“. Damit meint Kant, dass „die Synthesis verschiedener Vorstellungen eines Dings mit den Bedingungen der Zeit überhaupt“ zusammenstimmen soll.55 Hier bedeuten die „Bedingungen der Zeit überhaupt“
52KrV, A
219/B 266, A 233f./B 286, auch A 74/B 99f. KrV, B266. 54Vgl. A 145/B 184, Herv. d. Verf. Eine Arbeit an den Zeitbestimmungen nach den Modalitätskategorien, deren Ergebnis meiner folgenden Analyse ähnlich ist, hat Mario Caimi auch durchgeführt. Vgl. Caimi 2012, p. 424 ff. 53Vgl.
55KrV A
144/B 184.
10.4 Die eine und einzige objektive Zeit der Erfahrung …
179
hauptsächlich diejenige, welche die obigen anderen Schemata der Kategorien schon erstellen, d. i. die ontologischen Zeitbestimmungen der Erscheinung überhaupt. Daher gibt Kant an dieser Stelle ein Beispiel: das Entgegengesetzte in einem Ding nicht zugleich, sondern nur nacheinander sein kann.56 Denn für die unterschiedlichen Bestimmungen eines Dings spielt der Aspekt des Raums keine Rolle; der Modus der Zeit allein ist entscheidend. Um das Entgegengesetzte in einem Ding zu setzen, muss es ohne Widerspruch zusammen stehen. Aber der Begriff eines Dings allein könnte die entgegengesetzte Bestimmung nicht enthalten, es sei denn, wir fügen ihm die Bedingung der Zeit hinzu. Eben dadurch unterscheidet sich das Möglichkeit-Schema von der Möglichkeit des Begriffs eines Dinges. Daher kann laut der vorher schon strukturierten Folge der Zeit als einem Zeitmodus nur das Entgegengesetzte in einem Ding nacheinander sein. Nur wenn die Bestimmung eines Dinges zu diesen Bedingungen der Zeit überhaupt passt, gilt es dann als möglich. Der Ausdruck „irgendeine Zeit“ weist gerade auf die Bedingungen der Zeit überhaupt hin. Aber was bedeutet dies eigentlich für die ontologische Zeitbestimmung und ferner die ontische Zeit überhaupt? Weil das Schema der Möglichkeit den Zeitbestimmungen a priori die Regel gibt, die auf den Zeitinbegriff geht, sofern sie sich nur mit den Bedingungen der Zeit überhaupt beschäftigt, gibt es in der Tat umgekehrt der Zeit erst die Einheit. Diese Einheit der ontischen Zeit ist nicht mehr die absolute Einheit, wie diejenige, die ohne die Apprehension nur augenblicklich mit keiner Vielheit des Mannigfaltigen, nämlich ohne Zeit als das unterscheidende Moment, einmal als eine ungeteilte Einheit schlechthin aufgenommen wird. Diese Einheit der ontischen Zeit ist auch nicht diejenige, die das erste Schema, das Schema der Quantität, zeigt, und zwar die Einheiten, welche alle Zeitmomente konstituieren. Sie ist aber die Einheit der Zeit überhaupt – eine Einheit, die gegenüber den realen Bestimmungen der Gegenstände die Einheit der Erfahrung überhaupt in der Zeit zeichnet. Denn das Schema der Möglichkeit als Korrelatum weist die Zeit selbst auf, dennoch zeigt es nur, wie sich die Gegenstände überhaupt als ein einheitliches Ganzes zum Subjekt verhält. So ergibt sich nur daraus eine modale Bestimmung für die Gegenstände der Erscheinung, eine formale Stätte, die alles in sich enthalten kann. Nur dadurch erhält die Zeit die Bestimmung der Einheit, nämlich eine Einheit der Anschauung57, sodass wir die
56Denn
es geht hier um ein einzelnes Ding, so ist das Schema der Gemeinschaft hier nicht wirksam.
57KrV,
B 161.
180
10 Die ontologische Bestimmung der ontischen Zeit …
Zeit in ihrem Ganzen als Eine Zeit denken können.58 Das Schema der Möglichkeit umgrenzt dann das Gebiet der Erfahrung und der Zeit, und unterscheidet sich in diesem Sinne weiter von dem Schema der Substanz, das nur eine einheitliche Basis gibt, nicht aber eine Einheit überhaupt als eine Grenze. Die Einheit der Zeit ist deshalb nur durch dieses Schema der Möglichkeit erst für die ontische Zeit möglich. (2) Das Schema der Wirklichkeit ist „das Dasein in einer bestimmten Zeit“. Hier ist ein wichtiger Faktor zugefügt, nämlich das Dasein. Damit etwas wirklich sein kann, muss ihm ein Dasein gegeben werden. Sofern ein Dasein von einem Ding in einem Moment gegeben ist, d. h. sofern die Zeit in einem bestimmten Zeitmoment mit Empfindung erfüllt ist, können wir feststellen, dass es wirklich ist. Deshalb kann das Schema der Wirklichkeit auch so beschrieben werden, dass etwas Reales zur einen bestimmten Zeit tatsächlich gegeben wird. Dieses Schema erweist die Zeit nicht nur als eine formale Stätte für die Erscheinung, sondern auch eine materiale Stätte. Das heißt, die Zeit repräsentiert nicht mehr bloß die Form der Anschauung, sondern weist nunmehr auch die Objektivität der Erscheinung auf, sofern sie mit der materialen Bedingung der Erfahrung zusammenhängt, was aber erfordert, dass der Raum notwendigerweise auch mitspielt. So gewinnt die ontologische Zeit dadurch eine neue und wirkliche objektive Färbung, die sie in die ontische Ebene verwandeln kann und sie deshalb wahrhaft zur ontischen Zeit und objektiven Zeit macht. (3) Das Schema der Notwendigkeit wird in gleicher Weise gezeigt, d. i. „das Dasein eines Gegenstandes zu aller Zeit“. Diese Modalität wird auch nicht mehr nur logisch sein kann, wenn ihr die Bedingung der Sinnlichkeit hinzugefügt wird und sie mithin als ein Schema repräsentiert wird. Sie ist eine materiale Notwendigkeit, die jederzeit von dem Realen begleitet werden muss. Infolgedessen ist die Gegebenheit auch eine nötige Voraussetzung. Wenn die Notwendigkeit auf der sinnlichen Ebene manifestiert wird, kann sie also als dasjenige angesehen werden, das zeigt, dass das Dasein des Gegenstandes in aller Zeit vorhanden ist, was aber dann eine einzig mögliche Zeit zeigen wird.
58Diese
Einheit ist auch deshalb durch das Subjekt selbst gewährleistet. Denn das Schema der Möglichkeit ist die formale Stätte für alle möglichen Erscheinungen, weil es das ist, dessen Korrelatum (sc. Bestimmung eines Gegenstandes, vgl. KrV, B184) das Subjekt für die Erfahrung überhaupt synthetisieren kann, d. h. dieses Korrelatum befasst schon alle Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung von dem realen Aspekt in sich, so ist das Schema auch der formale Aspekt des Subjekts, insofern es dadurch das Gebiet der Erfahrung überhaupt zeichnet.
10.4 Die eine und einzige objektive Zeit der Erfahrung …
181
Allerdings muss man dieses Schema von dem Begriff der Ewigkeit unterscheiden, den wir normalerweise in der Alltagssprache benutzen. Denn mit dem Schema der Notwendigkeit ist mehr von dem diesem Verstandesbegriff entsprechenden Korrelatum von Zeit die Rede. Es ist folglich eine Repräsentation dieser Modalität in der Sinnlichkeit, und zwar in dem Sinne davon, wie sie sich zur ontologischen Zeit verhalten kann. Mit diesem Schema der Notwendigkeit hat jedoch der Begriff der Ewigkeit, die das Immerwährend in der Zeit bedeutet, nichts gemein. Vielmehr zeigt sie eigentlich eine logisch sicher geschehende Verknüpfung in jeder Zeit (immer), doch mit dem Realen dabei. Das Problem der Ewigkeit, die wir üblich unter der Bedeutung „immerwährend“ verstehen, wird Kant später in der Dialektik-Abteilung erörtert.59 So ist es klar, dass der Ausdruck „zu aller Zeit“ in der Definition des Schemas der Notwendigkeit bedeutet: wenn ein Dasein gesetzt wird, wird es zur Zeit überhaupt gesetzt. Aber es betont nicht mehr das Dasein eines Dings, wie in dem Schema der Wirklichkeit, sondern dessen Zustand.60 Indem ein Ding daseiend gesetzt ist, wird seine Stelle und sein Zustand notwendigerweise relativ zu allen anderen Dingen und Erscheinungen in der Zeit bzw. in dieser einen Zeit gesetzt. Sie besagt also nach Kant nur „die Verhältnisse der Erscheinungen nach den dynamischen Gesetzen der Kausalität“.61 Diese Notwendigkeit kann deshalb natürlich auch als „Immer“ beschrieben werden, weil sie wirklich für immer festgesetzt ist und keine anderen Möglichkeiten für eine andere Zeit dabei offenbleibt. So bekommt die ontologische Zeit durch dieses Schema endlich die Bestimmung der Einzigkeit der Zeit, nämlich die ontische Zeit wird als die einzige Zeitreihe betrachtet, die wir haben können, und sie wird laut der Kausalität der Natur als die materiale Stätte für die notwendige kausale Kette der Erfahrung dienen. Wir können infolgedessen in unserem empirischen Gebrauch des Verstandes und deshalb innerhalb der Erfahrung und Natur nur diese notwendige und einzige objektive Zeit besitzen, keine andere möglichen Welten für eine andere Zeitreihe, sofern wir noch in der Natur bleiben.62
59D. h.,
in der ersten Antinomie, wo Kant von der immerwährenden Zeit bzw. der unendlichen Zeit spricht. 60KrV, A 227/B 279f. 61KrV, A 228/B 280 62Diese Erläuterung der Notwendigkeit und der Einzigkeit der objektiven Zeit könnte aufschlussreich sein für eine weitere Betrachtung des Problems der möglichen Welten und des Freiheitsproblems, auf die ich hier leider nicht eingehen soll.
182
10 Die ontologische Bestimmung der ontischen Zeit …
In den obigen Erläuterungen sehen wir, wie die Beschaffenheiten der objektiven Zeit, die in unserer sinnlichen Erfahrung gezeigt werden, bei der transzendentalen Bestimmung der ontologischen Zeit durch die Kategorien zugleich konstituiert werden. Die Konstitution der objektiven Zeit ist in der Tat ein paradigmatisches Beispiel, an dem gezeigt werden kann, wie die kategorialen Bestimmungen vermittels der ontologischen Zeit auf die sinnlichen Erscheinungen übertragen werden: Dadurch, dass die Kategorien die ontologische Zeit auf transzendentale Weise bestimmen, werden die kategorialen Bestimmungen auf die objektive Zeit übertragen. Da die objektive Zeit dasjenige Fundamentale, auf dem alle empirischen Bestimmungen der Gegenstände beruhen müssen, wird mit den obigen Erläuterungen auf paradigmatische Weise gezeigt, dass die ontologische Zeit zusammen mit den Kategorien das Prinzip für die Bestimmung des Seins der sinnlichen Gegenstände ist, und zwar des Was-Seins derselben.
Von der eigentlichen Bedeutung des Begriffs des Dings an sich in der theoretischen Philosophie Kants
11
Mit der These über die Zeit-Kategorien-Affinität haben wir den Schritt gemacht, die Zufälligkeit der Formen der sinnlichen Anschauung zu überwinden. Daraus ergibt sich insbesondere eine weitere These, dass der Gegenstandsbereich, den wir durch Zeit und Kategorien bestimmen, der einzige ist. Alsdenn fragt man sich, ob wir noch einen Begriff des Dings an sich annehmen müssen. Weil dieser Begriff mit dem Problem des Seins der sinnlichen Gegenstände und daher mit dem sich aus der Zufälligkeit der sinnlichen Anschauungsformen ergebenden Problem eng verbunden ist, und weil die Analyse dieses Begriffs außerdem für das Verständnis der Funktion des Raums wichtig ist, möchte ich in dem vorliegenden Kapitel auf dem Grund der genannten Affinitätsthese eine ausführliche, allseitig gerichtete Betrachtung über den Begriff des Dings an sich machen, und hoffe, aus dieser Betrachtung weitere theoretischen Ergebnisse ziehen zu können. Über das Problem des Dings an sich herrscht in der Kantforschung eine große Meinungsdivergenz, und zwar darum, wie man das Verhältnis zwischen dem Ding an sich und der Erscheinung verstehen soll. Typisch sind dabei zwei klassische Deutungen, die man üblich die Zwei-Welten-Interpretation und die Zwei-Aspekte-Interpretation nennt. Die erste glaubt, dass es in der Unterscheidung zwischen Ding an sich und Erscheinung um zwei verschiedene Klassen der Gegenstände bzw. zwei Welten geht: eine sinnlich erfahrbare Welt der Erscheinungen und eine intelligible Welt der sinnlich-unabhängigen Gegenstände. Vertreter für diese Position sind vor allem Hans Vaihinger, Peter Strawson und Paul Guyer.1 Nach der zweiten Ansicht betrifft diese Unterscheidung dagegen
1Vgl. Vaihinger
1881/1892; Strawson 1966; Guyer 1987.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Liu, Zeit und Sein des Sinnlichen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61924-7_11
183
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11 Von der eigentlichen Bedeutung des Begriffs des Dings an sich …
nur zwei Betrachtungsaspekte: in einem Aspekt betrachtet man die Dinge in Beziehung auf die Bedingungen ihrer sinnlichen Gegebenheit, während in dem anderen Aspekt dieselben Dinge abstrahiert von jenen Bedingungen, und zwar als an sich selbst, betrachtet werden. Zu diesem Interpretationsmodus gehört vor allem Gerold Prauss und Henry Allison.2 Beide Interpretationen versuchen, alle oder zumindest die wesentlichsten Stellen, in denen Kant das Wort „Ding an sich“ gebraucht, aus ihren eigenen Deutungsmodellen zu erklären. Es ist klar, dass die beiden Ansichten durch Kants eigene Textbelege in unterschiedlichen Stellen vielfältig begründet werden können. Denn es gibt im Allgemeinen Zweideutigkeit in Kants Benutzung von den Ausdrücken „Ding an sich“ und „Erscheinung“, die für beide Seiten Unterstützung gibt.3 Daher ist es auch nicht zu leugnen, dass diese zwei Ansichten ihre theoretischen Vorteile in verschiedenen Aspekten haben.4 Aber sie haben ihrerseits auch Nachteile, weil weder die eine noch die andere allein den facettenreichen Begriff des Dings an sich erschöpfend erklären kann. In dem vorliegenden Kapitel liegt mein Fokus nicht in der etwa philologischen Analyse des Wortgebrauchs des Dings an sich bei Kant, sondern in den theoretischen Leistungen, die Kant erreichen wollte, wenn er diesen Terminus in seine Philosophie einführt. Daher werde ich im Folgenden das Problem des Dings an sich nach seinen theoretischen Wirkungen entfalten und mich zugleich mit den genannten beiden Deutungsmodi kritisch auseinandersetzen.
2Vgl.
Prauss 1974; Allison 2004. erklärt Marcus Willaschek. Vgl. Willaschek 2001, S. 679–690. 4Mit der Zwei-Welten-Interpretation wird z. B. die Moralphilosophie Kants deutlich unterstützt, indem das moralische Subjekt dann unabhängig von der Welt der Erscheinungen handelt. Auch die Quelle der Affektion bzw. der Ursprung des sinnlichen Mannigfaltigen kann offensichtlich dadurch gut erklärt werden. Die Zwei-Aspekte-Interpretation dagegen, indem sie zeigt, dass es sich bei der Unterscheidung zwischen Erscheinungen und Dingen an sich nur um verschiedene Betrachtungsweisen handelt, und dass die Erscheinung und das Ding an sich ein und dasselbe ist, kann die Andeutung auf eine andere Wirklichkeit und auf die Zufälligkeit der Erscheinungswelt vermeiden, die in jener Unterscheidung impliziert werden. 3So
11.1 Ding an sich im negativen Sinne als Stellebegriff …
185
11.1 Ding an sich im negativen Sinne als Stellebegriff und als Grenzbegriff 11.1.1 Der Stellebegriff des Dings an sich Wir haben zuvor gezeigt, dass Kant das menschliche Denken als Vermögen der diskursiven Synthesis bestimmt. Dies bedeutet schon, dass die Quelle der zu Synthetisierenden anderswo außer der Synthesis selbst liegen muss. Es muss also etwas vorausgesetzt werden, welches dem Denken Inhalte beständig anbietet, an denen sich die Synthesis selbst vollziehen kann. Als ein Zugang muss die Sinnlichkeit dann dienen, damit das Subjekt diese Quelle der Erkenntnis berühren kann. Deshalb ist die zu synthetisierende Vorstellung nur ein von der Rezeptivität und Sinnlichkeit empfangenes Etwas, und von der Seite des Subjekts gesehen ist sie nur eine Vorstellung, die unsere ist und sich von dem zu Empfangenden selbst unterscheidet. Dieses zu Empfangende selbst ist also etwas anders als ich und meine Vorstellungen und folglich ein Gegenstand an sich. Die Unterscheidung zwischen den Erscheinungen und den Dingen an sich taucht in diesem Kontext einfach auf. Mit der Lehre der transzendentalen Idealität des Raumes und der Zeit werden die sinnlichen Vorstellungen als bloße Erscheinungen gedacht, denn ohne Raum und Zeit würden den Vorstellungen die Formen der Anschauung fehlen. Und diese Formen der Anschauung gehen nur an der Erscheinung selbst; sie betreffen den Aspekt des zu empfangenden Gegenstandes an sich gar nicht und berühren diesen auch nicht. Für Kants transzendentale Philosophie wird es ein Überschreiten der eigenen Grenze sein, dass man über die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung, hier die Formen der Sinnlichkeit, hinauszugehen versucht, um etwas Unbestimmbares zu bestimmen. Weil das, was bestimmbar ist, nur die rezeptiv erhaltende sinnliche Anschauung ist, welche die Synthesis als die Inhalte ihrer Handlung betrachtet, und sich aber nicht auf den Gegenstand selbst richtet, führt Kant hier einen Begriff ein, der diesen Gegenstand als solches, und zwar als an sich selbst betrachtet, beschreiben kann, nämlich den Begriff des Dings an sich. Dies ist dasjenige, das Kant in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft als ein Etwas = X bezeichnet.5 Dieses X ist das Korrespondierende außerhalb unserer Vorstellungskraft bei der „Synthesis der Rekognition im Begriff“. Als etwas „von allen unseren Vorstellungen Unterschiedenes“ ist es für
5KrV, A
104.
186
11 Von der eigentlichen Bedeutung des Begriffs des Dings an sich …
uns nichts, weil wir außer unserer Vorstellung gar nichts haben können.6 Daher ist es ein nichtempirischer und transzendentaler Gegenstand. Dieser Begriff ist tatsächlich ein Indiz, das darauf hinweist, dass das Subjekt überhaupt eine Beziehung auf einen Gegenstand haben muss; d. h. ein Indiz für die Möglichkeit, den Vorstellungen, die wir haben, eine Gegenstandsbeziehung und deshalb objektive Realität zu verschaffen. Von der Seite des Subjekts gesehen ist es aber nur diejenige Einheit, die durch unsere notwendige Einheit der Apperzeption und unser Selbstbewusstsein einmal schon bestimmt wird, wenn wir eine Gegenstandsbeziehung herstellen müssen.7 Nur mit dieser synthetischen Einheit a priori darf man erst das Dawider in diese Gegenstandsbeziehung einsetzen. So ist der Gegenstand als solcher, als ein Ding an sich, in der Tat für Kant ein unbedingt zu setzender Begriff, den ich einen „Stellebegriff“ nenne, weil er keine Bestimmung der Gegenstände in sich enthält, sondern nur eine leere Stelle einnimmt, auf welche sich die sinnliche Anschauung bezieht, um Gegenstände der Erkenntnis zu sein. Als ein Stellebegriff ist das Ding an sich oder das transzendentale Objekt Gegenstand des reinen Verstandes, das Korrespondierende der rein intellektuellen Synthesis oder der bloßen Synthesis der Rekognition im Begriff. Kant führt diesen Begriff nur ein, um den Aspekt deutlicher zu zeigen, dass der reine Verstand unabhängig von der Sinnlichkeit operiert. Als ein bloßer Platzhalter stellt dieser Begriff keinen neuen Gegenstandsbereich her, der anders als der Bereich der Erscheinungen ist.8 Vielmehr hat er als Platzhalter zwei folgende theoretische Zwecke. Der eine Zweck liegt in der Organisationsweise der Argumentation, und zwar in der Setzung eines intellektuellen Gegenstandspols, auf den sich die mannigfaltigen Vorstellungen der Sinnlichkeit beziehen, um dann Erkenntnis zu sein. Zweitens gibt der Begriff der Dinge an sich als Platzhalter einen Vergleichspunkt, in Bezug auf den es gezeigt wird, dass dasjenige, was wir erkennen, sich
6KrV, A
105. 105f. A 108ff. 8„So ist denn der Begriff reiner bloß intelligibeler Gegenstände gänzlich leer von allen Grundsätzen ihrer Anwendung, weil man keine Art ersinnen kann, wie sie gegeben werden sollten, und der problematische Gedanke, der doch einen Platz für sie offen läßt, dient nur, wie ein leerer Raum, die empirischen Grundsätze einzuschränken, ohne doch irgend ein anderes Objekt der Erkenntnis, außer der Sphäre der letzteren, in sich zu enthalten und aufzuweisen.“ (KrV, A 259/B 315) „Die Kritik dieses reinen Verstandes erlaubt es also nicht, sich ein neues Feld von Gegenständen, außer denen, die ihm als Erscheinungen vorkommen können, zu schaffen, und in intelligiblen Welten, sogar nicht einmal in ihren Begriff, auszuschweifen.“ (KrV, A 289/B 345) 7KrV, A
11.1 Ding an sich im negativen Sinne als Stellebegriff …
187
auf die sinnlichen Bedingungen beziehen muss, unter denen die Gegenstände uns gegeben werden; Dieses unterscheidet sich also von dem, was abstrahiert von diesen Bedingungen betrachtet wird. Dies heißt mit anderen Worten: wir haben keine Erkenntnis davon, was die Dinge an sich selbst sind. Es lässt sich sagen, dass die „Zwei-Aspekte-Interpretation“ den Terminus „Ding an sich“ eben von diesem Stellebegriff her erklärt. Da Kant einen transzendentalen Gegenstand spezifisch als Objekt der Synthesis der begrifflichen Rekognition aufstellt, kann ein Missverständnis erweckt werden, als ob dieser Gegenstand ein etwa selbständiges, von den sinnlichen Gegenständen unterschiedenes Objekt wäre. Kant hat also in der B-Deduktion bekanntlich auf den Ausdruck eines „transzendentalen Gegenstandes = X“ verzichtet. Dies ist natürlich vor allem auf die Änderung der argumentativen Struktur der Deduktion zurückzuführen. Hier geht die Deduktion von der Grundstruktur des Ich-denke bzw. der Apperzeption aus. In der einfachen Konstruktion des Ich-denke muss zugleich ein Akkusativ vorausgesetzt, nämlich: Ich denke „etwas“.9 Dieser Satz selbst stellt schon eine Beziehung dar, in der es etwas Dawider gibt, oder etwas uns zuerst gegeben werden soll, damit die bloße denkende Apperzeption, die keine Inhalte von sich aus anbietet, etwas denken kann. Dieses „Gedachte“ wird in der synthetischen Einheit der Apperzeption als ein „Objekt“ vorgestellt, weil es in der Gegenstellung zu dem Subjekt steht: Ein Objekt ist nach Kant dasjenige, „in dessen Begriff das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung vereinigt ist.“10 Aber die Herstellung der Gegenstandsbeziehung ist eigentlich der Aktus der Synthesis bzw. der Apperzeption, bei dem das Subjekt noch innerhalb seiner selbst bleibt. Mit anderen Worten bildet das reine Ich-denke keinen eigenständigen Gegenstand. Dies zeigt sich noch deutlicher durch die Stelle der „intellektuellen Synthesis“ in der B-Deduktion: Kant hat nicht einmal einen selbständigen Gegenstand der intellektuellen Synthesis erwähnt, sondern diese nur als eine Funktion des reinen Verstandes als solches angesehen. Daher hat die Einführung der intellektuellen Synthesis nur den Zweck, einen Platz zu halten, um den funktionalen Unterschied zwischen Verstand und Sinnlichkeit zu verdeutlichen. Ein mögliches Korrespondierendes der intellektuellen Synthesis, auch wenn Kant es erwähnt hätte, ist bestenfalls auch ein Platzhalter und keineswegs ein neuartiger Gegenstand. Das heißt, es hat keine reale Bedeutung.
9Ich
folge hier dem Wortgebrauch („internal accusative“) von Henrich 2008, p. 41. B 137.
10KrV,
188
11 Von der eigentlichen Bedeutung des Begriffs des Dings an sich …
11.1.2 Der Grenzbegriff des Dings an sich Den Begriff des Dings an sich, der nur die funktionale Bedeutung eines Platzhalters hat, bestimmt Kant weiter als einen Grenzbegriff. Wie im Abschnitt 9.1.4 der vorliegenden Arbeit gezeigt, verwendet Kant den Begriff des Noumenon im negativen Sinne nicht darum, einen Bereich des unerkennbaren Gegenstandes zuvor zu bezeichnen, damit die Schwächen der menschlichen Erkenntnisfähigkeiten gezeigt werden. Vielmehr schränkt der Verstand vermittels dieses Begriffs die Sinnlichkeit ein, damit diese sich nicht auf die Dinge an sich erstreckt, und zugleich schränkt er dadurch sich selbst ein, so dass er nur das erkennt, was in der Sinnlichkeit gegeben wird. Dieser Gedanke der doppelten Beschränkung drückt die notwendige gegenseitige Bezogenheit zwischen dem Verstand und der menschlichen Sinnlichkeit in Bildung der Erkenntnis aus und erweist sich als das letzte theoretische Resultat der transzendentalen Analytik.11 Dabei bleibt Kant noch immer in seiner Schranke und schreitet er nicht über die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis heraus. So führt Kant von der epistemischen Grundoperation des Verstandes aus den Begriff des Dings an sich ein, und zwar einerseits als Stellebegriff, um die funktionale Differenz zwischen Sinnlichkeit und Verstandes zu zeigen, und andererseits als Grenzbegriff, um die notwendige Bezogenheit zwischen beiden in Bildung der Erkenntnis zu erweisen.12 Beide Funktionen führen zu derselben theoretischen Konklusion, dass der Begriff des Dings an sich keinen Gegenstandsbereich ausmalt, der durch den bloßen Verstand ganz unabhängig von jedem Bezug auf die Sinnlichkeit hergestellt und mithin notwendig ist – ein gedachter Bereich, im Vergleich zu dem der Bereich der Erscheinungen bzw. der Bereich unserer Erkenntnis nur zufällig wäre. Vielmehr ist das Ding an sich als Noumenon im negativen Sinne entweder ein funktionales Korrespondierendes der Synthesis des Subjekts oder das Zeichen für die Notwendigkeit des gegenseitigen Verhältnisses zwischen der menschlichen Sinnlichkeit und dem Verstand
11Dies
ist vielleicht der Grund, warum Kant den Gedanken des Noumenon im negativen Sinne am Ende der transzendentalen Analytik aufstellt. 12Die Zwei-Aspekte-Interpretation konzentriert sich auf den Begriff des Dings an sich als Noumenon im negativen Sinne, aber geht m. E. vor allem von dem Stellebegriff des Dings an sich aus und glaubt, dass Kant mit einem Stellebegriff desselben eine neue Perspektive für die Betrachtung des Gegenstandes eingeführt hat. Der Gedanke der doppelten Beschränkung in dem Grenzbegriff wird aber weder von Prauss noch von Allison berücksichtigt.
11.2 Ding an sich als Quelle der Affektion
189
bei der Bildung der Erkenntnis der Gegenstände. Die sinnlichen Dinge sind daher so beschaffen, wie wir sie durch unseren Verstand und Sinnlichkeit bestimmen und vorstellig machen. Die sogenannte „Verzerrung“ des Seins der Dinge durch die zufällige Anschauungsform wird also nicht aus dem Begriff des Dings an sich ergeben.
11.2 Ding an sich als Quelle der Affektion Noch einige Aspekte des Begriffs des Dings an sich können nicht aus dem Gedanken des Noumenon im negativen Sinne erklärt werden. Diese Aspekte hängen vor allem von Kants transzendentalen Ästhetik zusammen. Über die Sinnlichkeit ist Kant der grundlegenden Ansicht, dass die Dinge uns vermittels der Sinnlichkeit gegeben wird und in der Gestalt der mannigfaltigen Vorstellungen in unsere Apprehension eintreten. Aber wenn wir über die „Gegebenheit“ hier tiefer nachdenken, fragen wir uns selbstverständlich weiter, von woher diese mannigfaltigen Vorstellungen kommen und wer sie uns gibt. Sofern die Formen der Sinnlichkeit eigentlich die Bedingung der Rezeptivität des Subjekts sind, soll das Mannigfaltige der sinnlichen empirischen Anschauung so gedacht werden, dass es uns nur durch etwas gegeben wird, was außer uns liegt. Dieses außer uns liegende Etwas ist freilich keine Vorstellung innerhalb des Subjekts, sondern ein Gegenstand, durch dessen Wirkung auf die Sinnlichkeit das Subjekt die mannigfaltigen Vorstellungen bekommt. Diese Wirkung nennt Kant „Affektion“.13 Kant hängt das Problem der Affektion mit dem Begriff des Dings an sich zusammen, indem er dieses als die „intelligible Ursache der Erscheinungen“14 betrachtet. Aber wenn nun der Bereich der erscheinenden Gegenstände der einzige für die Erkenntnis ist und das Ding an sich keinen neuen Gegenstandsbereich kennzeichnet, wie ist es dann noch möglich, von der „Affektion durch das Ding an sich“ zu reden? Was er eigentlich bedeutet, wenn er sagt, dass wir durch das Ding an sich affiziert werden? Es ist besonders verwirrend, wenn er manchmal davon spricht, dass es die empirischen Gegenstände in der Erscheinung sind, welche unsere Sinne reizen (die sog. „empirische
13„Das
sinnliche Anschauungsvermögen ist eigentlich nur eine Rezeptivität, auf gewisse Weise mit Vorstellungen affiziert zu werden.“ KrV, A 494/B 522. 14KrV, A 288/B 344, A 494/B 522.
190
11 Von der eigentlichen Bedeutung des Begriffs des Dings an sich …
Affektion“), während er andersmal von der Affektion durch die Dinge an sich redet (die „transzendentale Affektion“). Wenn der Begriff des Dings an sich ein bloßer negativer ist und keine neue Gegenständlichkeit kennzeichnet, wird es selbstverständlich, den Gedanken der empirischen Affektion zu vertreten. Prauss hält während seiner Verteidigung einer Zwei-Aspekte-Interpretation eben diesen Gedanken der empirischen Affektion.15 Aber dieser Gedanke ist problematisch, wenn wir ihn mit Kants philosophischem Geschäft vergleichen. Problematisch ist er nicht nur deswegen, weil er Kants These nicht erklären kann, das Ding an sich sei intelligible Ursache der Erscheinung und liege dieser zugrunde; sondern vor allem auch deswegen, weil er etwas voraussetzt, was in der kritischen Philosophie nicht vorausgesetzt werden soll, nämlich die Entsprechung unserer Erkenntnis mit den Dingen in der Erscheinung. Diese Entsprechung, die in dem klassischen Empirismus unbewiesen impliziert, ist aber gerade diejenige, deren Möglichkeit Kant erst in der Kategoriendeduktion, und besonders durch die Einführung des Gedankens der transzendentalen Apperzeption, begründet. Wenn wir nun mit dem Gedanken der empirischen Affektion wieder zur Voraussetzung jener Entsprechung geführt würden, lief die ganze Arbeit der Deduktion, nämlich der Beweis der objektiven Gültigkeit der Kategorien, auch ins Leere. Man soll bemerken, dass die empirischen Bestimmungen sowie die Gegenständlichkeit eines Gegenstandes nichts anders als die Produkte der Leistungen der Subjektivität sind, und dass die empirischen Gegenstände in der Erscheinung als solche mithin etwas Nachträgliches bzw. das ist, was erst aufgrund der Affektion zustande kommt. Die Verteidiger der empirischen Affektion könnte so sagen: Da wir außer den sinnlichen Gegenständen keinen anderen Gegenstandsbereich haben, ist das uns Affizierende nichts anderes als jene sinnlichen Gegenstände, obwohl sie Produkte der Leistungen der Subjektivität sind. Diese Verteidigung kann aber das Problem der Affektion nicht erklären, weil der Gedanke, etwas von uns Konstituiertes affiziere uns und sei der Anlass dieser Konstitution, sinnlos ist und eigentlich nichts sagt. Und wenn man sagt, dass das uns Affizierende eben die sinnlichen Gegenstände sei, überschreitet man die Erkenntnisfähigkeiten des Subjekts und betrachtet man den Prozess der Erkenntnis aus einem göttlichen N ull-Standpunkt. Daher sollen wir auf die Alternative der empirischen Affektion verzichten. Obwohl wir außer den Erfahrungsgegenständen keine anderen haben und obwohl einige Formulierungen Kants die Affektion durch empirische Gegenstände
15Vgl.
Prauss 1974, S. 192 ff.
11.2 Ding an sich als Quelle der Affektion
191
andeuten, widerspricht dieser Gedanke der empirischen Affektion dem basalen Denkansatz der kritischen Philosophie. Daher ist die Affektion aus dem Begriff des Dings an sich zu erklären, und zwar als transzendentale Affektion, obgleich das Ding an sich bloß ein negativer Begriff ist. Mit anderen Worten muss das, was uns affiziert, als ein von unseren Erkenntnisbedingungen unabhängiges, an sich existentes Etwas verstanden werden.16 Die Zwei-Welten-Interpretation geht eben von dieser Funktion des Dings an sich als Ursprung der Affektion aus. Aber man muss bemerken, dass die Affektion durch Ding an sich nicht sofort bedeutet, dass man eine Welt der Dinge an sich als eine zweite Klasse der Gegenstände annimmt. Vielmehr ist es nach Kants kritischem Gedankengang nicht mehr berechtigt, über das erkennende Subjekt hinaus von dem Aspekt einer dritten Person, und zwar eines Außenstehenden, auszugehen, um zu erkunden, was außer uns und unseren Vermögen liegt. Deshalb können alle Dinge, die außer unseren Fähigkeiten und deswegen außer der Subjektivität liegen, unumgänglich nur durch einen Schluss gesetzt, aber niemals erkannt werden. D. h., wir können lediglich von dem Aspekt unserer Subjektivität her schließen, dass es etwas außer mir gibt, was irgendwie von den uns gegebenen Erscheinungen unterschieden ist, wobei wir aber doch die Existenz dieses „Etwas an sich selbst“ im dem erkenntnistheoretischen Sinne nicht wahrhaft festsetzen können. Ein solches geschlossene Etwas an sich darf also nur ein negativer Begriff sein, dessen der kantische Gedankengang bedarf, damit die Subjektivität ihre Grenze nicht überschreitet und sich allein auf sich selbst stützt. Obwohl die Zwei-Welten-Interpretation daher von der Funktion des Dings an sich als Quelle der Affektion ausgeht, bedeutet der Begriff der transzendentalen Affektion aber nicht sofort eine Unterstützung für den Gedanken einer anderen Welt bzw. einer anderen Klasse der Gegenstände. Denn Kant nennt diese Quelle zwar Dinge an sich, aber es liegt außer der Fähigkeit der menschlichen Vernunft, einen realen und bestimmten Begriff von diesen Dingen an sich zu machen. Dass diese „Dinge an sich“ als etwas irgendwie Reales betrachtet werden, kommt also von einer Missinterpretation her. Der Begriff des Dings an sich als die Quelle der Affektion ist eher ein funktionaler Begriff mit eigener theoretischen Leistung, als die Bezeichnung eines neuen Gegenstandsbereiches.
16Dies
ist gerade Henry Allisons Interpretation für das Problem der Affektion: Da dasjenige, das wir durch die Affektion in unserer Sinnlichkeit erhalten, unter den Bedingungen der Zeit und des Raums stehen muss, soll dasjenige, das uns affiziert, als unabhängig von diesen Bedingungen verstanden werden, nämlich als das „als Ding an sich Betrachtete“. (Vgl. Allison 2004, pp. 68 ff.)
192
11 Von der eigentlichen Bedeutung des Begriffs des Dings an sich …
Mit dem Begriff des Dings an sich als Quelle der Affektion unterscheidet sich Kant von dem rationalistischen Dogmatismus und dem subjektiven Konstruktivismus, denn die Inhalte der Erkenntnis werden nun nicht mehr von den angeborenen Begriffen und Prinzipien abgeleitet. Dadurch hält Kant einerseits den Spielraum für die empirischen Naturforschungen der einzelnen Wissenschaften offen: Weil der Ursprung der vielfältigen konkreten Erkenntnisinhalte nun nicht in uns selbst liegt; d. h., weil die Inhalte der Erkenntnis von den reinen Begriffen und Schlüssen des bloßen Verstandes befreit werden und vielmehr von der Erfahrung abhängig sind, werden die empirischen Wissenschaften also nicht von einer rein rationalistischen, dogmatischen Metaphysik verhindert und können ihre Forschung frei vertiefen. Die Vielfältigkeit der Erfahrung ist also kein geschlossenes Gedankending, auch kein von uns konstruiertes Subjektives. Andererseits kann die Metaphysik sich gegen den Vorwurf eines Dogmatismus verteidigen, indem sie nicht anmaßt, konkrete Erfahrungsinhalte aus dem bloßen Verstandesgebrauch abzuleiten, sondern die transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrungsgegenstände als ihre Aufgabe stellt. Als ein funktionaler Begriff bedeutet der Begriff der Dinge an sich also nichts anders als den Gedanken, dass die mannigfaltigen Erfahrungsinhalte nicht von mir als dem erkennenden Subjekt herkommen. Diese mannigfaltigen Erfahrungsinhalte können ihrerseits aber erst in dem Zusammenspiel von Kategorien und Zeit, nämlich unter den Leistungen der Subjektivität als Prinzip des Was-Seins, ihre Gegenstandsbeziehung schaffen und Objekte der Erkenntnis werden. In diesem Sinne repräsentiert der Begriff des Dings an sich nur die nicht von unserer endlichen Subjektivität anzugebene Quelle der Erfahrung. Nach der transzendental konzipierten Metaphysik liegen die grundliegenden Bestimmungen des Was-Sein eines Dings allein in dem Verstand (und dessen Kategorien) mit der Zeit, während die konkrete Erkenntnis nur durch die Erfahrung weiter von unserer wahren Erfahrungswelt gewonnen wird, die ihrerseits inhaltlich vermittels der transzendentalen Affektion möglich ist. Der Begriff der Dinge an sich soll theoretisch für die konkrete Angabe der vielfältigen empirischen Bestimmungen der Gegenstände der Erfahrung zuständig, obwohl er an sich leer ist. Freilich ist die Erfahrungsvielfältigkeit kein Thema der transzendentalen Philosophie Kants, die sich vor allem damit beschäftigt, die grundliegenden Bedingungen der Möglichkeit für eine solche Erfahrung anzugeben. Was eigentlich die Dinge in der Erfahrungswelt wirklich sind, das hat Kant nur der Erfahrung selbst überlassen. Mit der Setzung der Dinge an sich als intelligible Ursache der Erscheinungen gibt Kant die dogmatische Anmaßung des Rationalismus endlich auf, die empirischen Wissenschaften durch die reinen Begriffe und Schlüsse durchzuführen. Wir sollen in unserem
11.3 Ding an sich und das Problem des Dass-Seins der Gegenstände
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hilosophie-Geschäft nach nichts anders als demjenigen streben, welches nur zur P Grundlage der Erkenntnis überhaupt dient. Das Ding an sich als die intelligible Ursache der Erscheinung ist deshalb nichts anders als eine bloße Setzung bzw. ein bloßes Schließen durch das menschliche Denken. In diesem Sinne können wir Kants Gedanken, das Ding an sich sei die intelligible Ursache der Erscheinung, so interpretieren, dass es eigentlich eine durch den Verstand geschlossene Ursache ist und keine Ursache-Wirkung-Verhältnis in dem Sinne der Erscheinung bedeutet. Das Wort „intelligibel“ in jener Formulierung weist daher nicht auf eine intelligible Klasse der Gegenstände hin.17
11.3 Ding an sich und das Problem des Dass-Seins der Gegenstände Mehrere Funktionen des Begriffs der Dinge an sich, darin insbesondere die Funktion für den Hinweis auf die Quelle der Affektion, verweisen auf ein weiteres Problem, nämlich das Problem des Außer-mir-Seins der Gegenstände. Obwohl Kant diesen Aspekt nicht explizit mit dem Begriff des Dings an sich verbindet, aber man kann den Zusammenhang dieses Problems mit dem Begriff des Dings an sich aus Kants Gedankengang schließen. Der Verstand und die reinen Verstandesbegriffe können vermittels der Zeit allenfalls das Was-Sein eines Dings grundsätzlich bestimmen, während das Problem, ob dieses Ding in der Wirklichkeit gibt oder nicht, durch das Selbst allein nicht erklärt werden kann. Das heißt, das Rahmenwerk der Kategorien ist nicht in der Lage, das Dass-Sein eines Dings zu zeigen. Aus diesem Grund könnte der transzendentalphilosophische Gedanke Kants so missverstanden werden, dass die sinnlichen Dinge, die wir erkennen, bloß subjektiv und sogar Einbildung seien, weil die Erkenntnis von ihnen inhaltlich auf bloße subjektiven Vorstellungen beruhen. Um sich selbst von dieser Position des berkeleischen subjektiven Idealismus zu distanzieren, muss Kant noch die sinnlichen Dinge, die wir erkennen, als von mir unabhängig, und zwar außer mir, erweisen. Mit dem Begriff des Dings an sich als intelligible Ursache der Erscheinung, die mithin das Materiale der Anschauung liefert, können wir schließen, dass die Ursache unserer Vorstellungen nicht das Subjekt selbst, sondern ein anderes
17Wie
weitere philosophische Überlegungen von dem Gedanken der transzendentalen Affektion entwickelt werden kann, darauf gehe ich später in dem Ausblickskapitel 13 der vorliegenden Arbeit ein.
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11 Von der eigentlichen Bedeutung des Begriffs des Dings an sich …
ist, das von mir ganz unabhängig ist. Daher werden die Gegenstände, die aus diesen Vorstellungen gebildet werden, nicht ganz von uns selbst abhängig sein, sondern inhaltlich gesehen auch auf Etwas angewiesen, das anders als wir selbst ist. Dadurch erweist der Begriff des Dings an sich, dass es etwas außer mir gibt, was die Ursache der mannigfaltigen Vorstellungen ist. Dieses charakterisiert den Unterschied zwischen der kantischen Position und derjenigen des subjektiven Produktionsidealismus. Der Begriff des Dings an sich gilt also als Hinweis auf das Dass-Sein eines Dings. Er führt unser Subjekt dazu, dass dieses sich nicht mehr nur in sich selbst fängt. Dass der Begriff des Dings an sich weist auf etwas außer mir Liegendes hinweist, zeigt sich eigentlich schon in der Rede von einem unbekannten transzendentalen Gegenstand, die Kant in der A-Deduktion einführt, sowie in dem Begriff des „Objekts“ als Einheit der Anschauung überhaupt in der B-Deduktion, die in der reinen intellektuellen Synthesis zustande kommt. Während das sinnliche Ding selbst uns nur als das Mannigfaltige präsentiert, das uns durch die Anschauungsformen Zeit und Raum gegeben wird, muss die Einheit dieses Etwas, die ein Pendant unserer ursprünglichen synthetischen Apperzeption ist, als ein Ding an sich betrachtet werden. Mit dieser Setzung der Einheit des Gegenstandes als Ding an sich darf Kant gewährleisten, dass die sinnlichen Dinge außer dem Subjekt liegen und keine bloße subjektive Einbildungen sind. Mehrere Bedeutungen des Begriffs des Dings an sich verweisen zusammen auf ein außer mir liegendes Ding. Da aber dieser Begriff kein realer Begriff mit positiven Bestimmungen ist, kann man von diesem Verweis nicht direkt auf eine metaphysische These schließen, es sei Ding außer mir. Um diese These zu erreichen und die außer mir existierenden Gegenstände festzustellen, nämlich um das Dass-Sein der Gegenstände zu bestimmen, wird eine Leistung der Subjektivität erforderlich, die zuvor noch nicht von mir thematisiert wurde, nämlich die Leistung des Raums. Im Folgenden werde ich darauf eingehen.
Der Raum als das Prinzip des DassSeins der sinnlichen Gegenstände und die spannungsvolle Einheit der Subjektivität
12
Kant betrachtet die Zeit und den Raum beide als Formen der Sinnlichkeit. In der Kritik erwähnt Kant vielmals die Besonderheit der Zeit als Form des inneren Sinnes. Wir haben diese Besonderheit ferner als die Affinität zwischen Zeit und den Kategorien interpretiert, auf Grund deren die Zeit mit den Kategorien zusammen als das Prinzip des Was-Seins der Dinge fungiert. Dies bedeutet natürlich nicht, dass die Bedeutung des Raums in der Ontologie der Erfahrungsgegenstände geschwächt werden soll. Im Abschnitt 9.3 der vorliegenden Arbeit wurde schon kurz gesehen, dass der Raum nicht wie die Zeit unmittelbar durch die Kategorien bestimmt werden kann. Dies dient dort zwar zum Beweis der Affinität zwischen Zeit und Kategorien, zeigt aber zugleich auch eine gewisse Besonderheit des Raums, und zwar seinen Abstand zu dem Verstand bzw. den Kategorien. Diese besondere Stelle des Raums stellt sich tatsächlich schon deutlich in der Entwicklung des Gedankens Kants bis zu seiner „kritischen Periode“ heraus. Diesen Punkt werde ich in diesem Kapitel zunächst kurz betrachten. Dann werde ich den Grund dieser Besonderheit aus der engen Verbindung des Raums mit dem Dass-Sein des Gegenstandes erklären, um dann eine These über den Raum aufzustellen: der Raum ist das Prinzip des Dass-Seins des Dings. Dies führt schließlich zu einem neuen Verständnis über die Verfassung der Subjektivität bei Kant, die ich die spannungsvolle Einheit derselben nenne, in welcher sich der Verstand, die Zeit und der Raum als verschiedene Leistungen eines und desselben Subjekts für die Bestimmung des Seins der sinnlichen Gegenstände zueinander verhalten.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Liu, Zeit und Sein des Sinnlichen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61924-7_12
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12 Der Raum als das Prinzip des Dass-Seins der sinnlichen …
12.1 Die Besonderheit des Raums in Kants Denkentwicklung Wir können in der Entwicklung des philosophischen Gedankens Kants klar sehen, dass der Raum eine besondere Stelle in der Struktur der Subjektivität besitzt. Dies zeigt sich sehr deutlich in dem Aufsatz „Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raum“ (1768), wo Kant ein Gedankenexperiment von inkongruenten Gegenstücken führt. Dieses Experiment richtet sich gegen die leibnizsche Raumauffassung, der Raum sei nur die Relationen zwischen Dingen, und es gebe gar keinen Raum, wenn kein Ding existiere. Kant nimmt nun aber an, dass das erste Ding der geschaffenen Welt, das nun vorkäme, eine einzige menschliche Hand wäre. Sie muss freilich entweder eine linke Hand oder eine rechte sein. Aber die linke Hand und die rechte sind in allen deskriptiven Eigenschaften gleich (sie sind also die inkongruenten Gegenstücke), und die einzige Möglichkeit, die eine von der anderen zu unterscheiden, ist nach Leibniz ihre Beziehung auf andere Gegenstände. Aber nach der Annahme ist jetzt kein anderer Gegenstand, und derjenige Raum, der von dieser Hand einnimmt, ist der einzige vorhandene Raum, mit dem wir freilich nicht entscheiden können, ob diese Hand eine linke oder eine rechte ist. Diese Entscheidung aber muss man unbedingt machen, da es sein könnte, dass ein menschlicher Körper als nächstes Ding geschaffen wird und sich mit jener Hand verbinden muss; und die vorhandene Hand kann nur zu einem der Arme und nicht zu dem anderen passen. Kant kommt dann zum Schluss, dass es einen „inneren Grund“ geben muss, auf dem die gesuchte Untersuchung beruht.1 Das Ergebnis dieses Gedankenexperiments lässt sich weiter interpretieren. Der Unterschied der inkongruenten Gegenstücke, nämlich der räumliche Unterschied, ist anschauend deutlich, aber begrifflich unerklärlich.2 Entwicklungsgeschichtlich
1Vgl.
KGS II, S. 382 f. Dass Kant dann ohne weitere Begründung diesen „inneren Grund“ als den absoluten Raum erklärt, der als Grundlage aller räumlichen Relationen der Dinge gilt, und dass er bald auf diese Konklusion verzichtet, möchte ich nicht weiter thematisieren. 2„[Es fehlt] nicht an Schwierigkeiten, die diesen Begriff [des Raums] umgeben, wenn man seine Realität, welche dem inneren Sinne anschauend genug ist, durch Vernunftideen fassen will.“ (KGS II, S. 383, Herv. d. Verf.) Freilich soll man die hier gebrauchten Termini „inneren Sinn“ und „Vernunftideen“ nicht in ihren Bedeutungen der kritischen Zeit verstehen. Vielmehr drücken sie hier eigentlich jeweils die Sinnlichkeit und den begrifflichen Verstand aus.
12.1 Die Besonderheit des Raums in Kants Denkentwicklung
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gesehen ist Kant daraus zu einem Gedanken gekommen, dass es zwischen der anschaulichen und der begrifflichen Erkenntnis eine wesentliche, nicht bloß graduelle, Differenz gibt, und dass die Sinnlichkeit und der Begriff bzw. der Verstand als zwei wesensunterschiedlich Erkenntnisarten zu betrachten sind. Dies ist die Zweistämmigkeitsthese, die in der Inauguraldissertation durchgeführt wird (wo man den Verweis auf das Beispiel der inkongruenten Gegenstücke noch deutlich sehen kann3) und als Grundvoraussetzung der transzendentalen Philosophie in der Kritik gilt. Aber das Denkexperiment der inkongruenten Gegenstücke verrät noch einen weiteren Gedanken, der für unser Thema hier wichtig ist: Das Moment des Raums wird nicht vom Denken hergestellt; vielmehr erweist sich der Raum als eine neue Vorstellungsweise, die für die Sinnlichkeit zuständig ist. Im Vergleich dazu spielt die Zeit aber darin kaum Rolle. Es lässt sich daher behaupten, dass Kant vor allem bei dem Raum statt bei der Zeit ein von dem begrifflichen Vermögen des Verstandes unterschiedliches sinnliches Vermögen in den Sinn kommt. Seit der Inauguraldissertation 1770 betrachtet Kant den Raum mit der Zeit zusammen als beide Formen der Sinnlichkeit. Die Besonderheit des Raums gegenüber der Zeit wurde nicht spezifisch berücksichtigt. Erst in der Schrift Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaften, die etwa 4 Jahre später als die Kritik erschien, wird das Thema des Raums noch einmal besonders behandelt. Da diese Schrift sich auf die Problematik der Naturwissenschaften über die räumlichen Dinge bezieht, ist die Betonung des Raums selbstverständlich. Dann in der zweiten Auflage der Kritik (1787) werden zwei sehr wichtige Textstücke hinzugefügt, die eng mit dem Raum verbunden sind: die „Widerlegung des Idealismus“ und die „Allgemeine Anmerkung zum System der Grundsätze“. Dies zeigt die spezifische Rolle des Raums in der Theoriebildung der transzendentalen Philosophie, nämlich, der Beweis einer Außerwelt und die Darstellung der objektiven Realität der Kategorien sind ohne den Raum unmöglich. Diese Veränderungen in der zweiten Auflage der Kritik haben historisch gesehen
3Kant,
Inauguraldissertation, § 15 C., KGS II, S. 403: „Was in einem gegebenen Raum der einen Seite zugewandt liegt, was sich nach der entgegengesetzten hin erstreckt, kann durch keinen Scharfsinn diskursiv beschrieben oder auf Verstandesmerkmale (notas intellectuales) zurückgeführt werden. Auch findet sich bei vollkommen ähnlichen und gleichen, aber inkongruenten soliden Körper, von welcher Art die linke und rechte Hand… oder sphärische Dreiecke von zwei entgegengesetzten Halbkugeln sind, eine Verschiedenheit… Aus alledem ist ersichtlich, dass hier nur durch eine Art von reinen Anschauung (intuitione pura) die Verschiedenheit, nämlich die Inkongruenz, bemerkt werden kann.“
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den Grund in der Erwiderung auf die frühsten Rezensionen von der 1781-Kritik. Diese Rezensionen haben die Theorie Kants oft als eine neue Art von dem subjektiven, berkeleischen Idealismus missverstanden, nach dem die Gegenstände der Erkenntnis nicht anders als die Vorstellungen in uns sei und keine wirklichen Dinge außer uns.4 Um sich von einer solchen Haltung zu distanzieren, und auch um seine eigene Theorie nochmal zu stärken, muss Kant das Außer-mir-Sein der sinnlich erscheinenden Dinge begründen, und beweisen, dass die Kategorien eigentlich für die außer mir existierenden Gegenstände gelten.5 Für beide Zwecke spielt der Raum als Form des äußeren Sinnes eine entscheidende Rolle. Wie diese Rolle zu verstehen ist, darauf gehe ich im Folgenden ein.
12.2 Der Raum als das Prinzip des Dass-Seins der Gegenstände Von der obigen Darstellung der Besonderheit des Raums in der Entwicklungsgeschichte der kantischen Philosophie können wir schon sehen, dass der Raum in einem gewissen Verhältnis zu dem Dass-Sein der Dinge und zu der Unterscheidung der Dinge in ihrem Dass-Sein steht. Im Folgenden möchte ich von zwei Hinsichten zeigen, wie der Raum in der Subjektivität die Leistung als Prinzip des Dass-Seins der Gegenstände vollbringt. (1) In den vorherigen Untersuchungen ist schon klar, dass das Selbstbewusstsein und seine reinen Verstandesbegriffe vermittels der ontologischen Zeit das Was-Sein eines Dings bestimmen können. Aber das Problem, ob dieses Ding in der Wirklichkeit liegt oder nicht, d. h. das Problem des Dass-Seins des Dings, kann durch den Verstand allein nicht erklärt werden; mit den transzendentalen Zeitschemata kann aber nur das Was-Sein eines Dings näher in der Anschauung vorgestellt. Aber das Dass-Sein dieses Dings zu zeigen, dazu ist weder das Selbstbewusstsein mit seinen Kategorien noch die Zeit in der Lage. So muss es etwas Anderes als unser Selbst geben, das dazu führt, dass dieses Selbst sich nicht mehr nur in sich selbst fängt. Nur so können wir sicher sein, dass es etwas wirklich gibt
4Vgl.
Garve 2001. Widerlegung des Idealismus, als Zusatz zu dem Abschnitt über das „Postulat der Wirklichkeit“, richtet sich vor allem nicht direkt auf Berkeleys „dogmatischen“, sondern auf den cartesianischen „problematischen“ Idealismus. Aber diese Widerlegung gilt m. E. auch für den berkeleische Idealismus.
5Diese
12.2 Der Raum als das Prinzip des Dass-Seins der Gegenstände
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und dass die Gegenstände, die wir hinsichtlich des Was-seins erkennen, außer uns liegen. In der „Widerlegung der Idealismus“ versucht Kant dieses Problem aufzulösen, indem er beweist, dass sogar die Möglichkeit unserer inneren Erfahrung eine äußere Erfahrung voraussetzen muss. D. h., es muss „ein Dasein der Gegenstände im Raum außer mir“ sein, um das Bewusstsein meines eigenen Daseins zu ermöglichen.6 Denn das Bewusstsein in der Zeit, wie unsere innere Anschauung darstellt, etwas Beharrliches notwendig voraussetzt, das die Zeitbestimmungen, und zwar die Zeitbestimmungen in mir, ermöglicht. Aber dieses Beharrliches muss etwas außer mir sein, denn die Anschauung in mir ist nicht imstande, dieses Beharrliches darzustellen. Allein durch dieses Außer-mir-Sein darf man die Zeitbestimmungen als objektiv betrachten. Dieses Außer-mir-Sein soll offensichtlich nicht eine bloße Vorstellung in mir, sondern etwas ganz anderes als ich sein, das in einer äußeren Anschauung repräsentiert wird. Denn auch eine bloße Vorstellung eines „Dings außer mir“ ist noch etwas in mir, das von der Spontanität des Selbst abhängig ist.7 Der belangvollste Punkt hier ist also etwas Anderes als Ich-Selbst in seinem Dasein, das mir dann die objektive Erkenntnis in der Wirklichkeit sichert. Es ist nicht schwer einzusehen, dass in dieser Widerlegung des Idealismus die Funktion der Aufweisung dessen, dass es etwas Anderes außer mir gibt, eigentlich durch den Raum geübt wird. Der Raum ist nämlich das Prinzip, wodurch wir etwas als außer uns aufweisen: „[D]amit gewisse Empfindungen auf etwas außer mich bezogen werden (d. i. auf etwas in einem andern Orte des Raumes, als darinnen ich mich befinde), imgleichen damit ich sie als außer und neben einander, mithin nicht bloß verschieden, sondern als in verschiedenen Orten vorstellen könne, dazu muß die Vorstellung des Raumes schon zum Grunde liegen.“8 6KrV,
B 275. B 276f. Anmerkung: „Es ist aber klar, daß, um uns auch nur etwas als äußerlich einzubilden, d. i. dem Sinne in der Anschauung darzustellen, wir schon einen äußeren Sinn haben, und dadurch die bloße Rezeptivität einer äußeren Anschauung von der Spontaneität, die jede Einbildung charakterisiert, unmittelbar unterscheiden müssen. Denn sich auch einen äußeren Sinn bloß einzubilden, würde das Anschauungsvermögen, welches durch die Einbildungskraft bestimmt werden soll, selbst vernichten.“ 8KrV, A 23/B 38. Vgl. auch KrV, A 22/B 37: „Vermittelst des äußeren Sinnes (einer Eigenschaft unsres Gemüts) stellen wir uns Gegenstände als außer uns, und diese insgesamt im Raume vor.“ (Herv. v. Verf.) KrV, A 27/B 43: „Die beständige Form dieser Rezeptivität, welche wir Sinnlichkeit nennen, ist eine notwendige Bedingung aller Verhältnisse, darinnen Gegenstände als außer uns angeschauet werden, und, wenn man von diesen Gegenständen abstrahiert, eine reine Anschauung, welche den Namen Raum führet.“ (Herv. v. Verf.) 7KrV,
200
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Obwohl der Raum als reine Anschauungsform zu unserer Sinnlichkeit und deshalb unserer Fähigkeit gehört, ist er aber immer die reine Form aller äußeren Anschauung, nämlich die Bedingung a priori, welche aber bloß auf äußere Erscheinungen eingeschränkt ist.9 Etwas im Raum vorzustellen, bedeutet es deshalb unbedingt, dass wir dieses Ding als etwas uns Äußeres aufweisen. Da ein Mannigfaltiges zugleich in der Zeit und im Raum vorgestellt werden soll – mit anderen Worten: da es kein anderes Mannigfaltiges in der äußeren Anschauung gibt, als das in der inneren Anschauung –, so ist die innere Anschauung inhaltlich schon genug, das Was-Sein des Dings vorzustellen. Dagegen ist der Raum als Anschauungsform des äußeren Sinnes für die Aufweisung dessen zuständig, dass etwas Äußeres, und zwar etwas außer und unabhängig von mir, wirklich existiert. Er ist ausreichend für die Aufweisung eines Außer-mir-Seins. Daher ist der Begriff der Dinge an sich nicht nötig, um etwas über das Selbst hinauszuweisen. Diese Funktion des Raums als Prinzip des Dass-Seins des Dings zeigt sich auch deutlich in der „Allgemeine Anmerkung zum System der Grundsätze“, obwohl in einem anderen Thema, nämlich dem Thema vom „Dartun“ der objektiven Realität der Kategorien. Kant sagt hier, dass, um die objektiven Realität der Kategorien darzutun, man „nicht bloß Anschauungen, sondern sogar immer äußere Anschauungen“ braucht.10 Unser Thema hier ist nicht das Problem der objektiven Realität der Kategorien, sondern das Verhältnis des Raums zu der Bestimmung des Dass-Seins des Gegenstandes. Daher übergehe ich die Einzelheiten, die Kant in dem Text der „Allgemeine Anmerkung“ nach der Abfolge der Kategorientafel gegeben hat. Wichtig ist es nun, dass die Notwendigkeit der äußeren Anschauung für die Darstellung der objektiven Realität gerade bedeutet, dass die intelligible Struktur, die durch die Kategorien bezeichnet wird, nur in Bezug auf die äußere Anschauung die Bestimmung der Gegenstände durchführen kann, die ihrerseits außer dem Subjekt existieren. (2) In der Auseinandersetzung mit dem Satz des Nichtzuunterscheidenden (principium identitatis indiscernibilium) von Leibniz betont Kant wiederum den Aspekt des Raums als Prinzip des Dass-Seins der sinnlichen Gegenstände. Kant gibt zu, dass jener Satz gilt, wenn man die Dinge hinsichtlich ihrer Begriffe, und zwar ungeachtet ihrer Beschaffenheit als sinnlicher Dinge, betrachtet: Zwei Gegenstände des reinen Verstandes, sofern sie den Begriffen bzw. den inneren Bestimmungen nach völlig gleich sind, können als numerisch identisch
9KrV, A 10KrV,
34/B 50f. B 291.
12.3 Die Konzeption der spannungsvollen Einheit der Subjektivität
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verstanden werden. Aber wenn nun zwei sinnliche Dinge verglichen werden, muss man bemerken, dass die Dinge ihre Örter in dem Raum haben, die aber ihrerseits den inneren Bestimmungen der Dinge gleichgültig sind. Ein Ding B, egal ob es dem Ding A in dem Ort a hinsichtlich der inneren Bestimmungen völlig gleich oder völlig ungleich ist, kann von dem Ort b aufgenommen werden und ist mithin dem Ding A numerisch verschieden. Kant zeigt dadurch deutlich, dass die „Verschiedenheit der Örter“ ausreicht, die „Vielheit und Unterscheidung“ der sinnlichen Gegenstände zu machen, und dass dafür keine „weitere Bedingung“ erforderlich ist.11 Es ist offenbar, dass die hier thematisierte Verschiedenheit keine inneren Bestimmungen bzw. kein Was-Sein der Dinge betrifft, sondern die Unterscheidung im Dass-Sein ist. In dieser Auseinandersetzung mit Leibniz erweist sich der Raum als Prinzip für die Unterscheidung der Dinge im Dass-Sein, wodurch die Dinge individuiert werden. Der innere Sinn spielt in dieser Unterscheidung keine Rolle. So gilt der Raum nicht nur als das Prinzip für die Aufweisung des Außer-mir-Seins des Dings, sondern auch als das Prinzip für die Verschiedenheit der Dinge in ihrem Dasein; mit einem Wort: der Raum ist das Prinzip des Dass-Seins der sinnlichen Dinge. Durch den Raum als Form der äußeren Anschauung geht das Subjekt über sich hinaus und richtet sich auf einen außer ihm liegenden Gegenstand.
12.3 Die Konzeption der spannungsvollen Einheit der Subjektivität Wir haben nun zwei Thesen, die eine über die Zeit (mit den Kategorien zusammen) als Prinzip des Was-Seins des Dings, die andere über den Raum als Prinzip des Dass-Seins desselben. Beide Thesen zeigen zusammen, welche Rollen die verschiedenen Leistungen des Subjekts in der apriorischen Bestimmung des Seins der Gegenstände spielen. Dadurch wird zugleich erwiesen, dass die Zeit und der Raum nicht zufällig dem Verstand des Subjekts hinzugefügt werden, sondern die notwendigen Bedingungen für die Bestimmung des Seins der Gegenstände außer dem Subjekt sind. Mit diesen Bedingungen bzw. Leistungen bleibt das Denken nicht mehr bei sich selbst stehen, sondern es bestimmt das Sein außer ihm. Daher bedeuten die beiden Thesen zugleich auch
11Vgl.
KrV, A 272/B 328.
202
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zwei Aspekte von der Tätigkeit, in der das Subjekt auf die Bestimmung des Seins der sinnlichen Gegenstände hinausgeht. Diese beiden Aspekte haben zwei Momente: das Was-Sein des Dings und das Dass-Sein desselben. Die Termini „Was-sein“ und „Dass-sein“ findet man bei Kant selber expressis verbis natürlich nicht. Aber die Gedanken, die durch diese Termini ausgedrückt werden können, spielen immer schon eine entscheidende Rolle in Kants Lehre über die Bedingung der Möglichkeit der Erfahrungsgegenstände: die Objektivität der Vorstellung eines Dings einerseits und der objektiven Realität derselben andererseits. Kant selbst hat in der Kritik der reinen Vernunft den Terminus „Objektivität“ kaum benutzt. Dennoch benutzt er oft die adjektivische Form „objektiv“. Er spricht immer von der „objektiven Gültigkeit“ und der „objektiven Realität“, wobei man die Gemeinsamkeit des Wortgebrauchs „objektiv“ sofort bemerkt. Der Gebrauch von diesem Wort soll ferner auf seine substantivische Form „Objekt“ und seine Definition zurückgeführt werden, damit wir dies „objektiv“ davon aus verständlich machen können. Kant definiert den Terminus „Objekt“ als folgendes: ein Objekt ist das, „in dessen Begriff das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung vereinigt ist.“12 In diesem Sinne ist das Objekt ein solcher Begriff, wodurch allein ein Gegenstand überhaupt gedacht werden kann. Die Gestaltung dieses Objekts ist in der Tat nur durch den Verstand möglich. Insbesondere ist die ursprünglich synthetische Einheit der Apperzeption dafür zuständig, durch die allein das Mannigfaltige in ein Bewusstsein gebracht werden kann. Diese Einheit der Apperzeption ist dann das einzige Moment, das „eine Beziehung der Vorstellungen auf einen Gegenstand“ ausmacht.13 Das heißt: Damit irgendetwas ein Objekt für uns wird, muss ihm die synthetische Einheit des Bewusstseins als die notwendige Bedingung zugrunde liegt. Deshalb ist diese transzendentale Einheit der Apperzeption der Grund für die Gestaltung des Begriffs vom Objekt, oder anders gesagt, sie konstituiert erst die Objektivität eines Gegenstands, weil ohne sie gar kein Gegenstand für uns Objekt werden kann. Die Objektivität betont daher die Objekt-Seite eines Dings, wobei natürlich nicht besagt wird, dass wir ein Objekt hervorgebracht und produziert haben, sondern dass ohne die subjektive Leistung der transzendentalen Einheit der Apperzeption das Mannigfaltige uns nicht als Objekt in einem Bewusstsein gefasst und hinsichtlich seines grundlegenden Was-Seins bestimmt werden kann.
12KrV, 13KrV,
B 137. B 137.
12.3 Die Konzeption der spannungsvollen Einheit der Subjektivität
203
Natürlich ist der Gegenstand hier, der die Objektivität hat, kein Gegenstand des bloßen Verstandes. Da das Objekt per definitionem „das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung“ in sich enthält, bezieht es sich auf Anschauung und ist es mithin der Gegenstand der figürlichen Synthesis. Daher spielt die Zeit als die apriorische Form der inneren Anschauung schon in der Herstellung der Objektivität eine entscheidende Rolle, und zwar als die sinnliche Bedingung für die Anwendung der kategorialen Synthesis. Eine ähnliche Überlegung von der Gestaltung der Objektivität befindet sich auch in der ersten Auflage der Kategoriendeduktion, aber in einem anderen Gedankengang. Dort stellt Kant einen besonderen Begriff eines Etwas überhaupt = X auf. Vermittels dieses Begriffs ist es Kant möglich, das zu erörtern, was eigentlich nicht in dem Subjekt gehörig ist und erörtert werden soll, nämlich den Gegenstand als solchen. Denn der Gegenstand wird als solcher uns allein durch Anschauung gegeben und soll deshalb außer uns sein, während das Mannigfaltige, das wir aufnehmen, nur Vorstellungen in uns ist. So muss es etwas in uns geben, das diesen Gegenstand außer uns repräsentiert, ein Dawider, dennoch in der Tat eine Repräsentation eines wirklichen Dawider in uns. Für Kant ist deshalb dieses X als ein transzendentales Objekt die a priori vorhergehende Bedingung dafür, dass etwas außer uns de facto ein Objekt für uns wird. Weil wir in uns keinen Gegenstand als wirkliches Dawider haben können, sondern allein unsere Einheit des Selbstbewusstseins, kann die Objekt ermöglichende Grundlage deswegen nur die Einheit der Apperzeption sein, die erst den Begriff von einem Gegenstand möglich macht.14 Daher darf man sagen, dass erst das Subjekt bzw. die Apperzeption die Objektivität eines Gegenstands konstituiert. Dieses X als das transzendentale Objekt ist in der Tat nur das Korrelatum unserer Apperzeption.15 Dieser Prozess der Objektivierung der Vorstellungen ist aber nur der erste Aspekt, über das Subjekt hinaus auf ein Objekt zu gehen. Denn das sich daraus ergebende Produkt ist zwar ein Objekt, doch noch ein Objekt in uns. Unsere Apperzeption macht nur etwas aus, das von dem Subjekt gesehen „dawider“ sein kann, das seinerseits aber noch in dem Subjekt liegt. Sofern Kant in der Kategoriendeduktion und besonders durch den Schematismus beweist, dass das Objekt schon eine unzertrennliche Beziehung mit der sinnlichen Anschauung
14KrV, A 15KrV, A
104f. 250.
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hat, und zwar mit der Zeit als Form des inneren Sinnes in dem hiesigen Fall,16 können wir sagen, dass in diesem Objekt schon alles, was für das Was-Sein eines Dings erforderlich ist, enthalten wird. Deshalb können wir die Objektivität des Gegenstandes, welche die Leistung der Kategorien und der Zeit ist, mit dem WasSein eines Dings gleichsetzen, obwohl mit einiger theoretischen Veränderung der Standpunkte. Aber um ein Objekt in Wirklichkeit sein zu lassen, oder Etwas in Wirklichkeit zu realisieren, ist außerhalb des ersten Aspekts der Objektivierung noch ein weiterer Aspekt nötig. Dieser Prozess der Realisierung ist in Kants Formulierung als „die objektive Realität“ eines Begriffs des Dings zu verstehen: „Wenn eine Erkenntnis objektive Realität haben, d.i. sich auf einen Gegenstand beziehen, und in demselben Bedeutung und Sinn haben soll, so muß der Gegenstand auf irgend eine Art gegeben werden können.“17 Die objektive Realität ist für Kant die Möglichkeit eines Objekts. Das heißt: Allein wenn etwas uns wirklich gegeben wird, oder uns der Möglichkeit nach wirklich gegeben werden kann, können wir dann sagen, dass seine Erkenntnis sich auf einen Gegenstand außer uns bezieht. Dies bedeutet, dass wir dafür eine äußere Affektion voraussetzen müssen, die uns die Möglichkeit davon bietet, dass uns etwas gegeben wird. In Kants Erzählung wird dieser Aspekt der Realisierung als die Beziehung auf die „Anschauung“ betrachtet.18 Aber die „Anschauung“ hier muss als die äußere Anschauung zu verstehen. Nach unserer Erörterung wird die Beziehung auf die innere Anschauung in der Tat schon als ein Moment in dem ersten Aspekt, nämlich dem Aspekt der Objektivierung, enthalten. Nur die äußere Anschauung verbindet sich allein mit der Gegebenheit und daher mit der Realisierung eines Objekts. Denn die Vorstellungen der inneren Anschauung können auch nur Phantasie oder Einbildung sein und beziehen sich daher nicht unbedingt auf die äußere Gegebenheit. Was Kant hier mit dem Wort „Anschauung“ ausdrücken wollten, soll deswegen eigentlich die Rezeptivität bzw. die Gegebenheit sein, sogar eine mögliche Gegebenheit, die allein dem Aspekt der Realisierung des
16KrV,
B 146ff. Auch, A 251. Dies hat eigentlich mit dem Begriff eines bestimmten Objekts zu tun, weil erst ein solches Objekt ein bestimmtes ist, nämlich ein mit der Anschauung verbundenes ist, während ein Objekt ohne Anschauung nur ein unbestimmter Gedanke von Etwas überhaupt ist, welches aber tatsächlich allenfalls hypothetisch möglich ist. 17KrV, A 155/B 194. 18KrV, A 155f./B 195: „Einen Gegenstand geben, wenn dieses nicht wiederum nur mittelbar gemeint sein soll, sondern unmittelbar in der Anschauung darstellen,…“
12.3 Die Konzeption der spannungsvollen Einheit der Subjektivität
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Objekts gehört. Die Gegebenheit ist daher zwar der Form nach noch mit der Sinnlichkeit und der sinnlichen Anschauung verbunden, aber sie bedeutet für sich genommen nicht mehr die Anschauung als solche, sondern das, was die Anschauung erst ermöglicht. Dieser zweite Aspekt der Realisierung enthält dann die einzige Möglichkeit dafür, dass uns etwas gegeben wird, und deswegen erst die einzige Möglichkeit, über das Subjekt hinaus zu gehen, so dass ein Gegenstand de facto außer uns existiert, als ein wirkliches Dawider. In diesem Aspekt der Realisierung des Objekts ist offensichtlich das Dass-Sein eines Dings zu denken, indem es etwas aufweist, das außer uns ist. Der Raum als Form der äußeren Anschauung repräsentiert deshalb die einzige wirkliche Bedingung für diese Gegebenheit, indem er das Außer-Sein darstellt. Ohne ihn kann das schon objektivierte Objekt nicht als etwas außer uns betrachtet werden, und das Hinausgehen aus dem Subjekt kann nicht zustande kommen. Er steht also, als das Prinzip des Dass-Seins eines Dings, in Zentrum des Aspekts der Realisierung des Objekts, womit wir uns die von dem Denken bestimmten sinnlichen Gegenstände als außer uns vorstellen können. Diese ontologische Funktion des Raums zeigt deutlich, dass das Subjekt bei Kant nicht einfach das Gegebene rezeptiv empfängt, sondern dass es dem Subjekt in diesem Empfangen zugleich gewiss ist, welche Funktion diese Gegebenheit aufweist. Wichtiger ist es, dass das Subjekt sich in dieser Funktion des Raums von dem Anderen unterscheidet – Dies ist eine Unterscheidung nicht allein in dem Bewusstsein, wobei die Objektivierung schon reicht und der Raum nicht nötig ist, sondern vor allem in dem Sein. Freilich würde ich mit den beiden Thesen über Zeit und Raum nicht behaupten, Kant vertrete die Ansicht, dass einige Dinge nur in der Zeit, aber nicht in dem Raum existieren würden, oder die Dinge zunächst in der Zeit und dann erst in dem Raum existieren würden. Diese metaphysischen Thesen mögen nicht falsch sein, aber sie sind nicht dasjenige, was ich mit dem oben Erläuterten meinte. Wir reden nur deshalb zunächst von dem Was-Sein des Gegenstandes und dann auf dessen Grundlage von dem Dass-Sein desselben, weil wir uns leicht vorstellen können, dass etwas, das die Bestimmungen des Was-Seins in sich besitzt, jedoch nicht außer dem Subjekt existiert bzw. nicht als Objekt realisiert. Aber es ist schwer für uns umgekehrt zu denken, dass irgendetwas, das existiert, gar keine Was-Bestimmungen hat. Also behandeln wir die Zeit und den Raum deswegen getrennt, weil die Zeit und der Raum jeweilig ihre eigenen ontologischen Funktionen leisten, nämlich, die Zeit bezieht sich nur auf die Bestimmung des Was-Seins (die Objektivität) und der Raum bezieht sich nur auf die Bestimmung des Dass-Seins der Dinge (die objektive Realität). Die Gegenüberstellung des Aspekts der Objektivierung mit dem der Realisierung ist insofern ein entscheidendes Moment in Kants Philosophie, als sie
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12 Der Raum als das Prinzip des Dass-Seins der sinnlichen …
mit den beiden genannten Thesen eine Spaltung der Leistungen der Subjektivität bezeichnet. Obwohl die Zeit und der Raum beide Formen der Anschauung sind, macht die Zeit mit den Kategorien zusammen das Prinzip des Was-Seins eines Dings aus und zeigt die konstitutive Leistung der Subjektivität in der Bildung der Gegenständlichkeit der Erfahrungsgegenstände.19 Der Raum als Prinzip des Dass-Seins drückt dagegen die Leistung aus, dass die Gegenstände, die dem Was-Sein nach in der Subjektivität konstituiert werden, real und außer uns sind. Die Leistung der Konstitution des grundlegenden Was-Seins der Gegenstände durch das Subjekt einerseits und die Leistung der Realisierung oder Außer-mir-Aufweisung der so konstituierten Gegenstände durch dasselbe Subjekt andererseits sind gleichermaßen notwendig für die Subjektivität, obwohl sie beide einander konfliktiv scheinen und eine Spaltung innerhalb der Subjektivität darstellen. Die Kategorien, die Zeit und der Raum sind daher für verschiedene Leistungen zuständig.20 Zuvor wurde schon in Abschnitt 9.3 der vorliegenden Arbeit gezeigt, dass der Raum nicht durch die Kategorien unmittelbar und transzendental bestimmt werden kann. Davon sieht man, dass der Raum auf einer Seite des Subjekts und die Kategorien mit der durch sie bestimmbaren Zeit auf der anderen Seite stehen. Daher beruht die Spaltung der Subjektivität wesentlich auf ihren verschiedenen Leistungen. Trotzdem ist die Subjektivität einheitlich, und die beiden Leistungen sind verschiedene ontologische Fähigkeiten eines und desselben Subjekts. Die Trennung und Verbindung innerhalb der Subjektivität, die Kant mit dem Verhältnis zwischen Verstand und Sinnlichkeit ausdrücken will, ist in der Tat die spannungsvolle Einheit der genannten Leistungen des Subjekts, und zwar zwischen der Konstitution des Grundrahmens des Was-Seins der Gegenstände und der Außer-dem-SubjektAufweisung dieser Gegenstände durch das Subjekt. Ich möchte diese Einheit der Subjektivität bei Kant die spannungsvolle Einheit derselben nennen, nach der die erkennende Subjektivität nicht von dem Problem der Zufälligkeit der menschlichen Anschauungsformen gestört wird; die Zeit und der Raum gehören wie die Kategorien notwendig dem erkennenden Subjekt und verantworten verschiedene Leistungen desselben. Wir können also leicht einsehen, dass diese spannungsvolle Einheit der Subjektivität für die kantische Transzendentalphilosophie
19Freilich
darf man diese Konstitution der Gegenstände nicht als eine absolute verstehen, denn es geht hier nur um die Grundbestimmungen des Was-Seins der Dinge. 20Daher ist es nicht ohne Gründe, dass der Raum in dem Schematismus-Kapitel keine bedeutsame Rolle, oder sogar gar keine Rolle spielt, weil der Raum sich wirklich nicht an der Konstruktion des Was-Seins des Seienden beteiligt.
12.3 Die Konzeption der spannungsvollen Einheit der Subjektivität
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wesentlich ist, sofern Kant dadurch von dem empiristischen Realismus einerseits unterschieden wird, indem das Subjekt nicht bloß passiv das aufnimmt, was die Realität an sich ist, und andererseits auch von einem Produktionsidealismus, nach dem die Objekte und sogar die ganze Welt völlig von den konstitutiven Funktionen des Subjekts abhängig sind.
Ein Ausblick: das Problem der Notwendigkeit der endlichen Subjektivität und der Weg zur Konzeption des absoluten Subjekts
13
Bis hierher sind die Hauptprobleme bei Kant, die meine Arbeit zum Gegenstand machen muss, schon wesentlich behandelt worden. Aber es bleibt noch ein Problem unerörtert, das zwar schon gewissermaßen über das Hauptthema meiner vorliegenden Arbeit hinausgeht, aber noch mit dem Verhältnis der Subjektivität zu dem Sein der sinnlichen Dinge verwandt ist. Dieses Problem führt aber zu dem Übergang von Kant zu dem nachkantischen Idealismus. Ich möchte hier einen kurzen Ausblick auf dieses Problem machen, um den Hauptteil über Kant abzuschließen. Wir haben zuvor das Schwanken bei Kant erwähnt: Er lässt manchmal die Möglichkeit einer anderen Art der Anschauung zu und stellt den Begriff des Dings an sich auf; aber er denkt in der Tat nicht an der Möglichkeit anderer Anschauungsformen. Denn Kant führt den Begriff des Dings an sich deswegen ein, weil er die im Kapitel 11 der vorliegenden Arbeit angegebenen theoretischen Ansprüche erfüllen muss. Aus dieser Einführung des Dings an sich resultiert ein Problem, das die Möglichkeit anderer Anschauungsformen offenlässt. Aber diese Möglichkeit ist nur die theoretische logische Möglichkeit, nicht die reale. Dies hat eigentlich ihre Wurzel in der scharfen Trennung zwischen Sinnlichkeit und Verstand. Daher kommt bei der Auflösung dieses Problem darauf an, das Verhältnis zwischen Sinnlichkeit und dem Verstand neu zu verstehen. Dies wird nach unserer obigen Interpretation durch den Gedanken der Einheit der Subjektivität erledigt, nämlich die Einheit in einer Spannung zwischen der Leistung der Konstitution des grundlegenden Was-Seins der Erfahrungsgegenstände durch das Subjekt vermittels der Kategorien und der Zeit auf einer Seite und der Leistung der Außer-mir-Aufweisung derselben Gegenstände durch dasselbe Subjekt vermittels des Raums als Form der äußeren Anschauung auf der anderen Seite. Daher sind für Kant der Verstand (mit ihren Kategorien) und die Sinnlichkeit © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Liu, Zeit und Sein des Sinnlichen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61924-7_13
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notwendig aufeinander bezogen und der Gegenstandsbereich, den das Subjekt erkennt, ist der einzige und frei von Zufälligkeit. So glaubt Kant bewiesen zu haben, dass das, was das erkennende Subjekt erkennt, eigentlich die Gegenstände selbst seien. Aber was Kant in Wahrheit bewiesen hat, ist das folgende: Dass wir nur durch die vorhandenen Kategorien denken können und dass die Sinnlichkeit (besonders die Zeit) notwendig mit diesen Kategorien übereinstimmt, sind die Grundfakten des Erkennens unseres Subjekts, auf deren Grund die von dem Subjekt erkannten Gegenstände die einzigen Gegenstände sind. Wenn aber nun diese Grundfakten überhaupt bezweifelt, nämlich als zufällig betrachtet würden, wären auch die sogenannt notwendigen Gegenstände, die durch diese faktischen Strukturen erkannt werden, zugleich zufällig.1 Denn Kant, wie zuvor erwähnt, hat auch von der Möglichkeit anderer Kategorien gesprochen. Daher sind nicht nur die Anschauungsformen, sondern auch die Formen des Verstandes des Subjekts zufällig. Wenn also die Grundformen der Erkenntnis, nämlich die Kategorien, nicht aus der inneren Verfassung des Subjekts auf notwendige Weise abgeleitet werden können, wird auch die Notwendigkeit des erkennenden Subjekts nicht gewährleistet. In diesem Sinne hat Kant weder die Notwendigkeit des erkennenden Subjekts noch die erkannten Gegenstände als die einzigen bewiesen. Freilich ist die Erklärung der Notwendigkeit der Subjektivität selbst nicht nötig hinsichtlich Kants philosophischen Interesses für die Möglichkeit der synthetischen Urteile a priori und der Metaphysik überhaupt. Seiner philosophischen Aufgabe gemäß muss diese Frage nicht gestellt werden. Vielmehr ist es für diesen Zweck genug, dass er bei den Grundfakten stehen bleibt, welche die Bedingungen der Erkenntnis ausmachen, und die Gründe dieser Grundfakten nicht mehr hinterfragt.2 Denn die Stellung und Antwort der Frage nach dem
1Im
Abschnitt 9.1.4 wurde bewiesen, dass die Sinnlichkeit und der Verstand in der Tat in gleicher Masse zufällig oder notwendig sind, indem wir den notwendigen Zusammenhang von Kategorien, Zeit und Raum darstellten. Die Möglichkeit aber, dass das ganze Subjekt mit ihren beiden Leistungen überhaupt zufällig sei, wurde dadurch nicht ausgeschlossen. 2Für Kants ganzes philosophisches Projekt, vor allem für seinen Gedanken der „Philosophie nach ihrem Weltbegriff“, den er in der „Methodenlehre“ der Kritik entwickelt (vgl. KrV A 838f./B 857f.), kommt es darauf an, die Realität der Freiheit zu beweisen und darauf die Moraltheologie und Moralteleologie aufzubauen. Sofern die Grundbedingungen unserer Erkenntnis der Erfahrungsgegenstände in dem erkennenden Subjekt faktisch diesen Theorien nicht widersprechen und daher mit diesen übereinstimmen können, ist es für seinen Zweck schon genug. Ob die erkennende Subjektivität notwendig ist oder nicht,
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211
Grund der Notwendigkeit der Subjektivität und der mit ihr zusammenhängenden Erkenntnis bedeutet unvermeidlich das Hinausgehen über Kants Philosophie. Aber sofern die Subjektivität und die mit ihr notwendigen verbundenen Erkenntnis betroffen werden, ist die Suche nach dem, was der Subjektivität zugrunde liegt und ihre Notwendigkeit gewährleistet, dem Anspruch der theoretischen Vollständigkeit nach philosophisch noch sinnvoll. Wenn wir aber zur Erklärung der Notwendigkeit der Subjektivität nicht zu sehr über Kants Grundansätze hinausgehen möchten, sondern noch innerhalb des Rahmens der kritischen Philosophie Kants bleiben, dann können wir das erkennende Subjekt nur durch die Suche nach einem Subjekt begründen, das an sich selbst notwendig ist. Ein solches notwendige Subjekt ist in Kants Rahmen nichts anders als das Subjekt der reinen praktischen Vernunft. Dieses ist nach Kant in dem Sinne notwendig, dass es nach einem unbedingten Gesetz, nämlich dem moralischen Gesetz, sich selbst begründet, indem es aus der Achtung für dieses Gesetz allein handelt. Aber jene gedachte Begründung des theoretischen Subjekts erfordert ihrerseits eine Einheit zwischen der erkennenden und der handelnden Vernunft. Da es aber zwischen der erkennenden und der praktischen Vernunft eine Kluft gibt, sodass man beide nicht einfach als dasselbe Subjekt behaupten kann, begründet die notwendige praktische Subjektivität daher nicht unmittelbar die Notwendigkeit der theoretischen. Gerade darin sieht Fichte die Möglichkeit, das theoretische Subjekt auf eine absolute Subjektivität zu gründen. Dies zeigt sich in der „Tathandlung“, in der das endliche Ich notwendigerweise von dem unendlichen gesetzt wird. In dem unendlichen Schwanken zwischen dem Ich und dem Nicht-Ich werden die Kategorien, die wir haben, systematisch abgeleitet, wodurch das Problem der Zufälligkeit der ganzen Subjektivität aufgelöst werden kann. Auch der Ursprung des sinnlichen Mannigfaltigen, der bei Kant zu den zuvor genannten theoretischen Funktionen des Begriffs des Dings an sich gehört, wird dadurch zugleich erklärt. Daher ist in Fichts Interpretation und Entwicklung der kantischen Philosophie die Setzung eines Dings an sich nicht mehr nötig. Fichtes Gedanke zur Lösung des Problems der Notwendigkeit des erkennenden Subjekts ist die Fortentwicklung dessen, was in Kants Philosophie enthalten ist; Fichte steht im Vergleich zu anderen nachkantischen Idealisten
spielt keine entscheidende Rolle. Eben in diesem Sinne können wir sagen, dass die Lösung des Problems der Notwendigkeit der Subjektivität und der erkannten Gegenstände nicht in Kants philosophischer Absicht steht.
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dem theoretischen Ansatz der kantischen Philosophie näher. Dadurch erweitert Fichte den Begriff der Subjektivität, sodass auch das Objektive in der absoluten Subjektivität enthalten werden kann. Dies ermöglicht eine andere, bei Schelling und Hegel beobachtete Art zur Lösung des Problems der Notwendigkeit des erkennenden Subjekts, die ihrerseits mit dem Problem, das der Begriff des Dings an sich betrifft, eng verbunden ist. Wie gesehen ist das Ding an sich bei Kant ein Resultat des theoretischen Schlusses: Wenn es außer dem Subjekt etwas geben muss, welches das Subjekt affiziert, wodurch das Subjekt das Mannigfaltige empfängt und die Quelle der konkreten Erfahrungsinhalte erklärlich ist, so ist es erforderlich, ein Ding an sich zu setzen, um dieses Etwas zu sein. Aber Kant behauptet sofort, dass wir gar keine Möglichkeit haben, dieses Ding an sich zu erkennen.3 Diese Ansicht, dass die Erkenntnis des Dings an sich unmöglich sei, ist auf Kants Verständnis über die Grundfakten der Bedingungen des endlichen Erkennens zurückzuführen. Es ist aber zu beachten, dass man eben wegen dieser Unmöglichkeit des Erkennens des Dings nicht dogmatisch behaupten kann, was dieses Dings an sich eigentlich ist. Daher ist auch die Behauptung, dass das Ding an sich gar keine Bezugnahme auf uns hat, eigentlich grundlos. Vielmehr ist das gar nicht auf uns bezogene Ding an sich dasjenige, was Kant in seiner Philosophie implizit preisgibt. Dadurch wird eine Möglichkeit eröffnet, dass das Ding an sich nicht unbedingt ein Etwas ist, das mit uns in keinem Zusammenhang steht. Natürlich ist, wie gesagt, es nach Kants philosophischem Interesse nicht nötig, von diesem Problem weiter zu sprechen. Daher dürfen wir uns aufgrund dessen, dass das Ding an sich nur ein Resultat des Schlusses ist und dass seine absolute Unbezogenheit auf uns eine unbewiesene Behauptung ist, eine Frage stellen: Warum schließen wir nicht umgekehrt darauf, dass es etwas gebe, das die Erfahrungsinhalte bzw. das Mannigfaltigen anbietet und zu dem das endliche Subjekt zugleich Zugang haben, sodass diese Quellen und damit zusammen auch die Notwendigkeit des erkennenden Subjekts erklärt werden können? Dieses gedachte Etwas muss also folgende Bedingungen erfüllen: Ersten ist ihm das Rahmenwerk des Was-Seins, mit dem das endliche Subjekt die Gegenstände grundlegend bestimmt und erkennt, nicht fremd, damit das diskursive
3Vgl.
die Formulierung Kants: „Am Ende aber ist doch die Möglichkeit solcher Noumenorum gar nicht einzusehen.“ (KrV, A 255/B 311) oder: von dem Gegenstand einer nichtsinnlichen Anschauung können wir uns „nicht die geringste Vorstellung seiner Möglichkeit machen“ (A 256/B 312).
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Denken des endliches Subjekts Zugang zu ihm hat. Zweitens muss es außer mir sein und sich als ein Anderes als das Subjekt erweisen, sonst würde die Quellen des sinnlichen Mannigfaltigen in der Subjektivität liegen, was die kantische philosophische Position gefährden könnte. Dieses außer dem Subjekt liegende Andere muss drittens zugleich auch den notwendigen Grund der Subjektivität erklären können. Nur eine Konzeption der absoluten Subjektivität kann alle diese drei Bedingungen zugleich erfüllen. Sie ist anders als das endliche Subjekt und liegt außer diesem, sodass das endliche Subjekt die Erfahrungsinhalte, die von diesem absoluten Subjekt gegeben sind, so betrachten, dass sie ihm von außen geliefert werden. Außerdem schließt diese absolute Subjektivität das endliche Subjekt in sich und bildet dieses als den Ansatzpunkt des Erkennens der Welt. Sofern sich das absolute Subjekt dann als notwendig erweisen kann, wird die Notwendigkeit der endlichen Subjektivität auch zugleich begründet. Es ist nicht schwer einzusehen, dass dieser Begriff der absoluten Subjektivität gerade die Konzeption des Absoluten bei Schelling und besonders bei Hegel ist. Natürlich ist diese absolute Subjektivität nicht etwa diejenige, die durch den ontologischen Beweis z. B. Gottes begründet und durch Verfahren der reinen Vernunft inhaltlich erfasst werden kann. Vielmehr ist sie das Absolute, dem sich das endliche Subjekts in der systematischen Darstellung der Geschichte des Selbstbewusstseins annähern kann. Fichte, Schelling und Hegel stellen auf verschiedene Weisen ihre jeweiligen Konzeptionen des absoluten Subjekts auf. Die Problematik, wie die Ursprünge der Erfahrungsinhalte und die Notwendigkeit der Subjektivität durch die Konzeption des absoluten Subjekts erklärt werden, werde ich hier nicht thematisieren, weil man dann auf die Einzelheiten der Systembildung der nach-kantischen Philosophen eingehen müsste. Aber man kann leicht einsehen, dass die spannungsvolle Einheit, die bei Kant dem endlichen Subjekt gehört, in dem Kontext der nach-kantischen absoluten Subjektivität noch ihre Spur hinterlässt. Aber nun betrifft sie nicht mehr die Spannung zwischen der Leistung der Konstitution des Was-Seins der Erfahrungsgegenstände und der Leistung der Außer-mir-Aufweisung derselben, sondern das Verhältnis des Subjekts zu seinem Anderen: Bei Fichte ist dies das Verhältnis zwischen dem unendliches Tun des Ich und dem Nicht-Ich als einem nichttätigen Entgegengesetzten; bei Hegel ist das Prinzip des Anderen die Negativität, vermittels deren das Sein sich fortbewegt; bei dem späten Schelling ist es der Raum, den er als die „objektive Möglichkeit“ definiert, die das Subjekt von dem bloßen Denken über das Existierende herausholt und die Dinge in die Wirklichkeit bringt.
Schluss
Durch die vorliegende Untersuchung wird gezeigt, dass die Zeit sowohl bei dem antiken Platonismus, der für die Ontologie der Antike charakteristisch ist, wie auch in der kantischen Transzendentalphilosophie als Vertreterin der neuzeitlichen Subjektivitätsphilosophie nicht etwas dem Denken Äußerliches oder etwas, das auf das Denken unbezogen ist, sondern sie hat eine Affinität und Strukturgleichheit mit dem Denken. Mit dieser strukturellen Affinität ist die Zeit imstande, die intelligible Strukturmomente, die in dem reinen Denken enthalten sind, auf die sinnlichen Dinge zu übertragen. Dadurch ermöglicht die Zeit es, dass diese Dinge hinsichtlich ihres Seins bestimmt werden können. Daher muss das Denken sich der Zeit als Mittel bedienen, wenn es das Sein der sinnlichen Dinge apriorisch erfasst und bestimmt. Erst auf dieser ontologischen Ebene offenbart sich das Wesen der Zeit, das von den physikalischen und alltäglichen Zeitauffassungen eigentlich nicht thematisiert wird. Bei Platon und noch deutlicher bei Plotin wird das Wesen der Zeit aus der Selbstbewegung der denkenden Seele verstanden, und zwar als die Form dieser Bewegung, wobei die Seele die Seinsbestimmungen der intelligiblen Ideenwelt in sich enthält. Die Affinität der Zeit zu dem Denken wird dadurch offensichtlich aufgezeigt. Sofern das Sein der sinnlichen Dinge auf der Selbstbewegung der Seele beruht, erweist die Zeit, welche eben die Form dieser Bewegung ist, als das Prinzip des Seins dieser Dinge. Das ontologische Materie/Raum-Prinzip (χώρα) dagegen beteiligt sich zwar auch in der Konstitution der sinnlichen Welt, spielt aber in der Bestimmung des Seins der sinnlichen Dinge aber keine Rolle, was von der modernen Vorstellung ganz unterschiedlich ist. Ein ähnlicher Gedankengang befindet sich auch in Kants Transzendentalphilosophie, obwohl diese die ontologische Bedeutung der Zeit nicht explizit zum Gegenstand macht. Mit dem Schematismus, wo es sich um die sinnliche © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Liu, Zeit und Sein des Sinnlichen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61924-7
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Schluss
Bedingung der Anwendung der Kategorien auf die Erscheinungen handelt, denkt Kant schon über die Leistung der Zeit in der Übertragung der kategorialen Bestimmungen auf die sinnlichen Dinge nach, aber er schreitet nicht weiter, um zu der Behauptung von der strukturellen Affinität zwischen Zeit und Kategorien und der Behauptung vom Gedanken der Zeit als das Prinzip des Seins der sinnlichen Dinge zu gelangen. Dies ist nicht nur auf die allgemeine Bescheidenheit Kants in den ontologischen Problemen, sondern hauptsächlich auf seine scharfe Trennung zwischen Sinnlichkeit und Verstand zurückzuführen, die notwendigerweise zum Problem der Zufälligkeit der menschlichen Anschauungsformen führt. Sofern wir aber mittels der in Kants Philosophie selbst implizierten Überlegungen das Zufälligkeitsproblem lösen und außerdem seinen Gedanken über das Verfahren der Konstitution der objektiven Zeit durch die Kategorien rekonstruieren, wird die gedachte Zeit-Kategorien-Affinität begründet und die These, die Zeit sei das Prinzip des Seins der sinnlichen Dinge, hier im Sinne vom Was-Sein derselben, aufgewiesen. Auch die kritische Analyse der eigentlichen Bedeutung des Begriffs „Ding an sich“ bei Kant macht es klar, dass das hier thematisierte „Sein“ der sinnlichen Dinge für Kant in der Tat das einzige und wahrhafte Sein ist und nicht ein bloß zufällig erscheinendes Sein. Diese Nicht-Zufälligkeit gilt auch für das Dass-Sein der Dinge, weil die Möglichkeit der Aufweisung dieses Dass-Seins in der Tat auf der sinnlichen Form des Raums gründet, die ihrerseits die notwendige Leistung des Subjekts ist. Es ist dadurch klar, dass der Gedanke, die Zeit vermittele die intelligible Struktur des reinen Denkens an die sinnlichen Dinge und ermögliche dadurch die Bestimmung des Seins derselben, einer der grundsätzlichen Denkmodi der klassischen abendländischen Philosophie ist, wenn diese über das Problem nachdenkt, wie das Sein der sinnlichen Dinge apriorisch von dem Denken erfasst wird. Das in diesem Denkmodus dargestellte Verhältnis zwischen Denken, Zeit und Sein der Dinge wird in dem philosophischen Klima der Gegenwart meistens vernachlässigt, in dem man bei der Behandlung des Zeitproblems die Zeit nur gesondert für sich zu betrachten pflegt. Es ist aber immer noch fragwürdig, ob eine solche gesonderte Betrachtungsweise das Wesen und den Kern des philosophischen Zeitproblems zu betreffen fähig ist. Vielleicht kann der in meiner vorliegenden Untersuchung herausgearbeitete Denkmodus einen aufschlussreichen Hinweis geben, wenn man es noch nötig und interessant sieht, weiter über die philosophischen Grundprobleme des Wesens der Zeit und der Denken-Sein-Beziehung nachzudenken.
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