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German Pages 510 [512] Year 2008
Hartmut Hecht / Regina Mikosch / Ingo Schwarz / Harald Siebert / Romy Werther (Hg.)
Kosmos und Zahl Beiträge zur Mathematik- und Astronomiegeschichte, zu Alexander von Humboldt und Leibniz
Wissenschaftsgeschichte Franz Steiner Verlag
Boethius Band 58
Kosmos und Zahl Beiträge zur Mathematik- und Astronomiegeschichte, zu Alexander von Humboldt und Leibniz
Boethius
---------------------------------Texte und Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften
Begründet von Joseph Ehrenfried Hofmann, Friedrich Klemm und Bernhard Sticker Herausgegeben von Menso Folkerts Band 58
Hartmut Hecht / Regina Mikosch / Ingo Schwarz / Harald Siebert / Romy Werther (Hg.)
Kosmos und Zahl Beiträge zur Mathematik- und Astronomiegeschichte, zu Alexander von Humboldt und Leibniz
unter Mitarbeit von Katharina Zeitz
Franz Steiner Verlag 2008
Die Publikation wurde mit Mitteln der Kurt-Vogel-Stiftung in München gefördert.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-09176-3 Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © 2008 Franz Steiner Verlag, Stuttgart. Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Druck: Printservice Decker & Bokor, München Printed in Germany
ἀλλὰ πάντα µέτρῳ καὶ ἀριθµῷ καὶ σταθµῷ διέταξας. (Sap. 11,20)
INHALTSVERZEICHNIS
Geleitwort Danksagung
11 13
Hans Poser Zwischen TU, PH und BBAW. Stationen des Weges von Eberhard Knobloch
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GOTTFRIED WILHELM LEIBNIZ EDITION Menso Folkerts Die Leibniz-Edition zwischen Wissenschaft und Politik. Zur Geschichte der mathematisch- naturwissenschaftlichen Reihen
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Heinrich Schepers Ermunterung zum exzessiven Einsatz eines Textverarbeitungsprogramms
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FORSCHUNG Andrea Bréard Leibniz und Tschina. Ein Beitrag zur Geschichte der Kombinatorik?
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Michel Fichant Leibniz et les paradoxes de la modernité. Notes sur la Préface à Nizolius
71
Nora Gädeke Die Reisen des Johann Friedrich Leopold. Ein Blick auf ein gelehrtes Netzwerk um 1700
83
Ursula Goldenbaum Leonhard Eulers Schwierigkeiten mit der Freiheit der Gelehrtenrepublik
103
8
Inhaltsverzeichnis
Hartmut Hecht Das Experiment in Leibniz’ frühen Pneumatica
123
Vladimir Kirsanov (†) Leibniz in Paris
137
Hans Poser The Ars observandi as an Ars inveniendi
153
Siegmund Probst Neues über Leibniz’ Abhandlung zur Kreisquadratur
171
Sebastian W. Stork Antimony based prescriptions during the time of Leibniz
177
BEITRÄGE ZUR ALEXANDER-VON-HUMBOLDT-FORSCHUNG Ottmar Ette Nach der Kehlmannisierung. Überlegungen zu einem Bestseller und Daniel Kehlmanns vermessener Welt
191
Anne Jobst Humboldt und sein „sibirischer Reisecumpan“. Der Briefwechsel zwischen Christian Gottfried Ehrenberg und Alexander von Humboldt
201
Fritz Krafft Georgius Agricola im Kontext seiner Zeit. Warum und wieso ein Arzt zum Begründer der Mineralogie werden konnte
213
Ulrike Leitner „Da ich mitten in dem Gewölk sitze, das elektrisch geladen ist ...“ Alexander von Humboldts Äußerungen zum politischen Geschehen in seinen Briefen an Cotta
225
Ingo Schwarz Guano, Zahnseife und eine Jugendfreundschaft oder was man aus einem Brief von Alexander von Humboldt lernen kann
239
Petra Werner Kreative Grenzgänger und Schneeblüten. Die Erforschung des roten Schnees
247
Inhaltsverzeichnis
Romy Werther „Das ungründliche Pfuschen ist mir ein Gräuel“. Alexander von Humboldts Haltung in der Auseinandersetzung zwischen August Böckh und Otto Friedrich Gruppe um das kosmische System des Platon
9
259
BEITRÄGE ZUR MATHEMATIK- UND ASTRONOMIEGESCHICHTE MATHEMATIKGESCHICHTE Philip Beeley u. Christoph J. Scriba Disputed Glory. John Wallis and some questions of precedence in seventeenth-century mathematics
275
Michel Blay Newton: constitution et limites des théories corpusculaires de la lumière
301
Herbert Breger Natural numbers and infinite cardinal numbers. Paradigm change in mathematics
309
Joseph W. Dauben 朱世杰 ZHU Shijie’s 四元玉鑑 Siyuan yujian. Jade Mirror of the Four Unknowns
319
Martin Grötschel Tiefensuche: Bemerkungen zur Algorithmengeschichte
331
Uta Lindgren Maß, Zahl und Gewicht im alpinen Montanwesen um 1500
347
Roshdi Rashed Le concept de tangente dans les Coniques d’Apollonius
365
Karin Reich Der Desarguessche und der Pascalsche Satz: Hessenbergs Beitrag zu Hilberts Grundlagen der Geometrie
377
Rüdiger Thiele The Weierstrass-Schwarz Letters. A preliminary report
395
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Inhaltsverzeichnis
Annette Vogt Bemühungen um eine mathematische Ökonomie. Ein Brief von Robert Remak an Emil Julius Gumbel
411
ASTRONOMIEGESCHICHTE Jürgen Hamel Magdalena Zeger und ihre astronomischen Arbeiten 1561/1563
425
Erwin Sedlmayr Astronomische Entfernungsmaße
447
Harald Siebert Astronomie im Schatten des Heliozentrismus
471
Gudrun Wolfschmidt Carl Bamberg – wissenschaftliche Präzisionsinstrumente aus Berlin
487
Autorenverzeichnis
505
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GELEITWORT Der vorliegende Sammelband ist aus dem Wunsch hervorgegangen, dem international geachteten Wissenschaftshistoriker Eberhard Knobloch, Hochschulprofessor an der Technischen Universität Berlin und Akademieprofessor an der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Wertschätzung und Dankbarkeit in bleibender Form auszudrücken. Auf Anregung der seit 2002 von Eberhard Knobloch geleiteten Alexander-von-Humboldt-Forschungsstelle der BBAW haben sich Schüler, Freunde und Kollegen zusammengefunden und legen in diesem Band Ergebnisse eigener Forschungen zu ebenjenen Arbeitsfeldern vor, die Eberhard Knobloch durch sein Wirken seit langer Zeit bereichert: Forschungen zu Gottfried Wilhelm Leibniz und zu Alexander von Humboldt, Untersuchungen zur Geschichte der Mathematik und der Astronomie. Dies sind vier Bereiche aus der Philosophie-, Kultur- und Wissenschaftsgeschichte, in denen der Name Eberhard Knobloch einen besonders guten Klang hat. In Anerkennung seiner herausragenden Leistungen als Forscher und als Lehrer sowie in herzlicher Verbundenheit sei dieser Querschnitt durch die aktuelle Forschung aus hinlänglich gegebenem Anlass dem Mentor, Freund und Leiter Eberhard Knobloch gewidmet. Berlin, zum 6. November 2008 die Herausgeber
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DANKSAGUNG Wir danken Menso Folkerts, dem Herausgeber der Reihe „BOETHIUS“, dessen großzügig gewährte Unterstützung diesen Band möglich gemacht hat. Christian Helmreich, Anne Jobst, Ulrich Päßler und Oliver Schwarz haben die Druckfahnen der Beiträge sorgfältig durchgesehen und damit einen wertvollen Beitrag zum Entstehen dieses Buches geleistet, ebenso Peggy Mikosch durch die Bearbeitung der digitalen Bildvorlagen. Unser Dank gilt auch der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, die dieses Projekt wohlwollend begleitet hat.
Hans Poser
ZWISCHEN TU, PH UND BBAW STATIONEN DES WEGES VON EBERHARD KNOBLOCH Oral history ist nichts, was Historiker lieben – und Wissenschaftshistoriker schon gar. Doch nicht alles lässt sich Dokumenten entnehmen. Darum sei es erlaubt, von einigen Erinnerungen zu berichten – zwischen Scherz, Ironie und tieferer Bedeutung. Im Jahre 1971, in immer noch wilden Zeiten, die an der TU Berlin vergleichsweise gemäßigt abliefen, war der Mathematiker und Altphilologe Eberhard Knobloch zusammen mit Menso Folkerts als Assistent am Lehrstuhl für Geschichte der exakten Wissenschaften und der Technik von Christoph Scriba tätig. Ergänzt wurde das Angebot des Fachgebietes durch Kurt Mauel aus Düsseldorf, der als Honorarprofessor ohne Honorar ganz regelmäßig (und unter Übernahme der Kosten durch den VDI) Lehrveranstaltungen zur Technikgeschichte abhielt. Von außen gesehen war der Lehrstuhl also eine wohl ausgestattete Einrichtung. Als ich damals an die TU kam, hatte ich zunächst die Aufgabe, in Lehraufträgen und unzähligen Prüfungen die Vakanz in Philosophie zu überbrücken, bevor die Berufung erfolgte; doch schnell zeigte sich, dass es wenigstens zwei Probleme gab, welche die Wissenschaftsgeschichte genau so betrafen wie die Philosophie. Zum einen glaubte die mächtige EPK (Entwicklungsplanungskommission), in der seinerzeit alle Personalplanungen zusammenliefen, die Geisteswissenschaften seien allesamt zu gut ausgestattet, denn nach der 1968 erfolgten Abschaffung des Humanistischen Studiums als Pflichtanteil in allen natur- und ingenieurwissenschaftlichen Studiengängen sei trotz der gleichzeitigen Einführung von Magisterstudiengängen eine deutlich geringere Ausstattung ausreichend. Zum zweiten machte sich damals überall in Deutschland der so genannte hochschulpolitische Mössbauereffekt bemerkbar – die Forderung, das Lehrstuhlprinzip durch das Departmentprinzip zu ersetzen. So hatte die TU die Fakultäten zugunsten einer Gliederung in Fachbereiche aufgegeben, und Berlins neues Hochschulgesetz ersetzte Lehrstühle durch Institute mit einer Mindestzahl von Professoren – weshalb die kleinen geisteswissenschaftlichen Fachgebiete der TU zusammenrücken mussten. Das galt für die Wissenschaftsgeschichte genau so wie für die Philosophie, weil es dort auch nur eine Professur und eine Assistenzprofessur gab, die PD Friedrich Rapp innehatte; eine frühere Gastprofessur wurde vom Fachbereich eingesäckelt. Aus drei Gründen lag es nahe, gerade diese beiden Fachgebiete in einem gemeinsamen Institut zu vereinigen: Erstens waren wir auf beiden Seiten der Auffassung, dass Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte nach den damals veröffentlichten Arbeiten von Thomas S. Kuhn und Imre Lakatos auf ganz neue Weise in ein befruchtendes Gespräch treten sollten, das auch die Technikgeschichte und Technikphilosophie einschließen würde. Zweitens einte Herrn Knobloch und mich das gemeinsame Interesse an Leibniz. Drittens gab es ein Problem
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Hans Poser
der Studentenzahlen (geschlechtsneutrale „Studierendenzahlen“ sind eine spätere Erfindung): Das Lehrgebiet Geschichte der exakten Wissenschaften und der Technik hatte nur etwa zwölf Hauptfachstudenten, was wesentlich daran lag, dass faktisch mindestens ein abgeschlossenes technisch-naturwissenschaftliches Vordiplom für die Zulassung verlangt wurde. In der Philosophie sah es mit den Studentenzahlen etwas besser aus – doch als entscheidendes Plus erwies sich eine Service-Verpflichtung: Alle Psychologiestudenten mussten bis zum Vordiplom drei Philosophie-Lehrveranstaltungen besucht haben, und für das gymnasiale Lehramt wurden für das so genannte Philosophicum vier Lehrveranstaltungen gefordert. Daraus resultierten rechnerisch beachtliche Personalkapazitäten. Nun ließ sich dieses Pflichtangebot der Philosophie in dessen Magister-Grundstudium integrieren, so dass freie Kapazitäten entstanden, die die TU bereit war, einem gemeinsamen Institut und damit der Wissenschaftsgeschichte gutzuschreiben. So sprach alles für das Lang-Namen-Institut (etwas, das Wissenschaftshistoriker gerne hören), denn es sollte wie noch heute Institut für Philosophie, Wissenschaftstheorie, Wissenschafts- und Technikgeschichte heißen – verbunden mit einem hoffnungsfrohen Entwicklungsplan, der auf neue Professuren sowohl in Technikgeschichte als auch in Wissenschaftstheorie abzielte. Bis es dazu kam, floss nicht nur viel Wasser die Spree hinunter und viel Tee in wöchentlichen Teestunden bei Herrn Scriba die Kehlen hinab, denn die Lage änderte sich rasch. Herr Scriba nahm einen Ruf nach Hamburg an, so dass die Gespräche vor allem von Herrn Knobloch und mir weitergeführt wurden. Doch bald nach seiner mathematikhistorischen summa-cum-Promotion ereilte ihn 1973 der Ruf auf eine Mathematik-Professur an der Pädagogischen Hochschule Berlin. Dahinter standen sicher der PH-Mathematiker und Mathematikhistoriker Herbert Meschkowski und der Philosoph Walter Heistermann, der als PH-Rektor bestrebt war, durch hochqualifizierte Berufungen das Promotionsrecht und später vielleicht auch das Habilitationsrecht für seine Hochschule zu erkämpfen. Da sich Herr Knobloch fraglos noch habilitieren würde, konnte dies nur die richtige Berufung sein. Heute mag ein Ruf unmittelbar nach der Promotion Verwunderung auslösen; doch es sei daran erinnert, dass in vielen deutschen Ländern noch alte Promotionsordnungen galten, wonach eine summa-cum-Promotion eine Habilitation ohne neuerliche Habilschrift ermöglichte – die Dissertation galt damit als eine habilitationsäquivalente Leistung. Außerdem war es an den Fachhochschulen und PH’s Usus, Erstberufungen auf eine unterste Professoren-Kategorie vorzunehmen, um später einen Leistungsaufstieg bis C4 zu ermöglichen – ein Verfahren, das den Universitäten wegen des Hausberufungsverdikts größte Schwierigkeiten bereitet hätte. Aus dieser Konstellation erwuchs mit der PH-Auflösung eine menschliche Problematik, auf die noch einzugehen sein wird. Ein studentischer ‚Störfall‘ jener Zeit hatte eine positive und eine negative Seite: Beide Lehrstühle waren im von der TU angemieteten so genannten PepperHaus am Ernst-Reuter-Platz 10 untergebracht. Nun hatten Studenten angeblich die Wände im Treppenhaus mit Parolen beschmiert (tatsächlich hatten sie eine Art Wandzeitung mit Tesakrepp befestigt) – Anlass für die Fa. Pepper zur fristlosen Kündigung wegen Missbrauchs der Mietsache. Gemunkelt wurde, es gehe Herrn
Zwischen TU, PH und BBAW
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Pepper wegen des für ihn ungünstigen langfristigen Mietvertrags allein um einen lukrativeren Vertrag mit der TU. Nun traf dies zeitlich zusammen mit der Insolvenz von AEG-Telefunken, was der TU die Möglichkeit bot, günstig das Telefunkenhaus am Ernst-Reuter-Platz (das heutige TU-Hochhaus, das immer noch TELGebäude genannt wird) zu erwerben. So kam es zum Standortwechsel mit dem Positivum der räumlichen Zusammenlegung beider Fachgebiete unter Berücksichtigung der erhofften Erweiterungen. Das Negativum jedoch bestand in der Forderung, die beiden Lehrstuhlbibliotheken abzugeben an eine neue Abteilungsbibliothek in den unteren Stockwerken des TEL-Gebäudes. Das erschien tragbar; doch dass Neuerwerbungen nun Monate statt drei Tage in Anspruch nahmen, schmerzte uns, Herrn Knobloch und mich, außerordentlich. Jahre später kam es noch schlimmer, denn nach der Fertigstellung des TU-Bibliotheksneubaus (mit Hilfen von VW finanziert, darum wohl mit dem Charme einer Fabrikhalle) wurden nicht nur alle ‚unsere‘ Bestände dorthin verlagert und größtenteils magaziniert, statt wie bisher frei zugänglich zu sein – das Fiasko war ungleich größer: Da der ‚Regensburger Katalog‘ für die Neuaufstellung zugrunde gelegt wurde und da die Uni Regensburg keine Wissenschafts- und Technikgeschichte kennt, wurde die gesamte traumhaft gute Fachsammlung vollkommen aufgelöst: Mathematikgeschichte zur Mathematik, Geschichte des Elektrizitätswesens zur Elektrotechnik u.s.f. Als Eberhard Knobloch die Notbremse ziehen wollte, war es zu spät; die Bibliotheksleitung glänzte durch Uneinsichtigkeit. So wurde unsere Illusion zerstört, Uni-Bibliotheken sollten die wissenschaftliche Arbeit fördern, statt sie fast unmöglich zu machen! Was das TEL-Gebäude anlangt, entwickelten sich die Dinge in den letzten Monaten ähnlich desaströs: Da die TU Geld braucht, sind bereits ganze Stockwerke an die TELEKOM vermietet. Weitere sollen folgen, weshalb dem Institut zunächst grauenerregende abrissreife Räume im alten Chemiegebäude angeboten wurden, dann – unter drastischer Verkleinerung der Raumzahl – in einem umzugestaltenden Bereich des Hauptgebäudes. Trotz aller Mühen konnte der Geschäftsführende Direktor Eberhard Knobloch nicht verhindern, dass die Vertreibung unmittelbar bevorsteht. Symbolisch ist dies dem TEL-Gebäude schon anzusehen, denn auf dem Dach des Hochhauses leuchtet ein riesenhaftes „ T....“ – wobei das T für „Telekom“, die Punkte hingegen sicherlich für das bekannte Zeichen „besetzt!“ stehen. Leider ist unser Vorschlag höheren Ortes auf taube Ohren gestoßen, aus der Konkursmasse der Union-Brauerei in Dortmund ein riesenhaftes „U“ zu bekommen, damit auf dem Dach wenigstens „TU“ zu lesen wäre ... Doch zurück in die Zeit der Institutsgründung. Wir erreichten die Zustimmung aller akademischen Gremien zu unseren gemeinsamen Plänen; nur ein neuberufener Historiker versuchte, die Wissenschaftsgeschichte der allgemeinen Geschichte einzuverleiben – ohne Erfolg, so dass es 1975 endlich zur Gründung des neuen Instituts kommen konnte. Zu dessen Hochschullehrern zählte ab 1976 auch Herr Knobloch wieder, nun als Privatdozent aufgrund seiner Habilitation in Wissenschaftsgeschichte. Schon 1975 wurde Herr Rapp auf die neue Professur für Philosophie und Wissenschaftstheorie berufen, und 1980 trat Werner Schütt die
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Hans Poser
Scriba-Nachfolge an. Zugleich aber war dies das Jahr hochschulpolitischer Verwerfungen: Die PH sollte aufgelöst und zu Teilen integriert werden in die FU, die TU und die HdK (Hochschule der Künste, der es später dank des PH-Imports gelang, zur Universität zu avancieren). Kurz bevor die Integration unumstößlich wurde, saß ich in einem Berlin-Flug zufällig neben dem gerade ernannten Wissenschaftssenator Peter Glotz. Die Gelegenheit nutzend versuchte ich ihm zu verdeutlichen, dass es viel sinnvoller sei, die PH, die mittlerweile Promotionsrecht besaß, zu einer Volluniversität auszubauen, statt eine renommierte Einrichtung mit einem erfolgreichen Ausbildungskonzept zu zerschlagen. Doch Glotz gab die entwaffnende Antwort: „Sie haben völlig recht, aber ich kann nicht, kaum dass ich in Berlin bin, eine Jahrzehnte alte SPD-Bildungspolitik konterkarieren.“ So kam es, dass noch im gleichen Jahr der PH-Rektor Heistermann als Philosoph an unser Institut kam (jedoch nur formaliter, nämlich mit einem Forschungs-Freisemester, dann wurde er emeritiert). So geschah es, dass Eberhard Knobloch zu unser aller Freude an unser, an sein Institut wechselte – aber unter Verlust der ihm an der PH gewissen Höherstufungsmöglichkeit. Die folgenden Jahrzehnte sind durch eine überaus fruchtbare Zusammenarbeit gekennzeichnet, in die ab 1985 auch Wolfgang König als Technikhistoriker und Günter Abel als Nachfolger von Herrn Rapp einbezogen waren: Nicht nur, dass einer von uns reihum die Geschäftsführung übernahm – vor allem waren es die gemeinsamen Forschungskolloquien, die in jedem Wintersemester einer von uns auf der Grundlage gemeinsamer Planung organisierte; das jüngste von Eberhard Knobloch initiierte und geleitete galt 2005 dem Modellbegriff in den Wissenschaften und wird – wie die meisten dieser Veranstaltungen – im Druck verfügbar sein. Ebenso riefen wir Leibniz-Arbeitsgespräche ins Leben, bei denen Berliner Leibnizforscher zusammenkamen. So wird verständlich, wieso unser Institut zum Vorbild für vergleichbare Einrichtungen werden konnte. Doch nochmals ist eine Rückblende in die Zeit der Institutsgründung unverzichtbar. Damals war in der ganzen Bundesrepublik sowohl das Philosophicum als auch der Philosophie-Pflichtanteil der Psychologen aus den Studiengängen getilgt worden. Deshalb mussten die Lehrkapazitäten unserer beiden Fächer allein auf ihre inzwischen gestiegenen Studentenzahlen gegründet werden. Die Folge war, dass die PH-Philosophieprofessur gestrichen wurde und dass Herr Knobloch als PH-Integrations-Kollateralschaden mit einem ungeliebten Mathematik-Pflichtdeputat von vier Semester-Wochenstunden im Fachbereich Mathematik bedacht wurde. Ihn mit vollem Deputat in unser Langnamen-Institut einzugliedern hätte bedeutet, den Mathematikern eine Assistentenstelle als Deputatsausgleich geben zu müssen – doch die hatten wir nicht; darüber hinaus liefen Anträge auf eine Finanzierung der Professur für Technikgeschichte, die damit hinfällig geworden wären. Eine Lösung hat viel Nerven, Kraft und Zeit gekostet und hat sich erst über Jahre in Einzelschritten verwirklichen lassen. Es ist müßig, über all die zahllosen Versuche zu berichten, Eberhard Knobloch, dem eine internationale Ehrung nach der anderen zuteil wurde, auf solcher Grundlage eine angemessene TU-Professur zu verschaffen: Alle meine Gespräche als Dekan oder mit dem jeweiligen Dekan, mit dem Universitätspräsidenten und gar mit dem Wissenschaftssenator endeten
Zwischen TU, PH und BBAW
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mit einer großen Bereitschaft etwas zu unternehmen, jedoch sei nach geltendem Hochschulrecht die unumgängliche Voraussetzung ein Ruf von außerhalb. Das klingt angesichts eines Gelehrten von internationaler Reputation nach einem überwindbaren Hemmnis, doch in Anbetracht eines winzigen Faches, das in Deutschland nur an wenigen Universitäten vertreten ist, und einer besonderen Profilierung in der Mathematikgeschichte, insbesondere in der Leibniz-Forschung, erwies sich die kleine Bedingung als schierer Zynismus. Erst als die BBAW, die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, sich darauf besann, dass früher einmal die Leibniz-Edition ganz bei der Preußischen Akademie gelegen hatte, dass aber eine wichtige Reihe, nämlich die der naturwissenschaftlich-medizinisch-technischen Schriften, noch gar nicht begonnen war und ihr eigenes Mitglied Eberhard Knobloch der schlechthin geeignetste Verantwortliche für diese Reihe sein würde, bot sich eine neue Chance – nämlich mit der TU gemeinsam etwas gänzlich Neues zu schaffen: eine Akademieprofessur. Herrn Kollegen Abel ist es als damaligem TU-Vizepräsidenten für Forschung zu danken, dass dieser Plan Gestalt annahm und am Ende nach schwierigsten Verhandlungen zu einem Vertragswerk führte, das Eberhard Knobloch im Jahre 2002 endlich eine seinem wissenschaftlichen Ansehen angemessene Professur sicherte. All dies wäre schwer zu ertragen gewesen, wenn es im Institut nicht eine freundschaftlich-kollegiale Atmosphäre gegeben hätte. Am deutlichsten wurde dies auf den ganz institutsinternen Weihnachtsfeiern sichtbar, denn seit langem schon sorgt Eberhard Knobloch als Hexenmeister mit einer exzellenten Feuerzangenbowle für eine unvergleichliche Atmosphäre. Vor einigen Jahren gelang es ihm gar, alle Sopranstimmen des Instituts dazu zu bewegen, von ihm am Keyboard begleitet, aus Bachs Jagdkantante die Arie „Schafe können sicher weiden, wo ein guter Hirte wacht“ zu intonieren. So sei ihm als dem gegenwärtigen Geschäftsführenden Direktor unseres gemeinsamen Instituts gewünscht, er möge ihm lange noch als guter Hirte erhalten bleiben!
GOTTFRIED WILHELM LEIBNIZ EDITION
Menso Folkerts
DIE LEIBNIZ-EDITION ZWISCHEN WISSENSCHAFT UND POLITIK ZUR GESCHICHTE DER MATHEMATISCHNATURWISSENSCHAFTLICHEN REIHEN Eines der großen Langzeitvorhaben der deutschen Akademien ist die Edition der Schriften und der Korrespondenz von Gottfried Wilhelm Leibniz. Die großen Linien der Edition sind bekannt,1 so dass es hier genügt, die wichtigsten Eckdaten anzugeben: Schon 1901 beantragte die „Association Internationale des Académies“, eine philologisch-kritische Leibniz-Ausgabe in Angriff zu nehmen. Es war sachlich begründet, aber politisch durchaus nicht selbstverständlich, dass diese Ausgabe in deutsch-französischer Gemeinschaftsarbeit erstellt werden sollte: Die „Association“ beauftragte im Jahre 1907 die „Académie des Sciences“, die „Académie des Sciences morales et politiques“ und die „Preußische Akademie der Wissenschaften“ mit der Edition. Dabei sollten die mathematischen und naturwissenschaftlichen Schriften unter Leitung der Pariser Akademien herausgegeben werden. Der Erste Weltkrieg brachte das Gemeinschaftsprojekt zum Erliegen, bevor es richtig begonnen hatte. Im Jahre 1921 beschloss die Preußische Akademie der Wissenschaften, das Projekt allein durchzuführen und die Ausgabe neu zu konzipieren: An die Stelle der ursprünglich vorgesehenen zwei Abteilungen (Briefe und Denkschriften; Werke) traten jetzt sieben (später acht) Reihen. Die Reihen I-III sollten den Briefwechsel und die Reihen IV-VII (bzw. VIII) die Schriften umfassen. Diese Einteilung wird im Prinzip bis heute beibehalten. Zwei (später 1
Siehe hierzu: Gaedeke, Nora: Ein Dinosaurier im Internet – die historisch-kritische Leibnizedition, in: Merta, Brigitte u.a. (Hg.): Vom Nutzen des Edierens. Akten des internationalen Kongresses zum 150jährigen Bestehen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Wien, München 2005, S. 183-196; Poser, Hans: Langzeitvorhaben in der Akademie. Die Geschichte der Leibniz-Edition zwischen Kaiserreich und geteiltem Deutschland, in: Fischer, Wolfgang (Hg.): Die Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1914-1945, Berlin 2000, S. 375-389; Schepers, Heinrich: Zur Geschichte und Situation der Akademie-Ausgabe von Gottfried Wilhelm Leibniz, in: Nowak, Kurt u. Hans Poser (Hg.): Wissenschaft und Weltgestaltung. Internationales Symposium zum 350. Geburtstag von Gottfried Wilhelm Leibniz vom 9. bis 11. April 1996 in Leipzig, Hildesheim, Zürich u. New York 1999, S. 291298; Schepers, Heinrich: Die Leibniz-Ausgabe, in: Buchstabe und Geist. Zur Überlieferung und Edition philosophischer Texte, Hamburg 1987, S. 71-81; Grau, Conrad, Wolfgang Schlicker u. Liane Zeil: Die Berliner Akademie der Wissenschaften in der Zeit des Imperialismus. Teil III: Die Jahre der faschistischen Diktatur 1933 bis 1945, Berlin 1979, S. 288-292; Schlicker, Wolfgang, u.a.: Die Berliner Akademie der Wissenschaften in der Zeit des Imperialismus. Teil II: Von der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution bis 1933, Berlin 1975, S. 183f.; Hochstetter, Erich: Zur Geschichte der Leibniz-Ausgabe, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 20, 1966, S. 651-658; Müller, Kurt: Die Leibniz-Ausgabe der Berliner Akademie, in: Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1946-1956, Berlin 1956, S. 411-421.
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Menso Folkerts
drei) Reihen betrafen die mathematisch-naturwissenschaftlichen Schriften und Briefe: Reihe III: Mathematischer, naturwissenschaftlicher und technischer Briefwechsel Reihe VII: Mathematische, naturwissenschaftliche und technische Schriften (später aufgeteilt in Reihe VII: Mathematische Schriften und Reihe VIII: Naturwissenschaftliche und technische Schriften). Es dauerte allerdings bis zum Jahre 1976, ehe der erste Band aus den mathematisch-naturwissenschaftlichen Reihen erschien. Die Gründe für diese Verzögerung sind vielschichtig. Ein wesentlicher Faktor war die Umstrukturierung der LeibnizAusgabe während des Nationalsozialismus, die ihrerseits in Verbindung mit der Umgestaltung der Universitäten und Akademien gesehen werden muss. Es waren vor allem die Mathematiker Theodor Vahlen (1869-1945) und Ludwig Bieberbach (1886-1982), die das mathematische Geschehen in Deutschland zu bestimmen suchten und auch die Leibniz-Ausgabe in ihrem Sinne umformten. Die Einzelheiten lassen sich vor allem anhand der Unterlagen im Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (ABBAW) gut rekonstruieren. Daher kann die Geschichte der Leibniz-Ausgabe im Dritten Reich einen Baustein liefern, um die erwähnten Bestrebungen Vahlens und Bieberbachs im Gesamtzusammenhang zu verstehen. 1. DIE LEIBNIZ-AUSGABE BIS ZUM JAHRE 1938 In Anbetracht des vielseitigen Schaffens von G.W. Leibniz waren in der Akademie-Kommission für die Leibniz-Ausgabe Gelehrte verschiedener Fachrichtungen vertreten. Der ersten Kommission (1923) gehörten an: die Philosophen Carl Stumpf (1848-1926) und Heinrich Maier (1867-1933), der Physiker Max Planck (1858-1947, Sekretar der math.-nat. Klasse), der Kirchenhistoriker Adolf von Harnack (1851-1930), der Germanist Gustav Roethe (1859-1926), der Historiker Paul Kehr (1860-1944) und der Mathematiker Erhard Schmidt (1876-1959). Mitglieder der Kommission waren im Jahre 19392: die Philosophen Nicolai Hartmann (1882-1950, Vorsitzender) und Eduard Spranger (1882-1963, stellvertretender Vorsitzender), die Historiker Albert Brackmann (1871-1952) und Paul Kehr, die Mathematiker Ludwig Bieberbach und Erhard Schmidt, der Physiker Max Planck, der Indologe Heinrich Lüders (1869-1943, Sekretar der phil.-hist. Klasse) und der Germanist Julius Petersen (1878-1941).
2
Aufstellung des Personalbestands der Leibniz-Ausgabe am 26.5.1939, in: ABBAW, Historische Abteilung, Leibniz-Ausgabe [in Zukunft zitiert als: HA LA], Nr. 42, 39/13. (Da alle in dieser Arbeit benutzten Archivalien sich in diesem Archiv befinden, wird der Name des Archivs im Folgenden nicht mehr genannt.)
Die Leibniz-Edition zwischen Wissenschaft und Politik
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Der erste Leiter der Leibniz-Ausgabe war der Historiker Paul Ritter (18721954), ein Schüler Wilhelm Diltheys. Ritter war schon 1902 als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter eingesetzt worden, um die Leibniz-Ausgabe vorzubereiten. Zu diesem Zweck erstellte er einen „Kritischen Katalog der Leibniz-Handschriften“, von dem 1908 der erste Teil handschriftlich lithographiert in kleiner Auflage verteilt wurde; er bildete den Grundstock eines Verzeichnisses aller Briefe und Schriften, das in der Folgezeit ständig ergänzt wurde und heute online zugänglich ist. 1910 wurde Ritter zum Beamten der Akademie ernannt und leitete seitdem bis zum Jahre 1939 die Arbeiten der Leibniz-Ausgabe. 1913 erhielt er den Professorentitel. Es gab nur eine Planstelle bei der Leibniz-Ausgabe, die Ritter inne hatte. Er war in erster Linie mit der Bearbeitung der Reihe I (Allgemeiner politischer und historischer Briefwechsel) beschäftigt, arbeitete aber auch an der Reihe IV (Politische Schriften). Außer Ritter waren mehrere freie Mitarbeiter an der Ausgabe beteiligt:3 Schon seit 1902 war der Philosoph Willy Kabitz (1876-1942) tätig, zunächst in Berlin und seit 1915, als er in Münster Professor wurde, als externer Mitarbeiter; er übernahm 1922 die Bearbeitung der Reihe VI (Philosophische Schriften). Der Philosoph Erich Hochstetter (1888-1968) bearbeitete seit 1921 die Reihe II (Philosophischer Briefwechsel). Vorrangig an Bänden der Reihe I waren außerdem beteiligt: der Germanist Waldemar von Olshausen (1879-1959, seit 1929); der Archivar Kurt Dülfer (1908-1973, seit 1934), die Philosophin Liselotte Richter (1906-1968, seit 1936), der Germanist Kurt Müller (1907-1983, seit 1936), der Philosoph Helfried Hartmann (seit 1936), die Wissenschaftshistorikerin Anneliese Maier (1905-1971, seit 1936)4 . Mit der Transkription der Manuskripte waren seit 1920 bzw. 1922 Walter Möring (1877-?) und Karla von Düring (1896-?) beauftragt. Für die mathematischen Reihen wurden Werkverträge vergeben. Conrad Müller (1878-1953) erhielt 1928 einen Vertrag für die Reihe VII (Mathematische Schriften)5. Müller hatte 1904 mit einer Arbeit über die Mathematik an der Universität Göttingen promoviert, sich 1908 in Göttingen habilitiert und war seit 1910 Professor für Mathematik an der Technischen Hochschule Hannover. Mit der Bearbeitung der Reihe III (Mathematischer Briefwechsel) wurde 1936 der Philosoph Dietrich Mahnke (1884-1939) betraut.6 Mahnke hatte 1925 in Freiburg mit der Arbeit Leibnizens Synthese von Universalmathematik und Individualmetaphysik promoviert, habilitierte sich 1926 in Greifswald für Philosophie und Geschichte der exakten Wissenschaften und war seit 1927 Ordinarius für Philosophie in Marburg. 3 4 5
6
Siehe die „Daten betr. die Leibniz-Ausgabe (Oktober 1938)“ (HA LA, Nr. 6, f.1-5), die Ritter für Nicolai Hartmann zusammenstellte; sie waren für einen Bericht der Akademie an das Ministerium gedacht. A. Maier hatte speziell den Auftrag, relevante Dokumente in italienischen Bibliotheken zu ermitteln. Dies führte zu ihren grundlegenden Arbeiten zur Naturphilosophie der Scholastik, die ab 1949 in Rom in der Reihe Storia e letteratura erschienen. In dem Vertrag zwischen der Akademie und C. Müller war vorgesehen, dass dieser die Bearbeitung „der Reihen der mathematischen, naturwissenschaftlichen und technischen Schriften“ übernehmen und ein druckfertiges Manuskript des 1. Bandes bis zum 1. April 1930 vorlegen sollte (Leibniz-Ausgabe [in Zukunft abgekürzt: LA], Nr. 778). Der Vertrag zwischen Ritter und Mahnke befindet sich in HA LA, Nr. 66, und in II-VIII,186.
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In den Jahren 1923 bis 1938 erschienen folgende sechs Bände (in Klammern die Bearbeiter und das Jahr der Publikation): Reihe I: Band 1 (Ritter, Kabitz, Hochstetter; 1923); Band 2 (Ritter; 1927); Band 3 (Ritter, v. Olshausen, Dülfer; 1938). Reihe II: Band 1 (Hochstetter, Kabitz, Ritter; 1926). Reihe IV: Band 1 (Ritter; 1931). Reihe VI: Band 1 (Kabitz; 1930). Die Arbeit an den mathematischen Reihen III und VII führte bis 1938 zu keinem druckfertigen Manuskript. Ritter trat am 1. April 1937 nach Erreichung der Altersgrenze in den Ruhestand, führte aber zunächst die Geschäfte weiter. Die Frage nach dem künftigen Leiter der Leibniz-Ausgabe blieb zunächst ungeklärt. 2. DIE UMGESTALTUNG DER BERLINER AKADEMIE IN DEN JAHREN 1938/39 UND IHRE AUSWIRKUNGEN AUF DIE LEIBNIZ-AUSGABE Die Situation der Berliner Akademie der Wissenschaften in der Zeit des Nationalsozialismus ist in den letzten Jahren, insbesondere von der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Berliner Akademiegeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, intensiv untersucht worden. 7 Die ministeriellen Eingriffe verstärkten sich seit 1937 und führten schließlich 1938/39 zu einer Umgestaltung der Akademie nach dem Führerprinzip. Im Juni 1937 wurde auf Druck des Reichserziehungsministeriums der Mathematiker Theodor Vahlen als Ordentliches Mitglied in die Akademie gewählt.8 Vahlen hatte zuvor im Ministerium als Leiter der Abteilung Wissenschaft die personellen und institutionellen Umgestaltungspläne im Wissenschaftsbereich betrieben. Jetzt begann er damit, die Akademie nach den Vorgaben des Ministeriums umzustrukturieren.9
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Siehe Fischer, Wolfram u.a. (Hg.): Die Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1914-1945, Berlin 2000; hier vor allem Walther, Peter Th.: „Arisierung“, Nazifizierung und Militarisierung. Die Akademie im „Dritten Reich“, S. 87-118. Zu Vahlen siehe vor allem Siegmund-Schultze, Reinhard: Theodor Vahlen – zum Schuldanteil eines deutschen Mathematikers am faschistischen Mißbrauch der Wissenschaft, in: NTM 21, 1984, S. 17-32; ferner Walther (wie Anm. 7), S. 100-107. Vahlens Tätigkeit im Dritten Reich wird auch behandelt in Hentschel, Klaus (Hg.): Physics and National Socialism. An Anthology of Primary Sources, Basel u.a. 1996 und in Walker, Mark: Nazi Science. Myth, Truth and the German Atomic Bomb, New York u.a. 1995. Über Vahlens Tätigkeit als Gauleiter in Pommern informiert Inachin, Kyra T.: „Märtyrer mit einem kleinen Häuflein Getreuer“. Der erste Gauleiter der NSDAP in Pommern Karl Theodor Vahlen, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 49, 2001, S. 31-51. Siehe hierzu Walther (wie Anm. 7), S. 107-111 und Grau, Conrad: Die Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Heidelberg, Berlin u. Oxford 1993, S. 239-244.
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Seit 1830 war die Arbeit der Akademie durch die jeweils zwei Sekretare der beiden Klassen bestimmt worden.10 Die beiden Sekretare der Physikalisch-mathematischen Klasse waren von 1912 bis 1938 der Physiker Max Planck und von 1932 bis 1937 der Meteorologe Heinrich von Ficker (1881-1957), der vom Geologen Hans Stille abgelöst wurde (1876-1966, Sekretar 1937-1938); die Sekretare der Philosophisch-historischen Klasse waren von 1920 bis 1938 der Indologe Heinrich Lüders und von 1926 bis 1938 der Rechtshistoriker Ernst Heymann (1870-1946). Im Oktober 1938 wurde der Islamwissenschaftler Helmuth Scheel (1895-1967) mit der „Wahrnehmung der Geschäfte der Akademie“ beauftragt und gleichzeitig zum „Wissenschaftlichen Beamten und Professor“ ernannt.11 Im November/Dezember 1938 beauftragte das Ministerium die Akademie, einen neuen Satzungsentwurf zu bearbeiten.12 Gleichzeitig wurden die vier Sekretare zum Rücktritt gedrängt, und zum Jahresbeginn 1939 wurde ein neues Präsidium kommissarisch eingesetzt. Ihm gehörten Vahlen als Präsident, Heymann als Vizepräsident, Bieberbach als Sekretar der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse und Hermann Grapow13 als Sekretar der Philosophisch-historischen Klasse an. Scheel erhielt den neu geschaffenen Posten des „Direktors der Akademie“ und wurde damit der Leiter der Verwaltung. Nicht alle Mitglieder der Akademie waren mit der Umstrukturierung und mit der neuen Leitung einverstanden. Trotzdem wurde im Juni 1939 von der Akademie die neue Satzung genehmigt, und Heymann, Bieberbach und Grapow wurden in ihre Ämter gewählt. Obwohl Vahlen in zwei Wahlgängen von der Mehrheit der Mitglieder der Akademie als Präsident abgelehnt wurde, bestätigte der zuständige Minister Bernhard Rust (1883-1945) am 24. Juni 1939 das vierköpfige Präsidium und den neuen Direktor.14 So war es gelungen, die Akademie gleichzuschalten. Die Situation änderte sich auch nicht, als Ende 1942 der Vizepräsident Heymann sein Amt niederlegte und als Vahlen am 30. Juni 1943 seinen Rücktritt als kommissarischer Präsident erklärte: Heymanns 10 Die mit der Leitung der Akademie beauftragten Personen sind in Hartkopf, Werner: Die Berliner Akademie der Wissenschaften. Ihre Mitglieder und Preisträger 1700-1990, Berlin 1992, S. 412-420, aufgelistet. 11 Hartkopf, Werner: Die Akademie der Wissenschaften der DDR. Ein Beitrag zu ihrer Geschichte, Berlin 1975, S. 138; Amburger, Erik: Die Mitglieder der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1700-1950, Berlin 1950, S. 172. Zu Scheel siehe Walther (wie Anm. 7), S. 111f. Scheel ging 1946 als Professor an die Universität Mainz und war der Initiator der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Er beharrte zeitlebens darauf, „Direktor der Preußischen Akademie der Wissenschaften“ zu sein, und verwendete auch in Mainz entsprechende Siegel und Briefköpfe. 12 Die Kommission zur Ausarbeitung des Entwurfs bestand zunächst aus den vier Sekretaren und je zwei zusätzlichen Mitgliedern beider Klassen (E. Schmidt, F. v. Wettstein, H. Lietzmann, O. Franke); am 1.12.1938 wurde sie erweitert um E. Kraft, Th. Vahlen, L. Bieberbach, H. Grapow und P. Koschaker (siehe Hartkopf [wie Anm. 11], S. 139). 13 Der Ägyptologe Grapow (1885-1967) war seit 1922 wissenschaftlicher Beamter an der Universität Berlin. Am 28.4.1938 wurde er zum Ordentlichen Mitglied der Berliner Akademie gewählt und erhielt, ebenfalls 1938, die Professur für Ägyptologie an der Universität Berlin. 14 Zu den Ereignissen im einzelnen siehe Walther (wie Anm. 7), S. 107-112; Grau (wie Anm. 9), S. 239-244; Grau/Schlicker/Zeil (wie Anm. 1), S. 66-73; Hartkopf (wie Anm. 11), S. 137-141.
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Stelle wurde nicht wieder besetzt; Grapow wurde zum Vizepräsidenten ernannt und mit der Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten beauftragt. Seitdem bestimmten Grapow, Bieberbach und Scheel allein die Geschicke der Akademie.15 Mit Bieberbach und Vahlen hatten seit 1939 die führenden Vertreter der „Deutschen Mathematik“ die Schaltstellen der Berliner Akademie inne.16 Es hatte vielerorts Erstaunen ausgelöst, dass Bieberbach, der schon in den 1920er Jahren ein hochgeachteter Mathematiker war, sich im Jahre 1933 offen dem Nationalsozialismus zuwandte. Für ihn bestand eine wesentliche Aufgabe der nationalsozialistischen Wissenschaft in der „Pflege der deutschen Art in der Wissenschaft“. Bieberbach entwickelte eine Rassenlehre für die Mathematik, bei der er die Typenlehre des Marburger Psychologen Erich Jaensch auf die Mathematik anwandte; mit Hilfe dieser Lehre wollte er zeigen, dass die Stile deutscher und nichtdeutscher Mathematiker in Forschung und Lehre nicht miteinander vereinbar sind. Bieberbach war auch die treibende Kraft in der Zeitschrift Deutsche Mathematik, die seit 1936 erschien. Sie war der „völkischen deutschen Mathematik“ verpflichtet, auch wenn in ihr zahlreiche „traditionelle“ Arbeiten erschienen.17 Offiziell war Vahlen der Herausgeber dieser Zeitschrift, jedoch war Bieberbach, der die Schriftleitung inne hatte, faktisch für sie verantwortlich.18 Unter dem Aspekt der „völkischen Mathematik“ kam der Geschichte der Mathematik eine besondere Bedeutung zu. So verwundert es nicht, dass Bieberbach, der vor 1933 kaum mathematikhistorische Arbeiten veröffentlicht hatte, 19 nach 1933 sich verstärkt historischen Themen zuwandte. In einem Vortrag „Zweihundertfünfzig Jahre Differentialrechnung“, den er im November 1934 vor dem Berliner Verein zur Förderung des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts
15 Walther (wie Anm. 7), S. 113f. 16 Zur „Deutschen Mathematik“ und zu Bieberbachs Rolle während des Nationalsozialismus als Wissenschaftsorganisator und Mathematiker siehe insbesondere Mehrtens, Herbert: Ludwig Bieberbach and „Deutsche Mathematik“, in: Phillips, Esther H. (Hg.): Studies in the History of Mathematics, Washington 1987, S. 195-241; Segal, Sanford L.: Mathematicians under the Nazis, Princeton, Oxford 2003, S. 334-418; Remmert, Volker R.: Die Deutsche Mathematiker-Vereinigung im „Dritten Reich“, in: DMV-Mitteilungen 12, 2004, S. 159-177 u. 223-245. 17 Die Zielsetzung der Zeitschrift wird im Vorwort des ersten Heftes ersichtlich. Dort heißt es u.a.: „‚Deutsche Mathematik‘ gibt ein lebendiges Bild von der gesamten mathematischen Arbeit deutscher Volksgenossen. ... Wir dienen der deutschen Art in der Mathematik und wollen sie pflegen. Wir sind nicht allein auf dieser Welt: Andere Völker haben den gleichen Anspruch auf die Auswirkung ihrer Eigenart in der mathematischen Betätigung. Mannigfache Berührung besteht zwischen der mathematischen Arbeit der verschiedenen Völker. Für die Anregung und Belehrung, die sich daraus auch für uns ergibt, hat unsere Zeitschrift einen offenen Blick. Doch sehen wir alles unter den Gesichtspunkten der mathematischen Leistung unseres Volkes. Ihr gilt unsere Arbeit, eingedenk der Tatsache, daß auch mathematisches Schaffen sich um so kräftiger entfaltet und damit auch zu um so größerer Bedeutung für die Mitwelt gelangt, je tiefer es in einem Volkstum verwurzelt ist.“ 18 Zur Zeitschrift „Deutsche Mathematik“ siehe insbesondere Segal (wie Anm. 16), S. 387-410. 19 Abgesehen von Nachrufen, Würdigungen und seiner Rede von 1930 über das Jahrbuch über die Fortschritte der Mathematik.
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hielt, stellte er insbesondere die Rolle von Leibniz heraus. Die gedruckte Fassung20 beginnt mit den Worten: „Die Geburt der Differentialrechnung datiert mit der Arbeit von Leibniz, die im Oktober 1684 in den Acta eruditorum erschien, und in der dieser zuerst seinen Kalkül der Differentialrechnung bekanntgab. 1686/1687 erst kam Newton in seinen Prinzipien der Naturphilosophie auf seine Fluxionsrechnung zu sprechen.“
Bieberbach weist zwar darauf hin, dass beide schon früher ihre Gedanken konzipiert hätten, will aber nicht die „Vorgeschichte“ darstellen, auch deshalb, weil er dazu nichts Neues sagen könnte.21 „Wovon ich sprechen möchte, das sind Dinge, die in den Darstellungen der Geschichte der Mathematik meist vernachlässigt werden, nämlich die Frage nach den Grundlagen, dem Seins- und Geltungsgrund.“
In diesem Kontext müssen auch die beiden Bücher über Galilei und über Gauß gesehen werden, die Bieberbach 1938 veröffentlichte.22 Bieberbach konnte bei seiner „völkischen“ Sicht der Mathematik und der Naturwissenschaften auf die Unterstützung von Vahlen rechnen. So verwundert es nicht, dass es im 1939 beschlossenen Statut der Berliner Akademie der Wissenschaften heißt, dass speziell Unternehmen gefördert werden sollten, mit denen sich die „deutsche Art und Überlieferung“ betonen ließ.23 In diesem Zusammenhang war die Leibniz-Ausgabe besonders wichtig. Um die von Bieberbach und Vahlen verfolgten Ziele zu erreichen, bot es sich an, die Zusammensetzung der Arbeitsstelle und der Leibniz-Kommission zu ändern. Zwei Umstände erleichterten diese Pläne: Es lag noch kein Band der mathematisch-naturwissenschaftlichen Reihen vor, so dass insbesondere Leibniz’ Leistungen bei der Begründung der Infinitesimalrechnung noch nicht dokumentiert waren. Außerdem musste ein neuer Leiter der Ausgabe gefunden werden, nachdem Ritter 1937 in den Ruhestand getreten war. Das Hauptproblem der mathematisch-naturwissenschaftlichen Reihen bestand darin, dass beide Bearbeiter als Professoren an auswärtigen Hochschulen wirkten. Conrad Müller hatte als Mathematiker und zeitweiliger Rektor der TH Hannover wenig Zeit, sich mit Leibniz’ mathematischen Schriften zu beschäftigen; außerdem war er kein Leibniz-Spezialist. Mahnke war besser mit Leibniz’ Mathematik vertraut, arbeitete aber erst seit 1936 am mathematischen Briefwechsel. Um Mahnke mehr Zeit für seine Leibniz-Arbeit zu geben, wurde er im Mai 1939 für ein Jahr von seinen Vorlesungsverpflichtungen in Marburg befreit. 24 Mahnke 20 In: Zeitschrift für die gesamte Naturwissenschaft, 1935, S. 171-177. 21 Er erwähnt nicht, dass Newton früher als Leibniz die Infinitesimalrechnung entwickelt hat. 22 Galilei und die Inquisition, München 1938; 2. Aufl. 1942; Carl Friedrich Gauß, Berlin 1938. Siehe hierzu Remmert, Volker R.: Galilei und die Rassenlehre: Naturwissenschaftsgeschichte als Legitimationswissenschaft im Dritten Reich, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 49, 2001, S. 333-351. 23 Grau (wie Anm. 9), S. 244f. 24 N. Hartmann als Vorsitzender der Leibniz-Kommission hatte am 16.2.1939 vorgeschlagen, Mahnke solle einen einjährigen Urlaub für die Bearbeitung des Bandes erhalten (II-VIII,178).
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starb aber schon wenig später, am 26. Juli 1939, bei einem Autounfall an der Stadtgrenze von Nürnberg und Fürth. 25 Er hinterließ ein Manuskript von 271 Seiten Umfang, das etwa die Hälfte des geplanten Bandes III.1 umfasste.26 Die Frage nach einem neuen Leiter für die Ausgabe hing eng mit der Zusammensetzung der Leibniz-Kommission zusammen. Ihr Leiter, der Philosoph N. Hartmann, war naturgemäß nicht primär an den mathematischen Arbeiten von Leibniz interessiert und unterstützte auch nicht die wissenschaftspolitischen Ziele von Vahlen und Bieberbach. Im Oktober 1938, also noch vor der Umstrukturierung der Akademie, hatte Hartmann beantragt, Dülfer als Nachfolger Ritters einzusetzen, jedoch stimmte das Ministerium nicht zu, weil Dülfer nicht „die politischen Voraussetzungen für eine solche Ernennung“ erfülle.27 Anfang 1939 wurde eine andere Aktion in die Wege geleitet, die offenbar zwischen den beiden Mathematikern in der neuen Akademieleitung, Vahlen und Bieberbach, abgesprochen war. Am 21. Februar 1939 schrieb Vahlen an den Minister Rust:28 „Unter Bezugnahme auf eine mündliche Unterredung mit Herrn Ministerialrat Frey darf ich im Zusammenhang hiermit bitten, zu prüfen, ob es für die ordnungsgemässe Arbeit der Leibniz-Kommission und der Weiterführung der Leibniz-Ausgabe nicht am zweckdienlichsten sein wird, wenn der Herr Reichsminister mit der Leibniz-Kommission an Stelle des Herrn N. Hartmann grundsätzlich den Präsidenten der Akademie betraut.“
Dieser Plan konnte allerdings nicht sofort umgesetzt werden. Um die von Bieberbach und Vahlen angestrebte neue Zielsetzung der Leibniz-Ausgabe zu erreichen, bedurfte es eines fähigen Mathematikhistorikers, der hauptamtlich an diesem Projekt arbeiten konnte. Hier stand Joseph Ehrenfried Hofmann (1900-1973) zur Verfügung, der am Gymnasium in Nördlingen Mathematik und Physik unterrichtete, aber schon damals als Mathematikhistoriker international ausgewiesen war. Zwar war Hofmann kein Leibniz-Spezialist, aber er hatte sich schon seit seinem Studium mit mathematikhistorischen Themen beschäftigt und auch mehrere Arbeiten zur Mathematik des 17. Jahrhunderts veröffentlicht, darunter zwei Aufsätze über Leibniz.29 Bieberbach kannte Hofmann
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Auf Antrag der Akademie genehmigte der Minister am 15.5.1939 die einjährige Befreiung von seinen Vorlesungsverpflichtungen (HA LA, Nr. 66). Siehe die Nachricht der Tochter Gertrud Mahnke an Ritter (HA LA, Nr. 66). Siehe II-VIII,178. Mahnkes Materialsammlung zu Band III.1 mit seinen Transkriptionen und mit einigen Briefen von und an Mahnke befindet sich in HA LA, Nr. 9. Durch Vermittlung Ritters wurde noch im Jahre 1939 Mahnkes Bibliothek von der Berliner Akademie angekauft (Näheres in HA LA, Nr. 66). Auf eine Anfrage des Ministeriums hin berichtete die Akademie am 13.10.1938 über den Stand der Leibniz-Ausgabe und stellte den Antrag, Dülfer als Nachfolger Ritters zum wissenschaftlichen Beamten zu ernennen. Auf den Vorgang wird Bezug genommen in der Vorlage für den Akademiepräsidenten Vahlen zur Gesamtsitzung der Akademie am 16.11.1939 (IIVIII,178). II-VIII,178. Über Hofmanns Weg zur Geschichte der Mathematik und seine frühen Arbeiten, die insbesondere durch Heinrich Wieleitner (1874-1931) beeinflusst wurden, siehe Scriba, Christoph J.: Geschichte der Mathematik im Spiegel der Zeit. Zugleich eine Würdigung des Schaffens von Joseph E. Hofmann, in: Joseph Ehrenfried Hofmann zum 70. Geburtstag, Gießen 1971, S. 2-24,
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aufgrund seiner Arbeiten zur Geschichte und zur Didaktik der Mathematik. Im Jahre 1938 brachte Bieberbach, der damals Dekan für Mathematik an der Berliner Universität war, Hofmann als Abteilungsleiter am Berliner „Institut für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften“ ins Gespräch, jedoch ließ sich dieser Plan nicht realisieren.30 Wenig später habilitierte sich Hofmann an der FriedrichWilhelms-Universität Berlin für das Fach „Geschichte der Mathematik“.31 In der Sitzung der mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse vom 20. Juli 1939 schlug Bieberbach vor, Hofmann für die Leibniz-Ausgabe zu verwenden. Im Protokoll heißt es:32 „Der Sekretar berichtet über die Schwierigkeiten der Leibniz-Ausgabe. Sie scheinen zu einem guten Teil auch darin zu liegen, dass in der Schriftleitung kein Mathematiker tätig ist. Der Sekretar schlägt vor, den Studienrat Dr. habil. Josef Hofmann in Nördlingen dem Herrn Minister zwecks Ernennung zum Wiss. Beamten in Vorschlag zu bringen und ihn der Leibnizausgabe zuzuteilen. Hofmanns Arbeiten zur Geschichte der Mathematik gelten dem Zeitraum vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert. Er arbeitet auch an der Cusanus-Ausgabe der Heidelberger Akademie mit. Er besitzt Übung im Lesen alter Handschriften und ist auch philosophisch geschult. Er bringt so alle Voraussetzungen mit, die ein nutzbringendes Arbeiten in der Leibnizausgabe erwarten lassen. Die Klasse beschliesst, einen entsprechenden Antrag an den Herrn Minister zu richten. Für Herrn Hofmann soll einstweilen die seit 6 Jahren unbesetzte hauptamtliche Mitgliedsstelle der mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse in Form der sogenannten Unterbesetzung verwendet werden.“
Dies geschah, und Hofmann wurde am 6. Oktober 1939 zunächst für sechs Monate der Leibniz-Kommission zugewiesen. Dabei bot Mahnkes Tod am 26. Juli 1939 ein zusätzliches Argument für diese Maßnahme.33
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insbes. S. 11-13; zu Hofmanns problemgeschichtlichem Ansatz ebd., S. 6-8. Eine Zusammenstellung der Würdigungen und Nachrufe auf Hofmann findet man in: Scriba, Christoph J. (Hg.): Joseph Ehrenfried Hofmann. Ausgewählte Schriften, Bd. 1, Hildesheim, Zürich, New York 1990, S. 38-40, seine Publikationen ebd., S. 5-37. Hofmanns Arbeiten zu Leibniz, die er in Zusammenarbeit mit Wieleitner veröffentlichte, haben die Nummern 31.01 und 31.03. Siehe Folkerts, Menso: Auf dem Wege zur Institutionalisierung der Geschichte der Naturwissenschaften in Berlin: Aktivitäten zwischen 1930 und 1945, in: Schürmann, Astrid u. Burghard Weiss (Hg.): Chemie – Kultur – Geschichte. Festschrift für Hans-Werner Schütt anlässlich seines 65. Geburtstages, Berlin, Diepholz 2002, S. 157-170, insbes. S. 160-166. Zu Hofmanns Habilitation siehe Folkerts (wie Anm. 30), S. 166 u. 169. Hofmann hatte im Juni 1938 den Habilitationsantrag gestellt und im Januar 1939 die Lehrbefähigung erhalten. Erst im November 1939 bewarb er sich um die Lehrbefugnis, die ihm am 2. Februar 1940 erteilt wurde. Siehe II-IV,85, Nr. 3. Zum Vorgang siehe Folkerts (wie Anm. 30), S. 167-169. Bieberbach hatte den Vorschlag am 22.7. an Scheel weitergegeben und dabei bemerkt, dass Hofmanns Mitarbeit an der CusanusAusgabe kein Hindernis sei (II-IV,85, Nr. 4). Am 14.8. bat Vahlen den Minister Rust, ihn zu ermächtigen, Hofmann sofort für die Leibniz-Ausgabe einzustellen, wobei es noch heißt, dass „die freie Stelle eines Wissenschaftlichen Beamten und Professors bei der Leibniz-Ausgabe unbedingt demnächst mit einem Historiker besetzt werden muss, dem die Gesamtleitung zu übertragen sein wird“ (II-IV,85, Nr. 5-6). Scheel hatte diesen Brief persönlich dem Ministerialrat Frey übergeben und ihn gebeten, die Sache zu beschleunigen (II-IV,85, Nr. 7). Der Minister ermächtigte am 28.9. den Präsidenten Vahlen, Hofmann „sofort einzuberufen und ihn für die Stelle eines wissenschaftlichen Beamten und Professors vorzusehen“ (II-IV,85, Nr. 9).
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Hofmanns erste Aktivität bestand darin, dem Direktor Scheel zwei Denkschriften zu präsentieren. Die erste mit dem Titel „Denkschrift über den gegenwärtigen Stand und die Weiterführung der Leibniz-Ausgabe“ war nur für den allerengsten Personenkreis bestimmt.34 Die andere „Denkschrift über die Herausgabe der mathematisch-naturwissenschaftlichen Werke Leibnizens“ wollte Hofmann auch dem „augenblicklichen Vorsitzenden der Leibniz-Kommission“ (also Hartmann) und dem „augenblicklichen Leiter der Leibniz-Ausgabe“ (also Ritter) übergeben; außerdem sollte Scheel diese Denkschrift C. Müller zukommen lassen. Offenbar wurden beide Denkschriften auch dem Ministerium übermittelt.35 Die erste Denkschrift,36 datiert 16. Oktober 1939, besteht aus einem Prüfungsbericht (S. 1-12) und Verbesserungsvorschlägen (S. 13-19). Der Prüfungsbericht stützt sich „auf die kurzen Andeutungen von Herrn Ritter und anderen bei der Ausgabe beschäftigten Personen“. Hofmann schreibt, Ritter habe sich gegen einen verfrühten Beginn der Ausgabe gesträubt, sei aber durch die Leibniz-Kommission gezwungen worden, sogleich an eine teilweise Edition heranzugehen. Der Beginn der Edition vor der Fertigstellung des Gesamtkatalogs sei eine bedenkliche Sache gewesen, ebenso wie die Planung der Ausgabe überhaupt. Die Hauptkritikpunkte sind: – – – – – –
das Zerreißen des Briefwechsels durch die Aufteilung in verschiedene Fachgebiete das ungleichmäßige Fortschreiten der Arbeit an den einzelnen Reihen die Tatsache, dass bisher nur Textbände erschienen sind und die Kommentarbände noch fehlen die Überlastung Ritters als Gesamtleiter, verbunden mit persönlichen Unzulänglichkeiten die dauernden persönlichen Auseinandersetzungen zwischen den Mitarbeitern der große Einfluss der Leibniz-Kommission, deren Mitglieder nicht genügend mit der Sache vertraut sind, auf die Arbeit der Leibniz-Ausgabe.
Scheel übertrug Hofmann am 4.10. „auftragsweise die Verwaltung einer freien Planstelle als Wissenschaftlicher Beamter und Professor auf die Dauer von zunächst sechs Monaten“ (IIIV,85, Nr. 10). Am 9.10. trat Hofmann seinen Dienst an (II-IV,85, Nr. 11 u. 14). 34 Hofmann schrieb an Scheel: „Insbesondere lege ich Wert darauf zu verhindern, daß der augenblickliche Leiter der Leibniz-Kommission sowie die augenblicklich bei der Ausgabe selbst beschäftigten Beamten und Angestellten von dem Vorhandensein und dem Inhalt dieser Denkschrift Kenntnis erhalten. Die Gründe für diese meine Bitte sind Ihnen bekannt, werden von Ihnen gebilligt und bedürfen daher keiner weiteren Erläuterung mehr. Nur das eine möchte ich noch hinzufügen, um Mißdeutungen unmöglich zu machen. Was ich Ihnen vorlege, vertrete ich auch männlich gegen jedermann. Ich bin kein Freund von Geheimberichten, die andere Leute schlecht machen. Wenn aber dieser Bericht in unberufene Hände gelangt, so ist die Gefahr gegeben, daß die Arbeitsfähigkeit in der Leibniz-Ausgabe noch weiter gehemmt werde und die ganze Angelegenheit in persönlichen Empfindlichkeiten, Streitereien usw. endet.“ (II-VIII,178, Brief vom 16.10.1939.) 35 Vahlen schreibt am 27.11.1939 an den Minister Rust: „Über die Neuplanung und Weiterführung der Arbeiten sind dem Sachbearbeiter, Herrn Ministerialrat Frey, in der Besprechung am 14. Oktober zwei Gutachten des Dr. Hofmann überreicht worden.“ (II-VIII,178 und IIIV,85, Nr. 27). 36 Ein Exemplar ist vorhanden in II-VIII,178.
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Ritters Verdienste um die Ausgabe werden anerkannt, aber er sollte aus Alters- und Gesundheitsgründen abgelöst werden. „Hochstetter ist hervorragend qualifiziert, anders als von Olshausen, der ausscheiden sollte. Bei Dülfer ist es wünschenswert, einen Entscheid darüber herbeizuführen, ob er ganz oder ob er garnicht zur LeibnizAusgabe gehören sollte. Der jetzige Zustand ist eine Halbheit, die auf die Dauer nicht getragen werden kann.“ Die übrigen Angestellten seien zur Fortführung des Betriebs unentbehrlich. Bei den Verbesserungsvorschlägen empfiehlt Hofmann, Ritter für die Fertigstellung des Leibniz-Katalogs einzusetzen. Die Kommentierung sollte bei den Reihen, in denen Bände erschienen sind, in separaten Bänden erfolgen; dies bedeutet, dass der von Kabitz bearbeitete Band VI.2, der sich schon im Druck befindet, in dieser Form nicht erscheinen kann, weil dieser Band auch die Kommentare zu den Bänden VI.1 und VI.2 enthält. Für die Weiterführung der Ausgabe sind „tiefgreifende, weitgehende und großzügige Entschlüsse“ notwendig: Die Leitung müsse jüngeren Händen anvertraut werden, und es müssten für die vier großen Fachgebiete (Geschichte, Politik, Philosophie und Mathematik) „vier im wesentlichen gleichberechtigte Herausgeber“ verantwortlich sein. Sie sollten „Männer in den besten Jahren sein, nicht unter 35, möglichst nicht über 50 und selbstverständlich alle habilitiert”; sie sollten in Berlin leben und angemessen besoldet sein. Nur einer von ihnen steht für Hofmann fest, nämlich Hochstetter für die Philosophie. Daneben muss es eine Zentrale geben, „die von einer mit dem Katalog wohl vertrauten Persönlichkeit (Fräulein Richter) besetzt werden muss“. Alle Fachfragen müssten in der Leibniz-Ausgabe erledigt werden; die Leibniz-Kommission sei für die Personalfragen und für die Vertretung gegenüber Ministerium und Akademie zuständig. Jeder Herausgeber solle das Recht haben, auf eigene Verantwortung zwei Hilfskräfte heranzuziehen. Hofmann geht dann noch ausführlicher auf technische Fragen ein. Er meint, „daß es möglich sein wird, auf dem angedeuteten Wege und unter sachkundiger, kräftiger aber niemals anmaßender Führung und bei treuer kameradschaftlicher Mitarbeit die Leibniz-Ausgabe tatsächlich in etwa 16 Jahren, d.h. im Jahre 1956 abzuschließen“. Hofmanns zweite Denkschrift 37 geht davon aus, dass Hofmann die Arbeit Mahnkes, also die Edition der mathematischen Korrespondenz, weiterführt, während C. Müller wie bisher für die mathematischen Schriften zuständig sein soll. Dabei muss eine „engste Zusammenarbeit der beiden Herausgeber“ erforderlich sein, schon deshalb, weil nicht immer klar ist, ob ein Einzelstück als Brief oder als Abhandlung bezeichnet werden muss. Diese Zusammenarbeit mit Müller ist nach Hofmanns Worten gewährleistet, wie eine Verabredung zeigt, die Hofmann mit Müller getroffen hat.38 Bei den Schriften stellt sich die Frage, wie man mit gleichartigen, aber unterschiedlichen und teilweise durch Fehler entstellten Entwürfen verfahren soll. „Man kann das großzügig machen und die mathematische Lesbarkeit als erstes Ziel im Auge behalten. Das ist Herrn Müllers nicht ungerechtfertigte 37 Sie umfasst acht Seiten. Ein Exemplar befindet sich in II-VIII,178. 38 Bei einem Besuch Hofmanns in Hannover am 13.10.1939. Die Ergebnisse dieser Abmachung sind der Denkschrift als Beilage hinzugefügt.
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Auffassung. In diesem Sinne wird die Beseitigung aller jener rein auf Fehlern beruhenden weiteren Rechnungen gefordert, die mathematisch keinen Wert mehr haben.“ Hofmann schlägt vor, „wenigstens Faksimiles der nicht berücksichtigten Stellen beizufügen“. Müller „beabsichtigt eine Ausgabe mit möglichst knappen sachlichen Anmerkungen und ist davon überzeugt, dass der verständige und interessierte Leser mit dem Text weitgehend selbst zurechtkommen und die alte Bezeichnungsweise unschwer durchschauen wird.“ Unter dieser Prämisse glaubt Müller, die mathematischen Schriften in vier Bänden unterbringen zu können;39 vom ersten Band ist ein Drittel in Vorbereitung. Anders als in den bisher erschienenen Bänden der Reihen I, II, IV und VI, in denen nur die Texte, nicht aber die Kommentare dazu, gedruckt wurden, ist es für die mathematischen Reihen III und VII eine „unumgängliche Notwendigkeit“, jedem Einzelstück einen Kommentar beizufügen, „denn die älteren mathematischen Texte müssen ja durch sachliche Anmerkungen für einen modernen Mathematiker lesbar gemacht werden. Wir legen Wert darauf, die Entwicklung des großen mathematischen Genies Leibniz nicht nur einem engsten Kreis von Spezialforschern zugänglich zu machen, sondern jedem, der über die nötigen sprachlichen und sachlichen Kenntnisse verfügt.“ Bei den Briefen müssen die „historisch-kritischen Gesichtspunkte“ im Vordergrund stehen. Einen genauen Zeitplan kann Hofmann noch nicht nennen. Er fordert, „daß mehr Sachbearbeiter als bisher eingesetzt werden und dass ein Weg gefunden wird, der ihnen ein enges Zusammenarbeiten in stetiger Fühlungnahme ermöglicht“. Daher sollen möglichst alle Sachbearbeiter in Berlin anwesend sein. Hofmann schätzt, dass die Ausgabe der mathematischen Briefe mit Kommentar rund 4000 Druckseiten, d.h. vermutlich sechs Bände, umfassen wird. Er hält es für möglich, dass alle zwei Jahre ein Band herauskommen kann und dass die beiden Reihen III und VII in etwa 16 Jahren abgeschlossen werden können. Die Denkschrift endet mit der Bemerkung, die Beschleunigung der Ausgabe sei eine „wichtige nationale Pflicht“, und mit dem Hinweis, dass in anderen Ländern entsprechende nationale Editionen schon viel weiter fortgeschritten seien.40 Wenig später, am 13. November 1939, drückte der Minister Rust, offenbar unter dem Eindruck der Denkschriften Hofmanns, in einem Brief an den Akademiepräsidenten Vahlen sein Befremden darüber aus, dass die Leibnizausgabe so langsam vorangehe. „Insbesondere sind die beiden für die Gegenwart besonders wichtigen Reihen der mathematischen, naturwissenschaftlichen und technischen Schriften und Briefe von G.W. Leibniz bisher überhaupt nicht in Angriff genommen worden. Ich halte daher die Leibnizkommission der Akademie in ihrer bisherigen Zusammensetzung für die Durchführung der großen monumentalen Aufgabe nicht für hinreichend geeignet und ersuche um ihre Auflösung.“ Der Präsident solle Vorschläge für die Neubildung der Leibnizkommission unterbreiten und „unter der gebotenen Berücksichtigung der Zeitumstände eine Denkschrift über 39 Band 1: bis 1676/77, Band 2: 1677-1688/90, Band 3: 1690-1705, Band 4: 1705-1716. 40 Frankreich: Descartes, Pascal, Fermat; Italien: Galilei, Torricelli; Holland: Huygens; Schweiz: Euler, Vorarbeiten zu den Bernoullis; „nur England hält sein Material über Gregory und Newton zurück“.
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Arbeitsplan und Weiterführung der Ausgabe“ vorlegen, wobei auf die mathematischen, naturwissenschaftlichen und technischen Schriften und Briefe besonderer Wert gelegt werden sollte.41 Nach den Vorgesprächen in der Akademieleitung und zwischen Akademie und Ministerium konnte jetzt schnell reagiert werden, so dass über die Pläne noch in der Plenarsitzung am 16. November abgestimmt werden konnte:42 Der Präsident erwähnte in der Sitzung zunächst, dass die ursprüngliche Absicht, Dülfer zum wissenschaftlichen Beamten zu ernennen, nicht realisiert werden konnte. Im Verlauf der Zeit hätten mehrmals Besprechungen mit dem Sachbearbeiter im Ministerium stattgefunden, und es sei schließlich mit Hofmann die Persönlichkeit gefunden worden, „die die wissenschaftlichen und fachlichen Voraussetzungen für die Leitung der Leibniz-Ausgabe erfüllte“.43 Aus Zeitgründen habe man vor der Sommerpause nur noch die mathematisch-naturwissenschaftliche Klasse informieren können, „die dem Antrag zugestimmt hat“. 44 Anschließend habe das Ministerium den Akademiepräsidenten ermächtigt, Hofmann „auftragsweise mit der Verwaltung der freien Planstelle eines wissenschaftlichen Beamten und Professors bei der Leibniz-Kommission zu betrauen“. Aufgrund des Erlasses des Ministers vom 13. Oktober habe Vahlen „die Leitung der Leibniz-Kommission selbst übernommen. Da ich es für zweckmässig halte, dass die Arbeit in zwei Gruppen geteilt wird, deren jede den Fachgebieten einer der beiden Klassen entspricht, habe ich in die Leibniz-Kommission zunächst die beiden Sekretare Bieberbach und Grapow berufen und diese mit der Leitung der beiden Gruppen beauftragt.“ Die beiden Sekretare hätten Vorschläge über weitere Kommissionsmitglieder gemacht: Bieberbach habe Hamel 45 und Kraft 46 vorgeschlagen, Grapow die Herren N. Hartmann und Emge47. Dieser Vorschlag wurde dem Plenum vorgelegt, das zustimmte. Somit gehörten – bis auf N. Hartmann, der erst unmittelbar vor der Plenarsitzung über seine geplante „Entmachtung“ informiert worden war – der Leibniz-Kommission nur noch Akademiemitglieder an, auf die die Akademieleitung zählen konnte. Am 17. November 1939 teilte Vahlen den Mitgliedern der Leibniz-Kommission und den Mitarbeitern der Leibniz-Ausgabe per Rundschreiben mit, dass er Hofmann „die Leitung der gesamten Arbeitsstelle der Leibniz-Kommission“ übertragen 41 Siehe II-VIII,178. 42 Die Tischvorlage für den Präsidenten (in II-VIII,178) informiert über die Details, während das Protokoll der Gesamtsitzung nur die Beschlüsse erwähnt. Scheel hat nach dem Krieg die Rolle Bieberbachs bei Hofmanns Berufung in die Leibniz-Ausgabe etwas anders dargestellt (Nachlass Hofmann, Brief an Hofmann vom 5.2.1949). 43 Dass Hofmann der Leiter der Ausgabe werden sollte, wird hier wohl erstmals erwähnt. 44 Die Zustimmung der Klasse in der Sitzung vom 20.7., Hofmann zum Wiss. Beamten zu ernennen, wird also so interpretiert, dass er die Leitung der Gesamtausgabe übernehmen soll. 45 Georg Hamel (1877-1954), Mathematiker, ordentliches Mitglied seit 3.11.1938. 46 Ernest Anton Kraft (1880-1962), Honorarprofessor für Maschinenbau, ordentliches Mitglied seit 1937. 47 Carl August Emge (1886-1970), Professor für Philosophie und Rechtsphilosophie, ordentliches Mitglied seit 1939.
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habe.48 Am 2. Februar 1940 erhielt Hofmann an der Berliner Universität die Lehrbefugnis für Geschichte der Mathematik, und nachdem er am 16. April 1940 zum „Wissenschaftlichen Beamten und Professor bei der Akademie der Wissenschaften in Berlin“ ernannt worden war,49 durfte er auch den Professorentitel führen. 3. DIE ARBEITEN AN DER LEIBNIZ-AUSGABE ZWISCHEN 1939 UND 1945 Unmittelbar nach seiner Berufung zum Leiter der Ausgabe formulierte Hofmann Pläne, um sie umzugestalten. Hofmann ging von fünf bis sechs hauptamtlichen Herausgebern und 12 bis 15 nebenamtlichen Mitarbeitern aus, die jedes einzelne zu edierende Stück für den Druck vorbereiten und kommentieren sollten; begonnen werden sollte mit den datierten oder datierbaren Stücken und mit den mathematischen Texten. Die Stücke sollten in vier Hauptgruppen abgelegt werden. Die Zusammenfügung zu einem Band sollte erst am Schluss erfolgen. Für jeden Band waren anfangs drei, später zwei bis zweieinhalb Jahre vorgesehen. Zuvor jedoch sollte in mehreren Gruppen der Katalog vollständig fertiggestellt werden; hierzu seien ein bis anderthalb Jahre erforderlich.50 Bei den Mitarbeitern sollte es gravierende Änderungen geben: 51 Nur Hochstetter, von Düring, Richter und Möring sollten bei der Ausgabe verbleiben; von Olshausen sollte „zum nächstmöglichen Termin“ ausscheiden, Dülfer spätestens zum 1. April 1940. Hofmann wollte die Vollmacht erhalten, die Herausgeberverträge mit Kabitz und C. Müller neu zu regeln, und im Falle von Kabitz auch das Recht, das Mitarbeiterverhältnis zu lösen. Neu in die Ausgabe eintreten sollten Hofmanns Frau Josepha (1912-1986)52 und der Romanist Gerhard Heß (1907-1983)53, der die Zentrale aufbauen und später führen sollte. Erforderlich seien auch zusätzliche Räume.54 Durch die neue Kommission und die „Einsetzung eines alleinverantwortlichen Leiters“ sei eine neue rechtliche Lage geschaffen, die es erfordere, die bisherigen Verträge mit Hochstetter, Kabitz und Müller „in angemessenere“ abzuändern. Insbesondere könne der von Kabitz erstellte und schon ausgedruckte Band VI.2 in dieser Form nicht erscheinen, da in diesen Band physikalische und mathematische Gegenstände gekommen seien, die in andere Reihen gehörten.55 48 Exemplare des Rundschreibens in II-IV,85, Nr. 22, und in II-VIII,178. 49 Schreiben des Ministers an Hofmann vom 22.4.1940 (II-IV,85). 50 „Vorläufige Vorschläge zur Umgestaltung der Leibniz-Ausgabe“ vom 22.11.1939 (IIVIII,178 und HA LA, Nr. 71). 51 „Uebersicht über die Fortführung der Arbeiten in der Leibniz-Ausgabe in den nächsten Wochen“, 24.11.1939 (in II-VIII,178 und in HA LA, Nr. 71). 52 Sie sollte gemeinsam mit ihrem Mann mathematische Stücke bearbeiten. 53 Heß wurde 1946 außerplanmäßiger und 1948 ordentlicher Professor für Romanische Philologie in Heidelberg. 54 Die Ausgabe war in drei Zimmern und einem Verschlag untergebracht. 55 Seine Kritikpunkte an Band VI.2 (und ebenfalls an dem schon begonnenen Band VI.3) formulierte Hofmann explizit in einer „Denkschrift“, die er am 13.12.1939 dem Akademiepräsidenten Vahlen zukommen ließ (II-VIII,178).
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Ritter war mit Hofmanns neuen Plänen durchaus nicht einverstanden. Bevor er am 8. Dezember alle Leibniz-Materialien an Hofmann übergab, ging er ausführlich auf Hofmanns Denkschrift zur Herausgabe der mathematisch-naturwissenschaftlichen Werke vom Oktober ein und zeigte im Einzelnen auf, dass Hofmanns Pläne nicht angemessen seien und nicht in der vorgesehenen Zeit durchgeführt werden könnten;56 diese kritischen Bemerkungen schickte er zusammen mit einem Fazit über die Leibniz-Ausgabe57 an den Präsidenten Vahlen. Ritters Kritik veranlasste ihrerseits Hofmann zu einer abschließenden Erwiderung.58 Die Pläne, die Hofmann in seinen Denkschriften formuliert hatte, ließen sich allerdings nicht realisieren. Ein wesentlicher Grund war, dass die zusätzlichen Personalstellen für den Ausbau der Abteilungen nicht eingerichtet wurden. Neu eingestellt wurden Heß, der in der Folgezeit die Katalogarbeit betreute und in der „Zentrale“ tätig war, und einige weitere Personen, die allerdings zumeist nur eine kürzere Zeit aktiv waren.59 Langjährige Mitarbeiter verließen die Ausgabe: Dülfer schied auf eigenen Wunsch Ende November 1939 aus, 60 von Olshausen Ende März 194161 und Richter zum Jahresende 1942/43.62 Wegen des von Kabitz bearbeiteten Bandes VI.2 gab es heftige Auseinandersetzungen, die schließlich dazu führten, dass der schon gedruckte Band nicht ausgeliefert wurde und Kabitz 1942 die Ausgabe verließ.63 Hochstetter wurde zum Militär eingezogen und stand daher für die Ausgabe nicht mehr zur Verfügung. Kurt Müller musste Ende September 1939 ausscheiden, weil die Forschungsgemeinschaft, die ihn bis dahin finanziert hatte, die Zahlungen einstellte; er ging als Lektor für deutsche Sprache und Literatur
56 „Bemerkungen zu der Denkschrift des Herrn Dr. habil. J.E. Hofmann – Nördlingen ‚Über die Herausgabe der mathematisch-naturwissenschaftlichen Werke Leibnizens‘“, 10 S., 7.12.1939 (in II-VIII,178). 57 „Gedanken zur Geschichte der Leibniz-Ausgabe 1901-1939“, 8 S. (in II-VIII,178 und in HA LA, Nr. 4, Bl. 6-13). 58 „Abschließendes zu den ‚Bemerkungen‘ von Professor Ritter zu Hofmann, Denkschrift über die Herausgabe der mathematisch-naturwissenschaftlichen Werke Leibnizens“, 3 S., 16.12. 1939 (in II-VIII,178 und in HA LA, Nr. 4, Bl. 17-19). 59 Auf Empfehlung von Scheel wurden Ottokar Menzel und seine Ehefrau Hildegund 1940 eingestellt. O. Menzel (1912-1945) hatte 1936 mit einer historischen Arbeit promoviert und war für die historischen Arbeiten vorgesehen, wurde aber schon 1941 eingezogen. Die Mathematikerin H. Menzel hatte 1937 mit einer philosophischen Arbeit zu Nikolaus von Kues promoviert und sollte bei den mathematischen Briefen mitarbeiten, aber sie kündigte ihren Honorarvertrag zum 31.3.1942 (siehe Leibniz-Ausgabe [in Zukunft: LA], Nr. 776). Von Anfang 1940 bis Mitte 1943 war Maria Dieckhoff als Bibliothekarin tätig (siehe LA, Nr. 785). Hofmanns Frau Josepha erhielt vom 1.1.1940 bis zum 31.3.1944 Honorarverträge, um ihren Mann bei der Arbeit zu unterstützen (siehe II-IV,86, Vertrag vom 16.1.1940). 60 Schreiben an Hofmann (HA LA, Nr. 71). 61 LA, Nr. 779. 62 HA LA, Nr. 72. 63 Die Details findet man in II-VIII,187. Kurz nachdem Kabitz seine Materialien an die Arbeitsstelle zurückgegeben hatte, starb er am 23.7.1942 in Münster.
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an die Universität Amsterdam, blieb aber der Leibniz-Ausgabe verbunden. 64 Conrad Müller konnte in Hannover trotz seiner Zusagen den ersten Band der Reihe VII (Mathematische Schriften) nicht abschließen; zu der von Hofmann gewünschten engeren Zusammenarbeit zwischen C. Müller und Hofmann, der den mathematischen Briefwechsel (Reihe III) bearbeitete, kam es schon wegen der räumlichen Entfernung nicht.65 Schon im März 1941 erkannte Hofmann, dass die vorgesehene Planung der Ausgabe nicht einzuhalten war. Er schrieb:66 „Unter Beibehaltung der schon erschienenen 6 Bände lässt sich die bisherige Leibniz-Ausgabe nicht mehr fortsetzen. Die ganze Ausgabe muss unter Beseitigung der schwerwiegenden Mängel der bisherigen Gesamtplanung neu begonnen werden, wobei sich die bisher gesammelten Materialien nutzbringend mitverwerten lassen. Erste und wichtigste Massnahme muss die Hereinholung des nachgewiesenen, aber noch nicht sichergestellten Materials in Photokopien sein, ferner die möglichst lückenlose Erfassung der noch nicht nachgewiesenen Materialien aufgrund eingehender archivalischer Studien und Reisen, schliesslich die Ergänzung und Berichtigung des Editions-Katalogs. Erst nach Abschluss dieser unerlässlichen Vorarbeiten, für die ausreichende Mittel, hinreichend viele erfahrene Mitarbeiter und hinlänglich viel Zeit zugestanden werden müssen, kann an die eigentliche Edition herangegangen und die Ausgabe wirklich erfolgreich durchgeführt werden.“
Unter Hinweis auf die personelle Situation erwähnte Hofmann im Juli 1941 bei den Editionen nur noch die mathematischen Briefe aus der Pariser Zeit (16721676), an deren Edition er und seine Frau arbeiteten; diese sollten „die Unterlagen für die von Seiten der Akademie vorgesehene Veröffentlichung zum Jahre 1946 geben. Als solche schlage ich eine von mir zu gebende umfassende Darstellung der mathematischen Entwicklung Leibnizens während seiner Pariser Zeit (16721676) vor. [...] Die übrigen Teile der Edition können im Augenblick nicht weitergeführt werden, da es an den dazu nötigen fachkundigen Hilfskräften fehlt und jede freie Minute auf die Herbeischaffung der noch nicht bei uns liegenden Editionsmaterialien verwendet werden muss.”67 Hofmanns Vorschlag, die Editionstätigkeit
64 Zu K. Müllers Arbeiten an der Leibniz-Ausgabe siehe insbesondere den ausführlichen Nachruf von Albert Heinekamp: Kurt Müller. * 14. Mai 1907, † 27. November 1983, in: Studia Leibnitiana 16, 1984, S. 129-142. 65 Bei einem Besuch Hofmanns in Hannover kurz nach seinem Dienstantritt hatte C. Müller sich „voll und ganz auf den Boden der Denkschrift Hofmann“ gestellt; er hatte sich bereit erklärt, die von ihm bearbeiteten Stücke Hofmann zur Verfügung zu stellen, und betont, dass „auch ihm eine beschleunigte Bearbeitung der Leibnitiana sehr am Herzen liegt“ (Bericht Hofmanns über seine Dienstreise nach Hannover, 14./15.12.1939, in II-VIII,178). Die Akten der Leibniz-Ausgabe im Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften zeigen jedoch, dass trotz zahlreicher Besuche Hofmanns in Hannover, gelegentlicher Gegenbesuche von C. Müller und vieler Briefe von einem Austausch der Ergebnisse kaum die Rede sein kann. Im Juni 1942 schrieb C. Müller sogar explizit, dass er Bedenken habe, sein Material Hofmann zur Verfügung zu stellen (II-VIII,188). 66 „Bericht über den gegenwärtigen Stand und die geplante Weiterführung der Leibniz-Ausgabe“ vom 18.3.1941 (II-VIII,188). 67 „Bericht über die Arbeiten in der Leibniz-Ausgabe“ vom 23.7.1941 (in II-VIII,188, LA 751 und HA LA, Nr. 74).
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im Wesentlichen auf die mathematischen Bände zu reduzieren, wurde letztlich von der Leibniz-Kommission akzeptiert.68 So wurde schon seit 1941 an der Edition selbst – mit Ausnahme von Band III,1 – kaum noch gearbeitet. Stattdessen trat schon ab 1940 die Erfassung und Katalogisierung von Leibniz-Handschriften und Briefen, die sich außerhalb von Hannover befanden, in den Vordergrund. Besonders intensiv wurden die Möglichkeiten genutzt, in den von der deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten nach Leibnitiana zu suchen und sie zu kopieren. In Krakau und Warschau wurde gezielt gesucht,69 und eine Handschrift mit Leibnizbriefen wurde aus der Warschauer Nationalbibliothek für längere Zeit an die Leibniz-Ausgabe ausgeliehen.70 Besonders intensiv wurde in Frankreich nachgeforscht. Im November 1940 nahm Hofmann mit dem Archivdirektor Georg Schnath (1898-1989) aus Hannover Kontakt auf, der sich im deutschen Verwaltungsstab im besetzten Paris aufhielt und für die Archive zuständig war, und bat ihn um Unterstützung bei der Suche nach LeibnizStücken in französischen Archiven. Hofmann selbst begab sich zu diesem Zweck zweimal nach Paris. Auf der ersten Reise (vom 25.11. bis 17.12.1940) untersuchte er das Material in der Bibliothèque Nationale und im Observatoire; er kam mit rund 700 Blatt Kopien nach Berlin zurück. Eine zweite Reise (vom 20.1. bis 28.2.1941) führte Hofmann nicht nur nach Paris, wo er nach Leibnitiana in anderen Archiven suchte, sondern zuvor nach Brüssel; dort informierte er sich über Leibniz- und Cusanus-Handschriften in belgischen Bibliotheken.71 In den Niederlanden suchte Kurt Müller, der sich seit August 1941 in Amsterdam aufhielt, nach Leibnizstücken.72 Hofmann hatte schon bei seinem Diensteintritt mit dem Direktor der „Vormals Königlichen und Provinzialbibliothek“ in Hannover (später: Niedersächsische Landesbibliothek), Otto Heinrich May (1887-1977), eine Verabredung getroffen, dass Leibniz-Faszikel, die in Berlin benötigt wurden, dorthin ausgeliehen wurden.73 Dies geschah bis Anfang 1943, als die Gefahr durch Luftangriffe auf
68 Als Hofmann auf der Sitzung der Leibniz-Kommission am 16.4.1942 vorschlug, den bisherigen Editionsplan abzuändern und zunächst nur die mathematisch-naturwissenschaftlichen Briefe der Jahre 1672-1676 zu bearbeiten sowie eine Monographie über Leibniz’ mathematische Studien in dieser Zeit vorzulegen, stimmte die Kommission „nach eingehender Diskussion“ zwar „mehrheitlich“ zu (siehe II-VIII,179). In der Sitzung am 6.7.1944 verlangten aber der Präsident (Grapow) und die meisten Kommissionsmitglieder von Hofmann, sich „mehr als bisher den wirklichen Editionsaufgaben“ zu widmen; nur Bieberbach räumte ihm das Recht ein, „gewisse Probleme vorher in Darstellungen zu erörtern“ (II-VIII,183). 69 Siehe LA 851 (Oktober 1940). 70 Von Juni 1940 bis Dezember 1941 (II-VIII,178). 71 Zu den Einzelheiten siehe die Archivalien in LA 771 und II-VIII,189. Hofmanns Tätigkeitsbericht über die erste Reise befindet sich in LA 771, LA 851 und II-VIII,189, der über die zweite Reise in HA LA, Nr. 74, und II-VIII,189. 72 Die Details sind in LA 771, LA 851, HA LA 60 und in II-VIII,179 festgehalten. 73 Hierzu siehe Hofmanns Bericht über seine Dienstreise nach Hannover am 14./15.12.1939 (IIVIII,178 und LA 771).
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Berlin so groß wurde, dass von weiteren Transporten abgesehen wurde.74 Schon im August 1941 wurde damit begonnen, die wichtigsten Dokumente an einen luftgeschützten Ort (Spreeau südöstlich von Berlin) zu überführen. 75 Im Juli und August 1943 wurden fast alle Materialien nach Spreeau ausgelagert, so dass in der Folgezeit die wissenschaftliche Arbeit an der Leibniz-Ausgabe weitgehend zum Erliegen kam.76 Am 22. November 1943 fiel das Haus, in dem Hofmann wohnte, einem Bombenangriff zum Opfer, und dadurch verbrannten auch Hofmanns große Privatbibliothek und alle seine Aufzeichnungen.77 Nachdem durch die Bombardierungen eine Weiterarbeit an der Leibniz-Ausgabe in Berlin kaum noch möglich war, gab es im Jahr 1944 Überlegungen, an einem anderen Ort die Arbeit weiterzuführen, ohne dass dies realisiert wurde.78 Die Verhandlungen liefen über Grapow, der nach Vahlens Ausscheiden die Leitung der Leibniz-Kommission übernommen hatte. Hofmann und seine Frau gingen im Februar 1945 mit Genehmigung der Akademieleitung in ihre Heimat nach Ichenhausen (Schwaben) zurück, um dort auf der Basis der in den Arbeitsräumen in der Akademie lagernden Materialien den Band III.1 der Leibniz-Ausgabe weiterzuführen; Hofmann äußerte die Hoffnung, den Band „ausgedruckt bis zur LeibnizFeier am 1. Juli 1946 fertigstellen zu können“.79 Die noch in Spreeau verbliebenen Materialien für die Leibniz-Ausgabe wurden in ein Salzbergwerk bei Schönebeck (Elbe) gebracht und überstanden dort das Kriegsende.80
74 Die Ausleihe erfolgte vom 20.6.1940 bis zum 16.1.1943. Zu den Einzelheiten siehe die Korrespondenz mit May in HA LA, Nr. 55. 75 Instruktion vom 2.8.1941 (II-IV,85). Berichte über den Transport und die Inspektion der nach Spreeau verbrachten Materialien in HA LA, Nr. 7, und in II-VIII,188. 76 Zu den Details siehe LA 892. 77 In einem Brief an Schnath vom 15.12.1943 schreibt Hofmann (LA 892): „Im Augenblick weiß ich nicht mehr, ob ich Ihnen eine Nachricht ‚schuldig‘ wäre oder Sie mir, und muß Ihnen heute leider schreiben, daß das, was kommen mußte, kam: am 22.XI. habe ich Heim und Habe, die lieben alten Möbel aus Urgroßvaters Besitz, meine ganze Bibliothek ohne Ausnahme, meine ganzen Aufzeichnungen, die Früchte von 20 Jahren Arbeit verloren. Vielleicht ist es Ihnen in Hannover schon ähnlich ergangen. Ich klage nicht um das Zugrundegegangene: Besitz ist höchstens Aufgabe, und wenn es dem Herrn gefallen hat, ihn so wie hier in knapp 15 Minuten in einer Flamme, die ich nicht einmal anders als großartig und reinigend empfinden kann, wegzunehmen, so bleibt uns nichts übrig, als ihm demütig zu danken für die Gnade, daß er unser Leben noch so gütig geschont und uns die Kraft des Gemütes nicht geraubt hat; denn auch dies wäre ja leicht in seiner Hand gewesen.“ 78 Ins Auge gefasst wurden: Ichenhausen bei Günzburg, wo Hofmanns Schwiegereltern wohnten; ein Kloster im Taunus, das von einem Industriellen, der sich für die Mathematikgeschichte interessierte (Dr. Anderhub), empfohlen worden war; Ausweichräume in Heidelberg, die der dortige Mathematiker Udo Wegner angeboten hatte (siehe LA 771). 79 Schreiben an Grapow und Bieberbach vom 19.3.1945 (LA 771 und II-VIII,183). Das Manuskript umfasste damals 470 Schreibmaschinenseiten. 80 Allerdings verschwanden nach Kriegsende Hunderte von Leibniz-Handschriften, von denen einige kürzlich wieder aufgetaucht sind.
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4. DIE BEARBEITUNG DER MATHEMATISCHNATURWISSENSCHAFTLICHEN SCHRIFTEN NACH 1945 Schon bald nach dem Zusammenbruch gab es Bemühungen, das Fortbestehen der Berliner Akademie der Wissenschaften zu sichern und die nötigen Voraussetzungen für die Weiterarbeit zu schaffen.81 Am 21. Juni 1945 wurde der klassische Philologe Johannes Stroux (1886-1954) mit der Wahrnehmung der Funktion des Präsidenten beauftragt und in dieser Funktion bestätigt, als am 1. Juli 1946 die Akademie – jetzt unter dem Namen „Deutsche Akademie der Wissenschaften“ – offiziell wiedereröffnet wurde. Gleich am ersten Tag seiner Amtszeit teilte Stroux in einem Brief an Hofmann dessen Entlassung aus seiner Stellung bei der Akademie mit. 82 Hofmann widersprach der Kündigung, aber die Akademie reagierte nicht auf seinen Einspruch.83 Da Leibniz als Gründungsvater für die Berliner Akademie eine besondere Rolle spielte, verwundert es nicht, dass die Leibniz-Kommission bald nach der Wiedereröffnung reaktiviert wurde. Nicolai Hartmann wurde zum Leiter der Leibniz-Kommission bestimmt, ohne dass er zuvor gefragt worden war. Hartmann machte in einem Brief an Stroux seinem Ärger Luft,84 nahm aber das Amt letztlich doch an.85 Von den bisherigen Mitarbeitern standen in Berlin zunächst nur noch Liselotte Richter und Karla von Düring zur Verfügung. Kurt Müller trat im November 1946 nach seiner Rückkehr nach Berlin als wissenschaftlicher Mitarbeiter ein.86 Er übernahm es, das ausgelagerte Material, das inzwischen zurückgekommen war, neu zu ordnen und wieder benutzbar zu machen.87 Müller, der wenig später Leiter 81 Siehe Grau (wie Anm. 9), S. 248-255. 82 Brief vom 1.7.1946 (Bestand Akademieleitung, Kommissionen [im folgenden: BAK] 187). 83 Zum Sachverhalt siehe den Bericht K. Müllers an den damaligen Vorsitzenden der LeibnizKommission, den Historiker Fritz Hartung (1883-1967), vom 26.11.1956 (in LA 750). Hofmann hat zeitlebens bestritten, dass die Kündigung formal korrekt war. 84 Er schrieb am 10.9.1945: „Es wäre vielleicht besser gewesen, damit zu warten, bis ich mich dazu hätte äußern können, denn nach der gewaltsamen Absetzung, die ich im Herbst 1938 erfuhr, ist es nicht so selbstverständlich, daß ich mich jetzt, nachdem die von mir eingeführte Arbeitsordnung über den Haufen geworfen und die Arbeit selbst gründlich auf Abwege geraten ist, wieder auf den gleichen Posten stellen lasse. Ich habe das der Akademie – d.h. den Mitgliedern der Klasse, die zugegen waren, – gesagt und zugleich erklärt, daß ich nur provisorisch die Leitung übernehmen könnte, mir aber eine spätere Entscheidung vorbehalten müßte.“ (IIVIII,179.) 85 Hartmann stellte zur Bedingung, dass Hofmann nicht wieder die Leitung der Ausgabe erhielt. Außer Hartmann gehörten der im September 1945 neu formierten Kommission an: E. Spranger, der klassische Philologe Wolfgang Schadewaldt (1900-1974), der Historiker Fritz Hartung (1883-1967) und die Mathematiker Erhard Schmidt und Georg Hamel (siehe IIVIII,179). Nachdem Hartmann nach Göttingen gegangen war, wurde die Kommission umgebildet; am 13.2.1948 schlug Stroux folgende Mitglieder vor: E. Schmidt, Schadewaldt, Hartung, Hamel, den Mathematiker Hermann Ludwig Schmid (1908-1956), Hartmann (jetzt Göttingen) und Spranger (jetzt Tübingen) (siehe LA 751). 86 Jahresbericht 1945/47 (in LA 793). 87 Zur Situation der Leibnizausgabe nach 1945 siehe Müller (wie Anm. 1), S. 412f.
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der Berliner Forschungsstelle wurde, stellte die Editionsarbeiten an den Reihen I und IV auf eine neue Basis; unter seiner Ägide erschienen mehrere Bände der Reihe I (Allgemeiner politischer und historischer Briefwechsel).88 In einer Besprechung beim Präsidenten Stroux im Februar 1948 sprachen sich die Anwesenden dafür aus, bei Hofmann anzufragen, ob er bereit sei, als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Professor bei der Akademie in Berlin seine Tätigkeit wieder aufzunehmen; dabei solle er nicht als Leiter der Arbeiten mitwirken, sondern ihm solle der mathematische Briefwechsel als geschlossenes Arbeitsgebiet übertragen werden. 89 Hofmann erklärte zwar sein grundsätzliches Interesse. Er war aber nicht bereit, nach Berlin zu kommen, sondern nur, sich in Süddeutschland mit dem Vorsitzenden oder einem Bevollmächtigten zu treffen und diesem „Auskunft über meine sich dienstlich auf die Leibniz-Ausgabe beziehenden Arbeiten und meine weiteren diesbezüglichen Pläne“ zu geben.90 Zu einem solchen Treffen kam es nicht. Die Fronten waren verhärtet, so dass Hofmann, der seit 1945 in Ichenhausen lebte und hauptamtlich am Gymnasium Günzburg unterrichtete, das Manuskript seines Leibnizbandes in Ichenhausen behielt. Er stand aber mit K. Müller in regelmäßigem Kontakt, so dass er über die Situation der LeibnizAusgabe in Berlin informiert war.91 Die Bearbeitung der Reihe VII (Mathematische, naturwissenschaftliche und technische Schriften) lag weiterhin in den Händen von Conrad Müller (Hannover), jedoch erschien bis zu C. Müllers Tod im Januar 1953 kein Band. C. Müller hinterließ ein Manuskript von 1184 Seiten Umfang, das seine Witwe an die Niedersächsische Landesbibliothek in Hannover gab. Da es im Wesentlichen aus Transkriptionen bestand und keine Kommentare enthielt, war es für die Herausgabe nur bedingt geeignet.92 C. Müller hatte sich nur mit den mathematischen, nicht aber mit den naturwissenschaftlichen Schriften von Leibniz beschäftigt. Für diesen Band gab es noch keine Vorarbeiten. Eine Chance, hierfür einen Bearbeiter zu finden, bot sich nach 1949. In diesem Jahr trat der in Basel lebende Astronom und Wissenschaftshistoriker Joachim Otto Fleckenstein (1914-1980)93 mit K. Müller in Kontakt. Fleckenstein regte an, die Leibnizausgabe zu internationalisieren, und bot sich als Vermittler an, um die Académie des Sciences in Paris für eine Wiederbeteiligung an der Ausgabe zu gewinnen. Dieser Vorschlag stieß bei Stroux auf großes Interesse.94 Fleckenstein erhielt den Auftrag, den Pariser Akademien mitzuteilen, „daß 88 Siehe Heinekamp (wie Anm. 64), vor allem S. 136-142. 89 Anwesend waren: Stroux, E. Schmidt, K. Müller, der Mathematiker Josef Naas (1906-1993) und Dr. Kohl (siehe BAK 267). 90 Brief an K. Müller vom 2.11.1948 (LA 771). 91 Zu Einzelheiten siehe die diesbezüglichen Dokumente in LA 771 und BAK 267. 92 Zu C. Müllers Arbeiten an Reihe VII und dem Schicksal des von ihm bearbeiteten Manuskripts siehe vor allem LA 778. 93 Fleckenstein war seit 1947 Privatdozent für Astronomie und Geschichte der mathematischen Wissenschaften an der Universität Basel und erhielt 1963 den Lehrstuhl für Geschichte der exakten Wissenschaften und der Technik an der TH München. 94 Einzelheiten in LA 883.
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die Deutsche Akademie in Berlin bereit ist, über eine Zusammenarbeit bei einer gemeinsamen Leibniz-Ausgabe Verhandlungen zu führen“. Dabei machte Fleckenstein „die Zusage, daß von franz. Seite für zwei junge Wissenschaftler Geld zur Verfügung gestellt werden kann, um Katalogisierungsarbeiten für die LeibnizAusgabe in Hannover durchzuführen. Dafür soll eine Arbeitsstelle möglichst an Ort und Stelle eingerichtet werden. Herr Fl. will sich auf eigene Kosten (?) an der Arbeit beteiligen. Über die Höhe der Geldsumme liegt keine Angabe vor.“95 Dieser Plan verlief offenbar im Sande. Als nach C. Müllers Tod die Berliner Akademie im April 1954 über die Wiederaufnahme der Arbeiten an den mathematischnaturwissenschaftlichen Reihen beriet, berichtete K. Müller, Fleckenstein bemühe sich um eine akademische Lehrtätigkeit in West-Berlin und sei bereit, selbst an der Leibniz-Ausgabe mitzuarbeiten. Dies stieß auf Zustimmung. Fleckenstein sollte offenbar als Nachfolger von C. Müller die naturwissenschaftlichen Schriften, speziell die Dynamica, bearbeiten. 96 Im Juli 1958 wurde ein Werkvertrag mit Fleckenstein abgeschlossen mit dem Auftrag, sämtliche Abhandlungen und Aufzeichnungen von Leibniz zur Physik und Mechanik kritisch zu bearbeiten.97 Aber auch dieses Projekt kam nicht zum Abschluss, wie K. Müller im November 1962 mitteilen musste.98 Bis 1955 wurde die Leibniz-Ausgabe zentral von Berlin aus geleitet. Eine neue Situation ergab sich 1956, als an der Universität Münster eine Leibniz-Forschungsstelle eingerichtet wurde, die Erich Hochstetter leitete. An ihr sollten die philosophischen Reihen bearbeitet werden. 99 In diesem Zusammenhang wurde erörtert, „wie Herr Josef E. Hofmann mit der Akademie versöhnt werden kann“, um zu erreichen, dass Hofmann wieder an der Ausgabe mitarbeite und der Band III.1 erscheinen könne. 100 Auf Antrag der Klasse für Mathematik, Physik und Technik wurde Hofmann 1957 zum korrespondierenden Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin gewählt.101 Als Hofmann im März 1957 an der von der Berliner Akademie organisierten Euler-Tagung teilnahm, stellte er 95 LA 749, Anfang Januar 1950. 96 Sitzung der Leibniz-Kommission am 15.4.1954 (LA 751). Auf einem Zettel, der dem Protokoll beiliegt, heißt es: „2. Math-naturwiss. Reihe. Einstellung Dr. Fleckensteins als Nachfolger von Konrad Müller, zunächst Dynamica, gleichzeitig Dozent an der T.U. Beurlaubung in Basel. Anstellung mit Tarif E XIII, Lohnumtausch oder Honorierter Forschungsauftrag. Abgrenzung gegen das Arbeitsgebiet Hofmann math. Briefwechsel. Wiederaufnahme der Arbeit Hofmanns durch Einschaltung einer westdt. Akademie“. 97 Vertragsentwurf vom 23.7.1958 (LA 766). 98 Müller schrieb der Akademieleitung am 19.11.1962: „Der genannte Vertrag ist hinfällig geworden. Eine nähere Mitteilung darüber erhalten Sie vom Referenten der Klasse für Philosophie, Geschichte, Staats-, Rechts- und Wirtschaftswissenschaften.“ (LA 766). 99 Details zu den Absprachen zwischen der Berliner Leibniz-Kommission und dem „LeibnizInstitut für Geschichte der neueren Philosophie an der Universität Münster“ in LA 750. 100 Siehe den Brief K. Müllers an E. Schmidt vom 8.12.1956 (LA 771). 101 Der Antrag vom 6.3.1957 wurde unterschrieben von K. Schröder, Erhard Schmidt, E. Kähler, E. Hölder, H. Ertel. Die Laudatio verfassten Kähler und Schmidt; ein auswärtiges Gutachten wurde von dem Basler Mathematiker O. Spiess eingeholt. Die Wahl erfolgte am 4.4.1957 (BAK 187).
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in Aussicht, den Band III.1 bald abzuschließen, aber trotz einer gewissen Annäherung kam es auch in den Jahren 1958-1960 nicht zu einer vertraglichen Regelung zwischen Hofmann und der Akademie.102 Im Jahre 1959 schlug Hochstetter vor, die Herausgabe der Mathematica, also der Reihen III und VII, der Forschungsstelle in Münster zu übertragen.103 Dies geschah zum Jahresanfang 1962.104 Hofmann war mit dieser Regelung zunächst einverstanden, später kam es jedoch zu Spannungen, so dass ein Vertrag zwischen Hofmann und der Forschungsstelle in Münster nicht zustande kam.105 Die Situation entspannte sich etwas, als Hofmann sich Anfang 1967 bereit erklärte, mit der Deutschen Akademie der Wissenschaften einen Vertrag abzuschließen, der die Ablieferung des satzfertigen Manuskriptes bis Ende 1968 vorsah.106 Doch auch dieser Plan wurde nicht realisiert, weil zum Juni 1969 die Leibniz-Kommission und die Berliner Arbeitsstelle aufgelöst wurden. Die Ursache war die politische Situation in Deutschland und Europa, die den Kontakt zwischen Wissenschaftlern aus West und Ost sehr erschwerte.107 Nach dem Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 konnte Kurt Müller, der in West-Berlin wohnte, seine Arbeit als Leiter der Leibniz-Forschungsstelle der Berliner Akademie nicht mehr fortsetzen. 108 Dies führte zu einer weiteren Dezentralisierung der Ausgabe: Müller wandte sich an das Niedersächsische Wissenschaftsministerium in Hannover, das für die Einrichtung einer neuen Arbeitsstelle sehr aufgeschlossen war. In Absprache mit dem Ministerium erreichte Wilhelm Totok, der 1962 zum Direktor der Niedersächsischen Landesbibliothek in Hannover ernannt worden war, dass an der Landesbibliothek 1962 das LeibnizArchiv und 1964 die Leibniz-Forschungsbibliothek eingerichtet wurden und dass die Arbeitsstelle im Laufe weniger Jahre immer wieder aufgestockt werden konnte. In der Folgezeit entstand in Hannover, also an dem Ort, wo Leibniz gewirkt hatte und wo sein Nachlass liegt, unter K. Müllers Leitung109 eine Arbeitsstelle, an der unter günstigen wissenschaftlichen Bedingungen und auch mit einer wachsenden 102 Hofmann verwies auf die Unmöglichkeit, neben seiner Schultätigkeit und ohne jede Unterstützung den Band zu Ende zu bringen; zu den Einzelheiten siehe LA 771. Auch ein Brief des Akademiepräsidenten Werner Hartke im Januar 1960 änderte nichts an der Situation (BAK 267). 103 Siehe LA 859 und LA 749. 104 Ab 1.1.1962 war die Forschungsstelle in Münster für die Reihen I, III, V und VII verantwortlich. Eine Ausfertigung des Vertrags befindet sich in BAK 267. 105 Hochstetter hat seine Sicht der Dinge in seinem Bericht zur Geschichte der Leibniz-Ausgabe dargestellt (wie Anm. 1, hier S. 655-658). Zu den Diskussionen in der Akademie siehe LA 860 und BAK 267. Die Berliner Akademie hatte 1964 das dort vorhandene Material für die Reihe III nach Münster geschickt, so dass Hofmann es nicht in Ichenhausen benutzen konnte. 106 Siehe BAK 267 und LA 876. 107 Zu den Gründen für die Auflösung der Leibniz-Kommission und der Arbeitsstelle und zum Ablauf siehe BAK 267 und BAK 268. 108 Der (West-)Berliner Senat hatte zuvor einen Teil des Gehalts der an der Akademie der Wissenschaften beschäftigten West-Berliner Mitarbeiter im Verhältnis 1:1 in West-Geld umgetauscht. Diese Regelung wurde nach dem Mauerbau nicht fortgesetzt. 109 Sein Arbeitsvertrag mit der Berliner Akademie wurde zum 1. November 1965 gelöst (siehe BAK 267).
Die Leibniz-Edition zwischen Wissenschaft und Politik
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Anzahl von Mitarbeitern die Leibniz-Ausgabe vorangebracht werden konnte. Unter Müllers Beteiligung wurden vier weitere Bände der Reihe I publiziert. Im Jahre 1970 gelang es auch, den seit 1936 zunächst von Mahnke und dann von Hofmann bearbeiteten ersten Band des mathematischen Briefwechsels (III.1) zum Druck zu bringen, jedoch erschien dieser Band erst im Jahre 1976, also drei Jahre nach Hofmanns Tod. Nachdem die Leibniz-Arbeitsstellen in Hannover und Münster eingerichtet waren, einigte man sich darauf, die Reihen I, III und VII in Zukunft in Hannover und die Reihen II und VI in Münster zu bearbeiten.110 Beide Arbeitsstellen sind heute an die Göttinger Akademie der Wissenschaften angeschlossen. Zwei weitere Arbeitsstellen unterstehen der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften: die Leibniz-Arbeitsstelle Berlin, die 2000 gegründet wurde (verantwortlich für die Reihe VIII: Naturwissenschaftlich-medizinisch-technische Schriften), und die Leibniz-Editionsstelle Potsdam (verantwortlich für die Reihe IV: Politische Schriften). An den Bänden der mathematisch-naturwissenschaftlich-technischen Schriftenreihen war und ist Eberhard Knobloch wesentlich beteiligt. Er hatte schon in seiner Dissertation über Leibniz’ Studien zur Kombinatorik (1972) und in seiner Habilitationsschrift über Leibniz’ Arbeiten zum Determinantenkalkül (1976) die einschlägigen Arbeiten aus dem Leibniz-Nachlass ediert und entwarf einen Plan für die ersten Bände der Reihe VII. Aufgrund einer Vereinbarung mit der LeibnizForschungsstelle Münster wurde ihm daraufhin die Bearbeitung übertragen. In Zusammenarbeit mit Walter S. Contro gab E. Knobloch 1990 bzw. 1996 die ersten beiden Bände der Reihe VII heraus (Geometrie, Zahlentheorie und Algebra in den Jahren 1672-1676). Seit 2000 leitet er die Leibniz-Arbeitsstelle Berlin und ist dadurch für die Reihe VIII der Ausgabe verantwortlich. Seit die Leibniz-Edition 1985 in das Akademien-Programm aufgenommen wurde, sind bis zum Abschluss dieses Artikels 25 Bände erschienen. Im Jahre 2007 sollen zwei weitere und 2008 erneut drei Bände erscheinen, darunter zwei Bände der mathematischen Schriften. Die Leibniz-Ausgabe befindet sich also auf einem guten Weg.
110 Reihe I wird seit 1962 im Leibniz-Archiv Hannover bearbeitet, Reihe II seit 1970 und Reihe VII seit 1982. Hochstetters Nachfolger als Leiter der Leibniz-Forschungsstelle Münster war Heinrich Schepers (seit 1968).
Heinrich Schepers
ERMUNTERUNG ZUM EXZESSIVEN EINSATZ EINES TEXTVERARBEITUNGSPROGRAMMS Gebeten, meinen Beitrag für diese Festschrift zu Ehren von Eberhard Knobloch als Bericht über unseren Einsatz der EDV zu schreiben, möchte ich mich nicht der Geschichte der EDV-gestützten Edition der Philosophischen Schriften in der Leibniz-Forschungsstelle Münster seit 1975,1 sondern lieber der vor acht Jahren begonnenen Bearbeitung der Philosophischen Briefe von Leibniz zuwenden. Ich werde zunächst das aktuelle Vorgehen vorstellen und danach beschreiben, wie wir darüber hinaus das Textverarbeitungsprogramm TUSTEP einsetzen. Dass es noch in den 80er Jahren nicht leicht war, Editoren davon zu überzeugen, dass die Zeit des Handsatzes bald endgültig vorüber sein würde, mag heute wohl keiner mehr so recht glauben. Mit dem Einzug des PC auf dem Arbeitsplatz des Editors änderte sich diese Einstellung nach und nach. Nun galt es, geeignete Programme zu finden, um den PC aus dem Stadium der besseren Schreibmaschine herauszuheben. Editoren historisch-kritischer Ausgaben, wie die Leibniz-Akademie-Edition eine ist, stehen als Erstes vor der Aufgabe, die handschriftlichen oder gedruckten Quellen zum Œuvre ihres Autors zu sammeln, zu autorisieren, und nach einer zunächst gegebenenfalls mutmaßlichen Datierung mit einer eindeutigen Identifikationsnummer versehen in einem kritischen Quellen-Katalog zu ordnen. Danach haben sie die Wirkungsgeschichte festzustellen und nach und nach zu ergänzen. Vor einer besonderen Aufgabe stehen die Herausgeber umfangreicher handschriftlicher Nachlässe, sei es, dass diese in aller Welt verstreut, sei es, dass sie wie der von Leibniz glücklicherweise zumeist an einem Ort versammelt sind. Bei diesem Nachlass verteilt selbst die getroffene Aufteilung der Bearbeitung auf drei Reihen für die Briefe und fünf Reihen für die Schriften zwar die Kompetenzen und die Anzahl der Stücke auf mehrere Arbeitstellen, gleichwohl hat jede von ihnen noch ein mächtiges Konvolut an Handschriften zu bewältigen, um sie in die noch ausstehenden gut 60 Bände der Leibniz-Edition zu bringen. Ist das geleistet, sind die Texte einschließlich ihrer Fußnoten mit Lesarten und mit den geforderten Kommentaren zu erarbeiten und endgültig zu datieren. Dann gilt es, den Benutzern diese Texte durch Verzeichnisse der Sachen und der Terminologie sowie der Personen und Schriften zu erschließen und ihnen den Zugang zum Band selbst durch Verzeichnisse seines Inhalts, des Fundortes der edierten Quellen, des Absendeortes der Briefe und gegebenenfalls durch Konkordanzen seiner Stücke zu den gängigen Editionen zu eröffnen.
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Vgl. Schepers, Heinrich: EDV-Erfahrungen einer Edition, in: Philosophisches Jahrbuch 88, 1981, S. 159-164.
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Nicht zuletzt hat der Einsatz der elektronischen Datenverarbeitung diese Arbeiten so beschleunigt, dass in den letzten 30 Jahren jährlich ein Band hat herausgebracht werden können. Dass auch eine Melioration der Ergebnisse damit verbunden ist, lässt, wie ich hoffe, auch der folgende Bericht zu Recht erwarten. I. Nach Sichten des Quellen-Katalogs und Auswahl der Stücke, seien es Briefe oder Schriften, für den als nächsten zu bearbeitenden Band der Edition gilt es, alle Merkmale eines jeden Stückes festzuhalten, die im Titel, im Kolumnentitel, in der Datierung und in der Überlieferung, die die handschriftlichen Quellen, die Erstdrucke, weitere Drucke und die Übersetzungen angibt, vorkommen sollen. Zur Erleichterung und besseren Organisation der Arbeit habe ich diese Merkmale auf zumeist sortierbaren (indexierten) Feldern einer dBASE-IV-Datenbank, so knapp wie möglich codiert, eingetragen, um jederzeit unsere Entscheidungen mit schnell zu besorgenden Übersichten in sortierten Listen unterstützen zu können. Dabei wurde für jedes Stück eine Leitzeile angelegt und so viele Folgezeilen, wie nötig sind, um jeder Quelle, jedem Druck und jeder Übersetzung eine Zeile zuweisen zu können. Wie die Daten in den einzelnen Feldern zu codieren sind, ist in einer Legende festgelegt worden, ebenso ist bestimmt wie die Codes für die speziellen Datierungen anzusetzen sind. In erster Linie dient diese dBASE-Datenbank dazu, die Stücke der zu bearbeitenden Reihe der Edition chronologisch, gegebenenfalls auch thematisch gegliedert, zu ordnen. Aus dieser Sammeldatei werden die Daten für die einzelnen Briefe ein wenig modifiziert in eine weitere Datei übertragen, die nach Umwandlung in eine TUSTEP-Datei mit einem einzigen Programmlauf so ausgewertet wird, dass der gesamte Stückkopf eines jeden Briefes druckreif daraus hervorgeht. Diese Stückköpfe vereint mit den zugehörigen Texten bilden die Basisdatei sämtlicher noch zu bearbeitenden Briefe. In einem späteren Lauf werden aus dieser Basisdatei die Stücke, die zum nächsten Band gehören, exzerpiert und in chronologischer (evtl. thematisch gegliederter) Folge, mit ihren Stückköpfen versehen, zusammengestellt und so zum Druck gebracht, wie es die endgültige Ausgabe fordert. Die erwähnte Basisdatei soll also im Prinzip schon alle Stücke mit ihren Stückköpfen enthalten, die in einer Reihe der Edition noch zu bearbeiten sind. Sie ist natürlich nach und nach um neu aufzunehmende Stücke zu erweitern. Für die Reihe II (Philosophischer Briefwechsel) wurden in der Datei BWBASIS alle bisher provisorisch digital im TUSTEP-Format erfassten Briefe nach Briefwechseln geordnet zusammengestellt. Da jede TUSTEP-Datei jedem logischen Satz eine Seiten/Zeilen-Referenz zuweist, diese aber, soweit sie nur aufsteigend bleibt, frei wählbar ist, konnte ich eine sechsstellige Zählung der Seiten so ansetzen, dass die beiden ersten Ziffern
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für den Briefwechsel stehen, dem der Brief zugehört, die beiden nächsten für den Brief selbst und die beiden letzten für die laufenden Seitenzahlen des Briefes.2 Dieses Vorgehen dient dazu, dass jeder Bearbeiter mit einer Folge von fünf kurzen Befehlen aus der Basisdatei den von ihm zu edierenden Briefwechsel oder einen Teil daraus exzerpiert, bearbeitet, kontrolliert und nach Abschluss der Bearbeitung abends wieder in die Basisdatei zurückgibt. So dokumentiert diese immer den aktuellen Stand der Bearbeitung. Die Bearbeitung eines Schriften-Bandes lässt sich analog ansetzen, wenn etwa die beiden ersten Stellen der sechsstelligen Seitenzählung mit dem Lebensalter von Leibniz besetzt werden. Nach Abschluss der Bearbeitung wählt ein weiteres Programm aus der umfassenden Basisdatei genau die Stücke aus, die im nächsten Band zur Publikation kommen sollen, und stellt den Quelltext für alle Verzeichnisse des Bandes her. Für die Erstellung der Verzeichnisse der Sachen, der Personen und der Schriften werden die auszugebenden Lemmata in so genannten numerischen Pools so bereitgehalten, dass mit den eindeutigen Registerziffern, die der Bearbeiter dem Pool zu entnehmen und einzutragen hat, aus dem laufenden Text darauf so zugegriffen werden kann, dass die Referenz umbruchunabhängig im jeweiligen Verzeichnis festgehalten werden kann. Zur Kontrolle dieser Registerarbeit habe ich so genannte Registerapparate unter dem Text zur Verfügung gestellt, die die Auflösung der Poolziffer angeben und die bei Bestätigung ihrer Richtigkeit wieder automatisch zum Verschwinden gebracht werden. Außerdem stehen so genannte seitenparzellierte Register zur Verfügung, das sind Listen, die Seite für Seite, Zeile für Zeile alle eingetragenen Registerziffern mit ihrer Auflösung separat ausgedruckt anbieten oder am Bildschirm eingesehen werden können. Im Unterschied zu einem leicht zu gewinnenden, aber offensichtlich nur beschränkt brauchbaren Wortformen-Index benötigt die Erstellung eines Sachverzeichnisses in der Gestalt, wie es die Philosophischen Reihen fordern, besonderen Aufwand.3 Die EDV-unterstützte Erstellung eines solchen Sachverzeichnisses für den Band VI, 3 mit Rückgriff auf eine Konkordanz aller bedeutungstragenden Wörter des Bandes4 gestaltete sich so arbeits- und zeitaufwendig, dass ich beschloss, für die nächsten Bände der Philosophischen Reihen ein neuartiges und ökonomischeres Verfahren zu ersinnen. Ich habe die erarbeiteten Lemmata nummeriert in einer Datenbank, einem so genannten Pool zusammengestellt, aus dem jeder Mitarbeiter im Laufe seiner Bearbeitung der Texte durch das Einsetzen eines Registereintrages mit der entsprechenden Nummer erreichen kann, dass im Verzeichnis automatisch und umbruchunabhängig bei jedem Lemma die zugehörige Referenz erscheint. Das besorgt ein TUSTEP-Programm, das uns ermöglicht, jederzeit die laufenden Arbeiten 2 3 4
Da mehr als 99 Briefpartner zu berücksichtigen waren, musste öfters auf die dritte der sechs Stellen zugegriffen werden, was keine Schwierigkeiten verursachte, da viele Briefwechsel weniger als neun Briefe umfassen. Vgl. Schepers, Heinrich: „Res non verba. Accessing Leibniz Texts by means of philosophical concepts.“, in: Lessico Intelletuale Europeo, vol. 94, „Informatica e scienze humane“, hg. von M. Veneziani, Florenz 2003, S. 73-93. Diese Konkordanz wurde 1979 dem Band VI, 3 in Form von elf beim Akademie-Verlag anzufordernden Microfiches beigegeben.
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Heinrich Schepers
mit aktualisierten Verzeichnissen zu unterstützen, im Gegensatz zum üblichen Verfahren der Registererstellung, das erst nach Vorliegen der endgültigen Paginierung angesetzt werden kann. Das eben knapp Beschriebene möchte ich in einzelnen Punkten erläutern und mit einigen Beispielen illustrieren. 1. Der seit Beginn der Editionsarbeiten 1901 von Paul Ritter angelegte Quellen-Katalog, ein von allen späteren Mitarbeitern an der Edition angereicherter Zettelkatalog, der nach und nach im Zuge der laufenden Arbeiten noch vervollständigt wird, aber auch vielfach durch das in den erschienenen Bänden Erarbeitete überholt ist, bildet den unabdingbaren Ausgangspunkt für die Arbeit an der Akademie-Ausgabe.5 2. Das nicht mehr im Handel befindliche Datenbankprogramm „dBASEIV“ verwenden wir immer noch, da wir kein vergleichbares gefunden haben, in dem man Befehle im Batch-Lauf menüfrei formulieren kann. 3. Der Pool der Sachen umfasst an die 50.000 Einträge, im Pool der Personen und Schriften sind etwa 21.000 Personen und über 14.000 Buchtitel aufgenommen worden. Beide werden seit einigen Jahren im Austausch mit der Arbeitsstelle in Potsdam gepflegt. Soweit sie den Bestand erweitern, erfolgen die Eintragungen in nicht alphabetischer Folge. Die Registerziffer muss der Referenz, d.h. der Seiten/Zeilen-Zahl in der Datei entsprechen. Die Einträge sehen beispielsweise wie folgt aus und werden nur in dieser Datei korrigiert: ((75944)) HELWICH, CHR. u. JUNGIUS, J., Kurtzer Bericht von der Didactica, oder Lehrkunst Wolfgangi Ratichii, darinnen er Anleitung gibt, wie die Sprachen, Künste und Wissenschafften leichter, geschwinder, richtiger, gewisser und vollkömlicher, als bißhero geschehen, fortzupflantzen seynd. Frankfurt 1613; o.O. 1613; o.O. 1614; Magdeburg 1621 ((13374)) Ca t e l a n (Castelet), François abbé de, Sekretär von Malebranche † nach 1719, ((21879)) Me n t z e l (Menzelius), Christian, Botaniker, Leibarzt u. kurfürstl. Rat in Berlin † 1701 ((21880)) Me n t z e l (Menzelius), Christian, Botaniker, Leibarzt u. kurfürstl. Rat in Berlin † 1701, ]-1 Sohn: Me n t z e l , Johann Christian. ((11003)) agere secundum rationem maxime apparentem
Wenn der erste Ausdruck vor dem »/ /« dem zweiten nachgestellt zugeordnet werden soll: ((11054)) agir par choix, par nécessité / / agere ((19087)) determinatio immediata / / agere 5
Diese Katalogisierung liegt für die Jahre 1663 bis 1672 und 1672 bis 1676 (Pariser Zeit), in zwei 1908 von Paul Ritter bzw. 1924 von Albert Rivaud publizierten kritischen Katalogen vor. Wegen ihres noch lange unabschließbaren Charakters beschloss die Akademie in den 30er Jahren, auf weitere Publikationen der Katalogisierung der Quellen zu den noch ausstehenden 40 Schaffensjahren unseres Philosophen zu verzichten. Dennoch ist er als so genannter „Ritter-Katalog“ seit einiger Zeit online über das „Leibniz-Portal“ frei einzusehen.
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Mit fachspezifischen Homonymenunterscheidungen: ((19984)) divisio (jur.) 1 actionum ((19987)) divisio (log.) 4 generum, specierum ((19993)) divisio (math.) 3 numerica
4. TUSTEP ist das leistungsfähigste echte Textverarbeitungsprogramm,6 das wir seit 1975 in der Leibniz-Forschungsstelle einsetzen. Für mathematische Texte mit häufigen Formeln ist es allerdings weniger geeignet. 5. Der Lauf, mit dem die Umwandlung der dBASE-Datei in die TUSTEPDatei erfolgt, aus der vollautomatisch die Stückköpfe der einzelnen Stöcke erzeugt werden, leistet Folgendes: a) aus einer in dBASE zu Sortierzwecken geforderten „historisch“ codierten Datierung wird nach einer Redaktion von Hand die Datierung in der Form erzeugt, die unter dem Titel des Stückes erscheinen soll, z.B.: 930521! wird 21. Mai 1693 890425! wird 25. April 1689 A610-12 wird [Herbst 1706] B31206 wird [6. Dezember 1703] /961012(22) wird 12./22. Oktober 1696 #961012(22) wird 12. (22.) Oktober 1696
b) mit Einsatz der Hilfsdatei VOLLNAME wird aus Lgr Ernst
LANDGRAF ERNST VON HESSEN RHEINFELS
c) mit Einsatz der Hilfsdatei VOLLORT wird aus Villey Tille
Villey sur Tille
d) mit Einsatz der Hilfsdatei DRCODE wird aus Du2,1 200p203
DUTENS, Opera, Bd II, 1, 1765, S. 200-203 (Teildruck)
e) mit Einsatz der Hilfsdatei TRCODE wird aus eLoe2 321-324
englisch, LOEMKER, Philos. Works, 1969, S. 321-324.
Der volle Titel dieser Drucke wird in einer Datei bereitgehalten, aus der das Verzeichnis der Siglen und Abkürzungen am Ende des Bandes gespeist wird. f) Aus der Kombination von acht Feldern werden mit Einsatz der Hilfsdateien HBIBL und RBIBL die in der Überlieferung erscheinenden Angaben erzeugt, wie beispielsweise: l1 K A
6
verb. Reinschrift von L von der Hand Ottos: LH I, 19, Bl. 745-746.&xh*LH 119, Bl. 745-746&x{ 1 Bog. 4o. 4 S. &xlf221140k15.010aK010&x{ Abfertigung: LBr 571, Bl. 76-77.&xh*LBr 571, Bl. 76-77&x 1 Bog. 4°. 2 1/2 S. Eigh. Aufschrift, Siegel u. Postvermerk. &xlf222950k59.004aK017&x{ Abschrift der nicht gefundenen Abfertigung von der Hand eines Schreibers vom Landgrafen: KASSEL, Universitätsbibliothek, Mss. Hass. 4°, 248 [2k, Bl. 29-33. 4°. 9 1/2 S. (Unsere Druckvorlage.)
Gerade ist die neueste Dokumentation „TUSTEP. Tübinger System von TextverarbeitungsProgrammen. Version 2008. Handbuch und Referenz“, Tübingen 2007 erschienen.
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Heinrich Schepers K
A
E3
Abfertigung: LBr 943, Bl. 96-97.&xh*LBr 943, Bl. 96-97&x{ 1 Bog. 2°. 2 S. Eigh. Aufschrift u. Siegel. &xlf222170k87.630aL020&x{ (Vorlage für unseren Teildruck.) Abschrift ohne die ersten beiden Sätze und die Briefschlussformel: LH IV, 5, 11, Bl. 25-26.&xh*LH 4 5,11, Bl. 25-26&x{ 1 Bog. 2°. 3 1/2 S. &xlf222770k 96. 010a S624&x{ FOUCHER DE CAREIL, Nouvelles lettres et opusc., 1857, S. 236-242 Teildruck nach der verschollenen Abschrift der Abfertigung, ohne die letzten vier Absätze.
g) Hinter jede beschriebene Handschrift werden zwei Register-Einträge (&xh und &xl) gesetzt, aus denen ein weiteres Programm das Verzeichnis ihres Fundortes erzeugt. h) Die Erstdrucke aus den handschriftlichen Quellen werden automatisch von den weiteren Drucken getrennt und chronologisch sortiert. Die weiteren Drucke werden in einem Block vor dem ebenfalls chronologisch sortierten Block der Übersetzungen ausgedruckt. In der dBASE-Datei folgten sie noch zufällig nacheinander. i) Die rechten und linken Kolumnentitel werden automatisch erzeugt. Aus ihnen stellt ein Programm zusätzlich das Inhaltsverzeichnis in der Form her, wie es für den Band der Ausgabe gefordert wird. j) Für die Dauer der Bearbeitung wird festgehalten, welche Bearbeiter das Stück edieren, und zur leichteren Überprüfung, unter welchem Datum und welcher Nummer das Stück im kritischen Quellenkatalog zu finden ist. k) Das Verzeichnis der Absendeorte der Briefe wird im Anschluss an das Inhaltsverzeichnis erzeugt. II. TUSTEP-Dateien sind prinzipiell so angelegt, dass sie entsprechend einer zu bestimmenden Länge des Textes, die einer Zeile im Druck entspricht, eine Seiten/Zeilen-Referenz mit sich führen, die durch Zeilenweiser am Rand des Textes kenntlich gemacht werden kann und es ermöglicht, interlinear, d.h. in jeder Zeile umbruchunabhängig unter Erhaltung ihrer Referenz, Folgendes einzubringen: l) Fußnoten, die zwischen @f+ __ und @f- gesetzt werden. m) bis zu neun Apparate für Lesarten und Kommentare zwischen &xxn00__ und &xx{, wobei hier n für die Ziffern 1 bis 9 steht. Wenn es nicht genügt, auf eine einzelne Zeile zu verweisen, sondern auf über mehrere Zeilen sich erstreckende Bereiche, wird &xxn0-0__ geschrieben und ein so genannter „Leereintrag“ &xxn&xx{ an die Stelle gesetzt, an der der Bereich endet.7 7
Die Lesarten werden nach der von Friedrich Beissner 1943 für seine Hölderlin-Ausgabe eingeführten, 1954 von Kurt Müller für die Leibniz-Ausgabe adaptierten und von mir 1962 für die Belange der Philosophischen Reihen modifizierten Methode beschrieben. Zur Kontrolle der Lesartengestaltung habe ich eine Variantenanalyse bereitgestellt.
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n) beliebig viele Register zwischen &xn und &x{ wobei hier n für alle Buchstaben des Alphabets mit Ausnahme von x steht. Durch Folgebuchstaben kann die Anzahl der Register sogar noch vermehrt werden. Eine besondere Rolle nehmen bei uns die Buchstaben r, p, s und b, j ein, die gefolgt von den Ziffern aus dem numerischen Pool Einträge für Sachen, Personen und Schriften sowie für Bibelstellen und Stellen aus dem Corpus Juris einzubringen erlauben. So steht etwa: &xp21323&x{ für: Marenholtz, Asche Christoph von, Geh. Rat in Celle † 1713 (Vorbild des Landes Lüneburg).
Diese Register erfüllen vielfache Aufgaben. Wir haben das ganze Alphabet eingesetzt. So verwalten wir beispielsweise mit &xl die Stücknummern; mit &xh in Verbindung mit &xl erarbeiten wir das Fundortverzeichnis; mit &xi und anschließendem &xl verbinden wir die „Incipits“ mit eben diesen Stücknummern; mit &xv werden Querverweise gesetzt; unter &xa ... &x{ werden Arbeitseinträge eingebracht, die beim Ausdrucken – wie alle diese Registereinträge – unsichtbar bleiben. o) Querverweise, die als Kommentar unter dem Text gedruckt werden. So wird beispielsweise mit &xv~#02151&x{ &xx400__ Si . . . penser: siehe ab &xv~* 02141&x{S. 8.31.&xx{ von S. 16.1 auf S. 8.31 verwiesen, wo zur Kontrolle ein zweiter Kommentar in der Form wie &xv~#02141&x { &xx300__ VGL. &xv~* 02151&x{S. 16.1.&xx{ erzeugt wird, der im Druck nicht mehr erscheint.8 p) Aussparungen für das Einbringen von Figuren oder komplizierten mathematischen Formeln werden beispielsweise mit $$120/90#2005$${ erreicht. Das erzeugt innerhalb des Textes eine 120 Punkt breite, 90 Punkt hohe freie Fläche für die Figur 2005, die in einer speziellen Grafikdatei bereitgehalten und mit einer Druckroutine ausgegeben wird. q) Zwischen $$__ und $${ werden Absätze gestellt, die in Kleindruck erscheinen sollen. 6. Die einzelnen Satzläufe trennen zunächst die Fußnoten vom Text, setzen dann die abgetrennten Fußnoten und darauf den Text derart, dass der Platz berechnet wird, den die Fußnoten und die Apparate unter dem Text benötigen werden. Dann wird umbrochen, die Fußnoten werden zusammen mit den Apparaten unter den Text gestellt. Es folgt der abschließende Satzlauf und die Herstellung der Datei, die mit Postscript ausgedruckt wird. Zur Erstellung der Register der Personen, Schriften und Sachen mit speziellen TUSTEP-Programmen wird am besten diese Datei mit dem fertigen Umbruch zugrunde gelegt, denn nur sie erlaubt, das Vorkommen des Lemmas danach zu unterscheiden, ob es im Text, in den Apparaten oder in einer Fußnote vorkommt. 8
Die Methode, umbruchunabhängig solche Verweise anzusetzen, wird in einem Informationsblatt beschrieben.
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Dieses Vorgehen ermöglicht uns darüber hinaus, in den Verzeichnissen nicht wie üblich allein auf die Seitenzahl zu verweisen, sondern auch die Zeilenzahl anzugeben, was die Benutzbarkeit deutlich verbessert. Ein so stark durchsetzter, am Bildschirm kaum noch lesbarer Text wird schon zu Zwecken seiner Korrektur in den beschriebenen fünf Satzläufen zum sofortigen Ausdruck in einer Postscriptdatei aufbereitet, an deren Stelle auch eine am Bildschirm mit Ghostview oder Acrobat-Reader einsehbare Datei benutzt werden kann. Zur Veranschaulichung mag ein Ausschnitt aus einer am Bildschirm einzusehenden Arbeitsdatei dienen: $B. Quid tum? Cogitationes &xr13377&x{ fieri possunt sine vocabulis.&xr32231&x{ $A. At non sine aliis signis.&xr29314&x{ Tenta quaeso an &xx10-0__an (#/+1{) ullam propositionem (#/+2{) ullum Arithmeticum calculum__#/+L{&xx{ &xr12532&x{ Arithmeticum &xr11603&x{ calculum &xx1&xx{ instituere possis sine signis numeralibus.@ f+__Cum Deus &xr15751&x{&xr15767&x{ calculat &xr12526&x{ et cogitationem exercet fit mundus.&xr22900&x{@ f-&xr29349&x{ $B. Valde me perturbas, neque enim putabam &xx10-0__characteres aliquos #/+gestr. { vel__#/+L{&xx{ characteres &xr13051&x{ vel &xx1&xx{ signa &xr29314&x{ ad ratiocinandum &xr27414&x{ tam necessaria esse. $A. Ergo veritates &xr31732&x{&xr31732&x{ Arithmeticae &xr11603&x{ aliqua &xx100__aliqua #/+erg. L{&xx{ signa seu characteres supponunt? &xx100__supponunt? (#/+1{) A. Sed inde sequeretur ea pendere ab arbitrio humano. Quod absurdum videtur. (#/+2{) B.__#/+L{&xx{ $A. Non mea haec sunt, sed ingeniosi admodum &xaNachweis der Stellen nicht gefordert&x{ scriptoris.&xp54323&x{ &xx400__scriptor: d. i. Thomas Hobbes. Vgl. VI, 2 S. 428 f.&xx{
Dieser Arbeitsdatei entspricht der folgende Text mit seinen Apparaten, der dem Bearbeiter zur Korrektur in der Form vorliegt, in der er im Band erscheinen wird: B. Quid tum? Cogitationes fieri possunt sine vocabulis. A. At non sine aliis signis. Tenta quaeso an Arithmeticum calculum instituere possis sine signis numeralibus.1 B. Valde me perturbas, neque enim putabam characteres vel signa ad ratiocinandum tam necessaria esse. A. Ergo veritates Arithmeticae aliqua signa seu characteres supponunt? A. Non mea haec sunt, sed ingeniosi admodum scriptoris. -----------1 Cum Deus calculat et cogitationem exercet fit mundus. 2 an (1) ullam propositionem (2) ullum Arithmeticum calculum__L 4 characteres│aliquos gestr. │ vel L 6 aliqua erg. L 6 f. supponunt? (1) A. Sed inde sequeretur ea pendere ab arbitrio humano. Quod absurdum videtur. (2) A. L ------------------------------------------------------------------------------------7 scriptor: d. i. Thomas Hobbes. Vgl. VI, 2 S. 428 f.
Werden mit einem Programm alle Steuerzeichen, alle Schriftauszeichnungen, alle Apparate, Register, Aussparungen und Verweise aus dieser Arbeitsdatei getilgt, erhält man den reinen Text, wir sagen, den Grundtext eines Bandes. Zusammen mit den Grundtexten anderer Bände werden daraus mit zwei TUSTEP-Pro-
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grammen chronologisch sortierte Konkordanzen, so genannte KWICs (KeyWordInContext) erzeugt. Diese lassen, gesteuert über Kopfzeilen, die über jedem Stück einzubringen sind, vor jede Zeile der Konkordanz Angaben über das Datum, den Autor, die Authentizität, die Sprache des Quelltextes und schließlich über das Vorkommen im Druck mit Seiten/Zeilen Angabe des Schlüsselwortes im Kontext von gut einer Zeile erscheinen. Der so genannte Grundtext lautet so wie der reine Text. Nur wird zusätzlich vor jedes Stück eine Kopfzeile gestellt, die folgende Form hat: ###20.1:64:__8:7708___:L:l@@@.
Aus ihr nimmt ein Programm die Angaben für den Vorspann der KWIC-Zeilen. Mit Hilfe von Filter-Programmen, die ich aus TUSTEP-Prozeduren entwickelt habe, lassen sich aus unseren riesigen Konkordanzen, die gedruckt etwa 50.000 bzw. mehr als 100.000 Seiten füllen würden, die wenigen Seiten, oft nur wenige Sätze exzerpieren, die die gesuchten Wörter enthalten. So lassen sich mit einem einfachen Befehl wie t,DOFILT,KWCO1_1p,kwdpmb'specul'mund aus einem KWIC mit 3.242.524 Sätzen, der 169 Vorkommen der Wortstümpfe „specul“ bzw. 882 „mund“ aufweist, überraschenderweise genau, d.h. nicht mehr und nicht weniger als die folgenden drei Sätze herausfiltern:9 6901-7012 Ll 61 N.12 438.9 Ut una mens esset quasi mundus quidam in * speculo, aut dioptra, vel quolibet puncto radiorum visualium collectivo. 76! Ll 63 N.60 474.10 esse quod intelligat, sive esse quoddam * speculum intellectuale, sive replicationem Mundi. A301-04 Ll GP N.031 2252.3 idque ipsarum officium est ut sint totidem * specula vitalia rerum seu totidem Mundi concentrati.
Weniger für die Edition der Briefwechsel als für die endgültige Datierung der Schriften ist das Berücksichtigen der Wasserzeichen – sofern sie glücklicherweise vorhanden und zumeist aus dem Datum von Briefen zeitlich eingrenzbar sind10 – eine hilfreiche Notwendigkeit. Mit Hilfe von TUSTEP-Prozeduren konnte ich einen Wasserzeichen-Katalog erstellen, der alle Angaben enthält, die aus den gesammelten 9
Dem Ausdruck vorangestellte „Erklärungen“ schlüsseln die Codes folgendermaßen auf: „Die 1. Spalte gibt die Datierung an (JahrMonatTag). A steht für 170, B für 171; a, c oder p für ante, circa, post. Die 2. Spalte zeigt die Provenienz des Textes: L meint Leibniz, K einen Korrespondenten, E oder M ein Exzerpt oder eine Marginalie, F eine Fußnote. Direkt anschließend stehen l,f,d,e,i für die Hauptsprache des Textes, aus dem das Leitwort stammt. Die 3. Spalte benennt Reihe und Band der Akademie-Ausgabe. GP weist auf Gerhardt, Philosophische Schriften hin.“ 10 Die am wenigsten auf die Berücksichtigung von Wasserzeichen angewiesenen Briefbearbeiter wären die besten Zulieferer für die Erweiterung der Sammlung der Wasserzeichen, wenn ihnen unter dem Druck des Edierens die Zeit bliebe, diese Dienstleistung für die Schriftenreihen zu erbringen. Vielleicht könnte ein Spezialist eingesetzt werden, der für die gesamte Akademie-Ausgabe diese seit gut 60 Jahren mit wenigen Ausnahmen ruhende aber gleichwohl dringende Aufgabe übertragen bekommen könnte.
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Heinrich Schepers
Blättern mit den Figuren der Wasserzeichen entnommen werden konnten. Der Grundliste aller Wasserzeichen, sortiert nach Gruppen und Nummern in den Gruppen, sind noch sechs Register beigegeben, um nach verschiedenen Gesichtspunkten, wie chronologische Ordnung, Vorkommen in Handschriften, Paarigkeit u.a. zu suchen. Zusammenfassend kann ich feststellen: Nach Auswertung der in der dBASEDatei, die im Grunde nichts anderes ist als eine komprimierte, wenn auch erweiterte Fassung der im Quellen-Katalog gesammelten Daten, wird bei unserem Vorgehen alles, was man für die Publikation eines Bandes braucht, in einer einzigen Datei bereitgehalten, so in der Basisdatei für die Briefe bzw. in der Basisdatei für die Schriften; von einigen kleineren zu pflegenden Hilfsdateien abgesehen. Diese Basisdateien empfehlen sich nicht nur zur optimalen Organisation der Arbeiten, sie sind auch gut zu durchsuchen und gut zu redigieren. Das Berichtete belegt unsererseits die seit Jahren international anerkannte Leistungsfähigkeit der Tübinger Systeme von Textverarbeitungsprogrammen. Ich kann diesen Bericht nicht abschließen ohne einen großen Dank auszusprechen an ihren Erfinder Prof. Dr. Wilhelm Ott und an seine Mitarbeiter im Zentrum für Datenverarbeitung in Tübingen, die diese Programme mit ihm über fast 40 Jahre so weiterentwickelt haben, dass kein Bruch in ihrer Anwendung entstehen konnte über die Generationen der Hardware-Entwicklung, von den verschiedenen Großrechnern im Rechenzentrum Tübingen und später darüber hinaus, und dann über die Arbeitsplatzrechner bis zu den neuesten PC-Versionen. Seit längerem wird diese Weiterentwicklung unterstützt durch die rege eMail-Diskussion in der internationalen TUSTEP-Benutzer-Gemeinschaft (ITUG). In der Leibniz-Forschungsstelle Münster hat sich TUSTEP seit 1975 so bewährt, dass die Bände VI,3 und VI,4 (Philosophische Schriften) sowie II,1 und II,2 (Philosophische Briefe) erarbeitet und bis ins letzte Detail druckfertig gestellt werden konnten.11 Die TUSTEPmäßig gut strukturierten Daten des Bandes VI,4 ließen sich darüber hinaus für seine 2003 erfolgte und von jedermann herunterladbare onlinePublikation ausschließlich mit TUSTEP-Mitteln einigermaßen zügig so in getaggte Dateien (HTML) transformieren, dass dem Benutzer das direkte Springen aus jeder Referenz, die er in den mitgelieferten Verzeichnissen findet, auf die entsprechende Stelle im Text ermöglicht werden konnte. Ich kann jeden Editor einer historisch-kritischen Ausgabe nur ermuntern, unserem Beispiel zu folgen.
11 Unserem Vorgehen hat sich weitgehend die Potsdamer Arbeitsstelle bei der Bearbeitung der Politischen Schriften angeschlossen. Die Bände IV,4, IV,5 und IV,6 wurden ebenfalls mit TUSTEP-Programmen hergestellt.
GOTTFRIED WILHELM LEIBNIZ FORSCHUNG
Andrea Bréard
LEIBNIZ UND TSCHINA1 EIN BEITRAG ZUR GESCHICHTE DER KOMBINATORIK? Meinem Doktorvater zu Ehren
Für einen Beitrag zu Ehren des Leibnizspezialisten und Mathematikhistorikers Professor Dr. Knobloch, verfasst von einer Historikerin der Mathematik in China, gibt es wohl keinen passenderen Ausgangspunkt als Leibniz’ „Entdeckung“ der chinesischen Trigramme im Buch der Wandlungen (Yijing 易經) als frühes Binärsystem. Für Leibniz beinhalteten diese Wahrsagediagramme – Konfigurationen von drei (oder auch sechs) gebrochenen und ungebrochenen Linien – keine divinatorischen Aspekte sondern eine Zahlentheorie, die er für nützlich befand, um den Chinesen indirekt die Theologie der Schöpfung aufzuzeigen. Er glaubte auch, dass wir nur weit genug – bis in die vorkonfuzianische Zeit – zurückgehen müssten, um eine Naturtheologie der Chinesen zu finden, die den Respekt der Europäer verdient.2 Er wollte dadurch den Jesuitenmissionaren zeigen, wie Chinesen theologische und wissenschaftliche Wahrheiten in ihren alten Schriften wiederfinden könnten: „Les Chinois ont perdu la signification des Cova ou Lineations de Fohy, peut-etre depuis plus d’un millenaire d’année; & ils ont fait des Commentaires là-dessus, où ils ont cherché je ne sçay quels sens éloignés. De sorte qu’il a fallu que la vraie explication leur vînt maintenant des Européens.“3
Leibniz’ binäre Interpretation der Trigramme wurde wohl nie von den Jesuiten in China für die ökumenischen Zwecke verwendet, um die er besorgt war. Seine Bemerkung aber, dass Kommentatoren in den Trigrammen weit entfernte Interpretationen suchten, trifft auch heute noch zu. 4 Im Folgenden werde ich mich aber 1
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Im Vorwort zur Novissima Sinica sagt Leibniz, dass die Chinesen den Namen ihres Landes tatsächlich so aussprechen würden: „Europa & Tschina (sic enim esserunt)“. Siehe Leibniz, Gottfried Wilhelm: Novissima Sinica Historiam Nostri Temporis illustratura, 2. Auflage, in8°, 1699. Siehe den Briefwechsel mit Joachim Bouvet in: Recueil de diverses pièces Sur la Philosophie, les Mathematiques, L’Histoire &c. par M. de LEIBNIZ avec II. Lettres où il est traité de la Philosophie & de la Mission Chinoise, envoyées à Mr. de LEIBNIZ par le P. Bouvet, Jésuite à Pékin, Hamburg 1734, S. 70-89. Leibniz, Gottfried Wilhelm: Explication de l’Arithmétique Binaire, qui se sert des seuls caracteres 0&1; avec des Remarques sur son utilité, & sur ce qu’elle donne le sens des anciennes figures Chinoises de Fohy, in: Histoire de L’Académie Royale des Sciences – Année 1703 – Avec les Mémoires de Mathématique & de Physique, pour la même Année, Paris 1705, S. 85-89, hier S. 88. Eine Unmenge von neuzeitlichen Abhandlungen sucht im Buch der Wandlungen Parallelen mit modernen wissenschaftlichen Theorien aufzuzeigen. So zum Beispiel argumentiert Cook, Richard S. in Classical Chinese Combinatorics: Derivation of the Book of Changes Hexagram Sequence, Berkeley 2006 (STEDT monograph series; 5), dass der Klassifikation binärer
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Andrea Bréard
nicht auf Spekulationen einlassen, inwiefern das Buch der Wandlungen mit seiner Klassifikation der 64 Hexagramme eine frühe wissenschaftliche Theorie darstellt oder in anachronistischer Weise modernen mathematischen Theorien gleichsteht. Ich werde vielmehr die Rolle der Tri- und Hexagramme in mathematischen Überlegungen als Ausgangpunkt einer Diskussion der Geschichte kombinatorischer Aktivitäten im vormodernen China nehmen. Ich spreche hier bewusst nicht von ‚Kombinatorik‘ im modernen Sinne einer eigenständigen mathematischen Disziplin, die sich in China erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts ausprägte. Kombinatorische Aktivitäten aber im Sinne eines Interesses an Konfigurationen, erzeugt aus einer endlichen Menge von Elementen, findet man im vormodernen China sowohl in traditionellen Spielen (Go, Domino, Karten, etc.), als auch in mathematischen Texten, die mit der Erzeugung arithmetischer Dreiecke in Zusammenhang stehen. Im Folgenden sollen anhand von zwei mathematischen Texten, die Wahrsagediagramme als Ausgangspunkt kombinatorischer Aufgaben nehmen, die Historiographie der Kombinatorik in China diskutiert und bereichert werden. CHEN HOUYAO 陳厚耀 (1648-1722) Ein chinesischer Zeitgenosse Leibniz’, Chen Houyao, hat ein Manuskript hinterlassen, das systematisch Kombinationen und Permutationen anhand von mathematischen Algorithmen berechnet. Chen formuliert darin eine erste Aufgabe, in der berechnet werden soll, wie viele Hexagramme man aus ungebrochenen und gebrochenen Linien erzeugen kann. Karten- und Würfelspiele, die Erzeugung von Eigennamen aus einer bestimmten Anzahl von Schriftzeichen und die astronomischen Sexagesimalzyklen erzeugt aus den zehn Himmelsstämmen (tiangan 天干) und zwölf Erdzweigen (dizhi 地 支 ) liefern den Kontext für die restlichen Aufgaben des Manuskripts. Leider weiß man nicht, ob Chens Methoden auf Wissen beruhten, das in Kreisen Qing-zeitlicher Mathematiker zirkulierte, oder ob er durch seine Nähe zum Kaiser Kangxi indirekt über französische Jesuiten an dessen Hof – „les mathématiciens du Roi“ gesendet von Louis XIV5 – etwas über Kombinatorik erfuhr. Sicher ist, dass sich Chen Houyao auf Vorgänger beruft und deren Algorithmen zu vereinfachen sucht. Im Falle der Hexagramme unterstreicht er, dass die Berechnung aller Möglichkeiten aus sechs gebrochenen und ungebrochenen Linien sowohl durch sukzessive Multiplikation der zwei möglichen Linien : Anzahl der Wahrsagediagramme bestehend aus 2 Linien = 2 ⋅ 2 = 4 Anzahl der Wahrsagediagramme bestehend aus 3 Linien = 4 ⋅ 2 = 8 … Anzahl der Wahrsagediagramme bestehend aus 6 Linien = 32 ⋅ 2 = 64
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Sequenzen im Buch der Wandlungen Wissen über die Konvergenz bestimmter linearer Rekurrenzfolgen zugrunde liegt. Siehe Landry-Deron, Isabelle: Les Mathématiciens envoyés en Chine par Louis XIV en 1685, in: Archive for History of Exact Sciences 55, 2001, S. 423-463.
Leibniz und Tschina
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aber auch sehr viel einfacher durch Quadrierung der acht Möglichkeiten für Trigramme erfolgen kann: „wenn man die so erhaltene Anzahl [für Trigramme: 8] mit sich selbst multipliziert, erspart man sich die Hälfte der Multiplikationen.“ 6
In anderen Aufgaben in denen Chen Houyao zwei Algorithmen als Lösung vorschlägt, benennt er nicht nur explizit eine davon als die „ursprüngliche“ frühere Methode, sondern er gibt auch deren Operationenfolge detailliert an, wie das folgende Beispiel zeigt: „Angenommen man habe 30 Karten. Alle Karten haben eine [andere] Form. Jedes Blatt besteht nur aus 9 Karten. Wie viele Kombinationen kann man beim Ziehen eines Blattes erlangen? Es heisst: 14307150 Blätter. Die Methode lautet: Man nehme die 30 Karten als Dividend. Ausserdem subtrahiert man 1 von 30. Dies macht 29, man multipliziert dies [den Dividend von 30] damit. Man subtrahiert weiterhin 1, und multipliziert dies [das Produkt von 30 und 29] mit 28. … und multipliziert dies [das Produkt von 30, 29, 28, 27, 26, 25, 24 und 23] mit 22. 9 Karten bilden ein Blatt. Weil man 9 Lagen abzieht, muss für den Dividenden 8 mal multipliziert werden. Insgesamt erhält man durch die Multiplikationen 5191778592000 als Dividend. Nun soll man auch jedes Blatt der neun Karten sukzessive subtrahieren. Man multipliziert diese [die 9 Karten] mit 8, weiter multipliziert man dies mit 7, …, weiterhin multipliziert man dies [das Produkt von 9, 8, 7, 6, 5, 4 und 3] mit 2. Mit eins [multipliziert] bleibt dies gleich, deshalb multipliziert man nicht. Insgesamt erhält man durch die Multiplikationen 362880 als Divisor. Damit dividiert man den Dividend von vorhin, man erhält 14307150 Blätter. Die Erklärung (jie 觧7) lautet: Hier verhält es sich so wie im vorhergehenden Beispiel der Verkettung von acht Namen. Jedoch obgleich man in der Aneinanderreihung der Namen keine Wiederholungen hat, so darf man doch die Reihenfolge umdrehen. Hier aber hat jedes Blatt neun Karten, jede Karte hat eine andere Farbe, und es gibt weder Wiederholungen, noch Veränderungen der Reihenfolge. Deshalb sind die Methoden, die man benutzt, verschieden. Zunächst gleicht die Berechnung der 5191778592000 die man durch sukzessives subtrahieren und multiplizieren der 30 Karten erhält der vorherigen Methode der Aneinanderreihung der Namen. Namen haben ein Oben und ein Unten, eine Umkehrung der Reihenfolge, Karten aber haben kein Oben und kein Unten, keine Umkehrung der Reihenfolge. Deshalb muss man noch die durch Umkehrung der Reihenfolge geformten Gleichen entfernen. Also teilt man dies [den Dividenden 5191778592000] durch den Divisor, die sukzessive subtrahierten und multiplizierten 9 Karten. So erhält man die tatsächliche Zahl.“
Die ursprüngliche Methode multipliziert und teilt abwechselnd je einmal. Ihr Prinzip ist nicht leicht zu ersehen und die Methode ist sehr konfus und ungeschickt (rǒngzhúo 冗拙). Sie kommt nicht der Effizienz gemeinsamer Multiplikation und gemeinsamer Division dieser Methode hier gleich. 8
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7 8
Chen Houyao 陳厚耀: Cuozong fayi 錯綜法義 (Bedeutung der Methoden für Permutationen und Kombinationen). Reprographische Wiedergabe des Manuskriptes in: Guo Shuchun 郭書 春 (Hg.): Zhongguo kexue zhishu dianji tonghui 中國科學技術典籍通彙. Shuxue juan 數學 卷, Zhengzhou: Henan jiaoyu chubanshe 河南教育出版社 1993, Bd. 4, S. 685-688, hier S. 685. Chen Houyao benutzt hier ein graphische Variante von jie 解. Ebd., S. 687.
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Andrea Bréard
Im Gegensatz zur ersten Methode, die nur eine einzige Division erfordert:
berechnet die „ursprüngliche Methode“, die Chen anschließend zitiert, die Kombinationen von 9 aus 30 Karten durch abwechselnde Multiplikation und Division:
Obwohl Chen Houyao sich also auf frühere (schriftliche oder mündliche) Quellen beruft, war seine Bedeutung der Methoden für Permutationen und Kombinationen die erste systematische Abhandlung zur Kombinatorik in China. Diese Position vertritt auch Chen selbst in seinem Vorwort, worin er Kombinatorik als eine innovative Erweiterung der klassischen neun Bereiche mathematischer Fragestellungen der Antike darstellt: „Die Neun Kapitel9 haben ganz und gar alle [mathematischen] Methoden bereitgestellt, es fehlen jedoch jegliche Methoden für Permutationen und Kombinationen.“ 10
Die oben zitierte Aufgabe eines Kartenspiels zeigt, dass Glücksspiele auch in China Anlass zu mathematischen Überlegungen gaben. Der konzeptuelle Schritt, die Anzahl der günstigen Ereignisse in Relation zur Anzahl aller möglichen Ereignisse zu bringen, was in Europa zur Wahrscheinlichkeitsrechnung führte, wurde in China scheinbar nicht vollzogen.11 Es ist aber durchaus möglich, dass Gewinnschemata in Zufallsspielen auf Berechnungen beruhten, die grundlegende kombinatorische Kenntnisse erforderten. Ich möchte dies am Beispiel des Dominospiels (Yapai 牙牌, lit. ‚Elfenbeinkarten‘) diskutieren, anhand einer Quellengattung die bisher nicht in die chinesische Wissenschaftsgeschichtsschreibung miteinbezogen wurde. Beliebte Gesellschaftsspiele der Ming Dynastie (1368-1644) werden ausführlich in so genannten Alltagsenzyklopädien (Riyong leishu 日用類書)12 beschrieben. Derartige Texte hatten zu Anfang des 17. Jahrhunderts eine weite Verbreitung in China und Japan und wurden bis ins frühe 20. Jahrhundert immer wieder neu 9
Bezugnahme auf die Neun Kapitel mathematischer Prozeduren (Jiu zhang suan shu 九章算 術), dem Han-zeitlichen mathematischen Klassiker, der grundlegend war für die chinesische Tradition. 10 Vorwort des Manuskriptes in ebd., S. 685. 11 Siehe Yi Maoke (Elvin, Mark): Geren de yunqi – Weishema qianjindai Zhongguo keneng mei you fazhan gailü sixiang 個人的運氣 ﹣ 為什麼前近代中國可能沒有發 展概率思想 (Persönliches Glück – Warum sich im vormodernen China vermutlich kein probabilistisches Denken entwickelt hat), in: Liu Dun 劉鈍 & Wang Yangzong 王揚宗 (Hg.): Zhongguo kexue yu kexue geming: Li Yuese nanti ji qi xiangguan wenti yanjiu lunzhu xuan 中國科學与科學 革命 : 李約瑟難題及其相關問 題研究論著選, Shenyang: Liaoning jiaoyu chubanshe 辽 宁 教育出版社 2002, S. 426-496. 12 Zur Bedeutung dieser Textgattung in der Wissenschaftsgeschichtsschreibung siehe Bréard, Andrea: Knowledge and Practice of Mathematics in Late-Ming Daily-Life Encyclopedias (in Bearbeitung).
Leibniz und Tschina
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aufgelegt.13 Das Spiel der ‚Elfenbeinkarten‘, das wohl seit dem 12. Jahrhundert oder schon früher praktiziert wurde, sieht auf den ersten Blick dem heute weit verbreiteten Dominospiel ähnlich, folgt aber anderen Regeln und gleicht vielmehr bestimmten Kartenspielen. Alle sieben Texte aus Alltagsenzyklopädien des frühen 17. Jahrhunderts, die ich bisher analysiert habe, sind von wenigen Abweichungen – meist Schreibvarianten oder Druckfehler – abgesehen identisch.14 Sie beginnen mit einer Vorgeschichte des Spiels: „Im zweiten Jahr der Xuanhe Regierung der Song Dynastie [1120], präsentierte ein bestimmter Beamter dem Kaiser eine Throneingabe und bat darum, die Elfenbeinkarten als eine Packung von 32 Karten festzulegen, mit insgesamt 227 Punkten, um in Einklang zu sein mit den positionellen Anordnungen der Sterne und der Mondhäuser. Zum Beispiel ‚Himmel‘, die zwei Karten mit insgesamt 24 Punkten, verbildlichen die 24 Sonnenperioden des Himmels. ‚Erde‘, die zwei Karten mit insgesamt 4 Punkten, verbildlichen den Osten, Westen, Süden und Norden. Der ‚Mensch‘, die zwei Karten mit insgesamt 16 Punkten, verbildlichen die Tugenden der Liebe, Gerechtigkeit, Aufrichtigkeit und Weisheit. […] Als diese Tabellen [dem Kaiser] vorgelegt wurden, wurden sie in der kaiserlichen Schatzkammer verwahrt. Da man ahnte, dass sie zu kompliziert seien, wurden sie nicht weitergeleitet. Ab der Gaozong [1127-1163] Regierung der Song Dynastie wurden Vorlagepackungen [der 32 Dominosteine] durch kaiserlichen Erlass im gesamten Reich herausgegeben. Zurückgezogene Gelehrte fanden Gefallen daran, im Wettstreit Entscheidungen über Verlust und Gewinn zu treffen. Obwohl dies nicht gerade ein Unternehmen von Loyalität oder kindlicher Pietät ist, so hat dies der Ausübung des rechten Weges in moralischen Prinzipien gedient und die Arten der Bestrafungen von Missetätern perfektioniert.“15
Die darauf folgende Beschreibung des Spieles und der Gewinnschemata16 erklärt, wie viele Zählstäbchen für bestimmte Kombinationen von zwei bis acht Elfenbeinkarten ausgegeben wurden. Der hier verwendete chinesische Begriff für Zählstäbchen – chou 籌 – ist derselbe wie für Rechenstäbchen, mit denen chinesische Mathematik traditionell praktiziert wurde. Dies bestärkt den Eindruck, dass dem Elfenbeinkartenspiel mathematische Überlegungen zugrunde liegen könnten. Einige Aspekte des Spiels bleiben ungeklärt, so zum Beispiel auf welche Weise die drei Spieler von denen der Text spricht interagieren. Ein jeder Spieler zieht 8 der insgesamt 32 Spielsteine und erhält 10, 5, 4, 3 oder 2 Zählstäbchen gemäß der
13 Heute gibt es noch ca. 35 Editionen solcher spät-mingzeitlichen Enzyklopädien. Sie sind vorwiegend in japanischen Bibliotheken erhalten. Sechs davon wurden kürzlich reprographisch wiedergegeben. Siehe z.B. Anm. 15 u. 18. 14 Diese Enzyklopädien, gedruckt in Jianyang 建陽 im Nordwesten der Provinz Fujian, waren nicht sorgfältig ediert und wurden kommerziell in großen Mengen produziert. Siehe Chia, Lucille: Printing for Profit: The Commercial Publishers of Jianyang, Fujian (11th-17th Centuries), Cambridge, MA 2003. 15 Übersetzt aus Xu Qilong 徐企龍 (Hg.): Wu che wanbao quanshu 五車萬寶全書 (Komplettes Buch der fünf Karren voller zehntausend Schätze), 1614, Reprint in: Sakade Yoshinobu 坂出 祥伸 & Ogawa Yōichi 小川陽一 (Hg.): Chūgoku nichiyō ruisho shūsei 中國日用類書集成; Bd. 8-9, Tokyo: Kyūko shoin 汲古書院 2001, hier: Bd. 8, S. 315. 16 Dabei kann man beobachten, dass Gewinnschemata des Dominospiels in späteren Editionen der Alltagsenzyklopädien wegfallen. Dies hängt vermutlich mit wiederholt erlassenen kaiserlichen Verboten von Glücksspielen zusammen.
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Andrea Bréard
erzielten Kombination von Elfenbeinkarten.17 Die Zahlen 1 und 4 waren in rot abgebildet, während alle anderen weiß oder schwarz waren, je nach Material aus denen die Spielsteine gefertigt waren: Elfenbein, Holz oder Horn. Ein Set von 32 Dominos beinhaltet 12 Doppel und 8 Steine, die nur einmal vorkommen.18 Was uns hier im Rahmen kombinatorischer und mathematischer Aktivitäten interessiert ist natürlich, ob dem Spiel der Elfenbeinkarten theoretische oder empirische Überlegungen zugrunde lagen. Meine bisherigen Untersuchungen lassen vermuten,19 dass gewisse kombinatorische Kenntnisse beim Entwurf der Gewinnschemata wie sie im frühen 17. Jahrhundert noch beschrieben wurden mit im Spiel waren. Analysiert man zum Beispiel die Verteilung von 10 oder 5 Zählstäbchen für bestimmte Dominokombinationen, so zeigt sich, dass die Wahrscheinlichkeiten diese zu erlangen zumindest innerhalb jeder der beiden Gruppen qualitativ sehr nahe liegen, das Verhältnis zwischen 10 und 5 Stäbchen und den entsprechenden Wahrscheinlichkeiten aber nicht einander entspricht. Es war also sicher kein faires Spiel, aber um rein empirisch die Gruppierung von „8 Schwarze und kein Rot“ mit den Kombinationen „1 mit nur Anderem“ (tian bu tong 天不同) oder „6 mit nur Anderem“ (di bu tong 地不同) in dieselbe Kategorie für 10 Zählstäbchen mit einer relativ großen Sicherheit zu finden, wären mindestens eine Million Zufallsexperimente (Ziehen von 8 Dominos aus 32) nötig.
17 Die Namen der Gruppierungen von Elfenbeinkarten hatten symbolischen Charakter und man erfährt aus gelehrten Schriften über ihren Ursprung in klassischer Poesie. Siehe zum Beispiel Qu You 瞿祐 (1341-1427): Xuanhe paipu 宣和牌譜 (Register der Dominos aus der Xuanhe Ära), in: [Ming] Tao Zongyi [明]陶宗儀 (Hg.): Shuofu san zhong 說 孚三種, Shanghai: Shanghai guji chubanshe 上海古籍出版社 1989, Bd. 10, S. 1790-1798. 18 Zu den 12 Paaren zählt auch das ‚Paar‘ (6 2) und (6 3). Siehe Miaojin wanbao quanshu 妙錦 萬寶全書, Vorwort von 1612, Reprint in: Sakade Yoshinobu 坂出祥伸 & Ogawa Yōichi 小 川陽一 (Hg.): Chūgoku nichiyō ruisho shūsei 中國日用類書集成; Bd. 12-14, Tokyo: Kyūko shoin 汲古書院 2003, Bd. 12, S. 358. 19 Siehe Bréard, Andrea: The Empire of Forbidden Chance: Probabilistic Thinking in Popular Sources of Late Imperial China. Vortrag zu „Nouvelles sources de l’histoire des sciences en Chine“ Seminaire d’Histoire des Sciences en Asie, REHSEIS, CNRS, 23.11.2004.
Leibniz und Tschina
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Ich vermute deshalb, dass hier mathematische Kenntnisse der Kombinatorik dem Spielentwurf zugrunde lagen, solche Berechnungen aber nicht publiziert wurden, um denen, die professionell Wettspiele betrieben, einen Vorteil zu bewahren. Zusammenfassend weist das 17. und 18. Jahrhundert in China singuläre Quellen auf, die kombinatorische Überlegungen ins Zentrum rekreativer und mathematischer Aktivitäten stellen, wobei sowohl Spiele als auch Wahrsagetechniken den Rahmen vorgaben. Im zweiten Teil meines Aufsatzes möchte ich auf Entwicklungen des 19. Jahrhunderts eingehen. Auch hier zeigt sich, dass Hexagramme Anlass zu kombinatorischen Aufgaben lieferten und erstmals figurierte Zahlen kombinatorisch interpretiert wurden. Im Gegensatz zur herkömmlichen Historiographie möchte ich aber argumentieren, dass das arithmetische Dreieck in China im 19. Jahrhundert keine kombinatorische Interpretation erhielt, auch wenn von einem modernen Standpunkt aus gesehen für die Kombinatorik wichtige Ergebnisse insbesondere durch Li Shanlan 李善蘭 (1811-1882) davon abgeleitet wurden. WANG LAI 汪萊 (1768-1813) Der Mathematiker Wang Lai bringt erstmals in der chinesischen Tradition kombinatorische Betrachtungen in Zusammenhang mit figurierten Zahlen. In seinem Kapitel Mathematische Prinzipien sequentieller Verknüpfung (Dijian shuli 遞兼 數理) beginnt er mit einer Erklärung der Fragestellung: „Prozeduren sequentieller Verknüpfung wurden früher noch nicht entdeckt. Nun habe ich beschlossen diese abzuleiten und zu finden Es ist demnach angemessen zunächst die Fragestellung zu erläutern. Angenommen man habe jegliche Art von Objekten. Von einem Objekt ausgehend bis schließlich zu allen Objekten zusammengenommen bildet man insgesamt eine Zahl. Dazwischen liegen sequentiell: zwei Objekte miteinander verknüpft bilden eine Konfiguration, vertauscht und permutiert soll diskutiert werden wie viele Konfigurationen dies ergibt; drei Objekte miteinander verknüpft bilden eine Konfiguration, vertauscht und permutiert soll diskutiert werden wie viele Konfigurationen dies ergibt; vier Objekte, fünf Objekte bis zu beliebig vielen Objekten, keine geht nicht gänzlich aus sich selbst hervor. Dies ist die so genannte Prozedur sequentieller Verknüpfungen.“20
Wang illustriert sein Vorgehen mit dem Beispiel, aus zehn Objekten eins bis zehn 10 10 auszuwählen und bemerkt die Symmetrie Ci = C10−i . Die Anzahl der möglichen Kombinationen berechnet er mithilfe der Prozeduren für Summen arithmetischer Reihen höherer Ordnung, so genannte „Dreiecksstapel“ (sanjiao dui 三角堆). Prozeduren zur Summation verschiedener endlicher arithmetischer Reihen findet man in China zwar bereits schon seit der Yuan Dynastie in Zusammenhang mit dem arithmetischen Dreieck, vermutlich kannte Wang Lai diese Quellen aber 20 Wang Lai 汪萊: Dijian shuli 遞兼數理 (Mathematische Prinzipien sequentieller Verknüpfung), in : Heft 4, S. 6b-12b (hier S. 6b) seiner gesammelten Schriften Hengzhai suanxue 衡齋算學 (Hengzhais Mathematik), 1854, Reprint in: Guo Shuchun 郭書春 (Hg.): Zhongguo kexue zhishu dianji tonghui 中國科學技術典籍通彙. Shuxue juan 數學卷. Zhengzhou: Henan jiaoyu chubanshe 河南教育出版社 1993, Bd. 4, S. 1512-1515.
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Andrea Bréard
nicht.21 Neu bei Wang Lai ist aber die allgemeine Formulierung einer Prozedur zur Summation einer arithmetischen Reihe höherer Ordnung im Kontext kombinatorischer Überlegungen. So gibt er am Ende seines Kapitels die allgemeine Prozedur eines Dreiecksstapels m-ter Ordnung mit n Elementen an der Basis an und macht diese explizit anhand eines ‚Dreiecksstapels vierter Ordnung‘ (si cheng sanjiao dui 四乘三角堆)22 mit einer ‚Basiszahl‘ (genshu 根數) fünf, was C 59 der Anzahl der Kombinationen von fünf aus neun Elementen entspricht:
Als einzige mathematische Aufgabe stellt Wang Lai folgendes der Divination entlehntes Problem, das uns zurückbringt zu den Wahrsagediagrammen: „Angenommen man nehme als Beispiel das Schafgarbenorakel (shi 筮), wobei sich ein Hexagramm ergibt. Jedes Hexagramm besteht aus sechs Linien (liu yao 六爻). Es wird gefragt wie viele Transformationen eines Hexagramms es insgesamt von den Transformationen aus einer Linie bis zu den Transformationen aus allen sechs Linien gibt, und wie viele Konfigurationen es jeweils für jede Anzahl von Linien gibt. Die Methode: Von den sechs Linien eine Zahl abgezogen ergibt fünf. Dies gibt die Anzahl der Verdoppelungen der Basis an. Man nehme nun die Eins als Basis. Ein erstes Mal verdoppelt und eins addiert ergibt drei. Ein zweites Mal verdoppelt und eins addiert ergibt sieben. Ein drittes Mal verdoppelt und eins addiert ergibt fünfzehn. Ein viertes Mal verdoppelt und eins addiert ergibt einunddreißig. Ein fünftes Mal verdoppelt und eins addiert ergibt dreiundsechzig. Die Gesamtmenge der Transformationen eines Hexagramms besteht aus dreiundsechzig Konfigurationen. Eine weitere [Methode]: Nimmt man die Anzahl der sechs Linien, so ist dies die Anzahl der Konfigurationen bei Transformation einer Linie. Sie ist gleich der Anzahl der Konfigurationen bei Transformation von fünf Linien. Von den sechs Linien eine Zahl abgezogen ergibt fünf. Dies stellt die Basis eines ebenen Dreieckstapels dar. Verwendet man die Methode des ebenen Dreieckstapels, so erhält man fünfzehn als Akkumulationszahl. Dies stellt die Anzahl der Konfigurationen bei Transformation von zwei Linien dar. Sie ist gleich der Anzahl der Konfigurationen bei Transformation von vier Linien. Von der vorhergehenden Basiszahl eins abgezogen ergibt vier. Dies stellt die Basis eines räumlichen Dreiecksstapels dar. Verwendet man die Methode des räumlichen Dreieckstapels, so erhält man zwanzig als Akkumulationszahl. Dies stellt die Anzahl der Konfigurationen bei Transformation von drei Linien dar. Sechs Linien zusammengenommen ergibt eins. Dies stellt aufaddiert die Anzahl der Konfigurationen sämtlicher Transformationen von sechs Linien dar.“23
21 Es handelt sich um Zhu Shijie’s Jadespiegel der Vier Unbekannten (Siyuan yujian 四元玉鑑, 1303). Dieses Werk war lange Zeit in China verschollen und wurde erst nach der Redaktion von Wang Lai’s Abhandlung (nach Vorwort 179?) wiederentdeckt. Zur Textgeschichte des Jadespiegels siehe Bréard, Andrea: Re-Kreation eines mathematischen Konzeptes im chinesischen Diskurs: Reihen vom 1. bis zum 19. Jahrhundert. Stuttgart 1999, S. 191f., zu den darin enthaltenen Prozeduren zur Summation von endlichen Reihen in Zusammenhang mit dem arithmetischen Dreieck, siehe ebd. S. 213-264. 22 Die „n-te Ordnung“ kann auch wörtlich übersetzt werden mit „n Multiplikationen“, denn wie Wang Lai selbst bemerkt, entspricht n der Anzahl an Multiplikationen die man jeweils zur Berechnung von Dividend und Divisor vornehmen muss. 23 Wang Lai (1854) ce 4, S. 10b-11b (wie Anm. 20).
Leibniz und Tschina
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Wang Lai gibt hier zwei verschiedene Prozeduren zur Berechnung aller Möglichkeiten aus den sechs Linien eines Hexagramms Konfigurationen von einer bis zu sechs Linien zu bilden. Die erste Prozedur verdoppelt zunächst die minimale Anzahl von Linien in einer Konfiguration (i.e. eine Linie), addiert eins und wiederholt sukzessive beide Operationen mit dem so erhaltenen Ergebnis. Wang Lai bemerkt, dass fünf Iterationen (i.e. die maximale Anzahl von Linien in einer Konfiguration um eins vermindert) das gewünschte Ergebnis liefern:
oder anders ausgedrückt:24
In einer zweiten Prozedur berechnet Wang Lai dann die Gesamtzahl von 63 durch Addition aller Möglichkeiten, Konfigurationen von einer bis zu sechs Linien zu bilden. Er bedient sich dazu der Prozeduren von ‚ebenen‘ und ‚räumlichen‘ Dreieckssta6 : peln (d.h. Dreiecksstapel erster und zweiter Ordnung) und der Symmetrie Ci6 = C6−i
24 Im Gegensatz zu anderen Autoren bin ich nicht der Meinung, dass Wang Lai den folgenden allgemeinen Zusammenhang erkannt hat :
Siehe zum Beispiel Li Zhaohua 李兆華: Wang Lai Dijian shuli, Sanliang suanjing lüelun 汪 萊《遞兼數理》,《參兩算經》略論 (Eine kurze Diskussion von Wang Lais Mathematischen Prinzipien sequentieller Verknüpfungen und Mathematischem Klassiker der Zwei und Drei), in: Wu Wenjun 吳 文俊 (Hrsg.): Zhongguo shuxueshi lunwenji 中國數學史論文集 (China Historical Materials of Science and Technology) 2, 1986, S. 65-78 oder Liu Duns 劉 鈍 Einleitung zu Wang Lai (1993), S. 1479 (wie Anm. 20).
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Andrea Bréard
Wang Lai bringt seine Berechnungen aber nicht in Relation mit dem arithmetischen Dreieck, das ja gerade in der siebten Zeile die Zahlen 1, 6, 15, 20, 15, 6, 1 enthält und deren Summe gleich 26 ist. Solche zahlentheoretischen Zusammenhänge werden erst Ende des 19. Jahrhunderts von Li Shanlan25 systematisch erforscht und führten unter anderem zu der in der modernen Kombinatorik als Li Renshu Identität bekannten Formel:26
Li Shanlan’s Arbeiten aber als Beitrag zur Kombinatorik zu interpretieren ist im Kontext der chinesischen Mathematik problematisch.27 Sein Werk steht in China vielmehr in einer Traditionslinie, die sich seit den Neun Kapiteln mathematischer Prozeduren der Han-Zeit aus Überlegungen zur Diskretisierung kontinuierlicher Volumina entwickelt hat, und von Zhu Shijie 1303 systematisch in eine Theorie der Summation endlicher Reihen in Zusammenhang mit dem arithmetischen Dreieck ausgearbeitet wurde.28 Arbeiten vom 14. bis zum 19. Jahrhundert die in enger Beziehung mit der Summation endlicher Reihen und dem arithmetischen Dreieck standen, zeigten eine eigenständige Ausbildung einer mathematischen Disziplin in China auf, die ganz und gar in traditionellen Konzepten verankert war. Die Weiterentwicklung dieser Traditionslinie bis ins späte 19. Jahrhundert geschah ohne jeglichen Bezug zu einer kombinatorischen Interpretation des arithmetischen Dreiecks. Sicher steht, dass diese Traditionslinie von einem rein modernen kombinatorischen Standpunkt aus gesehen eine sehr viel weitere mathematische Tragweite hatte als Chen Houyaos originelle Überlegungen anhand von Glücksspielen, Namens- und Wahrsagekombinationen. Chen Houyaos und Wang Lais Texte und deren kombinatorische Betrachtungen im Sinne einer mathematischen Analyse von Konfigurationswandlungen, rücken dadurch an die Peripherie mathematischer Aktivitäten im vormodernen China. Sie hatten keinen sichtbaren Einfluss auf zeitgenössische oder spätere mathematische Arbeiten, vielleicht gerade weil ihre Inspiration nicht aus den kanonischen Neun Kapiteln, sondern aus der Divination kam. Auch Ende des 19. Jahrhunderts, als westliche mathematische Schriften in China übersetzt wurden, findet man kein Kapitel zur Kombinatorik in der ersten Übersetzung zur Wahrscheinlichkeitstheorie. John Fryer, Mitübersetzer von Thomas 25 Li Shanlan 李善蘭: Duoji bilei 垛 積比纇 (Analoge Kategorien diskreter Akkumulationen), 4 juan, in: Zeguxizhai suanxue 則古昔齋算學 (Mathematik aus dem Zeguxi-Studio), 24 juan, Jinling 1867. 26 Siehe Horng Wann-Sheng: Li Shanlan: The impact of Western mathematics in China during the late 19th century. Ph.D. Thesis, City University of New York 1991, S. 206. 27 Ebd., S. 225 „one of the early masterpieces of combinatorics“. Siehe auch Martzloff, JeanClaude: Un exemple de mathematiques chinoises non triviales: Les formules sommatoires finies de Li Shanlan (1811-1882), in: Revue d’Histoire des Sciences 43, 1990, 1, S. 81-98. 28 Zur Entwicklung dieser Traditionslinie vom 1. bis zum 19. Jahrhundert siehe Bréard (wie Anm. 21) und Tian Miao: The Westernization of Chinese Mathematics: A Case Study of the duoji Method and its Development, in: EASTM 20, 2003, S. 45-72.
Leibniz und Tschina
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Galloways A Treatise on Probability 29 und Herausgeber des Scientific and Industrial Magazine in Shanghai, stellt lediglich 1880 in der Rubrik Eigenartige Aufgaben aus der Mathematik (Suanxue jiti 算學奇題) als Herausforderung an seine chinesische Leserschaft folgendes kombinatorisches Problem: „Aufgabe n° 22. Man habe einen Gastgeber und Gäste, insgesamt 8 Personen, um einen runden Tisch herum gereiht. Man lasse nun jeden einmal trinken mit der Person zu seiner rechten und seiner linken, ein jedes Mal mit jemandem anderen. Die Frage ist auf wie viele verschiedene Weisen man trinken kann?“30 „Die Antwort lautet: Man nehme an, der Gastgeber sitze fest. Wenn man diesen Platz und die Sitzplätze der restlichen sieben Personen vertauscht und aufreiht, erreicht man, dass jedes Mal die Person die zur rechten und zur linken sitzt unterschiedlich ist. Nur dass derjenige der diesmal zur rechten sitzt ein andermal zur linken sitzen kann, derjenige der diesmal zur linken sitzt kann ein andermal zur rechten sitzen. Man erhält so als Anzahl der Möglichkeiten 5040. Nur weil die zwei Personen rechts und links tauschen können, rechnet man nur A mit B und C als Nachbarn und nicht C A B oder B A C. Deshalb muss die Antwort lauten: Es gibt 2520 Möglichkeiten zu trinken.“31
Schlussfolgerung Die Vielfalt von Interpretationen die den Hexagrammen des Buches der Wandlungen zugeschrieben wurden, und Anlass gab zu Leibniz Kritik, kann historisch gesehen auch anders bewertet werden. Chen Houyaos Entlehnung der Hexagramme als Rahmen für mathematische Betrachtungen zu Kombinationen und Permutationen, stellt eine der vielen möglichen Lektüren der Wahrsagediagramme dar. Eventuell führten sie zunächst durch komplette Abzählung und Auflistung zu ersten mathematischen Erkenntnissen. Die singuläre Erscheinung von Chen Houyaos Manuskript und das Fehlen jeglicher Spur probabilistischer Arbeiten die auf seine Algorithmen für Permutationen oder Kombinationen zurückgegriffen hätten, lässt zunächst keine diachronischen Schlussfolgerungen über die Bedeutung der Hexagramme in der Mathematikgeschichte Chinas zu. Interessanterweise gibt es aber eine ähnlich singuläre Schrift von Wang Lai, die wiederum auf den Kontext der Hexagramme zurückgreift, um Prozeduren zur Kombinatorik zu erläutern. Es war also gerade die Beschäftigung mit Konfigurationswandlungen in der Divination, die scheinbar Anlass gab zu den einzigen (heute erhaltenen) Schriften mathematischer Kombinatorik im vormodernen China. In diesem Sinne haben die Hexagramme des alten China, die für Leibniz eine ideale Brücke zwischen westlicher Wissenschaft 29 Galloway, Thomas: A treatise on probability: forming the article under that head in the seventh edition of the Encyclopædia Britannica, Reprint: Edinburgh, Adam and Charles Black, 1839. Übersetzt ins Chinesische von Fryer, John (Fu Lanya 傅蘭雅) & Hua Hengfang 華蘅芳: Jueyi shuxue 決疑數學, China: Zhou ed. 克城周氏刊本 1896. 30 Fryer, John 傅蘭雅 (Hg.): Gezhi huibian 格致匯編 (The Chinese Scientific and Industrial Magazine, A monthly journal of popular information relating to the sciences, arts and manufactures of the West, with which is incorporated The Peking Magazine), Shanghai : 18761892, hier: n° 7 (1876), S. 11a. 31 Ebd. n° 8 (1876), S. 10b.
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Andrea Bréard
und Schöpfungstheologie und chinesischer Tradition darstellten, schließlich doch auch in China ihren wissenschaftlichen Beitrag geleistet: nicht als binäres Zahlensystem aber als Modell mathematischer Kombinatorik.
Michel Fichant
LEIBNIZ ET LES PARADOXES DE LA MODERNITE NOTES SUR LA PREFACE A NIZOLIUS La Dissertation placée par Leibniz en préface à son édition du traité de Nizolius, parfois indûment citée sous le faux titre de De stilo philosophico Nizolii, 1 est suivie de la reproduction d’une « lettre adressée à un homme à la science la plus distinguée, sur la possibilité de réconcilier Aristote avec les Modernes » (A VI, 2, 433). Le destinataire en est clairement identifié par l’impression, à la suite de ce texte, d’extraits d’une autre lettre, émanant de Jacob Thomasius, désigné comme « grand ornement, comme il s’en trouve peu, de ces études dans toute l’Allemagne » (A VI, 2, 444). Cette lettre est « adressée à l’éditeur », c’est-à-dire, en l’occurrence, à Leibniz. Je me propose d’examiner ici le sens de la composition, qui associe l’un à l’autre, dans la Préface et cette lettre réunies, deux éléments dont l’élaboration, la destination sont différentes, et qui portent, au moins en apparence, sur des sujets distincts. En quoi cette composition fait-elle pourtant sens, et éclaire-t-elle sur les intentions qui animaient Leibniz lorsqu’il s’employait à publier l’œuvre d’un humaniste italien du siècle précédent ? Pour le comprendre, il faut faire entrer en scène un troisième protagoniste, Jacob Thomasius. §1 Jacob Thomasius (1622-1684) avait été le professeur de Leibniz à l’Université de Leipzig durant les années 1661-1663. Il y avait succédé dans ses fonctions professorales au propre père de Leibniz, en occupant d’abord une chaire de philosophie morale, avant de prendre celle de rhétorique. Il avait présidé en 1663 la séance au cours de laquelle le jeune Leibniz avait soutenu sa Dissertation De principio individui. Le texte donné en supplément à la Préface au livre de Nizolius est en fait une version un peu abrégée et amendée, par l’omission de quelques paragraphes, phrases ou membres de phrases, d’une lettre effectivement adressée par Leibniz à Jacob Thomasius, dont Gerhardt puis l’édition académique ont publié la minute 1
Il faudrait entendre ce faux titre comme contenant lui-même en citation le titre du livre de Nizolius : Sur le « Du Style philosophique » de Nizolius. La Préface de Leibniz porte deux intitulés différents : sur la page de garde du livre : Dissertatio praeliminaris de instituto operis atque optima philosophi dictione (A VI, 2, 385) ; au début du texte : Dissertatio praeliminaris De alienorum operum editione, de Scopo operis, de Philosophica dictione, de lapsibus Nizoliis (A VI, 2, 401). Quant au propre titre du livre de Nizolius retenu par Leibniz, il est : De veris Principiis et vera Ratione Philosophandi contra Pseudophilosophos, Libri IV.
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Michel Fichant
retrouvée dans les papiers de Leibniz.2 Sans donner sa source, Gerhardt indiquait en note qu’elle était datée du 20/30 avril 1669 (GP I, 27). Elle est la plus longue, de loin, de l’échange de correspondance qui s’est établi de 1663 à 1672 entre l’élève et son ancien maître. Elle apporte l’exposé le plus détaillé et le plus complet des conceptions de Leibniz en philosophie naturelle, à l’époque de la parution de la hâtive Confessio naturae contra Atheistas ; la lettre fait d’ailleurs référence à cet écrit ainsi qu’aux circonstances de sa publication, quoique sous une forme très abrégée dans la version imprimée.3 C’est aussi à Thomasius que Leibniz s’est ouvert de son projet d’édition de Nizolius, en octobre ou au début de novembre 1669 (A II, 1, 13, Bodéüs 227-228). Du livre de Nizolius, Leibniz souligne ce qu’il pense en être les deux thèmes principaux : en premier lieu, l’attaque contre la réalité des universaux, « argument par lequel il fait profession de nominaliste » (A II, 1, 26, Bodéüs 228). Ce qui le conduit en second lieu à retenir de Nizolius « le principe que si une chose peut être exprimée avec la même facilité dans les termes du peuple, il faut s’abstenir de ces élucubrations techniques qui ne sont faites que pour la rendre obscure » (ibid.). La Préface se proposera justement d’expliquer et justifier l’usage de cette règle, tout en atténuant sa rigueur en pratique. En outre, Leibniz demandait à Thomasius s’il en savait davantage sur la philosophie de Nizolius. Thomasius lui fournira les renseignements en sa possession, dans une lettre du 22 novembre 1669 (A II, 1, 27-28, Bodéüs, 237-238), tout en associant au nom de Nizolius ceux de Ramus et des ramistes,4 ce qui peut avoir suggéré à Leibniz de dire quelque chose de Ramus, des ramistes et des « philipporamistes » dans sa Préface (A VI, 2, 423). Le 16 avril 1670 enfin, Leibniz informe Thomasius de sa décision de publier à cette occasion sa lettre de l’année précédente : J’ai aussi ajouté la lettre que je vous avais écrite concernant la possibilité de concilier Aristote avec les Modernes, moyennant quelques changements suggérés par la circonstance. Vous n’avez pas cependant été nommé, pas plus que mon nom ne figure en quelque endroit.5 2
3
4 5
La correspondance entre Leibniz et Jacob Thomasius a d’abord été publiée par Gerhardt (GP I, 1-39), puis dans le premier volume paru du Philosophischen Briefwechsel dans l’édition de l’Académie (A II, 1, 1926). On la trouve sous sa forme définitive dans la seconde édition de ce même volume (A II, 1, 2006). Je citerai A II, 1 d’après l’édition de 1926, dont la pagination est reportée dans les marges de celle de 2006. Richard Bodéüs a donné une remarquable traduction, accompagnée d’une Introduction, d’un commentaire et de notes, Librairie philosophique Vrin, Paris, 1993. A II, 1, 24, Bodéüs 115-116, à comparer avec A VI, 2, 443 : « Disserui hac de re in extemporanea quadam schedula, quam in suas manus deletam V.CL. Theoph. Spizelius nihil merentem licet, Epistolae suae ad Clarissimum Reiserum de atheismo eradicando nuper editae, velut pannum lacerum purpurae assuit, hoc titulo : Confessio Naturae contra Atheistas. » « In eadem cum Nizolio sententia Ramum eiusque assecias fuisse opinor. Certe quantum teneo memoria, malunt illi, ubi philosophicum expediendum certamen est, cum Cicerone, quam cum scholis loqui » (A II, 1, 28, Bodéüs 238). « Addidi et epistolam, quam ad te, de Aristotele recentioribus conciliabili scripseram, immutatis nonnulis, ut res ferebat ; te tamen non nominato, quemadmodum nec meum nomen alicubi adscriptum est » (A II, 1, 36-37, Bodéüs 245).
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C’est là l’essentiel de ce qui touche aux relations entre Leibniz et Thomasius dans la préparation de l’édition et dans la rédaction de la Préface. Cela ne suffit évidemment pas à donner une justification suffisante à la décision d’associer à cette Préface une version remaniée de la grande lettre à Thomasius. Richard Bodéüs observe à ce sujet que cette lettre « n’a strictement rien à voir avec l’édition de Nizolius, sinon qu’elle illustre un détail de la préface relatif à l’aristotélisme médiéval aujourd’hui corrigé (notamment par Thomasius) ».6 Il me semble cependant que c’est là donner un commentaire réducteur du sens que comporte l’association de la Préface et de la lettre. Sans doute, Leibniz a-t-il voulu profiter de l’opportunité que lui offrait son travail d’édition pour faire connaître sa propre position, qui était alors celle d’un nouveau venu dans le champ philosophique, ne serait-ce que pour corriger l’image assez sommaire qu’en donnait la publication de la Confessio naturae. Avant l’Hypothesis physica nova, dont les amorces se font jour à la même époque et dans le même contexte de la correspondance avec Thomasius,7 il s’agit bien de la première intervention de Leibniz dans le domaine de la philosophie naturelle et de l’explicitation de ses fondements conceptuels, qui est aussi le terrain par excellence où la modernité philosophique s’est assurée de ses succès décisifs. Il ya en cela un lien plus fort et plus rigoureux entre la thématique de la lettre et celle de la Préface, qui apporte à leur réunion dans la même publication une justification plus profonde que la seule considération de l’opportunité. §2 Le « détail de la préface relatif à l’aristotélisme médiéval » dont Richard Bodéüs fait état désigne en effet le passage où Leibniz annonce et justifie la présence de la lettre donnée en appendice. Il s’agit alors de dénoncer, parmi les erreurs de Nizolius, celle qui « remporte la palme » : imputer à Aristote des défauts qui sont bien plutôt ceux des Scolastiques (A VI, 2, 425). Car c’est un fait qu’Aristote s’est tenu éloigné des absurdités qu’on lui prête, et qui ne lui ont été attribuées que par l’ignorance des siècles passés : Aristote n’a nullement voulu soutenir la réalité prétendue des formalités, alors qu’il s’est seulement proposé de constituer les notions les plus générales. C’est là ce qui est suffisamment attesté par l’entreprise de conciliation d’Aristote avec les Modernes menée par des auteurs comme, par exemple, Jean de Raey.8 Puisque cet objectif est excellent et nécessaire aux lettres, pour ne pas éliminer ce qui est utile avec ce qui est vain, et pour que ne se réalisent pas les rêves de certains visant à abattre complètement Aristote dans les esprits de la jeunesse imprudente, il a paru opportun d’ajouter ici mes extraits d’une longue lettre adressée il n’y a pas si longtemps à un célèbre péripatéticien allemand, homme très distingué en toute érudition, outre sa connaissance très exacte de la philosophie (rendue manifeste au public par quelques échantillons remarquables, 6 7 8
Dans le Commentaire à la Lettre X, p. 251. Lettre du 29 décembre 1670, A II, 1, 73-74, Bodéüs 278-279. Jean de Raey (1622-1701) est l’auteur d’un ouvrage au titre significatif : Clavis Philosophiae naturalis, seu Introductio ad naturae contemplationem, Aristotelico-cartesiana (Leyde, 1654).
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Michel Fichant et à rendre, à ce que je souhaite, encore plus notoire par d’autres, dont une bonne quantité est à sa disposition).9
On observera ici le dispositif que Leibniz met en place en composant une sorte de contrepoint. Celui-ci associe, d’un côté, la critique humaniste et rhétorique de la Scolastique, englobant Aristote et même Platon, et de l’autre l’aristotélisme partiellement rénové de Thomasius, qui s’était dit lui-même « plutôt nourri des formules de l’usage scolastique » (A II, 1, 28, Bodéüs 238) ; il pouvait se définir ainsi par rapport à Leibniz : « Votre prime jeunesse coïncide avec une époque où tous les combats se trouvent pratiquement achevés, tandis que j’ai passé toute la mienne aux derniers temps d’un âge barbare, d’où je me suis contenté de sortir peu à peu d’une certaine façon, pour faire quelque profit d’érudition » (A II, 1, 25, Bodéüs 211). Face à cette alternative, la position de Leibniz consiste, pour le dire à grands traits, à montrer que la rénovation complète de l’aristotélisme, au nom même des critères de la modernité, permet de retrouver les véritables origines de cette modernité, en dépassant le caractère partiel et, au fond, caduc de la critique instruite par Nizolius. Mais la thèse leibnizienne se complique, en ce qu’elle enveloppe aussi la reconnaissance de l’apport positif de Nizolius relativement à ce qui est, à ce moment-là, le projet le plus personnel et, pour ainsi dire, idiosyncrasique, de Leibniz : l’établissement d’une « logique » elle aussi réformée, dont la Dissertatio de arte combinatoria a déjà posé les premiers éléments. §3 Comment, de ce point de vue, Leibniz apprécie-t-il l’attitude de Nizolius ? Cette question revient encore à demander comment nous sommes à même de comprendre la position de Nizolius au travers de l’exposé que Leibniz en donne. Leibniz ne connaît que de seconde main, par ce qu’en révèle l’ouvrage lui-même, les circonstances polémiques de sa publication ; mais cela lui suffit pour y voir l’expression extrême d’un « novateur ».10 Le parti-pris de la novation s’exprime chez Nizolius à la fois contre ceux qui contestent la prééminence philosophique de Cicéron, en tout cas en matière de morale (le De Officiis témoignant assez de cette supériorité), et contre ceux qui s’essaient en vain à concilier l’enseignement cicéronien avec celui d’Aristote, au 9
« Quod consilium cum sit optimum, et rei literariae necessarium, ne utilia cum vanis aboleantur, et nonnullorum somnia de abiiciendo prorsus Aristotele in animis incautae juventutis invalescant ; visus est hic locus opportunus, cui excerpta quaedam mea ex prolixa aliqua Epistola non ita dudum ad celeberrimum peripateticum Germanum, Virum praeter acuratissimam philosophiae cognitionem (aliquot jam praeclaris speciminibus orbi declaratam et quod opto, multo pluribus, quorum illi ingens copia suppetit, declarandam) in omni eruditione exquisitum data, adjiciantur » (A VI, 2, 426). 10 Pour une présentation de la personnalité et de l’œuvre de Nizolius, on se reportera à la riche introduction de Quirinus Breen à son édition de Mario Nizolio, De veris Principiis …, Roma, Fratelli Boca Editori, 1956.
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profit de ce qui serait un humanisme de compromis. Nizolius défend par conséquent le principe de la rénovation philosophique des humanae literae par le retour à la meilleure latinité, contre la source aristotélicienne, mais aussi bien, du même coup, contre le platonisme. La question passe donc du côté, à la fois, de la langue et de la hiérarchie des disciplines, ce qui, en un sens, revient au même : ainsi s’opère en effet la destitution de la primauté de la métaphysique et (ou) celle de la dialectique, au profit de la grammaire (de la langue latine) et de la rhétorique (du discours latin). Bien écrire, user correctement des mots propres, respecter une syntaxe normée par l’usage des bons auteurs, cela équivaut à penser droitement, au nom d’une confiance inentamée en l’adéquation à la réalité d’un langage qui est ainsi rendu naturel par une pratique rigoureuse. A cela s’oppose l’inutilité et la vacuité de la métaphysique, dont le signe manifeste est l’emploi d’une langue qui maltraite le bon sens linguistique. Or ce bon sens est incarné par la latinité cicéronienne, celle de l’œuvre du philosophe, auteur du De Officiis, mais aussi du De Fato et du De Natura deorum. Non seulement il faudrait exclure de la langue correcte la plupart des termes techniques forgés par ceux que Nizolius traite de « pseudophilosophes », mais il faudrait aussi écarter jusqu’aux noms mêmes de la Logique et de la Métaphysique.11 S’agissant de cette dernière, le principe d’épuration linguistique permet de reconnaître « qu’elle n’est non seulement ni parfaite, ni noble, ni universelle, mais aussi qu’elle n’est du tout vraie ni nécessaire », ce qui se prouve ainsi : D’abord parce que la Métaphysique n’a aucune véritable matière propre, ni aucun véritable sujet propre, ni général, ni particulier, sur lequel elle porte, et par où elle puisse être distinguée des autres sciences. Car, comme je l’ai montré plus haut suivant la conception d’Aristote, les sciences pures se distinguent d’après leurs sujets et leurs matières. Puisqu’il en est ainsi et qu’Aristote dit explicitement que τό ὄν ᾗ ὄν, c’est-à-dire l’étant comme étant, ou, comme disent les barbares, l’étant en tant qu’étant (ens inquantum ens), est le sujet propre de la Métaphysique, — je lui demande aussitôt, ou à n’importe quel autre péripatéticien, si ce sujet est une chose particulière ou une chose universelle : s’il dit que c’est une chose particulière, ce sera contre sa propre doctrine. C’est en effet, chez lui comme chez tous ses sectateurs, un dogme, à ce qu’ils pensent, jamais en défaut, qu’il ne peut y avoir aucune science des particuliers, mais seulement des universels : c’est pourquoi il ne pourra d’aucune façon donner cette réponse. S’il répondait qu’il s’agit d’une chose universelle, je rétorque que tous les universaux réels, comme on dit, ont été par nous réfutés ci-dessus. Et si cela a été fait correctement, comme cela l’a certainement été, ce sujet de la Métaphysique, qui est dit être
11 Comme l’atteste la liste des exemples de « mots barbares ou peu latins » énumérés par Nizolius dans un passage marqué par Leibniz d’un trait dans la marge de son exemplaire : « […] ens, essentia, essentialis, entitas, quiditas, accidentalis, potentialis, potentialitas, praedicare, praedicatum, praedicamentum, praedicamentalis, univocum, aequivocum, univocum univocans, univocum univocatum, aequivocum aequivocans, aequivocum aequivocatum, realis, substantialis, intentionalis, principale, principaliter, secundario, Metaphysica, metaphysicalis, Logica, logicalis, mentalis, sermocinalis, orationalis, logice, metaphysice, realiter, intentionaliter, consequenter, infinitare, universalizare, et alia quam plurima hujusmodi plusquam barbara, a Pseudophilosophis prorsus inaniter inventa, et temere in Philosophiam introducta » (A VI, 2, 446).
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Michel Fichant l’étant en tant qu’étant, ne peut pas ne pas être faux. Et d’autant plus faux que l’étant en tant qu’étant, comme ils le reconnaissent aussi, est le plus universel de tous les universaux.12
Dans cette offensive contre le mirage des mots, auquel la Métaphysique ne peut pas ne pas céder, Nizolius rencontre ce qu’il appelle l’« Ochamica … opinio », l’opinion occamiste sur les universaux (A VI, 2, 451) : il y trouve une arme critique contre la Scolastique et contre la prétention des « Réaux » à prendre les mots pour les choses. Tout autre sera un usage économe de la langue, où les mots, allégés de la surcharge indue des formalités, s’effacent devant les choses qu’ils montrent. Si le discours est pratiqué selon cette économie, alors la « recta ratio » s’identifie bien à la « recta oratio ». C’est là, on l’a vu, le premier motif qui a conduit Leibniz à s’intéresser au livre de Nizolius.13 §4 La situation discursive mise en place par cette querelle reçoit un sens philosophique supplémentaire si on la replace dans la relation qui se noue entre le professeur Thomasius et son brillant étudiant : elle figure aussi la relation de l’homme de la transition, qui n’est plus en état d’aller plus avant à la rencontre de la modernité, au débutant surdoué qui, lui, est déjà situé en dehors de cette modernité ; c’est pourquoi il peut prétendre l’appréhender dans sa totalité et, par là même, en faire apparaître les limites. C’est là sans doute une tâche dont Leibniz ne détenait pas encore, à ce moment-là, les moyens à sa mesure, mais il est vrai qu’il la considérera toujours comme la sienne ; pour une bonne part, l’œuvre de sa maturité s’expliquera par là. J’emprunte à Richard Bodéüs les éléments essentiels d’une présentation succincte de la position de Thomasius. Celui-ci avait reconnu le besoin d’une réforme de la philosophie aristotélicienne, au motif que son vrai sens avait été 12 « Primum quia Metaphysica nullam habet propriam materiam veram, nec ullum proprium subjectum verum nec generale nec particulare, in quo versari, et quo ab aliis scientiis distingui possit. Namque ut supra ostendi ex Aristotelis sententia, scientiae purae ex subjectis et materiis suis distinguuntur. Quod cum ita sit, et cum Aristoteles aperte dicat, τό ὄν ᾗ ὄν, hoc est, ens qua ens, vel ut barbari loquuntur, ens inquantum ens, esse proprium Metaphysicae subjectum : statim quaero ab eo, aut ab alio quopiam Peripatetico, subjectum istud, utrum res aliqua particularis sit an universalis : si particularem dicat, id erit contra suam ipsius doctrinam. Est enim dogma apud illum, et omnes illius sectatores, nunquam, ut ipsi putant, fallens : de particularibus nullam posse esse scientiam, sed tantum de universalibus : quare nullo pacto ita dicet. Si rem universalem respondeat, rursus dico universalia omnia realia, ut vocant, a nobis suora fuisse refutata. Et si id recte factum fuit, ut certe factum fuit, non posse subjectum istud Metaphysicae, quod dicitur esse ens inquantum ens, non esse falsum. Et tanto magis falsum, quanto ens inquantum ens, est ut etiam ipsi confitentur, universalissimum omnium universalium » (A VI, 2, 463). En marge de cette argumentation, Leibniz a noté : « Vana haec disputatio est nam perinde est, dicere cum scholasticis : Ens qua Ens esse metaphysicae subjectum, et dicere cum Nizolio : subjectum ejus esse genus rerum, qua res sunt ».». 13 Cf. la lettre VII à Thomasius, A VI, 1, 25-27, Bodéüs 228.
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masqué par la transmission scolastique et donc aussi, de ce point de vue, par la christianisation de l’aristotélisme historique. Mieux vaut donc restituer la pensée d’Aristote dans son authenticité, non pour y adhérer, mais pour y disposer plutôt du fonds amendable d’une doctrine rationnelle commune, servant en particulier de base à l’enseignement, – et ce pour tout ce qui se trouve en dehors du domaine de la foi. Thomasius critique au passage les novantiqui pour leur injuste dédain envers Aristote, qu’implique leur essai de restauration de doctrines anciennes beaucoup plus mauvaises, comme celle de Platon revue par Ficin, ou celle d’Epicure rénovée par Gassendi et Hobbes, ou encore celle des sceptiques remise en vigueur par Descartes (selon une lecture courante à l’époque). Thomasius a publié finalement en 1683 ses Discours prononcés à l’Université, répondant ainsi tardivement au vœu de Leibniz.14 On y trouve une conférence de janvier 1654, dont l’exposé contient une bonne partie du matériau historique exploité par Leibniz dans sa Préface. C’est là qu’est formulée notamment la distinction à introduire entre le nominalisme radical du « vocalisme » de Roscelin et le nominalisme tempéré du conceptualisme. En 1669, la thèse qu’expose Leibniz dans sa longue lettre-programme s’écarte de la position de Thomasius, tout en retenant pourtant une pièce essentielle de son argument : l’Aristote authentique n’est pas celui de la scolastique. Mais Leibniz va plus loin : cet Aristote restitué peut, du point de vue de l’analyse conceptuelle, être parfaitement concilié avec l’interprétation de la nature commune à tous les Modernes, c’est-à-dire avec le mécanisme. Il suffit pour cela d’établir une sorte de lexique fixant les équivalences : à la matière du Stagyrite répond l’étendue combinée avec l’antitypie, et à la forme la figure ; quant au mouvement, on rappellera qu’Aristote a bien assuré la primauté du mouvement local sur toutes les autres espèces de la kinèsis.15 Si, de façon générale, tout ce qui est doit pouvoir s’expliquer à partir d’un lot restreint d’entités primitives, qui sont l’esprit, l’espace, la matière, le mouvement, – la physique n’aura besoin quant à elle que des trois dernières, en excluant les notions confuses qui faisaient indûment intervenir des agents spirituels dans son champ d’étude.16 Il n’y a là, selon Leibniz, rien qui ne soit conforme à Aristote : la conciliation est à la fois possible et nécessaire. Si la conciliation est conceptuellement possible, elle est aussi rendue nécessaire selon les exigences d’une Réforme qui doit être, en philosophie, le répondant de celle qui s’est accomplie dans la religion, après avoir surmonté des écueils comparables : de part et d’autre, le rapport de la tradition à la rénovation ouvre à trois possibilités doctrinales, dont une seule mérite d’être développée. Le texte où Leibniz expose ce parallélisme à Thomasius mérite d’être intégralement cité :
14 Orationes, partim ex umbone templi Academici, partim ex auditorii philosophici cathedra recitatae, Argumenti varii, référence donnée par Bodéüs, op. cit., p. 9, note 1. 15 A II, 1, 15sq., Bodéüs 100sq. 16 A II, 1, 21sq., Bodéüs 11sq.
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Michel Fichant Ce que doivent accomplir les théologiens est très exactement ce que doivent accomplir les philosophes. Les Saints Pères ont éclairé l’Ecriture Sainte d’excellentes interprétations. Les moines ont eu tôt fait de l’obscurcir de superstitions. Avec la lumière qui s’est levée dans les esprits, la théologie s’est réformée de trois façons : l’une est hérétique, qui rejette les Ecritures elles-mêmes, comme celle des fanatiques : une autre est schismatique, qui rejette les anciens Pères de l’Eglise, comme celle des Sociniens ; la troisième est la vraie, qui concilie les Docteurs de l’Eglise avec l’Ecriture Sainte et l’Eglise primitive, comme celle des Evangéliques. De manière analogue, les interprètes grecs ont éclairé Aristote. Les Scolastiques l’ont obscurci de balivernes. Avec la lumière qui s’est levée, la philosophie s’est réformée de trois façons : l’une est stupide, comme celle de Paracelse, de Helmont, et d’autres qui rejettent complètement Aristote ; une autre est téméraire, qui se soucie très peu des Anciens et les tient même ouvertement en mépris, allant jusqu’à rendre ainsi suspect ce qu’il y a de bon dans ses propres méditations, telle est celle de Descartes ; la troisième est la vraie, c’est celle de ceux qui reconnaissent en Aristote un grand homme, qui, la plupart du temps, dit vrai.17
On reconnaîtra l’audace de l’analogie, où le texte d’Aristote joint à celui de ses commentateurs grecs forme un corpus de référence qui, toutes choses égales, tient en philosophie une place équivalente à celle que l’Ecriture complétée par les Pères de l’Eglise tient en théologie. Après la détérioration de ce legs commise soit par les moines, soit par les Scolastiques, la juste voie de la Réforme ne consiste pas à sacrifier quoi que ce soit de l’héritage, mais à lui restituer sa signification originelle, seule susceptible de justifier inversement les attentes des Modernes. Il est significatif que Leibniz ait jugé bon de ne pas reproduire ce passage dans la version imprimée de la lettre à Thomasius. Mais cette prudence, qui restera un caractère constant de son style de publication, ne signifie pas qu’il ait abandonné sur le fond l’ambition qui s’affiche dans ces lignes : il se voudra toujours le promoteur d’une telle Réforme. Seulement, si la philosophie réformée à laquelle Leibniz en appelle doit mettre en évidence la compatibilité de la physique d’Aristote et du mécanisme des Modernes, elle ne peut que considérer comme timorée et insuffisante la position de Thomasius (qui n’accorde pas assez à la philosophie moderne), mais tout autant comme injuste et excessive dans son contexte culturel celle de Nizolius (qui rejette Aristote). Un tel jugement implique un transfert des enjeux : dans la sphère humaniste, Nizolius identifiait sa modernité, suivant les normes de la rhétorique, du style, et de ce que nous pourrions appeler un art d’écrire, avec la prépondérance du modèle cicéronien ; l’exclusion de l’aristotélisme était sanctionnée dans ce contexte par la critique de la langue scolastique, en ce qu’elle est porteuse de l’illusion réaliste. Leibniz pour sa part se place au point de vue de 17 « Scilicet quod Theologis, idem et philosophis agendum est. Scripturam sacram sancti patres optimis interpretationibus illustrarunt: mox monachi obscurarunt superstitionibus. Orta luce animorum, theologia reformata triplex est: alia haeretica, quae ipsas scripturas rejicit, ut fanaticorum; alia schismatica, quae priscos patres ecclesiae rejicit, ut Socinianorum; alia vera, quae ecclesiae doctores cum scriptura sacra et primitiva ecclesia conciliat, ut Evangelicorum. Similiter Aristotelem interpretes Graeci illustrarunt, scholastici obscurarunt nugis. Orta luce, philosophia reformata triplex est: alia stolida, qualis Paracelsi, Helmontii, aliorumque, Aristotelem prorsus rejicientium; alia audax, quae exigua veterum cura, immo contemptu eorum palam habito, bonas etiam meditationes suas suspectas reddunt, talis Cartesii; alia vera, quibus Aristoteles vir magnus, et in plerisque verus cognoscitur » (A II, 1, 21, Bodéüs 110-111).
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l’avènement déjà accompli (comme l’observe Thomasius), de la science moderne : c’est là qu’il rencontre le nominalisme comme la doctrine philosophique des fondements logiques de la science qui rejoint le mieux les attentes de la modernité. Mais en même temps, d’une manière qui, pour l’histoire de la philosophie, est évidemment un coup de force, il restaure le sens authentique de la physique d’Aristote contre la prétention insoutenable de cette modernité à ne pas s’avouer sa provenance et à renier tout héritage. §5 Dès lors, Leibniz pouvait définir sa propre position comme formant la troisième face pour ainsi dire sur un trièdre, dont les deux autres faces seraient occupées respectivement par Thomasius et par Nizolius. Il y montre toute sa subtilité. Si les Modernes ne s’avouent pas héritiers, c’est qu’en effet, comme le note Leibniz « il est plus facile d’arracher que d’amender » (Facilius scilicet est, carpere quam emendare, A VI, 2, 421). Et pourtant « il viendra un temps où nos contemporains seront aussi des anciens » (Fore tempus cui et nostra vetera erunt, 403) : si cet aphorisme doit être autre chose qu’un lieu commun convenu, c’est qu’il faut reconnaître inversement au passé le sens dont le présent le prive indûment, d’avoir eu lui aussi sa présence et sa part de nouveauté.18 Par là, on rétablira la connexion qui rend solidaires les moments de l’histoire de la pensée : « Il y a comme des âges des doctrines, et celles qui sont produites de nos jours comme nouvelles, pour la plupart ont déjà été discutées jadis avec soin par les savants » (esse quasdam sententiorum periodos, et quae nostro tempore velut nova producuntur, jam olim plurima a doctis viris magna cum contentione agitata esse, 423). Ce qui se reconnaît alors, c’est qu’au fond la suffisance des Modernes, contempteurs des âges antérieurs, était déjà contenue dans la médisance d’un Nizolius à l’égard des Anciens. De là ont découlé ses trois erreurs majeures : 1/ La première de toutes – on l’a vu – a été d’imputer à Aristote des défauts qui sont ceux de la Scolastique (A VI, 2 425). 2/ Nizolius « a prétendu abolir la Dialectique et la Métaphysique » (ibid., 429), alors même que personne ne niera « qu’il y a des préceptes tant de l’art de penser ou de la science de l’esprit, que de la piété naturelle ou de la science de 18 Pascal est progressiste et moderniste quand, dans la Préface pour le Traité du vide, il exploite l’argument pour renvoyer les Anciens à une inexpérience, qui est la marque de leur jeunesse dans les âges de l’humanité ; c’est pourquoi il n’y a pas lieu de leur reconnaître une autorité sur nous, qui sommes d’un âge plus avancé : « Ceux que nous appelons anciens étaient véritablement nouveaux en toutes choses, et formaient l’enfance des hommes proprement ; et comme nous avons joint à leurs connaissance l’expérience des siècles qui les ont suivis, c’est en nous que l’on peut trouver cette antiquité que nous révérons dans les autres » (Pensées et opuscules … publiés par Léon Brunschvicg, Classiques Hachette, p. 81). Pour Leibniz, l’argument signifie plutôt que les Anciens furent aussi modernes (nouveaux) que nous : rien n’est mieux partagé entre les âges que la modernité, qui ne constitue le privilège d’aucun et n’autorise donc à aucun le dénigrement du passé dont il procède.
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l’ensemble des choses (de summa rerum), c’est-à-dire la Métaphysique » (Quis neget, esse quaedam praecepta tum artis cogitandi seu scientiae de mente, tum pietatis naturalis, sum scientiae de summa rerum, id est Metaphysicae). 3/ Il a méconnu l’utilité des universaux dans la connaissance (ibid. 430). En ignorant l’interprétation distributive des touts, et en réduisant les universaux à de simples collections d’individus,19 il a rendu impossible à la science l’établissement de véritables démonstrations, pour ne laisser place qu’à une induction sans certitude.20 §6 La triple critique que Leibniz adresse ainsi à Nizolius implique, de sa part, une réinterprétation de l’histoire. Elle comporte deux moments complémentaires : 1/ D’abord, un historique sommaire du nominalisme révèle en quoi cette doctrine est la plus appropriée à la science moderne ; Nizolius ne pouvait avoir aucune idée de cette relation, puisqu’il ne pouvait qu’ignorer son second terme, – et cela n’a rien à voir avec la culture humaniste de l’héritage cicéronien. Il faudrait citer dans son entier le remarquable passage où Leibniz donne une esquisse du développement de « l’école des Nominalistes, la plus profonde de toutes parmi les écoles scolastiques, et la plus congruente à la manière moderne réformée de philosopher » (A VI, 2, 427). Sont nominaux, ajoute Leibniz, « ceux qui pensent qu’outre les substances singulières il n’y a que de purs noms, et qui donc suppriment la réalité des abstraits et des universaux ». Si, à la suite de Roscelin, l’école est tombée dans l’oubli, elle en est ressortie avec Guillaume d’Occam, d’abord élève puis adversaire de Scot, pour se développer chez Grégoire de Rimini, Gabriel Biel, et dans les premiers écrits de Luther. Sa règle générale, dont usent tous les nominalistes, est qu’il ne faut pas multiplier les entités sans nécessité (« Entia non esse multiplicanda praeter necessitatem »). Si l’on croit défendre la libéralité divine en s’opposant à ce principe de parcimonie, c’est faute d’en comprendre la signification. Car la science a transformé la formule négative du rasoir d’Occam en règle positive d’économie dans la formation des hypothèses : « Une hypothèse est d’autant meilleure qu’elle est plus
19 « Persuadere conatur nobis, universale nihil aliud esse quam omnia singularia collective simul sumpta ; et cum dico : omnis homo est animal, sensum esse : omnes homines sunt animalia. Hoc quidem vere, sed non sequitur : universalia esse totum collectivum […] datur enim totius discreti genus praeter collectivum, nimirum : distributivum. Cum igitur dicimus : omnis homo est animal, seu omnes homines sunt animalia, sensus est distributivus : sive illum (Titium), sive hunc (Cajum) etc. sumseris, reperies, esse animal, seu sentire » A VI, 2, 430. Si le tout devait être pris collectivement, il s’ensuivrait l’absurda locutio que le genre humain tout entier (pris comme unité ou un sujet réel) serait un animal. 20 Voir l’importante fremarque de Leibniz en marge du De veris principiis, A VI, 2, 452 ; note 19.
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simple ». On connaît, et Leibniz ne manque pas de l’évoquer, le rôle de cette règle de simplicité dans l’histoire de l’astronomie.21 Leibniz ajoute : De cette règle les Nominalistes ont déduit que tout dans la nature peut être expliqué même si l’on se passe complètement des universaux et des formalités réelles ; rien n’est plus vrai que cette conception rien n’est plus digne d’un philosophe de notre époque, au point que je croira qu’Occam lui-même n’a pas été plus nominaliste que l’est aujourd’hui Thomas Hobbes, qui, à dire vrai, me paraît plus que nominaliste. Car non content de réduire avec les nominalistes les universaux aux noms, il dit que la vérité même des choses consiste dans les noms, et, qui plus est, dépend de l’arbitraire humain, puisque la vérité dépend des définitions des termes, et les définitions des termes de l’arbitraire humain. C’est là la conception d’un homme à estimer parmi les plus profonds du siècle, telle que, je l’ai dit, rien ne peut être plus nominaliste.
C’est très exactement une telle économie que Leibniz pratique lui-même quand il montre l’équivalence entre la base conceptuelle de la physique d’Aristote et celle de la philosophie naturelle des Modernes (A II, 1, 22, Bodéüs 111-112). Et si presque tous les philosophes réformateurs, sans être « plus que nominalistes », sont bien nominalistes, en ce sens Nizolius sera d’autant plus approprié à l’époque moderne. 2/ Mais cette opération revient aussi à expurger Aristote des mauvaises interprétations scolastiques : dans l’histoire des âges des doctrines, la Scolastique représente le moment faible, exception faite du tournant nominaliste. Mais le plus décisif est que, par là même, Leibniz peut reconnaître logiquement Aristote comme un nominaliste en un certain sens, ne serait-ce que pour l’exempter de la forme caricaturale de réalisme que Nizolius lui attribue. Aristote en effet respecte le plus souvent la règle qui veut que pour philosopher exactement on ne recoure qu’aux termes concrets (A VI, 2, 417).22 Dès lors, Leibniz a pu mettre en œuvre pour son propre compte dans sa Préface, plus par méthode que par doctrine, une forme de nominalisme modéré, qui définit une attitude à laquelle l’élaboration ultérieure de sa philosophie restera globalement conforme. C’est ici qu’apparaît aussi l’essentiel, du point de vue de la signification latente du texte et de sa composition, qui relève bien, dans le sens le plus strict, d’un 21 « Ex hac iam regula Nominales deduxerunt, omnia in rerum natura explicari posse, etsi universalibus et formalitatibus realibus prorsus careatur, qua sententia nihil verius, nihil nostri temporis philosopho dignius, usque adeo, ut credam ipsum Ockamum non fuisse Nominaliorem, quam nunc est Thomas Hobbes, qui, ut verum fatear, mihi plusquam Nominalis videtur. Non contentus enim cum Nominalibus universalia ad nomina reducere, ipsam rerum veritatem ait in nominibus consistere, ac, quod maius est, pendere ab arbitrio humano, quia veritas pendeata definitionibus terminorum, definitionem autem terminorum ab arbitrio humano. Haec est sententia viri inter profundissimos seculi censendi, qua, ut dixi, nihil potest esse nominalius » (A VI, 2, 428-429). 22 « Illud quoque hoc loco admonitu dignum visum est, quia vulgo contra sentiunt, inter accurate philosophandum concretis tantum utendum esse ; idque ipsum Aristotelem plerumque fecisse video ; ποσόν, ποιόν, τά προς τι, potius ipsi in ore sunt, quam ποσότης, ποιότης, σχέσις seu si sic loqui fas esset, προς-τινότης ; […] pro certo compertum sit istam abstracta vocabula excogitandi libidinem pene totam nobis Philosophiam obscurasse, quibus tamen careri in philosophando prorsus potest ».
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« art d’écrire »23 : une histoire, sans doute largement inspirée par les leçons de Thomasius, réintègre le nominalisme dans la Scolastique, et y reconnaît l’attestation de ce que celle-ci a pu produire de meilleur. Seulement, cette lecture prend tout son sens si on la combine avec la reconnaissance de l’adéquation du nominalisme à la pensée scientifique moderne : c’est indiquer du même coup, par une conséquence implicite, que la modernité n’est pas aussi radicalement opposée à l’héritage scolastique qu’elle le prétend au travers de ses représentants les plus éminents. Mais de cela, Nizolius ne pouvait bien sûr rien savoir. Quant à Thomasius, il n’avait fourni qu’une partie du matériau historique. Leibniz pouvait alors imposer sa différence en recourant à l’érudition comme moyen de contester à la Modernité sa prétention à faire rupture dans la suite solidaire des âges. Avec d’autres moyens, il ne fera jamais autre chose.
23 Entendu dans le sens où Leo Strauss en a fait usage, notamment à propos de Spinoza.
Nora Gädeke
DIE REISEN DES JOHANN FRIEDRICH LEOPOLD EIN BLICK AUF EIN GELEHRTES NETZWERK UM 1700 Der heute fast vergessene Lübecker Jurist Achilles Daniel Leopold1 gehörte um 1700 zu den Gestalten der Gelehrtenrepublik, die weit über ihre brieflichen Kontakte hinaus als Kommunikatoren agierten. Von 1698 bis 1708 gab er – zusammen u.a. mit Jakob von Melle(n) und Kaspar Heinrich Starck – die Nova literaria Maris Balthici et Septentrionis heraus,2 ein gelehrtes Monatsjournal, das den gesamten Ostsee- (und einen Teil des Nordsee-)küstenraums – von Niederdeutschland über Polen, (Ost-)Preußen und das Baltikum bis nach Schweden und Dänemark3 – in Berichten über nova literaria (darunter natürlich auch zahlreiche Personalnachrichten) und neue Entdeckungen und Funde umfasste.4 Das erste Heft setzt ein mit dem programmatischen Vorsatz, angesichts der großen Zahl von „Ephemeridum sive Diariorum Eruditorum, qui ubivis fere locorum prodeunt“ eine noch bestehende Lücke zu füllen über das, „quae ad remotiora haec Balthici maris littora, et in amplissimis, quae hinc prope absunt, regnis Borealibus, geruntur“; das heißt, das in den letzten Jahrzehnten auf der politischen Bühne so stark präsente Nordeuropa auch in der Gelehrtenrepublik zu placieren. Dabei lebte dieses Journal von den Kontakten seiner Herausgeber, die diesen gesamten Bereich umfasst haben müssen.5 Hin und wieder findet sich auch ein Autor außerhalb dieser Region: so 1 2
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Zur Vita Achilles Daniel Leopolds (1651-1722) vgl. Seelen, Johannes Heinrich von: Athena Lubecorum Pars III, Lubecae 1721, S. 79-90; Moeller, Johannes: Cimbria literata, P. 1, Havniae 1734, S. 34. Vgl. Kirchner, Joachim: Die älteste Monatsschrift der Ostseeländer – eine Lübecker Schöpfung, in: Mare balticum. Zeitschrift der Ostseegesellschaft, 1967, H. 3, S. 41-43; wiederabgedr. in: Ders.: Ausgewählte Aufsätze aus Paläographie, Handschriftenkunde, Zeitschriftenwesen und Geistesgeschichte, Stuttgart 1970, S. 200-206. Bei seiner Ermittlung der Herausgeber (die auf den Titelblättern nur als ein anonymes Kollektiv von „novorum literarium collectores“ erscheinen), ist Kirchner der Name Leopolds entgangen. Zu weiteren von ihm nicht genannten Herausgebern vgl. Stein-Karnbach, Annegret: G.W. Leibniz und der Buchhandel, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 23, 1983, Lieferung 6 u. 7, Sp. 11891418 [auch als Separatdruck Frankfurt a.M. 1983 erschienen], hier Sp. 1354 (Anm. 768). Laut Vorwort des ersten Bandes [unpaginiert = Bl. A2 v°] sollte der Einzugsbereich Mecklenburg, Pommern, Preußen, Livland, Schweden, Dänemark, Schleswig und Holstein umfassen. Laut Kirchner (wie Anm. 2), S. 204 haben „die Mitteilungen aus dem Gebiet der Theologie vor allem das Übergewicht [...], dann folgen, noch ziemlich reichlich vertreten, die Geisteswissenschaften, während die Rechtswissenschaft, die Medizin und die Naturwissenschaften in weit geringerem [...] Maße berücksichtig werden“. Der erste Jahrgang bringt Beiträge aus Wismar, Rostock, Stralsund, Rügen, Greifswald, Anklam, Stettin, Stargard, Kolberg, Danzig, Thorn, Elbing, Königsberg, Riga, Marienburg, Dorpat, Reval, Upsala, Lund, Malmö, Stockholm, Drontheim, Göteborg, Kopenhagen, Frederiksborg, Laaland, Fünen, Kjerminte, Odense, Jütland, Hadersleben, Apenrade, Flensburg,
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Gottfried Wilhelm Leibniz, dessen in Form eines Briefes an die Herausgeber abgefasste Replik auf eine sprachwissenschaftliche Abhandlung Otto Sperlings6 im Augustheft 1699 erschien.7 Trotz Leopolds Bitte um die Zusendung weiterer Artikel8 blieb dies Leibniz’ einziger Beitrag. 9 Seine Wertschätzung für die Nova literaria Maris Balthici ergibt sich aber bereits daraus, dass er sie in der Aufbauphase der Berliner Societät exemplarisch als eines von „diariis eruditorum aus Teutschland, Franckreich, England, Holland“ als Element einer anzustrebenden Grundausstattung nennt.10 Auch in Hannover hat er sie bezogen. Das geht aus seinem Briefwechsel mit Leopold hervor, durch den sich wie ein roter Faden Probleme mit der Übersendung und Entschuldigungen für die schleppende Lieferung einzelner Faszikel ziehen.11 Auch dass diese Korrespondenz – im Februar 1701 – ein frühes Ende nimmt, hat wohl mit den Nova literaria zu tun: Leopolds Vorschlag im letzten überlieferten Brief,12 den Vertrieb seines Journals mit dem des in Hannover (weitgehend unter Leibniz’ Regie, wenngleich offiziell von seinem Adlatus Johann Georg Eckhart) herausgegebenen Monathlichen Auszug Aus allerhand neu-herausgegebenen, nützlichen und artigen Büchern 13 zu verbinden, hat vermutlich keine Antwort gefunden; Bemerkungen im Vorwort zum Jahrgang 1702 über eine mangelnde Kooperationsbereitschaft von auf ihre Mitarbeit angesprochenen Gelehrten könnten sich direkt auf Leibniz beziehen.14 Damit endete eine Verbindung, die knapp zwei Jahre zuvor vielversprechend angefangen hatte. Denn noch vor dem ersten Brief15 ist ein Treffen überliefert, das am 9. (19.) März 1699 in Celle stattfand. Dort muss eine Idee zur Sprache gekommen sein, die Leibniz lebenslang begleiten sollte: eine qualitative Verbesserung der Buchproduktion in Verbindung mit einer Institutionalisierung gelehrter Kommunikation in
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Glücksburg, Angeln, Schleswig, Rendsburg, Kiel, Plön, Lübeck; vgl. Kirchner (wie Anm. 2), S. 202. Sperling, Otto: De origine veterum Gallorum a Dite, h. e. a Germanis et Septentrionalibus [...] Epistola, in: Nova literaria Maris Balthici et Septentrionis, Juni 1699, S. 174-181. G.G.L. ad Dnn. Collectores Novorum Literariorum Maris Balthici, in: ebd., August 1699, S. 245248. Vgl. Leibniz, Gottfried Wilhelm: Sämtliche Schriften und Briefe, hg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [künftig: A]. Erste Reihe: Allgemeiner, politischer und historischer Briefwechsel [künftig A I], Bd. 17 N. 249. Ein im Leibniz-Kontext überlieferter Bericht über einen monströsen Wurm (A I, 20 N. 91), der „ex Litteris Hannoveranis“ in die Nova literaria Maris Balthici, Februar 1702, S. 53-55 Eingang fand, dürfte direkt von seinem Verfasser, dem kurfürstlichen Leibarzt Christian Ludwig Kotzebue, übermittelt worden sein. Gegenüber dem Sekretär der Societät, Johann Theodor Jablonski, am 24. März 1701 (A I, 19 N. 278). Vgl. auch Leibniz’ Brief an Thomas Burnett of Kemney vom 20. (30.) Januar 1699 (A I, 16 N. 313). Vgl. A I, 17 N. 209, N. 213, N. 249. A I, 19 N. 219 vom 18. Februar 1701. Dazu vgl. die Einleitungen zu A I, 18 (S. LVII f.), A I, 19 (S. LXXVf.), A I 20 (S. XXXII f.). Nova literaria Maris Balthici et Septentrionis 1702, Bl. [A2 v°]. A I, 16 N. 417 vom 26. März (5. April) 1699.
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Gestalt einer Societät. Dass er derartige Pläne bereits in seinen jungen Erwachsenenjahren formuliert hat, ist bekannt, und ebenso, dass die Gründung der Berliner Societät unter seiner Präsidentschaft 1700 keinesfalls ein Ende des Planens bedeuten sollte.16 Was Leibniz im März 1699 „occasione Hn D. Leopolds von Lubec“ entwirft 17 , ist die Idee einer „Societas Literatorum Germaniae“, einer zur Förderung qualifizierter wissenschaftlicher Literatur gedachten Subskribentengesellschaft, einhergehend mit einem gelehrten Netzwerk. Regional gegliedert mit einem Generaldirektorat, nach dem Vorbild der Leopoldina und des kurzlebigen Collegium historicum imperiale 18 organisiert, sollte Grundlage dieser „Societas“ eine „Geographia literata“ sein, in Anlehnung an die bereits bestehenden Korrespondenzkontakte dieser beiden Organisationen und ebenso der der Nova literaria Maris Balthici. Nach deren Vorbild sollten „Nova literaria diversarum provinciarum“ publiziert werden.19 Achilles Daniel Leopold hat diesen Plan, wie es scheint, tatkräftig unterstützt; nicht nur durch das Vorbild seines Journals, sondern auch, indem er Leibniz ein zentrales Hilfsmittel zur Verfügung stellte: ein handschriftliches, nach Orten gegliedertes Gelehrtenverzeichnis, wohl als Grundlage für eine solche „Geographia literata“ gedacht. Das geht hervor aus Leibniz’ knapp drei Wochen nach dem Treffen verfassten Brief an Leopold, in dem er ihm „die sehr nuzlichen Notata von gelehrten und curiosen leuten“ zurückschickt und gleichzeitig deren Fortsetzung 16 Vgl. Knobloch, Eberhard: Leibniz als Wissenschaftspolitiker: Vom Kulturideal zur Societät der Wissenschaften, in: Lindgren, Uta: Naturwissenschaft und Technik im Barock. Innovation, Repräsentation, Diffusion, Köln, Weimar u. Wien 1997, S. 99-112. Zu Leibniz’ Vorschlägen zur Gründung von Subskriptionsgesellschaften vgl. Stein-Karnbach (wie Anm. 2), Sp. 13461382; zu seinen frühen Societätsplänen vgl. Brather, Hans-Stephan: Leibniz und seine Akademie. Ausgewählte Quellen zur Geschichte der Berliner Sozietät der Wissenschaften 16971716, Berlin 1993, S. XVIII-XXIII. Zu Leibniz’ Societätsprojekten insgesamt vgl. Otto, Rüdiger: Leibniz’ Projekt einer Sächsischen Akademie im Kontext seiner Bemühungen um die Gründung gelehrter Gesellschaften, in: Döring, Detlef u. Kurt Nowak (Hg.): Gelehrte Gesellschaften im mitteldeutschen Raum. Teil 1 (Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Phil.-hist. Kl., Bd. 76, 2002), S. 53-94, passim sowie Böger, Ines: Ein seculum … da man zu Societäten Lust hat. Darstellung und Analyse der Leibnizschen Sozietätspläne vor dem Hintergrund der europäischen Akademiebewegung im 17. und frühen 18. Jahrhundert, München 1997, passim. 17 Die in der Handschrift der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek Hannover LH XXXIX Bl.62/63 im Konzept überlieferte Denkschrift vom 9. (19.) März ist gedruckt in: Stein-Karnbach (wie Anm. 2), Sp. 1387-1389 sowie in: Brather (wie Anm. 16), S. 407-409. Eine kritische Edition ist für Reihe IV der Akademie-Ausgabe vorgesehen. 18 Zu Leibniz’ Unterstützung des Collegium historicum Imperiale vgl. Scheel, Günter: Leibniz und die deutsche Geschichtswissenschaft um 1700, in: Hammer, Karl u. Jürgen Voss: Historische Forschung im 18. Jahrhundert. Organisation – Zielsetzung – Ergebnisse, Bonn 1976, S. 82-101, hier S. 99-101; zuletzt Babin, Malte-Ludolf u. Gerd van den Heuvel (Hg.): Gottfried Wilhelm Leibniz: Schriften und Briefe zur Geschichte, Hannover 2004, S. 37-39 u. S. 393-417. Zur Leopoldina vgl. Berg, Wieland u. Benno Parthier: Die „kaiserliche“ Leopoldina im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, in: Döring/Nowak (wie Anm. 16), S. 39-52. 19 Vgl. §§ 10, 11 u. 13 der Denkschrift (Stein-Karnbach [wie Anm. 2], Sp. 1388f.; Brather [wie Anm. 16], S. 409).
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und Ergänzung anregt.20 Mit diesen „Notata“ muss Leopold Leibniz einen lang gehegten Wunsch erfüllt haben, der die Anlage von lokal-regionalen Gelehrtenverzeichnissen (als Druckschriften-Gattung um 1700 erst im Kommen21) immer wieder als Desiderat bezeichnet und zum Projekt macht,22 so auch noch in den Anfangszeiten der Berliner Societät.23 Mit dieser „générosité“ einem anderen Gelehrten gegenüber erweist Leopold sich als ein wahrer Bürger der République des Lettres, deren Leben ebenso von kommunikativen Netzwerken geprägt ist wie ihr Idealbild von Zusammenarbeit und Bereitstellung von Information.24 Aber zugleich bringt er, implicit, ein anderes ihrer ungeschriebenen Gesetze ins Spiel: ein „do ut des“.25 Denn mit dieser Bereitstellung von Hilfsmitteln für Leibniz’ Vorhaben hatte er eine Vorleistung erbracht für eine von Leibniz erhoffte Gegenleistung. 26 Bereits Leopolds erster überlieferter Brief27 enthält eine Bitte, die fortan als zweites Hauptthema die Korrespondenz durchziehen wird: um eine Empfehlung für seinen in Straßburg studierenden, kurz vor der Promotion zum Doktor der Medizin stehenden Sohn Johann Friedrich.28 Hierfür wird der junge Mann gebührend ins rechte Licht gerückt; neben einer polyhistorischen Bildung und vielfältigen Sprachkenntnissen soll er „von Jugend auf die exercitia, die music, und das reißen, auch zierliches schreiben, stets beliebet und geübet“ haben. Diese Fähigkeiten sowie seine eigentlichen medizinischen Fachkenntnisse hoffe er für die peregrinatio academica einsetzen, das heißt trotz mangelnder eigener Mittel „das reißen“ weiter ausdehnen zu können: nach Italien, Frankreich, England, Holland, Dänemark und Schweden. Hierfür erbittet der Vater Leibniz’ Protektion, „dieweil derselbe vieler ohrten mit den vornehmsten personen Herren, und Cavalieren, auch sonsten anderen gelahrten bekandt ist“. Leibniz war durchaus bestrebt, dem Wunsch nachzukommen, Johann Friedrich eine Position als ärztlicher Reisebegleiter „in eines vornehmen Herrn seine 20 21 22 23
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Vgl. A I, 16 N. 422 vom 28. März (7. April) 1699. Brather (wie Anm. 16), S. 406. Vgl. zusammenfassend ebd., S. 406f. Vorschläge zu Gelehrtenverzeichnissen für die dem brandenburgischen Kurfürsten unterstehenden Territorien finden sich in Leibniz’ Sammelprojekt für die eben begründete Societät vom Juli 1700 (gedr.: Brather [wie Anm. 16], S. 129-136; kritische Edition in A IV vorgesehen) sowie am 24. März 1701 gegenüber dem Sekretär Johann Theodor Jablonski (A I, 19 N. 278). Vgl. Bots, Hans: Introduction: Communication et instrumens d'échanges dans la République des Lettres, in: Berkvens-Stevelinck, Christiane, Hans Bots u. Jens Haeseler (Hg.): Les grands intermédiaires culturels de la République des Lettres, Paris 2005, S. 9-24, hier S. 13f.; Stegeman, Saskia: Patronage and Services in the Republic of Letters. The network of Theodor Janssonius van Almeloveen (1657-1712), Amsterdam u. Utrecht 2005 [holl. 1997] (Études de l'Institut Pierre Bayle 33), S. 169-174. Vgl. Bots (wie Anm. 24), S. 14 sowie Stegemann (wie Anm. 24), S. 174-181. Hierzu grundsätzlich ebd., S. 169-202. Brief vom 5. April 1699 (A I, 16 N. 417). Zu Johann Friedrich Leopold (1676-1711) vgl. Moeller, Cimbria literata (wie Anm. 1), P. 1, S. 342. Tatsächlich erfolgte die Promotion erst 1700 in Basel.
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Suite“, oder als Mentor eines jungen Adligen zu verschaffen. Seine Bemühungen darum sind für die folgenden Monate mehrfach dokumentiert;29 sie ließen ihn vor allem im Umkreis des Hofes zu Wolfenbüttel vorstellig werden – vergeblich.30 So musste er seine Protektion auf das beschränken, worum Leopold „in mangel solcher conditionen“ zusätzlich gebeten hatte: eine Recommendation in der Gelehrtenrepublik.31 Vater und Sohn waren Routiniers im Reisen. Johann Friedrich war bereits vor und während seines Studiums in Altdorf und Straßburg 1696 und 1698 durch das Deutsche Reich bis nach Österreich und darüber hinaus nach Mähren und Ungarn gezogen;32 sein Vater war nach Studienjahren in Gießen und Heidelberg in Italien, Frankreich, England, den Spanischen Niederlanden, Holland und auch im Deutschen Reich gereist.33 Und Routine zeigt auch die in dieser Bitte zum Ausdruck kommende systematische Vorbereitung dazu – wozu nicht zuletzt der Aufbau von Kontakten gehörte.34 Bereits in diesem ersten Brief an Leibniz beschreibt Achilles Daniel die schon länger getroffenen Vorkehrungen: „Sonst aber, undt zwahr zu dieser vorhabenden Reise, Ich so wol, alß Er, etzliche Jahr bemühet gewesen seyn, daß man von jeden zu passiren habenden ohrt, nicht allein die notablesten Sachen, KunstKammern, Bibliothecken, Müntz-Cabinets, und dergl. so daselbst itzo zusehen seyn, wißen, sondern auch die gelahrten und berühmten Leüte, ihre Nahmen und Scripta, imgleichen die Virtuosen und Künstler jedes ohrts kennen, und an dieselbe von andern vornehmen leüten mit recommendation-Schreiben und fernerer addresse, versehen seyn möchte; damit man durch dieselbe eine fernere recommendation an andere erlangen könne.“35 Hier konnte er bereits etwas vorweisen: der Augsburger Arzt und Leopoldina-Präsident Lucas Schröck hatte eine Empfehlung zugesagt,36 und vor allem hatte Johann Friedrich (bereits für die Reisen in Oberdeutschland und Österreich) von seinem Altdorfer Hauswirt, dem Juristen Johann Christoph Wagenseil, eine „general recommendation“ erhalten; sie dürfte Leibniz in Abschrift zugegangen sein.37 29 Vgl. A I, 16 N. 421 (an Friedrich Gregor von Lautensack, 7. April 1699), A I, 17 N. 171 (an den französischen Gesandten in Wolfenbüttel, Charles-François de Caradas du Heron, 19. Juni 1699) und N. 23 (an Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel, 26. Juni 1699). 30 A I, 17 N. 179 vom 26. Juni 1699 bzw. N. 25 vom 11. Juli 1699. 31 Leopolds Bitte aus A I, 16 N. 417 wird erneut vorgetragen in A I, 17 N. 209 (18. Juli 1699) und N. 249 (19. August 1699). 32 Vgl. Johann Friedrich Leopolds eigene Lebensbeschreibung, die inseriert ist in: Seelen, Athena Lubecorum (wie Anm. 1), P. III, S. 290-340, hier S. 295-304. 33 Vgl. Achilles Daniel Leopolds Lebensbeschreibung in: ebd., S. 79-90, hier S. 81f. 34 Zur Bedeutung von Empfehlungsschreiben namhafter Gelehrter vgl. Bots, Hans u. Françoise Wacquet: La République des Lettres, Paris 1997, S. 96 sowie Stegeman (wie Anm. 24), S. 207 („these letters of recommendation functioned much like passports, guaranteeing the acceptability of the holder“). 35 A I, 16 N. 417. 36 Ebd. 37 Eine solche Abschrift befindet sich in Hannover, Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek, LBr. 551 Bl. 3 (vgl. A I, 16 N. 417 Erl.). Zur „general recommendation“ vgl. auch A I, 17 N. 209.
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Eine solche „general recommendation“ wurde nun auch von ihm erbeten. Tatsächlich ist ein Leibnizbrief überliefert, in dem die vom Vater gerühmten Qualitäten des jungen Mannes herausgestrichen und ihm neben den medizinischen Kenntnissen die der Mathematik und der Naturwissenschaften, der Gelehrtengeschichte und der historia literaria, der Numismatik und schließlich der Malerei und der Musik bescheinigt werden; freilich in einer wohl eher untypischen Form: als Schreiben an Achilles Daniel, ohne namentliche Nennung Johann Friedrichs, abgefasst.38 Für die Weitergabe einer in Verbindung damit erbetenen „Liste derjenigen guten Freunde, mit welchen M. h. H. Raht in Italien, Franckreich, Engell. und Holland in correspondence stehet“39 gibt es keine Hinweise. Dass eine solche jedoch an Johann Friedrich gelangt sein muss, lässt sich einem nach der Rückkehr nach Lübeck 1702 abgefassten Bericht entnehmen, der detaillierte Beschreibungen seiner bisherigen Reisen enthält. 40 Leibniz’ Recommendationsbrief erfährt zwar keine derartige Hervorhebung wie die Schreiben Wagenseils und Schröcks, die beide abgedruckt sind,41 jedoch bleibt nicht unerwähnt, dass Johann Friedrich (der laut seinem Vater während seines ersten Baselaufenthaltes im Sommer 1699 eine Empfehlung durch Leibniz bei Jacob Bernoulli noch sehr vermisst hatte)42 sich nun „literis [...] commendatitiis a. Dnn. Leibnitio [...] probe instructus“ nach Italien habe wenden können. 43 Bei wem im Einzelnen diese Recommendation dem jungen Mediziner Türen geöffnet hat, lässt sich freilich allenfalls vermuten; vielleicht werden einmal die Reihen III und VIII der Akademie-Ausgabe dazu nähere Auskunft geben können. Der Gelehrtenreise kommt bekanntlich eine tragende Rolle für den lebendigen Zusammenhalt der République des Lettres zu: am Anfang vieler auch über weite Distanzen vor allem durch das Medium Brief existierenden Beziehungen steht der persönliche Kontakt. 44 Der Besuch berühmter Gelehrter gilt geradezu als ein Hauptzweck der peregrinatio academica; seit dem 16. Jahrhundert steht dem Reisenden eine ganze Literaturgattung zur gründlichen Vorbereitung zur Verfügung.45 Johann Friedrich hat sich seinen Reiseführer – mit Hilfe seines Vaters – anscheinend selbst zusammengestellt. Abgesehen von der detaillierten Charakterisierung 38 A I, 17 N. 310 (30. September 1699). Dass es sich bei diesem Brief aber wohl um ein zum Vorzeigen gedachtes Schreiben handelt, lässt die sprachliche Form vermuten: in Latein abgefasst, fällt er aus der sonst deutsch geführten Korrespondenz heraus. 39 A I, 17 N. 209; nochmals wiederholt in A I, 17 N. 249. 40 Gedruckt bei Seelen, Athena Lubecorum (wie Anm. 1), P. III, S. 309. Der terminus post quem ergibt sich aus dem Abschluss der Reise im Mai 1702; als (vermutlich weit gefasster) terminus ante quem ist das Jahr 1706 anzunehmen, in dem Johann Friedrich weitere Reisen unternahm, die wohl in die Lebensbeschreibung, nicht aber in diesen Reisebericht eingegangen sind; vgl. ebd., S. 311. 41 Vgl. ebd., S. 299-301, bzw. S. 307f. 42 Vgl. A. I, 17 N. 249. 43 Vgl. Seelen, Athena Lubecorum (wie Anm. 1), P. III, S. 306. 44 Vgl. Selling, Andreas: Deutsche Gelehrten-Reisen nach England 1660-1714, Frankfurt a.M. et al. 1990 (Münstersche Monographien zur englischen Literatur 3), S. 9f. Vgl. auch Stegeman (wie Anm. 24), S. 207f. 45 Selling (wie Anm. 44), S. 10f.; vgl. auch Bots/Waquet (wie Anm. 34), S. 152f.
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dessen, was ihm als sehenswürdig gilt, abgesehen auch von diesem Beispiel einer ansatzweise feststellbaren gelehrten „Dynastiebildung“,46 wären seine Reisen aber wohl nicht weiter erwähnenswert, wären sie nicht so minutiös dokumentiert: in seiner bereits erwähnten Beschreibung der Reisen von 1696, 1698 und 1699 bis 1702, die Eingang in seine 1721 im Rahmen eines Lübecker Gelehrtenlexikons gedruckte Vita fand; 47 hinzu kommt ein in Briefform abgefasster, postum veröffentlichter Bericht über eine spätere Reise nach Dänemark und Schweden.48 Von den ersten Abstechern in die nähere Umgebung der Heimatstadt noch vor Beginn des Studiums bis zur Rückkehr von der großen Reise 1702 sind Reisewege und -stationen detailliert aufgezeichnet: vom kurzen Besuch der Universität Kiel und des schleswig-holstein-gottorpschen Hofes 1695 sowie Hamburgs und der Residenz des Lübecker Bischofs zu Eutin 1696 über die Reisen des Studenten durch die welfischen und sächsischen Territorien (mit Immatrikulation an der Universität Jena) 49 bis zum ersten Studienort Altdorf, die nächste nach Österreich, Ungarn, Mähren und über Bayern, Württemberg, Baden zum zweiten Studienort Straßburg, kleineren Reisen in der Schweiz, und nach der Promotion zum Doktor der Medizin in Basel 1700 der fast zweijährigen Reise durch Oberitalien, nach Rom und Süditalien, die durch Frankreich, England, Holland und Norddeutschland nach insgesamt sechsjähriger Abwesenheit zurück nach Lübeck führte. Dort sollte Johann Friedrich das ihm noch verbleibende knappe Jahrzehnt (er starb bereits 1711) verbringen, unterbrochen durch weitere Reisen in die Nähe – nach Mecklenburg und Pommern – und in die Ferne, nach Dänemark und Schweden.50 Das bereits genannte Lübecker Gelehrtenlexikon charakterisiert seine Tätigkeit in diesen Jahren folgendermaßen: „utilissime tempus consumpsit morbis medendo, Nova literaria Maris Balthici [...] amplificando, utilissima scripta meditando et cum viris doctissimis litterarium commercium instituendo“.51 Auch Johann Friedrich erscheint also als mustergültiger Bürger der Gelehrtenrepublik. Und auch für diese Phase eines Gelehrtenlebens, die auf die peregrinatio folgende Sesshaftigkeit, da Beziehungen nach außen vor allem über die Korrespondenz stattfinden,52 sind wir genauer über ihn informiert. Zwar sind seine Beiträge zu den Nova literaria, wie dort üblich, anonym geblieben und deshalb nicht leicht zu identifizieren, aber über sein Korrespondentennetz sind wir detailliert unterrichtet. Denn auch dieses hat er dokumentiert; in einem Catalogus Virorum Clarissimorum, quos vel in Academiis habui Praeceptores, vel in Itineribus Amicos et Fautores expertus fui, der, unabhängig von den Reisebeschreibungen verfasst, im
46 Hierzu vgl. Bots/Waquet (wie Anm. 34), S. 104f. 47 Vgl. Anm. 40. 48 Johan. Friderici Leopold: Relatio Epistolica De Itinere suo Suecico Anno MDCCVII facto. ed. sec. Lodini [sic]: MDCCXXII. Herausgeber war der Adressat des Reiseberichtes, John Woodward. 49 Diese fand am 16. Mai 1696 statt; am selben Tag erfolgte die Deposition. 50 Vgl. Seelen, Athena Lubecorum (wie Anm. 1), P. III, S. 311. 51 Ebd., S. 333. 52 Vgl. Stegeman (wie Anm. 24), S. 208 u. 221.
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Druck von 1721 daran angehängt ist53 – und so etwas wie ein Komplement dazu bildet. Enthält das Itinerar bereits gelegentlich Namen von Gelehrten, die besucht, mit denen Verbindung aufgenommen wurde, so präsentiert dieser Catalogus Johann Friedrichs Netz in seiner ganzen Fülle. Aufgeführt sind 261 Personen, überwiegend aus der Gelehrtenrepublik, aber dazwischen solche, die auch der „Welt“ zugehören;54 an der Spitze sogar zwei (freilich als „curieus“ bekannte) Reichsfürsten: Graf Anton Günther von Schwarzburg-Arnstadt und der Fürstbischof von Lübeck, August Friedrich von SchleswigHolstein, daneben etliche Personen aus dem administrativen Bereich.55 Dominiert wird die Liste aber von Medizinern; ihnen ist gut die Hälfte zuzurechnen, mit weitem Abstand liegen dahinter (bei gut bzw. weniger als 10% Theologen und Juristen, während die philosophischen Fächer zwar insgesamt auf fast 15% kommen, die einzelnen Disziplinen mit Ausnahme der Philosophie selbst (20) aber nur schwach vertreten sind. Räumlich liegt der Schwerpunkt mit etwas über der Hälfte aller Nennungen auf dem Deutschen Reich, darauf folgen, eng beieinander mit 10 bis knapp 8% des gesamten Personenbestandes, Schweden (26 Personen), die Schweiz (25), Dänemark und Holland (20). Schwächer vertreten sind Italien (14), Frankreich (11) sowie Ungarn (7); nur sporadisch tauchen Korrespondenten aus England (2), Russland und den Spanischen Niederlanden (1) auf. Eine Differenzierung innerhalb des Deutschen Reiches ergibt eine leichte Süd-Dominanz bei 48 Personen aus Oberdeutschland und sieben aus den österreichischen Landen vor Norddeutschland mit 50 Personen, während Mitteldeutschland nur mit gut 10% (29) vertreten ist. Bei den Orten selbst steht Nürnberg (16) an erster Stelle, gefolgt von Kiel und Kopenhagen (13), Altdorf und Stockholm (11), Basel (10), Helmstedt (9), Augsburg und Straßburg (8) sowie Hamburg und Wittenberg (7). Also ein Netz von beachtlichen Dimensionen für jemanden, der nur das 35. Lebensjahr erreichte, insbesondere wenn man die Aufzählung als selektiv 56 begreift (zum Vergleich: für Leibniz sind bis zu diesem Alter insgesamt 285 Korrespondenten 53 Vgl. Seelen, Athena Lubecorum (wie Anm. 1), P. III, S. 312-333. Eine Datierung ist nur schwer möglich, da es sich nicht um eine Momentaufnahme, sondern um ein Verzeichnis mit zeitlicher Schichtung handeln dürfte, wie z.B. das Auftreten von bereits im Frühjahr 1700 verstorbenen Helmstedter Professoren (Hermann Meibom d.J., Caspar Cörber, Johann Andreas Stisser) neben Leonhard Christoph Sturm (dessen erwähnter Wechsel von Wolfenbüttel nach Frankfurt a.d. Oder erst 1702 stattfand) zeigt. 54 In der Regel sind neben den Personennamen Titel und Funktionen, insbesondere in der Welt, d.h. an Höfen und in Reichsstädten, genannt; in diesem Zusammenhang erfolgt auch eine Lokalisierung, die jedoch weniger orts- als institutions- bzw. herrschaftsbezogen ist. Bei einigen Personen bleibt die Lokalisierung unbestimmt; wenn möglich, habe ich die zuzuordnenden Orte/Territorien erschlossen. Mitgliedschaften in gelehrten Gesellschaften werden häufiger angeführt, dabei steht die Leopoldina mit über 10% deutlich an der Spitze gegenüber der Royal Society, der Académie des Sciences und der Berliner Societät, die nur sporadisch genannt sind. 55 Insgesamt etwa 7%. 56 Personen aus dem familiären und heimatlichen Umfeld scheinen nicht aufgenommen worden zu sein.
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überliefert), ein zudem ausgesprochen überregionales, geradezu internationales Netz – das seine Schwerpunkte aber, Holland und Italien ausgenommen, nicht in den traditionellen westeuropäischen Zentren der Gelehrtenrepublik hat, sondern in Staaten, denen eher eine Rand- oder Schwellenexistenz zukommt. Leopolds Studienaufenthalte in Altdorf, Straßburg und Basel spiegeln sich ebenso darin wie seine Reisen ihre Spuren hinterlassen haben – allerdings mit unterschiedlichem Gewicht; die Aufenthalte in England und auch Frankreich (das ohne Straßburg nur spärlich vertreten wäre) haben nur sporadisch Niederschlag gefunden.57 Signifikante Parallelen zeigen sich auch zu den Nova literaria Maris Balthici, nicht nur in der starken Präsenz Nordeuropas überhaupt, sondern auch in deren Personenhorizont. Die Berichte in den Nova literaria erfolgten, wie schon gesagt, anonym und lassen nur gelegentlich auf ihre Beiträger schließen.58 Angesichts der zahlreichen Personalnachrichten dieses Journals lässt aber auch dessen Personenregister Schlüsse zu. In den Jahrgängen 1702 bis 170659 sind über 30% von Johann Friedrichs Korrespondenten zu finden; „aktiv“ präsent (d.h. mehrfach, als Autor einer vorgestellten Schrift, als Akteur in einer Disputation etc.), oder sogar gelegentlich als zu vermutender Beiträger immer noch fast 25%. Natürlich stellt das Berichtsgebiet der Nova literaria die überwiegende Mehrheit; umgekehrt sind von den aus dem Nord-/Ostseeraum kommenden Korrespondenten mehr als zwei Drittel im Journal präsent, das damit ebenso als ein Forum für die Korrespondenten anzusehen wie anzunehmen ist, dass es auch aus deren Briefen gespeist wurde. Vermutlich konnte Johann Friedrich beim Aufbau seines Korrespondentennetzes hier auch auf bereits bestehende Verbindungen zurückgreifen; das zeigt die Präsenz von etlichen seiner Korrespondenten gerade aus dem Einzugsgebiet der Nova literaria bereits in deren Jahrgängen vor seiner Rückkehr nach Lübeck.60 Aber auch hier haben sich die Reisen niedergeschlagen. Mit dem Leidener Polyhistor Thomas Crenius und dem Londoner Mediziner John Woodward finden wir zwei Beiträger, die bereits in der Vita besonders hervorgehoben sind;61 sie gehörten wohl zu den Reisebekanntschaften. Sicher bis wahrscheinlich ist dies auch für ein paar weitere „Externe“, deren Präsenz in den Nova literaria über eine vereinzelte 57 Im Falle Englands entspricht der zahlenmäßig schwachen Präsenz die Kürze des Aufenthaltes; wobei Leopold dort aber immerhin an der Sitzung der Royal Society teilnahm, vgl. Seelen, Athena Lubecorum (wie Anm. 1), P. III, S. 310; Ebd., Anm. 40 wird die Vermutung geäußert, nur Leopolds früher Tod habe seine Aufnahme in die Royal Society verhindert. 58 Vgl. Kirchner (wie Anm. 2), S. 205f. 59 D.h. einsetzend mit Johann Friedrichs Rückkehr nach Lübeck. Für die beiden letzten Jahrgänge standen mir keine Register zur Verfügung. 60 Ein Blick auf das Personenregister zu 1699 zeigt hier neben Personen, denen Johann Friedrich bereits auf seinen frühen Reisen begegnet war (wie Meibom, Vater und Sohn Sturm, Schröck und Wagenseil) Mehrfachnennungen bei Namen, die auch in der Korrespondentenliste auftreten, vor allem aus dem Umfeld der Universität Kiel (Franck, Maius, Muhlius, Schelhammer, Waldschmidt). 61 Vgl. Seelen, Athena Lubecorum (wie Anm. 1), P. III, S. 333. Ein Brief Crenius’ an Johann Friedrich Leopold vom 1. Juni 1703 ist gedr. in Nova literaria Maris Balthici, September 1703, S. 206-216; eine von Woodward an die Herausgeber gestellte Frage wird behandelt ebd., April 1703, S. 83f.
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Bemerkung hinausgeht: insbesondere aus Altdorf, Arnstadt und Helmstedt – Orte, die in der Reisebeschreibung vergleichsweise ausführlich vorkommen.62 Versteht sich das für Altdorf von selbst, so war es in Arnstadt der Zugang zum Hof von Graf Anton Günther und seinem Antiquar Andreas Morell,63 und in Helmstedt zu einigen Professoren der Universität (darunter Heinrich Meibom d.J.), 64 was zu dieser Hervorhebung geführt (und offenbar über die Aufenthalte hinaus eine Verbindung geschaffen) haben dürfte. Zusätzlich könnte die recht starke Präsenz der Helmstedter sowohl unter den Korrespondenten als auch den „Externen“ der Nova literaria von einem früheren Altdorfer (und langjährigen Korrespondenten Wagenseils), 65 dem Reformtheologen und Leibniz-Vertrauten Johann Fabricius bestimmt sein, den Leopold im Catalogus als „olim Altorfinus“ ausweist und der erst im Jahr nach dessen Ankunft dort nach Helmstedt wechselte; jedenfalls ist hier nicht nur Fabricius, sondern auch seine „Fraktion“ in der Professorenschaft66 vertreten. Und Leibniz? Er selbst – den man aufgrund seiner Empfehlung für Johann Friedrich durchaus unter dessen „fautores“ vermuten könnte – ist nicht im Catalogus verzeichnet. Doch weist dessen Personenkreis eine nicht geringe Schnittmenge – fast 20% – mit seinem eigenen Netz auf. Darunter sind Vertreter aller Fachrichtungen und auch „große“ Leibnizkorrespondenten. 67 Sobald man zeitlich differenziert, ergeben sich aber Zweifel an der Aussagekraft dieses Befundes. Denn für eine Reihe dieser Personen sind Beziehungen zu Leopold bzw. den Nova
62 Vgl. Seelen, Athena Lubecorum (wie Anm. 1), S. 295-298. Hier werden jeweils mehrere Personen namentlich genannt. 63 Vgl. ebd., S. 296. Neben Graf Anton Günther und Morell werden in der Reisebeschreibung noch Johann Gottfried Olearius und sein Sohn Johann Christoph genannt; sie alle finden sich auch in der Korrespondentenliste, die außerdem noch den Mediziner Johann Conrad Axtius aufführt. 64 In der Lebensbeschreibung (ebd. S. 296) werden außer ihm noch die Juristen Johann Gotthard von Boeckellen und Johann Werlhof namentlich genannt. Beide finden sich ebenfalls in der Korrespondentenliste, außerdem die Theologen Johann Fabricius und Johann Andreas Schmidt, der Mediziner Johann Andreas Stisser, der Professor für Beredsamkeit und Geschichte Caspar Cörber und der Orientalist Hermann von der Hardt. 65 Zu Fabricius und Wagenseil vgl. Blastenbrei, Peter: Johann Christoph Wagenseil und seine Stellung zum Judentum, Erlangen 2004, S. 27. Ob Leopold von Wagenseils Korrespondentennetz profitiert hat, lässt sich aufgrund von dessen fragmentarischer Überlieferung schwer sagen; die Übereinstimmungen betragen keine 5%. 66 D.h. vor allem Johann Andreas Schmidt, aber auch Hermann von der Hardt. 67 Wie die eben (Anm. 64) genannten Helmstedter Professoren (bis auf Boeckellen); die Juristen Johann Ulrich Pregitzer und Christian Thomasius, die Mediziner Magnus Block, Georg Franck von Franckenau, Friedrich Hoffmann, Bernardino Ramazzini, Günther Christoph Schelhammer, Johann Jakob Scheuchzer, Lucas Schröck, Georg Ernst Stahl, Johann Georg Volckammer, Georg Wolfgang Wedel, Johann Paul Wurffbain; an Mathematikern z.B. die Brüder Bernoulli, Michel Angelo Fardella, Dominico Gugliemini, Samuel Reyher, Vater und Sohn Sturm, Johann Philipp Wurtzelbaur; die Philologen Eric Benzelius und Johann Georg Graevius; der Antiquar Andreas Morell; die Kommunikatoren Antonio Magliabechi, Otto Mencke und Wilhelm Ernst Tentzel.
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literaria Maris Balthici bereits vor der Kontaktaufnahme zu Leibniz festzustellen,68 für andere wiederum ist eine Korrespondenz mit diesem erst aus einer Zeit überliefert, als seine Korrespondenz mit Achilles Daniel Leopold bereits versiegt ist.69 Ohnehin sind über Leibniz zustande gekommene Kontakte vor allem für Johann Friedrichs Italienaufenthalt (und jedenfalls nicht vor der ersten Schweizreise) zu erwarten; hier könnten Guglielmini, Magliabechi und Ramazzini in Frage kommen (den beiden letzteren wurde Leopold aber auch durch Schröck anempfohlen).70 Wenn sich also bei einer Rekonstruktion des Aufbaus von Johann Friedrichs Korrespondentenkreis der Blick auf Leibniz – entgegen dem ersten Anschein – als wenig ergiebig erweist, so ergibt er umso mehr für eine noch davor liegende Stufe: die der Zusammenstellung des Reiseführers und damit der Planung der gelehrten Kontakte. Wie schon erwähnt, hatte sich Johann Friedrich, zusammen mit seinem Vater, über Jahre bemüht „die gelahrten und berühmten Leüte, ihre Nahmen und Scripta, imgleichen die Virtuosen und Künstler jedes ohrts kennen“. Und auch diese Aufzeichnung, die die ersten Schritte hin zu einem Netzwerk spiegelt, liegt uns vor – allerdings in einer Form, die diesen Zusammenhang zunächst nicht erkennen lässt. Als die Handschrift Ms XLII 1928 der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek (Niedersächsische Landesbibliothek) Hannover nach Ausleihe und Auslagerung im Zweiten Weltkrieg in ihre angestammte Bibliothek zurückkehrte, waren von ihren 157 Blättern nur noch zehn vorhanden. Nach abenteuerlicher Wiederentdeckung und einem darauf folgenden Rechtsstreit kamen 1999 mit Hilfe der Fritz Thyssen-Stiftung weitere 120 Blätter zurück; 27 Blätter (Bl. 122-141, 143, 146147, 149-151, 157) müssen nach wie vor als verschollen gelten.71 Die nun vorliegenden 130 Blätter in Octavformat sind größtenteils (einseitig) von Leibniz’ Hand beschrieben72 und enthalten ein nach Orten gegliedertes Verzeichnis der Gelehrten und Sehenswürdigkeiten Europas – von Altdorf bis Zeist, oder, geographisch, von Turku bis Neapel, von Cambridge bis Danzig. Die weitgehend alphabetisch aufeinanderfolgenden (jetzt) 131 Orte liegen vor allem (d.h. 68 So aus dem Umkreis des Arnstädter Hofes und der Universität Helmstedt (vgl. Anm. 63 u. 64). 69 So z.B. Scheuchzer, Stahl, Thomasius, Wurzelbaur. 70 Vgl. dessen Empfehlungsschreiben für Johann Friedrich, gedr. in: Seelen, Athena Lubecorum (wie Anm. 1), P. III, S. 307f. 71 Beschreibung sowohl der Handschrift als auch ihrer Wiederentdeckung bei Gädeke, Nora: Eine „Personendatenbank“ für Leibniz? Die Handschrift Ms XLII 1928 der Niedersächsischen Landesbibliothek Hannover, in: Poser, Hans (Hg.): Nihil sine ratione. Mensch, Natur und Technik im Wirken von G.W. Leibniz. VII. Internationaler Leibniz-Kongreß 2001, Nachtragsband, Hannover 2002, S. 178-188, hier S. 178f. Vgl. auch dies.: Ein „Who is Who“ der europäischen Gelehrten des 17. Jahrhunderts: eine Ausstellung der Niedersächsischen Landesbibliothek Hannover vom 30. Mai bis 15. August 2002, Hameln 2002. Zur Auflistung und Identifizierung der einzelnen Orte s. unten Anhang. 72 Ausnahmen stellen nur folgende Blätter dar: Bl. 29, das den Inhalt des Brügge-Eintrags von Bl. 28 in anderer Hand wiederholt, sowie die Leipzig-Seiten Bl. 88-91. Anders als der Rest der Handschrift sind diese Blätter beidseitig beschrieben, mit Ausnahme von Bl. 91r° von fremder Hand. Auch im Aufbau fallen Bl. 88-90 aus dem Rahmen; dazu Gädeke, „Personendatenbank“ (wie Anm. 71), S. 182.
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zu fast 50%) im Deutschen Reich (insbesondere im obersächsischen, oberdeutschen und Ostsee-Raum), verteilen sich aber darüber hinaus auch auf Skandinavien und Polen, die beiden Niederlande, England, Frankreich, die Schweiz und Italien – auf „ganz Europa“ mit Ausnahme der iberischen Halbinsel. Auch der Herrschaftsbereich der österreichischen Habsburger fehlt weitgehend.73 Die einzelnen Orte nehmen unterschiedlichen Raum ein: einerseits Amsterdam mit fünf bis an die Grenzen der Lesbarkeit dicht gefüllten Seiten;74 London und Paris mit vier, Hamburg mit drei,75 Leiden mit zweieinhalb, Basel, Berlin, Bologna, Florenz sowie einst Utrecht (wovon nur noch ein Blatt übrig geblieben ist) mit zwei,76 andererseits manchen Seiten, auf denen reichlich Platz frei geblieben ist, und das, obwohl sie mitunter zwei Orte tragen. Unter den Orten sind Reichstädte und (in erstaunlich großer Zahl) Landstädte, außerdem Residenzen, Handelsstädte, Universitätsstädte. Die Universitäten bestimmen auch die interne Gliederung des Namenmaterials: es folgen (meistens durch Zwischenüberschriften gekennzeichnet) aufeinander „Theologi“, „Jurisconsulti“, „Medici“, „Philosophi“ – sowie in einem anhängenden fünften oder auch sechsten Teil „Artifices“ und „Curiosi“/„Curiosa“. Vor allem diese beiden Gruppen bieten eine Fülle von ortsgeschichtlichen Einzelnachrichten – von den jeweils besten Apotheken über Personen mit erstaunlichen Fähigkeiten und Schicksalen zu Münz- und Raritätensammlungen und besonderen Sehenswürdigkeiten und topographischen Gegebenheiten.77 Aber auch zu den aufgeführten Gelehrten, unter denen Mediziner und Theologen jeweils ca. 30%, Juristen und Philosophen jeweils ca. 20% ausmachen, gibt es oft Informationen, die über Fakultät, Titel und Funktion hinausgehen: zu Veröffentlichungen und Projekten, zu Sammlungen, zu Verwandtschafts-, Freundschafts- und Korrespondenzbeziehungen, gelegentlich zur Herkunft, selten zur Adresse. Etliche Personen sind als verstorben gekennzeichnet. Diese Angaben lassen eine Datierung in die zweite Hälfte der 90er Jahre des 17. Jahrhunderts vermuten.78 Bereits Hans-Stephan Brather hat dieses Verzeichnis in Verbindung gebracht mit Leibniz’ Interesse an einer „Geographia literata“ und auf das Jahr 1699 datiert.79 Damit war er bereits ganz nah dran am Celler Treffen zwischen Leibniz 73 D.h. bis auf Breslau (Bl. 156); vgl. aber unten S. 92. 74 Abbildung einer Amsterdam-Seite bei Gädeke, „Who is Who“ (wie Anm. 71), S. 8. 75 Eine Hamburger Seite, Bl. 71, fällt ebenfalls aus dem Rahmen. Von kleinerem Format und nicht dem sonst vorhandenen Seitenschema folgend, jedoch mit Notizen zum Thema, könnte es sich bei ihr um einen eingeschobenen Zettel handeln. 76 Die ebenfalls umfangreicheren Leipzig-Seiten, die vermutlich einem anderen Kontext entstammen, bleiben hier außer Betracht; vgl. Anm. 72. 77 Beispiele bei Gädeke, „Personendatenbank“ (wie Anm. 71), S. 180. 78 Vgl. ebd., S. 182f. Während sich ein (weit gefasster) terminus ante quem implicit daraus ergibt, dass die preußische Königskrönung im Januar 1701 in den Listen noch keinen Niederschlag gefunden hat, sind deren explicite Angaben mit Vorsicht zu interpretieren, da sie keinen einheitlichen Zeithorizont widerspiegeln; dies gilt insbesondere für die Kennzeichnung von Verstorbenen, die nicht konsequent durchgeführt ist. Anhaltspunkte liefern zunächst vor allem Buchtitel, deren Jahresangaben in größerer Zahl bis in die zweite Hälfte der 1690er Jahre hineinreichen. 79 Brather (wie Anm. 16), S. 406.
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und Achilles Daniel Leopold vom März 1699. Jedoch konnte er – dem die Handschrift nur in stark fragmentierter Form vorlag und die Kenntnis des noch nicht edierten Briefwechsels zwischen Leibniz und Leopold fehlte – nicht wissen, dass der Bezug weit über die dort projektierte „Societas Literatorum Germaniae“ hinausgeht. Denn eine Beschäftigung mit den zurückgekehrten Blättern unseres Konvoluts ergab alsbald: um eine Leibnizhandschrift handelt es sich nur insofern, als sie von Leibniz’ Hand stammt. Der Inhalt dagegen dürfte weitgehend auf die Familie Leopold zurückzuführen sein – tatsächlich handelt es sich um nichts anderes als die Abschrift der oben angesprochenen „sehr nuzlichen Notata von gelehrten und curiosen leuten“, die Leibniz am 19. März in Celle erhalten hatte und mit seinem Brief vom 7. April zurückschickte.80 Die bereits an anderer Stelle81 vorgetragene Beweisführung sei hier nur kurz skizziert. Nachdem sich an Leibniz’ Autorschaft bereits erste Zweifel eingestellt hatten aufgrund einiger Merkwürdigkeiten (wie dem Fehlen zentraler Leibnizkorrespondenten, mehrfach auftretenden Leibniz-fernen „Bezugspersonen“, dem Fehlen von hier zu erwartenden Informationen, die ihm vorliegen mussten),82 fanden sie ihre Bestätigung in der Korrespondenz mit Achilles Daniel Leopold, dem genannten Brief vom 7. April. Dort sind nicht nur die „Notata“ angesprochen; es folgt der Satz, der den Zusammenhang offenkundig macht: „Doch habe annoch Amsterdam, Basel, Hamburg, Haag, Lübeck, Leiden und Paris, so mit folgender Post auch zudanck restituieren werde“. Und wenn man erneut Achilles Daniels Angaben aus dem Vorgängerbrief zu der in seiner Familie geübten Praxis der Reisevorbereitung heranzieht,83 so liest sich diese Passage nun wie eine Beschreibung unseres Konvoluts. Bei der Handschrift Ms XLII 1928 handelt es sich also um ein Zeugnis, dessen Inhalt keinesfalls Leibniz’ gelehrte Kontakte wiedergibt, das aber bereits aufgrund der Tatsache der umfangreichen Abschrift seine Interessen spiegelt, Interessen, die auch sonst zum Ausdruck kommen. Allerdings scheint es nur ephemer in seinem Gesichtskreis geblieben zu sein; bereits 1701, in der Aufbauphase der Berliner
80 Vgl. A I, 16 N. 422. 81 Gädeke, „Personendatenbank“ (wie Anm. 71), S. 182-188. 82 Ebd., S. 185. Während einige dieser Bezüge zwar durchaus auffallen, aber mit besonderen Leibniz-Präferenzen erklärt werden könnten (wie die häufige Nennung der Leopoldina und ihrer Miscellanea curiosa), erscheinen andere als ganz untypisch: so mehrfach auftretende enge Nürnberg-Altdorf-Bezüge und vor allem gelegentlich angesprochene Verbindungen zu Johann Christoph Wagenseil, ebenso zu dem Lübecker Jakob von Melle(n), dem Mitherausgeber der Nova literaria Maris Balthici. An „fehlenden Informationen“ ist neben dem Fehlen vieler Leibnizkorrespondenten vor allem das Auftreten seines Amtsvorgängers in der Leitung der Wolfenbütteler Bibliotheca Augusta, Caspar Adam Stenger, unter den Lebenden. Auffallend ist z.B. auch die Lokalisierung von Leibniz’ zentralen Helmstedter Korrespondenten Johann Andreas Schmidt und Johann Fabricius an ihre alten Wirkungsorte (Jena und Altdorf), wenn auch mit Verweis auf den Wechsel nach Helmstedt. 83 A I, 16 N. 417; vgl. oben S. 83.
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Societät, stellt er Erkundigungen an über Gelehrte bestimmter Orte, die er auch in dieser Abschrift hätte finden können.84 Wohl aber hat Leibniz damit die Überlieferung zu einem anderen ambitionierten Netzwerk, dem der Familie Leopold, erweitert. Zu den Nova literaria Maris Balthici, den Reiseberichten Johann Friedrichs und dem Catalogus seiner Korrespondenten kommt mit dem Reiseverzeichnis nun also noch ein weiteres Mosaikstück. Die Interpretation steht freilich vor einigen Hürden. Nicht nur dürfte es sich um eine Kompilation von zum Teil über Jahrzehnte reichenden Schichten handeln,85 die, durch die Abschrift nivelliert, nur noch herausgelesen werden können, sondern es stellt sich auch speziell das Problem von eventuellen späteren Leibnizschen Eingriffen in Leopolds „Notata“;86 hinzu kommt die immer noch fragmentarische Überlieferung. Tatsächlich umfasst die Schnittmenge mit den Reisebeschreibungen nur etwa 45% der jetzt 131 Orte. Und es fehlen nicht nur Seiten zu Ungarn, das im Itinerar wie im Catalogus präsent ist, sondern zum Beispiel auch zu den meisten braunschweig-lüneburgischen Orten des Itinerars, einschließlich Hannovers, Celles und Helmstedts. Wird man dies vielleicht auf Leibniz’ Weglassen von für ihn teils Überflüssigem, teils Uninteressantem zurückführen,87 so könnte man andererseits eine Reihe fehlender Orte (z.B. Rom, Salzburg, Ulm, Wien, Zürich) in der immer noch bestehenden Lücke vermuten.88 Mit den Schwerpunkten auf Norddeutschland, Sachsen und Oberdeutschland, Holland, England, Frankreich und der (hier freilich schwächer vertretenen) Schweiz sind regional immer wieder Parallelen zum Itinerar (bis auf Ungarn und Österreich) vorhanden, wenn auch mit zum Teil unterschiedlicher Gewichtung. Insbesondere zeigt der Vergleich nicht nur viel an Übereinstimmungen gerade für die bis 1699 unternommenen Reisen, er liefert auch eine Erklärung für die Aufnahme so manchen „unbedeutenden“ Ortes in das Verzeichnis. Vergleicht man dessen Personenbestand mit dem des Catalogus, so ergeben sich Spitzenwerte vor 84 Vgl. Gädeke, „Personendatenbank“ (wie Anm. 71), S. 183f. Der dort zitierte Brief an Johann Theodor Jablonski ist inzwischen gedruckt in A I, 19 N. 278. 85 Die verschiedenen Zeitschichten zeigen sich vor allem darin, dass einige der aufgeführten Personen längst verstorben sind, so der Wolfenbütteler Stenger († 1690; vgl. Anm. 82) auf Bl. 64r° oder auf der ersten Berlin-Seite (Bl. 20r°) der kurbrandenburgische Leibarzt Thomas Pankow († 1665). Ebenso aus der Berliner Liste wäre der Eintrag des Predigers Jacques Abbadie zu nennen, der Berlin bereits 1688 verlassen hatte. Auf den ersten Blick weniger auffallend, aber für die Annahme einer stufenweisen Entstehung der Vorlage noch deutlicher sprechend sind Einträge, die Ortsveränderungen innerhalb der 1690er Jahre ansprechen, so bei Schmidt und Fabricius (vgl. Anm. 82 sowie Gädeke, „Who is Who“ [wie Anm. 71], S. 13f.) oder bei Jean Sperlette, Professor der Philosophie bis 1695 am Französischen Gymnasium in Berlin, von da an der Universität Halle; er tritt in der Berliner (Bl. 21r°) und der Haller Liste (Bl. 67r°) auf. 86 Hinweise auf diese noch völlig offene Frage könnten gelegentlich eingestreute NBs sein; auch könnte der zwischen die beiden Hamburger Blätter eingelegte Zettel Bl. 71 (vgl. Anm. 75) erst durch Leibniz hinzugekommen sein. 87 Diese Vermutung wird freilich relativiert durch das Vorhandensein von Listen zu Lüneburg und Wolfenbüttel. 88 Diese muss auf jeden Fall Einträge zu Stuttgart sowie eine weitere Seite zu Utrecht enthalten haben; vgl. Anhang, Anm. zu Bl. 142 u. 144.
Die Reisen des Johann Friedrich Leopold
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allem für Orte, an denen Johann Friedrich sich länger aufgehalten und Unterweisung erfahren hat.89 Hingegen gibt es hier ganze Regionen, die im Itinerar fehlen – zum Beispiel Schottland, die Spanischen Niederlande, Mittel- und Niederrhein, der größte Teil Brandenburgs, die Ostseestädte Greifswald, Wismar und Danzig, Skandinavien. Das wird man wohl auch damit erklären können, dass dieses Verzeichnis langfristig angelegt war (unsere Abschrift spiegelt ja nur den Stand bis 1699): nach Dänemark und Schweden zum Beispiel kam Johann Friedrich erst 1707. Dieser in die Zukunft gerichtete, programmatische Charakter, das Vorgehen bei der Vorbereitung und das dahinter stehende Interesse zeigt sich besonders deutlich am Beispiel einer Stadt, für die kein Besuch überliefert ist: Berlin. Wenn auch von der Seitenzahl und der Fülle an Personen und Informationen her nicht zu vergleichen mit Amsterdam, London oder Paris, so steht die kurbrandenburgische Residenzstadt mit zwei Seiten doch fast an der Spitze der Städte des Reiches und ragt nicht nur dadurch unter den meisten anderen Residenzen hervor,90 sondern auch durch ein erkennbares „Profil“. Denn präsent sind hier, mit zum Teil detaillierten Angaben zu Veröffentlichungen und Projekten, neben drei ehemaligen Lübeckern vor allem drei (ineinander übergehende) Personengruppen: die Umgebung des Hofes,91 der Spanheim-Kreis92 und das Refuge.93 Auch hier aber trügt der Augenschein. Denn was hinter den meisten dieser Einträge steht, dürften weniger persönliche Kontakte sein als ein schriftliches Substrat, nämlich eine weitere gelehrte Zeitschrift: Etienne Chauvins Nouveau Journal des Sçavans, das, von 1696 bis 1698 in Berlin herausgegeben, viele der im Verzeichnis aufgeführten Arbeiten (mitunter sogar solche im Projektstadium) bespricht; ihre Autoren machen den größten Teil des Personenbestandes der Berliner Liste aus.94 Damit spiegeln diese Seiten vor allem die Rezeption dieses Parallelunternehmens zu den Nova literaria Maris 89 Kiel: 9 von 15; Altdorf: 8/13, Straßburg: 6/13; Basel: 8/21. Dagegen hat der Padua-Aufenthalt vom Winter 1700/01 (vgl. Seelen, Athena Lubecorum [wie Anm. 1], P. III, S. 308) kaum Entsprechung in Bl. 120 unseres Verzeichnisses. 90 Alle anderen Residenzstädte des Deutschen Reiches (wie z.B. Dresden, Düsseldorf, Kassel, München, Weimar, Wolfenbüttel) sind nur mit einer Seite und wenigen Einträgen vertreten, neben Hamburg und dem Sonderfall Leipzig ist Berlin die einzige deutsche Stadt mit mehr als einer Seite. 91 Lorenz Beger, Johann von Besser, Johann Friedrich Cramer, Gustav Casimir Gahrliep von der Mühlen, Jacques L'Enfant, Christoph Mentzel, Ezechiel von Spanheim, Antoine Teissier. 92 Neben Spanheim selbst und Teissier vor allem Etienne Chauvin, François Fetizon und François de Gaultier; vgl. Böger, Ines: Der Spanheim-Kreis und seine Bedeutung für Leibniz’ Akademiepläne, in: Poser, Hans u. Albert Heinekamp: Leibniz in Berlin, Stuttgart 1990 (Studia Leibnitiana, Sonderheft 16), S. 202-217, hier S. 208. 93 Neben Chauvin, Fetizon, Gaultier und Teissier Jacques Abbadie, Jacques L’Enfant, Philippe Naudé d.Ä. und Jean Sperlette. 94 Vgl. [Chauvin, Etienne]: Nouveau Journal des Sçavans, Januar u. Februar 1696 (Spanheim, Gaultier, Teissier), März u. April 1696 (Teissier, Besser), Mai u. Juni 1696 (Spanheim, Sperlette, Beger), Juli u. August 1696 (Beger), November u. Dezember 1696 (Mentzel), Juli u. August 1697 (Naudé), September u. Oktober 1697 (Spanheim, Sperlette), November u. Dezember 1697 (Gaultier, mit Projekten). Zum Nouveau Journal des Sçavans vgl. auch Schröcker, Alfred: Leibniz’ Mitarbeit an Etienne Chauvins Nouveau Journal des Sçavans, in: Studia Leibnitiana 8, 1976, S. 128-139.
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Balthici (zu denen das Verhältnis offenbar von freundlicher Anerkennung geprägt war)95 – und gleichzeitig dessen Verwendung als Ersatz für ein noch nicht existierendes Berliner Gelehrtenverzeichnis. 96 Allerdings durchaus selektiv: so haben nicht alle Berliner aus dem Journal Eingang in die Liste gefunden (es fehlt z.B. der Hofprediger Daniel Ernst Jablonski). 97 Andererseits scheint der SpanheimKreis (der in der Liste explicit angesprochen wird)98 auch davon unabhängig Vater und Sohn Leopold zur Kenntnis gelangt zu sein. Erst in Umrissen erkennbar, gibt unser Verzeichnis Zeugnis also von der Vorgeschichte von Johann Friedrichs Korrespondentennetz: seinen Plänen, seinen Rahmenvorstellungen und dem Vorgehen beim Aufbau. Jetzt schon spiegelt es – besonders im Vergleich mit dem Catalogus – die polyhistorische Ausrichtung seines Autors, die auch in den späteren Jahren nicht ganz verschwinden, aber stärker gegenüber einer fachlichen Orientierung zurücktreten wird. Viele Kleinigkeiten – wie eine starke Präsenz der Leopoldina und ihrer Miscellanea Curiosa,99 wie die zahlreichen Vermerke zu den besten Apotheken und zu guten Musikern (insbesondere Viola da Gambisten) – lassen seine persönlichen gelehrten und weltlichen Interessen hervorscheinen.100 Mit seiner Fülle an lokalgeschichtlichen Einzelnachrichten stellt es darüber hinaus eine Fundgrube für die jeweilige Orts- und die Kulturgeschichte dar – seine Erforschung und Auswertung ist noch längst nicht abgeschlossen. Hier sollte es präsentiert werden als eines der Mosaiksteinchen, die uns ein Netzwerk aus der zweiten Reihe der Gelehrtenrepublik überliefern – das, geradezu lehrbuchmäßig aufgebaut, ebenso ambitioniert war wie das Leibnizsche, ebenso getragen vom Gedanken der Informationsverbreitung, und das jetzt weitgehend dem Vergessen anheim gefallen ist.
95 Vgl. Nouveau Journal des Sçavans, März u. April 1698, S. 188f. Umgekehrt wird in unseren Listen gelegentlich auf das Journal hingewiesen. 96 Gelehrtenverzeichnisse für Berlin wie für die brandenburg-preußischen Territorien überhaupt wird Leibniz noch in den Anfangsjahren der Societät als Desiderat bezeichnen; vgl. Anm. 22 u. 23; für Berlin wurde auf seine Initiative hin von der Societät ab 1704 der Berliner Adresskalender herausgegeben, vgl. Brather (wie Anm. 16), S. 241-246. 97 Er ist im Nouveau Journal des Sçavans vertreten in: Mai u. Juni 1697, S. 294. 98 Der Spanheim-Eintrag auf der zweiten Berlin-Seite (Bl. 21r°) beginnt folgendermaßen: „Brn H. von Spanheim alle woche conferenz zu gewißen stunden“. 99 Vgl. Gädeke, „Personendatenbank“ (wie Anm. 71), S. 185; zur Entsprechung im Catalogus vgl. Anm. 54. 100 Zum Interesse an Musik vgl. die Beispiele ebd., S. 180 (die sich erweitern ließen); von den zahlreichen Bemerkungen zu Apotheke(r)n seien hier nur herausgegriffen die Einträge der Seiten zu Straßburg („Die Fr. Breßlarin die beste Apothek“), Kleve („Steiner apoth. guther violadagambist, curios man kan auch da logiren“), Dresden („Vogels Apotheck daselbst die beste und in ihrer einrichtung incoparabel gehalten werden“), Danzig („H. Schneiders Konigs-Apothek soll die beste seyn“), Kopenhagen („Godfr. Becker guther Apoth. und Chym. Elephanten Apothec M. Beck die beste“).
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Die Reisen des Johann Friedrich Leopold
ANHANG Übersicht über die Handschrift Hannover Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek Ms XLII 1928101 Bl.
Ort
Ortsbezeichnung
1 2 3 4-8
Altenburg Altdorf Turku (Abo) Amsterdam
9 10 11 12 13 14 15 16 17-18 19 20-21 22 23+25 24 26 27 28+29 28 30 30 31 32
Angers Annaberg Antwerpen Straßburg Arnhem Augsburg Bardowick Bayreuth103 Basel Bern Berlin Breda Bologna Alkmaar Bremen Brescia Brügge Brüssel Caen Kolberg Cambridge Kassel
Altenburg Altorfium Aboa Amsterdam / Amstelodamum102 Andegavum Angers Anneberg Antverpia Argentoratum Arnhem Augsburg Bardewic
Basilea Berna Berolinum / Berlin Breda Bononia / Bonon. Alckmaar104 Brem. Brixia Bruggae in Flandern105 Bruxella / Brusil Cadomar Colberga Pomeraniae Cantabrigia Cassellis
ADL JFL
+
+
Catalogus
1696-98
+
1700-02
+
1698-99
+
1698
+
1699-1700 1700
+
1700-02
+
1700-02 1700-02
+
1700-02
101 In der zweiten Spalte werden die Ortsnamen identifiziert, während die dritte sie nach der Handschrift wiedergibt (mit sämtlichen Namenformen; Schrägstriche weisen auf verschiedene Seiten hin). Die folgenden Spalten stellen den Bezug zur weiteren Leopold-Überlieferung her: ADL weist auf Orte hin, für die Aufenthalte Achilles Daniel Leopolds bezeugt sind, JFL auf die aus den Reisebeschreibungen Johann Friedrichs in zeitlicher Differenzierung nach den einzelnen Reisen. Einen pauschalen, nur über den Ort, nicht die Personen laufenden Verweis auf den Catalogus von Johann Friedrichs Korrespondenten gibt Spalte sechs. Ich danke der Handschriftenabteilung der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek Hannover für die Erlaubnis der Wiedergabe. 102 Die ursprüngliche Reihenfolge, die sich aus dem Inhalt wie aus Kustoden ergibt, war: Bl. 5, 6, 4, 7, 8. 103 Die Identifizierung wird trotz unsicherer Lesung des Ortsnamens durch den Personenbestand gestützt. 104 danach, gestr.: Altenb. 105 Bl. 29: Brügge in Flandern, Inhalt Wiederholung von Bl. 28, andere Hand.
100
Nora Gädeke
Bl.
Ort
Ortsbezeichnung
ADL JFL
33 34 35 35 36 37 38 39 40 40 41 42 43 44 44 45 45 46 47 48+49 50 51 52 53 53
Kleve Köln Koblenz Dokkum Coburg Deventer Delft Dordrecht Douai Edinburgh Dresden Duisburg Düsseldorf Edam Emden Emmerich Enkhuizen Erfurt Ferrara Florenz Frankfurt/M. Frankfurt/O. Franeker Flensburg Fredericia
54 55 56 57 58 58 59 59 60 61 61 62 63 64 65 65 66 67 68 69 69
Danzig Genf Genua Gießen Gera Görlitz Gorinchem Göteborg (?) Gotha Göttingen Gouda Greifswald Groningen Wolfenbüttel Grenoble Günzburg Kopenhagen Halle Den Haag Heilbronn Hameln
Clivia Colonia Agrippin. Coblenz Doccum Coburgum Daventria Delphi Delft Dordraen Dort Douay Edinburg Dresda + Duisburg Dusseldorf Edam Emda Embrica Emmerich Enckhuysen Erfordia Ferrara Florentin. / Florenz Francofurt ad Moen. Francfurt an der Oder Franeckera Flensburg Fridericia oder Fridrichsstatt in Holstein Danzig Genevae Genua Giessen + Gera Gorliz Gornichen Gotenbund Gotha Gottinga Guada Greifswald Groninga Guelferbytum Wolfenbudel Grenoble Gunzburg Hafnia Hall in Sachsen Haga Comitis + Hailbrunn Hameln
Catalogus
1696 1700-02
1700-02
1696 1700-02 1700-02
+ + +
1700-02
+ + +
1700-02
1707 1696
+
1700-02 1700-02 1696
+ + +
1707 1696 1700-02
+ + +
101
Die Reisen des Johann Friedrich Leopold Bl.
Ort
Ortsbezeichnung
ADL JFL
70-72 73 74 75 76 77 78 78 79 79 80 81 82 82 83 84 84 85-87
Hamburg Hanau Harderwijk Haarlem Heidelberg Würzburg Herborn Hildesheim Horn Hulst Stockholm Jena Eisenach Katwijk aan Zee Kiel Leeuwarden Livorno Leiden
87 88-91
Lausanne Leipzig
92-95 96 97 98 99 100 101 102 103 103 104 105 105 106
London Louvain Lucca Lyon Lübeck Lüneburg Marburg Mailand Meißen Middelburg Mainz München Norden Montpellier
Hamburgum / Hamburg106 Hanovia Hardewic Harlem Heidelberg + Herbipolis Herborna Hildesia Nieuwe Hoorn Hulst Holmia Jena + Eisenach Kattwyck Kilonum Leewarden Livorno Lugd. Batav. Leiden/ + Lugdunum Batavorum / Leodium Lausanna In inclyta celeberrimaque + Academia Lipsiensi Anno reparatae Salutis MDCXCVIII in publica officiorum statione conspiciebatur (!) viri qui sequuntur107 Londinum / Lond.108 + Lovanium Luca Lugd. Gall. Lyon Lubeca + Luneburg Marpurg Mediolanum + Meißen Misnia Middelburgum Seelandiae Moguntia Monachium Munchen Norden Montpellier
Catalogus
1696, 1700-02 +
1700-02
+
1700-02 1707 1696
+ +
1695 1700-02 1700-02 1700-02
+
(1696)
+
1700-02
+
1700-02 1700-02 + 1696
+
+
1700-02
1698 1700-02
106 Ursprüngliche Reihenfolge: Bl. 70, 72. Bl. 71, von kleinerem Format, vielleicht später eingeschoben. 107 So Bl. 88; Bl. 88-90 r°/v° beschrieben, Bl. 88-90 von anderer Hand u. nach anderer Vorlage; Bl. 91r° von Leibniz’ Hand. 108 Ursprüngliche Reihenfolge: Bl. 92, 95, 93, 94.
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Nora Gädeke
Bl.
Ort
Ortsbezeichnung
107 108/09 110 110 111 112 112 113 114-17 118/19 120 121 ----
Modena Neapel Neumagen Nördlingen Nürnberg Ansbach Oettingen Oxford Paris Parma Padua Regensburg
Mutina Modena Neapolis Neomagum Nordlinga Noriberga Onoldsbach Ansbach Ottingen Oxonium Oxfort + Paris109 + Parma Patavium Ratisbona ----------------------------------
142 142 ---144 145 ---148 148 ---152112 153113 153 154 154 155 156
Stralsund Tönning
Stralsund Tonninga110 --------------------------------Trajectum111 Tubinga ---------------------------------Verona Vinaria Weimar ---------------------------------Upsalia Windesoria Weissenfelsa Wismaria ZEYSTA Zeyst Wittenberga Wratislavea Breslau114
109 110 111 112 113 114
Utrecht Tübingen Verona Weimar Uppsala Windsor Weißenfels Wismar Zeist Wittenberg Breslau (Wrocław)
ADL JFL
Catalogus
1700-02 1700-02
1696-98 1696-98 1700-02 1700-02 1700-02 1700-02 1698
+ + +4 + + +
1700-02 1698
+ +
1700-02 1696
+
1707
+
1696 + 1696
Ursprüngliche Reihenfolge: Bl. 114, 117, 115, 116. Davor, gestr.: Stutgardia. Bl. mit starken Schmutzspuren. Bl. als scheda 2da bezeichnet. Bl. mit starken Schmutzspuren. Bl. mit starken Schmutzspuren. Bl. mit starken Schmutzspuren. Bl. 157 Verlust.
+
Ursula Goldenbaum
LEONHARD EULERS SCHWIERIGKEITEN MIT DER FREIHEIT DER GELEHRTENREPUBLIK Mit herzlichem Dank Eberhard Knobloch gewidmet, dem Musterexemplar eines freien Geistes und wunderbaren Kollegen.
Es gibt kaum einen Mathematiker in der Wissenschaftsgeschichte, der sich so ungeteilter Hochachtung und sogar Bewunderung erfreut wie Leonhard Euler. Aber all die zahlreichen Darstellungen zu seinem Leben und Werk scheinen vor einem Rätsel zu stehen, wenn es um Eulers Rolle beim Jugement der Berliner Akademie gegen Samuel König geht. Wurden eben noch seine Lauterkeit, Großzügigkeit und Kollegialität gerühmt, muss man plötzlich akzeptieren, dass Euler sich an einem Kollegen in schändlicher Weise vergangen hat. Emil A. Fellmann, Herausgeber der Euler-Korrespondenz und Biograph Eulers bringt dieses Erstaunen auf den Punkt: „Der einzige bekannte schwarze Fleck auf Eulers sonst blendend weisser Weste ist seine völlig unverständliche, will heissen: bis heute nicht hinreichend erklärte Haltung gegen seinen schon oben erwähnten sympathischen Landsmann Johann Samuel König im Streit um das Leibniz-Eulersche beziehungsweise EulerMaupertuissche Prinzip der kleinsten Aktion, in dessen Verlauf Euler mit Maupertuis, einzig gestützt von Friedrich II. – und desavouiert von seinen Schweizer Akademiekollegen! –, sozusagen allein in ungerechter Sache gegen die ganze, von Voltaire angeführte Gelehrtenrepublik stehen zu müssen glaubte.“1 Im Folgenden 1
Fellmann, Emil Alfred: Leonhard Euler – Ein Essay über Leben und Werk, in: Burckhardt, Johann Jakob, Emil Alfred Fellmann u. Walter Habicht (Hg.): Leonhard Euler 1707-1783. Beiträge zu Leben und Werk. Gedenkband des Kantons Basel-Stadt, Basel u. Boston 1983, S. 26. Dort heißt es auch: „Euler war sehr bescheiden und kannte nie Prioritätshändel, ja er verschenkte zuweilen sogar generös neue Entdeckungen und Erkenntnisse. In seinen Werken versteckt er nichts ...“. Und weiter: „Er gönnte jedem alles und freute sich stets auch an neuen Entdeckungen anderer.“ (S. 27) Zur Diskussion des Verhaltens Eulers in dieser Sache vgl. auch Pulte, Helmut: Das Prinzip der kleinsten Wirkung und die Kraftkonzeptionen der rationalen Mechanik. Eine Untersuchung zur Grundlegungsproblematik bei Leonhard Euler, Pierre Louis Moreau de Maupertuis und Joseph Louis Lagrange (studia leibnitiana, Sonderheft 19), Stuttgart 1989, S. 193-205, insbes. S. 200-204; Spiess, Otto: Leonhard Euler. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte des XVIII. Jahrhunderts, Leipzig 1929, S. 129-131; Thiele, Rüdiger: Leonhard Euler, Leipzig 1982, S. 76-82; Kneser, Adolf: Das Prinzip der kleinsten Wirkung von Leibniz bis zur Gegenwart, Leipzig 1928, S. 28f.; Siehe auch Mary Terrall: The Man Who Flattened the Earth: Maupertuis and the Sciences in the Enlightenment, Chicago 2002. Diese neuere Arbeit folgt jedoch leider den ungerechtfertigten, aber üblichen Vorurteilen von der Überlegenheit der Franzosen an der Berliner Akademie und dem Mangel der Deutschen an Witz (S. 249ff.), stellt die von Maupertuis ausgeübte Zensur als Qualitätskontrolle dar (S. 257), sieht die klar antiwolffianische Preisfrage von 1747 ausgerechnet als Ausdruck der Unabhängigkeit von philosophischen Systemen (S. 262), erkennt Maupertuis’ AntiWolffianismus nicht (S. 267) und Merian gilt zwar als wenig originell, es wird aber übersehen, dass er seinen Aufstieg in der Akademie allein seinen Hilfsdiensten für Euler und
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Ursula Goldenbaum
möchte ich versuchen, dieses Dunkel zu lichten und eine natürliche Erklärung für Eulers Verhalten zu geben. Dabei werde ich auch Argumente vorlegen, die sogar Eulers überaus aktive Rolle in dieser Affäre belegen. Auf dieser Grundlage werde ich dann die ebenfalls viel diskutierten, aber immer noch ungelösten Fraugen nach der Autorschaft des umstrittenen Leibnizbriefes, der Berechtigung des Plagiatsvorwurfs und auch die Frage nach dem Grund für Eulers Rückkehr an die Akademie zu Petersburg in neuer Weise aufwerfen und zu beantworten suchen. Der berüchtigte Jugement de L’Académie Royale des Sciences et Belles Lettres sur une Lettre prétendue de M. de Leibnitz wurde in der Akademiesitzung am 13. April 1752 per Votum beschlossen. Darin wurde der Schweizer Mathematiker Samuel König als Fälscher eines Leibnizbriefes verurteilt, den er in der Absicht produziert hätte, Maupertuis eines Plagiats an Leibniz zu bezichtigen, um diesem anstatt dem Akademiepräsidenten die Ehre der Entdeckung des Prinzips der kleinsten Aktion zuzusprechen. Unstrittig ist heute, dass der Jugement der Berliner Akademie ein ungerechter Machtspruch war. Die anwesenden Akademiemitglieder hatten über die Wahrheit des Jugements abzustimmen, ohne dass sie etwas von Mathematik oder den erhobenen Vorwürfen verstanden hätten. Noch immer werden in den unterschiedlichsten Forschungsfeldern viele offene Fragen zu diesem Thema diskutiert, auch solche, die durch diesen Jugement allererst in die Welt gekommen sind. In der Eulerforschung wird vor allem gefragt, warum sich der geniale Mathematiker überhaupt an solch einem ungerechtfertigten Jugement beteiligen konnte. Wurde er etwa durch den mächtigen Präsidenten Maupertuis genötigt? Tat er es aus Rücksicht auf seine Familie? Wollte er seine mathematischen Positionen mittels eines solchen Machtmissbrauchs durchsetzen? Oder war es doch eher der Hass auf die Wolffianer, der ihn an diesem offenbaren Schurkenstück teilhaben ließ? Eine andere zentrale Frage, vor allem der Leibnizforschung, ist die nach der Echtheit des Leibnizbriefes, die durch den Jugement bestritten wurde. Im Zusammenhang damit wird in der Mathematik- und Physikgeschichte auch die Frage nach der Autorschaft am Prinzip der kleinsten Aktion diskutiert, die durch den im Jugement erhobenen Vorwurf ausgelöst wurde – Samuel König habe Maupertuis durch sein Zitieren aus dem umstrittenen Leibnizbrief ein Plagiat an Leibniz unterstellt. Hatte also schon Leibniz ein Prinzip der kleinsten Aktion? Und wenn nicht, ist das Prinzip dann eher Maupertuis oder Euler zuzusprechen, oder nicht doch vielmehr Lagrange? Die Geschichte des Prinzips der kleinsten Aktion ist hinsichtlich solcher Zusprechungen, aber eben auch hinsichtlich der Formulierung dieses Prinzips selbst entsprechend unübersichtlich.2 Ein weiteres Thema sind die Satiren Voltaires, die durchaus unterschiedliche Bewertungen in der Wissenschaftsgeschichte und in der Voltaireforschung finden. Ist der Vorwurf berechtigt, er habe sich inkompetent in eine wissenschaftliche Diskussion unter
2
Maupertuis verdankte. Auch war Kästner – als Lehrer von Mylius – keineswegs ein Unterstützer von Maupertuis, wie behauptet (S. 268). Die Darstellung von Voltaires Rolle folgt ebenfalls der uralten und falschen Darstellung von Harnack (S. 292ff.). So resumiert Adolph Mayer die Forschungsliteratur zur Geschichte des Prinzips der kleinsten Aktion. Siehe Mayer, Adolph: Das Prinzip der kleinsten Action, Leipzig 1877.
Leonhard Eulers Schwierigkeiten mit der Freiheit der Gelehrtenrepublik
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Fachleuten eingemengt? Oder waren seine Satiren doch Teil eines Widerstands gegen die angemaßte Gewalt des Akademiepräsidenten? Last but not least wird die Frage diskutiert, ob die unzweifelhaft hässlichen Beschimpfungen Eulers und Maupertuis’ gegen ihre Kritiker, ja Eulers aggressive Polemik gegen Samuel König, wirklich entschuldigt werden können – etwa als eine verständliche und sogar verzeihliche Antwort auf die Polemik der angeblich inkompetenten Zeitungsschreiber und Voltaires, wie man mitunter lesen kann. Zwar gibt es eben aufgrund der überragenden Prominenz einiger Teilnehmer an dieser öffentlichen Debatte über den Jugement der Berliner Akademie eine recht umfängliche Literatur, aber gerade wegen dieser prominenten Persönlichkeiten – Voltaire, Friedrich II., Maupertuis und Leonhard Euler – wurde die Untersuchung fast immer aus einer engen hagiographischen Perspektive unternommen. Die große Präsenz berühmter Gelehrter und gar eines gekrönten Hauptes verengte der Forschung den Blick, so dass sowohl die wissenschaftliche Diskussion über das Prinzip der kleinsten Aktion als auch die große öffentliche Auseinandersetzung über den Jugement ganz überwiegend als bloß persönliche Auseinandersetzung einiger berühmter Leute betrachtet worden ist. Darüber hinaus trüben nationalistische Vorurteile vor allem der Forschung des 19. Jahrhunderts den Blick. Da finden wir in der deutschen Literatur den Hinweis auf unverzeihliche Charakterschwächen bei Voltaire und Maupertuis, während Friedrich II. gerechtfertigt wird, der zwar zugegebenermaßen keine Ahnung von der Streitsache hatte, dessen Verteidigung des Präsidenten der Königlichen Akademie aber wegen der angeblich ungerechten Angriffe Voltaires auf den kranken Maupertuis als ehrenwert angesehen wird. In der Voltaireforschung dagegen gilt in völliger Ignoranz der deutschen Aufklärung Voltaire als der einzige Verteidiger der Freiheit der Wissenschaft und der öffentlichen Meinung gegenüber dem mächtigen Monarchen und dem zänkischen Maupertuis, da die deutschen Gelehrten angeblich ängstlich schwiegen. Die Wissenschaftsgeschichte sucht sich möglichst auf die „rein wissenschaftlichen“ Standpunkte zu konzentrieren und begibt sich kaum in die Niederungen der Satiren und Streitschriften. Diskutiert wird die Echtheit des umstrittenen Leibnizbriefes, die Bedeutung des Prinzips der kleinsten Aktion sowie der Anteil von Leibniz, Maupertuis und Euler an der Entdeckung bzw. Formulierung dieses Prinzips. Dadurch kommt es zwar durchaus zu sachlichen Bewertungen der einzelnen wissenschaftlichen Leistungen von Leibniz, Maupertuis und Euler, dagegen wird aber mit der metaphysisch-weltanschaulichen sowie der rechtlichen Dimension der ganzen Debatte auch die Frage ausgeblendet, warum sich ein genialer Mathematiker wie Euler jenseits wissenschaftlicher Kritik an der Aburteilung eines Kollegen mit außerwissenschaftlichen Machtmitteln beteiligen oder diese sogar initiieren konnte. Das Problem der mathematikgeschichtlichen Darstellungen des Jugement und der folgenden Kontroverse besteht darin, dass diese fast ausschließlich auf Eulers eigenen Darstellungen beruhen und so unkritisch seine abfälligen, aber unberechtigten Urteile über die Kritiker des Jugement übernehmen.
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Im Folgenden will ich versuchen, auf der Grundlage einer umfangreichen Untersuchung3 zumindest jene Fragen zu beantworten, die Leonhard Euler betreffen. Ich werde in den beiden ersten Abschnitten zunächst einen kurzen Überblick über die Vorgeschichte des Jugements und über die von Euler im Jugement vorgelegten Argumente für die Fälschung des umstrittenen Leibnizbriefes geben. In einem dritten und vierten Abschnitt werde ich kurz auf die öffentliche Debatte über den Jugement eingehen, insbesondere auf die deutschen gelehrten Zeitungen und Samuel Königs Appel au public, und die Reaktion von Maupertuis und Euler (sowie Bernhard Merians) darstellen. In einem längeren letzten Abschnitt werde ich schließlich zeigen, dass sehr wahrscheinlich Euler selbst den Jugement initiierte, und seine Gründe dafür diskutieren. 1. VORGESCHICHTE Im Jahre 1744 stellte Maupertuis der Pariser Akademie einen neuen, angeblich einzig gültigen und unwiderleglichen Gottesbeweis vor, der in den Akten der Pariser Akademie 1746 veröffentlicht wurde.4 Maupertuis’ viel gerühmter Gottesbeweis besteht im Aufzeigen eines Prinzips der kleinsten Aktion als dem grundlegendsten Prinzip der ganzen Natur, demzufolge alle Zustandsänderungen in der Natur immer mit kleinstem Aufwand geschehen würden. Dieses „wunderbare“ Prinzip der Ersparnis verweise auf eine in der Natur waltende Intelligenz und damit auf Gott. Maupertuis’ Aufsatz enthielt aber zugleich eine exzessive Kritik und Verhöhnung aller früheren Gottesbeweise, insbesondere aber der Überlegungen von Descartes, Fermat und Leibniz. Auf Nachfrage räumte Maupertuis allerdings ein, dass er den Begriff der „action“ von Leibniz übernommen hatte.5 1750 besuchte der Schweizer Mathematiker und Wolffianer Samuel König auf der Rückreise von Bad Pyrmont Berlin und traf sich dort auch mit Maupertuis und Euler. Er war diesen kein Unbekannter, da sie alle drei einige Zeit bei den Bernoullis in Basel studiert hatten, Maupertuis und König sogar zusammen. Königs damals gutes Verhältnis zu Maupertuis brachte ihm bei seinem Pariser Aufenthalt 1739-41 3
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Siehe Goldenbaum, Ursula: Das Publikum als Garant der Freiheit der Gelehrtenrepublik. Die öffentliche Debatte über den Jugement de L’Académie Royale des Sciences et Belles Lettres sur une Lettre prétendue de M. de Leibnitz 1752-1753, in: dies.: Appell an das Publikum. Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1687-1796. Mit Beiträgen von Frank Grunert, Peter Weber, Gerda Heinrich, Brigitte Erker u. Winfried Siebers, 2 Teile, Berlin 2004, S. 509-651. Außerdem wurde der Aufsatz in erweiterter Form 1748 im Berliner Akademiejournal für das Jahr 1746 publiziert, übrigens im Rahmen der metaphysischen Klasse: Les loix du Mouvement & du Repos, déduites d’un Principe de Metaphysique, in: Histoire de l’Académie Royale des Sciences et Belles lettres. Année MDCCXLVI, Berlin 1748, S. 267-294. Er wurde auch in die 1749 in Berlin erscheinende Cosmologie von Maupertuis aufgenommen. Siehe Maupertuis: Response à un Mémoire de M. d’Arcy inséré dans le volume de l’Académie Royale des Sciences de Paris pour l’Année 1749. In: Histoire de l’Académie Royale des Sciences et Belles lettres pour l’année MDCCLII [eigentlich 1751], Berlin 1753, S. 293-298, hier S. 295.
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die Bekanntschaft mit Voltaire und Madame de Chatelet; er wurde dadurch der Mathematiklehrer Emilies. Seit 1739 war er Mitglied der Pariser Akademie der Wissenschaften, seit 1749 gehörte er der Berliner Akademie an, auf Vorschlag von Maupertuis, und 1751 wurde er Mitglied der Göttinger Akademie und auch der Royal Society. Wegen seines politischen Engagements bei der Einforderung der Rechte der Berner Bürger im Jahre 1744 aus seiner Heimat verbannt, erlangte er auf Empfehlung seines Landsmannes Albrecht von Haller im selben Jahr eine Professur für Philosophie und 1747 auch noch für Mathematik an der Universität Franeker. Euler empfahl ihn auch an die Akademie in Petersburg und hielt sogar eine Professur in Berlin für möglich. 6 1749 wurde König Hofbibliothekar des Prinzen von Oranien in Den Haag und auch Professor für Naturrecht an der dortigen Ritterakademie. Seine gute Beziehung zu Maupertuis endete jedoch bei seinem Besuch in Berlin im Herbst 1750. Er war nämlich mit einem fertigen Aufsatz nach Berlin gekommen, der eine grundsätzliche Kritik an Maupertuis’ Gottesbeweis sowie eine nähere Erklärung von Leibniz’ Begriff „action“ und seinem Verhältnis zu dem der „vis viva“ enthielt. König und Maupertuis gerieten in einen Streit über das Prinzip der kleinsten Aktion, nahmen aber sogar auch den alten Plagiatsstreit zwischen Leibniz und Newton wieder auf.7 Maupertuis war empört, dass König es überhaupt wagte, ihn, den Präsidenten der Societé Royale, und seinen „erhabenen Gottesbeweis“ zu kritisieren. Für den berühmten Maupertuis, Akademiepräsident, Lapplandfahrer und Abplatter der Erde, war Samuel König letztlich nur ein ungeschliffener Schweizer Bursche, seiner Heimat beraubt, auch wenn er inzwischen eine Stellung am Hofe Wilhelm IV. in den Niederlanden inne hatte. Immerhin erklärte Maupertuis am Ende, Samuel König möge seine Kritik ruhig veröffentlichen, er werde darauf antworten. Im März 1751 erschien der Aufsatz in lateinischer Sprache in den Nova Acta eruditorum, worin König außer seiner Kritik an Maupertuis auch eine alternative Auffassung des Leibnizschen Begriffs der „action“ vorstellte, auf der Grundlage der Leibnizschen Konzeption der lebendigen Kraft und des Prinzips der Erhaltung der Kraft. Entsprechend schließt der Aufsatz mit einem Leibniz-Zitat, das die Übereinstimmung von Königs Interpretation mit Leibniz belegen soll. Aber Maupertuis antwortete nicht auf diesen Aufsatz – und er wird zeit seines Lebens nicht auf diese Kritik reagieren. Stattdessen schrieb er einen Brief an König, in dem er eine solche Antwort erneut versprach. Ganz nebenbei aber fragte er an, was denn das für ein Leibniztext sei, aus dem König da zitiert habe; er hätte ihn in keiner gedruckten Ausgabe finden können. König antwortete ihm, dass es sich um eine Abschrift eines Leibnizbriefes an Jacob Hermann handelte, die er von dem inzwischen hingerichteten Berner Landsmann, seinem Freund Samuel Henzi erhalten hätte. Damit brach Maupertuis die Korrespondenz ab; von nun an schrieb der Sekretär der 6 7
Vgl. den Brief Hallers an Bonnet am 6.12.1762, in: Otto Sonntag (Hg.): The Correspondence between Albrecht von Haller and Charles Bonnet, Bern, Stuttgart u. Vienna 1983, S. 309f. Maupertuis vertrat offensichtlich die Position der Royal Society, wonach Leibniz ein Plagiat an Newton begangen hätte, während König Leibniz’ Unabhängigkeit im Auffinden des Differentialkalküls verteidigte. Vgl. Goldenbaum, Das Publikum (wie Anm. 3), Anm. 38.
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Berliner Akademie Samuel Formey höchst offiziell an Samuel König – und forderte die Herausgabe des Originals jenes Leibnizbriefes, von dem König gerade geschrieben hatte, dass er nur eine Abschrift besäße. Mit weiteren Forderungen zur Herausgabe des Originals ging das Jahr 1751 zu Ende. Inzwischen war man in Berlin nicht müßig. Aufgrund der engen Kontakte von Maupertuis zu Friedrich II. sowie von Euler zu den Bernoullis wurde die Schweizer Stadtrepublik Bern und die Regierung von Basel um die Herausgabe aller vorhandenen Leibnizbriefe ersucht. In der Folge gelangte auch die Korrespondenz von Leibniz mit Jacob Hermann nach Berlin, um deren Erwerb sich Leonhard Euler seit dem Tode Hermanns 1734 mehrfach vergeblich bemüht hatte.8 Am 13. April 1752 kam es dann zu der berüchtigten Sitzung der Berliner Akademie, auf der der Jugement de L’Académie Royale des Sciences et Belles Lettres sur une Lettre prétendue de M. de Leibnitz angeblich einstimmig beschlossen wurde. Euler verlas den von ihm selbst verfassten Jugement, worin der zitierte Leibnizbrief als Fälschung und König als vorsätzlicher Fälscher oder wissentlicher Nutzer verurteilt wurde. Dieser hätte den Leibnizbrief gefälscht, um Maupertuis des Plagiats an einem von Leibniz gefundenen Prinzip der kleinsten Aktion zu beschuldigen. Die Akademie hätte daher die Ehre ihres Präsidenten zu verteidigen. Angeblich stimmten alle anwesenden Mitglieder für die Annahme des Jugements. Dass nur knapp die Hälfte der Mitglieder anwesend war, dass zwei der Unterzeichnenden keine Mitglieder, sondern zufällige Gäste, reisende Studenten aus der Schweiz waren, dass niemand der Anwesenden außer Euler selbst die mathematische Bildung besaß, um überhaupt verstehen zu können, worum der gelehrte Streit von Maupertuis und Samuel König ging und dass Euler sich dessen bewusst war – das alles spielte auf dieser Sitzung der Akademie keine Rolle. Die Mitglieder stimmten über die Wahrheiten der Behauptungen Leonhard Eulers ab, einstimmig, so wurde es mindestens der gelehrten Welt berichtet. Einige der Drucke wurden in rotes oder schwarzes Saffianleder gebunden und mit Goldschnitt versehen. Der Jugement wurde sodann an Akademien, bedeutende Persönlichkeiten und an Zeitungen und wissenschaftliche Zeitschriften geschickt. Alle die Drucke und ihre Versendung erfolgten natürlich auf Kosten der Berliner Akademie. Außer dem Separatdruck wurde der Jugement auch in den Mémoires der Berliner Akademie veröffentlicht sowie im Journal des Savans. Als die Acta eruditorum in Leipzig den Abdruck verweigerten, geriet Maupertuis in Rage und beschwerte sich bei Abraham Kästner, dem Professor der Mathematik in Leipzig. Der Jugement trug alle Insignien eines offiziösen Dokuments, ausgesandt von der königlichen Akademie Preußens. Er war bestimmt, die angeblich angegriffene Ehre ihres Präsidenten zu verteidigen und Samuel König in der ganzen Gelehrtenrepublik als Fälscher zu verurteilen. Wenn der Jugement erfolgreich gewesen wäre, hätte es das Ende von Samuel Königs wissenschaftlicher Laufbahn bedeutet. Das wurde von Euler und Maupertuis, wenn nicht beabsichtigt, so mindestens billigend in Kauf genommen. Damit nicht genug, sandte Maupertuis den Jugement mit einem Brief an die Prinzessin von Oranien, die nach dem Tod Wilhelms IV. in den 8
Ebd., Anm. 21.
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Niederlanden regierte, sowie an den Herzog von Braunschweig als den Vormund des niederländischen Thronfolgers, mit der Bitte, Samuel König zu untersagen, öffentlich zum Jugement Stellung zu nehmen. Samuel König erhielt über all das keine Mitteilung der Akademie, sondern erfuhr erst durch eine private Information aus Berlin davon, worauf er am 18. Juni 1752 unter Protest gegen diese Anmaßung der Berliner Akademie sein Patent als Mitglied zurücksandte. Es ist merkwürdig, dass in der Literatur die Behauptung des Jugement, Samuel König hätte Maupertuis ein Plagiat an Leibniz vorgeworfen, kritiklos als Tatsache hingenommen wird, um dann über die Berechtigung des Vorwurfs zu diskutieren. Tatsächlich ist aber ein solcher Plagiatsvorwurf gegen Maupertuis nie erhoben worden. Im Gegenteil, Samuel König plädierte in seiner Kritik an Maupertuis mit Leibniz für ein anderes allgemeines Prinzip, das der Naturwissenschaft zugrundegelegt werden sollte – das der Erhaltung der Kraft. Aber es war allein die empörte Zurückweisung des angeblichen Plagiatsvorwurfs Königs, die der Akademie einen Grund bieten konnte, als Körperschaft gegen Samuel König vorzugehen, um die Ehre ihres Präsidenten zu verteidigen. Die Diskussion der Forschungsliteratur über einen angeblichen Plagiatsvorwurf in dieser Kontroverse ist aber bereits der Manipulation durch den Jugement geschuldet, da dieser sich gerade als eine Verteidigung gegen einen solchen entehrenden Vorwurf präsentiert. 2. DER JUGEMENT SELBST UND SEIN VERFASSER LEONHARD EULER Während der angebliche Vorwurf eines Plagiats an Leibniz ohne weitere Begründung, allein aufgrund des Leibnizzitats, behauptet wurde, trug Euler fünf Argumente vor, die den Leibnizbrief als eine Fälschung erweisen sollten: Erstens: Das Leibnizfragment setze eine so genaue Kenntnis des „erhabenen“ Prinzips der kleinsten Aktion voraus,9 dass sich Leibniz dessen auch selber schon zur Lösung mathematischer Aufgaben hätte bedienen müssen, was er jedoch nicht getan hätte. Zweitens: Der Leibnizbrief, der das strittige Stück enthalte, sei bisher niemals bekannt geworden. Drittens: In keinem anderen bekannten Leibnizstück sei eine vergleichbare Äußerung zu finden gewesen. Viertens: In der von König an Maupertuis geschickten Kopie des vollständigen fraglichen Leibnizbriefes finde sich eine auffallende Differenz zu der Formulierung des in den Acta eruditorum gedruckten Fragments dieses Briefes, die nicht auf einen bloßen Druckfehler zurückzuführen wäre, was den Verdacht gegen das Fragment beträchtlich verstärke. Fünftens hält Euler es interessanterweise für « fâcheux que toute l'authorité de ce fragment dépendît du témoignage d'un homme qui avoit perdu la tête; et cela n'etoit pas fort
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Jugement de L’Académie Royale des Sciences et Belles Lettres. Sur une Lettre prétendue de Mr. Leibnitz, Berlin 1752, S. XXIff.; Vollständige Sammlung aller Streitschriften, die neulich über das vorgebliche Gesetz der Natur, von der kleinsten Kraft, in den Wirkungen der Körper, zwischen dem Herrn Präsidenten von Maupertuis zu Berlin, Herrn Professor König in Holland, und andern mehr, gewechselt worden, Leipzig: Breitkopf 1753, S. 67ff.
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propre à la confirmer. »10 Außerdem wirft Euler Samuel König ausdrücklich vor, trotz mehrfacher Bitten der Akademie und von Maupertuis das Original des Leibnizbriefes nicht herausgegeben oder doch wenigstens seinen gegenwärtigen Ort angezeigt zu haben. Das zweite und dritte Argument hinsichtlich der Bekanntheit der Texte ebenso wie der Unwahrscheinlichkeit einer nur einmaligen Notiz konnten in jener Zeit kaum ins Gewicht fallen, da nur wenige Briefe und Werke von Leibniz im Druck vorlagen. Das vierte Argument, wonach die Differenz zwischen dem gedruckten Leibnizfragment und der handschriftlichen Kopie des ganzen Briefes kein Druckfehler sein könnte, ist ebenfalls nicht stichhaltig, da die Art dieser Differenz einen Abschreibfehler sehr wahrscheinlich macht – wegen der Wiederholung mehrerer Wörter hintereinander – im Sinne des Verrutschens in den Zeilen, worauf schon von Zeitgenossen hingewiesen worden ist. Ein solcher Abschreibfehler aus Nachlässigkeit spricht aber eher gegen eine Fälschung, bei welcher man einen solchen Lapsus wohl sorgfältig vermieden hätte. Merkwürdig aber erscheint vor allem der fünfte und letzte Grund, wonach die Aussage eines Mannes, der wegen seiner politischen Aktivitäten enthauptet worden war, per se keinen Wert haben sollte. Von den fünf genannten Gründen bleibt also allein der erste Grund Eulers zu diskutieren, womit die Wissenschaftsgeschichte auch schon hinreichend lange beschäftigt ist.11 (Allerdings wird der Tatsache, dass Euler vier andere, offensichtlich inadäquate Argumente vorbrachte, in der Forschung weiter keine Aufmerksamkeit geschenkt.) Bei diesem einen Argument kommt aber alles darauf an, ob man Euler in der Behauptung folgt, dass Leibniz wegen des zitierten Fragments eine so genaue Kenntnis der Methode de maximis et minimis gehabt haben müsse, dass er die Gleichungen für Kurven, die von Körpern beschrieben werden, die von einem oder mehreren Mittelpunkten angezogen werden, bereits hätte aufstellen können, – oder aber, dass man Euler in dieser Behauptung widerspricht, da Leibniz in dem von König angeführten Brieffragment über die Aktion ja nur sagt: „elle pourrait servir à déterminer les courbes que décrivent des corps attirés ...“.12 Die noch anhaltende Diskussion über die Echtheit des Briefes zeigt zumindest, dass es bis heute noch keine Übereinstimmung in der Interpretation des strittigen Fragments gibt, 10 Jugement (wie Anm. 9), S. XLI. – Es sei auch „verdrießlich ..., daß das ganze Ansehen dieses Überbleibsels, auf dem Zeugnisse eines Menschen beruhete, der den Kopf verloren hatte: denn dieser Umstand war nicht geschickt, ihn zu bestätigen.“ (Vollständige Sammlung (wie Anm. 9), S. 71). 11 Zur umfangreichen wissenschaftsgeschichtlichen Diskussion vgl. Pulte (wie Anm. 1), siehe auch die Bibliographie S. 271-297. Genannt seien auch die folgenden wichtigen Arbeiten: Helmholtz, Hermann v.: Rede über die Entdeckungsgeschichte des Prinzips der kleinsten Aktion (v. 27.1.1887 in der Pr. Ak. D. Wiss.), in: Harnack, Adolph von: Geschichte der Königlich-Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 3 Bde., Berlin 1900, Bd. II, S. 282-296; Mayer, Adolph: Geschichte des Princips der kleinsten Action, Leipzig 1877; Kneser (wie Anm. 1); Brunet, Pierre: Ètude historique sur le Principe de la moindre Action, Paris 1938; Szabó, István: Geschichte der mechanischen Prinzipien und ihrer wichtigsten Anwendungen. 3. korr. u. erw. Aufl. hg. v. Peter Zimmermann u. Emil A. Fellmann, Basel, Boston u. Stuttgart 1987, S. 45-137; Fellmann, Emil A.: Leonhard Euler, Reinbek b. Hamburg, S. 83. 12 Jugement (wie Anm. 9), S. XXI (Hervorhebung von UG).
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entsprechend auch kein eindeutiges Urteil über die Echtheit des strittigen Leibnizbriefes. Für die Behauptung aber, dass Samuel König selber den Brief fälschte bzw. dass er das Original zurückhielt, hat Euler gar keine Argumente angeführt – außer, dass der eben das Original nicht herausgeben würde. An der Existenz eines solchen Originals aber hatte Euler doch mit der Behauptung der Fälschung gerade gezweifelt. 3. DIE ÖFFENTLICHE DEBATTE ÜBER DEN JUGEMENT UND DER APPEL AU PUBLIC Wenn Maupertuis und Euler geglaubt hatten, dass die gelehrte Welt den Jugement der Berliner Akademie einfach akzeptieren und dass Samuel König von seiner Landesherrin Stillschweigen auferlegt würde, so hatten sie ihre Rechnung ohne den Wirt gemacht. Bevor noch Samuel König selbst auf den Plan trat, erschienen kritische Besprechungen des Jugements in mehreren deutschen und niederländischen Zeitschriften, noch eher aber in den so genannten gelehrten Zeitungen in Leipzig, Hamburg und Göttingen.13 Das vorrangige Thema aller dieser Besprechungen war die Kritik am Verfahren der Akademie. Durchgängig wurden Zweifel am Recht der Akademie zu einer solchen Verurteilung ausgesprochen. Außerdem könne weder der Richter zugleich Anklage führen noch dürfe der Angeklagte ungehört bleiben. Die Besprechungen waren durchweg in einem moderaten Ton geschrieben und eine Prüfung der Echtheit des Leibnizbriefs wurde befürwortet. Keineswegs aber wurden Eulers Argumente für zureichend angesehen, um über die Frage der Echtheit des Leibnizbriefes entscheiden zu können. Die Rezension in den Hamburgischen Freyen Urtheilen von gelehrten Sachen brachte darüber hinaus auch Interna über die Berliner Akademie, vor allem über Maupertuis’ Despotismus gegenüber den Mitgliedern. Es wurde auch über die fragliche Sitzung und den Protest eines Akademiemitglieds gegen den Jugement berichtet, was die angebliche Einstimmigkeit des Jugement infrage stellte. Wie sich später herausstellte, hatte das Schweizer Akademiemitglied Johann Georg Sulzer tatsächlich mutig gegen den Jugement und das Verfahren der Akademie protestiert, weshalb er unter Maupertuis und Euler niemals eine Pension erhielt (im Unterschied zu Merian und dem Sohn Eulers). Eine ausführliche Darstellung der ganzen öffentlichen Debatte findet sich in der oben erwähnten Untersuchung, jedoch muss hier mindestens noch auf das Buch von Samuel König selbst hingewiesen werden. Es erschien Anfang September 1752 unter dem Titel Appel au Public und erreichte per Post auch Berlin (im Buchhandel konnte man es dort wegen der preußischen Zensur nur unter dem Ladentisch erwerben). Mit dieser Veröffentlichung wandte sich Samuel König direkt an das europäische Publikum und forderte es ausdrücklich zum Richter in dieser Streitigkeit auf. In vier Abschnitten legte er den ganzen komplexen Streitfall dar und fügte im Anhang seinen Briefwechsel mit Maupertuis und dem Akademiesekretär 13 Siehe Goldenbaum, Das Publikum (wie Anm. 3), S. 522-529.
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hinzu sowie die in seinem Besitz befindlichen Kopien von Leibnizbriefen. Er diskutierte die Rechte einer Akademie und gelangte zu dem Schluss, dass die Entscheidung über die Echtheit des Briefes ebenso wie über die Wahrheit der Argumente allein der wissenschaftlichen Öffentlichkeit obliege, nicht jedoch der selbsternannten Autorität irgendeiner Akademie oder Gesellschaft. 4. EULERS SELBSTKORREKTUR IN DEN LETTRES CONCERNANT LE JUGEMENT Die große öffentliche Reaktion der deutschen und niederländischen gelehrten Zeitungen und Zeitschriften sowie das Erscheinen des Appel au Public, das erneut Rezensionen und Diskussionen auslöste, blieben nicht ohne Wirkung auf Maupertuis und Euler. Christlob Mylius, der Autor der Hamburger Rezension, berichtet an Albrecht von Haller: „Meine Recension des Jugement etc. ist nunmehr in den Hamb. freyen Urtheilen gedruckt, und Euer Hochwohlgeb. werden sie vermuthl. gelesen haben. Maupertuis hat sie auch gelesen und er ist fast rasend darüber, und bemüht sich äußerst, den Verfasser oder Einsender zu erfahren; aber ich hoffe, daß mich niemand verrathen wird. Er ist inzwischen der gänzlichen Meynung, Hr. König habe die Recension selbst eingeschickt, und ich wenigstens unterstehe mich nicht, ihm hierinne zu widersprechen. Er schickt alle Tage in die Buchläden, und läßt sehen, ob nicht etwas von Hn. König in den Actis Erud. oder im Journal des Savans steht.“14
Im September 1752 gaben Maupertuis, Euler und der aufgrund seiner Handlangerdienste inzwischen zum Vizesekretär aufgestiegene Bernhard Merian schließlich drei Lettres concernant le jugement heraus, bestehend aus Briefen von Euler an Maupertuis, Maupertuis an Euler und Merian an die beiden vorgenannten. Alle drei Briefe stellen nichts als Klagen über die ungerechtfertigte Kritik der „Zeitungsschreiber“ am Jugement dar. Diese würden von der ganzen Angelegenheit nichts verstehen und wären daher nicht berechtigt zu urteilen. Damit aber nicht genug, werden diese angeblich inkompetenten Zeitungsschreiber auch noch nach Strich und Faden beschimpft und beleidigt. Dabei tat sich zwar Merian besonders unrühmlich hervor,15 allerdings ließen auch Maupertuis und Euler ihrem Ärger über die gelehrten Zeitungen und Journale freien Lauf. Diese hässlichen Beschimpfungen werden in mathematikgeschichtlichen Darstellungen gewöhnlich nicht zitiert, aber doch entschuldigt, – mit der angeblichen Inkompetenz der so genannten Zeitungsschreiber sowie deren angeblichen Beschimpfungen der Akademie, des Präsidenten und Vizepräsidenten. Das ist aber schlicht die unkritische Übernahme des Urteils Leonhard Eulers und erweist sich bei einer Lektüre als vollkommen 14 Mylius an Haller am 22.8.1752, in: Briefe eines Berliner Journalisten aus dem 18. Jahrhundert, mitgeteilt von Ernst Consentius, in: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte 10, 1903, S. 541f. 15 Siehe Goldenbaum, Ursula: Die Bedeutung der öffentlichen Debatte über das Jugement der Berliner Akademie für die Wissenschaftsgeschichte. Eine Sichtung hartnäckiger Vorurteile, in: Hecht, Hartmut (Hg.): Pierre Louis Moreau de Maupertuis. Eine Bilanz nach 300 Jahren, Berlin u. Baden-Baden 1999, S. 383-417.
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unzutreffend. Die Rezensionen sind allesamt in einem sachlichen Stil geschrieben und kommen ohne Kraftworte aus. Vor allem sind die Autoren dieser Rezensionen keineswegs inkompetent, handelte es sich doch um Albrecht von Haller, Abraham Kästner und Christlob Mylius. Letzterer, obwohl noch jung und unbekannt, war doch von Euler selbst als Adjunkt an die Petersburger Akademie empfohlen worden und hatte bei der Preisfrage der Akademie von 1746 den zweiten Preis nach d’Alembert gewonnen. In einem Anhang zu den Lettres concernant le jugement antwortete Euler aber auch noch auf den inzwischen erschienenen Appel au Public. Er erklärt den Protest von Samuel König gegen den Jugement ganz einfach für unzutreffend, – da dieser ja gar nicht der Fälschung angeklagt worden sei. Der Jugement habe allein dem Erweis des fraglichen Briefes als einer Fälschung gedient. Mit diesem überraschenden Wechsel in der Argumentation wird plötzlich aus dem Jugement als einer eindeutigen Verurteilung Samuel Königs als Fälscher eine bloße Expertise über die Echtheit des Briefes gemacht. Eulers Behauptung ist allerdings schlicht unwahr, wie eine Lektüre des Jugement erweist. Andernfalls wäre auch der Ausschluss Samuel Königs aus der Berliner Akademie unsinnig gewesen. Ungeachtet dessen wird diese faktische Selbstkorrektur Eulers auf Kosten Samuel Königs in der mathematikgeschichtlichen Literatur weiterhin im Sinne einer Entlastung Eulers kolportiert. Die öffentliche Debatte dauerte an bis zum Frühsommer 1753. Aber die ersten Satiren auf den Akademiepräsidenten und seine Verbündeten, deren Höhepunkt mit Voltaires genialer Satire Dr. Akakia im Dezember 1752 erreicht wurde, erschienen erst nach den außerordentlich beleidigenden und vollständig unsachlichen Lettres concernant le jugement von Maupertuis, Euler und Merian. Das enorme Interesse der Öffentlichkeit an dieser Debatte, in der es eher um Repression vs. Freiheit der Gelehrten als um mathematische Prinzipien ging, kommt in den beiden Editionen der wichtigsten Streitschriften im Frühjahr 1753 zum Ausdruck, die in französischer und in deutscher Sprache in Leiden und Leipzig erschienen und innerhalb weniger Monate neu aufgelegt wurden. Es ist erst diese öffentliche Debatte, die Euler am Ende veranlasste, die der Kontroverse über den Jugement vorausgegangene Kritik von Samuel König an Maupertuis im Frühjahr 1753 doch noch zu beantworten, wobei er auch dann nicht ohne aggressive Polemik auskam. 5. EULERS AKTIVE ROLLE IN DER AFFÄRE UND SEINE MOTIVE Angesichts dieser Darstellung der Fakten wird bereits klar, dass Euler beim Jugement nicht bloß notgedrungen mitgemacht hat, sondern vielmehr dessen aktiver Betreiber gewesen ist. Maupertuis wusste gar nichts über die Leibnizkorrespondenz mit Hermann und überhaupt zu wenig über Leibniz, als dass er über die Möglichkeit einer Fälschung hätte urteilen können. Es war allein Euler, der erkennen konnte, dass der zitierte Leibnizbrief nicht zur Korrespondenz mit Hermann gehörte, denn er hatte diese Korrespondenz bereits zu Hermanns Lebzeiten in
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ihrer gemeinsamen Zeit in Petersburg einsehen können.16 Als König zunächst behauptet hatte, der Brief sei an Hermann geschrieben, konnte das Euler verständlicherweise misstrauisch machen. Daraus jedoch sogleich zu schließen, König hätte diesen Brief selbst gefälscht, um Leibniz das Prinzip der kleinsten Aktion zuzusprechen, war zumindest vorschnell und dem Misstrauen gegenüber dem Wolffianer geschuldet. Maupertuis’ Kenntnis von Leibniz war jedenfalls nicht ausreichend, um sich zur Behauptung einer Fälschung zu versteigen oder auch nur auf eine solche Idee zu kommen. Aber auch die Idee eines Jugement selbst scheint auf Euler zurückzugehen, hatte er doch schon früher, angesichts der wolffianischen Kritik der Entscheidung der Akademie über die Preisschriften 1747, Interesse gezeigt, nach dem Vorbild der Royal Society im Plagiatsstreit Newtons mit Leibniz die Institution der Akademie ins Feld zu führen. Da dies nur durch einen angeblichen Angriff auf die Akademie bzw. ihren Präsidenten zu rechtfertigen gewesen wäre, forderte er schon damals Maupertuis auf zu entscheiden, ob durch diese Kritik nicht die Akademie beleidigt worden wäre. 17 Der Präsident hatte seinerzeit nicht auf Eulers Vorschlag reagiert, aber angesichts der Kritik Königs an ihm selbst war er diesmal offenbar einverstanden. Nicht nur konnte er so der nötigen Antwort entgehen, zu der er wohl kaum in der Lage gewesen wäre; durch Eulers Fälschungsthese konnte diese Kontroverse sogar zur Parallele zum Plagiatsstreit von Newton und Leibniz werden. Weiterhin hat Euler nicht nur den eigentlichen Jugement verfasst, er hat vor allem die Begründung geschrieben, aus der klar hervorgehen sollte, dass Samuel König den Brief gefälscht habe, um Maupertuis die Ehre am Prinzip der kleinsten Aktion zu nehmen und sie Leibniz zuzusprechen. Alle fünf Gründe stammen ausschließlich von Euler, er hatte sogar einen sechsten, den er aber wegen Formeys Einspruch wieder zurücknahm. Dieser berichtet, dass Euler die aus Basel zugesandten Leibnizbriefe an Hermann persönlich transkribierte, jedoch Schwierigkeiten dabei hatte. Es ist nun bezeichnend für die parteiische Haltung Eulers und für seinen daraus resultierenden Mangel an Logik in der Arbeit mit historischen Quellen, dass er aus seinen eigenen Schwierigkeiten mit dieser Transkription einen weiteren starken Beweis für eine Fälschung basteln wollte, der sogar noch stärker sein sollte als das Nichtvorhandensein weiterer Äußerungen von Leibniz zum Gegenstand im Briefwechsel mit Johann Bernoulli.18 Allein die Leichtigkeit, mit der Formey die von Euler ausgelassenen, angeblich unlesbaren Stellen vervollständigen konnte, als er bei einem zufälligen Besuch bei Maupertuis auf die Eulersche unvollkommene Transkription stieß, scheint dieses in Eulers Augen so unerhört „starke“ Argument verhindert zu haben.19 16 Goldenbaum, Das Publikum (wie Anm. 3), Anm. 21. 17 Siehe Euler an Maupertuis am 30.9.1747, in: Leonhardi Euleri Opera omnia, Ser. 4 A: Commercium epistolicum, Bd. 6: Commercium epistolicum cum Pierre-Louis Moreau de Maupertuis et Frédéric II, hg. von Pierre Costabel, Eduard Winter, Asot T. Grigorijan, Adolf P. Juškevič, Basel 1986, S. 84. 18 Siehe Euler an Maupertuis am 31.3.1752, in: ebd., S. 201. 19 Vgl. dazu Formey, Jean-Henri-Samuel: Souvenirs d’un Citoyen, Berlin 1789, S. 180f.
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Euler hat dann, zusammen mit Merian als Handlanger, die gesamten Aktivitäten hinsichtlich des Jugement übernommen, sämtliche Repliken verfasst und den Druck und die Versendung aller von ihm verfassten Widerlegungen bis 1754 organisiert, wogegen Maupertuis sich noch 1752 krank meldete und bald darauf nach Paris reiste, um den Schaden von Voltaires Satiren für seine Reputation einzugrenzen. Last but not least war es Euler selbst, der seine eigene frühere Auffassung des Prinzips der kleinsten Aktion, wonach Zustandsveränderungen zwar meistens Minima, mitunter aber auch Maxima sein könnten, seit dieser Kontroverse bis zum Tod von Maupertuis gewissermaßen stornierte und damit seine eigene wissenschaftliche Entwicklung blockiert hat. Es blieb deswegen Lagrange überlassen, mit nur wenigen Schritten die mathematische Fassung des Prinzips der kleinsten Aktion zu formulieren. Von daher ist die Frage für mich nicht nur, warum Euler beim Jugement mitgemacht, sondern warum er ihn mit solchem zeitlichen Aufwand und mit so viel Energie aktiv betrieben hat? Was also waren Eulers Gründe, den Jugement zu initiieren? Helmut Pulte hat versucht zu zeigen, dass die theoretischen Intentionen von Maupertuis und Euler allein hinreichend seien, um die grundsätzliche Gegnerschaft von Euler gegen König, seine Verbindung mit Maupertuis und eben auch den Verzicht auf seine Priorität zu erklären.20 Aber wenn Euler und Maupertuis „gute Gründe für die Zurückweisung der Thesen Königs hatten“21, stellen sich ja die Fragen erst recht: warum sie es a) mit dem bis dahin unerhörten Mittel eines Jugement der Akademie tun mussten, in dem Samuel König angeblich als der bewussten Fälschung überführt verurteilt wurde, warum sie b) zu diesem Zweck Druck auf die Akademisten in Berlin ausüben mussten, um deren Votum zu erlangen, und vor allem c), warum Maupertuis diesen Jugement mit der Bitte an die Prinzessin von Oranien versandte, Samuel König jede öffentliche Erwiderung und Rechtfertigung zu einem so unerhörten Vorwurf zu verbieten. Der Skandal, der die öffentliche Debatte auslöste, der dann in der Folge zu der Flut von Streitschriften und Satiren über den Akademiepräsidenten und die Akademie führen sollte, bestand ja nicht in der Differenz wissenschaftlicher Überzeugungen. Der Skandal für die europäische aufgeklärte Öffentlichkeit, wie er sogleich in den deutschen und holländischen Zeitungen und Zeitschriften thematisiert und dann auch im Appell au public europaweit öffentlich gemacht wurde, lag ja allein in diesem Missbrauch von Machtmitteln! Eine wichtige Erklärung für Eulers Teilnahme war immer schon seine entschiedene Gegnerschaft gegen die Philosophie von Leibniz und Wolff, die für ihn nicht nur in philosophischer Hinsicht problematisch war;22 der sehr religiöse Euler 20 Vgl. Pulte (wie Anm. 1), S. 200-204 u. S. 216-225. 21 Ebd., S. 224. 22 „Jedenfalls ist Euler in dem Streit zu weit gegangen. Den Grund kennen wir. Der Fall König war nur eine Episode in seinem zähen, unerbittlichen Kampf gegen die nach seinen physikalischen Begriffen und nach seinem christlichen Offenbarungsglauben unrichtigen und gefährlichen Gedanken von Leibniz und Wolff. Dagegen erschien ihm das Prinzip der geringsten Aktion durchaus im Sinne der physikalischen Wirklichkeit und ein Zeugnis für die Existenz eines Schöpfers. Der Physiker Euler wurde zum Metaphysiker und verstellte sich in der Physik selbst
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sah vielmehr in den Leibnizianern und Wolffianern mit ihrer Auffassung von einer natürlichen Religion eine ernsthafte und ihm bedrohlich erscheinende Gefahr für die christliche Religion.23 Der theologische Hass scheint mir in der Tat eine befriedigende Erklärung dafür zu bieten, dass Euler nicht nur gegenüber Samuel König, sondern überhaupt immer dann, wenn es gegen Wolff und Leibniz ging, alle Regeln des Anstandes und der wissenschaftlichen Redlichkeit zu vergessen schien oder aber sie in allen diesen Fällen für überflüssig hielt.24 Wie sehr Euler aus den Regeln der wissenschaftlichen Redlichkeit ausscheren konnte und zu welch unfairen Methoden er zu greifen vermochte, wenn es um die ihm verhassten Wolffianer bzw. Leibnizianer ging, wurde schon wenige Jahre zuvor bei Gelegenheit der Preisfrage der Akademie von 1747 in aller Öffentlichkeit deutlich. Euler ließ sich, als Direktor der mathematischen Klasse einigermaßen unzuständig, zum Mitglied der Kommission der ganzen Akademie über diese philosophische Preisfrage ernennen, – wegen der großen Bedeutung dieser Frage. In dieser Funktion trug er dann für die Formulierung einer definitiv antileibnizianischen Preisfrage Sorge.25 Bei der Auswahl der Preisträger erfüllte er klar die Kriterien der Befangenheit, als er noch während des laufenden Verfahrens selbst mit einer gedruckten Schrift gegen die wolffianischen Freigeister an die Öffentlichkeit ging und so gewissermaßen mit seiner antileibnizianischen Position die von der Akademie gewünschte Antwort vorgab.26 Schließlich setzte er in der Kommission den Autor einer allgemein – selbst von ihm später – als unwürdig erachteten Preisschrift mit klarer Tendenz gegen Leibniz als ersten Preisträger durch.27 Nicht nur die Wolffianer protestierten damals dagegen; auch d’Alembert kritisierte in einem
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Ansätze wichtiger Erkenntnis, wie er sie in seinen Nova methodus inveniendi lineas [...] bereits eingeleitet hatte. Lagrange konnte ohne die ‚gesunde Philosophie‘ Eulers in seiner Méchanique analytique weiter kommen als dieser.“ (Winter, Eduard: Die Registres der Berliner Akademie der Wissenschaften 1746-1766. Dokumente für das Wirken Leonhard Eulers in Berlin, Berlin 1957, S. 54). Vgl. [Euler, Leonhard:] Rettung der göttlichen Offenbarung gegen die Einwürfe der Freigeister, Berlin 1747. Mir scheint die Darstellung von Spiess (wie Anm. 1) darin immer noch unübertroffen zu sein, vgl. insbes. S. 114-121. Sehr genau belegt Winter seine mit Spiess übereinstimmende Einschätzung, dass „die Maßlosigkeit des Angriffs Eulers gegen Wolff und dessen Philosophie“ allein von „seinem theologischen Ausgangspunkt“ zu verstehen sei, vgl. Winter (wie Anm. 22), S. 44-48, Zitat S. 47. Siehe auch Fellmann, Euler (wie Anm. 11), S. 70-73. Vgl. Eulers Mitteilung über die Aufgabenstellung der Akademie an Christian Goldbach am 3./14.6.1746, in: Juškevič, Adolf P. u. Eduard Winter (Hg.): Leonhard Euler und Christian Goldbach, Berlin 1965, Nr. 106, S. 251-255, hier S. 253. Vgl. Euler, Leonhard: Gedanken von den Elementen der Körper, Berlin 1746. Vgl. Harnack (wie Anm. 11). I/1, S. 402-409. Der Preisträger wurde Johann Heinrich Gottlob von Justi (1720-1771) mit der Preisschrift Nichtigkeit und Ungrund der Monaden (Halle 1748), die er mit einem durch Euler unrechtmäßig besorgten Privileg der Akademie in der Druckerei in Halle ohne das übliche Universitätsprivileg vor der Akademieveröffentlichung drucken ließ, was selbst Maupertuis zu einem sanften Tadel veranlasste. Vgl. Justi, Johann Heinrich Gottlob: Untersuchung über das System der Monaden, in: Dissertation qui a remporté le prix de l’Académie des sciences, Berlin 1748.
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Brief an Maupertuis dieses Verfahren als offensichtliche Kabale28 und Daniel Bernoulli empfahl dem Freund philosophische Abstinenz, da man von ihm nur Außerordentliches erwarte und er dies auf dem philosophischen Feld zu leisten nicht imstande sei.29 Bei dieser antileibnizianischen Preisfrage von 1747, bei der Debatte um Samuel Königs Kritik 1752/3 und noch einmal bei der anderen antileibnizianischen Preisfrage von 1753/55, d.h. immer wenn es um die Bekämpfung der leibniz-wolffischen Philosophie ging, legte Euler alle Regeln wissenschaftlicher Redlichkeit beiseite. Diese Sicht wird aber auch durch den mit Euler persönlich bekannten Christlob Mylius bestätigt. Er schrieb an Albrecht von Haller: „Hr. Euler hat seinen Namen aus dem Haß gegen Leibnitz und aus interessierter Gefälligkeit gegen den Hn.v.M. und gar nicht aus Hochachtung gegen denselben, hergegeben.“30 Es ist aber diese tiefe Abneigung gegen Leibniz und Wolff, die Euler mit seinem Präsidenten teilte, wenngleich Maupertuis eher aus Neid auf den großen Einfluss Leibniz’ und Wolffs in Deutschland gegen die Wolffianer aufgebracht war. Euler konnte aber im Bündnis mit dem Präsidenten seine parteiische Preisfragenpolitik aufgrund der gemeinsamen Abneigung gegen die Wolffianer durchsetzen. Auch gegen den Wolffianer Samuel König stand Euler dem Präsidenten zur Seite, dessen mathematische Fähigkeiten schlicht nicht ausgereicht hätten, um die Kritik Königs an seinem Prinzip selbst zu beantworten. Eine weitere Erklärung von Eulers aktiver Rolle beim Jugement scheint mir jedoch in seiner (strategischen) Autoritätshörigkeit zu liegen. Diese geht schon aus seiner Abneigung gegen seinen Schweizer Landsmann Samuel Henzi hervor, dem früheren Besitzer des umstrittenen Leibnizbriefes, der am 17. Juli 1749 in Bern hingerichtet wurde, wegen der mit anderen unternommenen Einforderung der in der Berner Verfassung garantierten Bürgerrechte vom patrizischen Senat. Während Lessing in eben diesen Jahren ein Heldendrama über Henzi in Hexametern in Angriff nimmt und ihm zwei seiner kritischen Briefe widmet,31 die Vossische Zeitung in ihrer auffällig ausführlichen Berichterstattung Partei für die Berner 28 D’Alembert erinnert 1751 an Eulers Voreingenommenheit, wie sie in der Preisvergabe an Justis Preisschrift zum Ausdruck gekommen sei. Die sei so schlecht gewesen, „qu’il n’est pas difficile de voir que c’est par cabale qu’il a obtenu le prix; aussi ce jugement n’a-t-il point fait d’honneur aux commissaires, ou du moins à ceux qui ont été pour Mr Justi, et donc quelques uns sont connus.“ (D’Alembert an Euler am 10.9.1751, in: Leonhardi Euleri Opera omnia, Ser. 4 A: Commercium epistolicum. Bd. 5: Commercium cum Alexis C. Clairaut, J. d’Alembert et J.L. Lagrange, hg. von Adolf P. Juškevič u. René Taton, Basel 1980, Nr. 29, S. 311f., hier S. 312). Euler sah sich am 21.9.1751 genötigt, wegen dieser Beschuldigungen von Seiten d’Alemberts einen langen Rechtfertigungsbrief an Maupertuis zu schreiben, um alle Vorwürfe abzuweisen und die Schuld auf den jungen Grischow zu lenken. Vgl. Euler an Maupertuis am 1.9.1751, in: ebd., Nr. 86a, S. 186-188, hier S. 187f. 29 Siehe Daniel Bernoulli an Euler am 29.4.1747, in: Leonhardi Euleri Opera omnia. Ser. 4 A: Commercium epistolicum. Bd. 1: Descriptio commercii epistolici hg. von Adolf P. Juškevič, V. I. Smirnov u. Walter Habicht, Basel 1975, Nr. 170, S. 37; vgl. Fellmann, Euler (wie Anm. 11), S. 75. 30 Consentius (wie Anm. 14), S. 540-544. 31 Vgl. Lessing, Gotthold Ephraim: Sämtliche Schriften, hg. von Karl Lachmann u. Franz Muncker, 23 Bde, Stuttgart, Berlin u. Leipzig 1886-1924, Bd. 5, S. 97-122.
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Aufrührer genommen hat – durch ihren Redakteur Mylius,32 spricht Euler in seinem fünften Argument sehr abschätzig über „ce fameux Henzi“, auf dessen Urteil man nichts geben könne.33 Auch ist es das Verdienst Eulers gewesen, dass sich das Verhältnis zwischen ihm und Maupertuis nach anfänglicher Distanz sehr rasch verbesserte und nach der hier vorgestellten Debatte bis zum Tode von Maupertuis sogar ein so enges Vertrauensverhältnis wurde, dass Euler praktisch schon zu Lebzeiten von Maupertuis um 1753 die Leitung der Akademie übernahm. Dies gelang Euler offensichtlich durch eine vorbehaltlose Unterstützung des Präsidenten in wissenschaftlichen wie in wissenschaftspolitischen und -organisatorischen Fragen, natürlich auch durch seine zuverlässige und umsichtige Umsetzung der Entscheidungen, was sowohl aus den erhaltenen Papieren der Akademie aus dieser Zeit34 wie aus dem Briefwechsel mit Maupertuis deutlich wird. Er macht sich dem Präsidenten gewissermaßen unentbehrlich durch die Organisation des Kalenderwesens und des botanischen Gartens; aber er gab Maupertuis auch das Gefühl absoluter Loyaliät und Bewunderung. Schon zuvor war es Euler, im Unterschied zu Daniel Bernoulli und anderen, sowohl in Basel gegenüber dem autoritären Johann Bernoulli als auch in Petersburg gegenüber dem autoritären Akademiesekretär Schumacher gelungen, ein ähnlich starkes Vertrauensverhältnis zu entwickeln durch vorbehaltlose und kritiklose Unterstützung. Ein besonders eklatantes Beispiel für den vorauseilenden Gehorsam Eulers gegenüber Maupertuis scheint mir zu sein, dass er sogar bereit war, seinen Kollegen Grischow bei Maupertuis zu denunzieren, wegen dessen Absicht, ein Angebot der Petersburger Akademie anzunehmen, was dann – auf Betreiben Maupertuis’ – zu dessen Verhaftung führte.35 Als Euler von dieser Verhaftung hörte, beeilte er sich Maupertuis zu bitten, – nicht etwa Milde gegenüber dem Kollegen walten zu lassen, sondern – die Denunziation nicht öffentlich zu erwähnen, da er ja keine Beweise, sondern nur Indizien für seine Annahme gehabt hätte.
32 Die Berichte der Vossischen Zeitung vom 8.7. bis zum 8.8.1749 sind in der Rillaschen Lessing-Ausgabe als Erläuterung zum Lessingschen Henzi-Drama zusammengestellt worden. Siehe Lessing, Gotthold Ephraim: Gesammelte Werke, hg. von Paul Rilla. Berlin, Weimar 1954, Bd. 2, S. 517-529. 33 Vgl. Jugement (wie Anm. 9), S. 13. In der deutschen Übersetzung heißt es „beruffener Henzy“ (Vollständige Sammlung (wie Anm. 9), S. 70). 34 „Eulers Tätigkeit als Akademiemitglied, als Direktor der mathematischen Klasse, als Mitglied der Kalenderkommission und der ökonomischen Kommission, als Leiter der Akademieverwaltung während der Abwesenheit des Akademiepräsidenten P.-L.M. de Maupertuis und als Hauptinitiator bei der Herausgabe von Landkarten durch die Akademie hat einen umfangreichen Niederschlag in Form von wissenschaftlichen Abhandlungen, Gutachten, Sitzungsprotokollen und dienstlichem Schriftwechsel gefunden.“ (Knobloch, Wolfgang: Einleitung zu: Leonhard Eulers Wirken an der Berliner Akademie der Wissenschaften 1741-1766. Spezialinventar. Regesten der Euler-Dokumente aus dem Zentralen Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR, bearb. v. Wolfgang Knobloch, Berlin 1984, S. 8). 35 Vgl. Euler an Maupertuis vom 8.11.1750, in: Leonhardi Euleri Opera omnia (wie Anm. 17), Nr. 77, S. 171f. Vgl. auch Eulers weitere belastende Hinweise an Maupertuis am 12.11.1750, in: ebd. Nr. 79, S. 173f.
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Ich denke also, dass Euler sich Autoritäten bewusst andiente, um eben dadurch seine Ziele zu erreichen. Da er wusste, wie wichtig seinem Präsidenten dessen „Entdeckung“ des Prinzips der kleinsten Aktion war, hütete er sich also, ihm dieses streitig zu machen oder auch nur die kleinste Kritik zu üben. Man lese die dringenden brieflichen Bitten Eulers von 1748, seine mathematische Arbeit Réflexions sur quelques loix générales de la Nature, in der er auch über das Prinzip der kleinsten Aktion handelt, nicht etwa als Kritik des Prinzips von Maupertuis zu lesen, sondern als absolute Unterstützung der Auffassung des Präsidenten. Dabei hatte Maupertuis doch ganz recht gesehen, dass es sich in dieser Eulerschen Darstellung keineswegs nur um Minima, sondern auch um Maxima handelte.36 Euler selber war es, der Maupertuis suggerierte, er hätte seine eigene Entdeckung allein durch die Anwendung des Maupertuisschen Prinzips gefunden. Dieser Tatbestand, dass Euler seine eigene Priorität völlig zurückstellte, ist in der Wissenschaftsgeschichte immer wieder als selbstlos bestaunt worden. Mir scheint dies aber eine wohl kalkulierte Bescheidenheit gewesen zu sein, die sich für Euler tatsächlich in Heller und Pfennig ausgezahlt hat.37 Eulers Strategie gegenüber dem Akademiepräsidenten, dessen Willfährigkeit durch unbedingte Loyalität und Dienstbarkeit zu erlangen und auf diesem Wege Macht und Einfluss auf die ganze Akademie, war von außerordentlichem Erfolg gekrönt. Seit mindestens 1753 bestimmte er das Forschungsprogramm der Akademie. Er hatte die gesamte finanzielle Planung unter sich, von den Anschaffungen für die Labore bis zu den Gehältern; allerdings hatte er auch die Einwerbung der Gelder zu verantworten, die er durch eine perfekte Organisation der aufwendigen Herstellung und des Vertriebs der Kalender in Preußen erfolgreich realisierte. Die 36 Vgl. die lange Briefserie von Euler an Maupertuis, in der er 1748 darum bemüht ist, den Präsidenten zu überzeugen, dass seine eigenen mathematischen Überlegungen ganz und gar mit dem von Maupertuis entdeckten Prinzip der kleinsten Aktion übereinstimmen. Auch der Hinweis auf Maupertuis’ a priori gefundene Lösung im Unterschied zu seiner a posteriori erlangten findet sich bereits. Vgl. die Briefe vom 26.4.1748 (Nr. 35, S. 102), vom 23.3.1748 (Nr. 36, S. 102-103), vom 8.5.1752 (Nr. 37, S. 104-105), vom 9.5.1752 (Nr. 38, S. 107-108), vom 4.6.1752 (Nr. 42, S: 113-114), vom 8.6.1752 (Nr. 43, S. 115-117) und vom 14.6.1752 (Nr. 44, S. 118), in: Leonhardi Euleri Opera omnia (wie Anm. 17). 37 Hinsichtlich des Verhältnisses von Euler und Maupertuis muss auch Helmut Pulte einräumen, dass Euler sich gegenüber seinem Präsidenten durchaus unkritisch verhielt: „In einem Punkt allerdings akzeptiert er Königs Kritik stillschweigend: Er lässt in seinen späteren Formulierungen des dynamischen Wirkungsprinzips auch ein Maximum der Aktion (nach Königs Auffassung: der vis viva) zu, wenngleich er Königs Begründung verwirft und an einer gewissen Bevorzugung des Minimums festhält.“ (Pulte (wie Anm. 1), S. 219) Im Weiteren konstatiert Pulte ausdrücklich die theoretische Zurückhaltung Eulers gegenüber seinem Präsidenten: „Wenn also im Zusammenhang mit Eulers Anerkennung des dynamischen Wirkungsprinzips von Maupertuis ein ‚Vorwurf‘ angebracht ist, kann es sich nur darum handeln, daß Euler in seinen späteren mathematischen Arbeiten keine weitere Klärung der möglichen Variationsbedingungen angestrebt oder geleistet hat: eine solche Klärung hätte insbesondere eine Auseinandersetzung mit Maupertuis’ Behandlung des inelastischen Stoßes erfordert, wo die vis vivaErhaltung verletzt ist, d.h. keine Ortsfunktion der Geschwindigkeit existiert.“ (Pulte (wie Anm. 1), S. 202).
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Mitglieder der Akademie waren von ihm nicht nur wegen ihrer Gehälter abhängig; auch die Publikation ihrer Abhandlungen in den Reihen der Akademie wurde direkt von Euler entschieden. Damit gelang es ihm, die ursprünglich wolffianische Ausrichtung der Akademie zu brechen, was aufgrund ihres Einflusses von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die deutsche Ideengeschichte geworden ist. Euler konnte dadurch aber auch die Unabhängigkeit der eigenen Forschung sowie die Publikation seiner Ergebnisse sichern. Darüber hinaus aber lohnte sich Eulers Beteiligung am Jugement auch für sein privates Leben, wenn man sich nur die Entwicklung seines Gehaltes und der zusätzlichen Einkünfte während der Jahre 1751-1753 ansieht.38 Nicht zufällig kaufte Euler sich sein großes Sommerhaus, wo dann bis zum einträglichen Verkauf 1763 sogar Landwirtschaft betrieben wurde, gerade im Jahre 1753 auf dem Höhepunkt der Debatte um den Jugement. Last but not least gelang es Euler 1754, auch seinen Sohn Johann Albrecht zum Akademiemitglied mit Pension zu machen, ohne dass dieser entsprechende wissenschaftliche Leistungen vorweisen musste. In dieser Perspektive wird übrigens auch klar, warum Euler trotz seiner erfolgreichen heimlichen Präsidentschaft von 1753 bis 1765 dann doch noch die Einladung zur Rückkehr nach Petersburg annahm. Im Jahre 1765 kam es nämlich zur Einsetzung einer ökonomischen Kommission zur Überprüfung der Finanzen der Akademie, die bis dahin allein Leonhard Euler unterstanden. Den Vorsitz dieser Kommission aber hatte Johann Georg Sulzer, der einzige Mann, der es in der berüchtigten Sitzung am 13. April 1752 gewagt hatte, Euler zu widersprechen und der seitdem niemals eine Pension erhalten hatte. Von dieser Kommission hatte Euler nichts Gutes zu erwarten; an der Akademie in Petersburg konnte er dagegen darauf rechnen, seine gewohnte uneingeschränkte Führungsrolle fortzusetzen. Keiner der beiden führenden Köpfe der Akademie hatte aber bei dem Plan zum Jugement weiter gedacht als bis zur Abstimmung am 13. April 1752; zu Recht machten sie sich keine Sorgen um eine Abstimmungsmehrheit in ihrem Sinne. Womit sie aber nicht gerechnet hatten, das war der breite Widerstand der Öffentlichkeit. Zwar gab es nicht eine einzige gedruckte Publikation in Preußen, aber die Zeitungen und Zeitschriften in Hamburg, Leipzig und Göttingen sowie in den Niederlanden unterstanden eben nicht der preußischen Zensur. Maupertuis wie Euler waren überrascht und empört über diese Kritik. Eulers tiefe Aversion gegen die respektlosen Kritiker des Jugement und die ihm unerwartete öffentliche Debatte kommt besonders in seiner höhnischen Bemerkung über Königs Appel au public zum Ausdruck: „Un Appell au Public! Qu'est-ce que le Public? C'est la Poisonnerie, pour en écouter les sentimens des Poissonnières, ses Juges, qui composent le Public.“39 Dennoch sah er sich genötigt, auf diese massive Kritik zu reagieren, zuerst durch eine Uminterpretation des Jugement, wie oben beschrieben, 38 Vgl. Goldenbaum, Das Publikum (wie Anm. 3), S. 567-570. 39 Siehe in Maupertuisiana, Hambourg [Leiden]: Luzac 1753, S. 7 (Die Seitenzahlen beginnen mit jedem Stück neu.) – „Eine Beruffung an das gemeine Wesen? Was ist das für ein gemeines Wesen? Das wird wohl der Fischmarkt seyn! Man trage also seine Beruffung auf das gemeine Wesen, auf den Fischmarkt; um zu hören, was die Fischweiber, diese Richter, die das gemeine Wesen ausmachen, dazu sagen werden.“ (Vollständige Sammlung (wie Anm. 9), S. 339).
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dann aber auch durch eine Verteidigung Maupertuis’ gegen Königs Kritik in mehreren Dissertationen. Allerdings musste er doch, nach vielen Beschimpfungen Königs, am Ende einräumen, dass Königs Argumentation gegenüber Maupertuis korrekt war. Abschließend bleibt festzuhalten, dass der Plagiatsvorwurf eine reine Erfindung Eulers (und Maupertuis’) gewesen ist, um das Vorgehen der Akademie gegen König zu rechtfertigen. Wenn aber der Leibnizbrief von König gar nicht mit der Absicht zitiert worden war, Maupertuis des Plagiats zu beschuldigen, so entfällt zugleich das Motiv für eine Fälschung dieses seitdem umstrittenen Leibnizbriefes.
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DAS EXPERIMENT IN LEIBNIZ’ FRÜHEN PNEUMATICA Wer sich der Mühe unterzieht, die Leibniz-Handschriften vom Beginn der Pariser Zeit einzusehen, wird fasziniert sein von den vielen Entwürfen zu Experimentalanordnungen und Versuchsbeschreibungen, die sich namentlich in den Pneumatica in reichlicher Zahl finden. Die Handschriften sind heute dank der Initiative von Eberhard Knobloch zur Herausgabe der „Naturwissenschaftlich-medizinischtechnischen Schriften“ als Reihe VIII der Akademie-Ausgabe Gottfried Wilhelm Leibniz, „Sämtliche Schriften und Briefe“ ohne Einschränkung im Internet zugänglich. Die Adresse lautet: http://ritter.bbaw.de/ritter/Scan/index.html. Darüber hinaus werden sie in einer Internet-Edition http://leibnizviii.bbaw.de präsentiert, die eine dem Zeilenfall des handschriftlichen Originals folgende Darstellung der Texte bietet und neben der Möglichkeit, den Scan der entsprechenden LeibnizHandschrift zu konsultieren, auch Links zu einer Vielzahl der von Leibniz rezipierten Druckschriften enthält. Letzteres betrifft insbesondere die am Beginn der Pariser Zeit ausgiebig exzerpierten „Experimenta nova“ Otto von Guerickes1 sowie die „Saggi di naturali esperienze“.2 Die Initialzündung ging allerdings von den wenigen Seiten aus, die Huygens als „Extrait d’une lettre“ im Journal des Sçavans vom 17. Juli 1672 einrücken ließ. Denn es waren diese acht Seiten im Oktavformat, von deren Erscheinen an Leibniz’ Auseinandersetzung mit den neuesten Ergebnissen der Vakuumforschung datiert. Inhaltlich markieren die Handschriften mehr als das Interesse des jungen Leibniz an dem seit Torricellis berühmten Experimenten ebenso intensiv wie kontrovers diskutierten Gegenstand. Sie sind, wie im Folgenden gezeigt werden soll, Teil jener von ihm des öfteren beschriebenen Neuorientierung im Denken, an deren Ende die Rehabilitierung der Aristotelischen Formen stand. Eine der bekanntesten Schilderungen dieses geistigen Verschiebungsprozesses enthält der Brief an Remond vom 10. Januar 1714, in dem es heißt: „Enfin le Mechanisme prevalut et me porta à m’appliquer aux Mathematiques. Il est vray que je n’entray dans les plus profondes qu’apres avoir conversé avec M. Hugens à Paris. Mais quand je cherchay les dernieres raisons du Mechanisme et des loix mêmes du mouvement, je fus tout surpris de voir qu’il etoit impossible de les trouver dans les Mathematiques, et qu’il falloit retourner à la Metaphysique. C’est ce qui me ramena aux Entelechies, et du materiel au formel, [...].“3
Wie sich zeigt, wurde Leibniz am Ende seines Parisaufenthalts klar, dass die modernen Wissenschaften eine Neujustierung des Verhältnisses von Physik und 1 2 3
LH XXXV 14, 2 Bl. 91-101, http://leibnizviii.bbaw.de/Leibniz_Reihe_8/Aus+Otto+von+Guericke %252C+Experimenta+nova/LH035%252C14%252C02_091v/index.html und folgende. LH XXXV 14, 2 Bl. 129-134. Leibniz, G.W.: Die philosophische Schriften, hg. von C.I. Gerhardt, Bd. 3, Berlin 1887, S. 606.
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Metaphysik auf die Tagesordnung setzten, und mit den überlieferten Handschriften aus dem Bereich der Pneumatik besitzen wir Textzeugen, die erkennen lassen, wie er sich dieser Tatsache sukzessive bewusst wurde. DIE NEUE ERKENNTNISSITUATION Ein Blick in die „Hypothesis physica nova“ genügt, um sich klar zu machen, dass Torricellis Experimente und die seit der Antike bekannten Phänomene der Adhäsionsplatten bereits 1670 zu Leibniz’ naturphilosophischem Standardwissen gehörten. Mehr noch, er stellte sie als experimentelle Befunde vor, die sich durch seine neue physikalische Hypothese angemessen erklären ließen. Die Sache schien also unproblematisch zu sein; bis zu dem Tag freilich, an dem Leibniz von Huygens’ neuen Experimenten erfuhr. Von diesem Zeitpunkt an erwiesen sich die vermeintlich so wohlverstandenen Phänomene als spröde Materie, die einer adäquaten geistigen Durchdringung erst noch bedurfte. Huygens hatte in dem erwähnten Brief vom 17. Juli 1672 u.a. mitgeteilt, dass bei Versuchen mit einer Torricellischen Röhre, die sich in einem evakuierten Rezipienten befindet (Abb. 1 und 2), Anomalien auftreten. Das war immer dann der
C B
C D A
A
Abb. 1: Huygens Versuchsanordnung im Journal des Sçavans vom 17.6.1672.
Abb. 2: Leibniz’ Skizze dieser Versuchsanordnung in LH XXXVII 3 Bl. 136 r°.
Das Experiment in Leibniz’ frühen Pneumatica
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Fall, wenn er mit Wasser experimentierte, das zuvor von Luft gereinigt worden war. Ganz gegen die Erwartung senkte sich dann die Wassersäule nicht mit abnehmendem Luftdruck im Rezipienten ab, sondern verharrte auf ihrer ursprünglichen Höhe. Darüber hinaus beschrieb Huygens eine Beobachtung, die sich als nicht weniger überraschend erwies. Bei gleicher Versuchsanordnung bildete sich am Boden der Torricellischen Röhre zunächst eine Luftblase. Diese vergrößerte sich und stieg innerhalb der Röhre auf. An einer bestimmten Stelle oberhalb des Niveaus des mit Wasser gefüllten Gefäßes D dehnte sie sich schließlich aus, indem sie das Wasser zum Absinken brachte. Dabei füllte die Blase schlagartig die gesamte Röhre aus, und das Wasser wurde bis zu dem Niveau herabgedrückt, auf dem sich die Blase ursprünglich gebildet hatte. Diese Beobachtungsresultate waren bis dahin nicht nur unbekannt. Sie ließen sich auch nicht ohne weiteres durch die gängigen mechanistischen Theorien erklären, Leibniz’ „Hypothesis physica nova“ eingeschlossen. Der junge Mann war also, kaum dass er in Paris angekommen war, gleich mit einer Herausforderung konfrontiert, die seine eigenen Ansichten zumindest partiell zur Disposition stellte. Denn Huygens’ Ergebnisse betrafen, wie Leibniz sofort erkannte, Grundfragen des Naturverständnisses, und es war keineswegs sicher, ob bzw. wie die mechanistischen Theorien zu modifizieren waren, um die Phänomene zu retten. Dass Leibniz die Frage genau so gestellt hat, zeigen die ersten, offenbar unmittelbar nach der Lektüre des Huygens-Briefes niedergeschriebenen Überlegungen. Es handelt sich um ein umfassendes Konvolut von Handschriften, die alle in der zweiten Hälfte des Jahres 1672 entstanden und das systematische Interesse des jungen Leibniz an den Details der Vakuumphysik und deren wissenschaftsmethodologischen Konsequenzen demonstrieren. Leibniz begann seine Analyse mit dem, was man das Basisphänomen der Pneumatik nennen könnte, dem Absinken einer Wasser- oder Quecksilbersäule im Vakuumrezipienten relativ zur Abnahme des Luftdrucks, und er diskutierte im Anschluss daran verschiedene Möglichkeiten, diesen Sachverhalt zu erklären. Darunter auch die Funiculus-Hypothese des Franciscus Linus. Im Unterschied zu denjenigen, die wie Guericke und Pascal das Absinken einer Quecksilbersäule in der Torricellischen Röhre auf einen wohlbestimmten Wert als Folge des Luftdrucks ansahen, favorisierte Linus eine innere Spannung subtiler Materie. Wie an einem Faden sollte die Quecksilbersäule durch die subtile Materie gehalten werden, die sich Linus zwischen dem oberen Ende der Röhre und der Quecksilbersäule lokalisiert dachte. Um eben diese Hypothese zu testen, entwarf Leibniz ein Experiment. Es möge, sagte er, eine Torricellische Röhre gegeben sein. Diese befinde sich in einem abgeschlossenen Gefäß D, aus dem der obere Teil der Röhre, an dem sich ein Ventil zum Öffnen und Schließen befinde, herausragt. Abbildung 3 zeigt die Skizze der Versuchsanordnung als Ausschnitt aus der Handschrift LH XXXVII 3 Bl. 97 v°. Öffnet man nun das Ventil, so müsste, akzeptiert man die FuniculusHypothese, die Quecksilbersäule in der Torricellischen Röhre absinken, denn die Spannung, die das Quecksilber hält, wäre ja dann beseitigt. Tritt die Wirkung jedoch nicht ein, so hat man allen Grund, an der Geltung der Hypothese zu
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zweifeln. Freilich, bemerkte Leibniz, die Gegenargumente seiner fiktiven Diskussionspartner vorwegnehmend, gibt es noch einen Ausweg. Es könnte ja sein, dass der Druck innerhalb des Gefäßes das Absinken des Quecksilbers verhindert. Dann bliebe die Funiculus-Hypothese unangefochten. Um darüber Klarheit zu gewinnen, wurde die Versuchsanordnung abgewandelt. Wie an dem gestrichelten Teil der Skizze Abb. 3 ersichtlich, wird das Gefäß D als Gefäß DD nun so installiert, dass sich die Röhre außerhalb, das Ventil aber innerhalb des Gefäßes befindet.4 Öffnet man nun das Ventil und sinkt die Quecksilbersäule erneut ab, so fällt das Argument des Luftdrucks innerAbb. 3: Skizze LH XXXVII 3 Bl. 97 v° halb des Gefäßes D weg. Die Funiculus-Hypothese ist dann widerlegt. Wörtlich heißt es in dem hier referierten Dokument: „Decidi quidem potest hoc experimento, et quod sciam hactenus unico (caetera enim fere aeque per funiculum ac per aeris gravitatem explicari potuere) an aeris tensio an vero gravitas sit causa proxima Mercurii suspensi; [...].“5
Es wird deutlich, dass der junge Leibniz dem Experiment eine falsifizierende Bedeutung zutraut, und man ist geneigt, darin eine Parallele zu Funktionen des Experiments zu entdecken, wie sie von der modernen Wissenschaftstheorie her vertraut sind. Schaut man jedoch genauer hin, so zeigen sich Differenzen, deren Untersuchung recht aufschlussreich ist. Im Unterschied zu den großen wissenschaftstheoretischen Entwürfen sind es in diesem Falle nämlich nicht Gesetze oder Theorien, über deren Geltung durch Experimente entschieden wird, sondern naturphilosophische Hypothesen. Dies bedeutet, dass Leibniz vom Experiment Auskunft über Zusammenhänge erwartet, die über eine bloße Verifikation oder Falsifikation von Gesetzen hinausgeht. Und so lautet denn auch der Titel einer Handschrift: „Propositio Experimentorum Novorum, quibus sumtis omnes controversiae circa Aeris pressionem videntur definiri posse.“6 4
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Streng genommen handelt es sich bei Abb. 3 also um zwei Versuchsanordnungen, die Leibniz in einer Zeichnung zusammenfasst. Es ist ihm offenbar wichtig, auch in der Anschauung zu verdeutlichen, dass die Widerlegung der Funiculus-Hypothese aufgrund der Komplexität des Phänomens nicht in einem einzigen Akt zu haben ist. LH XXXVII 3 Bl. 98 v°, http://leibnizviii.bbaw.de/Leibniz_Reihe_8/Experimenta+pneumatica+circa+vacuum/LH037%252C03_098v/index.html. LH XXXVII 3 Bl. 107 r°, http://leibnizviii.bbaw.de/Leibniz_Reihe_8/Propositio%2Bexperimentorum%2Bnovorum/LH037%252C03_107r/index.html.
Das Experiment in Leibniz’ frühen Pneumatica
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EXPERIMENTALANALYSE EINER KONTROVERSE Die Kontroverse, um die es hier geht, betrifft die im 17. Jahrhundert favorisierten Erklärungsmuster zum Verständnis der Vakuumphänomene. Leibniz selbst erwähnt drei Namen als Repräsentanten der hauptsächlich vertretenen Auffassungen. Blaise Pascal steht für jene Phalanx von Gelehrten und Laien, die das Absinken der Wasser- oder Quecksilbersäule in der Torricellischen Röhre unter Vakuumbedingungen durch die Verringerung des äußeren Luftdrucks erklären. Fransciscus Linus repräsentiert die Fraktion der Aristoteliker und damit eine Erklärung, die dasselbe Phänomen als Resultat der Wirkung einer inneren Spannung ansieht. Robert Boyle schließlich wird vor allem mit der Einführung des Elateriums in Zusammenhang gebracht.7 Freilich ist damit die Liste der Autoren, die zum Interpretationsmedium für Leibniz’ Pneumatica werden, nicht abgeschlossen. Allen voran Otto von Guericke, den er als den ersten Entdecker vieler Vakuumphänomene preist.8 Es fällt im Übrigen auf, dass der junge Leibniz seine Kenntnisse im Feld der modernen Naturwissenschaften aus der Lektüre nur einiger weniger Schriften bezieht. Das sind neben den bereits erwähnten und ausgiebig exzerpierten Titeln Pascals „Traitéz de l’équilibre des liqueurs et de la pesanteur de la masse de l’air“ sowie Periers „Recit des observations“.9 Aus der Literatur übernimmt Leibniz die Messresultate, und er verschafft sich einen Überblick über die vorherrschenden Erklärungsversuche. Genau diese beiden Gesichtspunkte sind es dann auch, die den weiteren Gang seiner Untersuchungen bestimmen. Leibniz stützt sich dabei auf den Entwurf von Experimentalanordnungen, in denen sich die Wirkmechanismen der Vakuumphysik in immer neuen Details studieren lassen. Auf diese Weise wird es möglich, die bereits beschriebenen Phänomene unter neuen Bedingungen kennen zu lernen, die Phänomene also vollständiger zu erfassen, um entscheiden zu können, unter welchen Bedingungen welche Wirkungen eintreten. An dem Procedere wird deutlich, wie sich Leibniz der als eine Debatte über exklusive philosophische Standpunkte geführten Kontroverse um das Vakuum und den Luftdruck zu nähern gedenkt. Leibniz will zunächst einmal deren sachlichen Gehalt fixieren. Er will die Tatsachen genau kennen, bevor er diese vorschnell als Ausdruck eines philosophischen Standorts interpretiert. Der Mangel an Wissen über die Phänomene scheint ihm der eigentliche Grund für den offensichtlichen Skandal der Vernunft zu sein, dass mit gleichem Recht unterschiedliche philosophische Positionen hinsichtlich derselben Phänomene vertreten werden. Der Weg aus dem Dilemma führt daher über eine Experimentalanalyse, d.h. über
7 8 9
Vgl. LH XXXVII 3 Bl. 97 r°, http://leibnizviii.bbaw.de/Leibniz_Reihe_8/Experimenta+ pneumatica+circa+vacuum/LH037%252C03_097r/index.html. Vgl.: LH XXXVII 3 Bl. 93 r° http://leibnizviii.bbaw.de/Leibniz_Reihe_8/Experimenta+novissima+pneumatica+illustris+Hugenii/LH037%252C03_093r/index.html. LH XXXV15, 1 Bl. 14 r°, 17r°.
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ein experimentelles Austasten der Phänomene, wie sie in dem Text „Propositio experimentorum novorum“10 exemplarisch vorgeführt wird. Die empirische Basis der auf zwölf Folioseiten entwickelten Überlegungen liefern acht Experimente. Im ersten Experiment werden zunächst noch einmal die Ergebnisse der Auseinandersetzung mit Franciscus Linus rekapituliert. Die Versuchsanordnung unterscheidet sich kaum von der in Abb. 3 dargestellten, wenn man sich das Gefäß D wegdenkt, d.h. wenn man sich auf die zweite Phase des Experiments konzentriert. Neu ist jedoch die Einbeziehung weiterer Resultate der Funiculus-Hypothese. Wie Leibniz ausführt, gehen alle Anhänger der Theorie davon aus, dass die beim Absinken der Flüssigkeitssäule in der Torricellischen Röhre verbleibende Luft oder subtile Materie sich nicht über ein bestimmtes Maß hinaus ausdehnen kann. Daraus schließen sie, dass die Länge des Tubus AB auf das messbare Ergebnis der Experimente keinen Einfluss hat. Die Begründung dafür ist fein ziseliert. Sie lautet, dass im Falle einer längeren Röhre sich ja ursprünglich auch mehr Flüssigkeit darin befunden haben muss. Was an Länge hinzukommt, wird daher durch das Gewicht der Flüssigkeitssäule in der Röhre wieder ausgeglichen. Bei ansonsten unveränderten Bedingungen wird das Ergebnis folglich immer dasselbe sein. Die Flüssigkeitssäule wird stets bis auf dasselbe Niveau absinken. Leibniz Kommentar: „Et haec sententia non est adeo absurda quam quibusdam prima specie videtur.“11 Auch diesbezüglich sucht er eine Entscheidung qua Experiment. Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass, wenn man die Spannung im Innern der Röhre durch ein Funiculus simulieren kann, dies auch für die Wirkung der Erdatmosphäre möglich sein muss. Dann allerdings wären es zwei Potenzen, die sich wechselseitig bedingten. Die innere Spannung würde durch eine äußere im Gleichgewicht gehalten. Eine Änderung der inneren Spannung durch Öffnung des Ventils in der Versuchsanordnung Abb. 3 würde daher das Gleichgewicht stören und die Flüssigkeitssäule müsste sich absenken. Tut sie das nicht, wäre auch diese Interpretation der Funiculus-Hypothese widerlegt und der äußere Druck als Erklärungsursache des beobachteten Phänomens anzunehmen. Aus methodologischer Sicht ist interessant, dass Leibniz in seiner Auseinandersetzung mit den Aristotelikern den Gedanken der Funiculus-Analogie weitertreibt, sie also nicht auf die Geltung im Innern der Torricellischen Röhre einschränkt und daraus Konsequenzen ableitet, die sich experimentell verifizieren oder falsifizieren lassen. Dieses Verfahren erweist seine Tragfähigkeit auch hinsichtlich der Hypothese des äußeren Luftdrucks. Dabei geht es zunächst nur darum, die Unabhängigkeit der Vakuumphänomene von der Länge der Torricellischen Röhre nachzuweisen. Das geschieht im vierten Experiment, auf dessen Grundlage Leibniz eine allgemeine Regel formuliert, für deren Ableitung er allein die Wirkung des äußeren Luftdrucks voraus10 LH XXXVII 3 Bl. 107-112, http://leibnizviii.bbaw.de/Leibniz_Reihe_8/Propositio%2Bexperimentorum %2Bnovorum/LH037%252C03_107r/index.html und folgende. 11 LH XXXVII 3 Bl. 107 r°, http://leibnizviii.bbaw.de/Leibniz_Reihe_8/Propositio%2Bexperimentorum%2Bnovorum/LH037%252C03_107r/index.html.
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setzt.12 Dieses Ergebnis vor Augen, hat er sofort die Idee eines inversen, d.h. nach unten hin offenen Barometers, die er im fünften Experiment ausführt. Offenbar von Guericke fasziniert, stellt er sich vor, dass ein Virunculum im Innern einer gläsernen Röhre schwimmend mit dem Finger auf die Werte einer Scala weist und auf diese Weise den Luftdruck der Atmosphäre anzeigt. Das sechste Experiment erweitert die Fragestellung noch einmal. Leibniz setzt dafür voraus, dass sich ein Quecksilberpfropfen AB unter Normalbedingungen etwa in der Mitte der Röhre befinden möge (Abb. 4). Jede Änderung des äußeren Luftdrucks wird dann im Innern der Röhre entweder von einer Kompression oder eine Dilatation der Luft begleitet. Durch kein Experiment aber sei bisher nachgewiesen worden, ob dieser Korrelation eine physikalische Wirkung entspricht, ob also die Phänomene die gleichen bleiben, wenn man sich den Druck wegdenkt und nur die Dehnung in Rechnung stellt und umgekehrt, oder ob beide gleichzeitig Wirkungen ausüben, meint er. Dies zu entscheiden, sei durch sein Instrumentum inclinationum möglich geworden, das er im siebten Experiment erläutert. Es handelt sich dabei um eine Konstruktion, die einer Röhrenlibelle vergleichbar ist. Der Unterschied hinsichtlich der technischen Details besteht im Wesentlichen darin, dass in Leibniz’ Version nicht eine Luftblase in einer Flüssigkeit die Orientierung des Instruments im Raum ermöglicht, sondern ein auf einer Luftsäule aufruhender Quecksilberpfropfen. Das Instrument ist daher nichts weiter als eine Röhre, wie sie in Abb. 4 dargestellt ist. Man muss sich diese allerdings unten als geschlossen denken, und genau so ist das Instrument vermutlich auch entstanden. Leibniz hat es, wie im Falle des inversen Barometers, als eine praktische Konsequenz aus seinen aktuellen Abb. 4: Zeichnung Autor Überlegungen entwickelt. Die Anwendungsmöglichkeiten liegen auf der Hand, und sie werden auch ausgiebig referiert. Da sich die horizontale und die vertikale Lage eindeutig auszeichnen lassen, sieht Leibniz Bewährungsfelder in Geographie, Nautik, Hydrographie und Architektur, aber auch in Mechanik und Geometrie. Nicht zu vergessen die Möglichkeit, mit diesem Instrument auf elegante Weise Fernrohre zu
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12 LH XXXVII 3 Bl. 108 v°, http://leibnizviii.bbaw.de/Leibniz_Reihe_8/Propositio%2Bexperimentorum%2Bnovorum/LH037%252C03_108v/index.html. Die genaue Formulierung lautet: „Quantacunque sit Tubi longitudo aut Mercurii altitudo ut spatii regula generalis haec statui potest, ut Mercurium eousque descendere, donec ejus pollices 27 (30 etc.) summi perveniant in locum pollicum totidem infimorum, seu ut descendat per altitudinem tantam, quanta est ipsiusmet, demtis pollicibus dictis.“
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justieren. Wie aber kann man mit seiner Hilfe entscheiden, welche Wirkpotenzen die beobachteten Phänomene hervorrufen? Diesbezüglich ist ein Blick in die neuere Fachliteratur nicht ohne Reiz. In dem Standardwerk von Bergmann/Schäfer wird mithilfe eines solchen Instruments das später so genannte Boyle-Mariottesche Gesetz abgeleitet,13 welches besagt, dass in isothermen Prozessen das Produkt aus Druck und Volumen einer Gasmenge konstant ist. Gilt dieses Gesetz, so bleibt der senkrechte Abstand zwischen Quecksilberpfropfen und Auflagefläche der Röhre bei allen nur möglichen Neigungen, die das Instrument zum Horizont einnehmen kann, gleich. Der Pfropfen ändert zwar seine Lage innerhalb der Röhre, bleibt dabei aber immer auf derselben Horizontalen. Um den interessierenden Sachverhalt in Abb. 5 deutlicher hervortreten zu lassen, wurde die Leibnizsche Skizze durch eine Horizontallinie EF und eine aufrecht stehende Röhre ergänzt. Leibniz selbst lässt es mit der schräg stehenden Röhre bewenden, notiert aber am unteren Ende 90 Grad und am oberen Ende 0 Grad. Da bei einem Winkel von 90 Grad die Röhre senkrecht stehen muss und bei 0 Grad waagerecht, muss es mit den zunächst verwirrenden Markierungen an der geneigten Röhre eine besondere Bewandtnis haben. Mein Interpretationsvorschlag lautet, dass Leibniz so die Gesamtheit der Neigungen seines Instruments gegenüber der Ebene EF anschaulich machen will. Es ist daher eine Bewegung, die er durch die zwei ausgewählten Lagen des Quecksilberpfropfens als räumliche Struktur erfasst. Und genau diese Bewegung um den Auflagepunkt der Röhre ist es auch, die das Instrumentum inclinationum zum Entscheidungsinstrument werden lässt.
Abb. 5: Skizze LH XXXVII 3 Bl. 109 v°
13 Vgl. Bergmann, Ludwig u. Clemens Schäfer: Lehrbuch der Experimentalphysik, Bd. 1, Berlin u. New York 1990, S. 311. Den Hinweis auf diese Stelle verdanke ich Eberhard Knobloch.
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In das auf diese Weise abgeleitete Boyle-Mariottesche Gesetz gehen nämlich nur die Größen Druck und Volumen ein. Zeigt sich also, dass bei der Bewegung der Röhre von der senkrechten in die waagerechte Lage der Abstand des Pfropfens zur Ebene EF unverändert bleibt, so ist allein der Druck wirksam. Um die Entscheidung im Experiment zu demonstrieren, muss man wissen, welche Höhe über EF der Quecksilberpfropfen unter den verschiedenen Bedingungen erreichen wird. Leibniz berechnet diese Werte für die Varianten, dass entweder nur der Druck, nur die Dehnung oder beide zusammen wirksam sind. Bringt man diese Werte als Skala an dem Inklinationsinstrument an, so muss sich zeigen lassen, durch welche Kräfte die Veränderungen innerhalb der Röhre generiert werden. Haben wir es bei Leibniz also doch mit einem Experimentum crucis zu tun? Zweifellos! Er hebt dies selbst hervor, indem er schreibt: „[...] veritas hoc Experimento comprobari aut falsitas revinci potest.“14 Das Experiment hat daher auch für Leibniz eine Auswahlfunktion, wenn es um den Nachweis der Geltung von Sätzen, Regeln oder Theoremen geht. Diese Funktion ist allerdings eingebettet in eine übergreifende, auf legitimierende philosophische Hypothesen abzielende Funktion. Der Ausgangspunkt für Leibniz’ Experimentalanalyse waren konkurrierende Erklärungen, und was er mit seiner Methode zeigen konnte war nicht mehr und nicht weniger als die Tatsache, dass deren Widerstreit auf einem nicht hinreichend entwickelten Begriffssystem beruht. Die Spannung oder Dehnung, die Franciscus Linus und seine Schule als naturphilosophisches Prinzip ansahen, wurde für Leibniz zu einer quantifizierbaren physikalischen Wirkung. Wie er zeigten konnte, war mit der Verabschiedung der Funiculus-Hypothese nicht gleichzeitig auch die von ihr postulierte Spannung hinfällig. Letztere blieb vielmehr physikalisch als Dehnung erhalten, so dass für Leibniz eine Differenz wichtig wurde, die vorher gar nicht thematisiert worden war, die Notwendigkeit der Unterscheidung von Physik und Metaphysik. Auf Franciscus Linus bezogen hatte diese kaum mehr als singuläre Bedeutung. Sie bewies ihren systematischen Stellenwert allerdings mit dem Fortschreiten der Analyse über die Diskussion der Torricellischen Röhre hinaus. Indem Leibniz nun insbesondere auch die Experimente mit Adhäsionsplatten einbezog, machte er eine Entdeckung, die sich als grundsätzlich für sein Verständnis der modernen Wissenschaften erwies. EXPERIMENT UND HYPOTHESE Diese neue Etappe im Nachdenken über die Vakuumphänomene ist interessanterweise von einem Wechsel der Sprachen begleitet. Waren die bislang herangezogenen Handschriften in lateinischer Sprache abgefasst, so ist es nun das Französische, in dem Leibniz die Vereinbarkeit der neu entdeckten Phänomene mit übergreifenden naturphilosophischen Überlegungen zur intellektuellen Disposition stellt. 14 LH XXXVII 3 Bl. 114 v°, http://leibnizviii.bbaw.de/Leibniz_Reihe_8/Experimenta%2Bde% 2Bcorporibus%2Belasticis/LH037%252C03_114v/index.html.
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Einer der dafür relevanten Textzeugen hat den Titel: „Consequence de l’Hypothese generalle publiée il y a quelque temps, pour explicer le phenomene de l’attachement dans le Vuide, ou dans une place dont l’air a esté tiré“.15 Der Text beginnt mit einer Liste von zehn Phänomenen und den zugehörigen Experimenten. Als Phänomen 1 figuriert die Erfahrung, dass in einem Gefäß, das oben geschlossen und unten geöffnet ist, unter gewissen Umständen dennoch keine Flüssigkeit ausfließt. Es folgt das Phänomen der normalen Absenkung der Flüssigkeit in einer Torricellischen Röhre relativ zur Abnahme des äußeren Luftdrucks. Als viertes Phänomen hält Leibniz die Huygenssche Entdeckung fest, wonach die Flüssigkeitssäule im evakuierten Rezipienten nicht abfällt. Nach Phänomen 5 kann dieses Absinken durch einen kräftigen Schlag an die Apparatur herbeigeführt werden. Phänomen 6 verweist auf das eingangs erwähnte Experiment mit der aufsteigenden Luftblase. Schließlich sei noch Phänomen 9 erwähnt, wonach Adhäsionsplatten auch im Vakuum aneinander haften bleiben. Aus diesen Phänomenen wird eine Reihe von Folgerungen abgeleitet. So ergibt sich als dritte Konsequenz aus den soeben erwähnten Adhäsionsplattenexperimenten, dass weder eine Art Leim, noch etwas Anderes zwischen den Platten Befindliches als Ursache für deren Aneinanderhaften angesehen werden könne. Vielmehr betont Leibniz als vierte Konsequenz, dass stets etwas Materie im Rezipienten verbleibe, deren Druck die beiden Platten aneinander presse. Auch diese Überlegungen werden sofort wieder durch Entwürfe zu Experimenten ergänzt. So schlägt er Versuche mit perforierten Platten vor oder regt zu beobachten an, „ob die placken zusamen gestossen werden, wenn sie einander nahe.“16 Das Ziel dieser Folgerungen ist es, Ursachen für die Phänomene zu finden, um schließlich zu einer verallgemeinernden Schlussfolgerung zu gelangen, die als Konsequenz 7 folgendermaßen lautet: „Il semble qu’on peut tirer de ces phaenomenes ensemble une observation generalle, sçavoir que la Nature tache d’empecher la discontinuation des corps sensibles.“ 17 Wer, so fährt Leibniz fort, den Grund für dieses Gesetz der Natur angeben könne, der sei auch in der Lage, den Grund für die erwähnten Phänomene anzugeben. Insbesondere sei es erforderlich, ein Phänomen durch andere zu erklären, deren Geltung nicht infrage steht. Vor allem aber habe man sich vor Hypothesen zu hüten. Er selbst habe die Wirkungen der Natur erklärt, ohne sich einer Hypothese oder eines anderen Prinzips als der unstrittigen Bewegung des Lichts um die Erde zu bedienen. Leibniz spielt dabei auf Überlegungen an, die er im Anschluss an die „Hypothesis physica nova“ als „Propositiones quaedam physicae“ angestellt hat. In der Propositio 24,18 deren Inhalt etwas detaillierter in die Handschrift LH XXXVII 3 Bl. 132 übernommen wird, beschreibt er, wie durch eine übergreifende zirkuläre
15 16 17 18
LH XXXVII 3 Bl. 150 r°. LH XXXVII 3 Bl. 150 v°. LH XXXVII 3 Bl. 151 r°. Leibniz, G.W.: Sämtliche Schriften und Briefe, Bd. VI, 3, Berlin 1981, S. 42.
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f Abb. 6: Skizze LH XXXVII 3 Bl. 132 r°.
Abb. 7: Zeichnung Autor.
Bewegung die Materie gehindert wird, sich zu zerstreuen. Er betrachtet dafür eine Figur (Abb. 6 und 7), in der hegf den Raum als ein Plenum bezeichnet. Die Bewegung soll gleichförmig auf einem Kreis um das Zentrum d herum erfolgen, jedoch nicht parallel zum Kreis b-bb-a-cc-c, auf dem sich die Körper a, b und c in gleicher Entfernung vom Zentrum befinden mögen. Leibniz betrachtet zunächst einen einzelnen Körper und stellt fest, dass dieser die Gleichförmigkeit der universalen Bewegung stört. Diese Störung wird verstärkt, wenn sich die Anzahl der Körper erhöht, „il arrivera necessairement un trouble des troublements mêmes.“19 Da die Störung am geringsten ist, wenn sich die Körper einander annähern, so werden diese durch die allgemeine Bewegung schließlich aus der Lage b-a-c in die Lage bb-a-cc überführt. Es ist somit die übergreifende Kreisbewegung, in der man die Ursache für die Tendenz in der Natur zu entdecken hat, einer Durchbrechung der Kontinuität zu widerstehen. Dieses naturphilosophische Prinzip setzt Leibniz an die Stelle der konkurrierenden philosophischen Hypothesen in Bezug auf das Vakuum. Ob dies tatsächlich möglich ist, d.h. ob die Interpretation des Raumes hegf von Abb. 6 und 7 als die Region unserer Erde die Phänomene erklärt, diskutiert er, indem er sich anschließend mit sechs Entgegnungen auseinandersetzt. Auch in diesem Falle sollen nur zwei der Entgegnungen Leibniz’ Methodologie illustrieren. In der Entgegnung 2 wird aus der Tendenz der Körper, sich der Dissipation zu widersetzen, geschlossen, dass dies auch für das Vakuum gelten müsse, was aber gegen die Erfahrung sei. Die Antwort darauf lautet, dass die Entgegnung unter der Bedingung eines vollständigen Vakuums zu akzeptieren wäre. Da indes stets etwas Materie im Rezipienten erhalten bliebe, sei der Zusammenhang der Materie nicht unterbrochen. Das sei etwa bei dem von Huygens beschriebenen Versuch der Fall, in dem eine innerhalb des Glaskolbens CD in Abb. 2 auf19 LH XXXVII 3 Bl. 132 r°.
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steigende Blase sich ausdehne. Und obwohl mit der Ausdehnung eine erhebliche Verringerung ihrer Dichte verbunden sei, wird man doch davon ausgehen müssen, diese als hinreichend anzusehen, um von einer Bewahrung des materiellen Zusammenhangs ausgehen zu können. Damit ist auch gleich Entgegnung 3 erledigt, die sich auf Phänomen 5, d.h. das Absinken der Quecksilbersäule nach einem Schlag an die Versuchsapparatur bezieht. Diesbezüglich lautet die lapidare Antwort: Der Stoß erzeugt die Luftblase. Obwohl Leibniz viele der Einwände auf der Grundlage seiner Prinzipien als nicht zutreffend abweisen kann, muss er doch einige verbleibende Inkonsistenzen einräumen. Bereits in seiner Antwort auf die zweite Entgegnung hatte er nachträglich in Klammern eingefügt: „Mais il me semble, qu’il y reste, quelque difficulté car supposons tout plein d’air même ordinaire, neantmoins le mouuement general se trouuera mieux, en joignant deux corps grossiers, que l’air seulement.“20 Noch schwieriger gestalten sich die Verhältnisse hinsichtlich der Adhäsionsplatten. Leibniz musste an verschiedenen Stellen seiner Überlegungen die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass sich das Normverhalten einer Torricellischen Röhre im Vakuum und das Aneinanderhaften planparalleler Platten nicht durch ein und dasselbe Prinzip erklären lassen. 21 Um hier mehr Klarheit zu schaffen, schlägt er weitere Experimente vor, darunter in LH XXXVII 3 Bl. 118 r° einen Versuch, der durch Messung Aufschluss darüber geben soll, ob die Kräfte, die den Zusammenhalt der Platten bewirken, im Vakuum geringer sind als unter Normalbedingungen. Sollte aber die Hypothese einer gemeinsamen Ursache durch das Experiment widerlegt werden, so wären, wie Leibniz feststellt, auch alle anderen Phänomene, die auf eben dieser Ursache beruhen, widerlegt, und das heißt, einer Erklärung weiterhin bedürftig. Er bemüht sich daher, um die genauere Untersuchung der Details hinsichtlich derjenigen Mechanismen, die den Zusammenhalt der Adhäsionsplatten bedingen. Diese werden in einem umfangreichen Stück von 16 Seiten im Folioformat mit dem Titel „Recherche de la Raison de ces phenomenes, avec des Experiences projettées pour s’en éclaircir d’avantage; et une Hypothese Nouuelle“ erörtert.22 Leibniz holt dafür weit aus. Er verweist darauf, dass Descartes die Festigkeit der Körper durch die relative Lage der Teile der Körper zueinander erklärte, während er für die Fluidität von Körpern von der Bewegung der Teile Gebrauch gemacht habe. Dieser Auffassung stellt er seine eigene Ansicht entgegen, wonach beide aus der Bewegung zu deduzieren seien. Die Festigkeit sei durch die gleichförmige Bewegung aller Teile eines Körpers bedingt, die Fluidität jedoch durch eine davon abweichende gleichsam chaotische Bewegung. Nur wenn man die relative Lage der Teile eines Körpers zueinander zum Kriterium für die Festigkeit erhebe, könne man Descartes folgen. In dem Falle nämlich würde man seinen Begriff der Ruhe als gleichförmige Bewegung interpretieren können. Ruhe und Bewegung sind in 20 LH XXXVII 3 Bl. 133 r°. 21 Z.B. in LH XXXVII 3 Bl. 133 v°: „[...] il faut dire, que l’union de deux placques dans le vuide, a un autre principe que la suspension [...].“ 22 LH XXXVII 3 Bl. 136-143.
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diesem Sinne also relative Begriffe, nicht jedoch das, was Leibniz „mouuement troublé“ oder „mouuement en tous sens“23 nennt. Durch diese letztere Bewegung wird in dem erwähnten Text das Aneinanderhaften von plan geschliffenen Platten erklärt. Mit dieser Hypothese wird ein neues Tor für das Verständnis der Vakuumphänomene aufgestoßen. Es zeigt sich nämlich, dass nicht alle wahrnehmbaren Effekte gleichermaßen aus der universellen Bewegung des Lichtes hergeleitet werden können. Insofern diese als naturphilosophisches Erfordernis für die Erklärung der Phänomene gilt, folgt aus dem nun erreichten Resultat, dass offenbar die bislang akzeptierten philosophischen Thesen nicht mehr ausnahmslos aufrecht zu erhalten sind. Leibniz wird also in seinen allerersten Auseinandersetzungen mit den modernen experimentellen Wissenschaften bereits an einen Punkt geführt, der auch die im Anschluss an die „Hypothesis physica nova“ und die „Theoria motus abstracti“ formulierten naturphilosophischen Einsichten schon wieder in Frage stellt. Es sind hier zwar noch nicht die Aristotelischen Formen, auf die verwiesen wird, wohl aber die Voraussetzungen dafür. Denn mit der Bewegung „en tous sens“, wird erstmals eine physikalische Wirkung thematisiert, die sich nicht unmittelbar aus einer allgemeinen Ätherbewegung ableiten lässt. Das Gesamtsystem bedarf daher der Korrektur, und zwar einer Korrektur, die das Verhältnis von Physik und Metaphysik differenzierter ausarbeitet. Am Ende dieser Entwicklung steht die „Monadologie“, am Anfang die vorgestellten Überlegungen. Letztere freilich in einem viel weiter ausgreifenden Gedankenkontext. Diesen Impuls zur Problematisierung seiner naturphilosophischen Ansichten verdankt Leibniz seiner experimentellen Methode. Denn diese reduziert sich weder auf Verifikation oder Falsifikation durch ein Experimentum crucis, noch auf das, was Friedrich Steinle als exploratives Experimentieren bezeichnet hat.24 Beide sind für Leibniz Momente einer Methodologie, die im Experiment den Beweggrund zur Bestätigung geltender oder zur Formulierung neuer philosophischer Prinzipien sieht.
23 Der Gedanke einer Bewegung „en tous sens“ geht vermutlich auf Pierre Daniel Huet zurück, der ihn in einem Brief an Jean-Robert Choüet ausführt. Leibniz’ Exemplar des Briefes befindet sich unter den Marginalienexemplaren der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek Hannover. Ich habe ihn erst nach der Fertigstellung des Aufsatzes eingesehen und dabei festgestellt, dass er auch die Vorlage für Abb. 2 enthält. Leibniz hat diese Zeichnung folglich nicht nach dem Stich im Journal des Sçavans angefertigt, sondern vermittelt über die Darstellung Huets. 24 Vgl. etwa: Steinle, Friedrich: Explorative Experimente. Ampère, Faraday und die Ursprünge der Elektrodynamik, Stuttgart 2005.
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LEIBNIZ IN PARIS 1. INTRODUCTION: THE SCOPE OF READINGS An extensive literature is dedicated to the Parisian period of Leibniz’s life, the main attention being focused on his mathematical discoveries and the invention of the calculating machine. The other aspects of his creative activity are known substantially. This paper presents an attempt to fill this gap to some extent; it is a byproduct of the work on preparing Leibnizian scientific manuscripts written in 1672-1676 during his stay in Paris,1 to publication. We will dwell mainly on manuscripts devoted to mechanics though it is worth mentioning that in this very time Leibniz was interested in the more broad scope of physical problems, in particular in optics, astronomy, and in the vacuum technique. It should be added that in fact the variety of his interests was surprisingly widerspread far beyond the limits of scientific disciplines. In this respect the manuscript LH035, 08,39ff. 151r,v is very instructive. It contains the list of subjects that were of interest for Leibniz. We find there not only mathematical and physical subjects but also many exotic items which were not so easy to decipher. For example, one of the items says: “Hookii tornus dioptricus. Scriptura coelestis, Gaffarelli et Bangi. Tachygraphia Anglicana”. Here Leibniz refers first to the works of Robert Hook, on grinding optical lenses and then he mentions two different authors well known in the 17th century by their semi-mystical books, Jacques Gaffarel2 and Thomas Bang3. The next item clearly means English stenography that was becoming popular at that time. Another example: “Signatura rerum. Crollius”. It is a reference to the book of German iatrochemist Oswald Crollius.4 Leibniz further mentions other curious books coming back from time to time to his favourite subjects. Thus, in addition to Hooke’s works on technical optics he says about “Wrenni hyperbola per tornum” without any doubt referring to a paper by Christopher Wren on hyperboloids and on methods of grinding glass hyperbolic surfaces published in 1669,5 and about “Huddenianis Lentibus, physico 1 2 3 4 5
Niedersächsische Landesbibliothek, Hannover, Leibniz-Handschriften, v. 35,37. See Gaffarel, Jacques: Curiositez inouyes, sur la sculpture talismanique des Persians. Horoscope des Patriarches. Et lecture des Estoilles, Rouen 1634. See Bang, Thomas: Caelum orientis et prisci mundi triade Exertationum Literarium Repraesentationem, curisque Thomae Bangi ... investigatum, Hauntiae 1657. Crollius, Oswald: Oswaldi Crollii Basilica chimica. Pluribus selectis et secretissimis ... descriptionibus, et usu remediorum chym. selectissimorum aucta a Johanne Hartmanno, Lipsae 1634. Wren, Christopher: The generation of an Hyperbolical Cynindroid demonstrated, and application thereof to the grinding of Hyperbolical glasses, in: Philosophical Transactions, June 1669.
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artifico tornatis”, that is about lenses made by the Dutch scientist Jan Hudde who has been known for his construction of a microscope with spherical lenses (1663) and for his collaboration with Spinoza for producing lenses for a telescope. Among scientific books mentioning in the list we find the Harmonices Mundi by Johann Kepler, and it is worth to note that Leibniz is interested in the mathematical section of the book devoted to the so-called tessellations (“Kepleri pars harmonica de figuris”). This problem was apparently of great importance for him since he placed it into a special item: “Elegantes formae, quas singulari quodam delectu vitrarii et pavimentarii sive tessellifices sola dispositione conciliant”; there is another Kepler’s book in the list also purely mathematical, it is the Stereometria doliorum. As far as problems of pure science are concerned, Leibniz is interested mainly in mechanics: the trajectory of a projectile and of a water jet, isochronism of a pendulum, the work of Archimedean cochlea, waves on the water surface spreading from the thrown stone; optics: the passage of light through the border of two adjacent media, the origin of rainbow in particular; cartography: methods of making maps and projections of the plane map onto a spherical surface, convex and concave; crystallography; magnetic properties of solids and more. As to the subjects not belonging to science itself, the variety of his interests is really astonishing. Everything attracts his attention: lathes and grinding, looms and weaving manufacturing of silk stockings in particular, the polishing of diamonds and other hard stones, problems of measuring and the measuring of Egyptian pyramids6, engraving, producing of typographic images, cards and chess, etc. As a separate item he also puts down the art of writing as well as the invention of the pen and methods of ciphering (“De complicatione literarum, deque modo ita complicandi, ut difficile sit aperire ignoranti, sine ullo sigillo”). In all this variety of the subjects mechanics had a special place. When Leibniz came to Paris he was a novice in mechanical problems as he confirmed himself on the margin of his summary of Galilean Discorsi: “cum ista scriberam eram in his novus”. And with the passion of a newcomer he started to make up for the lost time. It is known that Huygens at their meeting in autumn 1672 advised him to read mathematical works of Wallis and Saint Vincent, and probably the literature mentioned by Huygens contained a more extensive list of works, which would be necessary to read. Similar information Leibniz acquired from the constant personal contacts with his colleagues and from his vast correspondence. An important part in this matter played his visit to London and the acquaintance with Henry Oldenburg, Secretary of the Royal Society. In the first years of his stay in Paris, Leibniz apparently was busy mainly with mathematical problems as well as with his invention of the calculating machine, and he really turned to the study of mechanics somewhere between the end of 1673 and the beginning of 1675. In any case the above-mentioned quotation belongs to the manuscript written during the first half of 1675. In another manuscript 6
Here Leibniz refers to the book by English mathematician and egyptologist John Greaves: Pyramidographia or a Discourse of the Pyramids in Egypt, London 1646.
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dated August 1673 and dedicated to the problem of finding the centre of gravity (also in connection with the Discorsi) he confirmed it once more: “Haec cum scriberem nondum intelligebam quid esset centrum gravitatis.” The study of manuscripts collected in the volume 35 and 37 of Leibniz’s manuscripts showed that he very attentively read three books: Discorsi by Galileo, Mechanica by Wallis, and Traité de la percussion ou choc des corps by Mariotte. Among other books constantly mentioned in his manuscripts it is worth noting Mechanica Graeca by Aristotle, Hydrostatical Paradoxes and New experiments Physico-Mechanical by Boyle, De resistentia solidorum by Alessandro Marchetti, La Statique by Pardis, Abrégé des dix livres d'architecture de Vitruve by Perrault (here Leibniz was mainly interested in the section on simple machines), Traité de mechanique by Roberval, and Traité de physique by Rohault. The acquaintance with this literature was necessary for analysing three major subjects which was transformed afterwards into his first scientific papers on mechanics. Thus, the study of Galilean Discorsi gave him the impetus for the later article “Demonstrationes novae de resistentia solidorum” published in Acta eruditorum in 1684. In these manuscripts of the Parisian period Leibniz already pointed to the mistakes of Galileo in the solution of the problem of the fracture strength of a beam. Later on he revised his earlier ideas more correctly. Galileo considered a beam as an absolute solid, which is broken in the place where the rupture stress exceeds the limit. In fact however no body is an absolute solid and we have to take into account its elastic and plastic properties. It was the reason why the calculations of Galileo did not comply with the later experiments made by Mariotte. And Leibniz in his article of 1684 introduced the concept of elastic tension in order to meet Mariotte’s data. Another major problem was the motion in resisting media. Some manuscripts of the Parisian period show that the basis of his theory has been laid in that very time; twelve years later these ideas resulted in his paper “Schediasma de resistentia medii” (Acta Eruditorum, 1689). The third problem concerned the possibility of perpetual motion and a perpetuum mobile. In Paris Leibniz did not still come to a conclusion of impossibility to realize a perpetual motion and moreover, he was trying to work out a design which would be able to accomplish it. 1.1 Perpetuum mobile employing magnets Leibniz’s interest to the problem was quite natural: the 17th century abounded in attempts to construct such a mechanism, Leibniz as can be seen from his manuscripts did not cease to be interested in this subject throughout the 1680s and while being in Paris he presented and discussed two variants of such a machine what might be surprising to historians of science since afterwards, when Leibniz came to a more profound understanding of the conservation laws, he abruptly denied the possibility of existence of any perpetuum mobile.
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fig. 1
The description of the first design we find in the manuscripts LH037,05, ff. 59v, 58r,v. We cannot definitely say that this construction is his original invention for there were a great number of similar machines at that time, and probably he borrowed the idea from someone else. In any case the design (fig.1) is the following: there is a wheel ABCD which can rotate around its centre A in a vertical plane. On two perpendicular diameters BD and CE there are four round holes, and the fifth hole is in the centre, all of these holes being of the same size. Between the holes, along the corresponding diameters Leibniz places glass the tubes FG, HI, KL, and MN that are filled with a liquid and hermetically sealed; a steel ball can freely move inside each tube, practically without friction. The initial position of these four steel-balls (they are located in the points F, I, L, M correspondingly) resulted in a clockwise rotation. After a quarter of revolution has been made it is necessary for continuous rotation that the disposition of the balls would be the same as at the very beginning. For this purpose Leibniz places a magnet suspended to the horizontal diameter of the corresponding hole providing that the diameter itself can freely slide within the hole. Leibniz first supposes that all magnets have the same force, and when the tube IH is in the vertical position, the ball in it is attracted by the extreme magnet O, which should have removed it from the central magnet Q because the distance HQ is larger than OH. And vice versa: the ball in the vertical tube MN is attracted by the central magnet Q, which should have removed it from the extreme magnet E because the distance EN is larger than NQ. Then Leibniz says that if the machine is in the position shown on the drawing, the balls located in I and M will acquire an impetus for the motion from C to D. Therefore, the part CDE will overweight the part EBC since the balls M and F are
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closer to the centre than the balls I and L, all other things being in equilibrium; then the ball I will move to N, and when the magnet passes from the position C to the position D (much more distant from it) it will not slide down back to H because of “a certain curvature of the tube” and because it might happen that the distance LP is not larger than HO (fig. 2). Further, the ball I moves to N and from there it will be attracted to M; then it will pass to H and will be attracted to I, and so on. Thus the initial disposition of balls is being restored every time, fig. 2 and “due to its own motion the machine will come to a position that has been given to it by the initial impetus, and therefore the motion will continue”. “I confess, adds Leibniz here, that this invention is most ingenious and magnificent but nevertheless I have eventually found that something is lacking in its foundation.” [It is the same phrase that makes us to suggest that Leibniz has not been author of this invention.] “I maintain that the middle magnet, which might seem to support the perpetuity of the motion, in fact destroys it by a malicious compensation.” Leibniz assumes (fig. 3) that since the magnet Q does not move, the distance M'Q between the fig. 3 magnet and the ball will increase during the transit of the tube MN from the vertical to the horizontal position, and the ball in the tube will roll down back. It should be noted here that this case is analogous to the case of rotation of the tube IH from C to D already discussed by Leibniz. Like in the first case we could say that the ball would not slide back due to “a certain curvature of the tube” as well as due to the fact that the distance FQ always could be made shorter than QN. Leibniz however prefers to ignore such reason. Instead, he begins to analyze what will happen if we put magnet Q in the very centre of the hole, or if we extend the length of the tube; another variant is to increase the size of the extreme holes and, at last, he discusses what will happen if we make the central magnet weaker than the extreme ones. Leibniz comes to the conclusion that all these changes do not work: the ball continues to roll down back and the rotation ceases. It is interesting to note that in this discussion he once mentions friction as an obstacle to the motion: “the necessity of the magnets to change the place will considerably hinder the motion [for] in such a way they are continuously rubbed against the axes.”
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In final part of the manuscript he deduced a formula by means of which we can find the proper diameter of the extreme hole providing that the force of magnet is inversely proportional to the distance: a + f + g (c − d − e) c − d h= or h = a a −i −i c−d c−d b
where (see fig. 4): h – diameter of the hole, a – force of the central magnet, b – force of the extreme magnet, c – length of the tube, c-d – radius of the central hole, e – distance between the upper magnet and the ball located in the lowest position, g – an excess of the attractive force of the upper magnet in comparison with that of the central magnet (for the ball located in the lowest position), i – an excess of the attractive force of the lower magnet in comparison with that of the central magnet (for the ball located in the lowest position). Having derived this formula Leibniz just says that the greater h is the stronger will be the swinging of the magnets, that is the friction that will hamper the rotation. Therefore, he concludes, “there is no doubt that everything at last will come to equilibrium. And this is not astonishing because two efforts of attraction are here, one to the centre of the earth, the other to the magnet, but both of them are continuously acting so that it is impossible to do nothing and to proceed not even in the least and nevertheless to act.”
fig. 4
Leibniz was clearly dissatisfied with this machine with magnets, and in the next manuscript he transformed it to construct a purely mechanical device.
1.2 Perpetuum mobile employing elastic elements The manuscript LH037,05, ff. 57r,v contains the description of the machine. It begins with the basic principle of constructing a perpetuum mobile:
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The whole artifice of perpetual motion consists in finding the way of restoring the restoring force without using the force, which has to be restored. For that reason two forces have to be connected to each other in such a way that the restoring force acts separately whereby everything is compensated without affecting the machine. But this can happen in an admirable way.
fig. 5
The design suggested by Leibniz is the following (fig. 5): there is a tube AB divided at the middle C in two parts by an impenetrable partition. Within each part of the tube AC and CB a heavy ball can freely move. At the initial moment, the tube is placed in the horizontal position, the left ball being located near the centre C and the right ball – near the end of the tube B. It is clear that in this case the tube will begin to rotate clockwise, and when it comes to the vertical position, an elastic mechanism hidden in the tube will raise the ball upwards. When the tube crosses the vertical line, the motion will continue. Leibniz does not give the description of this elastic mechanism in detail but gives some hints how it can be constructed. In the middle of each half-tube he suspends a weight (H and G correspondingly) on a rigid pivot. While the tube is rotating from the horizontal to position to the vertical, every weight will also rotate but in respect to the tube and wind the spring connected with it. When the tube comes to the vertical position, the spring is released and drives a ball up. Thus both balls are simultaneously fixed in this new position. Leibniz further says that the spring could be released a little bit earlier than the tube crosses the vertical line; then “everything will be as earlier but the initial disposition will be replaced by the opposite. And this reciprocation will be repeated without an end.” And if a continuous rotation in one direction is desired, Leibniz suggests to join the second analogous tube perpendicularly to the first one, or even better – to arrange several tubes at the same axis. Thus, in spite of the fact that Leibniz did not give the details of the design, he apparently believed that the machine would really work.
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fig. 6
1.3 Perpetual motion: the problem of storing energy The third manuscript (LH037,05, ff. 92r,v; 93r) dedicated to perpetual motion has an instructive title: A regular continuous motion due to an irregular discontinuous agent, or the perpetual wind-clock (fig. 6). Here, Leibniz is trying to get a continuous motion by means of energy that is previously accumulated (for example, the potential energy of a lifted weight), providing that this energy is of natural origin (for example, the energy of wind). The idea of the machine is the following: Let us have a windmill that elevates (when the wind blows) a certain weight up to a certain height (for example it serves as a weight in a pendulum clock), and while it is sinking the windmill elevates another weight similar and equal to the first, to the same height. To realize this idea it is necessary to make the period of time during which the first weight is sinking from the upper point to the lower sufficiently great so that for this time the second weight can be elevated from the lower point to the upper, and it is necessary to invent a mechanism for the weight exchange. As far as the time is concerned, the problem is easy to solve, a week clock movement is a common thing, and one can be sure that in a week the wind will be able to lift the second weight to the proper height. Also Leibniz gives us some hints how the exchange mechanism should be constructed. The most interesting part in the whole design is its kinematical part, namely a device that transforms the rotation in every direction into the rotation in one direction. The point was that Leibniz rejected the commonly used design of a windmill with the oblique fixed wings in favour of strictly vertical wings. Let us have, – he writes – the wheel abcd in the horizontal plane, which is half-opened
Leibniz in Paris
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and half-closed. The opened side is abc and the closed – adc. The wings attached to it along the circumference are fixed in the points a, e, b, f, c, etc. and rotated by the wind. The next passage is especially curious: One of the sides is closed so that the wind cannot obstruct its own work by blowing simultaneously into opposite wings. For example, if the northern wind (which is blowing from b to d) simultaneously acts onto the wing a and onto the opposite wing c, so that an equilibrium there would emerge and there would be no reason for the rotation in any direction. In such a way a watermill is half-submerged only, otherwise it cannot be rotated by a current stream or it moves too slow. Thus I am wondering why we do not observe this at the work of common windmills. Let this wind-wheel have the axis gh which rotates together with the wheel abcd and moves the cogged wheel ilmn providing that it joined the cylinder mn which has cogged discs at both of its ends. However, if we construct such a transmission, it will not work because the cogged discs at the ends of the cylinder (firmly connected to it) must rotate in opposite directions when the cogged wheel rotates. Therefore the transmission should be supplemented by a device that makes the rotation possible, and Leibniz introduces such a device analogous to the modern ratchet. The cogs of these discs, he says, should be made in such a way (fig. 7) that they can move only in one direction, and after they have been deflected and let the cogs of the wheel pass, they become straight again. For example, the cog op is moving around the centre o only to q, not to r due to the obstacle r, and if it is moved to q by some force, when it ceases to act, the dent will fall in the previous perpendicular position, by natural gravity. We can reconstruct the design of the transmission (fig. 8); here the cogged wheel W is joined to the cylinder C by means of cogged discs A and B, which are fig. 7 firmly fastened to the cylinder, and each disc is provided with above mentioned ratchet. It is easy to see that if the wheel W rotates clockwise, it will catch the left disc A, while it will pass freely through the ratchet of the right disc B, therefore both discs, A and B together with the cylinder C will rotate clockwise (if we look at them right to left). And vice versa: if the cogged wheel rotates counterclockwise, the disc B will be the working fig. 8
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one and the disc A the idle; as a result the cylinder will rotate clockwise (if we look at it from right to left) again. Therefore, Leibniz concludes, the cylinder will always rotate in the same direction notwithstanding the rotation of the winged wheel. In the remaining part of the manuscript he briefly describes the mechanism for the weight exchange: the principle part of it is presented by two chain transmissions, the first is a part of the clock, the second part of the windmill. There are two weights; when one is sinking, the other is being elevated; the exchange takes place when the first weight reaches its lower point (the depository). At this very moment the second weight reaches its upper point and happens to be suspended on a special hook. As soon as the first weight touches the depository, an elastic element (or a spring) will release the second weight from the hook and it will pass to the first chain transmission. Simultaneously the second hook will catch the weight stored in the depository and start to lift it up. Leibniz does not give details concerning this “elastic mechanism”. This manuscript is remarkable not only due to Leibniz’s persistency in constructing the perpetuum mobile or to the ingenious transmission construction, but also because he nearly for first time in the history of science presented the idea of the storing of energy. 2. THE MOTION IN RESISTING MEDIA The manuscripts LH035,IX,11, ff. 1r-13r; LH037,V, ff. 4r-12v written in 1675 are dedicated to the problem of motion in resisting media. It is well known that in 1689 Leibniz presented his results in the article entitled “Schediasma de resistentia medii” and published in the January issue of the Acta eruditorum. When Newton got acquainted with this article (as well as with two others printed in the same journal), he decided Leibniz had used there his own results published in the Principia. Later he wrote about it: “In the Commercium Epistolicum, mention was made of three Tracts written by Mr. Leibniz, after a Copy of Mr. Newton’s Principia Philosophiae had been sent to Hannover for him; and after he had seen an Account of that book published in the Acta Eruditorum for January and February 1689. And in those Tracts the principal Propositions of that Book are composed in a new manner, and claimed by Mr. Leibniz as if he had found them himself before the publishing of the said Book. But Mr. Leibniz cannot be a Witness in his own Cause. It lies upon him either to prove that he found them before Mr. Newton, or to quit his claim.”7
In 1688 Leibniz wrote about this subject in the letter to Otto Mencke: “Conclusions about the resistance of the medium which I have put on a special sheet, I had reached to a considerable extent twelve years ago in Paris”.8 In fact, in October 1687 Leibniz left Hannover on an important diplomatic mission for Italy and lived 7 8
An account of the book entitled Commercium epistolicum…, in: Philosophical Transactions 29, 1714, p. 208. The Correspondence of Isaac Newton, Cambridge 1961, v. III, p. 5.
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there about two years; he received Newton’s book in the middle of April 1689, two months later after his paper had been published in the Acta eruditorum. Without any doubt the Principia happened to give an impetus for his own work, because when Leibniz read the review of this book in another issue of the Acta, he hurried up to complete the investigations which he had started many years ago, including the study of motion in a resisting medium. Eric Aiton, in his paper 9 of 1972, analyzed the “Schediasma de resistentia medii” in detail and proved on the basis of the manuscript drafts of this article that the leading method in this investigation was essentially infinitesimal. As a result he rewrote the Leibniz’s propositions and their proofs using the mathematical symbolism and demonstrated the adequacy of mathematical (in the manuscript drafts) and verbal (in the published paper) statements. Nevertheless the question whether Leibniz got his results “twelve years before in Paris” still remains open. It is possible to answer this question through a detailed analysis of some manuscripts of April, May and December 1675 dated by Leibniz himself. First of all, however, it is worth adding an important remark. Like in the case of the invention of calculus (as we remember the leading notion for Newton was velocity while for Leibniz it was a characteristic triangle) in the case of resistance the initial approaches to the problem were different though the final results are identical. Newton understood the resistance of a medium as a kind of pressure at motion, while for Leibniz the main attention was focused on the interaction between the body and every single particle of the medium. It was the resistance of this particle to the mobile that he called absolute resistance. In the introductory part of his manuscript “Du frottement”10 Leibniz said that previous scholars tried to find the time-acceleration dependence while he believed that for studying the problem of friction it might be more useful to have the dependence between acceleration and the distance traversed. On the one hand, Leibniz saw no difference between the resistance mechanisms for the motion of a solid along the surface of another solid and for the motion of a solid in a liquid medium. In both cases the physical cause of the resistance is the friction of particles. In Parisian manuscripts he proposes different models of such resistance: “When one body is moving along the other with a certain difficulty it is possible to imagine some points or obstacles on the surface of this second body which resist to the motion of the first; this obstacles can bend down and than draw themselves up, and one can represent this effect mechanically by means of a cog or a tooth on a hinge which can bend and restore its position due to some springs or levers.”11
One type of resistance he calls absolute and claims that it is not dependent on the velocity of the moving body; on the other hand, he stressed the existence of another kind of resistance, the respective resistance which depends on the impact 9
Aiton, E.: Leibniz on motion in a resisting medium, in: Archive for History of Exact Sciences 9, 1972, pp. 257-274. 10 LH035,09,11, ff. 3r-4r. 11 LH035,09,11, f. 10v.
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of fluid on the body the more greater the stronger this force of impact is; in this case he believes that the resistance is proportional to the velocity. Twelve years later Leibniz worked out the correct and clear explanation for both types of resistance in his “Schediasma de resistentia medii” but in 1675 he had already developed these notions to a great extent. Eric Aiton in the above-mentioned paper explained in detail their essence having concluded that “Leibniz’s theory of absolute resistance in fact corresponds to Newton’s theory of resistance proportional to velocity and his theory of respective resistance corresponds to Newton’s theory of resistance proportional to the square of velocity.” For the present discussion it is important to stress the point that the absolute resistance as Leibniz understood it is a characteristic of the individual particle; if a body moves on the surface of another body, the total action of all such particles, which the body encounters along its path, will be proportional to its velocity, that is, to the distance traversed. It is the reason why Leibniz is seeking the dependence between distance and velocity. Let us turn now to Leibniz manuscript. He begins his analysis of absolute resistance with Theorem I: “A body, the motion of which is uniform is slowing down by every element of place that it passes, the remaining velocities being between themselves as the distances which are left to traverse.” Keeping in mind the above-mentioned remarks, it is possible to reformulate it: If the motion of the body is uniform and it is retarded by a resistance proportional to the velocity, velocities will be as distances which are left to traverse. The corresponding Theorem I of the Second Book of the Principia say: “If a body is resisted in the ratio of velocity, the motion lost by resistance is as the space gone over in its motion.”12 Let us show that these two theorems are equivalent. While proving this proposition Leibniz does not use a mathematical symbolism but constructs his demonstration by a simple geometric reasoning: fig. 9 gives the dependence of velocity v as a function of distance x. It is clear that the triangle abc is similar to triangle v0 0 X , therefore: dv dx , where X represents the maximum distance traversed. Then, we will get = v0 X by integration, for any couple of values (x1 ,v1 ) and (x2 ,v2 ) : v1 − v2 = x2 − x1 . Since v0 X v0 − v v0 v x initially v1 = v0 , x1 = 0 , what gives = , or v0 − v = x , or v = 0 (X − x) . X X X v0 −
This last formula is the expression of Leibniz’s Theorem I. The proof of Newton’s Theorem I will be the same. Supposing the mass is equal dx dv to unity, we get the principal equation in the following form: = −k , where k dt
dt
is a coefficient of proportionality. By integrating this equation and using the initial conditions as in the first case, we get v0 − v = kx . In order to determine the coefficient of proportionality k we recall that at the end of any given distance 12 Newton, Isaac: Principia mathematica, A. Mott, trans. London 1934, p. 235.
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x = X and v = 0 , therefore v0 = kX . If we
substitute this value in the previous v equation, we arrive at: k = 0 and X v0 v0 − v = x . Thus, Newton’s Theorem I X
has been proven, and simultaneously its equivalency to Leibniz’s Theorem I. Now let us turn to Theorem II of the Second Book of the Principia: “If a body is resisted in the ratio of its velocity, and moves, by its inertia only, trough an homogeneous medium, and the times be equal, the velocities in the beginning of each of the times are in a geometrical proportion, and the spaces described in each of the times are as the velocities”.13
fig. 9
In Leibniz’s manuscript “Du frottement”, a lemma and four theorems correspond to Newton’s proposition. The lemma states that increments of time for every element of space are inversely proportional to the velocities that the moving body has. Leibniz believes that since for sufficiently small intervals of time and for equal intervals of space we can assume that, the inverse proportionality between increments of time and velocities follows immediately. Then Leibniz proves his Theorem II: the increments of time elapsed is inversely proportional to the spaces still to v be traversed. Indeed, v = 0 (X − x) X
according to Theorem I and dt =
dx v
according to the previous Lemma, hence X dx , i.e. the increments of dt = ⋅
fig. 10
v0 X − x
time are inversely proportional to the distances still to be traversed. The next Theorem III (fig. 10) says that the increments of time are the ordinates of a hyperbola with the asymptote EA and the centre in A, the abscissa of which are the spaces still to be traversed. This statement is easy to demonstrate: in 13 Op. cit, p. 236.
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fig. 10 the curve GD(D)Q is given; if the ordinates of this curve, (B)(D), BD are the increments of time, they are (according to Theorem II) inversely proportional to the distances A(B) and AB; in turn that means that the areas of rectangles A(B)(D) and ABD are equal. The equality of the said areas is the characteristic of a hyperbola, and since this construction is valid for the arbitrary chosen points (B) and B, the curve GD(D)Q is a hyperbola. Theorem IV clearly follows the Theorem III: since the increments of time are the ordinates of a hyperbola, the times elapsed will be presented by the sums of the said ordinates, that is, by the areas of this hyperbola. Theorem V states at last that if the distances still to be traversed by the moving body are as numbers, the corresponding times elapsed will be as logarithms. If dt = X ⋅ dx (according to Theorem II), then we will get by integration: v0 X − x v − 0t v0 X and x = X(1 − e X ) . It is obvious that X–x are the distances still to be t = ln X X−x
traversed, and therefore they will be as logarithms. It can also be seen that the distances represent a geometric progression because Leibniz (see above) chooses the exponential function as the abscissa for his hyperbola; in this case the “hyperbolic parts” (as Leibniz calls them), that is, the times will be equal. Therefore the theorem is proven. Leibnizian Theorems II-V are equivalent to Theorem II of Newton: Indeed, according to Leibniz (Theorem V) x = X(1 − e immediately gives v =
dx = v0 e dt
−
v0 X
t
−
v0 X
t
) and the differentiation
; this expression is none other than the statement
of the Newtonian Theorem II: if “the times be equal, the velocities in the beginning of each of the times are in a geometrical proportion”. It is necessary to explain here that Newton (like Leibniz) considers the exponential function as the limiting case of the geometrical progression and presents the exponential scale along the abscissa axis. The similarity of their approaches is clearly seen from the corollary to the Newtonian Theorem II. Like Leibniz Newton examines here (fig. 11) the hyperbola BG with asymptotes AC and CH and claims that the time of motion will be represented by the area ABGD. Besides, the input equation of Theorem II can dv − kt and be written as = −kv , then v = v 0e x = v0 (1 − e −kt ) . dt fig. 11 Thus we get similar expressions for the distance traversed, by both Newton and Leibniz, they differ only by coefficients because Newton measures the time and the distance along the same interval AC. Therefore the results obtained by Leibniz
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and Newton seem to be identical, and it proves the fact that Leibniz got his theorems during his stay in Paris quite independently. Based on these materials some views can be expressed concerning the problem why Leibniz afterwards denied the idea of the perpetuum mobile as well as the possibility of its realization in principle. We have seen that friction according to Leibniz is a result of numerous collisions of the body with individual particles of the medium. He seems to have also understood that in this process energy is irreversibly lost. When Leibniz came to the proper understanding of the essence of conservation laws he simultaneously understood that the perpetuum mobile is impossible to construct because it is impossible to get free of friction.
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THE ARS OBSERVANDI AS AN ARS INVENIENDI1 One of the most intense protagonists of an art d’observer, Charles Bonnet, expresses in his Essai analytique sur les facultés de l’âme of 1760: “L’Esprit d’observation, cet Esprit universel des Sciences & des Arts, n’est que l’Attention appliquée avec regle à différens Objets.”2
Bonnet’s short remark – which in fact contains his whole view in nuce – mentions several extremely important elements: –
– –
–
Observation is indispensable not only for science, but as well for the arts (without saying yet whether this is limited to the mechanical arts or whether it might include the fine arts as well). Observation consists in following rules of how to observe. This presupposes a kind of methodology regarding how to handle the objects of observation. Observation presupposes qualities on the side of the observer, namely to be attentive – something which is astonishing in so far as one should think that objectivity depends on the correctness of the observation, but not on the mentality of the observer. Observation presupposes not only skillful attention of the observer, but much more: The term esprit leads to the idea that an excellent observer has to have ‘génie’, that is, he has to be a genius – something which shows the importance attributed to observation in the second part of the 18th century.3
These brief remarks show how complex an art d’observer or an ars observandi, which Bonnet postulates, must be, for it includes a tension between rules, on the one side, which we today might call standard operation procedures, the so-called SOPs, and the ingenuity of the observer! Among others, the famous Swiss physician Johann Georg Zimmermann shows in his widespread Von der Erfahrung in 1
2 3
This paper has been a contribution to a conference on “Observation in the Enlightenment”, organized by the Max-Planck-Institute for History of Science, Berlin, held at the Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen in 2005. I want to express my gratitude to Prof. Daston (Berlin) and Dr. Lossau (Göttingen) who both agreed in a publication at this place. Furthermore, I have to express my thanks to Dr. Ian Kaplow for polishing my English. Bonnet, Charles: Essai Analytique sur les facultés de l’âme, ch. XVI, §279, Œuvres, Neuchâtel, 1782, vol. XIII, p. 206 sq. See my “Die Kunst der Beobachtung. Zur Preisfrage der Holländischen Akademie von 1768”, in: Poser, Hans (ed.), Erfahrung und Beobachtung, Erkenntnistheoretische und wissenschaftshistorische Untersuchungen zur Erkenntnisbegründung, Universitätsbibliothek der TU Berlin, Berlin 1992, p. 99-119. – Sligtly revised as: “Das Genie als Beobachter. Zur Preisfrage der Holländischen Akademie von 1768 über die Kunst der Beobachtung”, in: Paragrana. Int. Zs. für Historische Anthropologie 4, 1995, pp. 86-103.
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der Arzneykunst of 1763/64 that the spirit of observation (Beobachtungsgeist) presupposes a genius. It is this tension which I want to analyze further, not so much because SOPs fit better into our ideas of an observation today, but since it shows an interesting concept development throughout the century from Leibniz and his idea of a Scientia generalis on. 1. THE BEGINNING: LEIBNIZ AND THE DISTINCTION BETWEEN OBSERVATION AND EXPERIMENT Throughout the 17th century, the term observation is used in a very broad way. In most cases it is meant in the sense of a reflection on ideas or to obey a law; the difference between experiment and observation, which underlies Bonnet’s idea of an art d’observer, is something that is expressed explicitly at the end of that century. Let me indicate this by Leibniz’s use of the terms. Up to 1680, he uses observation in a wide sense – not so much concerning reflection or obedience, but in speaking about experience, namely everywhere where we need empirical foundations of a proposition.4 So he writes: “Observations are derived from phenomena by induction alone.”5 But just in this period, namely in connection with his idea of an Ars inventoria or inveniendi, he makes a clear distinction between “exquisita experimenta” and “parabilissimae observationes”, i.e. experiments depending on our careful preparations and observations which are very easy to obtain.6 From that time on, Leibniz always uses these terms. In an introduction for a book where he intended to develop the methodological foundation of science, we read: “The truths of nature (physics) are either empirical or dogmatic ones. The empirical ones are those proved by the senses; and they are either experiments or observations.”7 Some lines later he goes on: “Inductions are universal sensual truths depending on many single coincident cases, which are either observations or experiments. Observations are inductions where we act only as spectators, as in celestial observations, due to which night always follows day ; … and others of this kind. Experiments are inductions, where we do not act as mere spectators, where we act upon the bodies in transforming them; such are the chemical experiments.”8 This allows transforming a proposition by means of new observations, 4 5 6 7 8
“Simili fere arte etiam in Arithmeticis utimur ad theoremata observatione sive inductione invenienda, quae postea comprobantur inquaerendo in rationes solidas et necessarias.” Leibniz, G.W.: Sämtliche Schriften und Briefe, Akademie Ausgabe (=A) A VI.4.63, line 3. “Observationes fiunt per solam inductionem ex phaenomenis.” Consilium de Encyclopaedia nova conscribenda methodo inventoria, A VI.4.341, line 17f. A VI.4.319, line 3f. “Veritates Physicae sunt vel Empiricae vel Dogmaticae. Empiricae sunt quae sensu probantur: et rursus sunt vel Experimenta vel Observationes“. Veritates Physicae, A VI.4.1983, ad line 6. “Inductiones sunt veritates sensuales universales ex pluribus singularibus consentientibus, suntque vel observationes vel experimenta. Observationes sunt inductiones ad quas tantum opus est ut spectatores agamus, tales sunt observationes coelestes, ut post diem semper sequi noctem, ... et alia id genus. Experimenta sunt inductiones, ubi non nudos spectatores agimus,
The Ars observandi as an Ars inveniendi
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since it has the state of a hypothesis.9 Therefore, Leibniz mentions in his Protogaea, which is based on thousands of observations which he himself made or brought together in the Harz mountains as well as in Italy, e.g. from the Phlegrean Fields: “I do not doubt that some day by means of careful observations one can constitute principles leading to rules for conjectures concerning what is hidden under the earth”.10 He himself collected observations not only concerning nature, but also in medicine as well as in languages. But all together, Leibniz is much more interested in theory formation; observations are a necessary tool at the beginning, but “our physics does not deal with observations and the history of nature [which, at that time, meant the collection of empirical data], but with reasons, or qualities, and with what follows from them”.11 Yet what remains is the clear distinction between observation and experiment, repeated in Michael Gottlieb Hansch’s edition Leibnitii Principia Philosophiae published in 1728.12 Now there is a further important and influential element of Leibniz’ thinking which we have to take into account. As is well known, he emphatically postulated a Scientia generalis, which should include two important parts, namely an Ars judicandi as a proof-giving procedure in order to include in sciences nothing but true propositions; and an Ars inveniendi as the most powerful instrument not only to detect new theorems in science, but also new insights, which can be used immediately for practical reasons in order to increase public welfare. An example he mentions involves engineering procedures: If we would have the fundamental propositions which are the basic ones for each movement of a machine (think of Archimedes’ elementary machines), it must be possible to construct a new machine by means of a calculus alone – as we do it in a Leibnizian spirit by computers, using e.g. CAD. To do so we need formal procedures, namely rules. But even if Leibniz had a very clear insight in the hypothetical status of empirical sciences – what he in fact offers are very general ideas, specified in mathematics and logics, but not really concerning an ars inveniendi in the region of empirical sciences.
sed corpora tractamus vel immutamus, talia sunt experimenta chymicorum.” Ibid., p. 1984, line 9-15. 9 De Legum interpretatione, A VI.4.2788, line 24f. 10 “Nec sane dubito, diligenti observatione principia constitui posse aliquando, unde nascantur regulae conjiciendi de abditis sub terra“, Protogaea, ed. W. v. Engelhardt, Stuttgart 1949, p. 36. 11 “Physica nostra non aget de observationibus atque Historia naturae, sed de rationibus; sive qualitatibus, et quae ex illis ... sequitur.”A VI.4.1986, line 23f. 12 “Phaenomenon dicitur Observatio; si se offerat nobis, nihil ad id cooperantibus: Experimentum; si a nobis ipsis applicando agens naturale ad patiens eliciatur.” Leibnitii Principia Philosophiae more geometrico demonstarta, ed. by M.G. Hansch, Frankfurt 1728, p. 57. The influential the book contains Wolff’s Latin translation of an early version of the Monadology and a compilation of Leibnizian texts guided by a systematic intention.
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2. THE ARS OBSERVANDI AS A PART OF THE ARS INVENIENDI: CHRISTIAN WOLFF AND HIS SCHOOL The next and important step is to be found in Christian Wolff’s Psychologia empirica. He follows Leibniz’s clear-cut difference between experiment and observation (which especially in English, French and Latin had not been used in this sharp manner) in defining: “Observatio est experientia, quae versatur circa facta naturae sine nostra opera contingentia. Experimentum est experientia, quae versatur circa facta naturae, quae nonnisi interveniente opera nostra contingunt.”13
As Wolff mentions, this definition goes back to his Logica, § 747 of 1728. There he discusses the historia naturalis (which is a description of facts in nature) and especially the difference between the mere description in astronomy, biology or anatomy, which he later on calls observatio, and descriptions of experiments, depending on our intervening actions.14 This is in so far an important distinction, since it makes clear – against Galileo and Bacon – that to observe is not a poor kind of experience, poorer than an experiment, but a method in its own rights, since there are objects and phenomena of nature which we never will be able to deal with by means of experiments: Think of all objects of astronomy, of weather phenomena (both of them used by Wolff as an example), or of objects as plants, animals and humans – something where experiments reach boundaries quite quickly even today. But there is a further and important element. In his Logica Wolff goes on: “The description of the way to make artificial experiments has to be seen as belonging to the ars inveniendi.”15 Just this is extended in an interesting way in his Psychologia empirica by including observations: “The ars inveniendi a posteriori gains unknown truths either from observations or from experiments.” 16 And: “Consequently the ars inveniendi a posteriori is a double one, namely an ars observandi and an ars experimentandi.” 17 The first one is defined as “the art by which one gains truths from observations”.18 The point here consists in an important switch, thinking of Leibniz’s approach. Wolff looks in a non-formal way at empirical data, his ideal is not so much to reach a calculus, but to reach new insights by means of new true a posteriori propositions. Instead of the Leibnizian ideal Calculemus! he thinks of an ars observandi itself as an ars inveniendi: Observations therefore got a much higher value.
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Wolff, Christian: Psychologia empirica, Frankfurt 1732, § 456. Wolff, Christian: Philosopia rationalis sive Logica, Verona 31728, § 746f. “Artificorum experimentandi descriptio ad artem inveniendi spectat.” Ibid., § 747. “Ars inveniendi a posteriori veritatem incognitam eruit vel ex observationibus, vel ex experimentis.” Psych. emp., § 457. 17 “Duplex adeo datur ars inveniendi a posteriori, scilicet ars observandi & ars experimentandi.” Ibid. 18 “Ars observandi est, qua veritates ex observationibus eruuntur.” Ibid., § 458.
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This implies a second remarkable consequence. Thinking of the fact that Wolff develops all this in his Psychologia empirica, one has to draw a further conclusion: Properties of the soul belong to these objects, which necessarily need observations, too, because we cannot make experiments in this area. This is an extremely important switch, for it opens the door to a completely new idea in philosophy; if observations are really serious elements of cognition and not only a starting point, then it must be acceptable to use self-observation as a foundation in an empirical theory of the soul and in particular of knowledge! This is, however, not Wolff’s way of arguing, but it will be important in the late German Enlightenment, namely in Johann Nicolas Tetens’ Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung of 1777. Therefore, Wolff’s approach represents a significant shift in viewpoints. Now, the definition of an art is by no means enough to establish an art, not to speak of an art of self-observation – what we need are more specific conceptual fixations, namely rules. Whereas Wolff does not develop his idea of an ars observandi, his school picks it up, step by step. One of the first textbooks had been Ludwig Philipp Thümmig’s Institutiones Philosophiae Wolfianae of 1724. In its Vol. I in part III, Institutiones Psychologiae, in the chapter De facultatis cognoscitivae parte superiori, Thümmig picks up the concept of observation;19 and in Vol. II, he follows the Wolffian discriminations and explains in some paragraphs what Ars observandi as a part of the Ars inveniendi means – namely to follow a threefold aim: (i) to reduce rules (i.e. hypotheses on nature, as the astronomers have) of investigated a posteriori truths to familiar ones, (ii) to control the rules by means of new investigations, and (iii) to repeat this in each case of the observation in question.20 In fact, this is no Ars observandi at all, but it shows the way. There is a further remarkable point. Thümmig emphasizes the importance of the Ars inveniendi for human cognition and for the human intellect. The chapter which immediately follows that one on Ars inveniendi has the title De cultura ingenii, and it starts with an astonishing definition: “The philosophical ingenium is the faculty to observe the similarities of things.”21 This includes not only that observations demand to be able to recognize similarities, for otherwise we never would find out those rules we heard of, but much more, that the better the faculty to do so, the better the results of observations as an enlargement of our knowledge are: The observer needs ingenium! This is not yet what Bonnet had in mind, but it starts to resemble it.
19 Thümmig, Ludwig Philipp: Institutiones Philosophiae Wolfianae, Editio nova, Frankfurt 1740, vol. I, Psychologia, § 87, p. 140. 20 Thümmig: Institutiones Philosophiae Wolfianae, vol. II, Institutiones philosophiae moralis, ch. De arte inveniendi, § 155-158, p. 225f. 21 “Ingenium philosopho est facilitas observandi rerum similitudines.” Ibid., ch. De cultura ingenii, § 172, p. 231.
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3. FIRST MODELS OF AN ARS OBSERVANDI Nearly the same thing concerning Thümmig holds a decade later for Christian Anton Corvin, who in his Institutiones philosophiae rationalis of 1739 introduces as a further distinction the difference between inner and outer experience.22 In a part “De Arte inveniendi” with its first chapter “De Arte experiendi” he includes the ars observandi as well as the ars experimentandi, both belonging to the Ars inveniendi sensualis: that one who “knows how to make experiments [or observations] correctly” is an “experimentator” or an “observator”, respectively.23 This repeats well-known distinctions. But there is an interesting remark. Corvin says that he who wants to make an observation in a legitimate way has above all to make sure that he is attentive and that he loves the truth, that he has no prejudices, that he can sufficiently perceive the object, and that he can sufficiently distinguish what he perceives from what he imagines or from what he believes to conclude – in order to avoid the mistake of self-deception (vitium subreptionis).24 Naturally – even this is no ars observandi, but it indicates that this art has to consist of two different parts: one which indicates what and how to observe, and a totally different one, which explains the qualities of the observer. As we will see, this happens from 1750 on. In 1756, Hermann Samuel Reimarus published his Vernunftlehre, revised in 1758 and followed by two further editions. The title reads “Theory of reason as a guideline for the right use of reason to reach the knowledge of truth” – a program which intends to combine Wolff’s logics with Christian Thomasius’ quasi-empiristic epistemology. This book, written in German, can be seen as an example illustrating the influence of the new idea of an ars inveniendi a posteriori. As the fundament of experience, Reimarus distinguishes inner from outer experience and observation from experiment;25 a remarkable point might be that he in his sketch of an art of experience (Kunsterfahrung, which includes the use of instruments) formulates several rules; the second one: “For art observations and art experiments one needs enough science, in particular history of nature, physics, mathematics and theory of
22 Corvin, Christian Anton: Institutiones philosophiae rationalis methodo scientifica conscriptae, Jena 1739, § 719, p. 273. 23 Ibid., § 728, p. 276. 24 “§ 731 Observationem qui legitime instituere cupit, ante omnia debitam adferat attentionem & veritatis amorem, animumque praeiudiciis vacuum, attendat obiecto sensibili sufficienter, probeque distinguat ea, quae sentit, ab iis, quae vel imaginatur, vel ex eo quod sensit, concludit, ne in vitium subreptionis incidat.” Ibid., p. 277f. The term “vitium subreptionis” is used as a technical term in the same context e.g. in Thümming, Institutiones, § 56, p. 24, and in Baumeister, Friedrich Christian: Institutiones philosophiae rationalis methodo Wolfii conscripta, Wittenberg 1735, 13th ed. 1755, § 366. 25 Reimarus, Hermann Samuel: Die Vernunftlehre als eine Anweisung zum richtigen Gebrauche der Vernunft in der Erkenntniß der Wahrheit, Hamburg 11756, (31766), both reprinted München 1979, vol. I, p. 249 and 259.
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reason.”26 The last rule is devoted to observation concerning inner experience, the starting point in Wolff’s Psychologia empirica. But now it includes self observation; it reads in the clearer version of the 3rd edition as follows: “The observations of the soul have to be made in clear and distinct, partly ordinary, partly extraordinary cases, and combined to a whole history of the soul.”27 These extraordinary cases are humans with unnatural brains, Siamese twins, “monstrous, blind, deaf, those unable to smell, ill, pregnant, hysteric, drunken, crazy, aquaphobic, somnambulistic” people as well as those “with extremely strong imagination, memory or wit”.28 This is clearly on the way to Karl Philipp Moritz’ Erfahrungsseelenkunde, a magazine on these topics, which he edited from 1783 on until his death in 1793. The Wolff school spreads out from Protestant regions in Germany; but since the Latin works of Wolff had been published in Italy with the nihil obstat of the Catholic Church, since there had been French translations and a broad resonance in Eastern Europe, it is no wonder that even there scientific work had to be done methodo scientifica pertractatum, namely in a Wolffian manner. This holds for the Ars observandi as well. An example might be the Philosophia rationalis et experimentalis of the Jesuit Berthold Hauser, published in 1755. In the first volume – Logica – he discusses in pt. IV “De Methodo” truth criteria depending on extern sense experience. The Regulae, which have to guide the senses, start from the well-known distinction between experiment and observation and explain that observations deal with a “status naturalis” of objects, a state which is independent from human will, so that the objects act freely and in a natural way. 29 This includes the use of instruments as e.g. “instrumenta microscopica”, so that “observations barometricae” and “thermometricae” are included.30 In his next step, Hauser asks how observations are made: “Quomodo observationes, et experimenta a Philosopho peragenda?”31 What follows are some interesting remarks on the ars observandi (which he attributes neither to Wolff nor to Leibniz, but to “Cl. Verulamus”, clarissime Bacon: For a Jesuit it was better not to quote a Protestant). This art, he says, consists in rules of observation and “to infer different conclusions
26 “Man muß zu künstlichen Beobachtungen und Versuchen die nöthige Wissenschaft, insonderheit der Naturgeschichte, Physik, Mathematik und Vernunftlehre, mitbringen.“ Ibid., vol. I, p. 268. 27 “Die Beobachtungen von der Seele müssen in klaren und deutlichen, theils ordentlichen, theils ausserordentlichen Fällen gesucht, und zu einer völligen Seelengeschichte gerichtet werden.” Ibid., 3rd ed., reprint vol. II, p. 245. 28 “Die ausserordentlichen Fälle aber, z.B. der Thiermenschen, Personen, die zusammengewachsen sind, oder eine unnatürliche Beschaffenheit des Gehirn haben, oder monströs, blind, taub, geruchlos, krank, schwanger, hysterisch, trunken, wahnwitzig, rasend, wasserscheu, Nachtwandrer, begeistert sind, oder eine besonders starke Einbildungskraft, Gedächtnis oder Witz haben, Poeten aus dem Stegreif, gelehrte Kinder, und dergleichen”, ibid., vol. II, p. 244. 29 Hauser, Berthold: Elementa Philosophiae ad rationis et experientiae ductum conscripta, tomus I, Augsburg 1755, p. 444ff. 30 Ibid., p. 448. 31 Ibid., p. 450.
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from them”.32 Furthermore, in his next step, he switches over from observations to the observer by introducing rules which the observer has to obey: “First Law: The Philosophus experimentator or observator has to be free from any prejudices whatsoever, no meanings or bias depending on frenzy, and no passions concerning the phenomena to be observed.”33
Hauser adds a long list explaining what it means to be free from passions and prejudices. Whereas the first law includes experiments, the second one concerns solely the observer: “Second Law: The Observator Philosophicus has to avoid the mistake of self-deception [vitium subreptionis – as Corvin] to take something scarcely experienced as experienced”34
in order not to mix up truth and falsehood while looking for distinct notions of the facts, and for their causes. Hauser gives seven further laws, dealing with experience, with experiments, and with observations including those taking part in an experiment. But in fact, all this aims much more at a methodology of experimentation and how to draw conclusions from them, for an experiment “offers in frequent cases new effects” as e.g. Berthold Schwarz’s invention of gun powder.35 Even if observations are not at the center of Hauser’s reflections, his remarks indicate the need of an elaborated methodology of observation on the one side, and the necessity of very special, nearly moral rules which the observer has to obey. In fact, these are the two sides which from the 1750s on are the central elements of each discussion on observation and on the observer. 4. THE IMPORTANCE OF OBSERVATION AND THE INGENIOUS OBSERVER Throughout the next two decades we can observe a radical change: Zedler in his Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste included in 1740 an article on “Observation” (which shows that the German term ‘Beobachtung’ had not yet been in use when he published the first volume in 1725). He mentions Hagen’s book of 1734, separates observation from experiment and includes five pages on “astronomische”, “medizinische” and “microskopische” observation; but only five lines on the “Observator”.36 About 25 years later, in Diderot’s Encyclopédie, things have changed completely: In vol. 11 of 1765 an ars observandi is mentioned, even if there had been no book on this subject, and it contains an extended article on 32 “habitus instituendi observationes, variasque conclusiones ex iis inferendi erit ars observandi”, ibid. 33 “Lex I. Philosophus experimentator, seu observator nullis praejudiciis circumventus, nulli sententiae, aut systemati obstinate mancipatus, nulli passioni obnoxius ad phaenomena observanda, aut capienda experimenta accedat.” Ibid., p. 450. 34 Ibid., p. 451. 35 Ibid., p. 458. 36 Zedler (ed.): Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, vol. 25, 1740, column 278-289.
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“Observation”, including “observations célestes”, and structured by paragraphs on “observations de la médecine”, “observations anatomiques”, “physiologiques”, “hygiéniques”, “pathologiques”, “thérapeutiques” and “météorologiques”.37 Moreover, it starts from an extended article on the “Observateur”, which has a similar structure. 38 Due to the modern editions, both extended articles are written by d’Alembert himself – which might indicate the importance of the subject. The most extended parts of both articles center around medical observations; but they include at least two very important general remarks: D’Alembert explains: “Observation is the first fundament of all sciences, the most secure way to get on, and the most important means to extend boundaries, and to clarify all the points: the facts whatsoever, which are the true treasure of the philosopher, are the material of observation: the historian [i.e. the observer] collects them, the rational physicist combines them, and the experimentalist verifies the result of these combinations”.39 This shows that observations have to have an extremely important place in each science and in each reflection on science. The second point makes clear why it is not only medicine, and not even only the area of sciences of nature, which are involved, here: “Observation constitutes history, or the science of facts which regard God, man, and nature; the observation of the works of God, the miracles, the religions etc. make up sacred history; the observation of life, actions, habits and humans have led to civil history; and the observation of nature, of the movement of stars, the change of seasons, of meteors, elements, animals, plants, and minerals, of the variations in nature, of its use, of arts and crafts, in order to look for the different branches of natural history.”40 History, up to the middle of the 18th century, has been understood as a sheer collection of facts and of data, as the term ‘natural history’ indicates, but not as a scientific undertaking. However, the remark just quoted shows the beginning of a different way of looking at history: Sacred history and civil history have to be much more than a collection of chronological data; both are on the way to having methods on how to observe, and methods of proof giving for a hypothesis, which some decades later are understood as the beginning of sociology, anthropology, ethnology, geography and even history as a scientific undertaking.
37 Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné, vol. 11, 1765, pp. 313-323. 38 Ibid., pp. 310-313. 39 “L’observation est le premier fondement de toutes les sciences, la voie la plus sure pour parvenir, & le principal moyen pour en étendre l’enceinte, & pour en éclairer tous les points: les faits, quels qu’ils soient, la véritable richesse du philosophe, sont la matiere de l’observation: l’historien les recueille, le physicien rationel les combine, & l’expérimental vérifie le résultat de ces combinaisons”. Ibid., p. 314. 40 “L observation a fait l’histoire, ou la science des faits qui regardent Dieu, l’homme & la nature; l’observation des ouvrages de Dieu, des miracles, des religions etc. a formé l’histoire sacrée; l’observation de la vie, des actions, des moeurs & des hommes a donné l’histoire civile; & l’observation de la nature, du mouvement des astres, des vicissitudes des saisons, des météores, des élémens, des animaux, végétaux & minéraux, des écarts de la nature, de son emploi, des arts & métiers, a fourni les matériaux de differentes branches de l’histoire naturelle.” Ibid., p. 314.
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This global approach includes as an absolutely new element something, even if it is only touched in the article on Observateur – namely the necessity to make use of observations even in the area of morals:41 The moral philosopher should have a look at human behavior before writing his treatise on morals, since observations are “absolutely indispensable” in this case. “The best treatise on morals would be a picture of the human life”, we read, and La Bruyère is named as an example.42 This is of some importance, if one thinks of Johann Caspar Lavater’s Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenliebe43 of 1775-1778, due to Lavater depending on subtle observation. In 1771, he had published the first part of his Fragmente aus dem Tagebuch eines Beobachters seiner Selbst, whereas in his Physiognomische Fragmente, four extended volumes, he declares: “Observation … is the soul of physiognomic” in a passage of five pages, speaking of the “spirit of observation” and explaining the qualities necessary for an observer. The resulting physiognomic is harshly criticized by Georg Christoph Lichtenberg, but defended by Zimmermann, who then had been attacked by Lichtenberg: This shows that the intended extension of observation as a foundation of a new science bears some new problems. All this indicates a completely new understanding of observation: It is by no means less important than experiment, since there are areas where we have no possibility to make experiments at all, not only in some sciences such as astronomy, but also in an area which is not yet fixed as humanities, namely in all places, where history is involved. A further radical change holds for the importance attributed to the observer: He has to have “the necessary insight and talent to observe”, he has to be “attentive”, and he has “to describe exactly what he has seen”. 44 Much more – there are two essential conditions, which the observer has to fulfill: Firstly, to observe in an appropriate way, “it is not enough to apply some senses, the senses have to be well organized, well disposed not only by nature, but by art and habitude, and that this application is done without
41 “Ce qu’il y a encore de plus étonnant, c’est que nos moralistes soient si peu observateurs, ils composent dans leur cabinet des traités de morale sans avoir jetté un coup-d’oeil sur les hommes ; remplis d’idées vagues, chimériques, ensevelis dans les préjugés les plus grossiers, les plus contraires à la vérité, ils se représentent les hommes tout autrement qu’ils sont & qu’ils doivent être, & dictent des regles, des arrêts qu’ils prétendent être émanés du sein de la divinité, dont l’exécution est très-souvent contraire à la raison, au bon sens, quelquefois impossible. Qu’il seroit à souhaiter qu’on observât, qu’on vît avec des yeux bien disposés & bien organisés les choses telles qu’elles sont ! peut-être se convaincroit-on qu’elles sont comme elles doivent être, & que vouloir les faire aller autrement est une prétention imaginaire & ridicule ; mais le talent d’observateur est plus difficile qu’on ne pense, & sur-tout celui qui a pour objet les moeurs & les actions des hommes.” Ibid., p. 310. 42 “Le meilleur traité de morale seroit une peinture de la vie humaine ; la Bruyere n’a fait un si bon ouvrage que parce qu’il a été dans le cas de voir & qu’il a bien observé.” Ibid., p. 311. 43 Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenliebe, vol. I, Leipzig 1775, p. 173-177. 44 “Les lumieres & les talens nécessaires pour observer”; “il décrit exactement, avec sincérité & candeur tout ce qu'il a vû“, Encyclopédie, vol. 11, 1765, p. 311.
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passion, without interest, without prejudgments etc.” 45 And secondly: It is not only a question of the sense organs, which have to function appropriately – “they have to be able, as difficult as it might be, to receive the impressions of the phenomena, and to transfer them without alteration to the principles of sensation, reflection and memory; it is this art and habitude which carries this faculty of sensation, this finesse in sentiment, and this correctness in perception.”46 Even this is not enough; d’Alembert declares, that the observer has to be enlightened and wise, a genius, and disinterested, namely free from any theoretical idea, prejudgment and passion.47 Even if this is said with respect to medicine, one has to take it as a general condition concerning observations whatsoever. In this connection, d’Alembert mentions “ce médicin allemand” – none other than Zimmermann, who in 1763 postulated not only a spirit of observation, but also a genius as an observer: What one needs as an observer is not so much a quality to facilitate observation, but to ask for the reasons behind it. Zimmermann distinguishes between three essential elements in experience, namely “Gelehrsamkeit” – learned professionalism –, “Beobachtungsgeist” – spirit of observation – and “Genie” – genius. He writes: “Learned professionalism gives us historical knowledge”, namely of past observations, “the spirit of observation teaches us to see” something, and “the genius to conclude”.48 He defines: “Genius is a high degree of all faculties of experience with a high degree of wit”,49 whereas wit is understood as the faculty of sharp intellectual analysis and reasoning. All this means that the genius is needed for the treatment of observations; but thinking of Bonnet’s expression “esprit d’observation”, quoted at the beginning, it is clear that as the next step of development within the ars observandi this ingenium has to be a quality of observing itself in order to be able to recognize the new, unexpected or law-contradicting, and similarities between totally different items. As a consequence, one finds many occurrences where observation and ingenium are wound up throughout the period of late enlightenment. One example might just show this connection, even if it does not belong to the methodological reflections on the art of observation as an art of invention, but to the use of observations: Carl Friedrich Flögel published his Geschichte des menschlichen Verstandes in 1765, 45 “1. Pour bien voir, ou observer (je prends ici ces deux mots comme synonymes), il ne suffit pas d’une application quelconque des sens, il faut que les sens soient bien organisés, bien disposés non seulement par la nature, mais par l’art & l’habitude, & que cette application se fasse sans passion, sans intérêt, sans préjugés, &c.”, ibid., p. 311. 46 “2. qu’ils soient propres à recevoir les impressions des phénomenes qui se présentent, quelque difficiles qu’ils soient à appercevoir, & à les transmettre inaltérés au principe du sentiment, de la réflexion & de la mémoire ; c’est l'art & l'habitude qui donnent cette faculté de sentir, cette finesse dans le sentiment, & cette justesse dans la perception.” Ibid., p. 311. 47 “il faut des lumieres, de la sagacité, du génie, il faut être instruit, assidu au lit des malades, pénétrant, desintéressé, dépouillé de toute idée théorique, de préjugé, & de passion.” Ibid., p. 312. 48 „Die Gelehrsamkeit giebt uns die historische Kenntnis, der Beobachtungsgeist lehrt uns sehen, das Genie schliessen“. Zimmermann, Johann Georg: Von der Erfahrung in der Arzneykunst, 2 vols., Zürich 1763/64, I, p. 47. 49 „Ich verstehe durch Genie einen hohen Grad der Vollkommenheit aller Erkenntnisvermögen, oder einen hohen Grad von Verstand mit einem hohen Grad von Wiz.“ Ibid., II, p. 1f.
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followed by two further editions.50 There he develops a history of nature, depending on observation, as on the climate, the body, the age – but starting from a chapter “Vom Genie” – On the genius. All this shows that the Ars observandi has changed from a mere methodology of empirical inventions to an art which includes enormous intellectual and moral qualities on the side of the observer and that it has enlarged the scope of topics to be observed. 5. THE COMPETITION OF 1768 OF THE DUTCH ACADEMY In 1768, the Dutch Academy at Harlem sponsored a competition, as it had been usual among academies of the 18th century.51 The question, proposed by Bonnet,52 himself a member of that Academy, was: “What is required for the Art of Observation? And how far can it improve the understanding?”53 Obviously, it met a crucial point at that time, as is shown by the answers of Benjamin Carrad from Orbe/Switzerland (who got the prize), Jean Senebier from Geneva/Switzerland and Willem de Vos from Amsterdam (who both got the accessit): All of them are printed in two big volumes of the Academy in 1771/72.54 Both, Carrad and Senebier, had already been working on this subject, so that Carrad reprinted his book separately in 1777. Senebier published his essay in a very enlarged form of two volumes in 1775; a German translation was printed in 1776, and a completely revised second edition appeared in the year 10 of the French Revolution, i.e. in 1802. The authors, particularly Senebier, had been well known at the end of the 18th century. All prizewinners had been theologians, but at least Carrad and Senebier had written and translated books on sciences of nature, among others on chemistry. They all develop a methodology of observation, concerning several rules, and all of them discuss the indispensable properties of an observer in order to demonstrate that whatever improves the mind is closely interwoven with correct observation. It is this aspect of the intended ars observandi, which, at the same time, (1) carries the main idea of Enlightenment, namely to “perfectionner l’Entendement”, and (2) promotes the very new idea of a science of Man, grounded on observations.
50 Flögel, Carl Friedrich: Geschichte des menschlichen Verstandes, Breslau 1765, 31776. 51 This part of the paper is a shortened version of my “On the impact of the Enlightenment ars observandi on the emerging concept of the ‘Science of Man’”, in: Divinatio. Studia culturologica series (Sofia) 16, 2002, pp. 35-48. 52 Bonnet wrote this in his letter to Spallanzani, June 29, 1776, in: Bonnet, Œuvres XII, p. 223ff. 53 “Wat wordt’er vereischt tot de Konst van Waarneemen? en hoe veel kan dezelve toebrengen tot volmaakinge van het Verstand?” And in French: “Qu’est ce qui est requis dans l’Art d’Oberserver? Et jusques où cet Art contribue-t-il à perfectionner l’Entendement?” 54 Verhandelingen Hollandsche Maatschappy der Weetenschappen XIII (1771/72) in two parts, all together more than 800 pages.
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The answer of de Vos is of some interest for us as a mirror of ideas of that time. He mentions the article Observation of the Encyclopédie, and he quotes Bonnet’s Considérations several times. He sketches some areas of observation; and among them the observation of humans, namely “concerning the function of the soul, and the conditions which give complete advice on how to perform certain actions”. 55 Examples are “science of the mind, history, political science”; later on he mentions “archaeology”.56 Yet in fact he treats nearly nothing but the observation of nature and its rules. The prizewinner Carrad starts from the observation of lifeless bodies, then he turns to animated ones and to the human soul. In discussing the soul, he is not fixed on kinds of inner observations; rather, he introduces a large variety of outside conditions, namely the relations to other beings,57 as it is given e.g. in the governmental system of societies, which are a valuable object of the “enlightened observer”:58 “Among different people he will find a great variance and some form of knowledge concerning how to apply the laws to a genius and, under different special circumstances, to a nation, as well as the way, more or less by fortune, how different capacities have been dispensed in order to warrant public peace in spite of the conflict between peculiar passions”.59 This indicates that the observer has to have not only extraordinary moral qualities, as Zimmermann attributed to him; he is not only a genius, as Bonnet postulated, but he has to be an homme éclairé, the Enlightenment symbol of progress. Carrad explains that the changes in or revolutions of human societies offer an interesting and instructive spectacle to the observer.60 To reach a balance of power presupposes observing the “prosperity of a Nation, its population, its agriculture, its identity, its trade, its needs, the influence of neighbor societies on all these topics, and their variations throughout time”, and as further objects of observation Carrad thinks of “habits, taste and sciences” as well as of “languages”, in each case including their changes; he adds: “It is no small task to observe exactly the path and the origin of these kinds of changes. They have to be enriched step by step by a multitude of special circumstances of the society”.61 Even if the Enlightenment 55 “De waarneemingen op de Mensch, ten opzichte van de werkingen der Ziel; en de oorzaaken welke tot zekere daaden doorgaans aanleiding geeven”, de Vos (1771/72), Stuk 2, p. 175. 56 “Geestkunde, Zedenkunde, Staatkunde”, “Oudheidkunde”, de Vos (1771/72), Stuk 2, p. 175. 57 Carrad (1771/72), Stuk 1, p. 129. 58 “Elles méritent bien l’attention d’un Observateur éclairé”, Carrad (1771/72), Stuk 1, p. 131. 59 “Il trouvera chez les divers peuple une grande variété, & plus ou moins de sagesse, dans la façon dont on s’y est pris pour assortir les loix au génie & aux différentes circonstances particulières à une nation, & dans la manière plus ou moins heureùse, dont les divers pouvoirs ont été distribués pour assùrer le repos public malgré le conflict des passions particulières”, Carrad (1771/72), Stuk 1, p. 131. 60 “Les révolutions qui arrivent dans les Sociétés humaines présentent encore à l’Observateur un spectacle intéressant et instructif.” Carrad (1771/72), Stuk 1, p. 249. 61 “La prospérité d’une Nation, sa population, son agriculture, son industrie, son commerce, ses occupations générales, ses besoins, l’influence, qu’elle éprouve à tous ces égards de la part des peuples environnans, varient en différens tems; on y voit les mêmes vicissitudes dans les mœurs, le goùt & les sciences; une étude fait place à une autre; les langues se policent ou se dénaturent & se dégradent. Ce n’est pas un petit travail, que d’observer avec précision la
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idea behind it is to seek conditions of a better society, all this sounds much like a program of socio-cultural research. The most influential work on the art of observation has been that of Jean Senebier in its extended version of 1775.62 It starts from the distinction of the Encyclopédie, due to which the objects of observation are God, Man and nature, – which, for the Enyclopédie as well as for him includes a kind of Lockean or Humean sense criterion insofar as reflections and ideas have to depend on sense experience, i.e. on observation. 63 It is this condition which allows Senebier to declare that the better the observations, the better the spirit; and thus the sciences as well as the arts (including the fine arts) are on the way to an all-embracing improvement by observation: “All our knowledge, therefore, is the fruit of ideas, and the ideas are those of observations. He who will have the greatest number of ideas will be the most attentive one (observé), or he who has collected the greatest number of observations. But as the most perfect one with respect to his spirit will be he who has the greatest knowledge or number of ideas, it is evident that the best way to improve the spirit is to make many and good observations. This holds also for the Arts, which will succeed in their improvement only by imitating Nature, which, too, is their common Mother.”64
Following this line of perfectionner l’Esprit, Senebier postulates the establishment of “the true principles of morals” on the basis of an observation and evaluation of the actions of men: “The knowledge of human actions, in teaching us how to judge them, can also show how to predict and to prevent them, maybe how to produce them, and surely how to know their causes. This is, as one can imagine, an important science, which can be realized by observation only, if one finds Observers, patient enough and skillful enough to pick up this task.”65 A few pages earlier, Senebier explains what one has to take into account in observing an individual, namely its education, its bodily state, its obsessions and passions, its age, its friends, and the circumstances. And in observing a society (peuple) one has to look at the climate, the government and its laws, at habits, religion, sciences, customs, welfare, trade, travels, plays, typical sicknesses, and at the language in order to explain the individual and public ideas by means of the
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marche & l’origine de ces sortes de changemens. Ils sont souvent amenés peu à peu par une multitude des circonstances particulières à un Peuple ...”. Carrad (1771/72), Stuk 1, p. 249 seq. Senebier (1775). Senebier (1775), II, p. 164. “Toutes les connaissances étant donc le fruit des idées, et les idées étant celui des observations; l’homme qui aura le plus d’idées, sera celui qui aura le plus observé, ou qui aura ramaffé le plus grand nombre d’observations; mais l’homme le plus parfait rélativement à son esprit, étant celui qui a le plus de connaissances ou d’idées, il est évident que le meilleur moyen de perfectionner l’esprit, c’est de faire beaucoup de bonnes observations; Ceci est également vrai pour les Arts, qui ne sauroient parvenir à leur perfection, qu’en imitant la Nature qui et aussi leur Mère commune.” Senebier (1775), II, p. 165 seq. “La connaissance des actions des hommes en apprenant à les juger, peut apprendre à les prévoir et à les prévenir, peut-être à les produire, surement à faire connaître leur cause. Voici une science intéressante que l’observation seule peut créer, si l’on trouve des Observateurs assez patients et assez habiles pour s’y livrer.” Senebier (1775), II, p. 204 seq.
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actions to be observed.66 The intended new science has to start from “a basic picture of passions, vices and virtues”, it has to go further to “principles” and then to go back to “effects” – which, as he declares, would allow a completely new face of politics as well as of law. Enthusiastically Senebier concludes: “A new scene reveals itself: the hearts are penetrated, hidden actions are known, the inner thoughts unveiled, the words murmured into the ear understood. Oh, if this project would destroy the dark suggestions of passions, if the fear to be discovered would necessitate everyone to be virtuous, then I would be happy that I lived and had this idea. It should be possible that someone could make it possible for the felicity of mankind, so that I would have been useful for the virtuous men whom I cherish.”67
6. OBSERVATION AND THE NEW SCIENCES Thinking of the new areas, of the important qualities demanded for an observer, thinking of the vagueness of those rules formulated in these three extensive books aiming at an ars observandi, it is immediately clear that all this misses the Leibnizian ideal of a formal ars inveniendi as well as the methodological rigor of a Wolffian approach of an ars observandi. The Catholic theologian Michael Sailer published a Vernunftlehre in 1785 with the subtitle “for humans as they are. In accordance with the needs of our time”, a book which clearly aims at a kind of Popularphilosophie from the catholic side.68 In many passages it deals with the new concept of observation, he mentions Zimmermann as well as Bonnet, he speaks of “spirit of observation”,69 attributes great importance to it and extends this to self observation70 – but concerning an ars inveniendi in the area of experience he writes: “Why no logic for the inventor? Since it does not yet exist.”71 Concerning a “logic for the genius” he declares that even the genius follows rules, namely “Recognize yourself”, “Be what you are”, “Try to be a genius more than seem to be it”, moral rules connected with self observation. Sailer’s book might have had no important influence, but it meets exactly the intellectual situation of the time: Neither narrow empiricism nor hard rationalism is demanded, the old idea of an ars observandi has undergone a radical transformation, and it is evident that there is no possibility of such an undertaking in its old fashion. New sciences need new kinds of observations. 66 Senebier (1775), II, pp. 214-250 and 276. 67 “Voici une scène nouvelle, les cœurs sont pénétrés, les actions cachées sont connues, les pensées intérieures sont développées, les paroles murmurées à l’oreille sont entendues; oh si ce projet anéantissoit les sinistres suggestions des passions, si la crainte d’être découvert engageoit tous les hommes à devenir vertueux; je serois content d’avoir vécu pour avoir eu cette idée, il seroit possible que quelqu’un la réalisa pour la bonheur du genre humain, et que je devins ainsi utile aux hommes vertueux que je chéris.” Senebier (1775), II, p. 205. 68 Sailer, Michael: Vernunftlehre für Menschen, wie sie sind. Nach den Bedürfnissen unserer Zeit, 2 vols., München 1785. 69 Ibid., vol. I, p. 80ff. 70 Ibid., vol. I, pp. 104-110. 71 “Warum keine Logik für den Erfinder? Es gibt noch keine.” Ibid., vol. II, p. 151.
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Senebier probably never came across Sailer’s Vernunftlehre, but he published a totally revised second edition of his Art d’observer in 1802. 72 He modified mainly the last part, which originally contained the idea of bettering the spirit. Instead, Senebier declares he has introduced “L’art de faire des expériences”. But in fact, these methodological reflections concern only half of the new third volume. The second half extends the art of observation, which now has to include “the treatment of fine arts”,73 namely of language and literature, in order to show the “importance of observations for criticism”: “the necessity to know the customs of people in order to form an opinion of their influence on their language; to analyze the habits of nations in order to detect the meaning of the terms they use; to study their philosophy, their religion, their prejudgments, their national spirit, in order to detect the meaning of their phrases.”74 And he goes on: “By this one doubtless will recognize the influence of the climate, the government, the laws, the sciences, … the professions on the language.”75 In this approach, the art of observation is extended to language and its conditions by means of the rules of observation, given in the earlier parts of the book. All this holds for the “littérateur” (namely the essayist as well as the scientist concerned with literature): “One understands how deeply the littérateur needs the flambeau of the genius in order to enlighten himself and to fertilize the unpleasant field which he explores.”76 Finally, Senebier expresses a parallelism between the interpretation of nature, well known since Bacon’s Interpretatio naturae, and the interpretation of literature: “Even the observer’s methods for the interpretation of nature are indispensable for the research of the essayist”.77 With this step we have reached a kind of hermeneutics as the method of history, literature and language studies: The ars observandi of the enlightenment has opened the door to a new kind of science, namely the Science of Man, the Humanities, and especially undertakings such as the Societé des Observateurs de l’Homme of 1800.78
72 Senebier, Jean: Essai sur l’art d’observer et de faire des expériences, seconde éd., considerablement changée et augmentée, 3 vols., Genève, an X (1802). 73 “l’étude des Belles-letters”, Senebier (1802), III, p. 168. 74 “la nécessité de connaître les mœurs des peuples, pour juger leur influence sur leur langage; d’approfondir les usages des nations pour découvrir le sens des termes qu’elles emploient; d’étudier leur philosophie, leur religion, leurs préjugés, leur esprit national, pour y découvrir le sens de leurs phrases”, Senebier (1802), III, p. 178. 75 “On y reconnaîtrait sans doute l’empire du climat, du gouvernement, les loix, les sciences, ... des professions sur le langage”, Senebier (1802), III, p. 179. 76 “On comprend ainsi combien le littérateur a besoin du flambeau du génie, pour s’éclairer et pour féconder le champ ingrat qu’il exploite”. Senebier (1802), III, p. 180 seq. 77 “Les méthodes mêmes de l’observateur pour l’interprétation de la nature sont indispensables dans les recherches du littérateur”, Senebier (1802), III, p. 188. 78 See Moravia, Serge: La Scienza dell’Uomo nel Settecento, Bari 1970. As an appendix it contains the programmatic writings of Louis-François Jauffret: Mémoire, and Joseph-Marie Degérando: Considérations sur les diverses méthodes à suivre dans l’observation des peuples sauvages, of 1800.
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Maybe we have to reinstate this art today – not for the Humanities, where it is included for example as qualitative psychology or qualitative sociology. But we need it in order to understand what an ecological system is, since otherwise one would destroy the object of research, namely the harmonies and balances in question, by analytical experiments. And we need it not only for plants and animals, but also for mankind and its cultures, to find out what harmony and balance might depend on in this field: Therefore, the question of the Academy of Harlem should be renewed even today – and perhaps be answered in a new Esprit d’observation, cet Esprit universel des Sciences & des Arts.
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NEUES ÜBER LEIBNIZ’ ABHANDLUNG ZUR KREISQUADRATUR „Habent sua fata libelli“: Mit diesem geflügelten Wort beginnt Eberhard Knobloch zu Recht einen seiner Aufsätze, in dem er die Geschichte von Leibniz’ Abhandlung zur Quadratur des Kreises mittels einer unendlichen Reihe rekonstruiert, hat es doch schließlich mehr als drei Jahrhunderte gedauert, bis der vollständige Text der im Wesentlichen im Laufe des Jahres 1676 fertiggestellten Schrift De quadratura arithmetica circuli ellipseos et hyperbolae publiziert wurde:1 Leibniz ließ bei seiner Abreise aus Paris Anfang Oktober 1676 eine Fassung des Manuskripts zurück, die sein Freund Soudry abschreiben und für den Druck vorbereiten sollte. 2 Dieser kam jedoch 1678 ums Leben, und das Manuskript gelangte auf Umwegen an den hannoverschen Residenten in Paris, Christophe Brosseau, der es Ende 1679 mit anderen Besitztümern von Leibniz an Isaac Arontz übergab: Das Paket mit der Handschrift für Leibniz ging jedoch verloren.3 Im Nachlass von Leibniz befinden sich aber weitere Textzeugen, darunter eine vollständige Fassung, die vermutlich inhaltlich weitgehend mit dem in Paris verbliebenen Manuskript übereinstimmte. C. I. Gerhardt druckte 1858 die Praefatio opusculi de quadratura arithmetica circuli, ein Vorwort zu einer etwas früheren Fassung, das 1676 entstanden sein dürfte, und das Compendium quadraturae arithmeticae. Diese Kurzfassung aus hannoverscher Zeit, die Gerhardt auf 1678/79 datierte, ist aber, wie aus dem verwendeten Papier hervorgeht, erst nach Leibniz’ Rückkehr von der Italienreise entstanden, vermutlich zwischen Sommer 1690 und Frühjahr 1691.4 Damit gehört sie wohl zur unmittelbaren Vorgeschichte des im April 1691 in den Acta Eruditorum 1
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Knobloch, Eberhard: Leibniz et son manuscrit inédité sur la quadrature des sections coniques, in: The Leibniz Renaissance, International Workshop (Firenze, 2.-5. giugno 1986), hg. v. Centro Fiorentino di Storia e Filosofia della Scienza, Firenze 1989, S. 127-171; zu diesem Zeitpunkt war der Text noch nicht gedruckt; auch die im Aufsatz angekündigte Edition mit spanischer Übersetzung kam nicht zustande. Vgl. Leibniz, Gottfried Wilhelm: Sämtliche Schriften und Briefe, hg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Reihe I-VIII, 1923ff., Reihe III, Bd. 2, N. 105, S. 276f.; im Folgenden werden die Bände der Akademieausgabe mit Reihen- und Bandnummer zitiert. Nicht gedruckte Handschriften von Leibniz aus der Zeit des Parisaufenthaltes werden angegeben mit der Nr. im Catalogue critique des manuscrits de Leibniz. Fascicule II (Mars 1672 – Novembre 1676), hg. von A. Rivaud u. a., Poitiers 1914-1924 (Reprint Hildesheim u.a. 1986); im Folgenden zitiert als: Cc 2. Bei Bedarf wird auch die Signatur der Handschriften im Bestand der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek Hannover angegeben (LH). I, 3 N. 520, S. 579. Leibniz, Gottfried Wilhelm: Mathematische Schriften, hg. von C. I. Gerhardt, Bd. 5, Halle 1858 (Reprint Hildesheim 1962 u. ö.), S. 86, 93-98 u. 99-113; Das Wasserzeichen des für die Praefatio verwendeten Papiers ist für April bis Juli 1676 belegt, des für das Compendium verwendeten für September 1690 bis April 1691.
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gedruckten Aufsatzes Quadratura arithmetica communis sectionum conicarum quae centrum habent.5 Nach einem Teildruck der Quadratura in der Dissertation von Lucie Scholtz 19346 dauerte es noch einmal fast 60 Jahre, bis der Text, von Eberhard Knobloch kritisch ediert, 1993 vollständig veröffentlicht werden konnte.7 Leibniz hat sich die wesentlichen mathematischen Hilfsmittel, die ihn zur Entdeckung der Kreisreihe führten, die Transmutationsmethode zur Berechnung von Flächen unter Kurven und die von Nicolaus Mercator übernommene Methode der Reihenentwicklung durch fortgesetzte Division, im Laufe des Jahres 1673 erarbeitet, wie sich an den in den Bänden VII, 3 und VII, 4 der Akademieausgabe publizierten Texte belegen lässt.8 Anlässlich eines Besuches zum Jahreswechsel 1673/74 hat Leibniz vermutlich seinem Mentor Christiaan Huygens seine neueste mathematische Entdeckung berichtet,9 der ihm bei dieser Gelegenheit seine eigene Abhandlung zur Kreisquadratur10 und diejenige seines Rivalen James Gregory11 auslieh: Offenbar erhoffte sich Huygens von Leibniz eine Widerlegung der Behauptung von Gregory, dass das Verhältnis von Umfang und Durchmesser des Kreises nicht durch eine algebraische Größe gegeben werden könne.12 Leibniz hat sein Resultat auch weiteren Bekannten in Paris zugänglich gemacht,13 die erste datierte briefliche Erwähnung ist in seinem Schreiben vom 15. Juli 1674 an Heinrich Oldenburg in London zu finden (III, 1 N. 30, S. 120).14 Im Oktober 1674 hat Leibniz eine Mitteilung an Edmé Mariotte [?] (III, 1 N. 38; vgl. auch VII, 1 N. 137) verfasst und die Version ausgearbeitet, die er an Huygens gab 5 6 7
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Op. cit. (wie Anm. 4), S. 128-132; Vgl. auch die Verweise von Leibniz auf die Abhandlung zur Kreisquadratur im Briefwechsel 1690-1691 (III, 4, S. 616, 644f., 662; III, 5, S. 177). Scholtz, Lucie: Die exakte Grundlegung der Infinitesimalrechnung bei Leibniz (Diss. Univ. Marburg), Görlitz-Biesnitz 1934. Leibniz, Gottfried Wilhelm: De quadratura arithmetica circuli ellipseos et hyperbolae cujus corollarium est trigonometria sine tabulis. Kritisch hg. und komm. von Eberhard Knobloch, (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Mathematisch-physikalische Klasse. Dritte Folge, Nr. 43), Göttingen 1993; im Folgenden zitiert als: LQK. Inzwischen wurde der Text auch zusammen mit einer französischen Übersetzung publiziert: Leibniz, Gottfried Wilhelm: Quadrature arithmétique du cercle, de l'ellipse et de l’hyperbole, traduction par Marc Parmentier, Paris, 2004. Zur Entstehungs- und Druckgeschichte vgl. die Darstellung von Knobloch in LQK, S. 9-14. Vgl. VII, 3 (2003), S. 124, 127, 206f., 214-219 u. 267-270 sowie VII, 4 (Druck in Vorbereitung) N. 3, 10-12, 16, 17, 27, 36 u. 39. Vgl. III, 1, S. LV. Möglicherweise war Jacques Ozanam der erste, der die Kreisreihe von Leibniz zu sehen bekam (s. u.). Huygens, Christiaan: De circuli magnitudine inventa, Leiden 1654. Gregory, James: Vera circuli et hyperbolae quadratura, Padua 1667. Vgl. III, 1 N. 40, S. 170f. Dazu gehörten Edme Mariotte (vgl. III, 1 N. 38 u. VII, 1 N. 137), Ehrenfried Walter von Tschirnhaus (vgl. LH 35 XIV 1 Bl. 47-48, Druck in VII, 5 in Vorbereitung; Cc 2, Nr. 1472; III, 5, N. 165). Die in III, 1 N. 29 abgedruckte Aufzeichnung, in der J.E. Hofmann eine frühe Mitteilung an Huygens vermutete, ist aufgrund des verwendeten Papiers wohl erst um Januar 1675 zu datieren.
Neues über Leibniz’ Abhandlung zur Kreisquadratur
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(III,1 N. 39) und von diesem mit dem Brief vom 6. November 1674 zurück erhielt (III, 1 N. 40). Während der von Eberhard Knobloch geleiteten Editionsarbeiten an den Bänden VII, 3 und VII, 4 ist es gelungen, erstmals aus den erhaltenen Handschriften die frühesten Entwürfe von Leibniz für eine Abhandlung zur Kreisreihe zu rekonstruieren. Es handelt sich um zwei Entwürfe vom Herbst 167315: 1. Der erste Ansatz (Druck in VII, 4 N. 42) umfasst den Bogen LH 35 II 1 Bl. 89-90 (Cc 2, Nr. 1233A tlw.) und drei Seiten auf dem Bogen LH 35 XII 2 Bl. 161-162 (Cc 2, Nr. 561 tlw.). Leibniz hat diese Fassung wegen eines von ihm erkannten Rechenfehlers abgebrochen, die Bogenmarkierung (1) des ersten Bogens beibehalten, die (2) des zweiten gestrichen. Aus diesem Rechenfehler lässt sich folgern, dass die anschließend im zweiten Entwurf erfolgreich durchgeführte Herleitung der Kreisreihe die früheste korrekte sein muss, die Leibniz unternahm. Auf der letzten Seite des Bogens befinden sich Aufzeichnungen von Leibniz und Jacques Ozanam. Dieser hat also möglicherweise bereits damals die Kreisreihe kennengelernt, die auf der Vorderseite des Blattes notiert ist.16 2. Der zweite Ansatz besteht aus LH 35 II 1 Bl. 87-88 (Cc 2, Nr. 1233A tlw.), LH 35 II 1 Bl. 240-241 (Cc 2, Nr. 563) und einer Seite auf LH 35 II 1 Bl. 9192 (Cc 2, Nr. 1233 A tlw.).17 Die Bogenmarkierungen (2) und (4) sind erhalten, die (3) ist wegen Papierschadens verloren.18 Zum direkten Umkreis dieser frühesten Abhandlung gehören außerdem einige Texte, die in VII, 3 (N. 23-25) und VII, 4 (N. 43-49) gedruckt sind. Etwas später, jedenfalls noch vor Mitte 1674, hat Leibniz eine neue Fassung ausgearbeitet (Cc 2, Nr. 555 A), in die er Näherungswerte aufgenommen hat, die sich teilweise auf die Rechnungen in VII, 3 N. 26 stützen. Kurz danach dürften die Rechnungen von VII, 3 N. 34 anzusetzen sein. Anschließend hat Leibniz die oben erwähnte Fassung für Huygens erstellt (III, 1 N. 39); während er einen Entwurf (wie die früheren Fassungen) in lateinischer Sprache schrieb, gab er seinem Mentor anschließend eine französische Version zur Einsicht. Ein Jahr später arbeitete er an einer Fassung in französischer Sprache, die als Aufsatz für das Journal des Sçavans konzipiert war. Davon sind drei Ansätze 15 Vgl. Probst, Siegmund: Zur Datierung von Leibniz’ Entdeckung der Kreisreihe, in Einheit in der Vielheit, hg. von H. Breger, J. Herbst, S. Erdner, Hannover 2006, S. 813-817. 16 In einem späteren Manuskript aus der Zeit des Parisaufenthalts (Cc 2, Nr. 1508) findet sich die Kreisreihe auf derselben Seite des Blattes wie Notizen von Ozanam. 17 Zwei weitere Seiten enthalten einen später verfassten Zusatz mit den von Leibniz im Herbst 1675 eingeführten Differential- und Integralsymbolen. 18 Zu einem nicht mehr bestimmbaren Zeitpunkt ging der Zusammenhang der Bögen verloren, die j-förmige 1 der Bogenmarkierung (1) wurde irrtümlich als 3 gelesen und der Bogen zwischen (2) und (4) eingeordnet. Die Bearbeiter des Cc 2 haben dann LH 35 II 1 Bl. 87-92 als Nr. 1233 A bei den späteren Ausarbeitungen der Abhandlung zur Kreisquadratur (mit vermutetem Datum ab November 1675) eingeordnet.
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überliefert: Die ersten beiden geben eine kurze Darstellung der Quadratur (III,1 N. 72), der dritte, fragmentarische, gibt einige Sätze ausführlicher (III, 1 N. 73). Nach eigenen Angaben19 hat Leibniz noch 1675 eine weitere Fassung („opusculum“) fertiggestellt. E. Knobloch hat in seiner Edition die von ihm mit A (= Cc 2, Nr. 1232) und B (= Cc 2, Nr. 1233 C)20 bezeichneten lateinischen Manuskripte dieser Redaktionsstufe zugeordnet. Beide sind allerdings auf Papier geschrieben, dessen Verwendung erst für eine etwas spätere Zeit belegt ist, nämlich April bis Juli 1676 (A) bzw. den 8. Juni 1676 (B). Auf die Existenz einer fertiggestellten Fassung von Ende 1675 deutet aber auch das der späteren, in LQK gedruckten, lateinischen Fassung C (= Cc 2, Nr. 1233 E, F) zugeordnete Blatt mit den Figuren (Cc 2, Nr. 1233 F). Es handelt sich dabei um Papier, das Leibniz wohl zwischen Oktober und Dezember 1675 verwendete.21 Da das Papier der Handschrift Cc 2, Nr. 1233 C nur mit einem einzigen Textzeugen für den 8. Juni 1676 belegt ist und der Inhalt Leibniz’ Charakterisierung des „opusculum“ von 1675 entspricht, kann nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden, dass es sich um eine bereits Ende 1675 entstandene Fassung handelt, für die Leibniz im Frühjahr 1676 als Vorwort die Praefatio opusculi de quadratura arithmetica circuli verfasste. 22 Hinzu kommt ein weiteres Argument: Die Handschrift Cc 2, Nr. 1233 C enthält 20 mathematische Sätze, die inhaltlich den ersten 25 Sätzen von LQK entsprechen.23 Unter den Manuskripten aus dem Umkreis der Abhandlung ist der Großteil auf Papier geschrieben, das Leibniz vielfach belegt im Frühjahr und Sommer 1676 verwendete. 24 Dazu gehören auch einige Handschriften, die nicht nummerierte Sätze enthalten, welche von Leibniz in die spätere, ausführlichere lateinische Fassung aufgenommen wurden: Cc 2, Nr. 1102-1103 (LQK prop. L-LI), 1241 (LQK prop. XLVIII), 1338 (LQK prop. XXXIX-XLII, XLIX, L), 1339 (LQK prop. XXIX-XXXI, XXXIV-XXXVII), 1465 (LQK prop. XIII), 1487-1488 (LQK prop. XV), LH 35 XII 2 Bl. 99 (LQK, Definition nach prop. XLIII). Mit zwei Ausnahmen handelt sich also um Textteile, die nicht in der Handschrift Cc 2, Nr. 1233 C enthalten sind. Dies legt zunächst die Vermutung nahe, dass es sich um Entwürfe für die Fortsetzung und Erweiterung dieser Handschrift handelt, die schließlich in LQK Eingang gefunden haben. Demnach wäre Cc 2, Nr. 1233 C früher anzusetzen als diese Texte aus der Zeit von Frühjahr bis Sommer 1676. Ein Vergleich mit Cc 2, Nr. 1465 u. 1487-1488 (Druck in VII, 5) führt jedoch zu einem anderen Ergebnis: Das Anfang Mai 1676 entstandene Cc 2, Nr. 1465 überliefert den Satz zur Quadratur des Zykloidensegments in einer Formulierung, die der von Ende 1675 19 Leibniz (wie Anm. 4), S. 128, vgl. LQK, S. 10. 20 Druck des Scholiums zu Satz 9 in Knobloch, Eberhard: Progrès et tâches futures de la recherche leibnizienne en mathématiques, in: Les Etudes philosophiques 44, 1989, S. 161-170, insbes. S. 167-169. 21 Das Papier ist identisch mit dem in VII, 3 N. 49 verwendeten. 22 Vgl. Knobloch (wie Anm. 1), S. 129-132. 23 Vgl. LQK, S. 19. 24 Inklusive der bereits genannten Handschriften handelt es sich um: Cc 2, Nr. 1102, 1103 A-B, 1224 A-H, 1232, 1233 B-E, 1234-1236, 1240 A, 1241, 1338, 1339, 1384, 1430, 1434, 1460, 1461, 1465, 1472, 1485, 1486-1488.
Neues über Leibniz’ Abhandlung zur Kreisquadratur
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entspricht (vgl. III, 1 N. 72 S. 349). Cc 2, Nr. 1233 C enthält bereits die Fassung von LQK prop. XIII. Auch hinsichtlich der einander entsprechenden Partien zur Quadratur der einfachen analytischen Kurven stellen Cc 2, Nr. 1487-1488 eine frühere Stufe der Bearbeitung dar. Dies lässt sich z.B. an der Verwendung des Satzes von Ricci erkennen, den Leibniz in VII, 3 N. 65 [April bis Juli 1676] aus dem Mesolabum von Sluse exzerpiert hat und am Ende von Cc 2, Nr. 1488 zur Komplettierung seiner Beweisführung einführt. In Cc 2, Nr. 1233 C ist der Satz bereits in den Text integriert und ersetzt teilweise Leibniz’ frühere Überlegungen. 25 Einen weiteren Hinweis bietet das von E. Knobloch publizierte 26 Scholium zu Satz 9: Die darin enthaltenen Ausführungen zum „spatium absolute interminatum“ setzen wohl Leibniz’ Überlegungen in Linea interminata vom April 1676 (VI, 3 N. 65) sowie Extensio interminata (VI, 3 N. 66) voraus.27 Damit scheint Cc 2, Nr. 1233 C vielleicht doch erst um Juni 1676 verfasst worden zu sein, wie das Wasserzeichen des verwendeten Papiers nahelegt. Genauere Erkenntnisse kann vermutlich erst die kritische Edition aller Handschriften zur Kreisquadratur aus der Zeit des Parisaufenthalts erbringen, die für einen der nächsten Bände der Reihe VII geplant ist. Wenn aber Cc 2, Nr. 1233 C nicht das „opusculum“ ist, so muss eine heute verschollene Vorstufe existiert haben, die etwa dieselben Sätze enthielt.28 Die Handschrift 1233 D überliefert ein Inhaltsverzeichnis (LH 35 II 1 Bl. 55rº), das etwa den prop. I-XV von LQK entspricht und damit weniger als 1233 C umfasst. Die Sätze von Sluse und Ricci sind vor dem Äquivalent von prop. XV eingeordnet und als einzige Einträge mit Seitenangaben (pag. 42 bzw. pag. 43) gekennzeichnet. Während die erhaltenen Manuskripte 1233 C und LQK auf unpaginierte Blätter im Format 2º geschrieben sind, müsste sich das Inhaltsverzeichnis auf ein paginiertes Mauskript beziehen, dessen durch das Inhaltsverzeichnis abgedeckter Teil aus etwas mehr als 43 Seiten bestand. Da dieser Teil höchstens einem Anteil von 25 Seiten des auf insgesamt 28 Seiten geschriebenen 1233 C entsprach, müsste dieses Manuskript auf Blättern oder Bögen im Format 4º geschrieben worden sein. Abschließend soll noch kurz auf die an Soudry gegebene und später verlorene Fassung der Abhandlung zur Kreisquadratur eingegangen werden: Wir wissen, dass es sich um ein Manuskript mit Ergänzungen und Korrekturen von Leibniz handelte, das in dieser Hinsicht dem erhaltenen, in LQK gedruckten Manuskript glich. Dies war auch ein Grund dafür, dass Soudry die Druckfassung nicht rasch fertigstellen konnte. 29 Dieser Umstand spricht gegen die Annahme, dass es sich lediglich um eine Reinschrift handelte. Das Soudry vorliegende Manuskript könnte also das „opusculum“ gewesen sein, dem Leibniz Korrekturen und Ergänzungen
25 Vgl. dazu auch LQK prop. XV, S. 56f. 26 S. Anm. 20. 27 Extensio interminata war ursprünglich auf dasselbe Blatt geschrieben wie das oben erwähnte VII, 3 N. 65 [April bis Juli 1676]. 28 Darin enthalten war wohl bereits eine Vorstufe zu LQK prop. XV, denn eine solche findet sich schon in III, 1 N. 73, S. 362f. 29 Vgl. die Beschreibung des Manuskripts durch Soudry in III, 2 N. 105, S. 276f.
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hinzugefügt hatte. Da die zugehörige Praefatio in lateinischer Sprache verfasst ist, dürfte dies wohl auch für das „opusculum“ gelten. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass Leibniz 1674 an Huygens eine französische Version seiner Abhandlung gab, dies auch Ende 1675 hinsichtlich der Herausgeber des Journal des Sçavans plante, so erscheint noch eine andere Möglichkeit als plausibel: Leibniz wollte vielleicht in Paris seine Abhandlung in französischer Sprache publizieren. Das Soudry vorliegende Manuskript könnte also eine französische Fassung gewesen sein. In diesem Fall dürfte es sich um eine Übersetzung des „opusculum“ oder einer der erhaltenen lateinischen Fassungen gehandelt haben, zu der Leibniz im Zusammenhang mit der Überarbeitung der Vorlage ebenfalls Korrekturen hinzufügte.
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ANTIMONY BASED PRESCRIPTIONS DURING THE TIME OF LEIBNIZ Leibniz and his contributions to the sciences as to medicine are still to be discovered. The major step towards these discoveries is the edition of Leibniz’ manuscripts concerning these topics.1 This task is within the Leibniz-edition performed by the Reihe VIII, initiated and supervised by Prof. Knobloch. Among the substances with long and extensive employment during the history of medicine is antimony (Sb). Antimony has been used as an active ingredient of medical remedies throughout all of the known history of medicine. It has accordingly been subject to extensive debates concerning its particular properties and capabilities in therapy. Because of this discussion the history of antimony offers insight into the different theories of medicine. A study of Leibniz’ attitude towards antimony against this background is a suitable opportunity to detect first features of Leibniz as a scientist. 1. A SHORT HISTORY OF ANTIMONY IN MEDICINE The early use of antimony dates back to pre-antiquity.2 Archaeological findings at Sumerian sites include artefacts made from metallic antimony.3 Thus, Sumerians commanded the knowledge to process ore to metallic antimony and to cast the metal into vessels. 4 In written sources antimony containing preparations are mentioned in Assyrian cuneiforms5 as in the Edwin Smith and the Ebers-papyri from Egypt. Antimony is mentioned by all main medical corpora from antiquity. The Corpus Hippocraticum advises against the internal application of antimony and its preparations, since their consequences are vigorous but not precisely predictable and thus can not be planned or controlled by the physician. Celsus and 1 2
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These manuscripts include mainly the volumes III (medicine), XXXVII (sciences) and XXXVIII (engineering) according to the Bodemann classification. For information on this project see http://leibnizviii.bbaw.de/. The early and constant appearance of Sb in the human use of metals is rather surprising. There are no natural ressources with abundant and rich ores, the processing of the ore to metal is not easy, the possible utilisations are limited. The only factor promoting the use of antimony is the relatively low temperature, at which antimonysulfide Sb2S3 can be extracted from the ore. Thus the constant presence of artefacts made from antimony throughout the history of metallurgy deserves the comment, whether chance and conservative inertia are the most important among the factors that do govern the history of metallurgy and of technologies in general. Cf. McCallum 1999, p. 1-3 and lit. cited. Because of the particular properties of the metalloid antimony (brittle, non-ductile) both competences are not considered to be trivial. Römpp 1996, p. 226; Moorey 1994, p. 241. Moorey 1994, p. 240-242.
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Galen do not oppose the Hippocratic view but give recipes for salves with antimony and their external applications. In the collection of pharmaceutically active substances and preparations compiled by Dioscurides a description of the metal and several preparations are given. During Medieval times the Hippocratic humoralpathology was the undisputed paradigm of medical diagnosis and therapy. As one of the consequences the caution against preparations containing antimony was strictly observed. Under these circumstances antimony based pharmacy and therapy disappeared completely. The most intense use of antimony and antimony containing compounds as therapeutic agents was initiated by Paracelsus. He had observed the practice of metallurgists to remove impurities of other metals from gold using antimony.6 The impure gold was put on top of an excess of antimonsulfide and the mixture heated in conic vessels. This treatment led to the transformation of the impurities into their sulfides and the formation of two phases, the upper phase containing the sulfides and the bottom phase containing the gold now impure with some antimony. These phases were separated mechanically and the gold was purified from remaining antimony by heating it in an open fire that turned the antimony into its oxide that evaporated from the gold in form of a white fume.7 The observation of these processes sustained the assumption that antimony added to the human body collects the impurities into a separate phase that by leaving the body removes the causes for illnesses. Inspite of the extensive description and discussion8 concerning Paracelsus and his medical perceptions, it has not been commented, that the use of antimony and a therapy by purification equals the abandonment of humoral pathology, since the concept of purification is substantially different from the concept of re-balancing a mixture of four humores. But the reality of the differences is not to be overestimated. While therapy by purification indicates the perception of a far more complex composition of the body than its description by humoralpathology, the factual anatomical and metabolic knowledge of Paracelsus was probably less detailed than the descriptions by authors during antiquity. The humoralpathological therapy by bloodletting was derived only by deductive reasoning, and based solely on the paradigm of four humores.9 In comparison Paracelsus’ use of antimony is based on an observation of cause and consequence. The emetic and purgative effects of antimony suggest the formation of a new phase that is separated from the body, thus antimony seems to act on the body as it acts on gold. But the obviously and strongly different materials and properties of gold and the human body, as between the metallic impurities and the discharged matter from the 6 7 8 9
Written source: Agricola 1537; archaeological findings Soukop 1997. Cf. Trense 1985, pp. 113f. and 145. The literature on Paracelsus is too extensive for a comprehensive survey. Introduction by Benzenhöfer 1997, Rothschuh 1978, pp. 211f. and 264-273; evaluations differing from the one stated in this article Multhauf 1993, pp. 232-236; Trevor-Roper 1990, pp. 79-94. The epistomologic status of humoralpathology and its experimental verification has been subject to an ongoing debate with no conclusive result. For a recent access to literature cf. Chang 2007, pp. 19 and 54.
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human body make the comparison of antimony in metallurgy and in medicine a mere analogy. Analogies are of uncertain reliability. It is as uncertain whether the medical theory of Paracelsus is better sustained by observations than humoralpathology. Paracelsus own suggestion10 about a mechanism or algorithm that links cause and consequence is a reference to the late humoralpathology.11 In summary, Paracelsus does transceed the boundaries of humoralpathology, but this is not accompagnied by an immediate improvement of diagnostic and therapeutic capabilities. The number of antimony containing remedies was large12 and their applications manifold. But inspite of this number, only two did gain importance in therapy. A compound called oleum antimonii and consisting mainly of antimontrichloride SbCl3, prepared and applied first by Paracelsus himself, was used to clean wounds. It functions by generating HCl when it comes in contact with water. Because of its strong acidic character HCl is a potent purifier, but does not discriminate between infecting microorganisms and body tissues of the patient. It was thus of limited use, and did not replace other wound care aids, such as hot oil or alcohol. The most frequently used preparation of antimony was the mixed salt of potassium and antimony with tartrate, KSb(C4H4O6). ½ H2O. It was called tartar emetic and used for a therapy by vomiting and purgative emptying of the intestinal tract. The use of this antimony compound as an emeticum and purgativum developed into one of the most frequently employed therapies for several centuries. The therapy by tartar emetic is again different and identical to the humoralpathological medicine. Because of the low quality of the food, many disorders of health generated from the intestinal tract, and next to bloodletting the clyster was the other most important therapy by Hippocratic physicians. 13 Thus both the Hippocratic and the Paracelsian schools aimed at removing bad food from the body, but used different techniques and different theories to describe and rationalise their therapies. Another noteworthy observation is, that inspite of the various preparations and applications of antimony and especially inspite of its strong purgative effects, no use as an abortivum 14 is known. This is the more 10 Paracelsus, Sudhoff I, p. 41. Paracelsus’ own description of the acting of antimony states that antimony causes the transplantation of man or patient from saturn to venus. The planet Venus is associated with the metal copper. Copper had no application in therapy, and thus the phrase to bring the patient into the planet venus can not be read as an alchemical recipe. It may be read as a reference to the later humoralpathology that combines venus with humidity and modest cold in opposition to hot and dry mercur. The latter causes fever and the patient has to be removed from this sphere to less extreme conditions associated with the name of Venus. 11 The late humoralpathology are many pathologies. There are differing schemes and associations in the medieval humoralpathology. For example, there is also a strong association between female principle and the moon. Lafaille 1990, p. 60. 12 More than 12 recipes by Paracelsus himself, and an increasing number during the early modern era, Trense 1985; see also McCallum 1999, p. 99-102. 13 Cf. Trense 1985, p. 36. 14 Search and use of abortiva is also a constant part of medical history. In antiquity the use of abortiva was accepted practice in groups of high social standing (Riddle 1992, Keller 1988).
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remarkable, since the distinction between purgatives and abortiva was blurred. Such observation has been interpreted as an indication of a strong separation between the spheres of males and females. The male sphere were university trained and antimony using physicians in contrast to pregnant females and their female attendants, who did not come in contact with university medicine and antimony.15 But no use of antimony as an abortivum might also be due to the fact, that antimony has no observed teratogenic or abortive potency.16 The extensive application of tartar emetic was an affront to physicians of the Hippocratic school, since it disregarded Hippocrates’ advice against antimony containing remedies. The centre of the Hippocratic school was the university of Paris. This university achieved a ban from the parliament of Paris on remedies containing antimony. This ban did not result only from the adherence to traditional authorities, but was strengthened by a long list17 collecting the names of victims of antimon-therapy. Antimony was first banned in 1566, and the ban several times reinstituted and officially lifted only in 1666. The supporters of antimony and its pharmaceutical use had a stronghold at the university of Montpellier. The two schools were of similar influence and none could establish its teachings as the major therapeutical practice. Overall the ban did not result in a significant decrease of the consumption of antimony. The chequered reality of the medical discussion and the partial character of this ban is illustrated by the fact that the Paris university also published a catalogue of medical remedies that did contain at least two items whose active ingredient was antimony, and that the ban did not prevent a treatment of the French king by antimony.18 A laboratory most probably active during the 16th century has been discovered in Kirchberg am Wagram, now Austria.19 Among the remains a large number of different laboratory vessels was found that have been used to prepare antimony compounds. But since no written sources in connection with the activities within this laboratory have been found the occupation of this laboratory and its work with antimony can not be reconstructed. During this time the best known book20 on antimony was published in 1604, and republished in several languages throughout the 17th century. Its title reads Triumphant Chair of Antimony, and in the present literature it is considered to be the work of Johann Thölde (1565-1614), a Hessian salinist, who pretended to be the editor of a collection of scripts authored by a Benedictine monk named Basilius Valentinus. This book did collect the knowledge about the preparation of
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During medieval times abortion and abortiva were strictly outlawed. But the practice does show indications of birth or fertility control and the use of contraceptiva, abortiva and also infanticide (Pfister 2006, pp. 35-44). Leibrock 1992, p. 65. Kirk-Othmer 2004, II p. 51. Entitled as the Martyrologium Antimonii; Patin 1710. Therapy of Louis XIV. against a typhoid fever in 1657 by tartar emetic and a lead salt, probably lead acetate, cf. O’Malley 1970. Soukop 1997. For a more complete list of books on this topic see McCallum 1999, p. 23.
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antimony compounds and remedies, mixed with prayers and speculations, how metals and antimony in particular did form in nature. Although it does not enhance the prior knowledge on antimony, it is a rather comprehensive, albeit nonstructured treatment of antimony in medicine. Throughout the 18th century the use of tartar emetic was an established and frequent medical practice. The only change was the introduction of antimony cups that were useful in disguising preparation and application of tartar emetic as consumption of wine. Around 1800 the lectures on chemistry given by Klaproth in Berlin did cover antimony as one of the minor topics. Notes from hearers consistently report, that Klaproth mentioned only one medical use of antimony, that being tartar emetic.21 While no other medical use of antimony is known, at that time the use of tartar emetic was so common, that antimonial and emetic became synonyma. 22 The therapeutical application of antimony as emeticum continued to be applied for another one and a half century. In husbandry the use of Sb2O3 as an additive to fodder is also well attested. 23 The use of antimony lasted into the 1930ies or 1940ies and was so extensive, that both applications of antimony did receive a significant interest in biological and medical research.24 In humans the mechanism of the emetic of tartar emetic was investigated.25 In animals strong anti-parasitical activity of antimony was observed,26 but no enhancement of the metabolism.27 In present medicine antimony is still used but within a rather limited scope of indications. In humans it is employed as an agent against the parasite leishmania, but beginning in 1990 it is substituted by the pharmaceutical agent miltefosine.28 Another present indication is therapy for a few special types of cancer.29 As long as the history of using antimony the discussion about its character as poison or medicament did continue. The very name of antimony may be read as a warning against its use in humans. Among the explanations for the origin of the name of antimony is a tale reporting the efforts of an abbot, who used a preparation of antimony as a remedy to fatten his pigs. Observing satisfying results of this remedy in animals, he extended its application to his monks, who did not fatten but died without exception after the incorporation of the substance. These
21 Klaproth/Barez 1994, Sb 228-34, emeticum, p. 233; Klaproth/Schopenhauer 1993, Sb 112f., emeticum, p. 113. Another well known hearer of Klaproth is Schleiermacher (cf. KGA I 3, p. 103-128). This selection illustrates the change of the participants and hearers in chemistry from nobility to bourgeois. The history of antimony is also an indication of the growing importance and ressources of the Bürgertum in the German society during the 18th century. For a detailed description of this process see Knight 1998. 22 Dickens 1838. 23 Krug 1936, p. 14; Herriot 1970. 24 Contemporaneous monography Schmidt 1937; contemporaneous review Zimmermann 1930. 25 Weiss 1923. 26 Uhlenhuth 1931, Uhlenhuth 1931b, Zimmermann 1930. 27 Trottenberg 1935. 28 Eibl 2000. 29 Duffin 2002.
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anti-monachial features of the remedy caused the name of its active ingredient to become antimoine or antimony.30 The medical authors during antiquity judged, that the benefits of antimony were strongly outweighed by the risks. Paracelsus assumed antimony to be a poison. His recommendation of antimony was not a recommendation of the real metal found in ore mines. This was only the basis of an antimony that had to be set free by the actions of the pharmacist. The pharmacist had to remove the original qualities of the living antimony and to concentrate and purify its therapeutic potentials, so that the poison is changed into a medicament. The reasoning and the description given by Paracelsus do not disclose information, whether Paracelsus refers to the strongly toxic impurities of arsenic in crude preparations of antimony that where removed in refining processes, or whether he concluded the living antimony as a threat to the health of the patient because of alchemistial speculations. Contradicting observations, mixed with arguments born from different ways of describing world and man resulted in an unclear situation that did not allow for any reliable decision concerning antimony therapy. In fact, antimony is as poisonous as the other elements in the group, including arsenic, but its resorption from the intestinal tract into the body is slow and incomplete, thus the harmful potency of antimony does not unfold.31 The chemical concepts and the physiological knowledge to describe the actions of antimony in the human body sufficiently to adjust the use of antimony was accumulated only during the early 20th century. During this time there were also agents developed superior by potency and diminished side effects, so that antimony almost disappeared from the list of therapeuticals. 2. LEIBNIZ AND ANTIMONY Known remarks of Leibniz concerning antimony and its medical applications are presently32 two. The first occurs in the manuscript LH III 1,3 Bl. 1-8. This manuscript was probably written in 1671 during Leibniz’ stay in Mainz.33 The text is predominantly in German language, with a few Latin interruptions. Leibniz collects various observations, comments and advice relevant to further development of medical diagnosis and therapy, and also to existing or suggested social institutions that influence health care. The text of this manuscript is not structured in any way, but 30 Pomet 1717, p. 727; reported in MacCallum 1999, p. 8. The name antimony appears almost 200 years before any textual witness of this story, thus it is probably anecdotal. 31 Browning 1969. 32 The scientifical, medical and technical writings of Leibniz have received only minor attention. The present state of knowledge is certainly subject to improvement. 33 The manuscript is published in Hartmann 1976, pp. 50-68. These authors date the manuscript to 1671/72 (loc. cit., p. 40). The manuscript is also in preparation for publication by the Leibniz edition, Reihe VIII. Since during this work no literature quoted by Leibniz after 1671 was found, the writing of the Directiones was dated at the end of 1671.
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lists randomly many different snippets. Among them is the suggestion to investigate, whether antimonachales antimonium crudum (LH III 1,3 Bl. 4r) can be used as a means to fatten not only animals, but also humans. Probably because of being aware of the tale concerning the abbot and the unfortunate course of his efforts to fatten monks employing antimony, Leibniz adds that such efforts have to start like a cure with gradually increasing doses. But he does not elucidate the exact procedure of the suggested experiments, neither the start dose nor the conditions of terminating the administering of antimony. Leibniz did not state the source from which he learned the fattening or deadly properties of the antimonium crudum. This is dissatisfying, since no evident source can be detected. The only known printed source of the tale of antimonial antimony is Pomet in 1717. 34 Printed before the time Leibniz did prepare the manuscript was the book by Thölde. But Thölde does not report the deceased monks. He only stresses the need to adjust the dose of applied antimony to the physical circumstances of the recipient. Thölde is not a probable source for Leibniz’ knowledge and suggestions concerning antimony. The most influential books on pharmaceutics during the time of Leibniz were two compendia authored by Zwelfer and an apothecary by Schröder.35 From other manuscripts in preparation for edition several references to the books by Schroeder and Zwelfer are known. But in none of these books the tale about the unfortunate monks is printed. A third possible source is the practice of a pharmacist or physician. Apothecaries and physicians’ therapeutic journals from Mainz or Berlin during 17th century are not available. An elucidation of Leibniz’ sources were a step towards a description of the scope of Leibniz’ reconnaissance and of his response to the observed data. The identification of the compound that Leibniz referred to by the name of antimonium crudum is not trivial. For early alchemists antimonium crudum is the substance that is extracted from the ore by heating. This is in chemical notation antimonysulfide Sb2S3. But later the name antimonium crudum refers to the metal itself. The change occured towards the end of the 18th century. The situation becomes more confused by the fact that the compound that was later used in animal husbandry is antimony(III)-oxide Sb2O3. If Leibniz quotes from the book of Thölde, then by antimonium crudum he refers to the sulfide. Zwelfer and Schroeder identify the antimonium crudum with the sulfide, and Pomet in 1717 still refers to the product from the ore as rohes antimonium. Thus it is fairly unambiguous that Leibniz’ antimonium crudum refers to the sulfide. This is important since the sulfide is obtained with less labour and resources than the oxide and Leibniz’ plans for fattening people take a more pragmatic character. Leibniz’ approach to antimony-based treatments in the early manuscript has the characteristics of a search for an empirically based description of an algorithm 34 Pomet 1717, p. 727; the french original published in 1694. Besides the date Leibniz refers to horses and pigs as beneficiaries of antimony, while Pomet mentions only pigs. 35 Some of the editions given in the bibliography as Zwelfer resp. Schröder. Compared to the importance of the books, the attention (Kaiser 1975, Gizycki 1952) they have received by historians is insufficient.
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between a cause and its consequences. But these efforts did not reach to the design of performable experiments. The second remark on antimony occured in an article36 published in 1710. Herein Leibniz proposed solutions to several enigmata concealing the description of therapeutica. In contrast to the earlier manuscript Leibniz mentions several of his sources. These included the pharmaceutica tirocinia by Beguin,37 and the book by Thölde. Leibniz considered this book to be authored by Thölde. Leibniz’ reasons for this attribution were two. No historical person by the name of Basilius Valentinus can be found, and the words basilius valentinus can be read as King or gold of health.38 This rationale indicates some blanks in Leibniz’ knowledge. The writings are strongly influenced by Paracelsian thought and thus can not be written during the early 15th century. Either Leibniz’ acquaintance with Paracelsian medicine is insufficient or he did not recognise the difference between Hippocratic and Paracelsian medical theory. Also, the combination of the two books by Beguin and Thölde is remarkable. By historians of medicine or science these books have received contrarious evaluations. Beguin’s book is considered to be a major step within the development of modern chemistry, exhibiting the first depictions of chemical reactions by simple and standardised schemes. Thölde’s book is considered to be a late alchemical text, one of the last products of a way of thinking whose theories were incompetent towards a perception and conclusive integration of phenomena. This contrast was probably not as evident to the contemporaries. Thöldes book was republished in Latin after translation by P.J. Fabri (Toulon 1646) and in English with annotations by Th. Kirkringius (London 1678). Thus it was received in the contemporarian scientific community as a worthwhile contribution. Leibniz did report,39 that Beguin’s book was introduced to Magdeburg and Berlin by a show including some standard alchemical procedures or spectacles as the making of gold. Thus the substantial difference between these two books did escape the notice of the contemporaries. This is in concordance with the absence of any comment of this kind by Leibniz in his article. In the article the compound vitrum antimonii is mentioned twice. It is involved in the gold making process, and it is the therapeuticum that is veiled in a riddle printed in the book of Thölde. At both occasions Leibniz does not give any information or comments concerning the composition, preparation and application of this compound. That denotes some contrast to another assumed pharmaceutical mentioned in this article. From the reading of the words basilius valentinus as king or gold of health Leibniz drew the conclusion that the subject of Thölde’s book is the miraculous lapis Philosophorum and the subject of this book. Leibniz then describes the procedure of preparation and the composition of this species. That is followed by a strong rejection of such an enterprise, calling it damnosum. 36 37 38 39
Leibniz 1710. Beguin 1611; quotation in Leibniz 1710, p. 16. Leibniz 1710, p. 17. Leibniz 1710, p. 16f.
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The reason for this rejection is not the unprooven therapeutical quality of such a lapis Philosophorum, but the perturbations of an unlimited supply of gold to the commercial life of man. The reflections on this stone are completed by a comparison to the preparation and credibility of other (al)chemical procedures. This extensive description of the philosopher’s stone marks a conspicuous contrast to the negligence of the antimony compound. The absence of any remark concerning the reality of vitrum antimonii or any other antimony compound in the medical world of Berlin has a counterpart in other sources. Although no complete list of chemicals describing the stocks of pharmaceuticals available in Berlin at the time of Leibniz is available today, some fragments are collected in a history of the Schloßapotheke,40 the pharmacy within the residence of the Prussian electorals and kings at Berlin. These selections do not list any item made from antimony or any metal-based therapeutica in general. The largest number of pharmaceutical remedies is herbal or of herbal origin, and either not processed at all, or prepared by a simple one step procedure, such as extraction or grinding. The remaining pharmaceuticals are of animal origin. From these lists the presence of antimony based pharmaceuticals in Berlin at the time of Leibniz can not be attested. In the article of 1710 Leibniz exhibits an indifference to the subject of antimony based pharmaceuticals. Even taking into account that the subject and intention of the two texts by Leibniz are different, the conclusion is that the paper in 1710 is not an implementation of the program in 1668. The edition of Leibniz contributions to sciences, medicine and engineering is set to encounter unexpected developments. LITERATURE Agricola 1537: Agricola, Georg: Bermannus sive de re metallica, Basileae, mehrere Neuauflagen und Bearbeitungen. Beguin 1611: Beguin, Jean: Tyrocinium chymicum et naturae fonte et manuali experientia depromptum, Köln. Benzenhöfer 1997: Benzenhöfer, U.: Paracelsus, Hamburg. Browning 1969: Browning, E.: Toxicology of Industry metals, New York 21969. Chang 2007: Chang, Hui-Hua: Rationalizing Medicine and the Social Ambitions of Physicians in Classical Greek, in: Journal of the History of Medicine and Allied Sciences, online publication, http://jhmas.oxfordjournals.org/cgi/content/full/jrm028v1; [last access 2008.02.25]. Debus 2000: Debus, Allen G.: Antimony in Medical History: An Account of the Medical Uses of Antimony and Its Compounds since Early Times to the Present (review), in: Bull Hist Med 74, 2, pp. 362-364 (Review of McCallum 1999). Debus 1991: Debus, Allen G.: The French Paracelsians, Cambridge. Dickens 1838: Dickens, Charles: Oliver Twist, London. Duffin 2002: Duffin, Jacalyn and Barbara G. Campling: Therapy and Disease Concepts: The History (and Future?) of Antimony in Cancer, in: Journal of the History of Medicine and Allied Sciences 57, 1, pp. 61-78.
40 Hörmann 1898.
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BEITRÄGE ZUR ALEXANDER-VON-HUMBOLDT-FORSCHUNG
Ottmar Ette
NACH DER KEHLMANNISIERUNG ÜBERLEGUNGEN ZU EINEM BESTSELLER UND DANIEL KEHLMANNS VERMESSENER WELT Es geht um die Frage: was heißt Deutschsein? In aller Größe und Komik, die dieses Deutschsein ja auch immer wieder hat. Und diese gleichzeitig auch – gerade im öffentlichen Leben – immer präsente Hysterie. Mein Humboldt ist ein Paradebeispiel eines verdrängenden Hysterikers. Und das andere ist die Frage: Was tut Wissenschaft der Welt an? Niemand könnte mit gutem Gewissen sagen, dass wir Wissenschaft nicht haben wollen. Aber gleichzeitig wurde die Welt durch die Vermessung viel weniger poetisch, auch weniger schön. Und die Gewalt der Wissenschaft bekommt natürlich eine ganz erschreckende, überhaupt nicht zu Ende gedachte Dimension mit dem, was wir der Welt durch die Kernspaltung antun.1
Mit diesen Worten umschrieb der 1975 in München geborene und in Wien aufgewachsene Schriftsteller Daniel Kehlmann in einem Interview im September 2005 die Zielsetzung seines wenige Tage zuvor erschienenen Romans Die Vermessung der Welt. Noch ein Roman über deutsche Befindlichkeiten? Und gleich ein wissenschaftskritischer dazu? Das Publikum jedenfalls reagierte auf den Spitzentitel des Rowohlt-Verlages prompt: Geradezu hysterisch wurden stapelweise Exemplare des Bandes verkauft, weit über eine Million Exemplare wurden allein im deutschsprachigen Raum bis heute abgesetzt; Übersetzungen in 30 Sprachen liegen bereits vor oder sollen geplant sein. Bis Ende 2005 trat Kehlmann über vierzigmal öffentlich auf, um sein Werk vorzustellen: Die Kritik jubelte, unzählige Interviews und eine Vielzahl literarischer Ehrungen und Preise folgte. Wenn auch ein Blick in die ausländischen – und insbesondere die spanischsprachigen – Feuilletons zeigt, dass nicht überall die Veröffentlichung des Romans euphorisch begrüßt wurde, so lässt sich doch nicht leugnen, dass die Größe des Erfolgs zumindest im deutschsprachigen Raum kaum zu (v)ermessen war. Ebenso nüchtern wie treffsicher zog Alexander Cammann – als einer der wenigen Feuilletonisten, die sich von der allgemeinen Kehlmann-Hysterie nicht anstecken ließen – ein gutes Jahr später seine persönliche Bilanz: „Ebendort stößt man auf Kehlmanns monatliche Kolumnen über seine Lieblingsbücher, überall auf seine Dankreden für die auf ihn niederpurzelnden Preise, auf ganzseitige Interviews und Essays – diesem neuen Großschriftsteller kann man nirgendwo entkommen. Die flächendeckende Kehlmannisierung des deutschen Feuilletons dürfte der wichtigste kulturelle Trend des Jahres 2006 gewesen sein.“2
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Kehlmann, Daniel: Die Größe und Komik des Deutschseins. Interview mit Kirsten Schmidt, in: Hamburger Morgenpost (Hamburg) (29.9.2005). Cammann, Alexander: Intelligenz ist gut, Entspannung möglich, in: taz (Berlin) (7.12.2006); www.taz.de/pt/2006/12/07/a0197.1/textdruck. Ich danke Yvette Sánchez für den frühen Hinweis auf diesen Artikel.
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Wie lässt sich das „Phänomen Kehlmann“ aus etwas größerer Distanz, zwei Jahre nach der Erstveröffentlichung des Romans (um den es heute deutlich stiller geworden ist), erklären? Im Zentrum des Romans stehen zwei Heroen deutscher Wissenschaft: Carl Friedrich Gauß, der freilich alleine „nicht genug für einen Roman“3 hergegeben hätte, und Alexander von Humboldt, der Kehlmann auffiel wegen seiner „unfreiwilligen Komik: Wie ein Mann in preußischer Uniform den Orinoko befährt, dabei immer Deutschland mit sich trägt und von einer ganz erstaunlichen Humorlosigkeit ist bei aller Genialität“.4 Das Erfolgsrezept ist also ein erzähltechnisch robuster Zweitaktmotor: Ein Reisender und ein Daheimgebliebener, ein Medienstar seiner Zeit und ein öffentlichkeitsscheuer verschrobener Kauz, ein Feldforscher und ein Theoretiker bilden ein Kontrastprogramm, das der Autor virtuos und witzig über 303 Seiten oder – in der Hörbuchfassung – fünf nicht gerade preiswerte CDs abspult. Kein Zweifel: Daniel Kehlmann ist ein großer Coup gelungen. Aber ist es auch ein großer Wurf? Der junge Autor, der zum Zeitpunkt der Niederschrift seines Romans so alt war wie Alexander von Humboldt bei seinem Aufbruch in die Neue Welt, hat eine Gelehrtensatire vorgelegt, ein Genre, das schon immer bei den Lesern hoch im Kurs stand, um später nur allzu leicht in Vergessenheit zu geraten. Gelegenheitsliteratur also? Nein, eher eine gelehrte Satire mit Anspruch auf Breitenwirkung und Bestseller-Status. Die Vorteile der Gattung Gelehrtensatire liegen auf der Hand: Größen der Geschichte werden leicht aufs Menschlich-Allzumenschliche reduziert, Götter der Wissenschaft gehen ihrer Unnahbarkeit verlustig, schwerfällige Theoretiker kommen wunderbar luftig und lustig daher. Man glaubt es dem Autor gerne, dass ihm ein Roman, der so vielen Lesern Freude bereitet, auch beim Schreiben schon Spaß gemacht hat.5 Sicherlich auch – und dies nicht nur in den zahlreichen Interviews – danach. Der Erfolgsautor, bei Kritikern wie Lesern dank seiner Fähigkeit beliebt, mit komplexen Gegenständen zwanglos und unterhaltsam zu hantieren, weiß um die Vorzüge des von ihm gewählten Genres. Er nutzt sie vom ersten Satz an, wenn er den „größte[n] Mathematiker des Landes“ im September 1828 widerwillig nach Berlin aufbrechen lässt, um der nachdrücklichen Einladung Alexander von Humboldts zum Deutschen Naturforscherkongress Folge zu leisten. So weit, so historisch. Gleich jedoch wird das Lesepublikum Zeuge, wie sich „Professor Gauß im Bett“6 versteckt, an sein Kissen klammert und versucht, durch das Schließen seiner Augen die lästige Wirklichkeit zum Verschwinden zu bringen. Genauso hatten wir uns Gauß zuhaus’ immer schon vorgestellt. Der selbstverständlich wirklichkeitsferne Wissenschaftler, der noch in der Hochzeitsnacht mit Formeln ringt, 3 4 5 6
Kehlmann (wie Anm. 1). Ebd. Kehlmann, Daniel: Mein Thema ist das Chaos. Ein Spiegel-Gespräch mit Matthias Matusek, Matthias Schreiber u. Olaf Stampf, in: Der Spiegel (Hamburg) (5.12.2005), S. 175. Kehlmann, Daniel: Die Vermessung der Welt. Roman, Reinbek bei Hamburg 2005, S. 7.
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bringt die Wirklichkeit trotz aller Krümmungen des Raumes freilich nicht zum Verschwinden. Überhaupt diese Wirklichkeit. An ihr arbeiten sich in Kehlmanns Roman die Helden des Wissens ab. Wir sehen – gleichsam in der Rolle der Zuschauer beim Schiffbruch und damit auf der Ebene einer viel erprobten Daseinsmetaphorik7 – dem ungleichen und sich doch ergänzenden Wissenschaftlerpaar dabei genüsslich zu. Die Welt stellt sich ihnen in den Weg, versperrt sich ihrem Verstehen, lässt alle Wissenschaft und Lehre ins Leere laufen. Doch je mehr sich die Welt den Gelehrten entzieht, umso heftiger versuchen sie, sich mit ihr zu messen, und das heißt in diesem Roman: sie zu vermessen. Kehlmann greift hier mit Blick auf den Verfasser der Ansichten der Natur zu einer abgegriffenen Münze, die Friedrich Schiller einst in einem Brief vom 6. August 1797 an Christian Gottfried Körner gegen Alexander von Humboldt in Umlauf gesetzt hatte: „Über Alexanders habe ich noch kein rechtes Urtheil; ich fürchte aber, trotz aller seiner Talente und seiner rastlosen Thätigkeit wird er in seiner Wissenschaft nie etwas Großes leisten. [...] Es ist der nackte, schneidende Verstand, der die Natur, die immer unfaßlich und in allen ihren Punkten ehrwürdig und unergründlich ist, schamlos ausgemessen haben will und mit einer Frechheit, die ich nicht begreife, seine Formeln, die oft nur leere Worte und immer nur enge Begriffe sind, zu ihrem Maßstabe macht. Kurz, mir scheint er für seinen Gegenstand ein viel zu grobes Organ, und dabei ein viel zu beschränkter Verstandesmensch zu sein.8
Eine ebenso irrige wie abgeschmackte, so oft schon widerlegte Auffassung? Gewiss. Doch der junge Romancier, es deutete sich bereits an, ist selbstbewusst und verspürt keinerlei Angst vor Klischees. Schillers schneidendes und immer wieder kolportiertes Urteil ist bis in den Titel hinein Stichwortgeber für Daniel Kehlmanns fünften Roman. Dabei bleibt der Dichter stets im Hintergrund, so wie er im Roman auch nur „verstohlen“ gähnt, als Wilhelm von Humboldt im Kreis der „Klassiker“ über die „Vorteile des Blankverses“9 referiert und räsoniert. Eben hier aber liegt jener Punkt, von dem aus Daniel Kehlmann die beiden Wissenschaftsheroen aus den Angeln zu heben und einem befreienden Lachen der Literatur auszusetzen sucht. Schillers Zeilen, von denen Humboldt erst Jahrzehnte später erfuhr und die mehr über den Autor des Wilhelm Tell als über jenen des Kosmos sagen, schwellen in einer Gestik der Überbietung zu einem Roman an, in dem Humboldt wie Gauß ihr Fett – will sagen: ihre Maß-Regelung – abbekommen. Literarisch, versteht sich. Ein gefundenes Fressen also für einen, der zu erzählen versteht. Und dies ist bei Daniel Kehlmann zweifellos der Fall. Leicht sei ihm dieses Schreiben gefallen, und viel gelacht habe er dabei. Köstlich in der Tat die Szene, in der Alexander von Humboldt am Orinoko von einem der Ruderer gebeten wird, doch etwas zum Besten zu geben. Geschichten könne er keine, so Humboldt, denn er möge das
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Vgl. hierzu Blumenberg, Hans: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt a.M. 1979. Schiller, Friedrich: Brief an Christian Gottfried Körner vom 6. August 1797 aus Jena. Kehlmann (wie Anm. 6), S. 37.
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Erzählen nicht. Aber er könne „das schönste deutsche Gedicht vortragen, frei ins Spanische übersetzt.“ Wir kennen es alle: „Oberhalb aller Bergspitzen sei es still, in den Bäumen kein Wind zu fühlen, auch die Vögel seien ruhig, und bald werde man tot sein. Alle sahen ihn an. Fertig, sagte Humboldt.“10
Diese Passage ist nicht nur köstlich, sie ist auch charakteristisch für Kehlmanns Verfahren. Man nehme das althergebrachte Klischee, demzufolge Alexander von Humboldt für Literarisches wie für Künstlerisches gänzlich unsensibel gewesen sei, spitze es genüsslich zu und übergehe geflissentlich nicht nur Goethes Respekt vor den erzählerischen Fähigkeiten des Jüngeren der beiden Humboldt-Brüder, sondern auch den heutigen Kenntnisstand: so wird Alexander von Humboldt abgefertigt und fertig gemacht: der Autor des Kosmos, ganz einfach ein literarischer Vollidiot. Goethes Gedicht wird hier übersetzt, aber nicht ins Spanische, sondern in eine gänzlich unpoetische, unschöne Sprache: ein Wissenschaftler eben – man hätte es sich ja denken können. Kehlmann hantiert ganz unverkrampft mit Klischees und Stereotypen ebenso auf der Seite der historischen Rezeption wie der gegenwärtigen Gesellschaft. Schiller hatte also doch recht: nichts als Formeln und leere Worte bei Alexander von Humboldt. Anders als beim Dichter spürest Du hier von einer Sprachkunst keinen Hauch: „Die Vöglein schweigen im Walde!“ Dass es sich hier um eine Übersetzungsszene handelt, ist keineswegs ein Zufall. Doch hier wird nicht Goethes Gedicht Opfer einer Humboldtschen Übersetzung, sondern Humboldt zum Opfer eines rastlos in Klischees und Stereotype jedweder Provenienz übersetzenden Kehlmann. Diese humorvoll und etwas bösartig eingefädelte Szenerie bringt mehr als den traduttore traditore zum Vorschein. Denn die Übersetzungsszene führt im Kern das literarische Verfahren des Autors selbst vor, bei dem es sich um eine Art von Kernspaltung handelt, die nicht ohne Gewalt, ohne Brutalität abläuft. Sehen wir uns dies näher an. Daniel Kehlmanns neues Buch greift auf das alte, spätestens seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gepflegte und lange Zeit vorherrschende (und daher bis heute diffus beim deutschsprachigen Lesepublikum abrufbare) Bild Alexander von Humboldts zurück. Kaum ein Gemeinplatz, der unbesucht bliebe und in Kehlmanns Interviews nicht noch verstärkt, in der für ihn typischen Art pointiert und auf die Spitze getrieben würde. Ein kleiner Auszug, der sich leicht vermehren ließe, mag dies belegen: Humboldts Kosmos? „Völlig unlesbar! Ein Albtraumbuch!“ 11 Das Menschenbild des stets allein Lebenden? Ganz klar: „er versteht zwar die Menschen nicht, aber er bemüht sich wenigstens, auf sie zuzugehen.“12 Menschliche Regungen des „Verstandesmenschen“? „Humboldt ist fast unfähig, Gefühle auszudrücken – und wenn überhaupt, dann nur gegenüber Pflanzen und Tieren.“13 Humboldts Wissenschaft? Kehlmann weiß zu berichten, dass der Weltreisende „ja gar keine wichtige Entdeckung gemacht hat und kein Wissenschaftler 10 Ebd., S. 128. 11 Kehlmann, Daniel: „Ich kann nicht rechnen.“ Interview mit Klaus Nüchtern u. Klaus Taschwer, in: Falter (23.9.2005), S. 2; http://www.falter.at/web/print/detail. php?id=148. 12 Kehlmann (wie Anm. 5), S. 174. 13 Ebd.
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ersten Ranges“14 war. Und überhaupt: „er hat diesen ewigen Vermessungswahn – auch dort, wo es überhaupt nicht nötig ist.“15 Die Bilanz? „Fertig, sagte Humboldt.“ Gerade mit Blick auf Humboldt hat Kehlmann – wie er in seinen Interviews und Stellungnahmen zu betonen nicht müde wird – intensiv recherchiert, habe er doch „sehr, sehr viel gelesen – was allerdings zu bewältigen war, weil es über Humboldt sehr viele Abhandlungen gibt, die einen Überblick herstellen“16. Kein Zweifel: Diese Lektüren waren für Kehlmann höchst ertragreich. Denn es wäre ein Leichtes, die vielen von ihm aus der älteren Humboldt-Literatur bezogenen Klischees in ihren jeweiligen Quellen nachzuweisen und aufzuzeigen, in welchem Maße diese Arbeiten als Steinbrüche für Episoden, Anekdoten und Einsichten genutzt wurden. Kehlmann hat diese über lange Jahrzehnte in der HumboldtLiteratur mitgeschleppten Kerne gespalten, neu verdichtet und pfiffig in seinen Roman eingebaut, mithin in Romanhandlungen übersetzt. Das ist die Kernenergie, die den Roman vorantreibt. Ein sehr effizientes Umschreiben, denn es lässt nicht nur die alten Bilder wiedererstehen, es bedient auch die mehr oder minder verbreiteten Erwartungshaltungen, die sich gerade im deutschsprachigen Raum jahrzehntelang einer nicht nur wissenschaftsgeschichtlich, sondern vor allem politisch bedingten (und repressiven) Ausgrenzung des allzu weltbürgerlichen und frankreichfreundlichen Alexander von Humboldt verdanken. In diese Tradition, die schon immer das weltoffene und zutiefst emanzipatorische Humboldtsche Denken zu vernebeln und als „unleserlich“ abzutun suchte, schreibt sich Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt ein. Deshalb musste der kehlmannisierte Humboldt vielen Leserinnen und Lesern auch so vertraut erscheinen. Im Zentrum dieses sattsam bekannten Abzieh-Bildes, dessen Kehlmann sich bediente, aber steht das Scheitern Alexander von Humboldts und zugleich das Scheitern seiner Art, Wissenschaft zu betreiben. Kein Wort darüber, dass Humboldt immer wieder selbstironisch mit der Vorstellung des Scheiterns gespielt und sein eigenes Scheitern hintergründig inszeniert hat, insofern er betonte, dass er weder den Gipfel des Chimborazo noch die Tiefen der Höhle des Guácharo noch den Abschluss seines gewaltigen Reisewerkes je erreichte. Keine Rede ist von der schriftstellerischen Sensibilität, mit der Humboldt in französischer wie in deutscher Sprache experimentelle Schreib- und Buchformen schuf. Keinerlei Erwähnung der Tatsache, dass Humboldt selbst sich bei aller empirischen Fundierung seiner Forschungen vehement gegen jedwede Wissenschaft wandte, die sich auf ein bloßes Messen und Vermessen, auf ein geduldiges Fliegenbeinzählen beschränkt. Kein Gedanke daran, dass die Humboldtsche Wissenschaft und ihr Verständnis der Moderne etwas mit uns heute noch zu tun haben könnte. Dafür eine Anthologie gängiger Gemeinplätze, vorzüglich in leichtes, buntes Erzählpapier eingewickelt.
14 Kehlmann (wie Anm. 11), S. 2. 15 Kehlmann (wie Anm. 5), S. 177. 16 Kehlmann (wie Anm. 11), S. 2.
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Für Humboldt gilt, was Kehlmann mit Blick auch auf Gauß sagte: „Im Dienste der Wahrheit musste ich eben hie und da die Richtigkeit manipulieren.“17 Verbunden mit der Hoffnung, dass durch die schriftstellerische Arbeit „gemeinhin verschwiegene oder übersehene Wahrheiten sichtbar werden“18. Zeigt uns der Autor, im Dienste der Wahrheit, mithin Humboldt und Gauß, wie sie wirklich waren? Daniel Kehlmann hält mit guten Gründen in seinen Interviews immer wieder an dieser Behauptung fest, bildet sie doch auch die Grundlage für seinen Bucherfolg: nur der Anspruch, die gleichsam „verborgene“ Seite beider Wissenschaftler zu zeigen, kann ein großes Lesepublikum dank des Anreizes und der Verlockung gewinnen, anstelle der vermeintlich nur schwer lesbaren und unverständlichen wissenschaftlichen Werke ein noch tieferes Verständnis beider Forscher auf nur wenigen Seiten geboten zu bekommen. Ein Schnellkurs in Sachen Humboldt und Gauß, zugleich aus einer überlegenen, der Wissenschaft gegenüber kritisch-ironischen Position: dies ist die Formel, die werbewirksam im Zentrum des Erfolgsrezepts von Die Vermessung der Welt steht. Doch nichts Verborgenes, sondern nur Verbogenes wird offeriert. Gewiss: Daniel Kehlmann hat – wie er dies auch selbst immer wieder betonte – viel gelesen. In den zahlreichen Interviews wird die Gelehrtensatire mit ihren vielen vergnüglichen Passagen und ihrer flotten Schreibe zu einer Recherche umstilisiert, die sich auf die Suche nach den wissenschaftlichen Zusammenhängen und Hintergründen begeben habe. Die Fiktionalität wird spielerisch so sehr mit scheinbarer Faktizität verquirlt, dass zumindest einem Publikum, das weder mit Gauß noch mit Humboldt vertraut ist, Authentizität vorgegaukelt werden kann. Mag Daniel Kehlmann zweifellos auch viel recherchiert haben: ausgedehnte Lektüren von Texten aus der Feder Humboldts dürften wohl kaum dabei gewesen sein. Wie denn auch? Kehlmanns Interviews lassen die anvisierte Leserschaft nicht im Zweifel: Humboldts Schriften seien doch ohnehin allesamt unlesbar! Ein Albtraum! Der Autor ist daher gewitzter vorgegangen und hat Zeit gespart, indem er sich Humboldt gewidmete (und zumeist ältere) Abhandlungen vornahm, die ihm einen schönen Überblick verschafften und mit vielen hübschen Anekdoten aus zweiter und dritter Hand versorgten. Das aber, so möchte man dem Proust-Liebhaber Kehlmann zurufen, ist keine Recherche nach der vergangenen, nach der verlorenen Zeit, sondern nichts anderes als bei der Recherche verlorene Zeit – wenn man hier denn überhaupt von Recherche sprechen will. So hat sich die Gelehrtensatire, die mit ihren historischen Figuren lustvoll Schabernack treibt, klammheimlich die Kleider des historischen Romans übergeworfen und mehr noch die Requisiten einer Doppelbiographie ausgeliehen. Wo man soeben noch glaubte, man habe es mit der Fiktion von Wirklichkeit zu tun, suggeriert einem die Stimme des Übersetzers aus der Gauß- und Humboldt-Literatur
17 Kehlmann (wie Anm. 5), S. 175. 18 Kehlmann, Daniel: „Wie ein verrückter Historiker.“ Interview mit Daniel Kehlmann, in: Volltext; www.volltext.net.
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eindringlich, man habe wahrhaftig vor Augen, wie es wirklich gewesen sei. Eine Suggestion, deren Kraft unbestreitbar und höchst erfolgreich war. Nun könnte man sich ja damit zufrieden geben, dass niemand einem Autor Glauben schenken muss, der von sich behauptet, eine verborgene Wahrheit aufgedeckt zu haben. Es wäre gewiss schlimm genug, würde ein größerer Teil der Leserschaft – und viele Rezensionen lassen darauf schließen – wirklich glauben, in Die Vermessung der Welt einen Blick hinter die Kulissen werfen zu können und dem eigentlichen, dem „wahren“ Gelehrten zu begegnen: wie er sich schon in der Eingangsszene an seinem Kissen festhält, um nicht nach Berlin fahren zu müssen. Doch uns beschleicht ein noch schlimmerer Verdacht: vielleicht glaubt der reale Autor Daniel Kehlmann ja wirklich an das, was er sagt, und hält seinen Roman für eine Untersuchung mit den Mitteln der Literatur. Warum sollten wir den Autor nicht seinem Wahn überlassen? Immerhin hat uns dieser einen Roman beschert, der vergnüglich und rasch zu konsumieren ist und dank seines rastlosen Exerzierens mit der indirekten Rede ein wahres Exerzitium des Konjunktivs bietet. Überhaupt könnte Die Vermessung der Welt künftig weltweit dazu dienen, all jenen, die Deutsch lernen, die Formen der indirekten Rede nahezubringen. Vielleicht könnte dieser Unterhaltungsroman der indirekten Rede – um einer noch größeren Hoffnung Ausdruck zu verleihen – auch dazu beitragen, dass sich ein breiteres Lesepublikum nicht nur mit Carl Friedrich Gauß und Alexander von Humboldt, sondern mit der Wechselbeziehung zwischen Wissenschaft und Literatur intensiver auseinandersetzt. Freilich gilt es dabei zu bedenken, dass sich dieser Bestseller wohl kaum in einen Longseller verwandeln wird – allzu sehr setzt er auf die leichte Kost rasch erzielter Effekte – und diese werden wohl kaum sehr lange anhalten. Die Vermessung der Welt lässt sich aus der hier gewählten Perspektive verstehen als das Ergebnis einer intensiven Kannibalisierung von Wissenschaft: Der Roman hat sich eine kleine Bibliothek von Literatur über Humboldt einverleibt, sorgsam nach erzählerisch Verwertbarem durchforstet. Eine derartige Fragestellung ist legitim, keine Frage. Allerdings sollte uns die Einverleibung so zahlreicher Abhandlungen nicht glauben machen, dass wir zwischen den Buchdeckeln oder in den Interviews etwas Konsistentes – geschweige denn etwas Neues – über Gauß oder Humboldt erfahren könnten. Vielmehr steht zu befürchten, dass manche der Stereotypen, die man doch schon längst verbraucht wähnte, nun wieder fröhlich in der Öffentlichkeit zirkulieren werden. Die Eigennamen der beiden deutschen Forscher dienten nur dazu, einen biographischen Pakt mit dem Leser zu schließen: Lies mich, denn ich berichte Unerhörtes von beider Leben! Umso wichtiger wäre es daher, der Falle zu entgehen, in die der Autor selbst tappte: die Namen seiner Figuren mit den Menschen zu verwechseln und am Ende – wie es die Kehlmannschen Interviews dokumentieren – selbst daran zu glauben, der Wahrheit die Ehre gegeben zu haben. Den besten Schutz vor dieser Falle bieten die Werke der Forscher selbst. Und darin liegt eine wirkliche Hoffnung: dass zumindest ein Teil der Leserschaft Interesse nicht an den hysterischen, sondern an den historischen Figuren entwickelt und sich im Falle Humboldts auf eine Entdeckungsreise durch die Werke eines der großen
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Autoren und Denker des 19. Jahrhunderts einlässt. Sollte sich diese Hoffnung und nicht die begründete Befürchtung erfüllen, dass es zumindest in der deutschsprachigen Öffentlichkeit bald schon eine flächendeckende Renaissance der abgeschmacktesten Vorurteile und Halbwahrheiten geben könnte, die sich zum Teil schon zu Lebzeiten Humboldts auszuprägen begannen – und die es hier nicht auch noch durch zusätzliche Erwähnung zu befördern gilt –, dann könnte man dem Autor Kehlmann ein Buch verzeihen, das künftig wohl vorwiegend für rezeptionssoziologische Untersuchungen von einigem Interesse sein könnte. Wie schnell derartige Romane wieder in Vergessenheit geraten, mag das Schicksal eines Textes zeigen, auf den vor kurzem Ingo Schwarz aufmerksam gemacht hat.19 Denn noch zu Lebzeiten Alexander von Humboldts hatte der heute längst vergessene Eugen Hermann von Dedenroth in seiner Novelle mit dem vielsagenden Titel Ein Sohn Alexander’s von Humboldt oder der Indianer von Maypures den Verfasser des Kosmos zum Helden einer Fiktion gemacht. Unter dem Pseudonym Eugen Hermann hatte der junge Offizier und Autor, der als Literat später durchaus große Erfolge feiern durfte, nicht nur auf einige berühmte Episoden der Amerikareise Humboldts, sondern auch auf manche Gerüchte zurückgegriffen, die Humboldt im südlichen Amerika – und dies mitunter bis heute – einen illegitimen Sohn andichteten. Schon 1858 findet sich folglich jene Rezeptur, die auf der Vermischung von Tatsachen, Lektüreerinnerungen, Gemeinplätzen und Gerüchten basiert, auf der – wenn auch in etwas kunstvollerer Manier – Daniel Kehlmanns Roman beruht. Auch das Kalkül, beim Publikum Interesse dadurch zu erwecken, dass gleichsam ein (bisweilen intimer) Blick hinter die Kulissen des bekannten Gelehrten versprochen wird, teilen von Dedenroth und Kehlmann zweifellos miteinander. Dass Alexander von Humboldt, der für seinen Humor, aber auch seine scharfe Zunge bekannt und gefürchtet war, durchaus empört gegen diese Art literarischer Nachkommenschaft und Effekthascherei vorging, mag nicht uninteressant sein. Doch dürfte wohl vor allem der Einschätzung eines zeitgenössischen Rezensenten zuzustimmen sein, der in Anspielung auf den Namen des Protagonisten der Novelle noch im selben Jahr 1858 betonte, dass dies schlicht „literarischer Humbug“ sei20 – und eben nicht Humboldt. Hier soll nicht auf mögliche Parallelen zwischen zwei jungen Autoren, die völlig belanglos wären, wohl aber auf literarische und diskursive Textfiliationen aufmerksam gemacht werden, die im Falle von Dedenroths – so steht zu hoffen – Daniel Kehlmann selbst kaum bekannt gewesen sein dürften. Klüger als jede Ausrichtung an einem konkreten literarischen Autor und dessen Intentionen wäre es jedoch, sich den Kehlmannschen Konjunktiv zueigen zu machen und damit der Literatur ihren Eigen-Sinn, ihr Eigen-Recht zurückzugeben, kurz: die indirekte Rede ihres Spiels.
19 Vgl. den schönen Beitrag von Schwarz, Ingo: „Humbug und Taktlosigkeit“ oder „ein anlockendes Aushängeschild“. Alexander von Humboldt als Held einer Novelle – 1858, in: HiN - Alexander von Humboldt im Netz (Potsdam – Berlin) VIII, 14, 2007, S. 74-79. 20 Zit. nach ebd., S. 76.
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Hieße das nicht, Die Vermessung der Welt vor der Vermessenheit ihres Autors zu schützen? Den literarischen Text und nicht den realen Autor und seine Ansichten ins Zentrum zu rücken? Vielleicht könnte man auf diese Weise am besten einer Vermessung der literarischen Welt durch einen Autor begegnen, der seine Stärke nicht umsonst vorwiegend im konjunktivischen Sprechen hat. Kehlmann selbst wäre damit am meisten gedient, äußerte er sich doch in einem neueren Interview zum Verhältnis von Autor und Werk wie folgt: „Ich möchte mich schon zur Idee der klassischen Moderne bekennen, dass der Autor völlig hinter das Werk zurücktritt. Natürlich ist das ein Ideal, das nicht zu erfüllen ist, weil es die mediale Welt anders haben will. Aber ich finde die Idee des Autors, der darauf verzichtet, eine öffentliche Person zu sein, sehr schön.“21
Halten wir daher fest: Die Vermessung der Welt präsentiert uns unfreiwillige Komiker und verdrängende Hysteriker, welche die Namen von Humboldt und Gauß tragen und sich im September 1828 beim Deutschen Naturforscherkongress trafen – aber nicht in Berlin, sondern in Kehlmanns Welt. Und die ist – man mag es bedauern oder nicht – weniger eine erfundene als eine vorgefundene, eben eine längst zuvor vermessene Welt, die der junge, talentierte Autor wohl kalkuliert und mit klugem Blick für die idées reçues durchschritt. Vielleicht, so könnte man hoffen, führt ihre Erkundung viele Leser dazu, sich wirklich intensiv und kritisch mit Humboldt und Gauß auseinander zu setzen und eine Kehlmannisierung von Literatur und Geschichte, von Wissenschaft und Kultur hinter sich zu lassen. Wäre das nicht der schönste Erfolg dieses Buches? Und wäre nicht hierin das eigentliche Vermögen der Literatur zu erblicken – jenseits aller Bestsellerlisten? Bliebe zuletzt noch die im Eingangszitat erwähnte große Frage, worin das Deutschsein dieser drei Deutschen besteht. Meine Antwort: zuvörderst in der Tatsache, dass in dieser Welt (auch) deutsch gesprochen wird. Das Deutschsein von Kehlmanns Roman hingegen liegt auf der Hand: Es betrifft den tendenziell banalisierenden (und sich gerne kritisch gebenden) Umgang mit den eigenen Traditionen, mit dem eigenen historischen Erbe. Hätte man Alexander von Humboldt zu Lebzeiten die Frage nach seinem Deutschsein gestellt, so hätte er sich wohl daran erinnert, dass Wilhelm von Humboldt einst nach einem Besuch des Jüngeren in London in einem Brief vom 3. Dezember 1817 an seine Frau Caroline darüber geklagt hatte, „wie er [Alexander] aufgehört hat, deutsch zu sein und bis in alle Kleinigkeiten pariserisch geworden ist“22. Er hätte gewiss schmunzelnd darauf verwiesen, dass er sich als Schriftsteller des Deutschen wie des Französischen gleichermaßen bediente, so wie für ihn Literatur und Wissenschaft einander nicht fremd gegenüberstanden. Am Ende aber hätte er wohl die Frage nach dem Deutschsein komisch und irgendwie hysterisch gefunden – und sehr über derlei Humbug gelacht. 21 Kehlmann, Daniel: Klassiker und Drecksäue. Daniel Kehlmann und Helmut Krausser im Gespräch mit Klaus Zeyringer u. Stefan Gmünder, in: Volltext 1 (Februar-März 2006), S. 3. 22 Vgl. hierzu die Gespräche Alexander von Humboldts, hg. von Hanno Beck, Berlin 1959, S. 51f.; sowie Ette, Ottmar: „... daß einem leid tut, wie er aufgehört hat, deutsch zu sein“: Alexander von Humboldt, Preußen und Amerika, in: HiN - Alexander von Humboldt im Netz (Potsdam – Berlin) III, 4, 2002.
Anne Jobst
HUMBOLDT UND SEIN „SIBIRISCHER REISECUMPAN“ DER BRIEFWECHSEL ZWISCHEN CHRISTIAN GOTTFRIED EHRENBERG UND ALEXANDER VON HUMBOLDT Die Korrespondenz zwischen Alexander von Humboldt und Christian Gottfried Ehrenberg, die aus ca. 300 Briefen, hauptsächlich von Humboldts Hand, besteht, und einen Zeitraum von ca. 40 Jahren umfasst, ist ein beredtes Zeugnis für die Freundschaft und die Zusammenarbeit der Forscher, wie auch für die hohe Wertschätzung, die sie einander entgegenbrachten. Es werden hier viele wissenschaftliche Themen erörtert, wie beispielsweise das Leuchten des Meeres oder die Beschaffenheit von Vulkangestein. Humboldt nimmt lebhaften Anteil an den Forschungen Ehrenbergs; er hinterfragt Sachverhalte oder gibt Tipps, er vermittelt Kontakte ebenso wie er in ganz alltäglichen Dingen Rat erfragt oder auch Ehrenberg aufmuntert: „Erhalten Sie neben Ihrem Ruhme, Fröhlichkeit. Ohne diese geht die Kraft des Lebens dahin.“1
Um zu verdeutlichen, was die beiden Wissenschaftler miteinander verband, soll Ehrenberg hier etwas näher vorgestellt werden: wie er zu der Koryphäe wurde, die er auf seinem Gebiet war und welche wissenschaftlichen Themen er bearbeitete. Ich komme auf die Russlandreise zu sprechen, bei der Ehrenberg und der Berliner Mineraloge Gustav Rose den bereits 60jährigen Humboldt begleiteten, bevor ich schließlich einige der Themen beleuchte, von denen im Briefwechsel die Rede ist. 1. EHRENBERGS WISSENSCHAFTLICHE ANFÄNGE Christian Gottfried Ehrenberg, dessen Name heute nur noch Spezialisten vertraut ist, war in seiner Zeit ein hoch geachteter und angesehener Mikrobiologe. Ihm gebührt das Verdienst, als einer der ersten systematische mikroskopische Untersuchungen in allen Bereichen der Welt wie auch in allen Bereichen des alltäglichen Lebens durchgeführt zu haben. Unzählige mikroskopische Lebewesen hat er als erster beschrieben, darunter Algen, Bakterien, Schimmelpilze und viele Formen, für die man noch gar keine Namen hatte. Im Museum für Naturkunde der Humboldt Universität zu Berlin ist sein Nachlass erhalten. Er besteht neben den mikroskopischen Präparaten und Proben aus den ca. 3000 Zeichnungen, die Ehrenberg von seinen „kleinen Bestien“, wie Humboldt
1
Unveröffentlichter Brief von A. v. Humboldt an Ehrenberg, 1836. Handschrift: ABBAW, NL Ehrenberg 91.
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sie scherzhaft nannte, angefertigt hat. Speziell diese Zeichnungen vermitteln einen Eindruck von der überaus gründlichen und akribischen Arbeitsweise Ehrenbergs. Ehrenberg wurde als Sohn eines Apothekers am 19. April 1795 in Delitzsch geboren. Nach Abschluss des Gymnasiums in Schulpforta begann er zunächst auf Wunsch des Vaters ein Theologiestudium in Leipzig, entschied sich dann aber für seine Leidenschaft, die Naturwissenschaften, und nahm als 22jähriger 1817 in Berlin ein Medizinstudium auf – das war vor knapp 200 Jahren der Umweg in die Naturwissenschaften. In seiner 1818 vorgelegten Doktorarbeit, „Sylvae mycologicae Berolinensis“ (Die Schimmelwälder Berlins), bewies er die geschlechtliche Fortpflanzung der Pilze an einem von ihm entdeckten Schimmelpilz (Syzygites Ehrbg.). Damit widerlegte er die Theorie einer spontanen Selbstentstehung, an der man zu jener Zeit noch festhielt. Er konnte zeigen, dass selbst Schimmelpilze Fortpflanzungsorgane haben und sich geschlechtlich vermehren. Diese erste Aufsehen erregende wissenschaftliche Arbeit war sozusagen Ehrenbergs Eintrittskarte in die Gelehrtengemeinschaft. Er wurde noch im selben Jahr Mitglied der Leopoldinischen Akademie der Naturforscher und nahm von nun an auch an den Sitzungen der Gesellschaft Naturforschender Freunde regelmäßig teil. Er arbeitete mit Nees von Esenbeck zusammen, dem bedeutenden Botaniker und Präsidenten der „Leopoldina“, und übersetzte gemeinsam mit ihm Robert Browns botanische Schriften. Er lernte Adalbert von Chamisso kennen, der 1818 von einer Weltumsegelung mit dem russischen Forschungsschiff „Rurik“ zurückkehrte. Der Gedanke einer eigenen Forschungsreise ließ ihn nicht mehr los. So schrieb er in einem Brief vom 16. Dezember 1818 an seinen Vater: „Ich habe an Humboldt geschrieben und ihn befragt, ob er mich mit nach Tibet nehmen wolle. Wenn es keiner erfährt, so riskire ich nichts, auch wenn der Mann schon mit meinesgleichen versehen ist. … Habe ich Glück, so sehen Sie mich in ein paar Jahren froher wieder, als ich ohne dies sein kann.“2
Zu einer gemeinsamen Reise mit Humboldt sollte es allerdings erst später kommen. 2. HUMBOLDT UNTERSTÜTZT UND FÖRDERT EHRENBERGS NORDAFRIKA-REISE Als sich 1820 für Ehrenberg und seinen Freund und Studienkollegen Wilhelm Friedrich Hemprich die Gelegenheit bot, eine Expedition in die nördlichen Länder Afrikas unter Leitung des Archäologen Minutoli zu begleiten, setzte sich Humboldt
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Brief von Ehrenberg an Johann Gottfried Ehrenberg vom 16.12.1818. in: Laue, Max: Christian Gottfried Ehrenberg. Ein Vertreter deutscher Naturforschung im neunzehnten Jahrhundert 1795-1876. Nach seinen Reiseberichten, seinem Briefwechsel mit A. v. Humboldt, v. Chamisso, Darwin, v. Martius u.a. Familienaufzeichngen, sowie anderm handschriftlichen Material, Berlin 1895, S. 32.
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in der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften für ihn ein. Am 15. April 1820 schickt er zwölf Empfehlungsschreiben an Ehrenberg und sagt: “Ich schäze ihn [den General Minutoli] glüklich sich so begleitet zu sehen und freue mich, dass der edle Staats Kanzler, [d.i. Hardenberg] auch von Seiten des Staats, Ihnen u[nd] Herrn Dr. Hemprich einigen Beistand angeboten hat.“3
So begann am 6. August 1820 für Ehrenberg die große Herausforderung. Sein Ziel war es, nicht nur ein exotisches Sammelsurium nach Hause zu bringen, sondern die gesammelten Exemplare botanischer und zoologischer Art in ihrem „Existenzzusammenhang“, unter Berücksichtigung aller umgebenden Faktoren zu beschreiben und zu systematisieren. Auf dem Rückweg nach Europa, fünfeinhalb Jahre nach Beginn der entbehrungsreichen, aber auch sehr ertragreichen Reise, schreibt Ehrenberg im Januar 1826 an Humboldt. Er dankt ihm für die Unterstützung und beschreibt knapp als Ergebnis der Expedition, dass sie „… sowohl die allgemeineren u. specielleren Landeseigenthümlichkeiten, als die besonderen Verhältnisse der zusammengetragenen Körper zu einander u. zum Lande, ihren lebenden Zustand, ihren inneren Bau u. wo es anging ihre allmälige Entwicklung beobachtet u. schriftlich festgehalten“4
haben. Humboldt, der sich für diese Reise so stark engagiert hatte, ließ es sich nun auch nicht nehmen, der Akademie die Ergebnisse der Reise vorzustellen. In seinem sehr ausführlichen und anerkennenden Bericht an die Akademie der Wissenschaften nach Beendigung der Reise 1826 heißt es: „Ehrenberg und Hemprich, auf welche die Wahl der Akademie durch mehrere ausgezeichnete Arbeiten geleitet worden war, haben allen den Anforderungen, welche man, im gegenwärtigen Zustande der Wissenschaften an gelehrte Reisende machen kann, auf das glücklichste entsprochen.“5
Ebenso beeindruckend sind die Ergebnisse der Reise in Zahlen: 114 Kisten mit über 34.000 Tieren, d.h. Vögel, Säugetiere, Fische, Amphibien und Insekten und über 46.000 Pflanzen. Dazu wurden 300 Stücke von Gebirgsarten gesammelt. Humboldt beschreibt die Reise in groben Zügen und würdigt die Leistungen der beiden Forscher in den Gebieten der Botanik, der Zoologie, der Zootomie und Physiologie, der Geologie sowie im Bereich der Länder- und Völkerkunde. Er nennt als „den Hauptzweck der Expedition“: „Erforschung der Natur in der Mannigfaltigkeit ihrer Erzeugnisse und dem Zusammenwirken ihrer Kräfte.“6
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Unveröffentlichter Brief von A. v. Humboldt an Ehrenberg, 15.4.1820. Handschrift: ABBAW, NL Ehrenberg 1. Brief von Ehrenberg an A. v. Humboldt, Januar 1826, in: Stresemann, Erwin: Hemprich und Ehrenberg. Reisen zweier naturforschender Freunde im Orient geschildert in ihren Briefen aus den Jahren 1819-1826, Berlin 1954, S. 149. Humboldt, Alexander v.: Bericht über die Naturhistorischen Reisen der Herren Ehrenberg und Hemprich; durch Ägypten, Dongola, Syrien, Arabien und den östlichen Abfall des Habessinischen Hochlandes, in den Jahren 1820-1825. Abh. Kgl. Akad. Wiss. Berlin 1826, S. 111-134. Ebd.
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Nun begann für Ehrenberg in Berlin eine sehr fruchtbare und ehrenvolle Zeit. Noch im selben Jahr erhielt er den Roten Adlerorden dritter Klasse, im folgenden Jahr, am 27. März 1827 wurde er zum außerordentlichen Professor der medizinischen Fakultät ernannt und am 3. Juli 1827, im Alter von 32 Jahren, zum ordentlichen Mitglied der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften gewählt. Er wurde auf Vermittlung Humboldts an den Hof geladen, um von seinen Erlebnissen und Beobachtungen zu berichten. Wie Humboldt in seinem Bericht an die Akademie empfohlen hatte, wurden Ehrenberg für die Herausgabe des Reiseberichtes Geld und Mitarbeiter zur Verfügung gestellt. Ehrenberg hatte einen sehr hohen Anspruch an dieses Werk – er wollte eine umfassende Darstellung der Natur der bereisten Länder bieten. Dabei stellten sich ihm jedoch Schwierigkeiten in den Weg. Er stand erstens allein vor dieser Aufgabe, da sein Freund und Kollege Hemprich kurz vor Ende der Reise in Afrika gestorben war. Dazu kam, dass viele der Objekte, die sie nach Berlin geschickt hatten, teilweise schon vor Ehrenbergs Rückkehr nach Berlin als Dubletten verkauft oder getauscht worden waren und ihm so Vergleichsmöglichkeiten fehlten bzw. er Entwicklungsschritte nicht darstellen oder nachvollziehbar machen konnte. Trotz dieser Widrigkeiten liegen die Bände über Säugetiere, Vögel, Insekten und Invertebraten der „Symbolae phisicae“7, so der Titel des Reisewerks, vor. 3. EHRENBERGS WISSENSCHAFTLICHE BEDEUTUNG Als Mitglied der Akademie der Wissenschaften hielt er nun regelmäßig Vorträge in den Klassensitzungen. Er behandelte dabei eine erstaunliche Vielfalt naturwissenschaftlicher Themen, seine Leidenschaft für die Mikroorganismen ist aber unübersehbar. Viele seiner Arbeiten schickte er an Humboldt, der sie gespannt erwartete und kommentierte. In einem Brief von 1836 schreibt er: „Ihr herrliches Heft, mein theurer Freund habe ich vorgestern… empfangen. Dies ist nur ein vorläufiger Dank, denn ich habe mit grosser immer wachsender Freude alles gelesen. … Das Wort das Sie über die Confervae conjugatae und Oscillat[ion] ausgesprochen geht mir sehr an das Herz. Die Kupfertafel ist über allen Ausdruk schön.“8
Zu den Zeiten, als Ehrenberg systematisch zu mikroskopieren begann, sprach man noch von „Infusionstierchen“. Der Name rührt daher, dass die Vorstellung weit verbreitet war, dass kleine Lebewesen spontan in einer Infusion, also einem Aufguss aus pflanzlichem Material von selbst entstehen. Mit diesem Irrglauben räumte Ehrenberg auf und wies nach, dass auch das unsichtbar kleine Leben sich geschlechtlich oder 7
8
Ehrenberg, Christian Gottfried u. Friedrich Wilhelm Hemprich: Symbolae physicae, seu Icones et Descriptiones corporum naturalium novorum aut minus cognitorum, quae ex itineribus per Libyam, Aegyptum, Nubiam, Dongolam, Syriam, Arabiam et Habessiniam Dr. Fr. Guil. Hemprich et Dr. Ehrenberg studio annis 1820-25 redierunt. Unveröffentlichter Brief von A. v. Humboldt an Ehrenberg, 1836. Handschrift: ABBAW, NL Ehrenberg 93.
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durch Selbstteilung fortpflanzt und nicht aus dem Nichts entsteht. Die Frage lag nahe: Wenn diese Organismen also nicht von selbst entstehen, wo kommen sie denn dann her? Es drängte sich die Vermutung auf, dass man ihre Herkunft in der Luft suchen müsste. So untersuchte Ehrenberg den Staub der Luft, den er selbst sammelte bzw. aus allen Teilen der Welt zugeschickt bekam. Hier nur eine kleine Zusammenstellung der Proben, die er in Berlin gesammelt hat: 2431. Berlin. Bodenstaub meines Hauses. 2433. Bücherstaub v. Berlin. 2434. Strassenstaub vom Berliner Hausflur. 2443. Berlin Dachrinnensand 2455. Staub, Gensdarmes Thurm Berlin 2444. a, b. Staub aus dem Zimmer eines Cholerakranken Wallstr. 17. 2 Tr.
Abb. 1: Schubladen mit Probenschachteln, von Ehrenberg beschriftet (mit freundlicher Genehmigung des Museums für Naturkunde der Humboldt-Universität zu Berlin).
Dieses letzte Beispiel zeigt, dass Ehrenberg sich auch damit beschäftigt hat, ob die Krankheitsauslöser mikroskopisch nachzuweisen sind. In einem Brief an Humboldt vom 4. September 1848 beschreibt er die Ergebnisse seiner Analysen: „Wegen mancherley Anfragen über die miasmatischen [d.i. krankmachenden] Luftverhältnisse habe ich in der lezten Sitzung der Akademie … Beobachtungen vorgetragen. Mit dem ganzen Aufsatze der gedruckt wird, werde ich Sie nicht incommodiren, aber vielleicht gewinnen
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Anne Jobst die … Resultate Ihr Interesse. … Cholera-Thierchen habe ich unter den 109 Formen nicht gefunden.“9
Humboldt dankt ihm am 7. September „für Ihre herrliche Zusammenstellung dessen, was wir Ihnen über einen neuen so wichtigen Bestandtheil der Atmosphäre verdanken. … Ehe ich Ihren lieben Brief vom 4ten empfing hatte ich, durch Ihre Ideen geleitet, schon oft beim König gesagt ‚Sie besässen das wahre Geheimniss der Cholerafliege.‘“10
Ein anderes Thema, das ihn beschäftigte, war das Mysterium des „blutenden Brotes“. 1848 hielt er einen ausführlichen Vortrag in der Akademie der Wissenschaften, der auch die historischen Belege für diese Erscheinungen aufführt, unter dem Titel: „Über das seit alter Zeit berühmte Prodigium des Blutes im Brode und auf Speisen als jetzt in Berlin vorhandene Erscheinung, erläutert als bedingt durch ein bisher unbekanntes monadenartiges Thierchen (Monas prodigiosa).“11 Hier konnte er mit einem jahrhundertealten Aberglauben aufräumen, indem er nachwies, dass die Erscheinung, wie wir heute wissen, durch eine Bakterie hervorgerufen wird, die er Monas prodigiosa nannte – auf deutsch etwa: Monade des Prodigiums, des bösen Omens. Ehrenberg untersuchte unter anderem auch den Grund, auf dem die Bauten der heutigen Museumsinsel entstehen sollten. Er verblüffte die Berliner mit der Mitteilung, dass der Boden dort zum Teil aus lebenden Infusorien besteht und man scherzte darüber, dass das neue Gebäude eines Tages auf dem Rücken der Mikroorganismen davongetragen würde. Sein 1838 erschienenes Werk „Die Infusionsthierchen als vollkommene Organismen“12 beschreibt und systematisiert die enorme Vielfalt der Mikroorganismen nach ihrem Aufbau. Es wurde gespannt erwartet und nicht nur in Deutschland, sondern auch in den wissenschaftlichen Kreisen in Paris begeistert aufgenommen. Dafür hatte Humboldt gesorgt, der Ehrenbergs Schriften in den französischen Journalen verbreitete und ihn dazu bewog, nach Paris zu kommen. Er schreibt „Unendlich freue ich mich auf Ihren endlichen Entschluss England u[nd] Paris zu besuchen. Ihre Anwesenheit wird an beiden Orten besonders am lezteren … grosses Aufsehen machen
9
Unveröffentlichter Brief von Ehrenberg an A. v. Humboldt, 4.9.1848. Handschrift: ABBAW, NL Ehrenberg E1. 10 Unveröffentlichter Brief von A. v. Humboldt an Ehrenberg, 7.9.1848. Handschrift: ABBAW, NL Ehrenberg 175. 11 Ehrenberg, Christian Gottfried: Über das seit alter Zeit berühmte Prodigium des Blutes im Brode und auf Speisen als jetzt in Berlin vorhandene Erscheinung, erläutert als bedingt durch ein bisher unbekanntes monadenartiges Thierchen (Monas prodigiosa), in: Bericht über die zur Bekanntmachung geeigneten Verhandlungen der Königl. Preuß. Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 1848, S. 349-362 u. 462. 12 Ehrenberg, Christian Gottfried: Die Infusionsthierchen als vollkommene Organismen. Ein Blick in das tiefere organische Leben der Natur, Leipzig 1838.
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und Sie werden durch Ihre Anwesenheit wesentlich zur Verbreitung Ihrer wichtigen Entdekkungen (Nerven, Infusorien geognostische Ansichten …) beitragen.“13
In dem Beinamen des Werkes, Infusorien „als vollkommene Organismen“ kommt Ehrenbergs wegweisende Ansicht zum Ausdruck: er nahm für diese kaum sichtbaren Formen in Anspruch, dass sie analog zu allen anderen vorkommenden Lebensformen einen ähnlichen Grad der Organisiertheit haben, in Bezug auf Wahrnehmung, Verdauung, Fortpflanzung etc. und versuchte entsprechende Organe, etwa Augen, Fresswerkzeuge, Mägen, Ausscheidungs- und Fortpflanzungsorgane nachzuweisen. Die Tragik seines Forschens besteht darin, dass er sich von seiner Idee so mitreißen ließ, und seine richtungweisende Annahme so sehr überzog, dass er unter anderem Eierstöcke und Spermien sehen wollte, wo es schlicht keine gab. In dem folgenden Zitat aus einem Brief Humboldts an Ehrenberg vom März 1836 wird das deutlich, es belegt aber auch das Ansehen, das Ehrenberg bis in die höchsten Kreise, in diesem Falle bei der Herzogin Friederike von Anhalt-Dessau genoss. „was Sie [d.i. Herzogin Friederike von Anhalt-Dessau] zu Ihnen führt sind … Ihre Entdekkungen über die kleine Welt. Zeigen Sie was Ihnen am anmuthigsten scheint besonders das Thier mit Augen vorn und hinten. Ueber die Geschlechtstheile wollen wir, der Hofdame wegen schweigen und die Eyerstökke, Eier nennen.“14
In seinem weiteren Forschen konzentriert sich Ehrenberg mehr und mehr auf die geographische Verteilung und den Anteil der Mikroorganismen an den verschiedensten Gesteinsformen. Als Ergebnis dieser umfassenden Forschungen entsteht 1854 sein Werk „Mikrogeologie. Das Erden und Felsen schaffende Wirken des unsichtbar kleinen selbständigen Lebens auf der Erde.“15 In diesem Werk, das mit 40 Kupferstichtafeln illustriert ist, betrachtet Ehrenberg die mikrogeologische und mikrobiologische Beschaffenheit der ganzen Welt. Aus allen Erdteilen, sogar vom Südpol, sind ihm Proben von Forschungsreisenden und Wissenschaftlern zugegangen, die er untersucht und beschrieben hat. Viele der wissenschaftlichen Kontakte, die darin mündeten, dass Ehrenberg Proben zugeschickt bekam, kamen durch Humboldt zustande, der zum Beispiel während der Vorbereitung des Buches schrieb, dass er vorhabe, „nach allen meinen Kräften dazu beizutragen, das geognostisch so wichtige Phänomen der Sandverbreitung Ihrem Scharfblik in vielen Regionen zu unterwerfen“16, oder es hieß
13 Unveröffentlichter Brief von A. v. Humboldt an Ehrenberg, Nov. 1838. Handschrift: ABBAW, NL Ehrenberg 99. 14 Unveröffentlichter Brief von A. v. Humboldt an Ehrenberg, März 1836. Handschrift: ABBAW, NL Ehrenberg 75. 15 Ehrenberg, Christian Gottfried: Mikrogeologie. Das Erden und Felsen schaffende Wirken des unsichtbar kleinen selbständigen Lebens auf der Erde, Leipzig 1854. 16 Unveröffentlichter Brief von A. v. Humboldt an Ehrenberg, 1840. Handschrift: ABBAW, NL Ehrenberg 117.
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Anne Jobst
ganz knapp, im September 1848: „Möge dieser Junghuhn Ihnen Infusorien bringen.“17 Und richtig schickte „dieser Junghuhn“ verschiedene Proben aus Java. Des Weiteren untersuchte Ehrenberg, um nur einen Bruchteil zu nennen, Proben, die die deutschen Brüder Schlagintweit vom Himalaya schickten (für deren Reise Humboldt sich engagiert hatte), Proben von Charles Darwin von den Galapagos-Inseln; Sir Robert Schomburgk versorgte ihn mit Sediment aus Barbados, die amerikanischen Truppen schickten ganze Probenreihen von verschiedenen Standorten; der Ozeanologe Maury schickte ihm Sedimentproben vom Meeresboden und auch Ehrenbergs Bruder Carl versorgte ihn aus Real del Monte in Mexico, wo er als Verwalter der Goldminen arbeitete, mit Gesteinsproben. Vielfältige Ehrungen bezeugen die hohe Anerkennung, die Ehrenberg genoss. So war er 25 Jahre lang, von 1842-1867, Sekretar der Physikalisch-Mathematischen Klasse der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften und 1856 Rektor der Friedrich-Wilhelms-Universität. Er war unter anderem Träger des Roten Adler Ordens und des Pour le mérite (Friedensklasse), er erhielt die Wollaston Medaille und den Prix Cuvier, um nur einige zu nennen. Die Forschungen des heute fast vergessenen Ehrenberg können durchaus als richtungweisend für viele spätere Entdeckungen, wie etwa des Zellkerns oder der Krankheitserreger gelten. 4. HUMBOLDTS EINLADUNG ZUR GEMEINSAMEN RUSSLANDREISE Humboldts hohe Meinung von Ehrenbergs Fähigkeiten kommt auch darin zum Ausdruck, dass er ihn auf seine lang ersehnte Reise in den Altai mitnehmen möchte. Er schreibt ihm im Februar 1829: „Eine der größten Freuden meines Lebens würde sein einmal ein 5-6 Monathe mit Ihnen, an Ihrer Seite, unter Ihrer Belehrung reisen zu können. … Wäre es möglich theurer Professor, dass Sie diese Zeit Ihre wichtigen Arbeiten unterbrächen, mit anderen wichtigen vertauschten u[nd] mich mit Ihrer Begleitung beglükken… Wir wären Deutsche drei, Sie, Gustav Rose u[nd] ich. denken Sie darüber nach...“18
Bei dem russischen Finanzminister Graf Georg von Cancrin hatte Humboldt zuvor angefragt, ob er „meinen Freund den thätigen und gelehrten Zoologen und Botaniker (er ist sonderbar genug beides zugleich) Prof. Ehrenberg“19 mitnehmen könne, was ihm selbstverständlich gewährt wurde. Das muss eine große Ehre und Freude für den 33-jährigen gewesen sein, von Humboldt eingeladen zu werden. Was mag Humboldt dazu bewogen haben? Er hatte Ehrenberg bereits als einen sorgfältigen Arbeiter und begabten Wissenschaftler kennen gelernt, der fundierte Kenntnisse 17 Unveröffentlichter Brief von A. v. Humboldt an Ehrenberg, 29.9.1848. Handschrift: ABBAW, NL Ehrenberg 180. 18 Brief von A. v. Humboldt an Ehrenberg, vor dem 25.9.1829, in: Laue (wie Anm. 2), S. 151. 19 Brief von A. v. Humboldt an Graf Georg von Cancrin vom 25. 2. 1829, in: Im Ural und Altai. Briefwechsel zwischen Alexander von Humboldt u. Graf Georg von Cancrin aus den Jahren 1827-1832, Leipzig 1869, S. 59.
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der Zoologie und der Botanik besaß. Darüber hinaus war er ja Mediziner. Offenbar wurden seine Erwartungen auch nicht enttäuscht, denn er schreibt von unterwegs an seinen Bruder Wilhelm: „Die 2 Reisebegleiter [d.i. Ehrenberg und Rose] thätig und angenehm. Ehrenberg gewinnt sehr in der Nähe, er ist gutmüthig, lebendig und spirituell zugleich.“20 Auf dieser Expedition, die im Vergleich zu Humboldts Amerika- wie auch zu Ehrenbergs Afrika-Reise beinahe luxuriös war, sammelte Ehrenberg zoologische und vor allem botanische Exemplare. Über die Faszination der Pflanzenwelt schreibt er an seinen Freund Martius, der selbst Botaniker war: „Am Ural sah und sammelte ich an Pflanzen etwas über 1000 Arten in etwa einem Monate. Der nördliche Ural hat fast nur norddeutsche Pflanzen, aber in einer Ueppigkeit, die alle Beschreibung hinter sich läßt.“21
Er machte jedoch auch vermehrt mikroskopische Untersuchungen; er berichtet unter anderem von Funden mikroskopisch kleiner Lebewesen in tiefen Schächten. Gleich nach der Russland-Reise veröffentlichte Ehrenberg „Beiträge zur Kenntnis der Organisation der Infusorien und ihrer geographischen Verbreitung, besonders in Sibirien.“22 Ein Aspekt des „kleinen Lebens“, der Ehrenbergs Interesse auf sich zog, waren auch Rotfärbungen aller Art: seien es rote Stäube, Gewässer, das bereits erwähnte Brot, oder roter Schnee. Schon bei seiner ersten Expedition faszinierte Ehrenberg die Quelle der Färbung des roten Meeres, bei der Expedition mit Humboldt begegnete ihm dieses Phänomen erneut, er findet „eine sehr intensive Blutfärbung in einer Lache der Platowskischen Steppe“23. Er untersucht diese eingehend und entdeckt hier eine weitere neue Art, die er Astasia nennt. 5. WISSENSCHAFTLICHER AUSTAUSCH Die gemeinsame Russlandreise begründete die lebenslange Freundschaft, die sich in der Korrespondenz spiegelt. Gern nennt Humboldt Ehrenberg in seinen Briefen „meinen sibirischen Reisecumpan“. Es finden sich unzählige Belege für einen angeregten wissenschaftlichen Austausch. Sehr viele Themen, die Ehrenberg mit seinen mikrobiologischen Untersuchungen berührte, behandelte Humboldt auch. Unter anderem förderten Ehrenbergs Ergebnisse die Untersuchungen über die Entstehung von Gesteinsarten. So schreibt Humboldt: 20 A. v. Humboldt an W. v. Humboldt, 9./21.6.1829, in: Briefe Alexander’s von Humboldt an seinen Bruder Wilhelm. Hg. von der Familie von Humboldt in Ottmachau, Stuttgart 1880, S. 186. 21 Ehrenberg an Martius, September 1829, in: Laue (wie Anm. 2), S. 163. 22 Ehrenberg, Christian Gottfried: Beiträge zur Kenntnis der Organisation der Infusorien und ihrer geographischen Verbreitung, besonders in Sibirien, in: Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 1830, S. 1-88, Taf. 15. 23 Ehrenberg, Christian Gottfried: Neue Beobachtungen über blutartige Erscheinungen in Aegypten, Arabien und Sibirien, nebst einer Uebersicht und Kritik der früher bekannten, in: Annalen der Physik und Chemie, 1830, H. 4, S. 477-514.
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Anne Jobst „Wo soll ich aber Worte finden, theurer Freund um Ihnen für die heutige Hecla Nachricht zu danken: also wieder ein Gemisch von Obsidianpulver, Bimstein und Süss Wasser Infusorien, erkennbare Arten. Ich werde sogleich einige Zeilen aus Ihrem Briefe an Arago schicken, versteht sich ohne von meinem dogmatischen Brei etwas hinzuzuthun.“24
Diese Erkenntnisse konnte Humboldt in der Auseinandersetzung zwischen den Vulkanisten und Neptunisten nutzen. Ein anderes Thema, das beide Forscher interessierte, waren die so genannten Aerolithen, Steine oder Meteore, die vom Himmel gefallen waren. Wann und wo auch immer ein solches Ereignis auftrat, untersuchte auch Ehrenberg die Substanz. Ausführlich behandelt Humboldt das Thema in einem langen Brief aus dem Jahre 1847, als offenbar in Berlin eine solche Erscheinung beobachtet worden ist: „Ich kann Ihnen, mein theurer College, nicht lebhaft genug in meinem und des Königs Namen danken für die Nachrichten über das räthselhafte Meteor. ... Ihre Entdekkung von lebenden Infusorien und Pflanzenzellen ist bisher das Wichtigste. Sie leitet wie Sie sehr richtig sagen, Zweifel auf die Meinung es sei ein aus dem Magazin hoher Luftschichten herabgekommenes, durch electr[ische] Prozesse entflammtes Convolut von Meteorstaub wie der über den Sie zuerst Licht verbreitet. ... Durch eine beträchtliche Luftmasse muss das Ding geflogen sein um so viel Infusorien aufzunehmen. ... Dank Dank und geben Sie das Nachfragen nicht auf...“25
Humboldt riet Ehrenberg auch in Veröffentlichungsfragen, indem er vorschlug, den einen oder anderen Artikel übersetzen zu lassen. In einem Brief ist der Titel des zweiten großen Werks Ehrenbergs, der „Mikrogeologie“ von 1854 das Thema: Humboldt macht sich ausführliche Gedanken über den Klang des Titels, wie er zitiert würde und wie er übersetzt klingen würde. Er schlägt ihm acht verschiedene Titel vor und schreibt dann: „Sie sehen aus meinen 8 Titeln, dass ich mich gern mit Ihnen beschäftige: Wählen Sie ja wie Ihnen das Herz steht. Einen Titel und eine Braut lässt man sich nicht empfehlen. … Kommen Sie zu mir um mir Ihre Entscheidung zu sagen“26
Viel Energie verwendet Humboldt darauf, die ihm angemessen erscheinende Mitgliedschaft Ehrenbergs in der französischen Akademie der Wissenschaften zu betreiben. In seinem Brief vom 19. Dezember 1831 beschreibt er die Schwierigkeiten, die er hatte und wie er sie gemeistert hat, ausführlich. Dabei wird wiederum seine Wertschätzung für Ehrenberg deutlich. „Ergrimmt habe ich dann in den lezten Tagen alle meine Künste des alten Einflusses aufgeboten u[nd] es ist uns glänzend geglükt. Sie haben 37 Stimmen gezäh[l]t … Ich habe eine Liste Ihrer Arbeiten von den Pilzen bis zu der grossen Entdekkung der Infusorien … verlesen lassen, ich habe … gezeigt daß Sie unter allen jezt lebenden Zoologen derjenige sind der die Thierwelt
24 Unveröffentlichter Brief von A. v. Humboldt an Ehrenberg, Sept. 1845. Handschrift: ABBAW, NL Ehrenberg 152. 25 Unveröffentlichter Brief von A. v. Humboldt an Ehrenberg, 1847. Handschrift: ABBAW, NL Ehrenberg 182. 26 Unveröffentlichter Brief von A. v. Humboldt an Ehrenberg, 26.5.1849. Handschrift: ABBAW, NL Ehrenberg 183.
Humboldt und sein „sibirischer Reisecumpan“
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aller Classen von 14°-60° Br[eite] in den grössten Landreisen erforscht hat der tiefe anatomische und zool[ogische] Kenntnisse mit einem schönen künstlerischen Talente verbindet.“27
Er zitiert Ehrenberg auch in seinem Lebenswerk, dem „Kosmos“28, und berichtet ihm darüber am 28. Januar 1852 „Ich werde im 4 ten Theile des Kosmos mich über die geogn[ostische] Wichtigkeit Ihrer in alles eingreifenden Entdekung noch lebhafter aussprechen als ich es schon Th I … gethan. …Ich kann nicht des Luftkreises erwehnen, ohne der organischen Stoffe zu gedenken deren Anwesenheit (wie Kenntniss) wir Ihren Entdeckungen verdanken.“29
Die Verweise auf Ehrenberg nehmen im Register des „Kosmos“ eine ganze Seite ein.30 Dieser wissenschaftliche Austausch nimmt in der Korrespondenz selbstredend den weitaus größten Raum ein. Darüber hinaus hat Ehrenberg ja die Funktion des Sekretars der PhysikalischMathematischen Klasse der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften inne und klärt mit Humboldt personalpolitische Fragen in der Akademie wie auch die Vorschläge für den Orden „pour le mérite“. Im Mai 1846 schreibt Humboldt ihm beispielsweise: „Ich schreibe diese Zeilen, um Sie, den Philologen, flehentlich zu bitten, doch ja bei der jezigen Wahl in unserem Orden, für Gotfried Herman in Leipzig den grössten u[nd] freisinnigsten aller Alterthumsforscher unseres Zeitalters, zu stimmen. Thun Sie es ja und wirken Sie auf andere.“31
Es gibt in diesem Briefwechsel aber ebenso die Zeugnisse für menschliche Anteilnahme, wie man sie in einem Briefwechsel zwischen Freunden erwarten kann. Ehrenberg, der trotz der hohen Anerkennung die er genoss, Probleme und Kompetenzstreitigkeiten mit Kollegen hatte, findet bei Humboldt immer ein Anteil nehmendes Ohr. Er tröstet ihn regelrecht und unterstützt ihn, wenn möglich, nach Kräften. Im Juli 1833 schreibt er an den Kultusminister Altenstein: „Ich wiederhole meine ganz gehorsamste Bitte für Ehrenberg, den Gemüthskranken. Ein Paar tröstende Worte, mündlich im schönen Gartenhause Ew. Excellenz, werden beruhigen und den Mann, der jetzt auf so schöner Bahn glänzender microscop[isch-] anatomischer Entdeckungen ist, wieder zur Arbeit zu ermutigen.“32
27 Unveröffentlichter Brief von A. v. Humboldt an Ehrenberg, 19.12.1831. Handschrift: ABBAW, NL Ehrenberg 32. 28 Humboldt, Alexander v.: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, Stuttgart u. Augsburg 1845-1862. 29 Unveröffentlichter Brief von A. v. Humboldt an Ehrenberg, 28.1.1852. Handschrift: ABBAW, NL Ehrenberg 198. 30 Humboldt (wie Anm. 28), Bd. 5 u. Register über den Kosmos…, Stuttgart 1862, S. 373. 31 Unveröffentlichter Brief von A. v. Humboldt an Ehrenberg, Mai 1846. Handschrift: ABBAW, NL Ehrenberg 60. 32 Brief von A. v. Humboldt an Altenstein, Juli 1833, in: Biermann, Kurt-R. (Hg.): Alexander von Humboldt. Vier Jahrzehnte Wissenschaftsförderung. Briefe an das preußische Kultusministerium 1818-1859, Berlin 1985, S. 64.
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Anne Jobst
Er spricht Ehrenberg sein Mitgefühl aus, als im August 1849 kurz hintereinander seine beiden Brüder sterben. Dem 86-jährigen Humboldt schickt Ehrenberg am 14. September 1855 Geburtstagsglückwünsche: „Wenn auch die Geburtstage im späteren Leben die größten Feinde der Menschen sind, so erlauben Sie doch zu diesem neuen Siege über den Erbfeind Ihnen meinen herzlichsten Glückwunsch auszusprechen.“33
In ganz alltäglichen praktischen Dingen holte sich Humboldt bei Ehrenberg Rat: „Ich lasse heute in meinem Zimmer den Knaben des braven Seyffert taufen und bin in grosser Angst da mir der Zufall zur Taufhandlung den Hofprediger Strauss zuführt, was man giebt u[nd] wie man giebt. Schreiben Sie, theurer Freund mir gütigst auf einen Zettel: was Sie bei Ihrem Knäbchen dem Prediger gegeben? Haustaufe. und wie man dem Struthio Camelus die Gabe aplicirt, durch den Küster od[er] ganz menschlich in seine hole Hand? Dankbarst Ihr AlHumboldt“34
Hier versteckt Humboldt noch ganz beiläufig einen kleinen Wortwitz, denn „Struthio Camelus“ ist der lateinische Name des Vogel Strauß, den er dem Hofprediger Strauß gibt. Ehrenberg stellt sich dem Leser der Briefe als ein ernsthafter und sehr präziser Arbeiter von hohen Ansprüchen dar. Er beschäftigte sich mit einer beeindruckenden Vielzahl von Themen, die er immer wieder von seinem Blickwinkel, der die Mikroorganismen im Focus hatte, betrachtete. Mit Hingabe widmete er sich seiner Leidenschaft, wie es seinem, der „Mikrogeologie“ vorangestellten Motto entsprach: „Der Welten Kleines auch ist wunderbar und groß, und aus dem Kleinen bauen sich die Welten.“ Auch in einem Brief vom 23. November 1848, in dem Ehrenberg über die Vermehrungsrate der Infusionstierchen berichtet, kommt diese Faszination zum Ausdruck, wenn er schreibt: “Welch unbekannte Kraft mag noch im Leben in der Richtung zum kleinsten Raum hin schlummern!... Die Fäden und Wurzeln des Lebens gehen nach allen Seiten tiefer.“35
Die Veröffentlichung dieses Briefwechsels wird dem Bild der Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts ein neues, interessantes Mosaiksteinchen hinzufügen. Sie ermöglicht einen weiteren tiefen Blick in Humboldts „Netzwerk“, wie auch auf die Persönlichkeit des größten Mikrobiologen und -paläontologen seiner Zeit, Christian Gottfried Ehrenberg.
33 Unveröffentlichter Brief von Ehrenberg an A. v. Humboldt, 14.9.1855. Handschrift: ABBAW, NL Ehrenberg E8. 34 Unveröffentlichter Brief von A. v. Humboldt an Ehrenberg, 10.5.1833. Handschrift: ABBAW, NL Ehrenberg 71. 35 Unveröffentlichter Brief von Ehrenberg an A. v. Humboldt, 23.11.1848. Handschrift: ABBAW, NL Ehrenberg E3.
Fritz Krafft
GEORGIUS AGRICOLA IM KONTEXT SEINER ZEIT WARUM UND WIESO EIN ARZT ZUM BEGRÜNDER DER MINERALOGIE WERDEN KONNTE Aus Anlass der Neuausgabe einer deutschen Übersetzung 1 des Teilwerkes De natura fossilium in dem mineralogisch-geologischen Sammelband, den Georgius Agricola 1546 bei seinem Basler Verleger Hieronymus Froben herausbrachte, möchte ich dem Jubilar dieser Festschrift und ihren Lesern einen kleinen Beitrag über den Autor dieses Werkes im Kontext seiner Zeit unter dem speziellen Aspekt darbieten, wie es zu der aus heutiger Sicht paradoxen Situation kommen konnte, dass ein Mediziner zum Begründer der neuzeitlichen Mineralogie als einer Naturwissenschaft hat werden können. Geboren 1494 im sächsischen Glauchau, gestorben 1555 in Chemnitz, fällt Georgius Agricolas gesamtes Leben in eine Epoche, die man nach ihren geistigen Impulsen ‚Renaissance‘ nennt, also ‚Wiedergeburt‘, Wiedergeburt nämlich des Denkens der griechisch-römischen Antike durch das Wiederaufsuchen und die Wiederaneignung ihrer künstlerischen und literarischen Werke über das als ‚dunkel‘ empfundene, von der arabischen Tradition der antiken Schriften geprägte scholastische Mittelalter hinweg. Ad fontes! war das Motto; und soweit sich das auf die literarischen Quellen bezog, nennt man diese Epoche auch den ‚Renaissance-Humanismus‘2. Nur wird dieser Begriff und die von ihm erfasste Epoche in der Regel immer noch aus der Sicht der Neubesinnung der frühen italienischen Humanisten gesehen, die anfangs gleichermaßen gegen die Scholastik als isolierte, starre deduktive Methodologie mit metaphysischen Vorgaben und gegen das losgelöste instrumentalisierte Wissen auch und gerade auf dem Gebiet der Naturgeschichte gerichtet gewesen war. Und diese Geisteshaltung mit einer strikten Trennung von naturgeschichtlichem und naturwissenschaftlichem Wissen auf der einen Seite und den ‚Kulturerzeugnissen‘ auf der anderen Seite wurde und wird dann regelrecht zur Voraussetzung für das Entstehen der neuzeitlichen Welt hochstilisiert. Dabei wurde 1
2
Agricola, Georgius: De Natura Fossilium – Handbuch der Mineralogie (1546). Übersetzt von Georg Fraustadt. Durchgesehen und ergänzt sowie mit Registern und einer Einleitung versehen von Fritz Krafft, Wiesbaden 2006 (Bibliothek des verloren gegangenen Wissens [Naturwissenschaften]). Für weiterführende und begründende Literatur zum Renaissance-Humanismus sei verwiesen auf die ausführliche Einleitung von Krafft, Fritz (a): Georgius Agricola – Begründer der neuzeitlichen Mineralogie, in: Agricola, De Natura Fossilium (wie Anm. 1), S. VII–LXXI; sowie derselbe (b): Renaissance der Naturwissenschaften – Naturwissenschaften der Renaissance. Ein Überblick über die Nachkriegsliteratur, in: Buck, August (Hg.): Deutsche Forschungsgemeinschaft: Humanismusforschung seit 1945. Ein Bericht aus interdisziplinärer Sicht, Boppard u. Bonn-Bad Godesberg 1975, S.111-183, 203-213 u. 217f. (DFG-Kommission für Humanismusforschung, Mitteilung 2).
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Fritz Krafft
der Begriff ‚Kultur‘ dann im Sinne von Jacob Burckhardts Kunst und Kultur der Renaissance in Italien von 1860 ausschließlich auf die Bereiche der schönen Künste, der Bildung und des gesellschaftlichen Lebens beschränkt. Die seit Charles P. Snows The Two Cultures von 1959 als die moderne Welt prägend aufgefasste Trennung zwischen den beiden ‚Kulturen‘, zwischen der an geisteswissenschaftlichliterarischem und der an naturwissenschaftlich-technischem Denken und Handeln orientierten Intelligenz, stellte diese Grundeinstellung dann letztlich nur unter eine neue Begrifflichkeit. Die Trennung als die schicksalhaft empfundene Voraussetzung für diese Welt wurde damit ihrer Entstehungsepoche Renaissance überantwortet, deren zurückgewandte, an die Tradition der griechisch-römischen Antike gebundene Erneuerung als Wiedergeburt eben nur den Bereich der ‚Kultur‘ und ‚Bildung‘ betroffen habe, während der naturwissenschaftlich-technische Bereich demgegenüber vorwärts gerichtet und an der Zukunft und am deshalb so genannten ‚Fortschritt‘ orientiert und vom Denken der ‚Renaissance‘ unbeeinflusst gewesen sei – wobei dem naturkundlichen und naturwissenschaftlichen Bereich aber immerhin schon einmal die Bezeichnung ‚Kultur‘ zuerkannt wurde. ‚Kultur‘ ist ja schließlich im Gegensatz zur ‚Natur‘ das vom Menschen Geschaffene, und dazu zählen ebenso wie Burckhardts ‚Kultur‘-Erzeugnisse auch sowohl die Artefakte der Technik (τέχνη heißt ja nichts anderes denn ‚Kunst‘) als auch die ebenfalls vom Menschen geschaffene ‚Naturwissenschaft‘3. Aber mit dem Begriffswandel ist natürlich noch nicht ein Wandel der Einschätzung und der Sehweise verbunden. Es bleibt die Vorstellung von einer Trennung in die zwei ‚Kulturen‘ als Voraussetzung für die Entstehung der neuzeitlichen Welt in der Renaissance. Der Versuch, den Graben zwischen diesen ‚zwei Kulturen‘ zu überwinden, dessen Notwendigkeit immer deutlicher gesehen wird, müsste sich folglich gleichsam an den Anfang der Neuzeit, an die Renaissance, wo die Ursprünge und Ursachen dafür lägen, zurück besinnen. Aber gilt diese Trennung in nach vorn und nach hinten orientiertes Denken und Verhalten denn wirklich für die Renaissance, von der die neuzeitliche Welt und die neuzeitliche Naturwissenschaft tatsächlich ihren Ursprung und Anfang nahmen? Neuere Untersuchungen haben ergeben, dass es eine solche andersartige Einstellung der beiden Bereiche nicht gab, dass sie sich vielmehr nur scheinbar ergibt, wenn man retrospektiv, also teleologisch, die Naturwissenschaften dieser Epoche betrachtet und aus dem Blickwinkel gegenwärtiger Naturwissenschaft nur für das einen Sinn entwickelt, was von ihnen noch heute gültig ist oder direkt zu dem führte, was heute noch gültig ist. Betrachtet man dagegen die Wissenschaften zur Zeit der Renaissance im Kontext ihres (und nicht unseres) ‚Historischen Erfahrungsraumes‘, so stellt sich rasch heraus, dass die Renaissance über alle individuellen und nationalen Nuancen hinweg von einer einheitlichen Geisteshaltung geprägt gewesen ist, die keine grundsätzlich andersgerichtete natur- und technikbezogene Denkweise neben einer durch die Rückbesinnung auf die Antike geleiteten christlich orientierten und 3
Siehe dazu etwa Krafft, Fritz: Zielgerichtetheit und Zielsetzung in Wissenschaft und Natur. Entstehen und Verdrängen teleologischer Denkweisen in den exakten Naturwissenschaften, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 5, 1982, S. 53-74.
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von Kunst, Dichtung und Rhetorik gebildeten Vorstellungswelt kannte. Gemeinsames Gegenbild, das es zu überwinden galt, war vielmehr die in Dogmatik erstarrte Scholastik (Aristotelismus) und die arabistisch geprägte Wissenskultur. Die Legitimität, für das 15. und 16. Jahrhundert von einer selbständigen Epoche der Renaissance zu sprechen, ergibt sich auch erst daraus, dass auch die Naturwissenschaften in ihr eine gegenüber dem vorangegangenen Nominalismus und gegenüber der so genannten ‚naturwissenschaftlichen Revolution‘ des 17. Jahrhunderts eigenständige Rolle gespielt haben und in ihrer Haltung den übrigen geistigen Einstellungen der Epoche Renaissance entsprachen und einbezogen waren in die Bestrebungen der Renaissance-Humanisten, auch im Bereich der Mathematik und Naturwissenschaften durch Bereitstellung und Aufbereitung der Texte der Griechen deren Wissen wieder zu beleben, und zwar nicht als wenn auch unsterbliches, so doch vergangenes Kulturgut, sondern als für die Gegenwart unerlässliches Wissen, das entweder selbst oder dessen Verständnis zwischenzeitlich über das ‚dunkle‘ Mittelalter hinweg verloren gegangen war. Die mathematisch-naturwissenschaftlichen Disziplinen wie die Astronomie, Optik und Geometrie erhielten ebenso wie die naturgeschichtlichen wie Botanik, Zoologie und auch Mineralogie ihre gegenüber dem Mittelalter neuen und das heißt ihre neuzeitlichen Inhalte während eines in mehreren Phasen verlaufenen Prozesses dieser Wiedergewinnung und Wiederaneignung. Dieser Prozess setzte mit einer Suche nach entsprechenden Handschriften und deren Abschreiben ein, fortgesetzt mit der rein philologischen Kleinarbeit zur Säuberung der Texte von Überlieferungsfehlern. Dieser Textgewinnung folgte eine philologisch-grammatische und sachliche Interpretation, die beide Hand in Hand gingen und zur Verbesserung des Textes und des Textverständnisses aufgrund des im Wechselspiel damit verbesserten Sachverständnisses führten. Mit dieser Phase verzahnt ist dann schon die zusammenfassende Verarbeitung der Texte in Kommentaren und selbständigen Schriften, wobei zur Gewinnung des Sachverständnisses bereits ein Vergleich mit empirischen Erkenntnissen und Beobachtungen einbezogen wurde, wie es gerade auch die nicht humanistisch vorgebildeten, meist volkssprachigen ‚Experten‘ der Praxis besaßen. So sind beispielsweise die prächtigen, am in der Renaissance wiedergewonnenen Naturalismus orientierten Holzschnitte zu den Kräuterbüchern der mit Agricola zeitgenössischen so genannten deutschen ‚Väter der Botanik‘ aus dem frühen 16. Jahrhundert (Hieronymus Bock, Otto Brunfels und Leonhart Fuchs) keineswegs ein Zeichen ihrer Modernität, der gegenüber das traditionalistische Ausschreiben der antiken Belegtexte für die jeweilige Pflanze den rückwärts gerichteten, antiquierten Teil dieser noch zwiespältigen Renaissance-Denker aufscheinen ließen; denn das hieße, die Illustrationen aus ihrem ursprünglichen Zweckverbund herauszulösen. Sie sollen vielmehr wie die Textbelege der Identifizierung der in den antiken Texten genannten Pflanzen und ihrem Auffinden in der Natur dienen. Das Ziel der vermeintlichen ‚Väter der Botanik‘ war nicht die Begründung einer neuzeitlichen, von irgendwelchen Nutzanwendungen freien Wissenschaft Botanik, sondern die fachgerechte, hier medizinische Anwendung der aus den alten Schriften wiedergewonnenen Kenntnisse. Erst im Zuge dieser Phase des
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Renaissance-Humanismus verselbständigen sich dann Botanik und Zoologie allmählich und emanzipieren sich von der Nutzanwendung als materia medica. Während dieser Prozess der Wiederaneignung des Wissens der Griechen und Römer für Botanik und Zoologie jedoch mehrerer Generationen von Humanisten mit wachsenden Fachkenntnissen bedurfte und bis ins 17. Jahrhundert währte, fand der Erneuerungs- und Emanzipierungsprozess für die bis dahin noch gar nicht existente Mineralogie von dem bewussten Rückgriff auf die antiken Texte über die Anhäufung und Anwendung des aus ihnen gewonnenen Wissens bis zu seiner empirischen Prüfung im und am Bergwerk und Hüttenwesen und zur neuartigen systematischen Zusammenstellung fast zugleich Anfang und Höhepunkt in der Person des humanistischen Arztes Georgius Agricola. Dieses Programm legte er bereits in seinem mineralogisch-montanistischen Erstlingswerk, dem Bermannus sive de re metallica von 1530 dar, von dem immerhin kein geringerer als der große Humanist Erasmus von Rotterdam in einem mitabgedruckten Geleitwort schrieb4, dass er nicht sagen könne, ob er es mit größerem Vergnügen oder mit größerem Gewinn gelesen habe („Nec satis possum dicere, maiore ne voluptate fecerim an fructum.“); denn wirklich erfreulich sei „der schlichte Stil, der an gewisse attische Vorbilder erinnere“ – eine Voraussetzung, um auch vor den Humanisten, den Gelehrten der Zeit, bestehen zu können. Er sehe, „dass sich einige junge Leute zur Wiederherstellung der Medizin anschickten (ad rem medicam restituendam iuvenes aliquot accinctos video)“, und keine geringere Hoffnung eröffneten jetzt diese „Vorleistungen“ Agricolas („haec Georgii προγυµνάσµατα“), nämlich der Dialog Bermannus. – Aus heutiger Sicht ist es natürlich nicht ganz verständlich, dass und wieso ein Werk wie dieser Bermannus, das in der Regel inhaltlich der Erneuerung der Mineralogie und der Begründung neuzeitlicher Montanwissenschaften zugeordnet wird, als „Vorleistung zur Wiederherstellung der [antiken] Medizin“ gefeiert werden konnte, wie die Renaissance-Bestrebungen zur Erneuerung der (griechischen) Medizin also zur Begründung von Mineralogie und Montanwissenschaften hätten führen können. Agricolas Lebensweg vor dem Hintergrund des sich darin widerspiegelnden Denkens seiner Zeit wird helfen, dieses Paradoxon zu entwirren:5 Georg Pawer (Bauer), der ab 1518 seinen Namen nach Humanistenbrauch lateinisierte zu Georgius Agricola, wurde am 24. März 1494 als ältester Sohn von sieben Kindern eines Tuchmachermeisters in Glauchau geboren. Nach dem Besuch der Gemeindeschule in Glauchau wurde er 1506 auf die Lateinschule in Chemnitz geschickt und scheint hier neben dem Erwerb guter Lateinkenntnisse auch eine erste Einführung in das Griechische erhalten zu haben. Nach einer Weiterbildung in Magdeburg ließ er sich im Sommer 1514 an der Universität Leipzig einschreiben, wo er bereits ein Jahr später das Bakkalaureat erwarb, das zum weiteren Fach4 5
Agricola, Georgius: Bermannus sive de re metallica, Basel 1530, S. 3. Zur Biographie G. Agricolas im Kontext der Wissenschaft und Technik seiner Zeit siehe vor allem Wilsdorf, Helmut: Georg Agricola und seine Zeit, Berlin 1955 (Georgius Agricola, Ausgewählte Werke. Gedenkausgabe des Staatlichen Museums für Mineralogie und Geologie zu Dresden, Bd. 1); Prescher, Hans u. Otfried Wagenbreth: Georgius Agricola – seine Zeit und ihre Spuren, Leipzig u. Stuttgart 1994.
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studium berechtigte. In diesem stand er dann unter dem Einfluss des etwa gleichaltrigen Petrus Mosellanus (Peter Schade), der 1517 als Professor des Griechischen neu berufen worden war. Anfang 1518 ging Agricola allerdings bereits als Griechischlehrer an die Lateinschule von Zwickau, wo ihm 1519 die Leitung der neugegründeten Griechischschule übertragen wurde; 1520 wurden beide Schulen unter seiner Leitung zur Ratsschule zusammengefasst – im selben Jahr erschien als erste Publikation von ihm ein Grammatiklehrbuch. Mitte des Jahres 1520 wurde ihm als zusätzliche Einnahme ein Stiftungslehen mit einem jährlichen Ertrag von 30 Gulden verliehen, das mit der Auflage, sich zum Priester ausbilden zu lassen, verbunden war. 1522 konnte Agricola so das Schulmeisteramt aufgeben, um zum weiteren Studium der klassischen Sprachen wieder an die Universität Leipzig zu gehen. Hier wohnte er bei dem Professor der Medizin und kurfürstlichen Leibarzt Heinrich Stromer von Auerbach, der ihn für dieses Fach so sehr zu begeistern vermochte, dass Agricola, als er im Herbst 1523 nach Italien ins Land der Humanisten ging, sich in Bologna neben dem Abhalten von griechischen Vorlesungen gänzlich dem Studium der Medizin widmete und vermutlich bereits nach einem dreiviertel Jahr im Sommer 1524 zum Doktor der Medizin promovierte.6 Es wäre heute natürlich nicht möglich, am Ende eines zweisemestrigen Fachstudiums zu promovieren. Aber damals prädestinierte ihn das intensive mehrjährige Studium und Lehren der klassischen Sprachen regelrecht für die Medizin. Wie die Arzneikunde galt sie als seit der Antike abgeschlossene Wissenschaft, die folglich aus den klassischen Lehr- und Handbüchern zu erlernen war; und das waren zu dieser Zeit des Humanismus statt der arabisch-lateinischen Quellenwerke auch in der Medizin wieder die klassischen der Griechen, deren Wissen es aus den Originalschriften statt aus den arabischen Übersetzungen zu gewinnen galt; und dafür waren gute Griechischkenntnisse unumgänglich, jedenfalls sehr viel nützlicher als theoretisches medizinisches Wissen. Praktische Medizin wurde damals sowieso noch nicht an den Universitäten vermittelt. Erst 1533 wurde im in dieser Hinsicht fortschrittlichsten Padua eine erste Vorlesung über einfache Heilmittel, eine Lectura simplicium, eingerichtet, eine „Vorlesung über einfache (pflanzliche) Heilmittel“; und auch die Bestrebungen, einen dauerhaften Botanischen Garten (Horto dei simplici) als ersten seiner Art in Europa überhaupt einzurichten, sollten erst 1545 erfolgreich werden7. Diese in Europa erstmals empirisch orientierte Medizin kann es also noch nicht gewesen sein, die Agricola, nachdem ihm die Zwickauer Pfründe wegen NichtErfüllung der Auflagen entzogen worden war, im Herbst 1524 veranlasste, nach Padua an die Stadtuniversität von Venedig zu gehen. Er hatte vielmehr für seinen Lebensunterhalt zu sorgen und war in das Venezianische Verlagshaus Manutius eingetreten. Der derzeitige Besitzer Andreas Asulanus hatte ein Privileg für die 6 7
Näheres siehe Bocchini Varani u. Maria Antonietta: Agricola and Italy, in: Geo-Journal 32, 1994, S. 151-160. Siehe Schiller, Peter: Der Botanische Garten in Padua. Astrologische Geographie und Heilkräuterkunde zu Beginn der modernen Botanik – L’orto botanico di Padova. Geografia astrologica e scienza dei simplici alle origini della botanica moderna, Venedig 1987 (Centro Tedesco di Studi Veneziani, Quaderni 37).
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Editionen der Werke griechischer Mediziner erworben, die er von Philologen und humanistischen Ärzten aus den Handschriften erarbeiten ließ. Hier waren bereits zuvor neben Schriften des Aristoteles die Historia plantarum von Theophrastos und die Materia medica von Dioskurides erschienen. Kurz vor dem Abschluss stand die mehrbändige Editio princeps des griechischen Galenos; und in der Vorrede zu deren fünftem und letztem Band hebt der Verleger dann auch ausdrücklich die Verdienste Agricolas um diesen Band hervor; er habe „bei der Berichtigung des Galenos seinen Fleiß und seine Arbeitskraft voll und ganz eingesetzt“. Gleiches gilt für die beiden folgenden griechischen Erstausgaben der Werke von Hippokrates, die 1526 erschienen, und von Paulos von Aigina, die 1528 erschienen, aber bereits 1526 fertig gestellt waren. Die von Anfang an herrschende Schwerpunktsetzung des venezianischen Druckwesens auf das medizinische Schrifttum hängt sicherlich ursächlich damit zusammen, dass Venedig trotz der Erschließung des Seeweges nach Indien und Ostasien und der türkischen Eroberungen im Mittelmeerraum immer noch Zentrum und Ausgangspunkt des europäischen Drogen- und Gewürzhandels über die Levante war, den auch Agricola hier kennengelernt haben wird. Immerhin wurde das aus griechisch-arabischer Tradition stammende umfangreiche lateinische medizinisch-pharmazeutische Kompendium des Pseudo-Mesuë aus dem frühen 13. Jahrhundert gleichsam als Werbeschrift für das entsprechende Handelsgut als erstes umfangreicheres medizinisches Werk 1471 auch hier in Venedig gedruckt (1475 folgte die erste italienische Ausgabe); und fast die Hälfte der dann auch mit Kommentaren versehenen mindestens 57 lateinischen Gesamtausgaben hatten ebenfalls Venedig als Druckort – bis 1513 waren es sogar 14 von 21 Ausgaben gewesen, während danach das Interesse sich auch hier in Venedig im Zuge des RenaissanceHumanismus mehr den griechischen Autoren zugewandt hatte. Erst ab der Mitte des 16. Jahrhunderts, als die humanistische Medizin vorwiegend aus pragmatischen Gründen insbesondere seitens der praktischen Pharmazie wieder zurückgedrängt wurde (an den teuren arabischen Composita konnte besser verdient werden als an den griechischen Simplicia), erscheinen dann auch in Venedig wieder Mesuë-Ausgaben, nach 1527 und 1538 insgesamt 12 von 17, die allerdings insofern auch dem Humanismus Tribut zollten, als anfangs parallel zur mittelalterlichen Version und dann ausschließlich eine von Jacques Dubois (Jacobus Sylvius) 1542 angefertigte ‚Übersetzung‘ in Humanistenlatein den Ausgaben zugrunde gelegt wurde.8 Auch nach dem Abschluss der Arbeiten an der Paulos-Ausgabe hat Agricola sich mit der Korrektur und Wiederherstellung der Schriften griechischer Mediziner beschäftigt, wie der ihm befreundete Joachimsthaler Rektor Petrus Plateanus im Widmungsbrief zu der von ihm besorgten Ausgabe des Bermannus berichtete;9 denn vieles in diesen Schriften, vor allem in den erwähnten Rezepturen, sei nicht 8
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Die vorstehende Analyse benutzt die Daten von Lieberknecht, Sieglinde: Die Canones des Pseudo-Mesuë: Eine mittelalterliche Purgantien-Lehre. Übersetzung und Kommentar. Im Anhang die Versio antiqua in der Druckfassung von 1561. Mit einem Geleitwort von Fritz Krafft, Stuttgart 1995 (Quellen und Studien zur Geschichte der Pharmazie, Bd. 71). Plateanus, Petrus: Widmungsschreiben, in: Agricola, Bermannus (wie Anm. 4), S. 7 u. 9.
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mehr verständlich oder durch die Überlieferung verfälscht worden, weil das Wissen von den darin genannten Substanzen im Mittelalter verloren gegangen sei. Agricolas in den Jahren zwischen 1524 und 1530 entstandenes Werk Castigationes in Hippocratem et Galenum blieb jedoch ungedruckt und ist verschollen. Aber sein hauptsächliches Ziel ging über die Textherstellung weit hinaus. Er war zwar nicht sogleich in die Heimat zurückgekehrt, sondern hatte weitere Stätten in Italien aufgesucht (Florenz, Rom, Venedig und der Vesuv werden aus Anlass später von ihm verwerteter Beobachtungen erwähnt) und hatte sich dann dem kaiserlichen Heer beim Zug über die Alpen angeschlossen. Im September 1526 traf er bei seinem Bruder in Zwickau ein. Bis in den Herbst des folgenden Jahres hielt er sich in Chemnitz auf, wo er die verwitwete Anna Meyner ehelichte, die hier ein Haus besaß; seine intensiven Bemühungen um eine Anstellung als Stadtarzt hier am Fuße des vom Silbererzbergbau durchzogenen Erzgebirges, wo sich nach 1470 auch eine bedeutende Hüttenindustrie angesiedelt hatte, waren dann schon geprägt durch die eigentliche Lebensaufgabe, die er sich gestellt hatte. Während nämlich die als Arzneimittel verwendeten pflanzlichen und tierischen Substanzen, die in den griechischen Texten genannt werden, von den Humanisten bereits vielfältigen sprachlichen und sachlichen Prüfungen unterworfen worden waren, reichten für das Wiedererkennen der Mineralien (damals noch fossilia genannt, so dass auch Steine und Erde dazu zählten) die üblichen Kenntnisse eines Humanisten nicht aus; hierzu bedurfte es des berg- und hüttenmännischen, meist volkssprachlichen Fachwissens, wie es in der sächsisch-erzgebirgischen Heimat Agricolas anzutreffen war; und so war es spätestens seit den Arbeiten an den griechischen Medizintexten sein Wunsch gewesen, diese Lücke selbst zu füllen. Jedenfalls bemühte er sich sogleich nach seiner Rückkehr aus Italien um eine Anstellung im heimischen Silbererzbergbaugebiet, mit der ausdrücklichen Absicht, auch für den Bereich der fossilia (mineralia) die antiken Kenntnisse durch das Studium sowohl der einschlägigen antiken Schriften als auch des Berg- und Hüttenwesens selbst in Theorie und Praxis wiederzugewinnen, um, wie er im Bermannus selber schildert, „vor Ort“ die trotz aller Bemühungen der humanistischen Ärzte um die Texte weiterhin bestehende Unwissenheit der zeitgenössischen Medizin und Arzneikunde von den mineralischen Substanzen beseitigen zu können:10 „Wenn doch wenigstens die alten und unverdorbenen Bezeichnungen uns keine Geheimnisse und nach deren Entschleierung uns zumindest die Dinge, die damit bezeichnet wurden, keine Rätsel mehr blieben!“ „Wer wüsste nicht, von welch außerordentlichem Nutzen für die Medizin die res metallicae sind, zumal dort, wo durch die äußerliche Anwendung von Heilmitteln therapiert wird. Zweifellos wird diesen Nutzen keiner bestreiten können, der die Bücher des Galenos [...] und des Dioskurides einmal aufgeschlagen hat. Wer aber könnte heute klipp und klar sagen, was molibdaena, pyrites, chalcidia (Chalcit), misy, sory, pompholyga, spodos, diphryges und die übrigen mineralischen Hüttenprodukte (recrementa) sind. Außer stibi, lithargyrum, arsenicum, cerussa und einigen wenigen anderen Stoffen haben die heutigen Officinen, in denen doch Medikamente jeglicher Art hergestellt werden sollen, nichts dergleichen, und die Ärzte kennen sie, mit Verlaub gesagt, nicht einmal (neque medici norunt, vera liceat dicere).“
10 Agricola, Bermannus (wie Anm. 4), S. 12-15.
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Ähnlich hatte schon Plinius über die Kenntnisse der römischen Ärzte von den ‚metallischen‘ Arzneimitteln vor der römischen Renaissance griechischer Medizin geurteilt11: „Alles dieses kennen die Ärzte, sie mögen darüber nicht ungehalten sein, nicht. Sie lassen sich nur von den Bezeichnungen leiten – soweit haben sie sich von der Herstellung der Arzneimittel entfernt, die doch stets ein der Medizin ureigenster Bereich gewesen ist.“ Die Ärzte müssten ihre Pflaster vielmehr in der berüchtigten ‚Seplasia‘ kaufen – eine officina / Apotheke gab es damals noch nicht; ein Arzt stellte die von ihm verschriebenen Arzneien in der Regel noch selber her, selbst in Rom, wo ihnen allerdings griechische, als betrügerisch geltende Drogenhändler das abnahmen, für die entsprechende Händler in der berüchtigten Straße ‚Seplasia‘ in Capua den Namen gaben (die Ware galt als verfälscht und verdorben: „fraus Seplasiae“, schreibt Plinius). – Hieran, gleichsam als Topos, will der Humanist Georgius Agricola seine Ausführungen sicherlich anklingen lassen und sein Vorgehen damit nach Humanistenart gleichsam durch das Beispiel antiker Autoritäten zusätzlich rechtfertigen; denn auch er fährt fort: „Wir [die Ärzte] sollten uns schämen, diese Namen so oft zu lesen und so oft im Munde zu führen und dabei die Substanzen, die damit bezeichnet werden, nicht zu kennen! [...] Wie soll man einen Arzt gleichmütig ertragen können, der sich über den Gebrauch und die Wirkkräfte von Arzneimitteln immer wieder lang und breit auslässt, die er überhaupt nicht kennt? [...] Was wundert unter solchen Umständen, wenn bestimmte Geschwüre, die zu anderen Zeiten geheilt wurden, bei uns unheilbar sind, da wir nur noch wenige Pflaster, und am wenigsten die aus mineralischen Stoffen zusammengesetzten (emplastra ex metallicis composita), welche die Alten zum höchsten Nutzen der Menschheit, aber auch zu ihrem eigenen Ruhm bereits in Gebrauch hatten, richtig herstellen können (integra conficere possumus).“
Deshalb habe er seine Tätigkeit als Arzt an einen Ort verlegt, an dem vielseitiger Bergbau betrieben wird, um diese Kenntnisse wiederzugewinnen; denn „von anderem abgesehen, muss ich feststellen, dass sehr viel von den besonderen Arten der Tiere und von den Pflanzen, die aus der Erde ihren Ursprung haben, wie auch von dem, was die Erde selbst aus sich erzeugt, uns völlig verworren und unbekannt ist. Aber selbst, wenn wir es erkennen und nicht selten mit unseren Händen bearbeiten, so wissen wir doch im ganzen nichts darüber, mit welchen Bezeichnungen das klassische Altertum diese Dinge benannt hat. Daraus ergibt sich von selbst, dass uns ein erheblicher Teil der Verwendungsmöglichkeiten jener Dinge unbekannt bleibt. Dabei sind die meisten Probleme der Natur und der Naturkräfte, die irgendwie den Dingen innewohnen, schon im klassischen Altertum, insbesondere von den Griechen, höchst sorgfältig in ihren Werken behandelt worden. Was aus langer praktischer Erfahrung gefunden worden war, das steht, durch theoretische Überlegungen gesichert, fest. Sollte es uns nicht möglich sein, dies alles bei weitem reiner von den Griechen, die ja die eigentlichen Quellen sind, wieder zu schöpfen, wenn wenigstens die alten und unverdorbenen Bezeichnungen uns keine Geheimnisse und nach deren Entschleierung uns mindestens die Dinge, die damit bezeichnet wurden, keine Rätsel mehr blieben?“
Und Agricola hat für die Aufklärung der metallischen und allgemein mineralischen Stoffe, welche in der Medizin Verwendung gefunden hatten und damals 11 Plinius Secundus, Gaius: Naturalis historia, XXXIV 108: „Atque haec omnia medici, quod pace eorum dixisse liceat, ignorant. Parent nominibus: in tantum a conficiendis medicaminibus iis absunt, quod esse proprium medicinae solebat.“
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(und teilweise noch heute) fanden, wirklich Bedeutendes geleistet. 12 Zusätzlich wollte er „den jeweiligen Heilkräften Entsprechendes ans Licht bringen, was in Deutschland in den Bergwerken aufgefunden wird, in der Antike aber noch unbekannt gewesen ist“13 – woraus sich dann nach und nach eine Ausweitung seiner Forschungen auf den gesamten Montanbereich ergab. In Chemnitz waren seine Bemühungen zwar vorerst vergeblich gewesen, doch konnte er im Herbst 1527 die Stelle des Stadtarztes im aufstrebenden böhmischen Sankt Joachimsthal übernehmen, die er bis 1530 innehatte. Erst 1516 hatte man dort im Tal Silbererze entdeckt. Die rasch wachsende Bergbausiedlung, in die aus allen Teilen Europas Bergfachleute strebten, erhielt 1517 ihren Namen und wurde 1520 zur freien Bergstadt erhoben. 1527, als Agricola hier eintraf, war bereits eine Einwohnerzahl von 15.000 erreicht und wurden über 900 gangbare Gruben betrieben. Die von den Grafen Schlick hier ab 1518 geprägte Silbermünze, ein Guldengroschen, konnte in so großen Mengen hergestellt werden, dass sie als ‚Joachimstaler‘ (Guldengroschen) für die Einbürgerung der Silbermünzen diesen Wertes im internationalen Zahlungsverkehr entscheidend beigetragen hat und namengebend für ihre Benennung als ‚Taler‘ wurde. Der vormalige Erfurter Medizinprofessor Georg Sturtz hatte hier als Stadtarzt 1525 eine Apotheke errichtet. Außerhalb der großen Städte und gerade auch in solchen Pioniersiedlungen galten ja noch lange nicht die städtischen Medizinalordnungen, die in der Folge der Constitutiones von Melfi Friedrichs II. von 1231 und ihrer Novellierungen die wirtschaftliche Gemeinschaft von Arzt und Apotheker untersagten und dem Arzt verbaten, eine eigene Offizin zu unterhalten oder Arzneimittel selbst zu dispensieren14 . Als Agricola das Amt des Stadtphysikus und des Apothekers übernahm, hatte er also selber dafür zu sorgen, dass die Arzneien aus den alten Schriften in seiner Apotheke auch hergestellt werden konnten. Hier im damals modernsten Bergbaugebiet konnte sich Agricola dann aber auch intensiven montanistischen Studien über und unter Tage widmen – angeleitet von Plateanus sowie dem Stadtschreiber Bartholomäus Bach und dem Hüttenschreiber Lorenz Wermann, der nach platonischer Manier dann auch unter dem Namen ‚Bermann‘ die bergbausachkundige Titelfigur des Dialogs Bermannus bilden sollte. Die Dialogform wurde in der damaligen Umbruchzeit gern als literarisches Stilmittel benutzt, um das Alte und Neue besser argumentativ voneinander scheiden 12 Siehe etwa Hickel, Erika: Chemikalien im Arzneischatz deutscher Apotheker des 16. Jahrhunderts, unter besonderer Berücksichtigung der Metalle, Braunschweig 1963 (Veröffentlichungen aus dem Pharmaziegeschichtlichen Seminar der Technischen Hochschule Braunschweig, Bd. 7); Goltz, Dietlinde: Studien zur Geschichte der Mineralnamen in Pharmazie, Chemie und Medizin von den Anfängen bis Paracelsus, Wiesbaden 1972 (Sudhoffs Archiv, Beiheft 14). 13 Agricola, Bermannus (wie Anm. 4), S. 14. 14 Siehe Hein, Wolfgang-Hagen u. Kurt Sappert: Die Medizinalordnung Friedrichs II. Eine pharmaziehistorische Studie, Eutin 1957 (Veröffentlichungen der Internationalen Gesellschaft für Geschichte der Pharmazie, N.F., Bd. 12); Krafft, Fritz: „Die Arznei kommt vom Herrn, und der Apotheker bereitet sie“ – Biblische Rechtfertigung der Apothekerkunst im Protestantismus: Apotheken-Auslucht in Lemgo und Pharmako-Theologie, Stuttgart 1999, S. 36-43 (Quellen und Studien zur Geschichte der Pharmazie, Bd. 76).
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zu können. Hier treffen der aristotelisch-scholastische und in der arabisch-lateinischen Medizin bewanderte fiktive Arzt Nicolaus Ancon und der die via moderna vertretende und sich in der griechischen und lateinischen Literatur bestens auskennende humanistische Arzt Johannes Naevius, mit dem sich Agricola in Bologna angefreundet hatte, als Gesprächspartner der medizinisch-pharmazeutischen Seite auf den Schichtmeister Lorenz Bermann, der die berg- und hüttenmännische Seite vertritt und die Ärzte auf deren Wunsch vor Ort führt, um dem zwischen ihnen geführten Fachgespräch stets sogleich den anschaulichen Hintergrund bieten zu können. Die in den Bergwerken gefundenen Substanzen werden hinsichtlich ihrer Eigenschaften und Verwendungsart mit den bei den antiken Autoren genannten Arzneimitteln verglichen und möglichst zugeordnet. Dabei lässt Agricola durchaus auch Substituierungen nicht zu beschaffender oder zu kostspieliger Substanzen durch heimische vorschlagen. – So müsse beispielsweise die Nichtbeschaffbarkeit des von Dioskurides besonders empfohlenen Ockers aus Attika nicht dazu führen, seine Pflaster nicht zu verwenden; denn deutscher oder ungarischer Ton würde denselben Dienst leisten, wobei es sogar nicht nötig sei, ungarischen einzuführen, wie es wegen des relativ geringen Preises geschehe, und den in Joachimsthal anstehenden ungenutzt liegen zu lassen, wie der mineralogische Fachmann Bermann bemerkt 15 ; zumal schon zur Zeit des Plinius 16 die als die beste eingeschätzte attische ,Gelberde‘ wegen der Stilllegung der erschöpften attischen Silbergruben nicht mehr zur Verfügung gestanden hätte. In dem Dialog stellt Agricola durch die Verknüpfung der volkssprachlichen bergbaulichen und hüttentechnischen Sachkunde mit dem an den klassischen Texten und damit den antiken Kenntnissen ausgerichteten Humanismus und der arabistisch-scholastischen Tradition, die das Wissen der Antike aber verfälscht und verdrängt hätte, die methodische Grundlegung für die Verwissenschaftlichung der bergbau- und hüttentechnischen Praxis her, die durch die Umsetzung in ciceronisches Latein von Agricola gleichzeitig akademisiert wurde. Er entwickelte daraufhin schon damals ein umfassendes Programm für das weitere schriftstellerische Vorgehen, das ihn schließlich zum Begründer der Montanwissenschaften einschließlich der Mineralogie und Geologie werden ließ, obgleich er es nicht in allen Einzelheiten hatte abschließen können. Wie Plateanus im Widmungsschreiben zum Bermannus weiter darlegte17, hatte Agricola bereits 1530 über den Dialog hinausgehende Studien zu Papier gebracht, die er nach Fertigstellung herauszubringen versprochen habe. Plateanus betonte dabei die von Agricola verkörperten Voraussetzungen für dieses Programm: Beherrschung der zeitgenössischen Medizin (medicus), überragende Bildung (virum supra reliquam erutionem) sowie beste Kenntnisse in den beiden klassischen Sprachen, im Lateinischen und im Griechischen (utraque lingua doctissimum). Erst daraufhin habe er „vieles, was einst die berühmtesten Ärzte auf dem Höhepunkt der Medizin angewendet hatten“, aus der Vergessenheit („ex ipsis inferis“) wieder ans Licht bringen können, und 15 Agricola, Bermannus (wie Anm. 4), S. 92f. 16 Siehe Plinius Secundus, Gaius: Naturalis historia, XXXIII, 159/164. 17 Agricola, Bermannus (wie Anm. 4), S. 5-9.
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dazu habe er einerseits sämtliche verstreuten Erörterungen „de rebus metallicis“ aus den erhaltenen Schriften der Griechen und Römer sorgfältig studiert und gesammelt, andererseits aber auch alles peinlichst genau abgewogen, was sich an Benennungen und Erkenntnissen aus dem deutschen und besonders dem heimischen Bergwesen gewinnen ließ. Als Ergebnis würden demnächst Werke über Bergbau und Hüttenwesen erscheinen – was sich dann allerdings bis 1546 hinzog. Agricolas montanwissenschaftliches Hauptwerk über Bergbau und Hüttenwesen, De re metallica libri XII, das noch bis ins 18. Jahrhundert das maßgebliche Hand- und Lehrbuch bleiben sollte, erschien sogar erst posthum 1556 in Basel. Aber selbst hier in De re metallica, wo die medizinisch-pharmazeutische Zielsetzung nur noch gelegentlich durchscheint, schloss Agricola wieder in einem großen Bogen an seine ursprüngliche, inzwischen erfüllte Zielsetzung an, wenn er die Aufzählung der Nutzanwendungen des Erz-Bergbaus zu seiner Rechtfertigung mit den Worten beginnen ließ18: „Als erstes nützt er den Ärzten; denn er liefert eine Menge von Arzneien, mit denen Wunden und Eiterungen geheilt zu werden pflegen, sogar die der Pest. Darum müßten wir schon der Medizin allein wegen in der Erde graben, selbst wenn wir keinen weiteren Grund zu ihrer Durchsuchung hätten.“
Ausgesprochen Neues zur Pharmazie und Medizin brachte Agricola allerdings weder im Bermannus noch in den anderen Werken vor; darin sah er als Humanist im Gegensatz etwa zu dem berühmten Zeitgenossen Paracelsus auch gar nicht seine Aufgabe. ‚Neues‘ bedeutete bei ihm: Wiedererkennung, Wiederbekanntmachung und gelegentlich auch selbst durchgeführte Wiederanwendung von einfachen und zusammengesetzten Arzneimitteln der antiken Autoritäten – und zwar in richtigen Maß- und Gewichtsverhältnissen. Auch dazu waren ja die einst einheitlichen Maße der Römer inzwischen verloren gegangen und durch eine verwirrende Vielfalt lokaler Maßsysteme ersetzt worden. So hatten auch die am Anfang seiner metrologischen Untersuchungen stehenden Bemühungen um die Gewichte und Maße der Alten, mit denen er noch in Sankt Joachimsthal begonnen hatte, nach seinen eigenen Worten in der Vorrede zu seiner erstmals 1533 in Basel und gleichzeitig in Paris erschienenen Schrift De mensuris et ponderibus19 in erster Linie den Grund und Sinn, die unbekannten und widersprüchlichen quantitativen Angaben in den Rezepten der antiken Mediziner richtig zu erfassen. Es sei nämlich kein Wunder, dass die Heilerfolge der von den antiken Ärzten beschriebenen Rezepte selbst bei Verwendung gleicher und einwandfreier Bestandteile nicht einträten, wenn die darin genannten Gewichts- und Mengenangaben nicht befolgt werden könnten, weil die Maßeinheiten unbekannt wären. Dabei konnte er etwa feststellen, dass bei Galenos ,libra‘ und ,uncia‘ sowohl als Gewicht als auch als Volumeneinheit benutzt wurden.
18 Agricola, Georgius: De re metallica libri XII, Basel 1556, S. 14f. 19 Außerdem erschien 1535 eine Ausgabe in Venedig. In dem metrologischen Sammelband Agricola, Georgius: De mensuris et ponderibus, Basel 1550, wurde der Titel erweitert zu: De mensuris et ponderibus Romanorum atque Graecorum.
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Das Amt des Stadtarztes von Sankt Joachimsthal sowie das Betreiben der ärztlichen Praxis und der Apotheke, das Agricola bis 1530 ausübte, scheint er sehr erfolgreich ausgeführt zu haben. Er wurde nicht nur später immer wieder als Arzt von hochgestellten Persönlichkeiten nach Sankt Joachimsthal gerufen, er hatte auch beträchtliche Einnahmen zu verzeichnen; denn als er 1531 endlich als Stadtleybarzt nach Chemnitz berufen wurde, besaß er bereits mehrere ‚Kuxe‘ der 1528 fündig gewordenen Silber-Grube ‚Gabe Gottes‘ im nahen Abertham, und schon 1533 konnte er immerhin dem Chemnitzer Benediktinerkloster ein Darlehen von 1000 Gulden gewähren. 1542/43 heiratete er in zweiter Ehe sein Mündel Anna Schütz aus einer der einflussreichsten Familien in Chemnitz, und die Türkensteuerregister für 1542 und 1551 weisen ihn jeweils als einen der vermögendsten Bürger von Chemnitz aus. 1543 wurde ihm von Herzog Moritz von Sachsen zusätzlich Steuerfreiheit auf den Hausbesitz und Befreiung von öffentlichen Ämtern gewährt, damit er sich ganz seinen wissenschaftlichen Studien widmen könne. In der Folge konnte Agricola so den mineralogisch-geologischen Teil seines Vorhabens abschließen, unterstützt von dem Lehrer Adam Siber, den er als wissenschaftlichen Mitarbeiter einstellen konnte. Bei der Beschaffung von Mineralen, Gesteinen, Pflanzen und Tieren oder von Nachrichten und Beobachtungen über sie waren ihm darüber hinaus zahlreiche Gelehrte behilflich. Überhaupt war es sein Bestreben, das antike Schrifttum vollständig zu erfassen und für seine Studien auszuwerten; Zeugnis dafür legt auch die Liste der 99 Quellenautoren ab, die er dem Widmungsbrief zu dem Teilwerk De natura fossilium voranstellte20. Die bis 1546 fertiggestellten Schriften erschienen in diesem Jahr als Sammelband im Folioformat bei seinem Basler Verleger Hieronymus Froben: 1. De ortu et causis subterraneorum libri V / „Entstehung und Ursachen der Stoffe im Erdinneren“ (der Widmungsbrief datiert vom 1.3.1544), 2. De natura eorum, quae effluunt ex terra libri IV / „Die Natur der aus dem Erdinneren hervorquellenden Dinge“ (Widmungsbrief 25.10. 1545), 3. De natura fossilium libri X / „Die Natur der Mineralien“ (Widmungsbrief 13.2.1546) und 4. De veteribus et novis metallis libri II / „Erzbergbau in alten und neuen Zeiten“ (Widmungsbrief 7.3.1546) – eine erste Lagerstättenkunde. Es dürfte aber klar geworden sein, dass nur das humanistische Programm der Medizin seiner Zeit überhaupt verständlich macht, wieso und warum gerade ein Arzt zum Begründer neuzeitlicher Mineralogie und Montanwissenschaft hat werden können. Agricola gewann auf diese Weise nicht nur über das Mittelalter hinweg die antiken Kenntnisse über die Minerale wieder zurück, er erhob durch die Lateinisierung gleichzeitig das volkssprachlich überlieferte empirische Wissen der Bergund Hüttenleute zur Höhe akademischer Wissenschaft und verband beides.
20 Agricola, De Natura Fossilium (wie Anm. 1), S. 3f.
Ulrike Leitner
„DA ICH MITTEN IN DEM GEWÖLK SITZE, DAS ELEKTRISCH GELADEN IST ...“ ALEXANDER VON HUMBOLDTS ÄUSSERUNGEN ZUM POLITISCHEN GESCHEHEN IN SEINEN BRIEFEN AN COTTA Mehr als 50 Jahre – von 1807 bis zu seinem Tod 1859 – hat Alexander v. Humboldt mit den süddeutschen Verlegern Cotta (erst mit Johann Friedrich von Cotta und nach dessen Tod 1832 mit dem Sohn Johann Georg) Briefe gewechselt. 1 Naturgemäß betraf die Korrespondenz in erster Linie Publikationsgeschäfte, aber mehr und mehr entwickelte sich im Laufe der Jahrzehnte vor allem zu dem jüngeren Cotta eine freundschaftliche Beziehung, so dass Humboldt zunehmend auch Privates in die immer umfangreicher werdenden Briefe einflocht. Grundsätzlich offenbart sich Humboldts Persönlichkeit stärker in seinen Briefen als in seinen Schriften, aber auch hier gibt es Unterschiede je nach Adressat oder Zweck der Briefe, denn nicht immer konnte Humboldt – gerade wegen seiner Nähe zum preußischen König – seine wirklichen Ansichten preisgeben.2 „Wahrheit ist man nur denen schuldig, die man achtet“ hatte Humboldt 1841 an seinen langjährigen Briefpartner Karl August Varnhagen von Ense geschrieben,3 und die Briefe vor allem aus den späten Jahren der Cotta-Korrespondenz zeugen von einer derartigen Achtung. Der spezielle Ton der Briefe an Varnhagen, auf den Zeitgenossen nach der Publikation wegen der stellenweise bissigen Kommentare verletzt und empört reagierten, ist in den Cotta-Briefen so stark nicht spürbar, vielleicht wegen der Entfernung zum preußischen Königshaus. Trotzdem zeugen die Briefe, besonders die an den jüngeren Cotta, von einer freundschaftlichen Nähe und Ehrlichkeit, die zeigen, dass Humboldt ihm vertraute. Wegen ihrer relativen Offenheit und der Dauer scheint diese Korrespondenz besonders geeignet, um sie auf Humboldts Äußerungen zu politischen Begebenheiten während eines spannenden Zeitraums in der preußischen Geschichte (von der Napoleonischen Besetzung bis zur Epoche von Revolution und Restauration) zu sichten. Jedoch ist Anzahl oder Umfang der Schilderungen politischer Ereignisse in 1
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Diesen Text möchte ich Prof. Eberhard Knobloch anlässlich seines Geburtstages widmen, verbunden mit einem Dank für die aufwändige und ermutigende Unterstützung bei der Edition der umfangreichen Cotta-Korrespondenz. Dieser Briefwechsel (360 Briefe im Cotta-Archiv (Stiftung der Stuttgarter Zeitung), Deutsches Literatur-Archiv im Schiller-Nationalmuseum, Marbach/Neckar) wird demnächst erscheinen. Die Mehrzahl der Briefe schrieb Humboldt, an ihn gerichtete existieren nur wenige. Im Folgenden werden ausschließlich die Briefe Humboldts an J.F. v. und J.G. v. Cotta zitiert, da eine Darstellung ihrer politischen Haltung hier den Rahmen sprengen dürfte. Vgl. auch Biermann 1990, S. 116. Humboldt 1860, S. 105; vgl. auch Ette 2002.
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Ulrike Leitner
diesen Briefen nicht notwendig ein Gradmesser von Humboldts Wertung, sondern eher von seinem Vertrauen zum Briefpartner. So werden derartige Bemerkungen in den späten Briefen häufiger. 1805 setzt der uns bekannte Briefwechsel mit J.F. v. Cotta ein. Der 35-jährige Humboldt war kurz zuvor von seiner berühmten Amerikareise mit Plänen für die Publikation seines großen Reisewerks zurückgekehrt, der etwa fünf Jahre jüngere Cotta war bereits als Verleger von Goethe, Schiller und anderen Klassikern bekannt. Dieser Beginn der Zusammenarbeit stand wegen der schlechten Wirtschaftslage durch die napoleonischen Kriege unter keinem guten Stern. Mit dem Einzug der französischen Truppen in Berlin und der Verkündigung der Kontinentalsperre 1806 verstärkten sich die wirtschaftlichen Probleme in Deutschland, was sich auch im Verlagswesen bemerkbar machte. Zudem – so vermutete Humboldt – wurden Briefe offenbar manchmal nicht ausgeliefert. Wie tief Humboldt die preußische Katastrophe getroffen hatte, macht die leicht depressive Stimmung der Briefe in dieser Zeit deutlich. Nur die unglükliche Lage meines Vaterlandes, u. die meiner Familie werden mein langes Stillschweigen bei Ihnen, theurer Freund, rechtfertigen können. Briefe sind jetzt wie Landschaften in denen der Zeichner keinen Baum, kein Wasser, u. keinen Hügel anbringen soll u. Ihnen zeigte man gern ein anmuthigeres Gemälde! Aber auch diese Epoche wird vorübergehen u. ewig wechselnd auf dem Erdboden sich neues aus dem neuen gestalten. [...] Warum blieb ich nicht in den Wäldern am Orinoko od. auf dem hohen Rükken der AndesKette? (14.2.1807)
Im Frühjahr 1807 schrieb Humboldt an der Einleitung zu den „Ansichten der Natur“, und auch in diesem Text spürt man die durch die Unfreiheit Preußens hervorgerufene Stimmungslage. Am 6. Juni sandte er diese Einleitung (neben restlichen Aufsätzen zu den „Ansichten“) an Cotta und entschuldigte mit der politischen Situation auch die Verzögerung seiner literarischen Arbeiten: Unpäßlichkeit, melancholische Stimmung u. Unmuth der aus der fürchterlichen Lage meines Vaterlandes entsteht, haben mich abgehalten, die Arbeit die ich Ihnen jezt schikke früher zu vollenden u. Ihnen früher zu danken für die freundschaftlichen Briefe, die ich von Zeit zu Zeit von Ihnen empfangen. Auch diese Epoche wird vergehen u. dann werde ich ununterbrochen mit Ihnen, edler Mann, in Verbindung sein. Alles ist der schreklichsten Entwikklung nahe. (6.6.1807)
Die schwierigen Zeiten hatten jedoch nicht nur seine Stimmung beeinträchtigt, sondern auch seine finanzielle Situation wurde zunehmend prekär. So sind die Briefe in den folgenden Jahren gefüllt mit Klagen über Geldprobleme. Humboldts Hoffnungen, mit schriftstellerischer Arbeit Geld zu verdienen, sollten sich wegen des „schrecklichen Zustand[s] des deutschen Buchhandels“ (13.3.1813) nicht erfüllen, so dass er Cotta mehrfach um Vorschüsse bitten musste. Die Kontinentalsperre traf eines der Werke Humboldts direkt: ein Großteil der deutschen Ausgabe der „Untersuchungen über die Geographie des Neuen Continents ...“ (kurz: „Astronomie“) aus dem amerikanischen Reisewerk landete im Meer, da ein illegaler Versuch des französischen Buchhändlers, das Handelsverbot mit England zu
„Da ich mitten in dem Gewölk sitze, das elektrisch geladen ist ...“
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umgehen, scheiterte: „Ein Denkmal buchhändlerischer Barbarei“, wie Humboldt auf einem der seltenen Restexemplare notierte.4 Die Reformzeit in Preußen erlebte Humboldt eher aus der Entfernung, da er von 1807 bis 1827 in Paris lebte, unterbrochen nur von zwei kurzen Besuchen 1823 und 1826 in Berlin. Dort, in der Metropole der Wissenschaften, fand er die Atmosphäre und die wissenschaftlichen Freunde, die er in dem eher provinziellen Preußen vermisste. Zwar ist ihm seine Abwesenheit während der Befreiungskriege von einigen verübelt worden, aber für die Edition der französischen Fassung seines Reisewerks war der Aufenthalt in Paris wesentlich. Vor allem brauchte er die Künstler und Kupferstecher für seine mit prachtvollen Abbildungen ausgestatteten Werke. Aber auch dort war die Situation nicht einfach. Zwar erschienen in Paris in dieser Zeit die meisten der 29 Bände des französischen Reisewerks. Jedoch war die Herausgabe größtenteils von Humboldt selbst finanziert und durch mehrere Buchhändlerbankrotte gestört und insofern für ihn ebenfalls kein finanzieller Erfolg. Während dieser Zeit war der Kontakt mit Cotta sparsam, teilweise jahrelang unterbrochen und betraf fast ausschließlich Publikationsangelegenheiten und wissenschaftliche Tätigkeiten. Politische Bemerkungen fehlen ganz. Das änderte sich nach Humboldts Rückkehr 1827 nach Berlin. Der Briefwechsel wurde intensiver, blieb aber immer noch zurückhaltend und wenig persönlich. Eine knappe Bemerkung zur politischen Lage findet man erst wieder in einem Brief, den Humboldt kurz nach der Julirevolution, während seines Aufenthalts in Paris vom September 1830 bis Januar 1831, an Cotta schrieb: Ich glaube an die Erhaltung des Friedens und die Begebenheiten der lezten Tage, haben das Innere von Frankreich aus einer gefährlichen Crisis gerissen. Man schöpft also neuen Muth zu Litterarischen Arbeiten. (27.12.1830)
Humboldts Erwartungen an die Julirevolution hatten sich nicht erfüllt. Zwar schrieb er darüber nichts an Cotta, aber durch andere Bemerkungen bzw. die Urteile anderer ist einiges bekannt. So äußerte sich beispielsweise Wilhelm von Preußen (Bruder des späteren Königs Friedrich Wilhelm IV., später Prinzregent und erster deutscher Kaiser) an seine Schwester Charlotte (die russische Zarin) in einem Brief vom 10. Februar 1831 kritisch über Humboldt, der seit dem Juli „eine wahre Kalamität geworden“ sei: „[...] fest ist er wenigstens für die ultraliberalen und revolutionären Prinzipien gestimmt, wenn auch nur aus dem Grunde, weil es die Franzosen sind, die diesen Prinzipien huldigen.“5 1832 starb J.G. v. Cotta, zu dem Humboldt ein eher distanziertes Verhältnis hatte. Bereits in den ersten Briefen an den Sohn Georg von Cotta klingt ein privater, persönlicher Ton an. In einem Brief vom 28. März 1833 bot Humboldt unter allen Verhältnissen des Lebens, [...] Ihnen in unserem deutschen Vaterlande oder, wo ich sonst mich einiges Wohlwollens zu erfreuen haben mag, meine thätigsten Dienste an. [...] mit so vieler Umsicht und in so lobenswerthem Geiste auch das Politische dieses Geschäftskreises geleitet wird, so ist es, bei den heterogenen Tendenzen der einzelnen Theile von
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Genauer s. Biermann/Leitner 1995. Wilhelm von Preußen 1993, S. 152.
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Ulrike Leitner Deutschland, rein unmöglich, ohne in volle Leerheit und geistlose Indifferenz zu verfallen, einen Mittelweg zwischen oscillirenden Ansichten sicher zu halten.
Dieser Versuch, den „Mittelweg zwischen oszillierenden Ansichten“ zu halten, prägte Humboldts Äußerungen in den 30er Jahren als „Hofdemokrat“ 6 . Durch seine Stellung als Kammerherr war er zwar dem König und dem preußischen Hofe ständig nahe, aber eigentlich ohne politische Macht. Humboldt war in erster Linie an seinen wissenschaftlichen Arbeiten, dem Fertigstellen seiner Publikationen und der Entwicklung des wissenschaftlichen und kulturellen Klimas in Berlin interessiert. In einer Bemerkung über politische Unruhen in Süddeutschland 7 klingt die Hoffnung auf ruhige, vernunftgesteuerte Zeiten durch, die seine Tätigkeit begünstigen würden: Die hoffentlich sehr partiellen Unruhen Ihres südlichen Deutschlandes werden den Verkehr nicht stöhren. Mögen nur die Gegenmittel von der Art sein, dass Sie das Uebel nicht vermehren. Mistrauen und Verkennung der edlen Gesinnungen des deutschen Volkes können nur feindlich und reizend wirken. (22.6.1833)
Beide preußischen Könige schätzten Humboldts Rat, der sich in erster Linie auf seine fachliche Kompetenz gründete. Damit konnte Humboldt oft anderen Wissenschaftlern helfen. Seine Einflussnahme im Fall der so genannten zweiten Demagogenverfolgung 1833 oder für die „Göttinger Sieben“ 1837 ist bereits mehrfach beschrieben worden.8 Humboldts Meinung, dass ursprünglich zu Recht bestehende demokratische Forderungen, sobald sie sich in Gewalt entladen, zu verurteilen, jedoch durch liberale Politik in vernünftige Bahnen zu lenken seien, werden sichtbar in vielen Äußerungen aus der folgenden Zeit. In dieser Haltung hoffte er auf den Regierungsantritt Friedrich Wilhelm IV. „der gewiss einmal ein ausgezeichneter Regent sein wird“ (23.1.1837). Bereits zum Kronprinzen hatte Humboldt eine besonders enge Beziehung, die sich nach dem Regierungswechsel 1840 noch verstärkte. Friedrich Wilhelm IV. entwickelte zu ihm ein besonderes Vertrauensverhältnis. Er schätzte sein immenses Wissen, ließ sich von ihm aus der Literatur vorlesen und über das Neueste aus der Wissenschaft berichten. Humboldt begleitete ihn auf verschiedenen Reisen und war oft monatelang am Hof in Potsdam. Erste Handlungen nach der Übernahme der Regierung – Amnestie politischer Gefangener, Lockerung der Zensur, Beendigung der Demagogenverfolgung – hatten nicht nur bei Humboldt große Erwartungen geweckt, die zunehmend enttäuscht wurden. Nur zögerlich entschloss sich der König beispielsweise zur Einberufung des Vereinigten Landtags in Berlin. Auf seine Eröffnungsrede am 11. April 1847 reagierte Humboldt deutlich unzufrieden. Er beobachtete richtig, dass der König keinen Kompromiss zwischen den Liberalen und den Konservativen erzielt, sondern beide Parteien verärgert hatte:9 6 7 8 9
Biermann 1990, S. 105. Revolutionäre Aktionen des Vormärz wie der so genannte Frankfurter Wachensturm im April 1833, der blutig niedergeschlagen wurde. Die „Gegenmittel“ waren drakonisch. Biermann 1990, S. 106. „Konstitutionsvermeidung“, Blasius 1992, S. 105.
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Das Datum dieses meinen Briefes entschuldigt den Laconismus desselben. Ich bin betrübt, innigst betrübt über die politische Lage der Dinge. Alles ist bei der edeln Offenherzigkeit des Monarchen (der über die ihm eigenthümlichen, lange genährten Ansichten keinen Zweifel lassen will) auf den Gipfel der äussersten Gegensäze getrieben. Die gestrige Rede hat die Spannung nur vermehrt, nichts gemildert. Ich selbst habe seit 3 Jahren nie die entfernteste Gelegenheit zu einer politischen Äusserung gehabt während die gemüthliche Zuneigung des liebenswürdigen und geistreichen Fürsten mir nur im Zunehmen ist. Wie sehr ich die Ausdrücke über die Presse, den Liberalismus (den ich seit einem halben Jahrhundert bekenne) [und] über die constitutionellen Verfassungen anderer Länder [...] bedaure brauche ich Ihnen nicht zu sagen. (12.4.1847)
Humboldt äußerte immer wieder seine prinzipielle Wertschätzung des Monarchen, sah jedoch auch dessen Schwächen, seine Wankelmütigkeit und Entschlusslosigkeit. Daneben kritisierte er aber auch die andere Seite – die neu gegründeten parlamentarischen Gremien – und erklärte seine Sympathie mit den Forderungen des Volkes: Unsere Ständeversammlung ist mit gegenseitiger Reizung die wegen des unmöglichen Patents vom 3 Febr.10 vorherzusehen war, vollendet. Es ist darin viel Talent, Festigkeit und Edelmuth der Gesinnungen gezeigt worden. Die politische Aufregung ist sehr gross und das Ministerium tief unter der Bildung des Volkes. (3.7.1847)
Auf die im März ausbrechenden revolutionären Unruhen reagierte Humboldt betroffen. Er sprach sich für demokratische und konstitutionelle Forderungen des Volkes aus, war aber gegen die gewalttätigen Ausartungen des „Pöbels“, die jedoch falschem und zögerlichem Handeln des Monarchen und der unfähigen Ministerien zuzuschreiben seien. Welche Weltbegebenheiten erleben wir in diesem Jahre an den schon operirten Königen und denen der Operation gewärtigen. Die alten Autoritäten sind morsch gebrochen und die neuen sollen sich erst bilden. Das vorsichtigere Benehmen in Turin und Toscana ist sehr zu loben.11 In der kleinen Lombardei wird die colossale oestr[eichische] Macht blutig siegreich bleiben – und München.. Schaam und Trauer12. Um so wichtiger ist es für edlere Deutsche Fürsten die inneren Bande mit dem Volke fester und vertrauensvoller zu schürzen. Neben dem politischen Wirwarr, Krankheit und Hunger. Man kann allerdings der neueren Kultur Kräfte der Vernunft und eine Milde zutrauen, die der älteren Kultur fehlte, aber nicht personificirte Kräfte wirken leider massenhaft, nicht ausgleichend und dem rohen Zufall ergeben. (20.3.1848)
Bekanntlich waren die Chancen der Revolution zur Demokratisierung Preußens im Herbst 1848 bereits verspielt, „die Hinwendung der radikalen Partei zu Gewalt, Terror und Mord trieb die bürgerliche Mitte an die Seite der konservativen Kräfte“13. Im September 1848 meldete Humboldt an Cotta:
10 Am 3. Februar 1847 hatte Friedrich Wilhelm IV. das Patent zur Einrichtung des Vereinigten Landtags verkündet. 11 18. März: Beginn des Aufstandes in Oberitalien gegen Österreich, die österreichischen Truppen zogen sich vorerst nach Verona zurück, die Aufständischen wurden dann aber geschlagen. 12 Nach Unruhen in München dankte König Ludwig I. am 20. März zugunsten seines Sohnes Maximilian II. ab. 13 Büsch 1992, S. 265.
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Ulrike Leitner Die Zeiten sind bei uns noch immer Verhängnissschwer – ein neues, aus unbekannten Grössen erst zu bildendes Ministerium14 Strassenunruhen in dem sonst so friedlichen Potsdam mit Wühlereien um die Disciplin des Militärs zu erschüttern,15 drohender Bruch mit der Paulskirche,16 eine Berliner National-Versammlung, die sich alle Rechte der Executivmacht aneignet,17 das ist die Lage der Dinge nach 6 Monaten seit den heldenmüthigen Merztagen. In der nächsten Umgebung eines geistreichen, mir so zärtlich zugethanen Monarchen mischen sich zu den Sorgen eigener Bedrängniss noch andere Schmerzen der Theilnahme. Es wird endlich ein Kampf des Widerstandes beginnen müssen und meine Hofnung ist auf Beckerath und den energischen und constitutionell freisinnigen General Pfuel18, zulezt auf Mission in Petersburg, vorher Gouverneur in Neuchâtel gerichtet. (16.9.1848)
Das am 21. September berufene Ministerium Pfuel galt als liberal und Reformen gegenüber aufgeschlossen, war aber relativ machtlos in der inzwischen erstarkten konservativen Entwicklung. Pfuel trat dann auch bald zurück. Nur indirekt, aus Humboldts sparsamen Bewertungen der aufgezählten Ereignisse, aus der Bezeichnung „den heldenmüthigen Märztagen“ und dem Fazit: „Es wird endlich ein Kampf des Widerstandes beginnen müssen“ kann man hier auf Humboldts eigene politische Haltung schließen. Am 12. Oktober begannen die Verfassungsberatungen, bei denen auch die Streichung des Zusatzes „von Gottes Gnaden“ hinter dem Namen des Königs diskutiert wurde. In dieser Frage blieb der sonst kompromissbereite Friedrich Wilhelm IV. unnachgiebig. So trübe es auch um mich her ist, wegen unserer eigenen Verhältnisse (man hat vorgestern noch in der Berliner National Versammlung gesagt, das Volk habe am 18ten März Langmuth geübt, und den König nicht abgesezt) und wegen der blutigen Catastrophen in Wien [...] so verliere ich doch nicht den Muth zur Arbeit. Die allgemeine Schwäche der Ministerien die sich immer Passiv verhalten, statt die Initiative zu wagen [...] sind die Hauptübel. (14.10.1848)
Die hitzigen Debatten in der Nationalversammlung wurden von immer wieder aufflackernden Straßenunruhen begleitet. Am 31. Oktober wurde ein Antrag diskutiert, die gefährdete Wiener Revolution zu unterstützen. Das Tagungsgebäude der Nationalversammlung wurde belagert, es kam zu tumultartigen Szenen. Daraufhin übernahm General Graf Brandenburg das Kommando, der nach dem Rücktrittsgesuch Pfuels Mitte Oktober vom König mit der neuen Ministeriumsbildung beauftragt worden war.
14 In der Zwischenzeit war das im März gewählte liberale Ministerium Camphausen im Juni zurückgetreten, das daraufhin neu gewählte von Auerswald und Hansemann Anfang September ebenfalls. 15 Am 12. September war es zu einer Meuterei in der Potsdamer Garnison gekommen. 16 Am 18. Mai war die Deutsche Nationalversammlung in der Paulskirche in Frankfurt mit dem Ziel der Schaffung eines deutschen Nationalstaates und einer gesamtdeutschen Verfassung eröffnet worden. An der Spitze Deutschlands sollte ein Kaiser stehen, neben ihm der Reichstag. 17 Die Preußische Nationalversammlung tagte vom 22. Mai an mit dem Ziel der Ausarbeitung einer demokratischen preußischen Verfassung. Im Gegensatz zur deutschen Nationalversammlung betonte die preußische das Prinzip der „Volkssouveränität“ und den grundsätzlichen Bruch mit der Vergangenheit durch die Märzrevolution. 18 Am 21. September ernannte der König Ernst von Pfuel zum neuen Ministerpräsidenten.
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Wir haben wieder vorgestern bei Gelegenheit ‚der Abschaffung des Adels, aller Orden! und der Hülfe die man den Wienern! zu geben besch[l]iesst‘ eine ordentliche Pöbel-Belagerung des Sizungsales gehabt. Der vorstehende Wechsel des Ministerpraesidiums, die wiederholte Ankunft des Gr[afen] Brandenburgs, das immer allgemeiner werdende Gefühl, dass ernstere Maasreglen nicht bloss besprochen, sondern endlich ergriffen werden müssen – machen auch mir [...] es unmöglich, Theurester Baron, Ihnen mehr als wenige Zeilen zu schreiben. (2.11.1848)
Was weiter geschah, ist bekannt: Staatsstreich, Amtsantritt Brandenburgs, Verhängung des Kriegsrechts und Auflösung der Nationalversammlung. Am 5. Dezember 1848 erließ Friedrich Wilhelm IV. seine preußische Verfassung. 1849 wurde ein ebenso unruhiges Jahr, von inneren und außenpolitischen Konflikten und Krisen geprägt. Dazu gehörte auch das gespannte Verhältnis Preußens zur deutschen Nationalversammlung, die seit Juli in der Frankfurter Paulskirche tagte. Bereits im Herbst 1848 hatte Humboldt sich kritisch geäußert über [...] das unmögliche Problem der ‚beiden Naturen‘ da die phantastischen Frankf[urter] Unitarier alles partielle Lebensprinzip durch Knechtung töten wollen. (14.10.1848)
Dabei ging es vor allem um die Frage, ob eine großdeutsche Lösung (mit Österreich) oder eine kleindeutsche (unter Preußens Führung) favorisiert werden sollte. Humboldt war für die deutsche Einheit, jedoch nicht um jeden Preis: Ich bin jeder Knechtung entgegen, man muss den Fürsten das Regiren möglich machen, aber ich halte streng auf die Einigung von Deutschland. Es wäre sehr traurig für unser Deutsches Vaterland wenn dieser Zeitpunkt und diese Volkstimmung nicht benuzt würde. (20.1.1849)
Nach vielen Sondierungsgesprächen mit den einzelnen Regierungen und Debatten in Frankfurt brachte der Januar eine gewisse Entspannung. Die berühmte Zirkularnote vom 23. Januar 1849, in der Friedrich Wilhelm IV. nach langem Zögern seine Zusammenarbeit mit dem Frankfurter Parlament anbot, jedoch auch die Schwierigkeiten einer Zentralregierung betonte, wurden von vielen Seiten positiv aufgenommen, so auch von Humboldt: Ich freue mich Ihrer Ansicht über die Lage Preussens gegen die Paulskirche. Preussen muss sich nicht von der Paulskirche trennen aber sich selbst regieren muss ihm auch erlaubt bleiben. Wir müssen alle geistigen Kräfte der Regierung darauf verwenden bei uns Herr böser Gelüste zu werden. Der König ist von allen reactionären Ideen himmelweit entfernt und sehr deutsch gesinnt. (5.2.1849)
Die Frankfurter Nationalversammlung war nun bereit, Friedrich Wilhelm IV. die Kaiserkrone anzubieten: Der Aufdrang der sogenannten Kaiserkrone, auch eine Spize genannt, und der nahe 18te Maerz (der Sündfluth Tag)19 haben mich auch sehr in Anspruch genommen, doch habe ich die gegründetste Hofnung das[s] unser Monarch Sich recht warm für die Einigung unseres Vaterlandes aussprechen soll. [...] Mit blossem Hinhalten, Negociren, Provisioniren kann nicht geholfen werden. (16.3.1849)
19 Jahrestag der Straßenkämpfe in Berlin.
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Ulrike Leitner
Bekanntlich hat jedoch Friedrich Wilhelm IV. am 3. April einer Abordnung des Parlaments seine Absage zur Kaiserwahl mitgeteilt, womit vorerst eine gesamtdeutsche Verfassung gescheitert war. Humboldts Schilderung dieser Situation widerspiegelt seine Unzufriedenheit und seine vorerst zerschlagene Hoffnung auf ruhige Zeiten: Ich schreibe diese Zeilen in einer etwas gedrükten Stimmung. Ich speisete gestern wie gewöhnlich bei dem König in Charlottenburg, fand aber zu Tische die 32 Frankfurther Deputirten noch ganz in dem bitteren Mismuthe über das, was sie wenige Stunden vorher vor dem Throne stehend vernommen. Ihre Aufregung konnte mich nicht wundern, doch war des Praesidenten Simson Haltung überaus gemessen und würdig. Die grössere Zahl wollte Berlin heute schon verlassen. Ich hoffe sie thun es nicht. Ich halte nichts für abgebrochen. Der König nimmt den wärmsten Antheil an der deutschen Einheit, vergisst auch gern dass nur 4 Stimmen für die Erblichkeit waren und dass die Krone die ihm jezt angetragen wird vor wenigen Wochen mit 40 Gegenstimmen ihm versagt wurde. Er glaubt aber nicht annehmen zu dürfen, was von den grösseren constitutionellen Regierungen noch nicht gebilligt ist, er wünscht gemeinschaftlich mit der Paulskirche zum Zwecke zu kommen und ist, durch hiesiges Beispiel belehrt, von den unintelligenten, Gewalt und Agitation liebenden Urwählern ohne Censur mehr als von dem suspensiven Veto erschrekt. Ich beklage tief alle diese Verwickelungen da das Weltrad sich mit so ungeheurer Schnelligkeit bewegt und der günstige Augenblik erfasst werden muss. Reactions Gelüste sind bei unserem edlen König nicht erwacht aber der Verdacht derselben ist eben so beunruhigend. (7.4.1849)
Das im Zusammenhang mit der Diskussion über die Frage eines Gesamtdeutschlands belastete Verhältnis zu Österreich spitzte sich daraufhin wieder zu: Wir haben hier die Hofnung dass die Sachen sich für Deutschland milde entwirren werden. Mit Oestreich ist viel Schwierigkeit und die völlige Trennung würde ich nach meinen Gefühlen für Tirol Salzburg, Steiermark, auch wegen des Handelsweges nach Triest und Mailand sehr betrauren. (13.4.1849)
Auch die innerpreußische Lage hatte sich keineswegs entschärft. Nach der Auflösung der preußischen Nationalversammlung wurden im Januar und Februar die beiden Kammern gewählt, die der vom König oktroyierten Verfassung zustimmen sollten. Doch es kam anders: Der politische Alp der Sie drükte indem Sie aus der Volksversammlung kamen, drükt mich in diesen Tagen eben so sehr [...] Wahrscheinlich wird unter vielem Sturme schon heute morgen der Minister Praesident Graf Brandenburg in der zweiten Kammer erklären, dass Preussen die Verfassung nicht annimmt! (21.4.1849)
Humboldt vermutete richtig: Die Zweite Kammer, das spätere „Abgeordnetenhaus“, stellte die Rechtmäßigkeit der Verfassung in Frage und erkannte die in Frankfurt beschlossene Reichsverfassung an. Daraufhin löste der König sie kurz entschlossen auf und verfügte das Drei-Klassen-Wahlrecht, das ihm in Zukunft eine gefügigere Zweite Kammer sichern sollte. Wieder kam es zu gewalttätigen Protesten während der genannten Mairevolution. Ich schreibe, mein verehrter Freund, von einem sehr aufgeregten Orte (Berlin) an einen anderen (Stuttgart) in dem Sie ja wohl ernsten Gefahren haben ausweichen müssen. Die Regierungen thun an beiden Orten was sie nicht lassen können. Dass die Paulskirche, mathematisch absolut, die Hand zu einer Abänderung des uns verderblichen Wahlgesezes bieten würde,
„Da ich mitten in dem Gewölk sitze, das elektrisch geladen ist ...“
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läugnet General Radowitz, der eben hier angekommen ist. Die Zukunft liegt also fest versiegelt vor uns. Doch wie kann man da wo die Begebenheiten und Entschlüsse sich so drängen, in solcher Entfernung über Politik schreiben, nicht aus Mangel gegenseitigen Vertrauens sondern, weil das politische Leben eine Bedingungs-Gleichung ist und die Bedingungen der Staatsexistenzen so wechselnd, im Norden und Süden so verschieden sind. [...] Bisher haben wir hier bloss Strassenkrawall, doch hat geschossen werden müssen. (29.4.1849)
Im Sommer wurden beide Kammern neu eröffnet, die sich nun an die Ausarbeitung einer revidierten preußischen Verfassung machten. Diese lag im Dezember vor. Der König legte nach langem Widerstreben endlich am 6. Februar 1850 seinen Eid auf die Verfassung ab. Diese Tatsache selbst kommentierte Humboldt mit Zufriedenheit, einige Änderungen fanden jedoch seine Kritik: Die Unsicherheit der politischen Begebenheiten und der Aufenthalt des Königs in dem freilich nahen Charlottenburg, während ich in meine Wohnung hier von nothwendigen Büchern umgeben zurükgekehrt bin haben mir grenzenlose Stöhrungen und Zeitverlust hervorgebracht. Nach vielen Schwankungen und Intriguen der Reactionsparthey ist denn doch endlich die so nothwendige Beschwörung der Constitution zu Stande gekommen. Die Minister haben sich in allem einer sehr grossen Mässigung und eines grossen Vertrauens zu erfreuen gehabt. Eine Pairskammer aber, der das Haupt Lebendsbedingniss des angloconstitutionellen Hazardspiels, (die nicht begrenzte Zahl der vom Staat zu ernennenden Mitglieder) fehlt,20 wird von wenig Nuzen sein, selbst schädlich weil eine alberne, von allen Zeitbedürfnissen entfernte, aristocratische Parthey [...] eine nicht zu brechende Opposition bilden kann. Im Inneren sind wir jezt sehr geregelt, an Rüstungen, Krieg, Hader [...] ist nicht zu denken: es herscht in der höchsten Region die entschiedenste Tendenz sich nicht mit Oesterreich zu veruneinigen, aber man arbeitet an nicht zu lösenden Problemen: man wird sich mit Halbheiten begnügen müssen und wenigstens ein Volkshaus retten. Der kleine Leinsaamen deutscher Fürsten ist übrigens eine eben so grosse Pest des Unverstandes und des leidenschaftlichsten Eigennuzes als die rothe Pest der Radicalen. (7.3.1850)
Etwas befremdlich mutet hier Humboldts Kritik an der „begrenzten Zahl der vom Staat zu ernennenden Mitglieder“ an (im Vergleich zur britischen Verfassung). Er würde also eine größere Einflussnahme auf die Ernennung der Abgeordneten des späteren „Herrenhauses“ (wie das dann in einer Änderung 1853 tatsächlich geschah) vorziehen – mit der Begründung, dass eine gewählte aristokratische Partei nicht zeitgemäß agieren würde! Ein – offenbar auch durch seine persönliche Haltung zu Friedrich Wilhelm IV. beeinflusstes – Vertrauen in die monarchische Vernunft, der er offenbar in Krisenzeiten eher die Rettung der Demokratie zutraute. In den letzten zehn Jahren des Briefwechsels wurde Humboldt immer offener und gesprächiger. Kommentare zur politischen Lage gegenüber dem immerhin 27 Jahre jüngeren Cotta mehren sich. Humboldt wünschte sich nichts so sehr wie Stabilität in einem Rechtsstaat, um in Ruhe arbeiten zu können: [...] alle Geschäfte mit mir sind an zwei unvermeidliche und drohende Bedingungen geknüpft an das Uralter von fast 80 Jahren des Arbeitenden und an die langsame Wiederaufnahme des Wohlstandes, der politischen Ruhe des wahrhaft wissenschaftlichen Interesse’s. Ich glaube,
20 Nach der Verfassung von 1850 war die Erste Kammer noch eine partiell gewählte und nicht, wie die britische „Peerskammer“ („House of Lords“), eine vollständig vom König ernannte.
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Ulrike Leitner dass bei der sehr deutschen Gesinnung meines Königs und seiner grossen Mässigung [...] man weniger schwarz in die Zukunft sehen kann. (25.2.1849)
Doch die Zeiten blieben schwierig. Den Brief, in dem Humboldt ein Attentat auf den König vom 22. Mai 1850 schilderte, beendete er mit den Worten: Nach solchen Schreckensscenen, die an die Ungewissheit aller irdischen Zustände so lebhaft mahnen, bleibt in dem Gemüthe ein trübes Sehnen nach politischer Ruhe. Der König immer zu fröhlichem Hoffen gestimmt, rechnet viel auf das unmittelbare Anknüpfen von Negociationen in Wien [...] (19.6.1850)
Mit der Revolte in Hessen und der Bitte des hessischen Kurfürsten an den deutschen Bund um militärische Unterstützung Anfang September wurde das Verhältnis zu Österreich erneut belastet. Ich glaube an viele grobe Proteste, aber an keinen Krieg. Es ist eine schmachvolle Zeit nicht von den Völkern, sondern von den Fürsten bereitet. (6.10.1850)
Auf Cottas Befürchtung, dass ein drohender Krieg auch den Geschäftsverkehr zwischen dem Haus Cotta und Berlin und damit die Publikation des „Kosmos“ unterbrechen könnte, antwortete Humboldt beruhigend, dass er keine Gefahr sehe: Da ich mitten in dem Gewölk size, das elektrisch geladen ist, so kenne ich freilich des Gewölkes Umrisse und alles Äussere minder gut, aber, troz der enthusiastischen Aufregung, die hier in allen Volksklassen herrscht, ohne auszusprechen, was ich hoffe oder fürchte nach der Färbung die mir allgemein zugeschrieben wird, habe ich doch den Instinct an ein friedliches Ende zu glauben, an ein solches, das allen Partheyen misfallen wird. (17.11.1850)
Die politische Krise wurde bekanntlich durch die „Olmützer Punktation“ vom 29. November 1850 beigelegt, die zwar den Frieden rettete, aber ein Aufgeben der preußischen Unionspläne (kleindeutsche Lösung unter preußischer Führung) bedeutete. Damit kam sie einer preußischen Kapitulation gleich und missfiel in der Tat allen Parteien. Trotzdem schätzte Humboldt die damit verbundene Aussicht auf Frieden hoch. Ob ich gleich nie an den Ausbruch des inneren deutschen Krieges geglaubt, so hat das ‚sentimental journey‘ nach Olmütz wenn nicht eine noch reactionärere Nachkur von Alt Carlsbad darauf folgt, doch einige baldige Geschäftsungestöhrtheit in Aussicht gestellt. Einige alte Knoten werden sich lösen, andere sich schürzen und der Genuss des Friedens, bei Nichtbefriedigung so vieler Erwartungen und angereiztem wahren od. künstlichem Ehrgefühl, wird sehr geschmälert werden. So geht es immer wenn erst die Völker und dann gar die Herschenden unbestimmte Probleme mit zu vielen x u. y leichtsinnig zu lösen trachten. So treibt die unbefriedigte Menschheit ihr mühevolles Ameisenleben fort. (15.12.1850)
Humboldts Befürchtung, dass nun eine Situation vergleichbar mit der von 1818 geschaffen sei, in der die Karlsbader Beschlüsse mit der Einführung von Zensur und Überwachung die Restauration einleiteten, erwies sich als berechtigt. Tatsächlich sind die 1850er Jahre (das Reaktionsjahrzehnt) geprägt durch eine Ausweitung des repressiven Apparats mit Einschränkung der Versammlungsfreiheit, polizeilicher Überwachung und Verstärkung der Zensur.
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Die draconischen Presszwangsgeseze von denen leider Preussen das Beispiel gegeben, werden auch auf das Buchhandelgeschäft lähmend wirken! (19.6.1850)
Mit Sorge sah Humboldt auch die oft ambivalente und unentschlossene Haltung des Königs, den die Entwicklung des Vorjahres in eine psychische Krise gebracht hatte, die teilweise paranoide Züge annahm, was die restaurative Tendenz noch verstärkte: Meine Existenz ist, bei der politischen Färbung, die Sie an mir kennen, besonders bei den ewigen Pendelschwankungen zwischen nachgebenden Friedens-Gesinnungen und Kriegsdrohungen, an deren ernste Wirkungen ich nie geglaubt, sorgenvoller geworden. Mein Verhältniss zu dem liebenswürdigen Monarchen ist allerdings dasselbe geblieben [...] Das volle Einverständniss mit Oestreich sichert den Frieden (an dessen Bruch ich übrigens nie einen Augenblik geglaubt) sichert aber auch das gleichzeitige Misvergnügen der unbefriedigten Dynastien und der unbefriedigten Völker. (16.1.1851)
Zwar sei die scheinbare politische Stabilität durchaus zu begrüßen, aber der Preis der Rücknahme konstitutioneller Freiheiten sei zu hoch und die Repressionen könnten gegenteilig wirken – ähnlich wie in Hessen, wo die zivile und militärische Verwaltung sich gegen den Kurfürsten und vor allem gegen den reaktionären und unbeliebten Minister Hassenpflug erhoben hatten, was wegen der Frage des deutschen Eingreifens zu der preußisch-österreichischen Krise geführt hatte. Damit berührte Humboldt die immer wieder fast gesetzmäßig entstehende Situation, dass Unterdrückung nur scheinbar Stabilität bedeute, dagegen eher Gewalt reproduziere: Die äussere und innere Sicherheit grosser Staatskörper, wie der Preussische, wird scheinbar grösser und grösser. Die Massen sehnen sich nach Ruhe, aber keiner der früheren Wünsche ist befriedigt. Man denkt nur darauf die Gewalt die rohe, zu vermehren, ohne Gegengewicht, unbekümmert um die öffentliche Meinung. Der neue Bundestag wird der Entwicklung constit[utioneller] Freiheiten und Institutionen noch hinderlicher sein als der alte, für die kleineren Staaten unbequemer. Die gelungene Erfindung, ein ganzes Land in Belagerungszustand zu sezen (Erfindung deren Werkzeug der den Gerechten Perkins bisher noch entgangene Hassenpflug geworden ist) führt den Napoleonischen Zustand herbei, in dem wer einem Polizeimann misfallen war, sein Haupt vom Rhein bis zur Donaumündung nicht niederlegen kann. (5.2.1851)
Den gegen die Liberalisierung in Kurhessen unnachgiebig vorgehenden Minister Ludwig Hassenpflug verglich Humboldt hier mit dem wegen seiner Grausamkeit geächteten österreichischen General Julius Haynau (wegen der grausamen Niederschlagung der revolutionären Erhebung in Brescia die „Hyäne von Brescia“ genannt), der 1850 in London während einer Besichtigung der Brauerei von Barclay und Perkins von Brauereiknechten fast gelyncht worden war. Zwar sollte eine Regierung fähig sein, Ausschreitungen der Revolutionäre zu unterbinden, aber eine derartige diktatorische Unterdrückung lehnte Humboldt scharf ab, so dass er – der sich sonst konsequent gegen jegliche Gewalt aussprach – hier sogar Verständnis für diesen Racheakt der „Gerechten“ zeigte. Mit dem Olmützer Kompromiss sollte auch der Deutsche Bund (mit der großdeutschen Lösung) aus der vorrevolutionären Zeit wiederauferstehen, was
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Humboldt mit zwiespältigen Gefühlen sah, denn ein so großes Gebiet barg seiner Ansicht nach Zündstoff für neue Konflikte: Alles neigt sich zum alten Bundestag. Unter 2 Übeln scheint er der Trägheit des erstehenden Leichnams wegen das Geringere. Das grösste wäre die Einwanderung so vieler undeutscher Racen in das einige Deutschland ein ewiger Vorwand zu Kriegesrüstungen bei Theilnahme zur Unterdrückung von Aufständen in Ungarn und Italien und der nie erlöschenden oestreichischen Tendenzen sich jenseits der Alpen zu sichern, was diplomatisch heisst sich zu vergrössern. Die Fürsten werden sich provisorisch ausgleichen und der augenbliklich beruhigende Zustand wird niemand befriedigen. (13.4.1851)
Mehrfach äußerte Humboldt in der folgenden Zeit gegenüber Cotta seine Niedergeschlagenheit und Empörung über die zunehmende Reaktion: [...] die freche Reaction die alle Formen bedroht und das natürliche Volksgefühl von Recht (Gesezlichkeit) und Wahrheit verwirret haben, bei der Färbung meiner Meinungen mich allerdings betrübt [...] (16.4.1852)
Ein Beispiel der Repressalien war das Verbot der von Cotta herausgegebenen Allgemeinen Zeitung in Preußen, das 1854 drohte und dann 1856 wirklich verhängt wurde. In beiden Fällen setzte sich Humboldt beim König ein, was zu einer Rücknahme des Verbots führte. Die 1850er Jahre waren auch eine Zeit zahlloser außenpolitischer Konflikte und Krisen, die von Humboldt mit „Uebel“, „Calamität“, „scheusslich“ „verhängnissvoll“ und „traurige Albernheiten“ kommentiert wurden. Immer wieder schrieb Humboldt fast beschwörend, dass er nicht an einen Krieg glaube, was seinen Wunsch nach ruhigen Zeiten verrät, in denen er sich seiner Arbeit, insbesondere der Vollendung des „Kosmos“ widmen konnte. Seine Anwesenheit am Hofe scheint ihn ebenfalls immer weniger befriedigt zu haben: Den politischen Agitationen und den Reflexen, die (bei grosser Verschiedenheiten der Ansichten) das Aeussere auf das Innere einer Hofgesellschaft unvermeidlich ausübt, konnte ich, in meiner Lage die Sie kennen, auch nicht fremd bleiben. Die mit dem Alter immer zunehmende Vorliebe des Königs für mich macht es doppelt unvermeidlich. In dem Inneren des Gewölkes herschen Täuschungen und viele Hoffnungen auf unerzwungene Nachgiebigkeit, die ich nie getheilt. (2.5.1854)
Diese etwas vagen Formulierungen deuten eine kritische Haltung gegenüber Friedrich Wilhelm IV. und, mehr noch, seine Umgebung an, die er aber in den Briefen an Cotta nicht direkt formulierte. Da Humboldt dem König menschlich nahe stand, verbot sich für ihn jegliche Kritik. So äußerte er sich in seinen Briefen an Cotta überhaupt nicht über die zunehmenden psychischen Auffälligkeiten Friedrich Wilhelm VI. und dessen geistigen Verfall, der zur Übernahme der Stellvertretung (1857) und der Regentschaft (1858) durch dessen Bruder Wilhelm führte. Viele Äußerungen Humboldts machen deutlich, wie sehr er durch die französische Revolution und den Geist der Aufklärung geprägt war. Er selbst betonte häufig seine demokratische Haltung und seinen Glauben an den Rechtsstaat. Die Gewalt des „Pöbels“ verurteilte er, war aber auch der Ansicht, dass diese durch verfehlte oder zögerliche Regierung verursacht würde. Auch darin äußert sich sein unerschütterlicher Glaube an die Vernunft.
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1848 wiederholte sich die Enttäuschung über eine verspielte Revolution: sie brachte nicht die gewünschte Liberalisierung, sondern durch gewalttätige Ausschreitungen der Revolutionäre den Sieg der Reaktion und damit einen Rückschritt in der Liberalisierung, die Humboldt, der „trikolore Lappen“21, wie er sich selbst in einem Brief an Bunsen nannte, stets befürwortet hatte. Humboldt gehörte zu den Anhängern der liberalen Mitte, die zwischen Revolution und Reaktion vermitteln wollten. Sein politischer Einfluss scheint eher gering gewesen zu sein und äußerte sich mehr in der Unterstützung einzelner Personen bzw. in Vermittlungen wie beim Verbot der Allgemeinen Zeitung. Seine Kommentare zeigen, dass er eine demokratische Entwicklung befürwortete, das monarchische Prinzip jedoch nicht in Frage stellte. LITERATUR Barclay 1995: Barclay, David E.: Anarchie und guter Wille: Friedrich Wilhelm IV. und die preußische Monarchie, Berlin. Beck 1961: Beck, Hanno: Alexander von Humboldt, Bd. 2: Vom Reisewerk zum „Kosmos“ 18041859, Wiesbaden. Biermann 1990: Biermann, Kurt-R.: Alexander von Humboldt (Biographien hervorragender Naturwissenschaftler, Techniker und Mediziner, 47), 4. durchgesehene Aufl., Leipzig. Biermann/Leitner 1995: Biermann, Kurt-R. u. Ulrike Leitner: „Ein Denkmal buchhändlerischer Barbarei“, in: Aus dem Antiquariat 7, 1995 (Beilage zum Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel. Nr. 60 v. 28. Juli 1995), S. A 241-247. Blasius 1992: Blasius, Dirk: Friedrich Wilhelm IV. 1795-1861. Psychopathologie und Geschichte, Göttingen. Büsch 1992: Handbuch der Preussischen Geschichte, Bd. 2: Das Neunzehnte Jahrhundert und Große Themen der Geschichte Preußens, Berlin u.a. Bußmann 1990: Bußmann, Walter: Zwischen Preußen und Deutschland. Friedrich Wilhelm IV. Eine Biographie, Berlin. Ette 2002: Ette, Ottmar: „... daß einem leid tut, wie er aufgehört hat, deutsch zu sein“. Alexander von Humboldt, Preußen und Amerika, in: Alexander von HUMBOLDT im NETZ – HiN III, 4. Humboldt 1860: Briefe von Alexander von Humboldt an Varnhagen von Ense aus den Jahren 1827 bis 1858. Nebst Auszügen aus Varnhagen’s Tagebüchern, und Briefen von Varnhagen und Andern an Humboldt, 3. Aufl., Leipzig. Humboldt 2006: Briefe von Alexander von Humboldt an Christian Carl Josias von Bunsen, neu ediert von Ingo Schwarz, Berlin. Valentin 1977: Valentin, Veit: Geschichte der deutsche Revolution von 1848-1849, Bd. 2: Bis zum Ende der Volksbewegung von 1848, Frankfurt a.M. Wilhelm von Preußen 1993: Prinz Wilhelm von Preußen an Charlotte – Briefe 1817-1860, hg. v. Karl-Heinz Börner, Berlin.
21 A. v. Humboldt an Christian Carl Josias von Bunsen, 7.1.1842, s. Humboldt 2006, S. 60.
Ingo Schwarz
GUANO, ZAHNSEIFE UND EINE JUGENDFREUNDSCHAFT ODER WAS MAN AUS EINEM BRIEF VON ALEXANDER VON HUMBOLDT LERNEN KANN Herrn Professor Dr. Eberhard Knobloch zu seinem 65. Geburtstag gewidmet.
1. EIN HUMBOLDT-BRIEF VOM DEZEMBER 1850 Unter den rund 14.000 der Forschung bisher bekannt gewordenen Briefen des weltberühmten Forschungsreisenden Alexander von Humboldt finden sich manche, die nicht nur ihre Empfänger interessiert haben, sondern auch der Nachwelt eine anregende, manchmal auch spannende Geschichte erzählen können. Von einem solchen Schreiben soll hier berichtet werden. Im April 2004 stellte der in München lebende Jurist und Stadtdirektor a.D. Dr. Walter Grasser der Berliner Humboldt-Forschungsstelle die Kopie eines Briefes von der Hand Alexander von Humboldts zur Verfügung. Dr. Grasser hatte das Autograph Jahre zuvor bei einer Auktion ersteigert. Schon bei der ersten Durchsicht des Briefes war zu vermuten: Humboldts eilig hingeworfene, doch wohl formulierte Zeilen enthielten Andeutungen und Hinweise, die nicht nur bei der Ermittlung des ungenannten Empfängers helfen konnten, sondern gewiss auch einige interessante Details über das Leben des großen Gelehrten ans Licht bringen würden. So schien es geraten, das Schriftstück etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Hier zunächst sein Wortlaut: „Ich eile, in einer sehr bewegten Zeit Ew Wohlgeboren, gleich bei dem Empfange Ihrer so überaus interessanten Schrift von den Düngerarten meinen freundlichsten Dank darzubringen. Der Gegenstand hat mich seit mehr als einem halben Jahrhundert, wo ich so glüklich war, mehreren botanischen Gärten durch die von mir aufgefundene Reizung der Keimkraft alter veralteter Saamen durch Chlorwasser einige seltene Pflanzen zu verschaffen, lebhaft angeregt. Der einfache Ausdruk Ihres Vertrauens, das ich mit meinem lieben theuren Freunde Liebig theile, ist mir sehr angenehm gewesen, wie der Name Waldheim (ich besuchte dort einst die Mutter meines Jugendfreundes des moskauer Zoologen Fischer, die Wittwe eines Leinwebers) mir selbst frohe Erinnerungen an mein unterirdisches Leben hervorruft. Ich habe bei dem schnellen [2] Durchblättern Ihres Werkes keine Versuche über den Guano gefunden, den ich zuerst nach Europa gebracht und mit Vauquelin1 habe chemisch kennen gelehrt. Zwanzig bis dreissig Jahre hat man auf meine Empfehlung aus Peruanischer Erfahrung nicht gehört und jezt oft über den Guano, der amerikanisch und afrikanisch chemisch verschieden ist, geklagt 1
Humboldt brachte Guano-Proben von seiner Amerikareise nach Europa und bat drei führende Analytiker der Zeit – Nicolas-Louis Vauquelin (1763-1829), Antoine François de Fourcroy (1755-1809) und Martin Heinrich Klaproth (1743-1817) – um chemische Untersuchungen, die publiziert wurden.
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Ingo Schwarz weil man wahrscheinlich überreizte. Die unglükliche Unfruchtbarkeit so vieler Salzsteppen, die ich in Sibirien gesehen, schreiben Sie doch auch wohl, nach den numerischen Angaben Ihrer Schrift (S. 170), der Ueberreizung bei zu grossen Salzgehalten des Thon-Steppenbodens und dem Mangel verrot beigemengter verrotteter organischer Stoffe zu. Mit der ausgezeichnetsten Hochachtung, Ew Wohlgeboren gehorsamster Alexander Humboldt Potsdam, den 11 Dec[ember] 1850. in grosser Eile“
2. EIN BUCH ÜBER DIE „DÜNGERARTEN“ IN HUMBOLDTS BESITZ Die genaue Datierung des Schreibens mit Ort, Tag, Monat und Jahr ließ darauf schließen, dass der Empfänger nicht in Berlin oder Potsdam zu suchen war. Der Hinweis auf die sächsische Stadt Waldheim, aus der Humboldts Jugendfreund, der im Brief genannte Johann Gotthelf Fischer (1771-1853), stammte, war eine wichtige Spur. Der Familienname des Briefempfängers war dem Besitzer des Autographs bekannt: ein Herr Bergmann, der mit der Zuckerrübenindustrie zu tun gehabt haben soll. Humboldt bedankt sich bei diesem verbindlich, aber „in großer Eile“ – der 81-jährige Gelehrte arbeitete in jeder freien Minute an seinem „Kosmos“ – für eine ihm zugesandte Druckschrift über die „Düngerarten“. Näheres über diese Schrift brachte ein Blick in den Katalog der Humboldt-Bibliothek2 ans Licht. Dort finden sich auf S. 60 diese Einträge: „772 773
Bergmann, Düngerlehre VELLUM PAPER 8vo. Leipzig, (1850) Bergmann, Dünger-Lehre 8vo. Leipzig, 1850“3.
Leider existiert die Bibliothek Alexander von Humboldts nicht mehr; sie verbrannte 1865 in London, nachdem sie von den Erben verkauft worden war.4 Ein Exemplar der „Düngerlehre“ konnte aber aus der Bibliothek der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen entliehen werden. Eine genauere Durchsicht ergab, dass sich Bergmann sehr wohl mit dem Guano beschäftigt hatte, allerdings ohne Humboldt mit einem Wort zu erwähnen.5 Dass der im schnellen Lesen geübte Berliner Gelehrte, auch bei flüchtigstem Durchblättern, das „GuanoKapitel“ übersehen haben sollte, scheint kaum möglich. So kann man vermuten, dass Humboldt ein wenig verärgert darüber war, seinen Anteil an der Verbreitung des Wissens über den Guano in einer einschlägigen Arbeit so völlig übergangen 2 3 4 5
Stevens, Henry: The Humboldt Library. A catalogue of the Library of Alexander von Humboldt, London 1863, Reprint: Leipzig 1967. Düngerlehre von Bergmann, Kaufmann in Waldheim, Leipzig 1850. Zur Geschichte der Bibliothek siehe Lange, Fritz G[ustav]: Die Bibliothek Alexander von Humboldts, in: Stevens (wie Anm. 2), S. 3-9. Vgl. Bergmann (wie Anm. 3), S. 116-123.
Guano, Zahnseife und eine Jugendfreundschaft
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zu sehen. Humboldt hatte bereits 1807 einen kurzen Bericht über die Geschichte des Guanos veröffentlicht6. Im März 1842 sah er sich veranlasst, seinen allmählich in Vergessenheit geratenen Anteil an der Verbreitung des Guanos in Europa erneut öffentlich ins rechte Licht zu rücken.7 3. ALEXANDER V. HUMBOLDT UND SEIN JUGENDFREUND JOHANN GOTTHELF FISCHER War Humboldt über das Vergessen seiner Verdienste um den Guano verstimmt, so freute er sich offenbar über die Erinnerungen an die Stadt Waldheim, aus der sein Jugendfreund, der nachmals bedeutende Geologe, Paläontologe, Zoologe und Historiker Johann Gotthelf Fischer stammte. Beide hatten sich im Jahre 1791 während ihrer Studienzeit im sächsischen Freiberg kennen gelernt. Humboldt bereitete sich hier an der berühmten Bergakademie auf eine Karriere im preußischen Bergdienst vor, daher die Anspielung auf sein „unterirdisches Leben“. Vermittelt wurde die Bekanntschaft wahrscheinlich durch Humboldts Freiberger Geologielehrer und lebenslangen Freund Johann Carl Freiesleben (1774-1846). Eine direkte Korrespondenz zwischen Humboldt und Fischer aus den Jugendjahren ist der Forschung bisher nicht bekannt geworden; dafür finden sich aber zahlreiche Erwähnungen Fischers in Humboldts Briefen an Freiesleben8. Im Frühjahr 1797 soll Alexander seinen Freund Fischer eingeladen haben, mit ihm und Wilhelm von Humboldt nach Italien zu reisen.9 Im Sommer desselben Jahres reiste man tatsächlich gemeinsam über Dresden und Prag nach Wien. Für Alexander war dies gewissermaßen die „heiße Phase“ seiner Vorbereitungen zu einer großen Expedition, die ihn 1799 in die Neue Welt führen sollte. Ganz ungetrübt scheint die Freundschaft mit Fischer zu dieser Zeit jedoch nicht gewesen zu sein, denn im Oktober 1797 schrieb Alexander v. Humboldt aus Wien an Freiesleben: 6
7 8
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In: Klaproth, Martin Heinrich: Beiträge zur chemischen Kenntniss der Mineralkörper, Bd. 4, Posen 1807, S. 301-306. Auf diesen lange Zeit von der Forschung übersehenen Aufsatz hat der Pharmaziehistoriker und A.-v.-Humboldt-Forscher Wolfgang-Hagen Hein (1920-2003) aufmerksam gemacht; siehe dazu: Alexander v. Humboldts Bericht über den Guano, in: Haberland, Detlef, Wolfgang Hinrichs u. Clemens Menze (Hg.): Die Dioskuren II (Abhandlungen der Humboldt-Gesellschaft für Wissenschaft, Kunst und Bildung e.V., Bd. 16), Mannheim 2000, S. 123-129. Wesentliche Ausschnitte aus Humboldts Abhandlung sind abgedruckt ebd., S. 124f. Vgl. dazu Schwarz, Ingo (Hg.) unter Mitarb. v. Eberhard Knobloch: Alexander von Humboldt – Samuel Heinrich Spiker. Briefwechsel (Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung, Bd. 27), Berlin 2007, S. 174 u. 320-323. Die erste Erwähnung Fischers findet sich in einem Brief von Humboldt an Freiesleben vom 2.3.1792; vgl. Jahn, Ilse u. Fritz G[ustav] Lange (Hg.): Die Jugendbriefe Alexander von Humboldts 1787-1799 (Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung, Bd. 2), Berlin 1973, S. 173. Vgl. Büttner, Johannes W. E.: Fischer von Waldheim. Leben und Wirken des Naturforschers Johann Gotthelf Fischer v. Waldheim (1771 bis 1853) (Freiberger Forschungshefte, Bd. D 15), Berlin 1956, S. 17.
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Ingo Schwarz „Ueber den guten Fischer möchte ich klagen. Gut ist er freilich, aber von weibischer Schwäche, die in der Gesellschaft energischer Menschen immer zunimmt. Mein Bruder liebt ihn sehr (mehr als ich eigentlich begreifen kann), man behandelt ihn mit delicatesse, er hat die Kinder10 täglich nur etwa 4 St[unden] bei sich und doch thut er, als würde er stets gemishandelt, hat eine schwimmende Trähne im lechzenden Auge, seufzt, wenn alles lustig ist, und beträgt sich so affectirt, daß er mir den Odem nimmt, wenn ich mit ihm zusammen bin. Besucht er mich, so sieht er mich starr und bedeutend an, ohne eine Silbe zu reden, und fange ich endlich an, das Stillschweigen zu brechen, so bewundert er jeden Drek, was noch langweiliger ist. Was bedeutet das alles! Ich habe ernsthaft in ihn gepredigt, ich werde ihm ernsthaft schreiben – aber das ist, als wolle man nasse Servietten zum Stehen bringen. Wie der Mensch jezt ist, wäre es mein Tod, wenn ich 1 Jahr lang mit ihm leben müßte.“11
Humboldt und Fischer verloren sich denn auch für viele Jahre aus den Augen. Während der Forschungsreisende große Teile Lateinamerikas bereiste und damit seinen Weltruhm begründete, erwarb sich Fischer einen ausgezeichneten Ruf als Naturforscher, der ihm im Jahr 1804 – gerade als Humboldt wieder nach Europa zurückkehrte – eine Professur an der Moskauer Universität eintrug, wo er schließlich eine glänzende Karriere machte. In seinem Brief an Bergmann erwähnt Humboldt einen Besuch bei Fischers Mutter in Waldheim. Christiane Concordia Fischer, geb. Wenzel (1750-1816) war in erster Ehe mit dem Zeug- und Leineweber Johann Gotthelf Fischer verheiratet. Dieser starb 1797.12 Humboldt spricht von Fischers Mutter als Witwe, so dass sein Besuch bei ihr noch in diesem Jahr erfolgt sein musste. Später hielt sich Humboldt bis zu seiner Abreise nach Amerika nicht mehr in Deutschland auf. Für die folgenden Jahre ist kein brieflicher Kontakt zwischen den Jugendfreunden nachweisbar. Humboldt nahm die Korrespondenz erst wieder auf, als er sich 1828 auf seine Expedition in den Ural und den Altai vorbereitete. Der 1822 für seine Verdienste um die russische Naturforschung geadelte Fischer, der sich fortan in Erinnerung an seine Heimatstadt Fischer von Waldheim nannte, empfing den preußischen Forscher 1829 in Moskau. Der von jetzt ab folgende Briefwechsel endet erst 1847.13 4. A.H.A. BERGMANN – DER ADRESSAT DES HUMBOLDT-BRIEFES VOM DEZEMBER 1850 Bleibt schließlich noch zu klären, wer genau jener Kaufmann Bergmann in Waldheim war, dem Humboldt seine erinnerungsträchtigen Zeilen gesandt hatte. Aus Bergmanns Vorwort zur „Düngerlehre“ erfahren wir, dass dieser 1832 seinen bis 10 Die Kinder von Caroline und Wilhelm von Humboldt: Caroline (1792-1837), Alexander (1794-1803), Theodor (1797-1871). 11 Jahn/Lange (wie Anm. 8), S. 592. 12 Fischers Vater war 1748 geboren. Im Jahre 1799 heiratete die Witwe den Musketier und Leineweber Johann Gottfried Beck; vgl. Büttner (wie Anm. 9), S. 67f. 13 Bisher in russischen Übersetzungen gedruckt bzw. referiert in: Perepiska Aleksandra Gumbol’dta s učenymi i gosudarstvennymi dejateljami Rossii. Moskau 1962, S. 66-68, 72-73, 126-128, 192-194 u. 197.
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dahin erworbenen Besitz verloren hatte. Um sich eine neue Existenz aufzubauen, begann er einen Handel mit Knochenmehl als Düngemittel, ließ es aber dabei nicht bewenden: In aufwändigen Versuchsreihen untersuchte er die Wirkungen der unterschiedlichsten Düngemittel, um für verschiedene Pflanzenarten und Böden optimale Mischungen anbieten zu können. Bei seinen Untersuchungen stützte sich Bergmann auf das 1840 erschienene einflussreiche Werk „Die organische Chemie und ihre Anwendung auf Agricultur und Physiologie“ des großen Chemikers Justus von Liebig (1803-1873)14, dessen Namen Humboldt in seinem Schreiben ausdrücklich erwähnt. 15 Die Resultate seiner Untersuchungen publizierte der umtriebige Waldheimer Kaufmann in seiner „den deutschen Landwirthen gewidmeten“ Abhandlung über die „Düngerlehre“, die er auch Humboldt sandte. Bei Nachforschungen zur Person Bergmanns half das „Waldheimer Kulturzentrum“, wobei es eine Überraschung gab: Verfasser der „Düngerlehre“ war kein anderer als der am 12. September 1799 in Danzig geborene Apotheker Adolf Heinrich August Bergmann, den man mit Fug und Recht zu den bedeutendsten Bürgern Waldheims zählen darf. Er ließ sich 1851 oder 185216 eine von ihm erfundene Zahnseife patentieren, die als ein Vorläufer der heutigen Zahnpasta gilt. Fest steht, dass er 1852 die „Waldheimer Parfümerie- und Toilettenseifenfabrik“ gründete. Damit entstand einer der ersten Kosmetikbetriebe in Deutschland. Der erfolgreiche Unternehmer A.H.A. Bergmann starb am 23. Juli 1858, höchstwahrscheinlich in Waldheim. Sein Werk lebte aber weiter: 1920 wurde für Produkte des Bergmann-Betriebes die Marke „Florena“ beim Reichspatentamt registriert. Im Jahre 1946 ging die Waldheimer Fabrik in Staatseigentum über und trug bis 1970 den Namen „VEB Rosodont-Werke“. Seit 1950 wurde hier die bekannte „Florena-Creme“ produziert. Heute gehört das von dem Apotheker und Düngerverkäufer Bergmann gegründete Traditionsunternehmen, dessen Reprivatisierung 1992 abgeschlossen wurde, unter dem Namen „Florena Cosmetic GmbH“ zu den florierenden Betrieben Sachsens. 5. FAZIT Das Schreiben, das der greise Humboldt im Dezember 1850 an den Verfasser einer ihm zugesandten „Düngerlehre“ in Waldheim gerichtet hatte, fördert einige bislang unbekannte biographische Details – etwa zu seiner Jugendfreundschaft mit dem Naturforscher J.G. Fischer – ans Licht, und es erinnert an die Verdienste, die sich Humboldt um die Verbreitung des Wissens über den Guano in Europa erworben 14 Vgl. Bergmann (wie Anm. 3), S. VI-VII. 15 Zu den Beziehungen zwischen Humboldt und Liebig vgl. Werner, Petra: Humboldt als Vermittler: Schleiden und Mohl contra Liebig, in: History and Philosophy of Life Sciences 23, 2001, No. 3, S. 213-257. 16 Die Angaben auf verschiedenen Internet-Seiten variieren hier; die von der Stadtverwaltung Waldheim um 2004 herausgegebene Broschüre „Die Perle des Zschopautales: Waldheim. Eine reizvolle Stadt – zum Wohlfühlen und Erleben – mitten in Sachsen“ gibt als Jahr für die Erfindung der Zahnseife 1851 an.
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hatte. Der Brief belegt aber insbesondere den Kontakt Humboldts zu A.H.A. Bergmann, einer faszinierenden Gründerpersönlichkeit des 19. Jahrhunderts, deren Andenken zumindest in der Stadt ihres Wirkens, im sächsischen Waldheim, verdientermaßen bis heute lebendig ist. 6. HANDSCHRIFT des Briefes von A. v. Humboldt an A.H.A Bergmann, Potsdam, 11.12.1850. (Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Eigentümers.)
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KREATIVE GRENZGÄNGER UND SCHNEEBLÜTEN DIE ERFORSCHUNG DES ROTEN SCHNEES 1. ROTER SCHNEE GERÄT IN DIE ÖFFENTLICHE AUFMERKSAMKEIT Es war am 16. August 1818 auf der Position 750 54´ nördlicher Breite, 670 15´ westlicher Länge, als sich der Mannschaft des Forschungsseglers Isabella1 ein unvermuteter Anblick bot. John Ross, Kapitän des Schiffes, schrieb darüber in sein Tagebuch: „Jetzt überraschte uns der Schnee oben auf den Klippen mit einem eben so neuen als merkwürdigen Anblick. Er war mit einer Substanz vermischt oder bedeckt, die ihm eine dunkle Karmesinfarbe gab.“2
Nach vielen Tagen im ewigen Eis auf der Suche nach der Nord-West-Passage bot die rote Schneefläche dem übermüdeten Auge eine ganz besondere Abwechslung. Die Ausdehnung der gefärbten Region betrug über acht Meilen und Kapitän Ross fiel sofort ein passender Name ein: Crimson Cliffs, Scharlachklippen. Bald begannen unter der Besatzung Spekulationen darüber, was die Ursache der Färbung sein könnte. Kot von Seevögeln wurde als Möglichkeit schließlich verworfen, da die Mannschaft viele Vogelarten beobachtet hatte, die sich zu Tausenden auf das Eis setzten, ohne eine solche Rötung zu verursachen. An Bord der Isabella wurde so lange über das Problem diskutiert, bis Windstille einsetzte und der Kapitän einen Untersuchungstrupp aussenden konnte, um die Sache aus der Nähe zu prüfen. Der geschmolzene Schnee wurde auf Flaschen gezogen und mittels 110facher Vergrößerung mikroskopisch untersucht. Die Substanz schien, so Ross, „aus gleichgroßen Theilchen in der Gestalt sehr kleiner runder Saamenkörnchen von dunkelrother Farbe zu bestehen; auf einigen Körnchen sah man auch einen kleinen dunkeln Fleck.“3
Nach allgemeiner Vermutung der Offiziere handelte es sich um ein vegetabilisches Produkt. Die Annahme wurde dadurch gestützt, dass der Schnee auf ca. 600 Fuß hohen Hügeln lag, auf deren Gipfeln man eine Vegetation von gelblichgrünen und rotbraunen Farben gewahrte. John Ross nutzte die Windstille, um mit Hilfe von Leutnant H.P. Hoppner, Sohn eines bekannten Porträtmalers, eine Zeichnung
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Der Segler wurde auch als „Schaluppe“ beschrieben. Ihre Größe betrug 385 Tonnen, das Schiff Alexander war mit 252,5 Tonnen etwas kleiner. Ross (1820), S. 75. Der Veröffentlichung gingen Ross (1819) und Ross (1819a) voraus. Ross (1820), S. 75.
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anzufertigen. Darin wurde die seltsame Landschaft festgehalten. Diese eindrucksvolle Darstellung wurde später als Farbtafel4 dem Buchtext beigegeben. In Großbritannien angekommen, überreichte Ross die Proben – vermutlich durch Vermittlung von Joseph Banks – einem Kollegen, William Hyde Wollaston, zur Untersuchung. Es handelte sich um einen Chemiker, der nicht nur durch seine wissenschaftlichen Ergebnisse berühmt geworden war, sondern auch als Präsident der Royal Society. Der schrieb zur allgemeinen Überraschung ein völlig unentschiedenes Gutachten über den roten Schnee. Wollaston konnte das Gesehene nicht einordnen, nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob es sich bei den roten Kügelchen um Lebewesen oder etwas Anorganisches handelte. Es lässt sich denken, dass die Veröffentlichung dieses Reports im Anhang vom Ross’schen Reisebericht die Gemüter erhitzte, nicht nur die der durchschnittliche Leser populärer Bücher, der die noch völlig rätselhafte und unerforschte Polarregion für sich entdeckte, sondern auch das der Wissenschaftler. Es wurde in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen modern, sich mit der Erforschung des so genannten färbenden Prinzips zu befassen. Für Christian Gottfried Nees von Esenbeck, Botaniker, Naturphilosoph, 40 Jahre lang Präsident der Leopoldina, war die Aufklärung dieses Phänomens gar eine „der wichtigsten Fragen, die sich die Naturforschung aufgeben kann.“ Um diese Einschätzung zu verstehen, scheint es geraten, auch etwas zum religiösen bzw. kulturhistorischen Hintergrund zu sagen. Ich komme darauf noch zu sprechen und möchte jetzt etwas zur Rezeption der Wahrnehmung von rotem Schnee durch andere Wissenschaftler sagen. Robert Brown und William Hyde Wollaston wurden schon erwähnt. 2. ROTFÄRBUNGEN ZWISCHEN MYTHOS UND WISSENSCHAFTLICHEM GEGENSTAND – WEM GEHÖRT DAS UNTERSUCHUNGSOBJEKT? Kaum war die Reisebeschreibung von John Ross erschienen, da meldeten sich zahlreiche weitere Wissenschaftler zu Wort. Sie verwiesen darauf, dass die Entdeckung des roten Schnees eine alte Sache sei. Neid ist, das zeigte sich auch hier, eine große Triebkraft in der Wissenschaftlergemeinschaft. So war dem Limnologen Carl Adolph Agardh, Professor in Lund, völlig unverständlich, warum ausgerechnet der Schnee in der Nähe des Nordpols soviel Aufsehen erregte, „dass man daraus schliessen sollte, dieses Phänomen stehe völlig einzeln da, oder sey wenigstens höchst selten bemerkt worden, und wenig gekannt.“5
Agardh räumte zwar ein, dass der rote Schnee aus der Baffin Bay besonders prächtig und beeindruckend war, war sich jedoch sicher, dass er lediglich
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John Ross machte unterschiedliche Angaben über die Position, auf der er roten Schnee beobachtet hatte. Im Text gab er an: „17.8.1818, 75º 54´ nördl. Breite, 67º 15´ westl. Länge“, auf der Zeichnung selbst: „76º 25 N., Long. 68 W., Tafel XV.“ Agardh (1825), S. 738.
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„… durch die genauen Untersuchungen mehrerer berühmter Botaniker und Chemiker, und durch die verschiedenen Muthmassungen über seinen Ursprung, welche dadurch veranlasst wurden, zu einem solchen Rufe gelangt sey.“6
Beim Lesen seiner Ausführungen entsteht der Eindruck, dass der Limnologe über den Erfolg des populären Buches von John Ross verärgert war. Tatsächlich war hier der seltene Fall eingetreten, dass ein Buch sowohl Wissenschaftler als auch das breite Publikum brennend interessierte. Was Agardh anging, so wollte er seine eigene Priorität sichern und publizierte im Licht des allgemeinen Interesses alte Beobachtungen über roten Schnee von 1808. Richtig ist sein Hinweis, dass diese oder ähnliche Beobachtungen noch älter waren. Schon Aristoteles hatte in seiner Meteorologie diese Naturerscheinung erwähnt. Auch 1585 waren auffällige Verfärbungen des Schnees festgestellt worden, zahlreich sind die Entdeckungen roten Schnees, die im 18. und 19. Jahrhundert in der Schweiz, den Pyrenäen, Norwegen und einigen Landschaften Italiens gemacht worden waren, u.a. von Horace Benedict Saussure, Johann Jacob Scheuchzer, Louis François Èlisabeth de Carbonnières Ramond und Sören Christian Sommerfelt. Auch eine frühe Beschreibung von Alexander von Humboldt aus dem Jahre 1802 wurde genannt – Humboldt hatte in seinen Tagebüchern der südamerikanischen Reise „roten Hagel“ erwähnt. Er hatte auf dem Weg von Bogotá nach Quito notiert, dass es gehagelt habe, und bemerkt, dass man in Guanacas „bluthroten Hagel“ gesehen habe, wie in der Schweiz roten Schnee.7 Es war sogar davon die Rede, dass die Einwohner aus dem gefärbten Hagel Sorbets zubereitet hatten. Das große öffentliche Interesse am roten Schnee ist noch heute vorhanden, wie die Mitarbeiter des Instituts für Schneeforschung in Davos durch ihre Erfahrungen am Tag der offenen Tür bestätigen, dennoch ist das damalige Ausmaß aus heutiger Sicht verwunderlich. M.E. ist es nur aus dem Lebensgefühl des 19. Jahrhunderts heraus zu verstehen, weil sich naturwissenschaftliche, kulturelle und theologische Aspekte verknüpfen. Der Farbeindruck hatte hohen Symbolwert – in Kulturgeschichte und Religion galt der Farbe „Rot“ stets besondere Aufmerksamkeit. Rotgefärbte „Erscheinungen“ wurden in allen Kulturen mit Blut verbunden, dem kraftvollsten und allgegenwärtigsten aller menschlichen Symbole. Bereits in der Antike wurde Rot auch als Symbol geschätzt. Rotfärbungen auf Speisen8 fanden Beachtung, so ließ Lukianos in seinem berühmten Stück „Der Verkauf der philosophischen Sekten“, in dem Vertreter verschiedener Schulen ihr System begründen mussten, um günstig „verkauft“ zu werden, Pythagoras seine Scheu vor Bohnen9 begründen. Pythagoras erklärte, sie seien ihm heilig, ... und,
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Ebd., S. 739f. Faak (1986), S. 144 u. Faak (2003), S. 144. Solche „Beläge“ bzw. rote Verfärbungen wurden im 19. Jahrhundert ausführlich untersucht und interessierten später auch Ehrenberg. Kúamos (so sagen die Pythagoreer) ist die Saubohne bzw. Ackerbohne (=Vicia faba). Die Gartenbohne (=Phasolus) kam erst im 16. Jahrhundert aus Amerika nach Europa. Ich danke Manfred Ringmacher für den Hinweis.
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wenn man sie gekocht eine gewisse Anzahl von Nächten dem Mondschein aussetze, so würden sie zu Blut werden.10 Auch plötzliche Rotfärbungen von Gewässern machten großen Eindruck auf die Menschen vergangener Zeiten – seit den ältesten Zeiten der Geschichte wurden sie in Chroniken als Unglückszeichen und unmittelbare Götterzeichen aufgezeichnet,11 genannt seien auch Erwähnungen in der Bibel – auch im europäischen Mittelalter belegen viele Quellen eine lange Wahrnehmungsgeschichte der oft als Wunder oder Gotteszeichen verstandenen „rot gefärbten“ Erscheinungen. In „Botanischen Flugblättern und Flugschriften“ wurden Nachrichten von so genanntem „Blutregen“ behandelt, so etwa in einem Flugblatt von 1554. Um die uns heute abstrus erscheinenden Vorstellungen zu verstehen, ist es nötig, die Überlegenheit des Wissens, mit der uns das 20. und 21. Jahrhundert ausgestattet hat, für einen Augenblick abzustreifen. Heute wissen wir selbstverständlich, dass Rotfärbungen in der Natur verschiedene Ursachen haben. Dem Mythos „roter Schnee“ folgten die wissenschaftlichen Fragen des 19. Jahrhunderts: Was ist es? Wo kommt es her? Ich möchte zuerst auf die zweite Frage eingehen. Die Mehrzahl der Wissenschaftler, Naturforscher aus verschiedenen Disziplinen, glaubte nicht an eine Herkunft des „färbenden Prinzips“ aus dem Weltall – mit Ausnahme des Astronomen Florens Chladni. Der allerdings war überzeugt, dass der Stoff mit Meteoriten verschwistert ist und mit ihm vom Himmel kommt, aus dem Weltall vielleicht, was nicht dasselbe ist. Auch der Naturforscher und Philosoph Nees von Esenbeck glaubte dies und sah sogar den von Humboldt 1802 in Südamerika beobachteten roten Hagel als Beleg dafür an, weil er von oben kommt. Die Tatsache, dass Humboldt den roten Hagel zwar fallen sah, ihn beschrieben, aber nicht näher untersucht hatte, würdigte Nees von Esenbeck als großartige Beobachtung und als verlorene Chance zugleich. Worum handelte es sich? Diese Frage stand von Anfang an im Mittelpunkt des Interesses. Im Anhang des schon erwähnten Reisetagebuchs von John Ross findet sich eine Liste von Pflanzen und Tieren, die Robert Brown zusammengestellt hat. Der damals schon bekannte Botaniker erlangte später als Entdecker der nach ihm benannten Molekularbewegung fachübergreifende Berühmtheit. Brown glaubte schon 1819, dass es sich bei der von John Ross und seiner Mannschaft beobachteten Rotfärbung um Rötung durch Algen handele. Diese Vermutung sollte sich später als richtig erweisen. Andere Wissenschaftler ordneten die Erscheinung den Pilzen zu. Sehr frühzeitig führte Francis Bauer zahlreiche Untersuchungen mit den Kügelchen aus dem roten Schnee durch. Die meisten Forscher waren, wie erwähnt, der Meinung, dass es sich um Algen handelte. Andere, darunter Florens Chladni und Wilhelm Zimmermann, glaubten an einen anorganischen Stoff. In folgender Übersicht sind Ergebnisse zum Thema „roter Schnee“ zusammengestellt worden. Da jeder der Forscher Anspruch auf Identifizierung erhob, nahm er sich das Recht, den Organismus zu benennen. Ich habe einige Namen von Gelehrten mit ihren Ergebnissen zusammengefasst. 10 Vgl. Lukian (1974), S. 213. 11 Ehrenberg (1838), S. 119.
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ÜBERSICHT NR. 1 Ausgewählte Benennungen für den „färbenden Körper“ des roten Schnees und Versuche der Zuordnung Name Saussure, Horace Benedict
Bezeichnung Keine Benennung12
Bauer, Francis Brown, Robert
Uredo nivalis13 Algarum genus? Confervis simplicissimis et tremellae cruentae quodammodo affine14 Alga ulvis et Nostoc affinis Chlorococcum Coccophysium nivale15 Sphaerella nivalis16 Protococcus kermesinus17 Parmelia (nivalis)18 Kaucheria radicata Lepraria kermesina19 Discerea nivalis (einst Protococcus) 20
De Candolle, Augustin Pyrame De Fries, Elias Link, Heinrich Friedrich Sommerfelt, Sören Ch. Agardh, Carl Adolph Hooker, Sir William Sprengel, Kurt Wrangel, Fredric Anton Humboldt, Alexander v.
Zuordnung Eventuell roter Staub, wahrscheinlicher organische Substanz, etwa rote Blütensamen Pilz Alge
Alge Alge Alge Alge Alge Flechte Alge Flechte Alge
Jedem, der einmal in den Polarregionen rote Erscheinungen gesehen hat, weiß, dass es nicht so einfach ist, die verschiedenen Färbungen ihrer Ursache nach zu unterscheiden. Neben roten Algen kommen auch Vogelkot oder rote Stäube, meist Wüstensand, in Frage. Dieser rote Sand, den wir auch in Deutschland, sogar in 12 13 14 15 16 17 18
Vgl. Anonym (1819a), S. 73. Genauere Angaben vgl. auch Saussure (1788), S. 53-57. Bauer (1819), S. 226. Brown (1820), in: Ross (1820). Vgl. Link (1822). Vgl. Sommerfelt (1824), S. 249. Agardh (1825), S. 749. Hooker (1825), S. 328. Hookers Sohn Joseph Dalton Hooker nahm an der Antarktisexpedition der Schiffe Erebus und Terror unter James Ross als Arzt und Botaniker teil – 1865-1885 wirkte er als Direktor von Kew Garden als Nachfolger seines Vaters. Palmella nivalis wird im Reisebericht nicht aufgeführt, jedoch finden sich zahlreiche andere Species, die z.T. unter Lichenes (= Flechten) aufgeführt werden. Vgl. Hooker (1847), S. 519ff. 19 Wrangel (1823). 20 Humboldt (1845), S. 372. Humboldt erwähnt diesen Organismus ohne Quellenverweis.
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Berlin, als Gruß aus der Ferne auf unseren Fensterbrettern oder den Autos bemerken, führte auf zahlreiche andere wissenschaftliche Probleme, die schon damals interessierten – nämlich des Transports von Stäuben um die Welt, ihre Herkunft, die Zusammensetzung. Christian Gottfried Ehrenberg, den die roten Erscheinungen aus wissenschaftlichen und religiösen Gründen ausführlich interessierten (er hat darüber in unserer Akademie zahlreiche Vorträge gehalten) hat viele solcher Stäube untersucht – auch hinsichtlich ihres Gehalts an Fossilien. Einige Wissenschaftler, darunter Charles Darwin, haben rote Stäube von den Segeln u.a. der Beagle gekratzt und an Ehrenberg geschickt. Ich habe dieses Thema in meinem Buch ausführlich behandelt und durfte auch den schönen Briefwechsel zwischen Humboldt und Ehrenberg, den Anne Jobst und Eberhard Knobloch herausgeben werden, auswerten. In seinen 1839 erstmals veröffentlichten Aufzeichnungen kam Darwin gründlich auf das Sammeln der Stäube auf hoher See zu sprechen. So erwähnte er, dass sowohl auf den Kapverdischen Inseln als auch auf dem hohen Meer (Atlantik, 170 43´ N.B. 260 W. L.) ständig ein gelbroter Staub gefallen sei, der seine Aufmerksamkeit gefesselt habe. In seinen Tagebuchaufzeichnungen aus dem Jahre 1832 schrieb Darwin: „Meist ist die Atmosphäre dunstig, und zwar in Folge eines unfühlbar feinen Staubes, welcher, wie wir fanden, die astronomischen Instrumente unbedeutend beschädigt hatte. Am Morgen, ehe wir in Porto Praya vor Anker gingen, sammelte ich ein kleines Päckchen dieses braun gefärbten feinen Staubes, welcher durch die Gaze der Windfahne an der Mastspitze vom Winde filtriert worden zu sein schien.“ 21
Die damalige Unsicherheit über die Einordnung der heute als Schneealge erkannten roten Erscheinung in einer Gruppe, zu der auch andere rote Phänomene gehören, war dadurch beeinflusst worden, dass sich Naturforscher dafür interessierten, die wir heute verschiedenen Disziplinen zuordnen würden. Ich drücke das deshalb so vorsichtig aus, weil vom Beginn bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts die Disziplinentwicklung im Fluss war. Belegt ist, dass sich sowohl klassische Chemiker wie Jöns Berzelius, Wilhelm Zimmermann, Sigmund Friedrich Hermbstädt, Louis Agassiz, Jean-Baptiste Biot und Louis-Jacques Baron Thenard mit dem Phänomen befassten, als auch der Astronom Florens Chladni. Dieser Gruppe standen die Lebenswissenschaftler gegenüber, die weniger an der chemischen Zusammensetzung bzw. der Entwicklung eines Modells für das Zustandekommen der Rotfärbung als an der Erforschung des Organismus interessiert waren. Der Streit wurde zusätzlich noch verstärkt durch die neue Zellentheorie Dr. Schwanns und die Frage, inwieweit selbständige mikroskopische Organismen existieren können bzw. darüber, worin sich Tier- und Pflanzenzelle unterscheiden. Ehrenberg sprach mit Bedauern davon, dass „die zierlichen Formen des kleinen selbständigen Lebens zum Gezänk des Tages zwischen Botanikern und Zoologen werden, um sie bald ins Herbarium zu einzulegen, bald in den Glasschrank zu stellen…“22
21 Darwin (1875), S. 5. 22 Ehrenberg (1851), S. 770.
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Zu den anderen Personen, die in der Tabelle aufgeführt sind, gehören auch Ehrenberg und Nees von Esenbeck. Der Hauptvorwurf, den die Organismiker an die Chemiker erhoben war der, dass sie das Untersuchungsobjekt zu frühzeitig „veraschten.“ So sprach Nees von Esenbeck die Hoffnung aus, es mögen doch mehr mikroskopische Untersuchungen vorgenommen werden, sprach mit Blick auf die Chemiker von vertanen Chancen für die Forschung, weil er der Überzeugung war, dass in einigen Fällen dort, wo Chemiker zerstörte Proben untersuchten, vorher noch vollständige Organismen hätte mikroskopisch geprüft werden können. 23 Nees von Esenbeck sprach sich dafür aus, dass bei künftigen meteorischen Niederschlägen oder neu entdecktem roten Schnee zuerst Botaniker und Zoologen die Proben zur mikroskopischen Untersuchung erhalten sollten, weil diese vergänglichen Dinge nur frisch zur Gewinnung „naturhistorischer“ Ergebnisse geeignet seien. Für chemische Untersuchungen dagegen seien die Proben auch dann noch geeignet, wenn ihre Form und Struktur verloren gegangen sei. Die Chemiker also könnten die „Einäscherung“ vornehmen, nachdem die Botaniker ihre Untersuchungen abgeschlossen haben. In diesem Punkt war er einer Meinung mit Christian Gottfried Ehrenberg. Dieser berichtete Jahre später, 1850, in der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin „Über den vom 3. zum 4. Februar in der Schweiz in Graubünden gefallenen rothen Schnee und dessen abermalige Übereinstimmung mit dem atlantischen Passatstaube“. Ehrenberg war in Widerspruch zu Chemiker-Kollegen geraten, denn er hatte bei Analyse desselben Stoffes ein anderes Ergebnis erhalten als Justus von Liebig und sein Mitarbeiter. Während Liebig keinerlei organische Substanzen hatte feststellen können, fand Ehrenberg zahlreiche organische Formen: „Dass aus derselben Substanz in bloß 50 nadelkopfgroßen Theilchen, bei nur 300 maliger Vergrösserung, 61, sage 61 verschiedene organische Formen in zahllosen Exemplaren verzeichnet werden konnten, möge wiederholt andeuten, dass der richtige Gebrauch des Mikroskops noch nicht allgemein ist und dass sich die mikroskopische Analyse in diesen Fällen sehr viel bezeichnender und feiner ausgeführt werden kann als die chemische.“24
Ehrenberg beendete seine Darstellungen mit der Aufforderung, einige der künftig gesammelten und aufbewahrten Proben freigiebig an verschiedene Forscher zu verteilen, auch an Chemiker – allerdings sollten gerade diese nicht das meiste bekommen. 3. ALTE PROBEN UND MODERNE FORSCHUNG Die 1819 von Ross gesammelten Proben sind nicht erhalten geblieben. Einige Jahrzehnte später, im Jahre 1848, machte sich noch einmal eine Expedition auf den Weg in dieses Gebiet und der Berliner Naturforscher Christian Gottfried 23 Die so genannte „organismische Richtung“ wurde in den nächsten Jahren durch Ludwig Friedrich Kämtz gestützt, der in seinem Lehrbuch der Meteorologie (vgl. Kämtz 1831-1836) altes und neues Material zusammengefasst und es, wie Ehrenberg bemerkte, mit großer Sorgfalt und Ruhe bewertet hatte. Vgl. Ehrenberg (1871), S. 6. 24 Vgl. Ehrenberg (1850b), S. 165f.
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Ehrenberg, einige Zeit Rektor der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, sicherte sich eine neue Probe von den Crimson Cliffs. Das kleine Röhrchen trägt die Nummer 1781c.25 Vom einstigen roten Schnee, der Wissenschaftler und Künstler inspirierte, sind nur schuppige braunrote Plättchen übrig geblieben. Wenn man die kläglichen Überreste anschaut, so lässt sich die Faszination, die damals die ausgedehnten roten Flächen auf die Mannschaft der Isabella und der Alexander ausübten, kaum nachvollziehen. Ehrenberg beschrieb 1851, wie diese getrocknete rote Substanz aus der Baffin Bay nach drei Jahren wohlbehalten in seine Hände gelangt war und schilderte den Moment der Ansicht – mit Wasser befeuchtet hatte sich die Probe unter dem Mikroskop in „ihrer blendend roten Farbe“ entfaltet – Ehrenberg fühlte sich an die Farbenpracht von früher von ihm beobachteten Infusorien erinnert. Er gab eine ausführliche Beschreibung der roten und grünen Kügelchen.
Abb. 1: Für die an Christian Gottfried Ehrenberg geschickten Proben verwendeten Wissenschaftler die unterschiedlichsten Gefäße. Sie befinden sich noch heute in der Sammlung Ehrenberg im Museum für Naturkunde in Berlin.
Ehrenberg revidierte seine Ansicht, dass die Färbung der Crimson Cliffs auf Grund der ausgedehnten und intensiven Rotfärbung etwas Besonderes sein müsste, sich von anderen roten Schneeflächen unterscheide. Nunmehr war er zu der Einsicht gekommen, dass es sich um den gleichen Organismus handelte. Das war 1851. Wie ein richtiger Naturforscher träumte er davon, dass sich viel später Forscher wieder für die Probe interessieren würden. Der Traum ging in Erfüllung. 25 Schon 1848 hatten Forscher Schwierigkeiten, die von John Ross angegebene Position zu finden, es ergaben sich größere Abweichungen. Auch heute lässt sich die von John Ross 1818 genannte Position nicht mehr finden – dort befindet sich das offene Meer. Die Autorin dankt dem russischen Kapitän des Forschungsschiffes Joffe für die Unterstützung beim Studium der detaillierten Seekarten.
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Thomas Leya von der Arbeitsgruppe Extremophilenforschung bzw. Kryotechnologie des Fraunhofer Instituts für Biomedizinische Technik nahm Gelegenheit, die alte Probe aus dem Museum für Naturkunde in Berlin zu untersuchen. Zwischen Ehrenberg und der heutigen Forschung gibt es eine Darstellungslücke. 4. SCHLUSSBEMERKUNG ODER: WAS SUCHT DER LEOPARD AUF DEM KILIMANDSCHARO? Es blieb bei meiner Beschäftigung mit Wissenschaftsgeschichte nicht aus, dass mir interessante Gelehrte begegnet sind. Da ich 25 Jahre im Fach bin, kann ich mit etwas Mut behaupten, dass die meisten Wissenschaftler, deren Arbeit mich interessierte, Sonderlinge waren. Ein Merkmal des Sonderlings ist die Unterordnung allen familiären Lebens unter wissenschaftliche Interessen und eine gleichzeitige Unzufriedenheit mit der Situation. So gibt es von einem Wissenschaftler die Bemerkung, er beneide Menschen, deren Leben im Familienkreise 26 beim Kartenspiel verginge, er dagegen fühle sich wie ein Droschkengaul, der einen Wagen voll fröhlicher Menschen in den Frühling zieht. Sie erkennen sofort, dass Märtyrerhafte, Bombastische in der Bemerkung dieses deutschen Mandarins. Zur strikten Vermeidung von Familienfeierlichkeiten, einer Aversion gegen Gespräche über Scheidungen, Krankheiten und die Ablehnung der Ansicht, dass früher sowieso alles besser war, kommt zuweilen ein bizarrer Aufenthaltsort, der oft völlig kahl ist und Projektionsflächen für Ideen bietet. Wüsten bieten sich an, die Pampa und natürlich auch das ewige Eis. Entsprechende Bemerkungen über den Zauber solcher Gebiete sind u.a. von Alexander von Humboldt, Charles Darwin und Joseph Dalton Hooker überliefert. Auch Beechey Island in der Baffins Bay, benannt nach dem unerschrockenen Kapitän, ist zweifelsohne ein solcher Ort. Beechey Island, das ist dort, wo der Knopf im Globus steckt. Hier sieht man die Überreste vieler Expeditionen – alle waren sie hier, John Ross, James Ross, John Franklin und andere. In der Nähe wurden die Crimson Cliffs entdeckt. Es war, zugegebenermaßen, nicht der rote Schnee, der sie herlockte, sondern geographische und vermutlich militärische Aufgaben. Von den mutigen Reisenden, die sich im 19. Jahrhundert mit der Erforschung der roten Schneealge befasst haben, sind einige auf solchen Expeditionen umgekommen. Zu ihnen gehört Ferdinand Meyen, der, wie es Humboldt einmal ausdrückte, der Wissenschaft zu früh entrissen wurde. Andere, wozu auch Christian Gottfried Ehrenberg und Alexander von Humboldt gehören, haben große Strapazen auf sich genommen und Ehrenberg musste erleben, wie mehrere Expeditionsteilnehmer starben. Dasselbe lässt sich i.W. auch über alle anderen Personen sagen, deren Namen ich in der Tabelle aufgeführt habe. John Ross, wie gesagt, hat als erster dem Phänomen des roten Schnees zu öffentlicher Aufmerksamkeit verholfen, wenngleich ihn 1819 wie auch später 26 In diesem Sinne äußerte sich Fritz Haber an Richard Willstätter am 26.12.1928, in: Werner/Irmscher (1995), S. 112.
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eigentlich die Suche nach der Nord-West-Passage in die Arktis getrieben hatte. Er sagte öffentlich, dass er stolz sei, ein solches „Abenteuer“ befehligen zu dürfen. Unwillkürlich stellte ich mir die Frage, was diese Menschen jenseits wissenschaftlicher und politischer Ziele an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit trieb. In einigen Fällen gibt es Belege dafür, dass ein früher Kindheitstraum winkte, dass es sich um „wahre Reisende“ handelt, die, wie Baudelaire sagte, „die fortgehen um des Fortgehens willen, Fluggondeln gleich, wohin das Verhängnis treibt, und immer vorwärts, sagen sie … Im Mastkorb eine Stimme, vor Verzückung närrisch, ruft: Liebe, Ruhm Glück. Teufel, da ist ein Riff. “27 Was es damals bedeutete, auf große Fahrt zu gehen, wie hoch die psychischen und physischen Anforderungen an Mannschaft und Kapitän bei Polarexpeditionen waren, belegt folgendes Zitat aus einem Expeditionsbericht von Kapitän John Ross: „Gegen 10 Uhr morgens kam unser erster Heizer mit zerschmettertem Arm aus dem Maschinenraum… Er ging allein, ließ sich nicht stützen, sondern zeigte ohne Klagen nur seinen linken Arm, der bis zum Ellenbogen zerfleischt war. …Unser Chirurgus befand sich noch nicht an Bord, so dass ich genötigt war, die erforderliche Amputation selbst vorzunehmen. Meine Erfahrung in ähnlichen Fällen sowie das Lesen medizinischer Schriften kam mir hierbei sehr zustatten. Die Instrumente des Wundarztes sowie der Kasten mit Medikamenten befanden sich glücklicherweise an Bord.“28
Ich will Sie mit Einzelheiten verschonen – soviel sei gesagt, der Heizer überlebte und dieses Beispiel ist nur eines von vielen. Der englische Schriftsteller Charles Dickens hat die Härte solcher Expeditionsreisen in einem sehr abschreckenden Aufsatz nachdrücklich geschildert. Die englische Frauenzeitschrift, die ihn abdruckte, hat kurz danach ihr Erscheinen eingestellt. Was treibt einen Menschen, der ein leidliches Einkommen, eine Frau, zwei Kinder, einen Hund und ein Bett hat, dazu, in die Nähe des Nordpols oder in eine andere gefährliche Region dieser Welt zu segeln? Eine alte Dame äußerte sich zu dieser Frage zu Humboldt, sprach außerdem noch von gutem Rindfleisch, das zur Verfügung stände. Solche verwunderten Bemerkungen, so schrieb der deutsche Forschungsreisende Moritz Wagner Anfang des 19. Jahrhunderts „bekommt jeder Forscher, der ähnliche Zwecke verfolgt, … noch heute zu hören.“29 Was ist es? Gier nach Ruhm? Sehnsucht nach Unsterblichkeit? Vielleicht. Die Namen der von mir genannten Forscher schmücken nicht nur wissenschaftliche Bücher, sondern auch die Weltkarte. Sie waren es, die Inseln, Landschaften und anderen geographischen Landmarken ihren Namen gegeben haben. Und einige, das sollten Sie sich in Erinnerung rufen, waren Mitglieder unserer Akademie. Ernest Hemingway, hat, so scheint es mir, in seiner Erzählung „Aufstieg auf den Kilimandscharo“ eine Erklärung für das Verhalten dieser Reisenden gefunden: Dicht unter dem westlichen Gipfel des Berges, der Haus Gottes heißt und gern mit 27 Baudelaire (1975), S. 329-339. 28 John Ross (1983), S. 20f. 29 Moritz Wagner zu Angehörigen der Familie Aguirre y Montúfar: Quito und Chillo in Ecuador, 6. Januar bis Juli 1802, in: Beck (1959), S. 25.
Kreative Grenzgänger und Schneeblüten
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dem Olymp, also dem Gipfel des Ruhms, verglichen wird, liegt das ausgedörrte Gerippe eines Leoparden. Niemand weiß, so Hemingway, was der Leopard in jener Höhe suchte. LITERATUR Agardh (1825): Agardh, Carl Adolph: Über den in der Polar-Zone gefundenen Rothen Schnee, in: Verhandlungen der Kaiserlichen Leopoldinisch-Carolinischen Akademie der Naturforscher, Bd. 12, 2. Abtheilung, S. 737-750. Anonym (1819a): anonym: Sur les Neiges rouges, in: Annales de Chimie et de Physique par MM. Gay-Lussac et Arago, Bd. XII, S. 72-88. Baudelaire (1975): Baudelaire, Charles: Sämtliche Werke, Bd. 8 (Die Blumen des Bösen), hg. von Friedhelm Kemp u. Claude Pichois, München. Bauer (1819): Bauer, Francis: Art. II. Microscopical Observations on the Red Snow. Letter to W. T. Brande, in: Quarterly Journal of Literature, Sciences and Arts 14, S. 222-228. Beck (1959): Beck, Hanno: Gespräche Alexander von Humboldts. Hg. im Auftrage der Alexander-von-Humboldt-Komission der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Berlin. Brown (1820): Brown, Robert: Übersicht über die während der Expedition gesammelten Pflanzen, Anhang, in: Ross (1820). Brown (1825): Brown, Robert: Vermischte Schriften. In Verbindung mit einigen Freunden ins Deutsche übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Dr. C.G. Nees von Esenbeck, Bd. 1, S. 571-672, Schmalkaden. Darwin (1875): Darwin, Charles: Reise eines Naturforschers um die Welt, Übersetzer: J. Victor Carus, Stuttgart. Ehrenberg (1838): Ehrenberg, Christian Gottfried: Die Infusionsthierchen als vollkommene Organismen. Ein Blick in das tiefere organische Leben der Natur, Leipzig. Ehrenberg (1850): Ehrenberg, Christian Gottfried: Bemerkungen über den vom 3. zum 4. Februar in der Schweiz in Graubünden gefallenen rothen Schnee und dessen abermalige Übereinstimmung mit dem atlantischen Passatstaube, in: Berichte über die zur Bekanntmachung geeigneten Verhandlungen der Königlichen Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, S. 158-166, Berlin. Ehrenberg (1851): Ehrenberg, Christian Gottfried: Ueber die neuesten die Formbeständigkeit und den Entwicklungskreis der Formen betreffenden Bewegungen in den organischen Naturwissenschaften, in: Berichte, S. 761-795. Ehrenberg (1871): Ehrenberg, Christian Gottfried: Übersicht der seit 1847 fortgesetzten Untersuchungen über das von der Atmosphäre unsichtbar getragene reiche organische Leben. Gelesen in der Akademie der Wissenschaften zu Berlin am 15. Dezember 1870 und am 6. März 1871, in: Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1871, S. 1-150, Berlin. Faak (1986): Faak, Margot (Hg.): Alexander von Humboldt: Reise auf dem Rio Magdalena, durch die Anden und Mexico. Teil 1: Texte. Aus den Reisetagebüchern zusammengestellt und erläutert (Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung, Nr. 8), Berlin. Faak (2003): Faak, Margot (Hg.): Alexander von Humboldt: Reise auf dem Rio Magdalena, durch die Anden und Mexico. Teil 1: Texte. Zweite, durchgesehene und verbesserte Auflage (Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung, Nr. 8), Berlin. Hooker (1825): Hooker, William Jackson: Palmella nivalis, in: Edinburgh Journal of Science 1, S. 328. Hooker (1847): Hooker, Joseph Dalton: The Botany of the Antarctic Voyage of H.M. Discovery ships Erebus and Terror, in the years 1839-1843 under the Command of Capitain Sir James
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„DAS UNGRÜNDLICHE PFUSCHEN IST MIR EIN GRÄUEL“ ALEXANDER VON HUMBOLDTS HALTUNG IN DER AUSEINANDERSETZUNG ZWISCHEN AUGUST BÖCKH UND OTTO FRIEDRICH GRUPPE UM DAS KOSMISCHE SYSTEM DES PLATON1 EINLEITUNG „Wir dürfen nicht unterlassen, schon wegen der bedeutenden Namen, welche hier auftreten, P la ton, A . Hu mbo ld t, Böckh , und weil diese Blätter nicht allein von Staats-, sondern auch von g e le hr ten Sachen handeln, auch das größere Publikum auf die oben genannte, jüngst erschienene Schrift des berühmten Alterthumsforschers aufmerksam zu machen, dessen Namen jeder Freund Griechenlands als ein Symbol genauester und gewissenhaftester Forschung kennt und ehrt.“2
Bei dem in der Rubrik „Wissenschaftliche und Kunst-Nachrichten“ der „Spenerschen Zeitung“ angepriesenen Buch handelt es sich um die Untersuchungen über das kosmische System des Platon, mit Bezug auf Herrn Gruppes kosmische Systeme der Griechen. – Sendschreiben an Herrn A. v. Humboldt des Berliner Altphilologen August Böckh aus dem Jahr 1852. Dieser reagierte damit auf ein im Vorjahr erschienenes von Otto Friedrich Gruppe, in dem dieser versuchte, einige von Böckh aufgestellte Forschungsmeinungen zu widerlegen. Beide Bücher sind eng mit dem Namen Alexander von Humboldts verknüpft. Gruppe hatte seine Schrift dem damals 82jährigen gewidmet, dessen Kosmos „wohl mit Recht als der Inbegriff des gegenwärtigen Standes unserer Wissenschaft von dem Weltgebäude und ihrer Geschichte gelten darf“3. Böckh verfasste seine Erwiderung als ein Sendschreiben an Humboldt, den er ganz zu Beginn des Buches mit „Hochgeehrter, edler Gönner und Freund!“4 anredete. Humboldt bildet jedoch nicht nur rein formal die Klammer dieser wissenschaftshistorischen Auseinandersetzung. Das Thema des Streites zwischen Gruppe und Böckh waren Platons Ansichten vom Kosmos, vor allem seine Ausführungen über die Erde im Dialog Timaios. Mit dieser Auseinandersetzung, ihrem Bezug zu Alexander von Humboldt und dessen Haltung zu ihr beschäftigt sich der vorliegende Aufsatz. Er untersucht die 1 2
3 4
Diese Arbeit ist Eberhard Knobloch zu seinem Geburtstag gewidmet. Sie ist ein Dank dafür, dass er das Interesse und die Freude an der Wissenschaftsgeschichte in mir geweckt hat und mir die Gelegenheit gibt, an meinen Aufgaben zu wachsen. Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen Nr. 91 (18.4.1852), 1. Beilage, S. [2]. Ich danke Ingo Schwarz für den Hinweis auf die „Spenersche Zeitung“. Laut Staab befinden sich die zur Auseinandersetzung gehörigen Zeitungsartikel auch unter Gruppes persönlichen Papieren in seinem Nachlass im Archiv der BBAW (Staab (2004), S. 223, Anm. 72). Gruppe (1851), S. 1. Böckh (1852), S. 1.
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nachstehenden Schwerpunkte und folgt dabei weitestgehend dem chronologischen Ablauf der Ereignisse: 1. Gruppes Kosmische Systeme der Griechen und ihr Bezug zu Alexander von Humboldt, 2. Humboldts Reaktion, 3. Böckhs Erwiderung: Untersuchungen über das kosmische System des Platon, 4. Fazit. Zum Punkt 2. befindet sich im Anhang die Edition eines Briefes, den Humboldt an Gruppe schrieb und in dem er sich mit dessen Untersuchungen auseinandersetzte. 1. GRUPPES KOSMISCHE SYSTEME DER GRIECHEN Otto Friedrich Gruppes Buch über die Kosmischen Systeme der Griechen erschien im Sommer des Jahres 1851. Er hatte die Arbeit mehr als drei Jahre zuvor aufgenommen, die erste Niederschrift erfolgte vom September bis Oktober 1848.5 Das Werk untersuchte die Geschichte der Kosmologie und Astronomie im antiken Griechenland und ihren Bezug auf die Kosmosvorstellungen Platons. Dabei eröffnete er seine Untersuchung mit einem Rückgriff auf den Kosmos Alexander von Humboldts, der für ihn den aktuellen Wissensstand am besten wiedergab: „[…] in Hu mbo ld ts Kosmo s (Theil II, S.139) lesen wir mit klaren Worten, daß: ‚Platon und Aristoteles sich die Erde weder rotirend noch fortschreitend, sondern als unbeweglich im Mittelpunkt schwebend vorstellten‘.“6
Dem entgegengesetzt stellte Gruppe die kosmologischen Ansichten Platons als verschiedene Entwicklungsstufen dar, denen Platon in verschiedenen Lebensabschnitten anhing.7 Insgesamt unterschied er fünf platonische Systeme: – – –
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6 7 8 9
die Erdscheibe mit darüber gestülpter Kristallglocke im Phaidros, in Anlehnung an altionische Anschauungen beispielsweise des Thales,8 die frei schwebende Erdkugel im Mittelpunkt des vermutlich kugelförmigen Himmels unter dem Einfluss des Pythagoras im Phaidon,9 im 10. Buch des Staates (Politeia) die unbewegte Erde im Mittelpunkt des Weltalls, das aus acht konzentrischen, in einander geschachtelten Himmelskugeln Gruppe (1851), S. VI. In einer ausführlichen Vorrede legt Gruppe die Entstehung seines Buches dar. Auf diese bezieht sich das Folgende. Dabei wird davon ausgegangen, dass es sich bei den von ihm angegebenen Sachverhalten um autobiographische Fakten handelt. Eine Gewichtung der Fakten zugunsten der beabsichtigten Wirkung ist wahrscheinlich, es ist jedoch nicht wahrscheinlich, dass es sich um eine rein fiktive Darstellung handelt. Die autobiografischen Angaben in Böckh (1852) werden unten in derselben Weise behandelt. Ebd., S. 1. Ebd., S. 17 u. 30. Ebd., S. 18f.; zu Thales vgl. ebd., S. 34ff. Ebd., S. 21-25; zu Pythagoras vgl. ebd., S. 48-57 u. 152.
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besteht, eine Vorstellung, die den Ausgangspunkt des Eudoxischen Modells der homozentrischen Sphären bildete,10 die Rotation der Erde um ihre eigene Achse im Timaios,11 in den Gesetzen (Nomoi) das heliozentrische Weltbild, dessen Erfinder nicht Aristarch von Samos, sondern Platon selbst sei.12
Den Ausgangspunkt seiner Untersuchungen bildete die seit dem Altertum strittige Stelle Tim. 40.13 Darin war vor allem das Wort εἱλλοµένην14 von Interesse für die Kommentatoren, denn „[e]s konnte nämlich heißen: gedreht, sich drehend um die Achse, und: befestigt an der Achse, nämlich gewickelt um die Achse, wie ein Knäuel.“15 Platons Worte seien „dunkel, doppeldeutig“.16 Daraus schlussfolgerte Gruppe, „nicht das Gewöhnliche, das Allen Zugängliche, das auf der Hand liegende kann er sagen wollen, sondern das Neue, das Kühne, das Gewagte.“17 Er bezog den Kontext der Stelle mit ein und übersetzte sie wie folgt: „‚Die Erde, unsere Ernährerin, welche gedreht ist um die durch das All ausgespannte Achse, machte er zur Wächterin und Hervorbringerin von Nacht und Tag‘ – eine Uebersetzung die freilich nur unvollkommen jenem feinen Helldunkel des platonischen Ausdrucks entsprechen kann […].“18
Diese Zusammenstellung des zweideutigen Wortes εἱλλοµένην mit der Ursache von Tag und Nacht konnte nach Gruppes Meinung nur bedeuten, dass Platon auf die Achsendrehung der Erde anspielte. Hiervon ausgehend entwickelte er dessen verschiedene kosmische Systeme. Gruppe widmete sein Werk „[d]em Verfasser des Kosmos mit inniger Verehrung“19. Weshalb wählte er ausgerechnet Humboldt als Adressaten seiner Zueignung? Wie er selbst ausführte, hatte der Gelehrte das Gegenteil der in den Kosmischen Systemen der Griechen entwickelten Ansichten im Kosmos dargelegt. 20 Natürlich war er sich durch diesen Widerspruch eines hohen Maßes an Aufmerksamkeit für seine Untersuchung gewiss, da Humboldt mit seinen historischen Betrachtungen im Kosmos das Interesse an dieser Materie bei einem breiten Publikum angeregt hatte, wie Gruppe selbst bemerkte. 21 Das scheint aber nicht der 10 11 12 13 14
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Ebd., S. 26f.; zu Eudoxos vgl. ebd., S. 117-123 u. 152. Ebd., S. 4-15 u. 29. Ebd., S. 29, 156 u. 158-167. Ebd., S. 10-15. Gruppe (1851) verwendete εỉλλουµένην, Böckh (1852), S. 63 gab neben εἱλλοµένην als bester Lesart verschiedene Varianten des Wortes an. In diesem Aufsatz wird einheitlich εἱλλοµένην in Anlehnung an den zeitgenössischen Textgebrauch verwendet, vgl. Bekker (1817), S. 41; Buttmann (1825), S. 150-154; Bekker (1826), S. 276; Ast (1835), S. 618. Gruppe (1851), S. 10. Ebd. Ebd., S. 11. Ebd., S. 12. Ebd., Widmung. Ebd., S. 1. Ebd., S. VI.
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einzige Grund gewesen zu sein. Der Kontakt Humboldts zu Gruppe war nicht ausgeprägt. Ein verbindendes Element war jedoch die Bekanntschaft mit dem Mathematiker Carl Gustav Jacob Jacobi. Dieser war nach Gruppes Aussagen der Motor für die Veröffentlichung seines Manuskriptes gewesen. Jacobi hatte durch Dritte von Gruppes Forschungen erfahren, sein Manuskript gelesen und zur Drucklegung geraten. Die beiden gleichaltrigen Männer22 blieben 1849 und 1850 in dauerndem Austausch über das Thema, vor allem über die Timaios-Stelle.23 Auch Humboldt stand mit Jacobi in wissenschaftlichem Kontakt und führte mit ihm von September 1846 an ein Jahr lang einen intensiven Briefwechsel. Er informierte sich bei ihm für den Kosmos über die Mathematik der Griechen.24 Ihn interessierten dabei vor allem die Teile der Mathematikgeschichte, die für die Entwicklung der Astronomie von Bedeutung waren. Ein Thema war dabei das mathematische Wissen Platons.25 Am 22. November 1849 schrieb Humboldt an Jacobi: „Wenn ich recht lese, so hat der auch von mir sehr geschätzte Gruppe Plato’s cosmische Systeme ergründet. Möge er uns auch erklären, warum Plato fast in jedem Gespräche ein anderes astronomisches System hat, wie schon Henri Martin in den scharfsinnigen Études sur le Timée gezeigt.“26
Zu einer Zeit also, als Gruppe mit der Ausarbeitung der Kosmischen Systeme beschäftigt war und deshalb mit Jacobi in Kontakt stand, äußerte Humboldt diesem gegenüber ein starkes Interesse an der Thematik, vor allem an der Verschiedenheit der kosmologischen Vorstellungen des Platon. Wenn Jacobi dieses Interesse des berühmten Forschers an Gruppe weitergab, was wahrscheinlich ist, so ist es nur verständlich, dass dieser sich und sein Werk durch eine Widmung Humboldt näher zu bringen gedachte. 2. HUMBOLDTS REAKTION Humboldt hatte Platon und dessen kosmologische Vorstellungen in den bereits erschienenen Bänden seines Kosmos erwähnt. Dabei hatte er sich verschiedener Quellen bedient. Seine Ansichten hatte er im zweiten Band wie folgt zusammengefasst: „Sie [die Geschichte der Weltanschauung] zeigt uns, wie die Pythagoreer, nach dem Berichte des Philolaus aus Croton, die fortschreitende Bewegung der nicht rotirenden Erde, ihren Kreislauf um den Weltheerd (das Centralfeuer, Hestia) lehrten: wenn Plato und Aristoteles sich die Erde weder als rotirend noch fortschreitend, sondern als unbeweglich im Mittelpunkt schwebend vorstellten. Hicetas von Syracus, der mindestens älter als Theophrast ist, Heraclides Ponticus und Ecphantus kannten die Achsendrehung der Erde; aber nur Aristarch von Samos und besonders Seleucus der Babylonier, anderthalb Jahrhunderte nach Alexander,
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Beide sind 1804 geboren. Vgl. Gruppe (1851), S. VIII-X. Pieper (1987), S. 14. Ebd., S. 16. Ebd., S. 137, Nr. 39.
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wussten, dass die Erde nicht bloß rotire, sondern sich zugleich auch um die Sonne, als das Centrum des ganzen Planetensystems, bewege.“27
Und speziell über das kosmische System des Platon äußerte er sich folgendermaßen: „Plato ist philolaisch im Phädrus,28 im Timäus dagegen ganz dem System der unbewegten im Centrum ruhenden Erde, das man später hipparchisch und ptolemäisch genannt hat, zugethan. […] Das astronomische Traumbild, in welches der Weltbau am Ende des Buchs von der Republik gehüllt ist, erinnert zugleich an das eingeschachtelte Sphärensystem der Planeten und den Einklang der Töne ‚als Stimmen der mit umschwingenden Sirenen‘. […]“29
„Eben weil Ihre Resultate von denen so verschieden sind denen Letronne, Ideler u[nd] Böckh anhängen,“30 wandte er sich, wie er Gruppe mitteilte, dessen Buch interessiert zu, das dieser ihm als Geschenk hatte zukommen lassen. In seinem Dankesbrief an Gruppe, der im Anhang dieses Artikels vollständig wiedergegeben ist, schrieb er, er habe „Register gemacht, Seite für Seite und daneben verglichen und niedergeschrieben alles was ich schon, oft irregeleitet, über 3 Pythag[oreische] Ansichten gesammlet“. Er habe sich „warm und ernst“ aus Gruppes Buch „belehrt“. Tatsächlich scheint sich Humboldt intensiv mit den Kosmischen Systemen der Griechen beschäftigt zu haben. Er füllte am Ende des Buches eine ganze Seite mit wissenschaftlichen Bemerkungen.31 Am 9. Juli 1851 schrieb er an den Pariser Altphilologen Karl Benedikt Hase: „Ein wichtiges Werk ist Gruppe’s Kosmische Systeme der Alten die eben erscheinen. Manches wird aber darin für neu ausgegeben was Martin in den Études sur Timée eben so vollständig aber entgegengesezte Resultate erlangend behandelt hat. T. II p. 80-134.“32
Humboldt erwähnte hier erneut Henri Martins Werk über den Timaios,33 das er auch im Kosmos häufig herangezogen hatte.34 Tatsächlich hatte Gruppe Martins Abhandlung in seinem Buch nicht verwendet, 35 was ihm Humboldt auch in seinem Brief indirekt zum Vorwurf machte: Humboldt selbst habe sich nämlich 27 Humboldt (1845-62), II, S. 139f. Hierauf bezog sich auch Gruppe (1851), S. 1. 28 Böckh hatte in früheren Schriften philolaische Anklänge im Phaidros nachgewiesen (vgl. Böckh (1852), S. 85). 29 Humboldt (1845-62), II, S. 505, Anm. 476. 30 Alle im Folgenden verwendeten Äußerungen Humboldts gegenüber Gruppe selbst stammen aus dem im Anhang edierten Brief vom 12.7.1851. 31 Der Band ist leider nicht mehr erhalten. Er ist, wie der Rest der Humboldtschen Bibliothek, verbrannt. Glücklicherweise hat Stevens den Zustand des Buches in seinem Katalog dokumentiert. Vgl. Stevens (1967), Nr. 3690. Die wissenschaftlichen Anmerkungen müssen sehr detailliert gewesen sein, denn Stevens vermerkt ebd.: „For a new edition of Cosmos these notes are most valuable.“ 32 Humboldt an Hase, 9.7.1851 (Goethe-und-Schiller-Archiv Weimar, NL Karl Benedikt Hase, GSA 108/1211, 2). 33 Martin (1841). 34 Vgl. Humboldt (1845-62), V, S. 738. Unter dem Registereintrag „Martin, Thomas Henri“ finden sich allein zwölf Einträge zu seinen Études. 35 Gruppe gibt in einer Fußnote an, dass ihm die Études erst nach Abschluss seiner Arbeit bekannt geworden seien. Vgl. Gruppe (1851), S. 90.
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nicht nur auf William Whewell,36 den Gruppe als ergänzungs- und berichtigungsbedürftig bezeichnet hatte,37 und Ideler38 in seiner Arbeit gestützt, „nein das reichste Material alles aus dem Alterthum gesammleten hatte ich vor zehen Jahren, in Martin Études sur le Timée T. II p. 86-133 gefunden.“
Gruppe gegenüber bezeichnete er Martins Arbeit als „fleissig“, eine Eigenschaft, die der Arbeit Gruppes in Humboldts Augen offenbar fehlte. So schrieb er ungefähr zur selben Zeit39 betreffs des Nachlasses von Jacobi40 an Dirichlet: „Bei Gruppe, wie sein letztes, geistreiches, aber etwas dictatorisches und unfleissiges Buch („die kosmischen Systeme der Griechen“) beweiset, werden Sie gewiß auch Briefe über ähnliche Gegenstände finden.“41
Einen weiteren Vorwurf formulierte Humboldt hier, nämlich Gruppes „dictatorischen“ Stil. Mit einem für Humboldt typischen Augenzwinkern gab er dem Verfasser diese Kritik auch direkt: „Ihren Abschnitt XI Wer ist der Urheber des helioc[entrischen] Systems habe ich oft, erst zweifelnd, dann hinneigend gelesen; hinneigend seze ich aber scherzend hinzu, nicht weil Sie p. 156 etwas drohend, den Zweifelnden als von den Denkenden ausgeschlossen bezeichnen.“42
Anfänglich scheint also Humboldt Gruppes Ausführungen durchaus mit Interesse gefolgt zu sein, vielleicht wurde er sogar etwas unsicher über die von ihm im Kosmos gemachten Aussagen.43 Gleichzeitig störten ihn jedoch von Anfang an dessen „unfleissige“ Methode und der herablassende Stil. Soweit der Stand der Dinge im Juli 1851. Im Oktober 1851 wandte sich Böckh in der Angelegenheit an Humboldt. Dieser nahm die Rückversicherung der von ihm im Kosmos gemachten Aussagen dankbar an. Nachdem Böckh ihm offenbar seine Meinung über die Kosmischen Systeme der Griechen dargelegt hatte, schlug Humboldts Meinung endgültig zuungunsten Gruppes um. So schrieb er an Böckh:
36 Whewell hatte zwei Werke zu den „inductiven Wissenschaften“ verfasst, eine History of the inductive sciences (dt. 1840/41) und eine Philosophy of the inductive sciences, founded upon their history (1840), letztere besaß Humboldt (vgl. Stevens (1967), Nr. 10825). 37 Gruppe (1851), S. 31. 38 Bei den von Humboldt genannten „Sammelreden“ handelt es sich um Idelers Vorlesungen über Eudoxos, die dieser am 31.7.1828, am 17.6.1830 und am 18.8.1831 in der Akademie hielt. Diese wurden in den Abhandlungen der Akademie veröffentlicht (Ideler (1828/30)). 39 Biermann datiert auf den 15.7.1851. 40 Jacobi war am 18.2.1851 gestorben, noch vor Erscheinen der Kosmischen Systeme der Griechen. 41 Biermann (1982), S. 96, Nr. 66. 42 Gruppe hatte hier geschrieben: „Diese Frage [nach dem besseren Gestirn] ist bereits entschieden – für alle Denkenden nämlich, die mit Aufmerksamkeit unseren Argumentationen gefolgt sind.“ (Vgl. Gruppe (1851), S. 156). 43 Hierfür spricht die Bemerkung Böckhs in seinem Sendschreiben: „Wie ich denke, habe ich die Platonische Erde nun ziemlich zum Stillstande gebracht, und Sie, edler Meister, werden sich mit mir beruhigen, dass wir sie nicht haben rotiren lassen.“ (Böckh (1852), S. 84).
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Gruppes Buch mit seinem frechen Eigendünkel, mit der Ankündigung einer Entdeckung in einer von Ihnen zweimal bearbeiteten Materie, die Belobung durch Jacobi in einer Sache, die dieser gar nicht specialiter studirt hat, war mir bei der Erscheinung des Buchs ein solcher Ekel gewesen, dass ich schon den dritten Tag nicht lassen konnte, mit einiger Bitterkeit an Gruppe zu schreiben, dass der Beweis von dem, was Platon über die Achsendrehung der Erde soll gewusst haben, ja wie er ein Copernicaner sei, mir gar nicht einleuchte, dass ich schlagende Citate vermisse, dass Jacobi in Dingen, über die ich selbst ernsthaft gelesen, mir gar keine Autorität wäre. Zugleich machte ich ihm Vorwürfe darüber, dass er Martin, études sur le Timée, der nach Ihnen, mit Ihnen übereinstimmend, die Sache bearbeitete, gar nicht gelesen, obgleich die études 6 Jahre früher erschienen sind. Ich beharre dabei, dass Plato auf demselben Irrwege wie Aristoteles aus Abneigung gegen die Pythagoreer die unbewegliche, nicht rotirende Erde da gestellt habe, wohin Philolaus die Hestia stellt […].44
Dass Humboldt hier von dem Brief sprach, den er am 12. Juli an Gruppe geschrieben hatte, scheint erstaunlich angesichts der Vorwürfe, die Humboldt gegen Gruppe erhoben haben will. Trotzdem handelt es sich vermutlich um eben diesen Brief, wie die Erwähnung von Martins Études und der Zeitrahmen45 nahelegen. Humboldts Meinung zu Gruppes Buch hatte sich schon bald nach Erscheinen verschärft, schon die im Brief an Dirichlet geäußerte Meinung ist kritischer als die ca. eine Woche zuvor gegenüber Hase, offenbar hatte er auch danach seinen Unmut weiter genährt. Im Brief an Böckh kommen neben der Kritik am mangelnden Fleiß (vor allem am Fehlen von „schlagende[n] Citaten“) und an der Nichtverwendung der Arbeit von Martin weitere Punkte hinzu. So sei es Gruppes „freche[r] Eigendünkel“ gewesen, der bei Humboldt „Ekel“ und „Bitterkeit“ verursachte. Gruppes „Ankündigung einer Entdeckung“ in einer von Böckh „zweimal bearbeiteten Materie“ erschien Humboldt als Überheblichkeit, vor allem angesichts der teilweise ungestützten Beweisführung und der gewagten Schlussfolgerungen. 46 Auffällig ist jedoch ein weiterer Vorwurf: die „Belobung durch Jacobi“, der ihm auf diesem Gebiet „gar keine Autorität wäre“. Wie oben gezeigt, hatte Humboldt durchaus mit Jacobi über Fragen der griechischen Antike, auch über Platon im Speziellen, Briefe ausgetauscht. Worauf Humboldt hier jedoch anspielte, war die Tatsache, dass Jacobi auf dem Gebiete der griechischen Astronomie kein Experte war: Sein Spezialgebiet lag sicherlich auf dem Gebiet der antiken Mathematik. Auch dürfte eine Rolle gespielt haben, dass Böckh zu Humboldts kollegialem Freundeskreis zählte, während sein Verhältnis zu 44 Hoffmann (1901), S. 445. Eine Neuedition des Briefwechsels zwischen Alexander von Humboldt und August Böckh befindet sich in der Alexander-von-Humboldt-Forschungsstelle der BBAW in Arbeit. 45 Humboldt schrieb am 9. Juli an Hase (s.o.), dass Gruppes Kosmische Systeme gerade erscheinen, bereits am dritten Tag will er an Gruppe geschrieben haben. Das würde sich mit dem Briefdatum vom 12. Juli decken. 46 Als ein Beispiel sei hier ein besonders markanter Auszug aus Gruppes Ausführungen über die Urheberschaft Platons am heliozentrischen System des Aristarch angeführt: „Aristarch schien nicht wohl der Urheber seines Systems sein zu können, schon weil er so wenig Liebe dafür beweist, hier im Platon [in den Gesetzen] brauchen wir aber durchaus ein neues, wunderbares, überraschendes, großartiges System, eine Lehre der Zukunft, welche die Stellung der großen Götter Sonne und Mond angeht, welche collidirt gegen den gemeinsamen Glauben aller Hellenen: ich frage: haben wir noch eine Wahl?“ (Gruppe (1851), S. 166).
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Jacobi 47 eher gespannt war. Humboldt hatte eine Abneigung gegen Jacobis großsprecherische Art und bezeichnete ihn als „miles gloriosus“. In einer Auseinandersetzung um den Mathematiker Eisenstein beispielsweise stellte sich Humboldt gegen die Meinung Jacobis und schloss sich der von Gauß an. Humboldt entschied sich zugunsten der Freunde Eisenstein und Gauß gegen den ihm innerlich fremden Jacobi. In der Auseinandersetzung um das kosmische System des Platon scheinen ähnliche Beweggründe eine Rolle gespielt zu haben. Neben den fachlichen Argumenten war vermutlich auch die persönliche, freundschaftliche Beziehung zu seinem langjährigen wissenschaftlichen Vertrauten 48 Böckh von Bedeutung. In einer Angelegenheit, die Humboldt selbst nicht entscheiden konnte und wollte, hielt er sich an den von ihm höher geschätzten Experten. So forderte er denn in seinem Brief Böckh auf: „Ich wünschte sehr, dass Sie, theurer Freund, der guten Sache wegen antworten, damit nicht ein anderer Ministerpräsident, deren es jezt viel im heil. Röm. Reich giebt, auch an dem Platonischen Copernicanismus erkranke.49 Das ungründliche Pfuschen ist mir ein Gräuel.“50
3. BÖCKHS ERWIDERUNG: UNTERSUCHUNGEN ÜBER DAS KOSMISCHE SYSTEM DES PLATON Böckh befand sich zum Zeitpunkt des Erscheinens von Gruppes Kosmischen Systemen der Griechen nicht in Berlin.51 Er hatte am 3. Juli 1851 eine längere Reise angetreten, zuerst nach Karlsbad und Teplitz, um die Folgen einer Augenentzündung zu kurieren, danach in Begleitung seiner Tochter nach Wien, Salzburg, München, Karlsruhe und Zürich. Den Abschluss der Reise bildete seine Teilnahme an der Philologenversammlung in Erlangen. Bereits im August erhielt er einen Brief, in dem ihm ein Berliner Freund mitteilte, dass Gruppe die Widerlegung seines Beweises, dass Platon im Timaios keine Achsendrehung der Erde lehre, versucht habe. Erst Mitte Oktober 1851 kehrte Böckh nach Berlin zurück und widmete sich sofort der Lektüre von Gruppes Buch, das ihn empörte. Er schrieb an seinen Fachkollegen und Freund, den Bonner Professor Friedrich Gottlieb Welcker, den Gruppes Buch „sehr angesprochen“ hatte: „Ich liess mir das Buch nach meiner Rückkehr geben; es machte auf mich den entgegengesetzten Eindruck; die Schamlosigkeit und Oberflächlichkeit des Buches indignirt mich, und 47 Hierzu und zum Folgenden vgl. Pieper (1987), S. 10f. 48 Humboldt und Böckh standen zu diesem Zeitpunkt bereits seit über 20 Jahren in wissenschaftlichem Kontakt, der mit der Zeit durchaus herzlicher wurde und von gegenseitiger Achtung getragen war. (Vgl. hierzu die Rede Humboldts anlässlich des 50jährigen Doktorjubiläums Böckhs am 15.3.1857 in Hoffmann (1901), S. 451-453). 49 Der Ministerpräsident Otto Freiherr v. Manteuffel hatte das Buch Gruppes mit Interesse gelesen und wollte dem Verfasser nach dessen Aussagen eine ordentliche Professur verschaffen. (Vgl. Hoffmann (1901), S. 446). 50 Ebd. 51 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Böckh (1852), S. 2f.; Hoffmann (1901), S. 134; ebenso Böckhs Brief an Welcker vom 9.12.1851 (Hoffmann (1901), S. 199f.).
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ich habe, zum Theil auf Humboldts Antrieb, mich die Mühe nicht verdriessen lassen, den grössten Theil desselben durch Zurückgehn auf die Quellen zu analysiren und des Verfassers Unwissenheit und Unfähigkeit irgend eines Verständnisses ausführlich darzulegen. Der Schein täuscht, und ich hoffe, dass Sie mir beistimmen werden, wenn Sie meine Gegenschrift werden gelesen haben. Es ist mir kein Beispiel von solcher Pfusch-Arbeit bekannt, die mit so grosser Prätension auftritt.“52
Gleich nach der Lektüre des Buches nahm er auch Kontakt zu Humboldt auf, da diese Angelegenheit ihrer beider Arbeiten betraf. Dieser antwortete ihm unverzüglich mit dem oben erwähnten Brief und forderte ihn „in einem zweiten Briefe zur Erwiderung des Angriffes auf.“ 53 Böckh kam dieser Aufforderung Humboldts schnell nach und verteidigte in seinem Buch nicht nur seine eigenen Forschungen, sondern damit auch gleichzeitig die von Humboldt auf sein Anraten im Kosmos gemachten Aussagen. Als äußere Form wählte er die eines Sendschreibens, eines offenen Briefes. Dies sei „eine natürliche Folge aus einem natürlichen Anfang“,54 da sich die Darlegungen aus ihrem Briefwechsel entwickelt hatten. Auch wäre es ihm nach eigener Aussage unangenehm gewesen, eine Streitschrift gegen einen jüngeren Kollegen zu verfassen, mit dem er glaubte in einem guten Verhältnis zu stehen.55 Gerade der Gegensatz zwischen dem angenommenen guten Einvernehmen und der offenen, teilweise bissigen Polemik gegen seine Person56 in Gruppes Buch scheint Böckh besonders getroffen und herausgefordert zu haben. Bereits Anfang Dezember hatte er die Gegenschrift abgeschlossen, an der er schnell und „heftig“ gearbeitet hatte, „um das Wesen bald zu beseitigen“.57 Kurz vor Weihnachten befand sich sein Werk im Druck.58 Zu Beginn des Sendschreibens wies er die Beweise zurück, die ihm Gruppe bezüglich der Timaios-Stelle 40bc zugesprochen hatte, nämlich das Zeugnis der späteren Platoniker und die Übereinstimmung mit Platons übrigen Schriften.59 Im Folgenden 60 unterzog er die Stelle einer philologischen Analyse, indem er zu Beginn den Kontext der Passage genauer beleuchtete. Im Schöpfungsmythos des Timaios schafft der Werkmeister, der Demiurgos, nach harmonischen Gesetzen die Seele, aus der er dann den Umkreis des Selbigen und den des Anderen herstellt. Der erste, ungeteilte äußere Kreis ist in Richtung des Äquators bewegt. Dieser Kreis des Selbigen vollführt die Gesamtbewegung 52 53 54 55 56
57 58 59 60
Böckh an Welcker, 9.12.1851 (Hoffmann (1901), S. 200). Böckh (1852), S. 3. Ebd. Böckh hatte Gruppe maßgeblich unterstützt, als dieser seine Preisschrift Ueber die Fragmente des Archytas bei der Akademie eingereicht hatte (gedruckt als Gruppe (1840)). Vgl. Staab (2004), im Abschnitt V auch eine Darstellung des Streites über Platons kosmische Systeme. Vgl. beispielsweise Gruppe (1851), S. 7: „[…] in unserer Zeit sollte man kritischer sein!“; „Wie sonderbar, daß Boeckh, der die Sache durch die Autorität entscheiden will, […] die des Aristoteles gering achtet. Es ist in der That bemerkenswerth, wie leicht der junge Boeckh damals die Aussage des Aristoteles zu beseitigen wußte, […].“ Böckh an Welcker, 9.12.1851 (Hoffmann (1901), S. 200). Böckh an Welcker, 22.12.1851 (Hoffmann (1901), S. 201). Böckh (1852), S. 6-10. Ebd., S. 20-27.
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des körperlichen Alls, also die tägliche Bewegung des Himmels von Ost nach West. Der zweite Kreis ist der Kreis der Ekliptik, er folgt der Natur des Anderen, ist daher gespalten und bildet den Weg der Wandelsterne. Das Vorhandensein der täglichen Bewegung des Himmels schließt aber laut Böckh die Achsendrehung der Erde aus, da beide einander aufheben würden. Böckh formulierte daher zusammenfassend den Kontext der zur Diskussion stehenden Stelle 40bc wie folgt: „Diese Lehre des Platon, von der täglichen Bewegung des Himmels von Osten nach Westen, ist im Timäos durchgehends mit Bestimmtheit und Entschiedenheit angenommen und in das Innerste seiner Kosmologie und Psychologie dergestalt verflochten und verwachsen, dass mit ihrer Ausscheidung das ganze Gebäude zusammenstürzt.“61
Ausgehend von dieser Grundannahme, konnte Böckh in Tim. 40bc keine Achsendrehung finden, denn damit würde Platon seinen zuvor geäußerten Ansichten völlig widersprechen. Böckh begann die Auslegung der fraglichen Passage62 mit einer lexikalischen Erörterung des zweideutigen Kernwortes εἱλλοµένην. In Anlehnung an Buttmann63 sei in der fraglichen Stelle „das Wort nicht von Bewegung zu nehmen, sondern es heisse sich drängend um die Achse der Weltpole, ununterbrochen von allen Seiten her an die Achse gedrängt, eine Kugel um sie bildend; […].“64
Zur Unterstützung dieses Befundes untersuchte Böckh im Anschluss den textimmanenten Gebrauch des Wortes im Timaios, mit einem Ausblick auf den Kratylos, und kam hier zum selben Ergebnis.65 Danach betrachtete er die von Gruppe angeführte Passage Tim. 40c über die Erde als Wahrerin und Werkmeisterin von Tag und Nacht genauer, beides interpretierte er, unter Berufung auf Martin, der in den Études zum gleichen Ergebnis kam, als Resultate ihrer Unbewegtheit. „Die Erde ist unbewegt die Wahrerin des Tages und der Nacht; man lasse sie ihren Posten verlassen, man denke sie weg, so giebt es nur Licht, nicht mehr Tag und Nacht: darum heisst sie W a h r e r in v o n N a c h t u n d T a g .“66 „Die Erde ist Werkmeisterin der Nacht und des Tages, wie Martin (Bd. II, S. 88) sehr treffend sagt ‚par son énergique existence, c’est-à-dire par son immobilité même‘; denn sie setzt der täglichen Bewegung des Himmels beständig eine gleiche Kraft in entgegengesetzter Richtung entgegen.“67
Indem er Gruppes Ergebnisse über die Achsendrehung im Timaios in Zweifel zog, war auch der Ansatz für dessen These der verschiedenen kosmischen Systeme des
61 62 63 64 65 66 67
Ebd., S. 27. Ebd., S. 59-75. Buttmann (1825), S. 150-154. Böckh (1852), S. 64. Ebd., S. 65-68. Ebd., S. 69f. Ebd., S. 70.
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Platon erschüttert. Nachdem Böckh die Angaben im Phaidros, im Phaidon und in der Politeia betrachtet hatte,68 kam er zu dem Schluss: „Rechnet man die etwanige Wahl Philolaischer Vorstellungen im Phädros für die Poesie eines philosophischen Mythos ab, so finden wir in allen Schriften des Platon dasselbe geocentrische System ohne Achsendrehung der Erde, dieselbe Grundanschauung nach Umständen näher bestimmt oder nicht, mehr oder minder vollständig, mehr oder minder im Fortgange der Zeit ausgebildet und entwickelt.“69
Am Ende seines Sendschreibens widerlegte Böckh schließlich die These von Platons heliozentrischem System in den Gesetzen durch Rückgang auf die Plutarchischen Quellen.70 Alles in allem erscheinen Böckhs Untersuchungen über das kosmische System des Platon wie ein nachträglicher ausführlicher Beweis der von Humboldt im Kosmos gemachten Aussagen. Hier findet sich der theoretische Hintergrund, auf den Humboldt in seiner Darstellung stets verzichtete. 4. FAZIT Der Name Alexander von Humboldts ist eng verknüpft mit der Auseinandersetzung um das kosmische System des Platon, die Otto Friedrich Gruppe und August Böckh in den Jahren 1851 und 1852 führten. Humboldt, der ein starkes Interesse an der Thematik hegte, hatte Gruppes Kosmische Systeme der Griechen interessiert gelesen, übte aber auch von Beginn an Kritik. Diese bezog sich vor allem auf methodische Schwächen, z.B. im Quellenstudium, und auf Gruppes mangelnde Bescheidenheit. Nachdem Böckh darüber hinaus in Briefen und in seinen eigenen Untersuchungen über das kosmische System des Platon Humboldt die von ihm im Kosmos gemachten Aussagen bestätigt hatte, verwarf dieser die Gruppesche Schrift ganz. Diese Haltung nahm er dann auch öffentlich, beispielsweise gegenüber dem preußischen Ministerpräsidenten v. Manteuffel an der Tafel des Königs, ein.71 Ausschlaggebend waren dabei nicht nur die Argumente Böckhs, sondern die Wertschätzung, die Humboldt dessen Gelehrtheit entgegenbrachte und auf die er sich bezüglich der griechischen Antike in seinen Arbeiten häufig gestützt hatte. Anscheinend teilte Alexander von Humboldt die Ansicht, die August Böckh im Kosmischen System des Platon formuliert hatte: 68 Ebd., S. 84-87. 69 Ebd., S. 87; auch van der Waerden geht davon aus, dass das astronomische Weltbild im Timaios und im Staat in den Grundzügen gleich sei. Vgl. Waerden (1988), S. 44. 70 Böckh (1852), S. 144-150. Plutarch überlieferte das Zeugnis des Theophrast, nach dem Platon im Alter den Mittelpunkt der Welt in ein anderes Besseres als die Erde gesetzt habe. Böckh glaubte in dieser Aussage maximal eine Hinneigung des alten Platon zu Pythagoreischen Ansichten zu erkennen, eine Weltsicht analog zur Pythagoreischen Zentralfeuerlehre. Die Verlässlichkeit dieser Aussage des Theophrast stellte Böckh jedoch generell in Frage. Er vermutete eine Sage als Quelle für Theophrast, die bei den Peripatetikern im Umlauf gewesen sei, um Platon zu diskreditieren. 71 Hoffmann (1901), S. 446.
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Romy Werther „Mögen dem und jenem Gunst und Freundschaft Beziehungen scheinen, die ebenso wie Rang und Stand der Wissenschaft fremd seien: für mich sind sie es nicht. Denn wenn die ächte Freundschaft auf dem Hinblicken nach einem gemeinsamen Ideale beruht, was könnte geeigneter seyn Freundschaften zu knüpfen und zu befestigen, als wissenschaftliche Bestrebungen?“72
5. ANHANG Alexander von Humboldt an Otto Friedrich Gruppe, Potsdam, 12.7.1851 H: Kraków, Uniwersytet Jagielloński, Biblioteka Jagiellońska, Autographensammlung, A. v. Humboldt. 73
Wenn ich Ihnen so spät erst, theurester Herr Professor, meinen innigsten Dank darbringe74 für Ihr herrliches Geschenk, Ihr[e] so freundliche Zueignung und für die Belehrung[,] für so vieles Tiefe und Neue darbringe, welches Ihre „Kosm[ischen] Syst[eme] der Griechen“ enthalten so ist es, weil das 75 mich anfangs schreckende Buch in eine stürmische Zeit des Hofleben (Dorische Einwanderungen, halbe Ansiedelungen der Fürstenstämme) fiel, in eine Zeit unlitterarischer Zerstreuung, und dann, weil, um würdig zu ehren76 ein solches Geschenk von dem Verf[asser] des vortreflichen Commentars zu den Fragm[enten] des Archytas, ich Register gemacht, Seite für Seite und daneben verglichen und niedergeschrieben alles was ich schon, oft irregeleitet, über die 3 Pythag[oreische] Ansichten gesammlet 77 a) des Lehrers selbst geocentr[isch] ohne Rotation und 24 Stündig kreisende ʘ wie im uralten, fälschlich genannten Ptolaem[äischen] Systeme b) später Philolaus nach Ihnen jezt Hippasus von Metapont 78 Heerd der Vesta von der Erde der sie {ungleich} und altpythagorisch angehörte getrennt unrotirend… kreisende Erde mit Gegenerde als Aushülfsmittel versehen c) Ecphantus und Heracl[ides] Ponticus wieder geocentr[isch] (gleich a) aber dabei Erde rotirend und ʘ in 1 Jahre kreisend und rotirende Erde erleuchtend; verglichen auch was ich lange mit Letronne über die schon von Cicero (Acad[emica]) Chalcidius und Plutarch (Quaest[iones] plat[onicae]) schwankend u[nd] widersprechend commentirte berufene Stelle des Tim. p. 40 verhandelt, über das fälschlich so genante Aegypt[ische] System (Vitruv u[nd] Martian Capella), über die misverstandene Stelle des Macrobius (Somn[ium] Scip[ionis]) der ratio Chaldaeorum, über Seleucus den Babylonier und die Frage ob die cosm[ischen] Ideen der Hellenen, so verschieden nach Stammverschiedenheit und politischer Lage des Mutterlandes od[er] der freieren Colonien, wirklich sich immer nur ununterbrochen in ihnen entwikkelt haben, oder ob nicht äusserer Anstoss ältere Gesittung ander[er] Völker den Zusammenhang unterbrochen wie in Reihung der Planetenbahnen oder periodischen Planetentage und Planetenstunden was ich in dem schon gedrukten aber noch nicht ausgegebenen Bogen der bald erscheinenden lezten /2/ Abtheilung meines rein astronomischen Bandes des Cosmos um72 Böckh (1852), S. 1. 73 Die Wiedergabe des Briefes erfolgt nach folgenden Regeln: Kürzel wurden stillschweigend, Abkürzungen in eckigen Klammern [ ] aufgelöst. Streichungen wurden im Text wiedergegeben, um den Apparat übersichtlich zu halten. Schreibeigenheiten Humboldts wurden beibehalten (z.B. treflich), offensichtliche Verschreiber jedoch in eckigen Klammern [ ] korrigiert. Unsichere Lesungen erscheinen in geschweiften Klammern { }. Überschriebene Wörter wurden nicht gekennzeichnet. Im Apparat steht H für Humboldt. 74 darbringe ergänzt H. 75 das ergänzt H. 76 würdig … ehren ergänzt H. 77 gesammlet ergänzt H. 78 nach … Metapont ergänzt H.
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ständlich behandele. Man kann mir wohl die Tagesstunden rauben, aber nicht meine Nachtarbeit die bis 3 Uhr reicht. Zwei dieser vollen, langen Nächte habe ich mit Ihnen genussreich zugebracht und ich behaupte jezt dass nächst Ihnen ich wahrscheinlich Ihre geistreiche Arbeit am meisten kenne. Eben weil Ihre Resultate von denen so verschieden sind denen Letronne, Ideler u[nd] Böckh anhängen, habe ich so warm und ernst mich aus Ihnen belehrt. Was ich selbst bisher geglaubt war aber keinesweges aus dem treflichen aber sehr unvollständig[en,] aus den Alten Sammelreden Ideler dem Vater, nicht aus dem ärmlichen etwas englisch dogmatisirenden Inductions{menschen} Whevell geschöp[f]t, nein das reichste Material alles aus dem Alterthum gesammleten hatte ich vor zehen Jahren, in Martin Études sur le Timée T. II p. 86-133 gefunden. Die philosophische Einheit, welche in Ihrem Werk her[r]scht fehlt ganz in jener nur fleissigen mich oft misleitenden Arbeit von Henry Martin. Ich nenne [sie]79 hier bloss um Ihnen begreiflich zu machen warum die Resultate Ihrer Untersuchung für mich so anreizend anregend gewesen sind. Dazu hat Ihr Buch in Anmuth der Sprache und allgemeinen historischen Ueberblik p. 46, 110, 111 80 , 168, 188-193 sehr trefliches. Ihren Abschnitt XI Wer ist der Urheber des helioc[entrischen] Systems habe ich oft, erst zweifelnd, dann hinneigend gelesen; hinneigend seze ich aber81 scherzend hinzu, nicht weil Sie p. 156 etwas drohend, den Zweifelnden als von den Denkenden ausgeschlossen bezeichnen. Dass Plato in hohem Alter der Erde unter den Planeten aus nicht mehr den Plaz in der Mitte des Ganzen gelassen sagt Plutarch wissen wir freilich mit einem höheren Grade von Gewissheit als dass die Sonne, das „bessere Gestirn“ sei: ich gebe Ihnen aber gern zu dass die Zusammenstellung von p. 157-165 dem lezteren einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit gieb[t]. Ich habe oft an Jacobi gesagt von dem ich wichtige rein mathematische Papiere über Plato in Händen gehabt, dass Plato wie Raphael und viele manche politischen Celebritäten vielerlei Manieren gehabt, nach Ihnen selbst 82 bald eine Philolaische wenigsten[s] Anklänge davon (Phaedrus); bald eine Manier der des Urhebers der italischen Schule ähnlich (Phaedon); bald geocentrisch doch mit Rotation (Timaeus); bald heliocentrisch {doch} mit Rotation (Leges.) /3/ alles im Fortschritt in einem beweglichen Gemüthe und wie bei Raphael wäre die lezte Manier die beste gewesen. Es ist sehr zu wünschen dass Jacobi’s Papiere über die griechischen Geometer von jemand bearbeitet werde der zugleich viel Mathematik und hinlängliche philologische Kenntniss besize. Director August83 hat von dieser doppelten Befähigung Zeugniss gegeben in einer schönen und schwierigen Arbeit. Was Copernicus von den vorhipparchischen Systemen der Griechen wirklich benuzt hat habe ich (selbst den Apollonius von Perga eingerechnet) wie ich mir schmeichele zuerst vollständig entwickelt Kosmos Bd II p. 349 und 502-504. Verzeihen Sie, Verehrter Mann, die Unordnung und das Unleserliche dieser Zeilen. Sie sollen Ihnen nur beweisen, wie dankbar ich jede Erweiterung des Gesichtskreises begrüsse. Möchten Sie doch einmal an einem schönen Tage (giebt es welche in diesem Jahre!) eine Anregung finden mir die Ehre Ihres Besuchs zu schenken. Da ich bisweilen unerwartet den König nach Berlin begleiten muss, so wäre es mir angenehm wenn Sie mir den Tag vorher Ihren Besuch ankündigten: jeder Tag ausser Sontag ist mir gelegen von 1-2 ¾. Mit der freundschaftlichsten Hochachtung Ew. Wohlgeboren Potsdam (Stadtschloss) den 12 Juli gehorsamster AlHumboldt
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Sie H ändert Hrsg. 110, 111 ergänzt H. aber ergänzt H. nach … selbst ergänzt H. Ernst Ferdinand August, vgl. den Brief Humboldts an Dirichlet vom 15.7.1851 (Biermann (1982), S. 96f., Nr. 66).
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6. LITERATUR Ast (1835): Lexicon Platonicum sive vocum Platonicarum index, condidit D. Fridericus Astius, Vol. I, Lipsiae 1835. Bekker (1817): Platonis Dialogi graece et latine, Ex recensione Immanuelis Bekkeri, Partis tertiae volumen secundum, Berolini 1817. Bekker (1826): Platonis et quae vel Platonis esse feruntur vel Platonica solent comitari Scripta graece omnia ad codices manuscriptos recensuit variasque inde lectiones diligenter enotavit Immanuel Bekker, Vol. VII, Londini 1826. Biermann (1982): Biermann, Kurt-R. (Hg.): Briefwechsel zwischen Alexander von Humboldt und Peter Gustav Lejeune Dirichlet, Berlin 1982. Böckh (1852): Böckh, August: Untersuchungen über das kosmische System des Platon, mit Bezug auf Hrn. Gruppe’s Kosmische Systeme der Griechen, Sendschreiben an Hrn. Alexander v. Humboldt, Berlin 1852. Buttmann (1825): Buttmann, Philipp: Lexilogus, oder Beiträge zur griechischen Wort=Erklärung, hauptsächlich für Homer und Hesiod, Bd. 2, Berlin 1825. Gruppe (1840): Gruppe, Otto Friedrich: Ueber die Fragmente des Archytas und der älteren Pythagoreer, Eine Preisschrift, Berlin 1840. Gruppe (1851): Gruppe, Otto Friedrich: Die kosmischen Systeme der Griechen, Berlin 1851. Hoffmann (1901): Hoffmann, Max: August Böckh, Lebensbeschreibung und Auswahl aus seinem wissenschaftlichen Briefwechsel, Leipzig 1901. Humboldt (1845-62): Humboldt, Alexander von: Kosmos, Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, 5 Bde., Stuttgart 1845-62. Ideler (1828/30): Ideler, Ludwig: Über Eudoxus, Erste Abtheilung, in: Abhandlungen der Königlichen Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (1828), S. 189-212; Zweite Abtheilung, in: Abhandlungen der Königlichen Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (1830), S. 49-88. Martin (1841): Martin, Th. Henri : Études sur le Timée de Platon, T. II, Paris 1841. Pieper (1987): Pieper, Herbert (Hg.): Briefwechsel zwischen Alexander von Humboldt und C.G. Jacob Jacobi, Berlin 1987. Staab (2004): Staab, Gregor: „Über dem Stoff schwebende Kritik“, Gruppes Preisschrift Ueber die Fragmente des Archytas und der aelteren Pythagoreer (1840), in: Otto Friedrich Gruppe 1804-1876, Philosoph, Dichter, Philologe, hg. v. Ludwig Bernays, Freiburg i. Br. 2004, S. 201-225. Stevens (1967): Stevens, Henry: The Humboldt Library, A Catalogue of the Library of Alexander von Humboldt, Leipzig 1967 (Reprint der Originalausgabe London 1863). Waerden (1988): Waerden, Bartel Leendert van der: Die Astronomie der Griechen, Eine Einführung, Darmstadt 1988.
BEITRÄGE ZUR MATHEMATIK- UND ASTRONOMIEGESCHICHTE MATHEMATIKGESCHICHTE
Philip Beeley u. Christoph J. Scriba
DISPUTED GLORY JOHN WALLIS AND SOME QUESTIONS OF PRECEDENCE IN SEVENTEENTH-CENTURY MATHEMATICS 1. INTRODUCTION If there was one topic where the antiquary John Aubrey (1626-97) and his friend and protector, the philosopher Thomas Hobbes (1588-1679) were completely of one mind it was the disagreeableness of John Wallis (1616-1703). Although trained as a theologian, Wallis had been appointed Savilian professor of geometry in the University of Oxford in 1649 mainly on account of his services to Parliament as a decipherer during the Civil Wars. As someone whose career had profited decisively from the English Revolution he was despised by those who at least outwardly had remained loyal to the old order. Since his arrival in Oxford he had realized the promise he had shown through his deciphering skills and had made important contributions to the rapidly developing field of analysis.1 Moreover, he was now highly respected in the Republic of Letters and corresponded regularly with men such as Johannes Hevelius (1611-87), Christiaan Huygens (1629-95) and René François de Sluse (1622-85). But for Hobbes and Aubrey he was a scientific parvenu who needed to be cut down to size. After Wallis had clearly placed himself on the side of Hevelius in his controversy with Robert Hooke (1635-1703) over instruments and techniques for making astronomical observations, Aubrey delighted in attacking his lowly social status and his supposed inclination to make use of the intellectual property of others. In his letter to Hobbes of 24 June 1675, he portrays his friend Hooke as a victim of Wallis’s dishonourable character: “He [sc. Hooke] has been as much abused by Dr. Wallis as any one: he makes it his Trade to be a common-spye, steales from every ingeniose persons discourse, and prints it: viz. from Sir Chr: Wren God knows how often, from Mr Hooke etc. he is a most ill-natured man, an egregious lyar and back-biter, a flatterer, and fawner on my Lord Brouncker & his Miss: that my Lord may keep up his reputation.”2
Of all of Wallis’s purported traits of character which men like Aubrey, Hobbes, and Anthony Wood (1632-95) have handed down to us through their chronicals, letters, biographies and other writings that of intellectual dishonesty has clung to 1 2
See Flood, Raymond and John Fauvel: John Wallis, in: Fauvel, John, Raymond Flood and Robin Wilson (eds.): Oxford Figures. 800 Years of the Mathematical Sciences, Oxford 2000, pp. 97-115; pp. 97-99. Aubrey to Hobbes, 24 June/[4 July] 1675, in: Malcolm, Noel (ed.): The Correspondence of Thomas Hobbes, 2 Vols., Oxford 1994, Vol. II, p. 753.
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Philip Beeley u. Christoph J. Scriba
him most harmfully. To a large part this is due to the lack up to this day of a scientific biography devoted to his live and work. Too many of Wallis’s manyfacetted activities, of the details of his role and reputation within the Republic of Letters still remain unknown. In part it is also because he often over-used his renowned rhetorical skills whenever he felt he had been wronged and ultimately did himself more harm than good when, as so often, controversies with contemporaries arose. In part also it is because many of the episodes which historically have appeared to provide substance to claims of dishonesty have not been thoroughly analyzed using all the available resources. It is with two such episodes that this article is concerned. 2. THE RECTIFICATION OF THE ARCHIMEDEAN SPIRAL The starting point of the discussion on rectification is the axiom of Aristotle (384322) according to which there can be no rational relation between a curve and a straight line.3 For most mathematicians up to the second half of the seventeenth century this axiom was not even a subject of doubt. René Descartes (1596-1650) set out a completely orthodox position in his Géométrie (1637) when on the basis of his classification of curves he asserted that no geometrical curve (what we now call an algebraic curve) such as a cissoid or an ellipse can ever be rectified, i.e. have its arc length expressed as a finite ratio of a given straight line.4 Nor were the results achieved by Archimedes of Syracus (287?-212) in determining the circumference of a circle considered to stand in contradiction to this axiom. Nicholaus of Cusa (1400-64) for example argued that in determining the arc of a curve the approximation to the true value can always be increased although one is never able to determine the length of the arc exactly.5 Despite his negation of the possibility of rectifying geometrical curves, Descartes seems to have accepted that certain mechanical or transcendental curves such as the logarithmic spiral or the quadratrix could be rectified geometrically.6 Furthermore, Pierre de Fermat (1607/8-65) had known since the end of the 1630s
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Aristotle, Physics VII, 4, 248b4-6. Descartes, René: Le Discours de la Méthode et les Essais, Leiden: Jan Maire 1637, II, p. 340341, in: Adam, Charles and Paul Tannery (eds.): Œuvres de Descartes, 11 Vols., Paris 18971909, Vol. VI, p. 412. Nicholaus of Cusa: De circuli quadratura (1450), in: Hofmann, Joseph Ehrenfried and Josepha Hofmann (eds.): Nikolaus von Kues, Die mathematischen Schriften, Second edition, Hamburg 1979, pp. 36-41. See Descartes to Mersenne, [2]/12 September 1638, In: Waard, Cornélis de, René Pintard et al. (eds.): Correspondance du P. Marin Mersenne, 17 Vols., Paris 1945-1988, Vol. VIII, p. 78; Hofmann, Joseph Ehrenfried: Descartes und die Mathematik, in: Scriba, Christoph J. (ed.): Joseph Ehrenfried Hofmann. Ausgewählte Schriften, 2 Vols., Hildesheim, Zürich, New York 1990, Vol. I, pp. 113-144; pp. 132f.
Disputed Glory
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that the rectification of the arc of the parabola was possible.7 The decisive breakthrough came about, however, through the discovery of the intimate relation between the Archimedean spiral and the parabola, or, to be more precise, the identity of the arc length of the two curves when the base of the parabola is equivalent to the diameter of the spiral and its axis is equivalent to half the diameter’s circumference. Investigations on the nature of curves led Gilles Personne de Roberval (1602-75) to discover this relation around 1642-43. As is well-known Roberval, who held the Ramus chair of mathematics at the Collège Royal from 1632 until his death, employed a variant of the so-called method of indivisibles in the calculation of the areas of figures and the volumes of bodies, but published very little in his lifetime. This was largely due to the statutes of the Ramus chair which was tenable only for three years; at the end of this period it was opened to public competition. Candidates were required to lecture, but also had to demonstrate theorems and solve problems.8 Incumbents could ensure re-election by setting problems noone could solve. It appears that precisely to this end Roberval guarded his prodigious discoveries jealously. By the 1650s he had acquired a reputation in scientific circles for having levelled claims of plagiarism against a number of fellow-mathematicians, including famously Evangelista Torricelli (1608-47), who he suspected of their having got hold of details of his work by underhand means and then having given it out as their own.9 Wallis became a target of his acrimony, too. Around the middle of October 1656 Wallis received a letter from his friend and patron William, Lord Brouncker (1620?-84) containing a printed flyleaf. The letter and its enclosure had been brought over from Paris by the Roman Catholic priest and philosopher Thomas White (1592/3-1676) who was well acquainted with members of the circle around Marin Mersenne (1588-1648) and a close friend of the natural philosopher and courtier Kenelm Digby (1603-65). In this flyleaf, of which no copy has survived, the author, whom Brouncker took to be Roberval, accused Wallis and Thomas Hobbes (1588-1679) of plagiarism. In particular, the author claimed that it was he who first discovered the theorem on the spiral and the parabola which Hobbes had published in De corpore (1655) and that Wallis had made decisive use of it in his seminal work Arithmetica infinitorum (1656). Just as Hobbes himself, who subsequently used this episode as ammunition in his intellectual war with the Savilian professor, the author of the flyleaf supposed that it was through reading Mersenne’s Cogitata physico-mathematica (1644) that Wallis had become aware of the original mistake in his own rectification of the spiral and had rather clumsily sought to correct it while the Arithmetica infinitorum was still at the press in London.
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See Fermat to Mersenne, [12]/22 October 1638, in: Correspondance du P. Marin Mersenne [see footnote 6], Vol. VIII, p. 158; Hofmann, Joseph Ehrenfried: Leibniz in Paris 1672-1676. His growth to mathematical maturity, Cambridge 1974, p. 103. See Malcolm, Noel: Hobbes and Roberval, in: Malcolm, Noel (ed.): Aspects of Hobbes. Oxford 2002, pp. 156-199; p. 157. See Walker, Evelyn: A Study of the Traité des indivisibles of Gilles Persone de Roberval, New York 1932, pp. 20-24.
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3. ROBERVAL’S ACCUSATIONS AND HOBBES’S AND WALLIS’S RESPONSE What was new in Roberval and what was it that Hobbes had possibly without justification sought to present as his own work? Fundamentally, it was a question of understanding how two separate motions can be composed so as to generate a curve. Such an approach in the analysis of curves had already been employed by Galileo Galilei (1564-1642) and he had noted thereby that a parabola can be constructed by combining a uniform rectilinear motion along one axis with a uniformly accelerated motion along the other.10 A hindrance in understanding the nature of the Archimedean spiral had been its definition in PERI ELIKON or De lineis spiralibus, since this refers simply to two uniform motions, namely the uniform motion of a straight line about one of its fixed ends in the plane and the simultaneous uniform motion of a point along this straight line.11 In the figure [Figure 1], which is based on Mersenne’s Hydraulica, the spiral abcdefn results from the motion of a point along the diameter an, while at the same time an executes one complete revolution. Roberval was probably the first to recognize that although uniform motion is contained in the definition of the spiral, the point which describes the spiral actually moves along the rotating diameter. As a consequence, the point effectively moves along the circumference of a steadily increasing circle which increases at the rate of the square of time.
fig. 1: The Archimedean spiral whose rectification was initially sought unsuccessfully by Fermat, Hobbes, and Wallis.
10 Galilei, Galileo: Discorsi e dimostrazioni mathematiche, intorno à due nuove scienze, in: Favaro, Antonio (ed.): Le Opere de Galileo Galilei, 20 Vols., Florence 1890-1909, Vol. XIII, pp. 272-273. The experimental background to this discovery is discussed in Drake, Stillman: Galileo’s Experimental Confirmation of Horizontal Inertia: Unpublished Manuscripts (Galileo Gleanings XXII), in: Isis 64, 1973, pp. 291-305. 11 See Dijksterhuis, Eduard J.: Archimedes, Princeton 1987, p. 264.
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In other words, just as the parabola, the Archimedean spiral comes about as a result of combining both a uniform and an accelerated motion. Moreover, the second Corollary to Proposition 25 of the Hydraulica states that the length of the first rotation of the Archimedean spiral is equivalent to the arc length of the parabola, in the Figure GT, whose base is identical with the diameter of the spiral and whose axis is identical to half its circumference. 12 Expressed in modern terms using Cartesian coordinates, the Parabola is the combination of the motion dx = m · dt and dy = nt · dt. Hence y′= n/m2 · x, y = n/2m2 · x2. Its arc length results from the formula ds2 = (1 + y′2) dx2 = (1 + n2/m4 x2) dx2 For the Archimedean spiral, defined in polar coordinates as r = aφ (with dr = adφ), the arc length is determined by ds2 = dr2 + r2 · dφ2 = (1 + 1/a2 r2) dr2 Thus the length of an arc of both curves is evaluated by the same type of integral: s =
∫
k + lx 2 dx
As related by Mersenne in a short passage of his Hydraulica, published as part of the Cogitata physico-mathematica (1644-7), during a meeting with Hobbes at his convent near the then Place Royal, the English philosopher proposed a certain straight line which he believed to be equal to the first revolution of the Archimedean spiral. Thereupon Roberval demonstrated that the first revolution was greater than the proposed line and that it was equal to the arc of a certain parabola.13 Admittedly, the identities of Hobbes and Roberval are thinly disguised in the passage behind the termini Vir doctus and Geometra noster respectively, but no one had any serious doubts as to who was intended. No date is given. Nevertheless, the evidence suggests that this discussion took place sometime around January 1643. Although the accusation of plagiarism was also directed against Hobbes, the flyleaf came at a convenient time for the English philosopher, since it arrived shortly after Wallis had launched a massive attack on him through the publication of the polemical tract Elenchus geometriae Hobbianae (1655). The background to this and later developments in the intellectual war between Hobbes and Wallis have been the topic of two first-rate studies in recent years, and do not need to be
12 Mersenne, Marin: Cogitata physico-mathematica. In quibus tam naturae quam artis effectus admirandi certissimis demonstrationibus explicantur, 5 Parts, Paris: A. Bertier 1644, Part II, p. 129. 13 Ibid: “Cum haec agerem vir doctus lineam aliquam rectam proposuit, quam primae revolutioni abcdefn helicis aequalem credebat, quam tamen revolutionem linea recta proposita majorem, eamque parabolae GT aequalem Geometra noster demonstravit.”
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gone into here in any detail.14 Put briefly, following the appearance of the first edition of De corpore (1655), Wallis had found further grounds for rebuking its author who had already incensed him and his scientifically-minded colleagues at the University of Oxford through his claims that both of the universities had failed to accommodate the new mathematical and physical sciences in their teaching programmes. Seriously doubting Hobbes’s mathematical capabilities, Wallis was of the opinion that the solutions to mathematical problems which he had published in De corpore were not the result of his own work.15 Thus the central task he sets out to achieve in Elenchus is to display what he regards as revealing flaws in Hobbes’s reasoning and in this way discredit any claim on his part to talk with authority in the field of mathematics. Apparently, it was only when work on Elenchus was nearing completion that Wallis came across a copy of the Cogitata and found the passage which appeared to provide new evidence confirming his opinion on the source of Hobbes’s results. On the basis of Mersenne’s account, Roberval, and not Hobbes, was the author of the solution to the problem of the arc length of the Archimedean spiral published in De corpore. Since, as Wallis explains, most of the book had already been printed, he set out the sequence of events as related by Mersenne just before the epilogue to Elenchus: “A friend announced that there was something in Mersenne about the measuring of spiral lines. This gave me occasion to consult Mersenne on this topic. We mutually stumbled on his Cogitata mathematica, where at the 2nd Corollary to Proposition 25 of the Hydraulica I discovered your comparison of the spiral line with the parabola, which according to Chapter 20, article 5 you had undertaken yourself. This, however, whether it be true or false, is nevertheless not yours, as appears from the passage quoted from Mersenne.”16
Hobbes was quick to reply to the arguments in Elenchus which so fundamentally called his mathematical ability into question. In his polemical tract Six Lessons to the Professors of the Mathematiques (1656), directed both at Wallis and at the Savilian professor of astronomy Seth Ward (1617-89), who had attacked Hobbes’s metaphysics, theology and political theory in his In Thomae Hobbii Philosophiam Exercitatio Epistolica (1656), he admits having discussed the spiral and the parabola with Mersenne and Roberval on at least one occasion during his exile in Paris from late 1640 until late 1651, but suggests that apart from receiving 14 See Jesseph, Douglas M.: Squaring the Circle. The War between Hobbes and Wallis, Chicago and London 1999; Probst, Siegmund: Die mathematische Kontroverse zwischen Thomas Hobbes und John Wallis, Hanover 1997. 15 Jesseph [see footnote 14], p. 117. 16 Wallis, John: Elenchus geometriae Hobbianae, sive, Geometricorum, quae in “Elementis Philosophiae,” a Thoma Hobbes Malmesburiensi proferuntur, Refutatio, Oxford: H. Hall for John Crooke 1655, p. 132: “Monuerat forte amicorum aliquis, apud Mersennum aliquid occurrere de mensura lineae Spiraliss quod ansam dedit Mersennum ea de re consulendi. Cujus Cogitata Mathematica mutuo nactus, ad. Prop. 25. Hydraulicorum, Coroll. 2. reperi te tuam lineae Spiralis & Parabolicae comparationem, quam habes, cap. 20. art. 5. inde desumpsisse. Quae quidem, sive vera sit sive falsa, saltem tua non est, sed Robervalli, ut ex Mersenni loco citato patet.”
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the initial suggestion as to a way of solving the problem the demonstration published in De corpore had been his own work. At first, he, too, had supposed that two uniform motions could generate the spiral. After he had drawn a corresponding diagram on the cloister wall, Roberval was, however, able to convince him of the similarity of the motions which bring forth the spiral and the parabola. The following day, according to Hobbes, Roberval brought Mersenne a proof of the relation between the two curves: “You say further (you the Geometrician) that I had the Proposition of the Spirall Line equall to a Parabolicall Line from Mr. Roberval. True. And if I had remembered it, I would have taken also his demonstration, though if I had publisht his, I would have suppressed mine. I was comparing in my thoughts two Lines, Spirall and Parabolicall, by the Motions wherewith they were described; and considering those Motions as uniform, and the Lines from the Center to the Circumference, not to be little Parallelograms, but little Sectors, I saw that to compound the true Motion of that Point which described the Spirall, I must have one Line equall to half the Perimeter, the other equall to half the Diameter. But of all this I had not one word written. But being with Mersennus and Mr. Robervall in the Cloister of the Convent, I drew a Figure on the wall, and Mr. Roberval perceiving the deduction I made, told me that since the Motions that make the Parabolicall Line, are one uniform, the other accelerated, the Motions that make the Spirall must be also; Which I presently acknowledged; and he the next day, from his very method brought to Mersennus the demonstration of their equality. And this is the story mentioned by Mersennus, Prop. 25. Corol. 2. Of his Hydraulica; Which I know not who hath most magnanimously interpreted to you in my disgrace.”17
Later on in the literary war between the two men Hobbes put a somewhat different gloss on the story of what happened during the meeting in the Minim convent on that day. He now mentions a fourth man present at the meeting who in all probability was François Du Verdus (1621-75).18 In the Examinatio et Emendatio Mathematicae Hodiernae (1660), which came out four years after the Six Lessons, Hobbes suggests that it was he who gave Roberval the decisive hint leading to his discovery. Writing in the third person in order to give his account the semblance of objectivity, Hobbes relates how during discussion the men came to compare the spiral and the parabola. Thereupon, he says, Hobbes pointed out that the spiral line is equal to the base which subtends the semiparabola whose axis is equal to half the perimeter of the circle containing the spiral.19 On this account Roberval 17 Hobbes, Thomas: Six Lessons to the Professors of the Mathematiques, one of Geometry, the other of Astronomy: In the Chaires set up by the Noble and Learned Sir Henrey Savile, in the University of Oxford, London: Andrew Crooke 1656, p. 59. 18 See Schumann, Karl: Hobbes. Une chronique, Paris 1998, p. 76 (note 6). 19 Hobbes, Thomas: Examinatio et emendatio mathematicae hodiernae, London: Andrew Crooke 1660, p. 122: “[…] sed cum convenissent Parisiis in Caenobio Minimorum, ipse [sc. Hobbius], Mersennus, Robervallus, & quartus (quem non nominat) incidissetque sermo de comparatione Spiralis & Parabolicae, videtur, inquit Hobbius, linea spiralis aequalis esse rectae quae subtendit Semiparabolam, cujusque quidem Axis, sit aequalis Semiperimetro circuli spiralem continentis; Basis autem ejusdem circuli Radio. Itaq; creta designans figuram in pariete, sic arguebat. Quoniam in Axe parabolae, motus quo parabola generatur augetur juxta rationem temporum duplicatam, motus autem in Base est uniformis; item quia motus quo generatur spiralis, in circulo augetur in ratione temporum duplicata, & in Radio est Uniformis; videtur similis esse generatio unius generationi alterius; & proinde si vertex Semiparabolae
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simply found an error in Hobbes’s understanding of how the base subtending the semiparabola is generated. The rest of the story remains the same. Hobbes therefore effectively denies in the Examinatio that he acquired anything substantial whatsoever on the topic of the spiral and the parabola from Roberval and that he can thus be acquitted of any wrongdoing at least on this account. 4. WALLIS’S MISTAKE AND HIS ATTEMPT TO CONCEAL IT While Wallis tackled Hobbes particularly on the suspicion of plagiarism arising from the episode in Paris in 1643, Hobbes took delight in exposing the mistake which Wallis had made over the rectification of the Archimedean spiral in Arithmetica infinitorum. When he defined this curve in Proposition 5, he clearly failed to understand the composition of the motions involved. Like Hobbes in advance of his discussions on the spiral with Roberval, the Savilian professor was convinced that the spiral was generated from the concourse of two uniform motions. He thus failed to see the relation to the parabola, which is generated by a uniform and an accelerated motion. Instead, he employed a technique analogous to that developed by Bonaventura Cavalieri (1598?-1647) in comparing the areas of geometrical figures, and assumed that the problem consisted in calculating the sum of the arcs of similar sectors inscribed inside the spiral and increasing in arithmetic proportion. A correct approach would have involved the calculation of the sum of the elements of the spiral itself. Using his chosen method, Wallis drew up a plausible proof, formulated in the Proposition 5, that the spiral is equal to half the perimeter of the circle of the first revolution.20 In the light of the new techniques of analysis which were being employed by men such as Roberval and Torricelli, Fermat had warned against the danger of making this fallacious rectification, shortly after he had heard from Mersenne, though without any details, that Roberval had discovered a solution to the problem of measuring the Archimedean spiral.21 Unfortunately for Wallis, he made cum termino Basis connecteretur per lineam rectam, rectam illam, ut quae eandem habet generationem, aequalem esse oportere Spirali. Quae illatio vera non erat, sed contra conclusionem quam probare conatus est. Id cum animadvertisset Robervallus, recta (inquit) Semiparabolam subtendens fit a motu utroque uniformi. Itaque abjecta creta errorem agnovit Hobbius. At Robervallus postridie eandem propositionem ad Mersennum demonstratum attulit. Quam tamen demonstrationem non vidit Hobbius, sed postea Theorema idem sua Methodo demonstravit ediditque.” See Jesseph [see footnote 14], p. 121f. 20 Wallis, John: Arithmetica infinitorum, Oxford: L. Lichfield for Thomas Robinson 1656, p. 3f.: “Item, Linea Spiralis quaelibet MT (a Spiralis Principio exorsa) ad correspondentem Peripheriae arcum conterminum PT (a Principio circulatione exorsum,) est ut 1 ad 2.” 21 Fermat to Mersenne, [6]/16 February 1643, Correspondance du P. Marin Mersenne [see footnote 6], Vol. XII, p. 53: “Pour les lignes courbes auxquelles vous m’escrivez que M. de Roberval a trouvé d’autres lignes esgales, sur lequel subjet vous m’allégués l’hélice, j’aprehende qu’il y aura de l’équivoque. Il semble d’abord, par la raison des inscriptes et circonscriptes, que l’hélice d’Archimède est la moitié de la circonférence du cercle qui sert à la descrire, et c’estoit une pensée que j’avois eue il y a fort longtemps, mais je me détrompay
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precisely this mistake same twelve years later. Hobbes was more fortunate. Although he, too, had been following the incorrect approach to the problem, he had been set on the right track in Paris before having put anything into print. It is thus easy to understand his joy at having found such a welcome target in Wallis’s printed work. In Six Lessons, he makes the most of his discovery. Referring to Henry Savile’s (1549-1622) attack on the errors committed by Joseph Scaliger (1540-1609) in his attempted quadrature of the circle, Hobbes suggests that Wallis has failed to do justice to the mathematical chair established by the venerated Elizabethan polymath, precisely because of the inappropriate technique he had used: “And yet this error of Scaliger was no greater then one of your own of the like nature, in making the true Spirall of Archimedes equall to half the circumference of the Circle of the first revolution; and then thinking to cover your fault by calling it afterwards an Aggregate of Arches of Circles (which is no Spirall at all of any kind) you do not repair but double this absurdity. What would Sir Henry Savile have said to this?”22
The cover-up to which Hobbes refers, is the most tragic part of the story, certainly from Wallis’s point of view, and reflects the speed with which developments were taking place in analysis in the mid-Seventeenth Century. While the Arithmetica infinitorum was being printed Wallis apparently recognized the fundamental mistake in his approach to the rectification of the Archimedean spiral and sought to correct this by adding a Scholium to Proposition 13. The earlier pages had evidently already been type-set and a more comprehensive correction would no doubt have been precluded for reasons of the printer’s costs. In the Scholium Wallis points out that the term “spiral line” which he had employed in the preceding propositions had been used in his own unique sense.23 In effect, it had not referred to the Archimedean spiral at all, but rather to an aggregate of infinitely many arcs of similar sectors which constitute the smaller figure which is inscribed inside the Archimedean spiral. This spiral, which he calles a “spurius spiral line”, is thus always smaller than the genuine one, as Fermat had long since discovered. When Wallis reprinted the Arithmetica infinitorum in volume one of his monumental d’abord. Si c’est celle de M. de Roberval, je m’asseure qu’il ne sera pas longtemps de mesme advis, et qu’il n’aura besoing que d’une seconde réflexion pour se desdire.” See Whiteside’s comments on the fallacious rectification identified by Fermat in Whiteside, Derek Thomas: The Mathematical Papers of Isaac Newton, 8 Vols., Cambridge 1967-1981, Vol. III, pp. 308310 (note 704). 22 Hobbes [see footnote 17], p. 39. On Savile’s critique of Scaliger see Goulding, Robert: Polemic in the Margin: Henry Savile and Joseph Scaliger on Squaring the Circle, in: Jacquart, Danielle and Charles Burnett (eds.): Scientia in Margine: Etudes sur les maginalia dans les manuscrits scientifiques du moyen âge à la Renaissance, Geneva 2005, pp. 241-259. 23 Wallis [see footnote 20], p. 10f.: “Notandum autem est, in propositionibus praecedentibus, quae de linea Spirali agunt [...] me lineae Spiralis appellationem (ne longa circumlocutione toties opus sit) abusive usum fuisse. Nempe, per lineam Spiralem, (quoties ea ad Peripheriam comparatur,) intellectum vellem Aggregatum omnium arcuum Sectorum similium, numero infinitorum, ex quibus constat figura illa ex infinitis numero Sectoribus Spirali inscripta [...] ut ad prop. 5. innuimus. Quod quidem Aggregatum ipsa linea Spirali proprio sensu sumpta, perpetuo minus est, & maxime quidem circa spiralis initium.”
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Opera Mathematica (1693-99) he put his remarks distinguishing his spurious spiral from that of Archimedes at Proposition 5 where they should originally have been.24 5. WALLIS VINDICATED For Wallis’s enemies, particularly Hobbes, this was a bad effort to conceal a blunder. Wallis himself saw it as a not wholly satisfactory, but nevertheless acceptable way of making the best out of a difficult state of affairs. The decisive question from our point of view, however, was whether Wallis had come to recognize the mistake through his reading of Mersenne. When responding to Hobbes and Roberval, Wallis would always claim that he had never seen the passage in Mersenne before putting the finishing touches on Elenchus in August 1655.25 This is borne out by the fact that earlier in Elenchus he had rejected Hobbes’s comparison of the spiral to the parabola for reasons which even after reading Mersenne he did not disavow. In comments devoted to the English philosopher’s rectification of the spiral, he describes Article 5 of Chapter 20 as “completely rotten” and justifies this essentially through what he regards as Hobbes’s misunderstandings on the generation of the two curves. 26 Since Wallis at this time still believed, as he had done in Arithmetica infinitorum, that the Archimedean spiral is generated by two uniform motions, the one in a straight line, the other circular,27 he confidently belittled Hobbes’s comparison: “if you had understood the generation of both curves correctly, you would have concluded instead that their modes of generation are dissimilar”.28 Moreover, he takes pains to distinguish the two curves and suggests that when understood correctly 24 Wallis, John: Opera mathematica, 3 Vols., Oxford: at the Sheldonian Theatre 1693-99, Vol. I, p. 367: “Per Spiralem, hic intelligo, non ipsam Curvam Archimedeam, sed, Aggregatum Arcuum, Sectorum similium, numero infinitorum, Spirali Archimedeae continue inscriptorum, Figuram complentium; Et sic deinceps, quoties de ipsa linea agitur. Quoties autem de Figura Spirali adjacente agitur; perinde est sive veram curvam Archimedeam intelligas, sive hanc quam Spuriam dicimus.” Cf. Wallis to Brouncker, 16/[26] October 1656, in: Beeley, Philip; and Christoph J. Scriba (eds.): Correspondence of John Wallis (1616-1703), Oxford 2003, Vol. I, p. 210. 25 Wallis [see footnote 16], p. 132: “Postquam autem hoc opus [sc. Arithmetica infinitorum] penitus finiveram, eique supremam manum me apposuisse putaveram; ejusque magnam partem absolverant Typographi; insperato incidi in locos aliquot Mersenni, qui illud abunde confirmant quod ego superius aliquoties innui: nempe quod tuis aliquando subesse verum deprehensum est, id tuum non esse, sed aliunde desumptum.” 26 Ibid., p. 125: “Articulus 5. (ubi proponitur Datae Spirali rectam aequalem invenire;) est totus putidus.” 27 Wallis writes this explicitly in chapter 20 adducing the support of Archimedes: “Helicen Archimedeam describi ex duobus motibus, altero recto, altero circulari, (sed utroque uniformi) ostendit Archimedes.” (Ibid., p. 126). 28 Ibid, p. 126: “Tu vero, dum motum hunc ex utrisque compositum, habeas pro componentium uno, perperam concludis Similem esse generationem Parabolicae & Spiralis. Cum tamen, si utriusque generationem intellexisses, conclusisses potius earum generationem dissimilem esse; quippe illa generatur ex concursu duorum motuum quorum alter uniformis est alter uniformiter acceleratus; haec autem ex concursu duorum motuum quorum uterque est uniformis.”
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the one, i.e. the parabola is generated “from the concourse of two motions, of which one is uniform and the other uniformly accelerated”, while the other, i.e. the Archimedean spiral “is generated from the concourse of two motions both of which are uniform”. Other evidence supports Wallis’s account. Immediately after he had seen the passage in the Cogitata, and just four days after he had completed the Elenchus, he wrote to Pierre Gassendi (1592-1655) in order to verify the details of Mersenne’s account. Should Gassendi be absent, he noted on the cover, it could be handed to Roberval instead. (Unknown to him, Gassendi was at the time seriously ill and died on 14 October.) In the letter, which is dated 31 August 1655, Wallis rather disingenuously enquires after the identity of the Vir doctus mentioned by Mersenne and of the length of the straight line which that same Vir doctus had proposed equal to the spiral. 29 Further corroboration is provided by a letter, dated 16 October 1656, which Wallis wrote in response to the flyleaf that had arrived earlier that month from Paris. Because the flyleaf had been anonymous, he addressed the response to Brouncker with the intention that his friend ensures its transmission to France. In the response, Wallis conceded that while the Arithmetica infinitorum had been at the press he had noticed a mistake in the rectification of the Archimedean spiral. He had then sought to correct this mistake through the addition of the Scholium in which he distinguished the Archimedean spiral from the spurious spiral he had rectified by means of the inscription of an infinity of tiny sectors. Contrary to what he had wanted, the printer had for economic reasons inserted it at proposition 13.30 Later in the letter, Wallis points out that at the time when the Elenchus was still only being conceived the Arithmetica infinitorum had already largely been printed.31 In this context he refers to the earlier passage in Elenchus, where he rejected Hobbes’s comparison of the spiral and the parabola. As he notes, he had there claimed simply that the proposition was not legitimately demonstrated. Only later, after he had read the passage in the Cogitata, had he surmised that whether the proposition be true or false, it was in any case not from Hobbes.32 He was certainly not moved by what he read in Mersenne to change his position radically and immediately. His recognition of the truth of Roberval’s approach came considerably later. Although Wallis’s account of the sequence of events was plausible enough, he added further credance to its plausibility by appealing to Brouncker and other
29 Wallis to Gassendi, 31 August/[10 September] 1655. Correspondence of John Wallis [see footnote 24], Vol. I, p. 162. See also Malcolm [see footnote 8], p. 161. 30 Wallis to Brouncker, 16/[26] October 1656, in: Correspondence of John Wallis [see footnote 24], Vol. I, p. 210: “Quo etiam non nihil facere possit, quod Scholium illud prop. 13. Alio quam vellem loco interpositum sit.” 31 Ibid., p. 211: “Erat enim Elenchus jam embryo, cum Arithmeticae Infinitorum pars magna fuerat impressa.” 32 Ibid., p. 212: “Nempe, tum, propositionem illam non esse ab Hobbio legitime demonstratum; tum, sive vera fuerit, sive falsa, saltem suam non esse.” See Probst [see footnote 14], p. 100f.
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English mathematicians as his witnesses.33 This is a strategy which he would employ on a number of occasions during his professional career, but here it is of particular significance. Brouncker was intimately aware of the various stages leading to the completion and publication of the Arithmetica infinitorum and was therefore in a good position to vouch for the truth of Wallis’s account. Four days after sending his response to Roberval, Wallis addressed a shorter, more personal letter to Brouncker in which he summarized his response to the accusations which had been levelled against him by the French mathematician.34 Like the former letter, this too was copied and sent to France and would have signalled further Brouncker’s assent to the truth of what Wallis had written. It is otherwise inconceivable that Brouncker would have allowed its distribution. Anyone in the mathematical community in Paris remotely acquainted with English society would have been aware that Wallis could not have appealed to the testimony of a man of higher social status if his account of events had been deceitful. Just how important Brouncker’s social status was for Wallis is reflected in the earlier quotation from Aubrey. Quite simply, Wallis would not even have sought to compromise Brouncker’s position by having him testify to the truth of a lie. Indeed, this was clearly understood by mathematicians in Paris, where the arrival of the two letters from Oxford effectively brought the discussion on Wallis’s supposed plagiarism of Roberval to a close. It was not until three years later that Wallis’s published opinion on the rectification of the Archimedean spiral changed. In his book entitled Tractatus duo. Prior de cycloide et corporibus inde genitis. Posterior epistolaris; in qua agitur, de cissoide, et corporibus inde genitis (1659), which is concerned mainly with the rectification of the cycloid and the cissoid, he accepts for the first time the equivalence of the arc length of the Archimedean spiral and the parabola having a base equal to the radius of the spiral and an axis equal to half its circumference, as this had been originally proposed by Roberval and later published by Hobbes.35 Wallis even goes so far as to provide his own proof that the relation of equivalence of the arc lengths can be found by means of the quadrature of the hyperbola. Understandably, one of his central concerns in this respect is to show the uniqueness of his own proof and to indicate the differences between the solutions provided both by Hobbes and by Roberval. By now Wallis was aware that Hobbes was claiming precedence over Roberval in the discovery of the equivalence of the two curves, but he carefully avoids taking sides in this particular dispute: “To whom, Hobbes or Roberval, the discovery can be ascribed I cannot tell (both men namely praise themselves). It is certain that Mersenne ascribes it to Roberval. But Hobbes contradicts him, claiming that he discovered it first of all (which claim of his I had not heard of when I 33 Wallis to Brouncker, 20/[30] October 1656, in: Correspondence of John Wallis [see footnote 24], Vol. I, p. 211: “Quod Tu, cum aliis, probe noris.” See Probst [see footnote 14], p. 100. 34 Wallis to Brouncker, 20/[30] October 1656, in: Correspondence of John Wallis [see footnote 24], Vol. I, pp. 215-17. 35 Wallis, John: Tractatus duo. Prior de cycloide et corporibus inde genitis. Posterior epistolaris; in qua agitur, de cissoide, et corporibus inde genitis, Oxford: Lichfield 1659, p. 105: “[...] unde linearum Spiralis & Parabolicae aequalitatem manifestam esse constat.”
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wrote my Elenchus), and that he mentioned the whole thing to Roberval the day before he embellished it with his proof the following day. Whatever actually happened, whatever the facts are, I will not pronounce my verdict. But that the proposition, whoever deserves recognition for its discovery, is true as confirmed by this proof.”36
In marked contrast to the earlier attacks on his integrity by Roberval and Hobbes, Wallis finds no difficulty in giving either of the two men credit for the discovery. Admittedly, there was now nothing at stake for him. But having clearly refuted their earlier arguments against him, Wallis succeeds in emerging as the moral victor in a dispute which did little to enhance the reputations of any of those involved. 6. WALLIS’S PRINCIPLES OF SCIENTIFIC PRECEDENCE IN TRACTATUS DUO From a present day point of view it is hard to imagine just how far scientific discussion in the second half of the Seventeenth Century was shaped by rivalries, methodological disputes, and accusations of plagiarism. This reality stands in sharp contrast to the calls for international collaboration in promoting the new mathematical and physical sciences which came out of the tradition of Jan Amos Comenius (1592-1670) and Samuel Hartlib (c.1600-62) and which, through Henry Oldenburg (1618?-77), and to a lesser extent Robert Moray (1608-73), characterized the early history of the Royal Society.37 One of the major contributory factors to this belligerent climate was without doubt the element of competition which entered the scientific discussion at this time. Various public challenges were made and prize questions set which more often than not served as vehicles for promoting the reputation of the men from whom they originated rather than serving as contributions to the advance of scientific knowledge. This was the experience which Wallis made through his participation in a debate on questions of number theory brought about by Fermat’s challenges in 1657/8. Together with Brouncker he had taken up these challenges in good faith, naively unaware of the significance of the problems involved or that Fermat already possessed solutions to them. At the end of a long epistolary exchange, involving also Bernard Frenicle de Bessy (160575) and Frans van Schooten (1615-60), he felt that he had nevertheless been able to
36 Ibid., p. 105: “Quae quidem inventio, num Hobbio, an Robervallio, debeatur, (uterque enim vendicat,) non determino; an inter utrumque dividenda. Certum est, Mersennum Robervallio tribuere: contendit autem Hobbius se primum invenisse, praetendit utique (quam suam praetensionem cum Elenchum meum scripsi: non audiveram) se Robervallio rem totam pridie communicasse, eum autem, hac ansa data, postride demonstrationem suam adornasse. Quicquid sit, cum res facti sit, nolo ego me arbitrum interponere. Propositionem autem, cujuscunque demum sit, veram esse, comprobat haec nostra demonstratio.” 37 See Boas Hall, Marie: Henry Oldenburg. Shaping the Royal Society, Oxford 2002, pp. 69-88; Beeley, Philip: A Philosophical Apprenticeship: Leibniz’s early correspondence with the secretary of the Royal Society, Henry Oldenburg, in: Lodge, Paul (ed.): Leibniz and his Correspondents, Cambridge 2004, pp. 47-73; pp. 49-51.
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hold his ground.38 Ultimately, he chose to publish a record of the correspondence which had taken place in his book entitled Commercium epistolicum (1658). Almost directly after the discussion with Fermat on number theory had reached its conclusion, Blaise Pascal (1623-62) anonymously threw open prize questions on the properties of the cycloid to the learned public. In contrast to the largely open nature of the discussion with Fermat, the proceedings of the prize questions were cloaked in silence. Although the Savilian professor submitted a workable solution39 in good faith, he received no response. As if that were not enough, Wallis’s name is not even mentioned in Pascal’s account of the prize questions and presentation of some of the contributions in Histoire de la roulette (1658). 40 Understandably, Wallis felt that he needed to defend his name in the Republic of Letters after he had been slighted in this way. This defence took the form of a substantial publication, quite unlike most of the numerous tracts with which he responded to the diatribes of Hobbes. In part one of his Tractatus duo he published not only the corrected version of his own contribution to the prize questions, but also a short account of the way in which the competition had been conducted. The Tractatus duo is a vital part of the continuing story. Not only does Wallis here enunciate his principles on the question of precedence in scientific discovery, but also he effectively fires the first shot in a long battle with Huygens with which we will now be concerned. Not surprisingly, Wallis’s account differs in a number of decisive points from that of the French philosopher and mathematician. Whereas Pascal ascribes priority in the discovery of the cycloid and its quadrature to his fellow-countrymen Mersenne and Roberval respectively, Wallis accepts the Italian interpretation, according to which it was Galileo who first discovered the curve and Torricelli who first performed its quadrature.41 On the basis of available evidence, in particular Fermat’s letter to Mersenne of February 1638, it is clear that Roberval already by this time was aware that the area of the cycloid is threefold that of the circle by which it is constructed.42 However, it was Torricelli who first published this result, namely in his De sphaera et solidis sphaeralibus libri duo (1644). It is this distinction between discovered knowledge and publicized knowledge on which Wallis focuses in the account he presents in Tractatus duo. Moreover, he turns it into a question of openness in dealing with new discoveries in mathematics. 38 For a detailed analysis of this debate see Mahoney, Michael Sean: The Mathematical Career of Pierre de Fermat, 1601-1665, Second edition, Princeton 1994, pp. 336-347. 39 See Wallis [see footnote 35], preface, sig. a1v-a3r. For a reconstruction of Wallis’s original contribution and subsequent amendments see Hara, Kokiti: Pascal et Leibniz au sujet de la cycloïde, in: Annals of the Japan Association for Philosophy of Science 3, 1969, pp. 166-187. 40 Pascal, Blaise: Histoire de la roulette appelée autrement la trochoïde, ou la cycloïde, in: Mesnard, Jean (ed.): Blaise Pascal, Œuvres complètes, 4 Vols., Paris 1964-1991, Vol. IV, pp. 214-224. A Latin version also appeared: Historia trochoidis sive cycloidis, Gallice, La Roulette, in: Œuvres complètes, Vol. IV, pp. 225-233. 41 Wallis [see footnote 35], p. 77. 42 Fermat to Mersenne, February 1638, in: Correspondance du P. Marin Mersenne [see footnote 6], Vol. VII, p. 52. See also the editor’s notes, p. 56f.
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From his point of view neither Roberval nor Mersenne have grounds to complain “since they kept their discoveries under lock and key and did not make them available to the public”.43 Consequently, he finds it “absolutely unjust that they do not tolerate that others rediscover what they have hidden”. In this way he rejects the accusation of plagiarism levelled against Torricelli and is later supported in this by Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716).44 7. THE RECTIFICATION OF THE SEMICUBICAL PARABOLA Wallis would soon be called upon to put his principles on what justifies as a claim to scientific precedence to the test. In August 1657 Brouncker sent Wallis a letter enclosing a proof which he had drafted himself of William Neile’s (1637-70) rectification of the semicubical parabola.45 Much of Brouncker’s work as a mathematician was of this nature: redrafting proofs of results in an alternative and more satisfactory manner than the authors had originally achieved. 46 As on previous occasions, Brouncker requested that his alternative proof be printed in one of Wallis’s books, the book this time being the Commercium epistolicum.47 Wallis did not accede to this request, however, arguing that he could not print it before giving Neile the opportunity of publishing his own proof first, whether in its original or in a redrafted form. 48 This was a fair point. He could scarcely have printed Brouncker’s proof without having consulted Neile, whose own proof he had not seen. To have done so would scarcely have found favour in the mathematical community in London, of which Neile, son of the courtier and patron of science Sir Paul Neile (1613?-82/6), was a notable member. 43 Wallis [see footnote 35], p. 76: “Dummodo enim ipsa sua apud se premunt inventa, nec publici juris faciunt, iniquum plane esset ni & alios patiantur ea quae ipsi celant itidem invenire, atque interim inveniendi (siqua sit) gloriam reportare.” 44 See Leibniz to Gröning, 24 December 1696/[3 January 1697], in: Preußische Akademie der Wissenschaften (and its successors) (ed.): Gottfried Wilhelm Leibniz: Sämtliche Schriften und Briefe, 8 Series, Darmstadt, Leipzig, Berlin 1923-, Series I, Vol. 13, p. 448f.; Leibniz to Magliabechi, 20/[30] September 1697, in: ibid., I, 14, p. 522f.; Leibniz, G.W.: Review of Wallis’s Opera mathematica, vols. I and II, in: Acta eruditorum VI, 1696, pp. 249-259; p. 253. 45 Brouncker to Wallis, August 1657, in: Correspondence of John Wallis [see footnote 24], Vol. I, p. 300; Stedall, Jacqueline A.: Catching Proteus: The Collaborations of Wallis and Brouncker I. Squaring the Circle, in: Notes and Records of the Royal Society of London 54, 2000, pp. 293-316; pp. 310-313. See also later descriptions of the events: Wallis to Oldenburg, 4/[14] October 1673, in: Hall, A. Rupert and Marie Boas Hall (eds.): The Correspondence of Henry Oldenburg, 13 Vols., Madison, London 1965-1986. Vol. X, p. 276; Brouncker to Oldenburg, 8/[18] October 1673, in: ibid., p. 291; Wallis to Huygens, 30 May /[9 June] 1673, in: Société Hollandaise des Sciences (ed.): Œuvres complètes de Christiaan Huygens, 22 Vols., The Hague: Martinus Nijhoff 1888-1950, Vol. VII, p. 307. 46 Thus Brouncker sent Wallis an alternative proof of his value for 4/π, which was duly published alongside Wallis’s own proof in Arithmetica infinitorum. See Stedall [see footnote 45], pp. 300-310. 47 Wallis [see footnote 35], p. 92. 48 See ibid., p. 92f.
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The curve AbbbC which Neile rectified is the evolute of the ordinary parabola; essentially it is the curve y2 = x3 [Figure 2]. Understood in this way, it has the derivative y′ = 3/2 · x½. Hence its arc length can be expressed as ds2 = (1 + y′2) dx2 = (1 + 9/4x) dx2 and evaluated by the integral s = ½ ∫ 4 + 9 x dx
Neile’s approach to rectification was based on comparing infinitely small quantities and has a distinct similarity to the method which Wallis employed in his Arithmetica infinitorum.
fig. 2: The semicubical parabola rectified by Neile in 1657 ( Wallis, Tractatus duo, 1659)
What at first might appear like a relatively minor episode of at most national significance, soon took on quite different character in the context of a dispute with Christiaan Huygens over who could rightly claim priority in the rectification of the semicubical parabola. Wallis would always hold that this honour belonged to Neile, noting that the young mathematician had given a proof at one of the meetings of men interested in the new sciences which regularly took place after the weekly geometry lecture at Gresham College in London. It was at such a meeting in November 1660 that the decision was made by those present to form what eventually became the Royal Society. According to Wallis, Neile presented his demonstration sometime in July or August 1657.49 Subsequently the method had 49 Ibid., p. 91: “Quo primum tempore invenit Nelius, non certus scio: vulgavit autem sub Julii vel saltem Augusti mensem Anni 1657, primus (credo) omnium qui ulli curvae aequalem rectam assignavit.” In his letter to Oldenburg of 4/[14] October 1673, however, Wallis claims that Brouncker and Wren produced their alternative proofs in June or July 1657, suggesting a somewhat earlier date for Neile’s original presentation. See Correspondence of Henry Oldenburg [see footnote 45], Vol. X, p. 276. On Neile’s rectification see also Stedall, Jacqueline A.:
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been verified by Brouncker and Christopher Wren (1632-1723) who had drawn up similar demonstrations of their own. Shortly afterwards, as already mentioned, Brouncker sent his proof to Wallis in the hope that it might be published by him. As far as Neile’s own proof is concerned, Wallis tells us that the young mathematician had on Wren’s advice produced a considerably shorter version immediately after the original presentation.50 It would appear that Wallis received this revised demonstration, probably through the hands of Wren, not long before the publication of Tractatus duo in 1659. The controversy arose after the publication of the second edition of Schootens’ translation of Descartes’ Géométrie in 1659. As one of the appendixes to the Geometria a Renato DesCartes, Schooten published a letter from Hendrik van Heuraet (1633-60?), dated 13 January 1659 (new style), in which he presented his rectification of the semicubical parabola by means of the transformation of the curve into a straight line.51 Since up to this time the English mathematicians had presented nothing in print, Heuraet could seemingly claim with good justification to have been the first to have provided a genuinely public proof of the rectification of an algebraic curve. For Wallis, however, the appearance of a printed text was not decisive as a criterium for publication and he accordingly applied his rhetorical skills in rejecting Heuraet’s claim. Even before the arrival of the first copies of the new edition of the Geometria, mathematicians in England had received warning of the claim which was about to be made. In a letter to Wallis dated 9 June 1659 (new style), Huygens reported that his fellow-countryman Heuraet had on the basis of the quadrature of the hyperbola found a straight line which was equivalent in length to the parabola.52 Not only had Heuraet discovered this by his own efforts, but he had also been able to demonstrate the equivalence of other curves with certain straight lines. At the end of his letter, Huygens pointed out that this discovery would soon be published in Schooten’s new edition of the Geometria. Wallis acted almost immediately on receiving this news. In the second part of his tract on the cycloid and the cissoid, which at that time was already at the printer’s, he not only added Neile’s shorter proof of the rectification of the The Discovery of Wonders: Reading Between the Lines of John Wallis’s Arithmetica infinitorum, in: Archive for History of Exact Sciences 56, 2001, pp. 1-28; p. 17. 50 Wallis to Oldenburg, 4/[14] October 1673, in: Correspondence of Henry Oldenburg [see footnote 45], Vol. X, p. 277. 51 Heuraet, H. van: Epistola de transmutatione curvarum linearum in rectis, in: Schooten, Franz van (ed.): Geometria a Renato Des Cartes, Second edition, Amsterdam: Elzevier 1659-61, Vol. I, 517-520. Heuraet’s letter, which is addressed to van Schooten, is dated [3]/13 January 1659. 52 Huygens to Wallis, [30 May]/9 June 1659, in: Correspondence of John Wallis [see footnote 24], Vol. I, p. 582: “Hic non possum quin te certiorem faciam de insigni invento Heuratii nostratis, nescio an in Schotenii scriptis nomen hoc videris. Is cum rescivisset me Conoidis Parabolici superficiem dimensum esse rectamque lineam parabolae invenisse aequalem supposita hyperbolae quadratura (de quibus antea tibi scripsi) non tantum utrumque horum suo marte invenit, sed et rectas aliis curvis absolute aequales ostendit, ex earum genere quas in Geometriam recipimus.”
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semicubical parabola but also a proof of his own together with the alternative demonstration which Brouncker had sent him already in 1657. In supplying these three proofs, he naturally did not neglect to emphasize that Neile had made his discovery good two years before Heuraet had done. 53 Moreover, he sought to show that Neile’s rectification was based on an approach which he set out in Proposition 38 of his Arithmetica infinitorum.54 In order to achieve maximum effect, Wallis sent copies of his Tractatus duo not only to Schooten in Leiden but also to Pierre de Carcavi (1600?-84) in Paris. This was not without good reason. As already mentioned, the first part of Tractatus duo contained Wallis’s own account of the history of Pascal’s prize questions on the cycloid and a complete version of his contribution to these questions incorporating corrections which he had sent to Paris later on. Pascal in his anonymity had instructed that all contributions be sent to Carcavi and so it was natural for Wallis to send the second copy to him. About the same time as this, the first accusations of plagiarism were made against Heuraet in England. In a letter to Wallis written at the end of November 1659, Brouncker asserts the equivalence of the discoveries made by Neile and Heuraet and surmises that the latter must somehow have got hold of the discovery of the young English mathematician and then put it out as his own.55 Shortly afterwards Wallis likewise asserts the equivalence in a letter to Schooten, emphasizing at the same time that Neile had not only made his discovery two years before Heuraet but also that it had been communicated to English mathematicians and demonstrated by a number of them.56 After Huygens had received his copy of Tractatus duo he wrote to Carcavi, pointing out that Wallis’s account of the prize questions was quite different to that provided by Pascal.57 This was not without deeper significance, because one of the participants in Pascal’s competition had been his friend Schooten. To a certain extent, Pascal’s lack of openness had come back to haunt him. But this is not something on which Huygens focuses. Instead, he makes an ironic remark which in many ways anticipates the bitter national rivalry which would colour the development of European science over the coming decades. “It is a pleasure to see,” writes Huygens, “how this Mr Wallis is trying at all cost to save the honour of his nation.”58 Soon Carcavi wrote back to Huygens and effectively confirmed his opinion by reporting on the less than favourable attitude to Wallis on the part of members 53 Wallis [see footnote 35], p. 92: “Nelii demonstratio, quam (ut dictum est) ante duos annos vulgavit [...]”. 54 Ibid., p. 90. 55 Brouncker to Wallis, 26 November/[6 December] 1659, in: Correspondence of John Wallis [see footnote 24], Vol. I, p. 589. 56 Wallis to Schooten, 26 November/[6 December] 1659, in: ibid., p. 590. 57 Huygens to Carcavi, [17 March]/27 March 1660, in: Œuvres complètes de Christiaan Huygens [see footnote 45], Vol. III, p. 56f.: “Au reste il y a et dans cette lettre et dans la preface du traitè de la Cycloide beaucoup de choses contre Messieurs Dettonville et de Roberval et contre leur histoire de la Roulette.” 58 Ibid., p. 57: “Ce Monsieur Wallis tesmoigne certes d’avoir l’esprit prompt et il y a du plaisir a veoir comme il tasche a toute fource de maintenir l’honneur de sa nation.”
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of the circle around Pascal and Roberval.59 But Wallis was persistent too. When Digby sent him a copy of Fermat’s De linearum curvarum cum lineis rectis comparatione from Paris in August 1660, the Savilian professor responded to the accompanying letter within a matter of days, once more asserting that the English mathematician Neile had succeeded in rectifying the semicubical parabola already in 1657.60 Wallis wrote his response to Digby in Latin and clearly intended that it be circulated among members of the mathematical community in the French capital. 8. HUYGENS’S HOROLOGIUM OSCILLATORIUM AND THE RESURGENCE OF THE DEBATE OVER THE RECTIFICATION OF THE SEMICUBICAL PARABOLA Ten years after the publication of Tractatus duo, in a letter written to John Collins (1625-83) in February 1668, Wallis reiterated his conviction that Neile had been the first mathematician to have drawn out an algebraic curve and that following his example Brouncker and Wren had later done the same.61 It was, he wrote, well known to many English mathematicians, and thus presumably also known to Collins himself, that Neile’s rectification had been a considerable time before that of Heuraet. But Wallis does not stop here. Relativizing the claims of both Neile and Heuraet, he suggests once more that Proposition 38 of Arithmetica infinitorum had provided the basis for their discoveries. Wallis’s letter to Collins was not intended to be read by anyone other than its recipient. To the outside world the dispute over who had first succeeded in rectifying an algebraic curve would probably have appeared to have come to an end in 1660 at the latest. However, this state of affairs changed dramatically on the publication of Huygens’s Horologium oscillatorium in 1673. In what many regard as his major work, the Dutch mathematician and physicist accuses Wallis of having sought to ascribe priority to his fellow-countryman Neile only after Heuraet’s
59 Carcavi to Huygens, [15]/25 June 1660, in : ibid., p. 86f. 60 Wallis to Digby, 24 August/[3 September] 1660, in: Correspondence of John Wallis [see footnote 24], Vol. II, p. 22f.: “Primo quidem, Eandem ipsam Curvam Rectae aequalem, primus (credo) omnium ostenderat Gulielmus Nelius, Equitis Pauli filius; suamque hujus Demonstrationem jam Anno 1657 divulgaverat: quod & a pluribus apud nos post illum demonstratum est, & passim notum. Id ipsum deinde, post annum circiter, ab Heuratio Batavo peractum est, quod (nescius, puto, quid apud nos factum fuerat) iteratae suae Cartesiani Operis Editioni subjunxit Schootenius.” 61 Wallis to Collins, 15/[25] February 1667/8, in: Correspondence of John Wallis [see footnote 24], Vol. II, p. 430: “The streightening a Curve was done by Mr Neil, (& after him, by Dr Wren & my Lord Brounker,) a good while before Heurat: (& I suppose both proceeded upon the grounds I mentioned in my Arithm: Infinit:) And it was commonly known to divers of our English mathematicians before Heurat’s came abroad.” In his letter to Huygens of 30 May/[9 June] 1673 Wallis also mentions Lawrence Rooke (1622-62) as having provided a proof. See Œuvres complètes de Christiaan Huygens [see footnote 45], Vol. VII, p. 307.
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discovery had been published. 62 As if this were not enough, Huygens also describes Neile’s proof as being less than satisfactory. But another remark probably caused even more infuriation on the part of Wallis. Huygens suggests, namely, in a manner remarkably similar to that adopted by the Savilian professor himself, that Heuraet had arrived at his discovery only through awareness of his own famous rectification of the parabola of 27 October 1657 (new style).63 After he had read the corresponding pages of Horologium oscillatorium Wallis wrote to Huygens immediately from London, expressing his disappointment over the accusation.64 This is perhaps understandable, when we consider that Wallis at the beginning of his mathematical career had sought the advice of men such as Huygens and Schooten on the work he was doing, there having been scarcely anyone suitable for consultation in England. In fact, his very first mathematical achievement of note, the discovery of a method through which the roots of binomial cubes could be ascertained, he sent to Schooten for appraisal at the end of the 1640s. Since then he had been in regular correspondence on scientific matters with both Schooten and Huygens. In addition, he had received Christiaan’s father, the diplomat and poet Constantijn Huygens (1596-1687), at least twice in Oxford since then. After expressing his disappointment, Wallis sets out in his letter once more his view that Neile had made his discovery public already a considerable time before the publication of Heuraet’s letter. Moreover, Wallis claims that Neile’s discovery had been made on the basis of the method for finding straight lines equivalent to curves which he had presented already in his Arithmetica infinitorum of 1656. Not having access to his papers, he relied on memory and suggested incorrectly that Brouncker had sent Neile’s demonstration in June or July 1658. Only on returning to Oxford did he find that the date should have been a full year earlier.65 Now that the question of priority was once again very much in the public sphere, Wallis sought witnesses to back up his claim for Neile. Just a few weeks later, on 27 September 1673, shortly before he made a visit to the English capital, 62 Huygens, Christiaan: Horologium oscillatorium sive, De motu pendulorum ad horologia aptato demonstrationes geometricae, Paris: F. Muguet 1673, p. 72; Œuvres complètes de Christiaan Huygens [see footnote 45]. Vol. XVIII, p. 211: “Scio equidem, ab edito Heuratii invento, Doctissimum Wallisium Wilhelmo Nelio, nobili apud suos juveni, idem attribuere voluisse, in libro de Cissoide. Sed mihi, quae illic adfert perpendenti, videtur non multum quidem ab invento illo Nelium abfuisse, neque tamen plane id adsecutum esse. Nam neque ex demonstratione ejus, quam Wallisius affert, apparet illum satis perspexisse quaenam foret curva illa, cujus, si construeretur, mensuram datam fore videbat.” 63 Huygens [see footnote 62], p. 72; Œuvres complètes de Christiaan Huygens [see footnote 45]. Vol. XVIII, p. 211: “Cum vero in his simus, etiam de nobis dicere liceat, quid ad promovendum tam eximium inventum contulerimus: siquidem & Heuratio ut eo perveniret occasionem praebuimus, & dimensionem curvae parabolicae ex hyperbolae data quadratura, quae Heuratiani inventi pars est, ante ipsum atque omnium primi reperimus.” See Hofmann [see footnote 7], p. 107f. 64 Wallis to Huygens, 30 May/[9 June] 1673, in: Œuvres complètes de Christiaan Huygens [see footnote 45], Vol. VII, pp. 305-308. 65 Wallis to Oldenburg, 23 June/[3 July] 1673, in: Correspondence of Henry Oldenburg [see footnote 45], Vol. X, p. 40.
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he wrote to Collins in London and requested that he ask among the mathematicians who used to meet after the astronomy lecture at Gresham College in the late 1650s if they could corroborate his view: “About the beginning of the term I think I shall be in London, I would wish that in the mean time you would inquire of those Mathematicians who about the year 1657 were in London, and used to meet at Gresham College at Mr. Rooke's lecture, what they do remember of Mr. Neale’s giving a straight line equal to a crooked, which was done about June or July 1657.”66
Presumably Collins made these enquiries in advance of Wallis’s visit. For when he arrived in London he was able to receive the confirmation he sought from Ward, Charles Scarborough (1616-94), and Brouncker. 67 In addition, Wren, who until recently had been his close colleague as Savilian professor of astronomy at Oxford, and Brouncker wrote letters to Oldenburg in which they gave their accounts of Neile’s demonstrations for publication in the Philosophical Transactions.68 Wallis did likewise.69 9. WALLIS’S FINAL STRATEGY IN DEFENCE OF NEILE Nevertheless there are grounds for doubting the authenticity of the written reports, even if they probably are substantially correct. Not only do they suggest Wallis’s authorship stylistically, but also the original letters which were addressed to Oldenburg are in the Savilian professor’s handwriting.70 There can be no doubt 66 Wallis to Collins, 27 September/[7 October] 1673, in: Rigaud, Stephen Jordan (ed.): Correspondence of Scientific Men of the Seventeenth Century, 2 Vols., Oxford 1841 (Reprint Hildesheim 1965), Vol. II, p. 586. See McKie, Douglas: The Origins and Foundation of the Royal Society of London, in: Hartley, Harold (ed.): The Royal Society: its Origins and Founders, London 1960, pp. 1-37; p. 30f. 67 See Wallis to Oldenburg, 12./[22.] January 1673/4, in: Correspondence of Henry Oldenburg [see footnote 45], Vol. X, p. 433: “But for the priority of Mr Neil, beside what you have published, you might have had, if there were need, the attestation of the Bishop of Salisbury, & of Sir Charles Scarborough; who told me, when I was last in London, they do very well remember it.” Ward had been made Bishop of Salisbury in 1667. 68 Brouncker to Oldenburg, 8./[18.] October 1673, in: ibid., Vol. X, p. 291f.; Wren to Oldenburg (?), c. 8./[18.] October1673, in: ibid., p. 292f.. These letters were printed in Philosophical Transactions No. 98 (17 November 1673), p. 6149f.. 69 Wallis to Oldenburg, 4/[14] October 1673, in: Correspondence of Henry Oldenburg [see footnote 45], Vol X, pp. 276-279. The original is Royal Society, Early Letters W2, No. 14. Right at the beginning Wallis makes his central statement: “It is very sure, that Mr William Neil had in the year 1657 found out & demonstrated a streight line equal to a Paraboloid; & did then communicate & publish the same (though not in print) to my self & others, who used to meet at Gresham College, & it was there received with good approbation; & the same was presently afterwards otherwise demonstrated by my self & others.” This letter was printed in Philosophical Transactions 98, 17 November 1673, pp. 6146-6149. 70 Brouncker’s letter to Oldenburg of 8/[18] October 1668 is Royal Society Early Letters B1, No. 13; Wren’s letter to Oldenburg of c. 8/[18] October 1673 has been handed down in two original manuscripts. Of these Royal Society Early Letters W1, No. 117 is probably the earliest and contains Wren’s amendment at the foot of the page. Wallis evidently incorporated this
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that Brouncker and Wren consented to what appears to have been an act of deception. Possibly for time reasons they simply allowed Wallis to write something to the purpose of confirming what they felt or knew to be true. Thus it appears that Wren made a correction to the draft which Wallis had probably shown to him. But this does not change much as far as the nature of the matter is concerned. Wallis clearly acted in close collaboration with Oldenburg who effectively allowed his journal, the Philosophical Transactions to be used as a vehicle for the English campaign, despite the fact that Huygens, a Fellow of the Royal Society since June 1663, was at least indirectly the target. And in order to achieve the maximum effect and at the same time to seem more convincing, the letters ostensibly written by Brouncker and Wren were published in English, whereas Wallis’s much longer contribution, in which he also sought to explain how his Arithmetica infinitorum had provided the foundations for Neile’s results, appeared in Latin. In this way he could be sure to reach those colleagues on the European Continent he most wanted to persuade of the truth of his position.71 Not for the first time, Wallis used highly questionable means in order to achieve the end of upholding an honour he felt was due to a fellow-countryman. Also not for the first time, he clearly sought to promote his own glory, but this was no more than what Huygens himself had done in respect of Heuraet. Furthermore, we can to a certain extent understand the Savilian professor’s motives. After all, the development of the mathematical sciences in England had long trailed behind that in Italy, France and Low Countries, where leading mathematicians often guarded their reputations jealously. Through his actions Wallis sought to do all he could to bring English mathematics in general and himself in particular firmly onto the European stage. In this he was sometimes successful, but often at the cost of damaging the potentially good cause by the means he used.72 We therefore need to be careful in assessing the facts of this dispute, just as in the case of the dispute with amendment into the second version: British Library Add. MS. 4428, f. 314. This is endorsed at the top: “Dr Wren to Mr Oldenburg, drawn up according to his directions in the paper adjoined.” Oldenburg made a copy of this version on the reverse of Brouncker’s letter and probably gave the original to John Pell. 71 In his letter to Oldenburg of 4/[14] October 1673, Wallis claimed to have inserted an “honest and fair history of all that had passed” concerning Neile’s rectification. See Correspondence of Henry Oldenburg [see footnote 45], Vol. X, p. 276: “[...] in mea ad Cl. Hugenium epistola [...] totamque simul rei gestae Historiam candide et sincere inserui.” 72 A late example of Wallis’s regrettable strategy, to which his earlier experiences had clearly contributed, was his publication, in volume three of his Opera mathematica [see footnote 24], of a selection of letters intended to demonstrate that Leibniz had developed his infinitesimal calculus on the basis of information on Newton’s discovery which he had received from English sources. Remarks made by the Marquis de l’Hospital in his letter to Leibniz of [3]/13 July 1699 are indicative of how this attempt to promote English interests was received in the Republic of Letters: “je ne scais si vous etes instruit que Wallis a fait imprimer un troisieme tome de ses oeuvres mathematiques dans lequel il a inseré quelques une de vos lettres a Mr. Newton et autres, et cela je crois dans la pensée d’attribuer a ce dernier l’invention de vôtre calcul differentiel que Newton appelle des fluctions. Il me paroist que les Anglois cherchent en toute maniere d’attribuer la gloire de cette invention a leur nation.” Gerhardt, Carl Immanuel (ed.): Leibnizens mathematische Schriften, 7 Vols., Berlin 1849-1863. Vol. II, p. 336.
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Hobbes and Roberval over the rectification of the Archimedean spiral. Despite the apparently dishonest aspects of Wallis’s campaign there were clearly witnesses, and not all of them were his close friends, who were prepared to verify his account of Neile’s discovery. In the absence of evidence to the contrary we should assume that Wallis’s account was in fact basically true and that his difficulty really was in providing satisfactory evidence to support its truth more than fifteen years later. Thus it appears that he sought to obtain a copy of Neile’s rather prolix original proof around the time of the publication of Horologium oscillatorium, only to discover that the author had died three years earlier.73 As in other disputes of this nature where priority in discovery and priority in publication are to be accorded to different people it is preferable to speak of parallel developments independent of one another. Indeed Wallis himself at a quieter time in his correspondence with Huygens floats this idea.74 But such a conciliatory approach ultimately failed to determine the course of events. And when the Dutch mathematician and physicist put his strongest argument on the table, namely the date of the publication of Heuraet’s discovery, Wallis regrettably took recourse in his letter to Huygens of June 1673 to purported differences between the English national character and that of its European neighbours: “You are badly acquainted with the English spirit. Whatever the French or the Dutch might think, one thing is clear: the English are not in such manner always seeking fame. It is as with Harvey’s discovery of the circulation of the blood, which was known among us and held to be true for some twenty years before it appeared in print.”75
Despite these rather parochial words, Wallis in fact subscribed to the principles of cooperation and the exchange of information which had characterized the growth of scientific organizations in the mid-Seventeenth Century and which Oldenburg in the spirit of Comenius and Hartlib had espoused in his correspondence as secretary of the Royal Society from 1662 onwards. Writing to Oldenburg at the height of the dispute with Huygens, he claims that he had always supposed that there should be the most open of plain dealing among learned men in scientific matters, and adds: “and if there should be some lapse from this standard (such as often occurs)
73 See Wallis to Oldenburg, 4/[14] October 1673, in: Correspondence of Henry Oldenburg [see footnote 45], Vol. X, p. 277. 74 See the letter dedicatory with which Wallis prefaced Tractatus duo [see footnote 35], p. 76: “[...] eadem enim in eodem aperto naturae campo a variis inveniri nihil prohibet.” 75 Wallis to Huygens, 30 May/[9 June] 1673, in: Œuvres complètes de Christiaan Huygens [see footnote 45], Vol. VII, p. 308: “Nae tu male noris genium Anglorum. Quicquid enim de Gallis aut etiam Batavis, putandum sit; certe Angli non solent ita semper esse gloriabundi. Et quidem nobilissimum illud Harvei de circulatione sanguinis inventum, (ne plura memorem) totis annis quasi viginti apud nostros erat notum agnitum et palam approbatum, priusquam typis vulgatum fuerat.” On another occasion Wallis refers to “the common Fate of the English, that out of a modesty, they forbear to publish their Discoveries, till prosecuted to some good degree of certainty and perfection”, and gives as an example “the Exhibiting of a straight line equal to a crooked”. See “An Essay of Dr. John Wallis, exhibiting his Hypothesis about the Flux and Reflux of the Sea”, in: Philosophical Transactions 16, 6. August 1666, pp. 263-281; p. 266.
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that it should be glossed over rather than made the subject of recriminations.”76 We have no reason to believe that Wallis was not being sincere when he wrote this. Oldenburg not only knew him well, but was also intimately acquainted with his scientific practice. From the outset the Savilian professor of geometry had made use of the modern means of scientific communication. Some of his earliest letters containing accounts of his work were sent to key figures in the Republic of Letters such as Hevelius, Gassendi and Christiaan Huygens with the clear intention of taking his place among them. He became one of the most prolific contributors to the Philosophical Transactions, which he saw as an ideal means of publishing results with as little delay as possible. At a time when new developments in mathematics and the physical sciences were taking place exceedingly fast short turn-rounds between submission and publication were essential. By contrast, large scientific works could take years to print. Indeed, this was Wallis’s own experience with his major work on mathematical physics, the three-part Mechanica (1670-1) as well as with his account of the history of Algebra with particular focus on England, the Treatise of Algebra both Historical and Practical (1685). Both of these works were printed in London, where the best facilities for the printing of mathematical books were to be found. Since Wallis on account of his duties in Oxford was unable to supervise the work it took place instead under the watchful eyes of Collins, who regularly reported back to him on progress. But the Mechanica and the Treatise of Algebra were the monuments to his efforts in these fields over many years rather than contributions to ongoing debates. 10. CONCLUSION In seeking to uphold Neile’s claim to priority over rectification despite his results not having appeared in print near to the time he had made the discovery, Wallis was glaringly inconsistent. When denying the claims of Mersenne and Roberval to their respective discoveries on the cycloid he had argued that by neglecting to publish they had ceded any right they might have had to assert priority. Moreover he suggested that Galileo and Torricelli could be seen as moral victors, precisely because they had published their results as soon as possible. Allowing that similar discoveries could be made independently of each other, Wallis made quite clear that for him claims to scientific achievement had necessarily to be founded on open exchange of information in the public sphere. Against this there were innumerable cases where Wallis was indeed true to the principles of scientific exchange. One could mention the extensive transcriptions which he made of a manuscript of Ulug Beg’s (1394-1449) star charts contained in
76 Wallis to Oldenburg, 23 June/[3 July] 1673, in: Correspondence of Henry Oldenburg [see footnote 45], Vol. X, p. 41: “Quippe ego inter viros doctos summo candore agendum esse semper existimaverim; et siquid hujusmodi erratum fuerit (quod et saepe fit) dissimulandum potius quam imputandum.”
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the Bodleian Library in Oxford for Hevelius77 or the research on manuscripts of the Hellenistic astrologer Vettius Valens (c.120-c.175) which he carried out indirectly for Pierre-Daniel Huet (1630-1721). 78 Similarly he investigated at length the manuscript holdings of the French author Peter de Blois (c.1130-c.1203) in the Bodleian and in college libraries for Henri Justel (1620-93).79 In 1676 Gottfried Wilhelm Leibniz found it perfectly natural to ask, through the offices of Oldenburg, Wallis’s assistance in tracing manuscripts of Apollonius (c.262-c.190) and the Stoic philosopher and astronomer Geminus (c.10-c.60) in Oxford.80 Later on, when the two men corresponded with each other directly, he made similar requests. The cynic might say that these were areas in which no laurels were to be won. This is undoubtedly correct, but nevertheless cooperation of this kind was a very definite part of the ethos of the Republic of Letters. Long before Wallis was commissioned by the Royal Society to sort and publish the papers of his former student friend Jeremiah Horrox (1617?-41) who had died while still at a young age, he had sent his description of the transit of Venus in 1639, the first such description of any kind, to Hevelius in order that he publishes the text of Venus in sole visa (1639/40) as an appendix to his own description of the transit of Mercury, entitled Mercurius in sole visus (1662). And when a disagreement came about between Hevelius and Adrian Auzout (1622-91) over their observations of the comet of 1664/5 it was Wallis who was asked by the Royal Society to help to resolve the dispute. In 1668 he was likewise requested to help resolve a dispute between Huygens and James Gregory (1638-75) over the validity of a number of propositions in the Scottish mathematician’s Vera circuli et hyperbolae quadratura (1667) which had appeared shortly beforehand. When it came to the questions of rectification and quadrature things were quite different. But this is not really surprising. It was here that the major prizes were to be won and it was here that for reasons of national prestige rivalry soon displaced considerations of exchange and cooperation which had earlier characterized scientific communication within Europe. The two episodes we have discussed show that long before the well-known priority dispute between Newtonians and Leibnizians on the discovery of the calculus the climate of intellectual commerce in one of the most decisive areas of mathematics was anything but peaceful. Scarcely no-one can be declared free of blame for the worsening of the climate in this sense. Many of the most brilliant thinkers did not publish their results at all or only with considerable delay. And therefore some ultimately became victims of their own timidity.
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See for example Wallis to Oldenburg, 9/[19] December 1668, in: ibid., Vol. V, p. 232f. See for example Wallis to Oldenburg, 17/[27] February 1672/3, in: ibid., Vol. IX, p. 467. See for example Wallis to Oldenburg, 3/[13] April 1666, in: ibid., Vol. III, p. 79f. Leibniz to Oldenburg, 18/28 November 1676, in: Sämtliche Schriften und Briefe [see footnote 44], III, 5, p. 11.
Michel Blay
NEWTON: CONSTITUTION ET LIMITES DES THEORIES CORPUSCULAIRES DE LA LUMIERE Cher Eberhard, je te dédie ces quelques pages sur Newton pour te dire toute mon amitié et mon admiration pour tes travaux sur Leibniz
La théorie corpusculaire de la lumière ou théorie de l’émission, par opposition aux théories ondulatoires ou des milieux, est associée habituellement aux travaux de Newton et de ses continuateurs au XVIIIe siècle. Il n’en reste pas moins que Newton ne s’est jamais explicitement affirmé, d’entrée de jeu, comme un corpusculariste. Ainsi, dès les premières lignes de l’Opticks publié à Londres en 1704, Newton précise: « Mon dessein n’est pas d’expliquer les propriétés de la lumière par des hypothèses; je me borne à les énoncer, pour les prouver ensuite par le raisonnement appuyé sur l’expérience »1. Dans cette perspective l’Opticks doit donc se présenter comme un ensemble de propositions strictement expérimentales faisant l’économie de toute hypothèse sur la nature intime de la lumière et le mode de production des phénomènes2. En effet, Newton ne formulera explicitement sa préférence pour la théorie de l’émission et la structure corpusculaire de la lumière qu’à l’issue de recherches données comme strictement expérimentales ; ce n’est qu’à la fin de l’Opticks, dans le style hypothétique des Questions, que l’on peut lire: « Les rayons de lumière ne sont-ils pas formés par de très petits corpuscules lancés par les corps lumineux? »3. Il en avait déjà été de même dans les grandes lettres newtoniennes adressées en 1672 et 1675 à la Royal Society.4 La lecture de ces textes semble parfaitement convaincante; mais en est-il bien ainsi? ou plus précisément, loin d’être une simple hypothèse avancée à la fin des recherches expérimentales et de l’obtention des lois, le modèle corpusculaire n’est-il pas au contraire premier lorsque Newton observe les phénomènes, imagine les expériences? Trois exemples centraux tirés de l’œuvre newtonienne (la théorie des phénomènes de la couleur, la théorie des accès et la théorie de l’inflexion/diffraction) 1
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Newton, Isaac : Optique. Traduit de l’anglais par Jean-Paul Marat (1787). Précédé de La lumière aujourd’hui par Françoise Balibar et suivi de Études sur l’optique newtonienne par Michel Blay, Paris 1989, Livre I, partie I. Les références seront par la suite données dans cette édition avec l’abréviation Optique. Une telle interprétation d’orientation positiviste et comtienne est donnée par Léon Bloch dans son livre La philosophie de Newton, Paris 1908. Optique, Question XXX. Cependant, la définition première de l’Optique n’est déjà pas sans ambiguïté: « Je nomme Rayons les moindes parties de la lumière tant celles qui sont successives dans les mêmes lignes, que celles qui sont simultanées dans des lignes différentes ». The Correspondence of Isaac Newton, Cambridge 1959-1977, vol. I.
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vont nous permettre d’illustrer le travail implicite de l’hypothèse corpusculaire dans l’énoncé des propositions présentées comme strictement expérimentales et de souligner les limites du traitement corpusculaire de la lumière dans le cadre d’une approche de style newtonien. 1. UN BIEN ETRANGE EXPERIMENTUM CRUCIS C’est au cours des années 1664-1665 que Newton met en place le cadre général de sa théorie de la lumière et des couleurs. Ses travaux nous sont révélés par différents carnets de notes qu’il rédigea au cours de cette période.5 Il y apparaît que sa réflexion est guidée par un modèle corpusculaire de la lumière qu’il emprunte pour une large part à Robert Boyle. C’est ce modèle corpusculaire initial que Newton s’efforce par la suite de dissimuler afin de créer l’illusion que ses conceptions s’enracinent dans la seule expérience. La publication de ses travaux a lieu en 1672. Newton, qui vient d’être nommé fellow de la Royal Society pour son télescope à réflexion rédige sa célèbre lettre à Henry Oldenburg alors secrétaire de la Royal Society. Cette lettre, présentée aux membres de cette assemblée à la séance du 8 février 1672 puis publiée dans le numéro 80 du 19 février des Philosophical Transactions (3075-3087), constitue le véritable texte fondateur de la théorie newtonienne de la lumière et des couleurs. Il restera jusqu’en 1704, date de publication de l’Opticks, le seul exposé complet de sa pensée. Sans entrer dans le détail de cette lettre, qui donne une refonte dans un style d’inspiration très baconien, requis par les membres de la Royal Society, des travaux antérieurs, Newton y formule sa théorie, sous sa forme définitive en s’appuyant sur son Experimentum crucis. Il va sans dire que le style de cette lettre
Fig. 1 : Schéma donné par Newton dans une lettre adressée à Henry Oldenburg en date du 10 juin 1672 5
Pour une analyse détaillée de l’ensemble des questions soulevées dans ce paragraphe on peut consulter Michel Blay, La conceptualisation newtonienne des phénomènes de la couleur, Paris 1983 et Lumières sur les couleurs, Paris 2001.
Newton: constitution et limites des théories corpusculaires de la lumière
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associé à la mise en place de l’Experimentum crucis aidera fortement à créer l’image d’un Newton pour lequel ses acquis semblent résulter de la saisie d’un pur fait d’expérience comme s’il lisait directement les secrets de la nature. Dans cet Experimentum crucis Newton utilise deux prismes et deux planches percées. Le premier prisme est placé à proximité du trou pratiqué dans le volet. Les rayons émergeant de ce prisme, produisant le spectre, passent par un petit trou réalisé dans l’une des deux planches, placée juste derrière le prisme. A 12 pieds de cette dernière, Newton fixe la deuxième planche percée également d’un trou et derrière laquelle il installe le deuxième prisme. Ce dernier peut ainsi recevoir les rayons émergeant du premier prisme. Par la rotation de ce dernier autour de son axe, tout en maintenant fixes les deux planches et le deuxième prisme, les rayons de telle ou telle espèce émergeant du premier prisme sont amenés en face du premier trou. Cela étant, seul le faisceau joignant les deux trous dans les deux planches et dont la direction, par conséquent, est constante, tombe sur le deuxième prisme (chaque faisceau parvient ainsi sous la même incidence au deuxième prisme). De cette façon, Newton peut observer sur le mur les diverses taches colorées correspondant aux divers rayons réfractés par le deuxième prisme, et constate alors que les plus réfractés (ou les moins réfractés) par le premier prisme sont encore ceux qui le sont le plus (ou le moins) par le deuxième prisme. Là-dessus, Newton conclut que la lumière blanche est constitué de rayons différemment réfrangibles. Dans la deuxième partie de sa lettre de 1672, Newton remarque que l’Experimentum crucis montre que les rayons traversant le deuxième prisme conservent tout aussi bien leur couleur que leur degré de réfrangibilité. A chaque couleur correspond un certain degré de réfrangibilité, de telle sorte qu’entre la réfrangibilité et la couleur s’instaure une relation biunivoque. Par conséquent, corrélativement à leurs différences dans leurs degrés de réfrangibilité, les rayons diffèrent « dans leur disposition à présenter telle ou telle couleur particulière ». Ainsi Newton peut conclure que « les couleurs ne sont pas des qualifications de la lumière dérivées de réfractions ou de réflexions sur les corps naturels (comme on le croit en général), mais des propriétés originelles et innées différentes suivant les rayons » de la même façon que le sont leurs degrés de réfrangibilité. La thèse de l’hétérogénéité de la lumière blanche peut alors prendre sa forme définitive, et l’interprétation de l’Experimentum crucis acquiert toute sa force: puisqu’à chaque degré de réfrangibilité correspond une couleur déterminée, par conséquent, les rayons susceptibles d’engendrer telle ou telle sensation de couleur et préalablement mélangés dans la lumière blanche sans perdre leur spécificité, sont, par le prisme, simplement « séparés et dispersés suivant leurs inégales réfractions sous une forme oblongue dans une succession ordonnée allant du rouge vif le moins réfracté au violet le plus réfracté ». Cependant, à l’issue de ce travail expérimental se trouve établi, non pas comme le laisse entendre Newton l’hétérogénéité de la lumière blanche mais le fait de la multiplicité des rayons différemment réfrangibles tel qu’à chaque degré de réfrangibilité corresponde une couleur donnée ; ou de façon plus concise, le fait de la multiplicité des lumières homogènes ou monochromatiques. En effet si la démonstration newtonienne associée à la mise en place de l’Experimentum crucis
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peut paraître concluante, elle n’est pourtant, en aucun cas réellement décisive, car elle repose sur l’idée que le résultat établi sur chaque rayon pris séparément est encore valable lorsque tous les rayons se trouvent mélangés. Pourquoi la lumière blanche ne serait-elle pas modifiée lors de la première réfraction de telle sorte qu’elle acquiert de nouvelles propriétés inaltérables aux réfractions suivantes? ou bien de façon plus précise: pourquoi la première réfraction n’engendrerait-elle pas la multiplicité de lumières monochromatiques à partir d’une lumière blanche homogène? Il est clair qu’une telle interrogation est essentiellement guidée par des conceptions homogènes de la lumière blanche qui, par conséquent, ne semblent pas dans cette perspective a priori incompatibles avec les résultats de l’Experimentum crucis. D’ailleurs les premières réactions anti-newtoniennes des contemporains viendront-elles principalement des tenants de l’optique des milieux qui perçurent facilement l’insuffisance de la démonstration de Newton; mais c’est seulement au XIXe siècle que Georges Gouy, aidé d’un outillage mathématique perfectionné, put conduire jusqu’à sa conclusion la critique de l’Experimentum crucis en répondant clairement aux questions posées ci-dessus. En revanche, l’interprétation newtonienne de l’Experimentum crucis se comprend parfaitement si l’on se place d’emblée dans le cadre d’une approche corpusculaire de la lumière où le prisme n’a pour rôle que de séparer les divers corpuscules constituant la lumière incidente parvenant sur sa surface. Ainsi l’Experimentum crucis n’est un Experimentum crucis qu’au prix de l’introduction d’une hypothèse supplémentaire, non explicitée clairement par Newton, relative à la structure corpusculaire de la lumière. Une autre interprétation est possible en terme de théorie ondulatoire de la lumière. Cette dernière a été formulée par Georges Gouy en 1886 dans un Mémoire intitulé « Sur le mouvement lumineux », publié dans le Journal de physique théorique (p. 354-362) puis explicité avec soin par R.W. Wood dans son Optique physique de 1913 ainsi que par P. Fleury et J.P. Mathieu en 1970 dans le Tome V de leur Physique générale et expérimentale. Cette discussion, associée finalement à la conception physique que Newton se fait de la lumière blanche nous conduit à revenir sur son corpuscularisme. Ce dernier, bien que caché, constitue la part active, sous-jacente à la mise en place de sa théorie de la lumière et des couleurs. A la même époque deux phénomènes qui joueront un rôle essentiel dans l’évolution des théories sont décrits l’un par Francesco-Maria Grimaldi dans son ouvrage intitulé Physico-mathesis de lumine, coloribus et Iride Tractatus (Bologne, 1665): la diffraction; l’autre par Robert Boyle dans ses Experiments and considerations touching colours (Londres, 1664) et par Robert Hooke dans sa Micrographia (Londres, 1664): les couleurs à la surface des lames minces. Or ces deux phénomènes présentent, à la simple observation, des aspects périodiques, des régularités dans l’apparition successive des couleurs. Comment l’optique corpusculariste newtonienne en rendra-t-elle compte alors que ces phénomènes constituent pour nous aujourd’hui, et depuis le début du XIXe siècle, des phénomènes liés essentiellement aux propriétés ondulatoires de la lumière?
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2. DES INTERFERENCES SANS INTERFERENCES Parmi les phénomènes les plus remarquables observés à la surface des lames minces il y a les fameux anneaux concentriques dits de Newton, mais décrits antérieurement par Robert Hooke et par Christiaan Huygens. Ces anneaux apparaissent en particulier lorsqu’une lentille plan-convexe de grand rayon est posée sur une surface de verre plane. Newton, après avoir réalisé des expériences en lumière blanche et en lumière monochromatique parvient au résultat fondamental relatif à ce phénomène à savoir que les rayons des anneaux sombres varient comme les racines carrées des nombres entiers successifs. Il doit ensuite fournir une explication physique de la genèse des anneaux et d’une façon plus générale du phénomène des lames minces. C’est l’objet de la théorie newtonienne des accès. Bien qu’il présente dans l’Opticks sa théorie comme une pure contribution positive (« a bare discovery »), déduite directement de l’expérience et constituant un simple compte rendu observationnel,6 cette théorie est modelée par des considérations sous-jacentes corpusculariste comme cela apparaîtra clairement à l’occasion de l’analyse newtonienne de la réflexion partielle. Pour mettre en place sa théorie, Newton commence par rechercher de quelles grandeurs physiques sont fonction les alternances de lumières et d’obscurité dans les phénomènes d’anneaux. A l’issue de nombreuses expériences, il apparaît que les deux surfaces de la lame mince agissent conjointement dans la genèse des anneaux, et donc qu’un quelque chose lié à l’épaisseur (une information) doit se propager d’une surface à l’autre. Mais l’expérience montre que les modifications apportées par le simple accroissement de l’épaisseur présentent une périodicité bien particulière: si pour une certaine épaisseur un anneau sombre est vu par réflexion (par exemple), nous sommes sûrs que d’autres anneaux sombres apparaîtront pour d’autres épaisseurs différentes entre elles de quantité constante; il en sera de même pour les maxima de luminosité ou pour les anneaux colorés. Quels sont donc les rôles que Newton assigne aux deux surfaces dans la genèse de ce phénomène périodique? «Tout rayon de lumière acquiert, en passant à travers une surface réfringente quelconque, une certaine constitution ou disposition transitoire qui dans le progrès du rayon revient à intervalles égaux, et fait que le rayon, à chaque retour de cette disposition, est transmis aisément à travers la surface réfringente qui vient immédiatement après, et qu’à chaque intermission de cet état, il est aisément réfléchi par cette surface»7. Ainsi, la périodicité dans l’aspect du phénomène se retrouve dans le mouvement lumineux qui traverse la lame; de telle sorte que si nous considérons qu’un rayon a été transmis par la première surface réfringente, il sera toujours disposé à intervalles égaux à être facilement transmis ou facilement réfléchi par une deuxième surface. Newton appelle les retours à l’état dans lequel le rayon est disposé à être facilement réfléchi: ses Accès («fits» qui renvoie en anglais à l’époque à un 6 7
Optique, Livre second, Partie III, Proposition 12. Ibid.
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contexte médical relatif aux maladies présentant des aspects périodiques) de facile réflexion; et les retours à l’état dans lequel il est disposé à être facilement transmis: ses Accès de facile transmission. Il définit également « l’intervalle des Accès », c’est-à-dire la distance parcourue par le rayon de couleur donnée entre deux Accès successifs identiques. Nous n’avons pas tenu compte jusqu’à maintenant, dans cet exposé de la théorie newtonienne, de la réflexion partielle se produisant sur la première surface et qui joue un rôle si important aujourd’hui dans la théorie des lames minces. En fait, Newton néglige totalement ce phénomène dans l’explication de la genèse des anneaux. Il ne peut malgré tout l’ignorer complètement, ce phénomène étant inhérent à toute réfraction. Comment Newton interprète-t-il dans le contexte de sa théorie le phénomène de la réflexion partielle ? Ou comment Newton interprète-til le fait que les rayons soient ou bien transmis ou bien réfléchis en rencontrant la première surface ? D’après Newton, les Accès appartiennent probablement aux divers rayons dès leur origine de telle sorte qu’en rencontrant une surface réfringente ceux qui sont dans un Accès de facile réflexion sont réfléchis (réflexion partielle), et ceux qui sont dans un Accès de facile transmission, transmis de façon à donner ensuite naissance aux anneaux. Par conséquent, Newton, en ne considérant dans le développement de sa théorie des lames minces que les rayons transmis par la première surface, parvient à expliquer le phénomène en négligeant totalement les rayons réfléchis8. Quelle est alors la perspective privilégiée sous-jacente à la mise en place de cette théorie? Si nous revenons sur l’interprétation newtonienne de la réflexion partielle, il semble que, pour ce dernier, la surface supérieure ait pour rôle, non pas d’engendrer l’Accès de facile transmission, mais de sélectionner parmi l’ensemble des rayons l’atteignant ceux qui sont dans un état de facile transmission. De ce point de vue, les surfaces ne jouent qu’un rôle d’analyseur (au même titre que le prisme vis-à-vis de la lumière blanche), chaque rayon possédant originellement tel ou tel état. Nous retrouvons dans cette saisie du phénomène le mode caractéristique d’appréhension de l’atomiste Newton. Si les expériences en particulier des anneaux ont suggéré à Newton une certaine périodicité dans le mouvement lumineux, celle-ci a été interprétée par Newton dans la perspective privilégiée d’une conception corpusculaire de la lumière, d’ailleurs probablement renforcée par les premiers et brillants résultats avec le prisme. C’est donc une fois de plus comme dans le cas de l’Experimentum crucis, l’élément corpusculaire qui préside à la formulation de l’interprétation et qui ordonne la construction théorique. Comme ce sera encore le cas pendant tout le XVIIIe siècle. 3. INFLEXION/DIFFRACTION; LE CHOIX CORPUSCULARISTE C’est sous le terme d’inflexion de la lumière que Newton regroupe l’ensemble des phénomènes relevant aujourd’hui, comme pour Grimaldi, de la diffraction. Il faut 8
Ibid., Proposition 13.
Newton: constitution et limites des théories corpusculaires de la lumière
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attendre le texte de 1675 « An Hypothesis explaining the properties of Light discoursed of in my severall papers » pour trouver les premières analyses newtoniennes du phénomène de la diffraction. Il y rappelle, en outre, brièvement les observations de Robert Hooke réalisées à l’aide d’une lame de couteau et légèrement postérieures à la Micrographia. Mais contrairement à Grimaldi et à Hooke, Newton n’introduit pas dans ce contexte expérimental l’idée d’un type spécifique de propagation de la lumière. Pour lui, ces phénomènes résultent d’une réfraction se produisant dans la partie extrême de l’obstacle soit, en 1675, au contact d’un milieu éthéré de densité variable entourant et pénétrant l’objet soit, en 1687 dans les Philosophiae Naturalis Principia Mathematica, en raison de l’action de forces s’exerçant entre le corps frôlé et le rayon lumineux assimilé à un corpuscule. C’est au cours des années 1690 que Newton développe et enrichit considérablement ses études sur cette question. Dans l’Opticks, la nouveauté de ses recherches réside principalement dans l’introduction d’expériences utilisant un écran étroit (cheveux, fils, épingles...). Il étudie et mesure également avec soin les franges données soit par un écran à bord rectiligne (lame de couteau) soit par une fente de largeur réglable constituée par deux couteaux mobiles. Cependant, l’absence dans le Livre III de l’Opticks de la description, présente chez Grimaldi, des phénomènes de franges à l’intérieur de l’ombre des objets étroits, phénomènes qui vont jouer un rôle décisif dans la genèse et l’adoption des théories ondulatoires au XIXe siècle, est significative. Non pas tant parce que de telles observations auraient pu gêner la conception générale corpusculariste de Newton et le conduire à les « oublier », mais bien plutôt parce que Newton semble vraiment ne pas avoir observé les dites franges. De telles observations n’avaient effectivement aucune raison de le troubler. Newton était tout à fait en mesure de les expliquer tout en restant à l’intérieur de l’optique corpusculariste. Il pouvait très bien, par exemple, supposer que, si les franges extérieures sont engendrées par une force répulsive, les intérieures le sont par une force attractive. Or, Newton ne semble pas, comme en porte témoignage des passages des Principia et de l’Opticks a priori gêné par l’idée que d’un même objet puissent émaner, par exemple suivant la distance, des forces attractives et répulsives9. En réalité, les études sur le phénomène de la diffraction étaient trop incomplètes dans le contexte expérimental de la fin du XVIIe siècle et du XVIIIe siècle, soit pour remettre en cause la théorie corpusculaire qui expliquait si bien les aspects essentiels des phénomènes lumineux (propagation rectiligne, netteté des ombres géométriques, réflexion dans les miroirs ...), soit pour favoriser efficacement le développement des théories ondulatoires, en dehors des insuffisance des mathématiques pour leur traitement, dans le style de celles de Huygens ou de Hooke. D’autant que ces dernières théories, suivant Newton, ne donnaient pas, pour les principaux phénomènes, des résultats comparables à ceux des théories corpusculaires.
9
Philosophiae Naturalis Principia Mathematica, Londres 1687, Livre I, Section XIV, Scholie de la Proposition XCVI et Optique, Question XXXI.
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On peut donc supposer que Newton, n’ayant aucune raison de ne pas signaler la présence de franges à l’intérieur de l’ombre, ne les a tout simplement pas vues. D’ailleurs, Roger H. Stuewer, refaisant en 1970 dans des conditions très voisines les expériences de Newton, en déduit que selon toute probabilité Newton n’a pas observé le phénomène (« A critical Analysis of Newton’s works on diffraction », Isis 1970, p. 188-205). Il nous semble donc que si Newton n’a effectivement pas observé de franges à l’intérieur de l’ombre, c’est surtout parce qu’il ne s’est pas efforcé, comme le fera par exemple en 1723 Giacomo Filippo Maraldi (1665-1729), de vraiment diversifier ses expériences (Histoire et Mémoires de l’Académie Royale des Sciences, année 1723, édition 1725, partie Mémoires, p. 123-124). Et, si Newton n’a pas effectué ce travail expérimental, c’est peut-être comme il le dit, parce qu’il n’en a pas eu le temps (Opticks, livre III), mais c’est peut-être aussi parce qu’il n’en éprouvait pas vraiment la nécessité. En aucun cas, la théorie corpusculaire de la lumière ne prédit de franges à l’intérieur de l’ombre, aussi Newton ne fut-il pas surpris de ne pas en voir et put négliger les observations précédentes de Grimaldi en considérant par exemple tout simplement la similitude existant entre les phénomènes de franges extérieures observées avec une lame de couteau et celles observées sur les bords d’un écran étroit. Contrairement à ce qu’elle deviendra au XIXe siècle avec la théorie ondulatoire de Young et de Fresnel, la zone d’ombre n’est pas pour Newton et les newtoniens un lieu privilégié d’observation. L’adhésion de Newton au modèle corpusculaire de la lumière, qui avait déjà ordonné sa théorie des Accès, a, en le conduisant à assimiler la diffraction à une réfraction particulière, ordonné sa théorie de l’inflexion. Mais elle a peut-être également ordonné ici son approche expérimentale en ne l’incitant pas, comme ses successeurs, à scruter l’ombre, à vouloir la faire parler. C’est d’ailleurs ce que semble penser Augustin Fresnel lorsqu’il écrit: « on serait tenté de croire que ses préventions théoriques (celles de Newton) on pu contribuer à lui fermer les yeux sur ces phénomènes importants » (Œuvres complètes de Augustin Fresnel, II, p. 8). 4. EPILOGUE Un dernier phénomène mérite, en guise de conclusion, de retenir notre attention : la double réfringence du spath d’Islande découverte par Erasme Bartholin et décrite dans un petit mémoire intitulé Experimenta crystalli Islandici disdiaclastici publié à Copenhague en 1669. Bien que Newton ne traite pas de ce phénomène dans les grandes parties de son Opticks, il y consacre cependant, dans le troisième livre, les Questions 25 et 26. Il conclut: « Chaque rayon de lumière a donc deux côtés opposés doués d’une propriété essentielle, d’où dépend la réfraction extraordinaire et deux côtés qui n’ont pas cette propriété [...] ». Ainsi, de la réflexion partielle à la double réfraction en passant par la réfrangibilité, le rayon lumineux acquiert progressivement de nouvelles propriétés et devient bien complexe. C’est cette étrange complexité qui imposera la refonte du concept de rayon et la construction d’une théorie ondulatoire de la lumière au XIXe siècle.
Herbert Breger
NATURAL NUMBERS AND INFINITE CARDINAL NUMBERS PARADIGM CHANGE IN MATHEMATICS Allow me to make a personal preliminary remark on how this article arose. Some time ago I got caught up in a dispute with a colleague, of whom I think very highly, that was conducted via e-mail and lasted two to three months. I believed that I was only stating something rather obvious and not at all original, but I was unable to convince my discussion partner. Although it was a question of a straightforward mathematical – or rather a mathematico-historical – issue, the opinions were in very sharp contrast to one another; what the one considered correct was declared by the other without hesitation to be wrong. Clearly on both sides farreaching assumptions were at work here that were not being explicitly expressed. After I had recovered from my state of amazement, I discovered the matter to be worth investigating in greater depth. As is well known, in his Discorsi Galilei dealt with the paradox that every natural number is found to correspond on a one-to-one basis to its square number, but that there are evidently “fewer” square numbers than there are natural numbers.1 Galilei solves the paradox by pointing out that the terms larger and smaller than and equal to cannot be applied to the infinite. Descartes came to the conclusion that it is not worth wearing oneself out by arguing about the infinite.2 Leibniz was of the opinion that an infinite multitude should not be seen as something finished and thus not as a whole (totum).3 As a result, this is almost the same as that of Galilei, but it also supplies an explanation for the paradox – one that follows from the concept of the infinite. It follows that there can be neither an infinite number nor an infinite line nor any other infinite magnitude.4 In the case of every natural number and every line, however long, there is always the possibility of progressing.5 Referring to the terminology of the scholastics, Leibniz explains that there is a syncategorematic infinite, but no categorematic infinite,6 i.e.: the infinite is nothing that exists on its own, it is only something that can be 1 2 3
4 5 6
Discorsi, Leiden 1638 (reprint Brussels 1966), pp. 32-34; Galilei: Opere, Edizione Nazionale, vol. 8, Firenze 1898, pp. 78-80. Descartes: Principia philosophiae, Amsterdam 1644, pars prima, § 26. A VI, 4, p. 2595, footnote; A VI, 6, p. 159; GM III, p. 575; GP II, p. 304; GP VI, p. 592. – The following abbreviations are used: A = Leibniz: Sämtliche Schriften und Briefe, ed.: Göttinger und Berlin-Brandenburgische Akademie, Leipzig 1923 seq..; GM = Leibniz: Mathematische Schriften, ed.: Gerhardt, 7 vols.; GP = Leibniz: Philosophische Schriften, ed.: Gerhardt, 7 vols. A VI, 6, p. 157. Leibniz continues there: The true infinite in a strict sense exists only in the absolute; it can only be attributed to God; cf. also GP II, p. 305. A VI, 6, p. 158; GP II, pp. 304-305. A VI, 6, p. 157; GM IV, p. 93.
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conveyed together with something else. It is not an actual infinite in the sense of modern mathematics; it determines a number or magnitude as one that can be increased without end. Admittedly as a young man Leibniz had also among other things considered permitting infinite numbers.7 In earlier writings he also at times considered equating the infinite number with zero. But one must be aware of the meaning of the Latin word nullum (nothing) for zero: if the young Leibniz equates the infinite number with zero, then this expressly means that there is no infinite number, that it is impossible.8 We can at least ascertain that Leibniz knew the Galilean argument (the existence of a one-to-one correspondence between natural numbers and square numbers) from 1672 onwards; after 1676 I know of no further writing in which Leibniz deviates from, or expresses doubts about, his interpretation that an infinite multitude is not a whole. Leibniz was explicitly concerned with Galilei’s paradox at an early date. His excerpt from the Discorsi already relates to it.9 In the notes written at about the same time, De minimo et maximo, in the autumn and winter of 1672/1673, Leibniz argues that an infinite number of natural numbers can be no unum totum.10 He even supplies proof for this hypothesis (and this proof is going to be at the centre of this article): if an infinite number were a totum, then this totum would equal one of its proper parts. “Quod est absurdum.” The absurdity is evident for Leibniz and needs no further explanation. But he certainly does explain why following the assumption already named the whole would be equal to a proper part. The number of the square numbers is truly smaller than the number of all natural numbers. But there is a one-to-one correspondence between natural numbers and square numbers; so there are as many natural numbers as there are square numbers. Hence a proper part is the same as the whole, and this is absurd. Also written at about the same time is a letter from Leibniz to Jean Gallois.11 Leibniz discusses Galilei’s argument and declares it impossible that there be as many natural numbers as square numbers. In an abbreviated form Leibniz repeats the proof in a piece of writing from 1675.12 In 1676 Leibniz returns to the matter, expressly referring to Galilei.13 Again the one-to-one correspondence between natural numbers and square numbers is used and then he concludes that the whole equals a proper part, and here too Leibniz closes: “Quod est absurdum.” Likewise, Leibniz continues, there is no number of all algebraic curves. But what is the position with regard to the number of points on a given geometric line? Is their multitude not determined right from the start and fixed? Leibniz’s answer here too is to point to an infinity that is only potential: there are no points on the line before the mathematician explicitly 7 8 9 10 11 12 13
A VI, 3, pp. 495-504. A II, 1, (2nd ed.), p. 349, p. 352 = A II, 1 (1st ed.), p. 226 = A III, 1, pp. 10-11, p. 15. A VI, 3, p. 168. A VI, 3, p. 98. A II, 1 (1st ed.), pp. 226-227, (2nd ed.), pp. 348-349, p. 352; A III, 1, pp. 10-13. A VI, 3, p. 463. A VI, 3, pp. 550-553.
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determines the points on the line and undertakes to divide it up. Leibniz’s theory of the continuum is in this respect in complete agreement with the Aristotelian theory of the continuum.14 In 1679 Leibniz supplies the same proof (but with even numbers rather than square numbers) in a letter to Malebranche.15 And Leibniz is clearly referring to the frequently repeated proof, when he remarks in 1698 in a letter to Johann Bernoulli16 that he had proven a long time ago that an infinite multitude cannot form a whole. Leibniz’s arguing with infinitely small magnitudes (and at times with reciprocals of infinitely small magnitudes) has occasionally given the impression that Leibniz accepts infinitely large numbers or infinite totalities. But this is a misunderstanding. Leibniz sees the infinitely small magnitudes (and thus also their reciprocals) as a fiction and by no means as something real or something extant in a metaphysically rigorous sense; in addition the infinitely small magnitudes and their reciprocals are something processual or potential: there is no end to them; there is simply always more than one can state.17 In his metaphysics Leibniz certainly accepts an actual infinite, but here too one must take a closer look. If Leibniz talks of the actual infinite, then he means that there are more objects than can be expressed by a number. He thus means a potential infinity so-to-speak of extant objects, not the existence of a term that would denote an actual infinite multitude as a whole.18 The first person to criticise Leibniz’s proof was Georg Cantor, who in a treatise in 1883 attempted to grapple with the philosophical reasons for not introducing infinite numbers.19 In this connection Cantor quoted a number of opinions expressed by Leibniz. 20 Cantor’s objection to Locke, Descartes, Spinoza and Leibniz is by and large the idea that infinite numbers simply have different characteristics to those of common numbers. However, the reasoning or proofs used by these authors to refute the existence of infinite numbers tacitly assume that infinite numbers were numbers in the same sense as finite numbers were.21 In support of his opinion Cantor refers to the introduction of complex numbers: as distinct from the common real numbers, complex numbers are not either positive
14 Breger, Herbert: Le continu chez Leibniz, in: Salanskis, Jean-Michel and Hourya Sinaceur (Eds.): Le Labyrinthe du Continu, Paris, Berlin etc. 1992, pp. 76-84. 15 A II, 1, (1st ed.), p. 476, (2nd ed.), p. 723. 16 GM III, p. 535 (appearing shortly in A III, 7). 17 GM IV, p. 92, p. 218; A VI, 6, p. 158, lines 25-27; GP VI, pp. 592-593. 18 GP II, p. 304; GP I, p. 416; A VI, 6, p. 157. 19 Cantor, Georg: Gesammelte Abhandlungen, ed.: E. Zermelo, Berlin 1932, reprint Berlin, Heidelberg, New York 1980, p. 175, pp. 370-371. For the sake of historical clarity I am adopting Cantor’s terminology here, who also speaks of numbers where we would talk of cardinal numbers. 20 In today’s standard editions they are at: A VI, 6, p. 7, p. 157, GP II, p. 305, GP III, p. 592; Leibniz: Nouvelles Lettres et Opuscules, ed.: Foucher de Careil, Paris 1857 (reprint Hildesheim, New York 1971, pp. 327-328; GM IV, p. 218; GM V, p. 307, p. 322, p. 389; GM VII, p. 273. 21 Cantor, ibid., p. 178, pp. 371-372.
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or negative (or zero). That complex numbers have different characteristics than the real numbers has not hindered complex numbers from being introduced. Cantor is certainly correct. What he admittedly does not point out is the fact that here a quasi-philosophical decision is required, namely the decision to denote objects that have other characteristics than the hitherto accepted numbers also as numbers. Evidently this is a question of definitions, and whether one regards such a definition as plausible and unconstrained or as contrived and inappropriate depends (inter alia) on general philosophical views on mathematics and the nature of mathematical objects. Locke, Descartes, Spinoza and Leibniz would have undoubtedly considered extending the concept of numbers bizarre, both in the case of complex numbers and of infinite numbers. One can certainly accuse these philosophers, of which only Leibniz interests me here, of holding views on the ontology of mathematical objects that would no longer be acceptable today, but one cannot call their rejection of infinite and complex numbers a mathematical mistake in the same sense that the statement “two times two is five” is a mathematical mistake in the field of real numbers with the normal definition of multiplication. Cantor was not however content with ascertaining that there were different philosophical views on the ontology of numbers (although the example of complex numbers he himself quoted might well have suggested this); he declared the view he is criticising, held by the four philosophers, to be contradictory and “mistaken”.22 This is understandable; he was fighting for the recognition of his own theory; one can hardly expect of him the impartiality one can demand of a historian of mathematics. Cantor believed that it was a question of right or wrong – just as one initially believed that either only the Euclidean or the non-Euclidean geometry was right. Concerning his explanation of Leibniz’s teachings in particular, Cantor – if I understand him rightly – somewhat modified his view a little later. In 1880 he explains that Leibniz had declared his rejection of infinite numbers, but in several places, “contradicting himself so-to-speak”, he had pleaded for an actual infinite.23 But in 1885 Cantor did then understand that Leibniz rejected a mathematical actual infinite and infinite numbers, but that he accepted the existence of infinitely many objects (i.e. more objects than can be stated) in nature and in the doctrine of the monads.24 He therefore no longer accuses Leibniz of being contradictory in 1885. – Incidentally, as far as infinitely small magnitudes are concerned, Cantor certainly did understand that Leibniz had not conceived of them as fixed actual infinite magnitudes.25 Bertrand Russell also discusses Leibniz’s proof for refuting infinite numbers: “Leibniz denied infinite number, and supported his denial by very solid arguments.”26 22 23 24 25 26
Ibid., p. 178, p. 371 („fehlerhaft“). Ibid., p. 179 („gewissermaßen im Widerspruch mit sich selbst“). Ibid., p. 373. Ibid., p. 156, p. 165, p. 172, p. 180, p. 373. Russell, Bertrand: The Philosophy of Leibniz, London 1992 (1st ed. 1900), p. 109.
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Among the places quoted by Russell27 there is one in which Leibniz argues for the existence of a one-to-one correspondence between the natural numbers and the even numbers. José Bernardete has declared Leibniz’s refutation of the existence of infinite numbers to be false.28 According to Benardete in our native language there are at least three different criteria for comparing multitudes. First criterion: if A is a proper subset of B, then one says that B has more elements than A. Second criterion: if there is bijective mapping between A and B, then one says that A and B have an equal number of elements. Third criterion: if all elements of A can be shown to correspond bijectively to a proper subset of B, then one says that B has more elements than A. Leibniz omitted distinguishing between these three meanings (and possibly further ones), thus rendering his refutation of the existence of infinite numbers invalid. One does not really understand why the terminology of set theory on the one hand and that of colloquial speech on the other should be relevant for determining the correctness of a 17th century mathematical proof. But it is not worth looking at this more closely since Benardete’s objection has recently been distinctly improved. The objection’s improved version reads: in his proof Leibniz uses two different notions of “being of the same number”, thus making his refutation false. In the first place Leibniz uses a notion with the definition “two multitudes A and B, of which A is part of B, are then, and only then, of the same number, if A is no proper part of B”. Secondly, Leibniz also uses a notion specified as follows: “two multitudes A and B, of which A is part of B, are then and only then of the same number, if bijective mapping exists between them”. Now a mere difference in phrasing is of course irrelevant; it is a question of whether the two notions are equivalent. They are not equivalent, the objection continues, as one immediately recognises, if one lets A be the square numbers of natural numbers and B be the natural numbers. Leibniz is thus using in his refutation, the objection concludes, two notions that are not equivalent, but reasons as if they were equivalent; therefore Leibniz’s refutation is wrong. That is a nice argument to be sure. But is it also correct? It is striking that one already needs the existence (free of contradictions) of an infinite totality, which is precisely what is supposed to be proved or refuted, to show the non-equivalence of the two notions of “having the same number”. To discuss whether this is permissible or not, we need first to consider something else. If one wants to talk of “right” and “wrong”, one must first clearly decide which theory is under discussion, i.e., which assumptions should apply. Naturally Leibniz’s refutation in Cantorean mathematics, or rather in the Zermelo-Fraenkel mathematics, is plainly wrong. One only begins to encounter interesting problems worthy of discussion if one poses the question within Leibnizean mathematics, i.e. under the preconditions of mathematics around 1680. Admittedly this presents us 27 GP VI, p. 629; GP I, p. 338 (= A II, 1, (1st ed.), p. 476, (2nd ed.), p. 723); GP II, pp. 304-305; GP V, p. 144 (= A VI, 6, p. 157). 28 Benardete, José A.: Infinity. An Essay in Metaphysics, Oxford 1964, p. 47.
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with the problem that the conditions of mathematics around 1680 were not determined axiomatically; not only the natural numbers, even for example the continuum is given intuitively; the tacit assumptions made in mathematics around 1680 must therefore be reconstructed interpretatively by a historian of mathematics. But this difficulty is not insuperable. However one does it, one must renounce the assumption, often still made today in an intuitive and sometimes quite unreflected manner, that there is one mathematics – an assumption that should in fact have gone out of date with the acceptance of non-Euclidean geometries. As long as one understands mathematics around 1680 only as an imperfect early form of the mathematics of 1900 (it is this also without doubt), one will intuitively incline to the observation: “but there are infinite cardinal numbers!” and forget to add that one finds them in a certain historical theory (namely in present-day mathematics). Incidentally, modern mathematics is a collection of a whole variety of theories, which are partly interconnected, but in which on occasion contradictory assumptions are also made. So here too we are led into the area of philosophical thinking about mathematical progress. Let us by way of illustration take a look at the theory of real numbers – still in the sense of a preliminary consideration. Within this theory and under the assumptions of this theory alone it is easy to prove that the square of a number can never be negative. One can prove this for example with the help of case distinction: every number in this theory is positive, negative or zero; in all three cases the square is positive or zero. Now one could with reference to the existence of complex numbers arrive at the idea of declaring the proof to be false. One could explain that case distinction is impermissible, because the complex numbers are not necessarily positive, negative or zero. But that would be a fallacy: within the theory there are no complex numbers; the proof of their impossibility within the theory may not produce anything unexpected, but it is at least correct. Now let us return to the two notions of “being of the same number”. Evidently both notions are equivalent for finite multitudes. That can be shown in a trivial manner using complete induction. To be more precise: the two expressions are equivalent if and only if they are applied to finite multitudes. In other words: one can demonstrate the non-equivalence of the two notions if and only if one assumes the existence of infinite multitudes that as objects free of contradiction constitute a whole and are thus sets (as happens in the Zermelo-Fraenkel theory) or if one has already demonstrated this in some other way. As long as this has not happened, the objection that Leibniz is using two non-equivalent notions is false.29 The fact that one finds objects outside the theory examined here for which both notions are not equivalent is of no importance within the theory. Logicians tend to demand demonstrations without gaps. Even mathematicians demand proofs without gaps, but by this they mean something else; they know that mathematics is only possible, if things that are manifest and trivial are 29 Much the same is valid for Bernardete’s objection. Leibniz had no reason to distinguish between three criteria, the equivalence of which in his mathematics (using complete induction) was easy to recognise.
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omitted in the proofs. Leibniz did not comment on the two different phrases for the same notion, because in his mathematics the matter was trivial. It was not until mathematical progress had under the changed conditions (and thus in another theory) made something previously regarded as trivial into something important. The equivalence of the two notions has become part of the self-evident basic stocks of mathematics, not only for Leibniz, but also right up to the second half of the 19th century. It did not belong to the basic stocks because by chance no-one had thought of doubting it, but because every doubt about it was condemned to failure, as long as the mathematicians stuck to the basic ontological suppositions that were tied up with mathematics. From the perspective of these basic suppositions it would have been absurd, absolutely unthinkable, to reject the equivalence, because it simply expressed something that was perfectly evident. It was only in connection with the change in the basic ontological suppositions of mathematics in the second half of the 19th century that it became possible to think a difference between the intuitive equality of two totalities and the existence of a one-to-one correspondence. The example mentioned above of the existence or non-existence of complex numbers has already shown that there have quite often been such situations in the history of mathematics. By means of a thought experiment we can produce an even more distinctive analogy. Let us imagine a mathematician RA who is engaged in real analysis and who has not defined his theory in axiomatic form; the mathematician RA might thus be comparable with Karl Weierstrass or one of his contemporaries. Let us further imagine a mathematician NSA who is engaged in non-standard analysis.30 For the sake of illustration let us assume that NSA does not know real analysis or only considers it an inadequate precursor theory. This assumption cannot at least be excluded logically; some of the supporters of nonstandard analysis did in fact hope non-standard analysis would supersede standard analysis in the course of time. Let us also imagine that mathematician NSA hears of a line of reasoning used by the mathematician RA in which RA ascertains that the absolute value of the difference of two given quantities is smaller than every positive real number and in the further course of which he makes use of the fact, without commentary, that these two quantities are equal. NSA would of course immediately discover that RA had made a mistake. RA is using, NSA would explain to us, two different notions of equality. If the absolute value of the difference between two quantities is smaller than every positive real number, then that means only that the difference between the two quantities is infinitely small and not that it is necessarily zero. RA’s answer (or that of a historian of mathematics defending RA) would clearly be that (in the theory upheld by RA) there are no infinitely small quantities and that the two supposedly different notions of equality are equivalent in this theory. RA could even produce a proof of the non-existence of infinitely small quantities, which would cause NSA to criticise the use of two different notions of equality. The dispute could be kept up for quite a while 30 Cf. Laugwitz, Detlef: Zahlen und Kontinuum. Eine Einführung in die Infinitesimalmathematik, Darmstadt 1986; Robinson, Abraham: Nonstandard Analysis, Amsterdam 1966.
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(because among others things the theory supported by RA is not backed up by axioms, it is presented so-to-speak “intuitively”), until the opponents (hopefully) come to the conclusion that two different theories are involved.31 If we relinquish the (vague) idea that the whole field of mathematics is one single theory, then there are two kinds of mathematical progress, namely first of all the solution of problems or continuing development within a given theoretical framework and secondly creating new theories or changing the terminology of an existing theory. In the second case mathematical progress can embrace a certain amount of discontinuity. 32 It might mean a slow shift in the understanding of mathematical objects, the outcome of which eventually produces new theories; such a shift in the 19th century can be roughly expressed by the catch-words Riemannian manifolds, non-Euclidean geometries and infinite cardinal numbers. For centuries mathematicians such as Cardano, Napier, Girard, Descartes, Huygens and Euler referred to imaginary numbers with terms such as “sophistic”, “nonsense”, “inexplicable”, “imaginary”, “incomprehensible”, “impossible”, 33 until finally, in the 19th century, they came to be fully accepted as numbers. In the Greek mathematics of Antiquity the 1 was not regarded as a number.34 Euclid accepted horn angles as angles; in the mid-17th century they were rejected on the grounds that they contradicted the principle of continuity or the intermediate value theorem.35 Descartes’s rejection of transcendent magnitudes and transcendent curves is a further example.36 Descartes had declared Debeaune’s second problem to be unsolvable; Leibniz produces a solution to the problem in 1684. It is not that Descartes had been mistaken, it was simply that Leibniz had changed the paradigm: the logarithmic curve is for him a permissible curve and hence suitable as a solution curve. In the case of the parallel postulate it took a long time for mathematicians to become reconciled with the division into three theories (a Euclidean and two nonEuclidean). The dispute on the foundation of mathematics was conducted in the first three decades of the 20th century with great intensity as a dispute about truth. Today much less philosophical ponderousness is attached to the dispute; constructivism is a thriving theory, in which admittedly comparatively few mathematicians are engaged (as in the case of other specialist fields of mathematics too). One can imagine that further development leads to the coexistence of formalist 31 Cf. the Wattenberg telephone call: Laugwitz: Zahlen und Kontinuum, pp. 246-247. 32 Cf. Gillies, D. (Ed.): Revolutions in Mathematics, Oxford 1992. 33 Crowe, Michael J.: Ten Misconceptions about Mathematics and Its History, in: Aspray, W. and Ph. Kitcher (Eds.): History and Philosophy of Modern Mathematics, Minneapolis 1988, p. 270. 34 Klein, Jacob: Greek Mathematical Thought and the Origin of Algebra, New York 1992 (1st ed. 1968), p. 49. 35 Breger, Herbert: Der mechanistische Denkstil in der Mathematik des 17. Jahrhunderts, in: Hecht, Hartmut (Ed.): Gottfried Wilhelm Leibniz im philosophischen Diskurs über Geometrie und Erfahrung, Berlin 1991, pp. 35-36. 36 Breger, Herbert: Leibniz’ Einführung des Transzendenten, in: Heinekamp, Albert (Ed.): 300 Jahre „Nova Methodus“ von G. W. Leibniz (1684-1984), Stuttgart 1986, pp. 119-132.
Natural numbers and infinite cardinal numbers
317
and constructive mathematics, comparable perhaps with the coexistence of Euclidean and non-Euclidean geometry.37 The question now seems to present itself whether there are revolutions in mathematics in the sense given by Thomas Kuhn.38 The foundational dispute at the beginning of the 20th century shows that mathematicians who adhere to the idea of the one mathematics that embraces everything can become entangled in circular debates very similar to the paradigm debates described by Kuhn. But in other cases it is often not clear whether there has been a far-reaching dispute; as far as I am aware, it has not really been investigated whether for example the opposition to Cantor’s theory was a paradigm dispute that involved the entire mathematical community. However I do not wish to pursue this question any further here, because the answer clearly depends very much on how one decides to understand in mathematics such terms as “paradigm”, “paradigm dispute”, “scientific revolution” and others of this kind – Kuhn had expressly intended not to apply these terms to mathematics. In the term paradigm in mathematics one should in my opinion find assembled the important aspects of what one understands as mathematics. Among these are the preliminary ontological decisions about the permissibility of objects and decisions about the permissibility of how to arrive at conclusions. If for example the Greeks do not regard the 1 as a number, then this belongs to the paradigm of Greek mathematics. Paradigms can gradually change (as was the case for example with imaginary numbers); it will often be more appropriate to talk of a shift in the mathematical style of thought. One only needs to talk of a sharp change in the paradigm, if not only the paradigms themselves contradict one another (this is indeed the case in every paradigm change to a greater or lesser extent), but also if there are contradictions on the level of the results. Such revolutions are seldom. The dispute about Cauchy’s errors39 might be taken as an indication of the fact that in the period between Cauchy and Weierstraß a change of paradigm took place in a comparatively short space of time. Michael Crowe has pointed out that Duhem’s well-known objection to an experimentum crucis is also valid in mathematics in a somewhat modified manner. In mathematics too statements are often not checked in isolation, they are examined in connection with other elements of the paradigm; one can avoid a refutation that appears to have been made by modifying another aspect of the system. “Of course, mathematicians do at times choose to declare apparent logical contradictions to be actual refutations; nonetheless, an element of choice seems present
37 Cf. Bishop: The Crisis in Contemporary Mathematics, Historia Mathematica 2, 1975, pp. 507-517. 38 Cf. on this Revolutions in Mathematics, ed.: D. Gillies, Oxford 1992, 2nd ed. Oxford 1995. 39 Cf. for example Laugwitz, Detlef: Das mathematisch Unendliche bei Euler und Cauchy, in: König, Gert (Ed.): Konzepte des mathematisch Unendlichen im 19. Jahrhundert, Göttingen 1990, pp. 17-26.
318
Herbert Breger
in many such cases.” 40 Cantor’s modification of the concept of numbers is a further example of the mathematicians’ practice. I do not wish to discuss here the fruitfulness of Cantor’s decision and its disadvantages (about which there was a debate in the foundational crisis of the 20th century); I only wish to show that a decision was made and that it was not for example the dictate of logical necessity. In current mathematics Gregory Chaitin is attempting (not without a certain amount of rhetoric) to destroy the concept of the one mathematics and to propose a changed paradigm for mathematics.41 And the German mathematician Volker Strassen suggests that to recognise a mathematical statement as correct we do without the submission of proof. The statement “101000 + 453 is the smallest prime number that is larger than 101000” is according to Strassen a mathematical theorem. To be sure there would be no proof for the theorem, but there could be no reasonable doubt about its correctness (on the basis of probability theory).42 It appears that mathematics has not only been engaged in real development in the past, it still is and will remain so.
40 Crowe, Michael J.: Ten Misconceptions about Mathematics and Its History, in: Aspray W. and Ph. Kitcher (Eds.): History and Philosophy of Modern Mathematics, Minneapolis 1988, p. 274. 41 Chaitin, Gregory: Meta Math!: the quest for omega, New York 2005. 42 Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen 1997, Göttingen 1998, pp. 199-200.
Joseph W. Dauben
朱世杰 ZHU SHIJIE´S 四元玉鑑 SIYUAN YUJIAN JADE MIRROR OF THE FOUR UNKNOWNS Solutions of Simultaneous Equations in as many as Four Unknowns in Yuan Dynasty China Warmest Congratulations to Eberhard KNOBLOCH!
I first meet Eberhard KNOBLOCH in September of 1970, when I was a graduate student from Harvard University in Germany for a year to pursue research for my doctoral dissertation, thanks to a Ford Foundation grant and the hospitality of the Institute für Geschichte der Naturwissenschaften of the Technische Universität in Berlin. It was there that Eberhard showed me the sights of Berlin for the first time, and helped to orient me to the city and the university. For an American in a divided Germany, it was an introduction to the hospitality of Deutschland that I shall never forget, and to Eberhard in particular, who helped me feel welcome in a city that was gradually to feel like my first home abroad, I will always be grateful. On this, the occasion to celebrate his 65th birthday, I am pleased to offer this study of ancient Chinese mathematics. This is not as inappropriate as it might as first seem, not only because my own research interests in recent years have turned to the history of Chinese mathematics, but because Eberhard too has been to China on several occasions. Not only has he been invited to lecture throughout the country, but in 1996 he was a visiting professor at the Institute for History of Natural Science of the Chinese Academy of Sciences in Beijing. As an old Chinese saying puts it, 千里送鹅毛 Qianli song emao (A swan feather from a thousand miles away), a modest way of saying that however insignificant a gift may seem, it is meant to convey the sincere best wishes of the sender. It is in just this spirit that I dedicate this brief study of the origins and evolution of the early Chinese method for solving simultaneous equations of arbitrary degree in as many as four unknowns to Eberhard KNOBLOCH, with great admiration for his many contributions to the history of mathematics, and his friendship over the many years since we first met in Berlin. 朱世杰 ZHU SHIJIE’S 四元玉鑑 SIYUAN YUJIAN (JADE MIRROR OF THE FOUR UNKNOWNS) 朱世杰 ZHU Shijie (fl. 1280-1303 CE)
Virtually nothing is known about the author of one of China’s most impressive mathematical treatises, a book devoted in part to the solution of sets of simultaneous
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equations in as many as four unknowns. George SARTON, who once characterized ZHU Shijie as “one of the greatest mathematicians,” added that the Precious Mirror (as he referred to it) was “one of the outstanding mathematical books of mediaeval times” (SARTON 1947, pp. 701-703). Nevertheless, neither the date of ZHU Shijie’s birth nor the time of his death have been recorded. What is known is that he was a resident of Yanshan, either a suburb of or very near to modern Beijing (Yanjing is an older name for Beijing). According to one of two prefaces to the Jade Mirror, we learn from 莫若 MO Ruo (writing in 1303 CE) that ZHU Shijie was “well-known as a great mathematician having traveled throughout the country for more than twenty years. The number of people coming from all directions was increasing daily; therefore the master wrote this book in order to reveal the secret of the Nine Chapters to his pupils” (GUO and GUO 2006, vol. 1, pp. 81-82). The Nine Chapters is the best-known and most comprehensive of the socalled “ten classics” of ancient Chinese mathematics, especially in the version with commentary and preface dated 263 CE by the third-century mathematician LIU Hui. MO Ruo’s claim that the Jade Mirror was meant to “reveal the secret” of the Nine Chapters is something of an exaggeration, since it only explains to a very limited extent how the “celestial element method” may be used to solve four specific problems with which the Jade Mirror opens. Thereafter, the book itself is divided into 24 sections with a total of 288 problems, all of which are meant to be solved using the powerful algebraic methods that ZHU Shijie had at his disposal, all applied to problems more intricate and difficult than most which appear in the Nine Chapters. As for the title, when the work of ZHU Shijie was discussed at some length by Yoshio MIKAMI in 1913, he translated the title as “Precious Mirror of the Four Elements” [Mikami 1913, p. 89-98]. Likewise, D.E. SMITH and George SARTON, in their references to this work, followed MIKAMI’s lead [SMITH 1923, vol. 1, pp. 266-273; SARTON 1947, vol. 3, pp. 138-140]. When CH’EN Tsai Hsin made his English translation of the work in the 1920s, he also used the title “Precious Mirror of the Four Elements” [GUO and GUO 2006, p. 64], as did Joseph NEEDHAM and WANG Ling in their volume on mathematics in the Science and Civilisation in China series [NEEDHAM and WANG 1959, vol. 3, p. 860], and so too LI Yan and DU Shiran in their Chinese Mathematics. A Concise History [LI and DU 1987, p. 111]. However, Jock HOE in a recent and very thorough study of this work suggests an alternative title: “Mirror trustworthy as jade relative to the four origins” (quoted with slight variance from [MARTZLOFF 1997, p. 153]; see also [HOE 1977, pp. 41-47]). Jade was prized by the Chinese for its transparency and clarity, implying that the results of the “jade mirror” are profound and correct. The image of the mirror is one frequently encountered in titles of Chinese works, and was intended to convey the idea that as a true mirror, it reflects the reality of its subject, in this case the mathematics of the work, without distortion. The jade mirror is thus expected to portray its subject directly in a completely faithful way. HOE also argues that 元 yuan should not be translated as “element,” but as the “source from which all the material universe
朱世杰 ZHU Shijie´s 四元玉鑑 Siyuan yujian
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was born” [HOE 1977, p. 45]. But given the prominence of the 天元 tian yuan method in ZHU’s work, and the fact that the “heavenly element” method was a way of representing the various degrees of an unknown x in equations for which an algorithmic method was provided to generate its solution, “tian yuan” is more accurately translated as “the unknown x.” Yuan may also appear in the title as a sort of double-entendre, intended to indicate both the algebraic nature of the method at hand, and the more philosophical connection it might inspire with the “origin of all things,” thus indicating its surpassing power to explain all things mathematically. However, given that the tian yuan method is essentially the use of a symbol, 元 yuan, to represent the unknown, it has a very technical mathematical sense, and this is best conveyed by translating “yuan” as “unknown.” Thus the translation used here is a very literal and technical one: 四元玉鑑 Siyuan yujian, or Jade Mirror of the Four Unknowns [see also GUO and GUO 2006, vol. 1, pp. 64-65]. In addition to the preface by MO Ruo, a second preface by 祖颐 ZU Yi (also written in 1303 CE), describes briefly his friend who “has for many years shown a deep interest in mathematics ... He has traveled through the country and at present is again sojourning in Guangling. People, like clouds, come from the four directions to meet at his gate in order that they may learn from him.” ZU Yi then adds something quite interesting about the sort of patronage upon which ZHU Shijie could rely in order to cover the expense of having his work published: “In the year ji hai in the reign of 大德 DA De he composed the book Suan Xue Qi Meng, which was published by the encouragement of 赵元镇 ZHAO Yuanzhen, a well-educated gentleman, who has given a part of his wealth to hire workers for the cutting of the plates for the book in order to make it known to the world. He has thus assisted in the work from the beginning, and will continue his unlimited generosity until the work is completed,” [GUO and GUO 2006, vol. 1, p. 90]. ZU Yi closed his preface with a brief statement of the significance, as he understood it, of what ZHU Shijie had accomplished: When I was asked to write an introduction for this book I read it through with great care and found that there were many things that I had never seen or heard of before. By not using “yet” it is used, by not using a number the number required is obtained. Hence I know that existing quantities come from non-existing quantities. This profound work is therefore exceedingly progressive as compared with the work of ancient mathematicians. Those who have an interest in the subject may prove my words by working out the problems in this book, thus finding the truth of my statement [GUO and GUO 2006, vol. 1, p. 91].
Unfortunately, ZHU Shijie’s book is not as transparent as readers might wish. Apart from four “model problems” at the outset, no other explanations are offered as to how the 288 problems in the Jade Mirror are to be solved using the method of the “four unknowns.” And even the four “model problems” are presented in such a laconic fashion that it is not immediately clear how the Jade Mirror works. For example, the following is all of the information that ZHU Shijie provides concerning the second of his four model problems and its solution. Clearly, without ZHU Shijie to serve as a guide to the successful employment of the method of the celestial element, it is not so easy to understand exactly how his method works based solely on the information provided here:
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Problem 2: Given the difference between the square of the altitude (股 gu) [of a right-angled triangle] and the difference between the hypotenuse (弦 xian) and the difference between the altitude and the base (弦較較 xian-jiao-jiao) is equal to the product of the altitude and base (句 gou), and also given the square of the base added to the sum of the hypotenuse and the difference of the altitude and base (弦 較和 xian-jiao-he) is equal to the product of the base and hypotenuse, how much is the altitude? Answer: 4 bu. j i h g f e d c b a
Fig. 1 is the page from ZHU Shijie’s explanation of Problem 2 in the Jade Mirror, which is given as one of four exemplars to show how the method of the “four elements” may be used to solve simultaneous sets of equations in as many as four unknowns. The first line in column a gives the title of the work: 四 元 玉 鑑 Siyuan yujian (Jade Mirror of the Four Unknowns). The second line, in column b, gives the title of the problem: 两 儀 化 元 liang yi hua yuan (translated as “Mystery of the Two Natures or Two Unknown Quantities” bu CH’EN Tsai Hsin [CH’EN 2006, p. 51]). This might also be rendered as “Turning the Two Opposites into One” or “Unifying yin and yang.” The title is a poetic reference drawing upon Daoist imagery to indicate that this problem is the model for solving fig. 1: Reproduced from Guo 1993, vol. 1, p. 1209b, which in turn was simultaneous equations in two unknowns, and photo-reproduced from an edition might literally be translated as “Transforming the of the work published in 1834. elements from two to one.” Since this problem is sufficiently complex to illustrate exactly how ZHU’s method works in general, it will suffice for our purposes to follow this example in detail, without involving the much greater complexity (but analogous method) for cases in which three and four unknowns appear (for details of problems 3 and 4, see [DAUBEN 2007, pp. 351-365]). It will also become apparent why the method was not capable of further generalization to methods dealing with an arbitrary number of unknowns. Columns c and d (Fig. 1) give the statement of the problem as above, whereas the answer is given in column e. Columns f-j then give the “procedure” for working out the problem, but from this very limited information, it is virtually impossible to reconstruct the method that ZHU Shijie must have used to solve this problem. Fortunately, a commentary on the Jade Mirror by 沈欽裴 SHEN Qinpei of 1829 survives in a manuscript copy in the National Library of China (Beijing): 四元玉鑑細草 Siyuan yujian xicao (Detailed Solutions for the Jade Mirror of the Four Unknowns), photo-reproduced in [GUO 1993, vol. 5, pp. 227432], and it is upon the procedures given in detail by SHEN that a much clearer
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explanation of the methods ZHU employed may be derived. But first we give the very brief statement of the “procedure” of the problem as described above by ZHU Shijie: Procedure: Let the 天元 tianyuan (unknown tian, x) represent the altitude, and let the 地元 diyuan (unknown di, y) represent the sum of the base and hypotenuse. Combine the 天 tian and 地 di to obtain the 今式 jinshi (this is the matrix that appears at the top of columns g-h; the counting-rod formulation is given on the left as it appears in the text; this is then translated into familiar arabic numerals on the right): –2 –1 0 0
0 2 2 0
tai 0 0 1
and the 云式 yunshi (which appears just below the jinshi in columns g-h): 2 –1 0 0
0 2 0 0
tai 0 0 1
On eliminating (y from) these, multiplying the 内二行 nei liang xing (two inner columns) gives the equation: tai 8 4 and multiplying the 外二行 wai liang xing (two outer columns) gives the equation: tai 0 2 1 Subtracting one column from the other (两位相消 liang wei xiang xiao) gives the quadratic equation: –8 –2 1 from which by extracting the root gives the altitude 4 bu as the answer.
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We can now summarize algebraically the conditions given in the problem as follows, based upon a right triangle of base a (句 gou), height b (股 gu), and hypotenuse c (弦 xian).
c
b
a The statement of Problem 2 as given above begins with the following conditions: [i] [ii]
b2– [c– (b–a)] = ba a2+c+b–a = ac
Setting the tianyuan x=b and the diyuan y=a+c, then the above equations (knowing that a2+b2=c2), are equivalent to the following two equations: [iii] [iv]
x3+2yx2+2xy–xy2–2y2 = 0 x3+2yx–xy2+2y2 = 0
All ZHU Shijie says about this is 天地配合求之得今式 tiandi peihe qiuzhi de jinshi (coordinate the tian and di to obtain the desired (sought after) first derived equation). Here 配合 peihe means “combine” or “coordinate,” but there is no indication in the text of how this makes it possible to get from the given data to either [iii] or [iv]. The steps provided here follow the analysis of the “Jade Mirror” by 孔国平 KONG Guoping (see [KONG 1999, p. 376]). To obtain equation [iii] by a judicious substitution, as ZHU Shijie instructs, of x=b and y=a+c, we seek to reduce equation [i] in three unknowns to a single equation in just two unknowns. With x=b and y=a+c, then: c– (b–a) = y–x Given a2+b2=c2, it follows that b2 = c2–a2 = (c+a)(c–a), and (c–a) = b2/(a+c) = x2/y. Observing that 2a = (c+a) – (c–a) = y–x2/y, then a = (1/2)(y–x2/y). It is now possible to rewrite b2– [c–(b–a)] = ba as: x2–(y–x) = x2–y+x = x[(1/2)(y–x2/y)], from which it follows (after multiplying by 2y): 2x2y–2y2+2xy–xy2+x3 = 0. A suitable rearrangement of terms gives equation [iii].
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To obtain equation [iv], since y=a+c, c=y–a, and c=y–(1/2)(y–x2/y) = (1/2)(y+x2/y), then ac = (1/2)(y–x2/y)(1/2)(y+x2/y) = (1/4)(y2+x4/y2). Now, from [ii], a2+c+b–a = a2+(c–a)+b = ac; substituting gives: [(1/2)(y–x2/y)]2+x2/y+x = (1/4)(y2–x4/y2); (1/4)(y2–2x2+x4/y2)+x2/y+x = (1/4)(y2–x4/y2); multiplying by 4y2 yields: y4–2x2y2+x4+4x2y+4xy2–y4+x4 = 0; dividing by 2x and rearranging terms gives a result equivalent to equation [iv]:
x3-xy2+ 2xy +2y2 = 0.
ZHU Shijie called [iii] the 今式 jin shi or first derived equation, and [iv] the 云式 yun shi or second derived equation. These equations [iii] and [iv] correspond to the counting board configurations that are also labeled [iii] and [iv] respectively below. The following diagrams will make clear exactly which coefficients correspond to the various terms of the variables x and y for equations [iii] and [iv] as given in the “Jade Mirror”: –2y2 –1xy2 0 0
0 2xy 2x2y 0
tai 0 0 1x3
[iii]
[See the configuration of these coefficients at the top of columns g and h in Figure 1 above]
2y2 –1xy2 0 0
0 2xy 0 0
tai 0 0 1x3
[iv]
[See the configuration of these coefficients in the middle of columns g and h in Figure 1 above]
Although the procedure that follows looks forbiddingly complex, as a series of algorithmic transactions on the counting board it would have been a very mechanical process, the basic idea corresponding to a method whereby two equations in the form A1y+A2 = 0 and B1y+B2 = 0 are obtained, where A2 and B2 contain only factors of x. From these it is possible to eliminate the y term by multiplying the first equation by B1 and the second equation by A1; after subtracting the results, the y term is eliminated and what remains is a polynomial in x alone, A2B1–A1B2 = 0. This is the elimination method that ZHU Shijie called 互隱通分 hu yin tong fen, which may be loosely translated as “mutually exchange what is hidden to equalize the parts.” LAM Lay Yong translates this expression as “elimination” or “eliminating,” since the idea is to eliminate all of the terms containing a specific variable until everything is reduced to a single equation in only one unknown [LAM 1982, pp. 263 and 264]. In the case of Problem 2, the first step is to eliminate the y2 terms, and then the y terms as well. But all ZHU Shijie says about going from the jin shi and yun shi equations [iii] and [iv] to two equations in x alone is to “mutually
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eliminate and the inner two columns disappear leaving the equation 4x2+8x = 0.” Cryptic though this may seem, based upon a procedure in Problem 3 wherein ZHU Shijie first sets up two intermediate “left” and “right” equations, it is possible to reconstruct the necessary steps needed to “mutually eliminate” the “inner” and “outer” columns to obtain the solution to the problem. The first step is to obtain two equations in the form A1y+A2 = 0 and B1y+B2; the first equation may be obtained by subtracting the yun shi equation [iv] from the jin shi equation [iii], which gives a third derived equation that ZHU Shijie called the 消式 xiao shi or “equation for elimination”1: [a] 2x2y–4y2 = 0. This may be simplified as x2–2y = 0, which serves to eliminate the y2 term. On the counting board the coefficients of the 右式 you shi or “right equation” would appear as follows: Right Equation –2y tai 0 0 …0 1x2
[a]
The second (to become the “left equation”) may be found by eliminating the y2 term from the jin shi equation [iii]. Beginning with the xiao shi equation [a], multiplying by x gives x3 = 2xy; substituting this for x3 in the jin shi equation [iii] yields: 2yx2+4xy–xy2–2y2 = 0; dividing by y now gives [b] 2x2+4x–xy–2y = 0. This is the “left equation,” and on the counting board the coefficients of the 左式 zuo shi or “left equation” would have appeared as follows, to the left of the right equation: Left Equation (B1) (B2) 2y tai xy –4x 0 –2x2
1
Right Equation (A1) (A2) –2y tai 0 0 0 1x2
Note that in the expression 消式 xiao shi, “xiao” means “to disappear,” “vanish,” “eliminate” or “remove.” Here, in conjunction with “shi” meaning “formula” or “equation,” it is translated as “equation for elimination.”
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327
This left equation in the form A1y + A2 = 0 corresponds to (x+2)y–2x2–4x = 0, the right equation in the form B1y + B2 = 0 corresponds to –2y+x2 = 0, and this makes possible the elimination that ZHU Shijie called hu yin tong fen. Algebraically, for the right equation, A1 = –2 and A2 = x2; for the left equation, B1 = x+2 and B2 = –2x2–4x. To eliminate the y term it suffices to determine A2B1–A1B2. On the counting board, given the two matrices set-up side by side as above, this entailed the process of multiplying what ZHU Shijie referred to as the two “inside” columns of the matrices for each equation, i.e. (-2)(-2x2-4x) = 4x2+8x = 0. On the counting board, A1B2: tai 8 4 This configuration may be found at the bottom of column h in Figure 1. Likewise, the “outside” columns were multiplied together: (x+2)(x2) = x3 + 2x2 = 0. On the counting board A2B1: tai 0 2 1 This configuration may be found at the top of column i in Figure 1. Now ZHU Shijie instructs “liang wei xiang xiao” (Figure 1, column i), which means to “mutually remove” or subtract one column from the other, i.e. to determine A2B1-A1B2. This now gives the desired polynomial in x alone, i.e.: A2B1– A1B2 = x3 – 2x2 – 8x = 0. The corresponding figure on the counting board: –8 –2x 1x2 ZHU Shijie identifies this as a quadratic equation, whose solution leads to what was asked for, namely x=b=4, i.e. the altitude of the triangle in question is 4 bu.
Conclusion Although the example we have followed here demonstrates the method ZHU Shijie used for solving simultaneous equations in two unknowns, he was not the first to have used this method. ZU Yi, in his preface to the Jade Mirror, explains the development of the ideas ZHU Shijie was to perfect as follows:
328
Joseph W. Dauben LI Dezai of Pingyang region, having published The Complete Collection for Heroes on Two Principles, they then had the earth unknown. The critic LIU Runfu, the very talented student of Master XING Songbu published Heaven and Earth in a Bag, which included two problems involving the human unknown. My friend, Master ZHU [Shijie] of Yanshan district explained mathematics for many years. Having explored the mysteries of the three unknowns and sought out the hidden details of the Nine Chapters, he set up the four unknowns according to heaven, earth, man, and matter [LI and DU 1987, pp. 140-141].
Beginning with the “celestial element” method first introduced for the solution of equations in a single unknown element 天 tian (the heavenly element, x), the first advance was to introduce a second unknown 地 di (the earthly element, y). This in fact is the case illustrated by the example we have just followed, and made use of the bottom and left quadrants of the counting board. But it was a natural step to then utilize the right portion of the counting board for yet a third unknown element 人 ren (the human element, z), and finally, the advance due to ZHU Shijie was to add yet another unknown to take advantage of the remaining top quadrant of the counting board, where terms of a fourth element were to be located, 物 wu (the material unknown, u). Thus, the full generalization allowing the representation of equations in as many as four unknowns would have corresponded to the following configuration, with the “heavenly” unknowns at the bottom (for which each row corresponds to a different power of x), the “earthly” unknowns on the left (for which each column corresponds to a different power of y), the “human” unknowns on the right (for which each column corresponds to a different power of z), and finally the “material” unknowns on the top (for which each row corresponds to a different power of u). The coefficients were placed on the counting board in the corresponding position reserved for a particular combination of the unknowns. To make clear the relative positions of all possible combinations of coefficients, the constant term was placed at the very center of the board, associated with the character tai (the same character used to designate the constant term in the tian yuan method for solving equations of any degree in a single unknown). With the above scheme in mind, it is possible to understand the meaning of the description of this method that MO Ruo gives in his preface to ZHU Shijie’s work:
fig. 2: The tian yuan method; illustratrion from LI and DU 1987, p. 142.
朱世杰 ZHU Shijie´s 四元玉鑑 Siyuan yujian
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The method of the Precious Mirror of the Four Elements is to have the source of all the unknowns [the constant term] in the center and to put the celestial [unknown] element at the bottom, the earth unknown on the left, the human unknown on the right and the material unknown at the top, opposites to up and down, proceed and recede to left and right, they interact and change criss-crossing with infinite variety. The hidden parts are revealed of excess and deficit, positive and negative rectangular tables, the method of taking powers and extracting roots; this is concise and deep. This information makes it possible to reveal the central ideas which were not worked out by our predecessors [LI and DU 1987, p. 141].
LI and DU summarize the influence and significance of ZHU Shijie’s “method of the four unknowns” as follows: In his time (13th century CE) the development of the techniques of the celestial element and of the four unknowns, which had started in northern China, reached its zenith. Because of the limitations of recording numbers using counting rods it is obvious that no more than four unknowns can be treated in this way. In Europe the method of elimination for higher degree equations was only described in a systematic way in the eighteenth century in the work of the French mathematician BÉZOUT (1779 CE) [LI and DU 1987, p. 148].
What is most remarkable is the way in which, once the counting board is conceived as a device for remembering the coefficients of various combinations of unknowns of arbitrary power, the elimination procedure is then essentially a mechanical process, and the mathematician simply becomes a computer, carrying out the prescribed motions mechanically on the counting board to eliminate successively each of the unknowns until reaching a single equation in the “heavenly element” or unknown 天 tian, which could then be solved by wellestablished methods. As Jean-Claude MARTZLOFF puts it so evocatively: These rod puppets which now chatter together are alive in their own right. They rise, fall, and turn to the left or the right, translating series of polynomial additions, subtractions, multiplications or divisions. When the red camp (positive) meet the black camp (negative) they kill one another, while respecting the sign rules. At the end of this small drama which does not depart from the laws of mathematical etiquette for a moment, the key character in the problem appears: the final resolutory equation [MARTZLOFF 1997, p. 261].
In the Precious Mirror of the Four Elements, ZHU Shijie made use of virtually every position available on the counting board to represent the coefficients of equations in as many as four unknowns. But there was a natural limitation to this method as well. The flat surface of the counting board naturally accommodated four unknowns in each of its four quadrants, but there was no room for a fifth unknown. While the counting board facilitated an extraordinary development of Chinese mathematics, it also was inherently limited by the very feature that made the generalization to four unknowns possible. As LAM Lay Yong puts it: The counting board system of medieval China played its part in the development of the polynomial equation and the Chinese mathematicians exploited its use to every advantage. However, its dimension and its possibilities were limited. Through its use, the equations remained numerical and mathematics could not be raised to a higher level of generalization and abstraction. A clear example was in ZHU’s sets of equations where the number of unknowns was restricted to a maximum of four due to the dimensions of the counting board. What Chinese algebra could have achieved, if ZHU had proceeded to discard the counting board, must remain in the realm of speculation [Lam 1982, p. 270].
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Joseph W. Dauben
Nevertheless, the great achievement of ZHU Shijie’s Jade Mirror of the Four Unknowns signaled a remarkable advance over his predecessors, and it represents the zenith of the development of Chinese algorithmic methods applied to the solution of simultaneous equations in the Yuan dynasty. LITERATURE CH’EN Zaixin 陈在新: Jade Mirror of the Four Unknowns, GUO Jinhai and GUO Shuchun (Eds.), Shenyang 2006, in 2 vols. DAUBEN, Joseph W.: “Chinese Mathematics”, in: The Mathematics of Egypt, Mesopotamia, China, India, and Islam. A Sourcebook, Victor J. KATZ (Ed.), Princeton, NJ 2007, pp. 187-384. GUO Shuchun 郭書春, ed.: 数學卷 Shuxue juan (Mathematics), (5 vols.), in 中國科学技術 典籍 通彙 Zhongguo kexue jishu dianji tonghui (General Collection of Ancient Works of Chinese Science and Technology), 任繼愈 REN Jiyu (Ed.), Henan 1993, in 5 vols. GUO Shuchun 郭書春 and 郭金海 GUO Jinhai (Eds.): 四元玉鉴 Jade Mirror of the Four Unknowns, Library of Chinese Classics, Chinese-English, Shenyang 2006, in 2 vols. HOE, John [Jock]: Les systèmes d’équations-polynômes dans le Siyuan yujian (1303), Mémoires de l’Institut des Hautes Etudes Chinoises 6. Paris 1977. KONG Guoping 孔国平, 李冶朱世杰与金元数学 Li Ye Zhu Shijie yu jinyuan shuxue (LI Ye, ZHU Shijie and Mathematics in the Jin and Yuan Dynasties), Hebei 1999. LAM Lay Yong: “The Geometrical Basis of the Ancient Chinese Square-Root Method”, in: Isis, 61, 1969, pp. 92-102. – “Chu Shih-chieh’s Suan-hsueh ch’i-meng (Introduction to Mathematical Studies)”, in: Archive for History of Exact Sciences 1, 1978, pp. 1-31. – “The Chinese Connection Between the Pascal Triangle and the Solution of Numerical Equations of any Degree”, in: Historia Mathematica 7, 1980, pp. 407-424. – “Chinese Polynomial Equations in the 13th Century”, in: LI Guohao, ZHANG Mengwen, and CAO Tianqin (Eds.): Explorations in the History of Science and Technology in China Compiled in Honour of the Eightieth Birthday of Joseph Needham, FRS, FBA, Shanghai 1982, pp. 231-272. LI Yan and DU Shiran: A Concise History of Chinese Mathematics, John N. CROSSLEY and Anthony W.-C. LUN, trans., Oxford 1987. MARTZLOFF, Jean-Claude: Histoire des mathématiques chinoises, Paris1987. – A History of Chinese Mathematics, Stephen S. WILSON, trans., New York 1997. MIKAMI, Yoshio: The Development of Mathematics in China and Japan, Leipzig 1913. Rep. New York 1974. NEEDHAM, Joseph, and WANG Ling (Eds.): Science and Civilisation in China, vol. 3, Mathematics. Cambridge 1959. SARTON, George: Introduction to the History of Science, vol. 3, part 1: Science and Learning in the Fourteenth Century, Baltimore 1947. SHEN Qinpei 沈欽裴: 四元玉鑑細草 Siyuan yujian xicao (Detailed Solution for the Jade Mirror of the Four Unknowns). Photo-reproduced in GUO 1993, vol. 5, pp. 227-432. SMITH, David Eugene: History of Mathematics, Boston 1923; in 2 vols.; repr. 1951. WANG Ling and Joseph NEEDHAM: “Horner’s Method in Chinese Mathematics: Its Origins in the Root Extraction Procedures of the Han Dynasty”, in: T’oung Pao 43, 1955, pp. 345-401.
Martin Grötschel
TIEFENSUCHE: BEMERKUNGEN ZUR ALGORITHMENGESCHICHTE Dieser kurze Aufsatz zur Algorithmengeschichte ist Eberhard Knobloch, meinem LieblingsMathematikhistoriker, zum 65. Geburtstag gewidmet. Eberhard Knobloch hat immer, wenn ich ihm eine historische Frage zur Mathematik stellte, eine Antwort gewusst – fast immer auch sofort. Erst als ich mich selbst ein wenig und dazu amateurhaft mit Mathematikgeschichte beschäftigte, wurde mir bewusst, wie schwierig dieses „Geschäft“ ist. Man muss nicht nur mehrere (alte) Sprachen beherrschen, sondern auch die wissenschaftliche Bedeutung von Begriffen und Symbolen in früheren Zeiten kennen. Man muss zusätzlich herausfinden, was zur Zeit der Entstehung der Texte „allgemeines Wissen“ war, insbesondere, was seinerzeit gültige Beweisideen und -schritte waren, und daher damals keiner präzisen Definition oder Einführung bedurfte. Es gibt aber noch eine Steigerung des historischen Schwierigkeitsgrades: Algorithmengeschichte. Dies möchte ich in diesem Artikel kurz darlegen in der Hoffnung, dass sich Wissenschaftshistoriker dieses Themas noch intensiver annehmen, als sie das bisher tun. Der Grund ist, dass heute Algorithmen viele Bereiche unserer Alltagswelt steuern und unser tägliches Leben oft von funktionierenden Algorithmen abhängt. Daher wäre eine bessere Kenntnis der Algorithmengeschichte von großem Interesse.
1. EINFÜHRUNG Auch wenn ich gleich zu Beginn des Artikels zusammenfassend feststelle, dass der Stand der Algorithmengeschichte nicht befriedigend ist, ist dieser Artikel keineswegs eine Beschwerde über die Kolleginnen und Kollegen, die sich mit diesem Gebiet beschäftigen. In vielfach mühseliger Arbeit und vermutlich nicht selten begünstigt durch Zufallsfunde sind wunderbare Erkenntnisse darüber gewonnen worden, wann welche Algorithmen entdeckt, wo sie wiedergefunden und wie sie verwendet wurden. Spannend ist hier bereits die Geschichte der algorithmischen Ausführung einfacher arithmetischer Operationen wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division. Die dafür benutzten Methoden sind u.a. stark abhängig vom benutzten Zahlensystem. Und wie nun die „Rechenkünstler“ früherer Zeiten ihre Rechenoperationen genau vorgenommen haben, kann man kaum in „Handbüchern“ nachlesen, sondern meistens nur indirekt aus konkreten Zahlenbeispielen erschließen, die sich manchmal nicht wirklich eindeutig interpretieren lassen. Interessant ist die Beobachtung, dass schon in sehr früher Zeit Computer benutzt wurden. Natürlich waren dies keine Geräte in unserem heutigen Sinne, sondern eher Rechenhilfen wie Kieselsteine, Additions- und Multiplikationstabellen, Knotenstricke, Zählbretter, Logarithmentafeln, bis hin zum Abacus oder – mir noch geläufig – zum Rechenschieber. Die Erfindung dieser Rechengeräte erforderte algorithmisches Denken, der Bau Konstruktionsanweisungen, die Benutzung benötigte Regeln und Einweisungen. Hier begegnen wir bereits ersten Schritten hin zur heutigen Programmierung elektronischer Rechner.
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Martin Grötschel
Algorithmengeschichte, so wie sie heute geschrieben wird, beschäftigt sich meistens mit explizit in der Literatur formulierten Algorithmen, wie etwa Methoden zum Wurzelziehen, zum Berechnen von Nullstellen von Polynomen, zur Lösung von Gleichungssystemen etc. Hier sind erstaunliche Entdeckungen gemacht worden wie z.B. die Tatsache, dass die Methode zur Lösung von linearen Gleichungssystemen, die wir heute, nach Carl Friedrich Gauß (1777-1855), GaußAlgorithmus nennen, schon 500 Jahre früher in China benutzt wurde.1 Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sie viel älter ist und auch in anderen Kulturen entdeckt wurde, aber es ist unendlich schwierig, so etwas herauszufinden oder gar den ersten Erfinder des Verfahrens zu ermitteln. Im Weiteren werde ich einige überraschende Funde aus neuester Zeit zu erst kürzlich entworfenen Algorithmen erwähnen, bei denen man eigentlich nicht glauben sollte, dass sie heute noch gemacht werden. Abschnitt 2 dieses Artikels widmet sich dem ungarischen Algorithmus, einem Verfahren zur Lösung des Zuordnungsproblems. Zu seiner Geschichte wurde vor zwei Jahren eine ungewöhnliche Entdeckung gemacht. Diese Beobachtung zeigt mehr als deutlich, wie schwierig es ist, Urheber von Algorithmen zu identifizieren. Abschnitt 3 vertieft diesen Aspekt bezüglich der Graphentheorie. Ich behaupte hier, dass die Graphentheorie einen riesigen Schatz an unentdeckten Algorithmen birgt. Der Grund liegt darin, dass Graphentheoretiker häufig nicht an Algorithmen interessiert sind. Sie schreiben ihre Konstruktionsvorschriften in Beweisform auf, so dass die algorithmischen Ideen vielfach schwer aufzuspüren sind. Wenn man vom algorithmischen Standpunkt ausgehend (und mit etwas Boshaftigkeit) graphentheoretische Literatur analysiert, so kann man andersherum durchaus mit einigem Recht feststellen, dass Graphentheorie in weiten Teilen nichts anderes als Analyse von heuristischen Algorithmen ist. Abschnitt 4 widme ich der neueren Geschichte der linearen Programmierung. Hier ist die Frage, wann ist eine Beschreibung einer algorithmischen Idee schon ein Algorithmus, und wem gebührt Priorität bzw. Anerkennung für was? Solche Fragen sind, selbst wenn man (wie ich) einen Teil der Entwicklung selbst wissenschaftlich miterlebt hat, nicht immer einfach zu entscheiden. Wie werden das Historiker in einigen hundert Jahren mit viel geringerer Insiderkenntnis und weniger Quellen tun? In Abschnitt 5 betrachte ich algorithmische Aspekte von Wahlverfahren, ein eher ungewöhnliches Thema für Algorithmenhistoriker. Auch hier sind viele historische Zusammenhänge unklar, und warum ein und dasselbe Verfahren gleich mehrere Namen tragen kann, erläutere ich an einem aktuellen Ereignis. Eine kurze Zusammenfassung beendet den Artikel. Ich wage in diesem Artikel zwei Behauptungen: Die Erstentdecker von Algorithmen sind nur in seltenen Fällen auffindbar, und mit großer Wahrscheinlichkeit (zumindest bei der heutigen Form der Erarbeitung der Algorithmengeschichte) wird der größte Teil der jemals entwickelten Algorithmen einfach nicht entdeckt werden. Die Gründe dafür liegen darin, dass Algorithmen in allen Wissenschaften und Anwendungsfeldern entwickelt 1
Siehe hierzu z.B. Chabert 1999, S. 291ff.
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wurden. Sie wurden jedoch nicht als Algorithmen gekennzeichnet, sondern waren Teile von Handlungsanweisungen oder Rezepten oder umfangreicheren, meistens mathematischen Argumenten oder Beweisen. Ein paar Anhaltspunkte für meine Behauptungen lege ich hier vor. Für eine wirkliche Quantifizierung der Behauptung, dass die meisten Algorithmen unentdeckt in der Literatur schlummern, habe ich natürlich keinen statistischen Beleg. 2. DER UNGARISCHE ALGORITHMUS Der ungarische Algorithmus ist eine Methode zur Lösung des Zuordnungsproblems. Bei diesem Problem sind zwei endliche Mengen, sagen wir U und V, gleicher Kardinalität gegeben. Dazu gibt es Werte c(u,v) für alle Paare u aus U und v aus V. Gesucht ist eine Zuordnung der Elemente aus U zu den Elementen aus V, so dass die Summe der zugehörigen Werte so klein wie möglich ist. Eine Standardanwendung ist die folgende. U ist die Menge der vorhandenen Arbeiter, V ist eine Menge von Aufgaben, und c(u,v) bezeichnet die Zeit, die Arbeiter u benötigt, um Aufgabe v zu erledigen. Gesucht ist eine Zuordnung der Arbeiter zu den Aufgaben, so dass die Gesamtzeit, die benötigt wird, um alle Aufgaben zu erledigen, so gering wie möglich ist. Das Zuordnungsproblem tritt in der Diskreten Optimierung und im Operations Research an vielen Stellen auf – häufig mit Variationen der Fragestellung oder weiteren Nebenbedingungen, häufig auch als Teilproblem wesentlich komplexerer praktischer Fragestellungen. So werden Algorithmen zur Lösung des Zuordnungsproblems nicht nur bei der Personaleinsatzplanung sondern auch bei einigen Verfahren zur Lösung des Travelling-Salesman-Problems eingesetzt oder bei der Umlaufplanung von Bussen im öffentlichen Nahverkehr. Noch Mitte des letzten Jahrhunderts haben Mathematiker derartige „kombinatorische Aufgaben“ als trivial erachtet. Diese haben nur endlich viele Lösungen, und eine beste kann daher im Prinzip durch Enumeration aller Lösungen bestimmt werden. Das Zuordnungsproblem hat, wenn n die Anzahl der Elemente von U (und damit auch von V) ist, genau n! Lösungen. Dabei bezeichnet n! das Produkt der ganzen Zahlen 1, 2, 3,…, n-1, n. Der Wert n! wächst ungeheuer schnell, und selbst die größten heutigen Rechner können die Werte von allen n! Zuordnungen für n=25 (das sind 15.511.210.043.330.985.984.000.000) nicht in unserer Lebenszeit bestimmen. Die Behauptung, man könne solche Probleme durch Enumeration lösen, ist theoretisch richtig, aber zeugt von geringem Realitätssinn. Mathematische Optimierung, Operations Research und die grundsätzliche Methodik zur Lösung von mathematischen Problemen mit Computern nahmen in den 1950er Jahren ihren wirklichen Anfang. Es wurde klar, dass man, um Rechner zu programmieren, Algorithmen klar formulieren und ihre Laufzeit abschätzen muss. Dies war die Zeit, in der viele der heutigen „Standardmethoden“ entstanden, so auch z.B. verschiedene Algorithmen zur Bestimmung kürzester Wege in Graphen.2
2
Schrijver 2003, S. 103ff.
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Martin Grötschel
Eines der Probleme, die seinerzeit intensiv untersucht wurden, war das Zuordnungsproblem. Wer hat nun, ist unsere Frage, den ersten Algorithmus zur Lösung des Zuordnungsproblems gefunden? Klar, vollständige Enumeration ist eine Lösungsmethode, aber wir wollen etwas Besseres. Bei Schrijver findet sich hierzu ein umfassender Überblick.3 Er beginnt im Jahre 1784, in dem Gaspard Monge sich erstmals in einer Publikation mit dem Zuordnungsproblem beschäftigt. Man muss sich allerdings Mühe geben, den Zusammenhang mit dem Zuordnungsproblem zu sehen, da Monge sein Problem in der Sprache der kontinuierlichen Mathematik darstellt. Im Jahre 1928 stellt Appell fest, das das Verfahren von Monge fehlerhaft ist. Der nach Schrijver vermutlich erste veröffentlichte und korrekte Algorithmus für das Zuordnungsproblem stammt von Easterfield aus dem Jahre 1946.4 Easterfield kannte offenbar die seinerzeit vorhandene Literatur nicht. Man kann das daraus erschließen, dass er in seinem Artikel Resultate bewies, die aus bereits bekannten Sätzen folgen. Sein Algorithmus hat eine Laufzeit von O(2nn2), eine Beschleunigung gegenüber O(n!) Rechenschritten, aber immer noch exponentiell. In seinen Erinnerungen schreibt Harold Kuhn, dass im Jahre 1953, als er begann, sich mit dem Zuordnungsproblem zu beschäftigen, kein Algorithmus und kein Computer in der Lage war, ein 10x10-Zuordnungsproblem zu lösen.5 Er fand dann ungarische Literatur zum Matchingproblem in bipartiten Graphen von D. König und J. Egerváry, lernte ein wenig ungarisch, um diese lesen zu können, und entdeckte, dass konstruktive Beweisargumente von Egerváry aus dem Jahre 1931 dazu benutzt werden können, um einen kombinatorischen Algorithmus für das Zuordnungsproblem zu formulieren. Da Kuhn die Vorleistungen der ungarischen Kollegen König und insbesondere Egerváry anerkennen wollte, nannte er sein Verfahren ungarischer Algorithmus. Dies ist eine schöne Geste, denn Kuhn hätte mühelos verschleiern können, dass er sich auf Ideen aus Artikeln in ungarischer Sprache stützt. Sein Artikel zur ungarischen Methode,6 wurde im Jahre 2004 von der Zeitschrift Naval Logistics Quarterly als wichtigstes Paper gewählt, das seit Bestehen des Journals in diesem erschienen ist. Der Einfluss des Artikels auf die Entwicklung der kombinatorischen Optimierung ist in der Tat enorm. Dies wird u.a. durch Frank gewürdigt.7 Kuhn hat 1955 die Laufzeit des ungarischen Algorithmus nicht analysiert, er konstatierte lediglich, dass das Verfahren endlich sei. Munkres gab eine erste Laufzeitabschätzung mit O(n3) an, übersah jedoch die genaue Abschätzung eines einfachen Details, so dass seine Abschätzung tatsächlich O(n4) ergab. 8 Auch das Munkres-Paper hatte großen Einfluss auf die Untersuchung kombinatorischer Algorithmen, da es nun üblich wurde, die Rechenschritte genau zu zählen und Laufzeitgrößenordnungen zu betrachten. Man kann diesen 3 4 5 6 7 8
Ebd., S. 103ff. Ebd. Kuhn 1991. Kuhn 1955. Frank 2005. Munkres 1957.
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Artikel zu einem Vorboten der Komplexitätstheorie (polynomiale Laufzeit, NP, NP-Vollständigkeit, etc.) zählen. Und nun kommt die Überraschung. Am 9. März 2006 erhielt ich die folgende E-Mail von Harold Kuhn, mit dem zusammen ich 2005 in Budapest am 50. Geburtstagsfest der ungarischen Methode teilgenommen hatte:9 Dear Friends: As participants in the 50th Birthday celebration of the Hungarian Method, you should be among the first to know that Jacobi discovered an algorithm that includes both Koenig's Theorem and the Egervary step. I was told about Jacobi’s paper by Francois Ollivier who has a website with the original papers and French and English translations. They were published in Latin after his death and so the work was done prior to 1851!!! I have discovered the exact relation between Jacobi’s algorithm and the Hungarian Method. Ollivier and I plan to submit a note to the Naval Logistics Research journal, he describing the background in systems of differential equations that led Jacobi to the Assignment Problem and I describing the algorithmic details. I find this development exciting and am not at all unhappy to have found a result that Jacobi had found over a hundred years earlier. I am a (mathematical) descendant of Jacobi, and Ollivier, Egervary, and I have a common (mathematical) ancestor. With warm regards to all of you, Harold
Carl Gustav Jacob Jacobi (1804-1851) war einer der produktivsten Mathematiker des 19. Jahrhunderts und ist allen heutigen Mathematikern z.B. durch die JacobiMatrix bekannt. Jacobi hat sich aber gar nicht mit dem Zuordnungsproblem beschäftigt und schien sein Verfahren nicht für besonders bemerkenswert zu halten. Ich zitiere einige Zeilen aus dem Artikel von Ollivier:10 „Jacobi himself is possibly the first to have forgotten his own work. […] his manuscripts on this subject were written around 1836 and were intended to be a part of a forsaken project of a long paper on differential equations. […] In fact these results are a by-product of his work on the isoperimetric problem[…].“
Dieses Beispiel zeigt die wirkliche Schwierigkeit der Algorithmengeschichte. Zu Jacobis Zeiten gab es die mathematische Disziplin kombinatorische Optimierung überhaupt noch nicht. Das Zuordnungsproblem war als „Begriff“ genauso wenig bekannt wie die Technik der Algorithmenanalyse. Jacobi wollte lediglich ein gewisses Problem für Matrizen lösen, das im Rahmen seiner Untersuchungen über Differentialgleichungen „nebenbei“ auftrat. Seine Lösung des „Matrixproblems“ war ein Beweis, der selbst wiederum (aus unserer heutigen Sicht) ein Algorithmus war. Dieses hat Jacobi vermutlich nicht einmal selbst bemerkt oder interessiert. Und welcher Diskrete Mathematiker der heutigen Zeit, der sich für den ungarischen Algorithmus speziell oder Algorithmengeschichte allgemein interessiert, liest 9
Im Internet findet man weitere Informationen hierzu unter http://www.lix.polytechnique.fr /~ollivier/JACOBI/jacobiEngl.htm? und http://www.sci.ccny.cuny.edu/~ksda/DART-AMS/ Ollivier-DART.pdf. 10 Siehe http://www.sci.ccny.cuny.edu/~ksda/DART-AMS/Ollivier-DART.pdf.
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Artikel über Differentialgleichungen aus dem 19. Jahrhundert in gesammelten Werken im Detail – und dann noch in lateinischer Sprache? Es ist wirklich reiner Zufall, dass der Zusammenhang dieser „Hilfskonstruktion“ mit dem ungarischen Algorithmus entdeckt wurde. 3. GRAPHENALGORITHMEN Das Thema „Graphenalgorithmen“ wird heute von der Informatik als Teilgebiet dieser Wissenschaftsdisziplin reklamiert, während Graphentheorie als Unterdisziplin der Diskreten Mathematik angesehen wird. Ein Grund dafür ist, dass viele der „klassischen Graphentheoretiker“ sich selbst nach dem Aufblühen des „algorithmischen Standpunktes“ nicht für Algorithmen interessiert haben sondern sich weiterhin (nur) für die Formulierung „schöner Sätze“ begeistern konnten. Dabei haben Graphentheoretiker „unendlich viele“ Algorithmen produziert, sie haben diese jedoch nicht als solche formuliert sondern nur als Beweisargumente benutzt. Zum Beispiel haben fast alle Beweise durch vollständige Induktion algorithmischen Charakter und können auch direkt als Algorithmen formuliert werden – meistens jedoch nicht so kurz und elegant. Gleiches gilt für Beweise, bei denen man minimale oder maximale Gegenbeispiele annimmt und dann durch Konstruktionen zeigt, dass die Existenz dieser Gegenbeispiele im Widerspruch zu den Bedingungen eines Satzes steht. Man kann niemandem vorwerfen, die „impliziten Algorithmen“ nicht explizit darzustellen, aber die Nichterwähnung des algorithmischen Aspekts eines Resultats führt mit Sicherheit dazu, dass einige Juwelen des Algorithmendesigns unbekannt bleiben oder später in anderen Zusammenhängen mehrfach wiederentdeckt werden. Ich möchte hierzu ein Beispiel geben. Jedes Buch über Graphentheorie enthält einen Abschnitt über hamiltonsche Graphen. Ein Weg der Länge k-1 in einem Graphen mit n Knoten ist eine Folge von voneinander verschiedenen Knoten v1, v2, …, vk-1, vk, so dass die Knoten vi und vi+1 jeweils durch eine Kante verbunden sind, 1≤ i ≤ k-1. Gibt es zusätzlich noch eine Kante, welche die Knoten v1 und vk verbindet, so liegt ein Kreis der Länge k vor. Kreise der Länge n heißen hamiltonsch – nach Sir William Rowan Hamilton(1805-1865), der sich 1856 erstmals mit dem Auffinden solcher Kreise beschäftigt hat. Graphen mit n ≥ 3 Knoten, die einen hamiltonschen Kreis enthalten, heißen hamiltonsch. Eines der Ziele der Theorie ist das Auffinden von notwendigen und/oder hinreichenden Bedingungen für die Existenz hamiltonscher Kreise in einem Graphen. Eine einfache hinreichende Bedingung für die Existenz hamiltonscher Kreise hat G.A. Dirac angegeben.11 Dirac bezieht sich dabei auf die Grade der Knoten des Graphen. Dies ist ein trivial zu berechnender Parameter, während das Feststellen der Existenz eines hamiltonschen Kreises schwierig (NP -vollständig) ist, was Dirac seinerzeit nicht wusste, weil es die Komplexitätstheorie noch nicht gab. Der Grad eines Knoten v ist die Anzahl der Kanten, die v enthalten. 11 Dirac 1952.
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Satz (Dirac). Ist G ein Graph ohne parallele Kanten mit n ≥ 3 Knoten und hat jeder Knoten mindestens den Grad n/2, so ist G hamiltonsch.
Hier ist ein breit ausgewalzter Beweis, den man in ähnlicher Form in vielen Graphentheoriebüchern findet. Man wähle einen beliebigen Knoten v des Graphen. Dann gehe man zu einem Nachbarn w von v (also zu einen Knoten w, der mit v durch eine Kante verbunden ist) und von w zu einem weiteren bisher noch nicht besuchten Nachbarn x von w. Dieses Aufsuchen eines noch nicht besuchten Nachbarn eines gegenwärtigen Knotens führe man so lange fort, bis der gegenwärtig betrachtete Knoten, sagen wir z, keinen Nachbarn mehr hat, der nicht bereits auf dem Weg von v nach z liegt. Dann gehe man zurück zu v und versuche von v aus den Weg auf die gleiche Weise „in die andere Richtung“ zu verlängern. Am Ende dieses Suchprozesses hat man einen Weg W = v1, v2, …, vk , so dass weder v1 noch vk einen Nachbarn haben, der nicht auf diesem Weg liegt. Sind v1 und vk durch eine Kante verbunden, so haben wir einen Kreis der Länge k gefunden. Falls diese Kante nicht vorhanden ist, definieren wir die Mengen N1 = {vi| vi+1 ist Nachbar von v1} und Nk = {vi| vi ist Nachbar von vk}. Falls im Durchschnitt von N1 und Nk ein Knoten, sagen wir vj, liegt, so repräsentiert nach Konstruktion die Knotenfolge v1, v2, …, vj, vk, vk-1, …, vj+1 einen Kreis der Länge k. Nehmen wir an, dass im Durchschnitt von N1 und Nk kein Knoten liegt, so hat die Vereinigung von N1 und Nk die Kardinalität n, da sowohl N1 als auch Nk mindestens die Kardinalität n/2 haben. Aber der Knoten vk liegt nicht in dieser Vereinigung, also hat die Vereinigung höchstens n-1 Elemente, ein Widerspruch! Folglich haben wir (möglicherweise nach Umnummerierung) einen Kreis K = v1, v2, …, vk der Länge k finden können, und offensichtlich gilt k ≥ n/2+1. Gibt es in G einen Knoten w, der nicht in K enthalten ist, so muss w, da der Grad von w mindestens n/2 ist, mindestens einen Nachbarn vs in K haben. Die Folge w, vs, vs+1, …, vk, v1, v2, …, vs-1 repräsentiert dann einen Weg der Länge k+1. Wir iterieren nun die vorhergehende Argumentation und zeigen, dass dann ein Kreis der Länge k+1 existieren muss. Dies führen wir so lange fort, bis wir einen Kreis der Länge n konstruiert haben. Dies beendet den Beweis. Wenn man nicht an der expliziten Konstruktion des Kreises der Länge n interessiert ist, kann man die Argumentation erheblich verkürzen. Der entscheidende Punkt ist hier jedoch, dass der Beweis eine Folge von Konstruktionen beschreibt, die z.B. bei Heuristiken für das Travelling-Salesman-Problem (TSP) in unterschiedlicher Form verwendet werden. Das TSP ist „das klassische“ kombinatorische Optimierungsproblem. Hier wird in einem vollständigen Graphen (jeder Knoten ist mit jedem anderen durch eine Kante verbunden), bei dem für jede Kante eine „Länge“ gegeben ist, nach einem hamiltonschen Kreis kürzester Gesamtlänge gesucht. In der obigen Beweisführung wird zunächst ein langer Weg konstruiert (das ist eine Version der Nächster-Nachbar-Heuristik des TSP), dann wird daraus durch Austauschargumente ein Kreis gemacht (TSP-Austauschverfahren wie Cheapest Insert), danach wird der Weg und anschließend der Kreis durch Einfügungsoperationen verlängert (TSP-Insertion-Heuristiken). Aus algorithmischer
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Sicht ist die Basis des Beweises nichts anderes als eine Heuristik für das hamiltonsche Graphenproblem. Der Beweis selbst ist eine Analyse der Heuristik und zeigt, dass die Heuristik, wenn die Gradvoraussetzung des Satzes erfüllt ist, immer einen hamiltonschen Kreis liefert. Heuristik-Analyse gab es also schon lange bevor dieses Wort im Bereich des Operations Research und der Theoretischen Informatik erfunden wurde. Der Satz von Dirac hat unzählige Verfeinerungen und Verallgemeinerungen erfahren. Aus der hier geschilderten Sicht kann man diese ganz schlicht als Verbesserungen der Algorithmen (neue „Austauschtricks“ wurden z.B. eingeführt und iteriert) und detailliertere Heuristik-Analysen bezeichnen, die dann auch zu allgemeineren Sätzen geführt haben. Wenn ich behaupte, dass 90% der Ergebnisse der Graphentheorie so wie hier interpretiert werden können (Graphentheorie als Analyse von heuristischen Algorithmen), werden mich Graphentheorie-Puristen vermutlich steinigen. Ich bin jedoch davon überzeugt, dass eine Durchforstung der Graphentheorie-Literatur hervorbringen wird, dass viele der gängigen Graphenalgorithmen bereits implizit in den Beweisen der Graphentheorie vorhanden waren. Was die Sichtweisen jedoch unterscheidet, ist, dass Graphentheoretiker auf die Formulierung eleganter Sätze abzielen, während Informatiker und Operations Researcher mehr Wert auf Datenstrukturen, Laufzeitanalysen und Worst-Case-Abschätzungen legen. 4. LINEARE OPTIMIERUNG Über die Geschichte der Methoden zur Lösung linearer Gleichungen gibt es sehr viele Untersuchungen. 12 Dagegen scheinen sich Mathematiker viel weniger mit Ungleichungen und insbesondere mit dem Themengebiet, das wir heute lineare Optimierung oder lineare Programmierung (kurz LP) nennen, beschäftigt zu haben, obwohl LP und Polyedertheorie eng miteinander verknüpft sind und Polyeder in der Geschichte der Mathematik eine wichtige Rolle gespielt haben. Der Artikel von Grattan-Guiness gibt eine Übersicht über die Frühzeit der linearen Optimierung.13 Die beste Zusammenfassung der Theorie und der Geschichte der linearen Optimierung und der damit verbundenen Gebiete der Polyedertheorie findet man bei Schrijver.14 Ich möchte hier nur ein paar ergänzende Bemerkungen machen, die einige Aspekte der geschichtlichen Entwicklung erhellen. Ein lineares Program ist eine Optimierungsaufgabe der Form max cTx (oder min cTx) unter der Nebenbedingung, dass Ax ≤ b gilt. Hierbei sind c und b gegebene reelle Vektoren, A eine gegebene reelle Matrix und x ein Variablenvektor (alle von jeweils passender endlicher Dimension). Gesucht ist also das Maximum oder Minimum einer linearen Funktion über einem Polyeder.
12 Siehe hierzu z.B. Chabert 1999, Kap. 9. 13 Grattan-Guiness 1994. 14 Schrijver 1986, siehe u.a. S. 209ff.
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Einer der ersten, der die Bedeutung von Ungleichungen für Anwendungen der Mathematik erkannt hatte, war Jean Baptiste Joseph Fourier (1786-1830).15 Fourier hat im Jahre 1827 eine Variableneliminationsmethode beschrieben, mit der man prüfen kann, ob ein gegebenes Ungleichungssystem Ax ≤ b eine Lösung hat oder nicht. Dieses Verfahren wird heute Fourier-Motzkin-Methode genannt. Motzkin hatte die Fourier-Methode 1936 wiederentdeckt und zu verschiedenen Zwecken eingesetzt. Durch Einführung einer Zusatzvariablen xn+1 und der beiden Ungleichungen cTx ≤ xn+1 ≤ cTx kann man aus jedem LP ein Ungleichungssystem machen. Eliminiert man alle Variablen dieses neuen Systems bis auf die Zusatzvariable xn+1, so liefert die größte untere Schranke für xn+1 den Minimalwert und die kleinste obere Schranke für xn+1 den Maximalwert des linearen Optimierungsproblems. Fourier hat also im Prinzip bereits einen Algorithmus zur Lösung linearer Programme erfunden. Wie sich später herausstellte, ist Fourier-Motzkin-Elimination ein inhärent exponentielles Verfahren und zur Lösung von LPs nicht praxistauglich. Fourier beschrieb außerdem in den Jahren 1826 und 1827 eine rudimentäre Version des Simplex-Algorithmus für den dreidimensionalen Raum. Er erläuterte, wie man von Ecke zu Ecke eines Polyeders geht, bis man ein Optimum gefunden hat, und stellte fest, dass damit klar sein müsste, wie diese Methode in Räumen beliebiger Dimension funktioniert. In der Tat, dies ist die geometrische Version des Simplex-Algorithmus, wie sie in jeder Vorlesung zur linearen Optimierung zu Beginn der Darstellung dieses Verfahrens beschrieben wird. Ist also Fourier der Erfinder des Simplex-Verfahrens? Habe ich im vorhergehenden Abschnitt argumentiert, dass viele Algorithmen, die heutzutage entdeckt werden, vermutlich implizit schon bekannt waren und in vielen Fällen die Entdeckung anderen zugeschrieben werden müsste, so will ich nun genau das Umgekehrte tun. Zwar ist korrekt, dass Fourier die Idee der „Wanderung über die Ecken“ hatte. Aber in diesem Falle ist der Weg von der grundsätzlichen Idee zu einem effizienten Algorithmus noch sehr weit. Eine implementierbare und praxistaugliche Version fand George B. Dantzig, der ab 1947 verschiedene Versionen des Simplex-Algorithmus entwickelte. Dantzig übersetzte das geometrische Konzept „Ecke“ in eine algorithmisch handhabbare „Basislösung“ und zeigte, wie man mit der Inversion der zugehörigen „Basis“ so genannte „reduzierte Kosten“ bestimmen kann, um von einer Basislösung zu einer besseren zu gelangen. Auch von diesem Algorithmus kann man bislang nicht zeigen, dass er eine polynomiale Laufzeit hat. Er ist aber empirisch sehr effizient und bis heute das wesentliche Arbeitspferd der linearen Programmierung. Erst diese Transformation von Geometrie in lineare Algebra macht aus der Idee des Simplex-Algorithmus ein brauchbares Rechenverfahren. Deswegen wird George B. Dantzig von allen Optimierern als Vater der linearen Programmierung bezeichnet. Dies haben nicht alle so gesehen. Als im Jahre 1975 die Ökonomie-Nobelpreise für Beiträge zur linearen Programmierung, genauer für „contributions to the theory of optimum allocation of resources“, vergeben wurden, gingen die Preise 15 Siehe hierzu u.a. Grattan-Guiness 1994.
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(nicht unverdient) an L.V. Kantorovich und T.C. Koopmans. Dantzig wurde aber „übersehen“, obwohl sein Simplex-Algorithmus der Ökonomie seit den fünfziger Jahren unschätzbare Dienste geleistet hat und unsere heutige Technologie ohne diese Methodik nicht denkbar wäre. Die algorithmenhistorisch interessante Frage ist in diesem Fall, wer hat einen wichtigen Beitrag geleistet und wann ist eine algorithmische Idee wirklich schon ein Algorithmus? Das ist schwer zu entscheiden. Im vorliegenden Falle habe ich eine klare persönliche Meinung, aber andere können das durchaus anders sehen, zumal dann, wenn die Quellenlage undurchsichtig ist. Ich erläutere kurz noch zwei weitere, ähnlich gelagerte Fälle im Bereich der linearen Optimierung: Im Jahre 1979 hat Leonid G. Khachiyan (1952-2005) in einem ganz kurzen Artikel bewiesen, dass lineare Programme in polynomialer Zeit gelöst werden können.16 Das war ein großer Durchbruch, der weltweit in der öffentlichen Presse gewürdigt wurde. Khachiyan hat dazu die Ellipsoidmethode benutzt, die auf Arbeiten von N.Z. Shor (1937-2006) aus dem Jahre 1970 zur nichtlinearen Optimierung zurückgeht und von D.B. Yudin und A.S. Nemirovskii 1976 weiterentwickelt wurde. Khachiyan hat die Ellipsoidmethode nicht verändert, er hat nur einige Parameter „richtig“ eingestellt und mit zahlentheoretischen Überlegungen und Volumenschrumpfungsargumenten zeigen können, dass diese Methode lineare Programme in polynomialer Zeit löst. Das war eine völlig überraschende und neue Vorgehensweise bei der Analyse von LP-Algorithmen. Zweifelsohne stammt die Ellipsoidmethode von Shor, ihre (theoretische) Bedeutung hat sie allerdings erst durch die (geringfügige) Modifikation und die außergewöhnliche Analyse von Khachiyan erhalten. Leider hat sich die Ellipsoidmethode in der Praxis nicht bewährt. Die Ellipsoidmethode hat sich jedoch als mächtiges Beweiswerkzeug erwiesen, mit dem viele neue polynomiale Algorithmen für geometrische, kombinatorische und andere Probleme entwickelt werden konnten. Sie hat insbesondere zu einem tieferen Verständnis von Schnittebenenverfahren (Schlagwort: polynomiale Äquivalenz von Optimierung und Separierung) geführt.17 Ein weiterer, aber anders gelagerter Fall ist der folgende. Im Jahre 1984 hat Narendra Karmarkar spektakuläre Erfolge mit einer Innere-Punkte-Methode zur Lösung linearer Programme angekündigt und behauptet, dass dieser Algorithmus in der Praxis schneller sei als die Simplex-Methode.18 Karmarkar konnte mit eleganter Beweistechnik die Polynomialität seines Verfahrens zeigen, niemand aber konnte mit seiner Methode unabhängig die behaupteten Rechenergebnisse nachvollziehen. Karmarkar trat durch die Nichtnachvollziehbarkeit seiner Rechenergebnisse und die Versuche anderer, die Methodik besser zu verstehen, eine Lawine zur Entwicklung weiterer Innere-Punkte-Methoden los. So wurden dann die verschiedensten Ansätze der nichtlinearen Optimierung (durchaus erfolgreich) eingesetzt, um neue Verfahren zur Lösung linearer Programme zu entwerfen. 16 Siehe Khachiyan 1979 und zu weiteren Details Grötschel/Lovász/Schrijver 1988. 17 Siehe Grötschel/Lovász/Schrijver 1988. 18 Siehe Karmarkar 1984.
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Einige davon sind heute der altbewährten Simplex-Methode in verschiedenen Anwendungsbereichen deutlich überlegen. Mehrere Optimierer, darunter meine Kollegen Lustig, Marsten and Shanno, gründeten sogar Firmen, um ihre neuen Innere-Punkte-LP-Codes kommerziell zu vermarkten. Sie waren mehr als erstaunt, als sie von Anwälten von AT&T erfuhren, dass sie damit Patente von AT&T verletzen. Sie wurden aufgefordert, den Verkauf der Programme einzustellen oder AT&T angemessene Lizenzgebühren zu bezahlen. Karmarkar arbeitete seinerzeit bei den AT&T Bell Laboratories, und AT&T hatte sich 1988, von Universitätsmathematikern unbemerkt, weitgehende Patente einräumen lassen, die alle Verfahren abdecken, die lineare Programme dadurch lösen, dass sie durch das Innere der Lösungsmenge vorangehen. 19 Inzwischen hatte sich aber herausgestellt, dass Karmarkars „projektive Innere-Punkte-Methode“ äquivalent zu einem „projected Newton barrier“ Algorithmus ist. Dieser war u.a. in dem Buch von Fiacco und McCormick dargestellt worden.20 Das Besondere an dem Buch ist, das in ihm die Anwendung dieser Methode auf lineare Programme beschrieben ist. Diesem Buch lag sogar ein Fortran-Code bei, und dessen Parameter-Einstellung war so gewählt, dass er als erster implementierter LP-Algorithmus mit polynomialer Laufzeit anzusehen ist. Lustig, Marsten und Shanno glaubten, damit das AT&T-Patent zu Fall bringen zu können, waren aber finanziell und rechtstechnisch nicht in der Lage, die Patentanfechtungsklage durchzustehen. Sie lösten ihre Firma aufgrund der enormen finanziellen Risiken, die die Drohungen von AT&T nach sich zogen, auf. Was lernen wir daraus? Algorithmen werden anscheinend auch heute noch in kurzen Abständen wiederentdeckt. Die Literatur ist so umfangreich, dass man einfach nicht alles, selbst in nahen Fachgebieten, kennt. Wem aber gebührt nun der Ruhm für die Entdeckung der Inneren-Punkte-Methoden zur Lösung linearer Programme? Ganz offensichtlich gab es auch vor Karmarkar schon solche Verfahren. Das Problem war, dass niemand sie wirklich ernsthaft für den praktischen Einsatz in Betracht zog oder bei ersten Versuchen Schiffbruch erlitt. Karmarkars Leistung war unzweifelhaft, dass er eine Idee hatte, wie man mit Hilfe von Potentialfunktionen die polynomiale Laufzeit solcher Algorithmen nachweisen konnte. Fiacco und McCormick hatten bereits ein solches Verfahren implementiert, sie wussten aber nicht, dass es eine polynomiale Laufzeit hat und haben wohl selbst nicht recht geglaubt, dass dieser Ansatz sich zu einem Rivalen des Simplex-Algorithmus entwickeln würde. Was aber ist mit der Priorität? Hier könnten wir den legalen Weg einschlagen und einfach feststellen, dass Karmarkar der erste war, der Innere-Punkte-Methoden für LPs erfunden hat, denn schließlich hat er ja ein Patent erhalten. Das wurde zwar patentrechtlich durchgesetzt, ist aber historisch falsch. Was wird ein Forscher in 500 Jahren davon noch wissen?
19 Z.B. United States Patent 4744028, Karmarkar, May 10, 1988. 20 Fiacco/McCormick 1968.
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5. WAHLVERFAHREN Ich komme nun zu einem Thema, das in der Algorithmengeschichte bisher kaum Berücksichtigung fand. In allen Kulturen und zu allen Zeiten wurde „abgestimmt“. Natürlich wurden und werden Führungsrollen nicht selten durch „Gewalt“ erobert, aber die Geschichte kennt wichtige Dokumente über die Durchführung von Wahlen (z.B die Goldene Bulle), so dass klar ist, dass Wahlverfahren zu jeder Zeit große Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Für unsere Zeit gilt das ganz besonders, denn Demokratien fußen auf Wahlverfahren. Bei der Diskussion von Wahlverfahren steht in der Regel das Thema „Gerechtigkeit eines Verfahrens“ im Vordergrund. Hier möchte ich jedoch auf algorithmische Aspekte und einen besonderen geschichtlichen Aspekt eingehen, nämlich die Benamung von Wahlverfahren. Eine sorgfältige Analyse aller möglichen Wahlsysteme würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Ich will mich daher auf ein „ganz einfaches“ Spezialproblem konzentrieren: Sitzzuteilungsverfahren. Und auch hier werde ich nicht auf die enorme Vielfalt von Sonderregeln (Schwellwerte wie die 5%-Hürde, Vermischen von Mehrheits- und Verhältniswahl, Regionallisten und Überhangmandate, etc.) eingehen; sondern lediglich über die „Basisversionen“ berichten. Sitzzuteilungsverfahren sind Methoden, die Wählerstimmen in Abgeordnetenmandate umrechnen. Aus mathematischer Sicht kann man eine Sitzzuteilung als eine Funktion auffassen. Gegeben sind hierbei eine positive ganze Zahl k (P1, …, Pk sind die zur Wahl zugelassenen k Parteien), eine positive ganze Zahl w (Anzahl aller gültigen Stimmen), und eine positive ganze Zahl s (s ist die Anzahl der zu vergebenden Sitze in einem Parlament, wir gehen hier der einfachen Darstellung halber von einer fest vorgegebenen Sitzzahl aus). Eine Sitzzuteilung ist dann eine Funktion, die jedem Vektor (w1, …, wk) von k nicht-negativen ganzen Zahlen mit der Eigenschaft w = w1+…+wk (wi ist die Anzahl der für Partei i abgegebenen gültigen Stimmen) einen Vektor (s1, …, sk) von nicht-negativen ganzen Zahlen mit der Eigenschaft s = s1+…+sk zuordnet (si ist die Anzahl der Sitze, die Partei i erhält). Ein Sitzzuteilungsverfahren ist ein Algorithmus, der eine Sitzzuteilung aus den gegebenen Daten berechnet. Hier mache ich einen vielleicht haarspalterisch erscheinenden Unterschied zwischen einer Sitzzuteilung und einem Sitzzuteilungsverfahren, der bei der Diskussion von Wahlverfahren meistens nicht betrachtet wird. Der wesentliche Punkt ist, dass zwei verschiedene Sitzzuteilungsverfahren zur gleichen Sitzzuteilung führen können. Wir bezeichnen zwei Sitzzuteilungsverfahren als äquivalent, wenn sie bei allen möglichen Eingangsdaten k, w, s, w1, …, wk immer zu derselben Sitzzuteilung s1, …, sk führen. Der Grund dafür, dieses Thema hier anzusprechen ist, dass immer wieder „neue“ Sitzzuteilungsverfahren erfunden werden. Es dauert dann meistens einige Zeit, bis man herausfindet, dass sie gar nicht neu sind, sondern dass eine andere Person dasselbe Verfahren (vielleicht mit etwas anderen Worten) schon einmal vorgeschlagen hat. Manchmal sieht das Verfahren neu aus, aber nach genauer mathematischer Analyse des vorgeschlagenen Algorithmus stellt sich heraus, dass dieses neue Verfahren immer dieselbe Sitzverteilung ergibt wie ein bereits bekanntes
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Verfahren. Das neue Verfahren ist also äquivalent zu einem bekannten Verfahren, nur die Vorschriften zur Berechnung des Ergebnisses sind etwas anders organisiert. Hier sind zwei Beispiele für so etwas. Jeder kennt (vermutlich noch) besondere Alternativrechenregeln aus der Schule wie die Formel zur Berechnung des Quadrats einer ganzen Zahl mit Endziffer 5. Computerarithmetik kann u.a. dadurch beschleunigt werden, dass man die Multiplikation einer binär codierten Zahl mit einer Zweierpotenz durch eine Left-Shift-Operation implementiert. Natürlich ist es viel wichtiger, die Eigenschaften von Sitzzuteilungsverfahren im Hinblick auf „natürliche Gerechtigkeitskriterien“ zu untersuchen. Das Problem dabei ist, dass man zwar eine wunderbare Liste von erwünschten Eigenschaften aufstellen kann, die ein gerechtes Wahlverfahren besitzen soll, dass man aber (so gut wie immer) zeigen kann, dass es kein Wahlverfahren gibt, das alle diese Eigenschaften hat. Ein sehr schönes Buch, in dem dieser Sachverhalt ausführlich dargelegt wird, ist das von Balinski und Young.21 Die Diskussion hierzu findet permanent überall auf der Welt statt. Bürger klagen häufig, weil sie Ungerechtigkeiten erkennen; ihnen ist jedoch meistens nicht klar, dass die Beseitigung einer Ungerechtigkeit eine Ungerechtigkeit an anderer Stelle hervorruft. Weil man diese „Paradoxien“ inzwischen besser versteht und Mathematiker Politiker intensiver beraten, werden Verfahren mit größerem Verständnis für die „Nebenwirkungen“ ausgewählt. In Deutschland haben von den vielen existierenden Verfahren drei Eingang in die Wahlgesetzgebung gefunden: das D’Hondt-Verfahren, das Hare/Niemeyer-Verfahren und das Sainte-Laguë/Schepers-Verfahren. 22 Auf der Webseite des Deutschen Bundestags findet man Links zu ausführlichen Erläuterungen dieser Verfahren.23 Viele Experten sind heutzutage der Ansicht, dass das Sainte-Laguë/Schepers-Verfahren die Idee der Wahlgleichheit bestmöglich erfüllt. Auf Pukelsheims Homepage sind mehrere Dokumente zur Wahlgesetzgebung und zu seiner Beratungstätigkeit hierzu zu finden.24 Bei den Landtagswahlen des Jahres 2008 in Deutschland fanden folgende Verfahren Anwendung: Bayern und Hessen (Hare/Niemeyer-Verfahren), Hamburg (Sainte-Laguë/Schepers-Verfahren), Niedersachsen (D’Hondt-Verfahren). Mein Anliegen ist das folgende. Es wäre wunderbar, wenn einmal herausgefunden werden könnte, wer welches Sitzzuteilungsverfahren zuerst entdeckt hat, welche Sitzzuteilungsverfahren im oben definierten mathematischen Sinne äquivalent sind und welche Namen in welchen Ländern für welche Verfahren verwendet werden. Natürlich gibt es dazu schon Vorarbeiten, ich bin jedoch sicher, dass sorgfältige historische Arbeit einige neue Sachverhalte zutage fördern wird. Dazu wäre es schön, die jeweiligen Eigenschaften (Vor- und Nachteile) aufzulisten.25
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Balinski/Young 2001. Hierzu gibt Pukelsheim 2002 einen Überblick. http://www.bundestag.de/ausschuesse/azur/index.html. http://www.math.uni-augsburg.de/stochastik/pukelsheim/. Bei Wikipedia und auf anderen Internetseiten ist eine Fülle von solchen Informationen zu finden.
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Ich gebe einige Beispiele zur Begriffsverwirrung im Bereich der Wahlverfahren: Das D’Hondt-Verfahren wird im angelsächsischen Raum Jefferson-Verfahren genannt und in der Schweiz Hagenbach-Bischoff-Verfahren. Die mathematische Bezeichnung ist Divisorverfahren mit Abrundung. Das D’Hondt-Verfahren wurde bis einschließlich 1983 zur Berechnung der Sitzverteilung bei Wahlen zum Deutschen Bundestag verwendet. Das Sainte-Laguë/Schepers-Verfahren nennt man im angelsächsischen Raum Webster-Verfahren, mathematisch Divisorverfahren mit Standardrundung. Das Hare-Niemeyer-Verfahren heißt im angelsächsischen Raum HamiltonVerfahren; Mathematiker bezeichnen es mit Quotenverfahren mit Restausgleich nach größten Bruchteilen. Dieses wurde seit der Wahl im Jahr 1987 zur Berechnung der Sitzverteilung im Deutschen Bundestag angewandt. Am 24. Januar 2008 hat der Bundestag beschlossen, das Hare-Niemeyer-Verfahren ab der folgenden Bundestagswahl durch das Sainte-Laguë/Schepers-Verfahren zu ersetzen. Weitere Sitzzuteilungsverfahren sind das Adams-Verfahren, das Dean-Verfahren, das Hill-Huntington-Verfahren und das Lowndes-Verfahren, und das sind bei weitem noch nicht alle. Eine geschichtliche Übersicht über die Probleme mit diesen Verfahren im Wahlsystem der USA findet sich bei Balinski/Young.26 Die bisher betrachteten Wahlverfahren sind Methoden der Verhältniswahl, bei denen es darum geht, die Verhältnisse der abgegebenen Stimmen durch die Sitzverteilung im Parlament möglichst gut widerzuspiegeln. Daneben gibt es vielfältige Formen der Mehrheitswahl. Ich will hier nur die Condorcet- und die BordaMethode erwähnen. Die Borda-Methode ist bereits 1433 von Nicolaus Cusanus (1401-1464) in seiner Schrift De concordantia catholica vorgeschlagen worden. Auch der mallorquinische Philosoph, Logiker und Theologe Raimundus Lullus (1232-1316) hat schon Studien von Wahlverfahren unternommen. Gerade diese Erkenntnisse legen die Vermutung nahe, dass einige der anderen Verfahren wesentlich älteren Ursprungs sind, denn gewählt wurde auch in Athen und Rom, in Klöstern und anderen Gemeinschaften. Vielleicht hat ja irgendjemand irgendwo die dabei verwendeten Algorithmen skizziert? Der Grund, dass ein und dasselbe Wahlverfahren unterschiedliche Namen hat, liegt daran, dass die Verfahren zu verschiedenen Zeiten in mehreren Ländern unabhängig voneinander (wieder-)entdeckt wurden und aus Lokalstolz ein einmal gewählter Name beibehalten wird. Heute sollte man das eigentlich besser wissen und machen. Dem ist nicht so, wie die nachfolgende Geschichte zeigt. Im Züricher Tages-Anzeiger vom 11. Februar 2006 erschien ein Artikel von Edgar Schuler mit der Überschrift Friedrich Pukelsheim, Statistiker und Vater des neuen Wahlsystems in Zürich. Ein Mathematiker macht Politik“, aus dem ich einige Sätze zitiere: „[…]Der deutsche Mathematikprofessor hat die Methode ausgetüftelt, nach der die Wählerstimmen auf die Parteien und Kandidaten verteilt werden. In Zürich muss sich das System nun zum ersten Mal in der Praxis bewähren. […] Dabei ist es dem 57-jährigen Professor eher peinlich, dass die Methode von Regierungsrat Markus Notter kurzerhand zum ‚doppelten 26 Balinski/Young 2001.
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Pukelsheim‘ erklärt wurde. Pukelsheim zieht die wissenschaftliche Bezeichnung ‚doppeltproportionale Divisormethode mit Standardrundung‘ vor. Vor allem weil das Verfahren nicht von ihm erfunden worden sei, sondern in Paris vom Mathematikerkollegen Michel Balinski. Pukelsheim hat die Methode zusammen mit Christian Schuhmacher von der Justizdirektion für Zürich adaptiert. [….]“
Auch wenn der Kollege Pukelsheim nachdrücklich auf die Urheberschaft anderer verwiesen hat, scheint sich, zumindest in Zürich, ein weiterer Name einzubürgern. 6. ZUSAMMENFASSUNG Der Artikel beschäftigt sich mit Algorithmengeschichte, aber was ein Algorithmus ist, habe ich noch nicht erklärt. Und das ist auch gar nicht so einfach. Ganz vage wird in der Regel definiert: Ein Algorithmus ist eine Handlungsvorschrift zur Lösung eines Problems. Damit sind auch die Anweisung zum Ausfüllen eines Formulars und ein Kochrezept ein Algorithmus. Man kann die Definition präziser angeben, wie das häufig in Büchern zur Informatik und Logik geschieht. Aber dann muss man einen formalen Apparat aufziehen, der den Rahmen dieses Artikels sprengen würde. Ich habe kein Buch und keinen Artikel zur Algorithmengeschichte gefunden, in denen das so formal gemacht wurde. Ich vermute, dass Menschen, seit sie denken können, Algorithmen entworfen und benutzt haben (Anweisungen zur Jagd, zum Anbau von Pflanzen, zur Behandlung von Ware, etc.). Wirklich in den Fokus wissenschaftlicher Beschäftigung sind Algorithmen jedoch erst im 20. Jahrhundert gekommen. Zunächst war Algorithmentheorie durch die bedeutenden Arbeiten von Gödel, Turing, Church, Kleene und anderer eine Teildisziplin der Logik. Mit dem Aufkommen realer Computer und damit der Informatik traten praktische Fragen der Algorithmenanalyse in den Vordergrund, und die sich entwickelnde Komplexitätstheorie ermöglichte ein präziseres Verständnis von Algorithmen und damit zusammenhängenden Fragen. Donald Knuth, einer der großen Informatik-Pioniere, schrieb im Band 1 seiner Buchserie The Art of Computer Programming: „By 1950, the word algorithm was most frequently associated with Euclid’s algorithm.“ Das heißt, wenn man heute Algorithmengeschichte betreibt, kann man nicht nach dem Stichwort Algorithmus suchen und hoffen, etwas vor 1950 zu finden. Man muss tiefer suchen nämlich sich mit Verständnis für algorithmische Ideen in die Texte vertiefen und versuchen, algorithmische Vorgehensweisen herauszulesen. Das ist eine wirklich schwere Aufgabe, möglicherweise kommen damit aber sehr interessante wissenschaftshistorische Sachverhalte zu Tage. Tiefensuche (englisch depth-first search) ist aber auch ein in Informatik und Mathematik sehr beliebtes und erfolgreiches Suchverfahren, das insbesondere in der Graphentheorie vielfältige Anwendungen findet und z.B. sehr gute Algorithmen zum Testen von Zusammenhangseigenschaften liefert. Aber das ist nicht Gegenstand dieses Artikels. Wie es im Internet das Deep Web gibt, das von den heutigen Suchmaschinen nicht erfasst wird und dessen Datenmenge nach verschiedenen Untersuchungen einige hundert Mal umfangreicher als das Visible Web sein
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soll, so vermute ich, dass in den Tiefen der Dokumente vergangener Jahrhunderte viele Juwelen der Algorithmengeschichte schlummern, die mit den gegenwärtigen algorithmenhistorischen Suchverfahren einfach nicht erreicht werden. Es gibt also noch viel zu tun. LITERATUR Balinski/Young 2001: Balinski, Michel L. u. H. Peyton Young: Fair Representation: Meeting the Ideal of One Man, One Vote, (second edition), Washington. Chabert 1999: Chabert, Jean-Luc (Hg.): A History of Algorithms: From the Pebble to the Microchip, Berlin. Dirac 1952: Dirac, Gabriel Andrew: Some theorems on abstract graphs, in: Proceedings of the London Mathematical Society 2, S. 69-81. Fiacco/McCormick 1968: Fiacco Anthony V. u. Garth P. McCormick: Nonlinear programming sequential unconstrained minimization techniques, erneut aufgelegt als: Classics in Applied Mathematics, Philadelphia, PA, USA, 1990. Frank 2005: Frank, Andras: On Kuhn’s Hungarian method – A tribute from Hungary, in: Naval Research Logistics 52, S. 2-5. Grattan-Guiness 1994: Grattan-Guiness, Ivor: „A New Type of Question“: On the Prehistory of Linear and Non-Linear Programming, 1770-1940, in: Knobloch, E. und D.E. Rowe (Hg.), The History of Modern Mathematics, Bd. III: Images, ideas and communities, Boston, S. 4389. Grötschel/Lovász/Schrijver 1988: Grötschel, Martin, László Lovász u. Alexander Schrijver: Geometric Algorithms and Combinatorial Optimization, Berlin. Karmarkar 1984: Karmarkar, Narendra: A new polynomial-time algorithm for linear programming, in: Combinatorica 4, S. 373-395. Khachiyan 1979: Khachiyan, Leonid G.: Polinomialnyi algoritm v lineinom programmirovanii [Russisch], in: Doklady Akademii Nauk SSSR 244, S. 1093-1096 [Englische Übersetzung: A polynomial algorithm in linear programming, in: Soviet Mathematics Doklady 20, 1979, S. 191-194]. Kuhn 1955: Kuhn, Harold W.: The Hungarian method for the assignment problem, in: Naval Logistics Quarterly 2, S. 83-97. Kuhn 1991: Kuhn, Harold W.: On the origin of the Hungarian method, in Lenstra, J.K., A.H.G. Rinnooy Kan und A. Schrijver (Hg.), History of Mathematical Programming — A Collection of Personal Reminiscences, Amsterdam, S. 77-81. Munkres 1957: Munkres, James: Algorithms for the assignment and transportation problems, in: Journal of the Society for Industrial and Applied Mathematics 5, S. 32-38. Pukelsheim 2002: Pukelsheim, Friedrich: Die drei in Deutschland verwendeten Mandatszuteilungsmethoden und ihre Namenspatrone, http://www.math.uni-augsburg.de/stochastik/ pukelsheim/2002g.html zusammengestellt von Friedrich Pukelsheim und von Spektrum der Wissenschaft zur Drucklegung redigiert unter dem Titel „Die Väter der Mandatszuteilungsverfahren“, erschienen in: Spektrum der Wissenschaft, September 2002, S. 83. Schrijver 1986: Schrijver, Alexander: Theory of Linear and Integer Programming, Chichester. Schrijver 2003: Schrijver, Alexander: Combinatorial Optimization: Polyhedra and Efficiency, Berlin.
Uta Lindgren
MAß, ZAHL UND GEWICHT IM ALPINEN MONTANWESEN UM 1500 „Technik und Mathematik“ ist ein von der Gegenwart vorgegebenes Thema, dem Historiker mit unterschiedlichen Interessen in früheren Epochen nachgespürt haben. Die geringfügigen Verbindungen von Technik und Mathematik im Mittelalter hat Christoph J. Scriba 1 verdienstvollerweise in seinem Grundsatzbeitrag zum zehnbändigen Handbuch „Technik und Kultur“, herausgegeben im Auftrag der Agricola Gesellschaft, zusammengestellt und blieb damit im Rahmen des verbreiteten Urteils über das „dunkle Mittelalter“. Diesem Urteil ist in letzter Zeit von zwei Seiten entgegengewirkt worden. Menso Folkerts2 hat die verschiedenen Stränge der geometrischen Überlieferung im Hoch- und Spätmittelalter voneinander unterscheidbar gemacht und damit den Weg für ein besseres Verständnis der Praxis geebnet. Und von Historikerseite sind Berg- und Probierordnungen sowie Ansichten3 mit technischen Inhalten publiziert worden, die die Verknüpfung mit Mathematik erkennen lassen. Schriftliche Belege, die bislang übersehen worden sind, stammen aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, entsprechen jedoch häufig der spätmittelalterlichen Praxis.4 Im Folgenden werden drei prägnante Beispiele mit ihrem handwerklichen, wirtschaftlichen und gegebenenfalls politischen Zusammenhang vorgeführt: 1. Tirol mit Bergbau und Hüttenwesen, 2. Salzgewinnung in Hall, Berchtesgaden und Reichenhall und 3. Eisen aus der Steiermark. 1. TIROL MIT BERGBAU UND HÜTTENWESEN Im Schwazer Bergrevier, aber auch am Schneeberg und in den anderen kleineren Revieren, galt im Spätmittelalter die, wie auch in den deutschen Mittelgebirgen übliche Rechtsstruktur der Kuxen, die von ihren Besitzern, den Gewerken, unternehmerisch
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Scriba, Christoph J. u. Bertram Maurer: Technik und Mathematik, in: Hermann, Armin u. Charlotte Schönbeck (Hg.): Technik und Wissenschaft (=Technik und Kultur, Bd. III), Düsseldorf 1991, S. 31-48. Folkerts, Menso: Essays on Early Medieval Mathematics. The Latin Tradition, Aldershot, Hampshire 2003; Folkerts, Menso, Eberhard Knobloch u. Karin Reich: Maß, Zahl und Gewicht. Mathematik als Schlüssel zu Weltverständnis und Weltbeherrschung, 2. überarbeitete und ergänzte Auflage, Wolfenbüttel 2001. Z.B. sehr ergiebig: Ammann, Gert (Hg.): Silber, Erz und weißes Gold. Bergbau in Tirol, Schwaz 1990. Brichzin, Hans: Augenschein-, Bild- und Streitkarten, in: Bönisch, Fritz, Hans Brichzin, Klaus Schillinger u. Werner Stams: Kursächsische Kartographie bis zum Dreißigjährigen Krieg, I. Die Anfänge des Kartenwesens, Berlin 1990, S. 136.
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Uta Lindgren
betrieben worden sind. Die Besitzverhältnisse 5 wurden in kartenverwandten Zeichnungen, „Augenschein“ genannt, zunächst oberirdisch, spätestens seit dem 16. Jahrhundert aber auch durch Vermessungen unterirdisch festgehalten. Dies sind die Anfänge des Markscheidewesens, dem 1574 erstmals von Erasmus Reinhold eine selbständige Schrift6 gewidmet wurde, die die enge Verwandtschaft zum Feldmessen nicht leugnen kann, obwohl im Unterschied dazu im Berg stets drei Dimensionen zu messen sind. Die von Reinhold verwendeten Instrumente sind: die Bussole (Magnetkompass mit 360° Einteilung), ein „Quadrant oder Kompass“ zum Messen von Vertikalwinkeln, eine Bergwaage, d.i. eine Halbkreisscheibe mit Gradeinteilung, Pendel und Wasserwaage, sowie Messstange und/oder Draht zum Entfernungsmessen (von einer Hanfschnur wird abgeraten). Reinhold gibt sogar Anweisungen zur Trigonometrie, die aber wohl eher im Gelände anzuwenden waren. Entsprechende Geräte konnte man schon Agricolas Schriften entnehmen, die weite Verbreitung fanden. Im Schwazer Bergbuch (1556) ist ein Markscheider (Schiner) abgebildet mit einem Messstab und einem quadratischen Brett, das in der Mitte einen Magnetkompass hat, darum herum einen Vollkreis, der zweimal in zwölf Teile (à 15 Grad) eingeteilt ist; die Zählung beginnt auf einer der beiden Diagonalen des Quadrates. Über die Aufgaben des Markscheiders7 heißt es dort: „In allen Bergwerksangelegenheiten, vor allem aber im Schinen (Vermessen), soll er geschickt und verständig sein. Er muss sich in seinem Amt jederzeit mit guten, geeigneten Stühlen, Waagen, Schnüren und Kompassen, Stäben und Klaftern, die zu jeder Schin notwendig sind, versehen, damit er First- und Sohleisen, auch Teil- oder Abschneidend Eisen, über Tage festlegen und in die Grube richtig bringen und ziehen kann.“ Die Instrumente entsprechen – außer den Schnüren – denen von Reinhold. Die Arbeit des Tiroler Markscheiders vollzog sich teils oberirdisch, teils in den Gruben. Dass der Markscheider Zeichnungen anfertigen soll, wird ihm an dieser Stelle nicht vorgeschrieben, sie werden aber bei anderen Ämtern erwähnt. Sowohl der Bergmann8, der fremde Gruben besichtigt, als auch der Berggerichtsschreiber9 bedienen sich der vom Markscheider angefertigten Pläne. Auch die Entlohnung steht den Arbeitern von den jeweiligen Gewerken zu, geschieht also auf der Grundlage der Kenntnis der Besitzverhältnisse. In größeren Revieren mit vielen 5 6 7
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Ibd. Reinhold, Erasmus: Vom Mar(k)scheiden, kurtzer und gründlicher Unterricht, Erfurt: Georg Baumann 1574; Wunderlich, Herbert: Kursächsische Feldmeßkunst, artilleristische Richtverfahren und Ballistik im 16. und 17. Jahrhundert, Berlin 1977, S. 25. Ammann, Gert u. Meinrad Pizzinini: Gewerken – Beamte – Bergarbeiter, in: Ammann (wie Anm. 3), S. 136-170, insbes. S. 159. Im Bochumer Entwurf von 1554 fol. 58r ist der Schiner außer mit dem Magnetkompass mit Winkelmaß, Kordel und Schemel abgebildet. Bartels, Christoph, Andreas Bingener u. Rainer Slotta (Hg.): „1556 Perkwerch etc.“ Das Schwazer Bergbuch, Bd. I, Der Bochumer Entwurf von 1554. Faksimile, Bochum 2006, S. 115. In einem vorhergehenden Kapitel „Von dem perckhmass“ (fol. 27r sqq.) sind nicht nur die verwendeten Maße erklärt, sondern in verschiedenen Ansichten auch die Schiner und ihre Gehilfen bei der Arbeit abgebildet: fol. 30r, fol. 31 r und 31v. Im Faksimile S. 59, 61 u. 62. Ammann/Pizzinini (wie Anm. 7), S. 158. Ibd., S. 159.
Maß, Zahl und Gewicht im alpinen Montanwesen um 1500
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Abb.1: Markscheider (Schiner) im Schwazer Bergbuch mit einem Winkelmaß, einer Kordel, einem Schemel und einem quadratischen Brett, das in der Mitte einen Magnetkompass hat, darum herum einen Vollkreis, der zweimal in 16 Teile (à 22 ½ Grad) eingeteilt ist. (1554). Quelle: Bartels, Christoph, Andreas Bingener u. Rainer Slotta (Hg.): „1556 Perkwerch etc.“ Das Schwazer Bergbuch, Bd. I, Der Bochumer Entwurf von 1554. Faksimile, Bochum 2006.
Arbeitern hat der Grubenschreiber10 die Aufgabe, die Arbeitszeiten zu protokollieren und sowohl Arbeiter als auch Unternehmer alle acht Tage über die Lohnforderungen zu informieren. Die realitätsnahe Darstellung im Schwazer Bergbuch betrifft nur das oberirdisch sichtbare Montanwesen sowie das damit verbundene Transportwesen. Spuren geometrischer Vermessung enthalten die eindrucksvollen Aquarelle des Bergbuchs jedoch nicht. Die ältesten Bergrisse aus Sachsen11 stammen aus den Jahren 1526 bis 1529. Geometrie bestimmt auch den Bau des Schmelzofens, der im „Schmelzbuch“ von Hans Stöckl 12 aus den Jahren 1543 bis 1560 einen rechtwinkligen Grundriss haben soll. Die genauen Maße von Öfen und Blasebalgen sind ebenfalls dort festgelegt. Den Hauptteil des Schmelzbuches bilden Rezepte.
10 Ibd., S. 162. 11 Brichzin (wie Anm. 4), S. 138-40. 12 Egg, Erich: Das Schmelzbuch des Hans Stöckl. Die Schmelztechnik in den Tiroler Hüttenwerken um 1550, in: Der Anschnitt 15, Sonderheft, 1963, S. 3-34. Vgl. auch Suhling, Lothar: Hüttentechnische Verfahren zur Gewinnung von Silber, Blei und Kupfer als Kuppelprodukte im ostalpinen Bergbau um 1500. Zu Verhüttung der Schneeberger und Gossensasser Erze, in: Tasser, Rudolf, Ekkehard Westermann u. Gustav Pfeifer (Hg.): Der Tiroler Bergbau und die Depression der europäischen Montanwirtschaft im 14. und 15. Jahrhundert, Innsbruck u.a. 2004, S. 227-239.
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Im Schwazer Bergbuch wird beim Schmelzwerk13 neben dem Ofen die Waage als wichtigstes Arbeitsgerät dargestellt. Der Probierer muss sogar mit zwei Waagen ausgestattet sein: der Korn- und Schlichwaage, die feiner wiegen als die große Waage beim Schmelzwerk. Dass die Waagen mit Gewichten ausgestattet sind, ist eine Selbstverständlichkeit. Beim „Fröner“, der Streitigkeiten bei Erzkäufen schlichten soll, gehören geeichte Maße14 und Gewichte zur Amtsausstattung. Ohne Waage ist die Schmelztechnik des 16. Jahrhunderts undenkbar. Von Zeitspannen und verschiedenen Holz- resp. Holzkohlearten ist in Stöckls Schmelzbuch allerdings nicht die Rede. Insofern enthält das Schmelzbuch nur grobe Rezepte, die erst von erfahrenen Hüttenmeistern umgesetzt werden können. Stöckl, der in verschiedenen Tiroler Revieren gearbeitet hat, berichtet nicht nur von eigenen Erfahrungen, sondern hat systematisch Rezepte gesammelt. Diese stammten über Tirol hinaus auch aus anderen deutschen Bergregionen. Stets ist die Herkunft der Erze genau bezeichnet, meistens werden Erze verschiedener Gruben miteinander verschmolzen. In einigen Fällen zitiert Stöckl alchemistische Schmelzerfahrungen,15 alle Rezepte haben genaue Gewichtsangaben, manchmal enthalten sie Angaben über die Hitze,16 die durch den Blasebalg zu regulieren war. Stöckl stand nicht in Diensten der Tiroler Erzherzöge, sondern großer Unternehmer. Sein Schmelzbuch spiegelt also nicht die Möglichkeiten politischer Macht, wohl aber Verbindungen zu anderen Hüttenmeistern, wie sie von sachlichem Interesse geknüpft werden konnten. Von Geheimhaltungspolitik kann hier offenbar keine Rede sein. Auch der große Popularisierer Sebastian Münster17 bezieht sich bei seiner kurzen Beschreibung der Schwazer Metalle in der Kosmographei von 1550 ausdrücklich auf alchemistisches Wissen, das die Grundlagen der Metallkunde geschaffen hatte. Die Bodenschätze in Tirol und in der Steiermark waren unterschiedlicher Art: Silber, Kupfer, Blei und Zink in Tirol, Eisen in der Steiermark. Ich übergehe hier das bisschen Eisen, das man in Tirol fand. Es gab wohl einige Harnischmacher18 in Innsbruck, deren Geschicklichkeit den letzten Rittern Freude bereitete. Aber man darf nicht vergessen, dass die Rüstungen immer weniger Schutz gegen die modernen Waffen boten. Sie wurden für die Waffenkammern der Habsburger geliefert, wo sie sich gut erhielten. Die Abbaubedingungen waren grundverschieden von denen, die man in der Steiermark vorfand. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der Bergbau in Tirol19 13 14 15 16 17
Ammann/Pizzinini (wie Anm. 7), S. 166. Ibd., S. 161. Egg (wie Anm. 12), S. 12 u. 24. Ibd., S. 14. Münster, Sebastian: Cosmographei oder beschreibung aller länder / herschafften / fürnemsten stetten ..., Basel 1550, S. 689. 18 Pizzinini, Meinrad: Tiroler Eisen und seine Verarbeitung, in: Ammann (wie Anm. 3), S. 272284, insbes. S. 275-278. Auf S. 275 befindet sich die berühmte Abbildung aus dem Weißkunig, die Maximilian beim Besuch in einer Harnischmacher Werkstatt in Innsbruck zeigt. 19 Egg, Erich: Schwaz ist aller Bergwerke Mutter, in: Ammann (wie Anm. 3), S. 37-46, insbes. S. 38.
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nur bis in die ersten Jahre des 15. Jahrhunderts zurückreicht. Die geologischen Bedingungen waren weitaus schwieriger als in der Steiermark, der notwendige Einsatz von Bergarbeitern weit höher. Alles Erz musste aus unterirdischen Stollen geholt werden, wo es mit dem vielfachen seines Gewichtes an totem Gestein vermischt war, ganz zu schweigen von den Stollen und Schächten, die gehauen werden mussten, ehe man an eine Erzader gelangte. Der Bedarf an Holzkohle20 war höher, wenn man Silber von Kupfer, mit dem es praktisch immer verbunden ist, trennen wollte, weil dies – mit Hilfe von Blei – in mehreren Schritten im Saigerverfahren zu geschehen hatte. Die Bedeutung der Tiroler Erzvorkommen ist im globalen Vergleich mit denen der Steiermark nicht vergleichbar. Bereits während des 15. Jahrhunderts hatten die Herren von Tirol sich verschuldet und die Bergwerke ihren Gläubigern als Pfand überlassen. Zur Zeit von Herzog Sigismund dem Münzreichen war dies nicht ungewöhnlich gewesen und die Beträge hatten sich in Grenzen gehalten. Aber Kaiser Maximilian I., genannt der letzte Ritter, verfolgte eine Heiratspolitik, die ihn deutlich teurer zu stehen kam. Bei seinem Tod im Jahr 1519 musste sein Enkel Karl V., der in Spanien Karl I. wurde, die Kurfürsten mit Summen für sich gewinnen, die bis dahin unvorstellbar gewesen waren. Dadurch gelang es ihm tatsächlich, die Wahl seines Rivalen Franz I. von Frankreich abzuwenden. Die beiden Erfolge, die Heiratspolitik, die im übrigen fortgesetzt wurde, und die Wahl Karls V. garantierten die Herrschaft der Habsburger Dynastie für die nächsten drei Jahrhunderte. Die Folgen waren also durchaus beachtlich. Die notwendigen Gelder21 wurden den Herrschern von süddeutschen Großkaufleuten und Bankiers geliehen. Im Gegenzug erhielten sie eine Reihe von Privilegien. Was ihre Eitelkeit befriedigte war die Erhebung in den Adelsstand. Aber die meisten Privilegien dienten dazu, die geliehenen Summen wieder zu erlangen. Allerdings haben die gigantischen Schulden22 des 16. Jahrhunderts mehrere Familien von Großkaufleuten in den Bankrott getrieben und selbst die Forderungen der reichsten und geschicktesten Bankiersfamilie, der Fugger 23 in Augsburg, sind letztlich nicht erfüllt worden. Sie hatten gewissermaßen für ihren gesellschaftlichen Ehrgeiz in bar bezahlt. Die Bodenschätze Tirols befanden sich praktisch sämtlich in den Ländereien der Grafen resp. späteren Erzherzöge. Der Anteil der Bischöfe von Brixen und 20 Mutschlechner, Georg: Bergbau auf Silber, Kupfer und Blei, in: Ammann (wie Anm. 3), S. 231-267, insbes. S. 261. 21 Fried, Pankraz: Historische Beziehungen zwischen Schwaben und Tirol in der Neuzeit, in: Baer, Wolfram u. Pankraz Fried (Hg.): Schwaben-Tirol. Historische Beziehungen zwischen Schwaben und Tirol von der Römerzeit bis zur Gegenwart, Textband, Rosenheim 1989, S. 35-42, insbes. S. 38; Kellenbenz, Hermann: Schwäbische Kaufherren im Tiroler Bergbau (1400-1650), in: Baer/Fried (wie Anm. 21), S. 208-219, insbes. S. 209. 22 Kellenbenz (wie Anm. 21), S. 210-213; Trauchburg, Gabriele von: Augsburger Montanunternehmer in Tirol, in: Baer/Fried (wie Anm. 21). Das Portrait von Hans Baumgartner befindet sich auf S. 144, das von Jacob Fugger auf S. 145; Ress, Franz M.: Die Familien Baumgartner in Nürnberg, Augsburg, Kufstein und Wasserburg, in: Der Anschnitt 5, 1953, S. 10-12. 23 Ammann, Gert u. Meinrad Pizzinini: Der Tiroler Bergbau und die europäische Wirtschaft, in: Ammann (wie Anm. 3), S. 359-366, insbes. S. 359-361; Kellenbenz (wie Anm. 21), S. 214-216.
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Trient war vergleichsweise gering. Die Unternehmer24 – hier nannte man sie „Gewerken“ wie in Deutschland – sind ursprünglich Leute aus der Gegend gewesen. Aber der Bedarf an Handwerkern und Bergleuten konnte im Land nicht befriedigt werden. Es gab eine gewisse inneralpine Migration25 und vor allem starken Zuzug von außerhalb der Alpen. Hierzu zählen die bayerischen und schwäbischen Nachbarn, aber Spezialisten kamen auch aus den Bergregionen von Sachsen, Thüringen und Böhmen. Der Abbau begann mit den Metalladern, deren Ausstreichen im Hochgebirge oberhalb der Vegetationsgrenze beobachtet worden war. Man folgte ihnen abwärts mit geneigten Stollen und Schächten. Mit dem Wasser gab es wenig Probleme bis zu dem Augenblick, wo man den Grundwasserspiegel im Tal erreichte. Im Jahr 1491 hat man in Anwesenheit des Erzherzogs und aller Bergleute feierlich den Sigmund-Fürstenbau-Erbstollen eröffnet, der allgemein den Namen „Erbstollen“ trug. Er wurde ganz nahe an der Talsohle26 angelegt. 1515 begann man, einen um 75 Grad geneigten Schacht zu graben, mit dem die benachbarten, tiefer gelegenen Vorkommen erschlossen werden sollten. In diesem Jahr traten die Fugger27 erstmals als Pächter in den Quellen auf. Der schräge Schacht hatte im Jahr 1533 die beachtliche Tiefe28 von 235 Metern erreicht. Von ihm zweigten in regelmäßigen Abständen Stollen ab, insgesamt ein sieben Kilometer langes Netz. Alles tote Gestein war mit der Muskelkraft der Bergarbeiter herausgeschafft worden, die einen Ledersack hinter sich her schleiften. Im Jahr 1535 wurde ein Aufzug installiert, dessen Tretrad ebenfalls durch Menschen in Funktion gehalten wurde. Das größte Problem des Erbstollens war das Wasser. Allein 600 Männer29 waren nötig, um es zu entfernen. Sie arbeiteten in Schichten jeweils vier Stunden lang, indem sie eine Kette bildeten, in der der mit Wasser gefüllte Ledereimer von Mann zu Mann nach oben gereicht wurde. Allein im Jahr 1535 kostete dies die exorbitante Summe von 14.000 Gulden. Den Fuggern gelang es, den Erzherzog 24 Mutschlechner (wie Anm. 20), S. 243; Alles Erz wurde in Bücher eingetragen, vgl. die Illustration des Fröners im Schwazer Bergbuch, abgebildet bei Ammann (wie Anm. 7), S. 136-170 u. 160f. 25 Egg (wie Anm. 12), S. 38; Piffer, Stefano: Geschichtliche Notizen über die Bergwerkstätigkeit im Trentino, in: Ammann (wie Anm. 3), S. 267-271, insbes. S. 267f.; Ceschi, Raffaello: Migration von Berggebiet zu Berggebiet, in: Brunold, Ursus (Hg.): Gewerbliche Migration im Alpenraum, Bozen 1994, S. 47-82; Palme, Rudolf: Hauptströmungen der gewerblichen Migration in Nordtirol vom Spätmittelalter bis zur Jetztzeit, in: Brunold (wie Anm. 25), S. 225-244, insbes. S. 225-227. Unter den 14 Schmieden, die die Rechte der Messerschmiede zu Graz im Jahr 1597 unterzeichneten, waren nur zwei aus der Gegend, aber drei aus Nürnberg, die anderen aus unterschiedlichen Orten: Kaufbeuren, Regensburg, Baden, Schongau, Schlesien, Freiburg/Br., Halberstadt (Sachsen), Calw, Pforzheim. Haberleitner, Odilo, Handwerk in Steiermark und Kärnten vom Mittelalter bis 1850 (=Forschungen zur geschichtlichen Landeskunde der Steiermark 20), Graz 1962, S. 154-158. 26 Mutschlechner (wie Anm. 20), S. 243f.; Vgl. die Abbildung des Hasplers im Schwazer Bergbuch, abgedruckt bei Ammann/Pizzinini (wie Anm. 7), S. 162f. 27 Mutschlechner (wie Anm. 20), S. 244. 28 Ibd. 29 Ibd.
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davon zu überzeugen, dass er diese Kosten ab 1540 übernahm. Die relativ spät eingerichtete „Wasserkunst“ funktionierte erst seit dem Jahr 1554 zur Zufriedenheit. Man nannte die Maschine „Wassergappl“.30 Es handelte sich um ein Kehrradsystem mit je zwei großen Rädern, die oberschlächtig mit Wasser in Bewegung gesetzt wurden. Mit diesen Rädern konnte man das Wasser in den größten verfügbaren Gefäßen aus Rindsleder fördern. Jedes Gefäß trug 1400 Liter Wasser. Die Maschine diente ebenfalls dazu, Erz und totes Gestein aus dem Schacht zu fördern. Seit 1589 musste der „Wassergappl“ ausschließlich Wasser fördern. Die am tiefsten gelegenen Stollen31 waren nicht zu halten. Im Jahr 1615, hundert Jahre nach seiner Eröffnung, wurde der Erbstollen ganz aufgegeben.32 Der größte Gewinn wurde aus dem Falkenberg im Jahr 1523 gezogen. In den Folgejahren verdarben die Gefahren und die Kosten den Unternehmern die Freude. Dank des „Wassergappl“ hatte man das Personal deutlich verringern können. Den Höchststand 33 für Bergbau und Verhüttung zusammen in Schwaz hat man auf 15.000 Mann geschätzt. Es wurden allein 1200 Huntstößer benötigt, das sind die Männer, die die typischen kleinen Bergkarren, Hunt genannt, schieben mussten. Ab 1577 waren nur noch die Fugger und die erzherzogliche Kammer, Ärar genannt, am Abbau beteiligt. 80 Jahre später verließen die Fugger34 Tirol. Schwaz war nicht das einzige Bergbauzentrum in der Region. Im Mittelalter und im 16. Jahrhundert gab es an den Hängen des Schneebergs 35 ein weiteres wichtiges Zentrum nicht weit von Sterzing entfernt. Dies bestand bereits seit dem 13. Jahrhundert. Das Schwazer Bergbuch von 1556 zählt alle Bergwerke auf und beschreibt sie. Bemerkenswerterweise war die Qualität des Erzes unterschiedlich. Im Ahrntal, südlich von Glurns, baute man das Tauferer Kupfer36 ab, nach dem kleinen Ort Taufers benannt, welches sich durch seine Geschmeidigkeit auszeichnete. Dies erlaubte das Ziehen von dünnen Drähten, mit denen die tausenderlei kleinen Posamenten hergestellt wurden, die man „leontinische Waren“ nannte. Die Unternehmer von Schwaz fürchteten die Konkurrenz und versuchten 1479, die Gruben von Taufers schließen zu lassen. Aber das Revier von Taufers war so bedeutsam, dass es 1498 ein Berggericht allein für das Tal des Ahrn erhielt. Bis ins 15. Jahrhundert gab es überhall Hüttenwerke vor allem in der Nähe der Gruben, wenn das Gelände es erlaubte. Im 15. Jahrhundert begann ein Konzentrationsprozess. Die Hütten wurden nicht nur an immer größere Gewässer, sondern in die Nähe von Städten verlegt und das Erz wurde zu ihnen gebracht. 30 31 32 33
Ibd. Ibd., S. 245. Ibd. Ibd., S. 244; Im Schwazer Bergbuch nennt man den „Huntstößer“ „Truhenläufer“, obwohl die Zeichnung eindeutig einen Kasten auf Rädern zeigt. Vgl. Ammann/Pizzinini (wie Anm. 7 ), S. 163; Fischer, Peter: Bergbeschau am Falkenstein bei Schwaz im Jahre 1526. Zur Struktur der Arbeiterschaft in einem führenden Bergbauzentrum der frühen Neuzeit, in: Der Anschnitt 53, 2000, S. 2-14. 34 Mutschlechner (wie Anm. 20), S. 245. 35 Ibd., S. 255-257. 36 Ibd., S. 261-262.
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Auch in der Gegend von Schwaz ist der Konzentrationsprozess zu beobachten. Im Jahr 1526 war Jenbach ein Hüttenzentrum, das Erz des erzherzoglichen Ärars wurde in Brixlegg37 geschmolzen. Die Nützlichkeit des Kupfers bestand vor allem in seinem niedrigen Schmelzpunkt, der unter 1000 Grad liegt und durch Zuschlag von Blei und Zink noch vermindert werden kann. Dies war mit Holzkohle gut zu machen. Man stellte daraus Feuerwaffen jeder Größe her, aber auch Haushaltsgegenstände. Im Handwerk waren Eisenwerkzeuge unverzichtbar. Die Erze in Tirol wurden bis zum Zweiten Weltkrieg abgebaut, wenn ihr Ertrag auch seit dem 17. Jahrhundert zunehmend geringer wurde. Für diese Entwicklung gibt es mehrere Gründe. Viele technische Probleme konnte man nicht überwinden. Der Preis des Bergbaus war hoch. Es gab Konkurrenten für Kupfer in Ungarn, für Silber in Sachsen und der Oberpfalz. Außerdem darf die Konkurrenz der Vorkommen in der Neuen Welt nicht vergessen werden. Aber die technologische Entwicklung entfernte sich auch vom Gebrauch des Messings, das man zuweilen „gelbes Kupfer“ nannte. Eisen und Stahl ersetzten es mehr und mehr. 2. SALZGEWINNUNG IN HALL, BERCHTESGADEN UND REICHENHALL Das Salz zählt zu den Mineralen der Alpen, deren Gewinnung bis in die früheste Geschichte 38 zurückreicht. Hallstatt (Österreich) war das älteste Salzzentrum. Hallstatt hat auch der ältesten Periode der Eisenzeit den Namen gegeben (Hallstattzeit c. 750-450 v. Chr.). Damals hat man das Salz trocken abgebaut, im Mittelalter hat sich die Methode geändert. Dann hat man das Salz im Berg aufgelöst, indem man eine Wasserquelle hineinleitete. Die Sole (das salzhaltige Wasser) hat man gesammelt und – außerhalb des Gebirges – in eine Saline geleitet. Im Mittelpunkt einer Saline stand die Salzsiederei/Sudhaus, wo die Sole in einer großen Pfanne erhitzt wurde, bis das Salz kristallisierte. Noch nass wurde es aus der Pfanne geholt, in spezielle Tonnen gestoßen und vollständig getrocknet. Anschließend war das Wichtigste, es trocken zu halten. In einer Saline waren daher zwei große Herde notwendig, einer für die Pfanne und einer zum Trocknen des kristallisierten Salzes. – Aber bevor man das Salz in einer geologischen Schicht auflösen konnte, musste man dorthin gelangen. Die Bergleute mussten einen Gang durch das so genannte tote (unnütze) Gestein hauen, wie sie es auf der Suche nach Erzen tun. Dies war und ist eine technische Maßnahme, die die Gewinnung von Salz mit dem Erzbau verbindet. 37 Piffer (wie Anm. 25), S. 240; Ascher, Ludwig: Seit dem Mittelalter: Münzmetalle in Brixlegg, in: Tiroler Almanach, 1990/91, S. 70-74: Egg (wie Anm. 12), S. 3-34; Suhling, Lothar: Innovationen im Montanwesen der Renaissance. Zur Frühgeschichte des Tiroler Abdarrprozesses, in: Technikgeschichte 42, 1975, S. 97-119. Der Probierer ist im Schwazer Bergbuch abgebildet, abgedruckt bei Ammann/Pizzinini (wie Anm. 7), S. 133. 38 Pauli, Ludwig: Salzgewinnung und Salzhandel in vor- und frühgeschichtlicher Zeit zwischen Alpen und Mittelgebirge, in: Treml, Manfred, Wolfgang Jahn u. Evamaria Brockhoff (Hg.): Salz Macht Geschichte, Augsburg 1995, Textband, S. 204-211, insbes. S. 204.
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Abb. 2: Augenschein (Ausschnitt) des Haller Salzberges mit den zum Salzabbau gehörenden Gebäuden, Stollen, Wegen und Bächen; am Rand sind drei Stollen als geometrische Linien mit Maßangaben aufgetragen. Auffallend sind die Uhren an den Stollenhäusern. (1555) Quelle: Spötl, Christoph u. Hans Spötl: Alte Ansichten vom Salzberg in Hall (Tirol). Zur baugeschichtlichen Entwicklung eines alpinen Salzbergwerkes seit dem 16. Jahrhundert, in: Der Anschnitt 46, 1994, S. 150-157.
Die ältesten im Salinenwesen erhaltenen, so genannten „Grubenkarten“39 stammen vom Salzberg bei Hall in Tirol (1531, 1555). Genaugenommen handelt es sich um einen Augenschein des Hanges mit den zum Salzabbau gehörenden Gebäuden, Stollen, Wegen und Bächen; am Rand sind drei Stollen als geometrische Linien mit Maßangaben aufgetragen. Auffallend sind die Uhren an den Stollenhäusern. Am höchstgelegenen Haus sieht man eine Sonnenuhr und das Zifferblatt einer mechanischen Uhr. Auf der Zeichnung von 1602 hat das tiefer gelegene Steinberghaus40 einen separaten Uhrturm mit dem Zifferblatt einer mechanischen Uhr. Sowohl die mit geometrischen Elementen versehenen Zeichnungen, als auch die Uhren, deren Darstellung im Montanwesen der frühen Neuzeit eine Seltenheit ist, sind zu diesem Zeitpunkt nicht leicht aus dem technischen Zusammenhang zu erklären.
39 Spötl, Christoph u. Hans Spötl: Alte Ansichten vom Salzberg in Hall (Tirol). Zur baugeschichtlichen Entwicklung eines alpinen Salzbergwerkes seit dem 16. Jahrhundert, in: Der Anschnitt 46, 1994, S. 150-157. 40 Ibd., S. 153.
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Die Salzgewinnung am Haller Salzberg41 lag im 13. und 14. Jahrhundert in der Hand der Grafen von Tirol als Besitzern des Berges. Im Laufe des 14. Jahrhunderts wurden zunehmend vererbbare Lehen an Unternehmer vergeben, die Oberaufsicht behielt der von den Grafen eingesetzte Beamte, der „Salzmair“. Maximilian begann noch als deutscher König 1492, die Lehen in Beamtenstellen42 umzuwandeln, ein Prozess, der unter seinem Enkel Ferdinand I. in der Mitte des 16. Jahrhunderts als abgeschlossen gelten konnte. Das Salz wurde bereits im Berg durch Zuführen von Süßwasser gelöst, technische Neuerungen betrafen das Sammeln und Ablassen der gesättigten Sole. Die so genannte „Grubenkarte“ konnte also nicht dieselbe Bedeutung haben wie am Falkenberg, den Kuxenbesitz zu dokumentieren, wie das im Erzbergbau üblich war. Auf die Notwendigkeit der Zeitmessung durch Uhren für die Entlohnung und bei Hüttenprozessen ist oben schon verwiesen worden, obwohl Uhren dort nicht dokumentiert waren. Bei den technischen Prozessen am Salzberg spielen Uhren dagegen keine Rolle. Dass die „Grubenkarten“ in der Zeit des Übergangs zur Habsburger Eigenregie entstanden, gibt Anlass für eine andere Erklärung. Wie die Landvermessung in dieser Zeit Ausdruck herrschaftlicher Repräsentation ist (z.B. die Bayerischen Landtafeln von Philipp Apian), wird hier Habsburger Besitz mit den modernsten Mitteln dokumentiert. Die Uhren sind der Beleg für die Legitimation des Betriebes durch Beamte, deren pünktliche Aufgabenerfüllung Voraussetzung für den festgesetzten Lohn ist. Das Salzvorkommen von Hall wurde zuerst durch den Salzgehalt von Quellen entdeckt, die man, so gut es ging, zu nutzen versuchte. In den 60er Jahren des 13. Jahrhunderts ließ Graf Meinrad II. von Goerz-Tirol den Ritter Nikolaus von Rohrbach43 aus Aussee, kommen, wo er bereits erfolgreich bei der Salzgewinnung gearbeitet hatte. Er erhoffte sich, dass Nikolaus die Vorkommen von Hall auf systematische Weise nutzen würde. Eine methodische Neuerung bestand in der Einrichtung von „Sinkwerken“ (Brunnenschächten)44 mit einer Öffnung, aus der die saturierte Sole austreten konnte. Dies war deshalb möglich, weil die Salzlager von Hall sich in beträchtlicher Höhe, meist über 1400 Meter hoch, befanden, während sie in Berchtesgaden und Hall sehr viel tiefer lagen. Das 14. Jahrhundert zeichnete sich durch große Misswirtschaft aus. Die Grafen von Tirol hatten wegen Geldbedarf 41 Palme, Rudolf: Geschichte des Salzbergbaues und der Saline Hall in Tirol, in: Ammann (wie Anm. 3), S. 206-221; Spötl, Christoph: 700 Jahre Salzbergbau im Halltal, in: Tiroler Almanach, 1990/91, S. 94-99; Günther, Wilhelm; Die Saline Hall in Tirol – 700 Jahre Tiroler Salz, 1272-1972 (=Leobener Grüne Hefte 132), Wien 1972; Tschan, Wolfgang: Die Technik im Haller Salzsiedewesen des 16. Jahrhunderts. Innovationsversuche und berufsständische Tradition, in: Der Anschnitt 49, 1997, S. 33-39. 42 Palme (wie Anm. 41), S. 209f. Eine schöne Abbildung zeigt, wie schwierig es war, das Salzwasser vom Süßwasser an den Hängen oberhalb von Hall voneinander getrennt zu halten: Feigenputz de Griessegg, Iter per salinas tyrolenses, Innsbruck 1707, abgedruckt in: Palme (wie Anm. 41), S. 211. 43 Palme (wie Anm. 41), S. 206; Spötl (wie Anm. 39), S. 95. 44 Spötl (wie Anm. 39), S. 96.
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die Salzgewinnung verpachtet und die Pächter hatten so viel Gewinn als möglich zu machen getrachtet, ohne für den notwendigen Unterhalt der technischen Installationen zu sorgen. Im Jahr 1363 wurde Tirol habsburgisch und der Landesherr nahm den Titel eines Herzogs (später Erzherzogs) an. Herzog Rudolf IV.45 kümmerte sich intensiv um die Salzgewinnung in Hall46 und ließ Fachleute aus Hallstatt47 und Aussee kommen. Andere Probleme der Salinen von Hall unterschieden sich kaum von denen an anderen Orten. Der Konkurrenzkampf um das Holz48 war im Inntal weitaus schärfer wegen des Bedarfs der Schmelzhütten (s.o.). Für den Handel bediente man sich vorzugsweise der Wasserkraft49, wenn denn der Inn genug Wasser führte. Aber der Handel beschränkte sich nicht auf den Osten. Es gab auch im Westen50 interessante Märkte. Der wichtigste Mann beim Salinenpersonal war der Pfannenschmied.51 Er war zusammen mit seinen Gehilfen für die Sudpfannen verantwortlich, was in Anbetracht der zunehmenden Größe der Pfannen keine leichte Aufgabe war. Die Salzvorkommen von Berchtesgaden und Reichenhall waren geologisch anders gelagert, entsprechend waren die Abbauweisen und Probleme anders als in Hall. Berchtesgaden ist eine idyllische kleine Stadt im äußersten Südosten von Bayern, nicht weit vom romantischen Königsee entfernt. Die Anfänge von Berchtesgaden liegen in einer Abtei, die zu Beginn des 12. Jahrhunderts gegründet worden ist. Im Jahr 1156 nahm Kaiser Friedrich I. (Barbarossa) 52 sie unter seinen Schutz. Sie wurde damit reichsunmittelbar, d.h. hatte keinen anderen Herrn außer dem Kaiser. In demselben Privileg bestätigte der Kaiser die Schenkungen des Gründers, Berengar von Sulzbach, und hob speziell das Recht, die Bodenschätze zu gewinnen (Schürfrecht), hervor, was zu den königlichen Regalien gehörte. Das Salz wurde explizit genannt. Daraus geht hervor, dass die Salzgewinnung praktisch bis zu den Anfängen von Berchtesgaden zurückreicht. Von Anfang an gab es Streitereien wegen der Wälder. Salzburg lag in großer Nähe zu Berchtesgaden, war aber wegen seines Erzbischofs, des Domkapitels und anderer mächtiger geistlicher Institutionen sehr einflussreich und besaß in Hallein seine eigenen Salzvorkommen und Salinen, die sehr viel Holz benötigten. Verglichen mit der Salzburger Gegend ist das Hinterland von Berchtesgaden eher bescheiden. Im täglichen 45 Kießling, Rolf: Schwäbisch-tirolische Wirtschaftsbeziehungen 1350-1650, in: Baer/Fried (wie Anm. 21), Textband, S. 182-201, insbes. S. 187. 46 Spötl (wie Anm. 39), S. 96. 47 Palme (wie Anm. 41), S. 208. 48 Ibd., S. 214. Das Holz wurde sogar aus dem Engadin geholt. 49 Vgl. den Blick auf Hall in: Lindgren, Uta: Alpenübergänge von Bayern nach Italien, 15001850. Landkarten – Straßen – Verkehr, München 1986, S. 111; Spötl (wie Anm. 39), S. 150157. 50 Filser, Karl: Die Rolle der Lech- und Illerflößerei im Handelsverkehr zwischen Tirol und Schwaben, in: Baer/Fried (wie Anm. 21), Textband, S. 233. 51 Palme (wie Anm. 41), S. 213. 52 Palme, Rudolf, Das Salzbergwerk Berchtesgaden, in: Treml/Jahn/Brockhoff (wie Anm. 38), Textband, S. 74-82, insbes. S. 74.
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Leben nutzte der kaiserliche Schutz in Berchtesgaden nicht viel. Das führte dazu, dass die Abtei eine Annäherung an den bayerischen Herzog suchte. Die geographische Lage von Berchtesgaden brachte eine weitere Schwierigkeit mit sich. Der kleine Fluss, der den Ort durchquert, die Ache53, mündet nahe Hallein in die Salzach. Das bedeutet, dass das Berchtesgadener Tal54 sich gegen den wirtschaftlichen Konkurrenten und latenten politischen Feind hin öffnet. Die erste Saline lag in Schellenberg, einer von Natur aus günstigen Lage, um die Sole aufzufangen, die den Hängen folgt. Aber die Lage gab auch zu ständigem Ärger Anlass, weil das Salz nur in Richtung Salzburg abtransportiert werden konnte, wo zuallererst Zoll zu entrichten war, sogar wenn das Salz für Bayern bestimmt war. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts wurde eine zweite Saline errichtet. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hat man eine Soleleitung nach Reichenhall gebaut, von wo aus die dortige Sole schon seit 1619 nach Traunstein55 und seit 1810 auch nach Rosenheim in die Salinen geleitet wurde. Diese Verlegung der Salinen war wegen ihres großen Holzbedarfs logisch. Die Soleleitung von Berchtesgaden nach Reichenhall56 war jedoch aus technischen Gründen revolutionär, weil sie einen Pass überwinden musste. Zu diesem Zweck musste die Sole um mehr als 360 Meter gehoben werden. In Reichenhall57 in Bayern sind die Salzsieder seit 935 bekannt. Sie standen immer in Konkurrenz zu Hallein im Salzburgischen. Ein großes Problem hatten die Reichenhaller mit dem Wasser58, denn es ist schwierig, die gewünschten Wassermengen zu den Salzlagern zu lenken und zugleich den Überschuss abzuleiten. Ein anderes Problem bestand in der Versorgung mit Holz59 als Energiequelle. Darin stand man permanent in Konkurrenz mit Salzburg, das in nur 20 km Entfernung liegt. Für das letztere Problem benötigte man den Schutz der Herzöge von Bayern. Für das erstere waren Investitionen notwendig, die sich die lokalen Unternehmer nicht leisten konnten. 53 Ibd., S. 77. 54 Koller, Fritz: St. Peter als Salzproduzent, in: St. Peter in Salzburg. Das älteste Kloster im deutschen Sprachraum, Salzburg 1982, S. 104-108, insbes. S. 106f.; Ramstedt, Constantin: Salz als Kulturquell im Rupertigau, in: Der Anschnitt 7, 1955, S. 10-14. 55 Kurz, Heinrich: Die Soleleitung von Reichenhall nach Traunstein (=Deutsches Museum, Abhandlungen und Berichte 46, 1978, H. 1/2), München 1978. 56 Feulner, Manfred: Die berühmte Berchtesgadener Soleleitung (=Berchtesgadener Schriftenreihe Nr. 6), Berchtesgaden 1969; Graßler, Anton: Historische Salinenwege zwischen Watzmann und Chiemsee (= Fritsch Wanderkarte 86), Hof/Saale o.J.; Freymann, Klaus: Georg von Reichenbach und seine Solepumpen, in: Treml/Jahn/Brockhoff (wie Anm. 38), Textband, S. 164-171; Weber, Renate: Reichenbach, in: Treml/Jahn/Brockhoff (wie Anm. 38), Katalogband, S. 176-181. 57 Jahn, Wolfgang: Die Saline Reichenhall vom Spätmittelalter bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Treml/Jahn/Brockhoff (wie Anm. 38), S. 83-92, insbes. S. 83; Jahn, Wolfgang: Vergessene Bücher – Buchbestände zur Geschichte des bayerischen Salinenwesens, in: Cernajsek, Tillfried, Liselotte Jontes u. Peter Schmidt (Hg.): Das kulturelle Erbe geo- und montanwissenschaftlicher Bibliotheken. Internationales Symposium, Freiberg in Sachsen 1993, Wien 1996, S. 183-186. 58 Jahn, Saline Reichenhall (wie Anm. 57), S. 83 u. 85. 59 Ibd., S. 85 u. 88.
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Im Jahr 1494 ergriff der Herzog von Bayern Besitz60 von der Salzproduktion in Reichenhall, die Saline und die Wälder inbegriffen. Er regte verschiedene Modernisierungsmaßnahmen an. Dem Baumeister Erasmus Grasser61 aus München gelang es, des übermäßigen Wasserzuflusses aus einer Süßwasserquelle Herr zu werden. Um den großen Brunnenschacht zu sanieren, baute er den „Grabenbach“, einen 2000 Meter langen, gemauerten Stollen, der sich weitere 2500 Meter als offener Graben fortsetzt. Dieses war eine enorme Baumaßnahme, die 18 Jahre dauerte und erst 1538 vollendet wurde. Eine andere Verbesserung betraf eine neue Siedetechnik, die Holz einsparte. Es gab damals zahlreiche Ingenieure, die von einem Hof zum andern herumwanderten und den Fürsten ihre Dienste anboten. Der sparsame Umgang mit Wärmeenergie gehörte zu den angebotenen Diensten, aber es gab auch viele Scharlatane. Wolfgang Vitl62 aus Hall in Tirol führte eine wirkliche Neuerung im Energiesektor ein. Seine Neuerung waren Sudpfannen in sehr viel größeren Dimensionen. Während die alten Pfannen zwischen 11 und 13 Fuß (330-390 cm) auf 6 bis 8 Fuß (180-240 cm)63 gemessen hatten, betrug der Durchmesser bei den neuen 15 Meter. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts bediente man sich sogar Pfannen mit einem Durchmesser von 25 bis 30 Metern. Gleichzeitig sorgte die Methode des langsamen Füllens der Solepfannen im Gegensatz zum raschen Auffüllen zu profitableren Ergebnissen. Da die Arbeiter aller dieser Spezialverrichtungen nach dem Ergebnis 64 entlohnt wurden, d.h. dem fertigen Salz, hatten sie ein Eigeninteresse daran, die rationellsten Methoden anzuwenden. Um die Sole aus den Schächten/Sinkwerken65 zu fördern, wo sie sich im Berg sammelte, verwendete man seit 1440 eine Maschine, die Eberhard Hann 66 aus Salzburg konstruiert hatte. In Reichenhall sprach man vom „Kettengeschöpf“, d.h. man schöpfte mit Ledereimern, die an einer endlosen Kette, einem Paternoster, befestigt waren. Diese Maschine funktionierte bis ins 19. Jahrhundert67 zur Zufriedenheit der Unternehmer. Das Salz von Reichenhall und Berchtesgaden wurde in alle Richtungen verkauft. Es gab im Westen68 einen beträchtlichen Absatzmarkt, vor allem, weil die Schweiz keine eigenen Vorkommen hatte und auf Importe angewiesen war. Der
60 61 62 63 64 65 66 67 68
Ibd., S. 85. Ibd., S. 86. Ibd. Ibd.; Patocka, Franz: Leo Pronner und das Ausseer Salzwesen im 16. Jahrhundert, in: Cernajsek/Jontes/Schmidt (wie Anm. 57), S. 167-171. Jahn, Saline Reichenhall (wie Anm. 57), S. 87. Ambatiello, Peter: Die Solegewinnungstechnologie im alpinen Salzbergbau von Berchtesgaden, in: Treml/Jahn/Brockhoff (wie Anm. 38), Textband, S. 66 mit einer Abbildung. Jahn, Saline Reichenhall (wie Anm. 57), S. 85. Ibd. Wanderwitz, Heinrich: Der Salzhandel in Bayern bis zur Errichtung des herzoglichen Handelsmonopols, in: Treml/Jahn/Brockhoff (wie Anm. 38), Textband, S. 212-222; Wanderwitz, Heinrich: Salz auf den Pässen der Alpen, in: Lindgren, Uta (Hg.): Alpenübergänge vor 1850. Landkarten – Straßen – Verkehr (=Vierteljahrsschrift für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Beiheft 83), Stuttgart 1987, S. 173-178.
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Transport wurde nur selten auf dem Wasserwege ausgeführt, vielmehr auf einer Straße am Rande der Alpen. Schon wiederholt konnte ein Technologietransfer festgestellt werden, bei dem die Namen der Erfinder bekannt sind. Es handelte sich um Männer aus anderen alpinen Salzzentren, mit Ausnahme von Grasser69, der aus der Oberpfalz stammte, auch dies eine Bergbauregion, in der 1475 25% der Bevölkerung vom Bergbauund Hüttenwesen lebten. Anders als beim nahe gelegenen Hall wurden im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit weder in Berchtesgaden noch in Reichenhall Grubenkarten angefertigt. 3. EISEN AUS DER STEIERMARK War der Zusammenhang zwischen Salzgewinnung und Mathematisierung der Technik schon sehr lose, vor allem weil bei den Besitzverhältnissen keine Aufteilungsprobleme auftreten konnten, so erst recht bei den reichen Erzvorkommen in der Steiermark. Dort war nicht der Gewerke der wichtigste Unternehmer,70 sondern der „Radmeister“, d.h. derjenige, der die Wasserkraft für die Verhüttung nutzbar machen konnte. Auch in den anderen Revieren hatte die Bedeutung der Wasserkraft im späten Mittelalter zugenommen, die Hütten waren aus der Nachbarschaft der Gruben zu immer größeren Fließgewässern 71 verlegt worden. Im Schwazer Revier war die Verhüttung der erzherzöglichen Ärars im 16. Jahrhundert in Brixlegg, die der Unternehmer in Jenbach konzentriert worden. Im Unterschied zur Steiermark standen die Hüttenwerke jedoch im Dienste der Grubenbesitzer, wie dies auch in den deutschen Mittelgebirgen üblich war. Es gab und gibt immer noch enorme Reserven von Eisen in den Eisenerzer Alpen, mit dem Erzberg und dem Ort Eisenerz in der Steiermark im Mittelpunkt.
69 Zimmermann, Edith: Hammergüter und Hammerherrenschlösser der nördlichen Oberpfalz, in: Vogl, Elisabeth u. Edith Zimmermann (Hg.): Von Erzgräbern und Hüttenleuten, Amberg 2000, S. 57-73; Sprandel, Rolf: Die Bedeutung der Oberpfalz für die Eisenerzeugung des Mittelalters, in: Hirschmann, Norbert u. Edith Beuner (Hg.): Die Oberpfalz, ein europäisches Eisenzentrum. 600 Jahre Große Hammereinigung, Aufsatzband, Amberg 1987, S. 125-131. 70 Johannsen, Otto: Geschichte des Eisens, 3. Aufl. 1953, S. 93 u. 132-134; Resch, Andreas: Erfahrungswissen in der Eisenverarbeitung und die Entwicklung der alpenländischen Sensenerzeugung zum Großhandwerk um 1600, in: Ferrum. Nachrichten aus der Eisenbibliothek Schaffhausen Nr. 68, Langwiesen 1996, S. 54-60, insbes. S. 54; Jontes, Günther: Buchbesitz der Bewohner des Montanortes Vordernberg (Steiermark) im 16. Jahrhundert, in: Cernajsek/Jontes/Schmidt (wie Anm. 57), S. 187-194; Bittner, Ludwig: Das Eisenwesen in Innerberg-Eisenerz bis zur Gründung der Innerberger Hauptgewerkschaft im Jahre 1625 (Sonderdruck aus Archiv LXXXIX. Bd. II. Hälfte), S. 443-646, insbes. S. 464. 71 Guntsche-Liessmann, Gabriele: Der Bergbau des Mittelalters, in: dies. u. Friedrich Wilhelm Leitner (Hg.). Grubenhunt & Ofensau. Vom Reichtum der Erde, Klagenfurt 1995, S. 147-153. Vgl. auch Suhling, Lothar: Vom Erz zum Metall. Zur Rolle des Wassers beim Scheiden, Pochen und Schmelzen, in: Ingenhaeff, Wolfgang u. J. Bair (Hg.): Wasser – Fluch und Segen, Innsbruck 2004.
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Es handelte sich hierbei um ganze Berge aus Erz mit einem für europäische Verhältnisse unglaublich hohen Metallgehalt. Archäologische Funde von Eisen und Bronze belegen, dass die Kelten72 der Hallstattzeit metallurgische Prozesse auf eine einzigartige Weise meisterten. Diese Meisterschaft ging allerdings verloren. Die Germanen führten den Erzabbau nach der Völkerwanderung zunächst nicht fort. Als der Aufschwung des Abbaus in der Steiermark seit dem 12. Jahrhundert begann, bezeichnete man als „alte Gänge“ die Überbleibsel des Bergbaus, deren Urheber man nicht mehr kannte. Die natürlichen geographischen Gegebenheiten der Eisenerzer Alpen73 in der Steiermark sind ideal: Es gibt genügend Wasser für die „Radhäuser“ (Wassermühlen, die Hämmer und Blasebälge antreiben), es gab – jedenfalls in den ersten Jahrhunderten – genügend Holz für die Verhüttung und das Erz, von einer seltenen Reinheit, war im Überfluss vorhanden. Der Innerberg bestand überhaupt ausschließlich aus Erz. Man konnte ihn wie einen Steinbruch abbauen. Hier gab es nicht das Wasserproblem der anderen Bergbauregionen, in denen das Wasser von allen Seiten in den Abbaubereich eindringt und wieder hinausgeholt werden muss. In der Steiermark gab es reichlich Eisenerz hoch im Gebirge abzubauen, d.h. weit über dem Niveau der Täler. Das Wasser konnte allein abfließen. Die Unternehmer, „Radmeister“ genannt, waren freie Männer, die die Mühle, den Grund und Boden und ein Stück Wald besaßen. Da der Abbau so wenig Probleme bot, waren sie die wichtigsten Leute nach dem Landesherrn. Normalerweise arbeiteten sie persönlich in der Erzschmelze, von einem Dutzend Gesellen unterstützt. Die Bezeichnung der Unternehmer in der Steiermark als Radmeister zeigt, dass die Maschine, das große Rad, am Anfang dieses Gewerbes stand, während anderswo die Unternehmer als Gewerken bezeichnet wurden, wodurch ihr Bezug zum Berg (Kuxe) hergestellt wurde. Andere Fachausdrücke74 im steirischen Montanbetrieb stammen aus dem Slavischen/Slovenischen und zeigen, dass es sich hier um bodenständige Handwerker handelte. Darüber hinaus scheint die Technologie75 nicht anders gewesen zu sein, als in anderen Verhüttungsgegenden jener Zeit. Am Ende des Mittelalters und in der frühen Neuzeit waren die Steirer eher langsam in der Aneignung moderner Technologien. Der Reichtum der Ressourcen (und der Einkünfte) ließ keine Sorgen aufkommen. In der Gegend gab es mehrere geistliche und weltliche Herrschaften. Der größere Teil der Rechte in den Eisenerzer Alpen gehörte den Herzögen von der Steiermark, seit dem 14. Jahrhundert einer habsburgischen Seitenlinie. Die selbst72 Pauli (wie Anm. 38), S. 43; Dannheimer, Hermann u. Rupert Gebhard: Das keltische Jahrtausend, Mainz 1993, S. 266, 274f., 279, 285, 346, 348, 353 u. 361, 362f. 73 Roth, Paul W. (Hg.). Erz und Eisen in der Grünen Mark. Beiträge zum steirischen Eisenwesen, Graz 1984. Der Eisengehalt (Fe) im Eisenerzer Erz beträgt 33 bis 50%. Einecke, Gustav: Die Eisenerzvorräte der Welt, Düsseldorf 1950, Textband, S. 246-248; Bittner (wie Anm. 70), S. 443-646 u. 457; Umlauft, Friedrich: Die Alpen. Handbuch der gesamten Alpenkunde, Wien, Pest, Leipzig 1887, S. 292f. 74 Johannsen (wie Anm. 70), S. 111. 75 Ibd., S. 242; Bittner (wie Anm. 70), S. 480-483.
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bewusste Hauptstadt der Steiermark, Graz, war im 16. Jahrhundert einige Jahrzehnte lang evangelisch. Von 1594 bis 1600 war Johannes Kepler als Professor für Mathematik an der Landschaftsschule angestellt. – Es gab auch einige Klöster, die unabhängige Bergrechte besaßen. Die bedeutendsten sind das Kloster Admont76 im Ennstal, der Zisterzienser Konvent von Neuberg77 an der Mürz und der Konvent von St. Lambert78 in Kärnten, an einem Bach gelegen, der in die Mur zwischen Murau und Judenburg mündet. Sie alle hatten Besitztümer in den Eisenerzer Alpen, die unter steirischem Recht standen, aber sie waren in ihrer Umgebung auch – wie Berchtesgaden für das Salz – im Besitz von Regalien. Man sprach daher von „Walderz“ von allem anderen Eisen außerhalb des Eisenberges, womit – häufig zu Unrecht – eine geringere Qualität des „Walderzes“ unterstellt wurde. Was wurde nun aus diesem Eisen hergestellt? Ein guter Teil wurde als Roheisen exportiert, um anderswo verarbeitet zu werden. Diese Ausfuhren geschahen ohne erkennbares System. Ein ziemlich bedeutender Teil wurde dazu verwendet, um Sensen79 zu schmieden. Es handelte sich dabei um ein besonderes Gewerbe, denn die Sense war nicht nur ein wichtiges und weit verbreitetes Werkzeug, sondern ihre Herstellung – die übrigens recht kompliziert ist – verlangte eine Spezialisierung der gesamten Werkstatt. Im 16. Jahrhundert benötigte man nicht weniger als 20 Schritte80 dazu, die durch Arbeitsteilung entstanden waren. Ein Teil der Sensenschmieden war um die Stadt Eisenerz konzentriert. Andere befanden sich seit dem 14. Jahrhundert in Oberösterreich (Freistadt, Mattighofen), in Niederösterreich (Waidhofen an der Ybbs, Hainfeld) und in der Steiermark (Rottenmann, Kindberg, Übelbach und Judenburg).81 Die Zentren außerhalb der Steiermark befinden sich in beträchtlicher Entfernung. Dort nämlich konnten sie die sie umgebenden Wälder ohne große Konkurrenz nutzen. Die Transportbedingungen waren
76 Ruhri, Alois: Die Beziehungen der innerösterreichischen Klöster zum Eisengewerbe – mit besonderer Berücksichtigung des Benediktinerklosters Admont, in: Ferrum. Nachrichten aus der Eisenbibliothek Schaffhausen Nr. 70, Langwiesen 1998, S. 39-47, insbes. S. 41-44. In der Bibliothek des Klosters befinden sich mehr als 200 mineralogische, berg- und hüttenkundliche Werke. Vgl. Huber, Peter: Alte geowissenschaftliche Literatur in einigen österreichischen Stiftsbibliotheken, in: Cernajsek/Jontes/Schmidt (wie Anm. 57), S. 175-180. 77 Ibd., S. 46. 78 Ibd., S. 44f. Ein anderes, gut dokumentiertes Kloster ist das Benediktinerkloster Seitenstetten. Vgl. Wagner, Benedict: Quellen zum steirischen Bergbau im Benediktinerstift Seitenstetten, zitiert bei Patocka, Franz: Leo Pronner und das Ausseer Salzwesen im 16. Jahrhundert, in: Cernajsek/Jontes/Schmidt (wie Anm. 57), S. 257-260. 79 Roth, Paul W.: Eiserne Werkzeuge und Geräte im Ostalpenraum – Verbreitung und Produktion, in: Ferrum. Nachrichten aus der Eisenbibliothek Schaffhausen Nr. 71, Schlatt 1999, S. 69-76, insbes. S. 73; Resch, Andreas: Erfahrungswissen in der Eisenverarbeitung und die Entwicklung der alpenländischen Sensenerzeugung zum Großhandwerk um 1600, in: Ferrum. Nachrichten aus der Eisenbibliothek Schaffhausen Nr. 68, Langwiesen 1996, S. 54-60; Bittner (wie Anm. 70), S. 553. 80 Resch (wie Anm. 79), S. 57. 81 Ibd., S. 59.
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gut, denn die Eisenerzer Alpen reichen im Norden an das Gewässersystem der Enns, was die Nutzung der Wasserwege erlaubte. Außer dem Herd benötigen die Sensenschmieden82 ein großes Wasserrad für ein Hammerwerk und für eine Schleifmühle. Für die Fabriken des 16. Jahrhunderts lag hier ein beträchtlicher Energiebedarf. Die Sense wurde aus zwei verschiedenen Rohlingen geschmiedet83, der eine aus Eisen, der andere aus Stahl. Das Eisen konnte von überall her kommen, der Stahl war eine Spezialität von Eisenerz. Der erste Schritt bestand darin, die beiden länglichen Rohlinge zusammenzuschweißen. In den weiteren Schritten erhielt die Sense ihre endgültige Form, wurde gehärtet, geschliffen und poliert. Nach einer abschließenden Kontrolle wurde sie verpackt und an den Händler ausgeliefert. Eine andere Spezialisierung der Steirer Schmiede84 waren Waffen. Zu Beginn handelte es sich um Messer und Schwerter, seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert auch um Feuerwaffen und um Munition. Man kennt Familien, die in diesem Handwerk reich geworden sind und nobilitiert wurden. Interessant und eindrucksvoll sind die quantitativen Daten vom Zoll in Pressburg85: Im Laufe des Jahres 1457/58 importierte Ungarn allein über diesen Zoll die beträchtliche Zahl von 1,6 Millionen Stück „Steyrer Messer“. Dass in der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Eisenindustrie der Steiermark keine Spuren von Geometrie und Maßen zu finden sind, gibt zu denken. Von der Technik her gesehen gab es sicher keine Notwendigkeit dazu. Wo es um Wasser und Holz/Holzkohle ging, waren zudem die Grenzen des Messwesens erreicht. Aber die in Tirol vorgefundenen Spuren der Mathematisierung im Montanwesen folgen keineswegs der Logik. Es ist wohl eher die moderne, geometrische Dokumentation in Tirol, die der Begründung bedarf, als die geringfügige Dokumentation in der Steiermark. Auffallend ist ja die Instabilität der Besitzverhältnisse in Tirol im Vergleich zur Steiermark. Die äußerst lukrativen Silberminen Tirols waren über Jahrhunderte von den Habsburgern verpfändet worden und die gewährten Pfandsummen überstiegen den Wert sogar bei weitem. Sehr ehrenhaft war dies nicht. Rein wirtschaftlich gesehen hat dieses Gebaren der Kreditwürdigkeit der Habsburger geschadet. Man muss daher annehmen, dass die moderne Dokumentation nicht nur, wie bereits vermutet, der Legitimation und Repräsentation dienen, sondern auch den Ruf der Habsburger bessern sollte, was mutatis mutandis auch beim Salz gilt.
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Ibd., S. 55 u. 57. Ibd., S. 57f. Roth (wie Anm. 79), S. 72; Bittner (wie Anm. 70). Roth (wie Anm. 79), S. 75.
Roshdi Rashed
LE CONCEPT DE TANGENTE DANS LES CONIQUES D’APOLLONIUS Le contact et la tangente font partie de ces notions que l’on rencontre tout au long de l’histoire des mathématiques. Ce fait est connu de tous les historiens. De plus, ils s’accordent pour soutenir que les anciens mathématiciens partageaient une même conception de la tangente, résumée en ces termes par Lagrange : « Suivant les anciens géomètres, une ligne droite est tangente d’une courbe, lorsqu’ayant un point commun avec la courbe, on ne peut mener par ce point aucune autre droite entre elle et la courbe ; c’est par ce principe qu’ils ont déterminé la tangente dans un petit nombre des courbes qu’ils ont considérées »1.
Cette caractérisation de la doctrine des anciens géomètres a semblé si parfaite aux historiens qu’ils la répètent souvent. Chasles par exemple la reprend mot pour mot lorsqu’il écrit : « Les anciens géomètres définissent la tangente à une courbe, une droite, ayant un point commun avec la courbe, et telle qu’on ne peut mener par ce point aucune autre droite entre celle-ci et la courbe. C’est par ce principe qu’ils ont déterminé les tangentes à quelques-unes des courbes qu’ils ont connues »2.
Notons que, lorsqu’il formule la doctrine des anciens géomètres, Lagrange évite de rappeler explicitement un élément de la définition attribuée aux anciens : la tangente reste toujours extérieure à la courbe. Peut-être voulait-il étendre sa formulation au cas de la conchoïde de Nicomède, voire à celui de la spirale d’Archimède prise en son intégralité, c’est-à-dire le cas où la tangente en un point coupe la courbe. Pour comprendre cette conception de la tangente attribuée à tous les anciens géomètres, il faudrait savoir ce qu’ils entendaient par des expressions telles que « mener … entre », « point commun », « contact », et autres semblables, dont l’analyse risque de révéler qu’elles présupposent la notion de tangente. Leur donnaient-ils tous le même sens ? Il conviendrait également de distinguer chez ces mathématiciens anciens entre deux discours sur la tangente ; l’un porte sur la tangente à une courbe déterminée – cercle, spire, par exemple – , tandis que l’autre porte sur une classe de courbes. Nous verrons, lorsque nous aurons examiné leur compréhension de la notion de tangente ainsi que l’extension qu’ils lui donnaient, que les anciens géomètres, s’ils s’accordaient globalement sur la même conception, divergeaient cependant par les points de vue sous lesquels ils abordaient cette notion, ainsi que par les procédés mis en œuvre pour la déterminer. 1 2
Lagrange, Joseph-Louis : Théorie des fonctions analytiques, dans Œuvres de Lagrange, publiées par les soins de M.J.-A. Serret et de M. Gaston Darboux, Paris 1867-1892, t. IX, p. 171. Chasles, M. : Aperçu historique sur l’origine et le développement des méthodes en géométrie, particulièrement de celles qui se rapportent à la géométrie moderne, 3e éd., Paris 1889, p. 57-58.
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Il va donc falloir engager un examen historique et critique du concept de tangente chez les anciens géomètres, non point pour accumuler les détails historiques érudits, mais pour reconstituer l’histoire de ce concept de tangente dans les différents contextes où il a été élaboré. Peut-être les différences, voire les discordances, entre ces contextes pourraient-elles expliquer la variété des formes sous lesquelles ce concept s’est présenté. On peut d’ailleurs y voir, plus généralement, l’une des dimensions de l’historicité des concepts mathématiques. Je m’en tiendrai, pour l’heure, à trois contextes, dont chacun a pour emblème un nom prestigieux : Euclide, Archimède, et Apollonius. 1° Euclide aborde l’étude du contact et de la tangente dans le seul contexte de la géométrie plane du cercle. Dans le troisième livre des Éléments, il donne la définition de la tangente au cercle, qu’il caractérise par un théorème. La définition est la suivante : « Une droite qui touche un cercle et qui, étant prolongée, ne le coupe point, est dite tangente à ce cercle »3.
Euclide ne définit donc que la tangente en un point de la circonférence du cercle. Dans la proposition 16 du même livre, il s’assure de l’unicité de cette tangente, lorsqu’il énonce : « Une perpendiculaire au diamètre d’un cercle et menée de l’une de ses extrémités, tombe hors de ce cercle ; dans l’espace compris entre cette perpendiculaire et la circonférence, on ne peut pas mener une autre droite ; et l’angle du demi-cercle est plus grand, et l’angle restant est plus petit qu’aucun angle rectiligne aigu »4.
On sait par ailleurs combien de commentaires cette proposition a suscités, qui ne sont pas de notre sujet ici. En revanche, la définition et la proposition suggèrent une conception de la tangente au cercle, qu’éclaire encore le rapprochement avec la définition de deux cercles tangents. Dans la définition 3 du même livre, on lit en effet : « Les cercles qui se touchent et qui ne se coupent point, sont dits tangents entre eux ».
Autrement dit, deux cercles sont tangents s’ils se rencontrent sans se couper. Le concept de tangente s’organise donc autour des éléments suivants : a) Le contact, conçu comme la réunion de deux extrémités – celle d’une droite perpendiculaire et celle d’un diamètre du cercle –, qui semble renvoyer à une tradition dont les traces sont présentes chez les philosophes. Rappelons en effet que, pour Aristote, « sont en contact les choses dont les extrémités sont ensemble » ; et « ensemble », écrit-il, se
3 4
Les Œuvres d’Euclide, traduites littéralement par F. Peyrard, Paris 1819; nouveau tirage, augmenté d’une importante introduction par M. Jean Itard, Paris 1966, p. 57. Id., p. 73.
Le concept de tangente dans les Coniques d’Apollonius
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dit « selon le lieu » (κατα τοπον)5. Cette définition sera ensuite reprise par Théophraste, Proclus, etc. Ce dernier par exemple écrit : « Les choses en contact sont celles dont les extrémités se rencontrent ; par ‘se rencontrent’ j’entends ici celles dont rien absolument ne se place entre leurs extrémités, de leur espèce ou non pas de leur espèce »6.
La restriction euclidienne à une seule extrémité de chacun des deux objets ne change pas fondamentalement l’idée que l’on se faisait du « contact » comme la réunion de deux extrémités. b) Il est évident que cette conception du contact comme réunion suppose une pensée de la « proximité », non précisée, qu’il va falloir expliquer chaque fois. Ainsi, dans le cas d’une droite tangente à un cercle, la conception de la « proximité » impose que cette droite reste extérieure au cercle, et qu’elle soit l’unique droite dont l’extrémité s’unit à celle du diamètre. On remarque que cette conception euclidienne de la tangente au cercle est pour ainsi dire statique, dans la mesure où n’intervient aucun procédé d’approximation. Même la notion de distance impliquée dans celle de « proximité » reste intuitive. Cette notion de tangente, dont les origines semblent se perdre dans les limbes de l’histoire de la géométrie et de la philosophie, soulève une difficulté qui n’a pas échappé aux mathématiciens : comment deux points peuvent-ils se réunir en un point, alors que, selon la définition euclidienne du point, celui-ci est indivisible ? Pour contourner cette difficulté, Ibn al-Haytham parlera plus tard de deux points « selon la relation » et d’un point « selon la position », premier pas vers une conception leibnizienne. 2° Avec Archimède, c’est un autre point de vue sur la tangente et sur le contact. Lui-même ne définit pas la tangente, mais au cours de sa recherche laisse apparaître une conception dynamique et non plus statique de celle-ci. C’est précisément ce que l’on trouve dans son livre sur Les Spirales. Dans trois lemmes successifs de ce livre – 5, 6 et 7 – Archimède traite de la tangente au cercle. Il considère dans le cinquième lemme un cercle et une droite E plus grande qu’un arc quelconque donné. Il écrit ensuite : « menons par le centre K parallèlement à ∆Ζ la droite ΑΗ et plaçons le segment de droite ΗΘ, égal au segment Ε et orienté vers Β. Joignons le centre Κ au point Θ et prolongeons ΚΘ. »7
5 6
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Physique V, 226b, 22-24. Ms. Paris, Bibliothèque nationale, 2457 ; cf. R. Rashed, « Al-Sijzî et Maïmonide : Commentaire mathématique et philosophique de la proposition II-14 des Coniques d’Apollonius », in : Archives Internationales d’Histoire des Sciences 37, 1987, n° 119, p. 263-296, aux pages 267-268, n. 9 ; reprod. dans Optique et Mathématiques : Recherches sur l’histoire de la pensée scientifique en arabe, Variorum reprints, Aldershot 1992, XIII. Archimède, Des spirales, texte établi et traduit par Charles Mugler, Paris 1971, p. 17-18.
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Roshdi Rashed
ΘΖ
ΒΘ
Il montre alors que ΘΚ < l' arc donné . E
E
fig. 1
Il avait montré au troisième lemme que « des cercles étant donnés en quelque nombre que ce soit, il est possible de prendre un segment de droite supérieur à la somme des circonférences de ces cercles »8. Il suffit en effet de prendre une droite plus grande que les périmètres des polygones circonscrits. Il suffit donc ici de monter que δr r