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German Pages 281 [296] Year 1974
GERNOT
BOHME
ZEIT UND
ZAHL
Studien zur Zeittheorie bei Platon, Aristoteles, Leibniz und Kant
ló] |
PHILOSOPHISCHE VITTORIO
KLOSTERMANN
ABHANDLUNGEN FRANKFURT
AM
MAIN
Die Arbeit versteht sich als ein Beitrag
zur Überwindung der Kluft zwischen physikalischer und erlebter Zeit, die sich in den neueren Zeittheorien zeigt. Die besondere Wendung, die der Verfasser diesem Problem gibt, ist bestimmt durch die Feststellung, daß die an der Geschichte und dem Bewußtsein orientierten Zeittheorien keine Rechenschaft über die Beziehung der Zeit zur Zahl geben können. Da die klassischen
Zeittheorien jene Dichotomie von physikalischer und erlebter Zeit nicht enthalten, macht es sich der Verfasser zur
Aufgabe, das in ihnen explizierte Zeit-
verstándnis an Hand
der Frage nach
der Beziehung von Zeit und Zahl zu erheben. Die Arbeit gliedert sich in
vier in sich geschlossene
Studien,
die
der genannten Frage jeweils im Zu-
sammenhang der Philosophie von Platon, Aristoteles, Leibniz und Kant nachgehen. Als Resultat dieser Untersuchungen wird ein Zeitverstándnis deutlich, das die Zeittheorie in eine
enge Verbindung mit der Astronomie, der Musiktheorie und der Vorstellung des Lebens bringt.
IS] VITTORIO KLOSTERMANN FRANKFURT AM MAIN
PHILOSOPHISCHE
BAND
VITTORIO
KLOSTERMANN
ABHANDLUNGEN
45
FRANKFURT
AM
MAIN
GERNOT
ZEIT
UND
BOHME
ZAHL
Studien zur Zeittheorie bei Platon, Aristoteles, Leibniz und Kant
VITTORIO
KLOSTERMANN
FRANKFURT
AM
MAIN
Die vorliegende Arbeit wurde im SS 1973 von der Philosophischen Fakultät I der Ludwig-Maximilians-Universität München als Habilitationsschrift angenommen. Der Verfasser konnte sie während seiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg fertigstellen. Für diese Möglichkeit, ebenso wie für die Unterstützung bei der Drucklegung sei dem Institut an dieser Stelle gedankt.
€ Vittorio Klostermann Frankfurt am Main 1974 Satz und Druck: Dr. L. Tetzner KG Neu-Isenburg Alle Rechte vorbehalten. Printed in Germany
INHALT
IV.
Der Gang der Untersuchungen
PLATONS
ZEITLEHRE
IM
No
I. |. Das systematische Interesse der Untersuchungen . II. Zeitals strukturelle Einheit des Nacheinander . III. Prinzipien der Interpretation .
νὰ
VORREDE
TIMAIOS
1. Kapitel: Der Begriff der Darstellung und die Methode der Naturlehre im Timaios
IV.
Einleitung Das Wahrscheinliche: probabile oder verisimile? . Die Beziehungen von Vorlage und Bild und ihre Leistung zur Darstellung des Verhältnisses von Idee und Ding .
Die Rede des Timaios: Aussage über Darstellungen .
2. Kapitel: Aon I. II. III. IV. V.
Einleitung Überzeitlichkeit Lebenszeit
Exkurs: Plotins Auslegung von : Platons Zeitlehre und die Idee des Lebens . Lebenskraft
17 18
3. Kapitel: Bewegung oder Platons Behandlung der Zeitmodi I. II.
Einleitung . . Teile der Zeit.
V.
Älter und jünger werden als man selbst .
III. IV.
99 101 106 114 117
.
Aspekte der Zeit . Die Formen von „werden“
4. Kapitel: Zahl I.
II.
III. IV.
Einleitung
.
Zahl und Leben
.
Die systematische Funktion der Zahl. Die Zeit als Thema der Astronomie .
ARISTOTELES:
ZAHL
ALS
DEFINIENS
I.
Einleitung
V.
Zeit als abgeleitetes Quantum .
II. III. IV. VI.
VI
DER
ZEIT
Schwierigkeiten der aristotelischen Zeitdefinition Das Verhältnis von Zahl und Strecke Konsequenzen für die Zeitdefinition .
0.
Das Folgeverhältnis von Zeit und Bewegung: Teilbarkeit, Kontinuität, Quantität .
LEIBNIZ: I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII.
122 123 130 144
.
ZEIT
ALS
n
159 160 165 169 175 187
RELATION
Einleitung | Newtons Begriff der absoluten Zeit Zeitals etwas ‚bloß Relatives‘ . Interpretation von $ 47 des 5. Briefes an1 Clarke Leibniz Verständnis von Relation . Die Größe der Zeit . Zeit als Kontinuum . Das Wesen der Zeit...
195 196 202 206 218 231 242 249
KANT: ΖΑΗ͂Ι, ALS TRANSZENDENTALE
IL
II.
III. IV.
Einleitung
.
.
2
.
ZEITBESTIMMUNG
............
Der Raum als reines Bild aller Größen.
.
.
Zahl als transzendentale Zeitbestimmung . . Weiterführende Fragen |... 2 2 22
Literaturverzeichnis
|...
0...
5...
.
.
.
.
.
257
261
. .
. .
. .
. .
264 270
.
.
.
.
277
VII
VORREDE
I. Das systematische Interesse der Untersuchungen Die vorliegenden Untersuchungen sind einer üblichen Unterscheidung
zufolge eher als philosophiegeschichtliche zu bezeichnen, enthalten sie doch Beiträge zu einer Geschichte des Zeitbegriffes. Nichtsdestoweniger sind sie aus einem systematischen Interesse entstanden. Der systematischen Einteilung wissenschaftlicher Erkenntnis in natur- und geisteswissenschaftliche entsprechend stehen sich in unserem Jahrhundert verschiedene Vorstellungen von der Zeit nahezu unverbunden gegenüber,
die man — nicht sehr glücklich — als Begriffe von „physikalischer“
und „erlebter Zeit“! apostrophiert. In der Naturwissenschaft hat man mit der Zeit als einem reellen Parameter zu tun, und man kann von
ihr her die Frage, was die Zeit ist, versuchen durch eine Axiomatik eben dieses Parameters zu beantworten. Legt man dabei die Naturwissenschaft als ein Faktum zugrunde, so gelangt man auf diesem Wege zwar
zu dem Begriff der Anisotropie der Zeit, nicht aber zu einem modalen
Zeitbegriff, insbesondere zu keinem Begriff von Gegenwart, einem nämlich wesentlich dem „Erleben“ zuzuordnenden Aspekt von Zeit? Gerade aber in diesem, was der Physik entgeht, sehen nun andere geisteswissenschaftlich zu nennende Untersuchungen das Wesen der Zeit. Orientiert an den Phänomen des Bewußtseins und der Geschichte ! Wir haben in einem für ein weiteres Publikum bestimmten Vortrag das philosophisch Unbefriedigende dieser Entgegensetzung expliziert: „Physikalische und erlebte Zeit“, S. 101 ff.
in:
2 A. Grünbaum,
Anstöße,
Die
Ber.
a. d. Arbeit
Anisotropie
probleme der Naturwissenschaften,
der
d. Ev.
Zeit,
Köln/Berlin,
Akademie
in: L. Krüger
Hofgeismar,
(Hrsg.),
1970, S. 476 ft.
1967,
Erkenntnis-
erhebt Bergson die erlebte Gegenwart unter dem Titel durée zum
Wesen
der Zeit, erkennen
Husserl
und
Heidegger
in der modalen
Dreifaltigkeit von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft die ,ur-
sprüngliche* Zeit — In einer früheren Arbeit? haben wir nun versucht, den hier aufgetretenen Hiat in einer Richtung zu überwinden: Unter der Annahme, daß das vorwissenschaftliche Zeitverständnis sich in der Grammatik der Umgangssprache expliziert, haben wir das
modale Zeitverständnis dort aufgesucht, um dann zu zeigen, daß es
über die operationalen Bedingungen der Physik in diese eingeht. Ist
damit in gewisser Hinsicht die Einheit des Zeitbegriffes wieder hergestellt, der Gegensatz von Natur und Geschichte überbrückt —
so-
fern nämlich „Geschichtlichkeit“ die modale Struktur zeitlichen Ge-
schehens meint, läßt sich sinnvoll von einer „Geschichte der Natur“ sprechen? —, so wird um so auffälliger, daß umgekehrt die am Bewußtsein und der Geschichte orientierten Zeittheorien keinerlei
Rechenschaft über die so erfolgreiche zahlenmäßige Behandlung der Zeitin der Naturwissenschaft zu geben vermögen. Dies war nun durch-
aus anders in gewissen älteren Zeittheorien, so anders, daß Aristoteles Zeit geradezu als Zahl, nämlich als Zahl der Bewegung ın Hinblick auf das Frühere und Spätere, definieren konnte. Zeit und Zahl wurden
also nicht nur in irgendeiner, sondern in einer wesensmäßigen Beziehung zueinander gesehen. Das systematische Interesse, den Hiatus zwischen der Zeit der Physik und der Zeit der neueren Zeittheorie in dieser Hinsicht zu überwinden, führt deshalb zu dem Versuch, den Sinn eines Zeitverständnises zurückzugewinnen, in dem ,physika-
lische* und ,erlebte* Zeit noch nicht auseinander gefallen waren. Wir
glauben, ein solches Zeitverständnis
in der Philosophie von Platon,
Aristoteles, Leibniz und Kant zu finden. Die folgenden Untersuchungen explizieren deshalb ihre Auffassung vom Wesen der Zeit mit der speziellen Absicht, den darin enthaltenen strukturellen Zusammenhang von Zeit und Zahl sichtbar zu machen.
Bevor wir uns dem Inhalt dieser Untersuchungen náher zuwenden,
wollen wir zunächst unsere Behauptung weiter ausführen, daß die neueren philosophischen Zeittheorien die Beziehung von Zeit und Zahl 3 E. Husserl, Zur Phänomenologie
des inneren Zeitbewußtseins,
M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen, 8. Aufl. 1957. 4 G. Böhme, Über die Zeitmodi, Göttingen 1966.
Den
Haag
5 C. F. von Weizsäcker, Die Geschichte der Natur, Göttingen, 3. Aufl. 1956.
1965.
nicht verständlich machen können. Wir konzentrieren uns dabei auf
die hervorragendsten Vertreter dieser Zeitauffassung, nämlich Bergson und Heidegger. Bergson gewinnt seinen Begriff der Zeit als durée pure gerade durch eine Analyse, durch die er den Gegensatz von Zeit und Zahl heraus-
arbeitet. Die Zahl ist für Bergson die Vorstellung eines Mannig-
faltigen des Identischen
als einer Einheit. Das Mannigfaltige
kann
aber nur als Mannigfaltiges eines Identischen vorgestellt werden, wenn dieses als im Raum nebeneinander liegend vorgestellt wird.
Für Bergson kommt
es in der Vorstellung der Zahl entscheidend
darauf an, daß das gezählte Mannigfaltige ein diskretes ist und daß es zugleich gegeben ist. Diese beiden Bedingungen machen es unmöglich,
eine solche Mannigfaltigkeit als eine der Zeit anzusehen. Denn erstens organisiert sich das Mannigfaltige der Sukzession, so daß es eine ununterschiedene, qualitative Mannigfaltigkeit" bildet, und zweitens ist
ein zeitliches Mannigfaltiges eben als solches nicht gleichzeitig. Zwar sieht Bergson, daß der Vorgang des Zählens sich in der Zeit, in der reinen Dauer, vollzieht. Wenn man aber bei solcher Sukzession des Zàhlens bleibt, erreicht man niemals eine Summe von Einheiten, erreicht man nicht die Vorstellung einer Zahl. Diese setzt also nach Dergson etwas voraus, das die gleichzeitige Vorstellung von Verschiedenem ermöglicht, und zwar so, daß das Verschiedene nicht an sich selbst verschieden ist, sondern in der Weise der Geschiedenheit, der Exteriorität. Der Vorstellung der Zahl liegt also stets die des Raumes zugrunde.? Die Vorstellung des Raumes ist die eines leeren homogenen Mediums.? Sie ist einzig!?, da sie keinerlei Verschiedenheit an sich zulaßt. Die Zeit kann nicht ebenso ein homogenes Medium sein, soll sie überhaupt etwas anderes sein als der Raum. Aus alledem folgt, daß es 9 Essai
sur
les données
immédiates
de
la conscience,
Paris
31901,
chap. II.
—
Heidegger äußert in Sein und Zeit, Tübingen 91957, S. 432 f. Anm. die Vermutung, daß Bergsons Zeitkonzeption aus einer Auseinandersetzung mit Aristoteles entsprungen sei, was durch unseren Gesichtspunkt sich erneut als wahrscheinlich erweist. 7. Une multiplicité indistincte ou qualitative, aaO. 79. 8 Für Bergson ist Undurchdringlichkeit etwas, das den Körpern im Raum a priori zukommt. Die Vorstellung zweier Körper impliziere bereits ihr Nebeneinander. aaO. 66 ff. ? aaO. 72. 10 aaQ. 74.
für Bergson nicht die geringste Beziehung von Zeit und Zahl (als solcher) gibt, nicht die geringste Analogie!!. — Wenn trotzdem durch Zeitmessung, Datierung und dergleichen scheinbar eine solche Beziehung hergestellt wird, so hat man darin nicht mehr mit der Zeit, der reinen Dauer, zu tun, sondern mit ihrer symbolischen Darstellung im oder ihrer Projektion in den Raum, also mit dem Raum selbst. Zusammenfassend läßt sich sagen:
Nach Bergson hat die Zeit als solche keinerlei Beziehung zur Zahl; wo man solche Beziehung festzustellen glaubt, hat man es nicht mehr
mit der Zeit selbst, sondern mit einem Raum zu tun, der allenfalls als Projektion die Zeit vorstellig machen kann.
Heidegger nun andererseits stellt zwar eine Beziehung zwischen Zeit
und Zahl her, und zwar genau an der Stelle, an der bei ihm die aristo-
telische Zeitdefinition unter dem Titel des vulgären Zeitbegriffs erscheint.!? Es zeigt sich aber, daß der Zahlcharakter dem vulgären Zeitbegriff äußerlich ist, und folglich Heideggers existenzial-ontologische Auslegung der arıstotelischen Definition zu niedrig!? angesetzt ist.
Die Zeit ist nach dem vulgären Zeitbegriff „das im gegenwärtigenden zählenden Verfolg des wandernden Zeigers (der Uhr) sich zeigende Gezählte, so zwar, daß sich das Gegenwärtigen in der ekstatischen
Einheit mit dem nach dem Früher und Später horizontal offenen Behalten und Gewärtigen zeitigt“!. Was aber dem Gegenwärtigen sich zeigt, ist das Jetzt. Was im Horizont von Behalten und Gewärtiıgen sich zeigt, sind vergangene und ankommende Jetzte. Das Jetzt also macht das Wesen der vulgären Zeit aus. So sagt Heidegger auch: „Die Zeit ist das „Gezählte“
... und: „Das Gezählte
sind die Jetzt“!5. Diese Zeit trägt zu Recht den Namen „Jetzt-Zeit“16
Das bedeutet aber, daß in solcher Auslegung der aristotelischen Definition nicht mehr Zahl die Hauptbestimmung für die Zeit ist, näm! La uns
aux
durée autres,
proprement étant
dite n'a pas de moments
essentiellement
heterogene
identiques
ἃ elle-méme,
ni extérieurs
indistincte,
les
et sans
analogie avec le nombre. aaO. 90. 12 M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 81957, $ 81. 13 „Zu niedrig“ hat hier innerhalb des Heideggerschen Entwurfes den strengen Sinn, daß vom Standpunkt der zur Jetztzeit nivellierten Weltzeit der Sinn der aristotelischen Definition nicht mehr ausgeschöpft werden kann. 14 aaO. 421. 15 Es muß sich noch zeigen, ob dieser Satz als Aristoteles-Auslegung zutrifft. 16 aaO. 421.
lich Gezähltheit von etwas, sondern dieses etwas selbst, ein Vorhan-
denes, das demgegenüber, ob es gezählt wird oder nicht, gleichgültig
Ist: das Jetzt. Die Zeit selbst ist im vulgären Zeitbegriff das Jetzt.!?
Zwar wird sie im Gegenwärtigen, Behalten und Gewärtigen noch als
eine Vielheit von Jetzten angesprochen, aber solches Ansprechen hat
keine wesensmäßige Beziehung zur Zahl. Es unterscheidet sich nicht von der Weise, in der die Dinge im umgänglichen Besorgen den werden, soweit solches Verständnis ausdrücklich wird: „im Horizont der Idee der Vorhandenheit“ (423). Die Zeit wird dabei verstanden als etwas, das ,in gewisser Weise
verstannàmlich als Jetzt mit-vor-
handen“ ist (423). Vorhandenes kann zwar auch gezählt werden, man kann eine ankommende und abgehende Menge von Vorhandenem
zählen, solches Zählen macht aber nichts darüber aus, was es ist. Es soll durch diese Bemerkungen nicht bestritten werden, daß Zeit
auch unter dem vulgären Zeitbegriff verstanden wird. Vielmehr halten wir Heideggers Charakterisierung eines bestimmten Zeitverständnisses unter diesem Titel für durchaus treffend. Dagegen kam es darauf
an festzustellen, daß im vulgären Zeitbegriff keine ursprüngliche Beziehung von Zeit und Zahl enthalten ist: Jetzte sind ebenso zählbar wie anderes Vorhandenes. Damit fehlt eine solche Beziehung in Heideggers Entwurf überhaupt.
Was man landläufig von der Zeit versteht, enthält ebensowenig
den Zusammenhang mit der Zahl, wie das geschilderte philosophische Verständnis. Weil eine solche Behauptung einen sehr unbestimmten Charakter hat, soll hier ein Zug des landläufigen Verständnisses skizziert werden, der eine Einsicht in das Verhältnis von Zeit und Zahl verhindert. Später wird dann noch gezeigt werden, inwiefern das geläufige Zusammenbringen von Zeit und Zahl beim Datieren und Zeitmessen nicht ursprünglich ist und insbesondere das Verständnis der aristotelischen Definition eher fehlleitet als fördert. Wir verstehen Zeit gewöhnlich als das, worin alles Geschehen geschieht, als ein unterschiedsloses Medium, in das hinein erst das GeIT Diese Analyse des vulgären Zeitbegriffes wird durch Heideggers Kantauslegung bestátigt (Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt ?1951). Kants Zeitbegriff wird als der vulgäre ausgelegt, vgl. etwa 5. 98, 182. Heidegger versteht Kants Aussage, daß die Zeit „selbst unwandelbar und bleibend ist“ (Kr. d. r. V. B 183/A 143) als eine über die Ständigkeit des Jetzt: „Nun ist die Zeit als reine Jetztfolge jederzeit jetzt. In jedem Jetzt ist es jetzt. Die Zeit zeigt so die Ständigkeit ihrer selbst^ aaO. 101.
schehen eine gewisse Prägung bringt. Das heißt, wir verstehen Zeit dem aufnehmenden Prinzip gemäß, das im platonischen Entwurf des Timaios χῶρα heißt. Solchem Verständnis gegenüber besteht also der Einwand Bergsons zu Recht, die Zeit werde vom Raum her verstanden, wenn man nämlich, wie er, Raum als homogenes Medium versteht. Solches Verständnis hindert die Einsicht in eine Beziehung von Zeit und Zahl, weil darin nämlich die Zeit als völlig unbestimmte der
Zahl als dem Bestimmten gegenübersteht. Man kann dies auch artikulieren unter Benutzung des Schemas von Form und Materie: Solches Verständnis bringt die Zeit auf die Seite der Materie. Demgegenüber versteht etwa Aristoteles die Zeit, indem er sie als Zahl der Bewegung
definiert, eher als Form.18 Ebenso gehört bei Kant die Zeit als Form der Anschauung wie auch als formale Anschauung auf die Seite der
Form. Aristoteles! wie Kants Behandlung des Zeitproblems muß also einem Zeitverständnis entspringen, das sich in dieser Hinsicht radıkal
von unserem landläufigen unterscheidet. Neben
solchem expliziten Verständnis bewahren
wir aber impli-
ziert in vielen Ausdrücken ein anderes Verständnis von Zeit, von dem
aus die Verwandtschaft von Zeit und Zahl eher einsichtig werden kann. So redet man beim Turnen und militärischen Exerzieren davon,
eine Übung in mehreren Zeiten zu machen.
Man
spricht von den
Jahreszeiten und den Zeiten des Lebens. Diese Verwendungsformen des Wortes Zeit enthalten den ursprünglichen etymologischen Sinn von Zeit als Abschnitt. Zeit ist darin das, was einen Verlauf gliedert und zu einem Ganzen zusammenfaßt. Keineswegs ist so gesehen Zeit das
selbst unterschiedslose Medium des Verfließens oder selbst solches Verfließen, sondern dasjenige, was dem Verfließen Gestalt gibt. Zeit gehórt danach auf die Seite der Form oder der Einheit. Sie ist dasjenige, was ein Geschehen in seiner Folge zu einem Ganzen macht. II. Zeit als strukturelle Einheit des Nacheinander
In wissenschaftstheoretischen Untersuchungen der Gegenwart zum Thema der Quantifizierung bzw. Metrisierung wird die Zeit in der Regel als das eine Beispiel für ein fundamentales Quantum angeführt, 18 So legt W. Wieland, Die aristotelische Physik, Göttingen 1962, ὃ 18, die Zeit bei Aristoteles entschieden als Prädikat aus.
6
das zumindest neben der Länge zu nennen ist.!? Man könnte von da aus
das
systematische
Problem,
das unsere Untersuchungen
leitete,
auch als eines der Quantifizierung bezeichnen: Auf welche Weise hängt die in der inneren Erfahrung als unbestimmte Dauer bekannte und die
geschichtliche Existenz modal strukturierende Zeit mit jenem in der Physik gebräuchlichen Zeitquantum zusammen? Man hätte nun erwarten sollen, daß sich aus der Analyse eines Zeitverständnisses, das Zeit und Zahl in eine wesentliche Beziehung bringt, eine unmittelbare,
ja trıviale Antwort auf diese Frage ergeben würde. Diese Erwartung wurde aber durchaus enttäuscht. Im Gegenteil ergab sich in jedem Fall klassischer Zeittheorien, bei denen wir mit einigem Recht mit unserer Frage nach der Beziehung von Zeit und Zahl ansetzten, erneut das Problem einer Quantifizierung der dort begrifflich explizierten Zeitvorstellung. Der Grund für diese für uns zweifellos paradoxe Tatsache
liegt darin, daf$ Zahl, wo sie zur Bestimmung des Wesens der Zeit
dient, selbst nicht eo ipso als Quantum verstanden wird, sondern vielmehr als strukturelle Einheit bestimmten Typs. Damit wurde aber auch unser systematisches Interesse an bestimmten überlieferten Zeittheorien aus einer anfänglichen Beschränkung
herausgeführt. Es galt nicht, einem Zeitverständnis nachzuspüren, das
die Zeit wesentlich als Quantum auffaßte, — ein solches hätte sich ja ohnehin viel leichter in einer direkten Auseinandersetzung mit der
Physik, insbesondere mit den Methoden der Zeitmessung gewinnen
lassen; und es wäre durchaus nicht geeignet gewesen, den bezeichneten
Hiat zwischen „physikalischer“ und „erlebter“ Zeit zu schließen. Viel-
mehr kam es darauf an, die Zeit mit den älteren Zeittheorien strukturelle Einheit des Geschehens zu verstehen. Ist es nun nicht quantitative Charakter des Geschehens sondern seine Einheit, was älteren Zeittheorien als Zeit erfassen, so treten in der Explikation Wesens der Zeit neben den Begriff der Zahl der der Ordnung, Relation, der Regel, der gefügten Reihung. Das Zeitverständnis
als der die des der der
Philosophie von Platon bis Kant steht damit der Physik sowohl als
auch dem Zeitverständnis von Bergson und Heidegger oben skizierten „landläufigen“. Die Zeit ist nicht ein Medium, das vom Geschehen erfüllt wird, sie ist auch schehenscharakter als solcher, eine Art Verrinnen oder
näher als dem unbestimmtes nicht der GeFluß im all-
19 s. etwa: W. Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Bd. II A. Berlin, Heidelberg, New York 1970.
gemeinen, sondern sie ist das Gefüge, was das Nacheinander des Ge-
schehens zu einem macht. Solches gefügte Nacheinander hat, wie wir sehen werden, eine natürliche Affinität zur Zahl und von daher zur Quantifizierung. Auf der anderen Seite wird die Verwandtschaft
zum Zeitbegriff der Geschichts- und Bewußtseinstheorie deutlich: Denn
auch diesen ging es offenbar in der Bestimmung des Zeitbegriffs um die
Einheit des Nacheinander. Nur fanden sie diese nicht so sehr in der
Struktur des Geschehens selbst, sondern in der des erkennenden Subjektes: So findet Augustinus die Zeit in der Einheit von expectatio, intuitus und memoria, Husserl in der von Protentionen und Retentio-
nen, Heidegger in den Ekstasen des Daseins, Bergson in der qualita-
tiven Synthesis, dem Amalgamat, zu dem das erfahrene Nacheinander
im Bewußtsein verschmilzt. Den erkenntnistheoretischen Vorteil, den
diese Zeittheorien gewinnen, insofern sie die Einheit des Geschehens im Nacheinander vom Subjekt her „begründen“ können, bezahlen sie
auf der anderen Seite mit dem Unverständnis jenen Phänomenen gegenüber, die schon von sich her als „Verlaufsgestalten“ eine solche
Einheit zeigen, die das Bewußtsein nur hinnehmen muß. An eben jenen Phänomenen orientiert sich nun jenes ältere Zeitverständnis — ganz deutlich bei Platon und Aristoteles, formaler schon
bei Leibniz, in einer bestimmten Hinsicht dann aber noch beı Kant,
dessen Zeittheorie aber im übrigen den Versuchen zuzuschlagen ist, die
Folgeeinheit durch die Einheit des Subjektes zu begründen. Jene Orientierung am gestalthaften Geschehen erklärt die enge Beziehung der älteren Zeittheorien zur Astronomie, zur Musik und zum Begriff des Lebens. Für sie präsentiert nicht jedes Geschehen schon Zeit, sondern
zunächst nur jenes, das eine gefügte Einheit seines Nacheinander ent-
hält. Deshalb wird die Zeit an den Himmelsbewegungen erkannt, und zwar nicht, wie wir bei Platon sehen werden, weil sie ein bequemes Maß für Dauer bereitstellen, sondern weil sie in ihrem Ablauf ein
System bilden. Deshalb gibt die Musiktheorie so gute Analogien, und zwar nicht, wie später bei Augustinus, weil man durch expectatio,
intuitus und memoria eine Melodie als ganze erfaßt; oder wie bei Bergson, weil sie als gegebene zu einem qualitativen Ganzen ver-
schmilzt, sondern weil die Folge von Tónen durch ihre Konsonanz zu einem Ganzen zusammengespannt wird. Und schließlich liefert das Leben selbst, das in der Folge seiner Phasen ein gegliedertes Ganzes darstellt, ein Beispiel für Zeit als Einheit des Nacheinander, das so-
wohl durch innere Erfahrung als auch durch objektive Gegebenheit zugänglich 1st. Da nach griechischer Vorstellung der Kosmos ein Lebewesen ist, dessen Seele den Himmel mit seinen harmonischen Bewegungen erfüllt, scheint uns die Idee der Lebensganzheit überhaupt
jenes Vorbild zu sein, an Hand dessen der Begriff der Zeit gebildet
wurde. Astronomie, Musik und Biologie durchdringen sich in dieser
Vorstellung. Das wird im Einzelnen insbesondere in der Platon-Studie zu demonstrieren sein. III. Prinzipien der Interpretation
Die Untersuchung des Zeitverständnisses von Platon, Aristoteles, Leibniz und Kant auf die Beziehung von Zeit und Zahl hin wird in den folgenden vier Studien durch Interpretation bestimmter klassischer Texte geführt. Unser Verfahren ist dabei einer Methode, oder besser gesagt einem Stil der Interpretation verpflichtet, wie er in den Seminaren und Vorlesungen von C. F. von Weizsäcker und G. Picht demonstriert wurde. Als methodischen Vorblick auf unsere Untersuchungen und um zugleich unseren gebührenden Dank abzustatten, wollen wir versuchen, das dort gleichsam nur atmosphärisch Erlernbare auf drei Prinzipien zu bringen.?!
Das erste Prinzip betrifft die Wahrheit philosophischer Texte. Wir unterstellen in unseren Interpretationen, daß, was die alten Philo-
sophen sagen, wahr ist, oder anders formuliert, wir meinen sie erst dann verstanden zu haben, wenn wir verstehen, in welchem Sinne wahr ist, was sie sagen. Dieses Prinzip kann man einerseits als Autoritätsglauben, andererseits als Wahrheitsrelativismus mißverstehen —
und darin zeigt sich schon, daß es offenbar nicht trivial ist. Jedenfalls ist soviel schon klar, daß es uns nicht um die historisch bedingte Meinung bestimmter Philosophen geht oder um bloß wissenschaftliche Feststellung von Sinn und Gestalt bestimmter Texte, weder um Doxo-
20 Bezeichnenderweise findet sich die größte Verwandschaft zu dem von uns an klassischen Texten aufgezeigten Zeitverständnis in unserem Jahrhundert bei ,biologisch‘ orientierten Denkern. S. z.B. V. v. Weizsäcker, Gestalt und Zeit, Góttingen, 2. Aufl.
1960, 1. v. Uexküll,
Theoretische Biologie, Berlin, 2. Aufl. 1928.
21 C. F, von Weizsäcker hat inzwischen selbst versucht, einige methodische Prin-
zipien zu benennen, denen er in seinen Natur*, München 1971, 448, 472 f.
Interpretationen
folgt. S. „Die Einheit
der
graphie noch um Philologie. Vielmehr wollen wir durch die Inter-
pretation unserer Texte zu den Sachen selbst gelangen, hier zum Wesen der Zeit — und nun freilich nicht so, als kónnten wir dies
autoritativ dem Spruch großer Philosophen entnehmen. Vielmehr versuchen wir, indem wir uns auf den Wahrheitsanspruch klassischer philosophischer Texte einlassen, eine Ansicht der Sachen selbst zu gewinnen, die uns aufgrund unserer eigenen historischen Bedingtheit nicht möglich wäre. Wir glauben, daß der Sinn klassıscher Studien
darin liegt, ein Korrektiv und Gegenbild zur neuzeitlichen Philosophie
und Naturwissenschaft zu liefern, ohne das diese blind oder — wie man mit Marcuse sagen könnte — „eindimensional“ wären. In diesem
Sinne ıst das Studium homerischer Anthropologie notwendig, um die
modernen Lebensmöglichkeiten als einseitig und eingeschränkt zu erkennen, in diesem Sinne hat die aristotelische Physik ein Recht auf
Beachtung, um die methodische Einschränkung der modernen Naturwissenschaft
gegenüber
allgemeinen
Möglichkeiten,
physische
Wirk-
lichkeit begrifflich zu erfassen, deutlich zu machen. In diesem Sinne
wenden wir uns auch den klassischen Zeittheorien zu, weil wir der
Meinung sind, daß sich in ihnen eine Erfahrung des Wesens der Zeit artikulierte, die heute direkt nicht zu gewinnen wäre. Während heute
jede Untersuchung der Zeit in die Zweiheit subjektiver und objektiver
Betrachtung dissoziiert, prásentiert uns demgegenüber jene Erfahrung
die Zeit als ein einheitliches Wesen. Wenn wir meinen, dafs jene einheitliche Erfahrung des Wesens der Zeit der Orientierung an der gegliederten Lebensganzheit entsprang, so heißt das nicht, daß wir durch
eine entsprechende Analyse unserer Lebenserfahrung den klassischen Zeitbegriff reproduzieren kónnten. Diese Analyse würde uns die Zeit als ein unerbittlich fortrückendes Raster von Terminen auf der einen
Seite und einen beständig sich wandelnden und sich unbestimmt ver-
lierenden Erlebniszusammenhang proustscher Art auf der anderen Seite darstellen. Ebensowenig könnte eine Betrachtung gegenwärtiger
Astronomie oder Physik überhaupt jene Erfahrung reproduzieren, die für die Griechen durch die kosmische Ordnung gegeben war. Zwar laßt sich eine Fülle von periodischen Bewegungen angeben — ohne
sie wäre eine Zeitmessung ganz unmöglich — aber diese Phänomene
verbinden sich nicht zu einem System rhythmischer Ordnung. Die Zeit
steht ihnen vielmehr als ein vóllig ungegliedertes Medium gegenüber, als ein Parameter, der — so jedenfalls noch in der gegenwärtigen 10
Physik — jedes beliebige Verhältnis von Schwingungsperioden zuläßt. Wir glauben also nicht, daß jene Wahrheit, die wir im Durchgang durch die klassischen Texte zu erreichen hoffen, ebenso von unseren
Möglichkeiten der Erfahrung zu gewinnen wäre. Da aber jene antike Zeiterfahrung der modernen nicht schon durch ihre Einheitlichkeit
überlegen ist — vielmehr steht sie an Präzision einer an der Physik zu gewinnenden Zeitaxiomatik und an Fülle einer am Bewußtsein
orientierten Zeitphänomenologie durchaus nach —, wenn also nicht von der Überlegenheit der einen oder der anderen Wahrheit zeitlicher Begrifflichkeit gesprochen werden kann, dann stellt sich das Problem des Wahrheitsrelativismus. Es liegt uns nun fern, diesem Problem mit einer Theorie geschichtlicher Wahrheit begegnen zu wollen. Vielmehr
ist unsere Antwort
schon durch die Rede vom
„Korrektiv“ und „Ge-
genbild* gegeben. Wenn wir historische Studien in systematischer Absicht betreiben, so um durch den vermittelten Zugang zu den Sachen selbst die Möglichkeit zu einer Kritik gegenwärtig eingeschränkter
Erfahrungsweisen zu gewinnen und eine Orientierung für die syste-
matische Überwindung solcher Einschränkungen. Das
zweite
uns
leitende
Interpretationsprinzip
könnte
man
das
Prinzip der „philosophischen Konjektur“ nennen. Wir haben, wo im-
mer uns eine Inkonsistenz vorzuliegen schien, versucht im Blick auf
die besprochene Sache selbst dieser eine Ansicht abzugewinnen, die die betreffende Textschwierigkeit aufklärte, — d. h. wir haben in solchen
Fällen nicht die Zuverlässigkeit des Textes bezweifelt oder gar zur
Athetese gegriffen, d. h. in irgendeiner Weise philologisch konjeziert. Wir sind uns der Gefahren, die in dieser Methode liegen, bewußt: man
ist vielfach versucht, dem Philosophen Auffassungen zu unterstellen,
die sich zwar von der Sache her rechtfertigen, nicht aber in jedem Fall
textlich hinreichend belegen lassen. Dennoch sind solche Unterstellun-
gen den meisten philologischen Konjekturen vorzuziehen — im übrigen sollte in einer Interpretation jeder Fall einer philosophischen Konjek-
tur erkennbar sein. Als drittes Prinzip ist die Konzentration auf einige wenige, abgegrenzte Texte zu nennen. Dieses Verfahren hat einiges Verführerische,
weil man nicht ohne Grund seinen Ehrgeiz darein setzen kann, die ganze Philosophie eines Mannes aus wenigen Seiten durch Intensiv-
Interpretation zu gewinnen. Aber eben darin liegen Gefahren, denen man nicht ohne eine ziemlich breite Kenntnis des Gesamtwerkes ent-
11
geht. Diese Methode ist deshalb Anfängern nicht anzuraten. Andererseits ist klar, daß ein weit höheres Maß an Durchsichtigkeit und Verbindlichkeit erreicht werden kann, wenn man innerhalb eines abgegrenzten Textes über jedes Wort Rechenschaft ablegen kann, als wenn man an Hand zusammengesuchter Zitate eine philosophische Lehre „belegt“. In diesem Sinne liegt unser Hauptaugenmerk in den folgenden
Untersuchungen bei Platon auf gewissen Passagen des Timaios, bei
Aristoteles auf den Kapiteln 10—14 des Buches A der Physikvorlesung, bei Leibniz auf dem ὃ 47 des V. Briefes an Clarke und bei
Kant auf einem Abschnitt aus dem Schematismuskapitel der Kritik der reinen Vernunft.
IV. Der Gang der Untersuchungen Das größte Gewicht erhält dabei die Beschäftigung mit Platon. Dies
hat einerseits seinen Grund darın, daß haupt noch keine Einzeluntersuchung nötig war, diese in ihrem methodischen hang mit der Platonischen Philosophie
Platons Zeitlehre bisher übergewidmet wurde,?? so daß es und systematischen Zusammenweitläufiger darzustellen. An-
dererseits liegt es aber daran, daß die Teile der Rede des Timaios, die der Zeit gewidmet sind, in mehrfacher Hinsicht einen Anfang darstellen. Unter dem Titel χρόνος wird hier zum erstenmal in der Geschichte
überhaupt die Zeit zum Thema philosophischer Reflexion gemacht. Zu-
gleich ist die Stelle der Ursprung für die überragende Bedeutung, die der Terminus
αἰών, verstanden als Ewigkeit, in der Geschichte der
Philosophie gewinnt. Ferner ıst Platon der erste, der das, was wir
heute die Zeitmodi nennen, Gegenwart,
Vergangenheit und Zukunft
unter dem Titel εἴδη χρόνου als Einheit begreift. Und schließlich ist es
eben Platon, der den Terminus Zahl zur Explikation des Wesens der Zeit eingeführt hat und damit das erste Beispiel des Zeitverständnisses
geliefert hat, dem wir nachspüren. Nach Untersuchungen Hermann Fränkels kommt χρόνος ın der frühgriechischen
Literatur
eine
durchaus
untergeordnete
Rolle
zu.
Bei
?? Allenfalls wäre das Platon gewidmete Kapitel in J. F. Callahan, „Four Views of Time in Ancient Philosophy“, Cambridge 1948, eine solche zu nennen.
12
Homer findet er „eine fast völlige Indifferenz gegenüber der Zeit“ ??,
Der Terminus χρόνος tritt überhaupt nur im Akkusativ auf, er bezeichnet eine Dauer, immer viel Zeit; es ist die Leere, die langweilige
Zeit, die dadurch zu Wort kommt. Eine andere Stellung hat von Anfang an der Tag. Er wird als selbständige Einheit begriffen, kommt
schon bei Homer vor personifiziert als Gestalt, die etwas Bedeutsames oder Bedrohliches bringt. Diese Erfahrung der Zeit als Tag und Wechsel der Tage wird dann für die Lyriker bestimmend. Sie gaben den Menschen den Beinamen ,ἐφήμεροι“ als dem Geschlecht, das dem wech-
selnden Geschick der Tage ausgeliefert ist. Bei Solon zuerst tritt χρόνος
mit eigener Würde
hervor: Zeit ist bei ihm das, was endlich Recht
schaffen wird. Bei ihm wie bei Pindar ist aber χρόνος noch nicht das
Ganze
der
Zeit,
sondern
nur
die bevorstehende,
,nur
Zukunft,
die
Gegenwart werden will und wird* (aaO. 11). Erst bei Aischylos kann dann yoovóc auch die vergangene Zeit mitumfassen. Wichtig für unsere späteren Untersuchungen ist Fränkels Bemerkung, daß yoovóc diesen
umfassenden Charakter dadurch gewinnen konnte, daf$ man Zeit auf
Seiten des menschlichen Daseinsvollzuges entdeckte. „Auf die Lebenslänge und auf die Altersstufen hat man schon früh den Zeitbegriff an-
gewandt. Indem man ihn aber im 5. Jahrhundert allgemein auf den
Akt des Durchlebens übertrug, war auch die rückwärtige Betrachtung der Zeit móglich und notwendig geworden* (aaO. 14). Diese Entwicklung trifft bei Platon zusammen mit derjenigen des Wortes αἰών. Forschungen von Lackheit, Festugiére und Benveniste, die in jüngster Zeit von Degani zusamengefaßt worden sind, haben ge-
zeigt,
daß
αἰών
primär
Lebenskraft,
dann
Leben
und
Lebenszeit
bedeutete und daß der für die spätere Geschichte maßgebliche Inhalt „Ewigkeit“ diesem Wort zunächst fremd war. Wir werden zeigen,
wie bei Platon der Umschlag geschieht, indem er die ganze Zeit vom
αἰών her als Lebenszeit deutet, und damit auf der anderen Seite dem Terminus αἰών den Sinn von eminenter Zeitlichkeit, von Ewigkeit, verleiht. Die „Zeitmodi“ ferner sind vor Platon mit Zeit im Sinne von yoovös nicht, im Sinne von αἰών nur von Empedokles zusammengebracht worden. Irgendwie bekannt waren sie seit je. In der Regel erschienen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft als eine Ordnung und Klassi23 H. Fränkel, Die Zeitauffassung in der archaischen griechischen Literatur. In: Wege und Formen frühgriechischen Denkens, München 1955.
13
fikation von Seiendem, bzw. richtiger: von Seiendem und NichtSeiendem. So heißt es von dem Seher Kalchas bei Homer, als gesagt
werden soll, daß er alles überschaut: er „erkannte, was ist, was sein wird oder zuvor war“ (Übers. Rupé), ὅς ἤδη τά v ἐόντα τά v ἐσσόμενα πρό τ᾽ ἐόντα (A 70).
Bei dieser Reihung bleibt es auch sonst, ihre Zusammenfassung, die
dem Sinn von Sein als Anwesenheit widerstreitet, unter dem Titel des
Seins ist unmöglich, sie gelingt erst Platon unter dem Titel der Zeit.
Im Terminus Zahl endlich vermag Platon jene als Lebensganzheit erfahrene Zeit der Astronomie zu verbinden, die von Zeit im Sinne
von Tagen, Monaten, Jahren und deren Verhältnis seit je zahlenhaft redet. Dieser Zusammenhang wird erst deutlich werden, indem man die
systematische Funktion der Zahl bei Platon und seine Bestimmung der Astronomie sich vor Augen führt. Indem wir unsere Untersuchung mit einer Erläuterung des methodischen Prinzipes des Timaios, des εἰκὼς λόγος beginnen, wird sie sich nach den Hauptbestimmungen der Platonischen Zeitdefinition gliedern: εἰκών, αἰών, κίνησις, ἀρυϑμός. Die
Zeit ist ein nach Zahlen fortschreitendes Bild des in einem verharrenden Aon. Der Zeitabhandlung des Aristoteles in der Physikvorlesung sind bereits mehrfach Untersuchungen gewidmet worden — auch noch in
Jüngster Zeit. Wir konnten uns hier deshalb manches Detail ersparen,
manches Eigene nur als Beitrag zu einer schon fortgeschrittenen Dis-
kussion vortragen. Was unsere von bisherigen Untersuchungen unterscheidet, ist unser Interesse an der Beziehung von Zeit und Zahl, aus
dem heraus wir uns als unverrückbare Randbedingung der Interpretation auferlegen, daf Zahl als Definiens der Zeit verstanden werden muß. Wir konnten uns daher mit keiner Auslegung zufriedengeben,
die Zeit und Zahl nur in einen beiläufigen Zusammenhang bringt. Ferner glauben wir, daß wir einen wirklich neuen Gesichtspunkt für die Diskussion der arıstotelischen Zeitlehre gewinnen, von dem sehr vieles der Zeitabhandlung in einem anderen Lichte erscheint. Ebenso wie wir den Terminus Zahl in der Definition ernst nehmen, machen wir näm-
lich Ernst mit der Tatsache, daß die Zeit in der Metaphysik als ein
ποσὸν κατὰ συμβεβηκός, als etwas, das nicht schon an sich ein Quantum Ist, bezeichnet wird. Diese beiden Momente bestimmen also im wesent-
lichen den Gang unserer Interpretation der aristotelischen Zeitlehre.
14
Daß Leibniz’ Zeitauffassung in unseren Zusammenhang gehört, wurde erst deutlich, nachdem sich herausstellte, daß es nicht der quantitative Aspekt der Zahl ist, der sie in einen wesentlichen Zusammenhang mit der Zeit bringt. Nach dem Durchgang durch die Platon und Aristoteles gewidmeten Untersuchungen wird verständlich sein, daß
sıch in der Bestimmung der Zeit als Ordnung und Relation ein verwandtes Zeitverständnis expliziert. Eine methodische Schwierigkeit in
der Darlegung der Leibnizschen Zeitlehre ergibt sich daraus, daß er
Raum und Zeit in der Regel parallel behandelt und sein Hauptaugenmerk mehr auf dem Raum als der Zeit liegt. Unsere Untersuchung
wird deshalb über weite Strecken hauptsächlich vom Raum
handeln.
Daß aber die dabei aufgewiesenen Strukturen analog für die Zeit gelten, ergibt sich einerseits aus der parallelen Behandlung von Raum und Zeit bei Leibniz überhaupt, andererseits daraus, daß es für ihn die Zeit ist, woran sich seine Analyse der Raumvorstellung orientiert.
Freilich ergibt es sich bei dieser Lage, dann noch einmal eigens nach
dem „Wesen der Zeit“ zu fragen. Im übrigen ist hier — wie bei Pla-
ton und Aristoteles nach deren Verständnis von Zahl — nach Leibniz Verständnis der Relation zu fragen. Da schließlich bei Leibniz jenes
explizit hervortritt, was auch schon für Platon und Aristoteles das Mafsgebende war, daß nämlich die Zeit als strukturelle Einheit des Geschehens zu verstehen ist, wird auch das Problem der Quantifizie-
rung der Zeitvorstellung explizit. Um
schließlich den Diskussions-
zusammenhang deutlich zu machen, in den unser Haupttext, der $ 47 des V. Briefes an Clarke, gehórt, war dem ganzen eine kurze Darstellung der Newtonschen Zeitlehre vorauszuschicken. Während wir mit unserem Frageinteresse bei Platon, Aristoteles
und Leibniz sicherlich in das Zentrum ihrer Zeitlehren gelangen und
deshalb auch bei ihnen beanspruchen durften, die wesentlichsten Züge dieser Lehren darzustellen, ist das bei Kant nicht mehr der Fall. Die
Beziehung von Zeit und Zahl spielt hier eher eine untergeordnete Rolle, nämlich in der Bestimmung der Zeit als Reihe. Immerhin gibt Kant dieser Beziehung einiges Gewicht, indem er sagt, daß unter dem
Schema der Zahl die „Zeit selbst“ (KdrV. B 182 u. B 184) erzeugt wird.
Nur handelt es sich dabei um die Zeit als formale Anschauung, d.h. um
die in gewissem Sinne gegenständliche Vorstellung der Zeit, während
der Kern von Kants Zeitlehre in seiner Bestimmung der Zeit als Form der Anschauung liegt. 15
Immerhin ist doch die in dieser Weise eingeschránkte Untersuchung zu Kants Zeitlehre eine wertvolle Ergänzung zu unserem Thema, so wie sie — für sich genommen — einen Beitrag zur Erhellung von Kants Auffassung der Mathematik darstellt.
16
PLATONS
ZEITLEHRE
IM TIMAIOS
1. KAPITEL DER
BEGRIFF DER DARSTELLUNG UND DIE METHODE NATURLEHRE IM TIMAIOS (εἰκών und εἰκὼς λόγος)
DER
I. Einleitung Der Demiourg, sagt Platon, bringt ein Bild des Aion hervor, und wir haben dieses Bild die Zeit genannt (37 d). Ist χρόνος also der Name für ein Bild, so stellt sich die Frage, ob das diesem Namen zuzuordnende
Wesen in der Bildhaftigkeit des Bildes oder in dem zu suchen ist, was dieses Bild abbildet.
Ist, was die Zeit eigentlich ist, —
ebenso wie
andere Wesenheiten auch — im Reich des Sichtbaren nur in unvoll-
kommener, gebrochener, abgeschatter Weise da, oder ist die Zeit im Gegenteil ein besonderes Charakteristikum der Welt des Phänomenalen selbst — so etwa wie bei Kant später die Zeit als Form der Anschauung in der Erscheinung und nur in ihr ihr Wesen hat. — Man wird, um solche Fragen zu klären, dem Sinn von εἰκών bei Platon nachspüren müssen. Doch läßt man sich darauf ein, so stürzen alsbald von allen Seiten die schwersten Fragen der platonischen Philosophie auf einen herab. Mag man durch die relativ kurze und beiläufige Behandlung, die die Zeit im platonischen Werk erfährt, zu dem Glauben verführt worden sein, es handele sich dabei auch eher um ein Randproblem, so wird man spätestens durch die Frage nach dem Sinn von εἰκῶν eines besseren belehrt. Die Beziehung von παράδειγμα und εἰκών von Urbild und Abbild, wie man gewöhnlich übersetzt, dient Platon nicht weniger als die Teilhaberrelation dazu, das Verhältnis zwischen 17
den Ideen und den Dingen zu artikulieren. Wie die sinnlichen Dinge
ihre εἰκόνες in Bildern, Spiegelungen und Schatten haben, so sind sie selbst εἰκόνες des wahrhaft Seienden. Wie das Linien- und das Hóhen-
gleichnis zeigen, findet sich im Bereich des wahrhaft Seienden die Abbildungsrelation noch einmal, nàmlich zwischen den Ideen und den mathematischen
Gegenständen.
Letztere,
die man
wohl
mit Gaiser
Spiegelungen der Ideen in der Seele nennen kann, haben aber wiederum im Sinnlichen ihre besonderen Bilder, nàmlich jene, mit denen die
Mathematiker bei ihren Demonstrationen operieren. Ferner wird in einem leicht veránderten Sinn die Sonne eine εἰκών der Idee des Guten genannt, und ebenso die ganze parabolische Weise, über die Idee des
Guten
zu reden, die Gleichnisrede (Pol. VI 515 a). Auch wird die
Sprache selbst als ein Bereich der εἰκόνες bezeichnet. Die Worte sind Bilder der Dinge, und man kann deshalb erwarten, aus ihnen etwas
über die Dinge zu lernen. Dieser Gedanke, der im Kratylos vorgetra-
gen wird — und sich dort nicht recht zu entfalten vermag —, hat, wenn man ihn im Zusammenhang mit dem δεύτερος πλοῦς des Sokrates,
der Wendung
zu den λόγοι interpretiert,
eine große Reichweite.
Wir werden gerade für die Zeitlehre des Platon sehr genau prüfen
müssen, welchen Wert er der Sprache als Vehikel der Erkenntnis verleiht. Um das für uns Wichtigste am Ende zu nennen: So wird der Kosmos im ganzen als Gebilde des Demiourgen als εἰκών bezeichnet, die auf ihn bezügliche Rede des Timaios als ein εἰκὼς λόγος. Wir werden aufzuhellen haben, wie beide Termini miteinander in Beziehung stehen — schon deshalb, um zu erfahren, welche Verbindlichkeit wir dem Text,
aus dem wir Platons Zeitverständnis gewinnen wollen, beimessen wollen. Daß Platon von der etymologischen Beziehung beider Gebrauch macht, ist schon lange erkannt und anerkannt worden.
II. Das Wahrscheinliche: probabile oder verisimile? (zum εἰκὼς λόγος) Es mag etwas willkürlich anmuten, wenn wir aus den mannigfaltigen
Problemen, die mit dem Begriff des εἰκών zusammenhängen, die Frage nach dem Sinn des εἰκὼς λόγος als unseren Ansatzpunkt herausgreifen.
Dieses Vorgehen sei zunächst dadurch gerechtfertigt, daß wir die Vortragsart, in der Platon seine Zeitlehre mitteilt, bestimmt haben müssen, 18
um überhaupt zu ermessen, welches Gewicht sie für ihn haben mochte,
— extrem gesprochen, ob es sich überhaupt um seine „Zeitlehre“ handelt, oder vielleicht nur um ein spielerisch hingeworfenes Apergu. Daß die Einsichten, die wir über den εἰκὼς λόγος zu gewinnen hoffen, dann
für diese Zeitlehre selbst von systematischer Bedeutung sein werden, wollen wir erhoffen. Wir hatten die Frage nach dem εἰκὼς λόγος zunächst als Frage nach der Verbindlichkeit des Timaiosreferates eingeführt. Diese Wendung setzt allerdings schon eine bestimmte Auslegung des εἰκὼς λόγος voraus, nach der dieser eine Rede ist, die das bloß Wahrscheinliche for-
muliert, nur Vermutungen
und Plausibilitätserwägungen zugrunde-
legt. Nun kann man dem Ausdruck „das Wahrscheinliche* zwar vielerlei Sinn geben, und man wird wohl dem, was Platon damit meinte
recht nahe kommen, wenn man den Terminus möglichst etymologisch streng
auffaßt
—
das
lateinische
„verisimilis“
mag
dabei
hilfreich
sein —, doch ist ausdrücklich davor zu warnen, das heute geläufige Verständnis von Wahrscheinlichkeit hineinzumischen. Diese Warnung ist schon nicht ungeschickt von E. Howald in seinem Aufsatz über den εἰκὼς λόγος (Hermes 57, 1922, 163 ff.) ausgesprochen worden, indem
er Boeckhs Übersetzung von εἰκώς als probabile tadelt. Es handelt sich
ja keineswegs um mehr oder weniger begründete Vermutungen, die Platon durch den Mund des Timaios mitteilen will, um Aussagen, die gar neuzeitlich verstanden einen mehr oder weniger großen Grad an Sicherheit auf wiesen, sondern um etwas, das der Wahrheit verwandt ist, das ihr ähnlich ist, um das verisimile. Wir wollen diese These in zweierlei Weise stützen, zum einen dadurch daß wir erwägen, wie ein Vortrag, in dem Vermutungen geäußert werden sollen, auszusehen hätte, zum anderen durch einen Hinweis auf die Tradition, in der sich Platon mit seiner Rede vom εἰκὼς
λόγος befindet. Ein Vortrag, in dem man Vermutungen mitteilen will, dürfte wohl einen — sagen wir — deliberativen Stil haben, er müßte voll sein von alternativen Möglichkeiten, die gegeneinander abgewogen, hypothetisch angenommen und wieder verworfen werden, aus
denen
sich dann
die ,wahrscheinlichste"
Auffassung
herausschälte.
Demgegenüber mutet der Timaios eher doktrinär an, in der Regel wird durchaus assertorisch gesprochen, Alternativen werden über große
Strecken überhaupt nicht in Betracht gezogen. Um so lehrreicher für unsere Zwecke, wenn es einmal doch geschieht. Greifen wir eine solche
19
Stelle heraus und sehen wir zu, ob es sich um das Abwägen von Vermutungen handelt!
Wir wählen die beiden Stellen, an denen Platon die Möglichkeit von mehreren Welten erwägt (31 a—b, 55 c—e), wobei wir gleich von der für uns sicherlich schwierigeren zweiten Stelle ausgehen. Dort heißt es
—
und das eben kónnte die Schwierigkeit für unsere These darstel-
len—, daß jemand mit Fug und Recht (εἰκότως) sich fragen könne, ob es eine oder fünf Welten gäbe. Die Existenz der fünf regelmäßigen Körper des Theaitetos läßt nämlich die Möglichkeit von fünf Welten
in den Blick treten, und wenn man auf anderes sein Augenmerk richtet als nun gerade Platon bzw. Timaios, so mag man auch zu anderen Auffassungen kommen als er. Das gesteht Platon zu, und läßt den Anders-
denkenden, ohne weiter zu argumentieren — so als ließe sich gar nicht
weiter argumentieren — bei seiner Meinung. Nun, haben wir hier nicht zwei raisonable Vermutungen, die beide mehr oder weniger „Wahrscheinlichkeit* für sich haben? Bevorzugt nicht Platon zugestandenermaßen ganz subjektiv, allenfalls durch ein paar Erwägungen gestützt, die eine? „Unsere Rede verkündet zwar, daß dem εἰκὼς λόγος gemäß es von Natur nur den einen Gott gibt, ein anderer mag aber auf anderes sein Augenmerk richtend etwas anderes meinen“ (55 d 4—6).
Aber sehen wir uns doch die entsprechenden Erwägungen an und prüfen wir, ob es sinnvoll ist zu sagen, Platon habe „vermutet“, Platon
habe „es für wahrscheinlich“ gehalten, daß es nur eine Welt gibt.
Platon bezieht sich hier auf die Stelle zurück, an der er seine Überzeugung von der Einzigkeit des Kosmos begründet hat. Diese Stelle muß den eixwg λόγος enthalten, dem er folgt. Der Kosmos muß einzig sein, heißt es 31 a—b, weil er sonst der Einzigkeit des Vorbildes, nach dem er gestaltet wurde, nicht entsprechen würde. Zwar kann man ın der Regel nach einem Original viele Kopien machen, aber die Einzigkeit des Lebewesens selbst, nach dem der Kosmos gebildet wurde, ist von solcher Art, daß dies in diesem besonderen Falle nicht moglich ist, — es sei denn, man verletzte die Ahnlichkeit von Urbild und Abbild
an einer entscheidenden Stelle. Das Lebewesen selbst wird nàmlich als
allumfassend
gedacht:
es umfaßt
alle denkbaren Lebewesen
sowohl
einzeln als auch der Gattung nach (οὗ δ᾽ ἔστιν τἄλλα ζῷα xad” £v καὶ
κατὰ γένη μόρια, 30 c 5 f.). Wir wollen hier noch nicht diese Weise des Umfassens weiter diskutieren — der Kantkenner wird sogleich an Kants metaphysische Erörterung von Raum und Zeit erinnert wer20
den —, wir wollen auch noch nicht die Frage aufnehmen, wie Platon diesen Begriff des Lebewesens selbst bildet. Später werden wir auch
auf den Einwand eingehen, der sich bei der Lektüre der vorliegenden
Passage leicht einstellt, daß Platon hier nämlich ein Zirkel in der Argumentation unterlaufen sei. Für jetzt sei also das Modell in seiner umfassenden Einzigkeit akzeptiert. Dann ist klar, daß zwei sichtbare κόσμοι nicht dem Lebe-
wesen streng nachgebildet sein kónnen, das alle denkbaren Lebewesen umfaßt. Denn sie umfaßten sich nämlich nicht wechselseitig und da-
mit nicht alle sichtbaren Lebewesen. Sie wären also — und von hier
an wird
Platons
Argumentation
explizit —
einem
Vorbild nach-
gebildet, das noch ein anderes neben sich hätte. Für diese beiden müßte es dann wieder ein Umfassendes geben. Dann wäre es aber
richtiger zu sagen, daß unser Kosmos
diesem
Umfassenden
nach-
gebildet wäre, und nicht einem von den zuvor erwähnten Vorbildern. Und warum dies? Weil — wie wir kurz vor unserer Stelle lesen können —, unsere Welt als schónstes alles Gewordenen dem vollkommensten Vorbilde nachgebildet sein muß. Was kónnen wir hieraus für den εἰκὼς λόγος entnehmen? Doch wohl, daß er hier jedenfalls kein Erwägen eines mehr oder weniger, kein Abschätzen von Plausibilıtäten ist, sondern strenger Erweis einer einzigen Möglichkeit, neben der es keine „Alternativen“ gibt. Mag man uns jetzt schon zugeben, daß es sich nicht um ein abschätzendes Vorziehen des , Wahrscheinlicheren* handelt, so wird man doch darauf beharren, daß die ganze Argumentation wegen der „Vollkommen-
heitsannahmen* über den Kosmos oder sein Urbild sich eben doch im Bereich der bloßen Vermutung bewege. Wir antworten darauf vorläufig, daß es ein Irrtum ist zu glauben, man setze für den εἰκὼς λόγος
die Vollkommenheit der Welt voraus: Die Aufgabe des εἰκὼς λόγος ist es gerade, die Vollkommenheit der Welt zu erweisen. Aber
um dies zu erläutern, werden wir uns dem positiven Sinn dieser Untersuchungsart zuwenden müssen.
Zuvor aber noch den angekündigten Hinweis auf die Tradition, in
der Platon mit seiner Methodologie des εἰκὼς λόγος steht. Wir kónnen
uns dabei im wesentlichen auf F. M. Cornford! und G. Picht?, die in ! F. M. Cornford, Plato's Cosmology, London 1937, ad 27 c — 29 d. ? G.Picht, Die Epiphanie der Ewigen Gegenwart, in: Beiträge zur Philosophie und Wissenschaft, Festschrift für W. Szilasi, München
1960.
21
verschiedener Weise dieser Tradition nachgegangen sind, berufen. Sie führt von Parmenides Gedicht über einige Fragmente des Xeno-
phanes zurück zum Musenprooimion des Hesiod und von dort bis zur
Odyssee. An allen diesen Stellen wird ein Reden, das der Wahrheit
ähnlich ist, dieser selbst entgegengesetzt. Daß dieser Traditionszusammenhang nicht bloß philologisch-historisch interessant, sondern von
systematischer Bedeutung ist, hat Picht gezeigt. Nach seiner Interpre-
tation bildet sich bei Xenophanes und Parmenides jenes Axiom heraus, das dann später für den Stil des Platonischen Timaios entscheidend
ist, daß nämlich zu sagen, was der Wahrheit àhnlich ist, die einzige Möglichkeit ist, über die φύσις zu sprechen. Freilich hängt viel davon ab, wie man
solche
„Ähnlichkeit“
versteht, und wir müssen
deshalb
doch noch selbst mit einigen Worten auf einzelne Belegstellen eingehen. Wir werden
dabei im wesentlichen
eher Picht als Cornford
folgen. Beginnen wir mit dem Homerbeleg, der bei Picht nicht in die Interpretation einbezogen wird. Im 19. Gesang spricht Odysseus — noch als unerkannter Fremder — mit Penelope und erzählt ihr von Odys-
seus so, als habe er ihn gekannt und vor langer Zeit in Kreta bewirtet.
Diese Art zu reden charakterisiert Homer, indem er zusammenfassend sagt: Loxe? ψεύδεα πολλὰ λέγων ἐτύμοισιν ὁμοῖα’ (τ 203) „Indem er er-
zählte, gestaltete er vieles Falsche (was sich also eigentlich nicht so zugetragen hatte, doch) der Wahrheit ähnlich.“ Cornford meint nun, Odysseus erzähle „a false but plausible story“
(p. 30, Anm. 3). Dementsprechend
deutet er den ganzen Traditions-
zusammenhang: „Plato’s word ‚likely‘ (εἰκώς) has a history going back
to Parminides and Xenophanes, and even to Hesiod. It means probable or ‚plausible‘“ (30). Aber schon Homer kann solches kaum gemeint haben. Die Plausibilität der Rede des Odysseus müßte sich ja
vom Standpunkt des Zuhórers, nämlich von Penelope, her bemessen.
Diese hat aber keinerlei Vorwissen, keine Informationen, nach denen sie beurteilen kónnte, inwieweit die Geschichte des Fremden wahr sein könnte, d. ἢ. also ihre Plausibilität bestimmen könnte. Als sie wenig
3 ἴσκε ist Imperfekt von &ioxw und ist etymologisch verwandt mit ἔοικα, also mit εἰκώς. Es heißt „etwas einem anderen ähnlich machen“. Will man die Rede des Odysseus als Beispiel für einen εἰκὼς λόγος akzeptieren, so hat man bei einem solchen also stets zu fragen: was wird durch diese Rede welchem anderen ähnlich gemacht (verglichen)?
22
später dazu übergeht, die Autentizität der Geschichte zu prüfen, geht
sie denn auch ganz anders vor, als man es tun würde, wenn man die
„Wahrscheinlichkeit“ einer Erzählung beurteilen wollte. Dann nämlich würde man einzelne Züge des erzählten Geschehens untereinander
und mit dem, was man über dieses Geschehen schon weiß, vergleichen. Penelope weiß aber vom eigentlichen Geschehen gar nichts und prüft deshalb nicht die Geschichte, sondern den Mann, der sie erzählt, indem
sie ihn nämlich fragt, wie Odysseus
ausgesehen habe und was er
getragen habe. — Wenn Homer also sagt, daß Odysseus so erzählte, daß seine Geschichte der Wahrheit ähnlich war, so meint er nicht, daß Odysseus eine wahrscheinliche Geschichte erzählte, sondern daß er
das, was wirklich geschehen war, für seine Erzählung zum Vorbild
nahm, und es nur in verstellter und verschleierter Form wiedergab,
um selbst nicht erkannt zu werden. Fast wörtlich dieselbe Wendung wie in der Odyssee findet sich nun
bei Hesiod. Die Musen sagen im Prooimion: ἴδμεν ψεύδεα πολλὰ λέγειν ἐτύμοισιν ὁμοῖα, ἴδμεν δ᾽, εὖτ᾽ ἐϑέλωμεν, ἀληϑέα γηρύσασϑαι (Thg. 27 f.). Picht übersetzt: „Wir wissen viel Trügerisches zu sagen, das aussieht wie Echtes, wir wissen aber auch, wenn wir wollen, das Wahre zu kün-
den“ (aaO. 208). Er zeigt dann, daß Hesiod diese Auffassung der Musen dazu dient, die Wahrheit seiner eigenen Götterlehre gegenüber anderen Dichtern zu behaupten, von denen er gleichwohl nicht leugnen
will, daß auch sie von den Musen inspiriert waren. Picht meint, daß die erneute scharfe Kritik, die Xenophanes gegen die bisherigen Gótterlehren — nun einschließlich der Hesiodischen — wendet, ihn auf der anderen Seite zu der Einsicht zwingt, daß alles, was Menschen über das All, d. ἢ. also die φύσις im ganzen, ausmachen kónnen, zur Wahrheit nicht durchdringt, denn ein Schein sei über alles ausgebreitet (δόκος δ᾽ ἐπὶ πᾶσι τέτυκται Β 34). Hesiod setze daher allem menschlichen Erkennen, das diesem Schein verhaftet bleibt, den góttlichen νοῦς entgegen. Auch seine eigene Lehre — so interpretiert Picht das isolierte Fragment B 35 — solle nur als etwas angenommen werden, das der Wahrheit gleicht.
Wir heben in der Pichtschen Interpretation noch einen Punkt hervor, der für das Verständnis des εἰκὼς λόγος von besonderer Wichtigkeit ist. Picht meint, daß das in der älteren Literatur singuläre δόκος ein von Xenophanes gebildetes Kunstwort sei, das er benutze, um den Schein, „der aus der φύσις selbst hervorgeht“ (aaO. 211) zu bezeich23
nen und so gegen die verschiedenen Auffassungsweisen der Menschen,
die δόξαι zu unterscheiden. Es ist deutlich, daß Picht hier schon im Vor-
blick auf Parmenides und Platon versucht, die Differenz vom wahren
Sein zu dem stets scheinhaften Sein der Natur aufzuspüren. Denn gehórt zum Bereich der φύσις wesentlich Scheinhaftigkeit, so ist es letztlich belanglos, ob man in seinen Reden über die φύσις dieses, was
scheint, mehr oder weniger gut darauf an, das Scheinhafte dem Wenden wir uns nun selbst ΠΕΡῚ $YXEOS ist bekanntlich
wiedergibt. Es kommt dann vielmehr Wahren zu vergleichen. Parmenides zu! Sein großes Gedicht in zwei Teile gegliedert, deren Naht-
stelle in das uns überlieferte Fragment B 8 fällt. Im ersten Teil wird dem entrückten Autor die Wahrheit oder das Sein offenbart, im zweiten die menschlichen Auffassungen, (βροτῶν δόξαι B 1, 30 vergl. B 8,
51). Da die überlieferten Fragmente fast ausschließlich aus dem ersten Teil stammen, ist Parmenides vielfach nur als der strenge und etwas
monotone Prediger des ἔστιν γὰρ εἶναι bekannt. Die doxographischen Zeugnisse über ihn lassen aber erkennen, daß der zweite Teil seines Gedichtes den ersten wohl bei weitem an Umfang übertraf und ein Weltgemälde enthielt, das sich an Farbigkeit und detaillierter Behand-
lung aller Phänomene des Kosmos mit jeder antiken Physislehre messen konnte. Wenn Timaios am Anfang von Platons Dialog die Unterscheidung
trifft zwischen dem „stets Seienden, das Entstehen nicht an sich hat“ und dem „stets Werdenden, aber niemals Seienden“ (27 d, 28 a), so
entspricht diese Unterscheidung den beiden Teilen des Lehrgedichtes
des Parmenides. Der Platonische Dialog behandelt dabei allein, was den Inhalt des zweiten Teiles bei Parmenides ausmachte. Thema ist
nicht das eine, unteilbare, unbewegliche Sein, sondern der Kosmos als
ein Ganzes stets wechselnder Phänomene. Es wird deshalb für das Verständnis des εἰκὼς λόγος bei Platon sehr aufschlußreich sein sich klarzumachen, wie Parmenides seine Rede im zweiten Teil des Gedichtes versteht.
Wir wiesen schon darauf hin, welchen beträchtlichen Umfang vermutlich der zweite Teil des Lehrgedichtes gehabt haben muß. Es ist wohl kaum glaubhaft, daß Parmenides darin dargestellt habe, was er selbst für baren Unsinn hielt oder für das Geschwätz unwissender Leute. Dagegen spricht auch, daß — wie die Wahrheit des ersten Teils — ebenso die βροτῶν δόξαι des zweiten Teils dem Autor von der Gót24
tin mitgeteilt werden. Was sind die βροτῶν δόξαι Parmenides ist offenbar kein Doxograph, der die Lehrmeinungen anderer Leute über
die φύσις gesammelt und dargestellt hat. Er nimmt auf keine anderen
Autoren Bezug, und es ist auch nur eine einzige „Lehre“, die er in seinem
Gedicht
vorträgt.
Hätte
Parmenides
die „Meinung
der Leute“
im zweiten Teil darstellen wollen, so hätte es sicher nicht der Inspiration durch eine Göttin bedurft, sondern er hätte besser daran getan, sich auf dem Markte umzuhören. Die βροτῶν δόξαι sind wohl also nicht irgendwelche Lehren über die φύσις, sondern die Auffassungsweisen, nach denen die Sterblichen als Sterbliche das, was ist, notwendig erfahren müssen. Über die Grundprinzipien solcher Auffassungsweisen etwas zu erfahren, kónnte den einzelnen in der Tat über die anderen Menschen erheben, so wie es Parmenides im Vers B 8.61
versprochen wird: „So ist es unmöglich, daß dir irgendeine Ansicht der Sterblichen jemals den Rang ablaufe.* Die Kenntnis der Ansichten anderer würde dies nie bewirken.
Parmenides erlangt von der Góttin durch die Mitteilung der mensch-
lichen δόξαι offenbar eine wichtige Einsicht. Wie kommt
es nun aber,
daß die Göttin ihre Mitteilung selbst als trügerisch bezeichnet? Wir zitieren, um darauf einzugehen, die ganze Stelle, die das Gelenk der beiden Teile des Gedichtes bildet: (B 8.50—52)
„Damit beschließe ich
für dich mein verläßliches Reden und Denken über die Wahrheit. Aber von hier ab lerne die menschlichen δόξαι kennen, indem du meiner Worte trügliche Ordnung hórst*. Diese Zweiteilung der Aussagen der Góttin erinnert sofort an das, was die Musen bei Hesiod von sich selbst sagen: , Wir wissen viel Trügerisches zu sagen, das aussieht wie Echtes, wir wissen aber auch, wenn wir wollen, das Wahre zu künden.“ An die Stelle der Musen ist bei Parmenides die Góttin getreten — die
Musen selbst, bei ihm 'HAióóez κοῦραι genannt, haben nur noch eine dienende Funktion (B 1.9).
Trügerisch ist in der Rede der Musen vieles gerade, weil es so aus-
sieht wie das Wahre. Die Musen und mit ihnen die Dichter von alters her wissen ihren Worten einen Glanz zu verleihen, der nur deshalb
täuschen kann, weil er in der Tat irgendwie dem Wahren abgeborgt ist, das Wahre reflektiert, ohne doch das Wahre zu sein. Dementspre-
chend warnt auch die Góttin den Parmenides gerade vor der schónen Ordnung (κόσμος = Ordnung, Schmuck) ihrer Worte. Wenngleich Parmenides soeben die Wahrheit selbst geschaut hat, scheint doch die Ge25
fahr zu bestehen, der Faszination des nun folgenden Weltgemäldes zu verfallen.
Offenbar hat die Góttin dem Parmenides mit dem Wort κόσμος näher bezeichnet, was die Musen dem Hesiod als eine Ähnlichkeit mit dem Wahren angedeutet haben. Die schóne Ordnung ist eine Darstel-
lung des Wahren, die dazu verführt, für das Wahre selbst gehalten zu
werden.
Wenn wir hiermit den Terminus „Darstellung“ einführen, so sind
wir gleich selbst in Gefahr so mißverstanden zu werden, als sei damit impliziert, daß der Inhalt der Darstellung, d.h. etwa der Wortsinn der Worte, selbst das Wahre sei. Wir sahen aber schon bei der Be-
sprechung der Homerstelle, daß dies keineswegs so sein muß. Odysseus
stellt seus, was hier:
dort seine Erlebnisse so dar, als habe er als Kreter ıhn, den Odysseinerzeit bewirtet — was faktisch nicht stimmt. Und doch ist, er sagt, eine Darstellung der Erlebnisse des Odysseus. Ahnlich Der Inhalt der Worte, die den zweiten Teil des Parmenides-
Gedichtes ausmachen, ist die Beschreibung der Weltordnung — nicht das Aussprechen
war. der eine teile
des Wahren,
welches
dem
ersten Teil vorbehalten
Die Weltordnung ist nicht das Wahre, wohl aber eine Weise, in sich die Wahrheit den Sterblichen darstellt. Die Góttin nennt sie „ähnliche Weltordnung“*: „Diese ganze ähnliche Weltordnung ich dir mit, auf daß keine menschliche Erkenntnis dir den Rang
ablaufe“ (B 8.61 f.). Inwiefern der Kosmos eine Darstellung des Wahren ist, können wir
bei Parmenides nicht weiter entwickeln — es scheint, daß es gerade dies ist, was Platon sich im Timaios zur Aufgabe gemacht hat. Fest steht aber, daß bei Parmenides nicht die Weltordnung als solche die Wahrheit ist, — so daß es dann mehr oder weniger richtige oder „wahrscheinliche Meinungen“ darüber geben könnte, sondern die Welt-
ordnung hat selbst den Rang des Scheinhaften, das aber das Wahre durch eine Art von Ähnlichkeit zur Darstellung bringt.
4 Wir lesen also ἐοικότα πάντα als einen acc. sing. und ziehen diese Worte zu τὸν διάκοσμον. Wir fühlen uns dabei wiederum einig mit Picht, der aber im übrigen die Stelle nicht weiter behandelt. Er schreibt (227): „Die Sphäre der Doxa ist nach B 8, 60 ein ἐοικὼς διάκοσμος — « eine geordnete Verteilung (nàmlich von Licht und Nacht), die ähnlich ist »*. Diels/Kranz übersetzen die Zeile τόν σοι ἐγὼ διάκοσμον ἐοικότα πάντα φατίζω, durch „Diese Welteinrichtung teile ich dir als wahrscheinlich-
einleuchtende mit*. Sie erkennen darin also einen doppelten Akkusativ.
26
Wir haben durch unsere Analyse eines Beispieles für den εἰκὼς λόγος
und durch die kurze Darstellung der Tradition, in der sich Platon be-
wegt, wohl
hinreichend
deutlich gemacht,
λόγος nicht um Plausibilitäten bemüht. Um
daß Platon sich im εἰκὼς
den positiven Sinn des
εἰκὼς λόγος als eines methodischen Prinzipes bei Platon zu erhellen, werden wir nun ausdrücklich von der Beziehung zum Bildbegriff, zur εἰκών, Gebrauch machen müssen. Da auf diese Weise auch schon E. Howald vorgegangen ist, wollen wir zunächst kurz auf seine Arbeit eingehen.
Howald schließt aus dem Nachweis der Beziehung von εἰκὼς λόγος
und εἰκών, daf$ der Timaios in den Bereich der Kunst zu verweisen sei.
Er zeigt, daß die εἰκότα bei Platon und Aristoteles ein Charakteristikum der Rhetorik darstellen, er verweist darauf, daß εἰκών in den Bereich der μίμησις gehört,? er betont, daß an mehreren Stellen εἰκὼς λόγος im Timaios mit μῦϑος gleichgesetzt wird. Wir haben an diesen Nachweisen im Grunde nichts auszusetzen, in der Tat handelt es sich bei dem Timaios um
ein sehr kunstvolles und künstlerisches Gebilde,
nur scheint uns Howald die Verbindlichkeit künstlerischer Darstellung
bei Platon zu gering zu veranschlagen. So lesen wir etwa bei ihm:
„Nun ist aber μῦϑος wirklich stets Fabel, Phantasieprodukt (69). Ein
μῦϑος, ein Phantasieprodukt liegt vor uns, immer und immer wieder
sagt es Platon (73). Nein, das alles ist ja nur ein Gleichnis, ein Bild; da kommt es doch so genau nicht darauf an (75)*. Howald versteht
den Timaios, indem er ihn durch solche Wendungen charakterisiert als ein müßiges Spiel, dem keine inhaltliche Relevanz zukommt. Er kann sich dabei scheinbar auf jene Stelle berufen, an der sich Platon
zwischendurch über die Beschäftigung mit dem Bereich des Entstehens
äußert: „Schafft sich jemand, indem er die Untersuchungen über das
ewig Seiende ruhen läßt und, zu seiner Erholung, über das Enstehen
dem Wahrscheinlichen nachforscht, ein harmloses Ergótzen, so dürfte das wohl im Leben eine das Maß nicht überschreitende, vernünftige
Unterhaltung gewähren.“ (59 c, d). Wir werden dagegen zeigen, daß εἰκών auf ein ontologisches Grundverhältnis bei Platon verweist. Des-
5 Siehe die Dihairesis der μιμητικὴ τέχνη im Sophistes. Es ist charakteristisch für die Tendenz
Howalds,
daß er sich bei den Definitionen versieht und die Definition
der φανταστική für die der εἰκαστικὴ τέχνη nimmt. Nur in bezug auf die erstere sagt Platon, daß sich in ihrer Ausübung die Künstler um das Wahre nicht kümmern (χαίρειν τὸ ἀληϑὲς ἐάσαντες 236 a).
27
halb ist gerade für Platon die künstlerische Darstellung nicht dem freien Belieben überlassen. Die Beschäftigung mit dem sichtbaren Kosmos im Sinne des εἰκὼς λόγος aber der εἰκὼς λόγος
geglaubter
ist zwar eine der Dialektik nachgeordnete,
läßt deshalb
wissenschaftlicher
keineswegs
Tatsache
und
„die Grenze
freiem
Spiel
zwischen
der
Phan-
tasie.... gänzlich unbestimmt“ (74), sondern hat seine eigenen methodischen Prinzipien. Wenden
wir uns nun der Stelle zu, an der Platon im Timaios das
Prinzip des εἰκὼς λόγος einführt und begründet. Wir bringen zunächst den ganzen Text in Übersetzung: „Indem wir das Gesagte zugrunde legen, ist es ganz notwendig, daß
dieser Kosmos eine Darstellung von etwas ist. Das Allerwichtigste ist aber, mit dem naturgemäßen Anfang zu beginnen. Deshalb müssen
wir nun sowohl für die Darstellung als auch für deren Vorlage bestimmen, daß die Aussageweisen dem verwandt sein müssen, dessen Auslegung sie sind. Auf der einen Seite sind die Aussagen über das, was fest bleibt und durch die Vernunft einsichtig wird: sie sind bleibend
und unerschütterlich — soweit es jedenfalls Aussagen überhaupt zukommt unwiderlegbar und unveränderlich zu sein, sollten sie es daran nicht fehlen lassen. Auf der anderen Seite stehen Aussagen über das, was als Darstellung in Hinblick auf jenes gemacht wurde. Da sie Aussagen über Darstellungen sind, sollten sie im Verhältnis zu den Aussagen erster Art selbst darstellend sein. Denn wie das Sein zum Hervortreten, so verhàlt sich die Wahrheit zum Glauben. Wenn wir nun, Sokrates, in vielen Dingen über vieles, wie die Gótter und das Hervortreten des Alls, uns nicht imstande zeigen, in jeder Hinsicht gänz-
lich mit sich selbst übereinstimmende und strenge Aussagen zu machen,
so wundere dich nicht: Wir müssen vielmehr zufrieden sein, wenn wir Aussagen machen, die so gut wie irgendetwas zur Darstellung taugen, indem wir dessen eingedenk sind, daß ich der Redende wie ihr die
Beurteilenden eine menschliche Natur haben, so daß es sich nicht gehört
noch weiter zu suchen, wenn wir nur über diese Dinge eine darstellende Erzählung liefern“ (29 b—d).
Eine Übersetzung des platonischen Textes muß natürlich gerade dort
ein Notbehelf bleiben, wo Platon Wert auf etymologische Zusammenhänge legt. Was wir zu leisten hätten, wäre eine Wiedergabe der Be€ Wir fassen μηδενός also als Neutrum auf. Vgl. Taylor, Plato's Timaeus, Oxford (1928) 1962, zur Stelle.
28
A Commentary
on
ziehungen zwischen εἰκών, ἀπεικάζειν und εἰκὼς λόγος. Wenn Schleiermacher εἰκών mit „Abbild“ und εἰκώς mit „wahrscheinlich“ übersetzt,
verdirbt er sicherlich den Zusammenhang zwischen beiden. Warum sollten Aussagen über ein Abbild wahrscheinlich sein? Dabei braucht Schleiermachers Übersetzung nicht einmal falsch zu sein, nur erman-
gelt sie der unmittelbaren Evidenz, die Platon durch Benutzung des
etymologischen Zusammenhanges erzeugen wollte. Man wird wohl
vergeblich nach einem deutschen Wort suchen, das dies leisten kónnte,
und bleibt somit auf dieinhaltliche Erläuterung angewiesen. Eher geeignet ist in diesem Fall die englische Sprache. So übersetzt Cornford die entscheidende Stelle 29 c: „while an account of what is made in the image of that other, but is only a likeness, will itself be but likely*
(a3O. 23). Die Ableitungen von „to like“ heben dasselbe heraus, was auch
für die Beziehung von εἰκών und εἰκὼς λόγος entscheidend ist, näm-
lich das , Ahnlich-Sein*. Ein Bild kann „a likeness? genannt werden auf Grund der Ahnlichkeit, die es mit dem Original hat. Eine Aussage kann
„likely“
genannt
werden,
weil sie dem
Wahren
ähnlich
sieht. „Likely“ kann wie εἰκώς wahrscheinlich, annehmbar, geeignet heißen. So kann Cornford recht gut die etymologische Beziehung von εἰκών und εἰκὼς λόγος nachzeichnen, — und doch hat man den Ein-
druck, daß er sich mit dem Anklang begnügt, denn aus seiner Über-
setzung wird zwar die Analogie von Original und Bild auf der einen Seite zu strenger und wahrscheinlicher Aussage auf der anderen deut-
lich, nicht aber die Beziehung von Bild und auf das Bild bezogener Aussage, auf der die genannte Analogie nach Platon beruht: Aussagen über Bilder haben den Charakter des εἰκὼς λόγος.
III. Die Beziebungen von Vorlage und Bild (παράδειγμα und εἰκών)
und ihre Leistung zur Darstellung des Verhältnisses von Idee und Ding
Nach unserer These muß der εἰκὼς λόγος als ein Reden über εἰκόνες begriffen werden. Wir unterbrechen deshalb unsere Untersuchung dieses methodischen Prinzipes, um zunächst Platons Bildbegriff und des-
sen systematische Stellung aufzuklären.
Hans Willms stellt in seiner Monographie? wohl mit Recht fest, daß
7 Hans Willms: EIKQN. I. Teil: Philon von Alexandreia. Mit einer Einleitung über Platon und die Zwischenzeit. Münster 1. W., 1935.
29
εἰκῶν und παράδειγμα komplementäre Begriffe sind. Von εἰκών ist dort die Rede, wo etwas einem anderen, als seiner Vorlage, nachgebil-
det wird. Das Begriffspaar gehórt vornehmlich in den Bereich der Mimesis, der darstellenden Kunst. Der Sprache dieser Sphäre bedient sich nun Platon, um im Timaios die Gestalt des Kosmos darzustellen.
Die Welt ist eine εἰκών, sagt er, sie ist einem παράδειγμα nachgebildet.
Wo es nun einen „Vorwurf“ und ein Bild gibt, da ist sicherlich auch
ein Künstler, der die Beziehung von Vorwurf und Bild vermittelt. So stellt Platon den Kosmos als ein Produkt eines göttlichen De-
miourgen dar. Aber wie ist das zu verstehen? Nach dem eben Gesagten scheint es so, als erzwänge die Metaphorik des Wortpaares εἰκών — παράδειγμα die Einführung eines Meisters zur Abrundung des gewähl-
ten Bildes. Das mag so sein, aber dabei bleibt doch durchaus offen, wie die Metaphorik als solche zu bewerten ist. Läßt sich das aus der Sphäre
der darstellenden Kunst gewählte Bild seines Bildcharakters entklei-
den, so daß dann herausträte, was Platon eigentlich gemeint hat, bzw. was der Kosmos eigentlich ist? Diese Frage hat die Interpreten seit
Platons unmittelbaren Schülern bewegt und zwar in der Gestalt der Frage, ob die Rede von der Erzeugung des Kosmos bloß mythologisch
sel, oder eine wörtliche Auffassung zulasse. — warum wir nach so langer Zeit über einen solchen sollten, aber ist nicht ganz klar aus Platons Worten er ein Streit um eine Alternative ist, die die Lösung Denn es ist doch offenbar die ganze Pointe des λόγος daß
man
den
μῦϑος
Wir wissen nicht, Streit erhaben sein zu entnehmen, daß gerade ausschließt? Prinzipes des εἰκὼς
als solchen wörtlich nehmen
soll. Nach
Platons Worten ist es — jedenfalls uns Menschen — unmöglich, anders
über den Kosmos zu reden als in der Form eines εἰκὼς λόγος oder μῦϑος. Der Kosmos ist ein Etwas von der Art, daß sich seine Form nicht „abstrakt“, d.h. an sich mitteilen läßt, sondern nur „bildlich“, weil
516 nämlich sonst nicht mehr Form des Kosmos wäre — sondern eben wie jede Gestalt überhaupt dem Bereich des Noetischen und nicht dem Bereich des Sinnlichen angehörte. Man kann, was sich über den Kosmos überhaupt sagen und erkennen läßt, also nur „bildlich“ sagen:
das wäre unsere erste Auslegung von εἰκὼς λόγος. Er ist bildliche Rede
über Bildliches.
Zur Bestätigung unserer These weisen wir noch einmal darauf hin,
daß Platon den εἰκὼς λόγος des Timaios mehrfach einen μῦϑος nennt.? 8 Timaios: 29 d, 59 c, 69 b.
30
Ferner führen wir an — worauf auch schon Willms hingewiesen hat,
— daß εἰκῶν mehrfach soviel wie Gleichnisrede, Parabel bedeutet. So
nennt Platon etwa das Hóhlengleichnis rückblickend (d. h. Pol. 517 a) eine εἰκών. Das Höhlengleichnis wird übrigens mit demselben Ausdruck, der uns auch in unserem Timaiosabschnitt begegnete, eingeführt nämlich ἀπεικάζειν: abbilden, vergleichen. „Nächstdem, sprach ich, ver-
gleiche dir unsere Natur in bezug auf Bildung und Unbildung folgen-
dem Zustande: “(514 a). Das Höhlengleichnis leistet eine gleichnishafte Darstellung der menschlichen Natur. Man kann es ein Bild oder, so-
fern die Rede gemeint ist, eine bildliche, eine gleichnishafte Rede
nennen,
einen εἰκὼς λόγος. Dann
erinnern wir daran, daß im Linien-
gleichnis die Sonne eine eixwv der Idee des Guten genannt wird: ein
Bild, ein Analogon, ein Gleichnis.
An allen diesen Stellen zeigt es sich, daß die bildliche Rede ihren Grund in den Abbildungsverhältnissen des Seienden findet, oder um es
mehr im Sinne der letzten Beispiele zu sagen: die Gleichnisrede hat
ihre Entsprechung in der Gleichnishaftigkeit der Wirklichkeit. Das Wort „Gleichnis“ ist im Deutschen sehr stark durch die biblische Gleichnisrede? in seinem Sinn bestimmt. Es wäre sonst vermutlich das
oben von uns gesuchte Wort, mit dem sich die Beziehung von εἰκών, εἰκὼς λόγος und ἀπεικάζειν nachbuchstabieren ließe: Weil der Kosmos ein Gleichnis ist, muß die Aussage über ihn eine Gleichnisrede sein.
Goethe hat offenbar das Wort Gleichnis am Ende des Faust so ver-
standen wissen wollen: „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis; das Unzulängliche, hier wird's Ereignis“ (1204—7). Es ist wohl
sicher, daß Goethe damit an die neuplatonische Tradition anknüpft, daß der Ursprung dieses Satzes also im Timaios selbst zu suchen ist. Die Darstellung des Verhältnisses zwischen dem Kosmos und dem
Bereich des immer Seienden durch das Begriffspaar εἰκών
— παράδειγμα
gehört selbst dem εἰκὼς λόγος an: sie ist eine bildhafte, metaphorische.!® Wir sollten nicht erwarten, dieses Verhältnis frei von jeder Bildhaftigkeit erfassen zu können. Wir haben aber die Möglichkeit, es weiter ? Gleichnis ist übrigens im NT nicht εἰκών sondern xagooA1, s. z.B. Math. 13,3;
Mark. 12,1.
19 G, Picht hat auf die Tatsache hingewiesen, daß selbst die Unterscheidung von ὄν und γιγνόμενον (27 d, 28 a) einer δόξα zugewiesen wird: Ἔστιν οὖν δὴ κατ᾽ ἐμὴν δόξαν πρῶτον διαιρετέον τάδε: (27 d), (s. Picht aaO. 203).
31
zu erhellen, indem wir Platons eigene Reflexionen über den Begriff der εἰκῶν uns vor Augen führen und indem wir zweitens die dialektische Kritik beachten, die Platon der Darstellung durch das Schema von εἰκών und παράδειγμα angedeihen läßt.
Um das erste zu leisten, wenden wir uns dem Sophistes zu. Der Fremde sucht dort den Sophisten im Bereich der bildnerischen, der
darstellenden Künste!!. Diese werden eingeteilt in die εἰκαστικὴ τέχνη — die ebenbildnerische Kunst, wie Schleiermacher übersetzt — und die φανταστικὴ τέχνη — die trugbildnerische Kunst. Das Produkt der ersteren sind die εἰκόνες, das der letzteren die φαντάσματα. Diese beiden Arten der darstellenden Kunst unterscheiden sich durch ein verschiedenes Verhältnis zu ihrem Vorbild (παράδειγμα) einerseits und ihren Gebilden andererseits. Die ebenbildnerische Kunst gibt sich in
ihrem Tun ganz der Vorlage anheim. Sie besteht darin, daß „jemand
nach des Urbildes Verhältnissen in Länge, Breite und Tiefe, und dann auch jeglichem seine angemessene Farbe gebend, die Entstehung einer Nachahmung bewirkt“ (235 d, e). Die trugbildnerische Kunst dagegen kümmert sich gar nicht so sehr darum, ob sie auch das Original zur
Darstellung bringt, sondern es geht ıhr vielmehr um das Bild und dessen Aussehen. In Bezug auf solche Künstler fragt deshalb der Fremde: „Lassen also nicht die Künstler das Wahre gut sein und suchen
nicht die als seiend bestehenden Verhältnisse, sondern die, welche als schón erscheinen werden, in ihren Nachbildern hervorzubringen?*
(236 a). Das Beispiel, das Platon für dieses Vorgehen gibt, macht zugleich mit der Möglichkeit die Berechtigung auch dieser Gattung deut-
lich: Die Maler malen auf großen Gemälden das oben Dargestellte verhältnismäßig zu groß, weil es nämlich sonst dem Betrachter zu klein scheinen würde. Platon benutzt übrigens, um an dieser Stelle den Terminus εἰκών
einzuführen, dieselbe sprachliche Beziehung zwischen εἰκών und eixws,
die ihm umgekehrt im Timaios dazu dient, den Terminus εἰκὼς λόγος
einzuführen. Hier heißt es: Da das Gebilde des einen Teiles der bil-
denden
Künste εἰκός (ähnlich) ist, ist es billig, deren Produkt
eine
εἰκών zu nennen. Entsprechend heißt das Gebilde des anderen Teiles der darstellenden Künste φάντασμα, weil es nur den Anschein hat (φαίνεται) ähnlich zu sein. 11 εἰδωλοποιικήῆ oder μιμητικὴ τέχνη 235 c, d. H. Willms weist aaO. darauf hin, daß εἴδωλον bei Platon gegenüber εἰκών in der Regel der weitere Begriff ist.
32
Wir entnehmen aus der bisher mitgeteilten Analyse zweierlei: Das
Verhältnis von Vorlage und Gebilde der darstellenden Kunst wird
so gedacht, daß das letztere als Bild des ersteren gilt, weil und insofern
es an sich selbst Bestimmungen des Originals — etwa Größenverhältnisse, Farbe etc. — an sich trägt. Diese erste Feststellung ist keineswegs trivial, denn es werden damit bestimmte Möglichkeiten der Dar-
stellung ausgeschlossen, etwa die symbolische, die dynamische, die synästetische.? Zum zweiten bemerken wir, daß ein Produkt der darstellenden Kunst eine wesentliche Zweideutigkeit an sich trägt: Das Kunstwerk kann etwas darzustellen scheinen, ohne es wirklich darzustellen, nàmlich dann und insoweit es nàmlich die Charakteristika
eines bestimmten Originals nur zur Erscheinung bringt, ohne sie selbst
an sich zu tragen. Man sieht schon hier, daß die Unterscheidung zwischen εἰκών und φάντασμα sich für die Gebilde der Kunst gar nicht so durchführen läßt, daß diese streng in zwei Klassen zerfallen. Denn ein φάντασμα hat ja selbst Bestimmungen, auf Grund deren es eine εἰκών von etwas ist, selbst wenn es sich den Anschein von etwas anderem gibt. Eine εἰχών andererseits wird aus unglücklicher Perspektive nach etwas anderem aussehen als sie wirklich darstellt. Diese Zweideutigkeit von selbst sein und zur Erscheinung bringen,
wird sicherlich auch für den εἰκὼς λόγος wichtig sein. Sie ist jedoch der Grund für Platons prinzipielle und unaufhebbaren Vorbe-
12 Symbolische Darstellung beruht immer auf Konvention (τὸ σύμβολον bezeichnet den Vertrag und das Erkennungszeichen, das zwischen Gastfreunden bei einem Vertragsschluß ausgetauscht wurde — etwa die zwei Hälften eines zerbrochenen Stabes). Sie kann auf Ähnlichkeit des Dargestellten verzichten. Dynamische Darstellung bringt nicht so sehr die faktischen Bestimmungen des Dargestellten zum „Ausdruck“ als vielmehr seine Möglichkeiten, sein Vermögen. Auf diesen Unterschied hat besonders Th. Bomann in „Das hebräische Denken im Vergleich mit dem Griechischen“, Göttingen 1952, hingewiesen. Er zeigt, daß die Darstellung der Geliebten in der hebräischen Liebesdichtung (AT) für unser griechisch bestimmtes Empfinden geradezu unästhetisch anmutet, weil eben nicht die Harmonie des Aussehens, sondern die Dynamik des Wirkens zum Ausdruck kommt. Synästhetische Darstellung beruht auf der bisher noch unaufgeklärten Verwandtschaft der verschiedenen sinnlichen Bereiche. 516 scheint weder der Konvention zu bedürfen noch allein auf der Gleichheit von Beziehungen innerhalb der verschiedenen sinnlichen Bereiche zu beruhen. Auf synästhetischer Darstellung beruht offenbar die universale Ausdruckskraft der Musik, zumindest soweit sie über ihren quasi mathematischen Charakter
hinausgeht.
Ein
Ton
kann
hoch,
spitz,
aber auch tief, voll, dunkel, filzig, bedrückend sein.
hell,
süß,
erfrischend,
er kann
33
halte gegen jede Art von λόγος, ebenso wie Bild.13
gegen jede Art von
Wir halten hier inne, um, bevor wir zum zweiten Teil der Erörterung
des einwv-Begriffes im Sophistes übergehen, die Frage zu stellen, wie-
weit das Darstellende in seiner Darstellung der Vorlage entsprechen
darf, um noch mit Recht eine εἰκών genannt zu werden. Wir haben kurz zuvor etwas vorsichtig formuliert, das Gebilde der darstellenden Kunst müsse die Bestimmungen der Vorlage „an sich tragen“. Ist dies so zu verstehen, daß eine εἰκών im eigentlichen Sinne ein zweites Exemplar wäre? Wenn ein Tischler nach einem Tisch, den man ıhm hinstellte, getreu einen zweiten machen würde, der dem ersten in allen Stücken gleich wäre, hätte er dann eine εἰκών geschaffen? Offenbar ist dies nicht Platons Meinung. Im Kratylos wird ausdrücklich auf dieses
Problem eingegangen. Nachdem gesagt wurde, daß Zahlen eine be-
stimmte Zahl jeweils nur sind, wenn sie alle ihre Bestandsstücke zusammenhaben — weil sie sonst nämlich eine andere wären —, heißt es
weiter: „Die Richtigkeit des So-und-so-Beschaffenen und jedes Bildes
(εἰκών) ist nicht von dieser Art, sondern ganz im Gegenteil braucht es keineswegs alles so wiederzugeben wie jenes ist, das es abbildet, wenn es eine εἰκών sein soll.“ Wenn z. B. ein Gott in der Lage wäre, ganz
genau den Kratylos nachzubilden, so hätte man einen zweiten Kratylos und kein Bild des Kratylos (432 a—c). Ein Bild ist nicht ein zweites Original, sondern nur etwas, das so beschaffen ist wie das Original, ein ποῖόν vi,
13 Vgl. den Exkurs im 7. Brief und dazu H. G. Gadamers Interpretation „Dialektik und Sophistik im siebenten platonischen Brief“, in: Platos dialektische Ethik und andere Studien zur platonischen Philosophie, Hamburg. 1968. Gadamer faßt den Unterschied von τί und ποῖόν τι als den von Bedeutung des Bildes bzw. der Aussage und deren Eigenwesen. Danach resultiere Platons Reserve gegenüber Bild und Aussage daraus, daß deren Eigenwesen sich immer vordránge und sie so das τί nicht rein zur Darstellung brächten, sondern stets nur als ποῖόν τι sehen ließen. 14 Die Unterscheidung, auf die hier Bezug genommen wird, ist offenbar die von τί und ποῖόν τι, wie wir sie auch aus dem
7. Brief kennen
(7. Brief 342 e; 343 b, e)
(s. Anm. 13). Das τί — so sagt das Beispiel der Zahl — läßt kein Mehr oder Weniger (μᾶλλον xai fjvtov) zu, soll es sein, was es ist. Dagegen kann ein ποῖόν τι, was es ist, durchaus mehr oder weniger sein. Zur Geschichte dieser Unterscheidungen, die dann in der aristotelischen Kategorienschrift ständig als analytisches Instrument auftauchen, siehe: Philipp Merlan, Beiträge zur Geschichte des antiken Platonismus I. Zur Erklárung der dem Aristoteles zugeschriebenen Kategorienschrift. (Philologus 89
(1937), 35 ff. 34
Aus diesem Grunde sind die handwerklich herstellenden Künste bei
Platon auch nicht der im Sophistes eingeteilten μιμητικὴ τέχνη, der dar-
stellenden Kunst, zuzurechnen. Dies wird ganz deutlich im X. Buch des Staates, wo ausdrücklich nach der Definition der Mimesis gefragt wird (595 c). Dort werden dann, um diese Definition zu erreichen, ,drei
Betten* verschiedenen Ranges eingeführt. Das erste ist das OriginalBett, das der Gott selbst schafft. Auf dieses blickend stellt der Hand-
werker dann die vielen Betten her, in die man sich legen kann. Und schließlich gibt es noch einen dritten Typ
von Betten, nämlich die,
welche durch die Maler oder andere darstellende Künstler dem Handwerksprodukt nachgebildet werden. Dementsprechend werden drei
Arten von herstellenden Künsten unterschieden: die ursprünglich schaffende (φυτουργική), die handwerklich herstellende (δημιουργική) und die darstellende (μιμητική). Das Produkt der Mimesis wird hier εἴδωλον genannt, es ist ein Erscheinendes aber nicht wirklich Seiendes (φαινόμενα, οὐ μέντοι ὄντα, 596 e, vgl. 599 a). Es erscheint angebracht, hier darauf hinzuweisen, auf welcher Ebene
Platon argumentiert. Platon versucht hier im Staat den Begriff der Mimesis und dort im Sophistes den Begriff des εἰκών zu kláren in deren
umgänglichen Sinne. Es wäre deshalb verfehlt, schon jetzt hineinzu-
mischen, daß für Platon jeglicher sinnliche Gegenstand, ja sogar der Kosmos ein Bild genannt werden kann, insofern durch sie das ewige
Seiende zur Darstellung kommt. Platon an den jetzt erórterten Stellen,
wie uns gegenwärtig kommt es aber zunächst darauf an, den gewóhnlichen Sinn des Darstellens zu verstehen, um von dort her zu entwickeln, auf welche Weise das Verhältnis von Vorlage und Bild dazu dienen kann, das Verhältnis von Idee und sinnlichem Ding metaphorisch zu beschreiben. Wenn also Platon im X. Buch des Staates die ὄντα den φαινόμενα gegenüberstellt, so ist das wirklich Seiende in diesem Zusammenhang etwa ein Bett, in das man sich legen kann, die
bloße Erscheinung dagegen der Anblick eines Bettes, wie er sich in Spiegeln oder Gemälden präsentieren mag. Platon behandelt nun offenbar den Gegenstand der darstellenden Kunst ım X. Buch des Staates ganz allgemein unter den Titeln εἴδωλον, φαινόμενον, φάντασμα, während er im Sophistes die beiden letzteren für einen Teil der mimetischen Kunst reserviert. Hierin ist aber sicherlich keine Differenz der Auffassung zu finden. Dagegen spricht schon,
daß in beiden Texten die darstellende Kunst durch die scherzhafte
35
Frage nach dem Alleskünstler eingeführt wird: Der darstellende Künstler kann in gewisser Weise alles machen, — in dem er es etwa im Bilde zur Darstellung bringt —, nur macht er eben nicht wirkliche Dinge, sondern bringt nur Erscheinungen hervor (vgl. Pol. 595 a—e und Soph. 233 d—234 b). Ganz parallel wird der scheinhafte Charakter der Gebilde der mimetischen Kunst in beiden Texten verdeutlicht: Man kann gelegentlich Kinder und tórichte Leute aus der Entfernung täuschen, so daß sie die bloßen Erscheinungen für wirkliche Dinge halten (vgl.
Pol. X 598 c und Soph. 234 b—.c). Der einzige Unterschied besteht darin, daß Platon im Sophistes — mit der Möglichkeit der Täuschung befaßt — betont, daß der bildende Künstler die Möglichkeit hat, nicht nur das Aussehen des Originals, sondern auch das des künstlerischen Produktes zur Richtschnur seines Handelns zu machen. Diese
für den Bildbegriff sicherlich nicht gleichgültige Unterscheidung rechtfertigt die terminologische Verfeinerung in der späteren Schrift. Wir sind jetzt darauf vorbereitet, die zweite Stelle im Sophistes zu
erläutern, die sich mit dem Bildbegriff beschäftigt und die dann zu einer Definition führt. Hier wird zwar zunächst spezieller angesetzt:
Der Sophist ist jemand, der die trugbildnerische Kunst ausübt (239 c).
Dann wird aber doch zur bildenden Kunst allgemein übergegangen (εἰδωλοποιόν 239 d vgl. 235 b) und gefragt, was denn überhaupt ein Bild sei (τί, ποτε τὸ παρά παν εἴδωλον λέγομεν 239 d). Wir erlauben uns, nun die ganze zur Definition führende Passage in Übersetzung wiederzugeben:
»lheaitetos: Was sollen wir schon anderes sagen, Gastfreund, daß ein
Bild sei, als das einem wahren Ding angeglichene andere Derartige? Gastfreund: Meinst du ein anderes derartiges wahres Ding oder worauf beziehst du das Wort ‚derartig‘? Th.: Keineswegs doch ein wahres, sondern etwas, das ihm G.: Und das ‚Wahre‘ nennst du doch das wirklich Seiende? Th.: Ja, so.
gleicht.
G.:
Wie denn? Das Nicht-Wahre ist doch das Gegenteil des Wahren?
G.:
Ein nicht wirklich Seiendes nennst du also das Angeglichene,
Th.: Was denn sonst?
wenn du es doch als das Nicht- Wahre bezeichnest? Th.: Aber es ist doch irgendwie.
G.: Aber nicht wahrhaft, sagst du. Th.: Allerdings nicht, außer daß es Gleichnis wirklich ist.
G.:
Als nicht wirklich Seiendes ist wirklich dasjenige, was wir ein Gleichnis nennen?* (240 a—b)
Ein Bild, — das scheint uns die entscheidende Aussage zu sein —, 1st wirklich ein Bild, aber das, was es darstellt, ist es nicht wirklich,
sondern läßt es nur erscheinen. Wir geben zunächst einige Erläuterungen am griechischen Text und rechtfertigen dabei zugleich unsere Übersetzung. Gleich im ersten Satz
wird,
was
ein Bild ist, in zweifacher
Weise
,kategorial^
näher be-
stimmt. Wir setzen „kategorial“ in Anführungszeichen, weil es sich dabei um Unterscheidungen handelt, die bei Platon zwar weitgehend
vorgebildet sind, sich aber erst bei Aristoteles zu kategorialen verfestigen. Das Bild ist ein ἕτερον, und das Bild ist ein τοιοῦτον. Der letztere Ausdruck bestimmt das Bild gemäß der Unterscheidung von τι und ποῖόν τι, die uns schon vom Kratylos und vom 7. Brief her be-
kannt ist, der erstere gemäß
der Unterscheidung von ταὐτόν und
ἕτερον, die später im Sophistes eingeführt wird. τοιοῦτος ist das Demonstrativum, das dem Interrogativum ποιόν entspricht. Ein Bild Ist etwas, das so beschaffen ist, wie ein anderes, — ohne aber selbst das zu sein, was es durch seine Beschaffenheit darstellt. Wenn man mit
der Frage τι ἔστι an ein Bild herantritt, kann man nur die Antwort
erhalten, daß es eben ein Bild ist, — jedenfalls wenn man diese Frage
platonisch als eine Frage nach dem Wesen der Sache versteht. Man kann sie aber auch als Frage nach der Benennung von etwas verstehen, und dann sind 1m Falle des Bildes zwei Antworten móglich: Hat man es etwa mit der Statue eines Pferdes zu tun, so kann man auf die Frage „Was ist das?“ antworten:
„Das ist eine Statue“ oder „Das ist
ein Pferd“. Pferd wird die Statue bloß homonym genannt, „Statue“
aber bezeichnet das, was das Sein oder das Wesen dieses Gegenstandes ausmacht. Sehr schön hat später Aristoteles diesen Unterschied am Anfang der Kategorienschrift dargestellt: „Homonym nennt man die Dinge, die nur den Namen gemein haben, bei denen aber die dem Namen entsprechende Wesensdefinition (λόγος τῆς οὐσίας) verschieden ist, wie zum Beispiel ,69ov*, das den Menschen und das Gemälde bezeichnet. Diesen ist nàmlich der Name gemeinsam, die dem Namen entsprechende Wesensdefinition verschieden: Wenn nämlich jemand sagen sollte, was für jedes von beiden das Goov-Sein bedeutet, so würde
er für jedes von beiden eine andere Definition geben“ (Kat. 1. 1a, 1—6). Diese aristotelischen Unterscheidungen führen natürlich durch
37
Diskussionen der Akademie!5 auf Platon zurück, wofür gerade unser Sophistes- Text ein Zeugnis abgibt: Gleich zu Anfang der Auseinander-
setzung über die darstellende Kunst werden deren Produkte in einem
Atemzuge μιμήματα καὶ ὁμώνυμα τῶν ὄντων (234 b) genannt.!® Die Statue eines Pferdes wird homonym Pferd genannt, ist aber ihrem Wesen nach Statue. Eine εἰκών ist wahrhaft und wirklich (ἀληϑῶς, ὄντως) eine εἰκών, heißt es später (240 b). Wie kann aber das Bild ein Homonym dessen sein, das es darstellt?
Die Art der Darstellung bleibt durch die Namensgleichheit völlig
offen. Ein Bild ist als besondere Darstellung durch das Auftreten der Homonymie noch nicht hinreichend gekennzeichnet. Die Besonderheit der Darstellung, die für Platon verbindlich ist, ist näher — wie wir
sahen — als Darstellung durch Ähnlichkeit zu charakterisieren. Das Wesen des Bildes erfaßt man daher, wenn man nicht allgemein „Was
ist das?“
fragt, sondern
„Ein wie beschaffenes
Was
ist das?“. Die
Statue eines Pferdes z. B. ist ein „Stein, der aussieht wie ein Pferd“. Allgemein ist eine εἰκών „etwas, das aussieht wie ein anderes“.
Man sieht schon, daß die Beziehung auf ein Anderes in die Wesensbestimmung eines Bildes eingehen muß. Die Beschaffenheit des Bildes ist für es selbst gerade nur insoweit wesentlich, als sie ihm nicht an sich
(xa9'
αὑτό), sondern
in Bezug
auf ein anderes
zugesprochen
wird. Die dem Bilde wesentliche Beschaffenheit ist nicht Beschaffenheit an sich, sondern Beschaffensein wie anderes (τοιοῦτον εἶναι). Die Statue eines Pferdes ist eine solche, weil sıe so aussieht wıe ein Pferd.
Die
Untercheidung
von
καϑ᾿
αὑτὸ
λεγόμενον
und
πρὸς
ἀλλὸ
λεγόμενον ist es nun, die Platon bei der Diskussion der obersten Gattungen (μέγιστα γένη) im Sophistes dazu dient, Andersheit (τὸ ἕτερον)
als von Sein, Bewegung, Ruhe, Selbigkeit verschiedenen fünften Begriff einzuführen: „Ich glaube, du wirst einräumen, daß das Seiende teils an sich, teils in bezug auf ein anderes jeweils angesprochen wird“ (255 c). Es 1st offensichtlich, daß wir in diesem Satz den Ursprung für die aristotelische Kategorie des πρός τι zu sehen haben. Unter kategorialem Aspekt, d. h. unter der vorwaltenden Fragestellung, als was 15 s, Ph. Merlan, l. c. Anmerkung 14. 16 Das Abhängigkeitsverhältnis von Idee und Ding wird von Parm. 130e als Eponymie und 133 d als Homonymie bezeichnet. Ebenso Timaios 52 a: τὸ δὲ ὁμώνυμον ὅμοιόν τε ἐκείνῳ (dem unzerstórbaren Seienden) δεύτερον, αἰσϑητόν, vyevνητόν, κτλ."
28
man das Seiende anspricht, mußte der platonische zum πρός τι werden. Hier interessiert von diesen nur, daf zum Bilde nicht seine Beschaffenheit seine Beschaffenheit im Hinblick auf etwas anderes, ginal, wesentlich gehórt: Die dem Bilde wesentliche
Begriff des ἕτερον Zusammenhängen an sich, sondern nàmlich das OriBeschaffenheit ist
Ähnlichkeit. Das Bild steht damit selbst unter der „Kategorie“ der Andersheit: es ıst „ein anderes Derartiges“, wıe Theaitetos definiert.
Allen, die das platonische ἕτερον als Verschiedenheit und nicht als Andersheit auffassen, sei diese Definition des Bildes entgegengehalten. Das Bild ist gerade nicht wegen seiner Verschiedenheit, sondern wegen seiner Gleichheit mit dem Original „ein anderes Derartiges“. Wir haben schon mehrfach darauf hingewiesen, daß Platon unter
dem Titel eixwv allein an Darstellung durch Ähnlichkeit denkt. Hier
wird das Bild als etwas Angeglichenes oder Ähnlich-gemachtes definiert (ἀφωμοιωμένον 240 a). Daran schließt sich an die Bestimmung als eoıwxös, und schließlich wird der Terminus εἰκών wiederum sichtlich
wegen des etymologischen Anklanges eingeführt, — in der Frage nach
der Definition stand nämlich noch der Titel εἴδωλον. 'Eovxóc heißt demnach so viel wie gleichend, es ist als ein Relativ, ein πρός τι zu verstehen: Das Bild ist Bild, weil es dem Wahren, dem Echten gleicht.
Wir haben deshalb in diesem Zusammenhang εἰκών durch Gleichnis übersetzt, um die hier leitende Bestimmung der Angleichung an das Wahre auszudrücken.
Wir wenden uns schließlich der eigentümlichen Verschränkung zu, in der Sein und Nicht-sein beim Bilde stehen. Der Sinn dieser Verschränkung dürfte an sich klar sein: Die Statue eines Pferdes ist nicht wirklich ein Pferd, aber sie ist doch wirklich eine Statue. Qua Pferd ist sie ein nıcht wahrhaft Seiendes, qua Statue ist sie aber doch wahr-
haft ein Seiendes. Wir müssen aber doch etwas bei diesem Punkt der
Analyse verweilen, weil gerade von ıhm her absehbar wird, wie weit das Verhältnis von Vorlage und Bild zur Darstellung des Verhältnisses von Idee und sinnlichem Ding dienen kann, und weil von ihm her
sich die Frage stellen wird, ob die Zeit als ein Bild des Aion ein besonderer Zug der sinnlichen Welt als solcher ist. Die Statue eines Pferdes ist nicht wirklich ein Pferd. Man kann des-
halb nicht von ihr sagen, was man vom Pferde sagen könnte, daß es
wiehert, läuft, Junge bekommt. Streng genommen kann man aber der Statue auch die Bestimmungen des Pferdes, die sich an ihm dargestellt
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finden, nicht zusprechen:
Die Statue eines Pferdes hat nicht einen
Schwanz, vielmehr hat das Pferd, das sie darstellt einen Schwanz. Die Bestimmungen des Pferdes werden der Statue nur ,uneigentlich* zu-
gesprochen. Dagegen hat die Statue aber durchaus Bestimmungen, die
ihr als solcher zukommen. Diese Bestimmungen müßten so etwas sein
wie „Bildcharaktere“. Um genauer zu sagen, was wir damit meinen,
müssen wir aber doch noch genauer analysieren, was es heißt, daß ein Bild wahrhaft Bild ıst. Wir sagten, daß man der Statue eines Pferdes
nicht eigentlich einen Schwanz zusprechen kann. Sie hat aber doch einen ın bestimmter Weise — nämlich wie ein Schwanz — geformten
Teil. Dieser Teil und dessen Form kommen der Statue doch wirklich zu. Wir werden durch diese Überlegung darauf gestoßen, daß wir εἰκών durch die relationale Beschreibung
—
ein Bild ist etwas, das
aussieht wie... — noch unzureichend bestimmt haben. Ein Bild ist nicht nur Darstellung von etwas, sondern Darstellung von etwas durch etwas. Wir
haben
bei dem
etwas, das ein Bild sein soll, also drei
Momente zu unterscheiden: nàmlich erstens die Bestimmungen, die diesem etwas an sich (xad” αὑτό) zukommen und durch die es ver-
mögend ist, etwas anderes mehr oder weniger gut darzustellen, zweitens dieses andere selbst und drittens die Art der Beziehung zwischen
beiden. Diese Beziehung ist — das wissen wir — allgemein eine Ahnlichkeitsbeziehung: Man kann die Bestimmungen, die dem Bild an sich zukommen, in Hinblick auf etwas anderes (πρὸς ἕτερον) als diesem
ähnlich erkennen. Ahnlichkeitsbeziehungen gibt es aber in mannigfacher Art. Die Beziehung, auf Grund deren man ein zweidimensiona-
les Gebilde eine Darstellung eines Würfels nennen kann, ist verschieden von der, die ein dreidimensionales Gebilde zur Darstellung eines Würfels macht. Allgemein hängt die Art der Ahnlichkeitsbeziehung von den Mitteln der Darstellung ab, d. h. aber von den Eigenschaften, die dem Darstellenden an sich zukommen. Im Rahmen dieser Abhängigkeit hat man aber noch eine gewisse Freiheit in der Wahl der Darstellungsform. So kann man bei einer zweidimensionalen Darstellung
dreidimensionaler Gegenstände zwischen verfahren!? wählen.
verschiedenen Projektions-
17 Überlegungen solcher Art sind Platon keineswegs fremd (s. Soph. 235 e). Im 5. Jahrhundert wurde — ausgehend von der Bühnenmalerei — die perspektivische Darstellung entwickelt und mathematisch behandelt. S. dazu E. Frank, Plato und die sog. Pythagoreer (1923), Nachdruck Darmstadt 1962, S. 20.
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Wir können also festhalten, daß einem Bild zweierlei Bestimmungen
im eigentlichen Sinne zukommen, nàmlich erstens die Eigenschaften, die es als sinnlicher Gegenstand an sich hat, zweitens die Darstel-
lungscharaktere, d. ἢ. die Ahnlichkeitsformen, die es eigentlich zum Bild machen. Man kónnte diese beiden Arten von Bestimmungen als material und formal unterscheiden, wenn man beachtet, daß zu ersteren nicht nur materiale Bestimmungen im gewöhnlichen Sinne, wie „hölzern“,
„bronzen“
gehören,
sondern
so groß“, „viereckig“ usw. Was hat nun Platon gemeint,
wenn
auch
formale
wie
„so und
er das Bild ein wahrhaft
Seiendes nennt? Es scheint uns, daß er die beiden Momente, die dem Bild als solchem zukommen, nicht getrennt hat. Der Vergleich mit
der entsprechenden Passage ım X. Buch des Staates zeigte, daß Platon
hier mit dem wahrhaft Seienden etwas meint, das als sinnliches Ding auch wirklich ist, wonach es aussieht. Die Statue eines Pferdes ist nicht wahrhaft ein Pferd, weil man auf ihr nicht in die Schlacht reiten
kann. Sie ist aber wahrhaft eine Statue als Schmuck-, Repräsentations-, Gebrauchsgegenstand. Materiale Präsenz und Darstellungsfunktion
sind dabei ungeschieden. — Dies gilt nun auch für die soeben besprochene zweite Sophistesstelle. Bei dieser geht es, — wenn man den
größeren Zusammenhang berücksichtigt, — darum zu zeigen, daß auch
nicht wirklich Seiendes irgendwie ist. Ein Bild — so zeigt die Unter-
suchung — ist nicht wirklich das, was es darstellt, es ist aber wirklich ein Bild. Um dieses auszusprechen braucht Platon Darstellungsmittel und Darstellungsform nicht zu unterscheiden.
Wir machen noch darauf aufmerksam, daß der Aufweis der Möglichkeit des Nichtseienden hier durchaus dem späteren, der allgemein mit Hilfe der 5 obersten Gattungen geführt wird, entspricht. Hier wie dort ist das Nicht-seiende ein solches als ein ἕτερον, als ein Anderes. Ebenso ist die Möglichkeit des Falschen bzw. Trügerischen (τὸ ψεῦδος)
in Aussagen der in Gebilden der darstellenden Kunst verwandt: In beiden Bereichen beruht sie auf der „Zwiefältigkeit des Seins*!8, d.h.
darauf, daß in dem einen Fall „etwas als etwas“ ausgesagt, in dem anderen Fall „etwas durch etwas“ dargestellt wird.
Unterscheidet Platon im X. Buch des Staates und an der zweiten Sophistesstelle die bloße Erscheinung vom wirklichen Sein — noch in-
nerhalb des sinnlichen Bereiches natürlich —, so versucht er durch die 18 s. E. Tugendhat,
TI ΚΑΤΑ
ΤΙΝΟΣ,
Freiburg, München
1958.
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Unterscheidung zweier Typen von darstellender Kunst, der eixaotımn
und der φανταστική, an der ersten Sophistesstelle offenbar noch einen Unterschied
zwischen
„wahrer“
und
„falscher“
bzw.
„trügerischer“
Erscheinung durchzuführen. Dabei scheint die volle Analyse des Bildbegriffs — nach Darstellendem, Dargestelltem und Darstellungsformen — relevant zu sein. Wir kommen deshalb jetzt noch einmal auf diese Stelle zurück.
Es heißt dort, daß die darstellenden Künstler häufig ihren Produk-
ten nicht dieselben Größenverhältnisse mitteilen, die ihre Vorlagen haben: „Denn wenn diese die wahren Verhältnisse des Schönen wieder-
geben wollten, so, weißt du wohl, würde das Obere kleiner als recht und das Untere größer erscheinen, weil das eine aus der Ferne, das andere aus der Nähe von uns gesehen würde“ (235 e, 236 a). Dies Verfahren gilt Platon als Erzeugen eines trügerischen Scheins. Es ist ein Verfah-
ren, dessen sich jede große Kunst bedient. Aber an dieser hat ja Platon häufig genug herbe Kritik geübt, und die Unterscheidung von εἰκαστικῆ und φανταστική innerhalb der mimetischen Kunst ist sicherlich dazu zu rechnen. — Das Erzeugen des trügerischen Scheins ist nun aber móg-
lich und — wenn man gewisse künstlerische Absichten hat — auch
nótig, weil das Darstellende von sich aus gewisse Bestimmungen hat
und ein gewisses Aussehen gewährt. Es hat seine eigene Größe, Form, Farbe usw. und wird nie ganz in dem Darzustellenden verschwinden. Ferner sieht man, daß das Produkt der eixaotıxn und der gavraotımn
sich durch ein bewußt gewähltes Darstellungsgesetz unterscheiden, das
für den unterschiedlichen Charakter der Bilder dann maßgebend ist. Wir finden hier also deutlich die drei für ein Bild relevanten Momente
unterschieden, die wir oben gewonnen haben.
Wir haben damit Platons Analyse des Bildbegriffes dargestellt, soweit mit Bild das Produkt der bildenden Kunst gemeint ist. Wir wollen jetzt zunächst danach fragen, was sich aus dieser Analyse für die Zeit ergeben könnte, wenn Platon sie als Bild des aiwv bezeichnet. Was dargestellt wird, dürfte dabei klar sein: es ist der αἰών, der in
der Zeit zur Darstellung kommt. Was das Darstellende ist, dürfte ebenfalls wenigstens im Prinzip klar sein: Es ist der Kosmos selbst,
oder besser gesagt der Himmel, der den Aion zur Darstellung bringt. Wie, d. ἢ. auf Grund welcher Bestimmungen, er aber den αἰών zur
Darstellung bringt, wird noch herauszufinden sein. Was aber bei diesem Darstellungsverhältnis „Zeit“ genannt wird, liegt keineswegs auf der 42
Hand.
Wenn
Platon
sagt, wir nennten
das Bild des αἰών Zeit, so
kónnte er damit durchaus den Kosmos im Ganzen meinen — so wie die ganze Pferdestatue ein Bild des Pferdes ist. Offenbar haben schon
antike Autoren Platon manchmal so verstanden.!? Zweitens könnte man die Zeit ein Bild des aiwv nennen 1m Sinne der spezifischen Bildoder Darstellungscharaktere, die es ja eigentlich sind, was ein Bild zum
Bild machen. Da ja der Kosmos als Ganzer ein Bild genannt wird,
kónnte
die Zeit die Struktur seiner spezifischen Bildhaftigkeit aus-
machen, die Form der Darstellung, gemäß der das sinnlichen Erscheinung kommt. Wir können nicht Interpretationsmöglichkeit uns außerordentlich Schließlich ist bei Kant die Zeit in ebendiesem Sinn
bloß Denkbare zur leugnen, daß diese reizvoll erscheint. aufgefaßt worden:
die Zeit ist bei ihm nicht die Erscheinung von etwas, sondern die Form der Erscheinung von etwas. Aber gerade diese Perspektive zwingt zugleich zur Vorsicht: die Zeit wird bei Kant als Form der Anschauung
ein „Nichts“ im Sinne des ens imaginarium (KdrV. A 291/B 347). Als
dritte Möglichkeit könnte Zeit ein Bild des αἰών genannt werden als die Struktur des Kosmos, die und insoweit sie dem αἰών ähnlich ist. Zeit wä-
ren dann die Züge des Kosmos, nach denen er ein „Derartiger“ (τοιοῦ-
toc), nach denen er so beschaffen wie der αἰών, also aionisch genannt werden kanr. Zeit und αἰών wären danach dem Wesen nach dasselbe.
Wir können zwischen diesen Interpretationsmöglichkeiten nicht ent-
scheiden, bevor wir nicht untersucht haben, welchen ,metaphorischen*
Sinn der Bildbegriff bei Platon hat. Denn ohne dies wüßte man nicht,
welche Momente der Urbild-Abbild-Relation man in der jeweiligen Interpretation verwenden darf. Wir werden uns im Folgenden der heiklen Aufgabe zuwenden, den übertragenen Sinn des Verhältnisses von παράδειγμα und εἰκών gegen den gewöhnlichen abzugrenzen, eine Aufgabe die deshalb so heikel ist, weil, wenn sie lösbar wäre, Platon nicht zu dieser Metapher hätte zu greifen brauchen, sondern „direkt“ hätte sagen können, was er meinte.
Das Verhältnis von Urbild und Abbild, besser gesagt von Vorlage und Darstellung ist bei Platon das am häufigsten verwendete Bild für die Beziehung zwischen der Idee und dem sinnlichen Ding, das — wie
Platon sagt — nach der Idee genannt wird. Wir nennen diese Metapher
die häufigste, weil uns μέϑεξις nur die formale Anzeige der Beziehung von Idee und Ding zu sein scheint und nicht eine Erläuterung dieser 19 S. Arist. Phys. A 10, 218 a 30 ff. und Simplizius zur Stelle.
43
Beziehung. Die deutsche Übersetzung durch „Teilhabe“ täuscht eine Erläuterung vor. Im Dialog Parmenides erscheint aber das „einen Teil
von etwas haben“ nur als eine unter fünf oder sechs verschiedenen Auslegungen der Metexisbeziehung. Wir werden noch darüber zu sprechen haben, was es methodisch bedeutet, daß Platon überhaupt genötigt ist, erläuternde Bilder zur Formulierung seiner Erkenntnisse zu gebrauchen. Zuvor aber einige Hinweise darauf, wo und in welcher Weise die Urbild-Abbild-Beziehung bei Platon der Darstellung des Verhältnises von Idee und Ding dient.
Die umfassendsten Beispiele sind das ontologische Schema des Liniengleichnisses und das kosmologische Schema des Timaios. Im
Liniengleichnis —
und daran
anschließend und noch „bildhafter“
im
Höhlengleichnis — wird alles irgendwie Seiende in zwei Bereiche ge-
teilt: das Denkbare einerseits und das sinnlich Erfahrbare andererseits.
Im Verhältnis dieser Teilung werden die beiden Bereiche jeweils selbst
noch einmal geteilt. Im Sinnlichen erhält man dadurch die Abteilung der gewöhnlichen Gegenstände von deren künstlerischen Darstellungen, Schatten,
Spiegelbilder,
mit einem
Wort:
von
ıhren
„Bildern“.
Die
Gleichheit der Schnittverhältnisse bedeutet offensichtlich: die beiden durch einen Schnitt erzeugten Teilbereiche verhalten sich jeweils wie die Sache selbst zu ihrem Bild. Damit wird also die Beziehung des intelligiblen Bereiches zum sensiblen Bereich nach Analogie von Urbild und Abbild gedeutet. Im intelligiblen Bereich wiederholt sich dieses
Verhältnis noch einmal, so daß man dessen einen Teil, nämlich die mathematischen Gegenstände, als Bilder des anderen Teils, der Ideen selbst, verstehen kann. In Timaios wird der gesamte Kosmos als ganzer, wie in allen seinen Teilen und Momenten als das Gebilde eines Demiourgen dargestellt, das dieser einem ewigen Vorbild nachbildet. Der Kosmos und alles in ihm ist eine εἰκών eines παράδειγμα. — Im einzelnen werden die Gebilde, mit denen die Mathematiker hantieren, als Darstellungen (εἰκόνες) ihrer wahren Gegenstände begriffen, entsprechend Beispiele tugendhaften Verhaltens als Darstellung der Tugenden selbst. Der gute König versucht, dem wahren Herrscher
ähnlich zu werden und ihn so zur Darstellung zu bringen, so wie jeder
Staat das Bild des wahren Staates abgeben sollte. Schließlich — aber
das geht über die Beziehung von Idee und sinnlicher Wirklichkeit hinaus — wird im Kratylos die Sprache als ein Bild der Dinge, über die sie spricht, angesetzt.
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Als was stellt Platon die Beziehung von Idee und Ding hin, indem
er zu ihrer Darstellung
sich des Bildes von
εἰκών und
παράδειγμα
bedient? Und inwieweit ist dieses Bild als strenge Darstellung zu verstehen?
Wir kónnen in unserem Zusammenhang diese Fragen nicht so beantworten, wie sie eigentlich beantwortet werden müßten. Man hätte
nàmlich dafür den Denkweg nachzuzeichnen, auf dem Platon seine Ideenlehre gewonnen hat, und dabei zu ermitteln, welche Dienste ihm auf diesem Wege die Metapher von Vorlage und Darstellung geleistet
hat. Ohne das kann man eigentlich nur konstatieren, in wie hohem Maße die Ideenlehre durch das Urbild-Abbild-Verhältnis erfaßbar ist. Darüberhinaus kann man darauf hinweisen, was durch diese Metapher an Deutungen des Verhältnisses von wahrhaft Seiendem und sinnlichem Ding jedenfalls abgedrängt wird. Und schließlich kann man an Hand von Platons ausdrücklicher Kritik an dieser Metapher im Dialog Parmenides zeigen, wie die Ideenlehre diese Metapher letzten Endes hinter sich läßt. Mit dem Mittleren beginnend kónnen wir feststellen: Das wahrhaft Seiende bringt das Sinnliche nicht als Emanation hervor. Es ist auch
nicht irgendwie in ihm, sei es als substanzieller Träger, sei es als
Baustein, als Element. Durch die Metapher von Vorlage und Bild ist eine klare Distanz zwischen eigentlich Seiendem und sinnlichem Ding ausgedrückt. Damit wollen wir nicht denen rechtgeben, die einen un-
überbrückbaren χωρισμός bei Platon feststellen wollen — ganz sicher
besteht Platons entschiedenes Bemühen
in der Vermittlung zwischen
wahrem Sein und sinnlicher Wirklichkeit. Aber Vermittlung kann es eben nur geben, wo auch Distanz ist.
Die Metapher von Vorlage und Bild hebt nun zwei Züge der Ideen-
lehre klar heraus,
nämlich einerseits den Rangunterschied
zwischen
Idee und Ding und andererseits die Ahnlichkeitsbeziehung zwischen
beiden. Das Bild ist blof Bild dessen, was es darstellt, wahrend dieses das eigentlich Seiende ist. Die sinnlichen Dinge werden entsprechend nur nach der Idee genannt, der sie ihr Dasein verdanken, sie sind dem, was sie darstellen, nur homonym, ohne es selbst zu sein. Ferner wird die Einzigkeit der Idee im Verhältnis zu der unterschiedlichen Mannigfaltigkeit der Sinnendinge, die ihr entsprechen, verständlich. Man kann etwas oftmals und auf mannigfaltige Weise zur Darstellung bringen,
aber ein Original gibt es nur einmal. Schließlich wird durch die Meta-
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pher deutlich, daß die Beziehung des sinnlichen Dinges auf das wahrhaft Seiende die Bestimmtheiten des sinnlichen Dinges betrifft. Darstellung, so hatten wir gesehen, ist für Platon Präsentation durch Ahnlichkeit, durch Wiederholung der Form. Gerade hier bei der Ahnlichkeitsbeziehung setzt Platons Kritik an der Urbild-Abbild-Metapher an. Denn wenn Urbild und Abbild ähnlich sind, so muß sich doch ein Drittes von ihnen unterscheiden lassen
als das, worin ihre Ahnlichkeit besteht. Sollen Original und Bild dadurch in Beziehung stehen, daß sie die gleiche Form haben, so läßt sich eben die Form von ihnen als ein Drittes unterscheiden. Damit erwiese sich dieses Dritte als das Ursprüngliche, das eigentliche Sein, für das jeweils die erstgenannten nur Darstellungen wären. Nimmt man dies an, so wiederholt sich aber der ganze Prozeß ins Unendliche, wenn anders man nicht aufgibt, das Verháltnis von Dargestelltem und Darstellendem als Ahnlichkeit zu deuten. Wir wollen uns nun überlegen, was der Grund dieser Schwierigkeit ist, um von daher zu sehen, welchen Einschränkungen die Metapher von παράδειγμα und εἰκών zu unterwerfen ist. Aus der Analyse des
Sophistes konnten wir entnehmen, daß ein Bild eine Darstellung seiner
Vorlage ist, dadurch und insoweit es dieselben Bestimmungen wie diese an sich hat. Das
Abbild
hat, so hieß es, dieselben
Maßverhältnisse,
dieselbe Farbe usw. Diese Selbigkeit der Bestimmungen
ist es nun
offenbar, die die Konstruktion des oben erwähnten, unter dem Titel
des , Tritos Anthropos“ bekannten Einwandes ermöglicht. Wenn ein
sinnlicher Gegenstand schón genannt wird, so deshalb, weil er dem Schónen darin gleicht, schón zu sein. Die Idee ist jeweils das, was sie
ist: Die Róte rot, die Gerechtigkeit gerecht, der Mensch selbst Mensch. Der sinnliche Gegenstand ist jeweils rot, gerecht, Mensch, soweit er den Ideen in diesen Bestimmungen gleicht. Das Tritos-Anthropos-Argument beruht offenbar auf jener Struktur, die wir oben mit E. Tugend-
hat die Zwiefältigkeit des Seins genannt haben: Sowohl das Original als auch das Bild werden als ein Seiendes mit Bestimmungen verstan-
den. Es làfst sich dann die gemeinsame Bestimmung als ein gegenüber den beiden Seienden anderes Drittes isolieren. Der natürliche Ausweg
aus dieser Lage besteht darin, die Zwiefältigkeit zumindest auf einer
der beiden Seiten zu leugnen, indem man die Idee als jenes Dritte, in
dem die Ahnlichkeit besteht, selbst ansieht. Für Aristoteles ist dementsprechend die Idee nicht ein Seiendes, sondern nur eine Weise der Be46
stimmtheit des Konkreten. Dieses, etwa Sokrates, ist für ihn das wirklich Seiende, und das heißt — weil auch bei ihm wie bei Platon das Sein in der Form, der Bestimmtheit besteht —, daß Sokrates wirklich rot, gerecht und ein Mensch ist. Die Idee ist damit nicht mehr selbst ein Seiendes, sondern das, was für Sokrates das Rotsein, das Gerechtsein, das Mensch-sein ausmacht: τὸ τί ἦν αὐτῷ τὸ δίκαιος εἶναι. Platon bestreitet im Grunde auf beiden Seiten, — auf Seiten des
Originals wie
des Bildes —
die Zwiefältigkeit,
die doch für die
Metapher von Original und Bild konstitutiv zu sein schien. Beginnen wir mit der Seite der Idee. Sie ist für Platon durchaus ein Seiendes, ja
sogar das eigentlich Seiende, auch kann man durchaus Aussagen wie „die Gerechtigkeit ist gerecht“ machen, nur ist das darin ausgespro-
chene Sein nicht als prädıkatives zu verstehen.
„Die Gerechtigkeit ist
gerecht“ bedeutet nicht, daß dem Seienden „Gerechtigkeit“ die Bestimmung Gerechtigkeit zukommt, sondern daß es diese Bestimmung selbst ist. Dies könnte noch auf den Aristotelischen Weg hinauslaufen,
wenn nicht für Platon eben die Idee das eigentlich Seiende wäre, das
heißt aber Sein als Selbst-sein verstanden würde. Was heißt Selbst-sein? Doch offenbar, daß, was etwas ist, dieses
Etwas selbst ist. Selbst-sein ist ein Seiendes, das gegenüber seiner Bestimmung nicht ein anderes ist. Die Idee der Gerechtigkeit ist das
Gerechtsein selbst. Wir glauben nicht, daß wir damit das Wesen der Platonischen Idee formuliert hätten, wohl aber, daß die Aufgabe bezeichnet ist: Es ist die Einheit von Sein und Seiendem im Selbstsein zu denken. WelcheSchwierigkeiten das mit sich bringt, zeigt der Hauptteil des Dialogs Parmenides. Will man sich auf dessen Dialektik nicht einlassen, so wird man auf die Metapher von Original und Bild zurückverwiesen:
Sokrates
nur erscheint: Sokrates. Original von der Statue, Wir erlauben uns eine stige Gelegenheit zu sein
ist es eben selbst, was auf seinem Konterfei
Ebenso kónnen wir das Pferd selbst als das die es zur Erscheinung bringt, unterscheiden. kleine Abschweifung, weil uns hier eine günscheint, das Platonische Seinsverständnis zu
erhellen. Zwischen den beiden genannten Beispielen: „Sokrates“ und
„Pferd“ besteht nämlich ein Unterschied, der ersteres weit geeigneter macht, ein Verständnis dafür, was Selbst-sein heißen kann, zu erwecken. Sokrates ist eine Person, sagen wir, das Pferd aber nicht. Dem entspricht bei Platon, daß er ın der Seele eineInstanz entdeckt, — oder
besser: entwickelt hat, der gegenüber den Affektionen eine herrschende
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Rolle zukommt, weil ihr Wesen in der Selbstbewegung besteht. Die
Seele ist, was sie ist, von sich aus. Selbstsein wird hier verstanden gegen den Hintergrund der Erfahrung des menschlichen Seins als πάϑος. Nach dem dieser Erfahrung entsprechenden Seinsverständnis ist der Mensch nicht selbst, was er ist, sondern er erleidet es. Die Liebe liebt, der Zorn zürnt, das Sein ist: ἔστιν γὰρ εἶναι, wie Parmenides
sagt. Wir glauben also, daß die Einheit von Sein und Seiendem der letztlich religiósen Erfahrung des menschlichen Seins als Pathos entspricht. Die Emanzipation von dieser Erfahrung bei Platon durch Errichtung einer selbständigen Instanz in der Seele führte zu der Deutung dieser Einheit als seelisches Sein, als Selbstsein. Das Argument des Tritos-Anthropos führt in gewisser Weise nicht aus dem Schema von Original und Bild heraus, sondern zwingt vielmehr tiefer hinein. Nur die Idee ist die Sache selbst, das sinnliche Ding ist bloß so beschaffen wie die Idee, es ist das ἕτερον, μὴ ὄν, das nicht wahrhaft Seiende. Es kommt ihm — wie jedem Bild — auch nicht wahrhaft zu, was es darstellt. Sokrates 1st nach Platon nicht wirklich und in strengem Sinne gerecht, rot oder Mensch, er stellt alles dieses bloß dar, er bringt es zur Erscheinung. Soweit man von den sinn-
lichen Dingen sagt, daß sie dies oder jenes sind, so ist dieses Sein nicht
das wahre Sein — das sich uns als Selbstsein herausstellte —, sondern es 1st Darstellen, Gleichen, Scheinen: εἰκάζειν, ἐοικέναι, φαίνεσθαι. Aber gehörte nicht zur Natur des Bildes, daß es außer dem, was es darstellt, noch selbst etwas ist und dieses wirklich: nàmlich Bild? Es ist wohl hier die Stelle, an der Platon die Metapher von Original und
Bild endgültig verläßt. Auch auf Seiten des sinnlichen Gegenstandes läßt er keine Zwiefältigkeit des Seins gelten. Man kann nicht am sinnlichen Ding unterscheiden, was es von sich aus ist und was es darstellt: Alles, was es ist, ist es durch Darstellung. Jede Bestimmtheit
am Sinnlichen ist nur geliehene, sie ist nur als Abglanz einer Idee. Damit entfällt die Möglichkeit bestimmter Bildcharaktere, die Möglichkeit von
„Formen
der Sinnlichkeit“
oder
„Formen
der Erschei-
nung“. Ließe man sie in der platonischen Philosophie zu, dann kehrte
das Argument des τρίτος ἄνϑρωπος in verwandelter Form zurück. Trüge der sinnliche Gegenstand als Bild einer Idee noch bestimmte Bildcharaktere an sich, so müßte das Bild wiederum als Darstellung auch dieser Charaktere begriffen werden. Sokrates stellte etwa nicht nur die Ideen der Gerechtigkeit und des Menschen dar, sondern dar48
über hinaus die des so und so zu charakterisierenden sinnlichen Dinges.
Ein solches Bild wäre aber nicht nur Bild von etwas sondern auch noch
Bild des Bildes. Und auch als Darstellung eines bestimmten Bildtypes hätte es wieder bestimmte Bildcharaktere, durch die es Bild des Bildes eines Bildes wäre; und so fort. Whr können jetzt formulieren, in welchem eingeschränkten Sinne das Verhälnis von Idee und sinnlicher Wirklichkeit als ein Abbildungsverhältnis angesehen werden kann, und damit in welchem Sinne der
ganze Kosmos als Bild zu verstehen ist. Das Darstellungsverhältnis von Idee und Ding ist von dem gewöhnlichen Urbild-Abbild-Verhältnis durch zweierlei unterschieden: Zum ersten ist das Original nicht
ein Seiendes mit gewissen Bestimmungen, die dann auch am Bild er-
scheinen kónnten. Zum zweiten enthàlt das Bild nicht qua Bild besondere Charaktere. Wie soll man ein so merkwürdiges Darstellungsverhältnis begreiflich machen? Die Darstellung der Ideen besteht offenbar darin, daß sie, die an sich nicht Bestimmungen von etwas sind, als Bestimmungen von etwas
auftreten. Die Gerechtigkeit selbst, ist nicht jemandes Gerechtigkeit, sie erhält aber ihre Darstellung als die Gerechtigkeit des Sokrates oder die eines Staates. Der moderne
Leser mag sich hierbei an den Dar-
stellungsbegriff erinnern, der in der neueren Mathematik eine Rolle gespielt hat. Als man zu Anfang unseres Jahrhunderts dazu überging, in freierer Weise mathematische Strukturen zu entwickeln, forderte
man zu ihrer Anerkennung immer eine „Darstellung“ der betreffenden
Struktur. Man verstand darunter den Aufweis eines Gegenstandsbereiches, der diese Struktur auch wirklich hat — in der Regel dienten dazu die natürlichen Zahlen oder eine bestimmte Teilmenge derselben.
Man verlangte den Nachweis, daß die Struktur auch irgendwo „reali-
siert* sei. Diese Analogie ist allerdings mit Vorsicht zu benutzen, denn die Forderung nach einer Darstellung entsprang sichtlich einer eher
arıstotelisch geprägten Ontologie, denn als das eigentlich Reale sah man offenbar dasjenige an, was eine Struktur trägt, während man der Struktur als solcher kein Sein zubilligte. Die Darstellung der Ideen ist eine Darstellung ohne spezifische Darstellungsprinzipien, 516 ist — um dies noch einmal zu betonen — nicht die Erscheinung der Ideen ın der Zeit. Die Zeit ist selbst eine Darstellung, nämlich die des αἰών. Wie sollte aber die Versinnlichung der Ideen ohne spezifische Prinzipien stattfinden? Etwa so, daß die sinn-
49
liche Darstellung
die einzig
mögliche
ist?
Immerhin
erwägt
der
Demiourg nicht verschiedene Welten, die auf verschiedene Art das eine παράδειγμα abbilden könnten. Jede solche Verschiedenheit würde ver-
schiedene παραδείγματα erzwingen. Enthält also das παράδειγμα selbst
die Weise der Darstellung? Offenbar muß es so sein, denn das Darstellende, das Bild hat kein eigenes Wesen, das eine spezifische Dar-
stellungsart nötig machte. Es ist ja nur als Darstellung der Idee. Die Idee ihrerseits wird so zum Prinzip, nach dem ein Etwas als Darstellung hervortritt. Wie dergleichen zu deuten ist, ließe sich an Parallelen bei Aristoteles und Kant studieren. Bei dem einen finden wir die Idee gedacht als ein inneres organisierendes Prinzip, bei dem anderen den Begriff aufgefaßt als eine Regel, nach der sich eine dem Begriff entsprechende Anschauung konstruieren läßt. Beide aber gestehen dem sinnlichen Bereich Strukturen eigener Art zu. Will man mit Platon
noch verstehen, was die sinnlichen Darstellungen der Ideen im Unterschied zu ihnen selbst sind, so wird man diesen Unterschied gerade nicht mehr durch irgendeine Bestimmtheit, einen Was-Gehalt festmachen können, sondern nur noch durch Abhebung von dem Gegen-
prinzip aller Bestimmtheit, dem Amorphen, dem Mehr und Weniger
(μάλλον καὶ ἧττον), der unbestimmten Vielheit (ἀόριστος δυάς), dem Chaos (χώρα). Der sinnliche Gegenstand ist gerade nichts anderes als die Idee, die er repräsentiert, doch bringt er sie mehr oder weniger deutlich zum Scheinen. Die Idee für sich genommen scheint nicht, sondern sie 1st. Ihr Schein wird erst mehr oder weniger deutlich in der
Abhebung gegen das Unbestimmte. Wir verstehen also die Darstel-
lung der Idee als ihr Hervortreten aus dem Unbestimmten. Platon charakterisiert den Bereich der Darstellung im Gegensatz zum wahren Sein als den Bereich des γίγνεσθαι. Wir verstehen diesen
Ausdruck als Bezeichnung des Hervortretens der Idee und übersetzten
oben S. 28 auch schon entsprechend. Der deutsche Ausdruck
„Werden“
scheint uns das Mißverständnis nahezulegen, als sei der innerweltliche
Umschlag das Charakteristische — etwa gar im Gegensatz zum Sein
als Beharren. Dagegen läßt sich anführen, daß Platon auch im Bereich des Seins Bewegung (κίνησις) kennt. Nicht die Veránderung macht den sinnlichen Bereich aus, sondern das Hervortreten der Idee als der Grund der Veränderung. Auch nicht die Sinnlichkeit ist das Primäre, denn sie wird durch das Scheinen der Idee erst ermöglicht. Wir haben schließlich, um die Welt als Bild zu verstehen, noch zu 50
fragen, ob sich in der Darstellung der Idee „materielle Bestimmungen“ finden lassen, d. ἢ. ob es Mittel der Darstellung gibt. Wir werden diese Frage positiv beantworten kónnen. Offenbar erscheint ja nicht jede Idee als eine primäre Ordnung im Chaos. Vielmehr tritt sie
jeweils in einem mehr oder weniger geordneten Bereich hervor, der ihr
als Darstellungsmittel dient. Dies führt zu einer Art Schichtenlehre des sinnlichen Bereiches bis hinab zur χώρα, dem formlosen, chaotischen
Hintergrund
alles Hervortretens.
Aus
ihm
erheben
sich
die vier
Elemente als primäre Gestaltungen, die noch keine Bestimmtheit voraussetzen, mit Hilfe deren sie sich bildeten.
IV. Die Rede des Timaios: Aussage über Darstellungen (εἰκὼς λόγος)
Wir sind jetzt gerüstet, nach dem Wesen des εἰκὼς λόγος selbst zu fra-
gen. Platon sagt, daß die Aussagen über den Kosmos den Charakter
eines εἰκὼς λόγος haben müßten, weil sie Aussagen über eine εἰκών sind. Wir übersetzen: Sie müssen selbst darstellend sein, weil sie Aus-
sagen über eine Darstellung sind. Platon leitet aus der Stellung des εἰκὼς λόγος zu seinem Gegenstand eine Proportion ab: Der εἰκὼς λόγος
muß sich zu den Aussagen über das wahre Sein so verhalten, wie der
Kosmos sich als Bild verhält zum wahren Sein als dessen Vorlage. Da Platon aber kurz zuvor schon angegeben hat, daß die Aussagen
über das wahre Sein diesem an Festigkeit und Zuverlässigkeit ent-
sprechen, schließt man gewöhnlich aus der Analogie, daß der εἰκὼς λόγος sich eben durch seinen Grad an Unsicherheit und Inkonsistenz auszeichne,
der der Unbestimmtheit
und
Veränderlichkeit
der
„Welt
des Werdens“ entspricht. Wir werden weiter unten noch auf diese Aus-
legung eingehen, hier genügt zunächst der Hinweis, daß Platon offen-
bar das Wesen des εἰκὼς λόγος nicht aus seiner Beziehung zu den strengen Aussagen, die das wahre Sein betreffen, bestimmt, sondern um-
gekehrt diese Beziehung darauf gründet, daß der εἰκὼς λόγος Aussagen über einen Gegenstand macht, der als Darstellung zu verstehen ist: Weil der εἰκὼς λόγος Aussagen macht über ein Bild, muf er in einem
bestimmten Verhältnis zu den Aussagen stehen, die über das Urbild
reden, welches Verhältnis sich aus dem Urbild-Abbild-Verhältnis her-
leitet.
51
Wir haben daher nach der Weise zu fragen, in der man sinnvoll über Bilder, bzw. Darstellungen im allgemeinen redet. Das Erste und Wichtigste, was man über ein Bild zu sagen hat, dürfte eine Aussage darüber sein, was das Bild eigentlich darstellt. Daraus folgt, daß das
bloße Aussehen des Bildes nicht so sehr interessiert. Wenn man sich an Platons Dihairesis der mimetischen Kunst im Sophistes erinnert, so
wird man sagen können, daß ein Reden über Bilder, das primär das
Aussehen des Bildes in Betracht zieht, ebenso hybrid wäre, wie die
φανταστικὴ τέχνη eine hybride Darstellungskunst ist. Platon gibt im Timaios keine Naturbeschreibung, er ist nicht interesisert an den Phä-
nomenen als solchen, am sogenannten Empirischen. Man darf aller-
dings daraus nicht mit Mittelstraß schließen, daß Platon folglich im
Timaios über eine bloß mögliche Welt rede, über die Welt wie sie
sein sollte, so wie er im Staat darüber redet, wie ein Staat eigentlich sein sollte.?° Platon spricht im Timaios durchaus über das, was wir die „wirkliche“ Welt nennen, und man kann sich auch nicht über einen
Mangel an ,Tatsachenmaterial^ im Timaios beklagen. Doch es gibt Gründe, aus denen Platon den Tatsachen als solchen nicht sehr viel Aufmerksamkeit angedeihen läßt. Wenn sie, wie die Welt im ganzen als Darstellung zu begreifen sind, muß die Hauptfrage dem gelten,
was sie darstellen, dem Paradeigma.
Die methodische Situation, die damit gegeben ist, ist keineswegs einfach. Daß die Welt als ein Bild aufzufassen ist, wird vorausgesetzt. Diese Vorausetzung wird im Timaios zwar in den Rahmen allgemeinerer ontologischer Unterscheidungen gestellt, diese sind aber für die
Untersuchung selbst von hypothetischem Charakter. Es gilt nun aus der Betrachtung des Bildes, das Original zu erkennen. Dabei heißt „Erkennen“ nicht bloß aus einer Reihe von möglichen Vorlagen die richtige auszumachen, sondern auch noch das Wesen dieser Vorlage zu
bestimmen: das heißt, das Paradeigma wird nicht als bekannt voraus-
gesetzt. Wir erläutern diese Situation zunächst durch ein paar Beispiele, um sie dann am Timaios selbst aufzuweisen. Daß es manchmal schwer ist zu sagen, was etwas darstellt, ıst trıvial, wird aber besonders deutlich,
wo Zweideutigkeiten auftreten, wie bei Vexierbildern. Es kann aber sogar vorkommen, daß man Schwierigkeiten hat herauszufinden, ob 20 Jürgen Mittelstraß, Die Rettung der Phänomene. eines antiken Forschungsprinzips, Berlin 1962, 5. 111.
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Ursprung
und
Geschichte
etwas überhaupt etwas darstellt. Man kann unter Umständen bedeu-
tungsblind sein. So geht es etwa einem Farbenblinden, der auf einer
Karte nur eine Mannigfaltigkeit von bunten Punkten erblickt, aus der sich für den Normalsichtigen die Gestalt einer Zahl heraushebt. Es besteht also bereits eine gewisse Leistung darin festzustellen, daß ein Bild etwas darstellt und was es darstellt. Damit ist nun schließlich das Dargestellte in seiner Natur keinesweg erkannt. Man kann z. B. auf einem Bild einen Kreis erkennen, ohne daß einem die Natur des Kreises durchsichtig wäre. Bemerkenswert ist aber andererseits, daß
das menschliche Erkenntnisvermögen gerade so ist, daß man die Natur des Kreises — d. ἢ. seine Definition und seine Eigenschaften — nur mit Hilfe seiner Darstellung erkennen kann. Man benótigt dazu Konstruk-
tionen: Man muß Hilfslinien zeichnen können. Beides ist in der „Idee des Kreises“ nicht möglich. Die Benutzung der εἰκόνες durch die Mathematiker ist also offenbar nicht etwas Überflüssiges, sondern für die menschliche Erkenntnis Notwendiges.?! Platon betont nun, daß auch die Rede des Timaios über den sichtbaren Kosmos der menschlichen Erkenntnis zugehört. Daß Timaios als Sprecher, Kritias, Hermokrates und Sokrates als Zuhörer und Kritiker
eıne menschliche Natur haben, wird von Timaios nachher geradezu als
Grund dafür angeführt, daß man sich auf den εἰκὼς λόγος beschränken müsse. Der εἰκὼς λόγος ist sicherlich nicht schlechthin, aber doch für
Menschen die gemäße Form über den Kosmos zu sprechen. Ein Gott
nämlich wäre im Besitz des παράδειγμα und könnte gewissermaßen deduktiv von daher sagen, was der Kosmos als Abbild ist. Menschliche
Erkenntnis hat dagegen vom Bild auszugehen. Das wahre Seiende ist dem Menschen nicht direkt, sondern nur im Spiegel, im Abglanz, im εἰκών zugänglich. Damit soll nicht gesagt sein, daß der einzelne auf
diesen indirekten Zugang zum Seienden für immer eingeschränkt sei,
sondern nur daß der Mensch über seine menschliche Natur hinausgerissen wird, wenn ihm der direkte Blick auf das Seiende gelingt. Platon
hält diesen Weg für möglich, besser gesagt: er zeugt geradezu für des-
sen Möglichkeit — aber er beschränkt sich im Timaios ausdrücklich auf
die menschliche Natur.??
?1 Zur Bildhaftigkeit menschlichen Erkennens vergleiche ferner Nom. X, 897e und Linien- und Höhlengleichnis im Staat. 22 Zum Begriff der ἀνθρωκίνη φύσις vergl. ferner Theät. 149 c, Tim. 68 d, 90 c. Im Theätet heißt es, daß der Mensch nicht ohne Erfahrung — und zwar am eigenen
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Wir behaupten nun, daß dieser menschliche Zugang zum Seienden verlangt, durch Betrachtung des Kosmos erstens herauszufinden, welches
παράδειγμα dem Kosmos zugrundeliegt, und zweitens was die Natur dieses παράδειγμα ist. Wir wollen dies nun an dem Beispiel zeigen, das
für das Verstándnis von Platons Zeitdarstellung besonders wichtig
werden wird: dem παράδειγμα des Kosmos Lebewesen selbst (τὸ ζῷον αὐτό).
im ganzen, nämlich dem
Zunächst wird aus der erhabenen Schönheit des Kosmos geschlossen, daß dessen παράδειγμα dem Bereich des eigentlichen Seins angehören
muß, und daß der Werkmeister, die Ursache des Hervortretens, gut
sein muß. Das Schlußschema, das dabei zur Anwendung kommt, be-
ruht in der vorausgesetzten allgemeinen Ordnung der Seinsránge. Zwar gibt es auch Nachbildung und Künstler im sinnlichen Bereich, aber
deren Gebilde sind natürlich als Gebilde zweiter Ordnung auch in ihrer Schönheit von sekundärem Rang. Der Ansatz, von dem der
Schluß ausgeht, ist aber deutlich ein Urteil über den sichtbaren Kos-
mos, also das Bild: Es ist überwältigend schön.
Um nun das παράδειγμα des Kosmos näher zu bestimmen, bedient sich Timaios einer Überlegung, die er in seinem Vortrag dem Demiour-
gen in den Sinn legt. Diese Überlegung wird dadurch gleichsam als ein apriorisches Schöpfungsprinzip ausgesprochen, verleugnet aber dabei nicht, daß sie als eine Besinnung auf die sichtbare Welt dessen Urbild aufzufinden
gestattet:
„indem
er also von
dem
seiner
Natur
nach
Sichtbaren den Schluß machte, fand er, daß nichts des Denkvermögens
Entbehrendes als Ganzes je schöner sein werde als das mit Vernunft
Begabte als Ganzes, daß aber unmöglich ohne Seele etwas der Ver-
nunft teilhaftig werden könne. Von diesem Schlusse bewogen, verlieh
er der Seele Vernunft und dem Körper Seele und gestaltete daraus das Weltall, um so das seiner Natur schönste und beste Werk zu vollenden“ (30 b).
Damit ist also ausgesprochen, daß die Welt ein vernunftbegabtes
Lebewesen
darstellt. Der Schluß
ıst freilich indirekt,
denn
es wird
nicht von einer Erfahrung der Welt als eines Lebewesens ausgegangen. Der Ansatzpunkt der Überlegung ist vielmehr wiederum die ErfahLeibe — jede beliebige Kunst erwerben kann. „Erkenntnistheoretisch“ sehr wichtig ist die Stelle Tim. 68 d, nach
glauben, man verifizieren.
54
kónne
das
im
der es ein Verkennen
Timaios
Erkannte
der menschlichen
experimentell
Natur
herstellen
ist zu
und
so
rung der überwältigenden Schönheit der Welt. Und als Schlußschema dient eine Verallgemeinerung einer Erfahrung in der Welt: Ein Fisch
ist offenbar etwas Schóneres
als ein Stein; und ein Lebewesen,
das
auch noch der Vernunft teilhaftig ist, ist schóner als ein Fisch. Wir wollen jetzt nicht darüber reden, was für ein Begriff von Schónheit hierbei leitend ist, die Erfahrung des Rangunterschiedes zwischen den genannten Wesen ist heute wie damals allgemein. Es ist also wieder eine
Erfahrung der sinnlichen Welt und bestimmter Verhältnisse in ihr, die dazu führt, sie als die Darstellung eines vernunftbegabten Lebewesens zu begreifen: denn ihre überwältigende Schönheit muß der des Men-
schen zumindest gleichkommen. Timaios fragt nun, wie das Vorbild des näheren zu denken ist, d. ἢ. um was für ein Lebewesen es sich handelt. Er findet als dessen wesentlichen Charakter das „Umfassend-Sein“. Der Inhalt dieser Bestimmung wie auch der Weg, auf dem sie erreicht wird, ist für uns von größter Wichtigkeit. Sehen wir uns also die entsprechende Textstelle an: „Wir wollen... annehmen, daß es (das Lebewesen Kosmos) vor allem dem am ähnlıchsten sei, dessen Teil alles Lebende einzeln und
seinen Gattungen nach ist; denn jenes umfaßt und schließt alles denk-
bare Lebende in sich, wıe dieses Weltall uns und alle außer uns sicht-
baren Geschöpfe.“ (30 c, d) Gesucht wird das Original, dem das Lebewesen Kosmos ähnlich ist, indem es jenes Original darstellt. Gefunden
wırd es, indem dieses Ähnlichkeitsverhältnis umgedreht wird: Das Original muß so sein, wie das Bild, von dem wir auszugehen haben: Jenes paradeigmatische Lebewesen muß alle denkbaren Lebewesen umfassen, so wie dieser Kosmos hier alle sichtbaren umfaßt. Die Be-
stimmung der Umfassendheit für das Original ergibt sıch also wieder aus einer Feststellung über das sinnliche Bild. Der sinnliche Kosmos umfaßt nun alle Lebewesen einzeln. Da ganze Klassen von sinnlichen
Lebewesen aber nur Darstellungen je einer Gattung sind — alle Pferde sind Exemplare der Gattung Pferd —, so ist im noetischen Bereich das Umfassen aller einzelnen Lebewesen zugleich das Umfassen der Gattungen. Die einzelnen Lebewesen im noetischen Bereich sind jeweils „Prototypen“ einer Gattung. Das Lebewesen selbst, das das Original für den sichtbaren Kosmos abgibt, umfaßt also „alles Lebende einzeln
und seinen Gattungen nach“. Daraus folgt umgekehrt wieder, daß der
Kosmos ein Lebewesen allgemeinster Art darstellen muß, quasi Leben überhaupt, und zwar so, daß es dabei alles Lebende einzeln umfaßt.
55
Diese Forderung wäre für Aristoteles freilich eine Absurdität, weil für ihn die oberste Gattung alles Lebenden kein Konkretum ist. Nun wird hier zweifellos der Versuch gemacht, etwas Überschwengliches zu denken. Dennoch braucht dieser Gedanke keineswegs etwas Anstößiges zu haben, wenn man nur als Gattungen nicht die logischen sondern die genetischen?? nimmt. Als Ursprung aller Lebewesen innerhalb der sinnlichen Welt ist der Kosmos die umfassendste genetische Gattung des Lebenden. Wir kehren
aus dieser mehr
inhaltlichen Betrachtung
wieder
zu
methodischen Überlegungen zurück. Es dürfte aufgefallen sein, daß
die Methode des εἰκὼς λόγος einen Zirkel enthält: Aus der Betrachtung des Bildes wird ermittelt, wie das Original zu denken ist, um von daher das Bild zu erklären. Der εἰκὼς λόγος ist ein Weg, jene Ideen zu erkennen, durch die sich das Wesen des Kosmos begreifen läßt. Nun kann man freilich diesen Zirkel einfach leugnen, indem man nämlich sagt, es ginge Platon ganz einfach darum, die Struktur des Kosmos zu
erkennen. Dies hieße aber das Eigentümliche der Platonischen Philosophie zu verfehlen, weil Weltimmanentes versteht. von παράδειγμα und εἰκών kenntnis der Struktur der
man nämlich „Struktur“ dabei als etwas Den Zirkel leugnen heißt die Dichotomie leugnen. Der εἰκὼς λόγος 1st nicht die ErWelt sondern das Betrachten der Welt auf
jenes Original hin, als dessen Darstellung sie sich begreifen läßt. Man würde diesen Zirkel heute den hermeneutischen nennen. Und
ın der Tat weist Platon selbst in den Bereich der Auslegung, wenn er
die λόγοι, die sich auf Original und Bild beziehen, Exegeten nennt.
Exegeten waren zu Platons Zeit in Athen Leute, die die Gesetze und die Vorschriften für die religiósen Feste auszulegen verstanden. Wir glauben mit diesem Zirkel eine allgemeine Charakteristik der
platonischen Philosophie gefunden zu haben. Diese Philosophie ist Ideenerkenntnis — wie nach Platon Erkenntnis immer die Erkenntnis von Ideen ist —, aber sie versucht deshalb nie, die Ideen im direkten
Zugriff zu erreichen. Immer
sind es Beispiele, Bilder, Gleichnisse,
Mythen, ja es sind auch Sprachstrukturen und Etymologien, durch die
hindurch der Weg der Erkenntnis genommen wird. Die direkte Schau
?3 Unter einer genetischen Gattung verstehen wir hier alle Lebewesen, soweit sie durch ein Abstammungsverhältnis zusammengefaßt werden können. Vgl. den Unterschied von Real- und Nominalgattung bei Kant, Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse Α 410.
56
des wahrhaft Seienden, der Sachen selbst, ist zwar dem Menschen nicht verschlossen, sie ist aber nur möglich nach einem jahrelangen Umgang mit den mannigfachen Formen ihrer Darstellung. Die glücklichen Augenblicke unmittelbarer Erkenntnis sind selten und entziehen sich der Mitteilbarkeit. Die gewóhnliche Weise menschlicher Erkenntnis,
ist Erkenntnis durch die Darstellung des Seienden. Zwar gibt es Un-
terschiede zwischen verschiedenen Darstellungen nach Stufen der Reinheit und Deutlichkeit, und Platon wendet sich deshalb vornehmlich der Mathematik zu, aber man täusche sıch nicht darüber, daß auch der mathematische Bereich im Hinblick auf die Ideen nur Darstellungscharakter hat. So ıst auch das, was als Platons esoterische Lehre über-
liefert wird, nämlich die mathematische Behandlung der Ideenlehre in der Vorlesung über das Gute nicht die „Lehre selbst“ sondern noch immer eine Art Veranschaulichung, eine Metapher. Immer dann, wenn es Platon nıcht um die Erkenntnis der Ideen als solcher, sondern um einen besonderen Bereich ihrer Darstellung geht, muß seine Methode den ,hermeneutischen* Zirkel enthalten. Die Vertrautheit mit dem entsprechenden Darstellungsbereich — im Falle des Timaios mit dem sinnlichen Kosmos — gibt die Basis ab, von der her jene παραδείγματα zu erreichen sind, mit deren Hilfe jener Bereich erst verstanden werden soll. Wir werden zeigen, daß dieser Zirkel gar nichts Ungewöhnliches ist, sondern vielmehr jede Wahrnehmung schon konstituiert, — aber
Erkenntnis im Sinne von Wissenschaft läßt sich nach Platon so nicht gewinnen.
Die Erkenntnis im Sinne des εἰκὼς λόγος ist nicht strenge Erkenntnis,
ist nicht Wissenschaft. Mit dieser These folgen wir Platons Verweis auf
das Liniengleichnis, der im folgenden Satz unserer Timaiosstelle ganz
unüberhórbar ausgesprochen ist: „Wie das Sein zum Hervortreten, so verhàlt sich die Wahrheit zum Glauben* (29 c). Der Ausdruck πίστις,
den wir vorläufig mit Glauben übersetzt haben, tritt hier ganz unvermittelt auf, was dafür spricht, daß Platon damit auf eine andere
Schrift verweisen wollte. Πίστις gehört zum eixoc λόγος wie ἀλήϑεια
zu den Aussagen, die sich auf das wahre Sein beziehen. Ganz entsprechend wird die Erkenntnis der sinnlichen Dinge im Liniengleichnis durch πίστις charakterisiert. Dort werden vier Gegenstandsbereiche unterschieden: die Ideen und die mathematischen Gegenstände sind die zwei Teile des in strengem Sinne erkennbaren Gebietes (τὸ γνωστόν), die Dinge und deren Bilder in Schatten, Spiegelbildern, künstlerischen
57
Darstellungen machen die zwei Teile des sinnlichen Gebietes aus, von
dem es nicht strenge Erkenntnis, sondern nur δόξα, Erfassen, gibt (τό δοξαστόν). Diesen vier Gegenstandsbereichen entsprechen nun vier Widerfahrnisse der Seele (παϑήματα ἐν τῇ ψυχῇ 511 d). Wir weisen darauf hin,
daß Platon hier Erkenntnisse nicht als Akte begreift, nicht als Handlungen eines Subjektes. Damit mag es zusammenhängen, daß es uns schwerfällt, die vier von Platon genannten Erkenntnisweisen so zu
übersetzen, daß sie vergleichbar bleiben: νόησις, διάνοια, πίστις, εἰκασία. Wir wollen dazu vorerst noch keinen Versuch machen, sondern sie aus
dem Zusammenhang erläutern.
Es ıst für Platon in dem oben beschriebenen Sinne charakteristisch, daß er das Verständnis für die Relationen, die zwischen den verschiedenen Bereichen bestehen, von unten her aufbaut: Bekannt ist das
Verhältnis zwischen Dingen der sinnlichen Welt Schatten, Spiegeln, künstlerischen Darstellungen. Verhältnis der oberen beiden Bereiche und des streng Erkennbaren zu dem, was man bloß so
und ihren Bildern in Analog ist dann das ganzen Bereiches des annimmt, zu denken.
Ebenso wie die Gegenstandsbereiche, muf$ man die Erkenntnisweisen
paarweise zueinander in Beziehung setzen, um sie zu verstehen. Platon erläutert nun im Staat insbesondere das Verhältnis von Dialektik und
Mathematik. Da es uns hier aber vor allem um ein Verständnis der πίστις geht, wollen wir uns nicht auf dies schwierige Thema einlassen. Wir fragen also zunächst nach dem Paar der unteren Erkenntnisweisen in ihrem Verhältnis zueinander. Was geschieht der Seele, wenn sie ein Bild erblickt, und was, wenn ihr ein sinnlicher Gegenstand begegnet? Der Unterschied beider Widerfahrnisse besteht wohl darin, daß man im Falle des Bildes sich überlegt, was es wohl sein könnte,
man vergleicht es mit möglichen Vorbildern, stellt Vermutungen an, während man das Ding einfach als das nımmt, als was es sıch gibt. Eixaota kann Abbild, Darstellung, Vergleich, Vermutung heißen. Der Ausdruck enthält dieselbe eigentümliche Zweideutigkeit, die auch ın εἰκάζειν steckt. Dieses heißt sowohl abbilden, wie ein Bild deuten, wie
vermuten. Offenbar ist diese Zweideutigkeit nur möglich, weil beide
Vorgänge, die doch entgegengerichtet zu sein scheinen, im Grunde dasselbe sind. In beiden wird ein etwas einem anderen verglichen. Ist das Vergleichen ein Gleichmachen, so heißt εἰκάζειν darstellen, nachahmen, ist es nur ein Hervorheben der Ähnlichkeit, so wird es zum 58
Entdecken der Bedeutung eines Bildes, zum Aufweis des Urbildes.
Εἰκασία ist also jenes Widerfahrnis der Seele, das ihr geschieht, wenn sie Bilder sieht: sie versucht dann durch Vergleichen das Urbild her-
auszufinden, sie stellt Vermutungen an. Im Gegensatz dazu ist πίστις das schlichte Zutrauen.
Wir haben das Verhältnis von πίστις und εἰκασία so ausführlich erläutert, weil in Analogie zu diesen beiden ihr Verhältnis zu der eigentlichen Erkenntnis gedacht werden muß. Das Zutrauen der πίστις ver-
liert nàmlich, sobald man es in Beziehung zur eigentlichen Erkenntnis
setzt, seinen schlichten Charakter. Das Pferd, auf das man sich so sicher als ein Pferd verläßt, erkennt man doch nur als ein solches, in dem man, was man sieht, mit der Idee des Pferdes vergleicht. Man hat eben nicht „das Pferd“ selbst vor sich, sondern erkennt etwas als Pferd.
Das Zutrauen bleibt zwar fest, es zeigt sich aber im Verhältnis zur wahren Erkenntnis, daß es im Grunde unausgewiesen ist. Deshalb übersetzt man πίστις in dieser Beziehung nicht unschicklich mit Glauben.
Wir erläutern diese Verhältnisse noch an einem einfachen Beispiel. Man betrachte die gezeichnete Figur eines Kreises. Der sich schlicht
gebende Vorgang, in dem man einen Kreis erblickt, stellt sich, wenn man ihn genauer analysiert als eine Art Rückkopplungsprozeß dar.
Man tastet die Figur auf mógliche Vorbilder ab, sagen wir Quadrat und Ellipse, aber auch Zylinder und Serviettenring — und erkennt sie dann als Darstellung eines dieser Vorlagen, nàmlich des Kreises.
Daß das Sehen in dieser Weise vor sich geht, haben wahrnehmungsphysiologische Untersuchungen gezeigt. Durch diese ist erwiesen, daß
das Sehen selbständig „objektive“ Abweichungen
der Figur bis zu
einem gewissen Schwellenwert korrigiert. Ein „schlechter“ Kreis wird bis zu einem gewissen Grad von Verzeichnung als Kreis gesehen, und
oberhalb dieses Grades als Ellipse oder Ei „erkannt“. Man sage nicht,
daß dergleichen Platon nicht bekannt gewesen wäre. Im Gegenteil ist
es ja gerade die These seiner Ideenlehre, daß ein sinnliches Pferd und ein sinnlicher Kreis eigentlich immer ein schlechtes Pferd bzw. ein
schlechter Kreis sind — und doch als solche erkannt werden, weil sie mit den Urbildern, die sie anamnestisch wieder erwecken, verglichen, besser: ihnen sogar im Erkenntnisvorgang angeglichen werden. Im einzelnen waren ihm solche Phänomene bekannt wie etwa, daß man ein fehlerhaft geschriebenes Wort durchaus versteht. (Vgl. Kratylos 59
432). Wir haben damit ım schlichten Hinnehmen der Dinge, das Platon
als πίστις bezeichnet, jenen Zirkel wiedergefunden, der uns für den εἰκὼς λόγος bezeichnend schien. Die Betrachtung des sinnlichen Gegenstandes, des Bildes, richtet den Blick auf die Idee als dessen mögliches
παράδειγμα, um das Bild von daher als Darstellung zu begreifen. Der
εἰκὼς λόγος ist die Explikation dieses Vorgangs. Nachdem wir nun gezeigt haben, daß Platon die Timaiosrede nicht
als Wissenschaft ansieht, müssen wir sagen, worin — gegenüber der
Wissenschaft
keit muß
—
ihre Mangelhaftigkeit besteht. Diese Mangelhaftig-
sich nach unserer Interpretation daraus ergeben, daß der
εἰκὼς λόγος ein Reden über Darstellungen ist. In der Auffassung des
eixosg als des bloß Wahrscheinlichen ist man ja gewöhnlich umgekehrt vorgegangen: Man verstand das Besondere des εἰκὼς λόγος aus seiner
Mangelhaftigkeit, nämlich aus der angeblichen Unsicherheit und Ungenauigkeit der darin formulierten Aussagen. Diese Interpretation ergab sich auch ganz zwangsläufig, nachdem man einmal den Kosmos als
die Welt des Werdens, der Veránderung angesetzt hatte: Aussagen über das, was sich ständig verändert, können eben selbst nicht sehr stabil sein, sie müssen Aussagen ins Ungefähr bleiben, die teils überhaupt schal?* werden, teils immer weiterer Präzisierung bedürfen. Dafür konnte man sich auf Platons, von Aristoteles bezeugten, lebenslangen Heraklitismus berufen. So blieb nur noch der zwischen Taylor und Cornford ausgefochtene Streitpunkt??, ob die beständige Revision
von Aussagen über die Natur sich approximativ der „wahren“ nähert, oder ob es solche Wahrheit über den sinnlichen Kosmos nach Platon gar nicht gibt. Unsere Analyse der Vorlage-Bild-Metapher dürfte gezeigt haben,
dafs es unmöglich ist, den sinnlichen Kosmos durch irgendeine Bestimmung — etwa die der Veränderlichkeit — von dem noetischen Bereich
zu unterscheiden. Jede solche Bestimmung wäre nach Platon selbst als
eine Darstellung des noetischen Paradeigmas zu verstehen. Die sinnliche Welt hat keine ihr eigentümlichen Bestimmungen, sondern sie ist ganz und gar nur Darstellung. Sie ist deshalb nicht für sich, sondern nur in ihrer Beziehung zum noetischen Bereich zu begreifen. Gerade diese Beziehung wird uns von Platon durch die Vorlage-Bild-Metapher 24 S. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Die sinnliche Gewißheit oder das Diese und das Meinen. 25 Taylor p. 59, Cornford p. 29.
60
nahe gebracht. Das γίγνεσϑαι, durch das Platon die sinnliche Welt bezeichnet, muß daher nicht als ein innerweltlicher Prozeß, sondern aus
der Beziehung zum noetischen Bereich interpretiert werden. Wir über-
setzen deshalb nicht durch das mißverständliche „Werden“, sondern durch Hervortreten. — Wir haben nun aus diesem Ansatz heraus
unsererseits die Aufgabe, die Mangelhaftigkeit des εἰκὼς λόγος zu er-
klären. Welche Art von Schwäche haftet Reden über Darstellungen an, so daß sie nicht das Attribut der Wissenschaftlichkeit zu erlangen vermögen?
Wie charakterisiert nun Platon selbst den Unterschied von wissenschaftlichen Aussagen zu Darstellungsaussagen (εἰκὼς λόγος)» Wissenschaftliche Aussagen werden einerseits als bleibend und unveränderlich,
als unerschütterlich und unwiderlegbar andererseits bezeichnet. Dem-
gegenüber kann man vom εἰκὼς λόγος nicht erwarten, daß er durch-
gehend mit sich selbst zusammenstimmende Aussagen enthält (αὐτοὺς
ἐαυτοῖς ὁμολογουμένους), und daß diese Ausagen ganz streng gemeint sind (ἀπηχριβωμένους). Wir bemerken zunächst, daß sich zwischen die-
sen Bestimmungen nicht sofort eine Entsprechung entdecken läßt. Nun ist es sicherlich auch nicht zu erwarten, daß die Negation der Bestim-
mungen
der Wissenschaft die des εἰκὼς λόγος ergibt, aber es ist für
unsere These eben doch wichtig, daß der Unbeweglichkeit der wissenschaftlichen Aussagen von Platon nicht eine stete Veränderlichkeit der darstellenden Aussagen entgegengesetzt wird. Eine Entgegensetzung fällt wenigstens in die Augen, und wir gehen
deshalb von ihr aus: Weil die Aussagen des εἰκὼς λόγος nicht durch-
gehend miteinander zusammenstimmen, sind sie nicht unwiderlegbar. Aber warum sollten sie nicht durchgängig miteinander zusammenstimmen? Ist das ein prinzipieller Mangel? Warum sollte es kein kon-
sistentes Sprechen über den sinnlichen Kosmos geben? Weil, antworten wir, dies den göttlichen Standpunkt voraussetzen würde. Der Mensch dagegen muß die wahre Wirklichkeit aus ihrer Darstellung erkennen und kann doch die Darstellung erst von der wahren Wirklichkeit her begreifen. Wir machen
also den hermeneutischen
Zirkel für die In-
konsistenzen verantwortlich. Dieser Zirkel verlangt ja doch, daß er immer erneut durchlaufen wird, weil man durch den Umlauf mit seı-
nen Anfängen in Widerspruch gerät. Schließt man vom Bild auf dessen
Vorlage, so erscheint alsbald das Bild in anderem Licht, seine Züge ordnen
sıch neu,
und
man
wird
einen
weiteren
Anlauf
zur
Inter-
61
pretation nehmen. Was dabei geschieht, entspricht dem hermeneutischen Begriff der Erfahrung. Wir wollen dies kurz an der bekanntesten Inkonsistenz des Timaios illustrieren: Bei der Behandlung der vier Elemente geht Platon von
dem Phänomen aus, daß sie alle ineinander zu überführen sind. Er sucht dann nach einem Modell für die Elemente, dessen innere Be-
ziehungen sich als dieses Wechselspiel des Übergehens darstellen lassen. Das System der regelmäßigen Körper des Theaitetos wird als dieses Modell angesetzt. Die sinnlichen Qualitäten der Elemente las-
sen sich recht gut als Darstellungen der geometrischen Eigentümlich-
keiten interpretieren, und die Transformationen der Elemente, um die
es hier vor allem geht, sind aus der Zerlegbarkeit in Dreiecke zu be-
greifen —
nur erhält plötzlich die Erde eine Sonderstellung, die sie
im urspünglichen Ansatz nicht besaß. Sie nimmt am Zyklus der Wand-
lungen nicht teil und hat auch sonst hervorgehobene Eigenschaften.
Platon muß also den urspünglichen Ansatz revidieren: „Das früher undeutlich Ausgesprochene müssen wir jetzt genauer bestimmen. Alle vier Gattungen nämlich schienen durcheinander hindurch ineinander das Entstehen zu haben, doch dieser Anschein war nicht richtig.“
(54 b). Größere Schwierigkeiten scheinen in der anderen Bestimmung des
εἰκὼς λόγος zu liegen, nämlich in dem Mangel an Akribie. Wir sagen
mit Absicht „scheinen“, denn diese Schwierigkeiten liegen nicht so sehr
in Platons Text sondern resultieren daraus, daß wir ihm nur allzu leicht neuzeitliche Begriffe von Genauigkeit und Exaktheit unter-
schieben. Wir wollen uns mit diesem Mißverständnis nicht weiter ab-
geben, der ganze Timaios ist Zeugnis dafür, daß eine solche Exaktheit dieser Naturbeschreibung nicht nur abgeht, sondern überhaupt nicht gesucht wird. Wir wollen lieber aus Platons Texten selbst ermitteln, was er unter einem λόγος ἀκριβῆς verstanden hat.
Wir beginnen, indem wir zunächst eine kleine Schwierigkeit ausräumen, die nun wirklich aus Platons Formulierung resultiert. Platon verwendet ja hier nicht das Adjektiv ,ἀκριβής“, sondern das Verb
»ἀπακριβεῖσϑαι“! Diese Wahl könnte natürlich um der Parallelität der Konstruktion (öuoAoyovusvovg λόγους wai ἀπηχριβωμένους) geschehen
sein. Das Verb kónnte aber auch eine ingressive Bedeutung zum Aus-
druck bringen, wodurch dann gesagt wäre, daß die Rede des Timaios
noch nicht zu der Vollkommenheit gebracht sei, zu der man dergleichen 62
Reden bringen kónnte. Nun mag auch dies zwar Platons Meinung gewesen sein, wenngleich er viel eher zum Ausdruck bringt, daß es um ein Mehr oder Weniger an Vollkommenheit in solchen Reden gar nicht geht, weil ihnen eine Vollkommenheit, nämlich die der wissenschaft-
lichen Ausage prinzipiell abgeht. Wir meinen daher, daf das Verb hier nicht die Perfektion, mit der die Rede ausgearbeitet ist, betrifft. Dafür, daß es nicht diesen Sinn zu haben braucht, diene uns folgende Stelle
aus dem Philebos, die zugleich unsere Auslegung des λόγος ἀχριβῆς
vorbereiten mag: Dort geht es um die Frage, ob man die angesehensten Bezeichnungen (ὀνόματα) für Wissen, nämlich φρόνησις und νοῦς
für die Erkenntnis des immer Seienden benutzen soll. Auch auf diese
Namen,
φρόνησις und
νοῦς, wird
das Partizip
,ἀπηχριβωμένα“
be-
zogen. Nun kann man Namen nicht mehr oder weniger gut ausarbeiten, zumindest werden sie hier als gegeben vorausgesetzt.?9 Es muß sich. daher um den Gebrauch dieser Bezeichnung handeln. So zeigt sich auch wenig später, daß auch weniger reine Erkenntnisweisen φρόνησις genannt werden. Hier geht es also um die strenge, um die vorzügliche, um die eigentliche Verwendung dieses Wortes: „Kann man sagen, daß diese (Namen)
richtig festgesetzt sind, wenn sie im
strengen Sinne im Bereich des wirklich Seienden angewandt sind?“ —
„Ja“ (59 d). Der ἀκριβής λόγος ist also 1m Gegensatz zum εἰκὼς λόγος die strenge Rede. Wir werden gut daran tun, diesen Unterschied noch im Timaios
selbst nachzuweisen, um dann den Sinn von ,Strenge* genauer zu be-
stimmen. Nun haben wir das Glück, in der Tat eine Stelle im Timaios zu finden, die unseren Zwecken sehr gut entspricht. Es ist die Stelle,
an der sich Platon im Zuge der Diskussion der χώρα mit der Meinung
auseinandersetzt, alles, was irgendwie ist, müsse auch irgendwo sein. Aus solchen Träumereien müsse man erwachen, meint Timaios, um die Wahrheit zu sagen: „Daß es nämlich einem Bild (εἰκών) zwar zu-
kommt
in einem anderen hervorzutreten, weil ihm nicht einmal das
angehört, an dem es hervortritt, es vielmehr immer als Erscheinung eines anderen getragen wird, indem es sich irgendwie ans Sein anklammert, sonst wäre es überhaupt nichts; daß dagegen dem wirklich Seienden zu Hilfe kommt die Rede, die durch Strenge wahr ist (ὃ δι᾽ ἀκριβείας ἀληϑὴς λόγος), nach der, solange dies das eine, jenes das
andere ist, keins von beiden jemals im anderen hervortretend mit 26 [m Gegensatz zum Dialog Kratylos.
63
ihm ein und dasselbe und zugleich zweierlei sein kann* (52 c, d). Die
Dunkelheit dieses Satzes resultiert daraus, daß Platon mit dieser Bemerkung den Bereich, innerhalb dessen sich die Rede des Timaios aufhalten sollte, nämlich den εἰκὼς λόγος verläßt. Er faßt sich deshalb
äußerst knapp, um im übrigen auf eine andere Art der Untersuchung,
den ἀκριβὴς λόγος zu verweisen. Zugleich aber ist unübersehbar, daß
dieser Verweis auf einen anderen Dialog geht, nämlich den Parmenides. Dort wird nämlich streng genommen, was man über das Seiende
sagen kann, etwa daß, was ist, auch eines ist. Vom Eins-Seienden wird dann 138 a,b gezeigt, daß es weder in sich noch in einem anderen sein kann. In einem anderen zu sein, würde nämlich seine Einheit zer-
reißen, denn es müßte das andere als Umgebendes an verschiedenen
Stellen berühren. In sich selbst kann es aber auch nicht sein, da es als das Umgebende sich selbst als dem Umgebenen gegenüber doch wieder ein anderes wäre. Das Seiende als Eines kann deshalb überhaupt nicht irgendwo sein. Wir können
an dieser Stelle im Timaios
also recht gut erkennen,
warum der εἰκὼς λόγος einen Mangel an Strenge zeigt. Ein Satz wie:
„Alles, was ist, ist irgendwo“ hat seine Berechtigung im Bereich der Darstellungen. Das liegt aber daran, daß Darstellungen überhaupt nicht schlechthin, in jeder Hinsicht, ohne Einschránkung,
also kurz:
im strengen Sinne des Wortes Seiendes sind. Darstellungen sind immer
Darstellungen von etwas in etwas, oder — wie wir früher sagten — durch etwas. Wenn man also über Darstellungen redet, wenn man einen εἰκὼς λόγος aufstellt, so mag man sagen: Alles was ist, ist irgendwo. Dieser Satz hat aber keine strenge Gültigkeit, weil Sein darin nicht streng genommen wird: Der εἰκὼς λόγος ist nicht axoıßng.?? Wir haben an dieser Timaiosstelle gesehen, daf$ Platon seine Natur-
lehre wegen ihres Mangels an Akribie ganz klar gegen andersartige Untersuchungen abgrenzt. Wir werden dies noch deutlicher erkennen, wenn wir jetzt an Hand einer Stelle aus der Politeia den Sinn der
Akribie näher erläutern. Es handelt sich um die Auseinandersetzung zwischen Sokrates und Thrasymachos, in deren Verlauf Thrasymachos
das Gerechte als das definiert, was dem Stärkeren zuträglich vor?! Eine weitere Timaios-Stelle
Verbum
„sein“
häufig,
nicht im strengen Tım. 38 b).
64
Sinne
nicht
ist jene, an der es heißt, wir
streng,
nämlich
die Gegenwart
bei Formen,
bezeichnen.
verwendeten
die ein Nicht-Sein
(ὧν οὐδὲν
ἀκριβὲς
das oder
λέγομεν,
kommt. Als Sokrates die Möglichkeit erwägt, daß der Stárkere sich auch bezüglich des Zuträglichen irren könnte, zieht sich Thrasymachos auf die strenge Rede (ὃ ἀκριβὴς λόγος) zurück: Wenn sich der Stárkere irrt, so ist er eben nicht der Stärkere — jedenfalls ist er es nicht,
insofern er sich irrt. Dies führt dann an Hand von weiteren Beispielen zu einem allgemeinen Satz. Der Rechenkünstler, wenn und insofern er wirklich ein Rechenkünstler ist, seine Kunst also versteht, verrechnet
sich nicht; der Arzt qua Arzt schadet seinem Kranken nicht. „So daß
nach der strengen Rede (κατὰ τὸν ἀκριβῆ λόγον), wenn du es mit deiner Rede ganz genau nimmst (ἀχριβολογῇ), kein Werkmeister fehlt“ (340 e), sagt Thrasymachos zu Sokrates. Sokrates übernimmt diese
Sprechweise, um dann zu zeigen, dafs der Arzt im strengen Sinne sich nicht um sein eigenes Wohl
kümmert,
sondern um
das des Kranken,
denn qua Arzt ist er Heilender und nicht etwa Geldverdiener, — womit dann Thrasymachos, der Tüchtigkeit und Eigennutz im Begriff der Gerechtigkeit verbunden sah, widerlegt ist. In dieser Argumentation Ist von dem „Arzt im Sinne der strengen Rede“ (ὃ τῷ ἀκριβεῖ λόγῳ ἰατρός), und kürzer noch vom „strengen Arzt“ (6 ἀκριβὴς ἰατρός) die Rede, wobei diese Wendungen sichtlich. gleichbedeutend mit „dem wirklichen Arzt“ (6 τῷ ὄντι ἰατρός) verwendet werden (341 c und
342 d). Die strenge Rede bezieht sich also auf den wahrhaften, den wirklichen Arzt, also — weil kein konkreter Arzt je dieser wirkliche Arzt sein kann, sondern ihn immer nur mehr oder weniger gut zur
Darstellung bringt (μιμεῖσϑαι)ξ8 — auf die Idee des Arztes. Dies — zunáchst aus der allgemeinen Kenntnis der platonischen Philosophie
gewonnene
Ergebnis —
läßt sich an Hand
der von Sokrates und
Thrasymachos diskutierten Beispiele noch im Einzelnen zeigen. Jeder noch so gute Rechner wird sich einmal verrechnen, jeder Arzt kann einmal einen Fehler machen. Mit solchen Sätzen redet man von den einzelnen Menschen, die Rechenkünstler oder Ärzte sind. Dies ist
offenbar keine strenge Rede. Denn wenn sich ein Rechenkünstler ver-
rechnet, so ist er entweder gar kein richtiger Rechenkünstler oder seine Kunst hat ihn verlassen, oder er hat überhaupt nicht gerechnet, sondern etwas anderes getrieben, denn als Rechenkünstler kommt ıhm
doch gerade zu, das Rechnen zu können. Es stellt sich also heraus, daß man in dem Satz „der Rechenkünstler hat sich verrechnet“ gar nicht 28 Vgl. Politikos 301 b. Wenn einer herrscht, der den Wissenden zur Darstellung bringt (μιμεῖσϑαι), so heißt er König.
65
über den Rechenkünstler selbst redet, sondern über einen konkreten Menschen, sagen wir Theaitetos, der zwar mehr oder weniger gut
rechnen kann und darin den wahren Rechenkünstler nachahmt und so weit wie möglich zur Darstellung bringt, der aber außerdem noch
alles möglich andere „ist“, etwa Mensch und Weißer. Nun ist offensichtlich, daß das Sich-Verrechnen-Können gerade in diesem anderen gründet, 561 es in dem Sinne, daß Theaitetos etwas ist, dem schon ein-
mal das Rechnenkönnen abgehen kann, ohne daß er gleich ins Nichts
versinken müßte, weil er eben noch anderes ist; sei es in dem Sinne, daß dieses andere dem Rechnenkónnen geradezu widerstreitet, so wenn Theaitetos etwa spielt oder betrunken ist. Schärfer muß man sogar sagen, daß dieses „andere“, was Theaitetos auch noch ist, es geradezu für Theaitetos unmóglich macht, der Rechenkünstler im strengen Sinne zu sein. Denn Theaitetos kann etwa Geldverdienen, schwimmen u.
dgl., was alles dem Rechenkünstler im Sinne der strengen Rede nicht zukommt
—
wie beim Beispiel des Arztes zu hóren war. Da
aber
jeder konkrete Arzt, jeder konkrete Rechenkünstler dergleichen kann,
ist deutlich, daß die strenge Rede sich auf die Idee des Arztes bzw. des
Rechners bezieht. Jede Rede — kónnen wir umgekehrt sagen — über Konkreta, über sinnliche Dinge ist nicht streng. Wo immer ein sinnlicher Gegenstand
streng auf das hin angesprochen wird, als was er
sich gibt — Theaitetos als Rechner —, bezieht sich die Rede eigentlich auf die Idee, auf das Ding nur im Maße es an der Idee teilhat.
Der εἰκὼς λόγος ist nicht ἀκριβής. Er enthält sicherlich auch Stücke strenger Rede oder macht Anleihen bei strengen Untersuchungen, aber er kann und darf niemals ganz und in jeder Hinsicht streng werden. Denn die strenge Rede bezieht sich auf die Ideen, die Sachen selbst. Das aber, was Platon im Timaios vortragen läßt, ist nicht eine Rede über eine „ideale Welt“, über das Paradeigma, sondern über die sinnliche Welt, die, welche wir jetzt in Umkehrung der Verhältnisse die wirkliche nennen. Wir haben gesehen, daß dies andererseits nicht be-
deutet, daf es Platon um so etwas wie eine Naturbeschreibung ginge, vielmehr war ja die eigentliche Aufgabe darin zu sehen, das Para-
deigma, dessen Darstellung diese Welt ist, herauszufinden. Aber um das Paradeigma geht es doch wiederum, insofern es in der sinnlichen Welt zur Darstellung kommt. Da der Gegenstand des εἰκὼς λόγος die sinnliche Welt ist, kann alles, was er über diesen Gegenstand aussagt,
nicht ganz und gar streng sein. Wir glauben — um damit zu schlie66
ßen —, daß es diese Einsicht ist, die Platon erlaubt, trotz der Erhaben-
heit seines Gegenstandes, in dessen Darstellung immer wieder so spielerisch zu verfahren.??
?9 Erst nach Fertigstellung der Arbeit wurde uns der ausgezeichnete Aufsatz von B. Witte „Der εἰκὼς λόγος in Platos Timaios", Arch. f. Gesch. d. Philosophie 46 (1964),
1 ff. bekannt,
auf den wir hiermit —
leider nur summarisch
—
verweisen.
Es verbindet uns mit Witte die Auffassung, daß der εἰκὼς λόγος eine „völlig eigenständige und innerhalb des Systems unersetzbare Aussagefunktion“ hat (12), und dem Ernstnehmen des Bildcharakters des Kosmos entspringt: Timaios ,behandelt die Natur als geordnete Natur, das heißt für ihn, in ihrer Zuordnung auf die noetische Welt“ (5). Wir unterscheiden uns von Witte durch unsere Auffassung, nach der der εἰκὼς λόγος als Methode einen „hermeneutischen Zirkel“ enthält, weil er die Kenntnis der Ideen, nach denen die sinnliche Welt gestaltet ist, nicht voraussetzt, und deshalb auch nicht — wie Witte meint (6) — deduktiv verfahren kann. Es hat deshalb auch keinen Sinn, von Aussagen zu sprechen, die hinter dem εἰκὼς λόγος stehen und ihm seine Wahrheit mitteilen (3).
67
2. KAPITEL AON
(αἰών)
I. Einleitung „Als der erzeugende Vater das (Weltall) bewegt und lebendig erschaute, hervorgetreten als Heiligtum der ewigen Götter, war er entzückt und dachte daran, es dem Vorbild noch ähnlicher zu machen. So
wie nun dieses selbst ein ewiges Lebewesen ist, versuchte er jenes All nach Möglichkeit als ein derartiges?? zu vollenden. Nun ist das Wesen des Lebendigen aber äonisch, und dies dem Hervorgetretenen ganz zu gewähren war allerdings nicht möglich: Er gedachte aber ein bewegliches Bild des Aon zu machen, und indem er zugleich den Himmel ordnete, machte er ein nach Zahlen gehendes, äonisches Bild des in einem bleibenden Aon, jenes (nämlich), das wir Zeit genannt haben.“ (37 c, d) Chronos, Zeit, trittan dieser Stelle des Timaios al SName einer Darstel-
lung auf. Sie ist ein Teil der großen Darstellung, des Kosmos selbst, und zwar bringtsie diesein einer bestimmten Hinsicht zur Vollkommenheit. Der Kosmos bringt das Lebewesen selbst (ζῷον αὐτό) zur Darstellung. Das Lebewesen selbst, man kónnte auch sagen das Wesen des Lebens, die Ideedes Lebendigen, enthält nun offenbar einen gewissen Zug, ein gewisses Charakteristikum, den Aon nämlich, auf Grund dessen es äonisch genannt wird. Die Darstellung dieses Aon, sagt Platon, nennen wir Zeit. Wir haben durch die grundsätzliche Erörterung im vorangegangenen Abschnitt über das Verhältnis von Vorlage und Darstellung bereits 80 τοιῦτον. Das Abbild soll nicht zum Urbild ein zweites Exemplar sein, sondern nur solcherart wie das Urbild. Vgl. unsere Darstellung der platonischen Analyse von Ur- und Abbild. S. 36 ff.
68
darüber entschieden, wie wir das Verhältnis von χρόνος und αἰών
auszulegen haben. χρόνος ist der Name für die Darstellung des αἰών. Wenn wir fragen, was Zeit im Sinne von χρόνος ist, so hat diese Frage im Kontext des Timaios ihren Sinn als Frage nach dem, was die Zeit darstellt, nach dem αἰών. Darüber hinaus läßt sich. fragen, wie die Zeit den αἰών darstellt, mit welchen Mitteln; es hieße aber die Platonische Philosophie verlassen, wollte man gewisse Darstellungsprinziplen ausfindig machen. Insbesondere ist die Zeit nicht selbst ein
solches Darstellungsprinzip,
sie ist nicht ein Charakteristikum
der
sinnlichen Welt, das sie von der noetischen unterschiede, sondern sie
stellt — wie anderes Sinnliche auch — Noetisches dar. Ist also der αἰών das Wesentliche der Zeit, so gilt es, um das Wesen
der Zeit zu erfassen, gerade diesen zu verstehen. Nun ist dieses Ver-
stehen durch die Übersetzung von αἰών durch Ewigkeit nur allzuschnell geleistet. Es bleibt nàmlich dabei unausgemacht, welchen Sinn man mit dem Wort Ewigkeit verbindet, und es wird insbesondere verdeckt, daß
es gerade Platon, daß es gerade diese Stelle war, die dem Wort αἰών erst den Sinn von Ewigkeit verlieh. Die erste Aufgabe einer Interpretation der vorgelegten Textstelle muß also darin bestehen, die gän-
gige Übersetzung von αἰών durch Ewigkeit zu destruieren. Das muß nicht zu einer Widerlegung führen, im Gegenteil wird dieser Weg erst wieder die Bedeutungsfülle von αἰών erschließen, von der her sich die Übersetzung durch „Ewigkeit“ mit Inhalt füllen läßt.
Wir werden dementsprechend in einem ersten kritischen Abschnitt
die Interpretation von αἰών, insofern dieser als Ewigkeit der Zeitlichkeit entgegengesetzt wird, einer Prüfung unterwerfen, um dann in den beiden folgenden Abschnitten die ursprüngliche ganze Bedeutungs-
fülle von αἰών für die Auslegung von Platons Zeitlehre fruchtbar zu machen. II. Überzeitlichkeit
Der Ausdruck αἰών wird im Timaios so eingeführt, daß man ihn als
Bezeichnung für diejenige Bestimmung des παράδειγμα zu verstehen veranlaßt wird, die zuvor
mit dem
Ausdruck
ἀίδιον charakterisiert
worden war. Folgt man dieser Veranlassung, so wird die Interpre-
tation in einer Weise beeinflußt, deren Ursache man kaum in der zu-
nächst unbedenklichen Gleichsetzung von αἰώνιον und ἀίδιον vermuten
69
würde. Da das Urbild ewig ist, so versteht man Platon, versuchte der Demiourg das Abbild nach Möglichkeit auch zu einem solchen zu machen. Die primáre Gleichsetzung von ἀίδιον und αἰώνιον abstrahiert von der Natur des Paradeigma als eines Lebewesens: Das Lebewesen selbst ist in derselben Weise ewig wie die Zahl Zwei, und es gilt, diese
abstrakte Ewigkeit dem Kosmos nach Möglichkeit anzuheften.
Die so geschehene Ablösung des Ewigkeitscharakters vom Lebewesen-Sein des Vorbildes hat außerordentliche, geradezu welthisto-
rische Bedeutung. Ewigkeit — so abstrakt verstanden — wird zu einer Bestimmung des Vorbildes als eines solchen und dementsprechend Zeitlichkeit zu einem Charakteristikum des Nachbildes qua Bild. Der Be-
reich des Sinnlichen wird zum Bereich des Zeitlichen. Diese Auslegungsrichtung wird nicht korrigiert, sondern nur noch
verschärft, wenn man sich gezwungen sieht, eine Differenzierung zwi-
schen ἀίδιον und αἰώνιον durchzuführen. Verschiedentlich ist versucht worden,
diesen
Unterschied
definitorisch
festzumachen.
So
faßt
diadochus αἰώνιον auf die Seite des Zeitlosen, indem
er es
Olympiodorus philosophus im 6. Jahrhundert nach Christus τὸ ἀίδιον als das Immerwährende und τὸ αἰώνιον als das Zeitlose. Ebenso rückt Proclus
von τὸ dei als dem zu aller Zeit Seienden absetzt.?! Natürlich sind solche Distinktionen für den platonischen Text nicht vorauszusetzen, sie zu machen bietet er allerdings Anlaß genug. Da ıst als erstes darauf hinzuweisen, daß die Planeten- und Stern-
götter ἀίδιοι genannt werden. Diese sind nämlich offenbar gemeint,
wenn es zu Anfang unseres Textes heißt, der Kosmos sei ein Heilig-
tum der ewigen Götter.?? Ausdrücklich werden später (40 b 5) die
Fixsterne göttliche und ewige (ἀίδια) Lebewesen genannt. Nun heißt es aber andererseits von diesen Göttern 41 b, sie seien unsterblich und
unzerstórbar nur, insoweit sie es nach dem Willen des Demiourgen sein sollen. Ihre Unvergänglichkeit ist nicht in ihrem eigenen Wesen
begründet, sondern wird vielmehr — mythologisch gesprochen — allein durch den Willen des Demiourgen garantiert, sie hängt von dem Sinn
des Ganzen ab. Die Planeten- und Sterngótter gehóren dem Bereich des Hervorgetretenen an, sie sind aber dennoch nicht vom Verschwinden bedroht, — weil dieser Bereich im Ganzen und in seinen wesent-
lichen Konstituentien nicht verschwinden soll. Zu diesen wesentlichen
31 τὸ ἀεὶ τοῦτο οὐκ αἰωνιόν ἐστιν ἀλλὰ χρονικόν. Proc. Inst. 198, s. auch Anm. 35. 3? Für die Übersetzung „Heiligtum“, s. Cornfords Ausführungen aaO. S. 99 ff.
70
Konstituentien der sinnlichen Welt gehóren auch Leib und Seele. Sie werden deshalb später von Platon neben den Göttern zu dem gezählt,
was zwar dem Bereich des Hervorgetretenen angehórt, aber dennoch unzerstörbar ist. „Seele und Leib sind als unzerstörbar
seiend, wenn
auch nicht äonisch hervorgetreten,?? ganz wie es sich mit den nach dem
Gesetz bestehenden Göttern verhält, — denn es würde kein Hervortreten von Lebewesen geben, wenn eins von beiden verschwunden wäre“ (Nom. X, 904 a). Bemerkenswert an dieser Stelle ist zunächst die Begründung. Leib und Seele sind deshalb unzerstórbar, weil ohne sie das Hervortreten von Lebewesen nicht möglich wäre. Wenn wir uns daran erinnern, daß eben dies der Sinn des Ganzen, des Kosmos, nach der Lehre des Timaios ist, nàmlich das Hervortreten des Lebewesens selbst (ζῷον αὐτό), so ist es auch nach dieser Stelle der Sinn des Ganzen der an sich Zerstórbarem seinen unverletzbaren Fortbestand garan-
tiert, Ferner sollte man die Zusammenstellung von ἀνώλεϑρον und γενόμενον beachten, die sichtlich in Absetzung von Parmenides
Charakteristikum des einen Seienden (ὡς ἀγένητον ἐὸν xai ἀνώλεϑρόν ἐστιν, B 8.3) gewählt wurde, zumal Platon die Formel des Parmenides im Timaios für die Kategorie des Paradeigma selbst verwendet (Tim. 52 a). Das Immer-Seiende des Hervorgetretenen — und damit kom-
men wir zu dem für uns entscheidenden Punkt — muß offenbar von dem Immer-Sein des Paradeigma unterschieden werden. Da nun die
Götter an anderer Stelle ἀίδιοι genannt werden, hier aber als nicht äonisch bezeichnet werden, legt es sich nahe, den Unterschied zwischen ἀίδιον und αἰώνιον zu machen, den wir aus Olympiodor und Proclus zitiert haben. Die Gótter, wie Seele und Kórper, sind in der Zeit, sie sind, da unvergänglich, zu aller Zeit. Wenn dieses ihr Sein als ἀίδιον
bezeichnet wird, und andererseits dem αἰών entgegengesetzt wird, so meint αἰώνιος offenbar das Überzeitliche.
Diese Unterscheidung scheint sich zu bestätigen, wenn Platon 38 c
παντὰ αἰῶνα und ἅπαντα χρόνον entgegengesetzt. „Das Paradeigma 1st
nämlich den ganzen αἰών seiend, der (Himmel)?* dagegen ist die ganze Zeit hindurch geworden, seiend und sein werdend.“ Wenn der Him-
33 ἀνώλεϑρον δὲ ὃν γενόμενον, ἀλλ᾽ οὐκ αἰώνιον. Nom. X 904 a. 84 Wir ergänzen „Himmel“ wie Cornford (5. 99 Anm. 1) und nicht „Zeit“ wie Schleiermacher. Daß die Zeit die ganze Zeit hindurch ist, ist eine unnütze Aussage; es kommt Platon hier darauf an, das Zusammenbestehen von Zeit und Himmel zu betonen.
71
mel dann an anderer Stelle auch ἀίδιος genannt wird, so muß das hiernach den Sinn von ,zu aller Zeit seiend* haben.
Die Unterscheidung von ἀίδιον und αἰώνιον als zweier Typen von
Ewigkeit, entleert die Vorstellung des αἰών jeglichen Inhalts. Der aiov kann nun nur noch negativ als das Überzeitliche verstanden
werden. Die zeitbezogene Ausdeutung der Platonischen Unterscheidung von Denkbarem und Sichtbarem, von Seiendem und Hervortretendem wird damit vollendet. Wie der sichtbare Bereich das Zeitliche wurde, so wird durch die Interpretation des αἰών als Überzeitlich-
keit der Bereich der Ideen zum unzeitlichen, zum überzeitlichen. Man hatte also, das wollen wir zugeben, durchaus Anlaß zu der Unterscheidung von αἰώνιον und ἀίδιον und zur Bestimmung von
αἰώνιον als Bezeichnung des Überzeitlichen. Es lassen sich aber sicherlich ebensoviele Gegeninstanzen gegen diese Auffassung im Platonischen
Text auffinden. So wird etwa 29 a und 37 d gerade das Paradeigma, das Lebewesen selbst als ἀίδιον bezeichnet. Mit dieser Schwierigkeit
kónnte man noch fertigwerden, wenn man ἀίδιος als den weiteren Be-
griff
von
Ewigkeit
Zeit
als Darstellung
auffaßte,
der
erst in der
Entgegensetzung
zu
αἰώνιος die engere Bedeutung von „zu aller Zeit“ annimmt.?* Dies wäre aber eine durchaus unplatonische Auffassung des Verhältnisses von Oberbegriff und Unterbegriff. Das, was bei Platon dem von uns so genannten Oberbegriff entspricht, ist für ihn immer zugleich auch das würdigere, reichere, — keineswegs doch das abstraktere. Wir werden in anderem Zusammenhang noch darauf zu sprechen kommen. Schwerer wiegt schon der Einwand, daf$ ja die Zeit selbst ein aonisches Bild des Aon genannt wird. Für unsere Interpretation bietet der Text an dieser Stelle naturgemäß gar keine Schwierigkeit. Die des Aon
ist ein Derartiges,
ein τοιοῦτον,
sie
wird — wie jede Darstellung nach ihrer Vorlage — homonym äonisch
genannt. Die Konjektur von Cornford (5.98 Anm. 1), daß an Stelle von αἰώνιον ἀέναον zu lesen sei, daß Platon die Zeit also als ein „immer
fließendes Bild“ habe bezeichnen wollen, ist deshalb ganz verfehlt. Die Stelle würde erst dann ernsthafte Schwierigkeiten bieten, wenn man — was Cornford selbst nicht einmal tut — αἰώνιον als Bezeichnung 35 S. dazu Procli Diadochi in Platonis Timaeum commentarii, ed. E. Diels, Leipzig 1903-6, III 3, κυρίως μὲν γὰρ xai πρώτως ἀίδιον, τὸ νοητόν, δευτέρως δὲ τὸ τῇ τοῦ χρόνου προόδῳ καὶ ἀνελίξει συμπαρατεινόμενον: διττὸν γὰρ καὶ τὸ ἀεί, τὸ μὲν αἰώνιον, τὸ δὲ χρονικόν.
72
für das Überzeitliche
auffaßte.
Dann
wäre,
wenn
man
der ange-
gebenen, traditonellen Unterscheidung folgt, die Zeit allenfalls ewig im Sinne von ἀίδιον zu nennen.
Als gewichtiger Grund gegen die Auffassung von αἰών als Überzeitlichkeit läßt sich wohl anführen, daß sie die von Platon so sorgfältig
ausgearbeitete Beziehung von παράδειγμα und εἰκών sprengen würde. Die Zeit ist für Platon ein Abbild oder eine Darstellung. Wäre es nicht
absurd innerhalb des Kosmos ausgerechnet in der Zeit die Darstellung der Überzeitlichkeit suchen zu wollen? Wir wollen nun zeigen, daß diese ganze Interpretation vom ersten Schritt an keineswegs selbstverständlich ist. Dieser erste Schritt be-
stand in der Annahme, daß es dem Demiourgen bei der Erschaffung
der Zeit darum ging, dem Kosmos den Ewigkeitscharakter des Urbildes nach Möglichkeit anzuheften. Diese Interpretation legte sich dadurch nahe, daß es zunächst heißt: , Gleichwie nun dieses selbst (das Paradeigma) ein unvergängliches Lebendes (ζῷον ἀίδιον) ist, versuchte er auch dieses Weltganze soviel wie móglich zu einem solchen zu vollenden“, und dann: „Da nun die Natur dieses Lebenden aber eine unvergängliche (αἰώνιος) ist, diese Eigenschaft jedoch dem Erzeugten vollkommen zu verleihen unmóglich war, usw.* Wir haben uns hier der Schleiermacherschen Übersetzung bedient?$,
die bereits die genannte Annahme impliziert: Durch die Gleichsetzung von ἀίδιον und αἰώνιον — hier in der sicherlich verfehlten Übersetzung durch
„unvergänglich“
—
wird bereits im ersten Satz der Ewigkeits-
charakter vom Lebewesensein getrennt und τοιοῦτον allein auf ἀίδιον bezogen: Das schon bestehende Lebewesen steht seinem Vorbild noch
in einer Eigenschaft nach, der Unvergänglichkeit oder Ewigkeit näm-
lich, und es gilt nun, das geschaffene Lebewesen auch nach Möglichkeit zu einem solchen, nämlich unvergänglichem oder ewigen, zu machen. Derselbe Gedanke wird nun angeblich mit dem Terminus αἰώνιος im zweiten Satz wiederholt: ,Da nun die Natur dieses Lebenden aber eine unvergängliche ist, diese Eigenschaft jedoch dem Erzeugten voll38 Noch deutlicher ließe sich das Folgende an der französischen Übersetzung von A. Rivaud in der Budé-Ausgabe illustrieren: „Et de méme que ce modéle se trouve etre un Vivant éternel, il s’efforga dans le mesure de son pouvoir, de rendre éternel ce tout lui-méme également. Or, c'est la substance de Vivant-modéle qui se trouvait étre éternelle, nous l'avons vu, et cette éternité l'adapter entiérement à un Monde engendré, c'était impossible*.
73
kommen zu verleihen unmóglich war . . .* Dabei versucht Schleiermacher durch Benutzung des im griechischen Text nicht auftretenden Demonstrativums „dieses“ klarzustellen, welches von den beiden Lebe-
wesen, von denen — wie er glaubt — die Rede ist, gemeint ist. Dabei
ist es natürlich völlig unplatonisch zu unterstellen, daß die Natur des Lebewesens Kosmos eine andere sein kónnte, als die des paradeigmatischen Lebewesens, denn letzteres ist ja nichts anderes als die Natur
des Lebewesens Kosmos — wie jedes anderen Lebewesens — selbst. Aber davon abgesehen ist es ganz unwahrscheinlich, daß Platon mit diesem zweiten Satz den Gedanken des ersten noch einmal aussprechen wollte, denn dann hätte er ihn wohl nicht mit μὲν οὖν beginnen lassen. Eine solche Wendung ist nicht üblich, um einen Gedanken zu wiederholen, sondern dient allgemein der Fortführung, der Einführung eines neuen, manchmal sogar eines korrigierenden Gedankengangs.?”?
Wir glauben also, daß Platon mit den beiden Sätzen nicht dasselbe sagen will: Zunächst wird nur allgemein festgestellt, daß der Demiourg den Kosmos als Darstellung eines immerseienden Lebewesens (ζῷον ἀίδιον)
vollenden
will:
Er
will
den
Kosmos
zu
einem
derartigen
(τοιοῦτον) machen. Dann wird im nächsten Satz etwas Besonderes, das zur Natur des Lebewesens überhaupt gehört, hervorgehoben, daß es nämlich „äonısch“ ist.
Wir gewinnen damit Anschluß an den gewöhnlichen Sinn des Wortes αἰών, der dieses Wort als in besonderem Maß der Sphäre des Lebendigen zugehörig erweist: αἰών heißt Lebenskraft, Leben, Lebenszeit. αἰών ist ein Ausdruck, der die Zeitlichkeit dieser Sphäre artikuliert, keineswegs geeignet, das Außerzeitliche zu charakterisieren. Wir wollen damit keineswegs sagen, daß αἰών im Timaios einfach die ge-
wöhnliche Bedeutung hat. Sicher nimmt dieses Wort im Platonischen Zusammenhang einen ausgezeichneten Sinn an — nicht umsonst heißt es ja, daß es unmöglich sei, dem Hervorgetretenen vollständig das Aonische zu verleihen. Aber zunächst ist es nicht nötig anzunehmen, daß das Zurückbleiben
der Darstellung gegenüber
dem
Original
in
diesem Fall das übliche Maß überschreitet. Auch wird sich schließlich die Übersetzung von αἰών durch Ewigkeit nicht als abwegig erweisen, aber dann wird man Ewigkeit eher als eminente Zeitlichkeit denn als Überzeitlichkeit verstehen müssen. ?7 S. Liddell-Scott,
A
S. 1102 und οὖν II S. 1271.
74
Greek-English
Lexicon,
Oxford
?1961,
unter
uév
B
II 2,
Natürlich kónnte man versuchen, die Übersetzung von αἰών durch Ewigkeit ganz zu vermeiden; man kann aber auch die eigentliche Auf-
gabe darin sehen, herauszufinden, welchen Sinn Ewigkeit als Übersetzung von αἰών haben muß. Zeigen nun alle Belege? daß αἰών
bis zu Platon — wie übrigens auch an den wenigen platonischen Stellen außerhalb des Timaios?? — durchaus nichts Überzeitliches meint,
so erhält der Aon doch gerade durch ihn als das Urbild der Zeit dieser
gegenüber einen Vorrang. Bei Platon vollzieht sich eine Wende im Verhältnis von Aon und Chronos: Konnte noch Euripides den Aon das Kind des Chronos nennen (’Aıwv τε Χρόνου παῖς, Her. 669), so sieht man nach Platon das Verhältnis anders, so daß schließlich bei Proclus die umgekehrte Formel auftritt: τὸν aiv αὐτον, ὅς ἐστιν τοῦ χρόνου πατήρ (Remp. II, p. 17.10 Kroll).
Will man diese Wendung erklären, so wäre es wohl verfehlt anzunehmen, daß Platon dem Terminus αἰῶν einen Sinn gegeben habe,
den dieser zuvor in keiner Weise enthielt, und den er, Platon, quasi außerhalb des Bezirkes dieses Wortes konzipiert habe. Einer solchen Auffassung scheint Degani zu huldigen, wenn er sagt, bei Platon sei der Unterschied zwischen zwei Typen von Zeit begrifflich und semantisch expliziert worden: „ed anche il tempo periechon acquista definitivamente un suo proprio nome: αἰών“.40 Wir folgen lieber Festugiére, der in seiner Arbeit „Le sens philosophique du mot AIO N**! versucht hat, schon vor Platon eine Entwicklung aufzuweisen, durch die
αἰών geeignet wurde, eine eminente Art von Zeitlichkeit, die wir nicht verkehrt Ewigkeit nennen, zu bezeichnen. Den Ansatz findet Festugiére darin, daß αἰών nicht nur die Lebenszeit irgend welcher irdischer Wesen, sondern auch die der Götter nennt. Deren Leben aber ist dem der anderen Wesen überlegen: es ist unverletzlich, unaufhórlich, unendlich. Zeus, heifit es bei Aischylos, regiert ein un-endliches Leben lang: δι᾿ αἰῶνος κρέων ἀπαύστον (suppl. 547). Es ist der Gedanke an ein überlegenes, alle Schranken übersteigendes Leben, der auch die Bedeutung von αἰών als der Form solchen
38 S. die Arbeiten von Lackheit, Benveniste, Festugiére, Degani. C. Lackheit, Aion.
Zeit und Ewigkeit in Sprache und Religion der Griechen, Erster Teil: Sprache, Königsberg 1916. Benveniste s. Anm. 54, Festugiére Anm. 41, Degani Anm. 40.
39 Gorg. 448 c 6, Nom. III 701 c 4. — Nom X 904 a 9 hat, wie oben besprochen, eine Sonderstellung. 40 F. Degani, AION
da Omero
ad Aristotele, Padova
41 In: La Parola del Passato 1949, S. 172 ff.
1961, S. 83.
75
Lebens über alle Maßen erweitert. Wenn dann der Kosmos selbst als Gott, als ein Lebewesen verstanden wird, so wird verständlich, daß
αἰών als dessen Lebenszeit zugleich die ganze, die allumfassende Zeit
meint. Dies ist zwar nicht Platons Meinung, auch wenn er der Weltseele ein solches unaufhórliches, alle Zeit umfassendes Leben zuschreibt: „Sie nahm den göttlichen Anfang für ein unaufhörliches und
vernünftiges Leben für alle Zeit“.*? Denn er unterscheidet Ja noch den
αἰών von
„aller Zeit“. Das Urbild selbst nur ist als Ewigkeit
αἰῶνα), wahrend
das Leben
des Kosmos
(πάντα
zu aller Zeit (τὸν ἅπαντα
χρόνον 38 c) diese nur unvollständig darstellt (37 d). Aber es hat doch
zweifellos solche Übergangsstufen gegeben, bei denen αἰών den Sinn von „alle Zeit“ annahm, weil alle Zeit eben die Lebenszeit jenes einzigen Lebewesens, des Kosmos, ist. So verweist Aristoteles in de caelo I 9 auf solche, wenn er sagt, daß von „den Alten“ αἰών als Name
sehr glücklich für das alle Zeit umfassende Leben des Kosmos benutzt
wurde. Er kann unter diese „Alten“
Platon schwerlich rechnen, nicht
nur wegen des mangelnden Zeitabstandes, sondern weil Platon ja ge-
rade αἰών noch vom Leben des Kosmos und dessen Zeit unterscheidet. Mit Sicherheit läßt sich als einer dieser Alten nur Empedokles be-
nennen. Bei ihm heißt es in Fragment 16: „Denn wie «diese beiden Kräfte
(Streit und Liebe)
» vordem
waren,
so werden
sie auch sein,
und nimmer, glaube ich, wird von diesen beiden leer sein die unendliche Lebenszeit“ (ἄσπετος αἰών, Übers. Diels-Kranz). Wenn man dieses Fragment nur für sich nimmt, so wird zumindest deutlich, daß αἰών hier offenbar die Zeit nach ihren verschiedenen Erstreckungen,
nach Vergangenheit und Zukunft zusammenfaßt. Daß diese ein Ganzes sind, ist ja keineswegs so selbstverständlich, wie es uns heute schei-
nen mag. Vielmehr ist es in der griechischen Frühzeit die Regel, dieses „Ganze“, Zeit, durch Aufzählen der Teile zusammenzustücken: τά τ᾽ ἐόντα tà τ᾽ ἐσσόμενα πρό τ᾽ ἐόντα (Il. I 70). Die Gliederung in Bereiche trat auch hier — wie es Snell für den Leib und seine Glieder gezeigt hat — stärker gegenüber dem Ganzen hervor. Der unermeßliche αἰών hat in dem angegebenen Empedoklesfragment dagegen
offenbar jene umfassende Kraft, die alle Zeit zu einem Ganzen macht.
Möglich wird dies dadurch, daß alle Zeit verstanden werden kann als eine — wenn auch unermeßliche — Lebenszeit. 42 δείαν
ἀρχὴν
χρόνον, Tim. 36 e.
76
ἤρξατο
ἀπαύστου
καὶ
Enpeovog
βίου
πρὸς
τὸν
σύμπαντα
Freilich hängt diese Interpretation von αἰών in der Luft, solange
man nicht den Nachweis von Festugiére hinzunimmt, daß diese eine
Lebenszeit die Lebenszeit des Σφαῖρος ist (aaO. 176 ff.). Die Sphäre ist
jenes göttliche Wesen, dessen unaufhörliches Leben von der wechselnden Auseinandersetzung von Liebe und Haß erfüllt ist. Wir sehen, daß Platon an eine Entwicklung
anknüpft,
durch
die
αἰών als das unendliche Leben des góttlichen Kosmos den Rang einer alles umfassenden Zeit gewonnen hatte. Man wird in der weiteren Auslegung des platonischen Textes zu verstehen haben, warum für ihn
das Leben des Kosmos die Idee des unendlichen Lebens nur unvollständig zur Darstellung bringen kann, bzw. umgekehrt, in welchem Sinne der Aon durch ihn eine weitere Steigerung erfährt, so daß er sich auch über die unendliche Lebenszeit des Kosmos erhebt. So viel aber ist unzweifelhaft: daß es die Idee des Lebens ist, von der her Ewigkeit und Zeit bei Platon ihren Inhalt erhalten.
III. Lebenszeit
Nach Festugiéres Untersuchungen hatte das Wort αἰών schon vor Platon einen kosmologischen Rang gewonnen. Diese Entwicklung läßt sich
ganz zwanglos aus dem gewóhnlichen Wortsinn von αἰών als Leben, Lebenszeit verstehen, insofern der Kosmos als lebendes Wesen begriffen wurde. Will man Platons Verwendung des Wortes aus dieser Entwicklung begreifen und nicht etwa aus der sich daraus ergebenden
Geschichte der Philosophie, so wird man gut daran tun, sich den ge-
wöhnlichen Wortsinn von αἰών vor Augen zu führen. Wir wollen das im folgenden tun, freilich ohne dabei die von Lackheit bis Degani geleistete philologische Arbeit zu wiederholen. Statt dessen wollen wir
eine Interpretation jener ersten Stelle geben, an der uns eine Reflexion auf die Bedeutung des Wortes αἰών überliefert ist, nämlich der schon einmal erwähnten Stelle in Aristoteles Schrift de caelo.
Zuvor müssen wir aber uns den methodischen Sinn dieses Vor-
gehens klarmachen. Was kann es austragen, die landläufige Bedeutung von αἰών auszumachen, wenn Platon diesen Ausdruck doch sichtlich in einem außerordentlichen Sinn verwendet? Selbst wenn diese landläufige Bedeutung geeignet war, sich zur kosmischen zu erweitern, ist
nicht Platons Redeweise durch eine Kluft gegen jede vorhergehende
77
Entwicklung abgegrenzt, wenn αἰών durch ihn eine überschwengliche, eine metaphysische Bedeutung annimmt? Schliefilich: Sollte der αἰών, dasjenige, was nach Platon als Urbild das Wesen aller Zeit ausmacht,
von einem besonderen ,Typ^ von Zeit, von der Lebenszeit her, zu
verstehen sein?
Gerade dieses ist die These, die unsere Interpretation erweisen soll.
Indem Platon die Zeit ein Abbild des αἰών nennt, indem er also feststellt, daß die Zeit nur vom αἰών her verständlich wird, unternimmt er den Versuch, ein zunächst Unbekanntes
und
schwer Zugängliches,
nämlich jenes Paradeigma Aon durch einen Zeitausdruck metaphorisch zu erhellen. Dabei kommt alles darauf an, die systematische Bedeutung platonischer Metaphorik zu begreifen, — was bisher sicherlich nicht
geleistet ist.*® Sicherlich ist auch für Platon die metaphorische Redeweise ein Weg, dem nicht philosophisch geschulten Leser etwas bild-
haft und durch geläufige Ausdrücke nahezubringen. Wollte man aber unterstellen,
daß
Platon
dadurch
einen Verzicht
auf Klarheit und
philosophische Strenge der Aussage geleistet hätte, daß er sich un-
eigentlich ausgedrückt habe, wo er streng hätte sprechen können, so würde man eben die systematische Notwendigkeit der Metapher verkennen. Dann wäre die Kritik des Aristoteles berechtigt der sagt,
„alles nämlich ist unklar, was metaphorisch gesagt ist“.** Wir haben
dagegen in unserer Untersuchung des εἰκὼς λόγος gezeigt, daß dieser
als methodisches Prinzip gerade darin besteht, aus dem landläufig
Bekannten, aus dem physisch Gegebenen jenes Urbildhafte zu erken-
nen, als dessen Darstellung es verstanden werden muß. Dieses Vorgehen erwies sich nicht als eine vermeidbare Schwäche der Erkenntnis,
sondern als das notwendige Nachzeichnen jenes ontologischen Verhältnisses von denkbarem Paradeigma und sinnlich wahrnehmbarer
Darstellung, das die Wirklichkeit nach platonischer Lehre konstituiert. Die metaphorische Benennung des paradeigmatischen Bereiches ist in
diesem methodischen Rahmen nicht eine Schwäche des Ausdrucks oder
der Sprache allgemein, sondern sie dient eben jenem Aufsuchen des Urbildes von seiner sinnlichen Darstellung her. Es ist — so gesehen —
nicht anstößıg, sondern vielmehr gefordert, den platonischen Aon vom
533 Auch nicht durch C. J. Classen, Sprachliche Deutung als Triebkraft platonischen und
sokratischen
Philosophierens,
Zetemata
22,
München
1959.
Classen
kommt
über eine philologische Durchmusterung platonischer Metaphorik nicht hinaus. 44 πᾶν γὰρ ἀσαφὲς τὸ κατὰ μεταφορὰν λεγόμενον. Top Z 2, 139 b 34 f.
78
landläfıgen Wortsinn her zu Wortes ist als eine Anweisung gewöhnlichen Erfahrung der als dessen mehr oder weniger greifen ist. Wir wenden uns jetzt der wegen
der
Diskussion
des
erschließen. Platons Verwendung dieses für die Erkenntnis aufzufassen, von der Lebenszeit her jenen Äon zu erreichen, zureichende Darstellung die Zeit zu beStelle in de caelo zu. Sie ist nicht nur
Wortes
αἰών,
sondern
auch
thematisch
aufs engste dem Timaios verbunden. Es geht dort im Kapitel A 9
nàmlich um
die Einzigkeit, Ewigkeit
(ἀίδιος), Ungewordenheit
und
Unzerstórbarkeit des Kosmos. Anders als bei Platon folgt die Ein-
zigkeit des Kosmos nicht aus seiner Idee, sondern daraus, daß er alle Materie umfaßt. Dieses, daß außerhalb des Kosmos keine Materie existiert, ist ebenso der Grund für dessen Autarkie und Leidlosigkeit, wie dafür, daß es außerhalb des Kosmos weder einen Ort noch Zeit gibt. „Die Zeit ist doch Zahl der Bewegung: und Bewegung ohne einen physischen Körper gibt es nicht“ (279 a 14—16). Deshalb kann
Aristoteles seine Untersuchungen positiv mit dem Satz beschließen:
„Unveränderlich und leidlos hat er (d. ἢ. der Himmel im Sinne von das „All“, 278 b 20) das beste und unabhängigste Leben und durchlebt dieses Leben den ganzen Aon hindurch“ (279 a 20—22). Hier wird also vom Kosmos selbst gesagt, was Platon für dessen Paradeigma
reservierte, daß er „durch den ganzen Aon hindurch“
ist. Man hat
sogar das Gefühl, daß dies mit einer gewissen Spitze gegen Platon ge-
schieht. Denn diese Verwendung des Wortes wird ganz besonders betont, indem gleich im nächsten Satz unterstrichen wird, wie glück-
lich es die „Alten“ mit eben dieser Verwendung des Wortes getroffen hätten, — worauf dann eine Erläuterung des Wortsinnes von αἰών folgt: „Dieses Wort ist nämlich äußerst glücklich (göttlich) von den
Alten ausgesprochen worden“ (279 a 22 f.). Aristoteles schlägt sich hier
auf die Seite dieser Alten und verteidigt sie offenbar gegen Neuere,
insbesondere gegen Platon als deren Haupt. Dabei ist sicherlich die darauf folgende Erläuterung des Wortsinnes das, worauf man sich
daß
einigen
man
es
kann,
auf
nur
ein
schließt
dieser
„Abstraktum“
eben
wie
die
für
Aristoteles
Idee
des
aus,
Kosmos
anwendet. „Denn das vollendet Ganze (τέλος), das die Zeit des Lebens eines
jeden einzelnen (Lebenswesens) umfaßt, außerhalb deren es der Natur nach nichts gibt, wird der αἰών jedes einzelnen genannt“ (279 a 23 bis 79
25). Dieser Satz ist sehr komprimiert und bedarf einiger Interpretation. Zweierlei scheint für den Begriff des αἰών entscheidend zu sein:
Daß er zum Sein des Lebendigen gehört und daß er ein umfassendes
Ganzes ist. Was ist das umfassende Ganze, τὸ τέλος τὸ περιέχον, eines Lebewesens? Offenbar ist es nicht das Zeitquantum, das das Lebewesen durchlebt hat. Denn einerseits wird hier die ,Zeit des Lebens eines jeden einzelnen (Lebewesens)* nicht als das Umfassende sondern als das Umfaßte genannt, und andererseits wüßte man nicht, woher diese
Zeit als bloßes Quantum genommen jenen Einheits- und Vollendungs-
charakter hernehmen sollte, der dem αἰών durch den Ausdruck τέλος zugeschrieben wird. Es ist der αἰών, der der Zeit eines Lebewesens Einheit verleiht, indem er sie umfaßt. Wenn man also αἰών mit Leben und Lebenszeit übersetzt, so ist das Leben gegenüber der Lebenszeit als das Primäre anzusehen. Leben
heißt als Übersetzung von αἰών soviel wie , Lebensganzheit* und nicht
soviel wie „Lebensvollzug“. αἰών ist nicht ζῆν. Man kann sein Leben, seinen αἰών durchleben, aber was man durchleben kann, ist einem vorgegeben, es bestimmt sich aus der Natur des Lebens, aristotelischer formuliert, aus der Natur des einzelnen Lebewesens.
Wenn Aristoteles sagt, daß es außerhalb der durch den αἰών zugemessenen Lebenszeit für das einzelne Lebewesen nichts gibt, so kann
das den trıvialen Sinn haben, daß mit dem Tod eben das Leben zu Ende ist. Dies ist aber offenbar nicht das, was Aristoteles sagen will. Zwar redet er vom einzelnen Lebewesen (ἕκαστον) und dessen Lebenszeit. Das aber, was das einzelne Lebewesen nicht zu überschreiten vermag, bestimmt sich nicht aus den zufälligen Lebensumständen dieses einzelnen Lebewesens, sondern aus dessen Natur (κατὰ φύσιν). Es kann also durchaus sein, daß man faktisch seinen αἰών nicht vollendet, man kann gewaltsam (παρὰ φύσιν) seines aiv beraubt werden. Was der
αἰών umfaßt, ist also weder primär die faktische noch die durchschnittliche, sondern die natürliche Lebenszeit. Wenn αἰών selbst den Sinn von Lebenszeit annimmt,
so hat man
dabei nicht in erster Linie an ein bestimmtes Zeitquantum zu denken,
sondern man muß die Zeit begreifen als etwas, das ein Quantum bestimmt. Es ist für uns äußerst schwer, die Zeit so, das heißt von der
45 Odyssee, 1 523, „at γὰρ δὴ ψυχῆς τε καὶ αἰῶνός oe δυναίμην εὖνιν... .* A. Weiher übersetzt, „Könnt ich die Seele, die Tage des Lebens so dir entziehen... .“
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Lebenszeit her, zu denken. Die Zeit ist für uns so sehr ein abstraktes Medium geworden, in das hinein man lebt, so sehr ein abstraktes Maß,
das unser Leben der Ausdehnung nach bestimmt, daf$ wir die Frage
vergessen, wie sich der Lebensraum auftut, und woher das Lebensmaß stammt. Für Aristoteles wie für Platon ist es das Leben, das sich seine
Zeit schafft. Wir werden spáter noch einmal auf die Frage zurückkommen, wie das zu denken ist.
αἰών als natürliche Lebensganzheit kann als ein Zeitmaf dienen. So
kann man
etwa
sagen, daß eine Brücke ein Menschenalter gehalten
habe.*6 Niemals aber wird in solcher Verwendung an eine abstrakte Zahl von Jahren, sagen wir 70, gedacht. Immer wird in dem so verstandenen Begriff der Lebenszeit das Leben mitgedacht. Wenn man den αἰών als das Maß des Seins eines Lebendigen auffassen kann, ist Maß zu verstehen als die aus seiner Natur bestimmte Einheit dieses Seins, nicht als von außen bestimmtes Quantum.
Wir verstehen in der Aristotelischen Bestimmung des Sinnes von
αἰών den Terminus τέλος also als Bezeichnung der Lebensganzheit. Der αἰών als τέλος ist jenes Ganze, das alles umfaßt, was zum Leben in sei-
nem natürlichen Ablauf gehórt. Es ist nun nicht ganz ausgeschlossen,
daß Aristoteles mit τέλος einfach Anfang und Ende des Lebens meint. Geburt und Tod sind es doch, die das Leben des Lebewesens und seine Zeit umfassen. Dabei brauchen wir gar nicht die eben abgewehrte
Meinung wieder zulassen, es handele sich bei der von αἰών umfaßten Lebenszeit um die zufällig und individuell bestimmte: Geburt und Tod umfassen ja nicht nur faktisch, sondern auch der Natur des Lebens
nach das Ganze des Lebens. Auch spricht für diese Auslegung, daß Aristoteles in de caelo A 9 Ort und Zeit weitgehend parallel behandelt.
Ort aber wird selbst als ein Umfassendes definiert, genauer als „die
primäre, unbewegte Grenze des Umgebenden“ (Phys. A 4, 212 a 20). τέλος kann sehr wohl die äußerste Begrenzung bedeuten, der Tod durchaus als τέλος des Lebens verstanden werden. Das zeigt gerade jener Satz, mit dem Aristoteles sich gegen eine solche verkürzende Auslegung des Lebens-Telos wendet: In der Physik zitiert er einen Dichter, der beim Tod eines Mannes ausgerufen hatte: „Da hat er das Ende, um dessentwillen er entstanden ist“, und meint, der Dichter habe durch 46 Bei Empedokles
(B 129) ist von einem Seher die Rede, der 10, ja 20 Menschen-
leben überblickt: τῶν ὄντων πάντων
λεύσσεσκεν
ἕκαστον
καὶ τε δέκ᾽ ἀνθρώπων
καί τ᾽ εἴκοσιν αἰώνεσσιν.
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diesen Spott sagen wollen, daß „nicht jedes Außerste Telos sei, sondern das Beste“ (Phys. B 2, 194 a 31 ff.). Ein Leben, das zu Ende gegangen ist, kann eben durchaus unerfüllt geblieben sein — auch im natürlichen
Sınne. Ein Leben hat sich im natürlichen Sinne erfüllt, ist zu einem Ganzen geworden (διατέλει), wenn es alle Phasen des Lebenszyklus durchlaufen hat. Wir meinen also, daß der αἰών ein umfassendes
Vollendetes (τὸ τέλος τὸ περιέχον) ist als jenes Ganze, das alle zum Leben seiner Natur nach wesentlichen Phasen enthält. Diese Phasen sind
die verschiedenen
alter, die verschiedenen
Lebensalter
„Zeiten“
—
Jugend,
äxun,
Greisen-
des Lebens. Der αἰών ıst das Ganze
aus diesen Zeiten, er umfaßt sie alle und macht sie zu einer Lebenszeit.
Wir verstehen also den αἰών nach Aristoteles als das nach Phasen
gegliederte vollständige Lebensganze,
das die Zeit eines Lebendigen
aufspannt und umfaßt. Wir müssen jetzt zu verstehen suchen, warum nach Aristoteles es sinnvoll, sogar äußerst glücklich ist, diesen
Begriff auf das Weltall im Ganzen anzuwenden. Die Begründung dafür gibt Aristoteles nun im folgenden Satz: „Nach demselben Verhältnis ist das vollendete Ganze (τὸ τέλος) des Weltalls und das voll-
endete Ganze (τὸ τέλος), das alle Zeit und die Unendlichkeit umfaßt ein αἰών, vom Immer-Sein her trägt es diesen Beinamen, unsterblich und göttlich wie es ist.“ (279 a 25—28).
Wenn Aristoteles anhebt „nach demselben Verhältnis“, dann erwar-
tet man eigentlich, daß das Weltall als Lebewesen eben auch seinen αἰών hat, und daß dieser dann mit der Lebenszeit eben dieses umfas-
sendsten Lebewesens alle Zeit umfaßt. Aber dies sagt Aristoteles nicht,
und zwar — wie wir meinen — aus einer gewissen Verlegenheit nicht.
Er spricht zwar von der vollendeten Ganzheit des Weltalls, ohne freilich diese Ganzheit — etwa in dem Lebewesen-Sein zu begründen. Statt dessen nimmt er plótzlich Zuflucht zur Etymologie — unbeküm-
mert um seine soeben gegebene Erklärung des Sprachgebrauches — und bestimmt die Bedeutung des Wortes αἰών aus der Zusammensetzung von ἀεί und óv.*?? Das Weltall ist unsterblich und göttlich, ein Immer-
Seiendes und umfaßt als solches alle Zeit. Schlechte Unendlichkeit
würde Hegel ein solches umfassendes Ganzes nennen.
41 Diese Etymologie findet sich auch sonst in der Antike (z. B. Plotin III 7; 4 u. 6, Proclus III 15 ff.). Sie ist aber falsch. αἰών und αἰεί haben eine gemeinsame Wurzel, αἰών ist nicht von αἰεί abgeleitet. S. dazu Benveniste sub. l. c. Anm. 54.
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Wir brechen hier ab, um zu Platon zurückzukehren. Was bedeutet
es nach den Erklärungen von αἰών, daß Platon das Wesen der Zeit
als αἰών bestimmt? Es bedeutet, daß Platon die Zeit von einem bestimmten Zeittyp, nämlich der Lebenszeit, her begreift. Die Lebenszeit zeichnet sich dadurch aus, daß sie vom Leben her, das sie aufspannt, ein natürliches Ganzes ist. Wenn Platon den χρόνος vom αἰών her zu verstehen sucht, so sucht er dabei nach etwas, das alle Zeit zu einem Ganzen machen kann. Dies wäre geleistet, wenn sıch alle Zeit
als ein einziger großer αἰών auffassen ließe. Das gelingt aber offenbar nur unvollständig. „Nun ist das Wesen des Lebendigen aber äonisch, und
dies dem
Hervorgetretenen
ganz
zu gewähren
war
allerdings
nicht möglich“ hieß es ın unserem Text. Wir sehen jetzt den äonischen Charakter des Lebendigen darin, daß ihm eine einzige nach Phasen
gegliederte Ganzheit seines Seins zukommt, über die hinaus für dieses Lebende nichts möglich ist. Nun verstand Platon zwar den Kosmos
als ein Lebewesen. Alle Zeit aber als eine einzige Lebenszeit zu be-
greifen, dem widerstrebt offenbar jene schlechte Unendlichkeit, die später — wie wir sahen — Aristoteles in Verlegenheit versetzte. In christlicher Zeit mochte man unter der Konzeption der Heilsgeschichte
alle Zeit zu einem einzigen Sinnzusammenhang zusammenfassen —
so konnte sie Augustin der Zeit eines Liedes vergleichen*? —, für Pla-
ton aber mußte sie sich als die endlose periodische Wiederholung von himmlischen Bewegungen darstellen. Er hätte sie allenfalls viele oder
unendliche Äonen nennen können, wenn etwa das große Jahr als ein Aon gefaßt würde. So aber ist die Zeit nicht ein Áon, sondern stellt nur durch die Folge von Perioden einen Aon, den Aon des Lebewesens selbst unzulänglich dar. Die Zeit ist eine Darstellung des Aon, indem sie durch periodische Wiederholung ihrer Phasen jene Ganzheit nachzuahmen trachtet, die
nur dem Lebenszusammenhang eines einzigen Lebewesens zukommt.
Dieses Darstellungsverhältnis ıst nahe verwandt mit der Weise, ın der die sterblichen Lebewesen nach der Lehre des Symposion die Unsterblichkeit nachzuahmen — bessen auch hier: darzustellen — trach-
ten, nämlich durch Fortpflanzung, also periodische Wiederherstellung
ihrer Art. Diesen Gedanken fand Platon bereits vorgezeichnet in Empedokles’ Gedicht περὶ φύσεως. Dort heißt es von den durch Liebe und Haß ver48 Confessions XI 28 (38).
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bundenen und getrennten Elementen: ,Insofern aus dem zergangenen
Einen mehreres hervorgeht, insofern werden sie und haben keinen un-
versehrten Aon; insofern aber ihr ständiger Tauschwechsel hört, insofern sind sie unbeweglich im Sinne des Kreises“ 13). Hier wird also festgestellt, daß es für die Elemente ständigen Wechsels keinen integren Aon gibt. Aber sie
nimmer auf(B 17, 10 — wegen ihres zeigen doch
dem Aon Verwandtes, indem ihre Umwandlung periodisch verläuft. 516 sind unbeweglich — unsterblich heißt es im Symposion — in dem
Sinne, in dem ein Kreis unbeweglich ist, der in sich selbst rotiert. Auch
hier bei Empedokles schon wird der Aon nachgebildet durch periodische Bewegung. Wir haben damit die Beziehung des αἰών zum χρόνος so weit geklärt,
als es ohne Berücksichtigung der Zahl móglich war. Dabei glauben wir
nicht schon, den Aon für sich erfaßt zu haben. Dies ist ein „spekulatives“ Thema und der Timaios gibt wenig Handhaben dazu, es anzugreifen. Sicherlich ist der Aon im Lebewesen selbst etwas gegenüber der Lebensganzheit innerweltlicher Lebewesen überschwengliches, erhabenes. Wir werden in dem Exkurs über Plotins Platonauslegung Gelegenheit haben, dem nachzuspüren. Für jetzt wollen wir davon absehen und als unser Ergebnis nur so viel feststellen, daß es die Funktion
Ganzes
machen.
des
Aon
in Analogie
als
eine
Urbildes
zur Ganzheit
der
Zeit
ist,
diese
als
der Lebenszeit verständlich
ein
zu
IV. Exkurs: Plotins Auslegung von Platons Zeitlebre
und die Idee des Lebens
Wenn wir uns jetzt Plotins Enneade „Über zuwenden, so nicht nur aus dem Wunsch, die spekulative Dimension zu bereichern, Ausleger als Zeugen für unsere bisherige
Ewigkeit und Zeit“ (III 7) unsere Überlegungen durch sondern um diesen antiken Interpretation anzuführen.
Plotin verstand sich selbst — und wohl zu recht — als genuinen Platonausleger, er stand in der ungebrochenen Tradition antiker philo-sophischer Überlieferung, die griechische Sprache war die Sprache seines eigenen Philosophierens. Es ist deshalb für uns, die wir all dies nicht für uns in Anspruch nehmen können, von großem Wert zu sehen, welche Bedeutung er dem Begriff des Lebens für die Platonische 84
Zeitlehre gibt. Denn eben dies ist es, was unsere bisherige Untersuchung darzulegen trachtete. Was den Unterschied der Plotinschen Abhandlung zu Platons Lehre im Timaios bedingt, ist vor allem die Nachträglichkeit. Zwar wendet sich Plotin „zu den Sachen selbst“, er ist nicht ein gewöhnlicher Interpret oder Kommentator,
aber diese Sachen waren eben doch vor ihm
von Platon aufgewiesen, die sprachlichen Mittel, sie zu bezeichnen, durch den Platonischen Text gegeben. So ergibt sich eine eigentüm-
liche Festigkeit und Bestimmtheit der Lehre, die der Platonischen Philosophie fremd ist. Was sich bei Platon eben in Andeutungen hervorhob, was versuchsweise in Metaphern unterschieden wurde, hat
sich bei Plotin zu einem großartigen metaphysischen Sinnlichen und Übersinnlichen entwickelt. Von dieser wird auch das Verhältnis von αἰών und χρόνος ergriffen. bei Platon erstmalig als Urbild hinter der Zeit erschien,
System vom Entwicklung Der Aon, der hat nun sein
selbständiges Wesen, Rang und Würde als Bestandteil des Jenseitigen
erlangt. Für Plotin gilt es daher, zuerst den Aon für sich zu betrachten,
wenn
man
die Zeit verstehen
will.
, Wenn
nàmlich
das erkannt
ist,
was für das Urbild steht, dürfte wohl auch das Wesen des Bildes, wofür sie die Zeit halten, deutlich werden“ (III 7; 1 Übers. Beier-
waltes). Zwar gesteht er noch zu, daß es einem von der Zeit anfangend
gelingen
könnte,
„das Urbild
zu sehen . . . ., wenn
anders
die
Zeit eine Ähnlichkeit mit der Ewigkeit hat“, aber das ist für ihn der
geringere Weg.
Neben der Verselbständigung des Aon ist als charakteristisch für die Plotinsche Auslegung der platonischen Lehre zu nennen, daß der
Zusammenhang von Zeit und Gestirnsbewegungen weitgehend gelóst ist, und daß die Zahl aus dem Begriff der Zeit verschwindet.*? Nicht
mehr
in den Gestirnsbewegungen
ereignet sich die Darstellung des
Aon, sie sind vielmehr nur noch als Äußerungen des an sich inneren Lebens der Seele von Bedeutung, so wie die Bewegung der Beine, die Bewegung des Gemütes spiegelt, die sie veranlaßt (III 7; 13). Die
Gestirnbewegungen werden in ihrer Bedeutung auf jene Funktion reduziert, die sie auch schon bei Platon haben, nämlich die Zeit sinnfällig zu machen (III 7; 12). Wir werden, gerade weil wir ähnlich wie Plotin die Zeit von der Idee des Lebens her verstehen wollen, umso 19 Siehe S. 284
Plotin,
Über
Ewigkeit
und
Zeit,
ed.
W. Beierwaltes,
Frankfurt
1967,
ad 13, 18—30.
85
größere Sorgfalt darein legen müssen, die Bedeutung geregelter Bewegung und der Zahl für die Darstellung dieser Idee zu bewahren.
Die Hypostasierung des αἰών erlaubt Plotin das Verhältnis von
παράδειγμα und εἰκών sehr viel direkter zu nehmen, als wir es in unse-
rer Darlegung des εἰκὼς λόγος als eines methodischen Prinzipes getan
haben. Während wir bei Platon gezwungen waren, von einem innerweltlich bekannten Zeittyp, der Lebenszeit, her den αἰών als Sinn oder Wesen der Zeit zu erkennen, das in der Weltzeit im ganzen seine
Darstellung findet, ohne in diesem Zirkel der Interpretation den Aon
als Wesen für sich festhalten zu kónnen, hat es Plotin wirklich mit zweierlei zu tun: „Ewigkeit und Zeit nennen wir verschieden voneinander“, so kann er seine Abhandlung beginnen. Sie sind beide im
Grunde dasselbe — nämlich Leben — nur in verschiedenen Bereichen. Der Aon gehört dem Bereich des Immer-Seienden an, er ist das Leben
des Geistes, der Chronos gehórt dem Bereich dieses Alls hier (τόδε τὸ πᾶν) an, er ist das Leben der Seele.
, Wenn
. .. . die Zeit aber Bild der
Ewigkeit sein soll, gemäß dem Verhältnis dieses Alls zu Jenem, dann muß man statt des Lebens dort ein anderes gleichsam namensgleiches Leben einsetzen, das der hiesigen Kraft der Seele eigen ıst“ (III 7; 11 Übers. Beierwaltes). Wenn man erst einmal den Xon erkannt hat,
dann läßt sich auf Grund
negativer und positiver Entsprechungen
sagen, was die Zeit ist, von Entsprechungen, auf Grund deren sie wür-
dig ist, den gleichen Namen zu tragen, nàmlich Leben.
Was aber ist der Aon, was ist dieses Leben im noetischen Bereich? Plotin findet durch direkte Einsicht (εἰσαϑρήσας) in den Aon in ihm: Sein, Ständigkeit, Bewegung, Selbigkeit und Andersheit, also die fünf obersten Gattungen des platonischen Sophistes. Er fährt fort: „Wenn
er (der Einsichtige) dies aber wiederum zusammen zur Einheit fügt, so daß es zugleich ein einziges Leben ist, wenn er in diesem die Andersheit aufhebt und die unaufhörliche Tätigkeit und das Selbe und das
niemals Andere und das Denken oder Leben, das nicht vom Einen zum Anderen fortgeht, sondern das Unveränderliche und immer Unausgedehnte — wenn er dies alles sieht, sieht er Ewigkeit (αἰών): Leben (ζωή) * (III 7; 3). Negativ kann man sagen, daß αἰών, Leben im noetischen Bereich, nicht einfach das Sein des Seienden ist, auch nicht dessen Beharrlichkeit, auch nicht die Identität; daß weiter das Seiende nicht lebend heißt, weil es bewegt ist, sondern bewegt ist, weil es lebt. Posi-
tiv, daf der Aon als eine Synthesis der fünf obersten Gattungen zu 86
verstehen ist, eine Art Zusammenspiel, eine innere Dialektik des Seins. Wir wollen nun, dem Verweis des Plotin auf den Dialog Sophistes folgend versuchen, dieses Zusammenspiel der fünf obersten Gattungen zu entwickeln. Wenn wir uns dabei selbst ein Stück weit auf Speku-
lation einlassen, so deshalb, weil sich nach dem Text des Timaios in der Tat von den fünf obersten Gattungen her ein Verständnis für die
Natur des Lebewesens selbst gewinnen lassen muß. Denn von der Weltseele heißt es dort, daß sie aus einem Gemisch der obersten Gat-
tungen und einer nach bestimmten Verhältnissen durchgeführten Teilung der Gemische hervorgetreten ist. Nun ist sicher diese etwas spróde mathematische Darstellung der Weltseele nur eine Art Veranschaulichung des Zusammenspiels jener obersten Gattungen in der Natur der Seele. Da aber das Wesen der Seele nach Nom. X im Leben besteht (Nom. X 895 c) und die Weltseele als Darstellung des Lebewesens
selbst hervorgetreten ist, so muf$ die Natur des Lebewesens selbst in jenes Zusammenspiel der obersten Gattungen gesetzt werden, als des-
sen Darstellung die Seele im Timaios erscheint.
Die größte Schwierigkeit für eine Einsicht in die Natur des Lebewesens selbst besteht darin, daß es schwerfällt, Leben und Bewegung mit etwas zu verbinden, das — dem paradeigmatischen, dem noetischen
Bereich angehórig — als unveränderlich gilt. Sicherlich entspringt diese
Schwierigkeit
einem
Philosophie, man
mag
unzureichenden
Verständnis
sich aber damit
der
platonischen
trösten, daß es im Dialog
Sophistes gerade die Ideenfreunde sind, denen sie in den Mund gelegt wird. Sie sträuben sich nämlich dagegen, Sein als Vermögen (δύναμις)
zu definieren, weil das bedeutet, daß es tun, leiden und sich bewegen
kann. Sie sagen: „Daß
dem Hervortreten zwar das Vermögen zu tun
und zu leiden zukommt, daß aber zum Sein das Vermögen zu keinem von beiden paßt“ (Soph. 248 c). Nun ist sicherlich wahr, daß es Ver-
änderungen allerdings nur dort gibt, wo Hervortreten und Verschwinden stattfindet — es gilt also, Bewegung so zu denken, daß sie Veranderung nicht impliziert.
Wir beginnen am zweckmäßigsten bei jener Definition von Sein als
Vermögen etwas zu erleiden oder zu tun, auf die der Fremde im Sophistes die Materialisten und die Ideenfreunde zu einigen vermag. Jener erwähnte Widerstand der Ideenfreunde wird durch den Hinweis spielt, daß das Seiende, indem es erkannt wird, doch zumindest etwas ausgeräumt oder im Gespräch doch wenigstens durch den Satz über-
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erleidet. Damit ist bereits ein Beispiel für Bewegung ohne Veränderung
gegeben. Das Seiende jedenfalls ändert sich nicht dadurch, daß es er-
kannt wird, und auch für das Erkennende kann man mit einer entspre-
chenden Erkenntnistheorie — etwa der Anamnesislehre— Entsprechen-
des behaupten. Ferner sehen wir sogleich die Beziehung der so verstandenen Bewegung zum Sein. Denn die Bewegung, hier die Erkenntnis,
ist doch offenbar in den beiden Aspekten des Erkanntwerdens und des
Erkennens die gemeinsame Wirklichkeit jener beiden aufeinander be-
zogenen Vermögen, des Erkanntwerden- und des Erkennen-Kónnens.?? Es springt in die Augen, daß in diesem Begriff von Bewegung der Ursprung der Aristotelischen ἐνέργεια zu sehen 1st. Auch in der deutschen Sprache dürfte Wirklichkeit für κίνησις in diesem Zusammenhang die
richtige Übersetzung sein.
Zum Sein gehórt also auch in einem bestimmten Sinne Bewegung.
Platon fügt nun sogleich die Ruhe (στάσις) hinzu, den gewóhnlichen Gegensatz
zur Bewegung
benutzend,
wenngleich
sich herausstellen
wird, dafs dieser Gegensatz ebenso wie Bewegung selbst nicht im gewöhnlichen Sinne zu verstehen ist. Ruhe gehört zum Sein, weil es sie das κατὰ ταὐτὰ xai ὡσαύτως xai περὶ τὸ αὐτὸ, das ,nach selben“, das „ın derselben Weise“, das „ım Umkreis desselben“ gäbe (249 b). Ohne diese Bestimmungen aber wäre wiederum kenntnis des Seienden nicht möglich. Wir bemerken nach dieser
ohne demnicht Ermehr
formalen Einführung von στάσις, daß Ruhe und Bewegung so verstanden kaum in einer direkten Beziehung, geschweige denn in einem
Gegensatz zu stehen scheinen. Bewegung scheint mehr in der Seiend-
heit als solcher, Ruhe in der Selbigkeit ihren Ursprung zu haben. Gleichwohl werden später wieder unter Benutzung des gewöhnlichen Gegensatzes von Ruhe und Bewegung von Platon formal Selbstheit (ταὐτόν) und Andersheit (τὸ ἕτερον) eingeführt. Wir wollen diesen
Weg nicht nachzeichnen, sondern zur Anfangsdefinition zurückkehrend
das Zusammenspiel der fünf Gattungen aufweisen. Die erste Formulierung der Definition lautet: „Ich sage aber, daß, was immer ein Vermögen irgendetwas anderes zu bewirken oder das Geringste durch
das Schwächste zu erleiden hat, und wäre es auch nur einmal, daß jedes
solche wirklich sei* (247 d, e). Man sieht, daß mit der Definition von Sein als Vermógen zugleich ein anderes, das ἕτερον mitgesetzt ist. Sein 50 Vgl. Arist. Phys. Γ 3.
68
als Vermögen ist immer Vermögen zu etwas anderem, Seiendes steht schon als Seiendes in Beziehung zu anderem. Man fragt sich natürlich, ob das notwendig ist, ob nicht δύναμις als reiner Selbstbezug möglich wäre. Aber so soll es offenbar nicht verstanden werden. Seiendes ist immer schon Seiendes unter anderem und ist solches durch seinen möglichen ,affektiven* Bezug (ποιεῖν — πά-
oxew) auf dieses. Man könnte den Grund für die Gleichursprünglichkeit des Anderen darin sehen, daß nur dadurch das Möglichkeitsmoment im Sein denkbar ist, denn unvermittelter Selbstbezug, d. h. solcher der nicht über das Andere ginge, wäre stets reine Wirklichkeit. Nur dadurch, daß auch anderes ist, gibt es so etwas wie Vermögen, Innerlichkeit, Selbstheit.
Sein als Vermögen enthält also immer den Bezug auf Andere, weil
Vermögen immer ein Vermögen etwas anderes zu bewirken oder zu erleiden ist. Zugleich aber ist mit dem Vermógen auch κίνησις im Sinne
von Wirklichkeit gesetzt. Denn Bewirken und Erleiden sind die beiden
auf das aktive und passive Glied des Vermógens,
das eine und das
andere, bezogenen Aspekte der Wirklichkeit. Warum, kónnte man im Blick auf Aristoteles fragen, definiert Platon Sein nicht als Wirklichkeit? Wir haben diese Frage — freilich von anderer Seite kommend — eigentlich schon beantwortet. Wir hatten festgestellt, daß der Bezug auf anderes für Sein wesentlich ist, damit das Möglichkeitsmoment im
Sein festgehalten wird. Hier können wir umgekehrt sagen, daß offen-
bar für Platon Möglichkeit und nicht Wirklichkeit das Wesentliche ım Sein ist, weil sonst die Mannigfaltigkeit des Seienden verschwinden würde. Im Vermögen nämlich wird das Einzelne für sıch festgehalten,
in der Wirklichkeit geht es über in die Ununterscheidbarkeit gegen
anderes. So hat — um beim Beispiel zu bleiben — das, was erkennen kann, seine Móglichkeit und damit im Sinne des Sophistes sein Sein für sich; und ebenso hat das, was erkannt werden kann, seine Móglichkeit und sein Sein für sich. Die Wirklichkeit aber, die Erkenntnis, ist beiden gemeinsam. Setzte man Sein als Wirklichkeit, so verschwände offenbar die Vielheit. Nur qua Möglichkeit ist Seiendes es selbst und gegen anderes abgesetzt.
Man sieht schon, wie die Selbstheit mit dem Sein als zusammenhängt. Selbst ist das Seiende, was es ist, soweit derem nicht in wirkliche Beziehung tritt. Wir werden gebnis aber in größerer Plastizität erreichen, wenn wir
Vermógen es mit andieses Erzuvor da-
89
nach fragen, was στάσις als Grundzug des Seienden für eine Bedeutung
hat.
Wie bei κίνησις der Sinn Veränderung fernzuhalten war, so wird man στάσις schwerlich verstehen, wenn man das darin angesprochene
Bleiben von Nicht-Veränderung her auslegen will. στάσις als Gegen-
satz zur Kinesis ist hier eher als Inaktivität zu denken. Freilich ist στάσις nicht bloß Nicht-Aktivität. Sie ist Ruhe, In-sich-beruhen, Sein
als Ständigkeit, Bestand. Das muß noch näher von der χίνησις her
erläutert werden. κίνησις als Wirklichkeit des Seienden bestimmt dieses
jeweils durch den aktuellen Bezug auf anderes. Im Bereich des Sinn-
lichen ist das besonders deutlich: Holz brennt, wenn es mit Feuer in
Berührung kommt, es schwimmt, wenn es im Wasser ist. Welche Mög-
lichkeit eines Seienden aktiviert ist, hängt nicht von ihm ab, in seiner Wirklichkeit ist es unselbständig. Das trifft auch auf das eigentlich Seiende zu. So ist es bekannt nur, insofern eine Seele es erkennt.
In Wirklichkeit ist das Seiende unselbständig, unstet, es verhält sich nicht immer gleichmäßig. Von daher erhebt sich die Frage, was das Seiende an ihm selbst, was es ständig ist, was es in immer gleicher
Weise 1st. Dieses wird mit dem Terminus
στάσις genannt. στάσις ist
das selbständige Sein des Seienden, dem gemäß es sich immer κατὰ
ταὐτὰ καὶ ὡσαύτως καὶ περὶ τὸ αὐτὸ, nach demselben in gleicher Weise und im Umkreis desselben verhält. στάσις ist das Sein des Seienden,
insofern es als Vermógen in sich selbst beruht. Als stándiges ist das Seiende selbes (ταὐτόν).51
Wenn man die vielfältigen Beziehungen und das wechselseitige Ineinander-übergehen der obersten Gattungen in eine Schau zusammenfaßt,
dann
sieht man,
so sagt Plotin, den Aon
als das Leben
51 Wir haben hier versucht, direkt an Hand des Sophistes die Dialektik der fünf obersten Gattungen zu entwickeln. Es soll aber nicht verschwiegen werden, dafi Plotins eigene Darstellung dieser Dialektik in Enn. VI 2 an einigen Punkten von der unseren abweicht. Auch er unterscheidet das Sein (οὐσία) der Seele als δύναμις gegen ihr Wirken (VI 2; 5) und setzt dieses Wirken (ἐνέργεια) mit κίνησις gleich (VI 2; 7). Aber κίνησις ist ihm die gemeinsame Gattung, die das Leben des Geistes und das Leben der Seele miteinander teilen. Daß solche Bewegung nicht Veränderung, daß sie nicht ekstatisch sein darf, hebt auch Plotin hervor. Andererseits versteht er dann
στάσις als das Verharren in solcher Bewegtheit. Schließlich führt er Selbigkeit und Andersheit ebenso formal, wie es im Sophistes geschieht, ein, nämlich an Hand der Identität und Verschiedenheit der bereits gewonnenen Gattungen (VI 2; $ b).
90
„dort“. Er fügt hinzu — und das ist in Hinblick auf den Timaiostext wichtig —
„Leben, das im Selben verharrt“. Dieses Verharren betrifft
Bewegung
nicht
das Ganze des Aon. Der Aon verharrt in sich, weil die zu ihm gehórige „ekstatisch“
ist,
weil
sie
nicht
Veränderung
und
Wechsel impliziert. Ein solches Leben braucht also nicht aus sich herauszutreten, um ein Ganzes zu werden, es hat, was zu ihm gehórt immer schon bei sich, es 1st zumal ganz (ὁμοῦ πᾶν), abstandslos (ἀδιάotatov), und „kompakt“ (ἀϑρόος). Im Gegensatz dazu ist nun das Leben der Seele zu sehen. Diese wird als eine unruhige Natur eingeführt, die sich nicht mit dem Verharren im Einen begnügen wollte, vielmehr neugierig (πολυπράγμονος) war,
ihr eigener Herr sein wollte (ἀρχεῖν αὐτῆς), sich selbst gehören (εἶναι
αὐτῆς) und mehr als das Gegenwärtige suchen (πλέον τοῦ παρόντος ζητεῖν) (III 7; 11). Sie fallt dadurch aus dem Aon heraus und schafft durch ihre Tätigkeit die Zeit und zugleich damit die Welt. Genauer gesagt, Ist die Zeit diese Tätigkeit der Seele, sie wird aber Zeit genannt, insofern die Seele bei allem Fortstürmen doch nicht umhin kann, den Aon nachzuahmen. Wenn man diesen Ursprung der Zeit betrachtet, so ist zu
erwarten, daß sich die Art des Abbildungsverhältnisses vom Platonischen unterscheidet. Ist das Hervortreten der Zeit wie des Kosmos nach Plotin ein Abfall, so dient sie bei Platon dem Zweck, das wahre
Sein zum Scheinen zu bringen. Die Welt ist für Platon ein Götterbild, ein Heiligtum für die Anwesenheit des Gottes gemacht. Wir haben da-
her das Abbildungsverhältnis von αἰών und χρόνος als Darstellung des
αἰών durch den χρόνος auslegen können. Hier bei Plotin wird dieses Verhältnis in ein System negativer und positiver Entsprechungen umgewandelt. Die Zeit verdankt ihre Verwandtschaft mit dem Aon mehr
dem Ursprung der Seele im Aon als dem Charakter ihrer Tätigkeit selbst. Sie ahmt den Aon nach in einer Weise, wie ein heruntergekommener Sohn aus gutem Hause nicht umhin kann, die Tugenden seiner Eltern noch in seinen Lastern abzubilden: ,Statt der intelligiblen Bewegung: Bewegung eines Teiles der Seele; statt der Selbigkeit und Un-
wandelbarkeit
des Verharrenden:
das nicht im Selben Verharrende,
immer wieder Anderes Tätigende; statt des Abstandslosen und Einen: das durch Zusammenhang Eine als Nachbild des Einen; statt des Vollendet-Unendlichen
und
Ganzen:
das
Immer-im-Nacheinander-ins-
Unendliche; statt des einig Ganzen: das teilweise und immer nur Künf91
tig-Ganze. So nàmlich kann es das Vollendet-Ganze und in sich Ge-
sammelte und vollendet Unendliche nachahmen, wenn es, immer im
Hinzuerwerben, im Sein sein will“ (III 7; 11 Übers. Beierwaltes). Wessen die Seele durch ihre fortstürmende Geschäftigkeit wirklich verlustiggegangen ist, das ist jene Ruhe des Aon, das abstandslose in sich Versammeltsein. Gerade aber in jenem stándigen auf Neues Ausgehen sucht sie das Verlorene einzuholen, indem sie ins Unendliche fort
einer zukünftigen Ganzheit nachjagt. Es ist deutlich, daß auch hierin
jener Gedanke aus dem Symposion wiederkehrt, der Gedanke einer
Nachahmung der Unsterblichkeit bei den sterblichen Geschópfen durch die Folge ihrer Geschlechter. Während aber Plotin diese Nachahmung
im unendlich-erneuten Ansetzen dieser Folge sieht, erkannten wir sie
eher in der periodischen Wiederholung desselben. Während wir Platon
so verstehen,
daß
die Zeit trotz ihrer schlechten Unendlichkeit
wahre zu Darstellung bringt, ihre schlechte Unendlichkeit Plotin die ohne Rückkehr in keit der Seele. Er verkennt, nung und Periodizität dieser die Beziehung von Zeit und
die
meint Plotin, daß die Zeit gerade durch die wahre nachahmt. Die Zeit ist für sich immer auf Neues fortgehende Tätigwelche Bedeutung für Platon die OrdTätigkeit hatte, und er verliert deshalb Zahl.
V. Lebenskraft
Um das Verhältnis von αἰών und χρόνος zu bestimmen, um Zeit aus dem Wesen des αἰών zu verstehen, geht man naturgemäß von der ab-
straktesten und historisch späten Bedeutung aus. Der αἰών ist die Lebenszeit, im eminenten Sinne die Lebenszeit jenes einzigartigen,
göttlichen Wesens, des Kosmos. Wird das Wesen der Zeit aus einer —
in unserem Sinne — speziellen Art von Zeit verstanden, nàmlich der Zeit des Lebens, so muß man, um in den Sinn solchen Zeitverständnisses einzudringen, nach dem Leben selbst fragen. Vom Leben her bestimmt sich, was Lebenszeit, und damit im Rahmen dieses Zeitverstándnisses was Zeit überhaupt ist. Es legte sich nahe, deshalb das
Wesen der Zeit im Leben selbst zu suchen. Damit dringt man in eine tiefere und wohl historisch frühere Schicht der Bedeutung von αἰών ein: αἰών heißt selbst Leben. So erwies sich Plotins Zeitlehre als eine mögliche, genuine Platonauslegung. 92
Schließlich hat die Sprachforschung gezeigt, daß im Wort αἰών noch eine tiefere Schicht zu finden ist. Die Grundbedeutung?? und historisch früheste — die aber andererseits bis in Platons Zeit lebendig war —*?
weist auf den Ursprung, den Quell des Lebens, die Lebenskraft. E. Benveniste hat ia seiner Arbeit ,Expression indo-européenne de l'Éternité^9* die Wurzelverwandtschaft
von αἰών und einer Gruppe
von
Worten aufgewiesen, die soviel wie Jugend, Lebenskraft bedeuten (skr.
yüvan, lat. iuvenis). Bei Homer findet er dann als Bedeutung von αἰών nicht „temps de vie“ sondern „force de vie, source de vitalité. Er
kann sich dabei auf einige Stellen stützen, an denen αἰών in nächster Nachbarschaft zu ψυχή steht. Daß jemand stirbt, kann dadurch ausgedrückt werden, daß ihn ψυχῆ und αἰών verlassen: „Aber sobald ihn
Psyche und Aon verlassen, dann übergib ihn dem Tod zum Geleit und dem stillen Schlafe . . .*55 Es ist längst, insbesondere durch Snells
Buch über „Die Entdeckung des Geistes“ bekannt, daß Psyche hier nichts „Psychisches“ meint, insbesondere nichts mit Geist, Willen, Gemüt zu tun hat, sondern das Leben bedeutet — in dem Sinne, in wel-
chem wir auch sagen können, daß jemand sein Leben aushauche. Ganz in die Nähe der so verstandenen ψυχή gehört also ursprünglich αἰών. Diese Verwandtschaft geht so weit, daß man später wie von der ψυχῇ so auch vom αἰών sagen konnte, daß man ihn sterbend aushaucht.®
Gehört αἰών in solche Verwandtschaft zu Psyche, so heißt dieses Wort natürlich nicht Lebenszeit und auch nicht Leben im Sinne des erstreckten Lebenszusammenhanges. Man haucht nicht mit dem letzten Atem seinen Lebenszusammenhang aus, und auch, daß man damit seiner
Lebensgeschichte beraubt sei, ıst allenfalls eine Vermutung und kann
kaum der Inhalt eines so sinnfälligen Ausdrucks sein. Leben 1n diesem
Sinn ist die leiblich erfahrene und für andere erfahrbare Lebenskraft.
Daß die Nähe von αἰών und ψυχῆ ihre Identität bedeutet, möchten wir bezweifeln, wie nahe dies auch das Euripidesfragment legt. Wenigstens bei Homer scheint αἰών auf andere leibliche Bereiche als ψυχή zu weisen, die dort nàmlich vorzüglich mit dem Atem zu tun hat. 82 So schon Lackheit aaO. S. 8. 53 Vgl. die Anm. 56 zitierte Euripidesstelle. 54 Bulletin de la Société de linguistique Paris XXX VIII (1937), 103—112. 55 τόν γε λίπῃ ψυχή ve xai αἰών II 453, Übers. nach Rupé. Entsprechend heißt E 685 ἔπειτά με xai λίποι αἰών. 56 ἀπέπνευσεν αἰώνα, Euripides fr. 801 Oxford.
93
Auch scheint αἰών gegen ψυχή einen spezielleren Sinn zu haben, eine besondere Art von Lebenskraft zu sein. αἰών nennt offenbar die jugendliche, die drángende Lebenskraft, ja es kónnte sein, daf$ ihre
leibliche Erfahrung eng mit derjenigen der Zeugungskraft zusammenhángt. Zu ersterer Annahme gibt uns die Feststellung Benvenistes ein Recht, daß αἰών nicht bei Betagten Anwendung findet: „On ne parlera pas de l’uiwv d'un homme àgé* (aaO. 108). Dagegen heißt es beim Tod des jugendlichen Patroklus: ,Die Lebenskraft wurde herausgeschlagen*9?, und beim Tod Hektors klagt Andromache: „Gatte, so
jung verlorst du dein Leben und läßt mich als Witwe hier im Palaste zurück “.38 Die Annahme,
daß αἰών mit der Zeugungskraft
zusammenhängt,
legen gewisse sehr konkrete Sprechweisen nahe, die eine leibliche Or-
tung des αἰών anzeigen, und — wie Benveniste berichtet — in Glossen geradezu zu einer anatomischen Identifizierung geführt haben.
αἰών wurde als das Rückenmark oder auch als das durch den ganzen Körper verbreitete Mark definiert.°®
Wir wollen die Aufdeckung des ursprünglichen Sinnes von αἰών als
Lebenskraft dazu benutzen, jenes Zeitverständnis weiter aufzuhellen,
das die Zeit vom αἰών her auslegt. Degani stellt die Schwierigkeit, die
dem entgegensteht, ganz unübersehbar fest, wenn er sagt:
dalPesame dei testi, come in Omero
,S'é visto,
αἰών presenti quasi sempre un
indiscutibile valore atemporale* (aaO. 29). Genauer besehen, besteht diese Schwierigkeit aber nicht so sehr in dem Auseinanderklaffen der Bedeutung von αἰών als leiblich zu verstehender Lebenskraft und der anderen, zeitlichen Bedeutung, sondern — was gerade Degani dann betont (aaO. 39 ff.) — darin daf man schon im voraus zu wissen glaubt, was Zeit ist. Dies ist ein bei Sprachwissenschaftlern häufig an-
zutreffender Fehler: daß sie nämlich die Bedeutungen sprachunabhängig
setzen, um dann zu fragen, wie dieses oder jenes Wort eine dieser Be-
deutungen erlangte. Genauso verfährt Benveniste, wenn er sich nach
Feststellung des ursprünglichen Sinnes von αἰών als Lebenskraft vor die
Aufgabe gestellt sieht, nun den Anschluß an die zeitliche Bedeutung 57 ἐπ δ᾽ αἰὼν πέφαται, T 27. 58 ἀπ’ αἰῶνος νέος ὥλεο, Q 725, Übers. Rupé.
59 αἰών: ὁ νωτιαῖος μυελός; αἰών: ὁ ἐν παντὶ τῷ σώματι μυελός, Benveniste aaO.109. Eine eingehende Auseinandersetzung mit dieser Stelle findet sich bei Degani, S. 22 f.
94
herzustellen. Obgleich er auf diese Weise den Verstehenszusammenhang geradezu auf den Kopf stellt, wollen wir seine Darlegung hier anführen, weil er darin den sachlichen Zusammenhang offenbar ganz richtig bezeichnet: „Puis, à cause méme de sa connotation humaine, αἰών a pris un sens temporel. Puisque l'aiov est le principe interne qui maintient l'homme vivant, c'est la persistance de l’aiov que mesurera la durée de la vie“ (aaO. 109). Wir wollen verschärfend sagen: Das Leben in seinem Zusammenhang ist die ausgefaltete Lebenskraft. Die Zeit als Lebenszeit verstanden ist die Form eines so begründeten Zusammenhanges.
Ahnliche Schwierigkeiten hat Benveniste mit dem Übergang von der Bedeutung Lebenszeit zu Ewigkeit. Er muß dafür den etymologischen Zusammenhang mit αἰεί bemühen und eine Konvergenz der Bedeutungen von αἰών und αἰεί postulieren. Auch hier dürfte es besser sein, keinen Sinn von Ewigkeit im vorhinein anzunehmen,
sondern viel-
mehr — wie Festugiére es unternommen hat — Ewigkeit vom un-
endlichen Leben des Kosmos und dessen aióv auszulegen. Es ist aber nützlich, hier aus Benvenistes Darlegungen festzuhalten, daß
αἰεί von seiner mit αἰών gemeinsamen Wurzel her gesehen primär das immer erneut Anfangende bezeichnet und erst von daher das Bleibende. Auch auf diesem Wege scheint das Verständnis des ewigen,
des
immer
zu sein, die dann Seins begreift.
Seienden
von
jenen
Platon im Symposion
Phänomenen
ausgegangen
als Darstellungen solchen
αἰών hat nicht erst im Laufe der Geschichte eine zeitliche Bedeutung
erworben, sondern ist bereits in der Bedeutung
„Lebenskraft“
zeitlich
zu verstehen. Zeit, das lernen wir aus der von Platon explizierten Beziehung zu αἰών, ist nicht als ein irgendwoher vorgegebenes Schema der Anordnung oder Medium der Erscheinung zu verstehen, sondern ist
primär die Form, in der Lebendes ist. Lebendes aber kann nicht „hervortreten“, indem es, was es ist, zumal und in einem ist, sondern es
muß sein Sein durch eine Folge von Phasen zusammenbringen. Wir verstehen diese Folge als die Entfaltung einer ursprünglichen Lebens-
kraft. In der Ganzheit des Lebens, in die sich die Lebenskraft entfaltet,
aber stellt sich deren ursprüngliche Einheit dar.
Wir halten hier inne, um zu fragen, was wir damit zur Interpre-
tation des Platonischen Textes gewonnen haben. Unser Verfahren bestand darin, vom gewóhnlichen und in der Geschichte bis zu Platon 95
hin sich entwickelnden Wortsinne von αἰών uns dem zu nähern, was der Aon als Paradeigma der Zeit sein kann. Wir konnten uns auf die-
sem Wege in der Erkenntnis des Aon bescheiden, indem wir bestimmten, was er für die Zeit als Paradeigma leistet: Die Betrachtung der Zeit als Darstellung des Aon ermöglicht es, sie als eine gegliederte Ganzheit in Analogie zur Lebensganzheit zu erkennen. Die Einsicht in die Grundbedeutung von αἰών erlaubt uns nun, die Art dieser Ganzheit näher zu bestimmen. Die Lebensganzheit ist die Form der Einheit,
die die Lebenskraft dem Lebensablauf durch ihre Entfaltung mitteilt. Darüber hinaus kónnte man aber auch — wie Plotin — den Sprung wagen, eine spekulative Einsicht in den Aon selbst zu gewinnen. ΑἹ] das, was man aus dem gewóhnlichen Sprachgebrauch von αἰών entnehmen kann, ist ja, will man den Aon als selbständiges, noetisches Wesen denken, nur hinführend, es ist diesem nicht im gewóhnlichen Sinne, sondern allenfalls im eminenten zuzuschreiben. Versucht man
das Lebewesen selbst, so wie es dem Denken allein zugänglich ist, zu
erfassen, so gehört offenbar
das Sich-Entfalten
nicht notwendig zu
ihm. Das Sicht-Entfalten gehórt nicht zum Wesen des Lebens, sondern ist nichts anderes als das Hervortreten und Verschwinden des Ganzen,
das es ist. In seiner noetischen Sphäre ist es dieses Ganze zumal (ὁμοῦ πᾶν). Es legt sich daher nahe, den Aon für sich in Analogie zu jener empirischen Lebenskraft zu verstehen, in der man die Lebensganzheit
ursprünglich versammelt denkt. Die Zeit wäre dann als Darstellung des Aon zu deuten analog der Lebensganzheit, in die sich die Lebens-
kraft entfaltet. Wir fanden eine entsprechende Auslegung des Wesens der Zeit schon bei Plotin, nur daß sie dort dazu diente, die Zeit eher in einen Gegensatz zum Aon zu bringen, denn als dessen Darstellung zu begreifen.
Dort hieß es, daß dem Leben der Seele, der Zeit also „an stelle des versammelt, des kompakten Ganzen, das stückweise sein werdende und stets zukünftige Ganze*9? (TII 7; 11) zugeordnet sei. Expliziter
noch ist dieser Unterschied der versammelten Ganzheit zur sich entfaltenden später von Proclus in seinem Timaioskommentar zur Charakterisierung der Zeit verwandt worden: , Was nicht seine Wirklichkeit
geballt und schon (immer) und im Ganzen zumal ist, bedarf der Zeit zur Vollendung und Wiederherstellung, durch die es all sein zu60 ἀντὶ δὲ ἀϑρόου ὅλου τὸ κατὰ μέρος ἐσόμενον καὶ
96
3
ἀεὶ ἐσόμενον ὅλον. Α
gehöriges Gut zusammenliest*.9! Proclus unterscheidet sich aber von
Plotin in einem Punkt, und wir werden uns ihm darin anschließen. Er identifiziert nàmlich die Zeit nicht mit dem sich entfaltenden Leben,
der immer fortstürmenden Wirklichkeit, und das heißt doch — platonisch gesprochen — mit dem Hervortreten als solchem, sondern er gibt ihr für den Bereich des Hervortretens eine bestimmte Funktion. Die Leistung der Zeit für das, was sich im Hervortreten entfaltet, besteht
darin, es zu einem Ganzen zusammenzufügen: Sie liest „all sein zugehöriges Gut“ zusammen, sie faßt nämlich die notwendig nacheinan-
der hervortretenden aber doch zum Leben wesentlich gehörigen Pha-
sen zusammen
und bringt so Lebendes
„zur Vollendung“.
Darüber
hinaus bettet sie das einzelne Leben in die Geschlechterfolge ein als die
periodische „Wiederherstellung“
desselben. Man
sieht, daß wir Aus-
sicht haben, zweierlei zu leisten, wenn wir dieser Auslegungsrichtung folgen: Die Zeit als wahrhafte Darstellung des Aon im Hervortretenden zu begreifen und nicht als pejoratives Charakteristikum der sinnlichen Welt und ferner die Beziehung zu Gliederung, Ordnung, Zahl nicht zu verlieren. Denn die Zeit ist als Einheit in der Entfaltung gerade eine Darstellung jener ursprünglichen Einheit, die der Entfaltung zugrundeliegt. Und die Art dieser Einheit besteht in einer Gliederung
wechselseitig aufeinander verweisender Teile, bzw. einer zyklischen
Wiederherstellung desselben. Wir werden später diese Art von gegliederter Ganzheit näher untersuchen, um von daher zu verstehen, warum
Platon die Zeit ein nach der Zahl fortschreitendes Bild nennt. Was wir aber jetzt leisten kónnen, ist eine Auslegung des Fortschrei-
tens jenes Bildes, das wir die Zeit nennen. Platon setzt den Aon als
bleibendes Paradeigma der sich bewegenden Zeit als seiner Darstellung entgegen. Was soll dieser Gegensatz von Verharren und Sich-Bewegen? Hatten wir nicht gesagt, daß auch zur Sphäre des immer Seienden Bewegung gehört? Allerdings. Und doch bezeichnet Platon wenig später noch einmal die Paradeigmata, das was sich immer gleichmäßig verhält, als unbeweglich,
und
setzt dem
das
„es war“
und
„es wird
sein“ als Bewegungen entgegen (38 a). Es kann also offenbar nicht von Bewegung in dem Sinne die Rede sein, in dem sie auch dem Sein selbst
zugeschrieben wird, es muß
sich um Bewegung
im Sinne von Ver-
61 ὃ μὴ ἀϑρόως καὶ ἤδη καὶ ὁμοῦ τὸ πᾶν ἔχει τῆς ἐνεργείας, δεῖται τοῦ χρόνου πρὸς τελείωσιν καὶ ἀποκατάστασιν, δι᾽ οὗ συλλέγει πᾶν τὸ οἰκεῖον ἀγαϑόν (ed. Diehl, III 22).
97
änderung handeln. Besser und mehr im Sinne unserer Interpretation sollten wir allerdings sagen, daß es sich im Grunde nicht um eine andere „Art“ von Bewegung handele, sondern eben um Bewegung, freilich so, wie sie im Bereich des Hervortretens und Verschwindens
zur Darstellung kommt. Plotin sagt einmal, daß das Bleiben des Para-
deigma deshalb nicht im ausschließenden Gegensatz zu dessen Bewegung steht, weil es die Unveränderlichkeit eben dieser Bewegung,
die unverwandte Wirklichkeit des Seins ist. Auch wir glauben, daß es
Platons Absicht nicht sein kann, dem ruhenden Urbild ein bewegtes Abbild entgegenzusetzen. Vielmehr wird durch die Bewegung des Bildes, also der Zeit, jene unverwandte Wirklichkeit, jene bleibende Bewegtheit des Seins im Wechsel des Hervortretens und Verschwindens
dargestellt. Wir weisen auch für diese Darstellung noch einmal auf das
Symposion
hin: Gerade durch
das Hervortreten und Verschwinden
der Generationen wird jene unverwandte Wirklichkeit dargestellt, die als ewiges Leben den Göttern zuzuschreiben ist.
Bei Platon ist die Bewegung, die dem Zeit genannten Bilde zugeschrieben wird, offenbar die Bewegung der Planeten und Gestirne. Wir werden deshalb in der Folge noch auszulegen haben, wie gerade durch diese Bewegung jene ursprüngliche Ganzheit zur Darstellung
kommt, die wir dem Aon als Paradeigma des Lebens zuschrieben.
98
3. KAPITEL BEWEGUNG
(κίνησις) ODER PLATONS ZEITMODI
BEHANDLUNG
DER
I. Einleitung
lage nämlich und Nächte und Monate und Jahre, die gab es nicht, bevor der Himmel hervortrat, damals als er jenen einrichtete, brachte der Demiourg zugleich ihr Hervortreten zuwege: dies alles sind aber Teile der Zeit, und das „es war“ und das „es wird sein“ sind entstandene Anblicke der Zeit, die wir, ohne es zu merken, fälschlich auf das ewige Sein beziehen. Wir sagen nämlich, daß es war, ist und sein wird, aber es kommt ihm der wahren Aussage nach allein das „es ist“ zu, dagegen paßt es, das „es war“ und „es wird sein“ im Umkreis dessen
zu gebrauchen, was ein fortschreitendes Hervortreten in der Zeit hat — denn dies beides sind Bewegungen, dem aber, was sich immer in gleicher Weise unveränderlich hält, kommt es nicht zu, mit der Zeit älter oder jünger zu werden, auch nicht, daß es einst wurde oder jetzt geworden sei, oder demnächst sein werde, überhaupt kommt ihm nichts, was das Hervortreten dem in der Wahrnehmung Bewegten anheftete, zu, vielmehr sind diese hervorgetreten als Anblicke der Zeit, die den Aon darstellt und nach Zahlen sich im Kreis bewegt — darüberhinaus gibt es noch das Folgende, daß das Gewordene geworden sei, daß das Werdende werdend sei, daß das künftig Werdende künftig werdend
sei und daß das Nicht-Seiende nicht-seiend sei, was wir alles nicht streng sagen. Hierüber uns ganz streng zu erklären, dürfte allerdings auch im gegenwärtigen (37 e—38 b).
Zusammenhang
nicht
der
rechte
Moment
sein“
99
In diesen Sätzen bringt Platon zum Ausdruck, wie das Verhältnis der Zeit zu den durch die himmlischen Bewegungen definier-
ten Zeitspannen und zu dem, was wir jetzt die Zeitmodi nennen, zu denken ist. Durch das einführende ,nàmlich* (γάρ) verweist er auf den vorhergehenden Satz, jenen Satz, in dem es hieß, daß der De-
miourg durch Ordnen des Himmels
den Aon in einem beweglichen
Bilde zur Darstellung brachte, einem Bilde, „das wir ‚Zeit‘ genannt
haben“. Der mit „nämlich“ eingeleitete Satz soll die Verknüpfung von „Ordnung
des Himmels“
und
„Zeit“ noch einmal unterstreichen und
zwar dadurch, daß das genannt wird, woran man offenbar gewöhnlich
dachte, wenn der Terminus Zeit fiel: Tage, Nächte, Monate, Jahre. Es wird klar gestellt, wie sich diese zu der einen Zeit, der Darstellung des Aon verhalten: ταῦτα δὲ πάντα μέρη χρόνου. Gleich daran anschließend
wird wie in einer großen Parenthese etwas behandelt, was einem offen-
bar ebenfalls sogleich einfiel, wenn von Zeit die Rede war, und das
allenfalls auch den Anspruch erheben könnte Zeit zu sein, nämlich das,
was man mit „es war“ und „es wird sein“ zur Sprache bringt. Platon
stellt klar, wie sich solches zur Zeit verhält: es handelt sich um χρόνου γεγονότα εἴδη, was nicht ohne einige kritische Erläuterungen der strengen und der gewöhnlichen Verwendung solcher Ausdrücke im Verhältnis zur Dichotomie von Sein und Hervortreten abgeht. Dann aber kehrt Platon mit dem Satz „Zeit also ist mit dem Himmel
zusammen
hervorgetreten, damit sie zusammen erzeugt auch zusammen aufgelöst würden“ zu dem Thema der Zusammengehörigkeit von Zeit und Him-
melsordnung zurück, wodurch sich dann die Betrachtung über „nv“ und ἔσται“ in der Tat als Einschub erweist.
Wir wollen in diesem Abschnitt unser Interesse auf diesen Einschub richten. Gerade weil Platon Zeit nicht von den „Zeitmodi“ her ver-
steht, sondern vielmehr von
der Ordnung
des Himmels
her, ist es
wichtig zu sehen, wie Platon die Zeitmodi mit seinem Zeitbegriff in Beziehung
setzt.
Das
Verhältnis
von
Tag,
Nacht,
Monat
und
Jahr, jener Phänomene also, in denen man die Himmelsordnung erfaft, zur Zeit werden wir hier nur insoweit besprechen, als sie als μέρη χρόνου zu den εἴδη χρόνου in einer Konkurrenz bei der Frage auftreten, was eigentlich unter ,Zeit^ zu verstehen sei. Die Ord-
nung
des Himmels,
die sich insbesondere
in der Zeitteilung nach
Tagen, Nächten, Monaten und Jahren ausprägt, werden wir dagegen
erst dann 100
eigentlich
zu besprechen
haben,
wenn
es zu verstehen
gilt, daß die Zeit die nach Zahlen sich bewegende Darstellung des
Aon ist.
II. Teile der Zeit (μέρη χρόνου) Daf$ Tage, Nächte, Monate und Jahre Teile der Zeit sind, scheint trivial. Und doch wird es sich lohnen, darüber nachzudenken. Denn
offenbar sind es nicht beliebige Teile der Zeit, die Platon erwähnt, sondern solche von besonderem Charakter und von bedeutsamem Ver-
hältnis gegeneinander. Ihr Verhalten und wechselvolles Spiel ist es doch, was die Ordnung des Himmels ausmacht, und in dieser Ordnung findet Platon den Aon dargestellt. Dafs aber ἦν und ἔσται als εἴδη χρόνου bezeichnet werden, dürfte zu
verstehen eine der schwierigsten Aufgaben des Timaios sein. Sollte εἶδος an dieser Stelle den üblichen terminologischen Sinn haben, also mit Idee, Art wiederzugeben sein? Sollten das „es war“ und das „es wird
sein* In „Das von
Spezifikationen der Zeit darstellen? diese Richtung scheint Proclus" Behandlung der Stelle zu weisen: ‚es war‘ und ‚es wird sein‘ wird allgemein in Bezug auf jedes diesen (gemeint sind die μέρη χρόνου Tag, Nacht, Monat, Jahr)
betrachtet, deshalb sind sie gewisse ‚Formen‘, die eine eigene Materie
nicht haben. Ich meine etwa eine tägliche oder nächtliche oder sonst derartige“ (aaO. III 37). Bei näherem Zusehen zeigt es sich jedoch, daß Proclus die εἴδη χρόνου aristotelisch als Formen, denen eine Materie korrespondiert, auffaßt. Als Materie fungieren dabei die verschiedenen Zeitteile selbst, sie nehmen
nacheinander
die Form
des Zukünftig-
und des Vorübergegangenseins an. Daran sieht man, daß Vergangenheit und Zukunft als etwas der Zeit im Grunde Äußerliches angesehen
werden: εἴδη χρόνου wird gelesen, wie man „die Form des Holzes“ versteht, nicht wie „die Form des Tisches“. Proclus versteht εἶδος an dieser Timaiosstelle also durchaus nicht als platonische Idee — und in
gewisser Hinsicht wird man ihm darin sogar recht geben. Es ist wohl unsinnig einen vergangenen Tag einer anderen Art von Zeit zuzurechnen als einen zukünftigen. Der Tag, die Nacht, der Monat, das Jahr sind qua Zeit schon vollständig bestimmt. Damit besteht aber keineswegs das Recht, εἶδος nun aristotelisch auszulegen, denn im Zukünftigoder Vergangen-sein liegt eben keine Formdifferenz. Wollte man das „es war“ und das „es wird sein“ als Zeitarten auffassen, so hätte man
101
zwischen ihnen nicht nur einen Unterschied der Existenz, einen modalen Unterschied, sondern einen Unterschied der Essenz, des Wasseins aufzuweisen. Ferner hätte man die Schwierigkeit zu bewältigen, daß
das ἦν und ἔσται ausdrücklich der sinnlichen Welt zugerechnet werden
und ihr allein. Sie werden
nicht einfach als εἴδη, sondern
als εἴδη
klar, daß von Bewegungen
die Rede ist, wie sie allein im sinnlichen
γεγονότα bezeichnet und heißen wenig später xıynosıs. Dabei wird
Bereich anzutreffen sind, von Veränderungen, denn das „es war“ und das „es wird sein“ darf streng genommen nicht auf das sich immer gleich verhaltende Sein bezogen werden. Man wäre also gezwungen, besondere „Formen der Sinnlichkeit“ einzuführen. Aus
allen diesen Gründen sind wir der Meinung, daß εἶδος an dieser Stelle
einen nichtterminologischen Sinn hat. Wir werden dem später nach-
gehen. Es lohnt sich aber zu fragen, in welchem Sinne man im Rahmen der
platonischen Lehre überhaupt von „Arten der Zeit“ reden kann. Die
Zeit ist Ja keine Idee, sondern die sinnliche Darstellung des Aon. Da also das Wesen der Zeit im Äon beruht, so wären
„Arten von Zeit“
im Grunde als Arten des Aon zu verstehen. Dies ist allerdings eine mögliche Auslegung,
denn
so wie der Aon
die Lebensganzheit
des
Lebewesens überhaupt ist, so hat jede Art von Lebewesen seine besondere Einheit und Gliederung des Lebensablaufes. Auch ist ja kei-
neswegs gesagt, daß der Aon nur eine einzige Darstellung innerhalb des Kosmos findet, nàmlich durch die Ordnung des Ganzen, vielmehr stellt natürlich jedes sinnliche Lebewesen auf seine Weise den Aon als
einen Grundzug von Leben überhaupt dar. In diesem Sinne gibt es eine Mannigfaltigkeit von „Zeiten“ neben der einen kosmischen Zeit, die sie alle umfaßt.
Tag und Nacht, der Monat und das Jahr sind so gesehen nicht nur
Zeitteile, sondern Arten von Zeit. Sie sind. verschiedene Arten, wie
bestimmte innerweltliche Lebewesen durch ihren αἰών den einen Aon
zur Darstellung bringen. Es ist hier daran zu erinnern, daß ja die Pla-
neten und Sterne als himmlische Lebewesen anzusprechen sind. , Wollen wir nun über die Sterne insgesamt und über den Mond, über die Jahre, Monate und die sämtlichen Jahreszeiten? eine andere Behaup62 Platon behandelt hier die Gestirne und deren Perioden auf gleicher Ebene. Das hat später Anlaß gegeben, ihn als Kronzeugen für die Rede von Zeitgöttern zu nennen. S. Proclus, III 36.
102
tung aufstellen als eben dieselbe, daß, weil Seele oder Seelen als Ursache von diesem allen sich ergaben, und zwar gute in jeder Tugend,
wir sie für Götter erklären, ob sie nun, als lebende Wesen, Körpern
innewohnend oder wie immer sonst oder wodurch den ganzen Himmel ordnen? Gibt es jemanden, welcher, gibt er das zu, zu leugnen wagt, es sei alles mit Göttern angefüllt?“ heißt es später in den Ge-
setzen (Nom. X 899 b, Übers. Schleiermacher). Es ist offenbar das in den Umschwüngen der himmlischen Körper sich sichtbar vollziehende
Leben, wodurch der Himmel geordnet ist. Und jeder Umschwung eines himmlischen Körpers bringt für sich als geordnete Ganzheit eines Lebensvollzuges den Aon zur Darstellung. Zum Beweis für diese These sei jene Stelle aus dem Timaios angeführt, an der Platon hervorhebt, daß nicht nur das landläufig Be-
kannte, Tag und Nacht, Monat und Jahr, also das durch die Bewegung von Sonne und Mond Definierte Zeit ist, sondern ebenso die Perioden aller anderen Planeten: „Die Perioden der anderen haben die
Menschen nicht erkannt, außer wenigen unter den vielen, weder benennen sie sie, noch machen sıe sie gegeneinander kommensurabel, indem sie sie mit Hilfe von Zahlen betrachten, so daß sie sozusagen nicht
wissen, daß ihre Irrbewegungen Zeit sind, die zwar eine schwer zu bewältigende Fülle in Anspruch nehmen, aber gleichwohl bewundernswert schon gestaltet sind* (39 c/d Hervorhebung v. Verf.). Nicht also die von Platon so bezeichneten εἴδη χρόνου sondern die μέρη χρόνου können Anspruch darauf machen,
„Arten von Zeit“ zu
sein. In der Tat kann μέρη diese Bedeutung haben. Die bei der Dihai-
resis auftretenden Unterbegriffe werden in der Regel als μέρη bezeichnet.63 μέρος wird deshalb häufig synonym zu γένος und εἶδος ge-
braucht. Dies zeigen insbesondere die Stellen Politikos 262 ff. Dort
wird aber auch gesagt, daß die Gleichsetzung nur in einer Richtung allgemein gilt: „Daß nämlich, wenn es eine Art von etwas gibt, eben
dieses notwendig auch ein Teil desselben Gegenstandes sein wird, wo-
von es eine Art genannt wird; daß aber, was ein Teil (μέρος) sei, auch eine Art sein müsse, gar nıcht notwendig sei. So sage immer lieber,
daß ich mich erklärt hätte, als anders“ (263 b). Wir
müssen
für unseren
Zusammenhang
diese Verwendung
von
μέρος als „Unterbegriff“ etwas erläutern. Daß Platon den Übergang $3 Vgl. Cornford term for „species“.
aaO. 40, Anm. 1: μέρος
or μόριον,
„part“
is Plato's normal
103
vom
„Oberbegriff“
zum „Unterbegriff“ als Schnitt bezeichnet, kann
man als metaphorische Redeweise auffassen, wie ja die Darstellung dieses Übergangs als Linienteilung sicherlich nur eine Veranschaulichung ist. Es gibt allerdings eine táuschende Plausibiltát für diese Metapher: Den Unterbegriffen entsprechen jeweils Teilklassen der den Oberbegriffen zugeordneten Klassen. So wird die Doppelbedeutung
von μέρος als Teil und Art, wie es scheint, verständlich. Man sieht allerdings gleich, daf$ solcherart die Doppelbedeutung von μέρος bei der Zeit nicht sein kann. Denn die verschiedenen Arten von Zeit wer-
den ja nicht als Teile der Zeit im Sinne einer sie alle umfassenden Klasse bezeichnet. Die Plausibilität,
die man
durch die Interpretation mit
Hilfe von Klassen gewinnt, ist aber überhaupt täuschend. Denn die Ideen sind nicht Klassen, sondern Individuen. Wir wollen jetzt nicht
untersuchen, welche Mißverständnisse sich daraus ergeben, daß man bei der Dihairesis überhaupt von Ober- und Unterbegriffen redet. Die
Ideen sind jedenfalls nur dann gegen den aristotelischen Vorwurf, sie seien bloße Abstraktionen, geschützt, wenn die übergeordnete Idee nicht weniger „konkret“, d. ἢ. wenn sie nicht inhaltsármer ist, als die untergeordnete. „Lebewesen“ überhaupt ist natürlich gegenüber Hund eine Abstraktion, wenn in dieser „Idee“ nur enthalten ist, was Hund,
Fisch, Vogel
etc. gemeinsam
ist. Demgegenüber
scheint Platon
die
Oberidee so konzipiert zu haben, daß „Lebewesen“ nicht nur das Ge-
meinsame von Fisch, Vogel, etc. enthält, sondern diese Unterideen „in concreto". Das zu denken, ist keineswegs einfach. Natürlich soll es nicht heißen, die Oberidee enthielte die sinnlichen Dinge, das, was man
sonst Konkreta nennt. Es soll aber heißen, daß die Oberidee im Gegensatz zum Oberbegriff inhaltsreicher ist. Die Oberidee enthält alles, was in ihren Unterideen jeweils nur partiell, in allen zusammengenommen aber auch vollständig zu Darstellung kommt. Wir sind uns sehr wohl
dessen bewußt,
daß wir uns mit dieser
Interpretation Goethes Auffassung des Verhältnisses von Phänomen und Urphänomen nähern. Aber warum sollte Goethe nicht genuin platonische Gedanken wieder lebendig gemacht haben? Wie dem auch sei, es ist genau diese Auslegung, die es gestattet, die Doppeldeutigkeit von μέρος in der Dihairesis nicht metaphorisch, sondern streng zu nehmen. Wir wollen dies an jenen beiden Beispielen zeigen, die Platon im Politikos gibt, um klar zu machen, was eine wahre Ideeneinteilung im 104
Gegensatz
zum
bloßen
Abteilen von Stücken
ist. Wenn
man
die
Menschheit in Hellenen und Barbaren, also Nicht-Hellenen, die Zahl
in eine bestimmte Myriade und die „Klasse“ aller übrigen einteilen würde, so hätte man zwar Teile, nicht aber Unterideen gefunden. Da-
gegen sollte man die Zahl in Gerades und Ungerades, die Menschheit
in Männliches und Weibliches einteilen. Wie verhält sich in diesen Beispielen die Oberidee zur Unteridee? Ist die Idee der Menschheit etwas, in dem die Geschlechtlichkeit nicht vorkommt? Wie sollte sie dann durch Dihairesis in ihr gefunden werden? Oder anders gefragt: Ist jemand Mann, indem er zunächst Mensch ist, mit zusätzlichen „männlichen“ Bestimmungen? Oder ist Zahl etwas, das unabhängig wäre vom Gerade- und Ungerade-Sein? Wollte man Derartiges annehmen, dann wäre in der Tat „die Zahl“ und „der Mensch“ eine bloße Abstraktion und keine Idee. Wir müssen vielmehr annehmen, dafS die Idee der Menschheit das Männliche wie das Weibliche, so wie die Idee der Zahl das Gerade und Ungerade enthält. Mann und Frau bringen das Wesen des Menschseins je unvollständig zur Darstellung, erst in beiden zusammengenommen erscheint, was Mensch-Sein heißt.
Ebenso sind die gerade Zahl und die ungerade Zahl, für sich genom-
men nur im eingeschränkten Sinne Zahlen, das Wesen der Zahl kommt erst in beiden zusammengenommen zur Darstellung. Wenn wir sagen, daß die Idee der Menschheit Männlichkeit und Weiblichkeit enthalten muß, und die Idee der Zahl Gerade-Sein und Ungerade-Sein, so ist deren Einheit sicherlich schwer vorzustellen. In
der Darstellung der Menschheit durch den männlichen und den weib-
lichen Menschen, der Zahl durch die gerade und die ungerade Zahl aber ist diese Einheit als deren Wechselbeziehungen aufzufinden.
Nach diesen Erläuterungen läßt sich genauer sagen, was es heißt,
daß Tage, Nächte, wesen selbst wurde hält alle anderen nach. Entsprechend
Monate und Jahre μέρη χρόνου sind. Das Lebeals das umfassendste Lebewesen definiert, es entLebewesen einzeln sowohl als auch der Gattung umfaßt der Aon des Lebenwesens selbst die αἰώνες
der verschiedenen Lebewesen. Alle Lebewesen bringen den Aon durch ihre Lebensganzheit in eingeschränkter Weise zur Darstellung. Erst in ihrem ganzen Gefüge, der Ordnung des Himmels, kommt der Aon
selbst zur Darstellung. Der Tag und die Nacht, der Monat, das Jahr und alle anderen Perioden sind Zeit, aber in einem eingeschränkten Sinne, 516 sind Arten von Zeit, weil sie als bestimmte αἰώνες den Äon
105
nur in eingeschränkter Weise darstellen. Sie sind aber zugleich Teile der einen Zeit als Glieder des Gefüges, das insgesamt den einen Aon darstellt. III. Aspekte der Zeit (εἴδη χρόνου) Das, was wir heute die Zeitmodi nennen, Gegenwart, Vergangenheit
und Zukunft, war in gewisser Weise schon seit je, literarisch nachweisbar seit Homer, bekannt. Es bedarf einer erheblichen Anstrengung, einer mühsamen Destruktion unseres Vorverständnisses, um zu ahnen,
wie sie verstanden wurden. Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft wurden
angesprochen
in Aussagen
wie jener homerischen
über den
Seher Kalchas, „der gesehen hat das Seiende, das Kommende und das
vorher Seiende*9* (A 70). Mit der Zeit im Sinne von χρόνος wurden
516 durch solche Wendungen nicht in direkte Beziehung gebracht, weder
als Modalitäten der Zeit, noch als Formen der Zeit, noch als Teile oder Aspekte der Zeit. Die „Zeitmodi“ werden darin eher als Unterschiede des Seienden und zwar in seiner relativen Stellung angesehen. Es
dürfte als Platons Leistung anzusehen sein, diese Unterschiede als zeitliche bestimmt und damit ihre Einheit im einheitlichen Wesen der Zeit verankert zu haben. Freilich fand er in letzterem seinen Vorläufer in Empedokles, der
in dem schon einmal herangezogenen Fragment B 16 sagt: „Denn wie (diese beiden Kräfte (Streit und Liebe)? vordem waren, so werden sie auch sein, und nimmer glaube ich, wird von diesen beiden leer sein die unendliche Lebenszeit (aiov)*. Man sieht hier schon, wie die Zu-
sammenfassung der Reihung gelingt: Das vorher und das nachher Seiende wird als zu einer Lebensganzheit gehörig erfaßt. Wird das Wesen der Zeit von der Lebensganzheit her verstanden, wie offenbar
bei Platon, so kann dann umgekehrt das Vorher und Nachher des Seienden zeitlich verstanden werden.
Dies bedeutet nun keineswegs eine modale Auffassung des Seienden, etwa in dem Sinne, daß das Zukünftige das Mögliche, das Gegenwärtige, das Wirkliche und das Vergangene das Faktische wäre. Um das zu verstehen, müssen wir uns ein Stück weit auf das vorplatonische
Verständnis der „Zeitmodi“ einlassen
struktion
unseres
und dabei die erwähnte De-
Zeitverständnisses
leisten. Wir
€4 ὅς ἤδη và τ᾽ ἐόντα τά τ᾽ ἐσσόμενα πρό τ᾽ EOVTO. e;
106
EA
[4
3
5.»
[4
9
,
LA
>
FN
A
stützen
uns dabei
auf das Buch „Von Homer zur Lyrik“ von Max Treu.95 Wir heben
aus Treus Darstellung der homerischen Weise über „Die drei Modi der
Zeit“
(I. Teil, 4,1) zu sprechen zweierlei heraus: Als erstes ist noch
einmal
zu erwähnen,
daß
die Dreiheit der
„Zeitmodi“
als eine Art
Anordnung des Seienden verstanden wird, das Seiende als solches aber
nicht modifiziert. Gegenwärtiges, nachher Seiendes und vorher Seiendes
sind
„gleicherweise
wißbar“.
„Der
Zukunft
haftet
nicht
der
Charakter der Möglichkeit an, der Vergangenheit nicht der Charak-
ter des Nichtwirklichen“ (aaO. 126). Die Beschränkung des Wissens hat ıhren Grund nicht im Gewußten, sondern in der Endlichkeit des
menschlichen αἰών. Umgekehrt konnte Heraklit — wie wir sahen —
die Weisheit als ein Überschauen von 10 oder 20 αἰώνες kennzeichnen. Die Sehergabe, die solches ermöglicht, richtet sich nicht allein auf die Zukunft, sondern in gleicher Weise auf die Vergangenheit, „sehr zum Unterschied von unserer Anschauung, die wir das Weissagen ausschließlich auf das Prophezeien einer ungewissen Zukunft zu beziehen gewohnt sind,“ wie Treu sagt (aaO. 126). Das Zweite sieht auf den ersten Blick wie eine bloße Kuriosität aus. Es handelt sich um einen zeitlichen Gebrauch von Ortsadverbien, wie „vorne, vorwärts, hinten, rückwärts etc.“66, der unserem Zeitempfinden entgegengesetzt zu sein scheint. Nun bezeichnen wir allerdings auch in unserer Sprache das, was unserer Zeiterfahrung nach „hinter“ uns liegt, als die Vorfahren, die Vorzeit, die Vorgänger, das, was zeitlich vor uns liegt, als die Nachkommen, die Nachwelt, die Nachfolger.
Aber es ıst durchaus denkbar, daß unsere Sprache Zeichen eines Zeitverständnisses aufbewahrt hat, das sich im übrigen völlig verwandelt hat. Bei Homer, wo die zeitliche Verwendung von Ortsadverbien und
die Entstehung zeitlicher Präpositionen erst anhebt, ist freilich nicht
anzunehmen, daß die Richtung der zeitlichen Erfahrung im Gegensatz zu der Blickrichtung stand, die durch die sie beschreibenden Orts-
bezeichnungen angedeutet wird. Treu kann für seine Vermutung einer
umgekehrten, d. ἢ. auf die „Vergangenheit“ gerichteten Erfahrung bei Homer, einen Satz des Ilias-Kommentators Eustathios zitieren, der
zugleich eine gewisse Erklärung des Phänomens enthält: „Es ist aber das ‚vorwärts‘, das vor den Augen liegende und Geschehene, 65 Zetemata
12, München
1955.
96 πρόσσω, ὀπίσσω. πρόγονοι sind die Vorfahren, ἄνδρες früher, τὰ πρὸ ἐόντα das „Vergangene“, aaO. 126 f., 132 ff.
πρότεροι
. . . .
die Leute
107
‚rückwärts‘ dagegen das Werdende und noch nicht Gekommene, was aber in Zukunft ist. ^97
Der Grund für beide Besonderheiten scheint uns im zyklischen Zeit-
verständnis zu liegen. Für einen Teil seiner Feststellungen gibt Treu selbst diese Erklärung: „An einem Rad aber, einem Kyklos, kann es
keine Stelle geben, die Ver-gangenheit wäre“ (aaO. 125). Um sie aber auch für das Übrige tragfähıg zu machen, müssen wir etwas über diese
zyklische Zeitauffassung meditieren, zumal sie auch für Platon verbindlich zu sein scheint.
Man hat diese Vorstellung verschiedentlich so verstanden, als seı die
Zeit selbst ein Kreis, und es kehrte damit alles in der Zeit seiende im
einzelnen wieder. Wir haben schon angedeutet, daß dies jedenfalls nicht Platons Meinung ist: Die Zeit ist nicht ein Kreis, sondern bewegt sich im Kreis,88 und ist so — nämlich durch die periodische Reproduk-
tion der himmlischen Ordnung — trotz ihrer schlechten Unendlichkeit
geeignet, den Aon darzustellen. Man ist also die Schwierigkeit los, die
Zeit wie eine riesige sich in den Schwanz beißende Schlange denken zu müssen, die Schwierigkeit, die Vergangenheit irgendwie an die Zukunft anzuschließen. Gleichwohl muß sich ein zyklisches Zeitverständ-
nis darin ausdrücken, daß die Zukunft in gewisser Weise die Vergangenheit zst. Freilich kann dann die Zukunft nicht der Bereich des
immer Neuen und Überraschenden, die Vergangenheit nicht das unerreichbare, und unrevidierbar Abgeschlossene sein.
Wenn
Max
Treu von einer anderen
kann das nicht bedeuten,
„Blickrichtung“
homerische Menschen
spricht, so
hätten ihr Leben so
erfahren, als wanderten sie in vergangene Zeiten hinein. Gleichwohl konnten sie ihr Leben verstehen als eine Wanderung vorwärts zu ihren Vorfahren (πρόγονοι), zu den früheren Leuten (ἄνδρες πρότεροι). Denn
sie schritten waren, auf verstándnis im Prinzip
ihnen nach auf einem Wege, den jene vor ihnen gegangen etwas hin, das jene vor ihnen erreicht hatten. Dieses Zeitentspricht demnach einem Lebensgefühl, für das das Leben nichts Neues bringt. Das, was auf einen zukommt, ist das
schon Gewesene. Das, was für einen selbst vorübergegangen ist, kommt nach als das, was sein wird. Das Leben geht auf das Greisenalter, den
97 ἔστι δὲ πρόσω μὲν tà πρὸ ὀφϑαλμῶν xai ἤδη γενόμενα, ... ὀπίσω δὲ τὰ ἐσόμενα καὶ μήπου μὲν ἐλθόντα, ὄντα δὲ ἐν τῷ μέλλειν, in Il. 389, 2; zitiert nach Treu aaO. 134. 68 χρόνου... αἰῶνα μιμουμένου xai κατ᾽ ἀριϑῦμὸν κυκλομένου, Tim. 38 a.
108
Tod, den Hades zu, es geht dem Gewesenen nach. Die Zukunft aber ist die Jugend, die nachkommen wird. So hängt offenbar μέλλαξ, der
Jüngling, mit μέλλον, das Zukünftige, zusammen, wie man anderer-
seits die spátere Zeit des Tages dem Greisenalter vergleicht.9? So verbindet sich die am Seienden orientierte Auffassung der „Zeitmodi“ mit der Erfahrung des Lebens als eines sich wiederholenden Zyklus: Die
Zukunft,
das sind die kommenden
Leute,
die μελλειρήνες,
die
sind, die alten Leute zunächst,
die
μελλεπόσεις, die jungen Männer, die „Vergangenheit“, das sind die Leute, die schon etwas gewesen
Vorfahren, und früheren Geschlechter überhaupt.
Das, was wir heute die Zeitmodi nennen, verdient im zyklischen
Zeitverständnis schwerlich diesen Namen, auch die Bezeichnung „Vergangenheit“ und „Zukunft“ sind durchaus irreführend. Man wird dies berücksichtigen müssen, wenn es darum geht, das ἦν und ἔσται als εἴδη χρόνου auszulegen. Natürlich hat das Zeitverständnis zwischen
Homer und Platon Wandlungen erfahren, aber jene beiden Elemente sind für Platons Zeitverständnis ganz wie für das Homers schon kon-
stitutiv: Daß die Lebensprozesse einen Kreis bilden und — wie wir
meinen — daß Vergangenheit und Zukunft nicht modal unterschieden sind. Eine dieser Wandlungen,
die in der Tat auch für Platon relevant
ist, gibt ebenfalls Treu an. Die Zeit wird, wie er sagt, im Zeitalter der Lyrik zur „Werdezeit“. Er macht dafür das ,lyrische* Naturgefühl
verantwortlich: „In seinem Leben spürt jetzt der Mensch die gleichen vitalen Kräfte, die ‚den großen Baum alles Wachsenden‘ (Snell) durchziehen“ (aaO. 230). Ob dies wirklich der Grund ist — unserer These nach orientiert sich ja ohnehin das Zeitverstándnis bis zu Platon einschließlich am Leben —,
und ob zwei Abweichungen von homerischen Formeln, bei denen For-
men von εἶναι durch solche von yiyveodaı ersetzt sind?9?, hinreichen,
um diese Wandlung zu manifestieren, sei dahingestellt. Bei Platon —
und ihm wollen wir uns jetzt wieder zuwenden
— werden die εἴδη
69 Aristoteles gibt Poet. 21, 1457b 22 ff. folgendes Beispiel für Metaphorik: ἢ ὃ γῆρας πρὸς βίον, xai ἑσπέρα πρὸς ἡμέραν: ἐρεῖ τοίνυν τὴν ἑσπέραν γῆρας ἡμέρας καὶ τὸ γῆρας ἑσπέραν βίου ἢ ὥσπερ ᾿Εμπεδοκλῆς δυσμὰς βίου. 70 Statt des homerischen τά τ᾽ ἐσσόμενα πρό τ᾽ εόωτα heißt es einmal bei Solon τὰ γιγνόμενα πρό τ᾽ εόντα, statt des homerischen ἄνδρες πρότεροι bei Alkaios ἄνδρεσι τοῖς γεινο[μένοισι. Treu aaO. 231.
109
χρόνου Jedenfalls gerade eingeführt als etwas, das sich allein auf den Bereich des γίγνεσθαι bezieht und nicht auf den Bereich des εἶναι. „Das ‚es war‘ und das ‚es wird sein! sind hervorgetretene εἴδη χρόνου,“ sagt Platon, „die wir, ohne es zu merken, fälschlich auf das
Sein beziehen.“ Die Anspielung auf Parmenides B 8.5 „weder war es noch wird es sein, da es jetzt ist zumal und in einem*?! ist unver-
kennbar.
Platon
macht
die
Bestimmung
der
,Zeitmodi^
von
dem
scharfen Gegensatz abhängig, den Parmenides zwischen dem εἶναι und
γίγνεσϑαι gesetzt hat. Das nv und das ἔσται, die εἴδη χρόνου, gehören
dem Bereich des Hervortretens und Verschwindens allein an. Wir bemerken dazu zunächst Zweierlei. Zum ersten geht offenbar aus der homerischen Dreiheit das ἔσται, die Gegenwart, verloren, wenn man ihren Unterschied allein auf den Bereich des γίγνεσϑαι bezieht. Wir werden hierauf noch besonders zurückkommen, wenn wir uns eigens den Formen von γίγνεσϑαι zuwenden. Zum zweiten wird man
bemerken, daß sich hier eine besondere Schwierigkeit für unsere Interpretation auftut. Wenn sich das ἦν und das ἔσται allein im Bereich des
Hervortretens und Verschwindens finden, ist damit nicht die Existenz besonderer Formen der Sinnlichkeit und sogar — wie es später selbstverständlich wird — die Existenz besonderer Zeitformen nachgewie-
sen? Wir werden uns dieser Schwierigkeit stellen. Man kann denselben
Einwand auch durch den Hinweis machen, daß doch die Zeit als bewegliches Bild dem in einem ruhenden Äon entgegengesetzt wird. Beides ist aber offenbar derselbe Einwand, denn die εἴδη χρόνου werden ja selbst zweimal als Bewegungen bezeichnet und zwar in einem
Sinne, durch den sie vom unbeweglich sich gleichbleibenden Sein ausgeschlossen werden: „Denn Bewegungen sind sie, das sich immer gleich-
mäßig unbeweglich Haltende aber . . . “(Tim. 38 a). Wir haben also die Aufgabe, die „Zeitmodi“ als Bewegungen auszulegen und zwar so, dafs Bewegung nicht als ein formal angebbares Charakteristikum der sinnlichen Welt erscheint. Ebenso wie an dieser Timaiosstelle das In-sich-ruhen, die Un-
beweglichkeit des seienden Paradeigma der sich bewegenden, sinnlichen Darstellung entgegengesetzt wird, ebenso unbezweifelbar ist es, daß
Bewegung zur Sphäre des paradeigmatischen Seienden selbst gehört.
Wir hatten nun an Hand des Sophistes gezeigt, daß die seiende Bewegung nicht als Veränderung begriffen werden darf, sondern die 1 οὐδέ ποτ᾽ ἦν οὐδ᾽ ἔσται, ἐπεὶ νῦν ἔστιν ὁμοῦ πᾶν. 57
110
beziehungsvolle Wirklichkeit des Seienden bezeichnet. Es bietet sich von daher an, κίνησις — soweit sie dem Beharren im Selben entgegen-
gesetzt wird — als Veränderung aufzufassen. Die Bewegung, von der
hier die Rede ist, wird ja auch αἷς, Alter- und Jünger-werden“
cr-
änderung sicherlich nicht falsch, löst aber —
—
läutert, die — wie wir sehen werden — für Platon charakteristische Veränderung in der Zeit. Nun ist die Auffassung von κχίνησις als Verfür sich genommen
noch nicht unser Problem. Denn wenn Veränderung wirklich ein be-
sonderer Bewegungstyp wäre, so hätte man in ihr ja wieder eine Form oder Idee aufgefunden, die dem sinnlichen Bereich allein zu-
kommt. Soll aber das platonische System von paradeigmatischem Sein
und sinnlicher Darstellung konsistent sein, so darf das, was im Sinnlichen vorgeht, Veränderung, dem Wesen nach nichts anderes sein als
die auch im Sein anzutreffende Bewegung. Veránderung wáre demnach zu interpretieren als Bewegung, wie sie sich sinnlich darstellt. Auch dies ist freilich noch mißverständlich ausgedrückt. Natürlich
hat κίνησις, wie jede Idee, auch ihre Darstellung in der sinnlichen Welt.
Diese ist aber nicht so sehr in der Veränderung als solcher zu suchen,
sondern in der Wirklichkeit, der Ausübung von Vermögen, wie sie durch das Zusammenspiel mit anderem zustandekommt. κίνησις stellt sich aber im Sinnlichen auch als Veränderung dar, nicht weil sie wirk-
lich. Veránderung ist, sondern weil ihr Hervortreten den Anschein eines Wechsels, einer Veránderung von einem zum anderen erzeugt. Wir meinen also, daß Veränderung nicht eigentlich eine Form für sich
ist, die man der κίνησις im Bereich der Ideen entgegensetzen könnte,
sondern daß sie ein bloßer Aspekt ist, der durch das Hervortreten
(γίγνεσϑαι) der κίνησις im Sinnlichen erzeugt wird. In diese Richtung
weist unser Text selbst, wenn es heißt, daß dem gleichmäßig verhar-
renden Sein all das nicht zukommt, ,was das Hervortreten dem in der
Wahrnehmung
bewegten anheftet“. Die hervortretende Idee allein
bestimmt, was das Hervortretende ist, das Hervortreten aber heftet
ihm noch den Anschein an, als ob es sich veränderte. Entsprechend heißt es wenig früher, es gehöre sich, „das ‚es war‘ und ‚es wird sein‘ im Umkreis dessen zu gebrauchen, was ein fortschreitendes Hervortreten in der Zeit hat“. Das Hervortreten einer Idee hat im Sinnlichen den Anschein, als ob es ein Übergang von einem zum anderen
wäre, als ob es fortschritte.
Diese Interpretation bedarf, um verständlich zu sein, noch einiger 111
Erläuterungen. Zunächst ist daran zu erinnern, daß γίγνεσϑαι und
ἀπολλύναι, insoweit Platon diese Ausdrücke zur Charakterisierung des sinnlichen Bereiches im Unterschied zum noetischen verwendet, nicht als innerweltliches Werden zu verstehen sind, nicht als Übergang von einem Zustand zum anderen, sondern als Bestimmung der Beziehung,
ın der das Sinnliche zum Noetischen steht. γίγνεσθαι und ἀπολλύναι bezeichnen das Hervortreten und Verschwinden des Noetischen in der
sinnlichen Darstellung. Ferner sollte man bestimmen, wann man von Veränderung spricht. Zur Veränderung gehört ja zweifellos, daß zuerst ein Zustand A da ist, der dann durch einen Zustand B ersetzt wird. Das genügt aber
nicht, denn irgendwie müssen die beiden „Zustände“ miteinander verbunden sein, d. ἢ. es muß etwas C geben, das das Dasein von A mit
dem Dasein von B zu einem zusammenfaßt. Will man dabei nicht in einen unendlichen Regreß kommen, so ist anzunehmen, daß C von A zu B sich gleichbleibt. Dann kann man A und B
als die wechselnden
Zustände des einen zugrundeliegenden C auffassen. Wir haben damit in Kürze die Analyse nachgezeichnet, die Aristoteles in Phys. A 7 von der physischen Veränderung gibt. Die Annahme der physischen Ver-
änderung als einer Realität, d. ἢ. hier einer Bestimmung
sui generis,
schon mehrfach erwähnte Stelle, an der beschrieben wird, Weise, die sterbliche Natur versucht immer zu sein und „Sie vermag es aber nur auf diese Art, durch Erzeugung, ein anderes Junges statt des Alten zurückbleibt. Denn auch
auf welche unsterblich: daß immer von jedem
impliziert die Setzung der Substanz als eines im Sinnlichen Beharrenden. Daß es aber ein solches für Platon nicht gibt, zeigt in eindrucksvoller Weise die Rede der Diotima im Symposion. Wir meinen die
einzelnen Lebenden sagt man ja, daß es lebe und dasselbe sei, wie
einer von Kindesbeinen an immer derselbe genannt wird, wenn er auch ein Greis geworden ist: und heißt doch immer derselbe, unerachtet er nie dasselbe an sich behält, sondern immer ein neuer wird und Altes verliert an Haaren, Fleisch, Knochen, Blut und dem ganzen Leibe; und nicht nur an dem Leibe allein, sondern auch an der Seele, die Gewóhnungen, Sitten, Meinungen, Begierden, Lust, Unlust, Furcht,
hiervon behält nie jeder dasselbe an sich, sondern eines entsteht und
das andere vergeht. Und viel wunderlicher noch als dieses ist, daß auch die Erkenntnisse nicht nur teils entstehen, teils vergehen, und
wir nie dieselben sind in bezug auf Erkenntnisse, sondern daß auch 112
jeder einzelnen Erkenntnis dasselbe begegnet“
(Symp. 207 d—208 a,
Übers. Schleiermacher). Es ist kein Zweifel: Veränderung als Wechsel
von Zuständen an einem Beharrenden ist für Platon keine wahre Be-
stimmung der sinnlichen Welt, sondern ein bloßer Anschein.
Schließlich geben wir noch ein Bild dafür, wie dieser Anschein durch das Hervortreten und Verschwinden erzeugt werden kann. Man kennt aus der Sinnesphysiologie Experimente wie etwa folgendes: Es wird
auf einer dunklen Fläche kurz ein heller Strich gezeigt, gleich darauf dann ein ebensolcher in senkrechter Richtung dazu. Wenn nun beide
Striche in hinreichend kurzer Zeit nacheinander präsentiert werden, nimmt man die Bewegung eines Striches um einen Winkel von 90? wahr. Es wird hier also durch das Hervortreten und Verschwinden
der beiden Striche der Anschein einer Veränderung eines und des-
selben Striches erzeugt. In diesem Sinn ist auch die Veränderlichkeit des Bildes, das wir die Zeit nennen zu interpretieren. Die Zeit ist ein fortschreitendes Bild des im einen verharrenden Aon, indem durch ständiges Hervortreten
und Verschwinden einzelner Phasen die Ordnung des Himmels perio-
disch reproduziert wird, so daf$ sich ein immer wechselnder Anblick
dieser Ordnung ergibt.
In diesem Sinne sind ebenfalls ἦν und ἔσται als γεγονότα εἴδη χρόνου zu interpretieren. Daß εἶδος hier nicht den bei Platon üblichen, ter-
minologischen Sinn haben kann, zeigten wir oben schon. Man wird
εἶδος hier also am besten von dem landläufigen Sinn her verstehen als Anblick, Aussehen, äußere Erscheinung. Nach dem oben Gesagten
wählen wir den Ausdruck
„Aspekt“: das „es war“
und das „es wird
sein“ sind Aspekte der Zeit. Sie sind nicht, das wird durch den Zusatz γεγονότα deutlich, Unterschiede, die der Zeit ihrem Wesen nach zukommen, also im Aon selbst begründet sein müßten, sondern sie gehören zu dem, „was das Hervortreten dem in der Wahrnehmung
Bewegten anheftet“.
Des Näheren werden die Aspekte der Zeit als κινήσεις, Veränderun-
gen, charakterisiert. Da die Zeit die beständig im Hervortreten und ?? Seite 101 f. Die bei Platon folgende Betrachtung über die Verwendung gewisser Verbformen könnte nahelegen, εἴδη xoóvov als Deklinationsformen zu verstehen, die ja spáter in der stoischen Grammatik in der Tat χρόνοι (ὡρισμένοι, ἀόριστοι usw.) genannt wurden. Aber dies wäre wohl ein Anachronismus, und vertrüge sich nicht mit der Bestimmung der εἴδη χρόνου als γεγονότα und als κινήσεις.
113
Verschwinden sich reproduzierende Ordnung des Himmels
ist, stellt
sie sich auch stets unter dem Aspekt des Gewesenen und des Kom-
menden dar. Was sie in Wahrheit ist, Aon, war sie stets und wird sie
stets sein, sie ist jenes Ganze aber niemals zumal. Was die Zeit aber
sein wird, ist sie schon gewesen, und was sie gewesen ist, wird sie sein. Diese Auslegung des „es war“ und „es wird sein“ hat nur Sinn in einem zyklischen Zeitverständnis. Denn wenn der Wechsel, den die Zeit darbietet nicht in sich selbst zurückkehrt, dann bezeichnen das „es
war“ und das „es wird sein“ eben nicht bloß zwei Ansichten der Zeit,
sondern „reale“ Unterschiede. Wo immer die Zeit auf stets Neues fort-
schreitet, sinkt das Gewesene zum unwiederbringlich Vergangenen ab, und das, was kommt, ist das Mögliche, das das Gewesene stets überholt.
IV. Die Formen von „werden“ (yıyveodaı) Platon versteht die Zeit nicht vielmehr umgekehrt, nachdem Sinne Ausdrücke wie ἦν und gesehen, daß er dabei einen
von den Zeitmodi her, sondern erklärt er die Zeit eingeführt hat, in welchem ἔσται die Zeit bezeichnen. Wir hatten scharfen Unterschied zwischen ἦν und
ἔσται auf der einen Seite und ἔστι auf der anderen macht. ἔστι allein
nennt das wahre Sein, während ἦν und ἔσται sich auf den sinnlichen
Bereich beziehen. Diese Ausdrücke
nennen Aspekte,
die durch das
Hervortreten und Verschwinden im sinnlichen Bereich erzeugt werden.
Daß nach Platon das ἔστι streng genommen nur auf das paradeigma-
tische Sein zu beziehen ist, erweckt den Eindruck, als ob es im sinn-
lichen Bereich eine Gegenwart eigentlich gar nicht gäbe: Alles Sinnliche war immer oder wird erst sein, aber es ist — streng genommen — niemals. Nun ist dies in der Tat, wie ein Vergleich der Formulierung
mit Tim. 28 a zeigt, Platons Meinung, und doch muß es auch im sinn-
lichen Bereich eine Art Gegenwart, muß es ein „gegenwärtiges Hervortreten“ geben. Das ergibt sich schon äußerlich aus folgender Überlegung: Wenn
Platon
dem ἦν und dem ἔσται den Rang
bezeichnungen streitig macht
und ihren Sinn in Weisen des γίγνεσϑαι
begründet, so kehrt doch in den Formen der
,Zeitstufen*
wieder,
von Seins-
die durch
den
des yiyveodaı die Dreiheit
Unterschied
von
εἶναι und
γίγνεσϑαι zerrissen war. Es lohnt sich deshalb für die Frage nach der 114
sinnlichen Gegenwart, Platons Behandlung der Formen von γίγνεσϑαι näher zu betrachten.
Nun mag es zwar nicht vom Standpunkt der griechischen Gram-
matik erstaunlich sein, daß sich dabei nicht eine Dreigliederung, sondern eine Viergliederung der Formen ergibt, für unser an der lateinischen Grammatik orientiertes Verständnis der Beziehung von Zeitstufen und Zeitmodi ist es doch bemerkenswert. An allen Stellen, an denen Platon das für das Dasein in der Zeit charakteristische Beispiel vom „älter und jünger werden“ behandelt, macht er einen Unterschied
zwischen dem perfektiven und dem imperfektiven Präsens, ganz so wie die spätere stoische Grammatik zwischen χρόνος παρατατικὸς ἐνεστώς und χρόνος τέλειος ἐνεστώς unterscheidet. Den unserem Abschnitt vorangestellten Timaiostext kónnte man allerdings noch anders lesen, nämlich so, daß zunächst allgemein gesagt werde, daß dem Immer-Seienden kein älter und jünger werden (γίγνεσθαι) zukommt, —
und daß dann im einzelnen ein solches Werden für jede der drei Zeitstufen
abgelehnt
wird.
Daß
aber letzteres
durch
οὐδέ, auch
nicht,
angeschlossen wird, macht das nicht wahrscheinlich. Wir fassen die
Stelle also so auf, daß dem Immer-Seienden in vierfacher Weise das „älter und jünger werden“
abgesprochen wird.
„Es kommt
ihm nicht
zu, mit der Zeit älter oder jünger zu werden (yiyveodaı, ingressives
Präsens), auch nicht, daß es einst wurde (γενίσϑαι, Vergangenheit), auch nicht geworden zu sein (γεγονέναι, prefektives Präsens), auch nicht demnächst zu werden (ἔσεσϑαι, Zukunft)“ (Tim. 38 a).
Die zwei Stellen im Dialog Parmenides, die Platon dem Problem
des älter und jünger Werdens gewidmet hat, sind eindeutiger. Parmenides 141 b soll erwiesen werden, daß, was älter als es selbst wird, auch jünger als es selbst werden muß. Dazu muß es von sich selbst verschieden werden. „Das eine muß von einem andern nicht verschieden werden, das sich von ihm schon unterscheidet, vielmehr ist es
(εἶναι) verschieden von dem, das sich von ihm unterscheidet, es ist in
Verschiedenheit geraten (γεγονέναι), zu dem, das sich von ihm unterschieden hat, es wird (μέλλειν) sich von dem unterscheiden, das von ihm unterschieden sein wird; von dem aber, was von ihm verschieden wird (γεγνομένον), von dem hat es sich weder bereits unterschieden
(γεγονέναι), noch wird es sich erst unterscheiden (μέλλειν), noch ist es irgendwie unterschieden (εἶναι), sondern es wird von ihm verschieden (γίγνεσϑαι), und auf andere Weise ist es nicht“ (Parm. 141 b, c). Hier
115
wird also das ingressive Präsens (γίγνεσϑαι), gegen das resultative Per-
fekt, das faktische Prásens (εἶναι) und die Zukunft abgesetzt. Im Ausdruck ist eine gewisse Abweichung gegenüber der Timaios-
stelle zu finden. War dort die Dreiheit der „Zeitmodi“ durch γεγονέναι
vóv (Gegenwart),
γενέσθαι ποτέ (Vergangenheit),
(Zukunft) angesprochen, beziehungsweise.
so
hier
durch
εἶναι,
εἰσ αὖϑις ἔσεσϑαι
γεγονέναι,
μέλλειν
Es zeigt sich eine gewisse Unsicherheit bezüglich der Stellung des γεγονέναι im Verhältnis zu Vergangenheit und Gegenwart. Ganz deutlich aber tritt vor allem die Sonderstellung von γίγνεσϑαι gegenüber der traditionellen Dreiheit hervor.
Letzteres zeigt sich noch eindrucksvoller an der anderen Parmenidesstelle. Es heißt dort, daß etwas, das älter wird, wenn es das νῦν trifft, nicht mehr wird, sondern schon ist: „Das Vorschreitende verhält sich nämlich so, daß es beide berührt, das νῦν und das ἔπειτα, das viv verlassend, das ἔπειτα ergreifend, und zwischen beiden, dem νῦν und dem ἔπειτα, wird es (yvyvouévov)* (Parm. 152 c). Das Werdende hat also eine Zwischenstellung zwischen jetzt und später. Es wird zwar jetzt aber gerade so, daß es zum Später auslangt. Diese Eigentümlichkeit scheint daran zu liegen, daß sich das Werden in seiner Unbestimmtheit
den drei „Zeitmodi“
nicht fügt. Diese sind
offenbar vom Sein her konzipiert: Es wird unterschieden das, was
jetzt ist, von dem, was jetzt zwar nicht ist, aber entweder frZber war
oder später sein wird. Die Dreiteilung von jetzt, früher, später paßt zum bestimmten Sein oder Nicht-Sein. Das Werden dagegen gerät in ein zwiespältiges Verhältnis zu den drei Zeitstufen, und zwar insbesondere zur Gegenwart: Als Werden, yiyveodaı, ist es der Aufbruch
aus dem Jetzt auf das Später hin (Zweideutigkeit in Bezug auf Ge-
genwart und Zukunft), als Gewordensein ist es die Herkunft aus der
Vergangenheit, die aber im Jetzt zu einem bestimmten Abschluß ge-
kommen ist (Zweideutigkeit in Bezug auf Vergangenheit und Gegen-
wart). Daneben gibt es das frühere Werden (γενέσϑαι, Vergangenheit)
und das zukünftige (μέλλειν, Zukunft).
Die Gegenwart kommt also in Strenge beim Werden nicht vor: Das Werden verläßt entweder als Werdendes gerade das νῦν (τοῦ νῦν
ἀφιέμενον, Parm. 152 c), oder es erreicht es und hórt damit zu werden auf (Parm. 152 d, ἐπίσχει ἀεὶ τοῦ γίγνεσϑαι καὶ ἔστι τότε).
Zusammenfassend ergibt sich folgendes Bild von Platons Behandlung
116
der „drei Zeitmodi*. Aus einer Tradition, die sich bis auf Homer zu-
rückverfolgen läßt, war ihm die Dreiheit von jetzt, früher und später als eine Dreiteilung des Seienden nach dem jetzt, vorher und nachher Sein geläufig. Er macht von dieser Dreiheit an einer großen Zahl von
Stellen ungezwungenen Gebrauch.?? Sobald er sich aber mit Parmenides auf die strenge Scheidung des eigentlich Seienden gegen das Her-
vortretende und Verschwindende besinnt, wird die Dreiheit der „Zeit-
modi“ zerschnitten: Gegenwart im strengen Sinne gibt es nur für das wahre
Seiende,
wahrend
es dem
Hervortretenden
und
Verschwin-
denden zukommt, daß es immer je war oder erst sein wird, nie aber wahrhaft ist. Dieses Abschneiden der eigentlichen Gegenwart beraubt den Bereich des Hervortretens und Verschwindens aber nicht schlechthin
aller
Gegenwärtigkeit,
sondern
zerfällt
diese
in
die
Aspekte
ingressiver und perfektiver Präsenz, die sich durch die Affinität des Werdenszur Zukunft bzw. zur Vergangenheit bestimmen. Von der Dreiheit der „Zeitmodi“, verstanden als Dreigliederung des Seienden, bleiben dem Bereich des Hervortretens und Verschwindens
also nur zwei,
das ἣν und das ἔσται. Betrachtet man diese aber vom Standpunkt des Werdens, dann gehen sie in eine Vierheit über: das vergangene, das
abgeschlosene, das im Gange befindliche und das zukünftige Werden. Platon hat mit diesen sorgfáltigen Unterscheidungen bei der Behandlung des „jünger und älter werdens* die Grundlage für eine phänomengerechte Behandlung der Zeitmodi gelegt, die man hätte beachten sollen, als man später die „Zeitmodi“ wirklich als Modi der Zeit auffaßte. Stattdessen hat man an der Dreiheit festgehalten, die doch
nur einen ausweisbaren Sinn als Gliederung des Seienden, nicht der Phänomene hat. V. Alter und jünger werden als man selbst Wir haben ın unserer bisherigen Erörterung des „älter und jünger Werdens“ das γίγνεσθαι nur formal behandelt, ohne darauf zu achten, ob es in diesem Beispiel als ein innerweltliches Werden oder als das
Hervortreten paradeigmatischen Seins in der sinnlichen Welt als seiner Darstellung aufzufassen ist. Wenn wir uns jetzt der inhaltlichen Be733 Z.B. Nom. 884 a, 888 e, 896 a, Tim. 38 c. Aber auch an den Stellen Parm. 141 und 151 wird die Dreiteilung vorausgesetzt.
besprochenen
117
trachtung dieses Beispiels zuwenden, dann muß eine Klärung dieses Punktes nachgetragen werden. Das Werden im ,àlter und jünger werden als man selbst“ meint das innerweltliche Werden, es meint Ver-
änderung, denn es impliziert ja das „Selbst“ als identisches, an dem sich das älter bzw. jünger werden als Wechsel von Bestimmungen
zeigt. Wir werden durch die nähere Analyse sehen, daß das Phänomen des „älter und jünger Werdens“ durch das yiyveodaı im Sinne des Hervortretens erzeugt wird. So wird es ja auch an unserer Timaiosstelle dem paradeigmatischen Sein abgesprochen, weil es zu dem gehört, „was das Hervortreten dem in der Wahrnehmung
sich Bewegen-
den anheftet“ (38 a). Hier wie an den beiden Stellen im Parmenides (141 ff., 151 ff.) wird
das „älter und jünger Werden“ als das hervorragende Charakteristikum des Daseins in der Zeit genannt. Wir führen zum Beleg eine der
Stellen an: „Es ist also notwendig, wie es scheint, daß, was in der Zeit Ist und an etwas derartigem?* teilhat, daß jedes von diesem selbst mit
sich selbst dasselbe Alter habe und auch älter als es selbst und zumal Jünger als selbst werde* (Parm. 141 d). Wir werden also, um Platons Zeitlehre zu verstehen, das Phänomen des „älter und jünger Werdens“ genauer betrachten müssen, ob sich in diesem „Charakteristikum“ nicht doch eine formale Bestimmung zeigt, die die sinnliche Welt als solche auszeichnet. Was will nun Platon mit der Wahl des „älter und jünger Werdens“ als charakteristisches Phänomen zeitlichen Daseins sagen? Man meint,
ıhn sofort zu verstehen, wenn man daran denkt, daß man eben durch die Zeit altert, daß man Runzeln bekommt und graue Haare. In die-
sem Sinne sagt auch Aristoteles, daß die Zeit ihrem Wesen nach eher
Ursache der Zerstörung sei (Phys. A 12, 221 b). Aber von solchen im Sinne eines Entropiezuwachses zu deutenden Vorgängen ist an den angegebenen Platonstellen nicht die Rede. Im Gegenteil will Platon
ja gerade zeigen, daß älter zu werden zugleich jünger zu werden bedeutet. Es kann also kaum die Irreversibilität der Naturvorgänge sein, die er zum Charakteristikum zeitlicher Existenz erhebt.
Versuchen wir aus den angegebenen Stellen selbst zu erschließen, was
74
᾿Ανάγκη
ἄρα
ἐστίν,
ὡς
ἔοικεν,
ὅσα
γε
ἐν
χρόνῳ
ἐστὶν
xai
μετέχει
τοῦ
τοιούτου, ἕκαστον αὐτῶν τὴν αὐτὴν TE αὐτὸ αὑτῷ ἡλικίαν ἔχειν καὶ πρεσβύτερόν τε αὑτοῦ ἅμα καὶ νεώτερον γίγεσϑαι. Wir beziehen das τοῦ τοιοῦτου auf χρόνος, weil in diesem Zusammenhang von einer μέϑεξις χρόνου geredet wird (141 d).
118
Platon meinte. Bemerkenswert ist an Platons Redeweise zweierlei: Erstens, daß, was älter wurde, damit älter als es selbst wurde, und
zweitens, daß es damit zugleich jünger als es selbst wurde.
Alter- Werden wird als ein Relativ verstanden. Das schon würde im
Deutschen als Härte empfunden. Älter-Sein ist relativ: Wenn jemand
sagt „Klaus ist älter“, so wird man fragen „älter als wer?“ Die entsprechende Frage bei dem Satz „Klaus wird älter“ wird nicht einfach
als überflüssig, sondern als unsinnig empfunden. Das Alter- Werden
verstehen wir als etwas, das Klaus allein geschieht, absolut, ohne daß
man ihn dazu mit irgendetwas oder irgendwem zu vergleichen hätte. Das Alter- Werden wird als eine Einheit, als Alterwerden verstanden,
als Vorschreiten im Leben, als Leben überhaupt. Man hat es weder als
Eigenschaft, noch erwirbt man es, sondern man vollzieht es. Dagegen versteht Platon das Alter- Werden offenbar als das Werden des Alter-
Seins, das Gewinnen der Eigenschaft des Alter-Seins. Alter-Sein ist aber ein relatives Prädikat, und wenn dieses an Klaus hervortritt, so
wird die Frage berechtigt, älter als wer Klaus denn ist, wenn er älter wurde. Die natürliche Antwort auf eine solche Frage ist, daß Klaus nun älter 1st als er vorher war. Also wurde Klaus älter als er selbst. Nun wird allerdings — ganz wie bei Platon — in dem letzten Satz das „war“. besser gesagt der Unterschied von
„er ist“ und
„er war“
unterdrückt. Das Alter- bzw. Jünger-Sein wird eben streng genommen, nämlich als Sein. Zu dieser Ableitung ist zunächst noch einiges zu sagen. Das Paradox, daß man älter als man selbst wird, kommt offenbar dadurch zustande, daß nach Platon das Phänomen des Älter-Werdens streng genommen nicht als eine Veränderung, ein Wechsel von Eigenschaften zu deuten ist, sondern als das Hervortreten des Älter-Seins begriffen werden muß. Dasjenige, an dem das Älter-Sein hervortritt, verlangt aber, soll
es als Alter-Seiendes begriffen werden,
als Relativum
ein Jünger-
Seiendes, dessen älteres es sein kann. An jenem muß also Jünger-Sein hervorgetreten sein. Ist jenes andere es selbst, Deutung des Phänomens „älter werden“ verlangt, so hat Platon behauptet: Das Alter-Werdende wird älter als es damit zumal jünger als es selbst.
zumal wie es man, selbst
das die was und
Die Ableitung beruht also darauf, daß man streng daran festhält, daß das Ältere Älteres eines Jüngeren, das Jüngere Jüngeres eines
Älteren ist und daß beide sind, was sie sind, aufgrund der Teilhabe
119
am Alter- bzw. Jünger-Sein. Die Auflösung des Paradoxes, daß man älter als man
selbst wird, kann nun offenbar entweder darin liegen,
daß man die Selbigkeit dieses Selbst nicht streng nimmt oder das Alter- und Jünger-Sein nicht streng nimmt. In jedem Fall ist das Sein
dessen, was älter werden kann, nicht streng zu nehmen, denn streng genommen ist es ein paradoxes Sein. Die zunächst gegebene natürliche Antwort „Klaus wurde älter als er vorher war“, entschärfte das Problem vorschnell. Denn sie setzte den Unterschied von „er ıst“ und „er war“, d. ἢ. die Mannigfaltigkeit zeitlicher Hinsichten, Zeitstufen,
Zeitmodi schon voraus, die Platon doch erst durch die paradoxe Charakterisierung zeitlichen Daseins erklären will.
Wir wollen jetzt versuchen zu zeigen, als was sich der Unterschied der „Zeitmodi“ vom Paradox des „älter und jünger Werdens als man
selbst“ her ergibt. Das „älter und jünger Werden“ gehört zu dem, was
das Hervortreten dem anheftet, was im Bereich des Wahrnehmbaren
sich darstellt. Des näheren wird man wohl sagen müssen, daß es primär zur Darstellung eines Lebendigen gehört. Denn das Leben des Leben-
digen kommt in seiner Ganzheit durch dessen Alter- Werden zur Darstellung. Die Lebensganzheit in der Darstellung aber wird Zeit genannt, sei es nun die Lebenszeit eines einzelnen Lebewesens oder die des ganzen Kosmos. Das Sein in der Zeit ist streng genommen ein paradoxes Sein. Wir fragen nun weiter: worin manifestiert sich das Paradox, und antworten: darın, daß die Darstellung des Lebendigen widerstreitende Aspekte zeigt. Klaus, das Kind, ist jünger als Klaus, der Mann; Klaus, der Mann, ist älter als Klaus, das Kind. Man kennt dergleichen bei allem aspektbehafteten Seienden: Von der einen Seite gesehen steht Paul rechts von Peter, von der anderen gesehen links von Peter. Von
der einen Seite bietet ein Hohlgefäß einen konvexen, von der anderen Seite einen konkaven Aspekt. Die mannigfaltigen Aspekte sind aber nicht formale Unterschiede der Dinge, an denen sıe sich finden. Ebenso
kann man das Jünger- und Älter-Sein als verschiedene Aspekte eines Lebendigen in der Darstellung auffassen. Der Unterschied der Aspekte, den die Darstellung bietet, ist aber kein Unterschied, der das Dar-
gestellte vom Darzustellenden unterschiede. Die Aspekte des in der Zeit Seienden Paradeigma.
unterscheiden
dieses
nicht von
seinem
zugeordneten
Das Jünger- und das Alter-Sein als es selbst sind die paradoxen
120
Aspekte des in der Zeit Seienden. Da man solches Sein in natürlicher,
d. ἢ. nicht strenger Redeweise mit Hilfe der Unterscheidung der „Zeitmodi* artikuliert — er ist jetzt alter, als er früher war — so erweisen sich diese noch einmal als Aspekte. Das
„es war“
und „es wird sein“,
das „es wurde“, „es ist geworden“, „es wird“, „es wird sein“, all diese Ausdrücke bezeichnen Aspekte, die die Lebensganzheit in. der sinn-
lichen Darstellung darbietet. Sie bezeichnen Aspekte der Zeit, εἴδη
χρόνου.
121
4. KAPITEL ZAHL
(ἀριϑμός)
I. Einleitung
Unsere bisherige Darstellung von Platons Zeitlehre hat ein Element dieser Lehre immer
noch ausgespart, wohl
dasjenige, das für unser
philosophisch am Bewußtsein und der Geschichte orientiertes Zeitverständnis am befremdensten sein mag: nämlich daß die Zeit eine Dar-
stellung des Aon ist, die sich zahlenmäßig bewegt. Gleichwohl haben wir ständig darauf geachtet, wie wir durch unsere Interpretation ein Verständnis des Zahlencharakters der Zeit vorbereiten könnten, oder
zumindest vermieden, ein solches durch die Auslegung der anderen Momente
der
platonischen
Zeitlehre
auszuschließen.
Unter
diesem
Aspekt war es notwendig, durch eine ausführliche Untersuchung des ontologischen Ranges der Natur und der Methodologie ihrer wissenschaftlichen Darstellung bei Platon zu zeigen, daß alles, was an der Zeit
an
formalen
Bestimmungen
auffindbar
sein
würde,
daß
das
Wesen, die Natur der Zeit im Äon zu suchen sei. Dann galt es ein
Verständnis des Aon selbst zu gewinnen, wobei darauf zu achten war, daß der Aon als intelligible Natur Zahlhaftigkeit nicht ausschließt,
vielmehr sogar verlangt. Schließlich war bei der Einführung der Bewegung in den Zeitbegriff zu verhüten, daß dadurch die Zeit ein Moment der Unbestimmtheit und Unbeständigkeit erhielt, das ein Verständnis der wesentlichen Beziehung zur Zahl unmöglich machen könnte — wie es später, einsetzend mit dem Neuplatonismus, geschehen ist.
Gleichwohl blieb doch die Zahl als Moment der platonischen Zeit-
122
lehre nur ausgespart. Es fehlt lung und der Explikation des zeigen, daß die Zahlhaftigkeit trivial ist — auch und gerade
noch eine Analyse der Zahlcharakters darin. einer Darstellung des für uns, die wir den
Zeit als DarstelDabei wird sich Aon keineswegs Aon als Lebens-
ganzheit verstehen. Wir werden uns diesem Problem im ersten Abschnitt zuwenden. Dabei wird sich als notwendig erweisen, Platons
Verständnis von Zahl und die systematische Stellung, die er ihr zu-
welst, darzulegen. Dann erst sind wir vorbereitet, zu verstehen, wie
Platon die Zeit als eine Darstellung des Aon in der zahlenmäßigen Ordnung der Himmelsbewegungen zu finden hoffte. II. Zahl und Leben
Die Schwierigkeiten, die Zeit in ihrem Zahlcharakter als Bild des Aon zu begreifen, resultieren in den traditionellen Interpretationen des
Timaios in der Regel daraus, daß man den Aon undifferenziert, d. ἢ. ohne begrifflichen Inhalt, als Ewigkeit versteht — und Ewigkeit womöglich
noch als Gegensatz
zur Zeitlichkeit bestimmt.
Letzteres
zwingt dazu, das Abbildungsverhältnis von Aon und Zeit nach dem
Schema des Teils-Teils von Übereinstimmung und Verschiedenheit zu
interpretieren, ersteres verdrängt jeden Zahlcharakter aus dem Aon —
bis auf das Einssein. Nun hat Taylor in seinem Kommentar zum Timaios?5 gerade unter
solchen Einschränkungen der Interpretation in eine Richtung der Auslegung gewiesen, die auch für uns relevant ist. Wir wollen deshalb seine Interpretation hier kurz darstellen.
Für Taylor ist der Kosmos im Gegensatz zum unveränderlichen Sein der Bereich, der immer im Werden ist, „which is always in the
making“. Deshalb ist der Kosmos nicht in striktem Sinne ewig, sondern nur in sekundärer Weise, nur approximativ. Diese approximative
Weise ewig zu sein, liegt nun gerade darin, daß die Welt immer im
Werden
ist, sie also —
anders ausgedrückt —
nie dieselbe ist. Der
Aon aber bleibt im Einen. Es liegt deshalb in dem Werden ,zu aller Zeit“ eher eine Darstellung durch Abweichung vom Xon, durch negative Entsprechung, — ähnlich wie wir es schon bei der fortstürmenden
Zeit Plotins kennengelernt '$ A. E. Taylor,
haben. Als positive Entsprechung
zum
A Commentary on Plato's Timaeus. Oxford (1928) 1962.
123
Aon, der im Einen verharrt, wird dann die bleibende Struktur der Welt
angegeben:
,Of
course,
the
formal
laws
of its
(the
sensible
world's) structure remain the same throughout“ (187). Daraus folgt dann, daß die Zeit nicht schlechthin, sondern nur in einer gewissen Hinsicht als Bild des Aon
is measured duration, measurable, an image es das Strukturelle an befähigt. Das ist auch
angesehen werden kann:
,I. e. time, which
may be said to be, in virtue of its character as of eternity (187). Taylor meint offenbar, daß der Zeit ist, was sie zur Darstellung des Aon durchaus unsere Meinung, nur daß wir nicht
glauben, daß nach Platon die Zeit auch Strukturelles an sich hat, sondern daß sie Strukturelles ist. Nun zeigt sich des Näheren, daß Taylor
Meßbarkeit hier als Zählbarkeit versteht und damit nicht nur überhaupt Strukturelles an der Zeit angeben, sondern jenes platonische
καϑ᾽ ἀριϑμὸν ἰοῦσαν auslegen will. Für uns wie für Taylor geht es hier um dasselbe Problem: Taylor hat zu zeigen, wie die Zeit gerade durch
ihre Zahlhaftigkeit die unverrückbare Einheit des Aon darstellt, für uns — die wir keine formalen spezifischen Prinzipien der sinnlichen Welt zulassen wollen — verschärft sich das Problem dahingehend, daß wir die Zahl als zum Aon gehórig verstehen müssen. Der Hinweis, den Taylor zur Lósung des Problems gibt, geht auf
die Pythagoreische Zahlentheorie. „Ihe unit was regarded as at once
odd and even, as the first member
of all the various series of ,tri-
angular, ‚square‘, ,pentagonal' and other ‚figurate‘ numbers. The special properties of each integer or class of integers thus form a
partial selection from those which were supposed to be all present together in ‚the unit ^ (187). Die Eins enthält das Wesen der Zahl,
sie enthält alle Zahlen und ihre spezifischen Charaktere im „eminenten“ Sinne, d. ἢ. so daß Gegensätze sich in ihr nicht ausschließen, sondern in ihr aufgehoben sind. Die einzelnen Zahlen können so als Ex-
plikationen oder als verschiedene Darstellungen der Eins verstanden werden. Damit ist prinzipiell klar, wie die Zahlhaftigkeit der Zeit nicht — etwa wegen des darin enthaltenen Mannigfaltigkeitscharakters — negative Entsprechung, sondern wahre Darstellung des Aon sein kann. Taylor nutzt freilich diesen fruchtbaren Ansatz nicht aus. Zum einen glaubt er offenbar mit seinem Hinweis auf die pythagoreische Zahlentheorie nicht auf das Wesen der Sache gewiesen, sondern nur eine Analogie angegeben zu haben. Jedenfalls fährt er fort: „Time 124
has a like relation to ‚eternity‘. To use a metaphor, we might say that the integers are thought of as ,shadows' oder ,projections' or ,per-
spectives! of the ‚unit‘, time as a ‚shadow‘
or ‚projection‘ or ‚per-
spective‘ of αἰών“ (187). Zum anderen macht er keinen Versuch, die strukturellen Zahlenbeziehungen, die doch für die Pythagoreer entscheidend waren, für den Begriff der Zeit fruchtbar zu machen. Für ihn besteht die Zahlhaftigkeit der Zeit allein in ihrer Quantifizier-
barkeit, genauer in der Abzählbarkeit zeitlicher Perioden. Daß diese Perioden, Tage, Jahre und Monate, selbst Zeit sind, daß sie es nicht
erst in ihrer quantitativen Bestimmung werden, wird von Taylor nicht reflektiert. Neuere Forschungen haben inzwischen gezeigt, daß die
pythagoreische Zahlenlehre für Platon eine systematische Bedeutung hat. Wir werden deshalb zu untersuchen haben, was daraus für das Verständnis der Zahlhaftigkeit folgt.
Zunächst aber haben wir noch zu zeigen, daß Zahlhaftigkeit noch in einem weiteren Sinne zum Xon gehört. Aon war uns ja nicht nur die eine Ewigkeit und schon gar nicht das Eine selbst, sondern die kompakte Lebensganzheit des noetischen Lebewesens, des ζῷον αὐτό. Unserer Auslegungsmethode entsprechend fragen wir zunächst danach,
wie Zahl zur Lebensganzheit im gewóhnlichen Sinne gehórt, und versuchen dann, jenen eminenten Sinn zu erschließen, in dem der Aon selbst zahlartig ist. Daß das Leben eine zahlenhafte Gliederung zeigt, ist eine alte
Volksweisheit. Die Lebensganzheit wird als Dreiheit, häufiger noch als Vierheit verstanden: Sie gliedert sich in Kindheit, Jugend, ἀκμή und Greisenalter. Diese Gliederung wird wiederum mit derjenigen des Jahres oder auch des Tages zusammengebracht: mit der Gliederung in Horen. Das Jahr gliedert sich in die Jahreszeiten: Frühling, Sommer, Herbst und Winter; der Tag in den frühen Morgen (ὄρϑρος), den Vormittag, nämlich die Zeit der Geschäfte auf dem Markt (ἀγορῆς πληϑυούσης), den Mittag (μεσαμβρίη), und die Zeit, zu der sich der Tag neigt (ἀποκλινομένης τῆς fju£onc).? In dem Begriff der ὥραι 1st
wie im Begriff des αἰών eine Grunderfahrung dessen, was Zeit ist, ent-
halten. Zeit wird nicht nur darin erfahren, daß ein Ablauf, insbesondere der Lebensablauf eine Ganzheit ist, sondern auch darin, daß diese Ganzheit eine innere Gliederung aufweist, eine Gliederung wechsel76 A. Mommsen, Chronologie. Untersuchungen über das Kalenderwesen der Griechen, insonderheit der Athener, Leipzig 1883, S. 57 ff.
125
seitig aufeinander bezogener Abschnitte: Zeit ist Zeiten. Dabei ist nicht die quantitative Bestimmung der Zeiten das Primäre, sondern daß es
sich um ein als Dreiheit, Vierheit, Zehnheit oder Zwölfheit geglieder-
tes Ganzes handelt. Gleichwohl hat der Zusammenhang der Abschnitte des Lebens, des Tages, des Jahres mit den gleichmäßigen Bewegungen des Himmels schon früh dazu geführt, die erfahrenen Gliederungen als größenmäßig bestimmte zu sehen. So lernten die Griechen unter dem Einfluß babylonischer Astronomie und Kalenderkunde zwischen
den ὧραι καιρικαί und den ὧραι ἰσημεριναί zu unterscheiden, den Stun-
den, die sich aus dem Verlauf der Geschäfte und ihrer Dauer ergaben
— und die deshalb mit der zur Verfügung stehenden Tageslänge im Laufe des Jahres ihrer Größe nach schwankten —, und den Stunden,
die den Tag durch Wiederholung eines gleichbleibenden Maßes gliederten. Ebenso versuchte man, die Gliederung des menschlichen Lebens als eine größenmäßig bestimmte zu erfassen, — so etwa in der Hebdomaden-Lehre, der Siebenjahresperiodik, die nicht nur in der Volksweisheit lebendig war, sondern auch in der ärztlichen Wissenschaft ihre Bedeutung hatte.7? Es sei erlaubt, Solons Gedicht über die Lebensalter als ein eindrucksvolles Zeugnis für diese Lehre in der Übersetzung von Schadewaldt”8 hierher zu setzen: Knabe zuerst ıst der Mensch,
Hag,
der dem
Kinde entsproß,
unreif: da wirft er der Zähne von sich im siebenten Jahr.
Wenn zum anderen Mal Gott schloß die Sieben der Jahre, Zeichen der Mannheit dann keimen, der nahenden, auf. Während der dritten umkraust sein Kinn — noch wachsen die Glieder — Wolliger Flaum, da der Haut Blüte im Wandel verwich. Nun in den vierten empor zu hohem vollem Gedeihen
Reift die Stärke; in ıhr zeigt was er tauge der Mann.
Mit den fünften gedeiht ıhm die Zeit, der Freite zu denken Und daß in Söhnen ersteh fürderhin währender Stamm. Während der sechsten da breitet der Geist allseit sich ins Rechte, Nimmer zu unnützem Tun treibt ihn hinfort noch der Mut. Sieben Siebenerjahre und acht: im vollen Gedeihen Stehen Zunge und Geist: vierzehn an Jahren zusamt.
Noch in den neunten ist tauglich der Mann, doch lássiger zeigen
7 Näheres dazu bei W.H.Roscher, Die Hebdomadenlehre der griechischen Philosophen und Ärzte, Leipzig 1906. 78 W. Schadewaldt, Lebenszeit und Greisenalter im frühen Griechentum, in: Die
Antike IX (1933), 282 ff. 126
Gegen das volle Gedeihn Zunge fortan sich und Witz. Wer in die zehnten gelangte, die zehnten nach Maßen vollendend, Kaum zur Unzeit wärs, träf ihn die Neige des Tods. Schadewaldt hat in seiner Interpretation des Gedichtes gezeigt, daß
Solon darin nicht einfach der Volksweisheit einen dichterischen Aus-
druck verleiht, sondern das menschliche Leben der kosmischen Ord-
nung, der Dike, unterwirft: „Der Dike schließlich ıst auch die Zeit un-
tertan geworden, als Vollstreckerin des Rechtes, als Offenbarerin der
Wahrheit, als Gericht. So greift die Zeit nun als große Ordnung weit über das Einzeldasein des Menschen hinaus. Und ordnend und schaffend, nicht ausschließlich verzehrend und raubend führt sie das, was
der Mensch vermag und ist, Stufe für Stufe zur Wirklichkeit herauf“ (aaO. 301).
Bei Platon erscheint eine solche zahlenmäßige Gliederung der Lebensganzheit weniger als physische Ordnung denn als Folge von Bildungsstufen.
So sei etwa
an den Bildungsgang
der Philosophen
erinnert, Nachdem sie mit 20 Jahren die musische und gymnastische
Grundausbildung hinter sich haben, widmen sie sich im Alter zwischen
20 und 30 Jahren den Wissenschaften, dann bis zum 35. Lebensjahr der Dialektik;
in dem Abschnitt zwischen
35 und
50 bekleiden sie
Ämter im Staat, um sich von da an nur noch der Philosophie zu widmen, bzw. je nach Bedarf dem Staat als Herrscher zur Verfügung zu stehen (Staat VII 537 ff.). Aber auch eher physisch bestimmte Lebensabschnitte kennt Platon, so etwa wenn er als die Zeit, die zum Zeugen
von Kindern geeignet ist, für die Frau auf die zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr, für den Mann auf die zwischen dem 30. und 55. Lebens-
jahr begrenzt (Staat V 460 f.). Soviel mag zur Erläuterung der Vorstellung des αἰών als einer zahlenartig gegliederten Ganzheit genügen. Die Beziehung von αἰών und Zahl besteht besteht darin, daß erstens die Lebensganzheit überhaupt
als eine Mannigfaltigkeit
aufeinander bezogener Abschnitte zu ver-
stehen ist und daß zweitens diese Beziehungen als zahlenmäßig bestimmte gedacht werden kónnen.
Um nun die Möglichkeit zahlenmäßiger Gliederung im Aon selbst aufzuweisen, müssen wir noch einmal zu dem Begriff des ζῷον αὐτό zurückkehren, der uns schon mehrfach beschäftigt hat. Den Aon hatten wir nicht als undifferenzierte Ewigkeit, sondern als einen charakteristischen Zug des Lebewesens selbst, d. h. also von Leben überhaupt 127
her interpretiert. Formal ließ sich dieser Zug mit Aristoteles als „um-
fassende Ganzheit^, τὸ τέλος τὸ περιέχον, bezeichnen. Für das innerweltliche Leben war solche Ganzheit als die naturgemäße Einheit der Lebensphasen auszulegen. Beim Lebewesen selbst konnte man dessen umfassende Einheit schwerlich als Einheit einer Sukzession von Phasen denken. Es legt sich daher nahe, diese Einheit in Analogie zur Lebenskraft als kompakte vorzustellen, die sich dann in der Darstellung in eine Mannigfaltigkeit auslegt. Wenn wir jetzt danach fragen, in welcher Weise im Aon eine zahlenmäßige Gliederung enthalten ist, und was der Aon als Einheit des ζῷον αὐτό umfaßt, so werden wir darauf
verwiesen, daß es ja geradezu ein definierendes Merkmal des Lebe-
wesens selbst ist, ein umfassend Vollendetes zu sein. Im Timaios 30c fragt Platon, welchem Lebewesen der Kosmos nachgebildet ist, und bestimmt dann das Paradeigma, das Lebewesen selbst, als dasjenige, das alle anderen umfaßt: „Keinem (Lebewesen), das unter den Begriff
einer Spezies fällt, wollen wir diesen Rang (Vorlage für den Kosmos zu sein) zubilligen — einem Unvollkommenen nachgestaltet kann
wohl nichts Schönes werden —, wir wollen dagegen annehmen, daß es
(das Weltall) jenem am ähnlichsten ist, dessen Teile die anderen Lebewesen einzeln und der Gattung nach sind. Denn die denkbaren Lebe-
wesen alle hält jenes ın sich umfaßt (ἐν ἑαυτῷ περιλαβὸν ἔχει), so wie
dieser Kosmos hier uns und was es sonst noch an sichtbaren Lebewesen
gibt“ (30 c 4—d 1). Das Lebewesen selbst ist also in dem Sinne ein umfassendes Ganzes als es alle denkbaren, das heißt also alle möglichen
Lebewesen einzeln und der Gattung nach umfaßt: Zum einen ist es Lebewesen überhaupt, und damit Oberidee und Oberbegriff für alles, was als Lebewesen angesprochen werden kann. Dieser Gedanke wird spáter bei der Erschaffung der verschiedenen Klassen von innerweltlichen Lebewesen weiter ausgeführt. Art und Zahl der Lebewesen, die notwendig sind, um den Kosmos zu vollenden, wird aus der Betrachtung des Lebewesens selbst entnommen: , Wie nun die Vernunft die dem wahrhaft seienden Lebewesen (ö ἔστιν ζῴον) innewohnenden Gestalten erschaut, welche nàmlich und wieviele ihm innewohnen, erkannte er (der Demiourg), daß auch dieser (Kosmos hier) der Art und
der Zahl nach besitzen müsse. Es sind aber vier: eins ist das Geschlecht der himmlischen Gótter, ein zweites die geflügelte und in der Luft fliegende, ein drittes die 1m Wasser lebende, ein viertes die mit Füßen
und Händen versehene Art“ (39 e 7—40 a 1). Das ζῷον αὐτό enthält 128
also alle Arten von Lebewesen, insbesondere die der himmlischen Gótter, also der Planeten und Sterne. Zum anderen enthält das ζῷον αὐτό aber auch alle Lebewesen ein-
zeln. Das kann natürlich nicht bedeuten, daß etwa jedes individuelle
sinnliche Lebewesen für sich einen noetischen Vertreter hätte — jede
Klasse von sinnlichen Lebewesen hat allerdings nur einen Vertreter im noetischen Bereich, nämlich ihre Idee. Daß das ζῷον αὐτό alle denk-
baren
Lebewesen
einzeln
und
nicht
nur
der
Gattung
nach
umfaßt,
heißt also nicht, daß es dadurch andere Lebewesen oder gar mehr umfaßte, sondern deutet auf eine andere Art des Umfassens.
Im Lebe-
wesen selbst sind eben nicht nur alle denkbaren Lebewesen als solche enthalten, sondern sie sind selbst in ihrer Mannigfaltigkeit zu einem lebendigen System zusammengefafst, so — können wir jetzt ähnlich wie Platon sagen — so wie dieser Kosmos hier alle sinnlichen Lebewesen zu einem einzigen organischen System zusammenfaßt. Wir wiesen schon einmal darauf Umfassens später in Kants Analyse kehrt. Alle Räume und Zeiten sind wohl begrifflich als auch als Teile
hin, daß diese zweifache Art des des Raumes und der Zeit wiederin dem Raum bzw. der Zeit soenthalten. Aber schon beı Platon
ergeben sich daraus Konsequenzen für die Vorstellung der Zeit. Wir
können nämlich jetzt sagen, inwiefern der eine Äon ein gegliedertes oder sogar zahlenmäßig gegliedertes Mannigfaltiges in sich enthält.
Die Mannigfaltigkeit wird gebildet durch die Mannigfaltigkeit mög-
licher Lebewesen, das ζῴον αὐτό ist deren systematische und organische Einheit. Der Aon enthält damit Typen von αἰώνες und ist selbst deren gegliedertes System. Wir werden deshalb erwarten, daß die Darstellung des einen Aon im Kosmos durch das zahlenmäßig gegliederte System der Lebensperioden der verschiedenen Lebewesen geschieht.
Insbesondere sind es die Lebensperioden der himmlischen Götter, näm-
lich der Sterne und Planeten, die in ihrem Zusammenspiel den Aon
darstellen.
Wir meinen nun, daß der Zahlcharakter der Zeit als Darstellung
des Aon nicht so sehr darin liegt, daf$ die himmlischen Bewegungen überhaupt
periodisch
und
damit
abzählbar
sind, sondern
vielmehr
in dem zahlenmäßig erfaßbaren System dieser Perioden zueinander.
Denn durch die bloße Abzählbarkeit würde sich der eine Aon ja doch
nur in der schlechten Unendlichkeit der Zahlenfolge darstellen. In dem
sich reproduzierenden System der Perioden bleibt jedoch der eine Aon 129
als ein ganzer prásent. Bevor wir jedoch die platonische Darstellung der Beziehung von Zeit und Planetensystem daraufhin ansehen kón-
nen, müssen wir uns zunächst die systematische Funktion der Zahl bei
Platon vergegenwärtigen und insbesondere vor Augen führen, was Platon für diese Frage von der Astronomie erwartete. III. Die systematische Funktion der Zahl
Die Bedeutung der Zahl für die Platonische Philosophie braucht nicht
erst erwiesen zu werden, 516 ist bekannt. Kurz gesagt, ist es die systematische Funktion der Zahl, die Vermittlung zu leisten zwischen den
beiden obersten Prinzipien dieser Philosophie, dem ἕν und der ἀόριστος
δυάς, dem Einen und der unbestimmten Zweiheit. Um das zu verstehen, war es nötig, eine Destruktion des seit Aristoteles herrschenden Zahlverständnisses zu leisten, das 416 Zahl vom Vorgang des Zählens,
der Hinzunahme von einem zu einem, her verstand. Grundlegendes
ist dazu von Stenzel in seinem Buch „Zahl und Gestalt bei Platon und
Aristoteles*?? geleistet worden. Der Zugang zu der Bedeutung der Zahl für die Platonische Philosophie, die doch im Wesentlichen als Ideen-
lehre bekannt war, wurde erst wieder frei, indem man den gestalthaften Charakter der Zahl selbst erkannte. Damit war der Weg ge-
ebnet dafür,
in den als pythagoreisch
bekannten
Vorstellungen
ein
wesentliches Element der Platonischen Philosophie zu erblicken. Man lernte so die Bedeutung pythagoreischer Arithmetik und Harmonik,
die Rolle der pythagoreischen Tetrakys, der pythagoreischen Gegensatzpaare in der platonischen Philosophie zu würdigen. Dies geschah im wesentlichen auf dem Umweg über die Zeugnisse, die es über Pla-
tons Vorlesung περὶ τἀγαϑοῦ gibt, und fand seinen vorläufigen Abschluf
in K.
Gaisers
Buch
über
„Platons
ungeschriebene
Lehre“.80
Dabei ist nie bezweifelt worden, daß sich alle Elemente der so rekon-
strulerten „esoterischen Lehre“ Platons auch in den Dialogen finden lassen — freilich häufig in einer Form, bei der es nicht wunder nimmt,
daß sie darin auch so lange verborgen bleiben konnten. Wenn
wir in der Absicht zu verstehen, in welchem
7% G.Stenzel, 1959.
Zahl
und
Gestalt
bei Platon
und
Aristoteles,
Sinne die Zahl Darmstadt,
80 K. Gaiser, Platons ungeschriebene Lehre, Stuttgart, 2. Aufl. 1968.
130
3. Aufl.
zur Zeit als einer Darstellung des Aon wesentlich gehórt, uns die systematische Bedeutung der Zahl für Platon vergegenwärtigen wollen, so liegt es fern, den Umweg über die ungeschriebene Lehre zu nehmen oder überhaupt noch einmal die überragende Bedeutung der Zahl in der Mannigfaltigkeit der von Platon behandelten Probleme zu zeigen. Wir werden uns vielmehr auf jene Stellen in den Dialogen konzentrieren, die auf eine zahlenmäßig bestimmte Begrifflichkeit der Zeit mit den Mitteln der Astronomie hinzielen. Es wird sich dabei herausstellen, daf$ es offenbar diese Behandlung der Zeit noch nicht in einer Platon befriedigenden Form gab, so daß man sich zur Explikation dessen häufig, wie Platon selbst, an Beispielen aus den der Astronomie
verwandten Wissenschaften orientieren muß. Als ein geeigneter Einstieg bietet sich der Dialog Philebos an. Dieser enthält zwei Stellen, an denen die systematische Stellung der Zahl klar wird. Platon läßt erkennen, daß er sich eine den jeweils vorgeführten Beispielen entsprechende Behandlung der Zeit wünscht. Die erste der beiden Stellen zeigt die Funktion der Zahl bei der Lósung des Problems des Einen und Vielen, die zweite läßt ihre Stellung und Funktion innerhalb einer Vierprinzipienlehre erkennen. Es wäre nun
natürlich durchaus verkehrt, beide Stellen isoliert voneinander zu be-
trachten, gleich zu die dem lung der
andererseits würde es wohl auch Verwirrung stiften, sie zubehandeln. Wir werden deshalb den Weg einschlagen, zunächst Text nach erste Stelle vorzustellen und dann bei der Behandzweiten an Hand der Beispiele zu erläutern, welches Licht von
der Prinzipienlehre her auf das Problem des Einen und Vielen fällt.
Die Zahl wird an der ersten Stelle als Vermittlung des Einen und
des Vielen vorgestellt. Das Problem des Einen und Vielen, das dabei gelöst werden soll, ist dabei nicht das landläufige, nämlich das mannig-
faltiger Zusammensetzung im sinnlichen Bereich, sondern eines, das im Bereich des Denkbaren selbst statthat. Wir kónnen — wohl etwas verkürzend — für eine Entfaltung des Problems muß auf den Parmenides verwiesen werden — sagen, daß das Eine und Viele in zweierlei Hinsicht schon im Bereich des Denkbaren nach einer Vermittlung verlangt: nämlich erstens, weil zu jeder Idee, die doch wesentlich eine sein soll, eine Mannigfaltigkeit von Bestimmungen gehört, und zweitens weil durch jede Idee eine Mannigfaltigkeit anderer bestimmt ist, nàmlich alle die, die an ihr teilhaben, ohne daß sie selbst
dadurch vervielfältigt sein darf. Indem nun zwei der später zu be-
131
sprechenden vier Prinzipien, πέρας und ἄπειρον, Grenze und Grenzenlosigkeit, eingeführt werden, wird mit einem allgemeinen Grund für
die Verwirrung, die das Problem des Einen und Vielen erzeugt, auch
deren Heilmittel angegeben. Die Verwirrung resultiert nàmlich daraus, daß man vom einen immer sogleich in eine unbestimmte Mannig-
faltigkeit übergeht, das Remedium
in der Anweisung
diesen Über-
gang Schritt für Schritt zu vollziehen. Man müsse von jedem einzelnen
zunächst immer eine Gestaltung erfassen, dann zusehen, ob darin zwei
enthalten seien oder etwa drei, und so müsse man immer fortschreiten — offenbar, bis sich keine bestimmten Unterschiede mehr angeben
lassen, „und dann erst jedes Eins von allem in die Unendlichkeit freilassen* (16 e, Übers. Schleiermacher). Man
meint sehr rasch zu verstehen, daß hier das Verfahren
der
Begriffsdihairese beschrieben wird. Dementsprechend hat man die Bedeutung der Zahl hier gelegentlich auf die Bestimmung der Anzahl
der Schritte, die zu einer Definition führen, reduziert, „des Abstandes des Unteilbaren von der obersten Systemeinheit“, wie es noch bei Stenzel heißt. Demgegenüber muß man beachten, daß von den von
Platon angegebenen Beispielen, Harmonik, Rhythmik, Grammatik, sich. allenfalls die Bestimmungen der einzelnen Lautzeichen dem
üblichen Verfahren einer dihairetischen Begriffsbestimmung fügen wür-
den. Und gerade dieses Beispiel wird zur Erläuterung des Verfahrens herangezogen, bei dem der oben skizzierte Weg in umgekehrter Richtung durchlaufen wird, nämlich vom Unendlichen anhebend und dann
aufsteigend zu bestimmten Unterscheidungen, — was bei der dihaire-
tischen Begriffsbestimmung nie vorkommt. Außerdem ist bei einer solchen Auslegung in keiner Weise zu sehen, was denn die Zahl zur Lósung des doch sehr schwerwiegenden Problems des Einen und Vielen solle beitragen können. Man könnte sich dazu entschließen, die hier angegebene Methode
als eine durchaus von denen des Sophistes und
Politikos verschiedene anzusehen. Demgegenüber glauben wir eher, daf die Methode der dihairetischen Begriffsbestimmungen einen Sonderfall der Methode des Philebos darstellt. Das kann man allerdings nur, wenn man auch bei der Begriffsdihairese der Zahl eine ganz andere Funktion als bloß die Angabe einer Ordnungszahl für den definierten Begriff zumutet.?! 81 S. dazu Gaiser, ,mathematische Teilung*, aaO. S. 125 ff.
132
Erklirung
der
Ideen-Dihairesis
als Linien-
Betrachten wir das erste Anwendungsbeispiel! Es handelt sich — wie nachher die zweite Philebosstelle unzweifelhaft macht — um die pythagoreische Harmonik.8? Diese wird hier also als ein Beispiel dafür interpretiert, wie Einheit mit Vielheit durch Zahl vermittelt wird. Die Einheit, von der ausgegangen wird, ist das Wesen Ton, φωνή. Diesem ist nach der Regel nicht die unbestimmte Fülle móglicher Tóne entgegenzusetzen, sondern man hat von der Einheit zu einer Zweiheit
überzugehen. Die Zweiheit wird eingeführt durch den Unterschied von Hoch und Tief, als drittes kommt dann die Tongleichheit hinzu. Pla-
ton hat damit, würde ein moderner
Wissenschaftstheoretiker
sagen,
durch Einführung einer Aquivalenzrelation den Bereich der Tóne zu
einer Quasireihe gemacht (Schritt a). Als nächstes (b) werden nun Abstände, Intervalle, bestimmt, „wieviele es der Zahl nach und welche es im Bereich der Tonhóhe und -tiefe gibt* (17 c, d). Dann werden die Grenzen der Intervalle bestimmt (c) und schließlich (d) werden daraus Systeme (συστήματα) von Tönen gebildet, „die unsere Vorgänger erkannt und uns, den ihnen Folgenden, Reihen, Tonleitern (ἁρμονίας) zu nennen überliefert haben“ (17 d). Wir haben hier mit Bedacht die Schritte b und c getrennt, die Platon nacheinander, wenn auch nicht deutlich durch Sátze als einzelne markiert, aufführt. Man wird demgegenüber vielleicht einwenden, daf man doch die einzelnen Töne schon haben müsse, wenn man die Intervalle bestimmt. Aber einerseits würde das nicht mit der zu demonstrierenden Methode übereinstimmen, durch die doch die Mannigfaltig-
keit des einzelnen durch die schrittweise Einführung von Differenzierungen erst gewonnen werden soll, andererseits gehen die Intervalle sowohl der Praxis als der Theorie der Musik nach den Einzeltónen
voraus. In der Praxis der Musiker, der Kitharóden etwa, ist ja nicht
von einer fest vorgegebenen Tonleiter auszugehen, vielmehr sind die
einzelnen Töne ausgehend von einem durch „Stimmen“ festzulegen. Dieses Stimmen aber legt die einzelnen Tóne mit Hilfe von konsonanten Intervallen fest. Wir zitieren zu dieser Praxis die Ausführungen van der Waerdens, denen auch aus einem anderen Grunde großes Ge-
wicht zukommt,
weil es ihm mit diesen Feststellungen gelingt, die
82 Es ist wohl ganz unsinnig, um der Nähe
zum grammatischen
Beispiel willen,
Platon hier eine andere Harmonik als an der Stelle Phil. 25/26 zu unterschiebenDarin wird L. Richter, Zur Wissenschaftslehre von der Musik bei Platon und Aristoteles, Berlin 1961, S. 91 ff., durch Stenzel irregeleitet.
153
Tonleiter des Timaios in ihrem musikalischen Sinn zu rehabilitieren: Man
stimme zunächst nach Quinten und Quarten
die festen Saiten,
die die Tetrachorde begrenzen: Hypate, Mese, Paramese, Nete. Eine Quarte über der Mese stimme man die Parenete, eine Quinte tiefer den Lichanos, eine Quarte hóher die Trite, eine Quinte tiefer die Parhypate. Die Griechen nannten das: „Bestimmung der Töne durch
Konsonanzen* (N διὰ συμφωνίας Afjyic).9 Die Praxis der Stimmung ist aber andererseits nur Ausdruck der musiktheoretischen Tatsache,
daß die Intervalle die Töne festlegen und nicht umgekehrt. Man hat also theoretisch zuerst herauszufinden, welche Intervalle und wieviele Arten von Intervallen es gibt. Diese Frage wird in der pythagoreischen Musiktheorie durch die Aussage beantwortet, daß die symphonen In-
tervalle ganzzahlige Vielfache (n : 1) oder überteilige (n 1 : n) Verhältnisse darstellen müssen. Aus dieser Forderung kann man dann „a priori“ die verschiedenen möglichen Intervalle bestimmen, Oktave, Quinte, Quarte, Ganzton usw.: Man erkennt, wieviele und welche Intervalle es gibt.
Wir verstehen also das „ta διαστήματα ὁπόσα ἐστὶ τὸν ἀριϑμὸν“ nicht
als eine Festlegung der Intervalle ihrer Größe nach, sondern eine ihrer Anzahl nach. Die Größenbestimmung von Intervallen kann ja innerhalb der Musiktheorie, die Intervalle als Zahlenverhältnisse definiert, nur logarithmisch sein. Anders ist es in der Musiktheorie des Aristoxenes, der Intervalle „atomistisch“ aus Halb- und Vierteltónen zusam-
mengesetzt dachte. An einer Stelle im Staat hat Platon selbst vom „Heraufmessen“ in der Musiklehre gesprochen — und zwar zustim-
mend.8* Das hat van der Waerden veranlaßt, dies sehr raffiniert im Sinne des Euklidschen Verfahrens der Wechselwegnahme (Aufsuchen des größten gemeinsamen Teilers) zu deuten. Andererseits scheint uns durch die Untersuchungen von Burkert®® gesichert, daß die Pytha-
goreer selbst zunächst die Intervalle als Differenzen und nicht als Verhältnisse deuteten, wie man es in — wegen dieser Schwäche häufig verworfenen — Philolaosfragmenten finden kann. Daraus wäre wohl zu folgern, daß sich die pythagoreische Musiktheorie — nicht ihrer 8 B.L. van der Waerden,
(1943), S. 189.
Die Harmonielehre
der Pythagoreer,
in: Hermes
78
84 Po]. VII 531 a. 85 W. Burkert,
Weisheit
Platon, Nürnberg 1962.
134
und Wissenschaft,
Studien
zu Pythagoros,
Philolaos und
mathematischen Behandlung nach überhaupt — sondern als Verhält-
nislehre erst zu Lebzeiten von Platon, nämlich unter dem Einfluß der
Fortschritte, die die Proportionslehre durch Eudoxus und Archytas
gemacht hatte, entwickelt hat. Dann werden also die einzelnen Töne als Termini der Intervalle bestimmt und aus ihnen Tonleitern zusammengestellt. Es ist für uns von besonderer Wichtigkeit, daß das Verfahren mit diesem Schritt (d),
der Bildung der Tonleiter, abschließt. Das war ja keineswegs zu erwarten, sollte es doch den vermittelten Übergang von dem Einen zur unbestimmten Vielheit darstellen. Doch was wäre das für eine Vermittlung, wenn das eine nur schrittweise die Vielheit aus sich ent-
lassen hätte? Sicherlich hätte man erreicht, was auch für Platon sehr wichtig ist; man sieht „von dem ursprünglichen Eins nicht nur, daß es
Eins und Vieles und Unendliches ist, . . . ., sondern auch wie vieles* (16 d), d. ἢ. man hätte die unbestimmte
Vielheit, das „Unendliche“,
zahlfähig gemacht. Viel wichtiger aber erscheint uns, daß durch die beschriebene Erzeugung des Vielen dieses in seiner Mannigfaltigkeit sich als ein Ganzes herausstellt, zu dem es dann im letzten Schritt auch tatsächlich wieder zusammengenommen wird; die Vielheit erweist sich als ein σύστημα, ein System.
Daß die systematische Einheit selbst zahlenmäßig erfaßbar ist, nämlich durch die Proportionen, mag uns als eine Besonderheit erscheinen, die vielleicht das System der Tóne gegen andere auszeichnet.
Platon jedenfalls betrachtete die Harmonik, wie aus ihrem Gebrauch
als Beispiel an mehreren Stellen hervorgeht, nicht als einen Sonder-
fall, sondern als ein Vorbild, an dem zu sehen war, was er sich auch
in anderen Bereichen wünschte. Wie sieht nun nach dem Gesagten die Lösung des Problems des Einen
und
Vielen
aus, und
was
leistet darın
die Zahl?
Das
Eine
gliedert sich in eine Mannigfaltigkeit von Unterschiedenem, wobei es
aber weder vervielfältigt noch zerschnitten wird, sondern zur Darstellung als System gelangt. Die Zahl ist dabei die Bestimmung des
Mannigfaltigen als Darstellung des Einen. Sie ıst nämlich einerseits Anzahl und insofern die Bestimmtheit des Mannigfaltigen als eines solchen, und andererseits leistet sie die Zusammenfassung des Mannigfaltigen zu einem Ganzen als Bestimmtheit der systematischen Beziehungen.
Wieviel Platon an der systematischen Zusammenfassung des Vielen 135
gelegen ist, kommt noch ausdrücklicher bei dem Beispiel heraus, mit dem Platon das umgekehrte Verfahren, das seinen Ausgang von der unbestimmten Vielheit, dem Unbegrenzten nimmt
und von dort zah-
lenmäßig zum Einen fortschreitet. Das Beispiel ist aber in anderer Hinsicht nicht so durchsichtig wie die Harmonik. Es handelt sich um
die Grammatik oder wie wir heute sagen würden: die Phonetik. Aus
der unbestimmten Menge menschlicher Laute (auch φωναί im Griechi-
schen) werden zunächst Klassen gebildet und zwar die drei Klassen der Vokale, der Semivokale, und der Mutae. Als Klassen werden die
Laute noch mengenmäßig bestimmt, d. ἢ. es wird festgestellt, wieviele Laute zu jeder Klasse gehören. Man könnte nun einwenden, daß man
damit schon alle Laute einzeln habe. Denn wie sollte man sie sonst
zählen. Das trifft aber nicht zu. Man kann zwar die Laute 2, o, y, u, v, 6 schon zur Klasse der Semivokale zusammengefaßt haben, damit hat man aber doch die einzelnen noch nicht als einzelne erfaßt, nàmlich als das, was sie sind, bestimmt. Das geschieht erst in den folgen-
den Schritten, durch die die Klassen solange zerlegt werden, bis man
die einzelnen Laute als einzelne bestimmt hat. Heute geschieht das gewöhnlich so, daß etwa die Mutae nach Gutturalen, Labialen und Dentalen einerseits, und Tenues, Mediae, Aspiratae andererseits ein-
geteilt werden. So ergibt sich z. B. das « als aspirierter Labial-Laut. Soweit leistet die Methode also zunächst die Definition der einzelnen
Laute, indem zunächst ihre unbestimmte Mannigfaltigkeit in Klassen
zusammengefaßt und dann diese bis zu einelementigen zerteilt werden. Nun aber kommt das Entscheidende: „Und da er (der sagen-
hafte Erfinder der Lautzeichen Theut) sah, daß niemand von uns auch
nicht einen (Laut) für sich allein ohne sie insgesamt verstehen kann, so fafste er wiederum dieses ihr Band als eines zusammen und als diese
alle vereinigend, und benannte es daher als das eine zu diesen die Sprachkunst* (18 c, Übers. Schleiermacher). Diesen letzten Satz wird
man vielleicht erstmalig von der modernen strukturalistischen Sprachtheorie her würdigen kónnen. Er zeigt, wie weit Platon von einer atomistischen Sprachtheorie entfernt ist: Er leugnet, daß man die einzelnen Laute isoliert voneinander begreifen könne, obgleich diese Isolierung zugestandenermaßen die Aufgabe der Lautlehre ist. Erst in
ihrem systematischen Zusammenhang (δεσμός) erhalten sie ihr volles Wesen. Dieser systematische Zusammenhang der Laute ist also hier die
Einheit, die ausgehend von der unbestimmten Vielheit über die Man136
nigfaltigkeit einzelner Laute erreicht wird. Sie wird identifiziert mit
der Sprachkunst, der γραμματικὴ τέχνη, offenbar in dem Sinne, in dem
die Gesundheit und die ärztliche Kunst, die Zahl und die Arithmetik
als Idee eine sind. Die Einheit der Laute kommt in diesem Beispiel also nicht als kompaktes Wesen des menschlichen Lautes heraus, sondern als ihr Zusammenhang, ihr entspricht also im vorigen Beispiel eher die Tonleiter. Die Leistung der Zahl in der damit erreichten Vermittlung des Einen und Vielen beschränkt sich hier auf die zahlen-
mäßige Gliederung des Mannigfaltigen der Laute. Daß ihr systematischer Zusammenhang selbst sich zahlenmäßig erfassen läßt, ist nicht zu ersehen, er kann wohl auch erst heute — zwar nicht als Gegenstand der Zahlenlehre wohl aber doch als Gegenstand der Mathematik im
weiteren Sinne betrachtet werden.
Mit Sicherheit weitergehend ist die Rolle der Zahl in einem dritten
Bereich, den Platon — gleich im Anschluß an die Harmonik — nur noch als Beispiel nennt, ohne es weiter auszuführen: „In den Bewegungen des Kórpers kann man andere derartige Eigenschaften erfassen, von denen sie (unsere Vorgänger) sagen, daß man sie durch Zahlen
messen und Rhythmus und Metra nennen muß und zugleich einsehen muß, daß man entsprechend in Bezug auf jedes Eine und Viele Unter-
suchungen
anstellen muß“
(17 d). Das mehrfache
„deiv“, man
muß,
scheint uns darauf zu deuten, daß diese Wissenschaft der „Rhythmik“
zwar als Aufgabe formuliert war, nicht aber vorlag. Inhaltlich hätte
516 sich wohl, so versteht man unmittelbar durch die enge Nachbar-
schaft zur Harmonik, mit den Bewegungen zur Musik im Singen und Tanzen zu befassen. Das wird durch die zweite Philebosstelle und das Symposion bestätigt. Es wird sich aber herausstellen, daß für Platon diese Art, die Bewegungen des Körpers zu behandeln, zum
Thema
der
Astronomie®®,
speziell
einer
astronomischen
Zeitlehre
wurde. So viel sei hier angedeutet, um unsere weitere Behandlung des Philebos zu motivieren. Wir wenden uns nun der zweiten Philebosstelle zu. Dort wird aufgenommen, was schon vorher (16 c) gesagt worden war, daß nämlich
alles, was als eines und vieles betrachtet werden muß,
Grenzenlosigkeit in sich zusammengewachsen
„Grenze und
enthalte.“ Dieser Ge-
danke wird nun 23 b ff. zu einer Lehre von vier „Ursachen“ oder bes86 Die enge Beziehung von Musik und Astronomie ist ebenfalls als pythagoreisch bekannt.
137
ser vier Prinzipien alles Seienden ausgebaut. Es lassen sich im ganzen Bereich des Seins unterscheiden: erstens Seiendes vom Charakter einer
Begrenzung (πέρας), zweitens Seiendes vom Charakter der Grenzen-
losigkeit (ἄπειρον), drittens Seiendes, das aus beidem zusammengemischt ist (τὸ συμμισγόμενον), viertens Seiendes, das als Ursache solcher Zusammenhänge der ersten beiden Arten angesprochen werden kann (f| αἰτία συμμείξεως). Um anzudeuten, daß hier keine Vollstän-
digkeit angestrebt ist, wird gleich noch eine mógliche fünfte Gattung
hinzugefügt, die Ursache der Trennung. Es stellt sich später heraus, daß die hier angegebenen Prinzipien denen des Timaios entsprechen,
denn 26 d ff. wird τὸ συμμισγόμενον mit τὰ γιγνόμενα identifiziert, die
als solche eine Ursache verlangen. Diese Ursache, im Timaios als δεμιουργός oder πατήρ bezeichnet, stellt sich hier als Seele im Sinne von νοῦς heraus??: „Die Vernunft aber durchordnet alles, τὸ δὲ νοῦν πάντα διακοσμεῖν (28 e).
Unsere Frage ist nun darauf gerichtet, welche Stellung der Zahl in diesem Gefüge zukommt. Die Klasse des Unbegrenzten kann 24 e als all dasjenige bestimmt werden, ,das mehr und auch weniger wird und
das Stark und Schwach und Sehr und alles dergleichen annimmt". Bei-
spiele sind „wärmer und kälter“, „schneller und langsamer“, „höher
und tiefer“. Das Annehmen des Mehr und Weniger ist nun geeignet als
unterscheidendes Merkmal gegenüber dem Grenzartigen. Es zeigt sich
nämlich, daß das Mehr und Weniger bestimmte Größen
ausschlie-
fen: „Denn worin sie sich befinden, das lassen sie nicht ein so und so Großes (oder so und so vieles: ποσόν) einzelnes sein“ (24 c). Z. B. wären das Wärmere und Kältere nicht, was sie sind, wenn sie Quantität (τὸ
ποσόν) annähmen. Interessant ist die Begründung aus dem dynami-
schen Charakter der Intensitäten, der in der mittelalterlichen Diskus-
sion der intensio et remissio formarum lebendig blieb, aber später unter dem Titel der intensiven Größen — für Platon nach dieser Stelle eine untragbare Begriffbildung — verlorenging:
schreitet nämlich immer fort und bleibt nicht das so und so Große (τὸ ποσόν) aber steht angehalten* (24 d). Mehr und Weniger und bestimmte Größe ander aus. Deshalb kann nun die Gattung des
„Das Wärmere
und ebenso das Kältere, und ist im Vorschreiten schließen demnach einGrenzartigen aus diesem
87 Diese Beziehung zum Timaios wird die Arbeit von K. M. Meyer-Abicdh „Platons Prinzipien der Physik“ ausführlich darlegen.
138
über
Gegensatz definiert werden: „Also was nun dieses (Mehr und Weniger) nicht annimmt, sondern alles Entgegengesetzte hiervon annimmt, zuerst das Gleiche und die Gleichheit (ἰσότητα), und nach dem Glei-
chen das Zwiefache und was sonst Zahl ist im Verhältnis zur Zahl
(πρὸς ἀριϑμὸν ἀριϑμός) und Maß im Verhältnis zu Maß, wenn wir dies alles unter die Grenze rechneten, würden wir wohl ganz recht daran tun* (25 a, b, Übers. Schleiermacher). Damit ist die Familie des
Grenzartigen noch nicht, wie die des Grenzenlosen durch das Auf-
nehmen des Mehr und Weniger mit Hilfe eines definierenden Merkmals bestimmt. Sie erhält deshalb wenig später eine neue Zusammenfassung durch ihre Funktion bei der Hervorbringung der Klasse des Gemischten. Diese Funktion besteht, kurz gesagt, darin, Zahl in das Unbegrenzte zu bringen. Zur Familie des Perasartigen gehört, heißt es, „alles was macht, daß einander Entgegengesetzes sich nicht mehr auseinanderstrebend verhält, indem es Kommensurabilität und Konsonanz hineintragend Zahl bewirkt“ (25 d, e). Wir beginnen unsere Auslegung am besten, indem wir ein paar
Worte zu unserer Übersetzung sagen. Schleiermacher übersetzt das »διαφόρως ἔχοντα“ durch „sich ungleich verhalten“. Nun ist aber klar,
daf$ das Entgegengesetzte, indem es einer Bestimmung nach Maß und
Zahl unterworfen wird, nicht etwa gleich wird oder auch überhaupt
seine Unterschiedenheit und Gegensätzlichkeit einbüßt.88 Was verloren geht, ist vielmehr der von uns hervorgehobene dynamische Charakter. Das Größere schießt nicht mehr über das Kleinere unbestimmt hinaus, das Kleinere bleibt nicht mehr hinter dem Größeren unbestimmt zurück, sondern beide werden z. B. als das Doppelte des Halben und als das Halbe des Doppelten festgehalten. Sie verhalten sich jetzt wie
Zahl zu Zahl oder wie Maß zu Maß. Wir haben deshalb zur Über-
setzung von σύμμετρα und σύμφωνα auch sogleich die Wissenschaften verweisenden technischen Ausdrücke surabilität und der Konsonanz benutzt, denn an ihnen hier Platon, wie die Beispiele sogleich zeigen werden,
auf bestimmte der Kommenorientiert sıch wenngleich er
sicherlich auch an schwächeren Formen von „Gleichmäßigkeit und Zusammenstimmen“ — so Schleiermacher — gedacht hat.
Fragen wir jetzt, bevor wir uns den Beispielen zuwenden, noch ein-
88 Ἐς liegt uns nichts daran, Schleiermacher hier Unrecht zu geben. Sollte er gemeint haben, daß das sich ständig ändernde Verhältnis der Gegensätze durch das πέρας zu einem festen wird, so stimmen wir ihm zu.
139
mal allgemein nach der Rolle der Zahl in dieser Prinzipienlehre! Die
Zahl gehört zweifellos selbst zur Gattung des Perasartigen, das bestä-
tigt auch die schon einmal herangezogene Stelle im Kratylos (432 a, b). Ihr Hervortreten in der Grenzenlosigkeit ist die Versóhnung — oder wie es an einer noch zu besprechenden Stelle im Symposion heißt: die Befreundung der darin enthaltenen Gegensätze. Diese werden von einander entgegenlaufenden Tendenzen zu festen Termini, die durch das Joch eines zahlenmäßigen Verhältnisses zusammengehalten werden. Auch hier sehen wir wieder, daß die Funktion der Zahl nicht hauptsächlich darin besteht, ein bestimmtes Sachgebiet „zählbar“ zu machen, zu quantifizieren, sondern darin, den systematischen Zusammenhang
innerhalb eines Sachgebietes zum Ausdruck zu bringen. Die Beispiele sind nun folgende: Die richtige Gemeinschaft (691 κοινωνία), heißt es als erstes, bringe bei Krankheiten die Gesundheit
hervor. Welches dabei die gegenstrebigen Tendenzen sind, werden wir
später aus dem Symposion erfahren. Ob Platon in seinem Verständnis
der Gesundheit als eines ausgewogenen Verhältnisses von Gegensätzen soweit gegangen ist, dieses Verhältnis als zahlenmáfsig bestimmt
anzusehen, vermógen wir nicht zu sagen. In seiner Absicht lag die Einführung der Zahl sicherlich auch hier. Wichtiger für uns sind jetzt das zweite und dritte Beispiel: „Wenn
nun dieses (das Grenzartige) in Hohes und Tiefes, Schnelles und Lang-
sames hineinkommt, wird es nicht zumal Grenze bewirken und die
ganze Musik aufs vollendetste zustandebringen?* (26 a). Wir erhalten hier also nähere Aufschlüsse über die beim Problem des Einen und Vielen behandelten Beispiele: Die Einführung der Zweiheit von Hoch und Tief war nicht schon die Einführung fester Bestimmungen von
Tönen, etwa die Festlegung von „Tonbereichen“, wie man gemeint hat,8? es handelte sich vielmehr um die „unbestimmte Zweiheit*, ἀόριστος δυάς, gegenstrebiger Tendenzen. Die Konsonanz ist der Aus-
gleich der laufenden Dadurch Tief: Die
Spannung des Hohen und Tiefen, indem ihre auseinanderTendenzen in einem festen Verhältnis einbehalten werden. kommt Zahl in den unbestimmten Bereich von Hoch und Konsonanzen werden als Verhältnis „von Zahl zu Zahl“
erfaßbar.? 891 Richter aaO. S. 90. ? Hier also der Beweis, daß es sich um monik handelt.
140
die mit Proportionen
arbeitende Har-
Das dritte Beispiel — hier ebenfalls unter Musik subsumiert — scheint uns jene Lehre von der Bewegung des Kórpers zu bezeichnen, die wir
vorher
,Rhythmik*
genannt
haben.
Wir
haben
demnach
Rhythmos und Metra als einen zahlenmäßig bestimmten Ausgleich von Schnelligkeit und Langsamkeit zu verstehen. Da schon an jener ersten Philebosstelle die Rede davon war, daß die Eigenschaften der Bewegungen — wir kónnen nun sagen: Schnelligkeit und Langsamkeit — „durch Zahlen gemessen werden müssen“, ist der Ausgleich
der Gegensätze hier wohl als Kommensurabilität zu erwarten, als festes Verhältnis von „Maß zu Maß“ (25 b). Wenn das zutrifft, so
sind also Harmonik und Rhythmik, durch Zahlenverhältnis und Maßverhältnis sowie durch Konsonanz und Kommensurabilität stets in unserem Philebostext parallel genannt.
Als viertes Beispiel wird erwähnt, daß das Perasartige in Hitze und Kälte?! das allzu Heftige und Unbegrenzte aufhebt, „und darın das
Angemessene (ἔμμετρον) und Ebenmäßige (σύμμετρον) bewirkt“ (26 a, Übers. Schleiermacher). Hier handelt es sich offenbar um den Ausgleich von Witterungsgegensätzen — und offenbar ist das, was nun als Letztes genannt wird, nicht als ein selbständiges fünftes Beispiel aufzufassen, sondern als die Form dieses Ausgleichs: die Jahreszeiten. „Entstehen uns nun nicht aus diesen die Jahreszeiten und alles Schöne,
indem das Unbegrenzte und das Grenze enthaltende gemischt wird“
(26 b). Die Jahreszeiten als geregelter Ausgleich von Witterungsgegensätzen
hängen
aber
von
den
„Meteorologica“,
den
„Geschehnissen
oben am Himmel*, ab. Damit haben wir einen ersten Beleg dafür,
daß „Zeiten“ als systematische Ordnung eines Bereiches begriffen werden, eine Ordnung, die sich in Zahlen- und Maßverhältnissen erfassen läßt. Scheinen hier die Gegensätze, die durch diese Ordnung zum Ausgleich gebracht werden noch allein die irdischen Erscheinungen von Hitze und Kälte zu sein, so wird doch schon in unserem nächsten Beleg
die Ordnung der Jahreszeiten in den Zusammenhang himmlischer Bewegungen zurückgestellt. Dieser zweite Beleg bestätigt auch unsere Vermutung, daß es bereits in diesem Beispiel der Jahreszeiten wirklich um Zeiten und ihre geregelten Verhältnisse geht — und nicht etwa
bloß um das, was diese Zeiten bringen: Hitze, Kälte, Regen, Wind, Schnee. Dort werden nämlich als Beispiel für das, was als Leistung des
Grenzartigen im Grenzenlosen anzusehen ist, neben den Jahreszeiten 91 χειμών und πνῖγος sind witterungsbedingte Hitze und Kälte.
141
auch das Jahr und der Monat genannt. Wir haben oft gesagt, heißt es daß es im All viel Grenzenloses gibt und auch Grenze genug, über diesen eine nicht geringe Ursache, die Jahre, Jahreszeiten und Monate in schóner Ordnung zusammenstellt, und mit Recht Weisheit und Vernunft genannt werden sollte* (30 c). An dieser Stelle wird neben πέρας
und ἄπειρον noch die Vernunft als jenes dritte Prinzip namhaft ge-
macht, das als Ursache Grenzartiges und Grenzenloses zusammenzwingt. Als ein Produkt des Ausgleichs des unbegrenzten Mehr und Weniger, der gegenstrebigen Tendenzen im Unendlichen haben wir also die Zeiten zu verstehen. Wir werden im folgenden darauf achten müssen, welches die Gegensätze, die zum Ausgleich gebracht werden, in diesem Falle sind, und durch welche Zahl- und Maßverhältnisse es geschieht. In ihnen werden wir dann die Zahlen erkennen, nach
denen die Zeit als Bild des Aon fortschreitet.
Wir wenden uns jetzt einer Stelle im Symposion zu, die schon durch
ihre bemerkenswerte Parallelität zu den Ausführungen des Philebos
als Bestätigung wertvoll ist, aber darüber hinaus noch für unser Thema wertvolle Ergänzungen liefert. Wir müssen es uns versagen, der Frage
nachzugehen, wie es möglich ist, daß hier als Leistung des Eros ge-
schildert wird, was im Philebos der Zahl zugesprochen wurde: nämlich die Befreundung der Gegensätze. Immerhin kann man soviel sagen,
daß der Philebos offenbar Platons „entmythologisierende“ Interpre-
tation der empedokleischen Lehre von φιλία und νεῖκος, Liebe und Haß enthält, die uns hier, in der Rede des Arztes Euryximachos in
ihrer ursprünglichen Gestalt entgegentritt. Damit ist aber noch nichts über den sachlichen Grund gesagt, der eine solche — nämlich mathe-
matische — Interpretation ermöglichte. Gut also, wie es im Philebos darum ging, die Gegensätze in ihrem auseinanderlaufenden Verhalten aufzuhalten, so hier „das Feindseligste . . . befreundet zu machen“ (186 d). Als Bereiche für diese
Leistung des Eros werden nun — Philebos —
die Medizin,
die Musik
in derselben Reihenfolge wie im mit den Teilen der Harmonik
und Rhythmik, und die Lehre von den Jahreszeiten genannt. Wir erfahren nun genauer, welches die Gegensátze
im somatischen Bereich
sind, deren Ausgleich die Gesundheit hervorbringt: kalt und warm, bitter und süß, trocken und naß.
Aus der Behandlung der Musik entnehmen wir als erstes eine Bestä-
tigung unserer „dynamischen“ 142
Interpretation der Gegensätze. Eryxi-
machos beruft sich nàmlich für die Lehre, daf die Harmonik aus dem
Gegensatz von Hoch und Tief entsteht, auf einen Ausspruch des Heraklit, den er gleichzeitig in bezeichnender Weise in seiner Formulierung tadelt. Er habe nämlich die Worte gebraucht, daß das Eine „aus-
einandergehend selbst mit sich selbst zusammengehen* (διαφερόμενον αὐτὸ αὑτῷ συμφέρεσϑαι) müsse, wie ,Bindung des Bogens und der Leier^ (ὥσπερ ἁρμονίαν τόξου τε xai λύρας) (187 a). Wir wollen jetzt
nicht auf das Heraklitfragment selbst eingehen, es ist uns aus anderer
Quelle noch vollständiger und besser überliefert und wird bei Diels-
Kranz als Fragment B 51 verzeichnet. Immerhin kónnen wir nebenbei
aus ihm entnehmen, wie Harmonia, das ursprünglich soviel wie „Ver-
bindung“, „Befestigung“ heißt, den Sinn von „Zusammenstimmung“
erhalten konnte: Das Stimmen der Lyra ist ja das Aufspannen der Saiten, das Verbinden des Querbalkens der Lyra mit dem Boden, so wie beim Bogen das Verbinden der beiden Arme des Bogens. Da es beim Stimmen der Lyra aber darauf ankommt, die Saiten in ihrer Spannung
miteinander in Einklang zu bringen, so übertrug sich ἁρμόττειν, das Verbinden, von der einzelnen Saite auf Heraklit sagt also, daß der Bogen, der Auseinandergehendes (διαφερόμενον) ist, gefaßt wird. Getadelt wird nun an diesem
ıhr Verhältnis zueinander. mit seinen beiden Armen ein durch die Sehne zusammenAusdruck, daß Auseinander-
gehendes als solches und solange es auseinandergeht, nicht zusammengehalten wird. Entsprechend werden Tonhöhe und Tiefe als ausein-
anderlaufende Tendenzen verstanden, die als solche nicht zur Harmonie gebracht werden können. „Aber vielleicht wollte er dieses sagen, daß aus dem vorher auseinanderlaufenden (διαφερόμενον) Hohen und Tiefen und dann nachher zur Übereinkunft gekommenen durch die Kunst der Musik (die Harmonie) entstanden sei. Die Harmonie kann ja wohl nicht aus Hohem und Tiefem als auseinanderlaufenden bestehen. Denn Harmonie
kunft
—
Übereinkunft
ist Konsonanz, Konsonanz
aber
ist aber Überein-
aus Auseinandergehenden,
solange
sie
auseinandergehen, kann es nicht geben“ (187 b). Damit ist klar, daß
die διαφορά, die die Gegensätze zunächst trennt, nicht in ihrer Ver-
schiedenheit
oder Gegensätzlichkeit
überhaupt
besteht,
sondern
in
ihrer gegenstrebigen Tendenz. Der Ausdruck Homologie, den wir hier mit Übereinkunft wiedergegeben haben, müßte wohl im Sinne des Philebos als bestimmtes Ver-
hältnis überhaupt, als Zusammenfassung von Zahlen- und Maßver-
143
hältnis aufgefaßt werden. Denn er wird jetzt auch auf den Ausgleich der Tendenzen des Schnellen und Langsamen angewandt. Dabei stellt
sich heraus, was schon aus dem Philebos zu vermuten war, daß es der Rhythmos ist, der die verhältnismäßige Zusammenstimmung von Schnell und Langsam ausmacht: „Der Rhythmos wurde aus dem
Schnellen und Langsamen, die zunächst auseinanderliefen, dann aber zusammenkamen“
(187 c, d).
Schließlich wird als letztes Beispiel die „Zusammenstellung der Zei-
ten des Jahres“ (N τῶν ὡρῶν τοῦ ἐνιαυτοῦ σύστασις) (188 a) angeführt.
Die Jahreszeiten bilden, wie wır diesem Ausdruck entnehmen, wie auf andere Weise die Töne in der Tonleiter, ein System. Es wird dann geschildert wie das Verhältnis von Wärme
und
Kälte,
Trockenheit
und Feuchtigkeit, das Klima also, aus den Fugen gerät, wie Seuchen, Krankheit und Unwetter auftreten, wenn das Gefüge der Jahreszeiten nicht durch den rechten Eros regiert wird. Maßgebend aber für dieses Gefüge sind die Himmelsbewegungen. Deshalb kann dieses Bei-
spiel durch den Satz abgeschlossen werden, der für unsere Interpretation so wichtig ist, daß die Erkenntnis des rechten Eros in diesen Dingen Sache der Astronomie ist. „Die Erkenntnis dieser (Erotika) im Bereich der Gestirnsbewegungen und der Zeiten des Jahres wird Astronomie genannt“ (188 b).
Wir werden also mit Platon von der Astronomie die Erkenntnis der
Zeit als System, als ein Gefüge erwarten, das gegenstrebige Tenden-
zen zueinander in ein zahlenmäßiges Verhältnis bringt. Wir wenden uns deshalb Platons Astronomie zu. IV. Die Zeit als Thema
der Astronomie
Was Platon eigentlich von der Astronomie erwartete, muß man aus jener Passage im Staat entnehmen, wo die mathematischen Wissenschaften als Vorstufen zur Dialektik besprochen werden. Dort wird
die Astronomie als ein Projekt vorgestellt, hinter dem die zu Platons Zeit betriebene noch durchaus zurückblieb. Wenn man aus dieser Darstellung entnimmt, was Platon an Kenntnissen von der Astronomie erhoffte, dann wird man auch besser den Sinn jener astronomischen Stellen verstehen, an denen er auf der Basis der unvollständigen zeitgenössischen Astronomie sein kosmologisches Konzept entwirft.
144
Als das Thema der Astronomie wird ım VII. Buch des Staates sogleich die Erkenntnis der Zeiten genannt. Auf Sokrates’ Frage, ob
man die Astronomie in das Erziehungsprogramm
aufnehmen werde,
antwortet Glaukon: „Ich gewiß. Denn die Zeiten immer genauer zu
bemerken, der Monate sowohl als der Jahre, ist nicht nur dem Ackerbau heilsam und der Schiffahrt, sondern auch der Kriegskunst nicht
minder“ (527 d, Übers. Schleiermacher). Glaukon gibt in der Begründung den tatsächlichen Nutzen an, um dessentwillen die Astronomie
damals betrieben wurde. Sie wird ihm hier, wo es um den erzieheri-
schen Nutzen allein geht, verwiesen, — nicht aber, daß die Erkenntnis der Zeit überhaupt das Thema der Astronomie ist. Das mag viel-
leicht einen modernen Leser befremden, der erwartet, daß Astronomie — wie der Name sagt — die Wissenschaft von den stirnen ist. Man muß sich aber klarmachen, daß in einer Zeit, Fragen nach dem Alter, der Zusammensetzung, der Strahlung,
Teil sogar noch nach der Entfernung
Horizontes
der Gestirne außerhalb
lagen, die Zeit das Wesentliche
war, was
Gestirnen erkennen konnte. Kosmologisch gesehen um der Zeit willen da, nicht umgekehrt. Sie sind, heißt, Werkzeuge der Zeit (42 d 5) oder Werkzeuge Die Zeit ist der kosmologische Sinn der Gestirne, eigentliche Thema der Astronomie. In einem zweiten Anlauf begründet Glaukon
man
die Gewo zum
des
an den
sind die Gestirne wie es im Timaios der Zeiten (41 e 5). sie ist deshalb das den erzieherischen
Nutzen der Astronomie damit, daß sie den Sinn nach oben richtet, nämlich von den irdischen Geschehnissen fort zu den himmlischen — wıe es doch von Sokrates verlangt worden war. Das verweist ihm Sokrates aber ebenfalls, weil er darin eine Verwechslung des räumlichen „Oben und Unten“ mit dem nur metaphorisch gemeinten „Oben
und Unten“ der Erkenntnis sieht. Eine Astronomie, die sıch mittels der
Wahrnehmung
auf
die Gestirne
oben
am
Himmel
bezieht,
eine
empirische Astronomie also, kann keine wahre Erkenntnis liefern und deshalb auch keine anagogische Funktion haben, „denn eine Wissenschaft von irgend derartigem — Wahrnehmbarem nämlich — gibt es
nicht“ (529 b, c).
Dieses scharfe Verdikt dient im Staat dazu, den Unterschied von empirischer und ,reiner^ Astronomie einzuführen. Im Timaios wird der Wahrnehmung der Gestirne und ihrer Bewegungen dann durchaus
eine anagogische Funktion zugestanden, ja in ihrer Möglichkeit grün145
det sogar der Sinn der Augen: „Nun müssen wir aber ferner des größ-
ten Nutzens derselben gedenken, wegen dessen Gott uns dieses Geschenk
— das der Augen nàmlich — verlieh. Meiner Ansicht nach ist die Sehkraft uns die Ursache des größten Gewinns, da ja wohl von den jetzt über das Weltganze angestellten Betrachtungen keine stattgefunden hätte, wenn wir weder die Sonne, noch die Sterne noch den Himmel er-
blickten. Nun aber haben der Anblick von Tag und Nacht, der der Monate und der Jahre Kreislauf die Zahl erzeugt und den Begriff der
Zeit sowie die Untersuchungen über die Natur des Alls uns übermittelt. Und hieraus haben wir uns verschafft das Wesen der Philosophie*
(Tim. 46 e—47 b, Übers. Schleiermacher). Freilich, daran läßt auch der Timaios keinen Zweifel, aus der Betrachtung der wahrnehmbaren
Gestirne allein erwächst weder Wissenschaft noch Philosophie. Sie geben aber Anlaß danach zu fragen, was sie eigentlich sind, als Abbild
wessen
sie zu verstehen
sind, und
diese Frage
führt
zur reinen
Astronomie. Die reine Astronomie ist nun eine Art reiner Bewegungslehre. Wenn wir dies sagen, so müssen wir allerdings gleich davor warnen, sie als
theoretische Mechanik oder auch — wegen der Abwesenheit von Kräften — als Phoronomie im Sinne Kants mißzuverstehen. Hören wir
in Platons Worten, womit sich diese wahre Astronomie beschäftigt: Es
war gefragt worden, auf welche Weise man astronomisches Wissen erwerben soll, um für die Erziehung Nutzen zu haben. Sokrates ant-
wortet: „So, daß man diese Gebilde am Himmel, da sie doch im Sicht-
baren gebildet sind, zwar für das beste und vollkommendste in dieser Art halte, aber doch weit hinter dem Wahrhaften zurückbleibend,
nämlich den Bewegungen, in welchen die Geschwindigkeit, welche ist (τὸ ὄν τάχος), und die Langsamkeit, welche ist (ἣ οὖσα βραδυτής), sich
nach der wahrhaften Zahl und allen wahrhaften Figuren gegenein-
ander bewegen und was darin ist forttreiben, welches alles nur mit der
Vernunft zu fassen ist, mit dem Gesicht aber nicht“ (529 c, d, Übers. Schleiermacher). Gegenstand der Untersuchungen sind die Bewegun-
gen, oder besser: Schnelligkeit und Langsamkeit, die hier als Subjekte der Bewegung auftreten (τὸ ὄν τάχος φέρεται), eine Merkwürdigkeit,
die uns ebenfalls im Timaios begegnen wird. Sie — Schnelligkeit und Langsamkeit — werden daraufhin untersucht, wie sie „in der wahren
Zahl und in allen wahren Gestalten* sich gegeneinander bewegen.
Letzteres geht offenbar auf die Bewegungsbahnen und ihre Kompli146
kationen, wir brauchen dem jetzt nicht weiter nachzugehen. Ersteres bezeichnet aber offenbar das Thema, dem wir nachspüren: Es geht um das zahlenmäßige Verhältnis von Langsamkeit und Schnelligkeit. Wir haben diese Wissenschaft bereits als einen Teil der Musik kennengelernt und wohl mit einigem Recht Rhythmik im Unterschied zur Harmonik
genannt. Daß die Rhythmik
hier als ein Teil der Astro-
nomie erscheint — den anderen bildet die Lehre von den Bewegungs-
bahnen — soll uns nicht wundern, denn Astronomie und Musik wer-
den hier als zwei verschwisterte Wissenschaften vorgestellt, die sich nämlich beide auf Bewegung beziehen: „Es scheinen ja wie für die Sternkunde die Augen gemacht sind, so für die harmonische Bewegung die Ohren gemacht, und dieses zwei verschwisterte Wissenschaften zu sein, wie die Pythagoräer behaupten und wir zugeben“ (530 d, Übers. Schleiermacher). Die Berufung auf Sinnesunterschiede erscheint freilich
in diesem Zusammenhang als eine Inkonsequenz. Wir glauben auch, daß sie hier nur eine didaktisch-heuristische Funktion hat. Denn bei der Wissenschaft, die sich mit der Bewegung in Bezug auf das Gehór beschäftigt, wird nachher allein die Harmonik abgehandelt. Für den Standpunkt der Vernunfterkenntnis kann es eben auch nicht zweierlei Rhythmik geben — eine für die gesehenen, eine für die gehórten Bewegungen -— sondern beide sind eine Rhythmik, und diese wird hier
der Astronomie als Aufgabe zugewiesen. Der Grund dafür ist, so mei-
nen wir, daß es in der Astronomie und in der Rhythmik, in der Astronomie als Rhythmik, um die Erkenntnis der Zeiten geht.
Wir müssen Jetzt aber zu bestimmen versuchen, was Inhalt und Ziel der ,Rhythmik* im Sinne Platons ist. Sie setzt offenbar Schnelligkeit und Langsamkeit in ein zahlenmäßiges Verhältnis. Aus dem Philebos konnten wir entnehmen, daß es sich des Näheren um ein Maßverhältnis handelt, denn es hieß ja, man müsse die Eigenschaften der Bewe-
gung durch Zahlen messen. Schnelligkeit und Langsamkeit werden irgendwie aneinander gemessen — nicht bloß in ein Zahlenverhältnis gesetzt wie die Tóne einer Konsonanz, die man ja dadurch noch nicht aneinander mifit. Aber was soll das heißen: Schnelligkeit und Langsamkeit aneinander messen? Als erstes muß man sich klarmachen, daß
Platon, wenn er hier von Schnelligkeit und Langsamkeit redet, weder von Bahngeschwindigkeit noch auch von Geschwindigkeit im moder-
nen Sinne überhaupt spricht. Ersteres nicht, weil in die Überlegungen
mögliche „Planetenabstände“ nicht eingehen, so daß es sich höchstens 147
um Winkelgeschwindigkeiten handeln kann, die verglichen werden sollen. Letzteres nicht, weil der Begriff der Momentangeschwindigkeit frühestens im ausgehenden Mittelalter zu finden ist. Wenn Aristoteles
etwa die „Geschwindigkeit“ eines Körpers charakterisieren will, so redet er davon, welche Strecke der Kórper in welcher Zeit zurücklegt.
Wie also werden Schnelligkeit und Langsamkeit in ein Maßverhält-
nis gesetzt, wenn der „Weg“, ein Umlauf nämlich, für alle betrachteten
Körper derselbe ist? Wenn Platon von der Schnelligkeit und Langsamkeit „gegeneinander“ redet, so denkt er — im Beispiel, also mit dem Timaios gesprochen — daran, daß der Mond in einem Jahr seinen Umschwung etwa zwölfmal vollendet, also etwa zwölfmal so schnell ist wie die Sonne, und daß die schnellste Bewegung die der Fixsternspháre ist, die
sich nämlich jeden Tag einmal vollendet. Es ist also die Zeit, wodurch Schnelligkeit und Langsamkeit in ein Maßverhältnis gesetzt werden.
Daß die Sonne so viel langsamer ist als der Mond, wird dadurch aus-
gedrückt, daß sie ihren Umlauf in etwa 12 Monaten beendet; daß der Mond so viel langsamer ist als die Fixsternsphäre dadurch, daß er seinen Umlauf in etwa 29 Tagen vollendet. Die Periode der Fixsternsphäre wird dabei, wie aus dem Timaios noch deutlich werden wird,
als das natürliche Grundmaß für die verhältnismäßige Langsamkeit,
für die „Geschwindigkeit“ der anderen Gestirne verwendet. Dabei muß man sich noch einmal klarmachen, daß man sich mit solchen Überlegungen nicht in der Mechanik, sondern in einer astronomischen
Rhythmik befindet. Es geht nicht darum, daß — wie wir es von der neuzeitlichen Geschwindigkeitsdefinition her verstehen müssen — die Geschwindigkeiten sich umgekehrt wie die Zeiten verhalten, vielmehr wird die Zeit wirklich als Dimension von „Schnelligkeit und Langsamkeit“ angesehen. Es kommt nicht darauf an, was „pro Zeiteinheit“ geschieht — es ist ja immer dasselbe —, sondern darauf ın welchen Zeiten, in welchem „Tempo“ es geschieht. Dieser Ausdruck enthält noch heute eine — besonders in der Musik sinnvolle — Gleichsetzung
von Zeit- und Geschwindigkeitsdimension. Noch in einem zweiten Punkt muß man beachten, daß es hier um
Rhythmik und nicht um Mechanik geht. Für die Rhythmik genügt es nämlich nicht, daß Geschwindigkeiten irgendwie meßbar gemacht wor-
den sind. Vielmehr geht es darum, die langsamere Bewegung durch die schnellere ganz herunterzumessen 148
(καταμετρεῖν),
oder wenn
das
nicht gelingt, eine dritte Bewegung zu finden, die beide heraufmessen (ἀναμετρεῖν):
Die verschiedenen
langsamen
und
schnellen Bewegun-
gen müssen in ein solches Verhältnis gebracht werden, daß ihre Perioden ineinander aufgehen. Es geht deshalb in der Astronomie um „die Kommensurabilität (συμμετρία) der Nacht zum Tage und dieser zum
Monat und des Monats zum Jahr und die Kommensurabilität der an-
deren Gestirne zu diesen und gegeneinander“, wie Platon an unserer
Stelle im Staat schreibt (530 a). Die Aufgabe der Astronomie als Rhythmik wäre demnach
erst dann vollendet, wenn sie alle Himmelsbewe-
gungen in ihren Perioden als ein System von ganzzahligen Verhältnissen erkannt hat. Wir wollen jetzt diese Forderung nicht sogleich in ihrer praktischen
und kosmologischen Bedeutung untersuchen, sondern aus Platons » Wissenschaftstheorie* zu verstehen suchen. Die Rhythmik war ja im
Philebos und im Symposion in Analogie zur Harmonik konzipiert worden. So wie diese im Bereich der Töne die gegenstrebigen Tendenzen von Hoch und Tief zu einem Ausgleich brachte, so sollte die Rhythmik im Bereich der Bewegungen des Kórpers das Auseinanderlaufen von Schnell und Langsam beenden. Dies ist aber noch nicht geleistet, wenn man Geschwindigkeiten überhaupt meßbar, sondern erst wenn man das Langsame mit dem Schnellen kommensurabel ge-
macht hat. Denn solange sie nicht in einem gemeinsamen Maß über-
einkommen, laufen die beiden Bewegungen doch immer noch durch Übertreffen (ὑπεροχή) und Zurücbleiben (ἔλλειψις) auseinander. Hat
man
sie aber kommensurabel
gemacht,
andere herunter- oder beide eine dritte mit eine Homologie gefunden, etwas, denen Geschwindigkeit immer wieder man die Analogie zur Harmonielehre bestimmten
Zahlenverhältnis
können hier aus dem
Langsam
Rhythmen
von
bestimmten
dadurch
heraufmessen, so hat man daindem sie trotz ihrer verschieübereinkommen. Dann kann fortsetzen: Wie dort aus dem
Hoch
und
Tief Konsonanzen,
Maßverhältnis
gebildet werden.
daß die eine die
Und
so
von Schnell und
wie dort sich durch die
Konsonanzen der ganze Bereich der Tóne zu einem System fügt, so hier der Bereich der Himmelsbewegungen
zum
„systeme du monde“.
Verhältnisse der schnelleren und langsameren
Himmelsbewegungen
Wir haben damit das Weltsystem beschrieben, das Platon von der Astronomie erwartete, soweit sie sich auf die durch Zahlen erfaßbaren
bezieht. An
dem
System
der Bewegungsgestalten
war
Platon
nicht 149
minder interessiert, wie die Stellen zeigen, die die Frage betreffen, ob
die Irrsterne mit Recht so genannt werden. Es scheint, daß in dieser
Frage
System
ihm
durch
das zu seinen Lebzeiten
volle Befriedigung
wurde.
Ob
entwickelte Eudoxische
es ihm
für das System
der
Perioden etwas gab, ist schwer zu sagen. Im Timaios jedenfalls ist es immer noch Projekt.
Wir wenden uns jetzt der kosmologischen und der praktischen Bedeutung dieses Systems zu und kehren damit zum Timaios zurück. „Er gedachte aber ein bewegliches Bild des Aon
zu machen, und
indem er zugleich den Himmel ordnete, machte er ein nach Zahlen
gehendes äonisches Bild des im Einen bleibenden Aon, jenes (nämlich),
das wir Zeit genannt haben“ (37 d). Wir können jetzt sagen, worin die Ordnung des Himmels, von der hier gesprochen wird, besteht: nämlich in dem System der Langsamkeiten und Schnelligkeiten der himmlischen Bewegungen. Dieses System läßt sıch durch Zahlen ausdrücken und ist als solches ein System von Zeiten. Das System dieser Zeiten ist selbst wieder eine Zeit, die eine Zeit, die alle anderen umfaßt und die rhythmisch durch sie gegliedert ist. Zahlenmäßig (καϑ᾽ ἀριϑμόν) geht die Zeit, weil sich ihr Gefüge nach den mannigfachen
Zahlen der einzelnen Umschwünge und ihren Verhältnissen geregelt
verändert. Das heißt natürlich auch, daß die Zeit mißt und daß sie
gemessen werden kann; aber nicht prımär darin ist sie Darstellung des
Aon, sondern als jenes umfassende Gefüge der Himmelsbewegungen, durch das sie „ım Takt“
fortschreiten. Die Zeit Platons ist eine kos-
mische Uhr, etwa vergleichbar jenen mechanischen Wunderwerken wie man sie in manchen Kirchen — beispielsweise in Lund und in Straßburg — findet, die neben Tag und Stunde auch Stellung und Phase des Mondes,
Sonnenstand und die Bewegung
der Planeten im Tier-
kreis anzeigen, und miteinander verbunden ihren geregelten Fortgang
nehmen
lassen. Sehen wir uns nun an, wie Platon die Ordnung
Himmels und beschreibt.
ihren
Zusammenhang
mit
der
Zeit
im
des
einzelnen
„Die Zeit also entstand zusammen mit dem Himmel, damit sie —
zumal entstanden — auch zumal aufgelóst würden, wenn es jemals zu einer Auflösung kommen sollte, und sie entstand nach der Vorlage der ganz äonischen Natur, auf daß sie nach Möglichkeit dieser ganz gleich sei. Das Vorbild nàmlich ist seiend den ganzen Aon hin-
durch, der Himmel 150
andererseits ist fortwährend alle Zeit geworden,
seiend und werdend. Aus solchen Überlegungen des Gottes bezüglich
des Hervortretens der Zeit traten Sonne, Mond und noch fünf andere Sterne, die den Beinamen Irrsterne haben, zur Abgrenzung und Be-
wahrung der Zahlen der Zeit hervor, damit die Zeit erzeugt würde“ (38 b, c). Platon beginnt hier die Funktion der Planeten für das Zeitsystem des Kosmos zu erläutern. Sie ist eine durchaus untergeordnete,
denn sie dienen lediglich dazu, das System der himmlischen Bewegun-
gen augenfällig zu machen. Sie werden in diese Bewegungen eingesetzt
und durch sie bewegt. Sie sind als Körper, nicht als Subjekte dieser Bewegungen
anzusehen. Das Subjekt aller dieser Bewegungen ist die
Weltseele und die in sie und zu ihr gehórigen Glieder. Die Weltseele
ist das Leben des Lebewesens Kosmos. Sie wurde zerlegt in die eine
alles beherrschende und schnellste Bewegung der Fixsternsphäre: die Bewegung des ,Selben*, und die mehrfach gegliederte und an Spannungen von Langsamkeit und Schnelligkeit reiche Sphäre des „Anderen“, der Bewegung der Planeten durch den Tierkreis. Die Bewegung des Anderen wurde bei der Erschaffung der Weltseele sechsfach
nach harmonischen Intervallen geteilt. Dadurch werden den einzelnen
Planeten, wie aus der mit unserem Text anhebenden Besetzung der Bewegungen durch Planeten zu ersehen ist, die folgenden Zahlen zugeordnet: Mond 1, Merkur 2, Venus 3, Sonne 4, Mars 8, Jupiter 9, Saturn 27. Man fragt sich natürlich, ob es diese Zahlen sind, nach denen die Zeit fortschreitet, und die, wie es hier heißt, von den
Planeten bewacht werden. Wir glauben das nicht. Zum einen wird Platon sogleich, wenn er von Tagen, Monaten und Jahren spricht, eine genauere Vorstellung davon geben, in welchen — auch damals schon größtenteils vorhandenen astronomischen Daten, diese Zahlen zu suchen seien, während sich für die Folge der harmonischen Zahlen keine sinnvolle astronomische Deutung geben läßt.” Zum anderen
aber sind ja die Zahlen des Zeitsystems gar nicht als harmonische zu
erwarten,
sondern als ein System
von
einfachen Teilern und ganz-
zahligen Vielfachen; als System von Kommensurabilität.
Die Planeten sind also zur Abgrenzung und Bewachung der Zeit-
zahlen da. Der Sinn dieser Aussage ergibt sich sehr einfach aus der Frage, wie man die Zeiten am Himmel erkennt. Man erkennt sie nämlich durch „Konstellationen“, die relativen Positionen der Plane-
92 S. Cornford zur Stelle. Man könnte darin allenfalls ein Modell für ein System der Planetenabstánde erblicken.
151
ten zueinander und zur Fixsternsphäre, insbesondere zu den Stern-
bildern des Tierkreises. Durch wiederkehrende Konstellationen werden die Zahlen der Zeit, nämlich die verschiedenen Perioden abgegrenzt,
durch Wiederkehr der relativen Position zur Sonne die synodische Periode, durch Wiederkehr der relativen Positionen zu den Fixsternen
die siderische Periode. Es folgen nun bei der Einsetzung der Planeten in ihre Bewegungen
einige Bemerkungen,
die das Erscheinungsbild, das die Planeten ab-
(τάχει μὲν ἰσόδρομον,
38 d), überholen
geben, betreffen. Sonne, Merkur und Venus haben die gleiche Periode sich aber wechselseitig,
weil
Merkur und Venus noch eine zusátzliche Eigenbewegung haben. Die
ganze Gruppe aber, und zwar am reinsten die Sonne, repräsentiert die
Bewegung des Anderen. Die weiteren Bemerkungen betreffen mehr die Bahnzusammensetzung als die Perioden. Interessant ist, daß hier zum ersten Mal ein Zusammenhang von Planetenentfernung und Periode genannt wird. Die nächsten Planeten, die also die kleinsten Kreise durch-
laufen, sind die schnellsten, die entferntesten die langsamsten.
Platon kehrt dann zur Beziehung von Zeit und Planetensystem zu-
rück und fährt fort: „Damit es aber ein offensichtliches Maß
für die
wechselseitige Langsamkeit und Schnelligkeit gebe, mit der jene (die Planeten) in jenen 8 Bewegungen laufen, heftete der Gott an den
zweiten Umlauf oberhalb der Erde ein Licht, das wir eben Sonne genannt haben, auf daß es möglichst den ganzen Himmel erleuchte und die Lebewesen, denen es zukam, an der Zahl teilzuhaben, der
Zahl teilhaftig würden, indem sie vom Umlauf des Selben und Gleichmäßigen lernten. Nacht und Tag entstanden so und aus diesen Gründen, die Periode der einen und vernünftigsten Kreisbewegung“
(39 b, c). Platon redet hier also davon, wie der Tag im Sinne des νγυχϑήμερος, des Ganzen aus dem hellen Tag und der Nacht, zustande-
kommt, besser gesagt, auf welche Weise er offensichtlich. wird. Der Tag ist die Periode der Fixsternsphäre, des Umschwunges, der alle Sterne und alle Planeten mit ihnen „täglich“ einmal herumführt. Diese Periode, auch die Periode des Selben genannt, ist die schnellste
von allen, sie ist deshalb für alle als Maß geeignet. Von ihr erfahren
deshalb die Lebewesen, denen es zukommt, die Zahl. Dies hat man in
der Regel so verstanden, daß die Menschen durch sie zur Zahl kommen. Für sie ist es jedenfalls nötig, daß das Maß sichtbar gemacht wird. Dann nàmlich kann die Erkenntnis der Zahl und des Begriffes 152
der Zeit und damit der Anfang der Philosophie als der Sinn des Seh-
vermógens gepriesen werden, wie es an der schon zitierten Stelle im Timaios nachher geschieht (47 a, b). Aber auch die himmlischen Lebe-
wesen, nàmlich die Planetengótter erfahren die Zahl von der Bewegung des Selben und Gleichmäßigen, indem ihre Perioden durch sie „heraufgemessen“
und so zahlenmäßig bestimmt
werden.
Wenn
sie
sich nach den so bestimmten Verhältnissen von Langsamkeit und Schnelligkeit bewegen, dann haben sie „das Vorgeschriebene gelernt“, und sie können „zusammen die Zeit bewerkstelligen“, wie es kurz vorher heißt (38 e).
Der Umschwung des Selben wird also dadurch sichtbar gemacht, daß der Sonne ein helles Licht angeheftet wird. Der Demiourg hätte freilich zu diesem
denn
Zweck
auch ein anderes
Gestirn
es ist ja nicht die spezifische Bewegung
nehmen
der Sonne,
—
können,
deren
Periode ein Jahr ist —, um die es dabei geht. Im Gegenteil muß man eigentlich sagen, daß die Sonne zur Demonstration der gleich-
mäßigen Bewegung des Selben eher ungeeignet ist, weil durch ihre Eigenbewegung das Verhältnis von Tag und Nacht im Laufe des
Jahres schwankt, so daß man die „Kommensurabilität“ von Tag und
Nacht, die wir im Staat erwähnt fanden, als zusätzliches Problem erhält. Natürlich kann man mit dem Demiourgen über die Welteinrichtung nicht rechten, dem Duktus von Platons Kosmologie entsprechend
hätte man allerdings eine Begründung dafür erwartet, daß die Un-
gleichheit von Tag und Nacht sinnvoll ist. Später wird übrigens noch die Erde als „Wächter
und Bewirker
(40 c). Dies steht durchaus
von Tag
und Nacht“
nicht im Widerspruch
genannt
zur Funktion
der
Sonne, denn der Wechsel von Tag und Nacht wird ja nur sichtbar dadurch, daß die Erde nicht mit der „täglichen“ Bewegung des Sel-
ben herumgeführt wird. Die Erde ist also für das Zustandekommen
von Tag und Nacht ebenso wichtig wie die Sonne. Ob man freilich
aus dieser Stelle mit Cornford einen Beweis für die Eigenbewegung der Erde, einer Bewegung, die der des Selben gleich und entgegengesetzt wäre, gewinnen kann, sei dahingestellt. Wir erhalten schließlich aus unserer Stelle (39 b), einen Beleg für
die Auffassung, daß es die Zeit ıst, was die Langsamkeit und Schnel-
ligkeit in ein Maßverhältnis setzt. Denn der Tag (νυχϑήμερος)
wird
hier eingeführt als „offensichtliches Maß der gegenseitigen Langsamkeit und Schnelligkeit“, mit der sich die acht Sphären bewegen.
153
Platon beschreibt nun das Zustandekommen von Monat und Jahr und
geht
dann
zur
Bedeutung
der
restlichen
Planeten
über:
„Ein
Monat entsteht, wenn der Mond seinen Kreis umlaufend die Sonne einholt, das Jahr, wenn die Sonne ihren Kreis umläuft. Die Perioden der anderen (Planeten) haben die Menschen nicht bedacht, außer einigen unter den vielen, weder haben sie sie benannt, noch gegeneinander kommensurabel gemacht, indem sie sie mit Hilfe von Zah-
len untersucht haben, so daß sie sozusagen nicht wissen, daß ihre Irrbewegungen Zeit sind, die zwar eine schwer zu bewältigende, aber
doch bewunderungswürdig
wohlgestaltete Menge in Anspruch neh-
men“ (39 c—d). Man kann aus dieser Stelle entnehmen, daß das, was Platon von der Astronomie erwartete, nämlich ein Periodensystem der Himmelsbewe-
gungen, von der zeitgenössischen Astronomie nicht geleistet, aber auch im allgemeinen in seiner ganzen Tragweite nicht einmal als Aufgabe erkannt war. Der Umschwung des Selben, des Mondes und der Sonne, trugen ihre Namen Tag, Monat und Jahr, und wurden mit Hilfe
von Zahlen untersucht. Und eben dadurch waren 516 — das ist offenbar Platons Meinung — als Zeiten bekannt. Denn da man die Bewegungen der anderen nicht miteinander und mit dem Selben, der Mondund der Sonnenperiode in ein nach Maßverhältnissen bestimmtes
System zu bringen versuchte, d. h. nicht versuchte, sie miteinander kommensurabel zu machen, wußte man sozusagen nicht einmal, daß sie Zeiten sind. So wenig jeder Laut irgendeiner Höhe ein Ton ist, weil als Töne nur die durch das System von Konsonanzen zur Harmonie verbundenen gelten, so wenig ist jede irgendwie langsame oder
schnelle Bewegung schon Zeit. 516 ıst es nur dann, wenn sie sich dem rhythmischen Gefüge der anderen Himmelsbewegungen eingliedert.
Wenngleich die Aufgabe, alle Planetenbewegungen miteinander kommensurabel zu machen, noch nicht in Angriff genommen ist, so
läßt sich doch sagen, was dabei herauskommen muß: nämlich ein gro-
δὲς oder vollkommenes
„Jahr“, eine Periode des Ganzen, in dem alle
einzelnen Perioden ganzzahlig aufgehen.
„Nichtsdestoweniger kann
man einsehen, daß die vollkommene Zahl der Zeit das vollkommene
Jahr dann erfüllt, wenn die Geschwindigkeiten der acht Perioden im Verhältnis zueinander vollendet sich zu einer Summe zusammenschließen, indem sie durch den Umschwung des Selben und Gleichmäßigen heraufgemessen werden“ (39 d). 154
Wir haben den ,wissenschaftstheoretischen* Sinn der platonischen Forderung, alle Perioden miteinander kommensurabel zu machen, schon kennen gelernt, und wollen uns deshalb in unserer Erläuterung des vorstehenden Satzes insbesondere des Terminus ,vollkommenes Jahr* von der praktischen Seite her nähern. Platons Forderung ist nämlich eine Erweiterung des Problems der Kalendereinrichtung. Das Problem ergibt sich von der astronomischen Seite durch die Tatsache, daß der Monat von Neumond zu Neumond gerechnet eine wechselnde
Länge zwischen 29 und 30 Tagen hat, und daß das Sonnenjahr keine ganze Zahl von Tagen und natürlich auch keine ganze Zahl von
Monaten umfaßt. Das Problem stellt sich von der praktischen Seite
her durch die Notwendigkeit, das bürgerliche Jahr nach ganzen Tagen und Monaten und ebenfalls den Monat nach ganzen Tagen zu rechnen. Dabei war der Willkür in der Festsetzung des bürgerlichen Jahres einerseits dadurch Grenzen gesetzt, daß man in Ermangelung anderer Zeitbestimmungsmittel überhaupt móglichst mit den Himmelsperioden im Einklang blieb, und daß man andererseits insbesondere den Wunsch
hatte, die kalendergebundenen kultischen Feste immer wieder in dieselbe Jahreszeit fallen zu lassen.9? Ersteres zu betonen ist deshalb
wichtig, weil unser relativ perfekter Kalender sich deshalb so einfach darstellt, weil er auf eine Übereinkunft
der Monate
mit den
Mondphasen verzichtet. Er ist deshalb den gleich zu besprechenden, gróber anmutenden griechisch-babylonischen Lósungen nur scheinbar überlegen.
In diesen Lósungen wird der bürgerliche Monat auf 29 bzw. 30 Tage
angesetzt. Diese sogenannten hohlen (κοιλόι) und vollen (πλερές) Monate wechselten in den meisten Systemen ab. Man blieb damit mit den Mondphasen einigermaßen im Einklang. Das Jahr erhielt nun
in der Regel 12 Monate, wodurch es eine Tageszahl von 354 erreichte. Alle paar Jahre einmal wurde es dann durch ein „Schaltjahr“ mit 13 Monaten unterbrochen. Man versuchte nun ein System zu finden, in dem man nach einer bestimmten Zahl von Jahren durch diese Ver-
schiebungen wieder zu der Ausgangsrelation zwischen astronomischer Zeit und bürgerlicher zurückkehrte. Diese Periode von Jahren mußte deshalb ein ganzzahliges Vielfaches von Tagen und Mondwechseln enthalten. Solche Jahresperioden wurden großes oder ewiges Jahr 98 Dazu Mommsen
aaO. 61 u. 179.
155
genannt (μέγας, ἀίδιος).34 Diese Aufgabe entspricht sehr genau der von Platon im Staat formulierten, nämlich die Kommensurabilität „des Tages zur Nacht und dieser zum Monat und des Monats zum Jahr“ aufzufinden. Platon erweitert diese Aufgabe im Staat und im Timaios dadurch, daß er sie auch noch auf die Perioden der anderen Planeten
ausdehnt. Das vollkommene Jahr, daß er als Lösung dieser Aufgabe
bezeichnet, ist die entsprechende Erweiterung des großen Jahres. Es
muß die vollkommene Zahl enthalten, nämlich jene Zahl von Tagen, die alle Perioden der anderen Himmelsbewegungen als ganzzahlige Vielfache enthält. Wir geben als Veranschaulichung zwei der üblichen und zu Platons Zeit bekannten Lösungen für das „große Jahr“an. Alle damaligen Lösungen hängen natürlich davon ab, wie genau man das Verhältnis der Himmelsperioden astronomisch bestimmen konnte, insbesondere das Verhältnis des Sonnenjahres zum Tage. Die beiden Lösungen, die wir nennen wollen, gingen davon aus, daf das Sonnenjahr unge-
fahr 3651), Tage enthält. Die erste ist die sogenannte Oktaeteris. Sie besteht aus einer Periode von 8 Jahren, mit insgesamt 2922 Tagen,
denen 99 Mondwechsel entsprechen. Man rechnete dabei 5 Jahre zu je
12 Monaten und schaltete 3 Jahre mit 13 Monaten ein. Nach van der Waerden wurde diese Periode in der Zeit von 528—503 in Babylon angewandt. Das zweite Beispiel bildet die sogenannte Dekennaéteris, der Metonische Zyklus. Er enthält 19 Jahre mit insgesamt 6940 Tagen, denen 235 Mondwechsel entsprechen. Dabei rechnet man 12 Jahre zu
Je 12 Monaten und schaltete nur drei Jahre zu je 13 Monaten ein. Hohle und volle Monate wechselten bei dieser Periode aber nicht regelmäßig ab wie bei der Oktaeteris. Van der Waerden berichtet, daß diese Periode seit 498 in Babylon üblich war. Er meint, sie sei in Grie-
chenland nie angewandt worden; und daß Meton sie unabhängig von
der babylonischen Tradition entdeckt habe, hält er für fraglich. Dem-
gegenüber hàlt Mommsen Kalenderperiode.
sie
gerade
für
die
für
Platon
gültige
Damit ist gezeigt, daß das nach dem Philebos und dem Staat „wis-
senschaftstheoretisch* zu fordernde System aller himmlischen Schnelligkeiten und Langsamkeiten einen durchaus praktischen Zweck hat,
einen der auch von der „angewandten Astronomie“ verfolgt wurde, 94 Mommsen aa0D.177, vgl. B. L. van der Waerden, ewige Wiederkehr, in: Hermes 80 (1952), 129 ff.
156
Das
große
Jahr
und
die
wenn auch in der Einschränkung auf wenige Planeten. Das System aller himmlischen Bewegungen erweist sich als das „vollkommene
Jahr“, jene Periode, innerhalb deren alle Gestirne zumal eine ganze
Zahl ihrer Perioden vollenden. Das scheint uns der Sinn jenes merkwürdigen, technisch anmuten-
den, doch als technisch nicht nachweisbaren Ausdrucks „oyf κεφαλὴν“
zu sein, den wir durch „sich zu einer Summe zusammenschließen“ über-
setzt haben. Taylor berichtet über eine Reihe von Auffassungen dieses
Ausdrucks und erwägt eine Reihe von möglichen Arten von metaphorischer Sprechweise, die hierbei wirksam sein könnten. Am einleuchtendsten erscheint uns dabei zweierlei: nämlich erstens Taylors
Vermutung,
daß die Metapher architektonisch ist, also so viel wie
„Krönung“, „Schlußstein“ meint; und zweitens sein Hinweis, daß χεφαλή und χεφαλαίον bei Rechnungen die Summe bezeichnen. Beides
scheint uns den astronomischen Begriff des vollkommenen Jahres sehr gut zu treffen, dessen Sinn doch darin besteht, daß sich die Folgen der einzelnen Perioden in ıhm zu einer gemeinsamen Summe zusam-
menschließen. Wir sind dagegen nicht der Meinung, daß zur Begrenzung des großen Jahres eine bestimmte Konstellation erforderlich sei, etwa die Versammlung aller Planeten in einem Sternbild. Man hat Platon später häufig so verstanden und hat dann seine Lehre von periodischen Weltkatastrophen mit der Wiederkehr solcher ausgezeichneter Konstellationen verbunden. Diese Verbindung liegt zweifellos nahe. Van der Waerden hat ın seiner Arbeit über „Das große Jahr und die ewige
Wiederkehr“9 gezeigt, daß sie mit der Lehre vom großen Jahr seit je, d. h. seit ihrem Ursprung im Zweistromland bestanden hat. Demgegenüber halten wir fest:
1.
2. 3.
Daß sich die Forderung des großen Jahres bei Platon rein a priori aus der Idee einer Astronomie als System ergibt. Daß die Platon bekannte Astronomie in der Erkenntnis dieses Kosmos nicht annähernd so weit war, daß man hätte Angaben über die Größe des vollkommenen Jahres wagen können. Daß Platon im Timaios, wo die Rahmengeschichte mit dem Unter-
gang von Atlantis doch Anlaß genug gegeben hätte, die Verbindung zur Katastrophenlehre nicht herstellt. 95 S,].c.
94.
157
Das vollkommene der Zeiten zu einem umfassende Äon zu Bild, die eine Zeit,
Jahr ist die eine Zeit, die die Mannigfaltigkeit System zusammenfaßt. In ihr kommt daher der seiner vollkommensten Darstellung. Dies sein schreitet nach den Zahlen fort, durch die sie
rhythmisch gegliedert ist.?9 Wir schließen unsere Untersuchung mit jenem Satz Platons, mit
dem er die Besprechung der Funktion der Planeten und damit seine Lehre
von
der
Zeit
im
Timaios
beendet:
,Nach
solchen
Gesichts-
punkten und um solcher Zwecke willen, wurden diejenigen der Gestirne erzeugt, die bei ihrer Wanderung durch den Himmel Wendepunkte haben, damit dieser (Kosmos) jenem vollkommenen und denk-
baren Lebewesen in Hinblick auf die Darstellung der ganz äonischen Natur möglichst nahe komme“ (39 d, e).
96 Am nächsten fühlen wir uns in unserer Auslegung J. F. Callahan, Four Views of Time in Ancient Philosophy, Cambridge 1948. Er setzt Zeit mit geordneter Bewegung gleich. Ebenso wie wir unterscheidet er die Zeit von den Zeiten und kann dann sagen: ,So time is made up of individual times, and the perfect number of time is fulfilled when the complex numbers of all the individual times assume the relation to one another that they had at the beginning“ (21). Auch Taylor hat bereits vom „great cosmical rhythm“ gesprochen, ohne allerdings den Ansatz, der darin lag, zu nutzen, wie Callahan mit Recht bemerkt.
158
ARISTOTELES:
ZAHL
ALS DEFINIENS DER ZEIT
I. Einleitung Aristoteles definiert Zeit als Zahl, nàmlich als Zahl der Bewegung
in Hinblick auf das Frühere und Spätere. Wenn man auch meint, damit sogleich einen Sinn verbinden zu kónnen, so erweist sich doch der Aristotelische Text auf dem Grunde solchen Vorverständnisses als schwer auslegbar und dunkel.
Die Schwierigkeiten, die der Text dem Verständnis entgegenstellt, rühren sicherlich zu einem guten Teil her aus der Inkonzinnität, die er als Vorlesungsmanuskript darbietet. Aber es hieße der eigentlichen Interpretationsaufgabe ausweichen, wenn man sich darauf berufen wollte. Denn die Interpretationsprobleme sind mehr noch durch unser Vorverständnis von Zeit bedingt, das sich in wesentlichen Momenten vom Aristotelischen unterscheidet. So scheint uns auf den ersten Blick
die Aristotelische Definition zirkelhaft! zu sein, weil für uns „früher“ und „später“ primär zeitliche Ausdrücke sind. Dasselbe Vorverständnis, das im
hindert auf Zahl. Zwar Zahl zu tun zählen und
„früher“
und
„später“
sogleich Zeitliches auffindet, ver-
der anderen Seite eine adäquate Auslegung des Terminus entbehrt es nicht der Plausibilität, daß die Zeit etwas mit hat, — aber gerade ıhr Grund, daß man nämlich Zeiten messen kann wie anderes auch, macht es unverständlich,
wie man die Zahl zum Definiens der Zeit erheben kann. Wir wollen aber, bevor wir diese und andere Schwierigkeiten näher ausführen, quası als Randbedingung unserer Interpretation vorweg
1 So schreibt etwa H. Wagner: „Das Zeitmoment selbst ist in der gegebenen Zeitdefinition schon vorausgesetzt“. Aristoteles, Physikvorlesung, übers. v. H. Wagner, Darmstadt
1967, S. 573.
159
angeben, was Aristoteles selbst als Beispiel für „Zeit“ nennt: Frühling, Herbst und Jahr (ἔαρ, μετόπωρον, ἐνιαυτόν, 220 b 14). Die Definition der Zeit als Zahl muß demnach so verstanden werden, daß damit so et-
was wie Frühling, Herbst und Jahr erfaßt wird. Aristoteles unterschei-
det solches aber als verschiedene Arten von Zeit, so daß damit der Definition nur zukäme, das allgemeine Wesen von Zeit zu definieren oder
besser vielleicht: sie enthielte eher ein allgemeines Schema, nach dem
Zeiten wie Frühling, Herbst, Jahr zu definieren wären. Wir gehen allzu leicht davon aus, Zeit als ein einzelnes Wesen anzusehen, dem also
bereits ein unteilbares εἶδος zukäme. Demgegenüber hat Aristoteles
offenbar Frühling, Herbst, Jahr und dergleichen als Arten von Zeit
vor Augen, deren gemeinsames Gattungswesen es zu erfassen gilt. Was
in der Definition erfaßt ist, verhielte sich demnach wie Lebewesen (ζῷον) zu Mensch. So wie niemals „Lebewesen“ als solches vorkommt, sondern stets als Mensch, Hund etc. auftritt, so auch nie Zeit als solche, vielmehr sie ist stets Frühling, Herbst, Tag etc. Es gilt also zu verstehen, wie Aristoteles das allgemeine Wesen von Zeiten wie Frühling, Herbst, Jahr als Zahl analysieren konnte, und zwar als Zahl der
Bewegung in Hinblick auf das Frühere und Spätere.
II. Schwierigkeiten der Aristotelischen Zeitdefinition
Der Auslegung der Aristotelischen Zeitdefinition stehen verschiedene
Schwierigkeiten entgegen, die hier zunächst genannt werden sollen, bevor ein besonderer Interpretationsvorschlag zur Definition gemacht
wird. Solche entspringen einerseits daraus, daß die Weise, in der wir
gewöhnlich Zeit und Zahl zusammenbringen, ein mißleitendes Vorverständnis erzeugt, andererseits aus den Aristotelischen Texten selbst.
1. Wir reden etwa von Zeiten, indem wir von „zwei Jahren“ sprechen oder „3 Tagen“. Es bietet sich danach an zu sagen, das „Ge-
zählte“, von dem in der Aristotelischen Definition die Rede ist, sei das, was wir Zeitspanne oder Zeitabschnitt nennen. Zeit sei für Aristoteles „Zeitspanne“. Nun ist letztere Aussage sogar zutreffend, so weit man damit sagen will, Zeit sei für Aristoteles von dem, was wir heute als
Zeitliches bezeichnen, eher Zeitspanne als Zeitpunkt. Nicht zutreffend
aber wäre die Aussage, was man an der Bewegung in Hinblick auf das Frühere und Spätere zählen könne, seien Zeitspannen, also definierte 160
Aristoteles Zeit als Zeitspanne. Die Aussage des Aristoteles verlóre auf
diese Weise den Charakter einer Definition. Wenn Aristoteles Zeit als so etwas wie Zeitspanne versteht, so muß seine Definition enthalten, was eine Zeitspanne ist, 516 muß also Tag, Jahr etc. selbst als eine Art Zahl erklären. Daß Tage, Jahre, Stunden wiederum gezählt werden können, macht nichts darüber aus, was sie sind. Die Art, in der wir
in den oben genannten Beispielen Zeit und Zahl zusammenbringen,
bei denen wir nàmlich Zeiten als durch Zahlen bestimmte Quanta angeben, kann also nicht die in der Aristotelischen Definition formulierte Beziehung von Zeit und Zahl sein. Nicht die „Zwei“ oder die „Drei“
machen es in den Ausdrücken „zwei Jahre“, „drei Tage“ aus, daß es sich um Zeiten handelt, sondern „Jahr“ und „Tag“.
Wir gebrauchen Zahlen ferner zur Bezeichnung von Zeitpunkten
und allgemeiner zur Datierung. Etwa:
„Es ist drei Uhr“
oder „Heute
ist der 3. Maı 1967“. Nun könnte man diese Beispiele schon aus kultur-
historischen Gründen ablehnen, weil einerseits der Gebrauch der Uhr zur Anzeige von Zeitpunkten durchaus neuzeitlich? ist und andererseits in der Antike eine allgemeine Chronologie fehlte. Aber immerhin
gab es Uhrengebrauch und auch bestimmte Weisen der Datierung, und Zahlen fanden dabei Verwendung. Man muß sich also fragen, welcher Art die Beziehung von Zeit und Zahl hierbei grundsätzlich sein kann, und ob Aristoteles dieses ın seiner Definition gemeint haben kann. Von den Zahlen wird nun bei Zeitangaben im Sinne ihrer Ordnungs-
struktur
Gebrauch
gemacht.
Bei einer Angabe
wie
,im
dritten Jahr
der 70. Olympiade* sind die Zahlen nicht als Quanta gemeint, sondern, wie wir heute sagen würden, als Ordinalzahlen. Wenn nun auch ein derartiger Sinn von ἀριϑμός nicht von vornherein für Aristoteles abgelehnt werden soll, so müfite er doch eigens nachgewiesen werden. Dagegen muf die Auslegung abgelehnt werden, Aristoteles hàtte die Zeit als das in dieser Weise Abgezählte angeben wollen. Was da abgezählt wird, sind Jahre und Stunden. Die Ausage des Aristoteles ver? [m Sinne solchen neuzeitlichen Uhrengebrauches versteht P. F. Conen (Die Zeit-
theorie des Aristoteles, München
1964) Zahl
in der aristotelischen Definition, S. 96,
Anm. 56: „Dann kann die Zahl aber auch gebraucht werden, um das Vorher und Nachher in der Bewegung zu unterscheiden, wie in ‚ein Uhr, zwei Uhr'*. Es handelt sich. nach Conen um die Zahl, die Bewegungen als „vorher und nachher (andere Phasen derselben Bewegung) haben*. Conens Lósung verbietet sich eher aus kulturhistorischen Gründen als aus den sogleich im Text anzugebenden.
161
lóre so wieder den Charakter einer Definition. Sie muß angeben, was das ist, dem man so abzählend Zahlen zuordnen kann.
2. Wenn es für Aristoteles darauf ankommt zu zeigen, daß die Zeit irgendwie ist — was nach den Aporien von Δ 10 in der Tat als Aufgabe der Zeitabhandlung betrachtet werden kann —, so bedeutet das
für ihn die Aufgabe, die Zeit als irgendwie Vorliegendes (ὑπάρχον) oder selbst als Weise des Vorliegens zu bestimmen. Wenn sie nicht
selbst οὐσία (Substanz) ist, so muß sie irgendwie an der Substanz vorliegen. Dieser Aufgabe trägt W. Wieland Rechnung, wenn er die Zeit als Prädikat bestimmt. Da aber das Vorliegen das Vorliegende grund-
sätzlich vereinzelt,? so ist das Vorliegende nach dem, woran oder wo-
mit zusammen es vorliegt, numerisch verschieden (ἀριϑμῷ ἕτερον). Ist
dies etwas, was man für aufeinanderfolgende Zeiten gerade erwarten sollte, daß sie also dem εἶδος nach gleich, der Zahl nach verschieden sein kónnen,* so muß aber gleichzeitige Zeit numerisch identisch sein. Wie
soll sie dies, wenn man sie als mit der Bewegung vorliegend begreift? Die Schwierigkeit ist: Sein als Vorliegen vereinzelt nach dem Woran
des Vorliegens. Alle gleichzeitige Zeit aber muß dieselbe sein. Aristoteles kennt das Problem und behandelt es an verschiedenen
Stellen.? Der Sinn dieser Stellen ist nicht ohne weiteres klar, und man
kann nicht sagen, die Ausleger hätten aus ihnen eine befriedigende Lösung ermitteln können.® Wir selbst verzichten auf die Angabe einer 3 Das bedeutet nicht, daß es dadurch näher bestimmt werden müßte, vgl. Kat. 2. Dort bedeutet τὶς γραμματική keineswegs eine näher spezifizierte Grammatik, sondern nur die Grammatik als vorliegende. 4 Vgl. 220 b 12 ff., 223 b 4.
5 (219 b 10), 220b 5 £., 223 b 2 ff.
6 Besonders bemerkenswert ist hier die Lösung des Simplicius (Simplicii in Aristotelis Physicorum libros quattuor priores commentaria. Ed. H. Diels, Berlin 1882). Zeit ist nicht unmittelbar Zahl der Bewegung, sondern bezieht sich auf das nach Früher und Später Aufgeteilt- und Geordnetsein der Bewegung. Solches kommt verschiedenen Bewegungen nicht im Hinblick auf ihre mögliche Verschiedenheit
(nach Ort und Art) zu, sondern in Hinblick auf ihr Gemeinsames, nämlich Bewe-
gung zu sein. (κατὰ τὸ κοινὸν καϑ᾽ ὁ κίνησις 720.26). Die Zeit also, die sich als Zahl auf das Früher und Später bezieht, ist Zahl von allen Bewegungen als einer (πασῶν
ὡς μιάς 720.22). Die Zeit als solche unterscheidet
Verschiedenheiten des Bewegungen gar nicht. rische Verschiedenheit dung, die die Zeit als
162
sich nun
nur gemäß
den
Jetzt, d.h. nach früher und später, also bei gleichzeitigen Hier ist natürlich wieder anzumerken, daß für die numenicht eine Spezifikation notwendig ist, d.h. eine Unterscheisolche an sich haben kann, sondern daß die Vereinzelung
Lösung, weil wir meinen, daß das Problem durch eine allgemeinere Voraussetzung der griechischen Ontologie erzeugt wird, die mit dem Aristotelischen Ansatz bezüglich der Zeit nicht mehr verträglich ist. Es ist die von Parmenides herrührende Voraussetzung, daß das Seiende
im Ganzen zumal und in einem sei? Alles Seiende wird von daher fraglos, und ohne daß eine Vermittlung als notwendig empfunden würde, als gleichzeitig angesprochen. Wir meinen, daß es dagegen in der Konsequenz des Aristotelischen Ansatzes — nämlich des Ansatzes,
die Zeit dem Sein nach auf die Bewegung zu gründen — liegt, die unvermittelte kosmische Gleichzeitigkeit aufzugeben, wie es dann bei Einstein geschehen ist. 3. Zeit wird als Zahl definiert, ist aber an sich (καϑ' αὑτό) keine Quantität. Diese Schwierigkeit wird, soweit ich sehe, nirgends beachtet.
In Kat. 6 und Met. A 13 werden Quantitäten καϑ᾽ αὑτό von solchen
κατὰ συμβεβηκός unterschieden. In A 13 werden die ποσὰ κατὰ συμβεβηκός weiter unterteilt, bei welcher Gelegenheit auch die Zeit
als Beispiel erscheint. Met. A 13, 1020 a 26—32:
„Von den Quanta
aber, die nur in abgeleiteter Weise so genannt werden, werden die einen so wie man vom Gebildeten sagt, daß er ein Quantum sei, oder vom Weißen, daß es ein Quantum sei, Quantum genannt, weil nàmlich ein Quantum ist, woran sie vorliegen; — die anderen aber so wie Bewegung und Zeit: Denn auch diese werden Quanta und kontinuierlich genannt, auf Grund der Tatsache, daß jenes teilbar ist, dessen Bestimmungen sie sind. Ich meine damit nicht das Bewegte, sondern um
was es bewegt wurde: Weil nämlich jenes ein Quantum ist, ist auch die
Bewegung ein So-und-so-Großes, und die Zeit ist ein Quantum, weil es die Bewegung ist.“
durch Vorliegen an etwas genügt. Simplicius kommt denn auch in verwandtem Zusammenhang zu der bedenklichen Aussage, Selbigkeit nach dem Zugrundeliegenden und Selbigkeit nach dem Eidos könne dasselbe bedeuten. (ὅτι τὸ «và ünoκειμένῳ ταὐτὸν τῷ τῷ εἶδει ταὐτὸν σημάινει 725.18 f.). Hier (722 f.) allerdings macht er seine Lösung erneut zum Problem und schlägt vor, daß Zahl, die als gezählte überall dieselbe sei, sich auf die Bewegung des Himmels bezóge, und daß diese ihrerseits die verschiedenen Bewegungen abzähle. (Vgl. auch 729 ad 220 a 22). ? Parmenides
Fr. B 8,5
Diels.
Aristoteles
hat
hier
mit
einem
Problem
zu
tun,
das man als Schwierigkeit der Platonischen Ideenlehre formulieren konnte, nämlich zu verstehen, wie eines als Ungeteiltes und Identisches zugleich in (oder an) vielem soll sein kónnen. Vgl. Plato, Parmenides 131 a ff.; besonders der Vergleich mit dem ausgespannten Segeltuch wäre hier sehr treffend.
163
Verwandt mit dieser Schwierigkeit ist die Frage des Verhältnisses der
Zeit zu den Kategorien, insbesondere der des ποσόν und der des ποτέ.
4. Zahl als Quantität (ποσόν) ist diskret (διωρισμένον), Zeit dagegen
kontinuierlich. Simplicius lóst diese Schwierigkeit, indem er sagt, die
Zahl, die wir zählen, könne kontinuierlich sein.® Wieland? verlegt die Kontinuität der Zeit als solche in die Wahrnehmung, während dem
záhlenden νοῦς nur Diskretes zugänglich sei. Conen unterscheidet zwischen wirklicher und vorgestellter Zeit. Callahan!? versucht der Schwierigkeit Herr zu werden, indem er einen funktionalen von einem morphologischen Aspekt der Zeit unterscheidet. 5. In jedem Fall wird man zu wissen verlangen, was nach der Aristotelischen Definition als Zeit gilt, d. h. was von dem, was man sonst als irgendwie zur Zeit gehörig kennt, das Gezählte (oder Zählbare) ist, das nach der Definition die Zeit ausmacht. Heidegger meint,
daß die Jetzte das Gezählte sind, und versteht demnach die vulgäre Zeit als Jetztfolge. Nach Wieland werden Bewegungsabschnitte gezählt, die zugleich Zeitabschnitte sind. Er sieht aber die Möglichkeit,
daß so die Zeit als etwas Eigentümliches überhaupt herausfallen kónnte.!! Für die erste Möglichkeit spricht, daß das Jetzt gleichsam als
Einheit gilt.!? Dagegen, daß das Jetzt ausdrücklich als etwas bezeichnet 8 aaO. 714.12. ? W. Wieland, Die aristotelische Physik, Göttingen 1962. 10 J. F. Callahan, Four Views of Time in Ancient Philosophy, Havard
UP
Cam-
bridge 1948, S. 71 f. Der funktionale Aspekt der Zeit ist durch ihre Rolle in Bezug auf die Bewegung gegeben: Sie macht diese zählbar. Daß von Zählbarkeit eher als von Meßbarkeit zu sprechen ist, liegt nach Callahan daran, daß die verschiedenen Teile der Bewegung nicht simultan sind und überhaupt nur einzelne Phasen nacheinander festgestellt werden können, d. h. aber nach früher und später unterschiedene Jetzte (50 ff). Deshalb könne Zeit als „number of motion according to prior and posterior“ definiert werden. Nach Nennung der Definition fügt Callahan hinzu: „Without forgetting that time and motion are continuous we may number time by means of the indivisible nows that the minde perceives“ (57). Bewegung und Zeit sınd für Callahan wesentlich kontinuierlich. Es erscheint aber einigermaßen paradox,
Struktur haben
daß
oder
sollte.
Aristoteles
Gestalt
Wir
Zeit
nicht
(structure,
werden
nach
ihrem
morphology
versuchen,
diese
Wesen,
71/72)
nämlich
selbst
Schwierigkeit,
die
dem,
was
zukommt, die
sonst
ihr als
definiert
sehr
auf-
schlußreiche Interpretation von Callahan enthält, durch eine eingehende Interpretation von Met. A 13 zu vermeiden. 11 Wieland aaO. 328. 1? 220 a 3: Jetzt als μονάς. 219 b 28: Jetzt als das ἀριϑιιητόν. 223 a 28 f.: τὸ δὲ πρότερον xai ὕστερον ἐν κινήσει ἐστίν: χρόνος δὲ ταῦτ᾽ ἐστὶν ἣ ἀριϑμητά ἐστιν.
164
wird, das kein Teil der Zeit ist, und daß Jetzte als Unteilbares nicht zusammenhängend sein können. Man mut$ für diese Frage davon ausgehen, was Aristoteles selbst als Zeiten bezeichnet: Jahr, Frühling, Herbst. 6. Gründet Aristoteles das Sein der Zeit auf die Bewegung, so ist
es aber auch irgendwie abhängig von der Seele. Man kann fragen, ob
die Zeit erst dadurch, daß sie ausdrücklich mit der Seele in Verbin-
dung gebracht wird, ist, was sie ist; oder ob sie nur der Wirklichkeit nach wird, was sie der Möglichkeit nach ist.!? III. Das Verhältnis von Zahl und Strecke
Unser Interesse an der Aristotelischen Zeitdefinition ist durch die Frage
nach einem ursprünglichen Zusammenhang von Zeit und Zahl bestimmt. Der nun zu entwickelnde Vorschlag einer Interpretation wird dementsprechend besonders auf eine Lósung der unter 3—5 genann-
ten Schwierigkeiten abgestimmt sein. Wie inzwischen klar geworden
sein wird, kann eine Interpretation der Aristotelischen Definition nicht
erwartet werden ohne eine erhebliche Abweichung sowohl von dem,
was wir gewöhnlich unter Zeit verstehen, als auch von dem, was wir gewöhnlich unter Zahl verstehen. Solche Verständnismöglichkeiten werden zunächst in etwas freierer Weise zu entwickeln sein, um sie
dann nach und nach als Interpretationsmóglichkeiten für den Aristotelischen Text zu erweisen. Unser Vorschlag entwickelt sich nicht, wie sonst bei den Auslegern üblich,
von
den
Bemerkungen
her, die Aristoteles
unmittelbar
der
Definition folgen läßt!t: Man beurteile das Mehr oder Weniger gewöhnlich durch Zahl, das Mehr oder Weniger in Hinblick auf Bewegung aber durch Zeit. Zeit sei also eine Art Zahl. Dabei sei Zahl aber nicht zu verstehen als die Zahl, mit der wir zählen, sondern als das,
was gezählt wird, und das, was Zahl hat. — Vielmehr gehen wir von
etwas
später
folgenden
Überlegungen
aus,
nämlich
dem
Ab-
133 Nach Wieland (aaO. 326) wird die Zeit nur durch Beziehung auf den Nous zu dem,
was
sie nach
der
Definition
ist, zum
Diskretum
Zahl.
Nach
Conen
ist die
„wirkliche“ Zeit der Möglichkeit nach das, was sie als vorgestellte ist, aber als vorgestellte ist sie nicht mehr, was sie als wirkliche ist. (aaO. bes. 115 f., 169 f.). 14 219 b 2—9.
165
schnitt 219 b 33 ff. Dort interessieren uns zunächst nur zwei Bemerkun-
gen. Zeit und Jetzt seien nicht ohne einander, heißt es, denn wie das
Bewegte und die Bewegung, so sei auch die Zahl des Bewegten und die Zahl der Bewegung zumal. „Zeit ist nämlich die Zahl der Ortsbewegung, das Jetzt aber wie das Ortsbewegte ist quasi Einheit der Zahl“.15 Inwiefern kann das Jetzt gewissermaßen Einheit sein? Sollte die Zeit sich als Vielheit von Jetzten erweisen? Aber das ist unmóg-
lich, wird doch oft genug betont, das Jetzt sei kein Teil der Zeit, es
sei nur Grenze der Zeit.!6 Weiter unten wird für die mehrfach benutzte Analogie von Punkt und Jetzt eine Grenze ihrer Tragfähigkeit
bestimmt dadurch, daß man beim Punkt anhalten kann, beim Jetzt aber nicht. Das Jetzt sei durch das Bewegtsein des Bewegten immer ein anderes, so daß Zeit nicht Zahl sei wie die Zahl ein und desselben
Punktes, der nàmlich als Anfang und als Ende betrachtet werden
kann, „sondern eher in der Weise, wie die Äußersten (die Grenzen) der Strecke (Zahl sind)“.17 Inwiefern sind die Grenzen der Strecke
eine Zahl? Und was kann es bedeuten, daß Zeit in einer entsprechenden Weise Zahl ist? Diese Bemerkungen geben Anlaß zu vermuten, daß in der Aristotelischen Zeitdefinition Vorstellungen eine Rolle spielen kónnten, wie sie inzwischen allgemein als Platonische Lehren bekannt sind. Wir
skizzieren
das für uns von
diesen Platonischen
Lehren
Interessante,
indem wir dabei K. Gaisers Buch! folgen, in dem sie heute am vollständigsten und klarsten entwickelt zu finden sind. Danach unterschied Platon Seinsbereiche, die eine Rangfolge bilden und in einem abge-
stuften Abhängigkeitsverhältnis stehen. Das Gefüge dieser Bereiche war in Analogie zur Folge der Dimensionen konstruiert. So bilden die Ideen-Zahlen den obersten Bereich, auf den dann Linien- und Flächen-
máfsges (Seele, μαϑηματικά)
folgen und schließlich der Bereich der
sinnlich
wahrnehmbaren
15 οἷον 16 17
3 f.: χρόνος μὲν γὰρ ὁ τῆς φορᾶς ἀριϑμός, τὸ νῦν δὲ ὡς τὸ φερόμενον, ἀριϑμοῦ. 6; 220 a 19, 21; 222 a 10 ff.; (219 a 29). 16, ἀλλ᾽ ὡς τὰ ἔσχατα τῆς γραμμῆς μᾶλλον.
220a μονὰς 218 a 220a
Körper.
Das
Abhängigkeitsverhältnis
der
18 K. Gaiser, Platons ungeschriebene Lehre, Stuttgart, 2. Aufl. 1968. In diesem Zu-
sammenhang interessieren besonders die Kapitel aus dem ersten Teil: I. Dimensionenfolge (Zahl — Linie — Fläche — Körper) und Mitte, II. Aufbau und Gliederung der Seinsbereiche. Man vergleiche aber auch: Stenzel, Zahl und Gestalt bei Plato und Aristoteles, Darmstadt ?1959, E. Frank: Plato und die sog. Pythagoreer, Darmstadt ?1962.
166
Stufen besteht darin, daß die je höhere Stufe die πέρατα der ihr folgenden niedrigeren enthält.!? Hieran fällt auf, daß Platon offenbar die Dimensionsfolge als ZahlLinie-Fläche-Körper ansetzte, d. ἢ. er begann nicht mit dem Punkt.? Platon sah offenbar den Punkt nicht als etwas Seiendes an, sondern nur als eine mathematische Annahme (δόξα). Jedenfalls ergibt sıch für
Platon die Zahl als πέρας der Linie. Das braucht insofern nicht zu verwundern,
als πέρας bei Platon
nicht vor allem
„räumliche
Be-
grenzung“ heißt, sondern vielmehr jeweils das einende und gestaltende
Prinzip darstellt, das in Verbindung mit der unbestimmten Zweiheit
das Seiende hervorbringt. Gleichwohl hat Zahl als πέρας der Linie
auch einen anschaulichen Sinn, wenn man nämlich für Zahl die Zwei nimmt: Die Mathematiker sagen, eine Strecke werde von zwei Punkten begrenzt, das hieße aber für Platon: von zwei Monaden. Die Zu-
ordnung der Zahl Zwei zur Linie (Strecke) erhält noch durch eine weitere Tatsache der Platonischen Lehre Unterstützung: Den Stufen des Seienden wie der Folge der Dimensionen sind nämlich die Zahlen
1, 2, 3, 4 zugeordnet. D. h. also, dem Bereich der Länge (Linie) die Zwei. Die Zahlen 1, 2, 3, 4 sind selbst die obersten Ideen, so daß man sagen kann: Die Idee der Linie ist die Zwei, oder: in der Linie er-
scheint die Idee der Zwei.?! Für die Aristoteles-Auslegung läßt sich Folgendes οἷς Hinweis entnehmen:
1.
2.
3.
Zahl steht bei Platon an der Stelle in der Dimensionsfolge, wo man Punkt erwarten würde. Zahl ist πέρας der Linie.
Die Idee von Zahl (oder Punkt) ist die Eins, die Idee von Linie
ist die Zwei. Um aus dem für Platon Festgestellten für die Aristoteles-Interpre-
tation einen Nutzen ziehen zu können, muß zunächst nachgewiesen
werden, daß die genannten Vorstellungen oder zumindest verwandte eine Rolle innerhalb von Aristoteles’ eigenem Denken spielen. Es soll
dazu gezeigt werden, daß Aristoteles die Strecke in engem Anschluß an die Platonischen Vorstellungen versteht. a) Met. H 3 1043 a 29 ff. spricht Aristoteles darüber, daß häufig nur
ein Name für μορφή und σύνϑετον gebraucht wird. So bezeichne z. B. 19 Gaiser aaO. 44 ff. ?0 Gaiser aaO. 48, Nr. 26 A.
21 Vgl. dazu auch Aristoteles Met. 1036 b 8 ff.
167
der Name „Haus“ sowohl das εἶδος des Hauses, nämlich Schutz zu sein, als auch das σύνϑετον, nàmlich das Haus in dem Sinne eines aus
Ziegeln, die so und so zueinander liegen, bestehenden Schutzes. Paral-
lel zu diesem Beispiel werden die Verhältnisse bei der Strecke (γραμμῇ) genannt: Was beim Haus Schutz ist, ist bei der Strecke Zweiheit (δυάς), was beim Haus „Schutz aus Ziegeln“ ist, ist bei der Strecke Zweiheit in der Länge (δυάς ἐν μήκει).
b) In de anima Γ 4 429 b 10 ff. geht es um das Erkennen von so
etwas wie Fleisch. Dazu wird festgestellt, daß häufig Ding (A) und
τὸ τί ἦν εἶναι (B) verschieden sind.?? Fleisch (A) nun ist Warmes und
Kaltes in einem bestimmten Verhältnis (λόγος), das τί ἦν εἶναι aber ist dieses Verhältnis. Entsprechendes wird nun vom Geraden (τὸ εὐϑύ) gesagt. Wenn man dort diesen Unterschied durchführt, so ist das Gerade im Sinne von A: Zweiheit mit Kontinuum, im Sinne von B: Zweiheit. Nun strebt Aristoteles ganz allgemein danach, wo eine Materie auftritt, diese in die Definition aufzunehmen.? Das kommt an dieser Stelle so zum Ausdruck, daf$ gesagt wird, Fleisch und Gerade verhielten sich wie das Krummnasige: es sei nàmlich dieses in jenem (τόδε ἐν τῷδε). Solches ist, was es ist, nicht ohne Materie (ἄνευ τῆς ὕλης), so Krummnasig-Sein nicht ohne Fleisch. Wenn also auch für Aristoteles, was das Gerade ist, als δυάς genannt wird, so wird anders
als bei Platon die Definition jetzt δυάς μετὰ συνεχοῦς lauten müssen. Das erweist auch noch folgende Stelle:
c) In Met. Z 11 geht es um die Frage, was zur Materie, was zum εἶδός
gehört. Wenn das auch offenbar ist bei solchem, was als dieselbe Form in verschiedener Materie vorliegt, so geraten manche schon bei Kreis
und Dreieck in Vezlegenheit: 1036 b 8, ἀποροῦσί τινες ἤδη καὶ ἐπὶ τοῦ κύχλου καὶ toU τριγώνου, Gg οὐ προσῆκον γραμμαῖς δρίζεσϑαι καὶ τῷ συνεχεῖ.
Für Aristoteles geziemt es sich offenbar, etwa das Dreieck durch das Kontinuierliche und die begrenzenden Strecken zu definieren,
wahrend diese anderen Leute (die Platoniker) alles auf Zahlen zurück-
führen und sagen, daß der λόγος der Strecke der der Zwei sei (καὶ yoau-
μῆς τὸν λόγον τὸν τῶν δύο εἶναί φασιν). Freilich ist dabei noch unklar, ob die Zweiheit als die Strecke selbst (αὐτογραμμή) oder als das εἶδος ?? In Met. Z 6 wird dies thematisch behandelt. Dort steht dem τὶ ἦν εἶναι entgegen ἕκαστον. Deshalb wird hier der Ausdruck „Ding“ verwendet. ?3 E, Tugendhat,
168
TI
ΚΑΤΑ
ΤΙΝΩΣ,
Freiburg
1958,
S. 102 ff., bes. 110, 113.
der Strecke aufzufassen ist. Man sieht aus dieser Stelle, daß der Unter-
schied des Aristoteles gegenüber den Platonikern nicht etwa darin bestehen kann, daß er das Schema Zahl-Linie-Fläche-Körper, in dem je eines des anderen πέρας ist, aufgibt, sondern in dem Zusatz ,mit Kontinuierlichem“ (μετὰ συνεχοῦς) zur Definition dieser geometrischen
Gegenstände.
Wir halten also fest: Für Aristoteles ist die Strecke „Zweiheit im (eindimensionalen) Kontinuum“, d. ἢ. Zweiheit in der Länge.
IV. Konsequenzen für die Zeitdefinition Von
diesen
Ergebnissen
her
zeigen
sich
Möglichkeiten,
die
Zeit-
definition so auszulegen, daß man gewisse Schwierigkeiten zum Verschwinden bringt. Das betrifft zunächst die Schwierigkeit, wie Zeit
kontinuierlich sein soll, wenn sie als Zahl definiert wird; und die andere, die in der Frage besteht, was nach Aristoteles nun die Zeit ist: gezählte Jetzte, gezählte Bewegungsabschnitte oder sonst irgendetwas.
1. Schon bei der Strecke zeigt sich eine Verbindung von Zahlen-
mäfßsigkeit und Kontinuität. Dabei ist gegenüber Platons Auffassung eine Wandlung eingetreten: Aristoteles nimmt wieder Punkte an, was
mit seiner Ablehnung der Platonischen Lehre von den unteilbaren
Linien zusammenhängt, welche nämlich bei Platon an die Stelle von Punkten getreten waren. Ein Punkt ist für Aristoteles eine Eins, die eine Position hat.?! Die Strecke ist für Aristoteles ein σύνϑετον aus δυάς und Kontinuum, sie wird begrenzt durch zwei Punkte, d. ἢ. also Einsen (Monaden), die (gegeneinander) eine Position haben. Die Strecke ist nun einerseits Zahl, nàmlich nach ihrem τὸ τί ἦν εἶναι: Zwei; andererseits kontinuierlich als Konkretum genommen, als Zwei in der Länge (δυάς ἐν μήκει). Es bietet sich nun an, die Verhältnisse bei der Zeit entsprechend zu betrachten, wobei man sich aber hüten muß zu glauben, es handele sich hier einfach um dasselbe, d. h. die Zeit zu verräumlichen. Neben anderen Stellen sprechen besonders für einen solchen Versuch die oben bereits genannten, nàmlich 1. die Stelle, an der es heifit, das Jetzt sei gewissermaßen die Einheit der Zahl (220 a 4), und 2. die Stelle, an der es heißt, Zeit sei nicht Zahl in der Weise, wie ^4 ἡ vào στιγμὴ μονάς ἐστι ϑέσιν ἔχουσα, de anima 1016 b 26, 31. Met. M 8, 1084 b 26.
409 a 6. Vgl. auch Met. Δ 6,
169
man einen Punkt als zwei betrachten kann, sondern vielmehr in der
Weise, wie die Äußersten (die Grenzen) der Strecke Zahl sind (220 a 16, ὡς τὰ ἔσχατα τῆς γραμμῆς μᾶλλον). Wir haben demnach die Zeit als konkrete Zahl (d. ἢ. primär konkrete Zwei) zu betrachten, d. ἢ. als ein Etwas, das durch zwei Jetzte begrenzt ist. Dabei hat man als Zeit (entsprechend den Verhältnissen bei der Strecke) weder die Jetzte allein, noch das Zwischen ihnen allein anzusehen, sondern das Ganze (aus beiden). Das Jetzt hat dabei also eine analoge Funktion für die Zeit wie der Punkt für die Strecke, nur tritt bereits hier der Unterschied ein, daß das Jetzt keine Monade ist, die eine Position hat, son-
dern man müßte sagen: eine Monade, die eine Ordnungsstelle hat.?5 In der Kategorienschrift?® unter ποσόν wird nämlich klargestellt, daß Position nur etwas Bleibendes haben kann. Als etwas Entsprechendes bei Nichtbleibendem (z. B. Zeit) wird dort τάξις genannt. Das Jetzt wäre also eine μονάς, die gegen andere in einem Ordnungsverhältnis steht, und zwar natürlich der Ordnung nach Früher und Später (πρότερον καὶ ὕστερον). Zeit ist also das durch Jetzte Begrenzte, wobei Jetzte nach Früher und Später geordnete Monaden sind. Die Zeit als das durch Jetzte Begrenzte, wobei die Jetzte nach Früher
und Später geordnete Monaden sind: Sogleich wird sich hier der be-
kannte Einwand einstellen, daß Früher und Später bereits zeitlich zu verstehen sind, zumal wir uns bei der Übersetzung von πρότερον und 25 μονὰς
τάξιν
ἔχουσα.
Der
Ausdruck
gibt
kein
Zitat,
sondern
ist konstruiert
in Parallele zu μονὰς ϑέσιν ἔχουσα. Er tritt bei Aristoteles de caelo B 12, 292 a 19
auf und bezieht sich dort auf die Gestirne, insofern sie nur gemäß ihrer Anordnung
unter dem Himmel betrachtet werden, dagegen z.B. nicht als beseelt. Siehe auch die nächste Anmerkung. 26 Kat. 6, 5a 15—37. Die Analogie von ϑέσις und τάξις ergibt sich dort offenbar dadurch, daß beide ein Bezogensein der Teile eines Ganzen aufeinander sind. Wenn etwas
eine Lage
hat, läßt sich angeben,
wo
es ist, und
zwar
indem
man
sagt, an
was es angrenzt. Eine Relation des Angrenzens ist symmetrisch, aber nicht transitiv. Dagegen ist eine früher-später-Relation transitiv, aber nicht symmetrisch. ϑέσις und τάξις schließen sich aber nicht aus. So kann die Lage eine Ordnung begründen, wenn man einen Ort auszeichnet, so daß sich πρότερον und ὕστερον als näher und ferner von diesem Ort aus ergeben (Met. A 11). Umgekehrt kann sich auch die Lage ergeben, wenn ein Ort ausgezeichnet ist und die Ordnung bekannt. In diesem Sinne ergibt sich die Lage der Gestirne oder — besser gesagt — ihrer Sphären durch ihre Anordnung vom äußersten Himmel (πρώτος οὐρανός) aus. (τάξις ist übrigens in der Analogie zu ϑέσις als etwas anzusehen, das dem Einzelnen zukommt).
170
ὕστερον nicht gerade Mühe gegeben haben, diesen Schein zu vermeiden. Wir wollen jetzt diese Frage aufgreifen und treten damit in den lext ein, der bei Aristoteles die Formulierung der Definition vorbereitet. Es heißt dort, das Frühere und Spätere finde sich primär im Ort.?
Gegen diese Aussage ist vielfach eingewandt worden, daß, was im Ort das Frühere (oder Vordere) sei, sich von einer Bewegung her be-
stimme.?8 Entsprechend kann man dann bei der Bewegung argumentieren: Was in der Bewegung das Früher sei, bestimme sich von der Zeit her, es sei das „zuerst“ Kommende.?? Durch solche Argumentationen begibt man sich aber gerade des Spezifischen am Aristotelischen Zeitbegriff, daß nämlich Zeit etwas der Bewegung Nachgeordnetes ist.
Man wird also schon hier versuchen, die Argumentation des Aristoteles zu halten. Dazu ließe sich zunächst darauf hinweisen, daß πρότερον und ὕστερον ihrer sprachlichen Herkunft nach einen primär „räumlichen“ Sinn haben.3° Für unseren Zusammenhang ist aber wich-
tiger, sich zu vergegenwärtigen, daß Aristoteles nicht Raum, einer abstrakten Stellenmannigfaltigkeit, zu mit Orten des von Natur aus Seienden. Der Ort, Seiendes befindet, kann sein natürlicher Ort sein
mit so etwas wie tun hat, sondern in dem sich ein oder auch nicht.
Neben dem bloßen Wo der Lage ergibt sich mit der Lehre von den natürlichen Orten auch eine Ordnung nach πρότερον und ὕστερον im
27 τὸ δὴ πρότερον xai ὕστερον ἐν τόπῳ πρῶτόν ἐστιν. 219 a 14 f. 8 Etwa A. Torstrik. Über die Abhandlung des Aristoteles von der Zeit, Phys. A 10 ff., S. 463: „Merkwürdig ist, daß Aristoteles das früher und später zuerst im Raume
ansetzt, während
es doch klar ist, daß nur unter der Voraussetzung
der Be-
wegung ... von einem früher und später, einem vor und nach im Raum die Rede sein kann.“ Conen aaO. 49 ff. sieht das Problem, glaubt es aber durch den Satz lösen zu können, daß Stetigkeit Voraussetzung für das Auftreten von früher und später sei. ?9 So
argumentiere
z.B.
ich
selbst
gegen
Reichenbach
in meiner
Arbeit
„Über
die Zeitmodi*, Góttingen 1966, S. 95 ff. 30 B. Snell, Der Aufbau der Sprache, Hamburg ?1952, 164 ff. Vgl. auch LiddellScott unter πρότερος und ὕστερος. Dort findet sich etwa für Homer πρότεροι πόδες (Od.19, 228) neben πρότεροι ἄνδρες (1l. 21.405). Die Bedeutung von πρότερος als das zeitlich Frühere hat sich offenbar dadurch ergeben, daß die früheren Menschen die uns vorangegangenen sind. Die , Vergangenheit? wird bei Homer überhaupt nicht als Zeit erfaßt. (H. Fränkel, Die Zeitauffassung in der frühgriechischen Literatur, in: Wege und Formen
frühgriechischen Denkens, München
?1960, S. 1 ff.).
Vgl. zu diesem Thema auch M. Treu, Von Homer zur Lyrik, München 1955.
171
Bereich des Ortlichen. πρότερον und ὕστερον tritt so zwar aufgrund
der Lage (ϑέσει) im Ortlichen auf, aber nicht allein deshalb. Das be-
stätigen die Ausführungen zum Thema πρότερον, ὕστερον ın Met. A 11. Dort heißt es, daß etwas πρότερον bezüglich des Ortes genannt werde, weil es das Nähere sei, ὕστερον, weil es das Fernere sei. Und zwar
bestimmt sich dieses Näher- und Ferner-Sein in Bezug entweder auf einen natürlich bestimmten Ort, z. B. die Mitte oder das Äußerste,
oder in Bezug auf einen beliebigen Ort.?! Bei Mitte und Äußerstem
haben wir natürlich an den Kosmos zu denken, in dem die Mitte der natürliche Ort der Erde, das Äußerste der πρώτος οὐρανός 1st.?? Von
solcher Ordnung der natürlichen Orte her ergibt sich, was bei den natürlichen Bewegungen als das Frühere und das Spätere zu gelten
hat — nicht umgekehrt. Und bei den Bewegungen, die der προαίρεσις entspringen, ergibt sich Früher und Später relativ zu dem Ort (πρός τὸ τυχόν), den man sich als Ziel vorsetzt. Es hat also einen guten Sinn, wenn Aristoteles sagt, das πρότερον und ὕστερον trete primär beim Ort
auf. Was nun bei der Bewegung das Frühere und was das Spätere genannt wird, soll uns hier nicht weiter beschäftigen. Aristoteles sagt hier, die Verhältnisse seien denen beim Ort entsprechend (ἀνάλογον, 219 a 17). Aristoteles erwähnt dann im nächsten Satz, daß es Frü-
heres und Spáteres auch bei der Zeit gibt. Es ist wichtig sich klarzumachen, daß dies hier nur eine ergänzende Nebenbemerkung ist und
Aristoteles weiter mit dem Früheren und Späteren in der Bewegung zu tun hat. Was das Frühere und Spätere in der Zeit ist, wird dann
A 14, 223 a 4 ff. besprochen. Wir überschlagen den nächsten Satz, um nicht in eine langwierige
Auseinandersetzung
über die Formel
ö note ὄν eintreten
zu müssen,
was für unseren Zusammenhang wenig austragen würde.?? Aristoteles
31 κατὰ τόπον τῷ εἶναι ἐγγύτερον ἢ φύσει τινὸς τόπου ὡρισμένου, oiov τοῦ μέσου ἢ τοῦ ἐσχάτου, ἢ πρὸς τὸ τυχόν (1018 b 12—14). 3? Vgl. hierzu de caelo A 9, B 3. In de caelo findet sich auch bestätigt, daß der Charakter der Bewegung, insbesondere die Richtung, sich vom Ort her bestimmt. 33 Vergleiche dazu: A. Torstrik, Rhein. Mus. XII (1857), 161 ff.; D. Ross, Aristotle's
Unsere
Formel,
Physics,
Stellung die
aus
Oxford
zu dem einem
1960
zur
Problem
Nebensatz
Stelle,
ist kurz mit
Conen
gesagt
Attraktion
aaO. 65 ff., Wieland
folgende:
entstanden
ὅ ποτε ist.
aaO. 324 f.
ὄν
Sie
ist eine
bezeichnet
die Antwort auf das Wer (oder Was) eines Seins. τὶ ἐστι τὸ ὄν, ὅ ποτε ἐστιν ἄνϑρωπος; — τὶ ἐστι, ὅ ποτε ὄν ἐστιν ἄνδρωπος; Wer ist das Seiende, das Mensch ist? Koriskos. Die Formel gibt das Seiende an, das ὑποχείμενον ist. Sie unterscheidet
172
fährt fort: Wir stellen grenzen. Dies geschieht tere in der Bewegung selbst für das Frühere
auch die Zeit fest, wenn wir die Bewegung abzumal, wenn wir das?* Frühere und das Späbestimmen. Um das an einem von Aristoteles und Spätere in der Bewegung gegebenen Bei-
spiel?5 zu illustrieren: Das Heranwachsen eines Menschen bestimmen
wir dadurch, daß wir etwa sagen: zuerst war Koriskos ein Kind, später ein Mann. Die Bewegung des Heranwachsens wird also bestimmt dadurch, daß Koriskos einmal als Kind und einmal als Mann aufgefaßt
wird, und damit zugleich etwas zwischen beiden, nämlich die Be-
wegung. Koriskos als Kind ist aber das Frühere in der Bewegung, Koriskos als Mann das Spätere. Durch solche Bestimmung des Frühe-
ren und Späteren haben wir aber offensichtlich zugleich eine Zeit bestimmt. Denn wir sagen vor der Bewegung „Jetzt ist Koriskos Kind“
und nachher , Jetzt ist Koriskos Mann*, wobei wir offenbar das Jetzt
als zwei ansprechen, nämlich als früheres und späteres, und sie gegen
ein Mittleres zwischen ihnen unterscheiden. Wir nennen das so Ab-
gegrenzte Zeit, „denn (— bis hierher geht die phänomenologische Analyse, jetzt kommt die Definition: —) das durch das Jetzt Abgegrenzte scheint Zeit zu sein: und das soll festgelegt werden“ (219a 29 f.): τὸ γὰρ ὁριζόμενον τῷ νῦν χρόνος εἶναι δοκεῖ" καὶ ὑποκείσϑω.
Wir sind damit das letzte Stück der die Definition vorbereitenden
Analysen durchgegangen (219 a 14—30), und haben schließlich die abschließende Formel τὸ ὁριζόμενον τῷ νῦν als Definition der Zeit be-
zeichnet. Diese Behauptung ist zwar ein wenig übertrieben, ist aber
dieses von der Weise, in der es ist, in der es angesprochen wird, von der Beziehung, in der es steht (τὸ εἶναι, λόγος). Sie eignet sich besonders dann, wenn das ὑποκείμενον nicht selbst als es selbst schon ein Seiendes ist wie bei Blut, nàmlich Wasser + Erde, und bei den Elementen, nämlich die πρώτη ὕλη, oder wenn es sich nicht allgemein angeben läßt wie beim Jetzt, nämlich das jeweilige Jetzige. In den meisten Fällen ist aber ein bestimmtes Seiendes als ein zugrundeliegendes anzugeben, woher sich die Seltenheit der Formel trotz ıhrer Formelhaftigkeit erklärte. — Stellen bei Bonitz unter ποτέ. 84 Wir lesen mit Becker, Torstrik (Über die Abhandlung aaO. 466) τὸ (HIJPT), nicht τῷ (EFGV) wie Ross schreibt. Das hängt damit zusammen, daß wir uns für den adjektivischen (nicht adverbialen) Sinn von πρότερον und ὕστερον entschieden haben, worauf hier nicht eingegangen werden kann. Vgl. Torstrik, Über die Abhandlung, aaO. 452, 476). 35 Für das Frühere in Hinblick auf die Bewegung heißt es Met. A 11, 1018 b 20 f. τὸ γὰρ
ἐγγύτερον
τοῦ πρώτου
Bewegende ist hier der Vater.
κινήσαντος
πρότερον,
olov παῖς ἀνδρός.
Das
erste
173
geeignet, die Aufmerksamkeit auf die Beziehung zu lenken, in der diese Formel zu der steht, die nach allgemeiner Auffassung die Definition 1st: Zahl der Bewegung im Hinblick auf das Frühere und Spätere (219 b 2): ἀρυϑμὸς κινήσεως κατὰ τὸ πρότερον «ai ὕστερον. Von
dem Verständnis der Beziehung beider Formeln hängt nämlich offenbar das Verständnis ab, in welchem Zusammenhang die Analysen des Aristoteles mit seiner endgültigen Formulierung stehen. Der Satz, der die Definition enthält, folgt aber erst nach zwei wei-
teren, die noch einmal bestätigen, daß man von Zeit wie Bewegung nur spricht, wenn Früher und Später als zweierlei unterschieden werden. Diese Sätze bringen also nichts Neues. Man kann demnach den Satz 219 a 29 nicht als die Feststellung eines Zwischenergebnisses ansehen, von dem aus dann erst durch weitere Untersuchungen die Definition erarbeitet werden soll. Was erarbeitet ist, wurde in dem Satz
219 a 29 festgestellt: Die Zeit ist das durch das Jetzt Begrenzte. Von diesem Satz behaupten wir, daß er das Wesentliche der Definition enthält, daß die eigentliche Definition (219 b 2) nur eine ausführliche Formulierung darstellt. Denn nach unserem von Platonischen Lehren ausgehenden Interpretationsvorschlag ist das durch Jetzte Abgegrenzte
eine Art (konkrete) Zahl. Und daß solches Abgrenzen an der Bewegung geschieht, indem man sie in Hinblick auf das Frühere und Spätere anspricht, ist aus den vorhergehenden Analysen klar. Wir sehen also, daß die oben entwickelte Platonisch-Aristotelische
Denkweisen die auf die Definition hinführenden Analysen mit dieser selbst aufs genaueste zusammenschließen. Ohne eine solche Gedankenverbindung,;?9 die für Aristoteles klar, für uns aber ungewöhnlich ist, wären die hinführenden Analysen unzureichend und die Definition 36 Das Fehlen einer solchen Verbindung läßt offensichtlich Ross im Verständnis der Definition scheitern: Er merkt zur Stelle 220 a4 an (aaO. 601): „The addition οἷον μονὰς ἀριϑμοῦ is unfortunate, for time is not made up of a finite number of nows...In fact the notion of the now as the unit of time is incompatible with the notion of it as the generator of time, which is that with which Aristotle has chiefly been working. The error in implicit in the original error of defining time as the number of movement.“ Die Vorstellung einer Erzeugung der Zeit durch ein fließendes Jetzt ist im übrigen durchaus unaristotelisch (vgl. Wieland aaO.). Etwas Unteilbares (Jetzt, Punkt) kann sich nicht bewegen (Phys. Z 4, Z 10). Die einzige Stelle bei Aristoteles, die eine derartige Vorstellung enthält (de anıma 409 a4 f.), dürfte als dialektisches Argument aufzufassen sein. Ross folgt hierin den griechischen Kommentatoren, vgl. Ross aaO.599 f. ad 2204 16—17. — In jüngster
174
Zeit versucht
E. A. Schmidt,
Phil. Rundschau
15 (1968),
86 f., der Schwie-
träte unvermittelt auf. Insbesondere wäre das Auftreten des Terminus
ἀριϑμός aus dem Vorhergehenden nicht zu erklären. Allenfalls könnte
man sich darauf berufen, daß von zwei Jetzten die Rede war. Aber
wie sollte das Auftreten dieser zwei Jetzte ohne eine solche Vermittlung, wie wir sie entwickelt haben, begründen,
daß
Zeit Zahl
der
Bewegung im Hinblick auf das Frühere und Spätere ist? Eine Anzahl von Jetzten jedenfalls ist die Zeit nicht.
Die Frage, wie Zeit kontinuierlich und doch Zahl sein könne, ist damit vorerst erledigt. Offen wäre die Frage, was innerhalb des Konkretums Zeit die ὕλη ist. 2. Des weiteren tritt schon deutlicher hervor, was die gezählte Zahl,
die die Zeit sein soll, ist, wenn es auch noch nicht ganz klar wird.
Deutlich ist jedenfalls zweierlei: die Zahl „Zeit“ ist weder eine Anzahl von Jetzten, wenn es auch richtig ist, die Zählbarkeit der Jetzte
in diesem Zusammenhang hervorzuheben (etwa 219 b 28): denn die Jetzte sind gewisse Monaden und ihre Feststellung (Zählung) bestimmt zugleich das durch sie Begrenzte, die Zeit. Ebensowenig aber ist die Zeit eine Anzahl von Bewegungsabschnitten: Es ist nämlich bereits eine Zeit festgestellt, wenn eine Bewegung festgestellt ist, die dazu nicht zerlegt zu sein braucht?? oder sogar nicht zerlegt sein darf. Man darf für die Zeitzahl gar nicht primär an eine Anzahl denken, sondern
muß
festhalten, daß Zeiten (d. h. solche Zahlen, die Zeit sind) so
etwas sind wie „das Jahr“, „der Herbst“. Zwar spielt die Anzahl der
Grenzen (zwei) eine gewisse Rolle, Zeit ist aber nicht diese Anzahl.
V. Zeit als abgeleitetes Quantum (ποσὸν κατὰ συμβεβηκός)
Wir wenden uns jetzt, um die Aristotelische Definition näher zu verstehen, der Schwierigkeit zu, daß Zeit als Zahl definiert wird, aber rigkeit des Überganges zur Definition dadurch zu entgehen, daß er annimmt, bis 219 b1 sei lediglich von der Zeitwahrnehmung die Rede und erst danach von der Zeitdefinition. Das hängt damit zusammen, daß er der schon bei Wieland zu findenden Linie folgt, Zeit „im Sinne der Definition“ von „der in der Wahrnehmung sich gebenden Zeit“ zu unterscheiden. Es gelingt aber nicht, beides wieder durch den Hinweis, Maßeinheit und Gemessenes sei gleicher Art, zusammenzubringen. Hieße Zahl ın der Definition Anzahl von Zeiten, so wäre 516 keine Definition. Hieße Zahl
Anzahl von Bewegungen, so ist das Argument nicht anwendbar. 37 Gegen Simplicius, aaO. 713, 714.
175
dennoch nicht an sich (καϑ' αὑτό) ein Quantum sein soll, obgleich doch Zahl ein Quantum ist. Das führt, wie sich ja schon in den vorigen Abschnitten gezeigt hat, natürlicherweise zu dem Versuch, hier „Zahl“ nicht im gewöhnlichen Sinne als Anzahl zu verstehen. Die nächstliegende Alternative, nàmlich Zahl als Ordnungszahl (erster, zweiter, dritter . . .) zu verstehen, ist bereits von Simplicius? ergriffen worden. Da wir hiermit einen neuen Gesichtspunkt in die Diskussion um die Aristotelische Zeitabhandlung hineintragen, wollen wir zunächst etwas allgemeiner auf die von Aristoteles getroffene Unterscheidung von
ποσὸν xa9'avtó und ποσὸν κατὰ συμβεβηκός eingehen. Das ποσόν wird an zwei Stellen thematisch behandelt, nàmlich Kat. 6
und Met. A 13. Wenn man die beiden Stücke vergleicht, so ergeben sich gewisse Unstimmigkeiten. Man wird in solchen Fällen A 13, weil es die spätere Darstellung ist, aber auch wegen der größeren Genauigkeit und Bestimmtheit den Vorzug geben. Kat. 6 setzt ein mit der Unterscheidung in diskrete und kontinuierliche Größe (ποσὸν διωρις-
μένον, ποσὸν συνεχές). Met. A 13 schickt dieser Unterscheidung noch eine allgemeinere Bestimmung des ποσόν voraus und bringt dann dieselbe Unterscheidung unter den Titeln πλῆϑος und μέγεϑος. Für unse-
ren Zusammenhang ist davon nun zunächst nur wichtig, daß in beiden
Texten ἀρυϑμός unter diskreter Größe erscheint. In der Kategorien-
schrift erscheinen als Beispiele für beide Arten von Quanta zusammen
ἀριϑμός, λόγος, γραμμή, ἐπιφάνεια, σῶμα, χρόνος, τόπος, dabei Zeit als
quantum continuum. Von all diesen genannten heißt es nun 5 a 38 ff. zusammenfassend, daß dies die primären, im maßgebenden Sinne
(κυρίως) Quanta genannten seien. Ihnen wird alles andere entgegen-
gesetzt als solches, was nur xarà συμβεβηκός ein Quantum
genannt
werde. Als Beispiele für solche ποσὰ κατὰ συμβεβηκός erscheinen dann τὸ λευκόν, ἣ πρᾶξις, T] κίνησις. In A 13 erscheinen bei der Behandlung der ersten Unterscheidung ἀριϑμός, γραμμή, ἐπιφάνεια, σῶμα. Darauf?
wırd ohne Bezug auf diese Beispiele die Unterscheidung genannt, daß
manches an sich (καϑ'᾽ αὑτό), manches mitfolgend (κατὰ συμβεβηκός) Quantum genannt werde. Für das erste wird Strecke (γραμμή), für das
zweite das Gebildete (τὸ μουσικόν) als Beispiel angeführt. Es folgt eine Differenzierung, die ποσὰ καϑ᾽ αὑτά betreffend, durch die die Größe
selbst von Bestimmungen
an ihr unterschieden werden
38 714.14 ff., 716.19, ähnlich Conen 39
176
1020 a 14.
aaO. 96, Anm. 56.
soll, was für
uns hier nicht von Belang συμβεβηκός in zwei Arten
ist. Dann unterteilt.
aber werden die ποσὰ κατὰ „Von den κατὰ συμβεβηκός
Quanta genannten werden die einen Quanta genannt, wie es von dem Gebildeten hieß, es sei ein Quantum, und ebenso von dem Weiß, nàm-
lich aufgrund der Tatsache, daß dasjenige ein Quantum ist, an dem sie vorliegen. Die anderen aber wie Bewegung und Zeit. Auch diese nämlich werden als gewisse Quanta und als kontinuierlich angesprochen aufgrund der Tatsache, daß jenes teilbar ist, dessen Bestimmung sie sind. Ich meine hiermit nicht das Bewegte, sondern das, um was
es bewegt wurde. Weil nàmlich jenes ein Quantum ist, ist auch die Bewegung so und so groß, die Zeit aber aufgrund der Bewegung“ (1020 a 26—32).
DieUnterscheidungen von Kat. 6 und ^ 13 sind hier offenbar wiederum dieselben.** Nur zeigt sich, daß in A 13 die ποσὰ κατὰ συμβεβηκός
noch weiter aufgeteilt werden, und daß in der Kategorienschrift die Zeit als κυρίως ein Quantum genannte erscheint. Wir halten uns in beiden Punkten an A 13. Was soll es nun heißen, daß etwas κατὰ συμβεβηχός ein Quantum ge-
nannt wird? Zunächst ja offenbar, daß man es nicht an sich (παϑ' αὑτό)
ein Quantum nennt, d. h. insofern man es auf das hin anspricht, was
es an ihm selbst ist. Danach ergibt sich die doppelte Frage: Warum
sind die ποσὰ κατὰ συμβεβηκός nicht an ihnen selbst Quanta und warum kónnen sie dennoch als Quanta angesprochen werden? Die Kategorienschrift beschreibt hier wieder nur, wie letzteres geschieht, während A 13 für beides einen Grund anführt. Es ist nämlich möglich, etwas, das nicht an sich ein Quantum ist, als solches anzusprechen, weil das, woran
es vorliegt, ein Quantum ist. Damit erklárt sich zunáchst der Sinn, den
xarà συμβεβηκός hier haben muß: ποσὰ πατὰ συμβεβηχός sind solche, die als vorliegende aufgrund ihres Zusammengekommenseins mit anderen Quanta Quanta genannt werden. Bei Zeit und Bewegung formuliert Aristoteles noch etwas genauer: sie werden Quanta und kontinuierlich genannt, „weil jenes teilbar ist, dessen Bestimmungen sie sind“. Es wird hier also an Stelle von Quantität von Teilbarkeit ge-
sprochen. Damit wird zurück verwiesen auf die am Anfang von A 13 gegebene Bestimmung von Quantität: „Quantum wird genannt, was geteilt werden kann in solches, das in ihm vorliegt, und von dem jedes
40 χυρίως ist zwar nicht in der Regel gleich xad’ αὑτὸ zu setzen, hier aber wegen der Entgegensetzung zu κατὰ ovußeßnxög und wegen Kat. 5 b 8,9.
177
(wieder) seiner Natur nach eines und ein bestimmtes Etwas ist^.$1 Wir
entnehmen daraus, daß die ποσὰ πατὰ συμβεβηκός deshalb nicht an sich
Quanta sind, weil sie nicht an sich teilbar sind, sondern nur mitfolgend
(κατὰ συμβεβηκός) geteilt werden, wenn man das teilt, an dem sie vorliegen. Damit wäre unsere Doppelfrage zunächst beantwortet, stellt
sich allerdings erneut als Frage nach der Teilbarkeit καϑ᾽ αὑτό und κατὰ συμβεβηκός. Wir notieren hier für unseren Zusammenhang: Wir haben
die Zeit (wie die Bewegung) nicht nur nicht als etwas anzusehen, das an sich selbst ein Quantum ist, sondern auch nicht als etwas, das an
sich selbst teilbar und an sich selbst ein Kontinuum ist. Quantität, Teilbarkeit, Kontinuität, jedenfalls insofern sie aufgrund der Teilbarkeit definiert ist, kommen der Zeit nur mitfolgend zu.
Wir verschieben zunächst die Analyse der Weise, in der etwas, das an sich kein Quantum ist, als Quantum angesprochen wird und damit die Besprechung der von Aristoteles gegebenen Beispiele. Es stellen sich nämlich für unseren Zusammenhang zwei Fragen: Wie kann Zeit, die als Zahl definiert wird, dennoch an sich selbst kein Quantum sein? Und auf welche Weise wird Zeit mitfolgend als Quantum, als teilbar
und als kontinuierlich angesprochen? Wir wenden uns in diesem Abschnitt zunächst der ersten Frage zu.
Die Aufgabe, die wir zu lósen haben, besteht darin zu verstehen, wie
die Zeit als Zahl definiert werden kann, ohne dadurch zugleich an sich selbst ein Quantum zu sein. Daß dies unmittelbar als Schwierigkeit erscheint, liegt offenbar an unserem geläufigen Verständnis der Zahl als Anzahl. Es handelt sich aber zugleich um ein Problem der Aristo-
teles-Auslegung, weil Zahl bei ihm als eine Art Quantum aufgeführt
wird. Man kónnte nun einerseits die Zeit als etwas ansehen, das an sich nicht Zahl ist, weil sie an sich nicht Quantum ist: Das hieße aber, die Aristotelische Definition als Definition aufgeben. Man kónnte anderer-
seits versuchen zu zeigen, daß es sich bei Zahl als einer Art Quantum nur um einen eingeschränkten Zahlbegriff handelt. Nun fand Aristoteles in Platonischen und Pythagoreischen Lehren
zweifellos einen Zahlbegriff vor, der von unserem
Verständnis
der
Zahl als Anzahl durchaus verschieden war. Schon früh waren die Zahlen als Gegenstände der Arithmetik unter zahlentheoretischem Aspekt
41 ἸΠοσὸν λέγεται τὸ διαιρετὸν eic ἐνυπάρχοντα, ov [ἑκάτερον ἢ] ἕκαστον ἕν τι καὶ τόδε τι πέφυκεν εἶναι. 1020 4 7. Wir sind in der Übersetzung Ross gefolgt, der ἑκάτερον als eine Variante zu ἕκαστον ansieht.
178
betrachtet worden. Die Arithmetik handelt von Geradem und Un-
geradem, wie es bei Platon heifit.?? In ihr wurden die Zahlen auf ihre
besonderen Eigenschaften hin untersucht. Demselben Verstándnis von Zahl
entspricht
ihre gestalthafte
Darstellung
(σχηματογραφία).
Die
Zahlen wurden offenbar als je in besonderer Weise zum Ganzen Gefügtes angesehen. Solcher Auffassung konnte die Verwandtschaft von εἶδος und Zahl entspringen, die die Platonische Lehre von der IdeenZahl und die Pythagoreische, daß die Dinge Zahlen seien, beherrscht. Zahl ist nach solcher Auffassung eine bestimmte Weise von Einheit. Aristoteles hat nun dieser Auffassung gegenüber der mathematischen
Zahl zu ihrem Recht verholfen, nämlich der Zahl, die bei Rechnungen auftritt. Derartige Zahlen sind stets miteinander verträglich und zu-
sammenfaßbar, weil sie sich aus miteinander verträglichen, zusammen-
faßbaren,** ununterschiedenen Einsen zusammensetzen, was bei der Auffassung der Zahl als einer je eigentümlichen Einheit nicht gewährleistet schien. Sie sind nichts weiter als eine Menge von Einsen.55 Ihr Erzeugungsprinzip ist das sukzessive Hinzutun“® von einem zu einem,
das also selbst keinerlei Unterschied zwischen den Zahlen außer dem Größer- und Kleiner-Sein bestimmt und das bei keiner endlichen Schranke sich erschópft. Nun entspricht offenbar diese Zahlauffassung
mehr der unsrigen, so daß man leicht in den Fehler verfällt, dasjenige,
was Aristoteles als besonderes gegenüber seinen Vorgängern entwikkelt, als den einzigen Inhalt seines Zahlbegriffes anzusehen. Demgegenüber ist allgemein festzustellen, daß Aristoteles immer wieder be-
tont, die Zahl sei nicht wie ein bloßer Haufe,*" sondern vielmehr eine Einheit, die ihre Teile bloß der Möglichkeit nach enthält. Ja, Zahl ist sogar ihrem Wesen nach solche Einheit. Das kann man insbesondere an Met. H 6 sehen, wo das Problem der Einheit der Teile der Defi-
42 Charm. 166 a, Gorg. 451 c, Theaet. 198 a. 33 O. Becker kommt zu der Auffassung, ἀριῦμός habe im Gegensatz zu unserem Wort Zahl eher die Bedeutung „durch Zahlen bestimmte diskrete Mannigfaltigkeit“ oder „zahlenmäßig bestimmtes Gefüge“. O. Becker, Die Aktualität des pythagoreischen Gedankens, in: Die Gegenwart der Griechen im neueren Denken, Festschrift für H.-G. Gadamer zum 60. Geb., Tübingen 1960. 44 συμβλητός ist der Terminus in der Met. Buch M, etwa 1081a 5 συμβληταὶ xai ἀδιάφοροι al μονάδες. 45 πλῆϑος uovaóov. 16 πρόσϑεσις 1081 b 12 ff. 47 σωρός, Met. H. 3, 1044 a4; M 8, 1084 a 22.
179
nition und der Teile der Zahlen parallel behandelt wird. Danach ergibt
sich, daß, wie die oiota (das Wesen) selbst die Einheit ihrer in der Definition angegebenen Bestimmungen ist, so die Zahl die Einheit der
in ihr enthaltenen Teile. Nach H 6 wäre die Zahl die einende Wirklichkeit der in ihr bloß der Möglichkeit nach enthaltenen Teile. Dann aber muß man beachten, daß Aristoteles mehrere Bedeutungen von Zahl unterscheidet. In unmittelbarer Nähe zur Zeitdefinition steht die Unterscheidung von Zahl im Sinne dessen, was gezählt wird und
Zahl hat, von Zahl im Sinne der Zahl, mit der wir záhlen.48 In Met. M, N, I spricht Aristoteles besonders von dem Unterschied der wahrnehmbaren Zahl zur mathematischen oder monadischen Zahl (für die
Platoniker zusätzlich: eidetische Zahl).*? Der Zusammenhang zwischen beiden Unterscheidungen scheint uns folgender zu sein: Zahl liegt bei Aristoteles grundsätzlich an der οὐσία vor. Die mathematischen Zahlen
sind demgegenüber bloße Abstraktionen, d. ἢ. man erhält sie, indem
man bei der sinnlichen οὐσία nur auf Gewisses hinsieht und von an-
derem absieht. Der Vorgang dieser Abstraktion ist aber offenbar das Zählen selbst. Denn wenn ich etwas zähle, so nehme ich jedes einzelne
Gezählte nacheinander für sich und als eines.9? Das bedeutet aber, daß ich das Gezählte, wenn es ein Ganzes ist, zerteile oder von seiner Ein-
heit absehe. Es bedeutet ferner, daß ich von einer möglichen Teilung
des Einzelnen absehe, da ich es beim Zählen je als eines nehme. Es
bedeutet schließlich, daß ich von jeder Verschiedenheit des durchgegangenen Einzelnen absehe, indem ich es von Schritt zu Schritt zur bloßen Zahl und das heißt jetzt: zur Menge von Einheiten zusammen-
fasse. Die Zahl, die so beim Zählen erzeugt wird, ıst offenbar die Zahl, mit der wir zählen. Aufgrund der Abstraktion des Zählens ist sie eine Zahl, 416 eine Menge von Monaden darstellt, deren Teile also
voneinander nicht unterschieden sind und die selbst in jeder Hinsicht
unteilbar sind. Die mathematische, die monadische, die Zahl, mit der wir zählen, sind dieselbe „Art“ Zahl. Zu beachten ist, daß die Einheit
von gezählter Zahl und Zahl, mit der wir zählen, nicht dieselbe zu
48 ἀριῦμός ἐστι διχῶς (καὶ γὰρ τὸ ἀριϑμούμενον καὶ τὸ ἀριϑμητὸν ἀρυϑμὸν λέγομεν, καὶ ᾧ ἀριϑμοῦμεν), 219 b 6 f. 49 à. αἰσϑητός; &. μαϑηματικός, μοναδικός; à. εἰδητικός. 5? 968 b 2 τὸ xad’ ἕκαστον ἅπτεσϑαι τὴν διάνοιαν ἀριὑϑμεῖν ἐστιν, (Die Schrift „Über unteilbare Linien“ ist durchaus aristotelischen Inhalts). Wichtige Ergänzung 969 b 1 ff.
180
sein braucht. Einerseits wird beim Zählen von der besonderen Weise,
in der das Gezählte eines ist, abgesehen, andererseits ließe sich auch ein Haufen zählen, also etwas, das nicht schon an sich eines ist. Jede sinnliche Zahl ist eine Zahl von der Art, die gezählt werden kann, aber
nicht notwendig umgekehrt. Damit wären zunächst einige Hauptbestimmungen der Aristotelischen Zahlenlehre entwickelt und ihr Zusammenhang ausgelegt. In Met. A 13 erscheint nun Zahl als Art von Quantum.’! Ist damit
für Aristoteles Zahl in jeder Bedeutung ein ποσόν, und wenn nicht,
welche engere Bedeutung von Zahl ist hier gemeint? Zur Beantwortung muß) man beachten, daß der Definition von ποσόν einschränkende Bedingungen beigegeben sind. 516 ermöglichen, den unter ihnen zugelassenen Zahlbegriff als eingeschränkten zu bestimmen. Quantum, heißt es, ist etwas, das teilbar ist in Teile, die in ihm vorliegen (ποσὸν λέγεται τὸ διαιρετὸν εἰς ἐνυπάρχοντα, 1020 a 7). Damit ist Quantum nur etwas, das selbst ein ganzes ist.9? So etwas wie ein Haufen wäre damit nicht als Quantum anzusehen. Wenn man sich dazu entschließt, einen Haufen eine Zahl zu nennen im Sinne von etwas, das gezählt werden kann, so hat man hier ein erstes Beispiel für eine Zahl, die kein Quantum ist.9? Von den möglichen Teilen wird nun gefordert, daß sie — jeder einzelne — ein Eines und ein als Bestimmtes direkt Aufweisbares
sein
können
(ἕκαστον
ἕν τι καὶ τόδε τι πέφυκεν
εἶναι,
1020 a 8). Für diese Forderung an die Teile dürfte es sehr schwer sein,
mit Sicherheit die Absicht des Aristoteles zu treffen. Insbesondere der Terminus τόδε τι, der sonst zur Charakterisierung der οὐσία verwendet wird, macht dabei Schwierigkeiten. Man könnte die Einschränkung durchaus so scharf verstehen, daß als ποσόν nur zugelassen wird eine οὐσία, insofern sie Teile, die selbst wieder οὐσίαι sein können, enthält.
Nach unserer vorsichtigen Übersetzung von τόδε τι als ,etwas Bestimmtes, direkt Aufweisbares“ wäre zunächst noch zugelassen die Zerlegung einer οὐσία etwa in Stoff und Gestalt oder die Zerlegung der οὐσία im Sinne von εἶδος in ihre Bestimmungen, was wegen einer gleich
zu besprechenden Stelle wichtig ist. Oder, um ein sehr heikles Bei$1 Wir halten uns auch hier wieder an die gegen Kat. 6 strengeren Bestimmungen von Met. A 13. 52 Zwei Sätze darauf heißt es noch verstärkt: τὸ διαιρετὸν δυνάμει. 33 Vgl. dazu Kant, KdrV. A 170/B 212, wo 13 Taler unter Absehung vom Silbergehalt nicht Quantum, sondern bloß Aggregat genannt werden.
181
spiel zu nennen: die Zerlegung einer Melodie in Tóne oder die Zerlegung einer Rede (Aóyoc) in Worte und Silben. Das Beispiel von der
Rede ist deshalb so bedenklich, weil Rede (λόγος) in der Kategorien-
schrift unter den ποσὰ καϑ᾽ αὑτά enthalten ist.”* Wir entschließen uns dennoch zu dem strengen Sinn der Forderung, weil xooóv als Kategorie von der οὐσία prädiziert wird. Man könnte den Anfang von Δ 13 deshalb auch so lesen: Eine οὐσία wird ποσόν genannt, wenn sie teilbar
ist,
. . Diese Formulierung soll nicht so verstanden werden, als woll-
ten wir etwa die Strecke eine οὐσία nennen. Sondern: Bestimmte Lánge (= Strecke, s. 1020 a 13 f.) ist ein Quantum, weil die οὐσία im Hinblick
auf Länge als Quantum angesprochen wird. Denn die Teile der Länge
sind derart, daß sie Teile der ovo(a?? bestimmen. Man kann leicht nach-
prüfen, daß das bei den anderen oben angegebenen Beispielen nicht zutrifft. Als Bestätigung für unsere Auffassung der Bedingung führen wir noch an, daß von den ποσὰ καϑ'᾽ αὑτὰ λεγόμενα wenig später gesagt wird, sie seien teils echte Prädikate der οὐσία, teils seien sie weitere
Bestimmtheiten und Zustände einer „derartigen“ οὐσία, nämlich einer
οὐσία, insofern sie überhaupt als Quantum
angesprochen wird.5° —
Damit haben wir uns aber entschlossen manches, was Zahl genannt werden kann, nicht als Quantum, zumindest nicht als ποσόν καϑ' αὑτό zuzulassen. Zur Demonstration
führen wir eine Stelle an, die bezeichnender-
weise eine Annäherung des Aristoteles an Platonisch-Pythagoreische
Gedanken enthält. In Met. H 3 sagt Aristoteles, nachdem er kurz be-
merkt hatte, von zusammengesetzen οὐσίαι gäbe es Definitionen, von
den ersten Bestandteilen aber nicht: „Es ist auch klar, daß, wenn schon
die οὐσίαι irgendwie Zahlen sind, sie es in diesem Sinne sind und nicht
wie gewisse Leute sagen, als Zahlen von Einsen. Die Definition ist nämlich eine Art Zahl.*57 Diese Aussage bezieht sich auf οὐσία als τὸ τί δά 4b23,4 b 32 ff. 55 Es sollte hier noch
πρώτη
οὐσία
im
Sinne
einmal
betont
werden,
der Kategorienschrift
daß
οὐσία
zu verstehen
als σύνϑετον
ist. Nicht
Eidos ist ein Großes zu nennen, sondern der konkrete Mensch. 5° τῶν δὲ xaÜ' αὑτὰ τὰ μὲν κατ᾽ οὐσίαν ἐστίν...τὰ δὲ πάϑη
καὶ
oder
Mensch. ἕξεις
als
als τῆς
τοιαύτης ἐστὶν οὐσίας, 1020 a 17—20. Vgl. dazu Wieland aaO. $ 10 bes. S. 154. Die Formulierung hier: τὰ μὲν καὶ οὐσίαν ἐστιν kann als weiterer Beleg für Wielands These bezüglich εἶναι und λέγεσϑαι dienen. 97 Φανερὸν δὲ xai διότι, εἴπερ εἰσί πως ἀριϑμοὶ αἱ οὐσίαι, οὕτως εἰσὶ καὶ οὐχ ὥς τινες λέγουσι μονάδων: ὅ τε γὰρ ὁρισμὸς ἀριϑμός τις, 1043 b 32---34.
182
ἢν εἶναι nicht als σύνϑετον, was aus der εἶδος οὐσία (1044 a 10,11) hervorgeht. Übergang von οὐσία zu ὁρισμός. Daß οὐσία die Rede ist und daß Monaden
näheren Bezeichnung f| κατὰ τὸ Dies erklärt auch den raschen hier nicht von der konkreten erwähnt werden, spricht dafür,
daß Aristoteles sich auf Platoniker bezieht. Denn von den Pythago-
reern sagt er, sie wollten die sinnliche οὐσία als aus Zahlen bestehend verstehen, diese aber nicht aus in jeder Hinsicht Unteilbarem be-
stehend (Met. M 6, 1080 a 16 ff.; M 8, 1083 b 8 ff.). Wenn Aristoteles
hier die Meinung der erwähnten Leute zugeben würde, so würde er offenbar zugeben, daß die Ideen Zahlen sind. Er sagt dagegen, daß man hóchstens so weit gehen kann, zu sagen, die Definition sei eine Art Zahl. Dafür wird angeführt: a) Sie ist in Unteilbares teilbar. b) Hinzusetzen oder Fortnehmen eines Teils macht das Ganze zu etwas anderem. c) Sie muß irgendwie eines sein. d) Sie ist, was sie ist, nicht
mehr oder weniger.59? Uns interessieren hier natürlich besonders a) und
C). — Aristoteles kann hier also eine Einheit von Unteilbarem eine Art
Zahl nennen. Wir können von daher jedenfalls festhalten, daß solcher Einheitscharakter für Aristoteles im Zahlbegriff entscheidend war. Die Art Zahl, von der Aristoteles hier spricht, unterscheidet sich von der mathematischen
dadurch,
daß
sie nicht
aus
Monaden
besteht.
Sie
kónnte Zahl genannt werden im Sinne von etwas, das wir záhlen kón-
nen, ohne aber sinnliche Zahl zu sein. Was Aristoteles von den Platonikern trennt, scheint zu sein, daß diese natürliche Zahlen zur Dar-
stellung der Ideen verwendeten. Die Definition kann nun aber nicht
als ein ποσόν bezeichnet werden, weil ihre Teile nicht wiederum selbst ein τόδε τι sind. Wir haben damit ein Beispiel für eine Art Zahl, die nicht Quantum ist Wir fügen noch kurz die weiteren Bestimmungen von Zahl als eine Art von ποσόν an. Ein Quantum wird Menge genannt, wenn es abzählbar ist, was darin gründet, daß es in Nichtkontinuierliches (Unteilbares) zerlegbar 1st. Eine begrenzte Menge heißt aber Zahl (πλῆϑος τὸ πεπερασμένον ἀριϑμός, 1020 a 13). Damit wäre Zahl ein Quantum, das gezählt werden kann. Wir haben es offenbar mit Zahl im Sinne
von etwas, das gezáhlt werden kann, zu tun. (Ob die abstrakte Zahl selbst auch Quantum genannt werden kann, bleibe dahingestellt. Wird
sie nicht als abstrakte gerade so betrachtet, wie sie nicht Prädikat ist?) $8 1043 b 35—1044 a 11, diese Stelle hat Platonkapitel besprochenen Kratylos 432.
offenbar
enge
Beziehung
zu
der
im
183
Damit haben wir genügend Raum geóffnet, damit Zeit als Zahl verstanden werden kann, ohne sogleich Quantum zu sein. Daß sie nicht
an sich Quantum ist, liegt an ihren Teilbarkeitseigenschaften, die wir noch zu besprechen haben. Daß sie aber Zahl genannt wird, bedeutet,
wie wir jetzt meinen, daß sie die Einheit aus den in ihrer Folge unter-
schiedenen Jetzten ist. Sie ist das Ganze, das von diesen Jetzten aufgespannt wird. Um uns hierfür Verständnismöglichkeiten zu eröffnen, wollen wir die Analogie zu einer anderen voraristotelischen Lehre durchspielen, dıe aber der im vorigen Abschnitt erwähnten sehr verwandt ist, nämlich der Pythagoreischen Musiktheorie.5? Damit soll nichts darüber behauptet sein, wie Aristoteles diese Theorie im einzelnen beurteilte, son-
dern nur davon Gebrauch gemacht werden, daß es sich dabei um eine dem Aristoteles zweifellos geläufige®° Denkweise und Terminologie handelt. Daß Aristoteles überhaupt eigene Gedanken in Analogie zur Pythagoreischen Musiktheorie entwickelte, ist von K. v. Fritz und E. Kapp für die Logik nachgewiesen worden.9! Im allgemeinen ist die
Haltung des Aristoteles gegenüber den Pythagoreern zwar äußerst kritisch, seine Kritik bezieht sich aber mehr auf allgemeine Entwürfe und Übertragungen als auf ihre einzelwissenschaftlichen Aussagen. So bil-
ligt er zum Beispiel die Pythagoreische Behauptung der Sphärenharmonie, insofern sie die Behauptung einer im Verhältnis ihrer Winkel-
geschwindigkeiten geordneten Reihung der Gestirne ist, nicht aber in-
sofern man
dem einen akustischen Sinn verleiht.9? Zur Theorie
der
Musik hat Aristoteles keine eigenen Vorstellungen entwickelt, er er-
wähnt aber mehrfach die Harmonik als eine mathematische Wissenschaft.$? Nach der Pythagoreischen Musiktheorie wurde nun ein Inter-
59 Dargestellt u.a. 1n K. Reidemeister: Das exakte Denken der Griechen, Hamburg 1949 (Die Arithmetik der Griechen); v. d. Waerden, Die Harmonielehre der Pythagoreer, Hermes 78 (1943); E. Frank, Plato und die sog. Pythagoreer, Darmstadt ?1962, bes. 150 ff.
60 Für die Intervallehre z.B. Phys. B 3, 194 b 28; Met. A 2, 1013 a 28 διὰ πασῶν tà δύο πρὸς ἕν, auch Met. M 3, 1078 a 15.
6 K. v. Fritz, Die Archai in der griechischen Mathematik, Archiv f. Begriffsgesch. I (1955), 13 ff.; E. Kapp, Der Ursprung der Logik bei den Griechen, Gótungen 1965. €? Ve]. de caelo B 9, 10, λέγεται γὰρ ἱκανῶς. συμβαίνει δὲ κατὰ λόγον γίγνεσϑαι τὰς ἑκάστου κινήσεις τοῖς ἀποστήμασι τῷ τὰς μὲν εἶναι ϑάττους τὰς δὲ βραδυτέρας: 291 4 32---34. 63 997 b 21, 1078 a 14, 1077 a5, 194 48.
184
vall als ein Abstand (διάστημα) begriffen, der durch Tóne als durch seine Grenzen (ὅροι) eingegrenzt wird. Der Abstand ist nichts anderes als das, was durch Zusammenfügen der beiden Töne entsteht, er ist das Zusammen dieser Tóne. Deshalb kann er auch an Stelle von διάστημα λόγος heißen.6* Dabei haben wir nicht, wie wir durch unsere polyphone Tradition gewohnt sind, primär an ein gleichzeitiges Zusammenklingen von Tónen zu denken, sondern an ihre gefügte Reihung (&ouovio).6® Dies ist in unserem Zusammenhang besonders bemerkenswert, weil dadurch eine ursprüngliche Verwandtschaft von Musiktheorie und Zeittheorie heraustritt. Das Intervall, d. h. aber der
Logos, den zwei Tóne durch ihr Zusammengefügtsein bilden, kann nun
auch als ein Logos von zwei Zahlen begriffen werden, insofern den
Tönen durch ihre Saitenlänge eine Zahl zugeordnet ist. Dadurch ist Anlaß gegeben zu einer mathematischen Logoslehre, die also die Ver-
hältnisse von Zahlen zueinander betrachtet. Das musikalische Intervall wird so schließlich als ein mathematisches Verhältnis aufgefafit.
Wir wollen nun sehen, was wir gewinnen, wenn wir die Aristo-
telische Zeitlehre in diesem Schema interpretieren. Zeit, hieß es, 1st das durch das Jetzt Abgegrenzte. Im einfachsten Fall sind es zwei Jetzt, die eine Zeit abgrenzen (δρίζειν). Es liegt nahe, das Jetzt als ὅρος zu bezeichnen und dann folgende Analogie zur Musiktheorie zu konstru-
leren: Die nach früher und später unterschiedenen Jetzte bestimmen
als ihren Abstand (διάστημα) die Zeit, so wie zwei Töne eine Intervall bilden. Das erste, was man durch eine solche Analogie gewinnt, ist die Einsicht, daf$ ein durch ὅροι eingegrenzter Abstand keineswegs sogleich
etwas „Räumliches“ zu sein braucht. Inwiefern wäre durch die Pythagoreische Musiktheorie das musikalische Intervall verräumlicht? Sollte also
das
von
Aristoteles
entwickelte
Folgeverhältnis
von
μέγεϑος,
κίνησις, yoóvoc96 und die häufig benutzte Analogie von Punkt und
Jetzt zu dem Verdacht einer Verräumlichung der Zeit bei Aristoteles Anlaß geben, so zeigt die Intervallehre, daß durchaus andere Mög64 Ich folge hier im besonderen K. v. Fritz, Die Archai... aaO. 65 E. Frank aaO. $.5: „Während in der modernen Musik die Melodik naturgemäß hinter der Flächenhaftigkeit simultaner Harmonik zurücktritt, spricht sich die griechische Seele gerade in der Melodie, in der linearen Dimension aufeinanderfolgender Töne aus. Und das ist bezeichnenderweise der griechische Begriff, der mit
dem Worte Harmonik verbunden wird.* 66 219 a 10 ff.
185
lichkeiten denkbar sind. Dort ist der Abstand zwischen zwei ὅροι ein Verhältnis zweier Zahlen (Quinte 3:2, Quarte 4:3). Was aber wäre der
Abstand zweier Jetzte? Das Verhältnis zweier Zahlen ist nach griechischer Auffassung nicht
selbst wieder eine Zahl. Der
„Abstand“
der nach früher und später
unterschiedenen Jetzte soll aber selbst Zahl sein. Soll die Analogie zur Intervallehre tragen, so muß Zahl in der Zeitdefinition als eine Art
Logos verstanden werden, und zwar als Logos der in gewissem Sinne als Monaden anzusehenden Jetzte. Logos muf$ natürlich auch hier wieder im Sinne von Versammlung, Gefüge verstanden werden. Zahl ist, so gesehen, eine Art Logos, nàmlich das einende Gefüge der in ihr enthaltenen Monaden. Zeit kann danach als eine Art Zahl angesehen werden, in der die Jetzte die Rolle der Monaden spielen. Zeit ist etwas, das gezählt werden kann, nicht die Zahl, mit der wir
etwas zählen. Man kann die Zeit zählen, indem man je und je ein
Jetzt feststellt. Die Zeit ist aber nicht die durch solche Zählung gewonnene Zahl, die Anzahl der Jetzte, ebensowenig wie etwa eine Melodie die Anzahl ihrer Tóne ist, oder ein Intervall die Anzahl zwei. Die Zeit verstehen wir hier vielmehr als Zahl im Sinne des die Jetzte zu einem Zusammenfügenden, so wie das Intervall es ist, das zwei Tóne zum Ganzen zusammenfügt. Man kann ein Intervall in die Tóne zerlegen, die es bilden, diese Tóne sind aber nicht Teile des Intervalls. Ebenso kann man eine Zeit in die Jetzte zerlegen, die sie als ὅροι bilden, aber
die Jetzte sind nicht Teile der Zeit. Abzählbarkeit der Jetzte besagt
nicht, daß die Zeit an sich ein Quantum ist, ebensowenig wie die Ab-
záhlbarkeit der Tóne eines Intervalls oder einer Melodie diese schon als Quantum bestimmt.
Die Analogie von Zeittheorie und Musiktheorie erweist sich also als sehr fruchtbar. Wenn man sich darüber hinaus dazu entschliefit, die
Zahl als das die Jetzte Zusammenfassende speziell als Beziehung zu verstehen, dann ergibt sich eine sehr einfache Lósung der ersten Aporie des Kapitels A 10. Die Aporie beruht nàmlich darauf, daß als seiend
nur angesehen wird, was irgendwie jetzt 1st. Auf dieser Grundlage, die Aristoteles — soweit ich sehe — nie verläßt, ist dann leicht zu folgern, daß die Zeit nicht ist, weil kein Teil von ihr ist. Die Lösung der Aporie
muß aber tür Aristoteles auf derselben Grundlage gegeben werden. Wenn nun die Zeit als die (einende) Beziehung der nach früher und
spáter unterschiedenen Jetzte angesehen wird, so kann die Zeit vor186
liegen an dem jeweiligen Jetzt, insofern es das spätere eines vergan-
genen und das frühere eines kommenden ist. Offenbar kann eine Re-
lation sein, ohne daf beide Relate zugleich sind. Ich kann Enkel sein, d. ἢ. in der Relation Enkel-Großvater zu meinem Großvater stehen,
ohne daß mein Großvater noch lebte. So kann die Zeit am Jetzigen
vorliegen, insofern dieses auf Früheres oder auch Späteres bezogen ist.
VI. Das Folgeverbáltnis von Zeit und Bewegung: Teilbarkeit, Kontinuität, Quantität
Die Interpretation kann damit keineswegs als abgeschlossen gelten.
Einerseits ist die Bedeutung des Terminus Bewegung in der Definition noch nicht geklärt. Andererseits hat der vorhergehende Abschnitt die Aufgabe gestellt, die Teilbarkeitseigenschaften der Zeit zu bestimmen und zu klären, auf welche Weise die Zeit ein Quantum genannt werden kann. Und schließlich sind die in Abschnitt IV und V vorgelegten Entwürfe offenbar nicht miteinander verträglich. Wir erläutern zunächst das Letzte. In Abschnitt IV wurde ein Ver-
ständnis der Zeitdefinition in Analogie zur Definition einer Strecke entwickelt. Danach wäre die Zeit ein σύνϑετον aus συνεχές und Zahl.
Das Jetzt war dabei Grenze für das Kontinuierliche. In Abschnitt V dagegen erschien die Zeit ın Analogie zum musikalischen Intervall als etwas durch die Jetzte Aufgespanntes, als deren Logos. Im ersten Fall erhält das Jetzt also die Rolle eines πέρας für eine ὕλη, nämlich das συνεχές, 1m zweiten Fall ist es selbst Hyle, nämlich für den Logos. Der
Rang der Zeit gegenüber dem Jetzt ist in beiden Fällen ein anderer.
Wir haben aber inzwischen festgestellt, daß die Zeit nicht an sich ein Quantum ist. Dies war nach A 13 darauf zurückzuführen, daß sie nicht an sich geteilt werden kann. Damit ist sie auch nicht an sich ein Kontinuum, sofern nämlich Kontinuität Teilbarkeit in immer wieder Teilbares besagt.” Damit fällt der erste Entwurf, jedenfalls insofern als 97 συνεχές διαιρετά,
als einstelliges Prädikat
vgl. 231 b 16, 232b 24
ist zu definieren
f.; συνεχές
als Relation
als τὸ διαιρετὸν ist zu definieren
εἰς αἰεὶ als Be-
ziehung von mehrerem, deren Äußerstes (Grenzen) eines sind (ὦ τὰ ἔσχατα ἕν), vgl. 231 a 22, 228 a 29, 227 a 10 ff. Zu Einzelheiten der aristotelischen Kontinuumslehre s. Wieland aaO. $ 17 und G. Böhme, Unendlichkeit und Kontinuität, in: Philos. Naturalis 11 (1969), 304 ff.
187
zur Zeit als solcher kein Kontinuum gehóren kann, wie zur Strecke als solcher ein Kontinuum als deren noetische Materie$8 gehört.
Warum aber ist die Zeit an sich nicht teilbar? Die Frage ist zu scharf
formuliert, weil dies nicht eine direkte Behauptung des Aristoteles ist. Aber wenn wir feststellen, daß die Zeit nicht an sich teilbar ist, so haben wir damit nach A 13 einen zureichenden Grund, weshalb sie auch nicht an sich ein Quantum oder an sich ein Kontinuum sein kann.
— Nun hat Aristoteles einen äußerst strengen Begriff von Teilbarkeit.
Man kann ihn etwas banal formulieren: teilbar ist nur, was auch wirklich geteilt werden kann. „Wirklich“ teilen heißt dabei: durch einen
physischen Akt teilen. Es genügt also nicht, daß man etwas als geteilt ansehen kann. Man wird bei solchem Teilen primär an ein Zerschneiden und Trennen der Teile denken. Damit hätte man aber zu viel
gefordert. Es ist ja nicht nötig, daß ein Zwischenraum zwischen den
Teilen auftritt. Sie kónnen auch beisammenbleiben, aber nur als sich Berührende, so daß der Zusammenhang zwischen ihnen unterbrochen
Ist. Aber wann hat ein Zusammenhang als unterbrochen zu gelten?
Man gerät hier sehr schnell in die Schwierigkeiten der Aristotelischen Kontinuumstheorie, die zugleich ein physikalisches Problem darstellen. Wir tun deshalb gut daran, uns für unseren Zusammenhang an die von
Aristoteles selbst formulierte Minimalbedingung zu halten. Es ist die
Bedingung, die Aristoteles in Phys. O 8 zur Widerlegung der Zenonischen Paradoxie von der Zweiteilung (Dichotomie) benutzt. Er sagt,
zu einer wirklichen Teilung sei es notwendig anzuhalten.8? Ich kann den Weg von Heidelberg nach Hamburg dadurch wirklich in zwei
Teile zerlegen, daf$ ich ihn in zwei Etappen zurücklege. Dazu ist aber notwendig, etwa in Góttingen anzuhalten. Wenn ein derartiger Vor-
gang noch als physische Teilung zugelassen wird, so muf$ das Teilbare
also zumindest etwas enthalten, bei dem es möglıch ist anzuhalten und das so zum Teilenden wird. Eine solche Teilung ist nun noch bei der Strecke móglich, weil sie dableibt. Man kann bei einem Punkt anhalten und diesen so als Ende des einen Teils und als Anfang des anderen
Teils benutzen. Nicht aber ist es móglich, bei einem Jetzt zu verweilen und so die Zeit an ihr selbst zu teilen. Dies ist keine Folge der Theorie, sondern ein phänomenologischer Befund. Er spricht sich bei 68 Vgl. 1059 b 15.
zum
Begriff der noetischen
Materie
1036 a 10, 1037 a 4, 1045 a 34—36,
99 6 8, 262 b 25, διὸ στῆναι ἀνάγκη, vgl. A 11, 220 a 13, ἀνάγχη ἵστασϑαι.
188
Aristoteles überall dort aus, wo er die Grenze der Analogie von Zeit
und Strecke, von Jetzt und Punkt bemerkt.7?
Das Jetzt kann offenbar nicht an sich selbst „festgestellt“ werden.
Wie kommen wir dann aber überhaupt zur Abgrenzung von Zeiten?
Aristoteles antwortet: Wir erkennen die Zeit, wenn wir die Bewegung abgrenzen (ἀλλὰ μὴν καὶ τὸν χρόνον γε γνωρίζομεν, ὅταν ὁρίσωμεν τὴν κίνησιν, 219 a 22). Zeit wird mit-abgeteilt, wenn man Bewegung ab-
teilt. Damit kommen wir auf das notwendige Zusammen-Vorliegen von Zeit und Bewegung. Ist die Zeit an sich selbst das durch das Jetzt Begrenzte, so kann sie nur vorliegen zusammen
mit der Bewegung.
Das Jetzt liegt vor als das Jetzige. Dieses ist als solches, d. h. im Hin-
blick auf das Jetzt-Sein nur unterschieden, insofern es das Frühere und Spätere in der Bewegung ist. Um bei dem schon entwickelten Beispiel zu bleiben: Das Jetzige ist Koriskos. Sein Jetzt-Sein (sein präsent sein) ist aber unterschieden, denn es ist einmal Kind-Sein und dann Mann-
Sein. Koriskos ist einmal als Kind präsent, dann als Mann. Als Kind ist er das Frühere, als Mann das Spätere in der Bewegung, nämlich
seinem Wachsen. Dabei bleibt, wer (bzw. was) das Jetzige ist (0 ποτε 0v)'1, dasselbe, nur sein Sein (τὸ εἶναι) ist unterschieden, es ist einmal das Frühere und einmal das Spätere in der Bewegung. Wenn man nun
das Frühere und Spätere auf ein Selbiges hin ansprechen kann, ist es zählbar. Es :st aber zählbar, weil das, was jeweils jetzt ist, dasselbe ist,
nämlich Koriskos. Als Zählbares, wird das Frühere und Spätere in der Bewegung also auf sein Jetzt-Sein hin angesprochen.??
Wir kónnen jetzt genauer sagen, was bei Aristoteles die Zeit ist, indem wir ihr Zusammenvorliegen mit der Bewegung einbeziehen: Die Zeit ist das durch das Jetzt Aufgespannte, insofern das Jetzt als früheres und späteres unterschieden und das frühere Jetzt und das
spätere Jetzt aufeinander bezogen sind. Solche Beziehung gründet in
der Bewegung, die ein Bewegtes als Früheres und Späteres ursprünglich unterscheidet und aufeinander bezieht. Die Zeit ist nun diese Beziehung, aber nur in einer gewissen Hinsicht genommen. Und zwar wird in dieser Hinsicht nicht konkret Koriskos als Kind und Koriskos
als Mann aufeinander bezogen, welche Beziehung als die Bewegung gegeben wáre, sondern Koriskos nur als das Jetzige betrachtet, das
τὸ 220a
10 ff., 222a
13 ff.
"^! Vgl. Anm. 33 für das Folgende 219 b 12—28. 7? m δ᾽ ἀριϑμητὸν τὸ πρότερον xai ὕστερον, τὸ νῦν ἐστίν᾽ 219 b 25, 28.
189
einmal das Frühere und einmal das Spätere in der Bewegung ist. In
dieser Hinsicht wird das Jetzige also quasi nur als Monade betrachtet, bzw. als eine Vielheit von Monaden, die nach der Ordnung von Früher und Spáter unterschieden und aufeinander bezogen sind. Deshalb kann Aristoteles sagen: ,Die Zeit ist also nicht Bewegung, sondern nur insofern die Bewegung Zahl hat“.73 Die Definition der Zeit, die den
Terminus Bewegung enthält, definiert also die Zeit nach der Weise und dem Grund ihres Vorliegens. Zeit liegt stets zusammen mit Bewegung
vor und zwar ist sie etwas an der Bewegung, bzw. die Bewegung in einer bestimmten Hinsicht genommen, nämlich insofern man sie im
Hinblick auf das Frühere und Spätere auf eine Art Zahl hin anspricht, nämlich die Spanne oder Beziehung, die beide verbindet. Wir haben jetzt noch zu entwickeln, wie die Zeit mitfolgend geteilt wird und mitfolgend
gehen
als Quantum
angesprochen werden
darf. Wir
zuvor noch kurz auf die anderen Beispiele von ποσὰ κατὰ
συμβεβηκός ein. Aristoteles unterscheidet von xivnoıs und χρόνος andere, die so sind wie „das Weiß“ oder das ,Gebildete*. Den Grund
der Unterscheidung gibt Aristoteles nicht an. Er müßte sich finden
lassen, wenn im einzelnen klar würde, in welcher Weise die verschiedenen ποσὰ κατὰ συμβεβηκός als Quanta angesprochen werden. Auf welche Art man „das Weiß“ und „das Gebildete* als Quantum anzusehen hat, hängt davon
ab, wie man
„das Weiß“
und
„das Ge-
bildete“ selbst versteht. Bezeichnen diese Ausdrücke die konkreten Dinge, die weiß und gebildet sind, oder die Eigenschaften? Die Formulierung 1020 a 28, ᾧ ὑπάρχουσι, legt nahe, an die Eigenschaften zu denken. Das gibt aber für „das Gebildete“ keinen guten Sinn. Nehmen
wir trotz der Härte, die sich durch das ᾧ ὑπάρχουσι ergibt, einmal an, daß es sich um die Konkreta handelt. Dann ist das Weiße oder Gebildete z. B. Sokrates, ein physischer Körper. Dadurch ist es mitfolgend ein Quantum. Nach dieser Auffassung ergibt sich eine scharfe Unter-
scheidung zu den ποσὰ κατὰ συμβεβηκός Zeit und Bewegung. Denn
Weiß und Gebildet werden von der Quantität des Zugrundeliegenden
nicht affiziert, während Zeit und Bewegung durch das Zusammengekommensein mit anderem selbst als Quanta angesprochen werden. Das sieht man insbesondere am Beispiel „Gebildet“. Selbst wenn man
von einem Mehr oder Weniger an Gebildet-Sein sprechen kónnte, so 73 οὐκ ἄρα κίνησις ὁ χρόνος ἀλλ᾽ ἢ ἀριϑμὸν ἔχει ἡ κίνησις. 219 b 2 f.
190
hat das offenbar nichts mit der Quantität des Zugrundeliegenden zu tun. „Das Gebildete ist drei Ellen groß“ ist ein Satz von eben der Art
wie „Das Gebildete ist rot“. Folgen wir der Art der Formulierung (6 ὑπάρχουσι), so wird das Beispiel „das Weiß“ zwar interessanter, das Beispiel „das Gebildete“
aber unverständlich. Wir fassen also „das Weiß“ als Eigenschaft auf.
Dies würde dem Sprachgebrauch der Kategorienschrift entsprechen, in der τὸ λευκόν etwas ist, was an etwas ist. In der Kategorienschrift heißt es nun, daß man
„das Weiß“
als so und so groß angibt, indem
man die Fläche bestimmt, an der es vorliegt, und das Weiß als ein
Großes danach bemißt.”* Dies Vorgehen
erinnert sehr an die Weise,
wıe wir heute Intensitäten quantitativ bestimmen. Sie werden nämlich
als Quanta angesprochen, indem man sie durch die Extensitäten bestimmt, mit denen sie zusammen vorliegen, so etwa die Wärme durch
die Ausdehnung des warmen Körpers. Jedenfalls könnte man danach
die Intensitäten als ποσὰ χατὰ συμβεβηκός ansehen. Ob aber Aristoteles etwas Derartiges im Auge hat, ist schwer zu sagen. Die Durchführung
des Beispiels „das Weiß“ in der Kategorienschrift nähert es den Verhältnissen bei Zeit und Bewegung sehr stark an, was auch ein Vergleich der Formulierungen zeigt.’ Dadurch wird der Unterschied der beiden Arten von ποσὰ κατὰ συμβεβηκός wieder unklar.
Wir wollen die Diskussion bezüglich der Beispiele „das Weiß“
und
das Gebildete* hier nicht weiterführen, und wenden uns den für uns
wichtigen, nàmlich Zeit und Bewegung zu. Die Bewegung sei als teilbar vorausgesetzt.
Teilt man
nun eine Bewegung,
so wird ein Teil der
Bewegung durch ein Früheres und ein Späteres bestimmt. Damit ergibt sich aber zugleich eine Zeit, da mit der Bewegung stets zumal eine Zeit
abgegrenzt wird. Diese Zeit wird der Zeit der ganzen Bewegung als
ihr Teil zugeordnet. Durch Teilung der Bewegung wird so mitfolgend
stets die Zeit geteilt. Dasselbe Verhältnis ergibt sich zwischen μέγεϑος und Bewegung. Auch die Bewegung ist nämlich an sich selbst nicht teilbar. Sie wird mit-geteilt, wenn man das teilt, über das hin sie statt-
findet. Damit haben wir den Entwurf für die Auslegung des Folgeverhält-
nisses von μέγεϑος, κίνησις und χρόνος. Es ist ein Fundierungszusam74 καὶ τὸ λευκὸν ποσόν τι ἀποδιδοὺς τῇ ἐπιφανείᾳ ὁριεῖ: ὅση γὰρ ἂν N) ἐπιφάνεια
N, τοσοῦτον καὶ τὸ λευκὸν φήσειεν ἂν εἶναι. 5 b 6---8. 75 5 b 7/219 a 13 f. ὅσος — τοσοῦτος.
191
menhang, wie Heidegger ganz richtig sagt,"? und zwar so, daß je das
eine für das andere die Möglichkeit der Teilung und damit die Kon-
tinuitát und Quantität begründet. Bewegung und Zeit sind dadurch
aber nur mitfolgend teilbar, kontinuierlich, Quantum. „Es folgt näm-
lich die Bewegung der Größe (μέγεϑος), der Bewegung aber die Zeit darin, daß sie Quanta, kontinuierlich und teilbar sind. Weil nämlich
die Größe von der Art ist, stößt der Bewegung dieses zu, und durch
die Bewegung der Zeit“ (220b 24—28).7 Kontinuität der Größe (μέγεϑος) wird vorausgesetzt.’® Da jedes Bewegte aus einem in eines bewegt wird, nämlich aus einem Zustand A in einen Zustand B, so
ergibt sich durch Teilung der Größe AB ein Zustand C, der wiederum das Ende einer Teilbewegung bestimmt. Deshalb zeigt sich die Bewegung als mitfolgend kontinuierlich. Entsprechend verhält es sich mit Zeit und Bewegung, denn sie werden stets zusammen abgegrenzt.
Aristoteles formuliert hier sogleich quantitativ: „So groß nämlich die Bewegung war, eine so große Zeit scheint auch jeweils sich ergeben zu
haben*.7? Das Folgeverhältnis ist also nicht eine bloße Analogie, sondern bedeutet, daß das eine dem anderen durch Zusammen-Vorliegen gewisse Bestimmungen mitteilt.
Die Bestimmung von etwas als ein quantum continuum geschieht durch Messung.8° Eine Messung besteht aber darin, daß ein Ganzes als
Vielfaches eines seiner Teile, als Einheit genommen, bestimmt wird. Sie geschieht, indem der Teil so oft am Ganzen abgetragen wird, bis dieses heruntergemessen ist. Eine derartige Messung ist nun aber bei Zeit und Bewegung nicht möglich, weil ein Teil nicht als verfügbare Einheit für das Ganze dableibt. Sie ist grundsätzlich nur möglich auf
Grund des Zusammen-Vorliegens von Zeit und Bewegung und der
Existenz von periodischen Bewegungen,
d. h. Bewegungen,
die sich
in gleicher Weise reproduzieren. Eine Messung geht nun so vor sich: Wenn ich etwa die Bewegung meiner Reise von Heidelberg nach Hamburg messen will, so ist es nicht möglich, direkt das Ganze als ein Vielfaches eines Teiles zu bestimmen. Da ich aber an der Uhr oder 16. Sein 71 Vgl. 78 219 συνεχές,
und Zeit, Tübingen 81957, S. 432 Anm. Met. A 13, 1020 a 31 f. a 10 ff. ἐπεὶ δὲ τὸ κινούμενον κινεῖται ἔκ τινοσ eic τι καὶ πᾶν μέγεϑος ἀκολουϑεῖ τῷ μεγέϑει ἡ κίνησις:
79 ὅση γὰρ ἡ κίνησις τοσοῦτος καὶ ὃ χρόνος ἀεὶ δοκεὶ γεγονέναι. 219 a 13 f.
80 Met. A 13, 1020 49.
192
dem Himmel ein Werkzeug besitze, das mir zumal dieselbe Bewegung
und dieselbe Zeit abgrenzt, so kann 1ch mit Hilfe dieses Werkzeugs die Messung vornehmen. Ich grenze etwa einen Teil ab und nenne die zugehórige Zeit eine Stunde. Mein Werkzeug, das in derselben Zeit?!
eine gewisse Bewegung ausgeführt hat, soll diese Bewegung fortlaufend reproduzieren. So kann ich die ganze Reise als ein Vielfaches eines Teils bestimmen,8? allerdings nur in einer bestimmten Hinsicht: denn
nicht diesen Teil selbst, sondern nur die zugehörige Zeit konnte ich mittels des Werkzeugs ständig reproduzieren. Bewegung ergibt sich als gemessene, also als eine, die so und so lange gedauert hat. Das heißt aber: die Bewegung wird durch die Zeit gemessen und zwar spielt dabei eine bestimmte Zeit die Rolle des Maßes. Deshalb kann Aristoteles die Zeit auch das Maß der Bewegung nennen (ὃ χρόνος μέτρον κινήσεως,
220 b 32).
Zugleich messen wir so aber auch die Zeit, nämlich die Zeit der
ganzen Bewegung. Sie wird bestimmt als das Vielfache der Zeit einer
bestimmten Uhrenbewegung. So wird aber in gewisser Weise die Zeit
durch die Bewegung gemessen, denn die Uhrenbewegung ist es ja, die dabei das Maß bestimmt und mittels ihrer Reproduzierbarkeit kann ich die Zeit messen. Aristoteles erläutert das, indem er sagt: Durch
das Pferd erkennen wir die Zahl (der Pferde) — denn es legt die Ein-
heit fest bestimmt die ganze von Zeit aber man
-- durch die Zahl aber die Menge der Pferde.89 Ebenso eine Bewegung die Zeiteinheit, die Zahl dieser Einheiten aber Bewegung — im Hinblick auf ihre Dauer. Das Verhältnis und Bewegung erweist sich dabei als nicht ganz symmetrisch, kann doch sagen: „Wir messen nicht nur die Bewegung durch
die Zeit, sondern auch die Zeit durch die Bewegung, weil sie durcheinander abgegrenzt werden“ (220 b 14 ff.).
81 223 b 3 f. ὁ αὐτὸς γὰρ χρόνος εἷς ὁμοίως καὶ ἅμα: 82 μετρεῖ δ᾽ οὗτος [sc. ὁ χρόνος] τὴν κίνησιν τῷ ὁρίσαι τινὰ κίνησιν f] κατὰμετρήσει τὴν ὅλην 221.4 1 f. 83 220 b 19 ff. Man hat dieses Beispiel immer in Verbindung mit dem in der Definition auftretenden Terminus ἀριϑμός gebracht, was keineswegs nótig ist. Zwar ist die Zahl der Zeiteinheiten etwas, was zur Bewegung gehört, solche Zahl definiert aber nicht, was die Zeit ist.
193
LEIBNIZ:
ZEIT ALS RELATION I. Einleitung
Der Raum ist die Ordnung des Gleichzeitigen, die Zeit ist die Ordnung des Sukzessiven. Mit dieser Auffassung gehórt Leibniz in jene Tradi-
tion, die Zeit als das Formale, das Gestalthafte am Geschehen verstand, nicht als den Geschehenscharakter selbst. Sie findet sich durchweg in Leibniz’ Werk, fast immer parallel zu der These über den
Raum genannt und eigentlich nur anläßlich dieser. Seine Auffassung
vom Raum nàmlich entfaltet Leibniz immer wieder in ihren systema-
tischen Konsequenzen, denn durch sie unterschied er sich wesentlich von den Cartesianern: Raum qua Extension kann kein essentielles Prädikat von Substanzen ausmachen, denn der Raum ist nur eine Ordnung
des Gleichzeitigen. Einen entsprechenden Anlaß, seine Auffassung von der Zeit darzulegen, hatte Leibniz nicht, obgleich sie wie die des Rau-
mes die wichtigsten Züge seines Systems bestimmt. So wird man vielfach, was Leibniz über die Zeit denkt, aus seinen Argumenten über den Raum entnehmen müssen, während für Leibniz das Verhältnis
der Evidenz wohl umgekehrt war: Bezüglich der Zeit konnte er weit-
gehend des Einverständnisses der Zeitgenossen sicher sein, dagegen galt
es, den Raum in seinem ontologischen Rang herabzusetzen: Der Raum
ist nur die Ordnung des Gleichzeitigen, ebenso wie die Zeit die Ord-
nung des Sukzessiven ist. Erst im Briefwechsel mit Clarke kommt es zu einer ausführlichen Diskussion des Zeitbegriffes, wenngleich auch hier die Frage nach dem Raum führend ist. Die Argumentation von Clarke zwingt Leibniz hier zu genaueren Unterscheidungen, wie der
zwischen Zeit und Dauer, die er sonst háufig nicht macht. Es empfiehlt sich also, von diesem Briefwechsel in der Darlegung auszugehen. Wün-
195
schenswert ist auch hier — wie in den anderen Kapiteln — eine Interpretation entscheidender Textpartien zu geben, denn gerade in der Leibnizliteratur besteht die Neigung, die eigenen Meinungen durch
Zitate aus verschiedenen Diskussionen zu beweisen, die häufig von
Leibniz ad hominem geführt wurden. Wir werden also versuchen, Leibniz Auffassung von Raum und Zeit im wesentlichen durch eine
Interpretation des $ 47 im V. Brief an Clarke darzulegen. Der eigentliche Gegner im Briefwechsel mit Clarke ist für Leibniz I. Newton,
denn in dessen Sinne und wohl auch häufig nach Rücksprache mit ihm
antwortet Clarke. War es in der Auseinandersetzung mit den Cartesianern die Essentialitát der Ausdehnung, die die Diskussion des
Raumbegriffs notwendig machte, so ist es hier die Absolutheit, die Newton dem Raum wie der Zeit zugesprochen hatte, die Leibniz'
Widerspruch erregt. Wir wollen daher der Darlegung der Leibnizschen Auffassung zunächst die Newtons vorausschicken, und zwar nach den Philosophiae Naturalis Principia Mathematica. II. Newtons Begriff der absoluten Zeit Newton hatte von der absoluten Zeit gesprochen, Leibniz hielt dage-
gen die Zeit für etwas bloß Relatives. Wenn man heute diesen Gegensatz zu verstehen sucht, kann man kaum umhin, ihn auf die Differenz von Newtonscher und relativistischer Mechanik abzubilden; selbst
Einstein unterlag diesem Zwang.! Dagegen muß man aber feststellen,
daß die Zeit für Newton nicht deshalb absolut war, weil sie in der Galilei-Transformation nicht mittransformiert wird: Die Absolutheit ist keine der Gleichzeitigkeit und des Maßes. Vielmehr muß man im
Sinne Newtons sagen, daß man in jedem Bezugssystem die Zeit verwendet, als wäre sie die absolute.
Ferner ist es überhaupt verkehrt, Newton und Leibniz für Partei-
gänger der absoluten bzw. der relativen Zeit zu halten. Denn Newton
unterscheidet innerhalb seines Systems zwischen absoluter und relativer Zeit, und Leibniz entscheidet sich nicht für eine von beiden —
was ja auch kaum vernünftig wäre, wenn anders „absolut“ und „relativ“ Ausdrücke sind, die nur in Korrelation zueinander Bedeutung
haben. Daß die Zeit etwas Relatives ist, heißt bei Leibniz soviel wie, 1 S. Vorwort zu M. Jammer, Das Problem des Raumes, Darmstadt 1960.
196
daß die Zeit selbst eine Relation ist, und nicht etwa, daß sie nur in
Bezug auf ein System bestimmt ist. Doch wollen wir uns nicht bei der vorgängigen Bezeichnung von
Vorurteilen aufhalten, sondern lieber Newton aus seinem eigenen Text erläutern. Man wird dabei wohl bemerken, daß Newton und Leibniz vom heutigen Standpunkt her gesehen durch ihre Zeitgenossenschaft mehr verbunden als durch ihre Streitpunkte getrennt sind. Die Unterscheidung von absolut und relativ, die Newton bezüglich des Raumes (spatium), des Platzes (locus), der Zeit und der Bewegung durchführt, ist für ihn dieselbe wie zwischen dem Wahren und dem,
was in die Augen fällt (verum et apparens), wie zwischen dem mathematisch Erkannten und dem bloß landlàufig Angenommenen (mathematicum et vulgarum). Man sollte deshalb zunächst versuchen, von
diesen parallelen Unterscheidungen her den Unterschied von absolut und relativ zu erläutern. In ihnen findet sich nämlich zugleich das
Motiv,
das Newton
veranlaßte, überhaupt
diese Unterscheidungen
einzuführen: Es 1st der Wunsch, eine wahre Erkenntnis der Natur zu gewinnen und nicht nur festzustellen, was sich unter bestimmten Gesichtspunkten zeigt. Newton lehrt durch den Eimerversuch und den
Versuch, bei dem zwei Kugeln umeinander mit einem dazwischen gespannten Faden rotieren, die wahre Bewegung von der bloß scheinbaren zu unterscheiden. Der Anschein einer Bewegung entsteht immer, wenn
sich die relative Lage eines Körpers in Bezug auf andere Körper ver-
ändert. Der Körper braucht dazu aber nicht wirklich bewegt zu sein, da die Bewegung der anderen Körper zur relativen Lageveränderung
hinreicht, so daf$ die Bewegung des ersteren sich nur als ein Bild der
Beziehungen (instar relationum) zu den letzteren ergibt. Eine Bewegung dem bloßen Anschein nach ist also eine bloß relative. So kann bei Newton wahr und relativ häufig in direkten Gegensatz treten. Dem
Eimerversuch entsprechend kann man nun in der Tat durch die Frage
nach auftretenden Kräften entscheiden, ob etwas rotiert oder nicht. Freilich kann man nicht über absolute Ruhe oder Bewegtheit entschei-
den — was Newton zu unterstellen scheint —, weil eine geradliniggleichförmige Translation ja keine Kraftwirkung zeitigen würde. Von hier erklärt sich also die Beziehung des ersten Gegensatz-
paares: Die wahre Bewegung ist diejenige, die einem Körper absolut, an ihm selbst, ohne Rücksicht auf andere zukommt. Dagegen ist diejenige, die ıhm nur ın Beziehung auf andere Körper, also relatıv, 197
zukommt, nur Bewegung dem bloßen Anschein nach. Die besondere Stellung, die Newton in der Frage nach dem wahren Weltbild ein-
nahm, wird deutlich, wenn man den Gegensatz von mathematisch und vulgär hinzunimmt. Traditionell entsprach nämlich dem Gegensatz von wahr und „bloß dem Anschein entsprechend“ der Gegensatz
von physikalischer und bloß mathematischer Erklärung. Man hatte
sich nämlich daran gewöhnt, den ptolemäischen, den kopernikanischen wie auch andere Entwürfe des Weltsystems als bloße mathematische
Hypothesen anzusehen, die lediglich daran zu messen waren, ob sie die Phänomene
retteten, und nur im Hinblick auf ihre Einfachheit in
Konkurrenz traten. Schon Kopernikus Werk war vorsorglich mit einem entsprechenden Vorwort durch den Herausgeber Osiander versehen worden, und auch Leibniz schrieb noch ein Memorandum, in dem er diesen Standpunkt entwickelte und mit dem er sogar im Vatikan die endliche Aufhebung des Verdikts gegen das Kopernikanische Weltbild veranlafßßte. Eine mathematische Beschreibung der Natur war also vor Newton alles andere als wahre Erkenntnis, diese hätte vielmehr die physischen Gründe der Planetenbewegung anzugeben gehabt. Nun ist andererseits Newtons Standpunkt auch wiederum nicht der moderne, nach dem die mathematische Erkenntnis der Natur für sich
schon die wahre Naturerkenntnis ist. Newton hält durchaus an dem
Unterschied von bloß mathematischer und physischer Erkenntnis fest
und betont immer wieder, daß er in seinen „Mathematischen
Prinzi-
pien der Naturlehre‘ nach den eigentlichen Ursachen der Naturerschei-
nungen nicht frage —
tation^
von
—, wiewohl
wahr
und
„dem
also etwa nicht nach der ‚Ursache der Gravi-
er sie gerne kennen würde. Anschein
nach“
deckt
Der Unterschied
sich also nicht mit
dem
traditionellen zwischen dem wahrhaft Seienden und dem bloßen Phä-
nomen, sondern er fällt ın den Bereich der Phänomene selbst. Die mathematische Analyse lehrt das wahre Phänomen von dem bloßen An-
schein zu unterscheiden, dem man als (vulgo). Dieser Unterschied besteht teilung der Phänomene gewöhnlich sind Zeit, Raum, Platz, Bewegung
Ungebildeter gewöhnlich unterliegt darın, daß man sıch in der Beurnicht der wahren Größen, als da bedient, sondern nur ihrer wahr-
nehmbaren Maße (mensurae sensibiles). Letztere aber sind stets durch
den Bezug auf andere wahrnehmbare Körper gewonnen: Die Zeit wird beurteilt etwa durch die Erdbewegung, der Raum durch die Beziehung zu als fest angenommenen Körpern, die Bewegung durch die 198
relative Platzveránderung. Die mathematische Beurteilung eines Phänomens erhebt also den Anspruch, die Naturerscheinungen an sich
selbst, d. ἢ. absolut zu erkennen, während die gewöhnliche Beurteilung nur eine relativ auf andere Phänomene ist. Ob eine solche mathematische Beurteilung überhaupt möglich ist, diskutiert Newton für die
einzelnen Begriffe und wir werden uns sogleich dieser Frage zuwenden.
Zunächst kam es uns nur darauf an, den Sinn der Unterscheidung von absolut und relatıv allgemein zu erläutern.? „Die absolute, wahre und mathematische Zeit fließt in sich und ihrer
Natur gemäß ohne Beziehung auf irgend etwas Äußeres gleichmäßig; 516 wird mit einem anderen Namen Dauer genannt. Die relative, sichtbare und gewöhnliche Zeit ist ein gewisses wahrnehmbares und äußeres
Mafs der Dauer mittels Bewegung, sei es nun genau oder ungleich-
mäßig, dessen man sich gewöhnlich anstelle der wahren Zeit bedient, so etwa der Tag, der Monat, das Jahr“ (II 6)? Wir stellen zunächst fest, daß Newton die Zeit als etwas Fließendes bezeichnet, auch später redet er noch einmal vom Fluß der Zeit (fluxus temporis II 8). Daraus ist schon zu entnehmen, daß Leibniz weder von Newtons absoluter, noch von Newtons relativer Zeit, sondern von etwas anderem redet. Ferner ıst es offenbar das Auszeichnende der absoluten Zeit, daß sıe ın ihrem Verfließen von allen äußeren und das heißt wahrnehmbaren Dingen (sensibilia II 6) unabhängig ist. Diese Unabhängigkeit bedeutet die Gleichmáfsigkeit des Verfließens. Diese Gleichmäßigkeit ist nun offenbar das entscheidende Charakteristikum der absoluten Zeit: Wie der absolute Raum sich gegenüber dem relativen durch seine Unbeweg? Newton knüpft mit seiner Unterscheidung des Wahren und des in die Augen fallenden nicht unmittelbar an den Streit um das Kopernikanische Weltbild an. Dessen Wahrheit steht vielmehr für ıhn fest. Sein eigentlicher Gegner ist bei dieser Unterscheidung Descartes. Dieser unterscheidet in den Princ. philos. II 24 und 25 Bewegung im wahren philosophischen Sinne von Bewegung im vulgären Sinne. Bewegung ist in Wahrheit die „Überführung eines Teiles der Materie oder eines Körpers
aus der Nachbarschaft
der Körper,
die ihn unmittelbar
ruhend angesehen werden, in die Nachbarschaft anderer“ Das
würde
bedeuten,
daß
die Planeten
in Wahrheit
berühren,
und
als
(II 25 Übers. Buchenau).
ruhen,
da
sıe ıhre
Nachbar-
schaft innerhalb des mitführenden Wirbels nicht verlassen. Wegen dieser Konsequenz bekämpft Newton die Descartes’sche Auffassung wahrer Bewegung schon ın „Die gravitatione et aequipondio fluidorum*. In: Unpublished Scientific Papers and Letters of I. Newton,
ed. A. R. Hall., M. B. Hall, Cambridge
UP,
London
1962, p. 92, 93.
3 Wir zitieren die Princ. Math. nach der Ausgabe von S. Horsley: Isaaci Newtoni Opera quae extant omnia (London 1779/85), Nachdr. Stuttgart 1964.
199
lichkeit auszeichnet, so die absolute Zeit gegenüber den relativen Zei-
ten durch die Gleichmäßigkeit des Verfließens. Worin besteht nun diese Gleichmäßigkeit? Zunächst muß man Gleichmäßigkeit (aequabilitas)
streng von Gleichförmigkeit (uniformitas) unterscheiden. Gleichförmig 1st eine Bewegung, wenn sie keinen Beschleunigungen oder Verzógerungen unterliegt, gleichförmig ist die reine Trägheitsbewegung. Gleichmäßig dagegen ist eine Bewegung, wenn einander entsprechende Abschnitte dieser Bewegung von gleicher Dauer sind. Was entspre-
chende Abschnitte einer Bewegung sind, kann hiernach offenbar nicht durch die Dauer bestimmt sein. Entsprechende Abschnitte sind Bewegungsabläufe von gleicher Gestalt, also Perioden oder — wenn man
auch äußere Bestimmheit zuläßt — Bewegungen über gleiche Strecken.
Jedenfalls ıst klar, daß primär an periodische und das heißt immer: beschleunigte Bewegungen zu denken ist. Die Zeit wird nun als ein
Verfließen von strenger Gleichmäßigkeit verstanden, d.h. als ein sol-
ches, dessen aufeinanderfolgende Abschnitte streng gleich sind. Diese Auslegung wird bestätigt durch die Erläuterung, die Newton auf die
Unterscheidung von absoluter und relativer Zeit und Bewegung, ab-
solutem und relativem Raum und Platz folgen läßt. Dort heißt es nämlich, daß man in der Astronomie die absolute von der relativen
Zeit durch die Zeitgleichung unterscheide. Die natürlichen Tage seien nämlich ungleich, welche Ungleichheit die Astronomen korrigierten, „um
die himmlichen
Bewegungen
von einer wahreren
Zeit her zu
messen“ (II 8). Newton sagt also nicht, daß die astronomische Zeit, et-
wa der siderische Tag, schon die wahre, die absolute Zeit sei, sie ist nur wahrer. Indem man die Perioden der Erdumdrehung gegenüber der Sonne mit denen gegenüber den Fixsternen vergleicht, stellt man fest,
daß erstere nicht streng gleich sind. Man kann so die eine periodische Bewegung an einer anderen als ungleichmäßig erkennen, sofern man Gründe hat, die letztere als gleichmäßig anzunehmen. Diese Gründe
können etwa darın bestehen, daß man zum Vergleich nicht eine, son-
dern eine ganze Gruppe von Bewegungen heranzieht, die bereits als „synchron“ erkannt wurden. Prinzipiell aber hat Newton recht, wenn
er feststellt: „Es ist möglich, daß es keine gleichmäßige Bewegung gibt, durch die die Zeit genau gemessen werden könnte“ (II 8). Man kann
immer nur eine relative Gleichmäßigkeit durch Vergleich mehrerer Bewegungen feststellen, denn die eigentliche Möglichkeit der Prüfung schließt die Zeit durch ihre Natur selbst aus: daß man nàmlich die 200
Perioden einer Bewegung aneinander mifit. Die eine Periode ist stets vergangen, wenn die andere anhebt, ihre Gleichheit bleibt deshalb stets ein Postulat. Danach läßt sich die Funktion der absoluten Zeit für die Newtonsche, wie für jede Physik bestimmen: sie ist das Ideal der strengen Gleichheit des Maßes, das für jede empirische Zeitmessung zugrunde
gelegt werden muf$ und auf das hin man stets bemüht sein muß, seine
empirischen Maße zu verbessern. Solche Verbesserung geschieht etwa durch die astronomische Zeitgleichung. Wir sind uns dessen bewußt, daß wir hier kantisch interpretiert
haben. Wir glauben, uns aber rechtfertigen zu kónnen, solange wir von der Funktion des Begriffes der absoluten Zeit für die Newtonsche Physik sprechen. Denn der Gebrauch, den Newton von diesem Begriff macht, ist in der Tat ein regulativer. Anders wird es, wenn wir versuchen, uns über den ontologischen Rang klar zu werden, den Newton der absoluten Zeit zuweist — und gerade in Hinblick auf Leibniz ist das notwendig. Da zeigt es sich, daß die absolute Zeit ebenso wie der absolute Raum keineswegs bloße Ideen sind, sondern den Bereich bezeichnen, innerhalb dessen die wirklichen Dinge wirklich sind: ‚In der Zeit, was die Ordnung der Sukzession angeht, im Raum, was die Ord-
nung der Lage angeht, sind alle Dinge plaziert“. (In tempore quoad
ordinem successionis, in spatio quoad ordinem situs, locantur universa, II 8). Man sieht sogleich die große Ähnlichkeit zu Leibnizens Formu-
lierungen. Der Unterschied ist offenbar in dem metaphysischen Rang
zu suchen, den beide Raum und Zeit zuweisen. Ist für Leibniz die Zeit die Ordnung des Sukzessiven selbst, so für Newton etwas, was den Dingen zugrunde liegt, was selbst schon eine Ordnung aufweist, in die sich die Dinge fügen. Die Dauer der Dinge, ihr Fortbestand, oder wie Newton deutlicher sagt, die Bewahrung ihrer Existenz (duratio seu
perseverantia existentiae rerum, II 8) erfüllt einen Teil der absoluten
Zeit und dieser Teil ist ihr zeitlicher Platz (locus). Raum und Zeit, die
zunächst als das schlechthin Unbewegliche und der schlechthin gleichmäßige Fluß ganz verschieden schienen, zeigen so eine wesentliche
Verwandtschaft: „Was ihre Essenz angeht, so steht fest, daß sie Plätze sind“. (De illorum essentia est, ut sint loca. — „Locus‘ von uns immer
durch Platz übersetzt, weil „Ort“ heute das Mißverständnis „nichtaus-
gedehnte Stelle provozieren könnte). Der absolute Raum wie die absolute Zeit sind zwar nichts sinnlich
201
Wahrnehmbares,
sie sind aber deshalb keineswegs
etwas „bloß
Ge-
dachtes“, sie übertreffen vielmehr die sinnlichen Dinge an Realıtät,
denn sie enthalten sie alle in sich. Leibniz sieht ganz recht, wenn er hier befürchtet, daß man damit metaphysische Ungeheuer geschaffen hat, die durch ihren Absolutheitscharakter mit Gott in Konkurrenz treten könnten. Andererseits ist es konsequent, wenn Newton zunächst den
Raum und Clarke ıhm folgend dann später die Zeit Gott in irgend-
einer Weise zuordnen. Der Raum, sagt Newton, ist quasi Gottes sensorium. Wie immer das gemeint sein mag, jedenfalls ist die Absolut-
heit von Raum und Zeit als eine Unabhängigkeit von den sinnlichen
Dingen zu denken (im Gegensatz dazu werden die relativen Raum-
und Zeitbegriffe ex relatione ad sensibilia konzipiert II 6), nicht als
Unabhängigkeit schlechthin. Sie werden gedacht als Gottes Emanationen.* Gottes Dasein breitet sich quasi in seine Allgegenwart und seine Ewigkeit aus. In der Allgegenwart Gottes, dem Raum, und der Ewigkeit Gottes, der Zeit, finden alle Dinge ihren Ort. So sind Raum und Zeit bei Newton Wirklichkeiten, die das Dasein der Dinge zwar über-
treffen, aber doch von Gott als dessen Wirkungen abhängig bleiben. III. Zeit etwas „bloß Relatives* „Was mich angeht, so habe ich mehr als einmal bemerkt,
daß ich den
Raum für etwas bloß Relatives halte, wie die Zeit; für eine Ordnung des Zusammenexistierenden, so wie die Zeit eine Ordnung des Nacheinanderkommenden“ (VII, 363)°. In der Tat hat Leibniz seine Lehre von Raum und Zeit nicht erst in der Polemik gegen Newton ent-
wickelt. So finden wir in früheren Schriften neben den Zeitdefinitionen ,Ordre des successions* oder ,ordre des choses successives? verwandte
wie „ordo possibilatum inconsistentum“ oder ,tempus continuus ordo existendi successive". Wie bei Newton liegt in der Regel das Hauptinteresse nicht bei einer Analyse der Zeit, sondern im Zuge der Kritik
an Descartes bei einer Analyse des Raumes, so daß, was die Zeit ist, * De Gravitatione...99: Dei effectus emanativus, existentis effectus emanativus.
103: spatium entis primario
5 Leibniz wird, wenn nicht anders vermerkt, zitiert nach der Ausgabe von C. J. Ger-
hardt: Die philosophischen Schriften von G. W. Leibniz (1875 ff.), Nachdruck Hildesheim 1965.
202
immer nur angeführt wird, um von daher analog den Raum zu kon-
zipieren.
In der Auseinandersetzung mit dem Newtonschen Begriff des abso-
luten Raumes und der absoluten Zeit tritt nun hervor, daß sie als Ord-
nungen etwas bloß Relatives sind. Von Newtons Verständnis des Gegensatzes von absolut und relatıv her würde das heißen, daß Raum
und Zeit nicht unabhängig von den sinnlichen Dingen sind. Zweifellos
bestreitet Leibniz, indem er Raum und Zeit etwas bloß Relatives nennt, auch die von Newton gemeinte Unabhängigkeit, denn für ıhn sind ja Raum und Zeit nichts anderes als Ordnungen zwischen den Dingen in ihrem Zusammenbestehen bzw. ihrer Folge. Er entscheidet sich aber,
indem
er Newton
den
absoluten
Raum
und
die absolute Zeit
bestreitet, nicht für dessen relative Raum- und Zeitbegriffe. Das hat später Ernst Mach getan, indem er etwa den absoluten Raum durch denjenigen ersetzte, in dem die Fixsterne ruhen. Leibniz verwirft im
Grund die Newtonschen Begriffe von Raum und Zeit überhaupt, denn
für ihn sind sie etwas, das zwischen den Dingen besteht und nicht etwas, worin die Dinge sind. Für Leibniz haben die Begriffe von Raum
und Zeit gar keinen Sinn, wenn sie nicht in Hinblick auf die sinnlichen,
ja körperlichen Dinge und deren Veränderungen
konzipiert werden.
Dadurch werden sie aber andererseits nicht von den sinnlich gegebenen
Dingen abhängig, wie das für die Newtonschen relativen Räume und Zeiten der Fall ist. Leibniz bestreitet keineswegs das bei H. More und Newton und dann später bei Kant auftauchende Argument‘, daß man sich alle Dinge aufgehoben denken kónnte, ohne damit zugleich Raum und Zeit aufzuheben. Nur ist, was bei diesem Prozeß zurückbleibt, nicht ein zugrunde liegendes Wirkliches, wie Newton und H. More meinten, sondern ein Abstraktum, etwas bloß Ideales. Raum und Zeit sind also auch für Leibniz von den sinnlichen Dingen unabhängig, sie sind nämlich, was sie sind, auch ohne daß wirkliche Dinge wären. Sie
beziehen sich als Ordnungen auf die Möglichkeit von Dingen und ge-
hören damit selbst zum Bereich des Móglichen, nicht des Wirklichen. „Les
temps
et l’espace appartiennent
aux
essences
et non
aux
exi-
stences, comme les nombres ou autres idealité^ (Robinet 101)’. Damit sind sie in dem, was sie sind, zwar nicht von
den sinnlichen Dingen
6 H. More Enchiridion Metaphysicum Pars. I Cap. 8,11 I. Newton, De Gravitatione et Aequipondio Fluidorum, ed. M. u. R. Hall, S. 99; I. Kant, KdrV. B 38 f. 7 Robinet, A., Correspondance Leibniz — Clarke, Paris 1957.
203
überhaupt, wohl aber von deren Existenz unabhängig. Und
wenn
man schließlich die Frage aufwirft, ob denn Raum und Zeit noch irgend etwas oder irgendwie sein würden, wenn es keine sinnlichen Dinge gäbe, so erhält man die Antwort, daß dann „Raum und Zeit nur ın den Ideen Gottes sein würden“ (IV. Brief an Clarke $ 41). Allgemein nämlich gilt, „daß in Gott nicht allein die Quelle der Existen-
zen, sondern auch die der Wesenheiten liegt, insofern sıe wirklich sind, oder auch dessen, was es an Wirklichem in der Möglichkeit gibt. Denn der Verstand Gottes ist der Bereich der ewigen Wahrheiten oder der Ideen, von denen diese abhängen, und ohne ihn gäbe es nichts Wirk-
liches in den Möglichkeiten und nicht nur nichts Existierendes, sondern auch nichts Mógliches* (Monad. $ 43, Übers. H. H. Holz).
Man sieht, wie nahe Leibniz Newton im Grunde ist, wenn auch er seine Begriffe von Raum und Zeit letztlich auf Gott gründen muß. Wenn Raum und Zeit nicht nur von diesen oder jenen sinnlichen Din-
gen, sondern schlechthin von der Existenz der Dinge unabhängig sein
sollen, wenn sie also nicht nur Produkte der Abstraktion von sinnlichen Dingen sein sollen, so muß ihnen als bloß möglichen Ordnungen möglicher Dinge schon eine gewisse Existenz zukommen. Diese haben 516 als Ideen Gottes. Wenn Leibniz Raum und Zeit als etwas bloß Relatives bezeichnet, so wendet er damit zugleich ein Argument gegen Newton, das er sonst gegen die Cartesianer gebraucht: Raum im Sinne von Ausdehnung ist bezogen auf etwas, das dauert. „Extensio etiam relatıva est ad alıquam naturam cujus sit diffusio, ut duratio ad rem quae persistit“ (an
de Volder, II 234). Newton nun unterscheidet nicht zwischen Zeit und
Dauer (tempus et duratio) und nicht zwischen Raum und Ausdehnung
(spatium et extensio) und spricht so in der Tat von einer Dauer ohne
Dauerndes und von einer Ausdehnung ohne Ausgedehntes (PM Scholium zu Def. 8, Opera II 6; De Gravitatione...am Anm. 2 aO. 99).
Für Newton bedeutet diese Unabhängigkeit von Raum und Zeit, daß
sie keine Akzidentien sind (s. ebd.). Wenn Leibniz Newton aber im Briefwechsel mit Clarke unterstellt, daß er sie zu Substanzen mache,
so tat er ihm damit Unrecht. Newton versteht den Raum qua extensio
weder als Substanz noch als Akzidenz, sondern schreibt ihm eine besondere Existenzweise zu: er ist als emanative Wirkung Gottes. Man sieht auch hier wieder, wie nahe Newton Leibniz ist, und daß sie sich
eigentlich nur in der Beurteilung des Seinsranges von Raum und Zeit 204
unterscheiden. Auch die Begründung für Newtons Ablehnung der Substantialität des Raumes könnte ebenso von Leibniz sein. Er sagt nàm-
lich, daß dem Raum nicht die für die Substanz eigentümlichen Bestimmungen zukommen, nämlich keine Handlungen (actiones). „Zwar
definieren die Philosophen
die Substanz nicht als etwas, das etwas
bewirken kann (aliquid agere), doch nehmen dies alle von den Substanzen stillschweigend an..“ (De Gravitatione...am Anm.2
aO. 99).
Wenn Leibniz also Raum und Zeit im Sinne von Ausdehnung und
Dauer als etwas bloß Relatives bezeichnet, so heißt dies, daß sie kein unabhängiges Dasein haben, keine Substanzen sind. Wenn Newton nun aber, wie in den Opticks, den Raum das Sensorium Gottes nennt, und wenn Clarke später im Sinne Newtons diesen Ausdruck als Bezeichnung für Gottes Omnipräsenz erläutert, so ist dieses wiederum in an-
derem Sinne für Leibniz anstößig. Er glaubt nämlich, daß der Raum als Gottes Omnipräsenz und die Zeit entsprechend als Gottes Ewig-
keit aufgefaßt zu Eigenschaften Gottes würden. Wir haben schon gesehen, daß dies keineswegs Newtons Meinung war. In der Abwehr der Auffassung, Raum und Zeit seien Eigenschaften, erhält nun der Ausdruck, daß sie etwas „bloß Relatives* seien, den für
Leibniz entscheidenden, nicht nur in der Polemik gegen Newton zu verstehenden Sinn. Raum und Zeit sind nàmlich nicht nur nicht Eigen-
schaften Gottes, sondern sie sind überhaupt keine Eigenschaften, sofern nàmlich eine Eigenschaft eines Dinges etwas 1st, das diesem Ding
für sich genommen zukommt. Leibniz unterscheidet im Briefwechsel mit
Clarke streng zwischen Zeit und Dauer (temps et durée) wie zwischen Raum und Ausdehnung (espace et étendue). Dauer und Ausdehnung kommen den Dingen als Eigenschaften zu: sie dauern so und so lange, und sie sind so und so groß. (Ich bin 5 Jahre alt, ich bin 1 m groß).
Zeit und Raum bestehen dagegen in dem Verhältnis, in dem die Dinge
in ihrem Beieinander bzw. Nacheinander stehen. Dieses Bezogensein auf die anderen Dinge kann man den Dingen zwar auch prädizieren, dann sind diese Prädikate aber relative Prädikate, solche die Aristoteles prós ti nannte: Ich bin älter als du, ich bin rechts von dir. Leibniz unterscheidet in den NE (von den Ideen Cap. XXV) „termes relaufs* von ,termes absolus*. Relative Bestimmungen sind solche, „die den Geist notwendig auf andere Ideen führen“, während das bei absoluten nicht der Fall ist. Die Bestimmungen, die den Relaten einer Relation 205
als solchen zukommen, sind relative Termini, weil sie notwendig auf das jeweils andere Relat verweisen, das Ding also nicht für sich bestimmen. Sofern nun Raum und Zeit zu verstehen sind als räumliche bzw. zeitliche Bestimmungen der Dinge, so sind sie etwas „bloß Relatives“. Solche
Bestimmungen
sind
„Lage“,
„Frühersein“
und
,Spàtersein".*
Ihnen kommt keine absolute Realität, aber doch eine relative zu. Sofern nun aber Raum und Zeit selbst als die Relationen zu verstehen sind, gemäß denen die Dinge nach Lage, Früher- und Spätersein bestimmt sind, kommt ihnen weder relative noch absolute Realität zu, sondern sie sind etwas bloß Ideales. Wir werden sehen, in welchem Sinne man schließlich Leibniz’ Rede, Raum und Zeit seien etwas bloß Relatives, in diesem letzten Sinne verstehen muß. IV. Interpretation von $ 47 des fünften Briefes an Clarke
Wir wenden uns nun der Analyse von Leibniz’ eigenen Vorstellungen von Raum
und Zeit zu. Dafür ist eine Interpretation von $ 47 des
fünften Briefes an Clarke besonders geeignet, weil in ihm dargestellt wird, wie man auf abstraktivem Wege zur Vorstellung des Raumes
gelangt. Einen entsprechenden Abschnitt über die Zeit gibt es nicht,
wir kónnen aber das hier Gesagte auf die Zeit übertragen, denn — wie
gesagt — die Zeit ist es, woran Leibniz seine Vorstellung des Raumes
orientiert. „Voicy
comment
les hommes
viennent
à se former
la notion
de
l'espace", beginnt Leibniz den Paragraphen. A. Buchenau übersetzt: „Zur Bildung der Raumvorstellung gelangt man etwa in folgender
Weise“ (HS I 182)?. Das deutsche Wort „bilden“ gibt freilich nur un-
genau wieder, was Leibniz ausdrückt, indem er „se former“ und nicht „former“ sagt. Der Raum
ist nämlich nicht ein Produkt des Abstrak-
tionsvorganges, er ist nicht eine „gemachte“ Vorstellung, wie Kant sagen würde. Wir haben schon gehört, daß Raum und Zeit zu den ewıgen Wahrheiten gehören und auch ohne die Dinge ein Sein haben, näm8 ‚Positio haud dubie nihil aliud est quam
modus
rei, ut prioritas aut posteriori-
tas* (an de Bosses II 347) „tempus non magis minusve est ens rationis quam spatium. Coexistere et prae- aut post-existere reale quid sunt“ (an de Volder II 183). 9 HS: G. W. Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, Übers. A. Buchenau, Herausg. E. Cassirer, Hamburg 3. Aufl. 1966.
206
lich in den Ideen Gottes. Leibniz stehtallerdings auch nichtin einem ausschließenden Gegensatz zu Locke, so daß die Abstraktion zur Gewinnung von Begriffen jegliches Recht verlöre.' Er kann ihm sogar durchaus zugestehen, daß wir, die Menschen, vom sinnlichen Gegebenen aus zu unseren Begriffen gelangen. Nur hält er ihm entgegen, daß eine Vorstellung, die durch Abstraktion gefunden wird, deshalb noch
nicht ein Produkt der Abstraktion ist. Freilich sind unsere mensch-
lichen Vorstellungen nicht die Gottes, sie sind vielmehr durch unsere Endlichkeit bestimmt. Die Endlichkeit der menschlichen Vermögen zeigt sich für Leibniz vor allem darin, daß die Vorstellungen analy-
tisch unvollständig sind, daß Diskretes nicht diskret vorgestellt wird,
daß sie undeutlich, quasi verschmiert sind. Wir haben deshalb damit zu rechnen, daf$ die Vorstellungen von Raum und Zeit, die sich die
Menschen machen, dem menschlichen Vorstellungsvermógen spezifisch sind, und nicht ganz der Weise, in der Raum und Zeit im göttlichen Verstande sind, entsprechen. Daß Menschen spricht und die reflexive dest eine solche Deutung zu. Wir darauf zurückkommen müssen. Freilich läßt der erste Satz auch
Leibniz hier ausdrücklich von den Verbform verwendet, läßt zuminwerden am Ende des Paragraphen
eine ganz andere Deutung zu, die,
wenn sie zuträfe, dagegen sprechen würde, diesen Paragraphen über-
haupt zur Darstellung von Leibnizens Auffassung von Raum und Zeit heranzuziehen. Leibniz kónnte nàmlich auch die Absicht haben, hier darzustellen, auf welche Weise die Menschen so gewóhnlich zu
ihrer Vorstellung des Raumes gelangen, d. ἢ. es könnte sein, daß er hier nur mit der vulgären Raumvorstellung,
zu der dann
auch der
Newtonsche Raumbegriff zu zählen wäre, zu tun hätte. In der Tat ist es nun die Absicht dieses Paragraphen, die Nähe zur Newtonschen Konzeption herzustellen, aber doch nur, um die Stelle innerhalb des Abstraktionsvorganges aufweisen zu kónnen, an der eine unberechtigte Hypostasierung zum Newtonschen „absoluten Raume“ führen würde. Gewonnen wird aber, meinen wir, die Leibnizsche Vorstellung: der Raum als etwas bloß Ideales, eine Ordnung dessen, was zugleich existieren kann. ,,Sie (die Menschen) machen sich Gedanken darüber, daß mehrere Sachen zugleich existieren“, fährt Leibniz fort, „und sie finden darin eine gewisse Ordnung der Koexistenz, der gemäß die Be10 Siehe: Nouveaux essais sur l’entendement par l'auteur du systeme monie preestablie (NE), Vorwort und 1. Kap.
de l'har-
207
ziehung der einen und der anderen mehr oder weniger einfach ist. Das
ist ihre Lage oder ihr Abstand“. Man mag sich vielleicht wundern, daß,
was erst gefunden werden soll, nämlich der Raum als Ordnung der Koexistenz, auf den ersten Blick da ist. Aber die Ordnung des Zusam-
menbestehens ist hier die faktische und durchaus besondere, wahrend
der Raum die Ordnung des Koexistierens überhaupt, d. ἢ. die bloße Möglichkeit solchen Koexistierens bedeutet. Ferner 1st bemerkenswert, daß als die Beziehungen, die durch die Ordnung zwischen den Dingen
festgelegt sind, Lage und Abstand genannt werden. Der Grund dafür ist darin zu suchen, daß Leibniz hier, wie in den meisten Fällen „rapport“ als relatives Prädikat versteht: ‚A liegt zwischen B und C* oder „A hat einen Abstand 1 von B* werden als Prädikationen von A aufgefaßt. Die entsprechenden Prädikationen, die die zeitlichen Beziehungen ausmachen, sind solche des Früher- oder Späterseins. Leibniz zeigt nun, in welcher Weise ein von den Dingen unabhängiger Raumbegriff gefunden wird. Man kann ein Ding A durch ein anderes B ın dessen Beziehungen zu weiteren als fest angenommenen
Dingen ersetzen. Man sagt dann, daß A und B denselben Ort" haben. „Und das, was alle Orte umfaßt, wird Raum genannt.“
Nachdem so kurz der Weg beschrieben ist, der zur Vorstellung des
Raumes führt, gilt es zunächst, den Unterschied zu Newton festzuhalten. Die Nähe zu Newton ist immerhin offensichtlich, definiert Leibniz den Raum doch offenbar als umfassende Ortsmannigfaltigkeit. Leibniz sagt aber, „daß, um die Vorstellung des Ortes und folglich des Raumes zu haben, es genügt, jene Beziehungen und die Gesetze ihrer Veränderungen zu erwägen, ohne daß man es nötig hätte, dabei irgendeine
absolute Realität außerhalb der Dinge, deren Lage man betrachtet, zu
erdichten“. Es genügt, die relative Lage und deren Veränderung zu be-
trachten: das heißt soviel wie, daß man keineEntscheidung über wahre
Ruhe und Bewegung zu fällen braucht. Leibniz gibt Newton zwar den Unterschied zwischen wahrer und bloß relativer Bewegung zu, ebenso daß die wirkendeKraft dasKriterium für diesen Unterschied darstellt. Nur
ist er der Ansicht, daß der Unterschied von wahrer und schein-
barer Bewegung nicht in den Bereich der Phänomene fällt.'” Phänome1 „Place“ für place eine 1? V. Brief Warum aber
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übersetzen wir mit Ort, weil im Gegensatz zum Newtonschen „locus“ Ausdehnung nicht wesentlich ist. an Clarke $ 53. Vgl. den Briefwechsel mit Huygens HS I 242 fi. ergibt die wirkende Kraft keinen phänomenalen Unterschied? Weil,
nal werden immer nur relative Lageveränderungen, aber es genügt eben
diese zu betrachten, um die Vorstellung des Raumes als einer umfas-
senden Ortsmannigfaltigkeit zu bilden, weil sich ein Ort auch definie-
ren läßt bezüglich einer Reihe von Dingen, die nur als fest angenommen werden. Und da zur Bildung der Raumvorstellung die Entscheidung über Ruhe oder Bewegung der Dinge offenbleiben kann, braucht man auch nicht ein Wirkliches anzunehmen, in Bezug auf das wahre
Ruhe und Bewegung zu definieren wáren.? Der Raum als etwas Wirkliches außerhalb der Dinge wird damit entbehrlich. Wir werden gleich unten sehen, daß auch für Leibniz der Raum etwas „außerhalb“ der Dinge ist — nur eben nichts Wirkliches, sondern etwas bloß Ideales. Die Stellen oder Orte, als deren Gesamtheit Leibniz den Raum definiert, sind nicht wie bei Newton etwas Zugrundeliegendes, das etwa auch in Beziehungen stünde. Vielmehr sind die Orte allein von den Beziehungen her definiert, man kónnte sagen als deren móglicher Operationsbereich. /n was die wirklichen Dinge eintreten können, sind nicht wie bei Newton Plätze, die als Teilräume des absoluten Raumes
die Dinge wie ein Gefäß aufnehmen, sondern Stellen in Relationen,
die als Variable von verschiedenen Dingen besetzt werden können.
Wir müssen jetzt untersuchen, was der Ort nach Leibniz selbst eı-
gentlich ist, um dann ferner von daher verstehen zu können, was der Raum als das, was die Orte zusammenfaßt, sein kann. Dazu werden
wir jetzt mit Leibniz den Vorgang der Abstraktion, der zum Ort
führt, genauer betrachten. „Ort“, definiert Leibniz, „ist dasjenige, von dem man sagt, daß es
dasselbe für A und B sei, wenn die Beziehung des Zusammenbestehens
von B mit C, E, F, G etc. vollständig mit der Beziehung des Zusammenbestehens übereinstimmt, die A mit denselben (Dingen) hatte, angenommen, daß es keinen Anlaß zur Veränderung zwischen C, E, F, G etc. gegeben hat.“ Wir bemerken zunächst, daß die Methode, nach der Leibniz hier vorgeht, uns in den Bereich seiner Überlegungen zu was von der Kraft phänomenal wird, die derivative Kraft, ebenfalls relativ bestimmt ist: Nach dem Leibniz'schen Kraftmaß ist die Kraft von der relativen Geschwindigkeit abhängig. „Wahre Bewegung“ ist etwas rein Immanentes. 13 Freilich verkennt Leibniz damit Newtons Motiv. Weil Newton den Unterschied von wahrer Bewegung und Bewegung dem bloßen Anschein nach für gegeben hielt, brauchte er etwas Wirkliches, in Bezug auf das wahre Bewegung zu definieren war.
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einer Analysis der Lage verweist. Auch dort werden ja Punkte, Kurven, Flächen und Körper
durch Relationen
definiert. So etwa
eine
Kugel durch die Forderung, daß die Relationen a :x und b : c überein-
stimmen sollen, wobei die Buchstaben Punkte bezeichnen, die Verhältnisse zwischen ihnen die Abstandsrelation: Eine Kugel ist der geometrische Ort aller Punkte, die von einem Punkt a aus den Abstand bc haben. Man könnte sagen, daß Leibniz den Raum als den umfassendsten geometrischen Ort definiert. Genauer besehen, gewinnt Leibniz hier den Raum aber nicht als „Ort aller Örter“ (Metaphys. Anfgr. d. Mathem., HS I 59, Gerhardt, Math. VII 21), sondern eher als Inbegriff aller einfachen Orte, nàmlich aller Punkte. Denn Ort wird ja definiert als etwas, das sich als ein Selbiges, also eindeutig, durch Beziehungen zu gewissen festen Koexistierenden C, E, F, G etc. bestimmt. Offenbar denkt Leibniz hier daran, daf ein Punkt im Raum
durch seine Abstandsrelationen zu mindestens vier anderen eindeutig bestimmt ist. Auf vier kann man sich beschränken unter der Voraussetzung, daß sie nicht in einer Ebene liegen. So ist wohl Leibniz’ Aufzählung ,,C, E, F, G etc.“, also die von mindestens vier fixen Elemen-
ten, nicht bedeutungslos. In den Metaphysischen Anfangsgründen der Mathematik,
die während
sind, heißt es: „Aus
des Briefwechsels mit Clarke entstanden
vier, nicht in dieselbe Ebene fallenden Punkten
resultiert der absolute" Raum. Denn jeder Punkt ist mit Bezug auf
vier, nicht in dieselbe Ebene fallende Punkte seiner Lage nach eindeutig bestimmt“. (HS I 60, Übers. Buchenau). An diesen mathematischen Verhältnissen orientiert sich offenbar Leibniz, wenn man auch nicht sagen kann, daß er von ihnen Gebrauch macht. Denn hier, im Vorgang
der Abstraktion, hat er es ja noch nicht mit Punkten zu tun, sondern mit wirklichen Dingen und er verfügt auch noch nicht über abstrakte
Lagebeziehungen, sondern nur über hältnisse des Wirklichen. Wie aber in die Lageverhältnisse zu mindestens ist, so soll hier der Ort gewonnen
die konkreten Anordnungsverder Mathematik ein Punkt durch vier anderen eindeutig bestimmt werden als ein Etwas, das sich
durch die konkreten Koexistenzbeziehungen zu mindestens vier festen koexistierenden Dingen eindeutig definieren läßt und das somit unab-
14 Daß Leibniz hier selbst den Raum als „absolut“ bezeichnet, sagt einmal mehr, daß der Gegensatz zu Newton nicht die Unabhängigkeit des Raumes von den Dingen betrifft, sondern den Seinsdrang: der absolute Raum ist bloß ideal nach Leibniz.
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hängig ist, von dem variablen wirklichen Dinge, das in diesen Beziehungen zu den anderen steht. Was ist aber nun dieses Etwas, der Ort? So wichtig die Beantwortung dieser Frage für uns ist, so dürfen wir doch allenfalls eine kate-
goriale Einordnung erwarten. Es muß sich beantworten lassen, ob der Ort etwa Substanz, Akzidenz oder Relation ist; nicht aber wird man erfahren können, was das „Wesen“ des Ortes ist, denn Leibniz sagt ausdrücklich, er habe, um zu erlàutern was der Ort ist, definiert, was „derselbe Ort‘
bedeute.
Für dieses Verfahren
erinnert er daran,
wie
Euklid im V. Buch das Verhältnis von zwei Größen einführt. Euklid
habe nämlich nicht recht zu verstehen geben können, was das Verhältnis für sich genommen (absolument) ist, und habe deshalb definiert, was „dasselbe Verhältnis“ bedeute. Dieser Hinweis auf Euklid ist nun in der Tat für das Vorgehen Leibnizens sehr instruktiv. Euklid muß
nämlich definieren, was ein Verhältnis ist, unabhängig von den zwei bestimmten Größen, die jeweils in einem Verhältnis stehen. Ähnlich muß Leibniz definieren, was der Ort ist, unabhängig davon, wessen Ort es ist. Euklid kann nun, was Verhältnis ist, für sich genommen,
nicht recht angeben, da ja ein Verhältnis nur im Verhalten zweier be-
stimmter Größen zueinander besteht. Dieses ließe sich allenfalls allge-
mein angeben bei Beschränkung auf kommensurable Größen, indem man nämlich das Verhältnis auf die relative Größe zurückführte. Aber auch nicht-kommensurable Größen stehen in einem festen Größenver-
hältnis. Um sie einzuschließen, definiert Euklid zunächst in Def. V 3 sehr vage: „Verhältnis ist das gewisse Verhalten zweier gleichartiger
Größen der Abmessung nach“. Dadurch ist schon eine gewisse Eingren-
zung
gewonnen,
so ist etwa
die Beziehung
eines Winkels
zu einer
ferner noch das Verhalten
zwischen
Strecke ausgeschlossen, ebenso natürlich auch Relationen wie „senkrecht stehen auf“. In Def.
V 4 wird
endlichen Größen und unendlich großen bzw. unendlich kleinen ausgeschlossen, wie etwa das Verhalten zwischen dem Winkel eines Dreiecks- und dem Winkel, den die Peripherie eines Kreises zur Tangente
bildet. Dadurch wird zwar näher eingegrenzt, was „Verhältnis“ sein kann, aber doch noch nicht genau bestimmt. Das geschieht nun in der Def. V 5, und zwar indem festgelegt wird, was „ın demselben Verhältnıs stehen“ bedeuten soll: „Man sagt, daß Größen in demselben Verhältnis stehen, die erste zur zweiten wie die dritte zur vierten,
wenn bei beliebiger Vervielfältigung die Gleichvielfachen der ersten
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und dritten den Gleichvielfachen der zweiten und vierten gegenüber, paarweise entsprechend genommen, entweder zugleich größer «oder zugleich gleich» oder zugleich kleiner sind*.5 Diese Definition ließe sich formal als eine Definition einer Aquivalenz von Paaren notieren: (a,b) ^ (c,d) & A, xa2b 9 xc24Xd V καξξλὺ 9 xc7Ad V ya