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German Pages [242] Year 2021
Iso Kern
Phänomenologie der Intersubjektivität und metaphysische Monadologie Zu einer Synthese von Husserl und Leibniz
Iso Kern
Phänomenologie der Intersubjektivität und metaphysische Monadologie Zu einer Synthese von Husserl und Leibniz
Schwabe Verlag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Schwabe Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel, Schweiz Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Das Werk einschliesslich seiner Teile darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in keiner Form reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt, zugänglich gemacht oder verbreitet werden. Korrektorat: Schwabe Berlin Gestaltungskonzept: icona basel gmbH, Basel Cover: Kathrin Strohschnieder, STROH Design, Oldenburg Layout: icona basel gmbh, Basel Satz: 3w+p, Rimpar Druck: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN Printausgabe 978-3-7965-4385-2 ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-4386-9 DOI 10.24894/978-3-7965-4386-9 Das eBook ist seitenidentisch mit der gedruckten Ausgabe und erlaubt Volltextsuche. Zudem sind Inhaltsverzeichnis und Überschriften verlinkt. [email protected] www.schwabe.ch
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Kapitel. Die primordinale Reduktion auf die primordinale Erfahrung (oder auf die Eigenheitssphäre) des Ego als Ausgangspunkt der konstitutiven Analyse der Erfahrung (Einfühlung, Fremderfahrung) des anderen Ego. Husserls Begriffe der originalen Erfahrung und der Monade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
35
§ 1.
§ 2.
Drei verschiedene Begriffe der «primordinalen Erfahrung» bei Husserl: Erstens, der genetische Begriff der «primordinalen Erfahrung», welcher die der Erfahrung von anderen Subjekten zeitlich vorangehende Erfahrung bedeutet (ein «unmöglicher Begriff» im Sinne von Leibniz, d. h. ein Begriff, «der nicht gedacht werden kann»); zweitens, der statische Begriff der «primordinalen Erfahrung», der als eine Abstraktion all das in der von mir erfahrenen Welt ausblendet, was anderen Subjekten zu verdanken ist; drittens, die «Eigenheitssphäre» im Sinne von Leibnizens Monade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
35
Das in der Einfühlung Erfahrene ist nicht original, sondern originär erfahren. Doch in einer anderen Bedeutung ist es auch original erfahren. Erste, zweite und dritte Originalität. Primordinalität als erste (primordinale) Originalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
41
6
Inhalt
2. Kapitel. Phänomenologie der Einfühlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 3.
45
Die Phänomenologie der Einfühlung enthält vier verschiedene Arten von Problemen: a) das Problem einer fiktiven Genesis der Einfühlung, b) das Problem einer reflexiven Analyse der gegebenen eigenen Einfühlung, c) das Problem der phänomenologischen Analyse der wesentlichen Struktur der genetischen Konstitution der Einfühlung, d) das Problem der phänomenologischen Interpretation der faktischen Genesis der Einfühlung in der Entwicklung des Kindes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
45
Erste Stufe der Einfühlung: Das Ungenügen von Husserls phänomenologischer Analyse der konstitutiven Erfahrung eines anderen lebenden (menschlichen oder tierischen) Wesens: Diese Analyse macht die äusserliche wahrnehmungsmässige Ähnlichkeit zwischen meinem äusserlich wahrgenommenen eigenen Leib einerseits und dem Leibkörper eines solchen lebenden Wesens andererseits und die «assoziative Paarung» aufgrund dieser Ähnlichkeit geltend. Die Analyse der konstitutiven Erfahrung eines solchen lebendig sich selbst bewegenden Wesens muss sich auf Husserls Phänomenologie der Wahrnehmung des subjektiven Wahrnehmungsraumes als meines kinästhetischen Bewegungsraumes oder als des wahrgenommenen «Spielraumes» meiner wirklichen und möglichen lebendigen Selbstbewegungen stützen und auf diesem Boden die phänomenologische Analyse weiterführen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
47
§ 5.
Zweite Stufe der Einfühlung: Vergegenwärtigendes Sich-Versetzen in die Situation des anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
51
§ 6.
Husserls apriorisches Denkexperiment (das er seit den Jahren 1921/22 ablehnte): Die Möglichkeit der Vorstellung eines anderen Ich vor der wirklichen Erfahrung von ihm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
53
Eine Frage, die Husserl nicht stellte: Wie können wir ein anderes individuelles Ich oder ein anderes individuelles Bewusstsein wiedererkennen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
55
Vergegenwärtigendes Ich und vergegenwärtigtes Ich in der blossen Phantasie, im Bildbewusstsein, in der Erinnerung und in der Einfühlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Ich in einer bloss phantasierten Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Ich in einer Bildwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das Ich in der erinnerten Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Das Ich in der eingefühlten Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57 57 59 61 62
§ 4.
§ 7.
§ 8.
Inhalt
§ 9.
Ein anderes apriorisches Denkexperiment Husserls: Kann es auf getrennte Welten bezogene Subjekte geben? Einige Bedingungen der Möglichkeit der Koexistenz von Subjekten: Deduktion der Einzigkeit der Welt, der Einzigkeit der Zeit, der Einzigkeit des Raumes . . . . . . . .
63
§ 10. Die Möglichkeit eines weltlosen Bewusstseins. Die Möglichkeit eines Bewusstseins ausserhalb der kommunizierenden Subjekte kann durch keine empirischen Gründe ausgeschlossen werden . . . . . . . . . .
66
§ 11. Einfühlung in der naturalen Einstellung und in der personalen Einstellung. Die Einfühlung in der naturalen Einstellung der Naturwissenschaften als uneigentliche Einfühlung, die Einfühlung in der personalen Einstellung der Geisteswissenschaften als eigentliche Einfühlung. Anschauliche und unanschauliche Einfühlung . . . . . . . .
68
§ 12. Gerade, schlicht vergegenwärtigende Einfühlung und (dritte Stufe der Einfühlung) oblique, in der Vergegenwärtigung reflektierende Einfühlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
70
§ 13. Die «Konstitution des alter ego (anderen Ich) durch eine den eigenen Gesichtspunkt transzendierende Vergegenwärtigung» hat auch im gewöhnlichen Leben zwei grundlegende Bedeutungen: eine naive (gerade) und eine reflexive (oblique) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
72
§ 14. Was ist die naive (gerade) vergegenwärtigende Einfühlung (zweite Stufe der Einfühlung), welche ein sich normal entwickelndes Kind während des zweiten Lebensalters erreichen muss, auf der Grundlage eines schon zuvor erworbenen bloss gegenwärtigenden oder wahrnehmungsmässig unmittelbaren Verständnisses von Menschen und Tieren als lebenden, sich selbst bewegenden, wollenden und nicht wollenden Wesen (erste Stufe der Einfühlung)? . . . . . . . . . . . . .
74
3. Kapitel. Kommunikation, kommunikative Tätigkeiten, Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
77
§ 15. Die Person im Personenverband . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
77
§ 16. Husserls phänomenologische Darstellung der reziproken Einfühlung in ein Du (die Beziehung Angesicht zu Angesicht): seine Analyse des sich an andere Wendens in Akten des auf etwas Gegenwärtiges Zeigens, des etwas Gegenwärtiges Ausdrückens und des deskriptiven Mitteilens von etwas Abwesendem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
80
§ 17. Die Gemeinschaft in der Kommunikation durch Akte des Sprechens . a) Der Akt des Sprechens vom Gesichtspunkt der verstehenden Person. Des Hörenden Bewusstsein von einem anderen Ich . . .
82 83
7
8
Inhalt
b) c)
d)
Die Gefahr eines unendlichen Regresses in der phänomenologischen Analyse der Kommunikation zwischen dem Sprecher und dem Adressaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Unterschied zwischen dem Glauben des Adressaten an das (vergegenwärtigte) Urteil (Sachverhalt) des Sprechenden und dem Glauben des Adressaten an den (vergegenwärtigten) Urteilsakt des Sprechenden. Der Parallelismus hinsichtlich der zwei Glaubenssetzungen zwischen der einverstehenden Vergegenwärtigung der Mitteilung eines Sprechenden und der erinnernden Vergegenwärtigung eines eigenen vergangenen Wahrnehmens oder begrifflichen Urteilens . . . . . . . . . . . . . . . . Der Unterschied zwischen dem Glauben des Adressaten in seinem vergegenwärtigenden Verstehen der Mitteilung des Sprechenden und dem Glauben in einem vergegenwärtigenden Erinnern an das eigene vergangene Wahrnehmen und Urteilen. Die identische Bedeutung des gesprochenen und des verstandenen Urteils als Einheit der Idee des Urteils und des Glaubens an diese Idee . . . . . . . . . . . . .
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§ 18. Der Glaube an die Wirklichkeit eigener Erfahrungen und der Glaube an die Wahrheit eigener Gedanken sind unsicher, wenn man dafür nicht die Zustimmung oder mindestens das Gehör und das Interesse anderer Personen findet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
88
§ 19. Während sich die Einfühlung primär im Visuellen abspielt, findet die Kommunikation und überhaupt der soziale Verkehr primär im Auditiven statt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
91
§ 20. Die Gemeinschaft des praktischen Willens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
91
§ 21. Geschlechtliche Liebe als Gemeinschaft des Genusses . . . . . . . . . . . . .
93
§ 22. Zwei Bemerkungen über Husserls elementare phänomenologische Analyse der sexuellen Liebe als Genussgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . .
94
§ 23. Die Erfüllung des sexuellen Triebes als Vereinigung meiner primordinalen Sphäre mit derjenigen des Sexualpartners . . . . . . . . . .
96
§ 24. Nichtgeschlechtliche personale Liebe und Liebesgemeinschaft. Das «Leben im anderen» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
97
§ 25. Die ethische Liebe der Freundschaft. Christliche Liebe und Liebesgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
99
§ 26. Einfühlung und Mitleid (Mitgefühl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
Inhalt
§ 27. Einige von Husserl nicht analysierte sozial relevante Gefühle, Handlungen und Haltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Hass . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Psychopathische Grausamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Grund, warum Husserl phänomenologisch an Hass und psychopathischer Grausamkeit nicht interessiert war . . . . . . . . d) Ärger und Wut (Zorn) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Dankbarkeit und Verzeihung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
102 102 105 108 108 110
§ 28. Kommunikative Gemeinschaft mit Verstorbenen . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 § 29. Das Erreichen des objektiven Bewusstseins seiner selbst in der Ich-Du-Beziehung. Der Ursprung des Ich als einer praktischen objektiven Person im sozialen Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 § 30. Eine Frage, die Husserl nicht stellte: Sind wir wirklich fähig, andere Personen als moralisch schuldig oder unschuldig zu beurteilen? . . . . 113 § 31. Personale Einheiten höherer Ordnung und ihre Wirkungskorrelate . a) Gemeinsame Leistungen mit einem gemeinsamen Willen . . . . b) Gemeinsame Leistungen ohne einen gemeinsamen Willen . . . . c) Konstitution personaler Einheiten höherer Ordnung . . . . . . . . d) Zwei Arten von durch den Willen eines anderen hindurch gehenden Handlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Die Konstitution einer gemeinsamen Welt sinnlicher Erfahrung und Konstitution einer gemeinsamen personalen Kulturwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Kommunikative Vielheit von Personen als Substrat von gemeinsamen Handlungen und von gemeinsamen Leistungen. Der «Gemeingeist» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
115 115 116 116 118 119 120
4. Kapitel. Die Konstitution solipsistischer und intersubjektiver Objektivität. Heimwelt und fremde Welten. Normalität und Anomalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 § 32. Terminologische Bemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 § 33. Solipsistische und intersubjektive Normalität in der Konstitution von Objektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 a) Kausalität zwischen Dingen und Leib und psychophysische Konditionalität in der solipsistischen Einstellung . . . . . . . . . . . 123 b) Die Möglichkeit der Anomalität in der solipsistischen Erfahrung. Das System orthoästhetischer Wahrnehmungen . . 125
9
10
Inhalt
c)
d) e)
Können in der solipsistischen Erfahrung die Erscheinungen relativ zur psychophysischen Konditionalität sein? Das «Ding an sich» als Kontinuum von durch die Idee der Kausalität vereinigten optimalen Erscheinungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Die orthoästhetische Vielheit von Aspekten (Anblicken) als Gemeinbesitz aller Subjekte und die Anomalität in der Erfahrung der gemeinsamen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Die logisch-mathematische Objektivität als notwendige intersubjektive Objektivität gegenüber der Vielheit der verschiedenen orthoästhetischen Systeme der einzelnen Subjekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
§ 34. Die Einfühlung in Kinder und Tiere und in ihre Welten durch Interpretation aufgrund von «Abbau» der Genesis der Naturerfahrung. Der Unterschied zwischen der Erfahrung der Natur und dem interpretierenden Verstehen der Naturerfahrung anderer Subjekte. Das Problem der Kommunikation mit Tieren und der Interpretation der Kommunikation zwischen Tieren . . . . . . . . . . . . . . 131 § 35. Die Erfahrung der Welt als Heimwelt und als Fremdwelt anderer Menschen und Tiere. Das Durchschnittliche, Normale als die fundamentale Schicht in der Heimwelt. Fremdheit als Zugänglichkeit in der Form der Unverständlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 § 36. Der Unterschied zwischen Heimwelt und Fremdwelt als grundlegende und umfassende Struktur unserer Welterfahrung. Die emotionale Zugehörigkeit zur Heimwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 § 37. Das Verhältnis zwischen der Heimwelt der Armen und der Heimwelt der Reichen als der heute grösste Gegensatz zwischen Heimwelt und Fremdwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 5. Kapitel. Der «existenzielle» und monadologische Charakter der phänomenologischen Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 § 38. Die transzendentale Phänomenologie als eidetische Wissenschaft der Bedingungen der Möglichkeit (der Wesen, der Essenzen) der transzendentalen Intersubjektivität und die phänomenologische Philosophie als wissenschaftliche Metaphysik der Wirklichkeiten (Existenzen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 § 39. Absolute Monadologie als Ausweitung der transzendentalen Egologie. Die absolute Weltinterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
Inhalt
§ 40. Die Teleologie der Entwicklung der Monaden. Liebe als Ziel (Telos) dieser Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 § 41. Phänomenologie der Intersubjektivität und phänomenologische Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 6. Kapitel. Die wichtigsten Unterschiede zwischen der Monadologie Husserls und derjenigen von Leibniz. Wenn die Monadologie Leibnizens durch die Phänomenologie Husserls korrigiert und ergänzt und wenn die Monadologie Husserls durch wichtige Gedanken der Monadologie Leibnizens erweitert würde, könnte die umfassendste, wahrste und tiefste Metaphysik der europäischen Tradition seit Aristoteles entstehen . . . . . . . . . . . . . . . . 179 § 42. Husserls Monadologie ist gänzlich zentriert in mir, dem jeweils phänomenologisierenden faktischen Ich, der ich im strengen Sinn für mich das einzige Ich bin. Leibnizens Monadologie ist auch zentriert im Denken und Wollen Gottes, der unendlichen Monade, der alle endlichen Monaden geschaffen hat und kontinuierlich schafft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 § 43. Husserl lässt es beim faktischen Ich, seinen anderen faktischen Ich und der gemeinsamen faktischen Welt bewenden, während Leibniz nach dem ausreichenden Grund fragt, warum solche Fakten existieren und nicht vielmehr nicht existieren. Die Notwendigkeit einer Annahme Gottes bei Leibniz und bei Husserl . . . . . . . . . . . . . . . 183 § 44. Husserls und Leibnizens Monadenbegriff haben verschiedene Ursprünge. Husserls Begriff stammt aus der reflexiv-phänomenologischen deskriptiven Analyse des intentionalen Bewusstseins und bedeutet den Inbegriff des selbst Erlebten, derjenige von Leibniz aus einem metaphysischen Prinzip oder einer metaphysischen Überlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 § 45. Bewusstseinsinhalte, von denen Husserl nicht spricht: Leibnizens unbewusste Bewusstseinsinhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 § 46. Husserls Lehre von der Wahrnehmung eines zeitlichen Ablaufes durch Impression, Protention und Retention und seine Lehre vom äusseren und vom inneren Horizont der Wahrnehmung von Gegenwärtigem entsprechen teilweise Leibnizens Lehre von den verworrenen und differenzierten Perzeptionen (perceptions confuses et perceptions distinctes) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 A. Husserls Lehre von der Wahrnehmung eines zeitlichen Ablaufes durch Impression, Protention und Retention . . . . . . . 195
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Inhalt
B.
Husserls Lehre vom äusseren und vom inneren Horizont der Wahrnehmung von Gegenwärtigem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
§ 47. Husserl legt die phänomenologischen Grundlagen der ersten Stufe der Einfühlung. In dieser Stufe erscheinen mir von meinem jeweiligen leiblichen Wahrnehmungsgesichtspunkt aus in meinem eigenen sinnlich-leiblich wahrgenommenen Bewegungsraum sinnlich-leiblich wahrgenommene andere sich selbst bewegende Tiere und Menschen als sinnlich-leiblich etwas wahrnehmend und mit etwas leiblich tätig. Leibniz spricht nur vom Gesichtspunkt der Monade und spricht von einer von Gott präetablierten Harmonie von Seele und Leib, wie wenn Seele und Leib im sinnlich-leiblichen Wahrnehmen (Betasten, Beriechen, Schmecken, Sehen und Hören von etwas) zwei verschiedene Dinge wären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 § 48. Nach Husserl haben die Monaden «Fenster», nach Leibniz nicht . . . . 210 § 49. Husserl reflektiert auf die Kommunikation der menschlichen Monaden durch Ausdrucksbewegungen mit tierischen Monaden und auf die Kommunikation durch Ausdrucksbewegungen sowie durch die spezifisch menschliche logische Sprache mit anderen menschlichen Monaden, was Leibniz nicht tut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 § 50. Husserl reflektiert auch auf die praktische Zusammenarbeit mit anderen menschlichen Monaden und auf die damit verbundenen gemeinsamen Zwecke und gemeinsam verwendeten Mittel, was Leibniz nicht tut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 § 51. Husserl reflektiert darauf, wie ich mit anderen menschlichen Monaden mehr oder weniger beständige Gemeinschaften wie Vereine und Gesellschaften wie unseren Staat bilde, welche den Charakter von Personalitäten höherer Ordnung besitzen. Darauf reflektiert Leibniz nicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 § 52. Husserls Monadologie ist intersubjektiv, diejenige von Leibniz nicht . 211 § 53. Für Husserl ist die Geschichte der Menscheit teleologisch, Leibniz diskutiert diese Frage nicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 § 54. Leibniz stellt in seiner Monadologie die radikalste Frage der Metaphysik: «Warum gibt es eher etwas als vielmehr nicht nichts» (pourquoi il y a plutôt quelque chose que rien), und entwickelt aufgrund dieser Frage einen Gottesbeweis. Husserls Monadologie stellt diese Frage nicht, aber er gibt Hinweise auf einen Gotteserweis . 212
Inhalt
§ 55. Nach Leibniz bedeuten differenzierte Perzeptionen Macht (puissance) und Herrschaft (empire), verworrene Perzeptionen bedeuten Ohnmacht (impuissance, étourdissement, évanouissement) und Knechtschaft (esclavage). Die Differenziertheit und Verworrenheit der Perzeptionen einer monadischen Seele repräsentieren nach Leibniz die Differenziertheit und Undifferenziertheit der Organe ihres eigenen Leibkörpers. Husserl spricht in seiner phänomenologisch begründeten Monadologie nicht von Machtverhältnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 § 56. Leibnizens reflexiv-phänomenologisch ausgewiesene metaphysische Lehre von der Kraft fehlt in der Monadologie Husserls . . . . . . . . . . . . 216 Neun Schlussbemerkungen in Aussicht auf die Zukunft echten Philosophierens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Zitierte Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
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Vorwort
Husserl und Leibniz haben viel Gemeinsames, unterscheiden sich aber auch deutlich voneinander. Was das Gemeinsame betrifft, hatten sie beide Astronomie studiert und waren beide Mathematiker, Logiker und Philosophen. Sie waren beide Deutsche. Sie waren beide gläubige Lutheraner. Sie waren beide der Auffassung, dass es nur eine echte und strenge Wissenschaft geben kann und dass diese Wissenschaft letztlich einer metaphysischen Grundlage bedarf. Die Metaphysik beider war eine monadologische, wobei sich Husserl ausdrücklich auf Leibniz berief. Husserl (1859–1938) hatte sein Universitätsstudium damit begonnen, in Leipzig (wo Leibniz 1646 geboren wurde und 1661 bis 1662 Philosophie und Theologie studiert hatte) während drei Semestern (Wintersemester1876/77 bis Wintersemester 1877/1878) Astronomie zu studieren, in der Mathematik eine wesentliche Rolle spielt. Leibniz hatte zwischen 1663 und 1665 Astronomie in Jena studiert. Vom Sommersemester 1878 bis zum Wintersemester 1880, also während sechs Semestern, studierte Husserl hauptsächlich Mathematik an der Universität Berlin. Sein wichtigster Lehrer war dort Carl Weierstrass (1815– 1897), der in der damaligen Grundlagenkrise der Mathematik sich bemühte, diese auf ihre Elementarbegriffe und Axiome zurückzuführen, aufgrund deren durch eine strenge und einsichtige Methode ein widerspruchsfreies System der mathematischen und logischen Analysis konstruiert und deduziert werden kann. 1882 promovierte Husserl als Österreicher an der Universität Wien mit der Dissertation «Beiträge zur Theorie der Variationsrechnung». Von da an wandte er sich immer mehr der Philosophie zu. Ausschlaggebend war dabei der in Wien lehrende Philosoph und Psychologe Franz Brentano (1838–1917), dessen Vorlesungen er dort besuchte. Brentano lud Husserl 1886 ein, mit ihm zusammen die drei Sommermonate in St. Gilgen am Wolfgangsee zu verbringen. So hatte Husserl eine wunderbare Gelegenheit, mit dem mehr als 20 Jahre älteren Brentano über Philosophie und Theologie zu diskutieren. Brentano gab ihm die Gewissheit, dass Philosophie als Wissenschaft betrieben werden kann. Im Herbst 1886 zog Husserl nach Halle, um sich dort bei dem Brentano nahestehenden Psychologen Carl Stumpf (1848–1936) zu habilitieren. Seit dieser Zeit lebte und arbeitete er ununterbrochen in Deutschland. 1887 habilitierte er sich in Halle mit der Schrift «Über den Begriff der Zahl. Psychologische Analysen». Nach einer Überarbeitung veröffentlichte er sie 1891 unter dem Titel Philo-
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Vorwort
sophie der Arithmetik. Psychologische und logische Untersuchungen. In Halle unterrichtete er als Privatdozent unter schwierigen finanziellen Umständen während 14 Jahren. 1900/1901 publizierte er sein grosses dreibändiges Werk Logische Untersuchungen, das Werk, das ihm den Durchbruch und grosse Anerkennung brachte, auch vom damals sehr bekannten Wilhelm Dilthey (1833–1911), Professor für Philosophie in Berlin, der Hauptstadt Preußens. Am 14. September 1901 wurde er vom Preußischen Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten in Berlin zum ausserordentlichen Professor an der philosophischen Fakultät Göttingen ernannt. Im Wintersemester 1901/1902 begann er seine dortige Lehrtätigkeit. Von da an erweiterte sich sein Interesse immer mehr auf alle Gegenstände des Denkens und Erfahrens, immer mit der Frage, wie und als was sich diese im Bewusstsein konstituieren, d. h. wie sie durch Denken, Erfahren oder durch andere Bewusstseinsweisen zur Gegebenheit oder Erscheinung kommen. Denn er war der Überzeugung, dass man nur wissen kann, was etwas ist, wenn man weiss, wie es im Bewusstsein zur Erscheinung bzw. zur Gegebenheit kommt. Z. B. könne man nur wissen, was Zahlen sind, wenn man weiss, wie einem Zahlen im Anschauen und Zählen gegeben werden bzw. sie in ihnen zustande kommen. Am 9. Februar 1916 mit Wirkung auf den 1. April wurde Husserl von Friedrich, Grossherzog von Baden, zum ordentlichen Professor für Philosophie an der Universität Freiburg ernannt. An dieser Universität lehrte er bis zu seiner Emeritierung 1928 und blieb in Freiburg bis zu seinem Tod 1938. 1922 hielt er auf Einladung der Universitäten London und Cambridge dort eine Reihe von Vorträgen in deutscher Sprache. 1923 bot ihm das Kulturministerium Berlin die durch den Tod von Ernst Troeltsch (1865–1923) frei gewordene Professur an der Universität Berlin an. Husserl lehnte ab. Husserls letztes, unvollendetes Werk trägt den Titel Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (1936). Husserl hinterliess einen enorm grossen Nachlass (40’000 handgeschriebene Seiten). Als Mathematiker hatte er die Gewohnheit, schreibend (in Gabelsberger Stenographie) zu denken. Husserl stammte aus Proßnitz (Prostejov) in Mähren, das bis zum Ende des Ersten Weltkriegs zum Österreichischen Kaiserreich gehörte, fühlte sich aber durch sein Leben als Student in Leipzig und Berlin und weil er seit 1886 bis zu seinem Tod (1938) ununterbrochen in Deutschland lebte, immer mehr als Deutscher. 1896 erwarb er die preußische Staatsangehörigkeit. Im Ersten Weltkrieg verlor er bei einem Sturmangriff auf Fort Vaux bei Verdun in Frankreich seinen jüngeren Sohn Wolfgang (geboren 1895), und sein älterer Sohn, Gerhart (geboren 1893), wurde durch einen Kopfschuss verwundet. Was die Religion betrifft, war Husserl ein Jude, der sich nicht durch Anpassung, sondern durch Überzeugung unter Einfluss seines Freundes, des nachmaligen ersten gewählten Präsidenten (1919–1935) der tschechoslowakischen Repu-
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blik, Thomas Masaryk (1850–1937), taufen liess. 1886 wurde er mit 27 Jahren in der Stadtkirche der lutheranischen Pfarrgemeinde in Wien getauft. Auf seinem Arbeitspult hatte Husserl danach immer ein Neues Testament. Sein Lebensspruch war: «Die auf Gott harren, kriegen neue Kraft.» Dieser Spruch aus dem Propheten Jesaia (Kapitel 40, Vers 31) stand über dem Tor des Franke’schen Waisenhauses in Halle, an dem Husserl als Privatdozent während seiner Zeit in dieser Stadt täglich vorbeikam. Husserl hatte wie Leibniz technische Fähigkeiten, aber nur sehr beschränkt. Von einem Schüler von Husserl – von welchem habe ich vergessen, vielleicht von Roman Ingarden oder von Jan Patočka – hörte ich, dass Husserl in seiner Hallener Zeit eine neue Methode zum Schleifen von Lupengläsern erfand, diese der Optikfabrik Zeiss in Jena vorlegte und von dieser ein Stellenangebot erhielt. Husserl hatte selbst eine Vorliebe für solche Gläser, denn er wollte gewisse Dinge genau sehen. Dieses Streben nach dem genauen, exakten «Sehen» trägt seine ganze phänomenologische Analyse des intentionalen Bewusstseins von etwas. Aber Husserl war nicht wie Leibniz philosophischer Theologe, Techniker, Politiker, alles, was er als Gelehrter 200 Jahre später auch hätte sein können. Und auch seine Philosophie bewegt sich nicht auf drei verschiedenen Grundlagen wie diejenige von Leibniz, nämlich der reflexiv-phänomenologischen, der apriorischlogischen und theologischen und der empirischen, sondern nur auf der ersten und dritten von Leibniz. Seine Philosophie ist in gewissem Sinne monolinear: Sie veränderte sich, entwickelte sich zwar stetig, korrigierte sich aufgrund tieferer Einsichten, weitete sich thematisch immer weiter aus, vertiefte sich bis zu metaphysischen Fragen, aber sie ist nicht dreidimensional wie diejenige von Leibniz. Husserl als Deutscher schrieb nur deutsch, während Leibniz als Deutscher kaum deutsch, sondern lateinisch und französisch schrieb. Leibniz kannte sich in der Philosophiegeschichte wesentlich besser aus als Husserl. Leibniz berief sich auf Aristoteles, Thomas von Aquin und viele andere, kannte alle namhaften Philosophen seiner Zeit und setzte sich mit ihnen ausführlich auseinander. Er konnte in der Sprache der Philosophie der Thomisten, der Cartesianer, von Locke und anderen schreiben. Husserl befasste sich zwar auch mit Philosophiegeschichte, z. B. im ersten Teil seiner Vorlesung «Erste Philosophie» vom Wintersemester 1923/1924.1 Aber Husserl nannte seine Philosophiegeschichte «meine philosophischen Romane», nahm sie also als geschichtliche Darstellungen nicht wirklich ernst. Er wollte mit ihnen nur zeigen, dass die ganze europäische Philosophiegeschichte letztlich auf seine phänomenologische Philosophie hinausläuft, mit anderen Worten, dass die ganze europäische Philosophiegeschichte als Einleitung zu seiner phänomenologischen Philosophie dienen kann.
1 1956 herausgegeben von Rudolf Boehm: Edmund Husserl. Erste Philosophie (1923/24). Erster Teil: Kritische Ideengeschichte, Husserliana, Band VII, Martinus Nijhoff, Den Haag.
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Aufgrund dessen ist die Philosophie Leibnizens vieldimensional und weit komplexer als diejenige Husserls. Husserls Philosophie ist aber in ihren reflexivphänomenologischen Analysen genauer, exakter als diejenige von Leibniz. * Leibniz (1646–1716) wurde in Leipzig geboren. 1661 bis 1662 studierte er an der Universität dieser Stadt Philosophie und Theologie. 1663 zog er nach Jena, um an der dortigen Universität Mathematik, Physik und Astronomie zu studieren. 1665, mit 19 Jahren, schrieb er sein erstes Buch, De arte combinatoria (Über die Kunst der Kombinatorik). Mit dem ersten Teil promovierte er in diesem Jahr zum Doktor der Philosophie. Danach ging er an die Universität Altdorf der Universität Nürnberg und promovierte dort 1666 zum Doktor der Rechte. Von 1666 bis 1672 stand Leibniz im Dienst des Kurfürsten und katholischen Erzbischofs von Mainz, von Schönborn, und wohnte im Hause des Kurmainzer Oberhofmarschalls, Johann Christian von Boyneburg. 1670 wurde Leibniz zum Rat des kurfürstlichen Oberrevisionsgerichtshofs ernannt. 1672 reiste Leibniz auf eigene Initiative nach Paris, wo er als Hofmeister für Boyneburgs jüngsten Sohn tätig wurde. Er blieb vier Jahre in Paris (1672–1676). In Paris wollte er zusammen mit Boyneburg König Ludwig XIV sein sogenanntes Consilium Aegyptium vorlegen, seinen «Rat» oder «Vorschlag», die osmanischen Türken von Ägypten aus zu bekämpfen, um dadurch Wien, die Bastion Europas im Osten gegen die osmanischen Türken, zu entlasten. Wien war 1529 von der osmanischen Armee belagert worden, sollte 1683 wieder belagert werden und stand damals dauernd unter osmanischer Gefahr. Durch diesen Zweifrontenkrieg wollte Leibniz die osmanischen Türken schwächen. Der Fall Wiens gegen die Türken hätte ganz Westeuropa den Osmanen ausgeliefert. Der osmanische General der Belagerung von 1683 erklärte, dass er nach der Eroberung Wiens nach Rom ziehen und den dortigen Petersdom zu seinem Pferdestall machen werde. Andererseits wollte Leibniz durch das Consilium Aegyptium Ludwig XIV von dessen Eroberungsplänen im Norden und Osten Frankreichs abhalten. Doch dieser «Rat / Vorschlag» (consilium) fand beim Sonnenkönig kein Gehör, denn er wollte nicht seinen mächtigsten Gegner in Europa, Österreich, stärken. In Paris hatte Leibniz Kontakt mit vielen Gelehrten, zum Beispiel mit dem Jansenisten Antoine Arnauld, dem theologischen Lehrer von Blaise Pascal (1623–1662). Er hatte durch den Neffen Pascals, Etienne Périer, den Sohn seiner älteren Schwester Gilberte, Zugang zu Pascals Nachlass. Er studierte Pascals mit 15 Jahren geschriebenen Traité des coniques (Abhandlung über die Kegelschnitte), von dem 1639 nur ein kleiner Teil in Paris veröffentlicht worden war,2 und Blaise Pascal, Traité des coniques, in Pascal, Œuvres complètes, présentation et notes de Louis Lafuma, Editions du Seuil, Paris 1963.
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bat darauf schriftlich Etienne Périer und nach dessen Tod (1680) auch dessen Sohn Louis, die ganze Abhandlung wegen ihrer grossen Wichtigkeit zu veröffentlichen. Doch Leibnizens Bitte wurde nicht entsprochen, sodass dieses mathematische Meisterwerk des 15-jährigen Pascal zum grossen Teil verloren ging. Erst im 19. Jahrhundert wurde das mathematische Niveau der Abhandlung auf deren Gebiet wieder erreicht. Die für Leibniz wichtigste mathematische Schrift Pascals waren die unter dem Pseudonym A. Dettonville zwischen 1658 und 1659 als Briefe veröffentlichten Texte über die Berechnung von krummlinigen Kurven und Flächen.3 Pascal reduzierte in ihnen die Berechnung von krummlinigen Flächen auf die Summierung einer unendlich grossen Anzahl unendlich kleiner Rechtecke und wandte dabei ein der Integralrechnung sehr nahe kommendes Verfahren an. Am Ende seiner Untersuchung stiess er beinahe zur Infinitesimalrechnung vor. Leibniz erfand diese nach dem Studium dieser Briefe Pascals im dritten Jahr seines Pariser Aufenthaltes (1675). Noch ziemlich am Anfang seines Paris-Aufenthaltes im Jahre 1673 schrieb Leibniz mit 26 Jahren in lateinischer Sprache seinen Dialog zwischen einem Catechista theologus (Theologen als Katechist) und einem Catechumenus Philosophus (Philosophen als Katechumenen) Confessio Philosophi (Bekenntnis eines Philosophen), ein Dialog, der auch den Titel oder Untertitel trägt: Fragmentum dialogi de humana libertate et de justitia Dei (Fragment über die menschliche Freiheit und die Gerechtigkeit Gottes).4 Dieses kleine Werk Leibnizens ist eine kleine Theodicée, ein Titel, den man sinngemäss mit «Rechtfertigung der Weltregierung Gottes angesichts des Schlechten in dieser Welt» wiedergeben kann. Es entspricht in seinen Grundgedanken dem 37 Jahre jüngeren grossen Werk von Leibniz, den Essais de Théodicée sur la bonte de Dieu, la liberté de l’homme et l’origine du mal aus dem Jahre 1710. Der Gedanke einer Rechtfertigung der Weltregierung Gottes angesichts des Schlechten in dieser Welt durchzieht das ganze Denken und Schreiben Leibnizens mindestens seit 1773 bis zu seinem Lebensende (1716). Er ist sicher eines der wichtigsten Anliegen Leibnizens, ein Anliegen, das Husserl fremd ist. Schon seit 1668, als Leibniz im Dienst des Kurfürsten und katholischen Mainzer Erzbischofs von Schönborn stand, bemühte sich der welfische Herzog Johann Friedrich, Leibniz als Bibliothekar in seine Residenzstadt Hannover zu holen. In Paris in finanzielle Nöte geraten, sagte ihm Leibniz 1676, acht Jahre später, zu. Auf der Reise von Paris nach Hannover besuchte der unterdessen 30Jährige in Den Haag den 14 Jahre älteren Benedictus de Spinoza (Baruch DespiLettre de A Dettonville [= Pascal] à Monsieur A. D. D. S. en lui envoyant la démonstration à la manière des anciens de légalité des lignes spriale et parabolique in Pascal. Œuvres complètes, présentation et notes de Louis Lafuma, Editions du Seuil, Paris 1963, S. 172–184. 4 G. W. Leibniz, Confessio Philosophi. La profession de foi du philosophe, Texte, traduction et notes par Yvon Belaval, Vrin, Paris 1961. 3
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noza, 1632–1677), ein Jahr vor dessen frühem Tod und ein Jahr vor der Veröffentlichung dessen Hauptwerkes, der Ethica ordine geometrico demonstrata. Bereits1671 hatten die beiden je einen Brief miteinander ausgetauscht. Leibniz bewunderte Spinoza einerseits als Denker eines philosophischen Systems, das ganz in Gott begründet ist, andererseits war ihm dessen Grundidee fremd. Diese Grundidee besteht darin, dass es nur eine Substanz gibt, nämlich Gott, welche unendlich und Ursache ihrer selbst ist und als zugleich hervorbringende Natur (natura naturans) sowie hervorgebrachte Natur (natura naturata) alles umfasst und unendlich viele Attribute hat. Die endlichen Dinge, auch die menschlichen geistigen Seelen und die materiellen Körper, sind blosse Modi der dem Menschen allein bekannten Attribute Gottes, der beiden Cartesianischen Attribute Denken und Ausdehnung. Leider ist, soviel ich weiss, nirgendwo vermerkt, was diese zwei der grössten Philosophen Europas 1676 miteinander besprochen haben. Es gibt eine ganze Reihe von Briefen und Texten, in denen sich Leibniz mit Spinozas Ethica ordine geometrico demonstrata von 1677 auseinandersetzt. Es sind vielleicht Gedanken gewesen, die Leibniz in seinen 1678 oder später entstandenen Auszügen aus dem ersten bis zum dritten Teil von Spinozas Ethica notierte und annotierte und die Spinoza Leibniz bei ihrer Begegnung 1776 in Den Haag skizzierte. Noch 1702 bemerkte Leibniz in seiner Abhandlung Considérations sur la doctrine d’un esprit universel unique gegen Spinoza: «Spinoza beanspruchte zu beweisen, dass es in der Welt nur eine Substanz gibt; aber seine Beweise sind bejammernswert oder uneinsichtig» (pitoyables ou inintelligibles).5 Und einige Seiten später in dieser Abhandlung schreibt er: «Aber wenn einer behaupten will, dass es überhaupt keine einzelnen Seelen gibt, auch jetzt nicht, wenn die Funktion des Auffassens und Denkens mit Hilfe der Organe ausgeübt wird, dann wird ihn unsere Erfahrung widerlegen, die uns lehrt, scheint mir, dass wir etwas in unserem Besonderen sind (que nous sommes quelque chose en notre particulier), das denkt, das sich seiner bewusst ist (qui s’apperçoit), das will, und dass wir verschieden sind von einem anderen, der etwas anderes denkt und will. Sonst fällt man in die Auffassung von Spinoza oder einigen Ähnlichen, die wollen, dass es nur eine einzige Substanz gibt, nämlich Gott, welcher das Eine in mir denkt, glaubt und will, aber der in einem anderen ganz das Gegenteil denkt, glaubt und will […].»6
In Hannover blieb Leibniz von 1676 bis zu seinem Tode im Jahre 1716, also 40 Jahre lang, mehr als die Hälfte seines Lebens. Von dort aus aber hatte er briefliche Verbindungen mit der gelehrten Welt Frankreichs, der südlichen, katholischen und der nördlichen, protestantischen Niederlande (Belgien und Holland), Englands und in geringem Masse der Schweiz, nämlich mit dem genialen Mathe-
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Considérations sur la doctrine d’un esprit universel unique. Considérations sur la doctrine d’un esprit universel unique.
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matiker Johann Bernoulli (1667–1748) an der Universität Basel, der damals einzigen Universität der schweizerischen Eidgenossenschaft.7 Leibniz war Bibliothekar, Philosoph, philosophischer Theologe, Mathematiker, Logiker, Techniker, Politiker, alles, was er als Universalgelehrter damals sein konnte. Was war er am meisten? Diese Frage ist schwer zu beantworten. Vielleicht war er in seinem Herzen am meisten philosophischer Theologe. Dafür spricht, dass von 1661 bis 1662, also im Alter zwischen 15 und 16 Jahren, sein Universitätsstudium in seiner Geburtsstadt Leipzig mit Philosophie und Theologie begann. Denn die Interessen, die man im Alter kurz nach der Pubertät in sich entwickelt, prägen das ganze Leben. * Für Leibniz habe ich mich früher interessiert als für Husserl. Schon seit meiner Gymnasialzeit fühle ich mich zu Leibniz hingezogen. Unser damaliger Deutschund Philosophielehrer, Walter Säuberli (1913–1995), mit dem ich auch nachher bis zu seinem Tod in Kontakt blieb, lehrte uns damals, als er über den englischen Empirismus und Sensualismus (Rückführung aller menschlichen Erkenntnis auf Sinnesdaten) im Gegensatz zum deutschen Idealismus sprach, dass Leibniz sagte: «Nihil est in intellectu quod non fuerit in sensu, nisi ipse intellectus» (nichts ist im Verstand/in der Vernunft, was nicht in den Sinnen war, ausgenommen der Verstand/die Vernunft selbst).8 Dieser Leibniz’sche Satz hat mich vor etwa 65 Jahren so beeindruckt, dass ich ihn bis heute auswendig weiss. Leibniz gab also mit dem ersten Teil seines Satzes den Sensualisten recht, aber fügte im zweiten Teil noch eine Einsicht hinzu, welche die Wahrheit der Sensualisten in einen grösseren Zusammenhang stellt, sie dadurch wesentlich verändert und mit dem Intellektualismus (oder Idealismus) verbindet, ohne diesem Extrem zu verfallen. So zeigte sich mir Leibniz schon früh als ein Denker, der Gegensätze verband, der die Harmonie suchte. Descartes hatte nicht zwischen sinnlichem Wahrnehmen und Denken unterschieden. Sinnliche Wahrnehmungen (perceptions) sind für ihn «cogitationes», d. h. Akte des Denkens. Dadurch ist er zum Begründer des modernen Intellektualismus geworden. Leibniz vermag die Teilwahrheiten des Sensualismus und des Intellektualismus in einer umfassenderen Wahrheit zu vereinen. Ein zweiter Gedanke von Leibniz, den ich schon sehr früh, vielleicht schon im Gymnasium oder spätestens in meiner Studentenzeit, von irgendwem hörte 7 Johann Bernoulli war der Lehrer des noch berühmteren Basler Mathematikers Leonard Euler (1707–1783), des Begründers der modernen Mathematik. Euler wurde 1741 von Friedrich II. von der Universität Basel an die Berliner Akademie berufen, 1766 folgte er einem Ruf von Katharina II. nach Sankt Petersburg. 8 In Considérations sur la doctrine d’un esprit universel (1702).
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und der mir sofort einleuchtete, ist der folgende. Er hängt mit dem ersten zusammen: «Eine Lehre ist nicht in dem falsch, was sie bejaht, sondern in dem, was sie verneint.» Allerdings erinnere ich mich nicht, ihn bei Leibniz selbst irgendwo gelesen zu haben. Man könnte explizierend auch sagen: «Eine Lehre ist falsch nicht aufgrund dessen, was sie einsieht und folglich bejaht, sondern aufgrund dessen, was sie nicht einsieht und folglich verneint.» Auf den Sensualismus und seinen Gegensatz, den Intellektualismus, angewandt, heisst dieser Satz: Der Sensualismus sieht, dass alle unsere menschliche Erkenntnis sich auf die Sinnesdaten der sinnlichen Wahrnehmung stützen muss, was wahr ist. Aber er sieht nicht, dass Denken welcher Art auch immer, z. B. sich Erinnern an etwas Vergangenes oder das Vergegenwärtigen von verschiedenen Möglichkeiten oder irgendein anderes Vergegenwärtigen, z. B. auch ein bloss phantasierendes von etwas bloss Phantasiertem (ein Kampf zwischen Zentauren und Drachen), kein Sinnesdaten enthaltendes sinnliches Wahrnehmen ist. Denn Wahrnehmen ist nur Wahrnehmen von Gegenwärtigem und setzt dieses Wahrgenommene als wirklich, wobei es sich aber auch immer täuschen kann. In diesem Sinne versucht Leibniz in seiner Philosophie in allen ihm bekannten und verschiedensten philosophischen Lehren ihr Wahres zu sehen und so das Wahre der einen Lehre durch das Wahre der anderen ins richtige Licht zu rücken, sie miteinander in eine Harmonie zu bringen und dadurch eine umfassendere und höhere Wahrheit zu erlangen. Dadurch versteht Leibnizens philosophische Lehre von einer höheren Warte aus alle anderen Lehren. Dadurch wird sie aber auch eine Lehre grösster Komplexität, die schwierig zu verstehen oder zu «umfassen (comprendre)» ist. Schwieriger wird seine Lehre noch dadurch, dass Leibniz je nach seinen Adressaten verschiedene Sprachen spricht. Ich meine nicht Sprachen wie Deutsch, Lateinisch, Französisch, die Leibniz alle perfekt sprach und schrieb, oder Englisch oder Altgriechisch, die er lesen konnte und in denen er manchmal auch zitiert. Sondern ich meine die besonderen Begriffssprachen der verschiedenen philosophischen Denkrichtungen. Mit den Jesuiten sprach er die Sprache der aristotelisch-thomistischen Tradition oder die Sprache der Tradition des Jesuiten Francisco de Suarez 1548–1617); mit den Cartesianern, wie mit seinem Zeitgenossen Nicolas de Malebranche (1638–1715) in ihrem Briefwechsel, schrieb er in der Sprache der Cartesianer; um den Jansenisten und theologischen Lehrer Blaise Pascals (1623–1662), Antoine Arnauld (1612–1694), von seiner eigenen Lehre zu überzeugen, «dass der Individualbegriff jeder Person ein für alle Mal alles enthält, war ihr jemals geschehen wird» (que la notion individuelle de chaque personne enferme une fois pour toutes ce que lui arrivera à jamais),9 schrieb er in seinen Briefen (1686–1690) an ihn in der Sprache der Jansenisten, d. h. der Sprache des grossen Werkes von Cornelius Jansenius (1585–1638) über die Lettres de Leibniz à Arnauld, d’après les manuscrits inédits, avec une introduction historique et des notes critiques par Geneviève Lewin, Paris, Presses Universitaires de France 1952. 9
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Gnadenlehre von Augustinus; in seiner Auseinandersetzung mit dem Hauptwerk des Empiristen John Locke (1632–1704), An Essay concerning Human Understandig (1670), nahm er in seinen in Dialogform geschriebenen Nouveaux Essays sur l’entendement humain (zwischen 1701 und 1709) nicht nur die Sprache des Empiristen Locke auf, sondern auch Teile von dessen Essay. In seinem Werk Systema theologicum (erst 1819 veröffentlicht) mit dem Ziel der Wiedervereinigung der christlichen Kirchen schrieb er, als ob er katholisch wäre. In seinem letzten grossen Schreiben (1716), in seinem sehr langen, vollendeten, aber nicht mehr abgeschickten Brief Lettre sur la philosophie chinoise à Nicolas de Rémond (1638–1725),10 dem ersten Rat des Herzogs von Orléans, dem er auch seine Principes de la philosophie (Monadologie) gewidmet hatte, zeigte er, dass die chinesische Philosophie mit der europäischen Philosophie und philosophischen Theologie vereinbar ist, dass also die Wahrheit in zwei so verschiedenen Kulturen wie der chinesischen und der europäischen eine ist. Seine Kenntnis der chinesischen Philosophie hatte Leibniz hauptsächlich durch die Publikationen der chinesischen Jesuitenmissionare im 17. Jahrhundert und seine Korrespondenz mit diesen erworben.11 Es war die damals offizielle Philosophie des kaiserlichen Chinas, nämlich die konfuzianische Philosophie in der Interpretation von Zhu Xi (1130–1200). Leibniz ging es darum, Einheit und Harmonie zu zeigen und zu schaffen. In seiner Metaphysik konnte er sogar in der Sprache der Mathematik sprechen und schreiben. Er sagte: «Die Mathematik ist ebenso notwendig für die Philosophie wie die Philosophie für die Mathematik.» Dieser Satz hat mich immer erschreckt, denn ich bin kein Mathematiker: Kann ich Leibnizens Philosophie überhaupt verstehen, wenn ich nicht wie er ein Mathematiker bin? Mein Interesse an Leibnizens Monadologie gilt letztlich seiner reflexiv-phänomenologischen Lehre über die Beziehungen zwischen den Monaden als verschiedenen Subjekten. Leibnizens Monaden, d. h. Einheiten, sind Subjekte und sie stehen in Beziehungen zueinander. Leibnizens Monadologie enthält tiefe Einsichten in das psychologische (oder reflexiv-phänomenologische) Wesen der Monaden, durch das diese aufeinander bezogen sein können: durch ihre verschiedenen Arten von Wahrnehmungen (perceptions), durch ihre Strebungen (appetitions) und durch die apperception (das die Perzeptionen begleitende Bewusstsein), durch die Reflexion und durch das Ichbewusstsein der höheren, menschlichen Monaden. Die Monaden als wahrnehmende, strebende und die höheren Mona10 Gottfried Wilhelm Leibniz. Zwei Briefe über das binäre Zahlensystem und die chinesische Philosophie, aus dem Urtext neu ediert, übersetzt und kommentiert von Renate Loosen und Franz von Essen, Belser Presse, Stuttgart 1958, S. 39–132. 11 Siehe Iso Kern, «Die Vermittlung chinesischer Philosophie in Europa», in Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 17. Jahrhunderts, Band I, herausgegeben von Jean-Pierre Schobinger, Schwabe Verlag, Basel 1998, S. 225–295.
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den als selbstbewusste Subjekte sind nach Leibniz die eigentliche Wirklichkeit. Und die Wirklichkeit besteht nach ihm aus nichts anderem als aus Monaden. Doch in der heutigen philosophischen Diskussion vermag unser Philosophieren methodisch nicht gleich von Anfang an erfolgreich auf diese seine höchste metaphysische Ebene hinaufzuspringen und auf ihr Fuss zu fassen, sondern es bedarf einer genaueren Phänomenologie oder Psychologie des Erlebens und Erfahrens der Monaden oder Subjekte, einer genaueren Phänomenologie oder Psychologie des sinnlichen Wahrnehmens von sinnlich Gegenwärtigem, des Bewusstseins des subjektiven Leibes im sich bewegenden sinnlichen Wahrnehmen, des Vergegenwärtigens von nicht sinnlich Gegenwärtigem, vor allem des vergegenwärtigenden Einfühlens in andere Subjekte oder Monaden (des Verstehens anderer Subjekte oder Monaden) und der Kommunikation verschiedenster Art mit ihnen. Solche psychologischen oder phänomenologischen Analysen sind in Husserls phänomenologischer Monadologie in hohem Mass enthalten. Die Metaphysik von Leibniz, welche die Monade und die Beziehungen zwischen den Monaden zu ihrem Zentrum hat, war für Husserls phänomenologisches Philosophieren von seiner frühen Zeit an seine metaphysische Leitidee. Er betrachtete seine Philosophie der Intersubjektivität, d. h. der Beziehungen zwischen den Subjekten, letztlich als eine Monadologie im Sinne von Leibniz, wenn auch seine genauen phänomenologischen Analysen der Beziehungen zwischen den Subjekten die Monadologie Leibnizens verändert und ihr dadurch zum Teil eine neue und zugleich, wie ich denke, klarere und wahrere Gestalt gibt. Dazu haben auch seine echten Nachfolger, die in seinem Geiste philosophierten, beigetragen und tragen immer noch dazu bei. Aufgrund seiner Monadologie betrachte ich Leibniz als den grössten Metaphysiker der europäischen Philosophiegeschichte, angefangen von Plato bis zur heutigen Zeit. Unter der Voraussetzung, dass diese Monadologie aufgrund der von Husserl initiierten phänomenologischen Bewusstseinsanalyse begründet und berichtigt wird, ist sie für mich die Metaphysik, die nicht bloss mehr oder weniger begründete Spekulation ist, sondern «als Wissenschaft wird auftreten können». Die Genialität von Leibnizens monadologischer Metaphysik ist auch in Beziehung zur Metaphysik zu sehen, mit deren kritischer Auseinandersetzung sie entstanden ist, nämlich mit Descartes’ Substanzendualismus von res cogitans (denkender Sache) und res extensa (ausgedehnter Sache), der zu sehr vielen Problemen führte, hauptsächlich in der Beziehung zwischen denkender Seele und ausgedehntem Leib (Körper) als zwei radikal verschiedenen Arten von Substanzen und auch in der Auffassung der Tiere als nicht denkende, sondern bloss ausgedehnte Substanzen, also als blosse Maschinen. Leibnizens monadologische Metaphysik hat diesen Dualismus radikal überwunden: Nach ihr besteht auch der Leib einer Seele aus Monaden, alle eigentlichen Substanzen sind Monaden, auch
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die Tiere haben mit ihren Perzeptionen, Appetitionen und Apperzeptionen eine Seele. Descartes (1596–1650) und seine Nachfolger beherrschten die moderne Philosophie der damaligen Zeit. Leibniz kritisiert selten Descartes, der nicht mehr lebte, sondern mehr die Cartésiens, die noch lebenden Cartesianer. Descartes’ metaphysisches Hauptwerk, die Meditationes de prima philosophia, ist 1641 entstanden, als er 45 Jahre alt war, 45 Jahre vor Leibnizens erster systematischer metaphysischer Schrift, dem Discours de Métaphysique (1686), die Leibniz veröffentlichte, als er 40-jährig war. Ich bin während meinen Leibnizstudien vor bald 60 Jahren zur Auffassung gekommen, dass Leibniz mit dieser ersten systematischen metaphysischen Schrift von 1686 sein metaphysisches System der einfachen Substanzen aufgestellt hatte. Den Begriff der Monade für die einfache Substanz verwendet er in ihr noch nicht, sondern erst zehn Jahre später (1696). Im Discours de Métaphysique hatte Leibniz seine eigene Position gegenüber derjenigen der Cartesianer gefunden. Auf einer gewissen Ebene heisst er sie gut, zeigt aber auch ihre Grenzen auf und bringt in vielem seine eigene Position in Verbindung mit der aristotelischen Tradition der Scholastik, knüpft wiederum an diese an, ohne dass er dadurch ein scholastischer Aristoteliker würde. Zudem integriert er in seine Philosophie die zeitgenössische Mathematik und Logik, zu der er selbst Beiträge leistete, und die modernen empirischen Wissenschaften. So ist seine eigene Philosophie eine Synthese oder Harmonisierung auf höherer Ebene der modernen Cartesianischen, der traditionellen scholastisch-aristotelischen Philosophie, der modernen Mathematik und Logik und der modernen empirischen Wissenschaften. Wenn ich oben schrieb, dass Leibniz mit dieser ersten systematischen metaphysischen Schrift von 1686 sein metaphysisches System der einfachen Substanzen aufgestellt hatte, meine ich damit nicht, dass in seinen weiteren Werken und Briefen bis zu seinem Todesjahr 30 Jahre später (1716) nur noch differenziertere, detailliertere, konkretere oder anschaulichere Formulierungen seiner Monadenmetaphysik gegeben hätte. Denn der Discours de Métaphysique repräsentiert nur eine der drei Grundlagen von Leibnizens monadologischer Metaphysik, nämlich die apriorisch-reallogisch theologische. Leibniz wurde sich aber im Laufe der Jahre nach 1686 noch zwei anderer Grundlagen bewusst, der empirisch-phänomenalen und der reflexiv-phänomenologischen, und vertrat seit dem Ende der Neunziger Jahre des 17. Jahrhundert die Auffassung, dass die grösste Intelligibilität seiner monadologischen Metaphysik nur auf der reflexiv-phänomenologischen Grundlage zu finden ist (siehe unten den § 56 «Leibnizens reflexiv-phänomenologisch ausgewiesene Lehre von der Kraft fehlt in der Monadologie Husserls»). Nur dadurch konnte Husserl seine Philosophie als der Leibniz’schen Monadologie verwandt sehen. Hätte Leibniz nur Texte auf apriorisch-reallogisch theologischer Grundlage geschrieben, was aber bei seinem universalen Geist unmöglich war, hätte sich Husserl für Leibniz wahrscheinlich nicht besonders inter-
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essiert, sondern hätte ihn einfach als einen Rationalisten unter anderen betrachtet. Während ich also schon in meiner Gymnasialzeit von Leibniz hörte, stiess ich auf den Namen Husserls erst während meines Philosophiestudiums am Institut Supérieur de Philosophie an der Universität Leuven/Louvain in Belgien (1956–1961). Wenn die dortigen Professoren über das «Denken» von Martin Heidegger und die Phänomenologie der Wahrnehmung (Phénomenologie de la Perception) von Maurice Merleau-Ponty sprachen, erwähnten sie Husserl als den Lehrer der beiden. Oder wenn der Professor für philosophische Anthropologie die Grundverfassung des Menschen durch die Formel «moi avec autrui au monde» (ich mit den anderen in der Welt) charakterisierte, bezog er sich auf Husserl. Aber was Husserl eigentlich lehrte, das sagten sie nicht. So beschloss ich, im Hinblick auf meine schriftliche Lizenzarbeit (Magister-Arbeit) die Philosophie Husserls zu studieren, und setzte mich mit dem damaligen Direktor des Husserl-Archis, Pater Prof. Herman van Breda, in Verbindung. Bei ihm hatte ich nie Vorlesungen gehört, denn er unterrichtete am flämischen Parallelinstitut des Institut Supérieur de Philosophie, nämlich am Hoger Instituut voor Wijsbegeerte. Nach dem Lizenziat schrieb ich auch meine Dissertation über Husserl (Husserl und Kant. Eine Untersuchung über Husserls Verhältnis zu Kant und zum Neukantianismus12 ). Ich brauchte ungefähr zwei Jahre, um Husserl einigermassen zu verstehen. Nach der Verteidigung dieser Dissertation am Samstag, 16. Dezember 1961, zwischen 11 Uhr 15 und 12 Uhr 15, fragte mich Pater van Breda in Anwesenheit seines wissenschaftlichen Mitarbeiters im Husserls-Archiv, Rudolf Boehm, der mir während meines Husserl-Studiums beim Verständnis von dessen Texten immer wieder geholfen hatte, ob ich vom 1. Januar 1962 an am HusserlArchiv als wissenschaftlicher Mitarbeiter (wetenschappelik medewerker) arbeiten wolle. So kam ich ans Husserl-Archiv. Als ich am Husserl-Archiv arbeitete, habe ich mich ungefähr in der Zeit zwischen 1963 und 1966 intensiv mit Leibnizens Monadologie befasst. Ich tat dies im Hinblick auf ein eigenes Buch über Intersubjektivität, zu dem ich noch sehr viele Notizen und längere Ausführungen, z. T. auch in Form von Vorlesungsmanuskripten, habe, aber dessen Publikation ich nie zustande gebracht habe. Zu diesem Zweck wollte ich auch Husserls Nachlassmanuskripte zur Phänomenologie der Intersubjektivität edieren.13 Zuerst verfasste ich über Leibnizens Veröffentlicht 1964, Martinus Nijhoff, Den Haag. In meinem 1975 bei Walter de Gruyter, Berlin und New York, erschienenen Buch Idee und Methode der Philosophie. Leitgedanken für eine Theorie der Vernunft schrieb ich in der Vorbemerkung: «Dieser lange Versuch, Idee und Methode der Philosophie zu umreissen, mag als prätentiös erscheinen. Tatsächlich hätte ich mich an ihn auch gar nicht gewagt, wenn er sich mir nicht unter der Hand aus innerer Notwendigkeit ergeben hätte. Ich wollte ursprünglich kein solches Buch schreiben, sondern arbeitete seit Jahren an der philosophischen Problematik 12 13
Vorwort
Monadologie einen 101-seitigen maschinengeschriebenen Text (1964), mit dem ich aber nicht zufrieden war. Ich überarbeitete ihn mit meiner Tintenfüllfeder handschriftlich und hatte schliesslich ein Manuskript von 266 zum Teil zweiseitig beschriebenen Blättern. Am Ende dieses Leibnizstudiums hatte ich das Gefühl, dass dieser Philosoph für mich zu gross ist, um ihn wirklich begreifen zu können. Im Herbst 1966 wurde ich für ein halbes Jahr krank. Von da an liess ich diesen Text über Leibniz liegen, um mich möglichst meiner wichtigsten Aufgabe im Husserl-Archiv zu widmen, der Edition von Husserls Nachlassmanuskripten zur Phänomenologie der Intersubjektivität.14 In meinem Leben habe ich mich nachher nie mehr so intensiv mit Leibniz befasst wie in jenen jungen Jahren. Danach habe ich mir sein geniales Denken seiner Monadologie mehrmals wieder präsent zu machen versucht, sei es beim Schreiben von Texten, sei es für Lehrveranstaltungen. Dabei habe ich auch jenen Schreibmaschinentext und das grosse Tintenmanuskript zurate gezogen und es dabei teilweise in Unordnung gebracht. Mit 83 Jahren habe ich, veranlasst durch einen äusseren Umstand,15 dieses grosse Manuskript wieder hervorgesucht, um es zu studieren. Da seine Tinte am Verblassen und es deshalb für mich zum Teil nur mit Mühe lesbar ist und da es durch spätere Benutzungen von mir und von anderen teilweise in Unordnung geraten ist, habe ich es mehr oder weniger genau, zum Teil auch mit jetzigen Überlegungen ergänzt, digitalisiert, um es für mich wieder lesbar zu machen. Dader Intersubjektivität. Um für diese Untersuchung den spezifisch philosophischen Gesichtspunkt einzunehmen […], sah ich mich für mich selbst und gegenüber jedem, dem ich eine solche Arbeit vorlegen würde, genötigt, mich vorerst in einer Art Einleitung über den spezifisch philosophischen Aspekt dieser Problematik, und das heisst auch über den philosophischen Gesichtspunkt überhaupt, auszusprechen. Diese Einleitung hätte ich gerne kurz gehalten, aber die heraufbeschworenen Geister liessen es nicht zu […]. Ich möchte mich nicht mit noch ungetaner Arbeit und blossen Versprechungen rechtfertigen, aber ich muss hier doch versichern, dass ich die hier vorliegende Arbeit immer noch als blosse Einleitung betrachte und sie als kaum nützlich betrachten würde, wenn ihr nicht thematisch begrenzte und genaue Einzeluntersuchungen folgen würden […]. Ich will nicht […] einen zweiten Band versprechen, aber möchte doch sagen, dass ich an jenen Fragen der Intersubjektivität weiterarbeite.» (S. VII/VIII) 14 Diese erschienen 1973 in drei Bänden (Husserliana XIII, XIV und XV) unter dem Titel Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass, Verlag Martinus Nijhoff, Den Haag. 15 Mein persischer Freund, Muhammad Shafiei, Professor an der geisteswissenschaftlichen Universität von Teheran, hat mich gebeten, für einen von ihm geplanten Sammelband einen Beitrag über Leibnizens und Husserls Monadologie zu schreiben. Dieser Beitrag muss natürlich viel kürzer werden als der hier vorgelegte Text, denn er ist nur einer von 19 Muhammad Shafiei bis zum 15. Februar 2021 zugesagten Beiträgen. Aber um für diesen Sammelband einen begründeten Beitrag schreiben zu können, muss ich mir die Monadologie Leibnizens wieder gründlich und möglichst umfassend präsent machen. Deshalb habe auf meine handschriftliche LeibnizStudie aus den Jahren zwischen 1963 und 1966 zurückgegriffen, denn dies war für mich am einfachsten.
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Vorwort
durch wurde mir die Philosophie Leibnizens wieder nahegebracht. Aber diesen Text zu veröffentlichen, wäre keine gute Sache. Denn er berücksichtigt in keiner Weise neuere Forschungen über Leibniz und zitiert meistens aus der alten 14bändigen Gesamtausgabe, eingeteilt in die «Philosophischen» und in die «Mathematischen Schriften», von C. J. Gerhardt aus dem Jahre 1885 und nicht die heutige Akademieausgabe.
Einleitung
Die folgende Darstellung gibt nur einige kurze, so gut wie möglich systematisch angeordnete Einblicke in Husserls Phänomenologie der Intersubjektivität und philosophische Monadologie. Eine ins Einzelne gehende, vertiefte Untersuchung von Husserls Denken über die Intersubjektivität würde ein eigenes grosses Buch füllen. Das sechste Kapitel, das Schlusskapitel («Die wichtigsten Unterschiede zwischen der Monadologie Husserls und derjenigen von Leibniz. Wenn die Monadologie Leibnizens durch die Phänomenologie Husserls korrigiert und ergänzt und wenn die Monadologie Husserls durch wichtige Gedanken der Monadologie Leibnizens erweitert würde, könnte die umfassendste, wahrste und tiefste Metaphysik der europäischen Tradition seit Aristoteles entstehen») konfrontiert und verbindet zugleich Husserls und Leibnizens Monadologie. Husserl selbst veröffentlichte über Intersubjektivität nur die fünfte seiner Cartesianischen Meditationen in französischer Übersetzung.16 Doch in seinen sehr zahlreichen Manuskripten kommt zum Ausdruck, dass schon seit einem viel früheren Zeitpunkt die Erfahrung des anderen Ich (alter ego) und der intersubjektive Aspekt fast jedes phänomenologischen Problems der Wirklichkeitserfahrung mehr und mehr sein Interesse angezogen hatte. In den Jahren 1914 oder 1915 schrieb er eine Reihe von 16 zusammenhängenden Manuskripten von insgesamt ungefähr 80 Druckseiten, die alle das Problem der Einfühlung in ein anderes Ich zum Zentrum haben. Diese Reihe macht den grössten zusammenhängenden Text über Intersubjektivität in Husserls Forschungsmanuskripten aus. Möglicherweise wurde Husserl zu diesen Überlegungen durch drei damalige Umstände motiviert: erstens durch seine Arbeit von 1913 am zweiten Teil («Die Konstitution der animalischen Natur») und dritten Teil («Die Konstitution der geistigen Welt») seiner erst nach seinem Tod veröffentlichten Ideen II;17 zweitens In Méditations Cartesiennes, A. Colin, Paris 1931. In einer Anmerkung zu einem Text seines Assistenten Ludwig Landgrebe über die Geschichte des Entstehens von Ideen II schreibt Husserl über die Entstehung des dritten Abschnittes, «Die Konstitution der geistigen Welt», dieses Werkes: «Der dritte Abschnitt sollte während des Druckes von Ideen I [zu den ersten beiden Abschnitten von Ideen II] aufgrund der Ausführungen von ‹Natur-Geist› hinzugefügt werden [Husserl hielt im Sommersemester 1913 eine Vorlesung über «Natur und Geist»] […]. 1913 begann die systematische Formulierung und Reinausarbeitung des dritten Abschnittes ‹Die Konstitution der geistigen Welt›, aber ich kam 16
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Einleitung
wurde er zu diesen Überlegungen durch die Überarbeitung der sechsten der Logischen Untersuchungen motiviert,18 die er im März und April 1914 vornahm; in dieser Umarbeitung analysiert Husserl nicht nur wie in der ersten Auflage dieses Werkes von 1901 die Sprachausdrücke vom Gesichtspunkt des Sprechers, sondern auch vom Gesichtspunkt des Adressaten, dessen Verständnis dieser Sprachausdrücke von ihrem Sprecher beabsichtigt ist.19 Drittens: Wahrscheinlich schrieb Husserl diese Gruppe von 16 Texten auch als Vorbereitung für eine Festschrift zum 60. Geburtstag von Rudolf Eucken (1846–1926).20 Doch wurde diese Festschrift, deren Erscheinen in den damaligen Kriegszeiten geplant war, nie publiziert.21 In den folgenden «Einblicken» werde ich von einigen Manuskripten dieser Gruppe Gebrauch machen. Die ersten Manuskripte Husserls, die sich mit der «Einfühlung» (das fundamentale Wort in Husserls Phänomenologie der Intersubjektivität) befassen, stammen aus der Zeit zwischen 1905 und 1907 und enthalten Exzerpte aus Theodor Lipps’ Artikel «Weiteres zu Einfühlung» (1905).22 Mit diesem damals sehr bekannten Münchner Professor, der Husserls Logische Untersuchungen bewunderte und zusammen mit Johannes Daubert den «Münchner Phänomenologenkreis» begründete, war Husserl in den Jahren1903 und 1904 in einem Briefaustausch und besuchte ihn am 27. und am 28. Mai 1904 in München.23 Das Wort Einfühlung, das Husserl von Theodor Lipps übernahm, aber dann in einem ganz anderen Sinn verstand, war bei diesem ursprünglich ein ästhetischer Begriff: Um ein Bild richtig anzuschauen, müssen wir uns in es «einfühlen».24 Seit 1905 schrieb Husserl verschiedene Manuskripte zur Einfühlung. Bis 1910 bestand sein Hauptproblem auf diesem Gebiet in der Einfühlung von Empfindungen und Empfindungsfeldern in einen äusseren Körper. Husserl betrachtete damals die Auffassung eines äusseren Körpers als eines empfindenden als die erste, fundamentale Schicht der Einfühlung. Eine andere Inspiration für seine Phänomenologie der Intersubjektivität erhielt Husserl ebenfalls in jener frühen Zeit in Diskussionen, die er im März 1905
über die ersten Stücke nicht hinaus.»(Im Husserl-Archiv unter der Signatur M III 1, II 1, S. 1– 2). 18 Veröffentlicht im Jahre 2005 als Band XX/II der Husserliana (im Folgenden durch Ullrich Melle). 19 Hua XX/II, herausgegeben durch Ullrich Melle, Text Nr. 2, S. 33 ff. 20 Vgl. die «Einleitung des Herausgebers» in Hua XIII, S. XLIII. 21 Diese Manuskripte Husserls wurden 1973 veröffentlicht in Hua XIII, S. 236 ff. 22 Veröffentlicht in Archiv für die gesamte Psychologie, IV (1905), S. 226 ff. 23 Siehe Karl Schuhmann, Husserl-Chronik, Den Haag 1977, S. 81. 24 Siehe dazu von Theodor Lipps Die ethischen Grundfragen, 2. Aufl. 1903, S. 21–23; Ästhetik, 1903, S. 140, «Weiteres zur Einfühlung» in Archiv für die gesamte Psychologie, IV (1905), S. 489–493.
Einleitung
mit Wilhelm Dilthey (1833–1911) in Berlin führte.25 Husserl hatte zuvor von einem seiner Schüler gehört, dass Dilthey Übungen über den zweiten Band seiner Logischen Untersuchungen durchgeführt hatte. Es war Diltheys Idee des Verständnisses des Lebens und Erlebens in den Geisteswissenschaften durch den Grundbegriff der Motivation, im Gegensatz zum Begriff der Kausalität im Erklären der Naturwissenschaften, welche Husserl in den nächsten Jahren in neue Denkrichtungen führte und ihm auch den Weg zu einer Phänomenologie des Verstehens der geistigen Welt öffnete. Husserls früheste Texte auf diesem Gebiet sind in den nach seinem Tode veröffentlichten Ideen II (Husserliana, Band IV) enthalten, die teilweise auf das Jahr 1913 zurückgehen, aber durch Edith Stein mit Husserl’schen Texten noch bis aus der Zeit von 1917 ergänzt wurden. Auf einen späteren Text aus dem Jahr 1920 über diese Thematik werde ich unten im 2. Kapitel, § 11 eingehen. Ein sehr wichtiges Ereignis in Husserls Entwicklung seiner Phänomenologie war die Ausdehnung seiner phänomenologischen Reduktion von der egologischen Subjektivität auf die Intersubjektivität in seinen Vorlesungen «Grundprobleme der Phänomenologie» vom Wintersemester 1910/11 (Husserliana, Band XIII, Text Nr. 6). Von dieser Zeit an mussten Einfühlung und Intersubjektivität zu zentralen Themen in Husserls Phänomenologie werden. Dies zeigte sich schon in der oben erwähnten Gruppe von 16 Texten aus dem Jahr 1914 oder 1915. Das Resultat dieses wachsenden Interesses für diese Thematik war Husserls Konzeption und Vorbereitung in den Jahren 1920 und 1921 eines neuen «grossen systematischen Werkes»26 über eine phänomenologische, auf der transzendentalen Intersubjektivität beruhende monadologische Philosophie, welches seine nie zu Ende geschriebenen Ideen ersetzen sollte. Einen sehr wichtigen Schritt für die Lösung seines Problem der Ähnlichkeit bzw. Unähnlichkeit zwischen der Erscheinungsweise des eigenen Leibes und derjenigen eines äusserlich gegebenen fremden Leibkörpers im Hinblick auf die assoziative Sinnesübertragung zwischen den beiden machte Husserl in der Vorlesung «Einführung in die Philosophie» vom Wintersemester 1926/27 (veröffentlicht in Husserliana, Band XIV). Mit diesem Schritt verfügte Husserl
25 Husserl schreibt über diese Begegnung in seinem Brief an Georg Misch vom 27. Juni 1929, der im Vorwort der dritten Auflage von Georg Mischs Lebensphilosophie und Phänomenologie, Darmstadt 1927, veröffentlicht ist. Aus diesem Brief habe ich in meiner Einleitung zu Edmund Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Erster Teil, 1905–1920, Hua XIII, S. XXXIII, zitiert. 26 Husserl schrieb am 25. November 1921 an Roman Ingarden: «Ich habe grosse Fortschritte gemacht und habe seit Ihrer Abreise gar viel gearbeitet. Ich arbeite jetzt seit einigen Monaten meine allzu grossen Manuskripte durch und plane ein grosses systematisches Werk, das von unten aufbauend als Grundwerk der Ph[änomenologie oder Philosophie] dienen könnte.» (Edmund Husserl, Briefe an Roman Ingarden, Phaenomenologica 24, Den Haag 1968, S. 22).
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Einleitung
grundsätzlich über alle Bausteine für den Aufbau seiner Phänomenologie der Intersubjektivität. Was Husserl zwang, seine Konzeption der phänomenologischen Philosophie in seinen Ideen durch diejenige jenes soeben erwähnten «grossen systematischen Werkes» zu ersetzen, waren vier fundamentale Einsichten: erstens die Einsicht, dass seine Darstellung der transzendentalen Reduktion in den Ideen I irreführend sein kann; zweitens die Einsicht, dass die phänomenologische Reduktion auf die Intersubjektivität auszudehnen ist, eine Ausdehnung, die er schon 1910/11 durchgeführt hatte; drittens die Einsicht, dass es auch eine genetische (gegenüber einer statischen) Phänomenologie geben muss, wessen er sich zwischen den Jahren 1917 und 1921 immer deutlicher bewusst wurde; und viertens die Einsicht, dass in einer phänomenologischen Philosophie die Erfahrung Priorität vor dem phantasierenden Denken bzw. die Wirklichkeit oder Existenz Priorität vor der Möglichkeit oder der Essenz (Wesen) hat (siehe unten im 5. Kapitel, § 38). Doch Husserls Vorarbeiten an diesem «grossen systematischen Werk» endeten schon im Herbst 1922. Dann kehrte er zum Cartesianischen, auf dem Prinzip der Zweifellosigkeit, der absoluten Gegebenheit, der Apodiktizität beruhenden, nicht intersubjektiven Weg seiner phänomenologischen Reduktion zurück, wie in seinen Vorlesungen «Einleitung in die Philosophie» vom Wintersemester 1922/23 (veröffentlicht in Husserliana, Band XXXV), in den Vorlesungen «Erste Philosophie» vom Wintersemester 1923/24 (veröffentlicht in Husserliana, Bände VII und VIII). Husserl plante diese Vorlesungen zu einem Buch auszuarbeiten, das er am 31. August 1923 in einem Brief an Roman Ingarden charakterisierte als «prinzipiellen Entwurf zu einem System der Philosophie in Form von Meditationes de prima philosophia,27 die als ‹Anfang› die wahre Philosophie (wesensmässig) eröffnen müssen»28, und in einem wahrscheinlich gegen Weihnachten 1924 geschriebenen Brief an Roman Ingarden als «Meditationes de prima philosophia unter universalsten und radikalsten Gesichtspunkten».29 Doch auch dieses Projekt wurde wieder aufgegeben, und zwar in den Vorlesungen «Phänomenologische Psychologie» vom Sommersemester 1925 (veröffentlicht in Husserliana, Band IX), den Vorlesungen «Einführung in die Phänomenologie» vom Wintersemester 1926/27 (teilweise veröffentlicht in Husserliana, Band XIV Zur Phänomenologie der Intersubjektivität, Teil II) und den Vorlesungen «Natur und Geist» vom Sommersemester 1927 (veröffentlicht in Husserliana, Band XXXII). In ihnen plante Husserl sein Vorhaben von 1921 und 1922 eines «grossen systemati27 28
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Titel von Descartes’ grundlegendem philosophischen Werk. Edmund Husserl, Briefe an Roman Ingarden, Phaenomenologica 24, Den Haag 1968, Edmund Husserl, Briefe an Roman Ingarden, Phaenomenologica 24, Den Haag 1968,
Einleitung
schen Werkes» wieder aufzunehmen. Malvine Husserl schrieb am 16. April 1926 an Roman Ingarden über ihren Gatten: «Er ist – freilich nach 13 jähriger harter Bemühung – so lang ist es seit den Ideen – soweit vorgedrungen, dass er gerade am 8. April [am Tag seines Geburtstages] mit der endgültigen Darstellung und literarischen Fassung beginnen konnte und hoffen darf, bis zum Herbst [1926] den ersten Teil zum Druck zu bringen.»30 Doch auch dieser Plan ist misslungen. Zwischen 1929 und 1931 war sein Plan eines neuen systematischen Werkes wiederum durch den «Cartesianischen Weg» inspiriert, doch 1931/32 kehrte er erneut zu einem «grossen systematischen Werk» in der Grundkonzeption der Jahre 1921 und 1922 sowie 1925 bis 1928 zurück. Husserls letztes Buch, das Fragment der Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (Husserliana, Band VI), ist eine partielle Verwirklichung dieser Konzeption der phänomenologischen Philosophie. Wir sehen, dass Husserl seit 1910/11 hin und her gerissen war zwischen zwei sehr verschiedenen Konzeptionen der Systematik seiner phänomenologischen Philosophie: Die eine dieser beiden Konzeptionen war diejenige, welche die sogenannte «transzendentale Reduktion» von der gegebenen aktuellen Gegenwart des eigenen Bewusstseins durch die eigenen vergegenwärtigenden Erinnerungen auf die eigene Vergangenheit und durch eigene vergegenwärtigende Einfühlungen in die anderen Ich auf die Intersubjektivität ausdehnt und bei diesen Ausdehnungen von der radikalen Forderung der zweifellosen oder absoluten Gegebenheit absieht (denn weder das Erinnerte noch das Eingefühlte ist zweifellos gegeben) und welche sich auf diesen Ausdehnungen aufbaut. Die andere systematische Konzeption war die, welche sich in der «Reduktion auf das transzendentale Bewusstsein» ganz vom Cartesianischen Ideal der unbezweifelbaren, absoluten oder apodiktischen Gegebenheit leiten und ihren Weg von diesem Ideal bestimmen lässt. Doch Husserl war ein schlechter Systematiker, aber ein vorzüglicher Analytiker, ein Analytiker des intentionalen Bewusstseins von etwas, des intentionalen Bewusstseins in all seinen Arten und Stufen. Er kümmerte sich in seinen Analysen nicht um deren Systematik, obschon sie letztlich zusammen eine Einheit bilden. Er hatte sich nicht zum Voraus ein System ausgedacht, in das dann seine phänomenologischen Bewusstseinsanalysen hineinpassen mussten. Das könnte man eher von Leibniz mit seinem apriorisch-theologischen System der präetablierten Harmonie sagen.
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S. 37.
Edmund Husserl, Briefe an Roman Ingarden, Phaenomenologica 24, Den Haag 1968,
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1. Kapitel. Die primordinale Reduktion auf die primordinale Erfahrung (oder auf die Eigenheitssphäre) des Ego als Ausgangspunkt der konstitutiven Analyse der Erfahrung (Einfühlung, Fremderfahrung) des anderen Ego. Husserls Begriffe der originalen Erfahrung und der Monade
§ 1. Drei verschiedene Begriffe der «primordinalen Erfahrung» bei Husserl: Erstens, der genetische Begriff der «primordinalen Erfahrung», welcher die der Erfahrung von anderen Subjekten zeitlich vorangehende Erfahrung bedeutet (ein «unmöglicher Begriff» im Sinne von Leibniz, d. h. ein Begriff, «der nicht gedacht werden kann»); zweitens, der statische Begriff der «primordinalen Erfahrung», der als eine Abstraktion all das in der von mir erfahrenen Welt ausblendet, was anderen Subjekten zu verdanken ist; drittens, die «Eigenheitssphäre» im Sinne von Leibnizens Monade Die primordinale Reduktion ist die Reduktion auf die «primordinale Sphäre» oder «Eigenheitssphäre». Diese Reduktion hat zwei Funktionen: Erstens ist sie die Reduktion auf die subjektive Erfahrungs- oder Erlebnisgrundlage, auf welcher die intentionalen Akte der vergegenwärtigenden Einfühlung dem Ich andere Ich, alter egos, zum Bewusstsein oder zum Erscheinen bringen können. Es ist also die Reduktion auf die Grundlage, von der die phänomenologische Bewusstseinsanalyse der Einfühlung auszugehen hat. Nach meinen Untersuchungen hat Husserls Rede von der «primordinalen Sphäre» drei verschiedene Bedeutungen, die von ihm manchmal vermengt werden (z. B. in der fünften der Cartesianischen Meditationen von 1929 (publiziert 1950 als Husserliana, Band I; im Folgenden wird «Husserliana. Edmund Husserl – gesammelte Werke abgekürzt als Hua), aber in anderen Texten auch wieder voneinander unterschieden (in Texten des dritten
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1. Kapitel. Husserls Begriffe der originalen Erfahrung und der Monade
Bandes von Zur Phänomenologie der Intersubjektivität, Hua XV). Zweitens hat sie die Funktion, das zu bestimmen, was mein Ich und das ihm Eigene, d. h. meine Monade, ausmacht. Das entspricht dem oben im Titel aufgezählten dritten Begriff der «primordinalen Erfahrung». In der ersten (genetischen) und in der zweiten (statischen, abstrakten) Bedeutung ist die «primordinale Sphäre» die Sphäre der solipsistischen Erfahrungen des Ich, welche die Motivationsgrundlage darstellt für die Einfühlung von anderen (fremden) Bewusstseinen und deren bewusste Gegenstände (intentionalen Korrelate) und für die darin implizierte intersubjektive Identifikation meiner solipsistischen Gegenstände und der Gegenstände der mir durch Einfühlung bewussten anderen Bewusstseine (anderen Ich). Die solipsistische Grundlage ist eine Sphäre «original»31 gegebener wahrgenommener und erinnerter Gegenstände. Sie umfasst nicht nur meine idealen Gegenstände wie arithmetische Zahlen und geometrische Figuren, sondern auch reale räumliche Dinge hier und jetzt oder gestern und morgen, darin inbegriffen die physischen von mir in meinem äusseren Raum wahrgenommenen und erinnerten Körper (nicht deren «Seelen»), von denen ich nach Einbeziehung der Einfühlung werde sagen können, dass sie die Leibkörper von anderen erlebenden und erfahrenden Wesen sind. Weiter umfasst die solipsistische Grundlage eine einzige und einzigartige psychophysische (seelisch-leibliche) Realität, nämlich meinen eigenen von mir erlebten Leib, so wie ich ihn selbst erfahre, auch wie ich ihn in seiner wahrnehmenden Tätigkeit erfahre, und nicht so, wie ich ihn von aussen, mit den «Augen der anderen» «sehe». Diese wahrgenommenen oder erinnerten oder sonst wie mir bewussten Gegenstände haben auf dieser solipsistischen Ebene keine intersubjektive Bedeutung. Die Frage ist nun, wie auf dieser solipsistischen Grundlage in einem weiteren Erfahrungsschritt Einfühlungen in andere Ich und ein Verständnis einer intersubjektiven Objektivität und einer gemeinsamen intersubjektiven Welt motiviert sind, welche über die solipsistische Sphäre hinausführen. Mit anderen Worten: Es ist letztlich die Frage, wie ich im Lauf meiner eigenen Erfahrungen verschiedenster Art zum bestätigten Glauben gelangen kann, dass meine eigene solipsistische «Welt» und die solipsistischen Welten oder Umwelten anderer erfahrender Subjekte Aspekte oder Erscheinungsweisen derselben intersubjektiven Welt für alle sind. Es ist eine intersubjektive Welt, von der wir Menschen im Laufe der neueren Geschichte aufgrund der mathematischen Naturwissenschaften auch zur vernünftigen Annahme gekommen sind, dass sie seit einer intuitiv unvorstellbar langen Zeit existiert und sich in einem beständigen Entwicklungsprozess befindet. Oder es ist die Frage, wie auf dieser zweiten, von der Einfühlung in andere Subjekte eröffneten Ebene, trotz der Verschiedenheit der subjektiven Welten der einzelnen Subjekte, letztlich unsere gemeinsame anschauliche alltägliche soziale und naturale Lebenswelt intersubjektiv konstituiert wer31
Zum Begriff der «Originalität» siehe den nächsten Paragraphen 2 in diesem Kapitel.
§ 1. Drei Begriffe der «primordinalen Erfahrung» bei Husserl
den konnte, eine Lebenwelt, in die dann aber auch mehr oder weniger mathematisch-wissenschaftliche Weltvorstellungen eingegangen sind. Erstens: Wenn wir die «primordinale Sphäre» als einen genetischen Begriff auffassen, wie Husserl dies manchmal zu tun scheint, dann ist es ein unmöglicher Begriff, ein Begriff, «der nicht gedacht werden kann» (Leibniz). Husserl schreibt am Anfang von § 44 der fünften seiner Cartesianischen Meditationen» von 1929: «Ist nun die transzendentale Konstitution und der transzendentale Sinn von Fremdsubjekten in Frage und in weiterer Konsequenz in Frage eine universale Sinnesgeschichte, die von ihnen ausstrahlend, allererst objektive Welt für mich möglich macht, so kann der fragliche Sinn von Fremdsubjekten noch nicht der von objektiven, von weltlich seienden Anderen sein.»32
Aber es scheint mir nicht möglich, dass Husserl in der gerade zitierten Stelle mit dem Wort Geschichte auf eine Genesis anspielt. Denn wie könnten wir uns ein konkretes Ich denken, das eine eigene von ihm konstituierte subjektive «Welt» hat mit äusseren Raumkörpern, ja auch mit praktischen Instrumenten, mit Zahlen und geometrischen Figuren, ohne dass es zeitlich schon lange zuvor die mütterliche Zuwendung und Fürsorge und das Zusammenspiel mit anderen sich ihm zuwendenden menschlichen und auch tierischen Wesen erfahren hätte? Und auch sich selbst, dem sich andere zuwenden, in seinem kindlichen Bewusstsein konstituiert hätte? Diese kindliche Intersubjektivität eines ein paar Monate alten Kindes ist noch nicht die Intersubjektivität eines sieben- oder achtjährigen Mädchens oder Knaben, aber sie ist Intersubjektivität. Es ist wahr, dass die Wahrnehmung von Raumkörpern, der praktische Gebrauch eines selbst verfertigten Instrumentes und das Zählen von Dingen oder das Sich-Vorstellen eines idealen geometrischen Kreises, isoliert (abstrakt) betrachtet, keinen intersubjektiven Sinnesverweis haben müssen, aber dieses Wahrnehmen, dieses praktische Herstellen und Brauchen und dieses Produzieren von Zahlen und Sich-Vorstellen geometrischer Figuren sind notwendig in ein konkretes intersubjektives Bewusstseinsleben eingebettet. Zweitens: Doch wenn wir die «primordinale Sphäre» in einem abstrakten, statischen Sinn verstehen, dann ist er ein sinnvoller Begriff, und er ist der einzige Begriff, der als Grundlage für die phänomenologische Analyse der Einfühlung im Rahmen der Ersten Philosophie dienen kann. 1919 spricht Husserl vom «Psychophysischen in der solipsistischen Abstraktion»,33 1923 von der «solipsistischen Abstraktion, […] in welcher mein Leib nicht in einer Verbindung mit meiner ‹Seele› gegeben ist»,34 und 1934 schreibt er: «[…] die Rede von der Primordinalität bedeutet im ursprünglich methodischen Sinn die Abstraktion, die ich, das 32 33 34
Hua I, 2. Aufl., S. 124; Hervorhebung von mir. Siehe Hua XIII, Text Nr. 15 (1918), S. 410. Hua XIV, Text Nr. 15 (1923), S. 310.
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1. Kapitel. Husserls Begriffe der originalen Erfahrung und der Monade
ego der reduktiven Einstellungen, phänomenologisierend vollziehe, indem ich abstraktiv ausscheide alle Einfühlungen.»35 – Diese abstrakte Primordinalität umschliesst alles, was ein menschliches Subjekt selbst, ohne andere Subjekte, durch seine eigenen Fähigkeiten des Wahrnehmens, des phonetischen, nur für es selbst bedeutungsvollen Sich-Äusserns, des Sich-Erinnerns und anderen Vergegenwärtigens (ausgenommen desjenigen des Einfühlens), des praktischen Schaffens als seine solipsistische «Welt» zu konstituieren vermag. Das Einfühlen müssen wir, wie Husserl schreibt, «abblenden» oder «ausschalten»36. Er nennt dieses abstrakte solipsistische oder primordinale Subjekt ein «fingiertes Subjekt».37 Dieses abstrakte, fingierte Subjekt stellt sich vergegenwärtigend keine Gesichtspunkte von anderen vor und nicht das, was sie von diesen Gesichtspunkten aus wahrnehmen, aber dieses Subjekt verwirklicht seine anderen intellektuellen Fähigkeiten und seine Sinne. Es kann also noch sehr vieles tun: Durch sein Identifizieren von etwas gegenwärtig Wahrgenommenem mit einem in der Erinnerung damals, im seiner Vergangenheit Wahrgenommenen, z. B. eines jetzt wahrgenommenen Hauses mit einem, an das es sich erinnert, einem damals gesehenen Haus, vermag es sich eine objektive, aber nicht intersubjektiv objektive Welt zu konstituieren. Es kann sogar eine rudimentäre Sprache erfinden, in der es mit sich selbst spricht, um verschiedene identifizierte Dinge zu unterscheiden u. s. w. Wir können fragen, was ein solches einsames Subjekt motivieren könnte, seine solipsistische «Welt» zu überschreiten (zu transzendieren), sich Gesichtspunkte von anderen zu vergegenwärtigen und in eine Gemeinschaft mit anderen zu treten. Ich werde weiter unten in diesem Text einige Argumente dafür vorlegen, dass dies nur durch die Liebe möglich ist, durch die der anderen Menschen und durch die eigene. Drittens: «Primordinale oder Eigenheitssphäre» kann in seiner dritten Bedeutung nicht die Funktion haben, als Grundlage für die phänomenologische Analyse der Einfühlung zu dienen, sondern hat die Funktion, Husserls Begriff der Monade zu definieren. Ununterschieden von den anderen zwei Begriffen der «primordinalen» oder der «Eigenheitssphäre» kommt auch dieser dritte Begriff in der fünften der Cartesianischen Meditationen im Zusammenhang der Ausführungen über die Reduktion auf die primordinale Sphäre oder die Eigenheitssphäre vor: «Dabei gehört aber doch jedes Bewusstsein von Fremdem, jede Erscheinungsweise von ihm [d. h. vom Fremden], mit in die erste Sphäre [nämlich in die Sphäre der Eigenheit].»38 Dieser dritte Begriff umschliesst auch die eigenen gegenwärtigen, vergangenen und künftigen Einfühlungen, denn diese sind und waren vom Ich «original» 35 36 37 38
Hua XV, Text Nr. 36 (1934), S. 635. Hua XIII, S. 360, Zeile 12; Hua XIV, S. 176, Zeilen 7, 20, 23 und manche andere Stellen. Hua XIV, Text Nr. 9 (1921), S. 170. Hua I, S. 131.
§ 1. Drei Begriffe der «primordinalen Erfahrung» bei Husserl
selbst erfahren bzw. werden von ihm selbst erfahren sein und gehören daher zur Eigenheitssphäre der Monade. Dieser dritte Begriff umschliesst konsequenterweise auch «jede Erscheinungsweise vom Fremdem», d. h. er umschliesst auch die fremden Subjekte, so wie sie mir in meinem eigenen Wahrnehmen, Einfühlen und Kommunizieren als intentionale Korrelate gegeben sind, d. h. er umschliesst die fremden Subjekte, wie sie für mich sind. Aber dazu gehören nicht die fremden Subjekte, so wie sie sich selbst gegeben oder wie sie für sie selbst sind. Weiter umfasst «Primordinal- oder Eigenheitssphäre» in dieser dritten Bedeutung auch alle vergangenen, gegenwärtigen und künftig möglichen unmittelbar (nicht reflexiv) bewussten (Husserl sagt auch: «urbewussten»; Roman Ingarden spricht von «durchlebten») intentionalen Erlebnisse des Ich, deren intentionale Korrelate, sofern diese «original» oder «originär» (zu diesen Begriffen siehe unten im zweiten Paragraphen) gegeben sind, sowie seine genetisch entstandenen Habitualitäten aller Art (Überzeugungen, Gewohnheiten, Auffassungen etc.). Von der «Primordinal- oder Eigenheitssphäre» in diesem dritten Sinn hat es keinen Sinn zu sagen, dass sie die Grundlage meiner Einfühlungen in andere Ich sei, da diese «Sphäre» meine Einfühlungen und ihre intentionalen Korrelate enthält, so wie sie in meinen Einfühlungen gegeben sind. In einem Text vom Januar 1934 schreibt Husserl unter dem Titel «Doppeldeutigkeit der Primordinalität»: «Im ursprünglich methodischen Sinn bedeutet sie die Abstraktion, die ich, das ego der reduktiven Einstellungen, phänomenologisierend vollziehe, indem ich abstraktiv ausscheide [abblende, ausschalte] alle ‹Einfühlungen›. Sage ich nachher ‹primordinales ego›, so nimmt es die Bedeutung der urmodalen Monade [d. h. der eigenen Monade im Gegensatz zu den anderen, fremden] an, in welche die urmodale [d. h. die eigene, die von mir selbst vollzogene] Einfühlung mit aufgenommen ist.»39
Die primordinale oder Eigenheitssphäre im Sinne der Monade schliesst meine Mitmonaden nicht selbst ein, d. h., nicht als das, was sie für sich selbst sind, sondern nur als das, als was sie für mich in meinen Vorstellungen von ihnen als meinen anderen Ich erscheinen. Die anderen Monaden sind für mich transzendent: Das heisst, was sie für sich selbst in ihrem Bewusstsein sind, ist radikal verschieden von dem, was sie für mich in meinem eigenen Bewusstsein sind, und ich kann nie wirklich wissen, was sie für sich selbst sind, obschon ich mir durch meine Erfahrungen davon mehr oder weniger gerechtfertigte Vorstellungen machen kann. Leibniz schrieb, dass die Monade von ihrem eigenen Gesichtspunkt aus alle anderen Monaden spiegelt. Aber die menschlichen Monaden haben gegenüber allen anderen endlichen oder geschaffenen Monaden den Vorzug, dass sie sich durch Reflexion bewusst werden können, nur ein «Gesichtspunkt» auf das Uni39
Hua XV, Text Nr. 36 (Mitte Januar 1934), S. 635.
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1. Kapitel. Husserls Begriffe der originalen Erfahrung und der Monade
versum zu sein und dass es noch andere mögliche Gesichtspunkte auf das Universum geben kann. Nach Husserl weiss die menschliche Monade durch ihre einfühlenden Vergegenwärtigungen, dass noch andere menschliche Monden existieren, die als andere Ich das Universum (die Welt) von anderen «Gesichtspunkten», in verschiedenen «Perspektiven», erfahren, und sie kann auf diese Verschiedenheit reflektieren. Tierische oder noch einfachere Monaden spiegeln zwar, in Leibnizens Sprache, auch alle anderen Monaden, können sich aber ihrer eigenen Perspektivität nicht bewusst werden, d. h. sich nicht bewusst werden, dass es noch andere mögliche Perspektiven gibt. Daher liegt es auch ganz ausserhalb der Möglichkeiten einfacher Monaden, sich in der Phantasie vergegenwärtigend auf den Gesichtspunkt einer anderen Monade zu versetzen, geschweige denn, die Differenz zwischen eigenem und fremdem «Gesichtspunkt» zu reflektieren. Leibniz sagt, dass die einfachen Monaden nur «Perzeptionen» haben. Nach ihm haben nur die geistigen, die menschlichen Monaden aufgrund ihrer Reflexion ein Ichbewusstsein. Ich schätze Husserls durch die Primordinalität im Sinne der Originalität oder Originarität bestimmten Begriff der Monade als eine philosophisch ausserordentlich wichtige Konzeption (zum Begriff der Originarität siehe den nächsten Paragraphen). Denn sie erlaubt, den grundlegendsten Begriff der personalen Einheit genau zu bestimmen. Wir können zwei Begriffe der personalen Einheit unterscheiden. Die völlig eindeutige personale Einheit, welche durch Husserls Interpretation der «Monade» (was nichts anderes als Einheit bedeutet) bestimmt ist und die all das umfasst, was die Wirklichkeit in meiner Erfahrung für mich selbst ist, d. h., als was sie mir erscheint, und andrerseits eine relative und zerbrechliche personale Einheit, welche im mehr oder weniger engen oder losen oder gar sich möglicherweise auflösenden Zusammenhang meiner Erlebnisse, in der mehr oder weniger grossen inneren Konsequenz und Konsistenz meiner Haltungen, Habitualitäten, Meinungen, Überzeugungen, Vorlieben, Interessen, Lebensplänen etc. besteht. Diese zweite, durch den Zusammenhang bestimmte personale Einheit kann voller Brüche, Widersprüche, Spaltungen sein, aber sie enthält oft auch immer wieder Versuche, mit sich selbst zu einer erträglichen Einheit, zu einer gewissen Konsistenz zu kommen.40
Vgl. die zweite Studie («Bewusstseinseinheit und personale Identität. Zwei Prinzipien der Bewusstseinseinheit: Erlebtsein und Zusammenhang der Erlebnisse») in Iso Kern, Erinnerung – Personale Einheit – Reflexion. Drei philosophische Studien. Schwabe Verlag, Basel 2021, S. 95– 132.
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§ 2. Erste, zweite und dritte Originalität
§ 2. Das in der Einfühlung Erfahrene ist nicht original, sondern originär erfahren. Doch in einer anderen Bedeutung ist es auch original erfahren. Erste, zweite und dritte Originalität. Primordinalität als erste (primordinale) Originalität In einem Text, den Husserl im November oder Dezember 1910 im Zusammenhang der die transzendentale Reduktion auf die Intersubjektivität ausdehnenden Vorlesungen «Grundprobleme der Phänomenologie»41 geschrieben hat, unterscheidet er, durch diesen Zusammenhang motiviert, zum ersten Mal zwischen einem Bewusstsein, das «‹selbst› erfasst» oder «direkt erfasst» ist, und einem Bewusstsein, nämlich dem eingefühlten, das nicht «direkt» oder «selbst erfasst» ist. Er schreibt zu diesem «selbst»: «Das ‹selbst› drückt eine Originarität aus. Was in der Einheit eines Bewusstseinsstromes je aufgetreten ist, das trat da originär auf als selbst und jetzt, und wenn das Jetzt sich in die Vergangenheit wandelt, so ist es nun und bleibt es ‹selbst› vergangen.»42 Diese Unterscheidung wird später in Husserls Problematik der Intersubjektivität unter sich verändernden und immer mehr präzisierenden Worten immer eine bedeutende Rolle spielen. Am Anfang eines 1914 oder 1915 geschriebenen Textes unterscheidet Husserl der obigen Unterscheidung entsprechend zwischen «Selbstwahrnehmungssphäre» und dem, was durch «Interpretation als fremder Mensch» hinzukommt, d. h. Intersubjektivität und intersubjektive Welt.43 Die «Selbstwahrnehmungssphäre» wird er von 1916 an bis ungefähr 1920 «solipsistische Sphäre» und später «Originalsphäre der Erfahrung», «primordinale Sphäre» und «Eigenheitssphäre» nennen. In den Ideen II von 1913, die aber 1916/17 von Edith Stein durch hauptsächlich spätere Texte Husserls (bis 1917) ergänzt wurden, schreibt Husserl: «Die Menschen als Glieder der Aussenwelt sind originär gegeben, sofern sie als Einheiten von körperlichen Leibern und Seelen aufgefasst sind.»44 In einem Text aus dem Sommer 1921 sagt er: «Die ursprüngliche Gegebenheit eines Leibes kann nur ursprüngliche Gegebenheit meines Leibes sein. Die Apperzeption [Auffassung] ‹mein Leib› ist urwesentlich die erste und sie ist die einzige völlig originale [Leibapperzeption]. Erst wenn ich meinen Leib konstituiert habe, kann ich jeden anderen Leib als solchen apperzipieren [auffassen], und diese Apperzeption hat prinzipiell einen mittelbaren Charakter. […] Jeder [andere Leib] hat also Rückbeziehung auf meinen Leib, wie entsprechend jedes andere Ich und sein Innenleben Rückbeziehung hat auf mein eigenes [Ich] als das einzige, das mir im wirklichsten und 41 42 43 44
Siehe dazu oben in diesem Kapitel den § 1. Hua XIII, Beilage XXVI, S. 221. Hua XIII, Text Nr. 8, S. 250/251. Hua IV, S. 163.
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1. Kapitel. Husserls Begriffe der originalen Erfahrung und der Monade
letzten Sinn im Original gegeben ist. Ein fremdes Ich ist mir zwar auch in einer gewissen Originalität gegeben, nämlich insofern ich den fremden Leibkörper original gegeben habe und die einfühlende Mitgegenwärtigung [Vergegenwärtigung] eine eigentümliche Apperzeption schafft, wodurch eben so etwas wie Mensch zu der einzigen Gegebenheit kommt, zu der er prinzipiell kommen kann. Aber wesensgesetzlich bin ich, der ich mir nicht als Mensch original gegeben bin, sondern als das Ich, das seinen Leib in wunderbarer eigener Weise gegeben hat als eigentümlich funktionierendes Zentrum seiner Umwelt; sowie ich Andere schon als Menschen gesetzt habe, [führt dies dazu,] mich auch als Menschen aufzufassen, nämlich unter dem Aspekt, den andere von mir haben.»45
Nebenbei bemerkt ist dies Husserls Begründung für seine These, dass «der Andere der erste Mensch ist». Ich bin nach ihm der «zweite Mensch», nämlich indem ich mich «durch die Augen» (vom Gesichtspunkt aus) des «ersten Menschen», d. h., des anderen, sehe. In einem kurzen Text, der auch um 1921 geschrieben wurde, führt Husserl die Unterscheidung zwischen originaler und originärer Erfahrung ein: «[…] weder der fremde Leib noch die fremde Subjektivität ist mir originaliter gegeben, und doch ist mir der Mensch dort in meiner Umwelt originär gegeben.»46 «Das Reich der originalen Erfahrung ist identisch mit dem Gesamtreich meiner Subjektivität.»47 Am Ende dieses Textes wird die originäre Gegebenheit des Menschen dort im Aussenraum genauer analysiert: «Man sieht zunächst den fremden Leib, so wie man einen Wegweiser oder ein Wort sieht. Dieser Auffassung kann originäre Erfüllung zuteil werden, sie ist zunächst leer, sie wird erfüllt in verschiedener, eigentlicher und uneigentlicher Weise. Eigentlich, wenn ich des ‹fremden Leibes› in seiner Analogie mit meinem, dabei beachteten und immer original gegebenen Leib innewerde und sich nun die Appräsentation [hier = Vergegenwärtigung48 ] der fremden Leibesschichte und der fremden ganzen Subjektivität vollzieht usw.»49
Der Grund, warum diese Appräsentation [Vergegenwärtigung] nicht original ist, ist nicht der, dass es sich um eine Vergegenwärtigung handelt, sondern dass sie Vergegenwärtigung einer fremden Subjektivität ist. Die Vergegenwärtigung meiner eigenen vergangenen Subjektivität ist original, denn sie gehört zum «Gesamtreich meiner Subjektivität». Hua XIV, Text Nr. 1 (Sommersemester 1921), S. 7. Hua XIV, Text Nr. 11, S. 234. 47 A.a.O., S. 233, Randbemerkung. 48 Im Zusammenhang der Analyse der Wahrnehmung der räumlichen Dinge bedeutet «Appräsentation» keine Vergegenwärtigung, sondern die unmittelbare, assoziative Mitwahrnehmung der nichtwahrgenommenen Seiten des Dinges, seiner aktuell nicht wahrgenommenen «Anblicke», seines in seiner Wahrnehmung mitbeschlossenen, wie Husserl sagt, «Innenhorizontes». 49 Hua XIV, Text Nr. 11, S. 234. 45
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§ 2. Erste, zweite und dritte Originalität
In einem zwischen 1925 und 1928 geschriebenen Text analysiert Husserl den Begriff der Originalität, über den er im soeben zitierten Text schrieb. Zuerst versucht er die Erfahrung von anderen als «originale Erfahrung» zu bestimmen, aber verwirft dann diese Bestimmung und unterscheidet schliesslich drei verschiedene Begriffe von «originaler Erfahrung»: Erstens die Sphäre der «primordinalen Originalität (= Uroriginalität), d. h. die originale Erfahrung, «die von aller Einfühlung abstrahiert, oder um diesen undeutlichen Ausdruck zu präzisieren, keine Einfühlungsbestände, keine Bestände des fremden Subjekts als erfahrene […] gelten lässt»,50 zweitens die «sekundäre Originalität (= erste Originarität)», «die uns Menschen und Animalien originaliter gibt»51, und, drittens, die «tertiäre Originalität», die «uns Kulturobjekte gibt, die ihrerseits ihre Sinngebung ursprünglich verdanken den kultivierenden Subjekten»52. Dies entspricht dem, was Husserl in seiner Formalen und transzendentalen Logik (1929) schreibt: «Von mir selbst habe ich Erfahrung in primärer Originalität; von Anderen, von ihrem Seelenleben in einer bloss sekundären, sofern das Fremde mir in direkter Wahrnehmung prinzipiell nicht zugänglich ist.»53 In diesen Texten erscheint bei Husserl zum ersten Mal der Begriff der «primordinalen Originalität» oder «primären Originalität oder «Uroriginalität», wodurch deutlich wird, dass der Begriff der Primordinalität», den Husserl in seinen Cartesianischen Meditationen (1930) verwendet, «primordinale Originalität» bedeutet. Ich denke, dass Husserl bei seinem Wort Original an ein gegensätzliches Begriffsfeld denkt, zu dem der Begriff der Kopie gehört, so wie wir in der Kunst von einem Original und seiner Kopie oder seinen Kopien sprechen. Ich bin mir selbst im Original gegeben, das andere Ich ist sich selbst im Original gegeben, aber das andere Ich ist mir nur in so etwas wie in einer «Kopie» gegeben, in einer mittelbaren, sekundären Vorstellung, in seiner Originalität ist es mir «unzugänglich», so wie ich ihm nicht im Original gegeben sein kann. Meine Wahrnehmung des anderen Ich ist «originär» im Sinne, dass sie meine ursprünglichste Erfahrung von ihm ist, im Gegensatz zu meiner Erinnerung an ein anderes Ich, die sekundär im Verhältnis zur Wahrnehmung von ihm ist. Eine originärere Erfahrung als die Wahrnehmung des anderen Ich ist nicht denkbar, ist nicht möglich. Doch in einem Text aus dem Monat Februar 1927 schreibt Husserl: «Mein Gegenüber ist original von mir erfahrener Anderer – original, sofern das Intentionale [Korrelat] als solches meines originalen Einfühlens selbst originalen Charakter hat.»54 Wir sind hier in einer analogen Situation wie mit dem Begriff der Primordinalität (siehe oben im § 1). Wenn wir das «mir original Gegebene» als 50 51 52 53 54
Hua XIV, Text Nr. 19, S. 387, vgl. S. 389. A.a.O., S. 389/90. A.a.O., S. 390. Erste Ausgabe von 1929 (Niemeyer Verlag, Halle), S. 206; Hua XVII, S. 240. Hua XIV, Beilage LXXIII (Anfang Februar 1927), S. 478.
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1. Kapitel. Husserls Begriffe der originalen Erfahrung und der Monade
meine konkrete Monade verstehen, dann ist das intentionale Korrelat meiner Einfühlung, die andere Subjektivität oder die andere Monade als Korrelat meiner Einfühlung untrennbar von meiner Einfühlung und ist mir daher original gegeben. Wenn wir aber «original» innerhalb der abstrakten statischen Analyse der Konstitution des anderen Ich verstehen, dann ist mir nur meine eigene Subjektivität original gegeben; oder, wenn ich die andere Subjektivität so betrachte, wie sie sich selbst gegeben ist, dann ist sie sich original gegeben, aber ist mir nicht original gegeben. Analog ist es mit der Erinnerung: Meine jetzt erinnerte Vergangenheit ist mir original gegeben. Aber meine erinnerte Vergangenheit, so wie sie von meinem vergangenen Ich erfahren war, ist mir jetzt nicht original gegeben. In einem Text vom Januar 1934 unterscheidet Husserl zwischen primärer, sekundärer und tertiärer Originalität, aber nicht in demselben Sinne wie in dem zwischen 1925 und 1928 geschriebenen Text, den ich oben zitierte. Husserl schreibt, dass mein gegenwärtiges Bewusstseinsleben mir in primärer Originalität (Uroriginalität), mein vergangenes Bewusstseinsleben in sekundärer Originalität und das eingefühlte Bewusstseinsleben anderer Ich in tertiärer Originalität gegeben ist.55 In einem weiteren späten Text, den ich nicht aufzufinden vermag, unterscheidet Husserl innerhalb der primären Originalität meines gegenwärtigen Bewusstseinslebens die «absolute Originalität» des «Quellpunktes des Jetzt», der in der «Impression» gegeben ist, im Gegensatz zum in der Retention gegebenen «Soeben» meines Bewusstseinslebens und dem in der Protention gegebenen unmittelbar Künftigen meines Bewusstseinslebens. Die phänomenologischen Begriffe Husserls müssen immer in ihrem Kontext verstanden werden.
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Hua XV, Beilage L (Januar 1934), S. 641/642.
2. Kapitel. Phänomenologie der Einfühlung
§ 3. Die Phänomenologie der Einfühlung enthält vier verschiedene Arten von Problemen: a) das Problem einer fiktiven Genesis der Einfühlung, b) das Problem einer reflexiven Analyse der gegebenen eigenen Einfühlung, c) das Problem der phänomenologischen Analyse der wesentlichen Struktur der genetischen Konstitution der Einfühlung, d) das Problem der phänomenologischen Interpretation der faktischen Genesis der Einfühlung in der Entwicklung des Kindes In einem möglicherweise zu Beginn des Monats Februar 1927 geschriebenen Text unterscheidet Husserl die oben im Titel angegebenen vier Arten von Problemen.56 a) Über «das Problem einer fiktiven Genesis» schreibt er: «Angenommen, eine originale Umwelt sei ohne fremde Subjekte, bzw. ohne in ihr auftretende fremde Leiber konstituiert, es gebe in ihr nur meinen Leib und Aussendinge; angenommen, es trete nun in dieser originalen Umwelt für mich ein ‹fremder Leibkörper› auf, was muss dann durch die Erfahrung die Ähnlichkeit dieses Fremdkörpers mit dem eigenen Leibkörper motiviert sein? Inwiefern ist dann motiviert die die Wahrnehmung des fremden Körpers zur Wahrnehmung anderer Mensch erweiternde Appräsentation [im Sinne von Vergegenwärtigung] einer zweiten Subjektivität? Ich sagte ‹fiktive Genesis›, denn ich kann nicht im voraus behaupten, dass die Genesis der Fremdappräsentation voraussetzt die vorangegangene Genesis einer Umwelt ohne Fremdsubjektivität, bzw. voraussetzt, dass schon eine solche Umwelt konstituiert ist.»57
Wie ich oben im § 1 unter Punkt 1 schrieb, halte ich diese Genesis nicht nur für fiktiv, sondern für unmöglich. b) «Das Einfühlungsproblem der statischen Phänomenologie ist die intentionale Explikation der gegebenen Fremdapperzeption: Was liegt in der Wahrneh56 57
Hua XIV, Beilage LXII, S. 477–478. A.a.O., S. 477.
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2. Kapitel. Phänomenologie der Einfühlung
mung ‹anderer Mensch› beschlossen?»58 Wie ich in § 1 unter Punkt 2 schrieb, beginnt dieses Problem der statischen Phänomenologie mit der Abstraktion oder «Ausblendung» der mir gegebenen Erfahrung vom anderen Ich. c) Das Problem der phänomenologischen Analyse der Wesensstruktur der genetischen Konstitution der Einfühlung von anderen Ich. d) Das Problem der phänomenologischen Interpretation der faktischen Genesis der Einfühlung in der kindlichen Entwicklung. Dies ist ein Problem der phänomenologischen Interpretation der wissenschaftlichen und vorwissenschaftlichen Erfahrung der faktischen psychischen Entwicklung von Kindern. Dieses Problem ist kein Problem der reinen (apriorischen) transzendentalen Phänomenologie, d. h. der Ersten Philosophie, sondern ein Problem der Zweiten Philosophie, welche unsere wissenschaftliche und alltägliche Erfahrung interpretiert.59 In einem Text aus dem Monat Juli 193560 versucht Husserl «die erste Einfühlung eines Kleinkindes» aufgrund von Fakten, also in einer «Zweiten Philosophie», phänomenologisch zu interpretieren. Er betont die Mutter-Kind-Beziehung: «Das Kind lernt von der Mutter gesprochene Worte als Verweisungen, als Zeichen verstehen, die auf Bezeichnetes hinlenken. […] Das Kind äussert unwillkürlich Laute in unwillkürlicher Kinästhese, es wiederholt sie, erzeugt die gleichen willkürlich. […] die Mutter äussert ihrerseits ähnliche Laute, zunächst Nachahmungen der kindlichen. […] Namen haben zunächst als Voraussetzung objektive Welt. […] Das Kind lernt zuerst ‹Mutter›, ‹Papa› etc. als Namen. Die Mutter sagt zum Kind nicht ‹ich komme sogleich›, ‹ich bringe das›, sondern ‹Mama kommt›, ‹Mama bringt›. Wie kommt das Kind dazu ‹ich› zu sagen – wie, angesprochen, das ‹du› zu verstehen, das ‹er›, das ‹wir›[…].»61
A.a.O., S. 477. Siehe mein Kapitel «Erste und Zweite Philosophie (Transzendentale Phänomenologie und Metaphysik)» in R. Bernet, I. Kern und E. Marbach, Edmund Husserl, Darstellung seines Denkens, Meiner, Hamburg 2. Aufl. 1996, S. 209–213. 60 Hua XV, Beilage XLV (Juli 1935), S. 604–608. 61 Hua XV, Beilage XLV (Juli 1935), S. 606. 58
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§ 4. Erste Stufe der Einfühlung
§ 4. Erste Stufe der Einfühlung: Das Ungenügen von Husserls phänomenologischer Analyse der konstitutiven Erfahrung eines anderen lebenden (menschlichen oder tierischen) Wesens: Diese Analyse macht die äusserliche wahrnehmungsmässige Ähnlichkeit zwischen meinem äusserlich wahrgenommenen eigenen Leib einerseits und dem Leibkörper eines solchen lebenden Wesens andererseits und die «assoziative Paarung» aufgrund dieser Ähnlichkeit geltend. Die Analyse der konstitutiven Erfahrung eines solchen lebendig sich selbst bewegenden Wesens muss sich auf Husserls Phänomenologie der Wahrnehmung des subjektiven Wahrnehmungsraumes als meines kinästhetischen Bewegungsraumes oder als des wahrgenommenen «Spielraumes» meiner wirklichen und möglichen lebendigen Selbstbewegungen stützen und auf diesem Boden die phänomenologische Analyse weiterführen Nach Husserls phänomenologischer Analyse besteht die Grundlage der Einfühlung und damit der subjektiven Konstitution eines anderen erlebenden Wesens in der wahrnehmungsmässigen Ähnlichkeit zwischen meinem eigenen Leibkörper und dem Körper eines anderen Menschen oder Tieres. Diese Ähnlichkeit innerhalb der primordinalen Sphäre (im Sinne der statischen eidetischen Phänomenologie) motiviert die «Appräsentation einer Innerlichkeit», d. h. die Vergegenwärtigung eines anderen Bewusstseins, das mir nicht wahrnehmungsmässig gegeben sein kann. Aber diese motivierende Ähnlichkeit kann nicht die Ähnlichkeit zwischen zwei äusserlich wahrgenommenen Gestalten sein, denn das Erscheinungssystem eines im Aussenraum wahrgenommenen Körpers und das Erscheinungssystem meines eigenen, sich immer im Nullpunkt der Orientierung befindlichen eigenen Leibes sind völlig verschieden: Meinen eigenen Kopf, meinen Hals und meinen Rücken kann ich nicht sehen, und was ich von meinem eigenen Leib sehe, z. B. mein Bauch, erscheint mir anders als der Bauch eines anderen Menschen etc. Auch das identifizierende Wiedererkennen meines eigenen Leibkörpers im Spiegel ist nach Husserl keine blosse Wahrnehmung, sondern setzt schon ähnliche Prozesse wie diejenigen der Einfühlung voraus. Dieses Wiedererkennen könnte auch als ein Spezialfall der Einfühlung betrachtet werden.
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2. Kapitel. Phänomenologie der Einfühlung
Es muss durch phänomenologische Analyse gesagt werden: Die motivierende Ähnlichkeit besteht in einer wahrgenommenen Korrespondenz zwischen den kinästhetisch (innerlich) wahrgenommenen Bewegungen und Stellungen z. B. des eigenen visuell wahrnehmenden Leibes und den im äusseren Raum visuell wahrgenommenen Bewegungen und Stellungen eines Körpers. Oder wenn wir vom akustischen Sinnesfeld sprechen wollen, dann muss die motivierende Ähnlichkeit in der Korrespondenz bestehen zwischen dem kinästhetisch wahrgenommenen eigenen Hören durch sich selbstbewegendes Hinwenden des eigenen Kopfes mit seinen Ohren zur Lautquelle und eventuellem sich dieser Quelle kinästhetisch wahrgenommenen selbstbewegenden Nähern einerseits und andererseits entsprechenden Wahrnehmungsbewegungen eines leiblich hörenden Aussenkörpers. Oder eine Korrespondenz kann zwischen akustisch wahrgenommenen eigenen Lautäusserungen und den akustisch im äusseren Raum wahrgenommenen Lautäusserungen bestehen. Diese Korrespondenz wird unmittelbar wahrgenommen. Sie wird unmittelbar motiviert durch eine apperzeptive Übertragung, durch welche ein gesehener, sich im Aussenraum bewegender Körper (oder eine gehörte Tonbewegung) in Korrespondenz mit dem unmittelbar bewussten Können meines eigenen leiblich mich Selbstbewegens aufgefasst wird. Diese apperzeptive Übertragung ist kein Schluss des Denkens, sie enthält kein sich vergegenwärtigend auf einen anderen Gesichtspunkt Versetzen, sie enthält nicht notwendig ein vergegenwärtigendes Sich-Erinnern, sondern sie geschieht durch Lernen unmittelbar, ähnlich wie wir ohne vergegenwärtigendes Uns-Erinnern und ohne Vergleich etwas als Stuhl oder Tisch oder als festen Boden wahrnehmen, auf dem wir gehen können. Diese apperzeptive Übertragung geschieht, wenn wir in unserem Leben wahrnehmend gelernt haben, aufgrund unserer kinästhetisch wahrgenommenen Selbstbewegung und Leibeshaltung auf Stühlen zu sitzen, an Tischen zu essen oder zu schreiben, auf dem Boden herumzugehen, ohne Furcht, dabei in die Tiefe zu sinken, wie es geschähe, wenn wir auf dem Wasser herumgehen wollten. Dass wir dies, im Gegensatz zu den Wasserläufern mit ihren sechs langen Beinen (gerridae, Insektenfamilie innerhalb der Unterordnung der Wanzen) nicht können, haben wir so gelernt. Husserls phänomenologische Analyse der Konstitution des subjektiv wahrgenommenen Raumes als Raum meiner eigenen Bewegungen, als «Spielraum» meines eigenen motorischen Tuns in seinen Vorlesungen «Einführung in die Philosophie» vom Wintersemester 1926 (Hua XIV, Nr. 20–37 mit ihren Beilagen) liefert alle Grundlagen, um das unmittelbare Wahrnehmen eines sich im Raum bewegenden Menschen oder Tieres als einen lebendig sich selbst bewegenden wahrnehmenden Leib phänomenologisch verstehen zu können. Vor bald 50 Jahren habe ich in meiner Einleitung zu Husserliana, Band XIV Folgendes geschrieben, zu dem ich jetzt noch stehe:
§ 4. Erste Stufe der Einfühlung
«Die grösste Leistung dieser Reflexionen [im zweiten Teil dieser Vorlesungen] ist aber darin zu sehen, dass sie das seit Jahren gestellte und vorher nie befriedigend gelöste Problem: wie die für die ‹Assoziation› fundamentale Ähnlichkeit zwischen dem eigenen Leib und einem Aussenkörper in der prinzipiellen Verschiedenheit ihrer möglichen Erscheinungsweisen vermittelt ist, durch eine Analyse der Raumkonstitution, genauer durch die konstitutive Rückbeziehung jeder aussenräumlichen Bewegung und Entfernung auf eigene, ‹kinästhetische Selbstbewegung›, beantwortet (Text Nr. 36). Dadurch ist der Rekurs auf die Aussenvorstellung meines eigenen Leibes durch phantasiemässiges ‹Hinausrücken› desselben hinfällig geworden.»62
Es ist in diesem Zusammenhang zu betonen, dass das durch seine verschiedenen Sinne Gegenwärtiges wahrnehmende Subjekt der Leib ist, und das heisst eo ipso der beseelte Leib als eine Einheit. Eine Cartesianische substanzielle Trennung zwischen Seele (res cogitans, «denkender Sache») und Leib (res extensa, «ausgedehnter Sache») entspricht nicht den phänomenologisch zu analysierenden Phänomenen der sinnlichen Wahrnehmung von Gegenwärtigem. Und es ist auch nicht richtig, hier von einer präetablierten Harmonie zwischen wahrnehmender Seelenmonade und ihrem Leib als den ihr untergeordneten Monaden zu sprechen, wie dies Leibniz tut. Denn eine solche Harmonie setzt immer noch eine Zweiheit voraus. Man kann sich diese Verhältnisse auch durch folgende faktische Beispiele anschaulich machen. Es wurde festgestellt, dass, wenn jemand als Zuschauer aufmerksam einen Hürdenlauf verfolgt und sein intensives Interesse dabei meistens auf seinen Favoriten oder den vordersten Läufer gerichtet ist, er dann, wenn dieser oder jener Läufer sein rechtes oder linkes Bein hebt, um eine Hürde zu überspringen, auch eines seiner Beine leicht anhebt. Man spricht bei diesem Phänomen von «sympathetischer Resonanz», da der eigene Leib unwillkürlich mit den Selbstbewegungen des wahrgenommenen Hürdenläufers «mitschwingt». Die Korrespondenz zwischen kinästhetischer Selbstbewegung und der Selbstbewegung eines im äusseren Raum gesehenen Läufers ist unmittelbar, ohne jegliche Überlegung, erfasst. Dasselbe Phänomen ist feststellbar, wenn jemand einem Tänzer oder einer Tänzerin mit Interesse zuschaut: Wenn er einen Sinn für das Tanzen hat und mit Interesse zuschaut, schwingt sein eigenes, kinästhetisch erlebtes subjektives Selbstbewegen mit. Oder, wenn wir einem Bauarbeiter mit Teilnahme zuschauen, spüren wir in unserem eigenen Leib sein hartes, mühevolles Arbeiten, wenn es aufgrund früherer ähnlicher Erfahrungen in unserem eigenen subjektiven Leib geweckt wird. Wir erleben auch selbst ziemlich oft, dass, wenn unser Gesprächspartner sich plötzlich zurücklehnt und hinter seinem Nacken seine beiden Hände verschränkt, wir dann unwillkürlich dasselbe tun; oder dass, wenn er sich vor einem schwierigen Problem an den Schläfen kratzt, wir es ihm gleichtun. Ich glaube, dies sind alles ähnliche Phänomene. Etwas anderes scheint 62
Hua XIV, Einleitung des Herausgebers, S. XXXIV/XXXV.
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2. Kapitel. Phänomenologie der Einfühlung
mir die blosse Ansteckung zu sein, z. B. beim Gähnen. Da ist der Zwang viel stärker, wir müssen auch gähnen, ob wir wollen oder nicht. Das scheint mir etwas in unserer angeborenen leiblichen Verfassung Angelegtes zu sein, während die sympathetische Resonanz durch die Konstitution des subjektiven Raumes erklärbar ist, wie auch die unmittelbare Wahrnehmung eines anderen sich lebendig selbstbewegenden Wesens. Ich kann hier das Phänomen des subjektiven Bewegungsraumes auch durch einen Satz Kants aus der ersten Auflage seiner Kritik der reinen Vernunft illustrieren: «Wir stellen uns im Raume eine Linie vor, indem wir sie ziehen.» Mit anderen Worten: Eine im Raum vorgestellte Linie hat ihren Sinn aus unserer eigenen subjektiven Bewegung, in der wir sie ziehen. Es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen der apperzeptiven Übertragung bei der Wahrnehmung z. B. von Tischen und Stühlen und derjenigen von der eigenen subjektiven Beweglichkeit auf einen wahrgenommenen, sich im Aussenraum bewegenden Körper. In dieser Übertragung ist das ursprünglich gegebene sich Bewegende, der kinästhetisch erlebte eigene bewegliche Leib, von dem die Übertragung ausgeht, wahrnehmungsmässig immer mit dabei. Mein eigener subjektiver Leib bildet mit dem im Aussenraum wahrgenommenen Leib, wie Husserl schreibt, ein «Paar», und die apperzeptive Übertragung geschieht gemäss seiner Terminologie in der fünften der Cartesianischen Meditationen durch eine «Paarungsassoziation».63 Obschon die Leistung dieser Paarungsassoziation meines Erachtens die Grundlage der vergegenwärtigenden Einfühlung darstellt, vermag diese Assoziation, wie in den Cartesianischen Meditationen und auch in anderen Texten Husserls zum Ausdruck kommt, noch keine Einfühlung in ein anderes, sich jetzt in meiner räumlichen Umgebung befindliches Ich hervorzubringen. Sie ist Grundlage der Einfühlung, aber nicht Einfühlung im Husserl’schen Sinne. Denn diese Einfühlung ist die Vergegenwärtigung einer Erfahrung von einem anderen Gesichtspunkt aus, von einem Gesichtspunkt aus, den ich jetzt mit meinem subjektiven Leib als Nullpunkt der Orientierung in meinem subjektiven sinnlichen Wahrnehmungsraum nicht einnehme und auch nicht einnehmen kann, da sich dort jetzt ein anderer Leibkörper befindet. Diese vergegenwärtigte Erfahrung der Welt von einem anderen Gesichtspunkt aus ist mit der oben beschriebenen Wahrnehmung meines subjektiven Bewegungsraumes und mit der in ihm wahrgenommenen Korrespondenz zwischen den Selbstbewegungen von Leibkörpern im subjektiven Aussenraum und den kinästhetisch wahrgenommenen eigenen potenziellen und aktuellen Selbstbewegungen noch nicht gegeben. Um mir jetzt die Erfahrung der Welt von einem anderen Gesichtspunkt aus vorzustellen, muss ich in meiner vergegenwärtigenden Phantasie meine von meinem aktuellen Gesichtspunkt aus wahrgenommene jetzige Situation verlassen und mich auf einen 63
Siehe Hua I, Cartesianische Meditationen, § 51.
§ 5. Zweite Stufe der Einfühlung
anderen Gesichtspunkt versetzen, mich in eine andere Situation hineindenken. Genauer gesprochen: Ich muss vergegenwärtigend den Gesichtspunkt eines in meinem subjektiven Aussenraum in seinen von mir wahrgenommenen Selbstbewegungen sich etwas wahrnehmend verhaltenden körperlichen Wesens einnehmen. Ein solches von mir in meinem subjektiven Aussenraum wahrgenommenes, etwas wahrnehmendes oder auskundschaftendes sich selbst bewegendes Verhalten ist z. B. das Zuwenden des Kopfes mit seinen Augen und Ohren und des ganzen Leibkörpers in verschiedene Raumrichtungen zu gewissen entfernten oder nahen Dingen. Jene Vergegenwärtigung eines Gesichtspunktes in meinem subjektiven Aussenraum ist keine sinnliche Wahrnehmung, welche immer nur Wahrnehmung von unmittelbar Gegenwärtigem sein kann und deshalb von Husserl im Gegensatz zur Vergegenwärtigung als Gegenwärtigung charakterisiert wird. Sie ist vielmehr eine Leistung höherer Stufe, die ich nicht mehr als Leistung der sinnlichen Wahrnehmung, sondern als eine solche des Verstandes bezeichnen würde, obschon diese höhere Leistung die sinnliche Wahrnehmung voraussetzt.
§ 5. Zweite Stufe der Einfühlung: Vergegenwärtigendes Sich-Versetzen in die Situation des anderen Ein intentionaler Akt des Einfühlens oder Fremdverstehens ist für Husserl in erster Linie ein durch einen jetzt wahrgenommenen, meinem eigenen Leib ähnlichen äusseren Körper motiviertes Mich-Versetzen in die Situation dieses dortigen Leibkörpers, durch das ich diesen Leib und die ihn umgebende Welt vom Gesichtspunkt dieses Leibkörpers aus vergegenwärtige (repräsentiere).64 Unter dieser Voraussetzung stellt sich für Husserl die Frage, wie dieses phantasierende Mich-Versetzen in einen jetzigen Gesichtspunkt vom dortigen Leibkörper aus durch bestätigende Erfahrung zu einer Vergegenwärtigung eines Wahrnehmungsgesichtspunktes eines wirklichen anderen Ich werden kann und nicht vielmehr die Setzung einer solchen Wirklichkeit (oder: der «Seinsglaube» an eine solche Wirklichkeit) sogleich durch die Tatsache aufgehoben wird, dass ich jetzt hier und nicht dort bin und dass die vergegenwärtigte Situation vom dortigen Gesichtspunkt aus von mir jetzt nicht wahrgenommen, sondern nur phantasierend vergegenwärtigt wird. Nach Husserl wird die Bestätigung der Vergegenwärtigung eines anderen Ich als eines anderen Gesichtspunktes auf die Welt durch die Tatsache möglich, dass der unmittelbar wahrgenommene, gegenwärtige fremde Leibkörper und sei64 Ein solcher intentionaler Akt des Einfühlens ist für Husserl noch kein sozialer Akt. Soziale Akte im Sinne Husserls werden unten in Kapitel 3: «Kommunikation, kommunikative Tätigkeiten, Gemeinschaft» erörtert.
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2. Kapitel. Phänomenologie der Einfühlung
ne von mir in der Phantasie vergegenwärtigte psychische Seite in einer kontinuierlichen gegenseitigen Beziehung der Motivation stehen: Der jetzt von mir wahrgenommene äussere Leibkörper motiviert (indiziert, drückt aus) durch seine wahrnehmbaren Formen, Verlautbarungen und sein Verhalten eine psychische Seite, und umgekehrt motiviert diese nicht wahrnehmbare, sondern phantasierend vergegenwärtigte psychische Seite in meiner Erwartung gewisse weitere von mir wahrnehmbare Verhaltensweisen. Wenn ein solches weiteres Verhalten von mir dann nicht wahrgenommen, meine Erwartung also nicht bestätigt, sondern enttäuscht wird, muss ich diese annullieren. Wird aber ein solches erwartetes Verhalten von mir wahrgenommen, dann bestätigt sich die frühere, meine Erwartung dieses Verhaltens motivierende Vergegenwärtigung der psychischen Seite. Auf dieser psychischen Seite werden in meiner Vergegenwärtigung weitere psychische Gehalte repräsentiert, die ihrerseits in meiner Erwartung gewisse von mir wahrnehmbare Verhaltensweisen motivieren, usw.65 Husserl weist auch auf andere Bestätigungsweisen der vergegenwärtigenden Einfühlung hin, z. B. in der Kommunikation in Akten des Sprechens, die Husserl zu den sozialen Akten zählt. Weitere Probleme in dieser Linie betreffen das Bewusstsein von gemeinsamen intersubjektiven Dingen (dieselben Dinge in meinem und im Bewusstsein der anderen) und schliesslich das Bewusstsein einer gemeinsamen Welt.66 In einem wahrscheinlich im Februar 1927 geschriebenen Text schreibt Husserl, dass die beste Erfüllung und Bestätigung der Einfühlung diejenige Einfühlung sei, in welcher das eingefühlte Ich als sein intentionales Objekt seiner Einfühlung meine eigene Erfahrung hat, und ordnet eine solche Einfühlung in den Kontext der sozialen Ich-Du-Beziehung ein. Es ist deshalb die beste Erfüllung und Bestätigung einer Einfühlung, weil in ihr das intentionale Korrelat des eingefühlten, selbst einfühlenden Bewusstseins mein eigenes, mir original gegebenes Bewusstsein ist. Wir können also sagen, dass Husserl in seinen späteren Jahren die beste Bestätigung der Einfühlung in der Ich-Du-Beziehung sah. Aber er zweifelt, ob diese Art der Erfüllung der Einfühlung eine notwendige Bedingung der Möglichkeit ihrer Bestätigung sei. Husserl schreibt in jenem Text: «Ein ausgezeichneter Fall ist aber der, wo der Andere als auf mein Ich und mein Ichliches bezogen interpretiert wird und ich dieses nun wirklich erlebe. Die Einheit in der Mannigfaltigkeit interpretatorischer Erfahrung hat hier also in meiner spezifischen Selbsterfahrung einen Erfüllungspunkt. Ist aber diese Art der Einfühlung notwendig für mich, um die [meine] auf fremde Subjektivität bezogenen Erfahrungen letztlich begründen zu können? Jedenfalls spielt diese Erfüllungsart, wenn wir an die ursprünglichste genetische Kontinuität von Mutter und Kind denken und an die Bedeutung sozialen Ich-Du-Lebens, eine besondere Rolle.»67 65 66 67
Siehe Hua I, Cartesianische Meditationen, § 52. Siehe Hua I, Cartesianische Meditationen, § 55 f. Hua XIV, Text Nr. 31, S. 504.
§ 6. Husserls apriorisches Denkexperiment
§ 6. Husserls apriorisches Denkexperiment (das er seit den Jahren 1921/22 ablehnte): Die Möglichkeit der Vorstellung eines anderen Ich vor der wirklichen Erfahrung von ihm Wie ich schon in der obigen Einleitung erwähnte, schrieb Husserl 1914 oder 1915 eine Serie von Manuskripten, welche alle um das Thema der Einfühlung in ein anderes Ich kreisen.68 Wahrscheinlich ist jedes davon ein Tageswerk, wie das Tageswerk eines Freskomalers. In einem dieser Texte experimentiert er mit folgenden Gedanken: «Um die Möglichkeit der Erfahrung, der äusseren Erscheinung eines fremden Ich zu gewinnen, brauche ich offenbar nicht wirkliche Erfahrung von einem solchen. Es genügt, dass ich mich körperlich hinausbewegt, hinausversetzt denke und meine [eigene] Körpererscheinung übergeführt denke in eine äussere Erscheinung [von ihm] und zugleich in der ursprünglichen Erscheinung [um den Nullpunkt der Orientierung herum], der Selbsterscheinung meines Körpers, ihn also apperzipiere als Leib mit seinen Empfindlichkeiten etc. Diese Auffassung geht ihm nicht verloren in der Veränderung der Erscheinungsweise, die ja die Identität des Gegenstandes festhält.»69 «Also mein Leib ist zunächst Körper so wie ein anderer, trotz seiner perzeptiven Nullerscheinungsweise, die faktisch nur für ihn bestehen kann und für ihn immerfort besteht. In diesem Faktum liegt eine einschränkende Regel, wonach zwar durch die perzeptive Nullerscheinungsweise andere Erscheinungsweisen meines Körpers motiviert sind (alle die, welche überhaupt für einen Körper motiviert sind), dass also in der Weise setzender Vergegenwärtigung solche Vorstellungsweisen herstellbar sind, während ihnen doch die Möglichkeit, sich in Form von Wahrnehmungen zu erfüllen, versagt bleibt.»70
Einige Jahre später, wohl 1921/22, bemerkt Husserl zum oben stehenden Satz: «In diesem ‹motiviert› liegt aber die Schwierigkeit. Wie ist die Motivation verständlich?»71 Nach einer langen phänomenologischen Analyse der Gegebenheitsweisen meines eigenen Leibes um den Nullpunkt meiner Wahrnehmungsorientierung und mit seinem kinästhetischen System beschliesst Husserl diesen Text aus der Zeit von 1914/15 wie folgt: «Das ‹wäre ich dort, so würde ich von dort so aussehen, ich würde von dort aus für mich den und den Anblick haben› ist eine widersprechende Vorstellung, und doch hat sie wie ähnlich widersprechende Vorstellungen einen guten Sinn (z. B. in der Geometrie), nämlich sie hat den guten Sinn, dass eine ‹Verdoppelung› des Ich möglich ist, so wie die Verdoppelung eines sonstigen Realen. Es wird nämlich bei Vollzug dieser widersprüchlichen 68 69 70 71
Hua XIII, Texte Nr. 8 bis 13 und teilweise ihre Beilagen. Hua XIII, Text Nr. 8, S. 253. Hua XIII, Text Nr. 8, S. 258. Hua XIII, Text Nr. 8, S. 258, Anm. 1.
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Vorstellung klar die Möglichkeit zweier Subjekte mit zwei Körpern. […] Die widersprüchliche Vorstellung wird einstimmig, wenn ich eben die Verdoppelung als Verdoppelung nehme. Ich kann a priori nicht hier und dort zugleich sein, aber hier und dort kann ein Gleiches sein, ich hier, und ein gleiches und dann auch ein mehr oder minder bloss ähnliches Ich dort.»72 «Der Andere ist das hinausversetzte Ich, das ich als identisches nicht mehr festhalten kann.»73 «Somit liegt es im Wesen der Selbstwahrnehmung, der eigentümlichen Apperzeption von meinem Körper, meinem Körper als Leib, der Einheit des reinen Ich mit dem Bewusstseinsstrom mit diesem Leib, der Erscheinungsweise umgebender Körper für dieses Ich und wieder in Bezug auf die Erscheinung des Leibes als Nullkörper – dass ich vor dem wirklichen Erfahren eines anderen Subjekts eine mögliche Vorstellung von einem Anderen gewinnen kann. Diese Vorstellungsweise schreibt [a priori] vor, wie ein anderes Subjekt [in der Erfahrung] gegeben sein und wie sie sich als setzende Vorstellung ausweisen könnte.»74
Husserl vertritt hier die fundamentale ontologische und epistemologische These, dass die Möglichkeit der Wirklichkeit vorausgeht, dass die apriorische Erkenntnis des Möglichen der Erfahrung die Regeln vorschreibt. Wohl ungefähr sechs Jahre später, als Husserl 1921/22 den in diesem fünften Paragraphen reichlich zitierten Text im Hinblick auf sein neues «grosses systematisches Werk» las (siehe oben die Einleitung), bemerkte er dazu: «Der alte Versuch, natürlich zu konstruktiv!»75 Und in einem kurzen, wohl aus dem Jahr1921 stammenden Text, in dem er «als Einleitung zur Lehre von der Einfühlung» die «Denkmöglichkeit anderer Ich: Das Universum möglicher (aber miteinander unverträglicher) Ichsubjekte durch die Umfiktion meines Ich» diskutiert, schliesst er mit den folgenden Sätzen: «Ich sehe, dass diese Betrachtungsweise nicht an richtiger Stelle erfolgt. Erst muss die Leistung der Einfühlung direkt aufgewiesen werden, und dann müsste erwogen werden, inwiefern diese geleistete Appräsentation [Vergegenwärtigung] die einzige Möglichkeit darstellt, damit für ein Ich ein anderes [Ich] dasein kann, und in eins damit seine Umwelt identifizierbar sein kann mit meiner, dass sich also zugleich mit der Appräsentation [Vergegenwärtigung] eines fremden Ich und mit dem Ursprung des Begriffs alter auch eine gemeinsame Natur konstituieren muss, ein identischer Raum mit identischen Dingen.»76
Nach diesem Text muss also die phänomenologische Analyse der wirklichen Einfühlung den Erwägungen über ihre Möglichkeit vorausgehen. Von der Zeit 1921/ 22 an stimmte Husserls Ansicht mit der alten scholastischen Formel überein: 72 73 74 75 76
Hua XIII, Text Nr. 8, S. 263/264. Hua XIII, Text Nr. 8, S. 265. Hua XIII, Text Nr. 8, S. 265. Hua XIII, Text Nr. 8, S. 254, Anm. 3. Hua XIV, Text Nr. 7 (wohl 1921), S. 141.
§ 7. Wie können wir ein anderes individuelles Ich wiedererkennen?
posse ab esse dicitur (von der Möglichkeit kann nur vom Sein / von der Wirklichkeit her gesprochen werden) oder mit der aristotelischen (nicht platonischen) Auffassung, dass die energeia (Wirklichkeit) der dynamis (im Sinne von «Möglichkeit») vorangeht. Das ist eine enorme Konversion eines Mathematikers / Logikers und Befürworters der Priorität der eidetischen (apriorischen) Wissenschaften gegenüber den Erfahrungswissenschaften. Ich werde darauf noch unten im 5. Kapitel, § 38 eingehen. Aber Husserl wird immer daran festhalten, womit er den oben extensiv zitierten Text aus dem Jahre 1914/15 abschliesst und wodurch er sich Leibnizens Konzeption der Notwendigkeit eines Leibes für eine endliche Monade anschliessen kann: «Hätte ich keinen Leib, wäre mir nicht mein Leib, mein empirisches Ich (originär nach seinen beiden Schichten [der leiblichen und seelischen] gegeben, so könnte ich also keinen anderen Leib, keinen anderen Menschen ‹sehen›. Die Wahrnehmung des eigenen empirischen Ich bzw. die Wahrnehmung des eigenen Leibes ist also in gewisser Weise das Fundament für die Wahrnehmung des fremden. Das sagt nicht, dass ich von meinem Leib auf den Fremden schliesse, es sagt nicht, dass mein Leib allererst Objekt einer [thematischen] Zuwendung sein muss, aber mein Leib muss perzeptiv [wahrnehmungsmässig] bewusst sein, ob aufgemerkt, thematisches Objekt, oder nicht. In wohlverstandener Weise ist es also richtig zu sagen: Fremden Leib kann ich nur erfassen in einer Interpretation eines dem meinen ähnlichen Leibkörpers als Leibes und damit als Träger eines Ich (eines dem meinen ähnlichen).»77
§ 7. Eine Frage, die Husserl nicht stellte: Wie können wir ein anderes individuelles Ich oder ein anderes individuelles Bewusstsein wiedererkennen? Diese Frage scheint gelöst zu sein, wenn wir Husserl folgend die allgemeine Frage gelöst haben, nämlich wie wir einen anderen Leib als Leib eines anderen Ich mit seinem besonderen Gesichtspunkt auf die Welt erkennen. Wenn wir durch Wahrnehmungen mit einer anderen Person und ihrem Verhalten, vor allem mit ihrem Gesicht und ihrer Stimme vertraut geworden sind, erkennen wir sie sehr leicht am nächsten Tag wieder und manchmal, wenn wir längere Zeit mit ihr Umgang hatten, noch nach einer Trennung von zwanzig oder mehr Jahren.. Einige von solchen Personen erkennen wir sofort wieder, andere zuerst nicht, aber plötzlich an ihrem Lachen oder an anderen Ausdrucksbewegungen. Aber einmal erkannte ich einen Freund aus der Zeit des Progymnasiums, nachdem wir uns etwa fünfzig Jahre nicht mehr gesehen hatten, nicht mehr wieder; erst nachdem wir uns gegenseitig unsere Namen genannt hatten, wussten wir, wer wir waren. 77
Hua XIII, Text Nr. 8 (1914/15), S. 267.
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Aber Namen sind ja etwas sehr Zufälliges und nichts Individuelles, denn es gibt mehrere Menschen, die denselben Namen tragen. Aber nachdem wir miteinander gesprochen und dabei gemeinsame Erinnerungen ausgetauscht hatten, erkannten wir uns im eigentlichen Sinn individuell wieder. Durch Fingerabdrücke, Gesichtserkennung oder durch Genanalyse und das Studium von offiziellen Dokumenten (wenn sie nicht gefälscht sind) kann heute ein Individuum wiedererkannt (identifiziert) werden, aber durch diese modernen Mittel wird es nur in seiner Körperlichkeit, nicht in seinem Bewusstseinsleben wiedererkannt. Eine sehr eindrückliche Geschichte über ein persönliches Wiedererkennen ist die Geschichte im Epos von Homer über die Rückkehr des Odysseus in seine Heimat Ithaka und sein Wiedererkanntwerden durch seine Frau Penelope, die auf ihn zwanzig Jahre lang in ehelicher Treue gewartet hatte. Diese Geschichte der Rückkehr des Odysseus nach Ithaka ist ungefähr 600 v. Chr. schriftlich fixiert worden, hat aber Wurzeln, die etwa auf die Zeit um1200 v. Chr. zurückreichen. Odysseus kehrte als Bettler nach Ithaka zurück, in den er von der Göttin Athena verwandelt worden war. Als er in seinen Palast eintrat, wurde er sofort von seinem Hund Argos, wohl durch dessen Geruchssinn, wiedererkannt; der alte Argos war von der Wiederbegegnung so erregt, dass er auf der Stelle starb. Eurykleia, die alte Amme von Odysseus, erkannte ihn an einer Fussnarbe, als sie seine Füsse wusch. Odysseus selbst, Eurykleia und auch der Sohn von Odysseus und Penelope, der seinen Vater gesucht und auf einer Ithaka vorgelagerten Insel getroffen hatte, sagten Penelope, dass der vor ihr stehende Bettler ihr Gatte, Odysseus, sei. Penelope schien es, dass es so sei, aber sie befürchtete, dass die Götter, um sie zu trösten, ihr nur eine falsche Erscheinung vorgeführt hatten. Deshalb wollte sie Odysseus prüfen, liess ihn nicht in ihr Schlafgemach eintreten und befahl, ihr Ehebett hinauszutragen, damit Odysseus auf ihm allein schlafen konnte. Doch Odysseus antwortete ihr: «Das ist unmöglich, denn dieses Bett ist unbeweglich. Ich habe es, als unser gemeinsames Geheimnis, aus einem dicken Baum geschnitzt, der seine tiefen Wurzeln im Boden unterhalb unseres Schlafgemaches hat.» Darauf erkannte Penelope sofort die wahre Erinnerung als Bestandteil der Seele ihres Gatten wieder und dadurch auch seinen Leibkörper. Andere ähnliche Probleme des Wiedererkennens von anderen individuellen Ich stellen Fälle, in denen z. B. durch starke Verbrennungen das Gesicht eines Menschen ganz verändert wurde, oder bei noch jungen eineiigen Zwillingen, wenn man nur einen von ihnen vor sich hat und mit ihnen nicht so vertraut ist wie ihre Eltern oder Geschwister, und wenn der Lausbub sich noch mit dem Namen seines Zwillingsbruders zu bezeichnen liebt. Es ist nicht notwendig, für das individuelle seelische Wiedererkennen ein gemeinsames Geheimnis zu haben wie in der Geschichte von Odysseus und Penelope. Nicht nur kann ich durch das Erinnern an mein eigenes Erleben nicht zweifeln, dass ich es war, der dies erlebte, obschon ich an der Richtigkeit mancher
§ 8. Vergegenwärtigendes und vergegenwärtigtes Ich in der Phantasie
einzelner Erinnerungen zweifeln kann, sondern ich kann auch nicht zweifeln, dass im Austausch mancher gemeinsamer Erinnerungen an gemeinsam Erlebtes du es bist, mit dem ich dieses oder jenes erlebte.
§ 8. Vergegenwärtigendes Ich und vergegenwärtigtes Ich in der blossen Phantasie, im Bildbewusstsein, in der Erinnerung und in der Einfühlung In einem der Texte78 aus der Serie aus dem Jahr 1914/15, zu der auch der oben im § 5 zitierte Text über die mögliche Vorstellung eines andren Ich vor seiner wirklichen Erfahrung gehört, analysiert Husserl verschiedene Arten von anschaulichen Vergegenwärtigungen. Er bemerkt zu diesem Text: «Der Zweck dieser Studien war, für die besondere Weise der Vergegenwärtigung, die Einfühlung heisst, etwas zu lernen.»79 In einer Randbemerkung80 zur ersten Seite dieses Textes bezieht sich Husserl auf einen anderen Text dieser Serie, der wahrscheinlich etwas später, aber noch im selben Jahr geschrieben wurde und der die Einfühlung als eine Vergegenwärtigung analysiert, in der keine Ich-Identifikation stattfindet.81 Die leitende Frage «dieser Studien» (Text Nr. 10 in Hua XIII) scheint mir die folgende zu sein: «Gilt es nun nicht von jeder Vergegenwärtigung, dass ich in gewisser Weise dabei bin? Kann ich mir andere als ‹eigene› Erlebnisse vergegenwärtigen? Und kann ich anderes als Eigenes überhaupt vorstellen? Wie kommt es zum Bewusstsein eines Unterschiedes zwischen eigenen und fremden Erlebnissen, eigenem und fremdem Ich? Was auch immer ich vergegenwärtige, es ist als Vergegenwärtigtes erscheinend in intentionalen Erlebnissen, in Apparenzen [Erscheinungen], in Empfindungsdaten, in Auffassungen, Zuwendungen etc. und diese Erlebnisse sind reproduktiv modifiziert [als nicht aktuelle, sondern vergegenwärtigte]. Aber wenn ich mich in sie hineinversenke, stehen sie nicht als meine vergegenwärtigten Erlebnisse da?»82
a) Das Ich in einer bloss phantasierten Welt Husserl beginnt in seinen «Studien» dieses Textes mit der blossen Phantasie:
Hua XIII, Text Nr. 10: «Studien über anschauliche Vergegenwärtigungen: Erinnerungen, Phantasie, Bildvergegenwärtigungen, mit besonderer Rücksicht auf die Frage des darin vergegenwärtigten Ich und die Möglichkeit sich Ichs vorstellbar zu machen», S. 288–313. 79 Hua III, Text Nr. 10, S. 288, Anm. 1. 80 Hua XIII, Textkritische Anmerkungen, S. 528, Anmerkung zu S. 298. 81 Hua XIII, Text Nr. 11, S. 316–320. 82 Hua XIII, Text Nr. 10, S. 298.
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2. Kapitel. Phänomenologie der Einfühlung
«Fingiere ich mir eine Zentaurenlandschaft, eine Marswelt etc., fingiere ich mir Dinge, Vorgänge, sie frei bildend und umbildend: Inwiefern bin ich dabei? Ich bin dabei als das fingierende Ich, ich, die empirische Person: ich (dieses Ich) fingiere. Nun wird man zunächst doch sagen: In der Fiktion lebend kann ich dieses selbe empirische Ich mit seinem Leib etc. in die Phantasiewelt hineinfingieren; ich brauche es aber nicht, ich kann die Dinge fingieren, ohne mich (das empirische Ich) als Zuschauer hineinzufingieren […] Andererseits habe ich in der Phantasie die betreffenden Dingerscheinungen, die Dinge sind quasi wahrgenommen in gewissen Orientierungen, und in keinen anderen [in Beziehung auf einen Nullpunkt], mittels gewisser quasi Empfindungen (sinnlichen Phantasmen), aufgrund derer ich in der Phantasie quasi urteile. Ferner, […] um als praktisches Ich in dieser [fingierten] Welt sein zu können, muss ich in ihr schon mehr sein, etwa leiblich begabtes Ich, wobei der Leib der Phantasiewelt angehört. Ich müsste über die Sinnesfelder Macht haben, fähig sein, [durch kinästhetisch bewusstes Herumgehen] die Gruppen der Erscheinungen zu wandeln etc.»83 «Kann man diese Betrachtung dahin erweitern, dass nun gesagt werden muss: Das als Korrelat reiner Phantasiegegebenheiten fungierende Ich sei identisch mit dem jeweils phantasierenden Ich? Freilich nicht mit dem empirischen, mit dem und dem Leib und der und der Gruppe bestimmter Persönlichkeitseigenschaften begabten Subjekt (dem Menschen), aber mit dem reinen Ich? Sowie die pure Phantasie (Neutralitätsmodifikation) in eine Setzung verwandelt wird, haben wir da nicht ‹unser› Ich, das sich freilich in unbestimmter Leiblichkeit (oder gar keiner) und in unbestimmter Persönlichkeit oder als pures, reines Ich da hineinversetzt in die Korrelatfunktion [zur erscheinenden Welt]. […] Immerhin, ist da nicht immer das Korrelat-Ich als reines Ich gesetzt, und als dasselbe, das aktuelles reines Ich ist?»
Was könnte das «reine Ich» sein, über das Husserl hier spricht? Ist es vielleicht das Ich Kants «transzendentaler Apperzeption», «das alle meine Vorstellungen muss begleiten können», die universale Bewusstseinsform, d. h. die Bedingung der Möglichkeit der Bewusstseinseinheit? Oder ist es nicht vielmehr mein individuelles Ich, aber losgelöst (rein) von allen seinen empirischen Bestimmungen als Ich, diese Person, und als Ich, dieser leiblich-seelische Mensch? Denn wenn wir annehmen, dass in der phantasierten Kentaurenwelt die mächtigen Halbgötter Kentauren mit menschlichen Köpfen, Oberkörpern mit Armen und Leibern mit vier Beinen von Pferden sich mit Menschen einen Kampf liefern, was sie in antiken Bilddarstellungen meistens tun, dann phantasieren wir, dass diese Kentauren und Menschen auch Dinge ihrer Umwelt und ihre Gegner sehen, dass sie denken, wollen, mit ihren zwei Armen und auf ihren vier Beinen kämpfen, also ein Ichbewusstsein haben und andere Ich sind als mein eigenes Ich, das diese Kentauren jetzt fingiert und Korrelat der vergegenwärtigten fingierten Welt ist. So muss also das reine Ich, von dem Husserl hier spricht, ein individuelles Ich sein, nämlich mein Ich und nicht das individuelle Ich von irgendeinem der von mir
83
Hua XIII, Text Nr. 10, S. 290.
§ 8. Vergegenwärtigendes und vergegenwärtigtes Ich in der Phantasie
phantasierten Kentauren oder von den mit ihnen kämpfenden Menschen. Nach Husserl gibt es so viele reine Ich wie es empirische Ich gibt. b) Das Ich in einer Bildwelt Damit das Folgende deutlich wird, muss ich im Voraus erwähnen, dass Husserl bei der Betrachtung eines Bildes drei Aspekte unterscheidet: 1. das «physische Bild», z. B. das bloss wahrgenommene physische Ding, das dort in einem hölzernen Rahmen an der Wand hängt mit seiner Leinwand, auf der mehr oder weniger dick in verschiedenen Maltechniken mit Pinsel oder Spachtel verschiedene Ölfarben aufgetragen sind; 2. das «Bildobjekt», d. h. das, was aufgrund der Phantasie in diesen technisch verschieden aufgetragenen Farben zur Darstellung, zur Erscheinung kommt, z. B. eine lichtvolle Landschaft mit Bergen, Wiesen, Bäumen; 3. das «Bildsujet», d. h. die Wirklichkeit, die durch das «Bildobjekt» abgebildet wird, also wirkliche Berge, Wiesen, Bäume oder auch nur etwas ohne Bild bloss Phantasiertes (Fingiertes), z. B. die oben unter a) erörterte phantasierte Kentaurenlandschaft. Die Berge, Wiesen, Bäume, die im physischen Bild an der Wand aufgrund der Phantasie als «Bildobjekt» erscheinen, sind viel kleiner als die Berge, Wiesen und Bäume, die in der Bildbetrachtung als «Bildsujet» auftreten. Der Bildbetrachter kann seine Aufmerksamkeit auf einen einzelnen dieser drei Aspekte richten. Z. B. wird ein Maler, der das Bild eines andern Malers betrachtet, auch auf das «physische Bild» besonders achten: Er studiert, wie die Farben aufgetragen sind, wie dick sie sind, auf welcher Art von Leinwand sie aufgetragen sind, ob sie technisch gut aufgetragen sind und nicht schon wenige Jahre nach der Entstehung des Bildes abblättern. Der Betrachter kann ganz dem «Bildobjekt» zugewandt sein, was das Wichtigste in der Bildbetrachtung ist, er kann aber auch, vom Bild absehend, die als «Bildsujet» dargestellte wirkliche Landschaft direkt phantasieren, und er tut dies dann, wenn er diese Landschaft aus eigener Erfahrung kennt und sich nun, sich vom Bild abwendend, an sie anschaulich erinnert. Oder er ist zugleich im Bildbewusstsein dem «Bildobjekt» sowie dem entsprechenden «Bildsujet» und in der Erinnerung der anschaulich erinnerten Landschaft zugewandt, um sie zu vergleichen. Husserl spricht in seinen Überlegungen über das Ich in der Bildwelt vor allem über die Betrachtung, die auf das «Bildobjekt» gerichtet ist, d. h. das betrachtet, was im physischen Bild zur Erscheinung gebracht wird.84 Husserl schreibt in seinen von uns jetzt besprochenen «Studien» von 1914/ 15: 84 Hua XIII, Text Nr. 10, S. 292; vgl. Hua XXIII Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung, und als besonders hilfreich die zusammenfassende Einleitung des Herausgebers dieses Bandes, Eduard Marbach.
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2. Kapitel. Phänomenologie der Einfühlung
«Ich betrachte diesen im Bild dargestellten griechischen Friedhof. Habe ich da nicht eine Stellung, einen relativen Ort in der Phantasiewelt, von wo aus ich den Friedhof sehe, so wie ich ihn sehe? Weisen nicht die Dingerscheinungen auf ein Hier, auf einen Nullpunkt der Orientierung hin? Gewiss, und genau so ist es, wenn die Landschaft eine sogenannte ‹ideale› Landschaft ist, eine pure Fiktion, und gewiss kann dabei auch eine mehr oder minder klare Vorstellung meines leiblich-geistigen Ich auftauchen und ein reflektierender Blick darauf geworfen werden. Aber das Ich gehört doch als dieses zufällige empirische Ich nicht dazu. Der Leib könnte sich beliebig wandeln, es würde das Bild darunter nicht leiden. Nur all das, was zur Konstitution der Erscheinung [des griechischen Friedhofes] gehört, ist nicht wegzubringen, und damit auch [nicht] der Nullpunkt der Orientierung, der übrigens selbst wandelbar ist. Das Bild ist eine ‹Ansicht› von einer Landschaft. Das ist nicht eine einzelne Erscheinung, sondern eine Einheit, die sich im Durchlaufen mannigfaltiger Erscheinungen konstituiert. […] Ich habe mit dem Auge hin und her zu blicken, in einer gewissen Mannigfaltigkeit von Blickstellungen, und gewinne so den Aspekt des von einer gewissen ‹Stelle› aus Übersehbaren. So ist es beim Bild und ebenso auch bei der Fiktion. Also bin ich doch notwendig dabei.»85
«Mit dem Auge hin und her blicken» meint hier für Husserl einerseits ein wirkliches kinästhetisch bewusstes «hin und her Blicken» meiner empirischen, auf das physische Bild an der Wand gerichteten wirklichen Augen und gleichzeitig ein «hin und her Blicken» meiner das im physischen Bild Dargestellte (Bildobjekt) betrachtenden Phantasie-Augen, die im griechischen Friedhof «hin und her blicken». Die kinästhetischen Gegebenheiten dieses «hin und her Blickens» werden aufgefasst als wirkliche Bewegungen meiner Augen und zugleich als «quasi-Augenbewegungen, nämlich perzeptive Bilder für Augenbewegungen».86 Das ist nicht nur der Fall für den visuellen Aspekt des «Bildobjektes» in der Bildbetrachtung: «Bin ich nicht auch taktuell und mit allen Sinnen dabei? Die Phantasielandschaft [«Bildobjekt»] enthält herrlich duftende Blumen und zwischen den Felsen springen kühle Quellen, schwellendes Moos ladet zur Ruhe ein usw. Und bin ich nicht dabei als Betrachtender, Explizierender, wertender, als Willensneigungen Empfindender und eventuell auch als Wollender? Die Fiktion geht nun leicht über in die, dass ich mich niederlasse, dass ich, von dieser herrlichen Welt hochbeglückt, ihre Schönheit in mich hineintrinke etc. Also bin ich nicht ganz und gar dabei als leiblich-seelisches Ich? Es ist wohl so. Was kann ich davon wegstreichen? Mein Leib könnte anders sein. […] Was durchaus notwendig ist, sind die kinästhetischen Systeme und die von ihnen motivierten abhängigen Systeme von Apparenzen [Erscheinungen], und zwar visuell, taktuell etc.»87
In der obigen Beschreibung des «Dabeiseins» des fühlenden Ich in der herrlichen Landschaft als «Bildobjekt» der Bildbetrachtung kommt Husserl dem Begriff der 85 86 87
Hua XIII, Text Nr. 10, S. 291. Hua XIII, Text Nr. 10, S. 292. Hua XIII, Text Nr. 10, S. 293.
§ 8. Vergegenwärtigendes und vergegenwärtigtes Ich in der Phantasie
Einfühlung von Theodor Lipps in dessen Ästhetik von 1903 sehr nahe, der Lipps auch dazu diente, die Erfahrung anderer Menschen und Tiere zu erklären. Husserl übernahm von Lipps dieses Wort und brauchte es gleichbedeutend mit «Fremderfahrung», «Erfahrung des anderen Ich» etc. bis ans Ende seines Lebens. Er tat dies, obschon er nie die Theorie der Einfühlung von Theodor Lipps für die Erfahrung des anderen übernahm und der Meinung war, dass «Einfühlung» für die Erfahrung eines anderen Ich «ein falscher Ausdruck ist».88 c) Das Ich in der erinnerten Welt Husserl schreibt, dass (wenn wir andere Ich in der erinnerten Welt ausschliessen) das Ich in der erinnerten vergangenen Welt identisch mit dem sich jetzt erinnernden Ich ist, welches in der Folge seiner verschiedenen Erinnerungen als bleibendes in meine erinnerte Vergangenheit zurückreicht. «Das oberste Subjekt, das die Deckung als Identifizierung vollzieht, ist das reine Ich […].»89 Nach Husserls Analyse haben wir also in der Erinnerung an die eigene Vergangenheit drei Ich: das jetzt sich erinnernde Ich, das erinnerte Ich und das «reine» Ich, das die beiden identifiziert. Ich muss gestehen, dass ich Mühe habe, hier diese drei Ich zu sehen, und dass ich daher annehme, dass dies nur eine façon de parler (Redeweise) ist. Wir dürfen uns aber nicht von der Sprache gefangen nehmen lassen. Ich würde lieber sagen: Es gibt nur ein Ich, das sich seiner selbst als Ich in der Erinnerungsvergegenwärtigung bewusst wird: «Ich habe das getan», «Ich habe das gesehen», «Ich habe das nicht getan» etc. Es gibt kein vergangenes erinnertes Ich, sondern nur meine vergangenen Erlebnisse und das in ihnen von mir damals Erlebte, und wir können sagen: «Ich war dabei.» Ich werde mir meiner als Ich bewusst im Vergegenwärtigen, z. B. in meinem Erinnern an das, was ich getan habe, oder in meinem vergegenwärtigenden Vorausplanen oder Voraussehen oder im Entscheiden dessen, was ich in der Zukunft tun werde. Ein Subjekt, das nur in der Gegenwart lebt, also nicht vergegenwärtigt, hat kein Ichbewusstsein. Ich nehme an, dass Tiere nur in der Gegenwart leben, obschon sie natürlich aufgrund ihrer Erfahrungen lernen können, ein Gedächtnis und Gewohnheiten haben. Husserl schreibt über das Ich in der Erinnerung auch: «Meine Erinnerung reicht in meine Kindheit und stösst dort (nicht perspektivisch) gegen ein dunkles, nicht überschreitbares Gebiet. Ein ‹Konvergieren› gegen einen a priori vorgezeichneten Zeitpunkt können wir nicht konstatieren. Also ein eigentlicher Grenzpunkt
Hua XIII, Text Nr. 13 (1914/15), S. 355 ff., vgl. die Einleitung des Herausgebers dieses Bandes, S. XXV/XXVI. 89 Hua XIII, Text Nr. 10, S. 303.
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2. Kapitel. Phänomenologie der Einfühlung
ist es nicht. Die Geburt ist nichts für das Subjekt phänomenologisch Gegebenes und Vorgezeichnetes (nicht so wie der erscheinende Raum einen limes [hat]).»90
Husserl fragt: Warum kann ich mich nicht an die Zeit vor meiner Geburt erinnern? Ist dies idealiter (durch apriorisch notwendige Gründe) unmöglich? Ohne Hörensagen und ohne alle anderen Informationen kann ich zwar Ereignisse vor meiner Geburt vergegenwärtigen, aber ich kann sie nicht erinnern; ich kann sie aber vergegenwärtigen, weil die Ereignisse innerhalb des von mir Erinnerten kausal mit Ereignissen verbunden sind, die vor meiner Geburt liegen, an die ich mich aber nicht erinnere. «Die Vorgänge in meinem gegebenen Erinnerungsfeld sind kausal zusammenhängend. Das in einem Zeitpunkt Gegebene weist auf Koexistierendes und Vorangegangenes zurück, das ich nicht in meinem Erinnerungsfeld habe.»91 Wir können also sagen, dass nach Husserl mein Erinnern mich über das von mir Erinnerte hinaus zu Ereignissen vor meiner Geburt führt, und zwar durch Vergegenwärtigung von Ereignissen, die mit den erinnerten Ereignissen kausal zusammenhängen, dass «ich» auch bei diesen nicht erinnerten, sondern nur vergegenwärtigten Ereignissen vor meiner Geburt «dabei bin» und dass nach ihm die Identifikation zwischen dem Ich im nur vergegenwärtigten Vorgeburtlichen und dem Ich des Vergegenwärtigens vom «reinen Ich» vollzogen wird. Mir scheint es besser, in Bezug auf die bloss vergegenwärtigten, kausal mit den erinnerten zusammenhängenden vorgeburtlichen Ereignisse Folgendes zu sagen: Mein wirkliches Ich ist sich bewusst, dass es bei diesen bloss vergegenwärtigten vorgeburtlichen Ereignissen nicht dabei war. Ich bin jetzt bloss bei ihnen, indem ich sie jetzt in meiner vergegenwärtigenden Phantasie mir anschaulich vorzustellen versuche, d. h. sie jetzt auch in einer gewissen Orientierung etc. «sehe»; doch gesehen habe ich sie nicht. Mehr als ein Ich kann ich also auch hier nicht finden. d) Das Ich in der eingefühlten Welt Husserl schreibt in einem Text aus der Gruppe von 1914/15: «Einen Anderen stelle ich mir nur dadurch vor, dass ich mich mit dem Leib und in der Situation des Anderen vorstelle. Das ‹mich› ist natürlich noch nicht differenziert im Sinne des Ich und Du. Aber wir verstehen: Genau so wie ich in meiner Vergangenheit oder in einer Fiktion dabei bin, so [bin ich dabei] im Seelenleben des Anderen, das ich mir in der Einfühlung vergegenwärtige. Dieses Dabeisein ist nun aber nicht verbunden mit der Forderung der Identifikation [des Ich] wie in der Erinnerung an die Vergangenheit […]: Das Wesen der Erinnerung, das Wesen des Bewusstseinsstromes fordert Identifikation [des Ich], führt sie notwendig mit sich. Dieses Dabei [des Ich im Seelenleben des Anderen] ist 90 91
Hua XIII, Text Nr. 10, S. 295. Hua XIII, Text Nr. 10, S. 296.
§ 9. Ein anderes apriorisches Denkexperiment Husserls
nicht [wie in der Fiktion] verbunden mit der Forderung des Widerstreites, wobei das als Subjekt der fingierten Akte dabei seiende Ich zerschellt im Widerstreit mit dem Gegebenen. Vielmehr haben wir hier [in der Einfühlung] eben durch die ‹Forderung›, die der fremde Leibkörper stellt, durch die Apperzeption, die mit ihm eins ist, eine Setzung von Bewusstseinsleben, Sinnesfeldern, geistigen Akten etc., die ohne Widerstreit mit irgendwelchem aktuell Gegebenen verbleibt, also als Setzung sich erhält.»92
§ 9. Ein anderes apriorisches Denkexperiment Husserls: Kann es auf getrennte Welten bezogene Subjekte geben? Einige Bedingungen der Möglichkeit der Koexistenz von Subjekten: Deduktion der Einzigkeit der Welt, der Einzigkeit der Zeit, der Einzigkeit des Raumes In einem am 1. September 1921 geschriebenen Text93 geht Husserl von meinem Ich als einer konkreten Subjektivität aus und bildet wiederum in einer freien Umwandlung in der Phantasie ein endliches System in sich allein möglicher, aber miteinander unverträglicher Subjekte. Sie sind deshalb unverträglich, weil in dieser fiktiven Transformation die eine individuelle Subjektivität die immanente Zeitstelle der anderen einnimmt. Dieses endliche System ist das Universum der Möglichkeiten «eines Subjektes überhaupt» (irgendeines Subjektes). Die Unverträglichkeit löst sich durch «die Synthesis der Vielheit, die Synthesis der Koexistenz». «Es ist nun also die Frage, ob, so wie Dinge im Plural, so auch Subjekte (vereinzelte Subjektmöglichkeiten) als im Plural miteinander koexistierend gedacht werden können und wie sie es können, ob und inwiefern sie unter Wesensgesetzen möglicher Koexistenz stehen.»94 Nach dieser Frage nach den apriorischen Bedingungen der Möglichkeit stützt sich Husserl nun aber in den folgenden Überlegungen auf die faktische Einfühlung. Dennoch scheint er diese faktische Erfahrung als eine «Form» zu betrachten, «in der wir uns eine Koexistenz von Subjekten vorstellen oder, was dasselbe ist, als erfahrbar vor Augen stellen können […]».95 Das durch Einfühlung erfahrene andere Ich hat mich durch seine Einfühlung in seinem Erfahrungsfeld, und zwar so, dass wir nicht nur bloss zusammen koexistieren, sondern der eine für den anderen existiert. «In diesem Fall hat jeder in seiner subjektiven Erfahrung, und haben beide in einer möglichen wechselseitigen Erfahrung, eine gemeinsame Welt konstituiert, jeder erfährt nicht 92 93 94 95
Hua XIII, Text Nr. 11, S. 319/320. Hua XIV, Text Nr. 4, S. 91–103. Hua XIV, Text Nr. 4, S. 99. Hua XIV, Text Nr. 4, S. 99.
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2. Kapitel. Phänomenologie der Einfühlung
nur eine physische Welt, sondern ihr eingegliedert den fremden Leib und damit den anderen als animalisches Wesen, jeder findet auch seinen Leib in dieser Welt, findet (in Wirklichkeit oder in Möglichkeit) durch Einfühlung den Anderen als den Anderen, als meinen Leib und mich selbst, als Menschen, als animal erfahrend; jeder ordnet sich selbst so dieser Welt ein als animal, als leiblich-seelisches Wesen usw.»96
Nach der Analyse der faktischen Einfühlung unterwirft Husserl diese einer «Wesensbetrachtung»97 und gelangt dabei zu folgenden drei Wesensgesetzen: 1. «Die Konstitution einer gemeinschaftlichen Welt und eine entsprechende fest auferlegte Regel für jedes Ich für sich und für beide in Beziehung aufeinander ist die Bedingung der Möglichkeit der einfühlenden Erfahrung oder des Füreinanderseins gesonderter Subjekte und des Koexistierendseins der beiden Subjekte als für sich selbst mögliche Erfahrung und Erkenntnis.»98 2. «Es ist undenkbar, dass mehrere Subjekte koexistieren, es sei denn, dass sie animalische [leibliche] Subjekte sind.»99 3. «Wir haben nebeneinander denkbar vielerlei gleich mögliche Welten mit getrennten Gruppen von den ihr zugehörigen oder fehlenden Ichsubjekten. Aber a priori sind solche Welten (bzw. solche in Bezug auf eine mitkonstituierte Welt kompossible, möglicherweise koexistierende Subjektmehrheiten) miteinander nicht kompossibel. Es kann nur eine Welt geben, nur eine Zeit, nur einen Raum mit einer Natur und eine Mannigfaltigkeit animalischer Wesen.»100
Diese Wesensbetrachtung hat für Husserl folgendes Resultat: «Welt und Animalien sind voneinander untrennbar, es ist eine Natur undenkbar, die nicht animalische Natur wäre, wie Subjekte undenkbar, die nicht animalische Subjekte sind, die nicht auf eine Natur bezogen sind, die also nicht füreinander da sind. ‹Objekte› füreinander, jeder für das andere im Bereich möglicher einfühlender Erfahrung liegend.»101
Husserl fügt hinzu: «Im ersten Augenblick möchte man meinen, es als selbstverständlich finden, dass es eine Vielheit von Subjekten geben kann, die einander gegenüber absolut isoliert sind. […] jedes könnte so ausgestattet sein mit einer solchen fest zu seiner Individualität gehörigen Regelung, dass es prinzipiell, vermöge des Wesens dieser Regelung, kein anderes Subjekt erfahren könnte. So wäre es, wenn wir z. B. jedes so dächten, dass es für sich eine Natur
96 97 98 99 100 101
Hua XIV, Text Nr. 4, S. 99/100. Hua XIV, Text Nr. 4, S. 100. Hua XIV, Text Nr. 4, S. 100. Hua XIV, Text Nr. 4, S. 101. Hua XIV, Text Nr. 4, S. 102. Hua XIV, Text Nr. 4, S. 102.
§ 9. Ein anderes apriorisches Denkexperiment Husserls
konstituierte […], aber jedes eine andere Natur, also so, dass die Bedingungen der möglichen Einfühlung zwischen den betrachteten Subjekten unerfüllt bleiben müssten. Aber eben alle solche scheinbar verträglichen Möglichkeiten sind a priori unverträglich. Es ergibt sich lauter Nonsens. Ebenso verkehrt ist es zu denken: Wenn ein Subjekt in meiner Natur nicht existiert, oder wenn ich gar so konstituiert bin, dass ich keine Natur als Umwelt habe, so kann jedes Subjekt dennoch für sich existieren und etwa eine andere Natur haben und eine andere animalische Welt um sich, [die] für es existiert usw. Alle Subjekte, die sind, die koexistieren, sind füreinander da, und notwendig füreinander Objekte in einer Zeit.»102
Vorausgesetzt sind in diesen Überlegungen «normale» Subjekte im Wachzustand, nicht träumende, nicht geisteskranke, nicht durch Altersdemenz verfallende Subjekte. Das Verblüffendste in diesen verblüffenden Überlegungen Husserls ist ihr Resultat, dass, wenn das Denken einmal von der Wirklichkeit ausgeht, das «freie Denken» in der Phantasie über Möglichkeiten im Prinzip nicht weiter gelangt als die Erfahrung der Wirklichkeit. Wir vermögen nicht konsistent eine Welt von einer Struktur oder Form zu denken, die von derjenigen der wirklichen verschieden ist. Die erfahrene Wirklichkeit ist immer reicher als die bloss gedachte Möglichkeit, das blosse Denken der Möglichkeit hinkt der Erfahrung der Wirklichkeit hinterher. Dies bestätigt das Resultat, zu dem Husserl im oben im § 5 erörterten Text aus dem Jahre 1921 kam, dass die erfahrene Wirklichkeit Priorität gegenüber der bloss gedachten Möglichkeit hat. Nur fünf Jahre früher (1914/1915) war Husserl nach «wichtigen transzendentalen Erörterungen» zum folgenden Resultat gekommen: «[…] richtig war die Behauptung, dass zwei solipsistische Subjekte als Subjekte raumzeitlicher Welten konstituiert sein könnten derart, dass diese zwei Welten selbst bei völliger Gleichheit gar nichts miteinander zu tun hätten, ja dass es keinen Sinn hätte, von denselben Dingen in diesen Welten zu sprechen. Nur wo zwei Subjekte hinsichtlich ihrer Genesis in der ausgezeichneten ‹präetablierten Harmonie› stehen, dass jedes in sich ‹fremde Leiber› konstituieren muss (in ständiger Bewährung in der fortgehenden Erfahrung) als Leiber fremder Subjekte, und, was damit eins ist, nur wo der Verlauf dinglicher Erscheinungen in beiden Subjekten die Koordination hat, die solche wechselseitige Einfühlung ermöglicht, nur da ist die Welt des einen Subjekts zugleich Welt des anderen und umgekehrt.»103
Mir scheint, dass das Problematische dieser Erörterungen Husserls aus dem Jahre 1914/15 darin besteht, dass sie von «zwei solipsistischen Subjekten» ausgehen. Wenn wir Phänomenologen sein wollen, dann können wir reflexiv nur von einem Ich ausgehen, nämlich vom «Ur-Ich», dem eigenen phänomenologisierenden Ich, das andere Ich vergegenwärtigend erfährt und mit ihnen eine gemeinsa102 103
Hua XIV, Text Nr. 4, S. 102/103. Hua XIII, Text Nr. 14, S. 376/377
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2. Kapitel. Phänomenologie der Einfühlung
me Welt erfährt. Und jeder Phänomenologe in seinen eigenen und mit anderen Phänomenologen gemeinsamen Erörterungen muss es so tun und danach fragen, wie diese je eigenen Erfahrungen das darin Erfahrene zum Erscheinen bringen, d. h. konstituieren. Die Vielheit von Subjekten hat prinzipiell eine andere Struktur als eine Vielheit von Äpfeln, es hat die Struktur «ich mit den anderen Ich und für die anderen Ich in einer gemeinsamen Welt». Husserl wurde sich des in diesem Abschnitt Geschriebenen in der Zeit zwischen1918 und 1921 bewusst. Vor allem dies hat ihn, wie wir oben schrieben, 1921 zur Einsicht gebracht, dass er die Ideen durch ein neues «grosses systematisches Werk» ersetzen muss.
§ 10. Die Möglichkeit eines weltlosen Bewusstseins. Die Möglichkeit eines Bewusstseins ausserhalb der kommunizierenden Subjekte kann durch keine empirischen Gründe ausgeschlossen werden In einem zwischen 1915 und 1917104 verfassten, also mehrere Jahre vor dem im voranstehenden § 9 zitierten Text vom 1. September 1921, bejaht Husserl die Möglichkeit eines Bewusstseins ohne Welt oder ausserhalb unserer Welt. Es gibt nur eine intersubjektive Welt, doch kann es Bewusstseine ausserhalb dieser Welt geben: «Wir können uns ein solipsistisches Subjekt denken, das beliebig stark anomal ist, verrückt ist, und schliesslich so, dass es keine Welt mehr zustande bringt. – Wenn wir in unserer Welt Tod beobachten, Zerfall des Leibes, d. h. Auflösung des Erscheinungstypus der materiellen Dinglichkeit, an die Einfühlung gebunden ist und der auch allein vernünftig Mitdasein von Psychischem in geregeltem psychophysischen Zusammenhang motiviert, so ist damit nicht gesagt, dass das betreffende Subjekt, der betreffende Bewusstseinsstrom, aufhört zu sein, sondern es ist kein Subjekt mehr, das für sich selbst und für uns einen Leib hat, das für sich selbst und für uns und mit uns gemeinsam eine erscheinende Welt hat. […] Wäre ein Aufhören des Ichstromes undenkbar, so würde der Tod Fortdauer ausserhalb der Welt besagen.»105
In einem anderen, späteren Manuskript schrieb Husserl: «Bedeutet der Tod nicht der Bruder des Schlafes? Ist der Tod, von innen gesehen, nicht ein Fahrenlassen der Welt (im Kampf mit dem Tod ein Entwundenwerden der Welt), und können wir hier nicht auch sagen, das strömende Leben kann nicht enden und das darin seiende Ich kann nicht aufhören zu dauern im Modus des Strömens, es ist unsterblich, denn ‹sterben› macht für es keinen Sinn?»106
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Hua XIII, Beilage XLVIII, S. 398/399. Hua XIII, Beilage XLVIII, S. 398/399. Ms K III 6, S. 151a.
§ 10. Die Möglichkeit eines weltlosen Bewusstseins
In diesem zwischen 1915 und 1917 verfassten Text exponiert Husserl zwei Gedanken, die zuerst getrennt voneinander überlegt werden können. Erstens: Zweifellos «können wir uns ein solipsistisches Subjekt denken, das beliebig stark anomal ist, verrückt ist, und schliesslich so, dass es keine Welt mehr zustande bringt». Wir können uns dies denken, erstens weil wir die zuverlässige Erfahrung machen, dass es faktisch leiblich lebendige Subjekte gibt, «die keine Welt zustande bringen», seien es demente Menschen, die eine geordnete Welt nicht mehr zur Erscheinung bringen und wahrscheinlich sich an eine solche auch nicht mehr erinnern können, oder Neugeborene, die eine solche geordnete Welt noch nicht zum Erscheinen bringen können. Aber in keinem der beiden Fälle können wir behaupten, dass in ihnen kein Bewusstsein «fliesst». Zweitens: «wenn wir in unserer Welt Tod beobachten, Zerfall des Leibes, d. h. Auflösung des Erscheinungstypus der materiellen Dinglichkeit [d. h. des Leibkörpers], an die Einfühlung gebunden ist», dann können wir aufgrund empirischer Feststellungen nie behaupten, dass der Bewusstseinsfluss, das Bewusstseinsleben nicht mehr weiterströmt. Es ist vielmehr durch viele Fakten bewiesen, dass nach dem medizinisch festgestellten Gehirntod, der heute noch in der Medizin als Kriterium des Todes betrachtet wird, das menschliche Bewusstsein weiterbesteht, wenn auch in anderer Form.107 Allerdings bedeutet der medizinische Gehirntod noch keine «Auflösung des Erscheinungstypus der materiellen Dinglichkeit [d. h. des Leibkörpers], an die Einfühlung gebunden ist». Aber dies ist dann der Fall, wenn sofort, nachdem ein Mensch medizinisch für gehirntot erklärt wurde, ihm Organe wie das Herz, die Lungen, die Leber und die Nieren zum Zweck von Transplantationen entnommen werden. Da das Bewusstseinsleben offensichtlich nicht an ein funktionierendes Gehirn gebunden ist, «können wir auch sagen, das strömende Leben kann nicht enden und das darin seiende Ich kann nicht aufhören zu dauern im Modus des Strömens, es ist unsterblich, denn ‹sterben› macht für es keinen Sinn».
Siehe Pim van Lommel, Endloses Bewusstsein. Neue medizinische Fakten zur Nahtoderfahrung, Patmos-Verlag, München 2009. Niederländische Originalausgabe: Eindeloos bewustsijn. Een wetenschappelijke visie op de bijnadood ervaringe, Uitgeverij Ten Have 2007. Weiteres zu Nahtoderfahrungen siehe unten in Teil 3, § 28: «Kommunikative Gemeinschaft mit Verstorbenen». 107
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2. Kapitel. Phänomenologie der Einfühlung
§ 11. Einfühlung in der naturalen Einstellung und in der personalen Einstellung. Die Einfühlung in der naturalen Einstellung der Naturwissenschaften als uneigentliche Einfühlung, die Einfühlung in der personalen Einstellung der Geisteswissenschaften als eigentliche Einfühlung. Anschauliche und unanschauliche Einfühlung In einem im Juni 1920 verfassten Text108 unterscheidet Husserl zwischen diesen zwei im Titel genannten Arten der Einfühlung. Sein Ziel dabei ist es, zwischen naturaler und personaler empirischer Untersuchung des Menschen zu unterscheiden, d. h. zwischen Natur- und Geisteswissenschaft, zwischen naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Anthropologie. In der uneigentlichen Einfühlung in den anderen Menschen wird nur sein sinnlich wahrnehmbarer Körper und sein sinnlich wahrnehmbares Verhalten anschaulich vorgestellt, während sein Bewusstsein (sein Psychisches, Geistiges) dabei nur unanschaulich (leer) assoziativ indiziert ist. Mit anderen Worten: In dieser leeren Einfühlung betrachte ich den anderen nicht «von innen», sondern von aussen, d. h. ich vergegenwärtige mir nicht anschaulich seine Situation, so wie er sie von seinem eigenen Gesichtspunkt aus erfährt. Dennoch betrachte ich ihn nicht als bloss physischen Körper, aber das Psychische, Geistige ist nur leer vergegenwärtigt. Wenn ich z. B. neben den vielen anderen Menschen hindurch ins Philosophische Institut eile, nehme ich das Verhalten der anderen Menschen wahr, zwischen denen hindurch ich ausweichend und den kürzesten Weg suchend gehe, ich assoziiere, dass auch sie von ihrer Stelle aus mich und die anderen Menschen sehen, aber ich vergegenwärtige mir dabei nicht anschaulich, wie sie ihre Umgebung sehen, versuche mir nicht anschaulich vorzustellen, mit welchen Absichten sie ähnlich wie ich durch die Strasse eilen. Daran habe ich, an meine bevorstehende Lehrveranstaltung denkend, kein Interesse, und es fehlt mir auch die Zeit dafür. In ähnlicher Weise kann ein General im Krieg die Strategie seiner eigenen gegen die feindlichen Truppen planen und dabei die Reaktionen des Feindes kalkulieren, ohne dabei intuitiv sich die Gefühle, Gedanken und Interessen der eigenen und der feindlichen Soldaten zu vergegenwärtigen; er betrachtet die Soldaten mit ihren Waffen nur als menschliche, gegeneinander kämpfende militärische Kräfte, mit dem besonderen Ziel, die feindlichen Kräfte zu besiegen. Die uneigentliche Einfühlung geschieht oft nur in einem besonderen Interesse am Nutzen der betreffenden Menschen für ein gewisses Ziel und in einer technischen und manipulierenden Einstellung und sie macht auch die Einstellung der Naturwissenschaften gegenüber dem Menschen und den Tieren aus. Von dieser Einstel108
Hua XIII, Text Nr. 16, S. 438–465.
§ 11. Einfühlung in der naturalen und in der personalen Einstellung
lung aus kann das leer vorgestellte Psychische oder das Bewusstsein als ein bloss epiphänomenaler Annex oder als geheimnisvoll emergierende Qualität des Physiologischen interpretiert werden. In der eigentlichen Einfühlung, die von Husserl auch als «absolut einfühlende Kenntnisnahme des Anderen» und als Entsprechung zur «absoluten Selbsterfahrung des Ich» gekennzeichnet wird,109 lebe ich, durch ein anschauliches mich in der Phantasie Hineinversetzen, Hineinversenken, Einleben in die Motivationen der anschaulich vergegenwärtigten Situation des anderen, gleichsam im anderen und versuche, sein Fühlen, Denken, Streben und Tun zu verstehen. Dieses eigentliche Einfühlen macht die personalistische Einstellung aus und ist Grundlage der Geisteswissenschaften. In Hinsicht des Verstehens der Tiere muss die auf eigentlicher Einfühlung beruhende Betrachtung in Rechnung ziehen, dass die Tiere spezifisch menschlicher Leistungen nicht fähig und dass ihr Wahrnehmen, Fühlen und Streben und Tun, entsprechend ihrem wahrnehmbaren Körperbau und ihrem wahrnehmbaren Verhalten, von denjenigen des Menschen verschieden sind. Wenn diese Verschiedenheiten nicht in Betracht gezogen werden, vermenschlicht die eigentliche Einfühlung die Tiere. Husserls Gedanken über die eigentliche Einfühlung in Tiere sind unten im § 34 nachzulesen. Doch nach Husserl ist nicht die eigentliche, anschauliche Form der Einfühlung, sondern die uneigentliche, unanschauliche die ursprüngliche Einfühlung. In einem Text aus dem August 1930 schreibt er: «Fremdes Psychisches kann ich mir anschaulich machen, obschon nicht wahrnehmungsmässig, so doch in der Form anschaulicher Vergegenwärtigung. Ich kann es, aber muss es nicht, und im Allgemeinen tue ich es auch nicht. Ja, es ist leicht einzusehen, dass das unanschaulich-bedeutsame Verstehen jedenfalls vorangeht dem die schon gemeinte und in der Fremderfahrung fungierende Bedeutung Anschaulich-machen.»110
Die Erfüllung der Einfühlung ist nach Husserl nicht notwendigerweise eine anschauliche. Der Prozess der Bestätigung der Einfühlung, den ich oben im § 5 dargestellt habe, verlangt nicht notwendigerweise eine anschauliche Vergegenwärtigung des Seelischen des anderen Ich. Wenn der äusserlich wahrgenommene Körper etwas Psychisches zum Ausdruck bringt und dieses Psychische seinerseits ein weiteres wahrnehmbares Verhalten des Körpers verlangt, muss dieses Psychische nicht anschaulich vergegenwärtigt sein. Husserl schreibt im soeben zitierten Text aus dem August 1930: «Aber nun ist die Frage, ob es bei dieser Art der Erfüllung, die wir in der psychischen Schicht als leere Indikation (leere Appräsentation [Vergegenwärtigung]) dachten, sein Bewenden haben kann. Wie weit kann ein leeres Verstehen des Anderen als leere verge-
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Hua XIII, Text Nr. 16, S. 445. Hua XV, Text Nr. 6, S. 84.
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genwärtigende Setzung ‹aufgrund› der Wahrnehmung des körperlichen Leibes reichen? Fordert nicht alle ‹wirklich› erfahrende Fremdwahrnehmung eine anschauliche Vergegenwärtigung (die ‹einfühlende›, einverstehende)?»111
In diesem Text beantwortet Husserl diese Frage nicht. Ich würde versuchsweise antworten: Nicht jede «‹wirklich› erfahrende Fremdwahrnehmung» erfordert eine anschauliche Vergegenwärtigung (Einfühlung). Von einem bloss theoretischen Gesichtspunkt ist es nicht immer erforderlich, aber ich kann es fordern, wenn ich daran interessiert bin, das geistige Leben eines Zeitgenossen oder einer historischen Persönlichkeit wirklich zu verstehen. Doch vom ethischen Gesichtspunkt, wenn ich es mit meinen Mitmenschen zu tun habe, ist es immer erforderlich, denn als ethisch Handelnder muss ich mich anschaulich in ihre Situation versetzen, um ihre Lage und die Motive ihres Wollens und Handelns so gut wie möglich verstehen zu können. Ohne diese Anstrengung des anschaulichen SichVersetzens in die Situation eines anderen beurteile ich das Handeln meiner Mitmenschen nur aus meinen gewohnten Vorstellungen und Erwartungen.
§ 12. Gerade, schlicht vergegenwärtigende Einfühlung und (dritte Stufe der Einfühlung) oblique, in der Vergegenwärtigung reflektierende Einfühlung Nach einem von Husserl im September 1918 geschriebenen Text112 erfordern empirische Geisteswissenschaften wie Geschichte, Psychologie und andere nicht nur eigentliche, anschauliche Einfühlung im Sinne unserer Darstellung im obigen § 11, sondern auch eine reflexive Einfühlung: «Gerade Einfühlung ist […] die natürliche und notwendig immer erste. Das gesamte Erlebnis, das ‹Einfühlung› heisst, ist von einer Art, dass es eine Vergegenwärtigung umspannt, durch welche die, und zwar ursprünglich gerade, doxische [setzende] Intention auf das vom fremden Subjekt Erfahrene geht. Die oblique, reflektive Einfühlung ist nun eine solche, die entweder auf das Erfahrungsphänomen geht, auf die Aspekte, Empfindungsdaten, Auffassungen, oder auf das Subjekt, das erfahrendes ist u. s. w.»113
In einem Text aus dem Jahre 1923114 schreibt Husserl: «Der Andere ist mir doppelt erreichbar, nicht nur in der Weise der [vergegenwärtigenden] Hineinversetzung in sein Leben und in der Weise des Mitlebens, während ich thematisch [auf sein Erlebtes] gerichtet bin, sondern [auch,] dass ich thematisch reflektiv gerichtet bin auf sein Ich und sein Erleben, aber auch zugleich auf die Gegenstände, die er 111 112 113 114
Hua XV, Text Nr. 6, S. 85/86. Hua XIII, Text Nr. 15, S. 400–435. Hua XIII, Text Nr. 15, S. 401/402. Hua XIV, Text Nr. 15, S. 309–323.
§ 12. Gerade und oblique Einfühlung
als Gegenstände bewusst hat, die er setzt und die ich, seine Setzungen ‹ohne weiteres› übernehmend, mitsetze.»115
Empirische Geisteswissenschaften haben nach Husserl a) geistige Zusammenhänge zu verstehen und sie nicht durch allgemeine Naturursachen zu erklären. Geistige Zusammenhänge können nicht dadurch verständlich werden, dass sie den universalen Kausalgesetzen der Natur untergeordnet oder von ihnen abgeleitet werden, sondern sie müssen als Motivationszusammenhänge bewusster Subjekte verstanden werden. b) «Motivation ist etwas Individuelles.»116 So besteht denn in der personalen Einstellung der Geisteswissenschaften im Allgemeinen z. B. das Problem, verständlich zu machen, wie Wahrnehmungen einer individuellen Person begriffliche Urteile motivieren können und wie motiviert sich solche Urteile für sie vernünftig bestätigen lassen. Aber es besteht auch das Problem, wie motiviert mehrere individuelle Personen sich durch intentionale soziale Akte zu einer Gruppe verbinden und wie ihre Wahrnehmungen intersubjektiv gültige Urteile motivieren können.117 Oder es besteht das Problem, wie rationale Urteilsakte einer gewissen Person oder einer sozial verbundenen Gruppe individueller Personen durch Affekte und Leidenschaften (Wünsche, Angst, Hass, soziale Selbstbestätigung) motiviert werden, und umgekehrt, wie Affekte und Leidenschaften von Personen durch rationale Urteile motiviert werden können, oder auch, wie rationale Hypothesen von einzelnen Wissenschaftlern durch Gefühle, Wünsche, zufällige Einfälle und ihren Willen, die Wirklichkeit zu erkennen oder auch nur wissenschaftlichen Erfolg zu haben, motiviert werden usw. c) Das geisteswissenschaftliche Verstehen ist ein Verstehen von Zusammenhängen zwischen den intentionalen Erlebnissen von einzelnen Individuen, oder von Individuen im bewusstseinsintentionalen und sozialen Zusammenhang mit anderen Individuen, im Laufe der individuellen oder sozialen Geschichte. In dieser Geschichte werden die Gegenstände der Welt als wirkliche gesetzt oder aber wieder als nur scheinbare aufgehoben. So hat in dieser Geschichte jedes Individuum seine eigene, und jede soziale Gruppe von Individuen ihre eigene sich mehr oder weniger schnell und sich mehr oder weniger breit wandelnde «Weltanschauung».
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Hua XIV, Text Nr. 15, S. 317 und Anm. 4. Ms E III 2 (geschrieben wahrscheinlich 1915), meine eigene Transkription S. 53. Zu den sozialen Akten siehe unten Kapitel 3.
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2. Kapitel. Phänomenologie der Einfühlung
§ 13. Die «Konstitution des alter ego (anderen Ich) durch eine den eigenen Gesichtspunkt transzendierende Vergegenwärtigung» hat auch im gewöhnlichen Leben zwei grundlegende Bedeutungen: eine naive (gerade) und eine reflexive (oblique) Trotz seiner klaren Unterscheidung zwischen gerader und obliquer (reflexiver) Einfühlung war sich Husserl der grossen Wichtigkeit dieser Unterscheidung zwar für die Geisteswissenschaften bewusst, aber nicht der für das Verstehen der täglichen intersubjektiven Beziehungen zwischen Menschen. Diese Wichtigkeit wurde mir durch die Diskussionen klar, die während der beiden letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts in der empirischen genetischen Psychologie geführt wurden. In einem gemeinsamen Artikel, den Eduard Marbach und ich 2001 veröffentlichten,118 diskutierten wir die radikale Umwandlung im Verständnis des menschlichen Geistes, die Psychologen wie M. J. Chandler und M. Boyes, J. H. Flavell, H. M Wellman, H. Wimmer, J. Perner, A. Gopnik u. a. in der geistigen Entwicklung von Kindern im Alter von ungefähr vier Jahren feststellten. Diese radikale Umwandlung wurde als das «Erscheinen einer neuen Dimension» in der geistigen Entwicklung des menschlichen Kindes charakterisiert und umfasst das Auftreten folgender Leistungen: Erstens: Kinder ab diesem Alter verstehen, dass andere Personen aufgrund von falschen Informationen oder einem Mangel an Informationen eine falsche Meinung (false belief) über eine gewisse Situation haben, welche diese Kinder selbst kennen. Diese Kinder sind aber nicht fähig, sich zu erinnern, dass sie, bevor sie über diese Situation informiert wurden, selbst über diese Situation eine falsche Meinung hatten. Zweitens: Diese Kinder sind fähig zu verstehen, dass andere Personen durch falsche (täuschende) Erscheinungen (false appearances) von Dingen irregeführt werden können, wenn diese Personen noch nicht die Gelegenheit hatten, ihre Täuschung korrigierende Erfahrungen zu machen, welche diese Kinder zuvor selbst gemacht haben. Drittens: Gleichzeitig mit dem Verstehen, dass die Meinung über etwas zwischen ihnen und anderen Personen verschieden sein kann, tritt bei den Kindern dieses kritischen Alters um vier Jahre die Fähigkeit auf, die Meinungen anderer Menschen zu manipulieren, d. h. sie absichtlich zu täuschen und so absichtlich zu lügen. Viertens: Die Kinder in diesem Alter beginnen auch zu erkennen, dass andere Menschen gewisse Dinge nicht wissen können, weil ihnen die dazu notwendigen Informationen fehlen. Kindern vor diesem Alter ist die Frage, warum jemand etwas weiss oder nicht weiss, unverständlich. Doch danach beginnen sie selbst zu «Understanding the Representational Mind. A Prerequisite for Intersubjectivity Proper», in Journal of Consciousness Studies. Controversies in Science and the Humanities, Vol. 8, No 5– 7, May–July 2001, S. 69–82. 118
§ 13. Naive und reflexive Bedeutung der Konstitution des alter ego
fragen, warum und woher jemand etwas weiss. Sie unterscheiden auch zwischen zufälligem Erraten, warum etwas so ist, wie es ist, und wirklicher Erkenntnis. Fünftens: Gleichzeitig beginnen diese Kinder zu verstehen, dass sie selbst und andere Menschen dieselben Dinge in verschiedenen «Perspektiven» wahrnehmen und beurteilen. Diese Kinder beginnen z. B. zu verstehen, dass jemand, der mit verbundenen Augen einen Ball mit seinen Händen und Fingern nur ertastet, wissen kann, ob er weich oder hart ist, aber nicht wissen kann, welche Farbe er hat; oder ein Kind dieses Alters beginnt zu verstehen, dass ein ihm gegenüber sitzendes Kind eine auf ein zwischen ihnen auf dem Tisch liegendes Blatt gezeichnete Schildkröte mit dem Kopf nach unten, während es selbst dieses Tier mit dem Kopf nach oben sieht. Sechstens: Kinder in diesem Alter beginnen auch zwischen Wirklichkeit und blossem Schein zu unterscheiden; sie beginnen z. B. zu verstehen, dass ein leichter und weicher Schwamm, der wie ein harter und schwerer Stein aussieht, von jemand anderem, der diesen Schwamm nur sah und nicht in einer seiner Hände hatte, als Stein und nicht als Schwamm wahrgenommen (aufgefasst) wird. Da diese verschiedenen Fähigkeiten in der Entwicklung des normalen menschlichen Bewusstseins gleichzeitig erscheinen, liegt es nahe anzunehmen, dass ihnen allen eine einzige Grundfähigkeit zugrunde liegt. Doch was diese Grundfähigkeit ist, darüber besteht unter den genetischen Psychologen, die das Auftauchen von jenen Fähigkeiten untersuchten, keine Einigkeit. Eduard Marbach und ich schlugen im erwähnten Artikel vor, dafür Husserls Phänomenologie der vergegenwärtigenden obliquen (reflexiven) Einfühlung heranzuziehen, welche die Motivationszusammenhänge zwischen den Erfahrungen von anderen Menschen zu verstehen versucht. Unsere These schlug vor, die Fähigkeit, auf die Erlebnisse der anderen Personen zu reflektieren, als jene den verschiedenen Fähigkeiten zugrunde liegende Grundfähigkeit zu betrachten. Diese Grundfähigkeit würde nach der ersten Stufe der Einfühlung (siehe oben § 4) und der zweiten Stufe (siehe oben § 5), wie ich schon im § 12 hervorhob, die dritte Stufe der Einfühlung ausmachen.
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2. Kapitel. Phänomenologie der Einfühlung
§ 14. Was ist die naive (gerade) vergegenwärtigende Einfühlung (zweite Stufe der Einfühlung), welche ein sich normal entwickelndes Kind während des zweiten Lebensalters erreichen muss, auf der Grundlage eines schon zuvor erworbenen bloss gegenwärtigenden oder wahrnehmungsmässig unmittelbaren Verständnisses von Menschen und Tieren als lebenden, sich selbst bewegenden, wollenden und nicht wollenden Wesen (erste Stufe der Einfühlung)? Ich denke, dass Husserl aufgrund seiner phänomenologischen Analyse der Raumwahrnehmung fähig ist, das wahrnehmungsmässige unmittelbare Verstehen anderer sich selbst im Raume bewegender, lebender Wesen phänomenologisch zu erklären (erste Stufe der Einfühlung), wie ich oben im § 4 ausführte. Die geistige Entwicklung der menschlichen Kinder in ihrem ersten Lebensjahr ist sehr ähnlich derjenigen der gleichaltrigen Schimpansenkinder, sogar noch langsamer. Auf dieser ersten Stufe der Einfühlung sind Menschen- und Schimpansenkinder gleichermassen fähig, wahrnehmend unmittelbar das Verhalten eines andren, ihnen ähnlichen lebenden Wesens zu verstehen. Doch vom Ende des ersten Lebensjahres an und im Laufe des zweiten Lebensjahres lassen menschliche Kinder die Schimpansenkinder in ihren kognitiven Leistungen weit hinter sich und werden zu eigentlichen Menschen. Sie zeigen mit ihrem Zeigefinger auf andere Dinge, z. B. auf ein hoch über sie fliegendes Flugzeug, und auch auf sich selbst, und sagen manchmal dazu ein einzelnes Wort. Und sie verstehen auch, wenn jemand anders ihnen mit dem Finger auf etwas sich im fernen Wahrnehmungsfeld Befindliches zeigt, d. h., sie richten ihren interessierten Blick auf das in der Ferne Gezeigte und nicht auf den nahen zeigenden Finger. Auch höhere Tiere, z. B. Hunde, verstehen das Zeigen nicht. Menschenkinder werden im Lauf ihres zweiten Lebensjahres fähig zu verstehen, dass eine andere Person, die an einem heissen Ofen ihre Finger verbrennt, Schmerz fühlt, zeigen ihr gegenüber Mitgefühl und versuchen sie zu trösten. Sie haben eine vergegenwärtigende gerade (naive) Einfühlung (zweite Stufe der Einfühlung). Sie beginnen anderen Personen zu erzählen, was sie taten oder was sie tun wollen, und vergegenwärtigen dabei Vergangenes und Künftiges. Sie spielen zusammen mit anderen Kindern und nehmen dabei Rollen ein, sie spielen vergegenwärtigend ihre auf dem Küchenherd kochende Mutter oder ihren im Auto fahrenden Vater und wissen dabei sehr wohl, dass sie nicht wirklich kochen, nicht wirklich Auto fahren, sondern noch «klein» sind und dass sie nur «so tun als ob» sie «gross» wären und solches könnten. Aber sie sind bis zum Ende ihres vierten Lebensjahres unfähig,
§ 14. Naive vergegenwärtigende Einfühlung eines zweijährigen Kindes
wirklich den Gesichtspunkt eines anderen einzunehmen, d. h. sich zu vergegenwärtigen, wie ein anderer die Welt sieht. Sie haben in Husserls Worten noch keine reflektierende (oblique) Einfühlung.
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3. Kapitel. Kommunikation, kommunikative Tätigkeiten, Gemeinschaft
§ 15. Die Person im Personenverband Im § 51 des dritten Abschnittes («Die Konstitution der geistigen Welt») von Husserls Ideen II (Hua IV) findet sich ein Text, der als Einleitung zu diesem dritten Kapitel dienen kann. Dieser Paragraph ist unter demselben Gesichtspunkt geschrieben wie der Text aus dem Jahre 1920, den ich oben im § 11 erörtert habe («Einfühlung in der naturalen Einstellung und in der personalen Einstellung. Die Einfühlung in der naturalen Einstellung der Naturwissenschaften als uneigentliche Einfühlung, die Einfühlung in der personalen Einstellung der Geisteswissenschaften als eigentliche Einfühlung») Doch der Text aus den Ideen II diskutiert die Probleme nicht nur im Kontext der Einfühlung, sondern auch in demjenigen der sozialen Gemeinschaft von Personen. Husserl schrieb ihn sieben Jahre früher als den Text, den ich oben im § 11 zitierte, aber er wurde im Frühjahr 1915 und auch noch später überarbeitet.119 Das Hauptinteresse beider Texte gilt dem Problem der methodologischen Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, das zu Husserls Zeiten im deutschsprachigen Raum angeregt diskutiert wurde. Im Wesentlichen versuchte Husserl dieses Problem durch die Unterscheidung zwischen naturaler und personaler Einstellung, bzw. durch die entsprechende Unterscheidung zwischen kausaler und motivationaler Erklärung, zu lösen. Husserl schreibt in jenem Text aus den Ideen II:
Im Jahre 1916 gab Husserl sein Manuskript der Ideen II seiner Assistentin Edith Stein, die unter Beiziehung anderer Manuskripte Husserls über entsprechende Themen systematisch ordnete und aus Husserls Gabelsberger Stenographie handschriftlich transkribierte. Einige Sätze schrieb sie dabei selbst, um die verschiedenen Manuskripte zu verbinden. Sie hoffte, dass Husserl ihre Zusammenstellung lesen und für die Veröffentlichung überarbeiten werde. Doch dieser war mit anderen Problemen beschäftigt. 1925 erstellte Ludwig Landgrebe eine maschinenschriftliche Abschrift von Steins handschriftlichem Text. Im Band IV der Husserliana wurde dieser Text publiziert. Dirk Fonfara, der im Husserl-Archiv Köln arbeitet, hat eine kritische Ausgabe der Ideen II unter dem Titel Urfassung der Ideen II und Ideen III vorbereitet, die wahrscheinlich noch 2021 erscheinen wird. 119
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«Das Subjekt findet in seiner Umwelt bewusstseinsmässig nicht nur Dinge vor, sondern auch andere Subjekte; es sieht sie als Personen, sich in ihrer Umwelt betätigend, durch ihre Gegenstände bestimmt und immer von neuem bestimmbar. In dieser Einstellung fällt es ihm gar nicht ein, den Geist dem Leib ‹einzulegen›, d. h. ihn etwas am Leib, als in ihm Fundiertes, mit dem Leib zu einer Realität [zu einem Ding der Natur] Gehöriges zu betrachten, also die betreffende naturale Apperzeption zu vollziehen. Tun wir das, dann ist der Mensch selbst gesetzt als eine Sache. Da kommt der Geist als Person, gleichgeordnet unserer Person, wie sie Glied des Personenverbandes ist, nicht zu seinem Rechte.»120
Wir können hinzufügen: Wenn wir den Menschen als eine blosse Sache setzen, dann muss ich mich selbst als Menschen auch als eine blosse Sache setzen. Husserl unterscheidet dann zwischen einem rechtlichen und moralischen (ethischen) Sinn einerseits und andererseits einem wissenschaftlichen Sinn in der Behandlung von Menschen und Tieren als blosse Sachen (Dinge). «[…] ich behandle einen Menschen theoretisch als Sache, wenn ich ihn nicht einordne dem Verband von Personen, mit Beziehung auf den wir Subjekte einer gemeinsamen Umwelt sind, sondern ihn als blossen Annex von Naturobjekten als pure Sachen und damit selbst als Sachliches behandle.»121 Wir können hinzufügen: Ich behandle mich selbst als Menschen theoretisch als Sache, wenn ich mich nicht einordne dem Verband von Personen, mit Beziehung auf den ich Subjekt einer gemeinsamen Umwelt bin, sondern mich als blossen Annex eines Leibkörpers und damit als Naturobjekt behandle. Husserl schreibt weiter, dass die naturalistische Behandlung von Personen insofern ein gewisses Recht hat, als sie derselben räumlich-zeitlichen Welt angehören wie die blossen Naturdinge. Doch die Personen als geistige Wesen ermöglichen und fordern noch eine andere und bedeutsamere theoretische Forschungsweise, nämlich in Hinsicht darauf, dass sie für sich selbst als Ichsubjekte existieren und dass sie als Subjekte intentional auf ihre räumlich zeitliche Umwelt bezogen sind und die naturalistischen Theorien des Geistes konstruieren.122 «Wer aber nur Natur sieht, Natur im Sinne und gleichsam mit den Augen der Naturwissenschaft, ist eben blind für die Geistessphäre, die eigentümliche Sphäre der Geisteswissenschaften. Er sieht keine Personen und aus personalen Leistungen Sinn empfangende Objekte – also keine ‹Kultur›-Objekte – er sieht eigentlich keine Personen, obschon er sich mit Personen in der Einstellung des naturalistischen Psychologen zu schaffen macht.»123
Husserl fährt fort, dass wir durch eine verstehende Erfahrung oder Einfühlung intentional auf eine gemeinsame Welt bezogen sind. «Wir könnten für Andere 120 121 122 123
Ideen II (Hua IV), 1952, S. 190. Ibidem. A.a.O., S. 190/191. A.a.O., S. 191.
§ 15. Die Person im Personenverband
nicht Personen sein, wenn uns nicht in einer Gemeinsamkeit, einer Verbundenheit unseres intentionalen Lebens eine gemeinsame Umwelt gegenüberstünde; korrelativ gesprochen: eines konstituiert sich wesensmässig mit dem anderen.»124 Durch soziale Akte der Wechselbestimmung erhält die gemeinsame Umwelt über die verstehenden oder einfühlenden Akte Gemeinsamkeiten neuen und höherstufigen Sinnes. Dadurch ergibt sich nicht nur ein parallel laufendes und wechselseitig verstandenes Verhalten zu solchen Gegenständen neuen und höherstufigen Sinnes, sondern auch ein «verbunden-einheitliches Verhalten der Personen […], an dem sie gemeinsam beteiligt sind, wie Glieder eines verbundenen Ganzen».125 «Die dem sozialen Verband zugehörigen Personen sind füreinander gegeben als ‹Genossen›, nicht als Gegenstände, sondern als Gegensubjekte, die ‹mit›-einander leben, verkehren, aufeinander bezogen sind, aktuell und potentiell, in Akten der Liebe und Gegenliebe, des Hasses und Gegenhasses, des Vertrauens und Gegenvertrauens usw.»126 Diese Akte der sozialen Wechselbeziehung konstituieren sich aufgrund von kommunikativen Akten, in denen sich das Ich an andere wendet und die anderen ihm auch bewusst sind als die, an die es sich wendet, und in denen die anderen dieses Sich-Wenden an sie verstehen, sich evtl. in ihrem Verhalten danach richten, sich zurückwenden in zustimmenden oder ablehnenden Akten usw. «Diese Akte sind es, die zwischen Personen […] eine höhere Bewusstseinseinheit herstellen, in diese [Bewusstseinseinheit] die umgebende Dingwelt als gemeinsame Umwelt der Stellung nehmenden Personen einbeziehen; und auch die physische Umwelt in dieser apperzeptiven Einbezogenheit hat sozialen Charakter, sie ist Welt, die geistige Bedeutung hat.»127 Die gemeinsame Umwelt kann auch in einer breiteren Bedeutung verstanden werden. In dieser Bedeutung gehören die kommunizierenden Personen selbst wechselseitig zur Umwelt, «die relativ ist zu dem jeweilig von sich aus umblickenden, seine Umwelt konstituierenden Ich».128 Dieses Ich gehört aufgrund seines Selbstbewusstseins und seines auf sich selbst gerichteten mannigfaltigen Verhaltens zu seiner eigenen Umwelt. «Das Ich ist «Subjekt-Objekt»; «das Subjekt als für sich selbst objektivierbares und objektiviertes gehört zugleich zu seiner Umwelt».129 Andererseits konstituiert sich im Personenverband (intersubjektiven Verband) eine einzige Welt mit verschiedenen Stufen auf der Seite der Subjekte und auf derjenigen der Objekte. Die kommunizierenden Subjekte konstituieren «personale Einheiten höherer Stufe», wie Freundeskreise, Vereine, Be124 125 126 127 128 129
Ibidem. A.a.O., S. 192. A.a.O., S. 194. Ibidem. A.a.O., S. 195. Ebenda.
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rufsverbände, Nationen, «deren Gesamtinbegriff die Welt der sozialen Subjektivitäten ausmacht, soweit wirkliche und mögliche personale Bande reichen».130 Von dieser Welt der sozialen Subjektivitäten ist zu unterscheiden die korrelative Welt der sozialen Objektivitäten, die für jene Subjektivitäten existiert.131 Für jede personale Einheit höherer Stufe, wie einen Verein oder eine Nation als Welt sozialer Subjektivität und sozialer Objektivität, ist die ganze übrige Welt ‹Aussenwelt».132 Über die «personalen Einheiten höherer Stufe» spricht Husserl ausführlicher in einem Text aus dem Jahre 1918 oder 1921, den wir unten im § 31 dieses dritten Kapitels erörtern werden.
§ 16. Husserls phänomenologische Darstellung der reziproken Einfühlung in ein Du (die Beziehung Angesicht zu Angesicht): seine Analyse des sich an andere Wendens in Akten des auf etwas Gegenwärtiges Zeigens, des etwas Gegenwärtiges Ausdrückens und des deskriptiven Mitteilens von etwas Abwesendem Im dichten Text «Gemeingeist I»133, den Husserl 1921 schrieb, als er das nie publizierte neue «grosse systematische Werk» vorbereitete, stellt er verschiedene Formen von Gemeinschaften dar. Dieser Text ist eine erste grosse Skizze und enthält keine genauen phänomenologischen Analysen. Er ist deshalb umso besser geeignet, in dieser kurzen Darstellung von Husserls Phänomenologie der Intersubjektivität besprochen zu werden. In diesem Text von 1921 schreibt Husserl: «Wie stellt sich die Ich-Du-Beziehung her, die doch die personale Wechselbeziehung im prägnanten Sinne ist? Im Gleichnis gesprochen: Wir beide, ich und du, ‹sehen uns in die Augen›, er versteht mich, gewahrt mich, ich gewahre ihn, gleichzeitig. Ich wende mich an dich und teile dir eine Tatsache mit: Ich erfahre eine Tatsache und mache den Anderen, in dessen nächstem Erfahrungsbereich sie ebenfalls ist, durch ein ‹Hinzeigen› auf sie aufmerksam.»134 Ebenda. Ebenda. 132 A.a.O., S. 195/196. 133 Das Wort Gemeingeist ist nicht sehr verbreitet. Ich vermute, dass dieses Wort vom Begründer der deutschen Soziologie, Ferdinand Tönnies (1855–1936), stammt. Sein früher sehr bekanntes Werk Gemeinschaft und Gesellschaft aus dem Jahre 1887, das mehrmals und auch noch 1935 herausgegeben wurde, hat auch Husserl studiert: vgl. Hua XIV, S. 183. 134 Hua XIV, S. 167. 130 131
§ 16. Die reziproke Einfühlung in ein Du bei Husserl
Durch eine Hand- oder Fingerbewegung oder durch das Werfen eines Holzstückes in eine gewisse Richtung lenke ich seine Aufmerksamkeit auf etwas, was für ihn und auch für mich von Interesse ist. «Ich wirke dabei also auf den Anderen ein […] im Rahmen der wechselseitig und gleichzeitig vollzogenen Ich und Du in Berührung bringenden Einfühlung [… ]; in der besonderen Weise, dass […] dem Anderen […] mein Wille oder mein triebhaftes Streben, […] ihn geistig zu ‹bewegen›, ihn zu einem Streben oder Wollen zu bestimmen, […] merklich sein soll und selbst mitgehört zu dem ‹Wege›, zum Mittel der Bestimmung.»135
Ein anderes Mittel eines solchen den anderen bestimmenden Aufmerksam-Machens im direkten Kontakt mit einer anderen Person und in Beziehung auf eine gegenwärtige Situation ist eine mit meinem Hinblicken verbundene Nachahmung eines menschlichen oder tierischen Verhaltens in dieser Situation. Weiter erörtert Husserl Mitteilungen über nicht gegenwärtige Dinge, Mitteilungen an abwesende Personen und von solchen durch zeitliche Distanz: «Das Ich und das Du ‹berühren› sich nicht. Sie reichen sich über eine Zeitstrecke die geistige Hand. Das vergangene Ich ist Subjekt eines mitteilenden Aktes, ist das gebende; das spätere, zukünftige Ich ist das empfangende. Aber zu der Sachlage gehört auch, dass das Ich, indem es jetzt will, damit eine Willensgesinnung, einen habituellen, bleibenden Willen stiftet und, im Allgemeinen wenigstens, bei seinem Willen ‹bleibt›. Und so wird es verstanden. Der Empfänger fasst z. B. den Geber als einen nicht präsenten, aber in der Gegenwart lebenden Menschen, der ihm damals diese Mitteilung zukommen lassen wollte und noch will, dass er sie empfängt; so, wenn keine Gegenmotive für eine Willens-, Gesinnungsänderung sprechen.»136
Auch einer verstorbenen Person, von der gewusst wird, dass sie tot ist, kann eine jetzt noch lebende Person in dieser Weise «über eine Zeitstrecke die geistige Hand reichen». Diese Mitteilung wird von beiden verstanden als Mitteilung einer einmal lebenden Person an eine später lebende Person.137 Husserls phänomenologische Analyse der Einfühlung in den anderen als anderes Ich und seine Analyse der Ich-Du-Beziehung zeigen die drei fundamentalen Dimensionen unserer zwischenmenschlichen Beziehungen. Erstens ist mein Mitmensch für mich eine andere Perspektive von einem anderen Gesichtspunkt (Standpunkt) aus auf unsere gemeinsame Welt, eine andere Erfahrung der gemeinsamen Welt, ein anderes Interesse für die Dinge und Geschehnisse der gemeinsamen Welt, wobei ich mir bewusst bin, dass ich auch für ihn eine andere Perspektive von einem anderen Gesichtspunkt aus usw. bin. Zweitens ist er für mich ein anderes Ich, sofern ich selbst betroffen bin von dem, was ihm geschieht, 135 136 137
A.a.O., S. 168. A.a.O., S. 168/169. Ebenda.
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sofern ich mit ihm fühle, wobei ich weiss, dass ich auch für ihn ein anderes Ich bin, sofern er betroffen ist von dem, was mir geschieht, sofern er mit mir fühlt. Drittens ist mein Mitmensch nicht nur ein anderes Ich, sondern er ist in der Beziehung «von Angesicht zu Angesicht» für mich Du, und durch diese Beziehung bin ich selbst zugleich durch ihn für mich sein Du in einer gemeinsamen Welt.
§ 17. Die Gemeinschaft in der Kommunikation durch Akte des Sprechens Während sich in Husserls ersten (1900/01) und zweiten (1913) Ausgabe seiner Logischen Untersuchungen nur ein kurzer Paragraph von zwei Seiten über «Die Ausdrücke in kommunikativer Funktion» findet138, schrieb er im März/April 1914 mit Bleistift zur Überarbeitung der sechsten Untersuchung dieses Werkes einen 19-seitigen Text über sprachliche Ausdrücke in kommunikativer Funktion.139 Diese zu Husserls Lebzeiten nie publizierte Überarbeitung wurde 2005 durch Ullrich Melle in Band XX/II der Husserliana publiziert.140 1924 hatte Husserls damaliger Assistent Ludwig Landgrebe diesen Text, den er mit der Schreibmaschine abgeschrieben hatte, durch die folgenden vier Paragraphentitel eingeteilt, welche seinen Inhalt charakterisieren und welche von Ullrich Melle in seine Edition übernommen wurden: l. «Übergang zur Betrachtung des Ausdrucks von Seiten des Verstehenden. Das Bewusstsein vom fremden Ich im Allgemeinen.» 2. «Verstehen als Akt der Vergegenwärtigung. Das Mitglauben im Vergegenwärtigungsbewusstsein.» 3. «Bedeutung als das Identische im gesprochenen und verstandenen «Ausdruck.» 4. «Möglichkeit der Abstraktion von der kommunikativen Funktion des Ausdrucks. Einteilung der Reden in mitteilende und nicht mitteilende.»141,142 In meiner folgenden Darstellung von Husserls Analyse der Kommunikation durch Sprechakte unterteile ich diesen Husserl’schen Text aus den Monaten März/April 1913 in etwas anderer Weise, als dies Landgrebe getan hat, und wähle etwas andere Titel.
Hua XIX/1, § 7, S. 39–41. Im Husserl-Archiv Löwen unter der Signatur A I 17 und A I 18. 140 Sie findet sich dort auf den Seiten 33–51. 141 Im Husserl-Archiv Löwen unter der Signatur M III 2 8a. 142 Die zweite Auflage der Logischen Untersuchungen (1913) erschien ohne die sechste Untersuchung. Husserl schrieb 1913 einen neuen Text dieser Untersuchung, war aber damit nicht zufrieden und publizierte ihn nicht. Er betraute Ludwig Landgrebe mit diesem und anderen, neueren Texten zur Logik, um sie für eine Publikation vorzubereiten. Als 1928 Husserl diese Vorbereitungen las, schrieb er als Einleitung dazu seine Formale und transzendentale Logik, die 1929 veröffentlicht wurde. Landgrebe veröffentlichte 1948 seine Vorbereitungen dieser Husserl’schen Texte unter dem Titel Erfahrung und Urteil. 138 139
§ 17. Die Gemeinschaft in der Kommunikation durch Sprechakte
a) Der Akt des Sprechens vom Gesichtspunkt der verstehenden Person. Des Hörenden Bewusstsein von einem anderen Ich Husserl betont, dass wir, um volle intuitive Klarheit über das Bewusstsein der hörenden oder lesenden Person gewinnen zu können, uns phantasierend in ein verstehendes Bewusstsein voll lebendig hineinversetzen müssen. «Die gehörte Rede erscheint nun nicht originär als unser Erzeugnis, sondern wird dem Redenden gegenüber ‹einverstanden› als das seine. Dieses Gegenüber sagt und meint mit seinen Worten etwas und erzeugt die einheitliche bedeutsame Rede mit der ‹Intention› [Absicht], sie und durch sie seine Meinung – als die seine – mitzuteilen.»143 Dieses Auffassen des denkenden und sprechenden Gegenübers habe, fährt Husserl fort, eine so nahe Verwandtschaft mit dem Wahrnehmen, dass wir uns in gewöhnlicher Redeweise nicht scheuen zu sagen, dass wir dieses Gegenüber wahrnehmen. Dies trifft auch auf jedes intuitive und originäre Auffassen einer anderen Person zu, die uns leiblich gegenübersteht. Doch «die ‹Wahrnehmung› ist hier eine phänomenologisch ganz anders beschaffene als die Wahrnehmung räumlicher, materieller Objekte. Wird aber der Begriff der Wahrnehmung so weit gefasst, dass er jedes ‹originär gebende› Bewusstsein unmittelbar anschaulicher Art bezeichnet, jedes [Bewusstsein], in dem die betreffende Gegenständlichkeit im Charakter des ‹unmittelbar›, im Original144 selbst da (‹leibhaft da› in einem erweiterten Sinne) bewusst ist, dann wird man hier in der Tat von Wahrnehmen sprechen müssen.»145 Husserl argumentiert hier gegen die zu seiner Zeit noch verbreitete Theorie von Benno Erdmann (1851–1921), dass die psychische Seite eines beseelten Wesens etwas von uns logisch Erschlossenes sei. Husserl wendet dagegen ein, dass ein logischer Schluss ebenso wenig bei unserer «Wahrnehmung» eines anderen Menschen als eines Bewusstseinssubjekts der Fall sei wie bei unserer Wahrnehmung der Rückseite eines Raumdinges. Doch zwischen diesen zwei wahrnehmenden Auffassungen bestehe ein wesentlicher Unterschied: Während die Rückseite eines Raumdinges, z. B. einer vor uns stehenden kleinen Statue, unmittelbar gesehen werden kann, indem ich die Statue umdrehe oder mich selbst in einer Weise bewege, dass ich die Rückseite dieser Statue unmittelbar sichtbar vor mir habe, kann das psychische Leben einer wahrgenommenen Person nicht unmittelbar sichtbar gemacht werden. Ich kann eine wahrgenommene Person nicht wie ein geschlossenes Buch «aufklappen» und ihre psychische «Innenseite» unmittelbar sehen.146 «Wir haben also […] unter dem Titel originärer Gegebenheit (im Original ‹da›) ein Doppeltes, das originäre Da im ersten und eigentlichen Sinn, 143 144 145 146
Hua XX/II, S. 33. Zu Husserls mehrdeutigem Begriff der Originalität siehe oben in Kapitel 1, § 2. Hua XX/II, S. 33/34. A.a.O., S. 34.
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und das [originäre Da] im zweiten, bloss appreh[endierten] [dazu aufgefassten] Sinn, der nur im Zusammenhang mit der eigentlichen Selbsterfassung auftreten kann.»147 Zu den Phänomenen der Kommunikation zurückkehrend, erörtert Husserl nach der Situation eines Sprechers und eines oder mehrerer Adressaten auch die Situation, in welcher noch andere Personen anwesend sind, zu denen der Sprecher nicht spricht, die ihn aber hören und verstehen und von ihm gesehen oder nicht gesehen werden. Das Analoge kann bei einer schriftlichen Kommunikation vorliegen, z. B. bei einem Brief, der nicht nur vom Adressaten, sondern auch von andren Personen gelesen wird. «Das ergibt entsprechende Abwandlungen der konstitutiven Bewusstseinsverhältnisse aufseiten der Adressanten, der Adressaten und der Mitverstehenden.»148 Die Schwierigkeiten bei der Klärung dieser Bewusstseinsverhältnisse in der Kommunikation sind noch grösser als bei der Klärung des Bewusstseinsverhältnisse in der Kommunikation zwischen dem Adressanten und dem Adressaten, wo ein unendlicher Regress aufzutreten scheint. b) Die Gefahr eines unendlichen Regresses in der phänomenologischen Analyse der Kommunikation zwischen dem Sprecher und dem Adressaten Husserl exponiert das folgende Problem: 1. Als ein Sprecher stelle ich mir meinen anwesenden Adressaten als denjenigen vor, der jetzt versteht, dass ich jetzt zu ihm spreche (Vorstellung). 2. Damit stelle ich mir meinen Adressaten auch als denjenigen vor, der sich jetzt vorstellt, dass ich ihn mir als denjenigen vorstelle, der jetzt versteht, dass ich jetzt zu ihm spreche (eigene Vorstellung einer fremden Vorstellung einer eigenen Vorstellung). 3. Damit stelle ich mir meinen Adressaten auch als denjenigen vor, der sich jetzt vorstellt, dass ich ihn mir jetzt als denjenigen vorstelle, der sich mich jetzt als denjenigen vorstellt, der versteht, dass ich jetzt zu ihm spreche (eigene Vorstellung einer fremden Vorstellung einer eigenen Vorstellung einer fremden Vorstellung). Und so in infinitum. «Es scheint also, dass der Sprecher und sein Adressat sich nicht nur wechselseitig vorstellen, sondern unendlich vielfältig vorstellen müssen.»149 Ich vermute, dass diese Gefahr eines unendlichen Regresses der Gefahr eines unendlichen Regresses im folgenden Fall ähnelt: Ich spreche zum Hörer; ich bin mir bewusst, dass ich zu ihm spreche; ich bin mir bewusst, dass ich mir bewusst bin, dass ich zu ihm spreche, und so in infinitum. Dieser Gefahr ist durch folgende Klärung zu entgehen: Ich spreche zum Hörer, und wenn ich aufmerksam zu 147 148 149
A.a.O., S. 35. A.a.O., S. 36. A.a.O., S. 36.
§ 17. Die Gemeinschaft in der Kommunikation durch Sprechakte
ihm spreche, bin ich eo ipso, d. h. im aufmerksamen Sprechen zu ihm, mir bewusst, dass ich zu ihm spreche, und auch eo ipso dessen bewusst, was und worüber ich zu ihm spreche (was ich ihm mitteile). Das ist ein in sich abgeschlossener Sachverhalt, weiter brauche ich in der Beschreibung nicht zu gehen. Ich bin mir bewusst, dass ich mit ihm spreche, aber es entspricht keinem phänomenologischen Sachverhalt, wenn ich noch hinzufüge, dass ich mir bewusst bin, dass ich mir bewusst bin, dass ich mit ihm spreche. Dies würde zu einem unendlichen Regress führen. Wenn ich will, kann ich auf mein Sprechen zu ihm reflektieren z. B. im phänomenologischen Reflektieren. Dieses Reflektieren ist aber ein neuer Akt des Denkens, der etwas ganz anderes ist als mein unmittelbares Bewusstsein von meinem Sprechen, das ich beim aufmerksamen Sprechen mit dem Hörenden habe. Denn dieses unmittelbare Bewusstsein meines Sprechens ist kein eigener intentionaler Akt, sondern ein notwendiger unselbstständiger Bestandteil des mit ihm Sprechens, wie unmittelbares Bewusstsein ein notwendiger unselbstständiger Bestandteil jedes aufmerksamen intentionalen Aktes ist. Das Reflektieren hat mein Sprechen zu meinem Adressaten zu seinem Gegenstand; dieses Sprechen ist das Worüber und das Was meines Reflektierens. Wenn ich aufmerksam über mein Sprechen mit meinem Adressaten reflektiere, bin ich mir auch eo ipso unmittelbar bewusst, dass ich auf dieses Sprechen reflektiere. Dieses Reflektieren stört, behindert, konkurriert, unterbricht mein Sprechen mit meinem Adressaten, da man bekanntlich nicht gut zwei Sachen gleichzeitig aufmerksam tun kann. Auf dieses Reflektieren kann ich wiederum reflektieren, aber nur wenn ich will. Es besteht also keine Gefahr eines unendlichen Regresses. Und ich kann auch gar nicht in diesem Reflektieren auf das Reflektieren ins Unendliche weitergehen. So etwas ist nicht nur sinnlos, sondern eine totale Reflexion des Geistes ist auch nicht möglich: Es bleibt immer ein Reflektieren, das nicht reflektiert ist. Doch die scheinbare Gefahr eines unendlichen Regresses, die Husserl darin sieht, dass ich als Sprecher mir meinen anwesenden Adressaten als denjenigen vorstelle, der versteht, dass ich zu ihm spreche, ist doch auch sehr verschieden von derjenigen, die im Sachverhalt liegt, dass ich mir unmittelbar bewusst bin, dass ich zu einem Adressaten spreche, wenn ich aufmerksam zu ihm spreche. Denn die scheinbare Gefahr eines unendlichen Regresses ist in diesem Fall durch die Unterscheidung zwischen dem unmittelbarem Bewusstsein eines aufmerksamen Aktes und der Reflexion auf diesen Akt aufzulösen, während die scheinbare Gefahr eines solchen Regresses in der Vorstellung des Sprechers von seinem verstehenden Adressaten durch die Unterscheidung zwischen implizierten Leerintentionen und ihren Erfüllungen, bzw. den entsprechenden erfüllten Intentionen, aufzulösen ist. Die Ähnlichkeit zwischen den beiden Problemen besteht in der proportionalen Analogie zwischen dem Verhältnis von unmittelbarem Bewusstsein eines aufmerksamen Aktes und der eventuell nachfolgenden Reflexion auf diesen Akt einerseits und dem Verhältnis zwischen intentional implizierter
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Leerintention und der eventuell nachfolgenden intuitiven Erfüllung dieser Intention andererseits. Husserl fügt seinem oben zuletzt zitierten Satz hinzu: «Erst die später folgenden Untersuchungen der mittelbaren und leeren Intentionen bzw. Erfüllungen geben alle nötigen Mittel an die Hand, um die für die Lösung derartiger Schwierigkeiten entscheidenden Unterschiede zwischen eigentlichen und intentionalen Implikationen verstehen zu können.»150 Die Lösung des von Husserl genannten Problems besteht also in der Analyse der ganzen Komplexität von erfüllten Intentionen und intentional implizierten Leerintentionen innerhalb des Sprechens zu einem anwesenden Adressaten, der mir als jemand bewusst ist, der versteht, was ich sage. Eine elementare Lösung des jetzigen Problems hat Husserl in einem kurzen, einseitigen Text festgehalten, den er wahrscheinlich in unmittelbarem Zusammenhang mit dem jetzt erörterten Text über sprachliche Ausdrücke in kommunikativer Funktion geschrieben hat. Der Herausgeber, Ullrich Melle, vermutet, dass er aus derselben Zeit stammt wie dieser, nämlich aus den Monaten März/ April 1914.151 Diese Auflösung der Gefahr eines unendlichen Regresses liegt nach diesem kurzen Text darin, dass der Sprechende natürlich seinen Adressaten nicht so vorstellt, dass er ihm das zu Sagende im Voraus anschaulich (intuitiv erfüllt) einlegt, sondern er fasst ihn mit einer Leerintention auf Verstehen auf, die er sich dadurch zur Einlösung bringen kann, aber nicht muss, dass er ihn als sein Gesprochenes wirklich verstehend (durch Hineinversetzen in seine Situation) sich wirklich vorstellt. Der verstehende Adressat aber hört das Wortzeichen und versteht es mit der zugehörigen Meinung, fasst aber zugleich den Sprechenden als zu ihm sprechend in einer Leerintention auf, die ihre Erfüllung gewinnt, wenn der Hörende sich hineinversetzt in den Redner, indem er dessen Bewusstseinssituation dabei eventuell klar (intuitiv erfüllt) nacherzeugt (obschon in der Weise der analogisierenden Vergegenwärtigung). Die ideale Möglichkeit eines unendlichen Regresses der zu erzeugenden Vorstellungen ist nicht ein aktueller (simultaner) Regressus. Der Sprecher kann, nachdem er gesprochen hat, in einem zweiten Schritt dazu übergehen, sich klar vorzustellen, wie des Adressaten Bewusstsein des Verstehens aussehen würde und wie der Adressat auch den Sprechenden als Sprechenden auffassen würde und wie er ihn sich durch Erfüllung seiner Intentionen klarmacht «und speziell seine Rede sich wieder klarmachen würde und mit dem Inhalt der Rede auch den Angeredeten [Adressaten] usw.».152 Ich vermute, dass Husserl den soeben frei wiedergegebenen Beilage-Text durch den oben zitierten Satz «Für die Lösung dieser und aller ähnlichen Probleme sind wir nicht vorbereitet genug [….]» ersetzt hat, weil er durch spätere ge150 151 152
A.a.O., S. 37. Es handelt sich um die Beilage IV zu Hua XX/II, S. 75/76. Hua XX/II, S. 76.
§ 17. Die Gemeinschaft in der Kommunikation durch Sprechakte
nauere Untersuchungen über intentional implizierte Leerintentionen und ihre Erfüllungen der Lösung dieses Regress-Problems ein breiteres und genaueres Fundament geben wollte. c) Der Unterschied zwischen dem Glauben des Adressaten an das (vergegenwärtigte) Urteil (Sachverhalt) des Sprechenden und dem Glauben des Adressaten an den (vergegenwärtigten) Urteilsakt des Sprechenden. Der Parallelismus hinsichtlich der zwei Glaubenssetzungen zwischen der einverstehenden Vergegenwärtigung der Mitteilung eines Sprechenden und der erinnernden Vergegenwärtigung eines eigenen vergangenen Wahrnehmens oder begrifflichen Urteilens In dem im vorigen Abschnitt b) dieses § 17 zitierten grösseren Text fährt Husserl fort, dass der Adressat das Urteil oder die Überzeugung des Sprechers bezüglich des mitgeteilten Sachverhalts übernehmen, dieses Urteil oder diese Überzeugung (Glauben) aber auch nicht übernehmen, nicht mitvollziehen kann, aber doch den mitgeteilten Sachverhalt, d. h. die Aussage in ihrem Sinn, erfasst. Im Falle der Nichtübernahme mag es sein, dass der verstehende Adressat «ungläubig zuhört, dass er sich bedenklich oder zweifelnd verhält, dass er, wo der Sprecher seiner Sache [d. h. des Sachverhaltes seiner Aussage] sicher ist […], bloss vermutet oder dass er jedwede Stellungnahme unterlässt, während er doch immer [den Sachverhalt] versteht.»153 Das bedeutet, dass er dem Sprecher das aktuelle Urteilen mit dem darin geurteilten Was einversteht, zugleich aber zu diesem Was eine andere oder gar keine Stellung nimmt. Sowohl im Falle der Übernahme (des Mitvollziehens) des Urteils oder der Überzeugung des Sprechers (der verstehende Adressat glaubt, was der Aussagende glaubt) als auch im gegensätzlichen Falle (der verstehende Adressat glaubt nicht, was der Aussagende glaubt) «wandert der zur Mitteilung gebrachte Akt nicht in den Hörenden über», sondern wird vom Hörenden dem Aussagenden «einverstanden». Dieses Einverstehen ist ein vergegenwärtigender Akt.154 Bei dieser einverstehenden Vergegenwärtigung sind zwei Arten von Glauben oder Setzungen zu unterscheiden: Einerseits der bereits erwähnte Glaube (Seinssetzung), wenn der Verstehende das Urteil oder die Überzeugung des Sprechers bezüglich des mitgeteilten Sachverhalts übernimmt, andererseits der Glaube (die Seinssetzung), dass der Sprecher in seiner Aussage ein solches Urteil wirklich fällt. Der erste Glaube gehört zum Urteil selbst als Glaube an den mitgeteilten Sachverhalt;
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Hua XX/II, S. 37. A.a.O., S. 37/38.
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der zweite Glaube gehört zur Vergegenwärtigung als solcher.155 Auch in der erinnernden Vergegenwärtigung eines eigenen Wahrnehmens oder Urteilens ist zwischen diesen zwei verschiedenen Seinssetzungen zu unterscheiden.156 d) Der Unterschied zwischen dem Glauben des Adressaten in seinem vergegenwärtigenden Verstehen der Mitteilung des Sprechenden und dem Glauben in einem vergegenwärtigenden Erinnern an das eigene vergangene Wahrnehmen und Urteilen. Die identische Bedeutung des gesprochenen und des verstandenen Urteils als Einheit der Idee des Urteils und des Glaubens an diese Idee Während ich in meinem Erinnern an eine vergangene Wahrnehmung oder an ein vergangenes Urteil meinen vergangenen Glauben (meine vergangene Seinssetzung) des erinnerten Wahrnehmens oder meinen vergangenen Glauben (meine vergangene Seinssetzung) meines erinnerten Urteilens ohne Weiteres übernehme, wenn keine Motive dagegen sprechen, kann ich im vergegenwärtigenden Einverstehen des Urteils des Sprechers «die Idee des Urteils», die «Satzidee» verstehen, ohne, wie wir oben sahen, seinen vergegenwärtigten Glauben (seine vergegenwärtigte Seinssetzung) mir zu eigen zu machen. Wenn ich diesen einverstandenen Glauben übernehme, habe ich ihm zuzustimmen. Die Einheit dieser Idee des Urteils und dieses Glaubens an sie nennt Husserl die Bedeutung des gesprochenen und verstandenen Urteils.157
§ 18. Der Glaube an die Wirklichkeit eigener Erfahrungen und der Glaube an die Wahrheit eigener Gedanken sind unsicher, wenn man dafür nicht die Zustimmung oder mindestens das Gehör und das Interesse anderer Personen findet In diesem Kapitel äussere ich einen Gedanken, den ich bei Husserl nicht gefunden habe, der mir aber für die Intersubjektivität des Menschen sehr wichtig erscheint. Auf diesen Gedanken kam ich durch das Buch von Pim van Lommel über Nahtoderfahrungen (2007, deutsch 2009), das ich im Frühjahr 2017 las. Es handelt sich um Berichte über Erfahrungen von Menschen, die gehirntot waren (der Gehirntod ist noch heute das medizinische Kriterium für den Tod eines 155 156 157
A.a.O., S. 39 A.a.O., S. 39/40. A.a.O., S. 41–44.
§ 18. Der Glaube an die Wirklichkeit eigener Erfahrungen
Menschen), aber einige Minuten nach diesem «Tod» wieder zu sich kamen und in dieser kurzen Zeit einen grossen Reichtum von Erfahrungen gemacht hatten. Pim van Lommel schreibt: «Den meisten Menschen gelingt es nicht, über ihre Nahtoderfahrungen zu sprechen. Man hört ihnen nicht vorurteilsfrei zu, und wenn sie doch den Versuch wagen, werden sie nicht verstanden und sogar ignoriert und lächerlich gemacht. Aus Sutherlands Studie158 geht Folgendes hervor: Beim Versuch, über ihre Nahtoderfahrungen zu sprechen, reagierten 50 % der Angehörigen und 25 % der Freunde mit Ablehnung. 30 Prozent der Pflegekräfte, 85 % der Ärzte und 50 % der Psychiater reagierten ebenfalls negativ.»159
Wenn den Menschen mit Nahtoderfahrungen das Gespräch darüber verweigert wird oder wenn bei ihrem Versuch, darüber zu sprechen, diese Erfahrungen als Träume oder Halluzinationen abgetan werden, wagen sie nicht mehr, darüber zu sprechen. Pim van Lommel zitiert einen von ihnen, der sagte: «Ich wusste nichts über Nahtoderfahrungen. Ich dachte, dass ich der einzige sei, und hatte das Gefühl, die anderen würden denken, ich sei nicht ganz bei Trost.»160 Weiter schreibt van Lommel: «Einige beginnen auch, an ihrer eigenen geistigen Gesundheit zu zweifeln, und haben die Befürchtung, dass die Nahtoderfahrung ein Ausdruck psychischer Labilität sein könnte.»161 Ich selbst hatte noch nie eine Nahtoderfahrung, aber betrachte sie als eine wahre Erfahrung. Aber etwas ist mir durch die oben zitierten Ausführungen von Pim van Lommel deutlich bewusst geworden: Wenn ich einen philosophischen Vortrag oder einen Aufsatz geschrieben habe, zeige ich ihn immer, bevor ich ihn vor einem grösseren Publikum halte bzw. ihn veröffentliche, einigen verständigen Freunden oder Bekannten, um mit ihnen darüber zu diskutieren. Wenn diese wohlwollenden und verständigen Leser nach ihrer Lektüre mir sagen würden, dass sie das von mir Geschriebene als uninteressant, langweilig oder als nicht wahr betrachten, und in der Diskussion auch meine Gründe für meine im Text geäusserten Positionen als unhaltbar ansähen, würde ich selbst an meinen Ausführungen zweifeln und mich nie getrauen, sie vor ein allgemeines Publikum zu bringen. So sehr bin ich also in meinen philosophischen Ansichten auf intersubjektive Zustimmung angewiesen. Es genügt aber, wenn einige verständige Freunde mich in meinen Überzeugungen unterstützen. Die Zustimmung von allen Lesern wird niemand erhalten, obschon man sich natürlich die Zustimmung von möglichst vielen wünscht. Denn einerseits kann man sich selbst ja in manchem Ch. Sutherland, Transformed by the Light. Life after Near-Death Experiences, Bentam Books, London 1992. 159 Pim van Lommel, Endloses Bewusstsein. Neue medizinische Fakten zur Nahtoderfahrung, Patmos, München 2013, S. 103/104. 160 A.a.O., S. 105. 161 A.a.O., S. 106. 158
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auch irren, und andererseits wird es immer Menschen geben, die in ihren geistigen Augen einen blinden Fleck für dasjenige haben, das einem als völlig einsichtig erscheint, in einer von der meinen verschiedenen Gesellschaft und Lebenswelt aufgewachsen sind und das einem Einsichtige als fremd wahrnehmen oder es auch gar nicht sehen wollen, weil sie dadurch ihre ganze philosophische Konzeption, die sie mit anderen derselben «Schule» teilen, infrage stellen müssten. Auch diese Erfahrung habe ich gemacht. Was eigene besondere spirituelle Erfahrungen betrifft, so habe ich solche nur in bescheidenem Masse in der Zen-Meditation gemacht. Auch hier weiss ich, wie wichtig es für einen selbst ist, diese mit einem Zen-Meister oder auch mit anderen Menschen, die solche Praktiken üben, zu besprechen, um darauf vertrauen zu können, dass man hier auf dem richtigen Weg und nicht auf Abwegen ist. Bei Erfahrungen, an die man sich zu erinnern glaubt, besteht die allgemeine Unsicherheit der eigenen Erinnerungen und der Nutzen von Mitmenschen, mit denen man diese Erfahrungen teilte. Wenn ich mit jemandem über Erfahrungen spreche, die wir gemeinsam gemacht haben, z. B. über Erfahrungen auf einer gemeinsam unternommenen Reise, und mein Gegenüber sagt, dass er sich an so etwas überhaupt nicht erinnern kann, dann beginne ich an meinen eigenen Erinnerungen zu zweifeln: Habe ich diese Erfahrungen gar nicht zusammen mit diesem Reisepartner, sondern auf einer anderen Reise mit einem anderen Reisepartner gemacht? Oder habe ich diese Erfahrungen gar nicht selbst gemacht, sondern hat mir ein anderer von solchen erzählt? Oder habe ich in einem Buch von solchen Erfahrungen gelesen? Meistens ist das, woran man sich zu erinnern glaubt, nicht völlig falsch, aber man vermischt und verwechselt verschiedene früher gemachte Erfahrungen. Und wenn man sich genug Zeit nimmt, um sich in seine Erinnerungen an die eigene Vergangenheit zu versenken, klärt sich vieles von solchen Vermischungen und Verwechslungen plötzlich auf, indem das erlebte Vergangene wieder anschaulich vor Augen tritt. Das kann natürlich auch der Fall sein, wenn man sich zur Zeit dieser Erfahrungen Tagebuchnotizen darüber machte und diese nun wieder liest. Es kann allerdings bei einer Lektüre von Tagebuchnotizen geschehen, dass man über eigene Erfahrungen liest, an die man sich gar nicht mehr erinnern, d. h. nicht mehr anschaulich erinnern kann. Wenn sich aber die Erinnerungen des Reisepartners mit den meinigen decken, dann bin ich mir ihrer Wahrheit sicher. All das, was ich soeben über Erinnerungen an eigene Erfahrungen geschrieben habe, habe ich schon selbst erfahren, und an diesen jetzt erinnerten Erfahrungen kann ich nicht zweifeln. Ich denke aber auch, dass die meisten Menschen schon dieselben Erfahrungen gemacht haben. Könnte ich an ihnen zweifeln, wenn dies nicht der Fall wäre?
§ 20. Die Gemeinschaft des praktischen Willens
§ 19. Während sich die Einfühlung primär im Visuellen abspielt, findet die Kommunikation und überhaupt der soziale Verkehr primär im Auditiven statt Wenn wir Menschen vor die Wahl gestellt würden, entweder blind oder taub werden zu müssen, würden die meisten von uns wohl das Augenlicht höher werten. Sehen scheint uns im Leben wichtiger zu sein als das Hören. Wir Menschen sind sehr stark Augentiere. Wir orientieren uns in der Welt vor allem durch die Augen, während zum Beispiel Fledermäuse dies vor allem durch ihr Gehör tun. Es ist denn auch nicht erstaunlich, dass Husserls phänomenologische Analyse der Einfühlung (siehe das 2. Kapitel unserer Darstellung) sich in erster Linie im Visuellen abspielt. In ihr spielen die Wahrnehmung des fremden Leibkörpers und die vergegenwärtigende Versetzung auf den Gesichtspunkt des anderen die zentrale Rolle. Doch wissen wir, dass blinde Menschen im Allgemeinen glücklicher sind als taube. Taube fühlen sich von der sozialen Kommunikation ausgeschlossen. Sie werden nicht selten misstrauisch, denn wenn sie mit anderen Menschen zusammen sind, wissen sie nicht, ob vielleicht über sie selbst gesprochen wird, und wenn die anderen lachen, fragen sie sich, ob man etwa über sie selbst lacht. So spricht Husserl denn in seiner Analyse der sozialen Akte (siehe 3. Kapitel unserer Darstellung) vor allem von der Kommunikation zwischen dem Sprechenden und Hörenden. Es gibt zwar eine sichtbare Gesten- und Zeichensprache für Taubstumme, diese wird aber im Allgemeinen nur von Taubstummen und ihren Angehörigen gelernt und verstanden. Wie wichtig ist es in den sozialen Beziehungen, auf die anderen zu hören; von ihnen zu hören, wie sie sich fühlen, was sie wünschen, was sie wollen, wie sie die Dinge sehen. Wie wichtig ist für die Kinder, auf ihre Eltern zu hören, ihnen zu gehorchen. Das chinesische Wort für «Hören» und für «Gehorchen» ist dasselbe Wort, nämlich ting 聽.
§ 20. Die Gemeinschaft des praktischen Willens Husserl schreibt im bereits oben zitierten Text «Gemeingeist I» von 1921, dass bereits in der Gemeinschaft der Kommunikation eine gewisse Willensgemeinschaft liege. Aber im strengen Sinne einer praktischen Willensgemeinschaft willigt das Du nicht nur ein, von mir eine Information zur Kenntnis zu nehmen, sondern willigt in eine weitere Tätigkeit ein, z. B. etwas Praktisches in der umgebenden physischen oder geistigen Welt zu tun. Die Information wird zu einem Mittel, um den Adressaten zu einer weiteren Tätigkeit zu bewegen.162 In diesem Kontext spricht Husserl auch vom Zwingen des Adressaten etwas zu tun, und vom sich Fügen des Adressaten in diesen Willen: Mein mitgeteilter Wille kann 162
Hua XIV, S. 169.
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für ihn «Motiv eines bleibenden allgemeinen Willens sein, ein für allemal zu tun, was ich will, wie ich wollen kann, dass er sich fügt, sofern ich Zwangsmittel zu besitzen vermeine. Dann erwächst das Verhältnis zwischen Herrn und Diener als ein bleibendes soziales Verhältnis.»163 Eine andere Willensgemeinschaft entsteht aus der Bitte an den Adressaten, etwas zu tun, und aus dessen Einverständnis, dies zu tun. Die an ihn gerichtete Bitte ist vom Wunsch und der Hoffnung getragen, dass die Kenntnisnahme dieser Bitte den Adressaten bewegt, ihr zu entsprechen. Diese Willensgemeinschaft ist ein vorübergehendes Verhältnis. Solche Willensgemeinschaften können nicht nur zwischen Personen bestehen, die miteinander in zeitlicher und räumlicher Berührung sind, sondern auch als «Fernbestimmungen». Dabei kann die Mitteilung (der zwingende Befehl bzw. die Bitte) in der Berührung der Subjekte stattfinden, wie bei einem auf die Zukunft gehenden jetzigen Befehl oder einer auf die Zukunft gehenden jetzigen Bitte, oder die Mitteilung kann selbst eine Fernmitteilung sein.164 Eine weitere Art von Willensgemeinschaft ist eine solche, die auf einem wechselseitigen Einverständnis und in einer wechselseitigen Vereinbarung endet. Husserl nennt folgende Möglichkeiten solcher Vereinbarungen: «Ich erfülle deinen Wunsch, wenn du meinen erfüllst. […] Ferner: wir wünschen beide, dass etwas geschehe, wir entschliessen uns ‹gemeinsam›, ich tue davon den einen Teil, du den anderen. Subjekt 1 und Subjekt 2 wollen dasselbe Gewollte, aber nicht jedes für sich, sondern Subjekt 1 will das Gewollte als von Subjekt 2 ebenfalls gewolltes, der Wille des Subjektes 2 gehört mit zum Gewollten des Subjektes 1 und umgekehrt. Dass Subjekt 1 den Teil 1 und das Subjekt 2 den Teil 2 realisiert, das liegt wiederum im Willen beider beschlossen, und ist für beide [in ihrem gemeinsamen Willen] beschlossen als ‹Mittel› (im weiteren Sinn) [zur Realisierung] oder als zur Realisierung gehörig, vorher aber zur Absicht.»165
In einem im November 1932, also neun Jahre später als der zuvor zitierte entstandenen Text, aber auch als Vorbereitung zu jenem «grossen systematischen Werk» (siehe oben die Einleitung), spricht Husserl über «das Negativum» in einer positiven Willensgemeinschaft: Ein Mensch stört und hindert mich in einem geistigen Sinn: «Ich überrede ihn, ich einige mich mit ihm, dass er mir Freiheit gibt, dass er nachgibt. Hier ‹einige› ich mich mit ihm, aber ich vereine mich nicht mit ihm zu gemeinsamen Zwecktätigkeiten in der Einheit eines gemeinsamen Zweckes. Evtl. liegt die Einigung darin, dass ich seinen Zweck fördere und er dafür den meinen […] In gewisser Weise nimmt er dann an meinem Zweck teil, und ich an seinem – aber nur soweit es nötig ist, um nicht
163 164 165
Ebenda. Hua XIV, S. 170. Ebenda.
§ 21. Geschlechtliche Liebe als Gemeinschaft des Genusses
gestört zu werden. Will er nicht, so gebrauche ich evtl. Gewalt, ich zwinge ihn. Ich lege seinem Tun Hemmungen auf, die er nicht überwinden kann, aber innerhalb der personalen Gemeinschaft, des bewusstseinsmässig füreinander Seins. Es ist ein willentliches gegeneinander Gerichtetsein in der aktuellen und habituellen ‹Deckung› [der Willensakte und Willensausrichtungen].»166
§ 21. Geschlechtliche Liebe als Gemeinschaft des Genusses Husserl schreibt im Text aus dem Jahre 1921, den wir an erster Stelle im vorangehenden § 20 zitiert haben, dass «beide Teile geniessend nicht nur jeder für sich des Genusses innesein [können], sondern sie können als miteinander und durcheinander Geniessende und geniessende Betätigung Erstrebende füreinander dasein; in eins den Genuss in diesem Durch-einander erstrebend können sie eine Einheit geniessender Gemeinschaft herstellen. Der Andere und seine Einwilligung, mindestens Fügsamkeit, ist nicht nur ein Mittel des Genusses […], sondern dass der Andere an einer Betätigung beteiligt ist, dass eine Willenseinheit beide [Partner] umspannt und eine Einheit beiderseitigen Tuns herbeiführt und beide in eins Lust geniessen, das ist selbst Gegenstand des Genusses, für jeden also [ist Gegenstand des Genusses], dass der andere [zusammen mit mir] geniesst.»167 Oder in anderen Worten Husserls: Gegenstand des Genusses der wahren geschlechtlichen Liebesbeziehung ist die gegenseitige intentionale Implikation des Geniessens des Anderen im eigenen Geniessen. Husserl erörtert auch das Negativum, das negative Gegenstück der von ihm oben charakterisierten geschlechtlichen Liebe, d. h. das Verhalten geschlechtlicher Rücksichtslosigkeit: «Es kann aber auch sein, dass auf die fremde Subjektivität keine Rücksicht genommen wird, dass der Genuss gegen ihren Willen erzwungen, ihr damit Leid aufgezwungen, ja, dass sie vernichtet wird. Dann fällt die höhere Freuden- und Wertschicht nicht nur weg, sondern es tritt an ihre Stelle ein Negativum, von dem zu fragen ist, ob es nicht einen Wertwiderstreit herbeiführt, der nicht nur den Wert mindert, sondern ihn aufhebt.»168
Damit sagt Husserl, dass, wenn in der geschlechtlichen Betätigung die Subjektivität des anderen ausser Acht gelassen («vernichtet») und dessen Leibkörper als blosses Mittel für das Erlangen des eigenen Genusses gebraucht (missbraucht) wird, damit die wahre geschlechtliche Liebe negiert wird. Dabei stellt er die FraHua XV, Beilage XXX, «Beschäftigung mit Sachen, Beschäftigung mit Menschen (als wie mit Sachen und als Menschen). Konnex – Hemmung, Zwang, Willenseinstimmigkeit, Streit», S. 509. 167 Hua XIV, S. 177. 168 A.a.O., S. 177.
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ge, ob diese «Vernichtung» der anderen Subjektivität nicht für den sich geschlechtlich so Betätigenden einen Wertwiderstreit herbeiführt, der auch den Wert des eigenen geschlechtlichen Genusses vernichtet («aufhebt»). Ich vermute, dass Husserl mit dieser Frage überlegt, ob ein Mensch als Subjekt, der sich mit einem anderen Subjekt durch eine unmenschliche geschlechtliche Betätigung in eine vernichtende intersubjektive Beziehung gesetzt hat, nicht auch seine eigene Subjektivität als intersubjektive «vernichtet» und damit auch den so herbeigeführten Genuss für sich selbst als menschliches intersubjektives Subjekt wertlos macht. Neben dem oben wiedergegebenen «Negativum» erwägt Husserl noch weitere fünf Möglichkeiten, in denen der «Einheit geniessender Gemeinschaft» der geschlechtlichen Liebe mehr oder weniger Abbruch getan wird: Erstens: Zwang, zu Willen zu sein, und Erzwingung des Genusses des andern bei Gegenwillen des anderen, ohne dass dabei der andere einwilligt und seinen Willen unterwirft. Zweitens: «Es kann sein, dass auf der gezwungenen Seite zwar kein Wunsch bestand, aber in der Unterwerfung Lust erwächst und Wunsch geweckt wird und danach Befriedigung entsteht. [Drittens:] Es kann sein, dass [beim anderen] keine Lust stattfindet, sondern Leid, das in Kauf genommen wird zur Vermeidung grösseren Leids. [Viertens:] Es kann sein, dass Leid ertragen (hingenommen) wird, aber nicht ‹in Kauf genommen›, [fünftens: Es kann sein,] dass das Leid nicht einmal ertragen, sondern ihm unter ständigem Aufbäumen widerstrebt wird. Erdulden [Ertragen] ist zwar auch ein Widerstreben, aber doch zugleich enthält es eine Hinnahme im Gemüt, die im ungebrochenen und unnachgiebigen Aufbäumen fehlt.»169
§ 22. Zwei Bemerkungen über Husserls elementare phänomenologische Analyse der sexuellen Liebe als Genussgemeinschaft Ich erlaube mir, an dieser Stelle zwei Bemerkungen anzufügen. Erstens: Wenn ich den oben dargestellten Text Husserls über die geschlechtliche Genussgemeinschaft lese, bin ich nicht verwundert über Husserls genaue Unterscheidungen, denn an solche ist jeder Leser von dessen Texten gewohnt, aber sehr darüber, dass dieser deutsche Professor, dieser trockene Mathematiker, Logiker und transzendentale Phänomenologe zu seiner Zeit, die noch sehr von Viktorianischer Prüderie geprägt war, über so alltägliche private und intime Dinge schreibt, über die man nicht redet. Ich kenne nur einen anderen philosophischen Autor, der so offen darüber schreibt: in der Zeit der späten Renaissance den Franzosen Michel de Montaigne (1533–1592) in seinen Essais. In einer Audienz von Dezember 169
Ebenda.
§ 22. Zu Husserls elementarer Analyse der sexuellen Liebe
1580 übergab er diese Texte Papst Gregor XIII, und ein Jahr später wurden sie vom päpstlichen «Heiligen Officium» anerkannt. Montaigne war es sehr um diese Anerkennung zu tun. Offenbar waren in dieser Zeit in Italien und Frankreich solche Publikationen nichts Anstössiges. Doch, um genau zu sein, Husserl hat selbst diese Texte nie publiziert, sondern nur für sich selbst geschrieben. Aber immerhin schrieb er sie als Vorbereitung für eine Publikation. Zweitens: Seit den Jahren zwischen 1917 und 1921 schrieb Husserl über die Notwendigkeit einer genetischen Analyse der Konstitution alles Bewussten durch unser Bewusstsein. Er schrieb, dass diese Genesis durch reflexive Aufklärung der Motivationsbeziehungen zwischen den verschiedenen konstitutiven Schichten zu enthüllen sind, die in unserem Bewusstsein sedimentiert sind. Doch hat er nie einen Text über die Genesis einer geschlechtlichen Liebesgemeinschaft geschrieben. Dies scheint mir eine reflexive Analyse unseres Bewusstseins auch nicht leisten zu können. Denn wir können reflexiv die Geschichte der bewusstseinsmässigen Konstitution unserer Überzeugungen, unserer Zielsetzungen, unserer Gewohnheiten, auch unserer Gewohnheiten in der geschlechtlichen Liebesgemeinschaft enthüllen, all das, was unseren personalen Charakter ausmacht, aber nicht die «Archäologie» dessen in uns, was mindestens teilweise der Entstehung der Menschen aus unseren vormenschlichen Vorfahren vor Tausenden von Generationen zu verdanken ist. Doch auch diese Geschichte kann nach Husserl Gegenstand der phänomenologischen Philosophie sein, allerdings nicht der eidetischen (apriorischen) und rein reflexiven «Ersten Philosophie», sondern der «Zweiten Philosophie», welche aufgrund der Resultate der «Ersten Philosophie» die positiven, empirischen Fakten der vorwissenschaftlichen und wissenschaftlichen Erkenntnis interpretiert. Husserl schrieb auf einem Blatt, das er seinem Vorlesungsmanuskript «Erste Philosophie» von 1923/24 beifügte: «In der phänomenologischen Interpretation der positiven Tatsachenwissenschaften erwachsen die letztwissenschaftlichen Tatsachenwissenschaften, die in sich selbst philosophischen, die neben sich keine anzuhängenden Sonderphilosophien mehr dulden. Durch die ihnen in Anwendung der eidetischen Phänomenologie zuwachsende letzte Interpretation des in ihnen als Faktum erforschten objektiven Seins und durch die in dieser Phänomenologie mitgeforderte universale Betrachtung aller Regionen der Objektivität in Bezug auf die universale Gemeinschaft transzendentaler Subjekte gewinnt das Weltall, das universale Thema der objektiven Wissenschaften ‹metaphysische› Interpretation, was nichts anderes heisst als eine Interpretation, hinter der eine andere zu suchen keinen wissenschaftlichen Sinn gibt.»170
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Hua VII, S. 188, Fussnote.
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Genauso wie für Leibniz ist für Husserl die vorwissenschaftliche und wissenschaftliche Erfahrung der Welt eine Grundlage seiner phänomenologischen Philosophie.
§ 23. Die Erfüllung des sexuellen Triebes als Vereinigung meiner primordinalen Sphäre mit derjenigen des Sexualpartners In einem sehr späten, im September 1933 geschrieben Text betrachtet Husserl die geschlechtliche Liebe nicht unter dem Aspekt des gemeinsamen Genusses, sondern unter einem philosophisch weit grundlegenderen Aspekt als Vereinigung von zwei primordinalen Sphären und bringt sie in den Kontext einer monadologischen Metaphysik.171 Zuerst unterscheidet er in diesem Text, in dem er auch von den analogen Verhältnissen beim Trieb des Hungers spricht, zwischen einerseits einem unbestimmten Trieb, der noch kein Worauf hat, auf das er gerichtet ist, mit anderen Worten, der noch keine Leerintention auf einen bestimmten Gegenstand hat (beim Hungertrieb noch keine Leerintention auf Speise, beim Geschlechtstrieb noch keine Intention auf einen anderen), und andererseits einem Trieb, der eine solche bestimmte Ausrichtung hat. «Der bestimmte Geschlechtshunger hat seine Erfüllungsgestalt im Modus der Kopulation. Im [bestimmten] Trieb selbst liegt die Bezogenheit auf den Anderen als Anderen und auf seinen korrelativen Trieb. Der eine und andere Trieb [Hunger und Geschlechtshunger] kann den Modus – Abwandlungsmodus – der Enthaltung [oder] des Widerwillens haben. Im Urmodus ist er eben ‹hemmungslos› unmodalisierter Trieb, der beiderseits in den Anderen hineinreicht und dessen Triebintentionalität durch die korrelative [Triebintentionalität] im Anderen hindurchreicht. In der schlichten, urmodalen Erfüllung haben wir nicht zwei zu trennende Erfüllungen, je in der einen und in der anderen Primordinalität, sondern eine sich durch das Ineinander der Erfüllungen herstellende.»172
Mit der «Einheit der beiden Primordinalitäten» kann Husserl hier nicht meinen, dass die Primordinalsphären der beiden Subjekte zu einer Primordinalsphäre werden, und zwar im Sinne des dritten Begriffes der Primordinalität, den wir oben im § 1 des ersten Kapitels unter Punkt 3 als den Begriff der Eigenheitssphäre unterschieden, mit dem Husserl den Begriff der Monade bestimmt. Denn dies würde bedeuten, dass zwei Monaden zeitweise zu einer Monade verschmelzen würden. Dies ist ebenso wenig der Fall wie in demjenigen, in dem Husserl bei der personalen Liebe vom «Leben im Anderen spricht» (siehe den nächsten Paragra171 Hua XV, Text Nr. 34, «Universale Teleologie. Der intersubjektive, alle und jede Subjekte umspannende Trieb transzendental gesehen. Sein der monadischen Totalität». 172 A.a.O., S. 593/594.
§ 24. Nichtgeschlechtliche personale Liebe und Liebesgemeinschaft
phen 24). Was Husserl hier mit der «Einheit der beiden Primordinalitäten» meint ist vielmehr, dass die Primordinalität auch ein «Triebsystem» ist, das in die «Triebe» der Primordinalität eines anderen hineinstrebt und in diesem Streben ein transzendentes (die eigene Primordinalität transzendierendes) Ziel hat. Dieser Gedanke wird eine Rolle in Husserls Idee einer universalen Teleologie der Monaden spielen (siehe unten im 5. Kapitel den Paragraphen 39: «Absolute Monadologie als aus Ausweitung der transzendentalen Egologie. Absolute Weltinterpretation»).
§ 24. Nichtgeschlechtliche personale Liebe und Liebesgemeinschaft. Das «Leben im anderen» Nach Husserl ist für einen Menschen die nichtgeschlechtliche personale Liebe nicht rein «geistig», sondern eine verkörperte Liebe. Im Manuskript «Gemeingeist I» von 1921 schreibt er: «Personale Liebe [ist] eine dauernde Gesinnung, ein dauernder praktischer Habitus». Die «realisierende Betätigung» dieses dauernden praktischen Habitus ist: «1) Ein aktives Gefallen an der personalen Individualität des Geliebten, an ihrem ganzen Gehaben in ihrem aktiven und passiven Verhalten zu ihrer Umwelt, am Ausdruck ihrer Individualität im Leibe, an der durchgeistigten Leiblichkeit überhaupt. 2) Ein Streben nicht nur nach möglichst reicher Betätigung dieser Freude, sondern nach personaler ‹Berührung› mit ihr [der personalen Individualität des Geliebten] und nach Gemeinschaft im Leben und Streben, in der ihr Leben in mein Leben aufgenommen ist, sofern mein Streben, mein Wollen sich in dem ihren und in dessen realisierendem Tun selbst realisiert, wie das ihre in den meinen. […] Komme ich mit einem Anderen in eine Gemeinschaft des Strebens, so lebe ich als Ich in ihm und er in mir. Aber es kommt dann für die Art und Innigkeit der Gemeinschaft an auf den Umfang der Ineinander-Geborgenheit von Ich und Du, auf den Umfang eben der Gemeinschaft des Strebens und des weiteren auf verschiedene andere Punkte.»173
Husserl fährt fort, dass idealerweise zu einer Liebesgemeinschaft nicht nur Gemeinschaft in einzelnen Strebensrichtungen gehört, sondern für alle möglichen Strebensrichtungen der beiden sich Liebenden: «Die Liebenden verabreden sich nicht bloss zu irgendeiner besonderen gemeinschaftlichen Unternehmung, was natürlich unter anderem auch vorkommen mag. […] Sondern darin, dass sie sich zu einer Liebesgemeinschaft verbunden haben liegt, dass in universaler Weise alles Streben des einen in das Streben des anderen eingeht, bzw. ein für alle Mal eingegangen ist, und umgekehrt.»174 173 174
Hua XIV, S. 172. A.a.O., S. 173.
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Dies bedeute, dass, sobald der eine sich des Strebens des anderen bewusst geworden ist, er explizit dieses Streben in das eigene aufzunehmen versucht und, evtl. mit der Einwilligung des anderen, sich am Verwirklichen dieses Strebens hilfreich beteiligt. Wenn es aber dem anderen lieber ist, allein mit der Sache fertig zu werden, dann ist diese Sache doch nicht nur des anderen Sache, sondern auch die Sache des ihn Liebenden. In dieser Sache «realisiert sich auch der Wunsch und der Wille des Liebenden, nicht um seinetwillen, seinet[willen] als ein isoliertes Ich, sondern um des Anderen willen, weil dieser [geliebte] Andere als Subjekt seines Lebens und Strebens ganz in den Umfang der Strebensintentionen des Liebenden aufgenommen ist».175 Auch wenn der geliebte andere abwesend ist und der ihn Liebende weitgehend nicht weiss, was er tut, lebt er doch in dem, was er tut. Wenn er anwesend wäre, würde er mit Freude an seiner Tätigkeit teilnehmen. «Wir können sagen: Liebende leben nicht nebeneinander und miteinander, sondern ineinander, aktuell und potentiell. Sie tragen also auch gemeinsam alle Verantwortungen, sie sind solidarisch miteinander verbunden, auch in Sünde und Schuld.»176 Ich zitiere ergänzend und vorausgreifend hier auch aus einem um Jahre späteren Text, der unten im § 40 besprochen werden wird: «Die Werte der Person […] entspringen ganz anderen Quellen [als die hedonistischen Werte, die Werte des Genusses]. [Sie entspringen] den Quellen der Liebe im prägnanten Wortsinn. In diesem Wortsinn ist Liebesgenuss ein Widersinn […] Die Liebe – liebend sich im Anderen verlieren, im Anderen leben, sich mit dem anderen einigen (aber nicht wie im Verhältnis von Herrn und Diener oder Sklave), ist ganz und gar nicht hedonistisch, obwohl sie Freuden, ‹hohe› Freuden begründet. […] Alle aus personaler Liebe entsprungenen Werte […] haben die Eigenschaft, dass sie selbst […] in der Erfahrung dieser Werte, in der wertenden Freude […] liebender Hingabe bedürfen. Diese Hingabe erteilt umgekehrt rückstrahlend jeder Person, die sie ausübt, z. B. die Hingabe an Werke der hohen Kunst, einen Zuwachs personalen Wertes. – In aller Liebe liegt Verehrung, in aller Verehrung [Glück]seligkeit als wesensmässige Mitgabe.»177 «Aber es fragt sich, ob diese Liebe nicht ein Grenzfall ist und den Begriff der Liebe in jedem guten Sinn ausmacht. Diese beschriebene Liebe ist vielleicht eine sündige Liebe oder schliesst alle sündige Liebe mit ein. Wir denken hier natürlich an die unendliche Liebe Christi zu allen Menschen und an die allgemeine Menschenliebe, die der Christ in sich wecken muss und ohne die er kein wahrer Christ sein kann. Vom Ethischen war in unserer Beschreibung der Liebe [so wie sie in diesem § 24 zur Darstellung kam] keine Rede.»178
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Ebenda. A.a.O., S. 173/174. Hua XV, S. 406. A.a.O., S. 174.
§ 25. Die ethische Liebe der Freundschaft
Husserls Überlegungen nehmen hier eine unerwartete Wende. Was könnte denn sündig oder ethisch schlecht sein in seiner in diesem Paragraphen 24 zur Darstellung gekommenen personalen Liebesgemeinschaft? Sein Hinweis auf die «allgemeine Menschenliebe» könnte an einen «Egoismus zu zweit» denken lassen, in dem zwei Liebende nur einander, aber niemanden ausserhalb ihrer Liebesgemeinschaft wirklich lieben. Aber wenn zwei Menschen fähig sind, sich gegenseitig in «idealer Weise» zu lieben, was Husserl beschreiben will, dann erscheint es mir als unmöglich, dass ihre Liebe egoistisch im obigen Sinn sein kann. Denn keiner von beiden kann an einem Egoisten Gefallen finden, ihn lieben und an seinen egoistischen Handlungen teilnehmen. Das wäre nur für einen Liebenden möglich, der ethisch blind ist für die Fehler des anderen, indem er ihn im höchsten Masse idealisiert. Das ist der Fall für zwei Menschen, die geschlechtlich ineinander verliebt sind, was oben im § 21 («Geschlechtliche Liebe als Gemeinschaft des Genusses») zur Sprache kam, oder im Fall, in dem der Liebende am egoistischen Handeln des Geliebten teilnimmt, ohne zu sehen, dass der andere egoistisch handelt. Aber das ist keine «ideale Weise» zu lieben. Die «ideale Weise» zu lieben umschliesst für uns nicht «ideale», d. h. nicht vollkommene Menschen, die gegenseitige Kritik in liebender, d. h. in einer es mit dem anderen gut meinenden Haltung. Es ist das Privileg von einander wirklich Liebenden und damit sich gegenseitig auch Kennenden, dass sie sich auch gegenseitig kritisieren dürfen und sollen. Leute, die sich gegenseitig nicht persönlich lieben, kritisieren einander nicht. Feinde lieben es, das zu tun, aber ihre Kritik ist oft falsch und ungerecht. So können zwei ethisch unvollkommene Menschen, die wir alle sind, die nach einer idealen, vollkommenen personalen Liebesgemeinschaft streben, von der ethischen Dimension nicht absehen. Aristoteles sagte in seiner Nikomachischen Ethik, dass in der höchsten der drei von ihm unterschiedenen Formen der Freundschaft (Liebesgemeinschaft) die beiden freundschaftlich Verbundenen vor allem die ethische Güte ihres Freundes lieben und ihm helfen, ethisch besser zu werden.
§ 25. Die ethische Liebe der Freundschaft. Christliche Liebe und Liebesgemeinschaft Nach den im voranstehenden § 24 dargestellten Überlegungen führt Husserl die ethische Dimension in folgender Weise ein: «Die liebenden Eltern züchtigen ihre Kinder und nicht alles Leben und Streben des Kindes nehmen sie in der oben beschriebenen Weise in ihr eigenes Leben und Streben auf. Der Freund ist betrübt, wenn sein Freund von seinem ‹wahren Selbst› abfällt. Der Christ, der Feindesliebe übt, liebt nicht das Böse im Feind […]. In jeder menschlichen Seele liegt – das ist der [christliche] Glaube – ein Beruf, ein Keim zum Guten, der selbsttätig zu entfalten ist. In jeder Seele liegt beschlossen ein ideales Ich, das ‹wahre› Ich der Person,
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das sich im [ethisch] guten Handeln verwirklicht. Jeder ethisch erwachte Mensch setzt willentlich in sich selbst sein ideales Ich als ‹unendliche Aufgabe›.»179
Entsprechend der ethischen Wachheit der einen oder der anderen oder beider Personen in einer Liebesgemeinschaft unterscheidet Husserl dann verschiedene ethische Arten der Liebesgemeinschaft. Ich kenne keine anderen Texte Husserls, in denen er die Idee vorlegt, dass in jeder menschlichen Seele ein Beruf zum Guten, ein Keim zum Guten, ein ideales, wahres Ich liegt, das im Handeln als Aufgabe zu verwirklichen vom Freund zu fördern ist. Er scheint dies nicht nur als liberaler lutheranischer Christ, der er war, geglaubt, sondern auch als eine phänomenologisch aufzuweisende Wirklichkeit angenommen zu haben. In der jüdisch-christlichen Tradition findet diese Idee ihren Ausdruck in der Lehre, dass der Mensch ein Ebenbild Gottes sei. Aber wir finden entsprechende Ideen auch in anderen Kulturen, z. B. in der Lehre von der «Buddhanatur» des Menschen, in Mengzis (372–289 v. Chr.) Lehre von den Keimen zum Guten in der menschlichen Natur oder in der hinduistischen Lehre, dass in uns Menschen Gottheiten sich heranbilden können. Ich denke, dass diese Idee eine phänomenologische Grundlage im menschlichen Bewusstsein einer eigenen grundlegenden Tendenz zum ethisch Guten und in einer entsprechenden Ablehnung der eigenen zugestandenen oder nicht zugestandenen Schlechtigkeit hat. Nach dem oben in diesem § 25 von ihm Zitierten fährt Husserl fort, dass die christliche Nächstenliebe noch keine Liebesgemeinschaft sei; «aber diese Liebe ist notwendig mit dem Streben verbunden (das notwendig von dieser Liebe motiviert ist), in möglichst grossem Umfang zur Liebesgemeinschaft zu werden. Es ist das Streben, zu den Menschen ‹in Beziehung› zu treten, sich ihnen zu öffnen und sie für sich zu erschliessen etc., alles nach praktischer Möglichkeit, deren Grenzen ethisch und damit selbst durch ethische Liebe gesteckt sind.»180 Husserls eigene, persönliche Ethik war eine Ethik der Liebe, die sehr verschieden von seiner der Öffentlichkeit vorgelegten Ethik ist, wie sie in seinen Vorlesungen «Ethik und Werttheorie (1908–1914)»181 und in seinem Artikel in japanischer Sprache «Erneuerung als individualethisches Problem» (japanische Zeitschrift The Kaizo, 1924, Heft 2, S. 2–31)182 zum Ausdruck kommt. Elemente von Husserls persönlicher Ethik der Liebe sind auch in einem Manuskript «Teleologie» aus dem November 1931183 enthalten sowie in Manuskripten, die im Abschnitt IV «Ethische Überlegungen aus den Freiburger Jahren» von Husserlia-
179 180 181 182 183
Hua XIV, S. 174. A.a.O., S. 175. Veröffentlicht 1988 in Hua XXVIII. Neu veröffentlicht in Hua XXVII, S. 20–42. Veröffentlicht in Hua XV, Beilage XXIII.
§ 26. Einfühlung und Mitleid
na XLII, Grenzprobleme der Phänomenologie, veröffentlicht wurden.184 Diese Ethik der Liebe hat ihre Wurzel im christlichen Neuen Testament, das Husserl immer auf seinem Arbeitstisch liegen hatte.
§ 26. Einfühlung und Mitleid (Mitgefühl) Husserl schreibt in seinen Ethik-Vorlesungen von 1920 im Kontext einer Kritik an Humes Theorie des Mitgefühls, der Sympathie: «Mitleiden, das heisst nicht, an demselben leiden wie ein anderer [leidet], sondern [das heisst] ihn bemitleiden, daran leiden, dass er leidet und weil er leidet.»185 Doch unmittelbar nach diesem Satz fährt Husserl fort, wie wenn er das soeben Gesagte näher erklären wollte: «Unser Leid ist nur mittelbar [indirekt] auf dasselbe Objekt gerichtet wie das des Anderen. Wenn ich den Anderen um den Tod seines Vaters bemitleide, so leide ich direkt nicht am Tod seines Vaters, sondern daran, dass er seinen Vater verloren hat.»186 Husserl sagt nun nicht mehr, dass wir im Mitleid daran leiden, dass der andere leidet und weil er leidet, sondern dass wir daran leiden, dass eine gewisse Situation für den anderen leidvoll ist. Natürlich können wir auch «daran leiden, dass der Andere leidet und weil er leidet»; aber das ist nicht dasselbe, wie wenn wir daran leiden, «dass er seinen Vater verloren hat». Dieses Mitgefühl ist komplexer als jenes, es setzt voraus, was Husserl «oblique, in der Vergegenwärtigung reflektierende Einfühlung» nennt im Gegensatz zur «geraden, schlicht vergegenwärtigenden Einfühlung» (siehe oben im 2. Kapitel, § 12). Die oblique oder reflektierende Einfühlung ist nicht notwendigerweise Mitfühlen, denn sie könnte auch zu einer Enttäuschung darüber führen, dass der andere unfähig ist, seine notwendige, aber zeitlich zu einem Abschluss kommen müssende Periode der Trauer nicht hinter sich zu lassen vermag. Wenn wir daran leiden, dass eine gewisse Situation für den anderen leidvoll ist, trauern wir mit ihm und für ihn. Wir reflektieren darauf, wie die Situation für ihn ist. Der Tod seines Vaters ist nicht direkt für uns traurig (vielleicht haben wir seinen Vater gar nicht gekannt), sein Tod ist für uns selbst kein Verlust. Aber wir sind betroffen durch diesen Tod, wie er für den anderen ist. Und dieses Mitleid oder Mitgefühl ist auch kein blosses Gefühl, sondern es enthält die Tendenz, für den anderen etwas zu tun, nämlich ihn zu trösten, ihm auszudrücken, dass wir zusammen mit ihm trauern, die Tendenz, ihm in einer für ihn (nicht für uns) hilfreichen Weise beizustehen.187 Siehe dort die Beilagen XXIV, XXII, Nr. 25 und Beilage XXXIII. Hua XXXVII, S. 194. 186 Ebenda. 187 Ich habe dasselbe Problem diskutiert in meinem Beitrag «Mengzi (Mencius), Adam Smith and Husserl on Sympathy and Compassion», in Intersubjectivity and Objectivity in Adam 184 185
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Die Fähigkeit, mit anderen mitzufühlen oder mit ihnen Mitleid zu haben, scheint der fundamentalste Charakterzug des Menschen zu sein, d. h. das, was den Menschen am ursprünglichsten zum Menschen macht. Im Oktober 2013 las ich in der deutschen Wochenzeitschrift Der Spiegel, dass eine Gruppe von israelischen, amerikanischen und schweizerischen Paläontologen um David Lordkipanidze in Dmanisi (Georgien) den «Schädel 4» ausgrub und im Zusammenhang mit anderen menschlichen Skelettüberresten schloss, dass alle frühesten Menschen zu einer einzigen Spezies gehörten, was sehr diskutiert war (Frage der Monogenese oder Polygenese des Menschen). Im selben Ausgrabungsfeld im südlichen Kaukasus wurde von dieser Forschergruppe auch «Schädel 5» eines weisshaarigen alten Mannes ausgegraben, dessen zahnlose Kieferknochen zeigten, dass er noch viele Jahre nach dem Verlust seiner Zähne weitergelebt hatte. Allein auf sich gestellt hätte dieser alte zahnlose Mann nicht überleben können. Menschen seiner Sippe müssen die Nahrung für ihn vorgekaut oder mit Steinen zerrieben haben. Sie müssen wahrscheinlich erkannt und gefühlt haben, dass seine Situation für ihn tödlich und angstvoll ist, wenn sie ihm nicht helfen. Die genannten Paläontologen schlossen daraus, dass in dieser ältesten Menschengruppe im südlichen Kaukasus eine spezifisch menschliche Leistung existierte: Mitgefühl oder Mitleid. Diese Leistung vermisste Jane Goodall mit grosser Enttäuschung bei ihren so sehr geliebten Schimpansen, deren genetisches Erbe zu 93 Prozent identisch mit demjenigen der Spezies Mensch ist.188
§ 27. Einige von Husserl nicht analysierte sozial relevante Gefühle, Handlungen und Haltungen a) Hass Oft werden Liebe und Hass als Gegensätze zusammen genannt. Der Grieche Empedokles (ungefähr 495–435 v. Chr.) schrieb: «Im Hass ist alles verschieden geformt und voneinander getrennt; in der Liebe kommt alles zusammen und sehnt sich zueinander.» «Ἐν δε Κότω διάμορφα ἄνδιχα πάντα πέλονται, Σὺν δ’ ἔβη ἐν Φιλότητι καὶ ἀλλήλοισι ποθεῖται.» (En de Koto diamorpha kai andicha panta pelontai. Sun d’ebe en Philoteti kai alleloisi potheitai.)
Smith and Edmund Husserl, herausgegeben durch Christel Fricke und Dagfinn Føllesdal, Ontos Verlag, Frankfurt, Paris, Lancaster, New Brunswick 2012, S. 139–170. 188 Jane van Lawick-Goodall, In the Shadow of Man, William Collins Sons, London 1971.
§ 27. Weitere sozial relevante Gefühle, Handlungen und Haltungen
Goethe schrieb als Teil seiner «Harzreise im Winter» folgende Verse, die Johannes Brahms in seiner Rhapsodie für Alt, Männerchor und Orchester, op. 53, vertonte. «Aber abseits wer ist’s? Im Gebüsch verliert sich der Pfad. Hinter ihm schlagen Die Sträuche zusammen Das Gebüsch steht auf, Die Öde verschlingt ihn. Ach, wer heilt die Schmerzen Des, dem Balsam zu Gift ward, Der sich Menschenhass Aus der Fülle der Liebe trank? Erst verachtet, nun ein Verächter, Zehrt er heimlich auf Seinen eignen Wert In ungenügender Selbstsucht. Ist auf Deinem Psalter, Vater der Liebe, ein Ton seinem Ohre vernehmlich, So erquicke sein Herz! Öffne den umwölkten Blick Über die tausend Quellen Neben dem Dürstenden in der Wüste!»
Der Text von Empedokles hat eine kosmologische Bedeutung. Doch er betrachtete den Hass und die Liebe zwischen den Menschen als so wichtige Kräfte, dass er sie zu universalen Kräften des Kosmos verallgemeinerte. Bei uns Menschen ist es so, dass nichts so sehr trennt wie der Hass und nichts so sehr vereint und nacheinander sehnen lässt wie die Liebe. Die Verse Goethes und die entsprechende Musik Brahms’ bringen die innere Beziehung zwischen Liebe und Hass zum Ausdruck. Hass ist eine selbstzerstörerische und zerstörerische Perversion der Liebe. Goethe und Brahms hatten beide eine persönliche Erfahrung damit.189 Dieses Gedicht mit dieser Musik zeigt die 189 Die Erfahrung von Brahms ist bekannt. Als er 36 Jahre alt war, verliebte er sich in Julie, die dritte Tochter der Musiker Robert und Clara Schumann. Doch er war zu schüchtern, um seine Liebe auszudrücken, sodass Julie, Robert und Clara Schumann nichts davon wussten. Als Johannes Brahms von der Verlobung Julies mit einem italienischen Adligen hörte, war er zutiefst betroffen. Clara Schumann schrieb in ihr Tagebuch: «Johannes ist wie umgewandelt jetzt, kommt selten und ist einsilbig, auch gegen Julie, gegen die er vorher immer so liebenswürdig war. Hat er sie wirklich geliebt?» Die Antwort auf diese Frage war sein Brautgeschenk, das er
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Perversion der Liebe zu Hass und enthält als Schluss das Gebet zu Gott, dem «Vater der Liebe», durch sein göttliches Musikspiel den Mann zu retten, «dem Balsam zu Gift ward, der sich Menschenhass aus der Fülle der Liebe trank», und «seinen umwölkten Blick über die tausend Quellen neben ihm, dem Durstenden, in der Wüste zu öffnen», d. h. ihn erkennen und spüren zu lassen, dass das Leben noch viele andere Quellen des Überlebens bietet. Doch ist Hass nicht nur das Gegenstück der Liebe, sondern kann allgemein gegen jemanden entstehen, der uns daran hindert, das zu erlangen, von dem wir in berechtigter oder unberechtigter Weise glauben, dass es uns zusteht oder uns gebührt, oder er kann auch gegen jemanden entstehen, der uns etwas wegnehmen will oder wegnimmt, von dem wir in berechtigter oder unberechtigter Weise glauben, dass es uns gehört; in der Folge sind wir von jenem Menschen enttäuscht und werden gegen ihn wütend. Aus Wut kann Hass und aus Hass kann Rache und Zerstörung derjenigen entstehen, die uns an der Erreichung dessen hindern, was wir als etwas uns Zustehendes betrachten und zu erlangen begehren, oder die uns etwas wegnehmen wollen oder wegnehmen, von dem wir in berechtigter oder unberechtigter Weise glauben, dass es uns gehört. Dies ist besonders der Fall, wenn wir zu Unrecht glauben, dass es uns zusteht oder uns gehört. Denn dieser ungerechte Glaube macht blind, wie der Hass blind macht. Das wahre Wissen, dass es uns zusteht oder uns gehört, kann uns einerseits den «umwölkten (verblendeten) Blick» auf andere «Quellen» des Lebens öffnen, sodass wir uns nicht der Selbstzerstörung des Hasses ausliefern; andererseits kann es uns auch bewusst werden lassen, welche Folgen der Hass hat, und bewirken, dass wir uns nicht auf diesen nicht nur für uns, sondern auch für die anderen zerstörerischen Weg begeben, sondern ohne Hass nur das zu unternehmen versuchen, was uns gegen die Schädigungen oder Wegnahmen dessen schützt, was uns wirklich zusteht oder uns gerechterweise gehört. Die eigene geistige und moralische Selbstzerstörung durch den Hass ist für uns weit schlechter als das, was uns Hassende zufügen können. Das ist nicht nur wahr für die Beziehungen zwischen Individuen, sondern auch für diejenigen zwischen Ethnien, Staaten oder anderen Gruppen von Menschen. Nach einer allgemein verbreiteten buddhistischen Lehre gibt es drei Ursachen («drei Gifte»; sanskrit: trivisa; chinesisch: san du 三毒) des menschlichen Leidens: Verblendung (sanskrit: moha; chinesisch: wu ming 無明oder mi 迷), Begierde (sanskrit: raga; chinesisch: yu 欲) und Zorn-Hass (sanskrit: krodha; chinesisch: nu 怒und hen 恨). Es ist sicher wahr, dass hauptsächlich diese drei unser menschliches Leben vergiften.
Julie kurz nach ihrer Hochzeit überreichte: seine ausserordentlich bewegende Rhapsodie für Alt, Männerchor und Orchester, op. 53.
§ 27. Weitere sozial relevante Gefühle, Handlungen und Haltungen
b) Psychopathische Grausamkeit Es gibt in allen Ländern, besonders in solchen, in denen Waffen für jeden Bürger leicht erhältlich sind, Fälle grenzenloser Grausamkeit, in denen psychopathische, egozentrische Personen in sogenannten Amokläufen ohne Mitgefühl eine grosse Zahl von Menschen umbringen und schwer verletzen; wenn sie vor Gericht stehen, zeigen sie angesichts ihrer grausamen Taten nicht die geringste Reue. Solche Personen scheinen kein Gewissen zu haben. Wir mögen uns daran erinnern, was im Jahre 2009 mit dem 17-jährigen Gymnasiasten Tim Kretschmer (geboren 1992) geschah, der an zwei verschiedenen Orten Deutschlands 15 unschuldige Personen tötete und 13 schwer verletzte. Um weitere Tötungen zu verhindern, wurde er danach von der herbeigerufenen Polizei sofort erschossen. Oder wir mögen uns daran erinnern, was im Jahre 2011 mit dem 32-jährigen früheren Absolventen einer Handelsschule in Oslo, Anders Breivik (geboren 1979), in Norwegen geschah, der in jenem Jahr 76 unschuldige Personen erschoss und im Jahre 2012 vor Gericht verurteilt wurde. Auch er zeigte keinerlei Reue. Ein altes und sehr berühmtes Beispiel der Abwesenheit von Mitgefühl ist wahrscheinlich auch Donatien Alphonse François Marquis de Sade (1740– 1814), der sich «homme de lettre» («gebildeter Mensch») nannte und in seinem Roman Justine ou les malheurs de la vertue («Das Unglück der Tugend») psychopathische Personen beschrieb, die wir heute nach ihm «Sadisten» nennen und die in ihren sexuellen Grausamkeiten kein Mitleid zeigen. Der Sadismus hat sein Gegenstück im Masochismus passiver Personen, welche in ihren sexuellen Beziehungen eine grausame Behandlung geniessen. Eine Phänomenologie dieser sexuellen Intersubjektivität wäre eine interessante, aber sehr schwierige Aufgabe. Sie setzt Potenzialitäten zum Sadismus und Masochismus in allen, auch in den «normal» genannten Menschen voraus. Ich vermute, dass solche Potenzialitäten in allen Menschen bestehen. Aber dieses mitleidlose sexuelle Handeln scheint mir anderer Art zu sein als jenes der oben erwähnten Amokläufer. Die Mutter der vom sehr jungen Amokläufer Tim Kretschmer 2009 ermordeten Nina (geboren 1985), Gisela Mayer (geboren 1959), die Philosophie an der Universität von München studierte und Ethiklehrerin an einem Gymnasium wurde, beschrieb in einem durch das Radio am 20. November 2016 ausgestrahlten Interview den Charakter von Amokläufern wie Tim Kretschmer und Anders Breivik. Sie sprach auch in einer therapeutischen Absicht mit verschiedenen jungen Menschen, die aufgrund ihres Verhaltens als gefährdet betrachtet wurden, Amokläufer zu werden. Gisela Mayer sagte in diesem Interview, dass Amokläufer sich selbst als Opfer sehen, als nicht anerkannt und bewundert in ihren Fähigkeiten und als gemobbt. In Wirklichkeit aber wurden sie gar nicht gemobbt. Alles sehen sie als Demütigung an. Wenn ihre Lehrer ihre Fehler in Mathematik oder in anderen
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Disziplinen korrigieren, betrachten sie dies als Beleidigungen. Sie sammeln absichtlich solche «Beleidigungen». Durch ihre schrecklichen Taten wollen sie allen beweisen, dass sie zu etwas fähig, nicht ohne Kräfte und Fähigkeiten sind. Sie sind von Hass, Begierde nach Ruhm und Macht getrieben. Sie sind Narzisten. Alle sind Kinder der Mittelklasse, sodass sie als Kinder und Jugendliche keine Erfahrung vom Kampf ums Überleben machen konnten; und sie konnten ihre Macht nicht dadurch demonstrieren, dass sie auf den materiellen Reichtum ihrer Eltern hinweisen, indem sie mit teuren Autos herumfahren, teure extravagante Kleider tragen und die Ferien irgendwo in der weiten Welt verbringen. Als Leute der Mittelklasse können sie sich mit nichts Ausserordentlichem hervortun. 2012 las ich in der deutschen Wochenzeitschrift Der Spiegel (Nr. 48, 2012) folgende Nachricht: Mark Dadds von der University of New South Wales in Sydney fand heraus, dass diese schreckliche psychische Krankheit ihren Ursprung in der Tatsache haben könnte, dass diese Menschen in ihrer frühesten Kindheit keine Möglichkeit fanden, mit anderen Menschen Augenkontakt zu haben. Seit den Untersuchungen von René A. Spitz (1887–1974) in seinem Werk The First Year of Life (1965) wissen wir, dass nach dem Schreien und dem Suchen nach einer Zitze, um zu saugen, Neugeborene nach einem angeborenen Schema so etwas wie ein Augenpaar suchen. Am Anfang geben sie sich schon mit einer künstlichen schematischen Gestalt eines Augenpaares zufrieden. Doch in seiner frühesten Entwicklung sucht das Kleinkind allmählich nach einem wirklichen Augenpaar in einem lebendigen Menschengesicht. Wenn diese Möglichkeit ihm in dieser frühesten Zeit nicht mit Liebe gegeben wird, dann wird es nie für andere Menschen das Gefühl der Liebe haben. Für mich ist dieser Sachverhalt der einzige annehmbare Sinn der christlichen Lehre von der Erbsünde. Doch ich glaube nicht, dass sie wirklich die menschliche Freiheit vollständig zerstört und einem solchen Menschen verunmöglicht, den Weg des Guten zu gehen, d. h. ihn zu einer solchen Grausamkeit verdammt, wie es das gefühllose Töten ist. Tim Kretschmer verübte seine schreckliche Tat mit 17 Jahren, Anders Breivik erst mit 32; andere Personen mit derselben psychischen Krankheit werden wahrscheinlich nie eine solche Tat verüben. Die Unfähigkeit für das Gefühl der Liebe und gewisse üble Gefühle und Tendenzen, wie die von Gisela Mayer genannten, haben nicht notwendigerweise die entsprechenden Ausführungen im Handeln zur Folge. Nach dem Stadium, in dem Kleinkinder nach Augenkontakt suchen, schauen Kinder aufmerksam auf Personen, die sich ihnen zuwendend zu ihnen im Augenkontakt sprechen, obschon sie nichts von dem verstehen, was durch den begrifflichen Ausdruck gesagt wird. Sie verstehen aber dabei, wie etwas gesagt wird, und lächeln oft freundlich. Wahrscheinlich werden Kleinkinder, die in dieser frühen Zeit nie jemanden gehört haben, der zu ihnen von Angesicht zu Angesicht mit freundlicher Stimme lächelnd gesprochen hat, später auch nicht fähig sein, im Augenkontakt freundlich lächelnd mit anderen zu sprechen.
§ 27. Weitere sozial relevante Gefühle, Handlungen und Haltungen
Gisela Mayer und Mark Dadds bieten verschiedene Erklärungen dafür, wie es zu solchen Taten wie dem Amoklaufen kommen kann. Im Wesentlichen sind sie nicht widersprüchlich. Gisela Mayer beschreibt das Charakterprofil von für solche Taten Gefährdeten; Mark Dadds weist auf den psychologischen Ursprung einer solchen Gefährdung hin. Nur in einem Punkt scheinen mir diese zwei Erklärungen schwierig vereinbar. Es ist nicht einzusehen, warum nur Menschen aus der Mittelklasse in ihrer frühesten Kindheit nicht die Möglichkeit eines Augenkontaktes gehabt haben sollten. Oder man muss annehmen, dass das Fehlen eines frühkindlichen Augenkontaktes in einer Familie der Mittelklasse und nicht in einer anderen vorgekommen sein muss, damit dies ausreicht, um die Psychologie eines Amokläufers zu erklären. Die Erklärung von Mark Dadds kann uns ins Bewusstsein rufen, wie wichtig in unserem menschlichen Leben der mit einer lieben Stimme und einem lieben Lächeln verbundene Augenkontakt ist, der Liebe zum Ausdruck bringt und Liebe weckt. Dies ist Balsam für unser Herz, gibt Lebensfreude. Ich erinnere mich, dass man uns als kleine Pfadfinder lehrte, die erwachsenen Menschen freundlich zu grüssen, und dabei folgende wahre Geschichte erzählte. Der ehemalige Bundesfeldmeister des Schweizerischen Pfadfinderbundes, Walther von Bonstetten (1867–1949), sei in einem depressiven Zustand über die Kirchenfeldbrücke in Bern gegangen. Da habe ein ihm entgegenkommender kleiner Bub ihm lächelnd zugegrüsst. Dieser kleine liebevolle menschliche Kontakt habe Walther von Bonstetten die Kraft gegeben, weiterzuleben, ihm das Bewusstsein gegeben, dass sich das Leben lohnt. Ohne diese leiblich-geistige Beziehung in der frühen Kindheit, aber noch durchs ganze Leben hindurch – das können wir den Forschungen von Gisela Mayer und Mark Dadds über jene Psychopathen entnehmen – würden wir psychologisch in einer Welt ohne warmes Mitgefühl und ohne das Licht der Liebe leben und leicht in eine vom Streben nach Macht, Ansehen, Geld und von Hass dominierte Welt geraten. Unser Leben würde dunkel und kalt. Dies lässt mich an die byzantinischen, russischen oder an andere Ikonen christlicher Kulturen denken, in denen Jesus oder seine Mutter Maria oder ein anderer Heiliger oder eine andere Heilige voller Liebe oder liebender Trauer in die Augen des Betrachters und durch diese hindurch in seine tiefste Seele blickt und in ihm Zuversicht und Freude oder, wenn er etwas Schlechtes getan hat, Scham hervorruft. Ich habe einen Russen gekannt, der mir sagte, dass er nicht wage, seine Ikone der Mutter Maria anzublicken, wenn er etwas Übles getan habe. Wenn man sich vor einigen dieser Ikonen nach links oder nach rechts bewegt und die Augen auf die Augen des abgebildeten Heiligen gerichtet hält, folgt dessen Blick dem eigenen Blick, man kann dem Blick des abgebildeten Heiligen nur dadurch entweichen, dass man wegblickt. Der grösste Philosoph vom Ende des Mittelalters und des Beginns der Renaissance, Nikolaus von Kues (lateinisch Cusanus genannt; 1401–1464), hat
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über dieses Phänomen im Vorwort (Praefatio) seiner Schrift De visione Dei («Die Gottesschau», 1453) Folgendes geschrieben: «Liebe Brüder, ich schicke Euch das Bild, das ich soeben bekommen konnte. Es stellt einen All-Sehenden (cuncta videns) dar, und ich nenne es ein Bild Gottes (iconam Dei). Befestigt es irgendwo, z. B. an einer Nordwand, und stellt Euch dann in gleichem Abstand von ihm auf. Schaut es an, und jeder von Euch, von welcher Stelle aus er es auch betrachtet, wird erfahren, dass jenes Bild ihn gleichsam allein anblickt. Dem Bruder, der im Osten steht, scheint das Antlitz in östlicher Richtung zu blicken; dem im Süden in südlicher und dem im Westen in westlicher Richtung.»
c) Der Grund, warum Husserl phänomenologisch an Hass und psychopathischer Grausamkeit nicht interessiert war Der Grund, warum Husserl Hass und psychopatische Grausamkeit nicht phänomenologisch analysierte, scheint mir der zu sein, dass ethisch schlechtes Handeln letztlich nur ein Mangel (nicht bloss die Abwesenheit) von ethisch gutem Handeln ist. Ein Mangel an Gutem ist Abwesenheit eines Guten, das anwesend sein sollte. Augustinus sagte: malum est privatio boni (das Schlechte ist Mangel an Gutem). Das Schlechte hat keine eigene Wirklichkeit, es hat kein eigenes Wesen. Es hat zwar Kraft, aber diese Kraft hat es aus einer guten Kraft, der etwas mangelt. Handeln aus Hass hat seine Kraft aus der Kraft der Selbstliebe, der es an der Kraft der Nächstenliebe mangelt. So ist es auch beim egoistischen Handeln. Solches Handeln ist selbstzerstörerisch. Deshalb muss man, bevor man das ethisch schlechte Handeln phänomenologisch analysiert, zuerst das gute Handeln phänomenologisch analysieren. Husserl hat nur diese positive Seite zu analysieren begonnen. d) Ärger und Wut (Zorn) «Wut» und «Zorn» betrachte ich als gleichbedeutende Wörter. Auf alle Fälle besteht zwischen ihren Bedeutungen kein wesentlicher, sondern ein bloss quantitativer Unterschied: Wenn eine Wut lange dauert oder etwas Wichtigeres zum Gegenstand hat, spricht man vielleicht eher von Zorn. Auch wird von Kindern gesagt, dass sie wütend werden, aber kaum, dass sie zornig werden; also spielt wohl auch das Subjekt des Zorns oder der Wut bei dieser Wortwahl eine Rolle. Ärger und Wut (Zorn) scheinen zwar etwas Ähnliches zu sein, aber sie sind doch voneinander sehr verschieden. Beide sind ein Art des Aufgebrachtseins, des seelischen Erregtseins. Sie treten beide spontan, nicht willentlich auf. Als blosse Gefühle sind sie keine Handlungen, sondern drücken sich bloss in Ausdruckgebärden aus, und insofern sind sie ethisch weder gut noch schlecht.
§ 27. Weitere sozial relevante Gefühle, Handlungen und Haltungen
Aus dem Ärger folgen keine Handlungen, jedenfalls ist es sinnlos, wenn aus ihm Handlungen folgen würden. Ich ärgere mich über mich, wenn ich unabsichtlich ein schönes Weinglas zerschlage oder aus Unachtsamkeit an das Weinglas stosse und den guten Rotwein verliere und erst noch das Tischtuch, schwer zu reinigen, verschmutze; ich ärgere mich, wenn ich eine «Fehlhandlung» begehe, z. B. das Essbesteck anstatt den Abfall in den Kehrichtkessel werfe. Ich kann mich sogar darüber ärgern, dass ich mich ärgere. Es gibt also auch ein reflexives Gefühl des Ärgers. Ich habe den Eindruck, dass ich mich über mich selbst mehr ärgere als über alle anderen Menschen zusammen, aber darüber ärgere ich mich nicht, denn es ist nun einmal so. Ich ärgere mich über andere, z. B. wenn in einer schweizerischen Volksabstimmung eine Volksinitiative angenommen wird, die, wie ich glaube, der Schweiz schadet. Ich kann mich sogar über meine liebe Katze ärgern, wenn sie mir meinen Kanarienvogel gefressen hat. Aber Ärger «ist für die Katz», wie man auf Deutsch sagt. Das heisst, Ärger nützt nichts, ist überflüssig, zerstört nur den eigenen seelischen Frieden und schadet damit der eigenen Gesundheit. Die weise Gattin eines ehemaligen schweizerischen Bundesrates (Ministers) sagte zu ihm, wenn er sich über dumme Interventionen oder Abstimmungsergebnisse im schweizerischen Parlament ärgerte: «Sich Ärgern ist nicht obligatorisch!» Wut (Zorn) folgen oft Handlungen. Es gibt Menschen, die auch über sich selbst wütend sind und sich darauf selbst ins Gesicht schlagen, aber das sind noch keine Handlungen, sondern blosse, allerdings willentliche Ausdrucksgebärden. Aber meistens ist man gegen andere wütend. Man kann aus Wut oder Zorn auch überreagieren, was beim «Jähzorn» der Fall ist. Man kann aus Wut und Zorn auch schlecht handeln. Aber Wut (Zorn) kann auch auftreten, wenn etwas Ungerechtes mir selbst oder anderen Personen angetan wird, und diese Gefühle können zu gerechten, ethisch guten Handlungen führen. Man spricht von «heiligem Zorn». Man kann Wut (Zorn) in gute Bahnen lenken. Wir können sogar in gewissen Fällen von wütender Liebe sprechen, wenn jemandem etwas Ungerechtes und Schädliches angetan wurde, den wir lieben, und diese Wut kann dazu führen, dass wir diese Person schützen, vor weiterem Schaden bewahren und dafür sorgen, dass der angetane Schaden wiedergutgemacht wird. Wenn wir wütend werden, wenn jemand ungerechterweise uns schadet oder uns schaden will, dann können wir uns aus Liebe zu uns selbst gegen ihn verteidigen. Wenn Handlungen von Wut, aber nicht durch den Sinn für Gerechtigkeit und der Liebe geleitet sind, sind sie ethisch schlecht. Diese Handlungen sind nicht spontan wie das Gefühl der Wut, sondern sie unterliegen der menschlichen Willensfreiheit, diese Handlungen auszuführen oder nicht. Sogar Jesus von Nazareth wurde wütend (zornig). Er war für mich ohne Zweifel ein guter Mensch, obschon er sich selbst nicht als gut betrachtete, da er dachte, dass «niemand gut ist als Gott allein» (Markus, Kap. 10, Vers 18): Als Jesus sah, dass die Händler und Geldwechsler den Tempel Gottes in Jerusalem von «einem Gebetshaus» «zu einer
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Räuberhöhle» gemacht hatten, stiess er die Tische der Geldwechsler um und jagte alle aus dem Tempel hinaus (Matthäus, Kap. 21, Verse 12–13; Lukas, Kap. 19, Verse 45–46). Weil Ärger und Wut eine gewisse Ähnlichkeit haben, verwechselt man manchmal die entsprechenden Wörter. Man sagt manchmal, dass man wütend wurde, weil man beim Kochen die Milch überlaufen liess oder weil man bei einem Einkauf plötzlich merkte, dass man den Geldbeutel zu Hause vergessen hatte. Das ist nun passiert, gehört schon zur Vergangenheit, und das Vergangene kann man nicht verändern. Es bleibt einem in jenen beiden Fällen nichts anderes übrig, als neue Milch zu kochen oder etwas andres zu trinken, bzw. den Geldbeutel von zu Hause zu holen oder nichts zu kaufen. Beethoven hat ein spätes Rondo für Klavier, op. 129, komponiert, das den Titel trägt «Wut über den verlorenen Groschen». Ich glaube, dass er in dieser Musik seinen Ärger über einen verlorenen Groschen ausdrücken wollte. Welch edle «Ausdrucksgebärde». Nicht nur in der deutschen Sprache wird zwischen Wut und Ärger unterschieden. Wut heisst z. B. im Französischen fureur, Zorn heisst «colère»: für «sich ärgern» wird se fâcher gebraucht. e) Dankbarkeit und Verzeihung Husserl analysierte auch nicht, soviel ich weiss, diese zwei sehr wichtigen intersubjektiven Haltungen. Vergebung ist als Ausdruck der Liebe und der Grosszügigkeit, wenn ich dieses hässliche Gleichnis gebrauchen darf, «das Öl für die Maschine» unserer sozialen Beziehungen. Und Dankbarkeit ist die notwendigste Haltung in der Beziehung zu allen, die uns tätig lieben und helfen. Beide müssen sich in unserem ethisch guten Handeln auswirken. Sie sind Phänomene des Fühlens, des Erkennens, des Wollens, des Handelns und des personalen erworbenen Charakters, die phänomenologisch zu klären sind, damit ihre Wichtigkeit für uns deutlicher wird. Ein sehr bewegendes Beispiel der Vergebung gibt uns Mozart in der letzten (zwölften) Szene seiner Oper Le nozze di Figaro (Die Hochzeit des Figaro), deren Text (libretto) der katholische Priester Lorenzo da Ponte schrieb. Nach einer tumultuösen Szene bittet der Graf Almaviva mit einer ruhigen und ehrlichen Stimme seine Gattin um Verzeihung für seine Treulosigkeit und für seine falsche Anschuldigung, das sie ihm gegenüber treulos gewesen sei: «Contessa perdona» (Gräfin, verzeihen Sie!). Und die Gräfin antwortet in einer wunderbaren abgeklärten Melodie: «Piu docile sono, e dico di si» (Ich bin gefügiger und sage: Ja). Und alle anderen zahlreich Anwesenden singen im Chor: «Ah! Tutti contenti saremo cosi» (Oh, auf diese Weise werden wir alle zufrieden sein). Diese wenigen Verszeilen bilden die Lösung für alle Liebesverwicklungen und Liebesprobleme
§ 29. Das objektive Bewusstsein seiner selbst in der Ich-Du-Beziehung
der ganzen Oper. Danach singen alle Anwesenden das kurze und freudvolle Finale. Die falsche Anschuldigung des Grafen Almaviva ist auch ein Beispiel des verbreiteten psychologischen Phänomens, dass jemand seinen eigenen Fehler auf denjenigen projiziert, gegen den er diesen Fehler begangen hat. Es ist schwierig sich vorzustellen, dass jemand, gegen den man einen ethischen Fehler begeht, diesen Fehler aufgrund seines ethischen Charakters nicht zu begehen vermag. Auch dieses Phänomen wäre einer phänomenologischen Analyse würdig.
§ 28. Kommunikative Gemeinschaft mit Verstorbenen Husserl schrieb in einem Brief (ich habe vergessen, in welchem), dass er sich in einer schwierigen Lebenssituation vergegenwärtigend vor das Antlitz seines Vaters gestellt habe. In einem der oben in diesem 3. Kapitel zitierten Texte spricht Husserl auch über die Kommunikation über den eigenen Tod hinaus, wie z. B. die Mitteilung seines Willens in einem Testament und der späteren Befolgung dieses Willens des nun Verstorbenen durch diejenigen, an die das Testament gerichtet ist. Wir Menschen treten auch sonst in Kontakt mit Verstorbenen. An den Todestagen ihrer Mutter und ihres Vaters richtet meine chinesische Frau auf einem Tisch einen kleinen Altar mit einem Foto der verstorbenen Mutter oder des verstorbenen Vaters her, stellt ihnen Speisen hin und dann knien wir beide, indem wir uns die Hand geben, vor diesen Altar hin, verbeugen uns drei Mal, und meine Frau erzählt ihrer Mutter oder ihrem Vater, was wir beide das letzte Jahr getan haben und was wir im folgenden tun wollen. Meine Frau tut dies, obschon sie glaubt, dass ihre Eltern uns immer sehen und so eigentlich diesen Bericht nicht nötig hätten. Solchen Kontakten mit uns lieben Toten liegen Vergegenwärtigungen zugrunde. Aber sie sind auch ein Sich-Wenden an sie und auch eine gewisse Kommunikation mit ihnen als Gegenwärtige.
§ 29. Das Erreichen des objektiven Bewusstseins seiner selbst in der Ich-Du-Beziehung. Der Ursprung des Ich als einer praktischen objektiven Person im sozialen Leben Im oben mehrfach zitierten Manuskript «Gemeingeist I» aus dem Jahre 1921 schreibt Husserl: «Schon in der Einfühlung wird das Ich seiner selbst inne als Subjekt seines Lebens und Subjekt seiner Umwelt, und das fremde Ich ist als ‹anderes Ich› […] bewusst durch Rückbeziehung auf das eigene, sich damit reflek-
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tierende Subjekt.»190 In der «ursozialen» Ich-Du-Beziehung werden Ich und Du in einem praktischen Sinn objektiv. In dieser Ich-Du-Beziehung «ist das Streben darauf gerichtet, den anderen zu ‹bewegen›, dass er […] zunächst […] [von meiner Bitte, meinem Befehl] Kenntnis nehme, und dass mein ihm nun gegebener ‹Befehl›, [mein von ihm] zur Kenntnis genommener Wunsch ihn entsprechend ‹bewegen›, motivieren solle. Ich gehöre also selbst mit zum praktischen Thema, in den Zusammenhang dessen, worauf die praktische Intention gerichtet ist, in den Zusammenhang des praktisch zu Überschauenden und Abgesehenen.»191 «Der Ursprung der Personalität liegt in der Einfühlung und in den weiter erwachsenden sozialen Akten. Es genügt nicht zur [Konstitution der] Personalität, dass das Subjekt seiner innewird als Pol seiner Akte, sie konstituiert sich erst, indem das Subjekt in soziale Beziehung tritt zu anderen Subjekten, wobei es schon praktisch gegenständlich wird.»192 Es ist zu bemerken, dass Husserl seit etwa 1921 im Wesentlichen zwei verschiedene Begriffe von «Person» benutzt: Erstens, ein etwas früherer Begriff, der schon abgesehen von allen intersubjektiven und sozialen Beziehungen einen Sinn hat – seit etwa 1915/16, wie in den Ideen II (Hua IV), § 29, Beilage XI, in Texten von Hua XIV,193 in den Vorlesungen «Phänomenologische Psychologie» vom Sommer 1925» (Hua IX), § 42 – nämlich «Person» oder «Persönlichkeit» im Sinne des Ich, nicht nur als Pol seiner intentionalen Akte, sondern auch mit seinen Habitualitäten, d. h. mit seinen Gewohnheiten, mit seinen erworbenen Fähigkeiten, seinen festen Überzeugungen, verharrenden Willensrichtungen, festen Hoffnungen, durch eigenes Tun erworbenen Charaktereigenschaften usw.,194 und, zweitens, seit 1921 ein Begriff, der erst aus der Phänomenologie der Sozialität erwächst, nämlich «Person» im Sinne des von Husserl in den obigen Zitaten skizzierten Begriffs der Person, die für sich in der sozialen Praxis gegenständlich wird. Dieser zweite Begriff ist mir bei Husserl nur aus dem soeben zitierten Text von 1921 bekannt, aber vielleicht kommt er auch anderswo vor. Aber der erste, durch den Begriff der Habitualitäten bestimmte Begriff der Person kommt auch Hua XIV, S. 171. A.a.O., S. 171/172. 192 A.a.O., S. 175. 193 Z. B. in den beiden folgenden Texten, die aus derselben Zeit stammen (nämlich aus der Zeit der Vorbereitung des neuen «grossen systematischen Werkes», das die Ideen ersetzen sollte) wie der oben im Haupttext zitierte Text aus dem Jahre 1921 über die Person als sozial praktische objektive Person: «Das Ich ist doch immerzu konstituiert (in völlig eigenartiger Weise konstituiert) als personales Ich, Ich seiner Habitualitäten, seiner Vermögen, seines Charakters.» (Hua XIV, Beilage II, wohl Juni 1921, S. 44, Anm. 1) «Im eigentlichen Sinn ist das ‹Ich› der Ichpol mit den ihm aus seinem Leben und Stellungnahmen zuwachsenden Habitualitäten, Vermögen.» (Hua XIV, Beilage XXXI, S. 275) 194 Zu diesem Begriff der Person als Ich von «Habitualitäten» siehe Eduard Marbach, Das Problem des Ich in der Phänomenologie Husserls, Den Haag 1974, S. 306–310. 190
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§ 30. Sind wir fähig, andere Personen moralisch zu beurteilen?
im sozialen Kontext vor. In einem Text vom 15. April 1932, den ich unten im § 31 zitieren werde, gebraucht er diesen Begriff um «personale Einheiten höherer Ordnung», z. B. Freundschaften, Vereine, Staaten, zu charakterisieren.
§ 30. Eine Frage, die Husserl nicht stellte: Sind wir wirklich fähig, andere Personen als moralisch schuldig oder unschuldig zu beurteilen? Diese Frage werde ich hier nicht ausführlich erörtern, sondern nur darauf hinweisen, denn ich bin schon in meinem im Jahre 2020 erschienenen Buch Der gute Weg des Handelns. Versuch einer Ethik für die heutige Zeit auf sie eingegangen.195 Ich habe im Kapitel 45 dieses Buches zusammengefasst, was Elisabeth Wenger in ihrem Buch Als lebender Besen im Kamin. Einer vergessenen Vergangenheit auf der Spur196 aus dem Jahre 2010 schreibt. In ihm zeigt sie, dass während Jahrhunderten bis zum Zweiten Weltkrieg Armut und Hunger Familien in Bergtälern von Norditalien (Val Vigezzo) und daran angrenzenden Schweizer Bergtälern (Centovalli, Valle Verzasca, Valle Onsernone und Valle Lavizzara) zwang, ihre Kinder als kleine Kaminfeger in weit entfernte Städte zu schicken. Mit ihren Ellbogen, ihrem Rücken und ihren nackten Füssen stemmten sie sich von unten her durch die schmalen hohen Kamine hoch und schabten mit einer raspa (Schaber, Raspel) den Russ von den Kaminwänden. Noch im Jahre 1934 verliessen 110 Kinder ihre Familien im Verzasca-Tal, um im Ausland ihre Arbeit zu verrichten. Mehr als 10 Prozent dieser Buben starben während ihrer Kinderarbeit. Die Eltern vertrauten ihre Buben sogenannten padroni (Chefs) an, die in ihrer Kindheit dieselbe Arbeit als Kaminfeger verrichtet hatten und die ihnen anvertrauten Kinder in derselben harten Weise behandelten, in der sie selbst früher behandelt worden waren. Diese padroni gelangten im Allgemeinen zu Reichtum. Wie der Bericht von Elisabeth Wenger zeigt, nahmen es die kleinen Kaminfeger ihren padroni nicht übel, dass sie von ihnen so schlecht behandelt wurden. Denn sie wussten, dass diese in ihrer Kindheit von ihren padroni ebenso behandelt worden waren, und zudem wussten die meisten von ihnen, dass sie später einmal auch solche padroni werden und die ihnen anvertrauten Buben genauso behandeln würden, wie sie nun behandelt wurden. In dieser gefährlichen und grausamen Kinderarbeit
195 Iso Kern, Der gute Weg des Handelns. Versuch einer Ethik für die heutige Zeit, Schabe Verlag, Basel 2020, 45. Kapitel, S. 431–434. 196 Dieses Buch ist Elisabeth Wengers eigene deutsche Übersetzung ihres italienischen Buches I ragazzi del camino, 2008. Dieses Buch stützt sich auf viele historische Dokumente, Zeugen und sogar auf Interviews mit Personen, die als Kinder als «lebende Besen im Kamin» dienen mussten.
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3. Kapitel. Kommunikation, kommunikative Tätigkeiten, Gemeinschaft
gab es keine Trennung von Opfern und Tätern. Die Täter waren selbst einmal Opfer, und die Opfer wollten selbst später Täter werden. Als anderes Beispiel von Menschen, die zugleich Opfer und Täter sind, wählte ich in jenem Buch von 2020 die Rekruteure von Kindersoldaten in gewissen Ländern Afrikas. Diese fingen ungefähr 10- bis 14-jährige Knaben, entführten sie in militärische Lager und zwangen sie, diejenigen Knaben zu erschiessen, die fliehen wollten. Als Knaben waren sie selbst gefangen und zu töten gezwungen worden. Im Januar 2016 wurde ein solcher Rekruteur, Dominic Ongwen, ein Kommandant der Miliz Lord’s Resistance Army (LRA), vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag gebracht. Die Anführer der LRA sind für das Einfangen von ungefähr 50’000 Knaben verantwortlich. Dominic Ongwen wurde selber gekidnappt, als er 13 Jahre alt war. Auch hier stellt sich die Frage: Wie kann jemand als schuldig für etwas verurteilt werden, der selbst einmal Opfer eines solchen Verbrechens war? Diese Art des Kidnappens muss als eine ethisch furchtbare Handlung verurteilt werden, aber ist derjenige, der so gehandelt hat und als Kind selbst Opfer einer solchen Handlung war, deshalb als schuldig zu verurteilen? Oder ein anderes Opfer-Täter-Beispiel: Wie kann jemand als schuldig für sexuellen Kindsmissbrauch verurteilt werden, wenn er als Kind selbst missbraucht und dadurch psychisch schwer geschädigt wurde? Ich antwortete in jenem Buch auf die Frage nach der Schuldigkeit solcher Opfer-Täter, dass ihre Taten zwar verständlich sind, aber sie deswegen nicht für unschuldig erklärt werden können. Denn nicht jedes Opfer dieser Art wird notwendig zu einem entsprechenden Täter. Jeder gesunde Mensch hat für seine Handlungen eine gewisse Verantwortung. Auch der Bruder von Dominic Ongwen wurde als Kind auf jene grausame Art gezwungen, als kleiner Soldat zu töten, aber er wollte nicht Kommandant der LRA werden. Er plädierte vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag nicht für die Unschuld seines Bruders, sondern bat für ihn um ein mildes Urteil. Ich habe in jenem Buch von 2020 meine auch noch jetzige Überzeugung geäussert, dass wir Menschen kein Recht haben, andere Menschen als ethisch schuldig oder unschuldig zu beurteilen, aber wir können ihre Taten als ethisch gut oder schlecht beurteilen. Doch habe ich in ihm auch meine noch jetzige Überzeugung geäussert, dass wir manchmal durch Erfahrung mit Gewissheit wissen, dass ein anderer Mensch ethisch gut ist; wir können daran nicht zweifeln und vertrauen ihm völlig. Ohne ein solches Vertrauen könnten wir nicht leben. Anderen Menschen misstrauen wir, aber sind nie sicher, ob sie wirklich ethisch schlecht sind. Dieser erstaunliche Unterschied zwischen unserem Unwissen betreffend die ethische Schlechtigkeit anderer Personen und unserem Wissen über die ethische Güte anderer Personen hätte eine genauere phänomenologische Analyse verdient. Ich denke, dass der letzte Grund dieses Unterschiedes darin liegt, dass es leichter ist, etwas Seiendes zu erkennen als etwas Nichtseiendes.
§ 31. Personale Einheiten höherer Ordnung und ihre Wirkungskorrelate
Denn das ethisch Gute ist etwas Seiendes, das ethisch Schlechte ein Mangel an Güte, z. B. egoistisches Handeln ist Selbstliebe, welcher die Nächstenliebe fehlt.
§ 31. Personale Einheiten höherer Ordnung und ihre Wirkungskorrelate Wie das Manuskript «Gemeingeist I» aus dem Jahre 1921 schrieb Husserl auch sein Manuskript «Gemeingeist II», das von ihm auf «Bernau 1918 oder St. Märgen 1921» datiert ist, nicht für Vorlesungen, sondern für sein «grosses systematisches Werk». In diesem Werk plante Husserl, von Beginn an das transzendentale Forschungsfeld nicht als abstraktes singuläres Subjekt, sondern als konkrete Intersubjektivität zu etablieren.197 In jenem Manuskript erörtert Husserl «personale Einheiten höherer Ordnung», welche sich in gemeinsamen Leistungen konstituieren.198 Er unterscheidet zwischen gemeinsamen Leistungen mit einem gemeinsamen Willen und solchen ohne gemeinsamen Willen. Als eine Art Einleitung schreibt Husserl: «[…] im Gemeinschaftszusammenhang habe ich Überzeugungen (wie vorher schon Vorstellungen) als bleibende, auf Grund meiner Erfahrung und evtl. vermittelter Erfahrungen Anderer entsprungene, die ich zugleich als Überzeugungen Anderer erfassen kann: d. h., sie haben, wie ich weiss, auch Überzeugungen (seien es in ihnen selbst entsprungene, seien es übermittelte, evtl. erst von mir ihnen übermittelte), die mit den meinen [überein] stimmen: Sie meinen, glauben dasselbe, und umgekehrt wissen sie, dass das (in Bezug auf bestimmte Gehalte) auch für mich der Fall ist. Wir wissen uns wechselseitig als dasselbe ‹urteilend› (im bleibenden Sinn). Ebenso mit Wertungen. Und wieder gibt es ein mögliches Reich als gemeinsamer und uns als gemeinsam bewusster bleibender Bedürfnisse (Wünsche, Begehrungen), bleibender Bestrebungen und Entschlüsse.»199
Danach schreibt Husserl zuerst von gemeinsamen Leistungen mit einem gemeinsamen Willen. a) Gemeinsame Leistungen mit einem gemeinsamen Willen Gemeinsame Entschlüsse «haben eine besondere Stellung, und wir werden davon näher zu sprechen haben. Jedenfalls, es gibt eine Gemeinschaftsüberzeugung,
Vgl. Hua XIV, Einleitung des Herausgebers, S. XVIII–XXIV. Zum selben Thema siehe aus dieser Zeit Hua XIV, Beilage XXVI, S. 207–217: «Gemeingeist II, Kultur- und Gemeinschaftsleben» aus dem Herbst 1922. 199 Hua XIV, S. 192/193. 197 198
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3. Kapitel. Kommunikation, kommunikative Tätigkeiten, Gemeinschaft
eine Gemeinschaftsschätzung, einen Gemeinschaftsentschluss, eine Gemeinschaftshandlung.»200 In Bezug auf gemeinsame Handlungen unterscheidet Husserl solche, die vom anderen ausgeführt werden, weil ich sie ihm befohlen oder ihn auf eine andere Weise dazu bestimmt habe. Seine Handlung ist dann mittelbar auch meine Handlung (Tat). Wenn das Verhältnis des Bestimmens wechselseitig ist, dann «ist meine Tat und seine Tätigkeit zugleich für mich eine komplexe Tat, die nur zu einem Teil von ihm und zu einem [Teil] von mir als unmittelbar getan und zu tuende war. Die gesamte Handlung und Leistung ist meine Handlung und ist auch seine Handlung im höheren, fundierten Sinn, während jeder für sich an ‹seinem› Teil unmittelbar an der [gemeinsamen] Sache handelt und eine primäre Handlung vollzieht, die ausschliesslich die ihm eigene ist, die aber Teil der sekundären, fundierten [Handlung] ist, welche die volle [ganze] eines jeden von uns ist. So bei allen Gemeinschaftswerken.»201 Ein gutes Beispiel für eine «volle [ganze] Handlung eines jeden von uns» ist das gemeinsame Spielen eines Musik-Duos, z. B. einer Sonate für Cello und Klavier. b) Gemeinsame Leistungen ohne einen gemeinsamen Willen Die Beispiele, die Husserl für gemeinsame Leistungen ohne einen gemeinsamen Willen vorlegt, sind die Sprache, die Wissenschaft, das Recht etc. Bei diesen Leistungen werden Leistungen von anderen als Ausgangspunkte eigener Leistungen übernommen, die wiederum von anderen aufgenommen werden. «Es verhält sich dann ähnlich, wie wenn ich in meinem Einzelbewusstsein eine Leistung, die ich [früher] vollzogen hatte, nachher als fertige übernehme und als Ausgangspunkt für höhere Leistungen verwende, ohne dass ich an mein früheres Leisten zurückdenken und den konstitutiven Sinn mir explizieren müsste.»202 Es verhält sich also ähnlich, wie wenn ich z. B. früher ein Buch geschrieben habe und später aufgrund der Einsichten, die ich beim Schreiben des Buches gewonnen und mir angeeignet habe, einige Jahre später, ohne explizit an das Schreiben dieses Buches zurückzudenken, einen Vortrag halte, in dem ich mich darauf stützend neue, andere Einsichten mitteile. c) Konstitution personaler Einheiten höherer Ordnung In seiner Analyse dieser Konstitution hebt Husserl hervor, dass ich als mit anderen sozial kommunizierende Person aufgrund des Strebens und Wollens anderer 200 201 202
A.a.O., S. 193. A.a.O., S. 193. A.a.O., S. 193.
§ 31. Personale Einheiten höherer Ordnung und ihre Wirkungskorrelate
Bewusstseinssubjekte handle, dass ich dabei mir meiner selbst auch als eines Mediums für das Streben und Wollen anderer Bewusstseinssubjekte bewusst bin und dass ich mir auch bewusst bin, dass diese anderen Bewusstseinssubjekte ihrerseits sich ihrer medialen Funktion für mein Streben und Wollen bewusst sind. «Es ist ein durch Einfühlung gestifteter personaler Zusammenhang, in dem […] ‹eine Überzeugung› lebt, ‹eine Wertung›, ‹ein Wille› mit allen ihren Einheitsvoraussetzungen analoger Art. Und als [gegenständliche] Korrelate haben wir die Einheit ‹einer› Leistung [die Einheit von einem Geleisteten], ‹eines› Werkes, evtl. eine sich in die offene Unendlichkeit der Zeiterstreckung hindurch erstreckende, hindurch entwickelnde Einheit: die Einheit eines Staates, einer Religion, einer Sprache, einer Literatur, einer Kunst usw. Bei [enger] begrenzten Sozialitäten wie Vereinen haben wir die Einheit eines Vereinszieles, die Einheit der jeweiligen Vereinsleistung [die Einheit des vom Verein jeweils Geleisteten], die sich einordnet in das System der aufeinanderfolgenden und von der Einheit des [Vereins‐]Zieles motivierten Leistungen.»203
In diesen «personalen Einheiten höherer Ordnung» handeln wir als Wir und im Unseren, d. h., wir handeln und leisten miteinander kommunizierend in Einheit etwas uns Gemeinsames in unserem Staat, in unserer Religion, in unserem Verein usw. In einem mehr als zehn Jahre späteren Text (15. April 1932) aus einer Zeit, in der er wieder sein «grosses systematisches Werk» vorbereitet, schreibt Husserl über die Konstitution von Personalitäten höherer Ordnung: «Dann ist zu leisten die [konstitutive] Aufklärung der sozialen Verbindungen als habitueller Verbände eines habituellen Wir (im Verband vereinigten Wir): eine Ehe, eine Freundschaft, ein Verein etc. als kommunikative Verbände; aber auch das Sein einer fortwährenden Vereinbarung in Bezug auf einen zeitlich begrenzten Zweck, in Bezug auf eine besondere einzelne Leistung [z. B. wenn wir vereinbaren, gemeinsam ein Haus zu bauen]. Die Habitualität der verbundenen Personen ist einerseits einzeln zu ihnen gehörige Habitualität, [eine] in ihnen seiende, verharrende Willensrichtung. Aber die Personen sind nicht vereinzelt, sofern sie verbunden sind. In die Habitualität geht das Füreinander- und Ineinandersein, das In-Deckung-sein, das an einer vielköpfigen Willenseinheit Beteiligtsein ein. Die Verbindung stellt Einheit her zwischen Akt-Ich [tätigem Ich] und anderem Akt-Ich [tätigem Ich] und so für eine Mehrheit von Akt-Ich [tätigen Ich] (und schliesslich evtl. [eine Einheit] eine[r] offene[n] Vielheit, die in mittelbaren sozialen Akten aufeinander bezogen und [miteinander] verbunden sind). So konstituiert sich eine Personalität höherer Ordnung als ein fortdauernd Seiendes. Nicht nur jedes personale Ich hat seine fortdauernde Habitualität, sondern die Vielheit hat ihre verbundene Habitualität dadurch, dass jede Habitualität eines jeden [Ich] in diejenige jedes anderen ‹hineinreicht›.»204
203 204
A.a.O., S. 194. Hua XV, Text Nr. 29, S. 479.
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3. Kapitel. Kommunikation, kommunikative Tätigkeiten, Gemeinschaft
Auf den durch die Habitualitäten bestimmten Begriff der personalen Einheiten höherer Ordnung habe ich oben am Ende des § 29 hingewiesen. Es ist bemerkenswert, dass Husserl bei den personalen Einheiten höherer Ordnung nur auf «die ‹eine Überzeugung›, die ‹eine Wertung›, den ‹einen Willen› mit allen Einheitsvoraussetzungen analoger Art» hinweist, nicht aber auf die Vielheit von verschiedenen Überzeugungen, verschiedenen Wertungen und verschiedenen Willensausrichtungen, die in solchen Einheiten, z. B. in einem Staat, in einer religiösen Gemeinschaft, in einem Verein und auch in Ehen, Freundschaften usw., vorhanden sein können und meistens auch sind. Diese Vielheit kann zwar diese Einheiten zum Zerfall bringen, aber sie kann durchaus auch innerhalb einer solchen Einheit in gegenseitiger Toleranz existieren. d) Zwei Arten von durch den Willen eines anderen hindurch gehenden Handlungen Husserl unterscheidet im Manuskript «Gemeingeist II» von 1918 oder 1921 zwei Arten von durch den Willen eines anderen hindurch gehenden Handlungen: erstens personale Wirkungsgemeinschaften in der Einheit eines Gemeinschaftswillens und zweitens personale Wirkungsgemeinschaften ohne Einheit eines umspannenden Gemeinschaftswillens und einer umspannenden Gemeinschaftshandlung. In der ersten Art «liegt mein Willensziel im Willensziel des Anderen, ich will mein Willensziel durch das Wollen und Handeln des Andern hindurch erreichen». Ich verstehe dies so, dass wir bei dieser ersten Art ein gemeinsames Willensziel haben und voneinander auch wissen, dass wir ein gemeinsames Willensziel haben, und es durch unser gemeinsames Handeln erreichen wollen. Jeder will sein Willensziel durch das Wollen und Handeln des anderen hindurch erreichen. Die zweite Art umschreibt Husserl folgendermassen: «Ich wirke durch das fremde Wollen hindurch in dem Sinn, dass das Erzeugte, etwa ein technisches Werk [z. B. eine technische Maschine], das nach meiner Idee ausgeführt wurde, Ausgangspunkt für geistiges Wirken Anderer wird. Es wird von Anderen nachgeahmt, und es verbreitet sich ein Typus von Wirken und Werken in der Kultur, oder es [das technische Werk] wird dann weiter verbessert, und so geht es fort. Ohne meine Absicht pflanzt sich meine geistige Wirkung fort in [mir] unbekannte Personen und Umgebungen, die auch von mir nichts zu wissen brauchen.»205
Während also die erste Art von Handlungen, die durch den Willen eines anderen hindurch gehen, sich in der jeweiligen zeitlichen und evtl. auch räumlichen Ge205
Hua XIV, Text Nr. 10, S. 195.
§ 31. Personale Einheiten höherer Ordnung und ihre Wirkungskorrelate
genwart abspielen, geht die zweite Art durch die Tradition einer zeitlich lange dauernden Zivilisations- und Kulturgeschichte hindurch, d. h. sie schafft überhaupt eine Kultur und eine Zivilisation. e) Die Konstitution einer gemeinsamen Welt sinnlicher Erfahrung und Konstitution einer gemeinsamen personalen Kulturwelt Husserl schreibt, dass die kommunikative Gemeinschaft von personalen Subjekten nicht nur eine kollektive Vielheit, ein Nebeneinander von Einzelsubjekten sei, sondern dass die Kommunikation durch Wechselverständnis das Bewusstsein herstelle, mit anderen Subjekten eine einzige gemeinsame Umwelt zu haben. «Ich sehe, ich höre, ich erfahre nicht nur mit meinen Sinnen, sondern auch mit denen des Anderen, und der Andere erfährt nicht nur mit seinen Sinnen, sondern auch mit meinen Sinnen; das geschieht durch Übermittlung der Kenntnisnahmen. Und das ist nicht nur eine objektive Rede [über das, was in der objektiven raumzeitlichen Welt geschieht], sondern eine Bewusstseinstatsache für mich und für jeden Anderen. […] Wir richten uns alle danach in ‹unserem› sinnlichen [d. h. sinnlich erfahrenden] Leben, wir richten uns nach ‹unseren›, und ein jeder nicht nur nach seinen Erfahrungen. Wir sind viele Sinnessubjekte, aber als kommunizierenden [Subjekten] kommen einem jeden alle Sinne [die Sinne von allen] zugute, und dabei so […] dass jeder eine identische Welt sich gegenüber weiss als dieselbe für alle. Es ist also in dieser Hinsicht so, als wäre ein Subjekt da als das [subjektive] Korrelat dieser gemeinschaftlichen Welt; die kommunizierende Vielheit [von Subjekten] fungiert analog wie ein Subjekt.»206
Husserl schreibt hier im Manuskript «Gemeingeist II» nicht von den Unterschieden in den sinnlichen Erfahrungen von verschiedenen Subjekten. Damit wird er sich in Texten beschäftigen, die ich unten im 4. Kapitel im § 34 besprechen werde. Husserl fügt zum oben Zitierten hinzu: «Noch nicht Rücksicht genommen ist [im Voranstehenden] auf Gefühls- und Triebsinnlichkeit und auf das animalische Tun [der menschlichen Subjekte], das spezifisch ‹Tierische›, die Konstitution der Welt der subjektiven und gemeinschaftlichen Bedürfnisse [wie nach Nahrung, Wärme, sexueller Befriedigung].»207
206 207
Hua XIV, Text Nr. 10 («Gemeingeist II»), S. 197. A.a.O., S. 198.
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3. Kapitel. Kommunikation, kommunikative Tätigkeiten, Gemeinschaft
f) Kommunikative Vielheit von Personen als Substrat von gemeinsamen Handlungen und von gemeinsamen Leistungen. Der «Gemeingeist» «[…] Wir haben eine Vielheit von Personen mit vielen personalen Vermögen, mit vielen Bewusstseinsströmen, in sie eintretend und sich einfügend viele Bewusstseinsakte – und doch ‹ein Geist›, eine Personalität ‹höherer Stufe› als ideeller Träger eines Charakters, eines Vermögens (Volksart, Volkscharakter etc.) mit einem Bewusstsein, das alle die Einzelbewusstseine in einiger Auslese umgreift usw.»208 «Es ist also keine blosse Analogie, wenn wir z. B. von einem Gemeingeist sprechen, kein blosses Bild, ebenso wenig, wie wenn wir [gegenständlich] korrelativ von einem Gebilde [des Gemeingeistes] wie der Sprache, der Sitte sprechen. Eine Fakultät [einer Universität] hat Überzeugungen, Wünsche, Willensentschlüsse, sie vollzieht Handlungen; ebenso ein Verein, ein Volk, ein Staat. Auch von Vermögen, von Charakter, von Gesinnung können wir im strengen, aber entsprechend höheren Sinn sprechen. Da muss aber geschieden werden zwischen Personalitäten höherer Ordnung, echten Personalverbänden [einerseits], und [andererseits] bloss kommunikativen Gemeinschaften, wie Wirkungsgemeinschaften; [ein gegenständliches Gebilde des Gemeingeistes im Sinn einer bloss kommunikativen Gemeinschaft, z. B.] eine Sprache entsteht nicht so wie [z. B. eine] Staatsverfassung im parlamentarischen Staate [als ein gegenständliches Gebilde des Gemeingeistes im Sinne eines echten Personalverbandes].»209
Bemerkenswert ist, dass Husserl hier nur von rationalen kommunikativen Gemeinschaften schreibt, aber nicht von den Arten des irrationalen Gemeingeistes (wenn man hier überhaupt von «Geist» sprechen kann und nicht eher von «Ungeist» sprechen muss) und ihren erschreckenden Mechanismen, die von der Massenpsychologie untersucht werden. Die oben zitierten Husserl’schen Texte wurden geschrieben, bevor in Deutschland das nationalsozialistische Regime an die Macht kam. Und nachdem es an der Macht war, reflektierte Husserl hauptsächlich über die «Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie».210 Zu dieser Zeit vermied er die Worte «Gemeingeist», «Volksgeist», aber hat wohl die entsprechenden Einsichten und Ideen nicht aufgegeben. Irrationale Formen von «Gemeingeist» sind nicht nur politische Bewegungen oder Parteien, deren Zentrum und wie ein Gott angebetetes Idol ein «Führer» ist, wie es Adolf Hitler oder Mao Zedong waren. Irrationale Formen von «Gemeingeist» sind auch unpolitische Gruppen von Fans von Fussballclubs, für die ihr gemeinschaftsbildendes Idol ihr Fussballclub mit ihren Spielern ist, mit denen sie sich identifizieren. Diese Fans kämpfen mit leer getrunkenen Bierflaschen und anderen Mitteln gegen Fans von anderen Fussballclubs, verlieren da208 209 210
A.a.O., S. 199. A.a.O., S. 201. Siehe Hua VI.
§ 31. Personale Einheiten höherer Ordnung und ihre Wirkungskorrelate
bei alle Hemmungen, alles rationale Überlegen und das Gefühl für individuelle Verantwortung und gehen völlig in ihrer Gruppe auf. Nach den Fussballspielen randalieren sie, zerstören Autos, richten Zerstörungen in öffentlichen Eisenbahnen an und kämpfen gegen die Polizei.
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4. Kapitel. Die Konstitution solipsistischer und intersubjektiver Objektivität. Heimwelt und fremde Welten. Normalität und Anomalität
§ 32. Terminologische Bemerkung Da ich in den Paragraphen 33 bis 35 dieses 4. Kapitels über Normalität und ihre negativen Gegensätze sprechen werde (Abnormalität und Anomalität), beginne ich dieses Kapitel mit einer terminologischen Bemerkung über diese negativen Ausdrücke. Wenn die Bedeutung moralisch neutral ist, keine moralische Kritik impliziert, dann werde ich von anomal, Anomalität sprechen; wenn eine solche Kritik impliziert ist, dann von abnormal, Abnormalität. Doch im gewöhnlichen praktischen Leben wird oft etwas Anomales als abnormal betrachtet.
§ 33. Solipsistische und intersubjektive Normalität in der Konstitution von Objektivität In einem zwischen 1915 und 1917 geschriebenen Text untersucht Husserl das Problem der Konstitution einer erscheinenden objektiven Welt unter dem Aspekt der Abhängigkeit der Erscheinungen dieser Welt von den psychophysischen Bedingungen des wahrnehmenden und erfahrenden Subjekts. Er tut dies vorerst innerhalb der Sphäre der solipsistischen Einstellung (später wird er die Sphäre dieser Einstellung die «primordinale Sphäre» in der zweiten der oben in § 1 des 1. Kapitels unterschiedenen drei Bedeutungen nennen) und danach in der Sphäre der intersubjektiven Gemeinschaft von Subjekten.211 a) Kausalität zwischen Dingen und Leib und psychophysische Konditionalität in der solipsistischen Einstellung Im Sinne der zweiten Bedeutung von «Primordinalität» definiert Hussel in diesem Text die solipsistische Sphäre als das, was bleibt, wenn «ich die aus der Leistung der Einfühlung stammenden Auffassungsschichten überall ausschalte, also 211
Siehe Hua XIII, Text Nr. 14, S. 360–385.
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4. Kapitel. Die Konstitution solipsistischer und intersubjektiver Objektivität
mich betrachte, meinen Leib, meine immanente und transzendente Umgebung, wie ich sie in der [reflexiven] ‹Inneneinstellung› finde oder finden kann.» Die solipsistische Sphäre enthält also all das, wofür ich allein, in Abstraktion von meinen Mitsubjekten, im konstitutiven Zum-erscheinen-Bringen von etwas aufkommen kann. In dieser Sphäre befinden sich gewöhnliche physische Dinge in ihren räumlichen und zeitlichen Beziehungen, mein Leib und gewöhnliche kausale Beziehungen zwischen meinem Leib und gewöhnlichen physischen Dingen, kausale Beziehungen wie es auch diejenigen zwischen gewöhnlichen Dingen sind. «Lege ich ein Eisenstück auf einen elastisch weichen Körper, so gibt er nach und jenes [das Eisenstück] drückt sich ein», so wie zwischen den gewöhnlichen physischen Dingen untereinander. «Nennen wir diese Kausalität physische Kausalität, so hat der Leib eine physisch reale Art als Erfahrungseinheit solcher Kausalitäten, bzw. als Träger kausaler Eigenschaften: ähnlich wie andere, äussere Dinge.»212 Aber in der solipsistischen Einstellung sind uns auch psychophysische Kausalitäten gegeben: «Der schwere Körper drückt nicht nur auf meinen Leib im physischen Sinne, sondern in der subjektiven Sphäre knüpft sich daran auch die nichtphysische Folge der Druckempfindung. An einen Stoss, der meinen Leib trifft, knüpft sich Stoss- und evtl. Schmerzempfindung […], die Verdeckung meiner Augen durch einen Körper bewirkt als nichtphysische Folge das Verschwinden der vordem in der Wahrnehmung gegebenen Dingaspekte usw.»213
Andererseits haben subjektive willkürliche und unwillkürliche kinästhetische Bewegungen eine räumlich-dingliche Bedeutung und Wirkung, z. B. stosse ich durch eine Handbewegung diese Billardkugel und bewirke durch sie die physische Bewegung einer zweiten Kugel. Husserl unterscheidet in der Folge zwei Arten von «eigentümlichen Verflechtungen»: In der ersten Art haben die subjektiven Sinnesdaten einerseits eine konstitutive Funktion in Wahrnehmungserscheinungen, indem sie als darstellende Daten für entsprechende objektive Sinnesqualitäten der erscheinenden Raumdinge dienen. Aber in der Reflexion auf die Erscheinungen (Aspekte) und auf die in ihnen als immanente Komponenten enthaltenen subjektiven Empfindungsdaten geben sich andererseits diese Empfindungsdaten als kausale Folgen der Einwirkung der betreffenden äusseren Dinge auf unseren Leib. In der zweiten Art haben die subjektiven Abläufe unseres kinästhetischen Tuns einerseits konstitutive Bedeutung für die Wahrnehmung des objektiven Raumes. Andererseits haben diese subjektiven Abläufe durch vergegenwärtigende Appräsentation die Bedeutung von Leibesbewegungen (Augen- und Handbewegungen) im objektiven Raum und von objektiven kausalen Verhältnissen wie 212 213
A.a.O., S. 361. A.a.O., S. 362.
§ 33. Solipsistische und intersubjektive Normalität in der Konstitution von Objektivität
der Bewegung meines Leibesgliedes Auge als Ding im objektiven Raum und wie die räumlichen Bewegungen meiner Hand, meines Fusses. «In dieser Art lassen alle subjektiven Daten, welche für den apparentialen Gehalt [Erscheinungsgehalt] der jeweilig von uns wahrgenommenen Dinge und Vorgänge konstitutiv sind […], notwendig eine psychophysisch-kausale Deutung zu.»214 b) Die Möglichkeit der Anomalität in der solipsistischen Erfahrung. Das System orthoästhetischer Wahrnehmungen Husserl denkt, dass in der solipsistischen Sphäre die Vorstellung von durch anomales Funktionieren des Leibes bedingten anomalen Wahrnehmungen auf der Grundlage von orthoästhetischen [«richtigwahrnehmenden»] Wahrnehmungen zustande kommt, in der die Leiblichkeit normal fungiert. Er unterscheidet zwei Fälle: a) In diesem Fall ist anomales Funktionieren gewisser Leibesteile in der Wahrnehmung ersetzbar durch andere, normal fungierende Leibesteile: «[…] ein Teil der Wahrnehmungsorgane kann ausscheiden, ohne eine einstimmige und vollständige Konstitution der Erfahrungswelt zu stören. […] Gewisse Systeme konstitutiver Erfahrungen, die verbunden sind mit dem objektiven Phänomen des Mit-der-Handtastens, Mit-diesem-Auge-sehens etc. fallen aus: Aber sie können ausfallen, weil im Gesamtsystem möglicher Erfahrungen andere und mehrere Gruppen [von Systemen konstitutiver Erfahrungen] vorhanden sind, die ‹dasselbe leisten›, in der Weise, wie jeder tastende Finger für jeden eintreten kann, [in der Weise] wie eine tastende Hand für die andere [eintreten] kann etc.»215
b) Im zweiten Fall sind die durch eine Anomalie (Pathologie) eines Wahrnehmungsorganes bedingten Dingerfahrungen anorthoästhetisch: Für ein solipsistisches Subjekt hat es laut Husserl nur Sinn, von einer pathologischen, anomal fungierenden (in diesem Sinne anorthologische [= anorthoästhetische] Erscheinungen bedingende) Leiblichkeit zu reden, «wenn es sein System orthologischer [= orthoästhetischer] Erfahrungen hat, also sich beständig gegenüber hat die identische raumzeitliche kausale Natur. Das aber setzt wieder voraus, dass für es [das solipsistische Subjekt] in Systemen orthologischer [= orthoästhetischer] Wahrnehmungen sein Leib konstituiert ist, und das [setzt] wieder [voraus], dass dieser nicht durchaus pathologisch sein kann, sondern so weit ‹normal› sein muss, dass ein Teil seiner Wahrnehmungsorgane orthologisch [= orthoästhetisch] fungieren, und so weit, dass dadurch die evtl. pathologischen Leibesglieder
214 215
A.a.O., S. 263. A.a.O., S. 264/265.
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4. Kapitel. Die Konstitution solipsistischer und intersubjektiver Objektivität
und [Leibes]teile als ‹objektiv-wirkliche› (also durch orthologische [= orthoästhetische] Wahrnehmungen) gegeben sein können.»216 c) Können in der solipsistischen Erfahrung die Erscheinungen relativ zur psychophysischen Konditionalität sein? Das «Ding an sich» als Kontinuum von durch die Idee der Kausalität vereinigten optimalen Erscheinungen Husserl erörtert hier die folgende Frage: Da die Wahrnehmungserscheinungen psychophysisch bedingt sind, können wir daraus für die solipsistische Wahrnehmung schliessen, «dass die Dinge nicht so sind, wie sie erscheinen, genauer, dass die in den orthologischen [= orthoästhetischen] Erscheinungen gegebenen Dinge nicht so sind, wie sie erscheinen, und dass die nicht-orthologischen [= nichtorthoästhetischen] Erscheinungen schliesslich ebenso viel Recht haben wie die orthologischen [= orthoästhetischen]? Diese [die nicht orthoästhetischen Erscheinungen sind] bezogen auf einen Typus normaler Leiblichkeit, jene [die orthoästhetischen Erscheinungen] auf anomale [Leiblichkeit].»217 Nach Husserl ist in der solipsistischen Abstraktion ein solcher Relativismus nicht motiviert: Die orthoästhetischen Erscheinungen sind nicht deshalb orthoästhetisch, weil sie psychophysisch von einer normalen Leiblichkeit bedingt sind, der Grund ihrer Richtigkeit liegt nicht in ihrer Bedingtheit durch eine sogenannte normale Organisation der Leiblichkeit. Eine solipsistisch zur Erscheinung gebrachte (konstituierte) wirkliche raumzeitliche Welt ist vielmehr in der Weise konstituiert (zur Erscheinung gebracht), dass die Systeme orthoästhetischer Erscheinungen in einer gewissen regelmässigen Bedingtheit in Beziehung zu einer normalen Leiblichkeit stehen, die auch ihrerseits in der Welt konstituiert (zur Erscheinung gebracht) ist. «Also ganz natürlich kommen die sinnendinglichen Momente [die sinnlichen Qualitäten] den Dingen selbst [als ihre objektiven Eigenschaften] zu.»218 Doch diese Behauptung ist nach Husserl zu begrenzen: Sie ist nur richtig für die sinnlich erscheinenden Dinge, insofern sie optimal gegeben sind, z. B. ein visuell erscheinendes Ding in der visuell optimalen Distanz, in der besten Beleuchtung; z. B. ein Musikstück von den im Konzertsaal akustisch besten Stellen oder Sitzen aus. «Da aber liegt der echte Relativismus der Erscheinungen, der im Wesen der Dinggegebenheit liegt.»219 Mit anderen Worten: «Rein innerhalb der orthologischen [= orthoästhetischen] Erscheinungen und Erscheinungszusammen-
216 217 218 219
A.a.O., S. 368. A.a.O., S. 369. A.a.O., S. 370. Ebenda.
§ 33. Solipsistische und intersubjektive Normalität in der Konstitution von Objektivität
hänge haben wir alle Relativismen zu suchen, die wesensmässig zum Ding der Erfahrung [Wahrnehmung] gehören. Das Ding selbst wäre das optimale Erscheinungskontinuum, vereinheitlicht unter der Idee der Kausalität.»220 Man darf wohl noch Folgendes hinzufügen: Auch wenn innerhalb der solipsistischen Wahrnehmungen Inkohärenzen auftreten würden zwischen den von Aristoteles als «gemeinsam» (koina) bezeichneten sinnlich wahrgenommenen Qualitäten der Dinge, z. B. zwischen der gesehenen und der getasteten Form eines Dinges, würden die sinnlichen Wahrnehmungserscheinungen nicht überhaupt relativiert, sondern die optimalen Erscheinungen im wahrnehmungsmässig besseren Sinnesfeld werden als die gültigen betrachtet. Wenn bedingt durch eine Verkrümmung oder eine Schwäche des visuellen Wahrnehmungssystems die Formen der Dinge visuell verkrümmt oder verworren erscheinen, dann würden diese visuellen Erscheinungen als nicht-orthoästhetisch betrachtet werden. In Relation dazu würden dann die Tasterscheinungen der Formen dieser Dinge als die orthoästhetischen gelten, und die Formen, die im optimalen Betasten erscheinen, wären die objektiven Formen der Dinge selbst. Aber das Ding in seiner optimalen Gegebenheit, d. h. «das Ding selbst» ist eine offene Unendlichkeiten einschliessende Idee. Vom Gipfel eines Berges aus, aus einer «Vogelperspektive», und wenn ich mich von dort in verschiedene Richtungen drehe und die unter mir liegende weite Landschaft betrachte, gewinne ich eine einheitliche Übersicht über eine ganze Region in ihrer landschaftlichen Gestaltung mit Tälern, Flüssen, Wiesen, Wäldern, Häusergruppen und Einzelhäusern. Bei klarer Sicht ist diese Übersicht die optimale Gegebenheit dieser Landschaft, sie zeigt mir, wie diese Landschaft selbst ist. Wenn ich mit blossem Auge oder durch einen Feldstecher blickend einzelne Teile in dieser Landschaft heraushebe, kann ich jene weite Rundsicht als visuellen Rahmen für die mit blossem Auge oder mit dem Feldstecher gesehenen Einzelwahrnehmungen benützen. Dieser Rahmen ist eine typische individuelle Idee, die notwendigerweise unscharf ist; sie ist keine feste geometrische Form, sondern ein typisches Schema. Und jeder Teil, den ich wahrnehmungsmässig aus diesem grossen Schema heraushebe, ist selbst nur ein Schema, das ich, wenn ich ganz in seiner Nähe wäre, noch mit seinen optimalen Erscheinungen ausfüllen könnte, welches die wahrnehmbaren objektiven sinnlichen Qualitäten dieses Dinges selbst wären. Alle diese nie vollständigen, sondern immer zu erweiternden optimalen Gegebenheiten machen die wahrnehmbaren objektiven Sinnesqualitäten dieser Landschaft aus.
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Ebenda.
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4. Kapitel. Die Konstitution solipsistischer und intersubjektiver Objektivität
d) Die orthoästhetische Vielheit von Aspekten (Anblicken) als Gemeinbesitz aller Subjekte und die Anomalität in der Erfahrung der gemeinsamen Welt In dem im jetzigen § 33 zitierten Text über Normalität und Objektivität aus der Zeit zwischen 1915 und 1917 geht Husserl nun von der solipsistischen Erfahrung zur intersubjektiven über. Jedes Subjekt erfährt vom selben räumlich-zeitlichen Ding einen Aspekt, aber es nimmt in der Einfühlung an, dass irgendein anderes Subjekt bei entsprechendem Gesichtspunktwechsel individuell denselben Aspekt dieses Dinges haben würde. «Die unendliche orthologische [= orthoästhetische] Mannigfaltigkeit der möglichen (motivierten) Aspekte ist gewissermassen Gemeingut aller Subjekte. […] Ein Subjekt kann gleichzeitig nicht zwei Aspekte der orthologischen Mannigfaltigkeit haben, aber verteilt auf verschiedene Subjekte kann eine Mehrheit von Aspekten gleichzeitig sein und muss es sein, wenn die Subjekte gleichzeitig dasselbe Dingliche erfahren.»221
Der normale Fall besteht darin, dass jedes Subjekt einer intersubjektiven Gemeinschaft dasselbe System von orthoästhetischen Erscheinungen (Aspekten) besitzt. Aber wie z. B. Farbenblindheit zeigt, gibt es beweisbare Differenzen in den Farberscheinungen und in den Erscheinungen anderer Sinnesfelder. Aber «jedes Subjekt, auch der Farbenblinde, hat seine Orthologie [= Orthoästhesie]. Er konstituiert ja seine Erscheinungswelt, und diese darin erscheinende Welt ist wahre Welt.»222 Diese Erscheinungswelt ist im oben angegebenen Sinne anomal, aber wäre normal, wenn die meisten Subjekte sie in derselben Weise wahrnehmen würden. Man könnte dagegen sagen, dass sich im Vergleich der Erscheinungswelten der verschiedenen Subjekte Unterschiede des Reicheren und Ärmeren finden und dass das optimale orthoästhetische System den Vorzug hat, dass es vom «wahren Ding» den grössten Reichtum der ihm zukommenden Differenzen darstellt, z. B. den Unterschied zwischen Rot und Grün. «Wir als Normale unterscheiden daher, was der Anomale, wenn er auf sein System der Orthoästhesie angewiesen ist, verwechselt [z. B. Rot und Grün].»223 Doch diese Bestimmung der Normalität durch das Optimum der wahrgenommenen Erscheinungsdifferenzen ist nicht haltbar. Denn das hätte zur Konsequenz, dass die visuelle Erscheinungswelt des Adlers oder die olfaktive Erscheinungswelt im Riechen des Hundes die normale wäre. Es gibt faktisch immer wieder «Übernormales» ebenso wie «Unternormales», ohne feste Grenzen. Es wäre besser zu sagen, «dass das typisch Allgemeine, Durchschnittliche ein verständliches Mass [für die Normalität der 221 A.a.O., S. 377/378. Über die Objektivität und Intersubjektivität von Aspekten siehe auch in Hua XIV, Text Nr. 13 (Januar/Februar 1922), S. 250–256. 222 A.a.O., S. 379. 223 A.a.O., S. 379/380.
§ 33. Solipsistische und intersubjektive Normalität in der Konstitution von Objektivität
verschiedenen Erscheinungssysteme] ist, dem gegenüber wir das Unternormale und das Übernormale abgehoben fänden».224 Die Anomalien, welche in den Widersprüchen verschiedener Subjekte hinsichtlich der wahrgenommenen Eigenschaften der Dinge hervortreten, werden vorerst aufgrund der Normalität gelöst, d. h. aufgrund dessen, was «alle» Menschen, alle zusammen und jeder für sich selbst, orthoästhetisch als das Wahre wahrnehmen; «wo einzelne es anders finden, sind es Querköpfe (sinnlich [d. h. in ihren Sinnesorganen] defekte), wie die Erfahrung zeigt.»225 Aber dies kann nicht das letzte Wort sein. Einerseits hat jeder Einzelne seine eigenen Wahrnehmungen von den räumlichen Dingen und hat in seiner Einfühlung die anderen Menschen als dieselben Dinge wahrnehmend zu setzen. Vor allem stimmen die Aussagen und Vorhersagen über den Raum und die kausalen Relationen zwischen mir und den anderen überein. Andererseits verbleiben Unstimmigkeiten. «Es kann aber nicht ein und dasselbe Ding unstimmige Eigenschaften haben. Die Dinge […] haben dieselben raumzeitlichen Eigenschaften, aber auch sinnliche Eigenschaften, die ihrerseits abhängig sind von den Subjekten und Subjektleibern. Die Idee derselben Dinglichkeit lässt sich aber […] voll durchhalten unter dem Gesichtspunkt der mathematisch-physischen Natur und der Abhängigkeit aller Sinnendinge als ‹blosse Erscheinungen› der wahren Dinge (der mathematischen Natur) von der wechselnden Subjektivität, vermittelt durch die Kausalität der Dinge mit dem Leibe (beide nach ihrem An-sich-sein betrachtet).»226
e) Die logisch-mathematische Objektivität als notwendige intersubjektive Objektivität gegenüber der Vielheit der verschiedenen orthoästhetischen Systeme der einzelnen Subjekte Die mathematische Konstitution der Natur ist wegen der Verschiedenheit der orthoästhetischen Wahrnehmungssysteme der einzelnen menschlichen Subjekte gefordert. Diese Konstitution wird nicht durch die sinnliche Anschaulichkeit der Wahrnehmung, sondern durch mathematisches Denken geleistet. Das sinnlich Anschauliche wird durch das wahrnehmende Subjekt und seine subjektiven Wahrnehmungsgesetze bedingt. Dies führt zu den Problemen der empirischen Psychologie der Wahrnehmung. Wenn mathematische Physik nur das Ziel exakter, nicht-zweideutiger Bestimmung verfolgt, dann ist nach Husserl schon das solipsistische Einzelsubjekt dazu fähig. Aber für ein solches Subjekt kann das mathematisch bestimmte phy-
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A.a.O., S. 380. Ebenda. A.a.O., S. 181.
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4. Kapitel. Die Konstitution solipsistischer und intersubjektiver Objektivität
sische Ding nicht als das «Ding an sich» im Gegensatz zum sinnlich wahrgenommenen Ding als blosse Erscheinung gelten. Dieser Unterschied entsteht erst durch die Widersprüche zwischen den verschiedenen orthoästhetischen Systemen in der Kommunikation der verschiedenen Subjekte. Für das solipsistische Subjekt ist die mathematische Natur in einer exakten, aber für seine sinnliche Wahrnehmung leeren Weise gegeben, und die wahrgenommene Natur ist in einer weniger exakten, aber für seine sinnliche Wahrnehmung anschaulich mehr oder weniger erfüllten Weise gegeben.227 Die orthoästhetisch wahrgenommenen Dinge bilden die notwendige Grundlage für die denkende mathematische Konstruktion von sinnlich-anschaulich leeren «Dingen an sich». Die mathematische Physik wird nicht nur von in ihrer sinnlichen Wahrnehmung normalen Menschen geleistet, sondern auch ein in seiner sinnlichen Wahrnehmung anomaler Mensch, z. B. ein Farbenblinder, kann mathematische Physik betreiben. «Aber wie weit kann seine Anomalität reichen, damit er nicht auf die Aussagen Anderer mit einer ‹reicheren›, besser bekundenden Sinnlichkeit angewiesen ist. […] Wenn einer so anomal wäre, dass er gar keinen Wärmesinn hätte, oder so anomal, dass er gar keinen Gesichtssinn hätte usw., wie weit reicht es bei ihm ohne notwendige Anleihe bei solchen, die entsprechende Sinne haben?»228
Wir berühren hier Husserls in späteren Jahren ausgearbeitete Gedanken über die sinnlich anschauliche Lebenswelt als die Grundlage der wissenschaftlichen, mathematisch konstruierten Gedankenwelt. Husserls spätester Begriff der Lebenswelt wird aber nicht die bloss sinnlich anschauliche Wahrnehmungswelt sein, sondern die konkrete Welt unseres täglichen Lebens, in die gewisse Resultate der mathematischen Naturwissenschaften eingeflossen sind. Diese konkrete Welt steht im Gegensatz zu den abstrakten «Berufswelten» der verschiedenen mathematischen Naturwissenschaftler. Diese abstrakten Welten sind nur Gegenstand der besonderen, während der Zeit ihrer Berufstätigkeit ausgeübten Interessen der mathematischen Wissenschaftler. Während ihrer Berufstätigkeit im von der sinnlichen Wahrnehmung geleiteten Hantieren mit den verschiedensten wissenschaftlichen Messgeräten, im gewöhnlichen Gespräch mit ihren Kollegen während der Arbeitspausen, auf dem Weg nach Hause und zu Hause mit Frau und Familie, in der Freizeit usw., überhaupt in ihrem konkreten Leben sind sie in ihrem Bewusstsein in der konkreten Lebenswelt und nicht in ihren mathematischen Denkkonstruktionen.229
A.a.O., S. 382, Anm. 1. A.a.O., S. 383/384. 229 Vgl. meinen Beitrag «Die Lebenswelt als Grundlagenproblem der objektiven Wissenschaften und als universales Wahrheits- und Seinsproblem», in Rudolf Bernet / Iso Kern / Eduard
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§ 34. Die Einfühlung in Kinder und Tiere und in ihre Welten
§ 34. Die Einfühlung in Kinder und Tiere und in ihre Welten durch Interpretation aufgrund von «Abbau» der Genesis der Naturerfahrung. Der Unterschied zwischen der Erfahrung der Natur und dem interpretierenden Verstehen der Naturerfahrung anderer Subjekte. Das Problem der Kommunikation mit Tieren und der Interpretation der Kommunikation zwischen Tieren Einen Text aus dem Sommer 1921, der im Zusammenhang des damals geplanten «grossen systematischen Werkes» entstanden ist, beginnt Husserl mit der folgenden Frage: «Der Andere kann einen Sinnbestand anschaulicher Dinge haben, den ich nicht habe. Wie beeinflusst das die Ontologie der Erfahrung? Kann ich ontologische Sätze gelten lassen, die der Andere erkennt, die ich nicht nacherkennen kann?»230 Husserl stellt fest, dass jeder seine eigene Erfahrung hat, sein Universum des Erfahrenen und Erfahrbaren. Im Masse, in dem im Zusammenhang der Einfühlung eigene Erfahrungen dem anderen «introjiziert» werden können, geschieht für mich nichts Neues. Denn ich bin fähig, den anderen zu verstehen, und ich kann seine Erfahrungen übernehmen. Aber wenn der andere anomale Erfahrungen hat, vermag ich ihn nicht zu verstehen, denn er kann sinnlich anschaulich Dinge erfahren, die ich nicht sinnlich anschaulich erfahren kann. Husserl betont dann, dass es die Ontologie der Natur mit der Form der Natur zu tun hat und nicht mit ihrer «Hyle», nicht mit ihrem Stoff, d. h. dem Inhalt der verschiedenen Sinnesfelder und dass die Form nicht von diesem Inhalt abhängt. «Wesenhaftes gehört zur ontologischen Dingform, Wesenhaftes dann auch zur konstitutiven Form [zur Form der subjektiven Konstitution der Dinge]. Dass die Form verschiedentlich und trennbar [von ihr] ausfüllbar ist, das ist gegeben, so dass es dabei bleibt: Das Formale kann jeder und muss jeder in sich adäquat erfassen können, und das Formale der Intersubjektivität in sich durch Einfühlung und Gemeinschaft mit Anderen durch wechselseitiges Verständnis.»231
Nach Husserl gehört es aber auch zur Form, wie jeder Sinn seine eigene «Schicht» zur Konstitution der Naturdinge beiträgt, wie diese Schichten, z. B. das Sichtbare und das Tastbare, ihre Entsprechungen und Verweisungen haben und Marbach, Edmund Husserl. Darstellung seines Denkens, Felix Meiner, Hamburg 1996, S. 199– 208. 230 Hua XIV, Text Nr. 6 (St. Märgen, 1921), S. 113. 231 A. a. O, S. 113, Anm.
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4. Kapitel. Die Konstitution solipsistischer und intersubjektiver Objektivität
wie Normalität und Anomalie zusammengehören. Man kann nicht Anomalien oder andere, in einem selbst nicht vorhandene Sinnesfelder in andere einfühlen, wenn man nicht allein, ohne den anderen, diese Anomalien oder anderen Sinnesfelder erleben würde.232 Husserl verfolgt dieses Problem mit der Frage, was für die Erfahrung von Natur notwendig ist (was sind die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung von Natur). «Wäre ich eine Qualle, hätte ich schon eine Naturerfahrung? Hätte ich bloss Geruch wie die Condillac’sche Statue, hätte ich Erfahrung von Natur? Würde die denkende Qualle auch eine Ontologie der Natur haben?»233 Erfahrene Natur muss nicht volle Natur sein, wie wir Menschen sie haben, sie kann eine Apperzeption [Auffassung von Naturdingen] niederer Stufe sein. Aber «alle möglichen Apperzeptionen, die sich in eine volle Naturapperzeption einordnen, haben einen gemeinsamen Typus; immer sind es Apperzeptionen, die Erscheinungseinheiten, Einheiten der Darstellung durch Abschattungen, durch Optima usw. konstituieren».234 Entsprechend können wir in der Phantasie systematisch die genetischen Schichten unserer Naturerfahrung von Erwachsenen abbauen und z. B. phantasieren, was vom erfahrenen Naturding bleiben würde, wenn wir unseren Leib nicht von einer Stelle zu einer anderen hinbewegen und nur unsere sehenden Augen bewegen könnten. Von unserem Gesichtspunkt als Erwachsene können wir mit Recht von der embryonalen und kindlichen Entwicklung der Naturerfahrung sprechen. «[…] das Kind sieht dieselben Dinge evtl. wie ich, aber es hat noch nicht die vollständig ausgebildete Apperzeption. Es fehlen dem Kind noch die höheren Horizonte, seine Erfahrungen konnten sich noch nicht so organisieren und die und die neuen Motive aufnehmen, durch welche es die betreffenden Dinge als das sieht, als was wir sie sehen. Und ebenso in Bezug auf niedere Tiere.»235
In unserer Einfühlung in Tiere sind wir nur berechtigt, das andere organischleibliche Individuum auf dieselbe Umwelt zu beziehen, in der wir selbst leben, wenn wir ihm diejenige Apperzeptionsstufe einfühlen, die der Verschiedenheit seiner Leiblichkeit gegenüber der unseren entspricht. Unsere höheren Apperzeptionsstufen, die keine solche Entsprechung aufweisen, müssen wir beim eingefühlten intentionalen Bezug zur gemeinsamen Umwelt abbauen. Aber unsere Einfühlung ist sehr vage, sie hat nicht die vorgeschriebenen Horizonte unserer genetisch erworbenen Erfahrung von Naturdingen, in der «unter allen Umstän-
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A.a.O., S. 113. A.a.O., S. 113/114. A.a.O., S. 114. A.a.O., S. 115/116.
§ 34. Die Einfühlung in Kinder und Tiere und in ihre Welten
den die volle ontologische Form eines Dinges oder dinglichen Vorganges, einer dinglichen Mehrheit usw. vorgezeichnet ist»236. «Dies ist ganz anders bei der Auffassung eines Tieres, und in ausgezeichnetem Masse bei einem niederen Tier, in das wir uns nicht wie bei einem höheren Tier leiblich sozusagen ganz hineinschmiegen, hineindehnen können, unter Deckung der wesentlichen Organe und Organgruppen, der entsprechenden kinästhetischen Systeme usw. Aber schon da bedarf es des ‹Abbaus›, aber die Notwendigkeit wird nicht gleich merkbar. Als Kind legt man [einem höheren Tier, z. B. einem Hund oder einer Katze] zunächst einen Menschen ein und erwartet die Ausweisung, die Bestätigung im Verhalten des Tieres, als wäre es menschliches Verhalten. Wir entwickelte Menschen, ein Pferd etc. betrachtend, vollziehen da analogisierende Deckung [mit unserer eigenen Erfahrung] in reich gegliederter Besonderung, ‹fast› wie bei Nebenmenschen, [aber] da und dort unklar, nicht Deckungen, [sondern] einer Andersbestimmung [eines Abbaus] bedürftig.»237
Soviel ich weiss, erörtert Husserl nirgends die Einfühlung in Tiere, die im Vergleich mit uns Menschen ihre Umwelt in sehr verschiedener, aber nicht weniger, ja manchmal sogar noch differenzierterer Weise sinnlich wahrnehmen. Fledermäuse zum Beispiel, die in der Dämmerung und Nacht herumfliegen, nehmen ihre Umwelt nicht mit ihren Augen, sondern mit ihren Ohren wahr, nämlich indem sie das Echo der von ihnen selbst erzeugten, aber für uns Menschen unhörbaren Töne wahrnehmen. In diesem Falle sollten wir bei der Einfühlung der sinnlichen Wahrnehmung ihrer Umwelt nicht nur vom Abbau hinsichtlich der visuellen Wahrnehmungskomponente, sondern auch von einem Umbau ihrer auditiven Wahrnehmung sprechen. Wir selbst besitzen die Elemente, sozusagen die Bausteine, für diesen Umbau, denn wir machen selbst die Erfahrung des Echos, wenn wir in den Bergen rufen oder pfeifen, und machen auch die Erfahrung, dass, wenn die Bergwände näher sind, das Echo unseres Pfeifens oder Rufens schneller zurückkommt, als wenn die Bergwände ferner liegen. Also können wir auch so ganz elementar unsere Umwelt so wie die Fledermäuse wahrnehmen und dadurch die wahrgenommene Umwelt der Fledermäuse verstehen. Oder wir können uns in die visuelle Umwelt eines viel besser als wir Menschen sehenden Raubvogels durch Umbau einfühlen, indem wir z. B. in der Phantasie vergegenwärtigen, dass er seine Umwelt so sieht wie wir mit einem guten Fernrohr oder Feldstecher. Ein anderes Beispiel einer Einfühlung in Tiere, die im Vergleich mit uns Menschen ihre Umwelt in sehr anderer Weise wahrnehmen, ist die mögliche Einfühlung in die Geruchswelt der Hunde. Hunde beriechen alles, auch uns Menschen, und erkennen uns vielleicht am besten durch den Geruchssinn. Auf ihren Wegen beriechen sie genau die Urin-Markierungen anderer Hunde, wissen
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A.a.O. S. 117. A.a.O., S. 117.
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dadurch nicht nur, welcher andere Hund dort vorbeigekommen ist, sondern auch noch, ob er vor kurzer oder vor längerer Zeit vorbeigekommen ist. Auf ihren Wegen riechen sie den Geruch von Wild an dessen Spuren und wissen auch, wie alt die Spuren sind; wenn die Spuren frisch sind, verfolgen sie diese in grösster Eile, um das Wild aufzuspüren. Im Sinnesfeld des Geruches ist ihre Wahrnehmung der Umwelt sehr viel umfangreicher und genauer als unsere menschliche. Nicht durch Abbau, sondern durch erweiternden Umbau können wir diese Geruchswelt verstehen. Ich kannte einen Menschen, der, wenn er in ein Zimmer kam, am Geruch sofort erkennen konnte, wer vorher da gewesen war, wenn er diesen Menschen kannte. Sein Geruchssinn war viel besser als der durchschnittliche menschliche, aber lange nicht so gut wie derjenige eines Hundes. Ein Hund weiss sofort, welcher Mensch oder welcher andere Hund früher in einem Zimmer war, wenn er diese kennt, und wenn er sie nicht kennt, weiss er, ob ein Mensch oder ein Hund da war. Auch wir durchschnittlichen Menschen können gewisse Menschen an ihrem Geruch erkennen, aber nur wenn sie einen besonders ausgeprägten, meistens üblen Eigengeruch haben. Wir sagen, dass wir jemanden nicht riechen können, und meinen damit, dass wir ihn nicht ausstehen können. Der Geruch betrifft uns neben dem Wohlklang und dem Lärm wohl am meisten, weil er durch die Nase, wie der Wohlklang oder der Lärm durch das Ohr, in unseren Leib eindringt, während das mit dem Fernsinn des Auges Gesehene in der Ferne bleibt. Menschen parfümieren sich, um andere durch ihren Geruch zu betören, wenn sie aber einen schlechten Geschmack haben, wirkt ihre Betörung abstossend, und man «kann sie nicht riechen». Auch die mit einem durchschnittlichen Geruchssinn begabten Menschen riechen viel. Ein Glas mit Wein beriechen wir im Allgemeinen, bevor wir ihn trinken. Wir wollen wissen, ob er gut und wie gut er ist. Oder wenn wir in die Küche kommen, erkennen wir am Geruch sofort, dass ein guter Kuchen im Ofen ist oder dass eine Speise beim Kochen angebrannt oder sogar verkohlt ist. So ist es uns möglich, durch Umbau uns die Geruchswelt des Hundes in der Phantasie vorzustellen. «Auch bezüglich unserer Mitmenschen heisst es zunächst: tout comme chez nous [«alles wie bei uns selbst»], und erst in der Erfahrung besondert sich der Andere, und es findet ein gewisser Abbau statt.»238 In einem Text, der wahrscheinlich aus dem September oder Oktober 1933 stammt, schreibt Husserl, dass es eine vollkommene Kenntnis eines anderen prinzipiell nicht gibt, dass ich ihn in seiner individuellen «Historizität», seiner genetischen Selbstkonstitution, nicht wirklich vollkommen, ja nicht einmal in Strecken enthüllen kann. «Ich kann ja nicht einmal meine eigene enthüllen, [nicht einmal] meine eigene transzendentale Konstitution erinnerungsmässig wiederherstellen, obschon ich doch entwi-
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Ebenda.
§ 34. Die Einfühlung in Kinder und Tiere und in ihre Welten
ckelter Mensch nur bin als der Erwerb dieser Konstitution und mit dem ‹Vermögen›, mich zu erinnern.»239 Husserl schliesst seine Überlegungen im zitierten Text aus dem Jahre 1921 über den Unterschied zwischen der Erfahrung der Naturdinge und der Einfühlung in verschiedenartige erlebende Wesen mit folgendem Gedanken: Im Gegensatz zur Erfahrung von Naturdingen ist die Einfühlung in verschiedenartige einfühlende Wesen nicht inhaltliche Ausfüllung der in unserem Horizont schon liegenden ontologischen Struktur, sondern die Neubildung eines passenden Horizontes in passender ontologischer Form durch die Methode des «Abbaus».240 Husserl war vor allem interessiert an der subjektiven und intersubjektiven Konstitution von Objektivität, der Objektivität der wahrgenommenen Natur, der mathematischen Objektivität, der mathematisch konstruierten objektiven wissenschaftlichen Natur, der Objektivität der Geisteswissenschaften, der Objektivität von idealen Gebilden wie der intersubjektiven Objektivität (Identität) eines Gedichtes (gedruckt in einer Vielzahl von verschiedenen physischen Büchern, von denen jedes einzelne wieder seine physische Identität und intersubjektive Objektivität besitzt), usw. Er war als ursprünglicher Mathematiker und Logiker an dieser subjektiven und intersubjektiven Konstitution von Objektivität wohl mehr interessiert als an der Intersubjektivität im Sinne der verschiedenartigen Beziehungen zwischen den verschiedenartigen Subjekten. Um von intersubjektiver Objektivität sprechen zu können, musste er auch die Einfühlung in andere Subjekte phänomenologisch analysieren. Doch wie wir in seinem Manuskript «Gemeingeist I» und anderen oben im dritten Teil zitierten Manuskripten gesehen haben, hatte er auch die verschiedenartige Weise der Kommunikation in menschlichen Gemeinschaften im Auge. Aber er schrieb, soweit ich sehe, nie über die Kommunikation zwischen Menschen und Tieren und über die Kommunikation zwischen Tieren, bei denen die Konstitution einer intersubjektiven objektiven Welt keine Rolle spielt. Doch ist die Beziehung zwischen Menschen und Tieren (zwischen menschlichem und tierischem Subjekt) im Leben des Menschen sehr wichtig, besonders für Kinder und für ältere Menschen. Ich kenne keine Kinder, die nicht Tiere lieben. Sie sind glücklich, einen Hund, eine Katze, ein Kaninchen, ein Meerschweinchen zu besitzen und mit ihnen zu spielen. Und wenn sie gut mit ihnen spielen, sind auch die Tiere glücklich. Und sie verstehen einander gut. Für viele alte, einsam gewordene Menschen sind Tiere, Hunde, Katzen und andere Tiere, gute Freunde, und es ist sogar wissenschaftlich nachgewiesen, dass sie mit diesen Tieren älter werden als andere einsam Gewordene ohne diese Gemeinschaft. Auch hoch entwickelte, sehr soziale Vögel wie zahme Papageien und zahme Rabenvögel sind für den Menschen gute Gesellschafter, und umgekehrt sind die 239 240
Hua XV, Beilage IL, S. 631/632. Hua XIV, Text Nr. 6, S. 119.
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Menschen auch für diese Vögel erwünschte Gesellschafter. Und oft sind erwachsene Menschen im besten Alter gerne mit Tieren zusammen. Ich war es von meiner Kindheit an bis jetzt mit meinen über achtzig Jahren; ich grüsse freundlich alle Tiere und spreche mit allen Tieren, denen ich begegne und die mich anschauen. Die Gemeinschaft von Menschen und Tieren und die Gemeinschaft zwischen Tieren verschiedener Art, z. B. die Freundschaft zwischen einem Hund und einer Katze, zwischen einem Kaninchen und einem Meerschweinchen oder die Freundschaft zwischen einem Pferd und einem Huhn, das gefahrlos zwischen den Beinen des Pferdes herumläuft, ist etwas sehr Interessantes und Schönes. Die Kommunikation zwischen Mensch und Tier und zwischen Tieren verläuft auf der Ebene des leiblichen und lautlichen Ausdrucks von Stimmungen, Gefühlen und Absichten und dem Verstehen dieser Ausdrücke. Stimmungen, Gefühle, Absichten sind auch im menschlichen Leben das Grundlegende. Ohne Wissenschaften können wir glücklich leben, aber nicht ohne gute Stimmungen, erfreuende Gefühle, Absichten und ihre intersubjektive Kommunikation und ihr wechselseitiges Verstehen. Ich weiss von einer englischsprachigen Person, die auch Deutsch gelernt hatte und den Hund eines meiner deutschsprachigen Freunde spazieren führte und von der Intelligenz dieses Hundes ausserordentlich beeindruckt war. Denn, sagte jene Person, dieser Hund verstehe nicht nur Deutsch, sondern auch noch Englisch und Französisch. Sie erzählte, dass, wenn sie bei ihren Spaziergängen mit diesem Hund nach Hause umkehren wollte, sie zuerst auf Deutsch dem Hund sagte (denn sie dachte sich, dass der Hund eines deutschsprachigen Besitzers Deutsch verstehe): «Jetzt kehren wir nach Hause zurück!» Dieser habe sie sofort verstanden und sei umgekehrt. Nach einigen Spaziergängen habe sie in derselben Situation in englischer Sprache gesagt: «We have to return now», und der Hund habe sie wieder verstanden und sei umgekehrt. Und danach habe sie dasselbe noch in ihrem gebrochenen Französisch versucht, mit demselben guten Erfolg. Des Hundes erstaunliches Verständnis von drei Sprachen bestand aber in nichts anderem als in seinem genauen Beobachten des leiblichen und nicht sprachlich wahrgenommenen stimmlichen Ausdrucks der Absicht jener Person, ein Ausdruck, der bei allen drei Sprachen derselbe war. In diesem Beobachten des nicht-sprachlichen leiblichen Absichtsverhaltens sind höhere Tiere dem Menschen überlegen, da die Tiere für ihre Kommunikation über keine Sprachen im menschlichen Sinne verfügen. Die Kommunikation zwischen höheren Tieren verläuft in derselben Weise wie diejenige zwischen Menschen und Tieren. Der österreichische Ethologe Konrad Lorenz (1903–1989) schrieb: «Der Mensch bedarf nicht winzigster Intentionsbewegungen, seine Stimmung mitzuteilen, er kann es ja sagen. Dohlen oder Hunde sind darauf angewiesen, ‹einander an den Augen abzulesen›, was jeder im nächsten Augenblick tun wird. Deshalb ist bei höheren und gesellschaftlich lebenden Tieren sowohl der Empfangsapparat und der Sendeapparat
§ 35. Die Erfahrung der Welt als Heimwelt und als Fremdwelt
der Stimmungsübertragung viel besser entwickelt und viel spezialisierter als bei uns Menschen. Alle Ausdruckslaute der Tiere, wie das Kjya und Kjuh der Dohle, der viel- und der wenigsilbige Stimmfühlungslaut der Graugans, all das ist unserer Wortsprache nicht vergleichbar, sondern ausschliesslich solchen Stimmungsäusserungen wie Gähnen, Stirnrunzeln, Lächeln und dergleichen, die unbewusst und angeborenermassen ‹geäussert› und ebenso verstanden werden. Die ‹Worte› der verschiedenen Tier-‹Sprachen› sind sozusagen nur Interjektionen.»241
Durch unsere unabsichtlich geäusserten Interjektionen wie Ah, Oh, Uuh, Mmh usw. teilen wir viele Gefühle und Stimmungen unseren Mitsubjekten, Menschen und Tieren, mit. Höhere soziale Tiere und Menschen kommunizieren ebenfalls durch unabsichtliche, aber auch absichtliche Intentionsbewegungen der Arme oder des Kopfes oder des ganzen Leibes (z. B. durch ein schnelles Sich-Abdrehen) und durch Töne, um dem Partner oder den Partnern etwas mitzuteilen. Es gibt differenzierte Kommunikationsweisen durch angeborene Ausdruckbewegungen zwischen Tieren. Der berühmte österreichische Zoologe Karl von Frisch hat 1923 in seiner Schrift «Die ‹Sprache› der Bienen» gezeigt, dass Arbeitsbienen durch verschiedene Orientierungen und Geschwindigkeiten (Intensität) ihrer Tänze den anderen Arbeitsbienen mitteilen, in welcher Richtung wie viel Nahrung zu finden ist.
§ 35. Die Erfahrung der Welt als Heimwelt und als Fremdwelt anderer Menschen und Tiere. Das Durchschnittliche, Normale als die fundamentale Schicht in der Heimwelt. Fremdheit als Zugänglichkeit in der Form der Unverständlichkeit Im August/September 1933, als Adolf Hitler schon Reichskanzler war, schrieb Husserl: «Zur Typik der Tiere wie der Menschen gehört eine Typik der Gegebenheitsweise des für uns Bekannt- und Unbekanntseins mit Wegen des Bekanntwerdens. Das ist so zunächst für alles Reale und die Welt im Ganzen. Im Ganzen haben wir die Struktur der Heimwelt und ihrer Stufen, des Horizontes der Fremde, die Art wie sich die Heimwelt selbst durch Erfahrung immer mehr erschliesst, sich aber auch erweitert durch Einbeziehung von Fremde, die zunächst mit einem grossen Horizont der Unbekanntheit verstanden ist und dann immer bekannter und [immer mehr] verstanden wird. Das betrifft alle Dinge – in ihrer Typik der Auffassung als Heimdinge und Fremddinge.»242
Konrad Lorenz, «Salomos Ring», in Er redete mit dem Vieh, den Vögeln und den Fischen, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1964, S. 73. 242 Hua XV, Text Nr. 35, S. 623/624. 241
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Indem er sich auf die menschliche Erfahrung beschränkt, schreibt Husserl weiter, dass jedermann seine Heimgenossen (Heimmenschen) als Menschen in Beziehung auf die gemeinsam geltende allvertraute Heimwelt versteht. «Meine unbekannten Heimgenossen apperzipiere ich [fasse ich auf] ohne weiteres mit der ganzen Struktur des Heimgenossen, und aus seinem Verhalten zu unserer vertrauten Heimsphäre bestimmt er sich mir näher, wird er mir bekannt, wie alle Bekannten sonst mir bekannt geworden sind.»243 Den Fremden versteht jeder Heimgenosse zwar in leerer Allgemeinheit als Ichsubjekt, aber nicht mit der psychischen Eigenheit des Heimmenschen, vielmehr als Menschen einer unbekannten Heimwelt, der seine Vermögen, seine Interessenhabitualität, seine subjektive Struktur der Erfahrungsmöglichkeit und der praktischen Möglichkeiten usw. entsprechen. Der Fremde ist mir und uns Heimgenossen «in seinem psychischen Individualtypus, aber auch in seinem völkischen und speziellen heimatlichen Typus […] völlig unbekannt, und jenes ist gerade das, was ihm [dem Fremden] Konkretion des Seins verleiht».244 Wenn ich in die Fremde gehe, dann eigne ich mir die fremden Menschen und ihre Fremdwelt zunächst notwendigerweise aufgrund derselben apperzeptiven Typik zu, in der mir die Heimat mit den heimischen Dingen, heimischen Tieren und Pflanzen, mit der heimischen Kultur usw. zu eigen geworden ist. D. h., ich fasse die fremden Menschen und ihre Welt so auf, wie ich meine Heimgenossen und meine Heimwelt auffasse. «Dann finde ich mich zwar in derselben Welt und endlichen Weltsphäre wie die fremden Menschen dieser Sphäre, aber keineswegs bin ich darum schon in dieser neuen Umwelt beheimatet.»245 Denn ich kann in dieser neuen Umwelt die Menschen nicht so einfach kennenlernen wie diejenigen meiner Heimat, ich kann ihre Verhaltensweisen zu dieser Welt und diese Welt nicht so verstehen, wie diese fremden Menschen sie verstehen und wie diese Welt für sie ist und wie diese Menschen füreinander sind. «Und doch verstehe ich sie und verstehen wir einander als Menschen.»246 «[…] und nun erwachsen die Probleme der Methode, hier konkretes Verständnis und Wechselverständnis herzustellen, also in der Relativität und von der vertrauten Welt und Menschheit her die Fremde zu erschliessen und vertraut zu machen – also doch wohl es irgendwie zustande zu bringen, das wir die Fremde verheimatlichen oder so anschaulich nachverstehen können, als ob sie Heimat wäre – freilich auch mit der Frage nach den Grenzen solcher Erkenntnis […].»247
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A.a.O., S. 624. A.a.O., S. 624. A.a.O., S. 624/625. A.a.O., S. 625. A.a.O., S. 625.
§ 35. Die Erfahrung der Welt als Heimwelt und als Fremdwelt
Die in den obigen Überlegungen Husserls enthaltenen Beschreibungen entsprechen genau meinen Erfahrungen, die ich 1976 machte, als ich zum ersten Mal in die für mich fremde chinesische Welt Taiwans zog. Nachdem ich zuerst schon in Deutschland Grundlagen der modernen chinesischen Hochsprache in Laut und Schrift und der klassischen Schriftsprache gelernt und auch ein wenig mit der chinesischen Philosophie und Kunst (vor allem der Malerei) mich vertraut gemacht hatte, fühlte ich mich in Taiwan zuerst vertraut, fast wie zu Hause. Die Taiwanesen in ihren Kleidern erschienen mir nur wenig verschieden von den Leuten bei uns in Europa. Ihre Häuser waren auch sehr ähnlich wie die europäischen. Da ich schon zuvor in Büchern einige Bilder von Taiwan gesehen hatte, war mir einiges Äusserliche schon vertraut. Ich konnte mit chinesischen Lehrern an der Sprachschule und vor allem mit taiwanesischen Studenten zum Teil sprechen wie mit Menschen zu Hause. Ihre Sprache war zwar sehr anders, oft verstand ich sie nicht, aber wenn ich mit den dortigen Leuten sprach und sie verstand, achtete ich nicht auf die Verschiedenheit der Sprache, sondern auf das, was wir miteinander besprachen, und das verstand ich so wie ich das verstand, was ich mit Menschen in Europa besprach. Auch einige Vögel und Pflanzen kannte ich von zu Hause. Fremd waren mir zuerst die vielen daoistischen Tempel in Xinchu, aber ich lernte schnell die Namen ihrer Götter oder Geister und nahm sogar auch zwei Mal an grossen religiösen Prozessionen teil. So wurde ich mit diesem mir Fremden ziemlich vertraut. Die buddhistischen und daoistischen Tempel schienen mir mit ihren vielen Statuen und Bildern den katholischen Kirchen in Europa zu gleichen, die Konfuzius-Tempel in ihrer Nüchternheit eher den reformierten. So konnte ich auch mit europäischen Auffassungsmustern fast alles mir zueignen. In einer zweiten Phase bemerkte ich aber auch plötzlich einige Dinge, an die ich mich zwar irgendwie gewöhnte, aber die mir immer fremd blieben: Wenn ich auf Fussgängerstreifen die Strasse überqueren wollte, gaben mir die Autos, Motorfahrräder und die Fahrräder nicht den Vortritt. Ein Schweizer erklärte mir, dass beim Verkehr, trotz aller Fussgängerstreifen, immer der Mächtigere den Vortritt vor dem Schwächeren habe: also der Lastwagen vor dem Personenauto, das Personenauto vor dem Motorrad, das Motorrad vor dem Fahrrad, das Fahrrad vor dem Fussgänger. Da fühlte ich mich nicht zu Hause. Wenn ich eingeladen wurde, sagte mir manchmal der Gastgeber, nachdem er mir fünf oder sechs sehr gute Speisegänge offeriert hatte: «Entschuldigen Sie mich, ich hatte nichts Ihnen Würdiges anzubieten.» Auch da fühlte ich mich nicht zu Hause, denn das war mir zu Hause nie passiert. Als ich spät in der Nacht einmal in einem Taxi sass, hielt der Taxifahrer plötzlich an und kämpfte mit einem anderen Taxifahrer, der auch angehalten hatte, mit Messern. Ich wusste nicht warum. Nach ein oder zwei Minuten kam der Taxifahrer ins Auto zurück, und wir fuhren weiter. Da fühlte ich mich nicht zu Hause, so etwas hatte ich in Europa noch nie erlebt. Ich hörte von einem kürzlich Verstorbenen; derjenige, der mir diesen Tod mitteilte,
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aber nicht zur Familie des Verstorbenen gehörte, schloss mit dem Satz: «Sili, suanli 死了算了» (Er ist gestorben und damit abgerechnet). Aber er hatte ihn nicht etwa aus Rache ermordet, wie ich dies in einer europäischen Sprache verstanden hätte, sondern der Verstorbene war eines natürlichen Todes gestorben. Da fühlte ich mich in der Fremde. Ich sah auch, dass, wenn jemand auf einer Verkehrsstrasse in physischer Not am Boden lag, sich niemand der vielen Vorbeigehenden um ihn kümmerte. Man hat mir aber erklärt, dass, wenn ein Angehöriger dieses Unglücklichen vorbeigekommen wäre, er sich um ihn gekümmert hätte. Auch jenes sich nicht Kümmern war und blieb mir immer fremd. So fühlte ich mich in Taiwan langsam auch wieder fremd. In einer dritten Phase fühlte ich mich in Taiwan und später auf dem chinesischen Festland immer mehr zu Hause, vor allem weil ich dort immer mehr gute Freunde haben durfte, aber auch die chinesische Sprache langsam besser sprach. Vor allem mit diesen Freunden fühle ich mich zu Hause, wie wenn ich hier in Europa mit Freunden zusammen bin. Zu Hause ist man wohl am tiefsten dort, wo die eigene Frau, die Familienangehörigen und die Freunde sind. Eine analoge Erfahrung hatte ich in meinem Kennenlernen der für mich zunächst ganz fremden Welt der Bergbauern hier in der Schweiz. Nach meiner Pensionierung zog ich in ein kleines Dorf im Voralpengebiet, wo es noch einige Bauern gibt. Hier erkannte ich, dass nicht nur andere Völker in einer für mich fremden Welt leben, sondern dass es auch innerhalb des eigenen Landes verschiedene Gruppen mit eigenen Heimwelten gibt, die mir fremd sind. Diese Gruppen, die meistens Berufsgruppen sind, haben sehr verschiedene Interessen, und aus diesen Interessen ergeben sich ganz verschiedene vertraute Heimwelten bzw. für die anderen Gruppen ganz verschiedene Fremdwelten. Wohl gegen aussen besonders abgeschlossen ist die Welt der Bergbauern. Es ist sehr schwierig in ihre Heimwelt einzutreten. Ein Bekannter sagte mir, dass er eine Bauerntochter liebte und sie heiraten wollte, aber von der Familie dieser Tochter nicht akzeptiert wurde. Das Interesse dieser Bergbauern ist fast nur gerichtet auf ihre Kühe, die von ihnen gemolkene Milch, den Milchpreis, die technisch sehr komplizierten Kuhställe mit ihren automatischen Reinigungsmaschinen und Transportkranen für Heuballen, die Geburt der Kälber, den Kauf und Verkauf der Kühe und Kälber, das von ihnen geerbte, hinzugekaufte oder gepachtete Land, ihre zahlreichen landwirtschaftlichen Maschinen, das Schneiden und Trocknen des Grases zu Heu für den Winter, das für sie sehr wichtige Wetter, die ihnen vom Staat gegebenen Subventionen und ihre Steuern. Das ist für sie eine recht komplizierte Heimwelt. Darüber unterhalten sie sich untereinander. Diese Bergbauern sind stolz auf ihre Leistungen. Obschon sie nur noch 4 Prozent der Schweizer Bevölkerung ausmachen, fühlen sie sich in der Schweiz als sehr wichtig, und sie sind es auch. Denn sie sind nicht nur wichtig für ihre Produktion von Milch und Fleisch, sondern sie sind die Landschaftsgärtner der Voralpen und Alpen. Ohne sie würden die grünen Wiesen mit ihren Blumen, Insekten, besonderen Bergvögeln ver-
§ 35. Die Erfahrung der Welt als Heimwelt und als Fremdwelt
schwinden und das Berggebiet würde schliesslich völlig verbuschen und verwalden. Sie haben einen grossen Einfluss in den beiden Kammern des schweizerischen Parlamentes. Wer kein Bauer ist, hat kaum Zugang zu ihnen. Nur wenn ein Aussenstehender Interesse für ihre Probleme zeigt, sprechen sie darüber mit ihm, zeigen aber kein Interesse für das, was diese Aussenstehenden tun, für die diesen vertraute Heimwelt. Da ich Tiere sehr gerne habe, deshalb selbst einmal Bauer werden wollte, interessierte ich mich für die Welt der Bauern und es gelang mir, indem ich sie ausfragte und sogar in geringem Masse an ihrer Tätigkeit im Kuhstall teilnahm, langsam zu ihr einen gewissen Zugang zu finden, in der Reihenfolge der oben beschriebenen Phasen. Ich habe dabei sehr vieles gelernt. Aber Freundschaft mit einem Bauern zu schliessen war mir nicht möglich, denn das hätte vorausgesetzt, dass er sich auch für meine Interessenwelt interessiert. Und da wurde mir auch Folgendes klar: Wir vermögen die Menschen einer anderen Heimwelt nur dann wirklich zu verstehen, wenn auch sie sich bemühen, unsere eigene Heim- und Interessenwelt zu verstehen. Nur in dieser Wechselseitigkeit, mit anderen Worten: nur in einer interkulturellen Beziehung ergibt sich ein Verständnis der Kultur fremder Menschen. Im Erkennen fremder Kulturen kann man vielleicht drei Stufen unterscheiden. In einer ersten Stufe befindet sich der Erkennende in der Haltung des unbeteiligten Beobachters. Er ist z. B. jemand, der zum ersten Mal in ein Land mit einer fremden Kultur reist und, ohne dessen Sprache zu kennen, z. B. in einer Stadt dieses Landes auf den Strassen herumspaziert und sich die Frauen, Männer und Kinder mit ihren Kleidern und den Verkehr mit seinen Lastwagen, Bussen, Autos und Fahrrädern anschaut, Geschäfte und Märkte mit ihren Waren sowie ihre öffentlichen Tempel oder andere religiöse Stätten besucht. Wenn er ein Journalist ist, kann er mit einem Dolmetscher noch einige Leute befragen. Er hat nun den Eindruck, dass er von der Kultur dieses Landes viel Neues gesehen und von den dortigen Leuten viel Neues gehört hat und somit schon gut kennt, und schreibt, wenn er ein guter Journalist ist, darüber in einer Zeitung einen guten objektiven Artikel. In einer zweiten Stufe partizipiert ein eine fremde Kultur Erkennender am Leben dieser Leute: Er hat ihre Sprache gelernt, wird aufgrund der grossen Gastfreundlichkeit der fremden Bevölkerung zu ihnen nach Hause eingeladen, er nimmt an ihren religiösen Zeremonien teil und bittet ihm Bekannte, mit denen er zu diesen religiösen Zeremonien gegangen ist, sie ihm zu erklären usw. Obschon er nun diese Kultur schon besser kennt, hat er den Eindruck, dass er sie noch kaum kennt. Er hält sich für unfähig, darüber etwas Gutes zu schreiben. In einer dritten Stufe hat der Erkennende sich mit einigen Menschen dieser fremden Kultur angefreundet. Diese sagen ihm offen, was sie über das Leben im eigenen Lande denken, und fragen danach, wie es bei ihm in seinem Land mit den entsprechenden Problemen ist. Sie diskutieren zusammen über die verschiedenen Lebensweisen in ihren kulturell verschiedenen Ländern, befragen sich gegenseitig über das Leben in ihren Familien und über ihre beruflichen Tätigkeiten. Der im
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fremden Land dadurch heimisch Werdende lädt einen oder mehrere dieser Freunde in sein eigenes Land ein und lässt diese dadurch auch das kulturelles Leben seines eigenen Landes erfahren. In diesem langsamen wechselseitigen Heimischwerden in der zuerst fremden Kultur erkennen diese Freunde wechselseitig auch, wie der jeweils andere die eigene Kultur wahrnimmt und beurteilt, und lernen dadurch zugleich noch besser die Eigenart der eigenen sowie die Eigenart der fremden Kultur erkennen. Auch dieser die fremde Kultur Erkennende wird nichts über sie schreiben, denn er weiss nicht, wo er anfangen und wo er aufhören soll, vor allem weiss er, dass es innerhalb dieser Kultur noch sehr viele verschiedene menschliche Lebensweisen und entsprechende Kulturen gibt, sodass er sich bewusst ist, dass er vieles nicht kennt. Er macht die Sätze wahr «Je mehr man über etwas weiss, umso mehr weiss man, wie wenig man darüber weiss» und «Je mehr jemand über etwas weiss, umso weniger schreibt er darüber». Aber wenn jemand ihn über diese Kultur etwas fragt, gibt er ihm gerne Auskunft. Das Verständnis zwischen Intellektuellen verschiedener Kulturen, d. h. das gegenseitige sich Zueignen der jeweils anderen Kulturwelt, scheint mir viel leichter zu sein als das gegenseitige Verständnis der «Heimwelten» zwischen Menschen verschiedener Berufsgruppen oder Interessengruppen, und das wohl deshalb, weil zwischen jenen die Gemeinschaft der Freundschaft und damit der gegenseitige geistige Austausch leichter möglich ist. Im oben zitierten Text Husserls über Heim- und Fremdwelt vom September 1933, von dem ich in diesem Paragraphen ausgegangen bin, spricht Husserl auch von den eigenen Umwelten (Heimwelten) der Tiere und unserem möglichen Verständnis dieser tierischen Umwelten: «Das Tier hat vermöge seiner psychischen Art, aus seiner Weise zu apperzipieren [aufzufassen], aus seinen konstitutiven Funktionen seine endliche Umwelt, seine Weise des Welthorizontes [seiner Erfahrungsmöglichkeiten]. Seine Weise ist nicht unsere Weise, unsere noch so eingeschränkte Umwelt ist nicht die Umwelt des Käfers, der Biene, der Taube, auch des Haustieres (das freilich menschlich erzogen, wirklich Züge der Menschlichkeit angenommen hat). Dennoch verstehen wir sie, ein Gemeinsames der Erscheinungsweise der [Erfahrungs‐]Einheiten muss bestehen. Aber wie steht es mit der Aufgabe, tierisches Seelenleben nachzuverstehen, zu fortschreitend vollkommenerer Anschauung zu bringen, sich auch nur eine Anschauung seiner Lebensmöglichkeiten und der für es seienden Welt als solche der für es bestehenden Lebensinteressen, Zwecke, Ziele etc. zu verschaffen?»248
In einem mit dem zuvor zitierten gleichzeitigen Text vom 10. September desselben Jahres 1933 schreibt Husserl: «Die Heimwelt als Welt der All-Zugänglichkeit, des für alle [in dieser Welt Lebenden] Seienden, Bewährbaren – cum grano salis! –, es gibt da Klügere und Dümmere, Geschick248
Hua XV, Text Nr. 35, S. 626.
§ 36. Heim- und Fremdwelt als grundlegende Struktur unserer Welterfahrung
tere und Ungeschicktere, Belehrbare und Unbelehrbare. Und kommt nicht auch in Frage, dass die Heimwelt eine Welt des Herrschens und Dienens ist? Jedenfalls für alle [kommt in Frage] eine weitreichende Grundschicht des Normalen [im Sinne des Üblichen], des Alltäglichen, des allen Verständlichen im Verharren und im Wandel (alltäglich normale Umwelt, alltägliches Menschentum, ‹Durchschnittsmenschlichkeit›). Darüber ein Horizont der Unterschiedenheit, der Menschen, die das Überdurchschnittliche können, deren Leistungen in einer Art überdurchschnittlich sein können, so dass sie nicht ohne weiteres nachverstanden werden können.»249
Husserl beschliesst diesen Text mit folgenden Sätzen: «Wir leben normalerweis in unserer Heimwelt, oder besser, in einer Umwelt, die für uns wirklich vertraute (obschon nicht in allen individuellen Realitäten vertraute) Welt […] und für uns wirklich durch Anschauung zu verwirklichen ist. Im mittelbaren Horizont [unserer Erfahrungs- und Anschauungsmöglichkeiten] sind die fremden Menschheiten und Kulturen; sie gehören dazu [zu unserer vertrauten Welt] als fremde und fremdartige [Menschheiten und Kulturen]. Aber Fremdheit besagt Zugänglichkeit in der eigentlichen Unzugänglichkeit, im Modus der Unverständlichkeit.»250
§ 36. Der Unterschied zwischen Heimwelt und Fremdwelt als grundlegende und umfassende Struktur unserer Welterfahrung. Die emotionale Zugehörigkeit zur Heimwelt Die Unterscheidung zwischen dem Vertrauten, Gewohnten, in dem man sich zu Hause, «daheim» fühlt, und dem Fremden, dem Ungewohnten, dem Unverständlichen, die Husserl in seinen letzten Lebensjahren durchführte, betrifft wohl den umfassendsten und grundlegendsten Unterschied in unserer Welterfahrung. Diese Unterscheidung umfasst den Unterschied zwischen unseren Erfahrungen der eigenen Kultur und unseren Erfahrungen der fremden Kulturen mit ihren verschiedenen Religionen und Sprachen; sie umfasst den Unterschied zwischen dem üblichen Denken und sich Verhalten unserer eigenen sozialen Gruppe oder Schicht und unserem Verhältnis zum Denken und Verhalten anderer, für uns fremder sozialer Gruppen oder Schichten, den Unterschied zwischen dem Erleben unserer eigenen Bildungsschicht und unserem Erleben der Menschen der relativ zu uns höheren oder tieferen Bildungsschichten, den Unterschied zwischen unserem Erfahren der eigenen Ethnie oder des eigenen Volkes mit seinen Sitten und unserem Erfahren der fremden Völker oder Ethnien mit ihren Sitten, den Unterschied zwischen unserer Erfahrung des Lebens in unserer eigenen Staatsform und unseren Vorstellungen vom Leben in fremden Staatsformen, den Un249 250
Hua XV, Beilage XLVIII, S. 629. A.a.O., S. 631.
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terschied zwischen der Erfahrungswelt von alten Menschen und ihrem Erleben und dem Sich-Vorstellen der Welt der Jungen und der Welt der Kleinkinder, den Unterschied zwischen unserer gegenwärtigen Erfahrungswelt und unseren Vorstellungen vergangener Erfahrungswelten, zwischen unserer verstandenen Erfahrungswelt als der Erfahrungswelt von «normalen», «psychisch gesunden» Menschen und unserem Unverständnis der uns kaum zugänglichen Erfahrungswelt von psychisch kranken Menschen, den Unterschied zwischen unserem Erfahren der menschlichen Welt und unserem Interpretieren der auch untereinander sehr verschiedenartigen Erfahrungsumwelten der verschiedensten Arten von Tieren. Die Welten der mathematischen Naturwissenschaftler sind den anderen Menschen weitgehend fremd. Die Welt eines künstlerischen Genies mag uns gewöhnlichen Menschen fremd, unverständlich, ja verrückt erscheinen. Als Antoni Gaudi (1852–1926) seine architektonischen Pläne während seiner Promotion an der Universität von Barcelona vorlegte, sagten die Examinatoren: «Dieser Mann ist entweder ein Verrückter oder ein Genie.» Wir sind, wie Husserl schrieb, mit dem Durchschnittlichen, Gewöhnlichen vertraut, nicht mit dem Ausserordentlichen. Wir Menschen haben es täglich mit solchen sich verändernden und relativen Differenzen zwischen uns und anderen zu tun. Ebenso wichtig ist, dass wir durch unsere «Heimwelt», in der wir uns «unter uns» fühlen, uns sozial identifizieren und zugleich vom Fremden abgrenzen und unserem Leben eine normative soziale Orientierung geben. Jeder Mensch muss sozial zu irgendetwas gehören, einer Gruppe von Menschen angehören. Z. B. gehört jemand zu seinem Fussballclub, wenn auch nur als ein «Fan», und grenzt sich damit von den «Fans» fremder Fussballclubs ab. Der Fan sagt: «Das ist mein Fussballclub», und er ist bereit, für ihn gegen andere Fussballclubs zu kämpfen. Die Gruppe von Menschen, der wir angehören, mag eine sehr komplexe oder eine sehr oberflächliche Gemeinschaft sein, aber sie muss eine gemeinsame Struktur und gemeinsame Werte beinhalten. Ohne mit einer Gruppe von Gleichgesinnten Werte zu teilen, ist es schwierig an Werten festzuhalten und nicht in eine Anomie zu verfallen. Leute, die zu einer fremden Gruppe gehören, werden oft als Gegner betrachtet. Am wichtigsten für uns ist vielleicht eine religiöse Gruppe oder ein Substitut davon, in der wir uns zu Hause fühlen, auch wenn sich diese Gruppe als Freidenker, als Agnostiker oder als Atheisten bezeichnet. Am 11. Mai 2014 hörte ich im deutschsprachigen Schweizer Radio von Juden, die unter dem deutschen Nazi-Regime Christen wurden und schliesslich sich ausserhalb oder zwischen allen Gruppen fühlten, zwischen den Juden, die sie als Abtrünnige ausstiessen, und den Christen, die sie nicht wirklich aufnahmen, weil sie diese Juden als Opportunisten betrachteten. Diese Juden fühlten sich auch zwischen den Ländern Deutschland, Österreich oder Ungarn einerseits, wo sie einst zu Hause waren, und andererseits den Ländern, in denen sie ein neues Leben begannen. Überall fühlten sie sich in der Fremde. Die meisten von ihnen hatten psychische Leiden. Einige von ihnen kehrten im Alter in ihr ursprüngliches Hei-
§ 36. Heim- und Fremdwelt als grundlegende Struktur unserer Welterfahrung
matland zurück, aber fanden auch dort nicht wirklich ihre Heimat. Dieses Phänomen charakterisiert man auch durch die Aussage, dass der Mensch irgendwo Wurzeln haben muss. In seinen Ideen zur Heimwelt und fremden Welt richtete Husserl seine Aufmerksamkeit vor allem auf die kognitive Seite der Vertrautheit und Unvertrautheit, auf die kognitive Zugänglichkeit und Unzugänglichkeit des Fremden. Doch die emotionale Seite des Irgendwo-daheim-Seins scheint mir für den Menschen (und auch für Tiere) noch wichtiger zu sein als die Seite der Erkenntnis. Im Jahre 1997 veröffentlichte Samuel P. Huntington sein Buch The Clash of Civilisations and the Remaking of World Order. Über dieses Buch schrieb der frühere amerikanische Aussenminister Henry Kissinger: «This book is one of the most important books to have emerged since the end of the Cold War.» Nach seinem Erscheinen war dieses Buch unter Intellektuellen eines der meist diskutierten politischen Bücher. Ich denke, dass wir anstatt von «clash of civilisations» auch von einem Widerstreit oder einer Kollision von Kulturen sprechen können. Um diese Kollision sachgerechter erörtern zu können, haben wir, wie dies in der Tradition besonders der deutschen Kulturphilosophie getan wurde, zwischen Zivilisation und Kultur zu unterscheiden. «Kultur» bezeichnet die Leistungen, die das geistige Leben der Menschen fördern, die Kunst und Literatur, die Philosophie, die Religion, das Recht, die Wissenschaften abgesehen von ihren technischen Anwendungen; «Zivilisation» bezeichnet die materiellen technischen Leistungen, welche als Mittel dienen können, um das materielle Leben der Menschen zu verbessern und angenehmer zu machen. Allerdings ist es oft schwierig, eine scharfe Grenze zwischen «Kultur» und «Zivilisation» in der angegebenen Bedeutung zu ziehen: Z. B. ist die Architektur eine Technik, die den Zweck hat, das Wohnen und verschiedene Tätigkeiten der Menschen (z. B. in Fabriken, in Banken usw.) zu verbessern, andererseits ist sie aber auch eine Kunst des schöne Bauens. Schönheit ist aber ein geistiger Wert. Zwischen Kultur und Zivilisation im oben angegebenen Sinne kann es zu Widerstreit und Kollisionen kommen, indem Menschen sich zu sehr in den technischen Mitteln zur Förderung und auch in der Übertreibung des materiellen Lebens verlieren und dabei das Leben des Geistes mit seiner Kultur beeinträchtigen oder sogar verkümmern lassen. In diesem Fall können wir von einem «clash between civilisation and culture» sprechen. Vom Gesichtspunkt der technischen Zivilisation betrachtet, vermindern sich heute die Unterschiede zwischen den verschiedenen Völkern mehr und mehr: Z. B. tun ein Techniker aus den USA, ein Techniker aus China, ein Techniker aus Indien und ein Techniker aus Europa in ähnlichen Umständen und vor ähnlichen technischen Aufgaben mehr oder weniger dasselbe. Dasselbe ist wahr hinsichtlich der Erforschung in den technischen Anwendungen der Naturwissenschaften.
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Auch zwischen den geistigen Kulturen selbst kann ich keinen «clash» zwischen verschiedenen Völkern voraussehen. Hier ist zwar die Verschiedenheit grösser als zwischen den dem Materiellen des menschlichen Lebens dienenden Zivilisationen. Doch ist einerseits die kulturelle Verschiedenheit wünschenswert, da sie die Menschheit bereichert, und andererseits ist es möglich, durch Anstrengung und Übung, z. B. durch das Erlernen von Sprachen, die geistigen Leistungen der anderen Völker zu verstehen, mit Angehörigen dieser Völker zu sprechen, sich von ihnen inspirieren zu lassen und die eigenen Leistungen dadurch zu bereichern. Das ist für mich ganz deutlich in der Philosophie der Fall. Nach Samuel P. Huntington «sind die zentralen Elemente aller ‹Zivilisationen› Sprache und Religion».251 Im Jahre 1993 sprachen 24,1 Prozent der Weltbevölkerung westliche Sprachen (Englisch, Spanisch, Portugiesisch, Französisch und Deutsch), während 20,5 Prozent sich in chinesischen Sprachen ausdrückten. Wenn die westliche Kultur für die geistigen Werte der Demokratie und der Menschenrechte einsteht und wenn das gegenwärtige China eine Partei-Diktatur aufrechterhält und die universalen Menschenrechte als ein westliches Produkt faktisch infrage stellt, dann besteht eine Chance, dass Demokratie und Menschenrechte schliesslich im Streit zwischen diesen beiden grössten Zivilisationen und Kulturen die Oberhand gewinnen werden. Diese Chance erscheint als noch grösser, wenn man auch das menschenreiche Indien zur westlichen Kultur rechnet, das seit seiner Unabhängigkeit von England im Jahre 1947 ununterbrochen ein demokratisches System aufrechterhält und in vielem die Menschenrechte respektiert (allerdings ein vom indischen Staat nicht anerkanntes, aber faktisch immer noch existierendes, der Gleichheit aller Menschen widersprechendes Kastensystem weiterpflegt). Einen Fortschritt der demokratischen und von den Menschenrechten geprägten Ordnung kann man heute schon im China von Taiwan und im Kampf der jungen Bevölkerung für mehr Demokratie im chinesischen Hongkong sehen. Wenn aber die Volksrepublik China und das immer mehr diktatorisch regierte Russland von Putin zusammenarbeiten, dann bleibt dieser Streit offen. Doch glaube ich, dass es im Auf und Ab der menschlichen Geschichte nie einen endgültigen Sieg der Menschenrechte und der Demokratien oder einen endgültigen Sieg der Diktaturen geben wird, welche zwar die Menschenrechte anerkennen, aber nicht nach ihnen handeln. Denn Demokratien sind sehr fragil: Sie können zu Diktaturen verfallen, wie z. B. die demokratische muslimische Türkei, die unter Recep Tayyip Erdoğan immer mehr zu einer Menschenrechte verachtenden Diktatur wird. Aber auch umgekehrt ist der zuvor diktatorisch regierte muslimische Iran heute unter Hassan Rohani zu einer Demokratie geworden. Rohani erhielt bei der letzten demokratischen Wahl eine Mehrheit von 57 Prozent der Stimmen, wobei die Menschenrechte allerdings 251 The Clash of Civilisations and the Remaking of World Order, Touchstone Books, London, New York, Sydney, Tokyo, Toronto, Singapore 1997, S. 59.
§ 37. Heimwelten der Armen und der Reichen
noch recht fern von einer vollen Verwirklichung stehen. Doch bei den Neuwahlen im Juni 2021, bei denen Hassan Rohani nicht mehr antrat, wurde bei äusserst niedriger Wahlbeteiligung, besonders der jungen gut ausgebildeten Menschen, wieder ein Hardliner der Milizen gewählt. Was die Religionen betrifft, so scheint mir der einzige Weg, um Konflikte zu vermeiden, im Sich-bekannt-Machen mit diesen Religionen durch das Studium ihrer Schriften und im Gedankenaustausch mit Vertretern dieser Religionen zu bestehen. So wird man erkennen, dass auch die fremden Weltreligionen grosse Schätze in sich bergen.
§ 37. Das Verhältnis zwischen der Heimwelt der Armen und der Heimwelt der Reichen als der heute grösste Gegensatz zwischen Heimwelt und Fremdwelt Das «remaking of a peaceful world order», das Samuel Hamiltons bekanntes Buch anstrebt, ist heute zwar in der geistigen Kultur schwieriger als in der technisch-materiellen Zivilisation. Aber die grösste Gefahr für einen «clash of civilisations» erscheint mir heute die Diskrepanz zwischen verschiedenen sozialen Gruppen zu sein, vor allem zwischen den Armen, den Arbeitslosen, denjenigen, die kein regelmässiges Einkommen haben, den «working poors», den relativ immer mehr Verarmenden einerseits und andererseits den immer mehr sich bereichernden Reichen zu bestehen. Einfach ausgedrückt ist es die Diskrepanz zwischen unten und oben. Dies gilt sowohl für die Volksrepublik China wie auch für die USA und andere Länder. Gemäss der Organisation OXFAM, die ihren Sitz in Oxford hat, besassen 2015 62 Personen der Welt denselben Reichtum wie die ärmere Hälfte der Menschheit, und der Reichtum der Reichen stieg zwischen 2011 und 2015 um 44 Prozent, während die Armut der Armen um 41 Prozent zunahm. Nach der Schweizer Bank Crédit Suisse besassen im Jahre 2015 0,7 Prozent der Weltbevölkerung 45 Prozent des Vermögens. Am 19. Mai 2016 sagte Ueli Mäder, Professor für Soziologie an der Universität Basel, am Radio der deutschsprachigen Schweiz (SRF), dass 3 Prozent der Schweizer Bevölkerung dasselbe Vermögen besitzen wie die übrigen 97 Prozent dieser Bevölkerung und dass 1 Prozent der Steuerpflichtigen 58 Prozent des Vermögens dieses Landes besitzen. Doch geben diese statistischen Angaben aufgrund des Besitzes und auch des negativen Besitzes, d. h. der Schulden, ein einseitiges Bild der wachsenden Differenzen zwischen Reich und Arm. Ebenso wichtig, wenn nicht wichtiger, sind die Vergleiche aufgrund der Einkommen. Nach Bjørn Lomberg, dem Präsidenten des Copenhagen Consensus Center, führt die Statistik nur aufgrund des Besitzes zur absurden Konsequenz, dass 10 Prozent der US-Amerikaner, deren Hypotheken höher sind als der Wert ihres Hauses, ärmer sind als 75 Prozent der afrikani-
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schen Bevölkerung (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. März 2016). Lomberg stellt den oben angeführten Reichtums- oder Vermögensstatistiken gegenüber, dass der Gini-Koeffizient (der Wert 0 bedeutet völlige Gleichheit des Einkommens, der Wert 1 völlige Ungleichheit) seit 1990 von 0,65 auf 0,60 sank. Ebenso schreibt er im zitierten Zeitungsartikel, dass der Unterschied zwischen der durchschnittlichen Lebenserwartung der Menschen der reichsten Länder und der ärmsten Länder während der letzten 50 Jahre von 28 Jahre auf 18 zurückging. Dies ist wahrscheinlich vor allem der international durch die WHO (World Health Organisation) durchgeführten Bekämpfung von ansteckenden Krankheiten in den ärmsten Ländern zuzuschreiben und dem international erzwungenen verbilligten Zugang zu Medikamenten in den armen Ländern. Ein düstereres Bild zeichnet Clemens Fuest, Präsident des Mannheimer Forschungszentrums ZEW (Zentrum für europäische Wirtschaftsforschung) in seinem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 22. Februar 2016: Der Grund für den weltweiten Rückgang der Ungleichheit der Einkommen in den letzten 25 Jahren (Sinken des Gini-Koeffizienten von 0,65 auf 0,60) sei die Integration der Schwellenländer, vor allem von China, in die globale Ökonomie. Aber ich weiss aus anderen Quellen, dass die Differenz zwischen den Einkommen zwischen 1990 bis 2016 in China enorm zugenommen hat. Die hohen Beamten und die Regierungsmitglieder auf allen Ebenen (ganzes Land, Provinzen, Städte, Kreise), mit den Regierungsmitgliedern in guten Beziehungen stehende private Händler und Unternehmer, Spekulanten von Immobilien sind sehr reich geworden, während das Einkommen der Armen (Grossteil der Bauern und Arbeiter) real nur wenig zugenommen hat. Das Positive in China seit 1990 ist das Bestehen einer relativ grossen Mittelklasse, die aber seit einigen Jahren nach unten abbröckelt. Vor allem fehlt aber heute fast vollständig die soziale Mobilität nach oben. Wer reich geboren ist, wird mit seinen Kindern meistens reich bleiben; wer arm geboren ist, wird es mit seinen Kindern nur selten zu einer Stellung mit besserem Einkommen bringen können. Clemens Fuest hebt im zitierten Artikel hervor, dass die Ungleichheit des Einkommens in den industrialisierten Ländern seit 1980 beständig im Wachsen begriffen ist. In den USA ist das Auseinandergehen der Einkommensschere besonders stark. Nach der OECD (Organisation for Economic Development and Co-operation) stieg der Gini-Koeffizient in diesem Land von 0,45 im Jahre 1985 auf 0,51 im Jahre 2011, in Grossbritannien von 0,47 auf 0,52, in Italien von 0,40 auf 0,50, in Dänemark von 0,37 auf 0,43, in Finnland von 0,39 auf 0,48; in Deutschland ist der Gini-Koeffizient zwischen 1985 und 2004 von 0,44 auf 0,50 gestiegen, seitdem blieb er stabil. Eine Studie von Ursina Kuhn und Christian Suter von der Universität Neuchâtel (Schweiz) zeigt, dass die Einkommensunterschiede in der Schweiz von 1990 bis 2012 ungefähr gleich blieben. Ich habe gehört und es in kleinem Ausmass auch selbst erfahren, dass die Milliardäre in einer geschlossenen «Heimwelt» leben. Sie sind immer unter sich
§ 37. Heimwelten der Armen und der Reichen
in ihren Wohnquartieren, ihren grossen Ferienhäusern, in Fünfstern-Hotels, in der First Class in den Flugzeugen und haben keinen Kontakt mit den «Heimwelten» der gewöhnlichen Leute. Und es ist klar, dass die nicht so reichen Leute keinen Zugang haben zur «Heimwelt» dieser Superreichen. Ebenso wichtig für den Frieden in der Welt wie der Unterschied zwischen Arm und Reich in einem einzelnen Land ist der enorme Besitz- und Einkommensunterschied zwischen den reichen Ländern und den armen Ländern. Genaue und aussagekräftige statistische Angaben sind hier nicht leicht zu finden. Aber wir wissen, dass heute über 80 Prozent der Weltbevölkerung mit einem Einkommen von weniger als 10 US-Dollar pro Tag auskommen müssen, während andererseits die 1,125 Prozent Dollar-Milliardäre, die es weltweit gibt, zusammen ein Vermögen von 4,4 Billionen besitzen. Damit besitzen diese etwa viermal so viel wie die ganze untere Hälfte der Weltbevölkerung (3,3 Milliarden). Doch der Unterschied zwischen Arm und Reich in den einzelnen Ländern und der Unterschied zwischen reichen und armen Ländern hängen auch zusammen. Denn es gibt in armen Ländern ausserordentlich reiche Leute, besonders solche, welche die Regierungs- und Militärgewalt in ihren Händen haben und die durch ihre Politik zur Armut ihrer Länder noch beitragen. Sie wohnen in ihren Palästen und Festungen, während der Grossteil der Bevölkerung ihr Leben in kärglichen Hütten oder in Slums verbringt. Die Unterschiede zwischen armen und reichen Ländern führen heute vor allem zwischen den Ländern Schwarzafrikas (südlich der Sahelzone) und Europas zu grossen Problemen. Zehntausende von jungen Männern, die in diesen Ländern keine Arbeit finden, fliehen unter grösster Lebensgefahr aus diesen Ländern bis zur Küste Nordafrikas und von dort über das Mittelmeer nach Italien und in andere Länder Europas, um hier ein Einkommen zu finden. Europa tut heute nichts anderes und kann zum Teil auch nichts anderes tun als sich solchen Flüchtlingen gegenüber abzuschliessen. Man spricht heute von der «Festung Europa». Andererseits fliehen auch unter grossen Lebensgefahren viele junge Männer, z. T. auch Minderjährige, und auch ganze Familien aus den Kriegsgebieten Afghanistans, Iraks und vor allem Syriens über die Türkei und Griechenland in die anderen Länder Europas. Auch hier versuchen sich die europäischen Länder nun wieder von diesen Flüchtlingen abzuschliessen, nachdem Hunderttausende von ihnen anfänglich, besonders von Deutschland unter der Regierung von Angela Merkel, grosszügige Aufnahme fanden. Doch Angela Merkel erhielt dafür viel innerdeutsche Kritik. Eine gerechte Verteilung der Flüchtlinge unter den europäischen Ländern wird zwar viel diskutiert, ist aber Mitte 2021 noch von einer Realisierung sehr ferne. Die meisten Flüchtlinge aus Asien und Afrika befinden sich bis heute in den ärmeren Ländern Südeuropas, nämlich in der Türkei, in Griechenland und in Italien. Da der Unterschied zwischen den Reichen und den Armen in unserer Welt im Steigen begriffen ist, glaube ich, dass die Gefahr eines «Clash of Civilisations»
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4. Kapitel. Die Konstitution solipsistischer und intersubjektiver Objektivität
in der heutigen Welt ansteigt, aber nicht im Sinne, wie es sich Samuel P. Huntington vor 20 Jahren dachte.
5. Kapitel. Der «existenzielle» und monadologische Charakter der phänomenologischen Metaphysik
§ 38. Die transzendentale Phänomenologie als eidetische Wissenschaft der Bedingungen der Möglichkeit (der Wesen, der Essenzen) der transzendentalen Intersubjektivität und die phänomenologische Philosophie als wissenschaftliche Metaphysik der Wirklichkeiten (Existenzen) Bis 1921/1922 bestand für Husserl die transzendentale Phänomenologie aus einer apriorischen eidetischen Wissenschaft der Bedingungen der Möglichkeit einer transzendentalen Intersubjektivität (= Erste Philosophie) und in einer wissenschaftlichen Metaphysik der Wirklichkeiten der transzendentalen Intersubjektivität (= Zweite Philosophie). Die «Zweite Philosophie» hat nach Husserl die von der alltäglichen und wissenschaftlichen Erfahrung festgestellten Wirklichkeiten des subjektiven und intersubjektiven Lebens aufgrund der in der Ersten Philosophie als Bedingungen der Möglichkeit erkannten Wesensgesetze (oder eidetischen Gesetzen) zu interpretieren. Ich erinnere daran, dass der erste Abschnitt von Husserls erstem Band seiner Ideen zu einer reinen [= apriorischen] Phänomenologie [Erste Philosophie] und phänomenologischen Philosophie [Zweite Philosophie] den Titel trägt «Wesen und Wesenserkenntnis». Seit 1921/1922 geht in Husserls Konzeption der Philosophie die Erfahrung der Wirklichkeit der Vorstellung von ihrer Möglichkeit voraus, so wie in der Philosophie des Aristoteles (aber nicht derjenigen Platons) und der von Aristoteles geprägten Philosophie des Mittelalters die ἐνέργεια, energeia (Wirklichkeit) der δύναμις, dynamis (Möglichkeit) bzw. das esse (Sein) dem posse (Möglich-Sein) vorangeht (posse ab esse dicitur: «Vom Möglichsein wird aufgrund des Wirklichseins gesprochen»). Es ist wichtig zu sehen, dass diese Einsicht bei Husserls Analyse der Erfahrung des anderen (der «Einfühlung») begann: Siehe oben im 2. Kapitel den § 6: «Husserls apriorisches Denkexperiment (das er ab den Jahren 1921/22 ablehnte): Die Möglichkeit der Vorstellung eines anderen Ich vor der wirklichen Erfahrung von ihm.» Wahrscheinlich in den Jahren 1921/1922 wurde sich Husserl bewusst, dass
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5. Kapitel. Phänomenologische Metaphysik: «existenziell» und monadologisch
die Erfahrung des eigenen wirklichen individuellen Ich dem apriorischen Denken der Bedingungen der Möglichkeit eines Ich im Allgemeinen vorangeht und dass ein «Ich im Allgemeinen» nicht existiert. In einem meines Wissens bisher nicht publizierten Text aus dem Monat Juni des Jahres 1921 schreibt Husserl: «Bin ich nicht ein ‹notwendiges Faktum und [ist] meine Zufälligkeit nur bestimmt durch das Unbegreifliche der meine seelische (monadische) Entwicklung mitbestimmenden Materie [Empfindungsmaterials, Hyle]? Die Notwendigkeit [dieses Faktums] besteht in der Unmöglichkeit der Durchstreichbarkeit [Annullierung] der unter solchen Voraussetzungen [der Materie] verstehbaren Einheit [meiner psychischen (monadischen) Entwicklung], die aber unter anderen [Voraussetzungen der Materie] doch dieselbe Individualität wäre und nie eine andere [Individualität].»252
In einem Text aus dem Jahre 1931 schreibt Husserl über das Eidos «transzendentales Ich»: «Wir haben hier einen merkwürdigen und einzigartigen Fall, nämlich für das Verhältnis von Faktum und Eidos. Das Sein eines Eidos, das Sein eidetischer Möglichkeiten und das Universum dieser Möglichkeiten ist frei vom Sein oder Nichtsein irgendeiner Verwirklichung solcher Möglichkeiten, es ist seinsunabhängig von aller [entsprechenden] Wirklichkeit. Aber das Eidos transzendentales Ich ist undenkbar ohne transzendentales Ich als faktisches. […] Ich bin das Urfaktum […], ich erkenne, dass zu meinem faktischen Vermögen der Wesensvariation [d. h. der Methode der eidetischen Erkenntnis] etc. in meinem faktischen Rückfragen sich die und die mir eigenen Urbestände ergeben, als [eidetische] Urstrukturen meiner Faktizität. […] Mein faktisches Sein kann ich nicht überschreiten und darin [kann ich nicht überschreiten] das intentional beschlossene Mitsein Anderer etc., also die absolute Wirklichkeit [der transzendentalen Intersubjektivität]. Das Absolute kann ich nicht überschreiten […]. Seine Notwendigkeit ist nicht Wesennotwendigkeit, die ein Zufälliges offen liesse. Alle Wesensnotwendigkeiten sind Momente seines Faktums, sind Weisen […] sich selbst zu verstehen oder verstehen zu können.»253
In einem am 17. April 1933 geschriebenen Text zieht Husserl die letzten Konsequenzen der im Jahre 1921/22 begonnenen Änderung seiner philosophischen Grundposition. Er kehrt seine ursprüngliche Ordnung von Erster und Zweiter Philosophie vollständig um: «Kann ich Welt anders [zu möglichen Welten] umfingieren, als die sie mir ursprünglich gegeben ist, [als] gegenwärtige Welt, die Vergangenheit und Zukunft hat von meiner Gegenwart aus? Kann ich es anders tun als von meinem gegenwärtigen menschlichen Sein aus? Und ist dann nicht evident, dass keine Welt denkbar ist, keine in Phantasiefreiheit umfingierbare, in der ich mit meiner Gegenwart […] (als gegenwärtiges Ich, wie wenn ich nicht so, sondern anders wäre) [nicht] vorkäme? Und liegt darin nicht noch mehr? 252 253
Manuskript B III 10, S. 12a/b (Transkription, S. 13). Hua XV, Text Nr. 22, S. 385/386.
§ 38. Transzendentale Phänomenologie und phänomenologische Philosophie
Nämlich, dass keine erdenkliche Welt sein kann denn als erdenkliche meines faktisch gegenwärtigen Seins – und damit ohne die faktisch wirkliche Welt? Hinsichtlich meiner und der Welt geht die Wirklichkeit jeder Möglichkeit vorher!»254
Nach Husserls später Philosophie ist das Resultat des ersten Schrittes der phänomenologischen Reduktion weder ein abstraktes solipsistisches Cartesianisches Ich noch das allgemeine Ich der transzendentalen Apperzeption als der Bedingung der Möglichkeit der Einheit der Erfahrung, sondern das Resultat ist das Bewusstsein des faktisch konkreten Ich in seiner intersubjektiven Einheit mit anderen faktischen Ich und Du in der intersubjektiv gemeinsam erfahrenen faktischen Welt. In einem ungefähr aus dem Jahre 1930 stammenden Text zur Umarbeitung seiner im Jahr zuvor entstandenen fünften seiner Cartesianischen Meditationen, die den Titel trägt «Enthüllung der transzendentalen Seinssphäre als monadologische Intersubjektivität»255, schreibt Husserl: «Ich muss scheiden: die jetzt phänomenologisierende Subjektivität (als wirkliches Ego – Monade) und die transzendentale Subjektivität schlechthin; diese erweist sich als die transzendentale Intersubjektivität [mit ihrer intersubjektiv gemeinsamen Welt], welche die transzendental phänomenologisierende [Subjektivität] in sich fasst.»256 Diese ganze, nach Husserls oben in diesem Paragraphen zitierten Text aus dem Jahr 1931 «absolute» intersubjektive Wirklichkeit, «die ich nicht überschreiten kann», ist nach ihm in ihrer statischen und genetischen Struktur zu analysieren, auch nach ihren apriorischen Möglichkeiten. Wie wir im nächsten, im Pargraphen 39 sehen werden, hat diese Einsicht einen fundamentalen Unterschied zwischen der Monadologie Husserls und derjenigen von Leibniz zur Folge. In einer Reflexion in seiner Vorlesung «Natur und Geist» aus dem Jahre 1927 über das phänomenologische Forschungsgebiet des Geistes, der für ihn letztlich die transzendentale Intersubjektivität ist, betrachtet Husserl dieses Gebiet als selbstständig und in sich abgeschlossen. Dies entspricht seiner Aussage von 1931, dass dieses Gebiet ein «absolutes» ist, «über das ich als phänomenologisierendes Ich nicht hinausgehen kann». In diesem Gedanken liegt eine Tendenz zu einem «transzendental-subjektiven Idealismus», was Husserls Philosophie in Wirklichkeit aber nicht ist. Er schreibt im betreffenden Vorlesungsmanuskript: «Das Gebiet einer Wissenschaft werden wir dann selbständig nennen müssen, wenn seine theoretische Verfolgung nie über dieses Gebiet hinausführen muss; wie weit wir in seine unendlichen Horizonte eindringen, es ist ein in sich abgeschlossener und nie zu überschreitender Horizont.»257 Aber wir haben (gegen Husserl?) anzuerkennen, dass das transzendentale ForschungsHua XV, Beilage XXXIII, S. 519. Sie Hua I, Cartesianische Meditationen, S. 121 ff. 256 Hua XV, Text Nr. 5, S. 74/75. 257 Hua XXXII, Natur und Geist. Vorlesungen Sommersemester 1927, herausgegeben von Michael Weiler, 2001, S. 52. 254
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5. Kapitel. Phänomenologische Metaphysik: «existenziell» und monadologisch
gebiet von existierenden intersubjektiv verbundenen Subjekten kein «in sich abgeschlossener und nie zu überschreitender Horizont» ist. Denn das Prinzip des phänomenologischen Verstehens von Subjekten ist nach Husserl nicht eine objektive naturwissenschaftliche Kausalität, sondern die subjektive Motivation. Die transzendentalen Subjekte haben Motive, aufgrund ihrer zufälligen Sinnesdaten intentional eine geordnete Welt (einen Kosmos) zum Erscheinen zu bringen (zu konstituieren). Doch im intentionalen Leben dieser Subjekte gibt es Fakten, welche Motivationen bedingen, aber nicht durch Motivationen verstehbar sind. Als leibliche Subjekte erleben sie Fakten oder ihr ganzes subjektives Erleben ist von Anfang an durch leibliche Fakten bestimmt, die nicht durch Motivationen, nicht durch motivierende Naturereignisse als intentionale gegenständliche Korrelate dieser Subjekte, sondern nur durch faktische blosse Naturereignisse zu verstehen sind. Als kausale Folge eines schweren Unfalls kann ein menschliches Subjekt leiblich und geistig ein Krüppel werden, und jene faktische Naturursache hat kausale Folgen für seinen phänomenologisch nicht durch Naturursachen, sondern durch Motivationen zu verstehenden Bewusstseinsfluss. Gewisse Gruppen von Motivationen fallen nun aus und Verbindungen von Motivationen verändern sich. Oder ein Mensch, der vom Down-Syndrom (Trisomie 21) betroffen ist, hat von Anfang an ein von seinem physiologischen Erbgut verursachtes Bewusstseinsleben, das in seiner Besonderheit nicht durch Motivation erklärbar ist. Und diese zwei Beispiele sind nur besonders deutliche Beispiele für die «Unabgeschlossenheit» oder gegen die Absolutheit der phänomenologischen Philosophie.258 Was für die Phänomenologie gilt, gilt analog auch für die objektiven empirischen Naturwissenschaften. Auch sie verfügen über kein in sich abgeschlossenes, selbstständiges und in diesem Sinne absolutes Gebiet, wenn sie den Menschen, der ja auch ein Bestandteil der Natur ist, mit einbeziehen. Der Mensch hat auch Bewusstsein, er handelt aufgrund von vergangenen Motiven (er handelt, weil…) und künftigen Motiven (Zwecken, Zielen) (er handelt, um), die nicht mehr oder noch nichts Wirkliches in der Natur sind, durch seinen freien bewussten Willen, mit dem er auf andere Menschen und Dinge in der Natur einwirkt. Der freie bewusste Wille des Menschen wird von einigen Naturwissenschaftlern geleugnet, weil er nicht in ihr methodisches Kausalsystem hineinpasst: Er kann nicht sein, weil er nach ihren methodischen Begriffen nicht möglich ist. Aber auch das ganze Bewusstsein ist nach dem Begriffssystem der Naturwissenschaften nicht erklärbar. Einem neurologischen Gehirnprozess kann man nicht ansehen, mit welchem Bewusstseinsprozess er verbunden ist. Naturwissenschaftlich nicht einmal einsehbar ist, warum die von den Naturwissenschaften untersuchten neurologischen Gehirnprozesse überhaupt «irgendwie» mit Bewusstseinsabläufen verbunSiehe Hua IV, Ideen II, S. 276; vgl. meine Besprechung von Hua XXXII, Natur und Geist. Vorlesungen Sommersemester 1927, in Husserl Studies XIX (2003), S. 167–177. 258
§ 39. Absolute Monadologie als Ausweitung der transzendentalen Egologie
den sind. Das Gebiet der Naturwissenschaften ist also auch nicht abgeschlossen und selbstständig. Es enthält Phänomene, die über dieses Gebiet hinausweisen. Ich denke, dass wir Menschen keine absolute, alles umfassende Wissenschaft über die Wirklichkeit haben können. Die transzendentale Phänomenologie sieht die Wirklichkeit von ihrem Gesichtspunkt aus, der allerdings ein sehr wichtiger ist. Doch das von ihr Erkannte ist relativ zu diesem Gesichtspunkt. Aber es gibt noch andere Gesichtspunkte: die der objektiven empirischen Naturwissenschaften und die der objektiven sozialen empirischen Wissenschaften. Auch keine dieser anderen Wissenschaften ist absolut, auch sie sind nur relative Perspektiven von ihren Gesichtspunkten aus. Alle durch diese Relativität begrenzten Erkenntnisse sind Leistungen des begrenzten, endlichen menschlichen Geistes, der den ausreichenden Grund seiner Existenz nicht in sich selber hat. Somit ist die Existenz des menschlichen Geistes auch nicht aus ihm selbst zu erklären. Aber alles, was existiert, muss einen ausreichenden Grund seiner Existenz haben, wie Leibniz sagte. Nur ein unbegrenzter, unendlicher, absoluter Geist, der den ausreichenden Grund seiner Existenz in sich selber hat (eine causa sui ist) und aus sich die ganze Wirklichkeit hervorbringt, erkennt dadurch die ganze Wirklichkeit absolut, von keinem relativen Gesichtspunkt aus. Kantisch gesprochen: Nur der intellectus originarius (ursprüngliche Geist) und nicht ein intellectus derivatus (abgeleiteter Geist) erkennt die Wirklichkeit absolut, erkennt sie, wie sie an sich und nicht bloss relativ auf einen unter mehreren endlichen Gesichtspunkten ist. Nach dieser Kritik erkennt der intellectus derivatus, der wir Menschen sind, nicht die Wirklichkeit an sich, sondern nur, wie die Dinge ihm erscheinen, d. h. die Phänomene, auf deren Erforschung sich Husserls Phänomenologie vom Gesichtspunkt der diese Erscheinungen hervorbringenden intersubjektiv verbundenen menschlichen Subjekte beschränkt.259
§ 39. Absolute Monadologie als Ausweitung der transzendentalen Egologie. Die absolute Weltinterpretation In diesem Paragraphen möchte ich einen Überblick über die Entwicklung von Husserls Gedanken der monadologischen Metaphysik geben, belegt mit Texten aus der Zeit um 1908 bis ins Jahr 1933.
259 Nähere Ausführungen zu diesen Gedanken finden sich in meinem Aufsatz «Trinität – Theologische Überlegung eines Phänomenologen», in Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie, 33 (1986), Heft 1–2. Dieser Aufsatz wurde in englischer Sprache in den Sammelband Essays in Phenomenological Theology, ed. by Steven W. Laycock and James G. Hart, State University of New York Press, New York 1986, S. 23–38, aufgenommen.
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5. Kapitel. Phänomenologische Metaphysik: «existenziell» und monadologisch
Dass Husserl während seines Lebens immer mehr ein Metaphysiker wurde und dass seine tiefsten Interessen letztlich metaphysische waren, mag erstaunen, ja es wird oft nicht einmal wahrgenommen oder man will es nicht wahrnehmen. Deshalb möchte ich an dieser Stelle einige Sätze aus Husserls Brief vom 3. Juni 1932 an seinen ältesten und besten Freund aus der Zeit seiner mathematischen Studien bei Carl Weierstrass in Berlin (Sommersemester 1878 bis Wintersemester 1980/81) zitieren, an den Mathematiker und Physiker Gustav Albrecht. In diesem Brief formuliert er diese innersten Interessen deutlich. In der Zeit vom Juni 1932 war Husserl mit der Vorbereitung eines «grossen systematischen Werkes» beschäftigt, das aber nie zustande kam und in dem er auch seine auf der Phänomenologie basierende Metaphysik umreissen wollte. Er schreibt: «Meine Manuskripte sind ungeheuerlich gewachsen in den letzten Jahren – gedanklich sehr fruchtbaren Jahren, die mir viel Licht gegeben haben, mich in Höhen geführt haben, auf denen sich die Zugänge zu den uralten ‹metaphysischen› Problemen erschliessen, aber so, dass sie im Systemgang meiner methodischen Arbeit und der sich dabei von unten auf erschliessenden Problematik zu strengst wissenschaftlichen Arbeitsproblemen werden […]. Alle Wissenschaften sind in einer Krise der Fundamente und der zur Wissenschaftlichkeit gehörigen Selbstverständigung der Methode. […] Mit all dem hängt zusammen, dass strenge Wissenschaft, identifiziert mit positiver Wissenschaft der Neuzeit, auf der einen Seite und Philosophie auf einer anderen stehen, dass Metaphysik (im Grund nichts anderes als die Wissenschaft, die über Welt und Menschen die letzte Aufklärung schafft, ihren letzten, also absoluten Sinn zum Thema hat) als Feld vager Spekulationen oder als Reich schwärmerischer Mystik gilt. […] Die höchstgelegenen aller Fragen, diejenigen, die nicht ohne weiteres jeder Mensch in ihrem eigentlichen, strengen, echten Sinn fassen und verstehen kann, sind aber die metaphysischen; sie betreffen Geburt und Tod, letztes Sein des ‹Ich› und des als Menschheit objektivierten Wir, die Teleologie, die letztlich zurückführt in die transzendentale Subjektivität und ihre Historizität, und natürlich als Oberstes: das Sein Gottes als das Prinzip dieser Teleologie und der Sinn dieses Seins gegenüber dem Sein des ersten Absoluten, dem Sein meines transzendentalen Ich und der sich in mir erschliessenden transzendentalen Allsubjektivität – der wahren Stätte göttlichen ‹Wirkens› […]. Wie gerne würde ich mindestens die allgemeinste Umzeichnung des Systems der Problematik geben von unten bis zu dieser höchsten Spitze. Aber wie viel konkrete Einzelausführung, subtile langweilige Elementaranalyse gehört dazu […].»260
Der früheste mir bekannte Text, in dem Husserl über Monadologie schreibt, stammt aus der Zeit um 1908, also aus einer Zeit, in der er die Grundlagen seiner transzendentalen Phänomenologie legte. Wie in seinen späteren Texten betrachtet Husserl schon hier eine umfassende metaphysische Monadologie nicht als ein rein phänomenologisches Resultat, sondern als eine phänomenologische Inter-
Edmund Husserl, Briefwechsel, Band IX: Familienbriefe, in Verbindung mit Elisabeth Schumann herausgegeben von Karl Schumann, Kluwer Academic Publishers, Dordrecht, Boston, London 1994, S. 83–84. 260
§ 39. Absolute Monadologie als Ausweitung der transzendentalen Egologie
pretation der Naturwissenschaften, d. h. als eine Zweite Philosophie. Husserl fragt in diesem Text: «Aber entsteht nicht Bewusstsein? Entstehen nicht Leiber mit immer reicherem psychischem Leben? Hat es nicht eine Zeit gegeben, wo kein Bewusstsein war? Sollen wir sagen, die Möglichkeit der Theorien der Naturwissenschaft fordert (wie es Fechner261 und andere schon gefordert haben), dass wir schliesslich in der Einfühlung nirgendwo Halt machen und alles Physische als leiblich fassen müssen? Also überall Bewusstsein und so universeller Parallelismus [von Physischem und Psychischem]. Das ist keineswegs gefordert; ob das wahr ist, kann nur naturwissenschaftlich entschieden werden.»262
Und nun spricht Husserl als phänomenologischer Interpretator: «Entwicklung der Welt ist Entwicklung des Bewusstseins, und alles Physische ist selbst nur eine Beziehung zwischen Bewusstseinen, deren Wesen so geartet ist, dass wir in unserem Denken sie [d. h. die Welt] setzen müssen in Form der physikalischen Materien, Kräfte, Atome etc., womit wir im Grunde Leibnizens Monadenlehre erneuert hätten. Und die Monade hat keine Fenster, die Monaden stehen nicht in [physischer] Wechselwirkung, sondern haben einen universellen Accord [eine universelle Übereinstimmung]. Es hat keinen Sinn, Bewusstsein bewirken [lassen] zu wollen durch Physisches. Aber Änderungen der Erscheinungsgruppe ‹[physischer] Körper x› in meinem Bewusstsein bedeutet Änderung, und [zwar] notwendige Änderung der entsprechenden Erscheinungsgruppe in jedem [anderen] Bewusstsein. Und dahin gehört auch jeder [erscheinende] Leib. So kann mittels der physischen [intersubjektiv] erscheinenden Welt [mit ihren verschiedenen Leibern] jeder Geist [Monade] auf jeden [anderen] wirken. Sie sind in universellem Accord, sie haben einen grundgesetzlichen Zusammenhang.»263
Schon hier sagt Husserl mit Leibniz, dass die Monaden keine Fenster haben, und zwar keine Fenster für Physisches, aber sagt auch gegen Leibniz, dass sie Fenster haben, und zwar Fenster für «Geistiges». Und er scheint hier nicht die Theorie «Fechners und anderer» anzunehmen, dass «wir schliesslich in der Einfühlung nirgendwo Halt machen und alles Physische als leiblich fassen müssen», sondern schreibt, dass wir uns nur in Physisches einfühlen können, welches wir aufgrund unseres eigenen Leibes als einen anderen Leib auffassen können. Auch in einem nur wenig später, nämlich am 11. Oktober 1910 entstandenen Text vertritt Husserl in einer phänomenologischen Interpretation der naturwissenschaftlichen Evolutionstheorie eine genetische Auffassung der Monaden. Gustav Theodor Fechner (1801–1887), deutscher Philosoph und Psychologe. Er vertrat einen Panpsychismus, nach dem alles, auch Pflanzen und Weltkörper, beseelt (Ausdruck von Seelischem) ist. 262 Der Satz «Das ist keineswegs gefordert; ob das wahr ist, kann nur naturwissenschaftlich entschieden werden» ist eine Bemerkung Husserls am Rande dieses Satzes in seinem Manuskript. 263 Hua XIII, Beilage III, S. 7.
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5. Kapitel. Phänomenologische Metaphysik: «existenziell» und monadologisch
Ich vermute übrigens stark, dass dieser Text vom 11. Oktober 1910 im Zusammenhang von Husserls Vorbereitung der Vorlesung «Grundprobleme der Phänomenologie» vom Wintersemester 1910/11 entstand, in der er die phänomenologische Reduktion auf die Intersubjektivität ausdehnte,264 denn «Anfang Oktober 1910» schrieb Husserl nachweislich eine «Vorbereitung zum Kolleg [Vorlesung] 1910/11». Dieser Text vom 11. Oktober wurde wahrscheinlich vom Gedanken der Intersubjektivität motiviert, also vom Gedanken der Vielheit von monadischen Subjekten. Für die Genese von Husserls Monadologie scheint es mir nützlich, auf diesen zweiten frühen Text hinzuweisen. Husserl «versucht» in diesem Text den folgenden «Ansatz»:265 «Jedes Ichbewusstsein ist eine ‹unsterbliche› Monade. […] Für jede Monade besteht beim Rückgang in den unendlichen [Bewusstseins‐]Fluss der Vergangenheiten nicht in infinitum das Phänomen einer Welt mit Leibern, welche wechselseitige Einfühlung gestatten. Vielmehr hat für jede Monade das Weltbewusstsein einen Anfang. Ferner, es muss eine ‹Zeit› angenommen werden, in der keine Monade ein Weltphänomen hatte, und so alle im Zustand der ‹Involution [Einwicklung]› waren. Erst von einem gewissen Zeitpunkt ab entwickelten sich die Bewusstseinsflüsse so, dass in den betreffenden Monaden differenzierte Empfindungen und Gefühle auftraten.»266 «Was sagt das An-sich-Sein der Natur vor […] den Erfahrungen [von ihr] in den Monaden? Für die erwachten Monaden bedeutet das An-sich der Natur jedenfalls eine Regel des Ablaufes möglicher Empfindungen und Auffassungen. […] Alle Erscheinungen [der Natur in den erwachten Monaden] sind fest geregelt. […] Aber ist die psychophysische Natur nichts weiteres als eine [Regel‐]Ordnung der wirklichen und möglichen Erscheinungen […] der ‹evoluierten› Monaden? Und macht nicht schon die unwahrnehmbare Gegenwart innerhalb des Naturdaseins Schwierigkeiten? Und dann ebenso die keiner [wachen] Monade zugänglichen Strecken der Vergangenheit, in denen alle Monaden schlafend waren.»267
Nach ausführlichen Erörterungen über anschauliche phantasierende Vergegenwärtigungen von nicht wahrnehmbaren Gegenwarten und nicht wahrgenommenen Vergangenheiten, in denen doch immer ein von einem gewissen Gesichtspunkt aus wahrnehmendes Ich mit vergegenwärtigt sein muss,268 kommt Husserl zum Schluss: «Also es ist gar nichts anderes als alle die Monaden. Wir haben natürlich kein Recht, in bestimmter Weise mehr und andere Monaden anzunehmen, als welche wir als [Menschen- und] Tiermonaden und allenfalls als [Monaden] organische[r] Wesen [Pflanzen] bezeichnen. Dann weiter bleibt es offen, ob den anderen Himmelskörpern entsprechende 264 265 266 267 268
Siehe oben im Kapitel 1, § 1. Hua XLII, Grenzprobleme der Phänomenologie, 2013, Beilage XVIII, S. 154–159. A.a.O., S. 154. A.a.O., S. 155. Siehe oben in unserem Text im Kapitel 2, § 8.
§ 39. Absolute Monadologie als Ausweitung der transzendentalen Egologie
neue Monadengebiete zuzuordnen wären. Dazu ferner hätten wir anzunehmen alle schlafenden Monaden, deren Leiber zerfallen sind, und solche, die evtl. noch keinen Leib gewonnen haben, [d. h.] die Monaden der Verstorbenen und diejenigen der noch Ungeborenen.»269
Husserl schliesst diese monadologischen Überlegungen mit den Sätzen: «Wir treiben hier keine Mystik. Was wir sagen wollen, ist nur dies, dass es gar nichts anderes gibt als ‹Geister› im weitesten Sinn des Wortes, wenn wir das ‹[es] gibt› im absoluten Sinn verstehen, und dass Leiber [Leibkörper] und sonstige physische Dinge nur sind im Sinne der ‹Natur›, d. h. als Einheiten der Erfahrungserkenntnis. Und diese Einheiten sind geltende, wahrhaft seiende Einheiten, ‹wahrhaft seiend› natürlich in dem Sinn, den ihnen die Erfahrungserkenntnis vorschreibt. Und gehen wir diesem Sinn nach, so bedeutet Natursein eine gewisse Regelung der Erscheinungen der Seelen. Und letztlich werden wir, um alles verständlich machen zu können, dazu geführt, dass alles absolute Sein entweder schlafendes oder waches sein muss und dass die Seelen unsterblich sind. Nicht kommen wir aber hier darauf, dass etwa alle physischen Dinge Leiber sind, die alle zu irgendeinem Bewusstsein so stehen, wie unser Leib zu unserem Bewusstsein steht.»270
Ich fasse das Obige in vier Punkten zusammen: Erstens: Husserl nimmt also in diesem Text vom 11. Oktober 1910, wie in demjenigen vom September 1933, Monaden an, die noch keine Erscheinungen von einer Natur, von einem eigenen Leib und der Welt haben und die er in diesem frühen Text Monaden in der «Involution» («Einwicklung») im Gegensatz zu den «evoluierten» («ausgewickelten», «entwickelten») Monaden nennt, oder «schlafende» Monaden im Gegensatz zu den «erwachten» («wachen») Monaden. Schlafende Monaden sind auch die Monaden «der noch Ungeborenen». Ich nehme an, dass nach Husserls Ansicht nicht erst auf die Welt gekommene Wesen, sondern bereits Embryonen «erwachte» Monaden sind; denn schon fortgeschrittenere Embryonen haben «differenzierte Empfindungen und Gefühle». Zudem «muss» nach ihm eine «Zeit» angenommen werden, in der keine Monade «differenzierte Empfindungen» oder ein Weltphänomen hatte, d. h. in der alle Monaden schliefen. Ob alle schlafenden Monaden am Anfang der Entstehung der Welt, beim sogenannten «Urknall», entstanden oder einige früher, andere später entstanden sind, sagt Husserl in diesem Text nicht. Er scheint aber anzunehmen, dass zu einem Zeitpunkt alle Monaden miteinander wach wurden: «Erst von einem gewissen Zeitpunkt ab entwickelten sich die Bewusstseinsflüsse so, dass in den betreffenden Monaden differenzierte Empfindungen und Gefühle auftraten.» Zweitens: Nach Husserl «haben wir natürlich kein Recht, in bestimmter Weise mehr und andere Monaden anzunehmen, als welche wir als [Menschenund] Tiermonaden und allenfalls als [Monaden] organische[r] Wesen [Pflan269 270
Hua XLII, Beilage XVIII, S. 157. A.a.O., S. 158.
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5. Kapitel. Phänomenologische Metaphysik: «existenziell» und monadologisch
zen] bezeichnen». Und «weiter bleibt es offen, ob den anderen Himmelskörpern entsprechende neue Monadengebiete zuzuordnen wären». Wir könnten offensichtlich nach Husserl anderen Himmelskörpern als der Erde nur Monaden zuordnen, wenn wir auf ihnen mindestens «organische Wesen» entdecken würden, in die wir etwas Ähnliches wie Bewusstseinsleben einfühlen könnten. Drittens: Nach diesem Text «bedeutet Natursein eine gewisse Regelung der Erscheinungen der Seelen». Das Sein der Natur ist also nur intentionales gegenständliches Korrelat der geregelten Erfahrungsabläufe, welche die Natur zum Erscheinen bringen. Und «wir kommen hier nicht darauf, dass etwa alle physischen Dinge Leiber sind, die alle zu irgendeinem Bewusstsein so stehen, wie unser Leib zu unserem Bewusstsein steht». Also ist die gegenständliche Natur nicht «voller Leben, voller Monaden», wie dies Leibniz sah. Viertens: Von Ontogenese spricht Husserl in diesem frühen Text nicht. Das hätte seine genetische Phänomenologie vorausgesetzt, die erst um 1917/18 entstand. Also besteht in diesem Text kein Cartesianischer Dualismus von absolut seienden erlebenden („denkenden“) Substanzen oder «Geistern im weitesten Sinn» (Monaden) und materiellen (räumlich ausgedehnten) Substanzen, aber es besteht noch eine «abgeschwächte» Art von Cartesianischem Dualismus zwischen der Natur der ausgedehnten Körper als bloss relatives Sein und den Monaden als absolutes Sein. Und es gibt nicht in allen erscheinenden Körperdingen Monaden, und in einem organischen Leib gibt es nicht mehrere Monaden. Obschon Husserl in diesem frühen Text aufgrund der Naturwissenschaften von «schlafenden» oder «involuierten» und von wachen oder «evoluierten» Monaden spricht, was ich aufgrund meiner bisherigen Kenntnisse der Husserl’schen Texte vor den Dreissigerjahren eigentlich nicht erwartete, ist in diesem frühen Text seine Grundhaltung die gleiche wie diejenige in den Dreissigerjahren, nämlich dass «wir natürlich kein Recht haben, in bestimmter Weise mehr und andere Monaden anzunehmen, als welche wir als [Menschen- und] Tiermonaden und allenfalls als [Monaden] organische[r] Wesen [Pflanzen] bezeichnen», d. h. als Monaden, die wir anderen Leibern einfühlen können. Besonders eingehend hat sich Husserl in den Jahren 1921/22 mit der Monadologie befasst. Dies war einerseits dadurch motiviert, dass er in dieser Zeit sein neues «grosses systematisches Werk» vorbereitete, andererseits dadurch, dass sein Schüler Dieter Mahnke damals unter seiner Leitung eine Dissertation über Leibniz schrieb.271 In einem Text aus jener Zeit stellt Husserl die grossen Linien 271 Husserls bemerkt zu einem seiner Text aus dieser Zeit, der in Hua XIV als Beilage XL veröffentlicht wurde: «Zusammengestellt wohl nach Mahnke, aber weitergehend» (S. 298, Anm. 1). Es ist mir nicht ersichtlich, welchen Text von Dieter Mahnke Husserl hier herangezogen haben könnte. Dieter Mahnke war schon Schüler Husserls in dessen Göttinger Zeit (1901– 1916) und promovierte im Juli 1922 bei Husserl in Freiburg, nachdem er schon mehrere Schrif-
§ 39. Absolute Monadologie als Ausweitung der transzendentalen Egologie
seiner Metaphysik dar:272 Reale Gegenstände der Natur und ideale Gegenstände, wie reine geometrische Formen, Zahlen, die eine neunte Symphonie Beethovens (die in vielen verschiedenen Aufführungen zu verschiedenen Zeiten und verschiedenen Orten realisiert wird), sind von einer «untergeordneten Seinsdignität», da sie nichts anderes sind als Einheiten in geregelten Fortschritten der Erfahrungen von ihnen bzw. von Aktivitäten des Geistes. «[…] die übergeordnete Seinsdignität ist diejenige der Subjektivität mit ego-cogito-cogitatum. Ob es schon die letzte und höchste Seinsdignität ist, bleibe hier dahingestellt. Aber jedenfalls das Ich ist ‹in sich› und nicht in einem anderen. […] Das Ich ist sich selbst genug, und, um als Seiendes erkennbar zu sein, bedarf es keines anderen Seienden ausser sich selbst. Das Ich ist für sich. Indem es ist, wird es sich seiner selbst bewusst, und alles, was es ist, was ihm an und für sich selbst zukommt, wird in ihm, in dem ihm Zukommenden selbst wieder bewusst, und als Ich kann es sich selbst denken mitsamt seinem Denken […] Von ihm kann man sagen, dass es in se est et per se concipitur [in sich selbst ist und durch sich selbst begriffen wird],273 und die conceptus (Begriffe) aller res [Dinge] sind aus ihm selbst zu schöpfen. Aber es hat nicht nur seine aus ihm selbst geschöpften conceptus […], [sondern] es kann auch von einem anderen Ichsubjekt konzipiert werden. In mir bekundet sich durch einfühlende Erfahrung der Andere.»274
«Und nun ist eben das der Grundzug einer Subjektivität [….], dass sich in ihr als ihr Gegenüber ein zweites Ich ursprünglich bekunden kann und, da darin Reziprozität eo ipso liegt, dass sich dann auch und zugleich ihm gegenüber mein Ich bekunden kann.»275 Diese ursprüngliche reziproke Bekundung ist nur möglich «durch ursprüngliche Bekundung in einer natural [in der Natur] erfahrenen Leiblichkeit». Wie in Leibnizens Monadologie haben endliche Monaden, d. h. alle Monaden, ausser der unendlichen Monade Gott, notwendigerweise einen Leib. Während Husserl diese Notwendigkeit hier durch die Bedingung der Möglichkeit der reziproken Einfühlung begründet, tut dies Leibniz aufgrund des Gedankens, dass nur durch einen Leib eine Monade ein Gesichtspunkt (point de vue) mit einer Perspektive auf die Welt sein kann. Auch bei Husserl impliziert die ganze ten, besonders solche über Leibniz, publiziert hatte. Als Dissertation, auf die sich Husserl in jenem Text möglicherweise bezieht, hat Mahnke wohl einen Text eingereicht, der demjenigen nahegestanden haben dürfte, der 1925 im 7. Band des Jahrbuches für Philosophie und phänomenologische Forschung, S. 305–612, unter dem Titel «Leibnizens Synthese von Universalmathematik und Individualmetaphysik» veröffentlicht wurde. Evtl. enthielt die Dissertation neben dem historischen Teil, der 1925 allein veröffentlicht wurde, auch eine systematische Darstellung. Auf Dieter Mahnke nimmt Husserl auch in einem anderen Manuskript aus der Zeit um 1922 und in einem Manuskript von Ende 1924 Bezug, die beide in Hua XIV veröffentlicht wurden (S. 301 und 349). 272 Hua XIV, Text Nr. 13 (Januar/Februar 1922), S. 256–276. 273 Vgl. Spinoza, Ethik, Teil I, Definition 3. 274 Hua XIV, Text Nr. 13, S. 257. 275 A.a.O., S. 258.
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5. Kapitel. Phänomenologische Metaphysik: «existenziell» und monadologisch
Weltwahrnehmung den subjektiv fungierenden, tätigen Leib des Wahrnehmenden. Er ist auch wie bei Leibniz «Nullpunkt der Wahrnehmungsorientierung». Husserl betont selbst seine Nähe zu Leibnizens Monadologie, besonders in seiner Vorlesung «Erste Philosophie» aus dem Jahre 1923/24, und zwar am Schluss des zweiten Teils («Theorie der phänomenologischen Reduktion») dieser Vorlesungen sowie schon zuvor am Schluss des ersten Teils («Kritische Ideengeschichte») dieser Vorlesungen. Der letzte Satz des zweiten Teils lautet: «Das einzige absolute Sein ist aber Subjektsein als für sich selbst ursprünglich Konstituiertsein, und das gesamte absolute Sein ist das des Universums der transzendentalen Subjekte, die miteinander in wirklicher und möglicher Gemeinschaft stehen. So führt die Phänomenologie auf die von Leibniz in einem genialen aperçu antizipierte Monadologie.»276
Am Schluss des ersten Teils dieser Vorlesung sagte er: «Seine [Leibnizens] Monadenlehre ist eine der grossartigsten Antizipationen der Geschichte. Wer sie voll versteht, kann nicht anders als ihr einen grossen Wahrheitsgehalt beimessen. Leibniz hat bei der Erörterung der Grundeigenschaften der Monade unter den Titeln Perzeption, strebender Übergang von Perzeption zu Perzeption [Appetition] und insbesondere Repräsentation von reell nicht Gegenwärtigem [nicht reell, sondern intentional im Bewusstsein Vorhandenem], und doch perzeptiv Bewusstem, die Grundeigenschaften der Intentionalität erfasst und metaphysisch verarbeitet.»277
In Husserls Monadologie wie in derjenigen von Leibniz hat jede subjektive Bewusstseinseinheit (monas) ihren einen Bewusstseinsfluss mit seinen objektiven intentionalen Weltobjekten. Doch Husserl schrieb 1921 gegen Leibniz: «Die Monaden haben Fenster [zu anderen Monaden].» Aber er erklärt sofort diese Aussage in einer Weise, durch die sie mit Leibnizens Sicht zuerst einmal übereinstimmt: «Jedes Ich ist eine Monade. Aber die Monaden haben Fenster. Sie haben insofern keine Fenster oder Türen, als kein anderes Subjekt reell [in sie] eintreten kann, aber durch die hindurch es (die Fenster sind die Einfühlungen) [ein anderes Subjekt] so gut erfahren sein kann wie vergangene eigene Erlebnisse durch Wiedererinnerung. Dadurch erwächst aber nicht nur in jeder der einfühlenden Monaden ein neues Erlebnis und ein erfahrendes neues Meinen von Rechtscharakter.»278
Nach den oben in den Paragraphen 23 und 24 (3. Kapitel) zitierten Texten Husserls sind auch sexuelle und personale Liebe solche «Fenster».
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Hua VIII, Erste Philosophie. Zweiter Teil, herausgegeben von Rudolf Boehm, S. 190. Hua VII, Erste Philosophie, Erster Teil, herausgegeben von Rudolf Boehm, S. 196/197. Hua XIV, S. 260.
§ 39. Absolute Monadologie als Ausweitung der transzendentalen Egologie
Für jede menschliche Monade ist nach Husserl nicht nur eine Natur da, sondern eine Welt mit tierischen und menschlichen Subjekten. Diese Subjekte haben in dieser Welt Leiber, «in denen sich Monaden ausdrücken». Durch dieses Sich-Ausdrücken sind diese Leiber Doppeleinheiten von Leib und Seele. Diese Doppeleinheiten und die ganze Welt mit ihnen sind konstituiert als identische Welt für alle Menschen.279 In einem in der zweiten Oktoberhälfte 1931 geschriebenen Text sagt Husserl: «Die Existenz jeder Monade ist in jeder impliziert [durch wirkliche und mögliche Einfühlungen und soziale Akte]. Jede in ihrem Bewusstsein hat dieselbe Welt konstituiert, ‹implicite› ist in jeder alles Seiende und transzendental das All der Monaden und alles, was sich in der einzelnen und in der Gemeinschaft konstituiert, beschlossen. Anderseits sind die Monaden absolut getrennt, sie haben kein Moment, kein Reelles [keinen reellen Teil ihres Bewusstseins, d. h. keine intentionalen Akte und Sinnesdaten (Hyle)] gemeinsam, sie koexistieren in der monadischen Allzeit.»280
Nach Leibniz ist nicht bloss in meinem eigenen Leib und in mehr oder weniger meinem Leib ähnlichen Leibern, in die wir uns einfühlen können, je eine Monade enthalten, sondern diese Leiber sind voller Monaden. Aber ein einzelner Leib, der voller Monaden ist, besitzt eine Zentral-Monade, welche die untergeordneten Monaden in ihrem Leib regiert. Auch in der von uns als nicht beseelt wahrgenommenen Natur, in den Pflanzen, im blossen Wasser, in den Steinen, in der Luft, sind Monaden enthalten. Alles ist voller Monaden. Es existiert nichts anderes als nicht räumlich ausgedehnte Monaden und ihre von ihnen selbst und von anderen Monaden wahrgenommenen ausgedehnten Erscheinungen. Es gibt keinen substanziellen Unterschied zwischen Seelischem und Körperlichem. Das Körperliche ist nichts anderes als die Weise, wie Monaden erscheinen. Es gibt in den Monaden sehr verschiedene Ebenen von Perzeptionen, es gibt auch unbewusste, d. h. völlige verworrene, undifferenzierte Perzeptionen (perceptions confuses). Die Monaden in den Steinen, im blossen Wasser und in der blossen Luft sind vor allem solche Monaden mit bloss undifferenzierten, verworrenen Perzeptionen. Dass das Wasser voller Monaden ist, wurde nach Leibniz visuell sichtbar durch die mikroskopischen Beobachtungen eines Zeitgenossen von Leibniz, des Holländers Antoni van Leeuvenhoek (1632–1723), der in einem Wassertropfen viele sich bewegende kleinste Lebewesen sah. Leibniz weist in seinen Texten auf diese Beobachtungen hin. Die durch das Mikroskop gesehenen ausgedehnten körperlichen Lebewesen drücken nach Leibniz eine Vielheit von Monaden mit einer Zentralmonade aus.
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A.a.O., S. 260/61. Hua XV, Beilage XXII, S. 377.
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5. Kapitel. Phänomenologische Metaphysik: «existenziell» und monadologisch
Auch für Husserl gibt es metaphysisch als substanzielles Sein nichts anderes als Monaden. Auch er würde in einem durch ein Mikroskop gesehenen sich bewegenden Tierchen, soweit auch nur eine elementare Einfühlung in es möglich ist, einen Ausdruck einer Monade sehen. Er spricht auch vom Bewusstsein von Tieren wie Quallen. Aber in seinem grossen monadologischen Text vom Januar/ Februar 1922281 sah er in einem solchen niederen Tier nur den Ausdruck einer einzigen Monade. Ein als Leib wahrgenommener Körper ist keine Zentralmonade mit vielen untergeordneten Monaden. Und es gibt für ihn erscheinende Naturkörper, die wir nicht als Leiber wahrnehmen und in die wir deshalb auch kein anderes Subjekt einfühlen können, in denen sich kein Bewusstsein ausdrückt, die also nicht voller Monaden, sondern die nur die gegenständlichen Bewusstseinskorrelate der sie zur Erscheinung bringenden (konstituierenden) Monaden sind. Er schreibt in einem oben bereits zitierten Text vom Beginn des Jahres 1922: «Es scheidet sich das Absolute, das ist die Monadenvielheit [die Vielheit der monadischen Subjekte], die jede mögliche Natur voraussetzt, und die objektive Natur selbst, die blosses Setzungskorrelat ist [Korrelat einer Seinssetzung], ein blosses konstitutives ‹Erzeugnis› in der Allheit [der Monaden] auf Grund von reinen Erzeugnissen bloss subjektiver Naturen für sich in jeder einzelnen Monade und dann gar in vielen notwendigen [konstitutiven] Stufen.»282
Husserl nimmt wie Leibniz nur eine Art von metaphysischen Substanzen an: Nur Monaden sind Substanzen. Für Leibniz sind Körper aus einfachen Substanzen (Monaden) zusammengesetzte Substanzen. Es gibt für Husserl und für Leibniz nicht noch zusätzlich dazu, wie es im metaphysischen Dualismus von Descartes der Fall ist, neben der res cogitans, der «denkenden» (wahrnehmenden, fühlenden wollenden) Substanz, noch die res extensae, die ausgedehnten Substanzen der bloss physischen Natur. Doch gibt es für Husserl in der Zeit vor dem Anfang der Dreissigerjahre noch die blosse physische ausgedehnte Natur, die für ihn zwar keine metaphysische Substanz, sondern «ein blosses Korrelat der Seinssetzung», «ein blosses konstitutives ‹Erzeugnis›» «in der Allheit der Monaden» ist. Insofern ist Husserl Descartes näher als Leibniz: Für Husserl gibt es in dieser Zeit noch eine Dualität zwischen den nicht ausgedehnten Substanzen und dem ausgedehnten Physischen, in dem gegenständlich keine Substanzen (Monaden) erscheinen, sondern das bloss ein gegenständliches intentionales, als seiend gesetztes Korrelat der Monaden ist. Doch nach Leibniz gibt es in allem gegenständlich Erscheinenden Monaden (Substanzen). Aber in einem Text, den Husserl im September 1933 in Schluchsee schrieb und in dem er über die Teleologie der Totalität der (endlichen) Monaden spricht, spricht er auch von der Unendlichkeit von Stufen von Monaden, von menschlichen und tierischen, von vortierischen und 281 282
Hua XIV, Text Nr. 13, S. 244–272. Hua XIV, Text Nr. 13, S. 266.
§ 39. Absolute Monadologie als Ausweitung der transzendentalen Egologie
pflanzlichen und von vorpflanzlichen, und andererseits spricht er auch von den kindlichen und vorkindlichen Monaden – in der Beständigkeit der ontogenetischen und phylogenetischen Entwicklung.283 Auf diesen Text werde ich weiter unten in diesem Paragraphen eingehen. Innerhalb von Leibnizens endlichen Monaden, d. h. den Monaden, die einen leiblichen Gesichtspunkt haben (im Gegensatz zur göttlichen Monade, die keinen leiblichen Gesichtspunkt hat, sondern alle Gesichtspunkte umfasst und insofern keinen Gesichtspunkt hat), gibt es einen wesentlichen Unterschied: Die meisten Monaden sind nur endliche perzeptive Perspektiven von ihren Gesichtspunkten aus, während besondere, nämlich (ungefähr vom fünften Altersjahr an) die menschlichen Monaden, nicht bloss solche endlichen Gesichtspunkte sind, sondern auch reflexiv wissen, dass sie selbst als menschliche Monaden die Welt von ihren Gesichtspunkten aus sehen. Diese menschlichen Monaden haben nach Leibniz nicht nur Perzeptionen und Apperzeptionen («Beiwahrnehmungen»; apperceptions) wie die tierischen. Sie sind durch Reflexion auch fähig zu überlegen, was sie sind. Sie entsprechen dem, was Husserl über die Reflexion auf sich selbst schreibt (siehe oben im 2. Kapitel den § 14). Dieses Bewusstsein hat auf der Ebene der Ethik auch praktische Konsequenzen: Die reflektierende Monade ist fähig, in ihrem Handeln in Freiheit sich selbst zu bestimmen. In dem Text, den Husserl im September 1933 in Schluchsee schrieb und den wir schon oben im § 23 des 3. Kapitels über die Vereinigung der Primordinalsphären in der sexuellen Liebe zitierten, spricht Husserl zuerst über die Teleologie der Totalität der (endlichen) Monaden. In diesem Zusammenhang spricht er auch über das, worauf ich oben in diesem Paragraphen hingewiesen habe: die Unendlichkeit der Stufen von Monaden, von den vorpflanzlichen bis hinauf zu den menschlichen «in der Beständigkeit der ontogenetischen und phylogenetischen Entwicklung».284 Die sich teleologisch entwickelnde Totalität von Monaden ist zuerst eine Gemeinschaft instinktiver Triebe und erreicht schliesslich auf der Ebene der menschlichen Gemeinschaft das Bewusstsein ihrer selbst und zuhöchst universal das Bewusstsein als «Menschengemeinschaft».285 «Die Monadengemeinschaft ist universal konstituierte Triebgemeinschaft. Ihr entspricht im Strömen horizonthaft schon seiende Welt, wonach sie immer wieder Monaden zur gesteigerten Ausbildung, zur ‹Entwicklung› bringt und immer schon gebracht hat. In dieser Form kommt die Totalität der Monaden in Abschlagzahlungen [in einzelnen Schritten] zum Selbstbewusstsein, zuhöchst universal als Menschengemeinschaft. Diese hat eine universale Welt, worin sie sich als welterkennende findet und zum Willen der Welterkenntnis emporgestiegen ist, in der europäischen [europäisierten] Kulturmensch283 284 285
Hua XV, Text Nr. 34, S. 593–597. Hua XV, Text Nr. 34, S. 592–597. A.a.O., S. 596.
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5. Kapitel. Phänomenologische Metaphysik: «existenziell» und monadologisch
heit als universale positive Wissenschaft schaffend. Und von da aus [ergibt] sich allein die Möglichkeit der transzendentalen Reduktion, durch welche die Monaden, zunächst als Menschenmonaden, entdeckt werden, dann in Form des generativen Zusammenhanges alle Monaden der Monadenstufen, die höheren und niederen Tiere, die Pflanzen und deren Unterstufen, und für alle ihre ontologischen Entwicklungen. Jede Monade [ist] wesensmässig in solcher Entwicklung, alle Monaden sind wesensmässig in solchen Entwicklungen.»286
In ontogenetischer Hinsicht schreibt Husserl in diesem Text unter anderem: «Der intersubjektive Zeugungsakt (‹die Kopulation›287 ) ‹motiviert› im anderen Leben neue Prozesse […], und in der Enthüllung von Seiten der Weltlichkeit, als Mensch, erfahre ich, was da weltlich sich zeigt und was in weiteren Induktionen in Bezug auf die Physiologie der Schwangerschaft zu sagen ist. Die Teleologie umgreift alle Monaden. Was in der mütterlichen passiert, passiert nicht in ihr allein, es ‹spiegelt sich› in allen.»288
In diesem Text aus dem Jahre 1933 nimmt die Monadologie Husserls eine Gestalt an, in der sie sich der Monadologie von Leibniz teilweise angleicht. Wir erfahren in unserer Welt nicht nur Monaden als eigene Monaden und überall dort, wo wir aufgrund uns ähnlicher Leiber anderen Menschen und Tieren ein subjektives Bewusstseinsleben einfühlen können, sondern es gibt sie auch in Pflanzen und im Vorpflanzlichen, ontogenetisch gesprochen, schon im kleinsten Embryo des Mutterleibes, ja logischerweise schon in dem, woraus der Embryo entsteht, in den aus seinen Hoden stammenden Spermien des Mannes und den Eizellen aus dem Eierstock der Frau. Was versteht Husserl unter dem «Vorpflanzlichen», das Monaden enthält? Wohl auch all das, woraus die Pflanzen entstehen, einerseits ontogenetisch, die Pflanzensamen und logischerweise auch das, woraus die Pflanzensamen entstehen, nämlich den Blütenstaub, die Pollen auf den Staubblättern (Androceum) der Blüten und die Samenanlagen auf den Fruchtblättern (Gynoceum) der Pflanzenblüte. Und logischerweise befinden sich auch Monaden in der anorganischen Welt, aus der organische Wesen entstanden sind und wohl noch immer entstehen. So scheinen sich auch bei Husserl fast oder überhaupt in der ganzen Körperwelt der res extensae Monaden (subjektive «Einheiten») zu befinden, und die ganze Körperwelt, die objektive Natur, ist nicht blosses Setzungskorrelat (Korrelat einer Seinssetzung), ein blosses konstitutives ‹Erzeugnis› der Monaden, sondern die ganze objektive Natur ist die Vielfalt der Weisen, wie den subjektiven Monaden in verschiedenen Stufen ihrer Wahrnehmungen (perceptions) von ihren Gesichtspunkten aus die anderen Monaden erscheinen, auch diejenigen, denen keine Welt erscheint.
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A.a.O., S. 596. A.a.O., S. 596. A.a.O., S. 597.
§ 40. Die Teleologie der Entwicklung der Monaden
Husserl ist aufgrund der modernen Evolutionstheorie, welche die Analogie der Phylo- und Ontogenese betont, auf seine späte Form der Monadologie gekommen, die derjenigen von Leibniz sich nähert. Leibniz konnte diese naturwissenschaftliche Theorie noch nicht kennen. Er kam unter anderem auf seine Monadenlehre einerseits (wie Husserl) durch die Reflexion auf sein eigenes Bewusstsein, aber hat sie andererseits durch den Gedanken auf das ganze Universum ausgedehnt, dass alles räumlich Ausgedehnte zusammengesetzt ist aus ausgedehnten zusammengesetzten Teilen und dass letztlich, um einen unendlichen Regress zu vermeiden, nicht räumlich ausgedehnte und räumlich zusammengesetzte Einheiten angenommen werden müssen – nämlich die Monaden. Am Ende jenes im September 1933 entstandenen Textes schreibt Husserl, dass alle diese von ihm im Zusammenhang seiner Monadologie erörterten phylogenetischen und ontogenetischen Fragen ausgehen «von mir und der Welt, in der ich konkret lebe, der Welt meiner und unserer Erfahrung, die zugleich Welt ist für die Wissenschaften, die selbst zu meiner Welt gehören […]».289 In einem Text aus dem Jahre 1932 oder 1933 schreibt er: «Und doch ist nicht zu vergessen, dass das alles, [nämlich] meine selbsteigene Zeitlichkeit und meine zu jeder Zeitstelle gehörige monadische Koexistenz, dass monadische Raumzeitlichkeit und ‹Welt› selbst, die sich mir und jeder Monade orientiert darstellt, in mir, im konkreten ego der Reduktion als dem urtümlichen Ego, impliziert ist. Dieses ego ist das im absoluten Sinn einzige, der keine sinnvolle Vervielfältigung zulässt, noch schärfer ausgedrückt, als sinnlos ausschliesst.»290
§ 40. Die Teleologie der Entwicklung der Monaden. Liebe als Ziel (Telos) dieser Entwicklung Im Blick auf die Zukunft geht nach Husserl durch die phylogenetische und ontogenetische Entwicklung der Totalität der Monaden ein teleologisches Streben nach Vollkommenheit, das in den menschlichen Monaden explizit wird. Diese Vollkommenheit verwirklicht sich nach Husserl in der personalen Liebe: In einem ungefähr am 13. November 1931 geschriebenen und von Husserl mit «Teleologie» betitelten Text schreibt er: «Durch jedes transzendentale Dasein, aber nicht bloss einzeln, sondern in der intersubjektiven Vergemeinschaftung und als intersubjektive Totalität geht hindurch ein Einheitsstreben der ‹Vollkommenheit›. Es ist kein Zufall, dass der Mensch, immerfort mit Einzelheiten der Erfahrung beschäftigt, niemals zu einer Zufriedenheit kommt, oder vielmehr, Hua XV, Text Nr. 34, S. 597. Hua XV, Beilage XLI, [Erinnerung und Einfühlung als sich selbst zeitigende Vergegenwärtigungen (Monadisierung) des absolut einzigen, urtümlichen Ich. Monadische Zeiträumlichkeit und natürlich-weltliche Zeiträumlichkeit], S. 589/590. 289 290
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5. Kapitel. Phänomenologische Metaphysik: «existenziell» und monadologisch
dass keine Zufriedenheit im Einzelnen und in der Endlichkeit wirkliche und volle Befriedigung ist, und dass Befriedigung auf eine Lebenstotalität und personale Seinstotalität verweist, auf eine Einheit in der Totalität der habituellen Geltungen, die alle Endlichkeit übersteigt.»291 «Der Mensch lebt in der ‹Unendlichkeit›, die sein ständiger Lebenshorizont ist. Er übersteigt die Instinkte, er schafft Werte höherer Stufe und übersteigert diese Werte. Jeder Mensch findet sich in einer endlos offenen Werte-Welt, und zwar Welt praktischer Werte, die ‹in infinitum› zu übersteigern sind […]. Alles, was man schafft, verweist auf Besseres und hat im Allgemeinen ein Besseres neben sich, das schon Andere erworben haben, das man aber nicht selbst geniessen kann. […] Aber das alles deutet nur die niedere Glücklichkeitsstufe an. Die Unendlichkeit als Lebenshorizont jedes Menschen, sofern sein Lebenshorizont die Unendlichkeit der generativen Menschheit umfasst, und für ihn als erschlossener, bringt Tod und Schicksal in den Horizont und die Möglichkeit des Selbstmordes, auch die Möglichkeit eines intersubjektiven ‹Selbstmordes›. In der erschlossenen Unendlichkeit ist Glückseligkeit ein Widersinn. Von vornherein sind [auch] nicht-hedonische Werte da; hedonische Werte haben ihren Ursprung im Genuss, letztlich in sinnlichen Gefühlen […].»292
Ich denke nicht, dass Husserl mit «intersubjektivem Selbstmord» einen kollektiven, das Leben aller Beteiligten beendenden Selbstmord meint, sondern eher eine intersubjektive Resignation und ein intersubjektiv geteiltes Gefühl der Sinnlosigkeit des Lebens, ein Gefühl der mit nichts Endlichem, durch keinen Genuss (durch keinen hedonischen Wert) ausfüllbaren unendlichen Leere, angesichts «des Todes und des Schicksals», bzw. einen «Mord» des wahren Menschen, der der Mensch in seinem teleologischen Streben eigentlich sein will. Nach dem weiteren Verlauf des Textes kann nur die wahre Liebe und die damit als «Beigabe» einhergehende Glückseligkeit (siehe unten) aus dieser Resignation herausführen. Husserl gibt seiner Ansicht Ausdruck, dass nur die Werte der wahren menschlichen Liebe, in der eine Person um ihrer selbst willen geliebt wird, und der in dieser Liebe liegenden Verehrung das teleologische Ziel der phylogenetischen und ontogenetischen Entwicklung der Totalität der Monaden sein kann. Diese Liebe und diese Verehrung sind nicht nur hedonische Werte endlicher (vergänglicher) Dinge und Verhaltensweisen: «Die Werte der Person […] entspringen ganz anderen Quellen [als die hedonischen Werte, die Werte des Genusses]. [Sie entspringen] den Quellen der Liebe im prägnanten Wortsinn. In diesem Wortsinn ist Liebesgenuss ein Widersinn […]. Die Liebe – liebend sich im Anderen verlieren, im Anderen leben, sich mit dem Anderen einigen (aber nicht wie im Verhältnis von Herrn und Diener oder Sklave) ist ganz und gar nicht hedonisch, obwohl sie Freuden, ‹hohe› Freuden begründet. […] Alle aus personaler Liebe entsprun-
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Hua XV, Beilage XXIII, S. 404. Hua XV, Beilage XXIII, S. 405/406.
§ 41. Phänomenologie der Intersubjektivität und phänomenologische Philosophie
genen Werte […] haben die Eigenschaft, dass sie selbst im ‹Genuss›, das ist in der Erfahrung als Werte, in der wertenden Freude […] liebender Hingabe bedürfen.»293
Diese Hingabe erteilt umgekehrt rückstrahlend jeder Person, die sie ausübt, z. B. die Hingabe an Werke der hohen Kunst, einen Zuwachs personalen Wertes. «In aller Liebe liegt Verehrung, in aller Verehrung [Glück]seligkeit als wesensmässige Mitgabe.»294 Husserl fügt wohl als Abwehr einer hedonistischen Interpretation der liebenden und verehrenden Hingabe hinzu, dass man diese Seligkeit erfahren dürfe, dass aber darin die «gefährliche Perversion» naheliege, die liebende Hingabe als blosses Mittel zum Genuss dieser Seligkeit zu betrachten und damit der liebenden, verehrenden Hingabe die Hingabe an die Lust unterzuschieben. Doch «das liebende Streben erfüllt sich nicht in der Lust, sondern […] diese ist nur eine Begleitfolge [«Begleitgabe»] der Erfüllung [dieses Strebens in der liebenden verehrenden Hingabe]».295 Der oben zitierte Text aus dem November 1931 schliesst mit den Worten: «Sinnliche Gefühle als Beimischung bei aller [Glück]seligkeit. In der Hingabe an das Liebesgefühl kommen wohl auch die sinnlichen Komponenten zur Übersteigerung.296 Aber das alles muss neu durchdacht werden. Vgl. die alten Manuskripte.297 »298
§ 41. Phänomenologie der Intersubjektivität und phänomenologische Philosophie Die oben in den Paragraphen 39 und 40 gegebenen Ausführungen über Husserls teleologische Monadologie gehen über Husserls Phänomenologie der Intersubjektivität hinaus. Als metaphysische gehören sie nach Husserl nicht zur reinen Phänomenologie, sondern zur phänomenologischen Philosophie. Deshalb möchten wir in diesem § 41 einen Überblick über Husserls Konzeption der phänomenologischen Philosophie geben.299 A.a.O., S. 406. A.a.O., S. 406. 295 A.a.O., S. 406. 296 Anstatt «Übersteigerung» steht im Text «Überbetonung» (S. 407). Da mir «Überbetonung» an dieser Stelle nicht sinngemäss erscheint [Husserl hat ja keine hedonistischen Tendenzen] und Husserl zuvor in diesem Text von «übersteigern» und «Steigerungen» spricht (S. 405), habe ich mir diese Veränderung erlaubt. 297 Gemeint sind wohl die mit «Gemeingeist I» betitelten Manuskripte aus dem Jahre 1921, die in Hua XIV, S. 165–184, als Text Nr. 9 publiziert wurden und die oben in den §§ 20 bis 25 im 3. Kapitel zur Sprache kamen. 298 Hua XV, Beilage XXIII, S. 407. 299 Als weitgehenden Beleg für die Ausführungen in diesem § 41 möchte ich auf Husserls fast 40 Druckseiten umfassenden Brief über die gegenwärtige Aufgabe der Philosophie aus dem Jah293
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5. Kapitel. Phänomenologische Metaphysik: «existenziell» und monadologisch
Husserl betrachtete die Phänomenologie des reinen Bewusstseins, d. h. des in der reinen Reflexion gegebenen und nicht mit Kategorien der raumzeitlichen Natur oder anderen Kategorien «verunreinigten» Bewusstseins nur als die «Grundwissenschaft der Philosophie»,300 nie als die Philosophie schlechthin. Diese Phänomenologie des reinen Bewusstseins ist nichts anderes als seine Phänomenologie der im phänomenologisierenden Ich zentrierten, intersubjektiv verbundenen und intentional konstituierend (zur Erscheinung bringend) auf Welt bezogenen Bewusstseinssubjekte. Er schrieb in der Einleitung zum 1913 erschienenen ersten Buch seiner Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie: «Es wird die Einsicht erweckt werden, dass echte Philosophie, deren Idee es ist, absolute Erkenntnis zu verwirklichen, in der reinen Phänomenologie wurzelt, und dies in so ernstem Sinne, dass die systematisch strenge Begründung und Ausführung dieser ersten aller Philosophien die unablässliche Vorausbedingung ist für jede Metaphysik und sonstige Philosophie – ‹die als Wissenschaft wird auftreten können›[Kant].»301
Was Husserl primär wollte, war «Philosophie als strenge Wissenschaft», wie der Titel seines 1911 in der Zeitschrift Logos erschienenen grossen Aufsatzes lautet. Husserl war zuerst Mathematiker, also tätig in der in der europäischen Tradition als strengste aller Wissenschaften und auch von Philosophen von Platon bis zu Spinoza zum Vorbild genommenen Wissenschaft. Nachdem er in Wien zum Doktor der Mathematik promoviert hatte, lernte er dort den Philosophen Franz Brentano kennen. Dieser förderte in persönlichen Gesprächen und in seinen Schriften, z. B. mit seiner Psychologie vom empirischen Standpunkt (1. Band 1874), nicht nur Husserls philosophische Interessen, sondern gab ihm auch das Vertrauen, dass Philosophie streng wissenschaftlich betrieben werden kann. Husserl kam schliesslich zur Ansicht, dass die anderen Wissenschaften ihre wissenschaftlichen Fundamente nur in der Phänomenologie haben können, dass die wissenschaftliche phänomenologische Philosophie alle anderen Wissenschaften umfasst und dass es letztlich nur eine Wissenschaft gibt, die in der Metaphysik gipfelt, und dass diese eine Wissenschaft identisch ist mit der wissenschaftlichen phänomenologischen Philosophie. Husserls Überzeugung von der phänomenologisch, d. h. durch reflexive Bewusstseinsanalysen fundierten einen Wissenschaft, nämlich der phänomenologischen Philosophie, hatte, und hat wohl immer noch, ihre grösste Konkurrentin re 1934 an den VIII. Internationalen Kongress der Philosophie in Prag verweisen. Abgedruckt in Edmund Husserl, Aufsätze und Vorträge (1922–1937) mit ergänzenden Texten herausgegeben von Thomas Nenon und Hans Rainer Sepp, Hua VII, Kluwer Academic Publishers, Dordrecht, Boston, London 1989, S. 184–221. 300 Ideen I, Hua III,1, 1976, S. 3. 301 A.a.O., S. 8.
§ 41. Phänomenologie der Intersubjektivität und phänomenologische Philosophie
und grössten Antipoden in dem, was Husserl den Naturalismus nennt, d. h. in der Lehre, dass die exakten modernen mathematischen Naturwissenschaften die einzige echte Wissenschaft und Philosophie ausmachen, dass die von diesen Wissenschaften erforschte Naturrealität die einzige Wirklichkeit ist, dass also das Bewusstsein wissenschaftlich nichts anderes als der Gegenstand der modernen Neurologie, also des Gehirns, ist. Er schrieb im Jahre 1910: «Bewusstsein, das ist der Grundfehler, der den letzten Grundfehler des Psychologismus ausmacht […] ist kein psychisches Erlebnis, kein Geflecht psychischer Erlebnisse, keine Sache, kein Anhang (Zustand, Betätigung) an einem Naturobjekt [dem Gehirn]. Wer errettet uns vor der Realisierung [Naturalisierung] des Bewusstseins? Das wäre der Retter der Philosophie, ja der Schöpfer der Philosophie.»302
Ich weiss nicht, ob Husserl, als er diese Sätze schrieb, sich mit Leibniz verbunden fühlte. Perzeptionen jeder Art befinden sich nach Leibniz nur in den einfachen Substanzen, den Monaden, und nicht etwa in den Gehirnen. Nach ihm nimmt nicht das komplizierte, aus verschiedenen ausserhalb voneinander liegenden Teilen zusammengesetzte Gehirn wahr, sondern die einfache Monade. Im § 17 seiner Principes de la philosophie (Monadologie) von 1714 schreibt er: «Man ist übrigens verpflichtet zu bekennen, dass die Perzeption und was davon abhängt [Appetition, Apperzeption] durch mechanische Gründe, das heisst durch Formen und Bewegungen [heute würde man sagen: elektrische Ströme] unerklärbar ist (inexplicable par des raisons mécaniques, c’est-à-dire par des figures et des mouvements). Indem man eine Maschine fingiert, deren Struktur Denken, Fühlen, das Haben von Perzeption bewirken soll (dont la structure fasse penser, sentir, avoir perception), kann man sie sich unter Wahrung ihrer Proportionen vergrössert denken, so dass man in sie wie in eine Mühle hineingehen kann. Man wird in ihr, wenn man sie in ihrem Inneren besucht, nur Bestandteile finden, von denen die einen die anderen stossen, und nie etwas, womit man eine Perzeption erklären könnte (et jamais de quoi expliquer une perception). So ist es in der einfachen Substanz und nicht im Zusammengesetzten (et non dans le composé) oder in der Maschine, wo man sie [die Perzeption] suchen muss. Auch ist es nur dieses, was man in der einfachen Substanz [Monade] finden kann, d. h. die Perzeptionen und ihre Veränderungen (et leurs changements). Und auch nur in diesen können alle inneren Tätigkeiten (toutes les Actions internes) der einfachen Substanzen bestehen.» (Principes de la philosophie, Monadologie, § 17)
Aus seiner Sicht der einen universalen Wissenschaft und Philosophie heraus konnte er in seinem oben am Anfang des § 39 zitierten Brief von 1932 an seinen Freund Gustav Albrecht schreiben: Manuskript A I 36, S. 193b; zitiert von Eduard Marbach in seinem Kapitel «Die methodische Grundlegung der Phänomenologie als Wissenschaft vom reinen bzw. transzendentalen Bewusstsein», in Bernet, Kern, Marbach, Edmund Husserl. Darstellung seines Denkens, Felix Meiner, Hamburg 1989, S. 59.
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«Alle Wissenschaften sind in einer Krise der Fundamente und der zur Wissenschaftlichkeit gehörigen Selbstverständigung der Methode. […] Mit all dem hängt zusammen, dass strenge Wissenschaft, identifiziert mit positiver Wissenschaft der Neuzeit, auf der einen Seite und Philosophie auf einer anderen Seite stehen, dass Metaphysik (im Grund nichts anderes als die Wissenschaft, die über Welt und Menschen die letzte Aufklärung schafft, ihren letzten, also absoluten Sinn zum Thema hat) als Feld vager Spekulationen oder als Reich einer schwärmerischen Mystik gilt. […]»303
Nur weil den positiven Wissenschaften der Neuzeit, auch den exakten mathematischen Naturwissenschaften, so wie Husserl in jenem Brief schrieb, die «langweiligen» phänomenologischen Fundamente fehlen, können sich nach ihm Philosophie und positive Wissenschaften getrennt gegenüberstehen und kann die Metaphysik als «Feld vager Spekulationen oder als Reich einer schwärmerischen Mystik» gelten. Dieses getrennte Gegenüberstehen hat nach Husserl also seinen Grund darin, dass auf der einen Seite die positiven Wissenschaften in ihrer objektiven Ausrichtung auf ihr Thema und damit in der ihnen notwendigen «Naivität» nicht selbst phänomenologisch-subjektiv auf ihre eigenen «Grundlagenprobleme» reflektieren können und dass auf der anderen Seite die Philosophie nicht darauf reflektiert, dass und wie die positiven Wissenschaften Leistungen des in der reinen Reflexion gegebenen subjektiven Bewusstseins sind und daher nicht die für die objektiven positiven Wissenschaften notwendige fundierende Klärung vollzieht. Die wissenschaftliche, reine Phänomenologie dagegen gibt allen modernen positiven Wissenschaften ihr Fundament, macht sie dadurch zu philosophisch reflektierten Wissenschaften, hebt damit ihre Naivität auf, gibt ihnen dadurch eine neue Dimension und bildet schon durch diese Fundierung mit ihnen eine Einheit. Umgekehrt muss sich die phänomenologische Philosophie ihrerseits auf die phänomenologisch fundierten positiven Wissenschaften stützen, welche das Faktische zum Gegenstand haben. Denn in der rein eidetisch phänomenologischen Bewusstseinsanalyse wird zwar das Faktum des phänomenologisierenden Ich, das Faktum der anderen Ich und das Faktum der intersubjektiv gemeinsamen Welt vorausgesetzt (siehe oben den § 38), aber alle die Fakten, die von den positiven Wissenschaften erforscht und bewiesen werden, müssen auch Gegenstand der wissenschaftlichen phänomenologischen Philosophie sein, wenn diese Philosophie der Wirklichkeit sein will. Dies geschieht dadurch, dass Husserl diese wissenschaftlichen Fakten phänomenologisch interpretiert. So gibt es nach Husserl eine phänomenologische Philosophie der bloss physischen Natur, der psychophysischen Natur, des menschlichen Geistes, der menschlichen Geschichte, der Kunst usw., der Ethik. Diese Philosophie der Wirklichkeit und dessen, was wirkEdmund Husserl, Briefwechsel, Band IX: Familienbriefe, in Verbindung mit Elisabeth Schumann herausgegeben von Karl Schumann, Kluwer Academic Publishers, Dordrecht, Boston, London 1994, S. 83 (Brief vom 3. Juni 1932).
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§ 41. Phänomenologie der Intersubjektivität und phänomenologische Philosophie
lich sein soll, die von Husserl, im Gegensatz zur reinen Phänomenologie, auch Zweite Philosophie genannt wird, ist nach ihm in ihren höchsten und wichtigsten Interessen Metaphysik, wie wir in den §§ 39 und 40 sahen. Husserl schreibt in einem Manuskript wohl aus der Zeit nach 1934, als er mit seinem letzten Werk, der Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (Hua VI), beschäftigt war: «Die Naivität [«aller natürlichen Positivität in Wissenschaft und jeder sonstigen Lebensnormierung»] wird überwunden, aber Naivität wird auch, nämlich in all ihren echten Evidenzen, gerechtfertigt. Sie wird nur in dem Sinn überwunden, als ihre verborgene ‹Relativität›, ihr Horizont der Selbstverständlichkeit enthüllt und in der Totalität der ständigen und notwendigen Entwicklung gegen eine universale Einstimmigkeit aller relativen Evidenzen hin in ihrer Funktion begriffen wird. Das betrifft die positiven Wissenschaften, es betrifft auch die Religion, die im naiven religiösen Leben, wo es, wie im Gebet, die Form ursprünglicher Evidenz hat, immerfort ihr unangreifbares Recht in sich trägt, in ähnlichem, obschon in anderem Sinn, wie die Wissenschaft. Das menschliche Leben verläuft im Widerspruch, im ständigen Widerstreit der Evidenzen. Dies ist notwendig, insofern jeder in der Selbstverständlichkeit seiner Situation (der individuellen und historischen, in der Sinngestalt seiner Apperzeption [Auffassung] derselben) von seiner Evidenz nicht lassen kann und im Unverständnis dessen, was andere als ihre Situation erleben und in naiver Geltung haben, die fremden Evidenzen nicht gelten lassen kann. Nur wenn die Totalität des transzendentalen Lebens, in dem sich als Normierung alle Seinskonstitution, alle Konstitution von Werten aller Stufen vollzieht, thematisch wird [kann dieser Widerspruch überwunden werden].»304
Diese ganze phänomenologische universale Wissenschaft ist aber, sowohl als reine Phänomenologie, d. h. als Erste Philosophie, als auch als die in ihr als Zweite Philosophie beschlossene und phänomenologisch begründete und miteinander verbundene positive empirische Einzelwissenschaften und schliesslich als Metaphysik, in einer beständigen dynamischen Entwicklung begriffen: Was gilt, wird infrage gestellt und korrigiert, es tauchen immer neue Fragen auf, es entstehen völlig neue umfassendere und besser begründete Theorien. So geht es ins Unendliche weiter. Es wird nie eine für immer gültige wissenschaftliche Philosophie oder philosophische Wissenschaft geben. Damit verfällt sie aber nicht in einen blossen Relativismus. Sie ist zwar relativ zur jeweiligen Zeit, aber sie gilt für diese Zeit. Es ist das, was die Wissenschaftler dieser Zeit als das Gültige, aber nicht als das Endgültige festgestellt haben. Husserl betrachtete sich nur als Anfänger der Phänomenologie, und erst recht der phänomenologischen Philosophie, aber doch als ihr Anfänger. Dabei war er, wie er von sich selbst schreibt, ein Mensch,
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Manuskript E III 4, Transkription S. 59/60.
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5. Kapitel. Phänomenologische Metaphysik: «existenziell» und monadologisch
«der die ungeheure Disproportion zwischen unendlicher Aufgabe und allzu geringen persönlichen Kräften vor Augen hat».305 Von dieser ganzen wissenschaftlichen Entwicklung des menschlichen Geistes wie auch seiner ganzen kulturellen Entwicklung schreibt Husserl schon 1908: «Der Geist in einer Natur und [die erkennende] Anpassung des Geistes an seine Natur, [die] Entwicklung von erkennenden Geistern, Entwicklung von Wissenschaften und von Kulturtaten überhaupt – das hat auch seine philosophischen Seiten; aber keine [phänomenologisch‐]erkenntnistheoretischen, keine solchen, die zur Ersten Philosophie gehören; nicht zur ersten, zur letzten Philosophie würde ich sagen.»306
Das heisst, diese Entwicklung des Geistes, die Husserl später als eine teleologische bezeichnen wird (siehe oben im Paragraphen 40), ist ein Problem der wissenschaftlichen Metaphysik. Ich schrieb oben in diesem Paragraphen, dass Husserl den Naturalismus, den Anspruch gewisser moderner positiver Naturwissenschaftler und mehr noch sich auf den Boden dieser Wissenschaften stellender Philosophen, die Wissenschaft und Philosophie zu vertreten, als den grossen Konkurrenten und Antipoden seiner phänomenologischen Philosophie sah. Wer hat nun Recht? Ist die Entscheidung für die eine oder die andere «Weltanschauung» nicht eine Sache des wissenschaftlichen Rechts, sondern eine Sache des Charakters? Sind etwa die Extravertierten für die äussere objektive Natur, die Wissenschaften von ihr und die auf diesen Wissenschaften basierenden Techniken und die Introvertierten für die Reflexion auf ihr Ich und auf das Natur und Welt zur Erscheinung bringende subjektive und intersubjektive Bewusstsein? Ich habe schon im voranstehenden § 38 geschrieben, dass ich weder das thematische Gebiet der phänomenologischen Philosophie noch diejenigen der positiven Naturwissenschaften als abgeschlossen und selbstständig und in diesem Sinne als absolut betrachten kann. Die Wissenschaften beider Arten von Gebieten sind keine absoluten Wissenschaften. Wenn nun keine der beiden Seiten weder einfach im Recht noch einfach im Unrecht ist, welche Seite hat dann eventuell mehr Recht? Ich denke, dass die phänomenologische Philosophie im Sinne Husserls mehr Recht hat, und dies aus folgenden fünf Gründen: Erstens: Die phänomenologische Philosophie Husserls umfasst auch die positiven Naturwissenschaften, nicht nur dadurch, dass sie diese durch die reflexive Schlusssatz des Briefes über die gegenwärtige Aufgabe der Philosophie aus dem Jahre 1934 an den VIII. Internationalen Kongress der Philosophie in Prag, abgedruckt in Edmund Husserl, Aufsätze und Vorträge (1922–1937) mit ergänzenden Texten herausgegeben von Thomas Nenon und Hans Rainer Sepp, Hua VII, Kluwer Academic Publishers, Dordrecht, Boston, London 1989, S. 221. 306 Hua VII, Beilage XX, S. 385; vgl. Husserls Vorlesung Erste Philosophie (1923/24) erster Teil: Kritische Ideengeschichte, Hua VII, S. 194. 305
§ 41. Phänomenologie der Intersubjektivität und phänomenologische Philosophie
Analyse ihrer Voraussetzungen und des zum Zustandekommen ihrer objektiven Ergebnisse führenden methodischen Vorgehens begründet (siehe oben den § 33) und ihr Verhältnis zu den Geisteswissenschaften durch phänomenologischen Rückgang auf die zur Aufteilung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften führenden ursprünglichen Erfahrungen klärt (so z. B. in Husserls Vorlesung «Natur und Geist» vom Sommer 1927, herausgegeben in Hua XXXII) und dadurch auch ihre Grenzen deutlich macht. Die phänomenologische Philosophie Husserls umfasst die positiven Naturwissenschaften auch dadurch, dass sie nach dieser Analyse und Klärung die von den modernen empirischen Naturwissenschaften eruierten Fakten in ihrer «Zweiten Philosophie» phänomenologisch interpretiert und als eine Grundlage ihrer Metaphysik benützt. Die modernen Naturwissenschaften dagegen können mit den phänomenologischen Bewusstseinsanalysen nichts anfangen. Sie ignorieren entweder das Bewusstsein und beschäftigen sich nur mit dem Gehirn, oder sie sagen vom Bewusstsein bloss, dass es sich bei ihm um Epiphänomene der neurologischen Prozesse oder um «emergent qualities» davon handelt. Oder sie versuchen, das menschliche Bewusstsein durch die bloss physischen Prozesse der künstlichen Intelligenz zu simulieren und zu erfassen – und erfassen damit die Eigenart des Bewusstseins gerade nicht. Z. B. verfehlen sie die Eigenart des Bewusstseins als ein unräumliches Ineinander all seiner vielfältigen Komponenten, während im Gehirn oder in der künstlichen Intelligenz zwar alles «vernetzt» ist, aber kein unräumliches Ineinander, sondern ein räumliches Aussereinander. Zweitens: Das Gebiet der Phänomenologie ist unendlich viel weiter als dasjenige der modernen empirischen Naturwissenschaften. Sie umfasst in der oben dargestellten Weise nicht nur die modernen empirischen Naturwissenschaften, sondern sie umfasst auch alle Wissenschaften, die Psychologie und Psychiatrie in allen ihren verschiedenartigen Formen, die Geschichte der Politik und der Kunst. Zudem gibt es auch eine ästhetische Phänomenologie der Musik, der Malerei usw. Es gibt eine Phänomenologie der Werte, eine Phänomenologie des Wollens, eine Phänomenologie des Handelns,307 eine phänomenologische Ethik und auch eine Phänomenologie der religiösen Erfahrung. Mit Ethik können sich die modernen empirischen Naturwissenschaften aus prinzipiellen Gründen nicht beschäftigen. Dass sie sich nicht wissenschaftlich mit Ethik beschäftigen können, hat zur Folge, dass ein überzeugter «Naturalist» die Ethik nur in den Bereich der traditionellen Sitten verweisen kann. Da diese Sitten je nach kulturellen Traditionen verschieden sind und auch, besonders in der heutigen Zeit, sich sehr verändern und in ihrem Wert umstritten sind, verfällt in 307 Siehe Hua XLII, Edmund Husserl. Studien zur Struktur des Bewusstseins, herausgegeben von Ullrich Melle und Thomas Vongher, 2020. Der Teilband II trägt den Titel: Gefühl und Wert. Texte aus dem Nachlass (1896–1925), der Teilband III den Titel: Wille und Handlung. Texte aus dem Nachlass (1902–1934).
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5. Kapitel. Phänomenologische Metaphysik: «existenziell» und monadologisch
dieser naturalistischen Sicht das Ethische einem Relativismus, der Willkür und den Vorlieben des jeweiligen life style. Doch ein vernünftiger moderner empirischer Wissenschaftler weiss, dass er für Ethik nicht zuständig ist, und verweist auf die Philosophen, die sich wissenschaftlich mit Ethik befassen, z. B. auf die phänomenologischen, aber auch auf andere mehr oder weniger gute. Drittens: Während die phänomenologische Philosophie im Sinne Husserls alles immer wieder infrage stellt, sich vom Prinzip der Voraussetzungslosigkeit leiten lässt, da für sie nur eine Wissenschaft ohne selbstverständlich geltende Voraussetzungen Wissenschaft ist, sind die empirischen Naturwissenschaften an gewisse Voraussetzungen gebunden. Sie haben jeweils ihre festen theoretischen Grundlagen, ihre spezifischen «Dogmen», an die die meisten ihrer Vertreter fester und hartnäckiger glauben als viele religiöse Menschen an die Dogmen ihrer Religion. Das bedeutet, dass, was nach den Voraussetzungen dieser Wissenschaften nicht sein darf, auch nicht sein kann. Bekanntlich verstossen sie damit selbst gegen die Prinzipien ihrer eigenen empirischen Wissenschaft. Denn wenn nach diesen Prinzipien nur ein einziges wissenschaftlich festgestelltes Faktum einem wissenschaftlichen Gesetz widerspricht, ist dieses falsifiziert. Doch gibt es bei vielen empirischen Wissenschaftlern aus Gewohnheit eine Faktenblindheit; sie machen Fakten zu fakes, während viele andere in unserer von den empirischen Wissenschaften und den aus ihr hervorgegangenen Techniken dominierten Welt fakes zu Fakten machen. Diese Faktenblindheit zeigte sich deutlich, als naturwissenschaftlich ausgebildete Ärzte und Chirurgen die Berichte von Menschen hörten, die von ihren Nahtoderfahrungen berichten wollten. Sie hörten gar nicht zu oder taten solche Berichte als blosse Phantasien oder Wahnvorstellungen ab. Denn nach den von ihnen an der Universität gelernten naturwissenschaftlichen Grundsätzen kann ein gehirntoter Mensch, ein Mensch, bei dem nicht nur das Herz nicht mehr schlägt, sondern auch das Gehirn nicht mehr funktioniert, gar keine Erlebnisse, keine Erfahrungen haben, besonders nicht solche mit längst verstorbenen Menschen; er kann gar kein Bewusstsein haben. Er ist endgültig tot, und es können ihm gemäss diesen Grundsätzen auch das Herz oder die Nieren oder andere Organe für eine Transplantation entnommen werden. (Siehe oben im Teil II die Kapitel 18 und 29.) Aber vielleicht ist er ja nicht tot, sondern nur das Gehirn war tot. Denn in sehr vielen Fällen sind solche Gehirntote nach einer gewissen Zeit sich ihrer Umgebung im Spital wieder bewusst geworden und haben noch viele Jahre weitergelebt. Das sind empirische Fakten. So wissen menschliche Organe entnehmende Chirurgen in manchen Fällen nicht, dass sie einen Menschen töten – und dieses Mal endgültig. Gottgläubige naturwissenschaftlich ausgebildete Ärzte könnten Erfahrungen, die im Zustand des Gehirntodes stattfanden und sich auch als wirkliche Erfahrungen erweisen, als von Gott bewirkte Wunder, d. h. als ausserordentliche Eingriffe Gottes in den Lauf der Natur interpretieren. Wunder sind etwas «Übernatürliches», etwas, was nicht auf natürliche Weise geschieht. Doch Nahtoder-
§ 41. Phänomenologie der Intersubjektivität und phänomenologische Philosophie
fahrungen geschehen auf natürliche Weise; das menschliche Gehirn ist natürlicherweise so, d. h. von selbst so; das menschliche Bewusstsein ist natürlicherweise so, d. h. von selbst so. Um die Nahtoderfahrungen anzuerkennen, muss man nicht an Gott glauben, man muss nur alle empirisch-wissenschaftlichen Fakten ernst nehmen. Viertens: Die empirischen positiven Naturwissenschaften wie die positiven empirischen Wissenschaften überhaupt, z. B. auch die empirische, statistische Soziologie, geben keine Antworten auf die tiefsten und daher wichtigsten Fragen des Menschen: auf die beiden kantischen Fragen «Was soll ich in meinem Leben tun und was darf ich für die Zeit nach meinem Tod hoffen?». Auf die Fragen «Erwartet mich überhaupt nach dem Tod etwas? Was ist der Sinn meines und unseres Lebens? Warum existiere ich? Warum existiere ich nicht vielmehr nicht?». Jene Wissenschaften befinden sich in einer Krisis (griechisch), d. h. wörtlich auf Deutsch übersetzt, in einer «Trennung», einer «Scheidung» vom menschlichen Leben und seinen tiefsten Interessen. Der zweite Paragraph in Husserls letztem Werk, Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (Hua VI), trägt den Titel: «Die positivistische Reduktion der Idee der Wissenschaft auf die Tatsachenwissenschaft. Die ‹Krisis› der Wissenschaft als Verlust ihrer Lebensbedeutsamkeit». In diesem Werk hat Husserl die Grundlagen zur Überwindung der Trennung oder Scheidung zwischen Wissenschaft und den tiefsten menschlichen Lebensinteressen gelegt. Er wollte durch seine phänomenologische Philosophie der Wissenschaft ihre Lebensbedeutung wieder zurückgeben. Fünftens: Husserl hat den neuzeitlichen Gegensatz zwischen dem physikalischen Objektivismus der Naturwissenschaften, für den Galilei durch seine Mathematisierung der Natur die Grundlagen legte, und dem transzendentalen Subjektivismus, der in der auf denselben objektiven mathematischen Naturwissenschaften gründenden «Kopernikanischen Wende» Kants gipfelte, historisch zu erklären versucht. Der Zweite Teil seiner Krisis, den Husserl zusammen mit dem ersten Teil noch selbst für die erste, 1936 erschienene Nummer der Zeitschrift Philosophia in Belgrad in Druck gegeben hat und der die Paragraphen 8 bis 27 umfasst, trägt den Titel: «Die Ursprungserklärung des neuzeitlichen Gegensatzes zwischen physikalistischem Objektivismus und transzendentalem Subjektivismus». Husserl sieht in der Philosophie Descartes’ den Ursprung dieses Gegensatzes. Der Paragraph 16 trägt den Titel: «Descartes als Urstifter der neuzeitlichen Idee des objektivistischen Rationalismus als auch des ihn sprengenden transzendentalen Motivs». Dieser Gegensatz beruht letztlich auf dem radikalen Gegensatz zwischen der Welt der res extensa, der ausgedehnten, messbaren und mechanisch durch exakte kausal-mechanische Gesetze erklärbaren Welt, und der völlig andersartigen Welt der res cogitans, der Welt des Bewusstseins. Husserl versuchte diesen Gegensatz durch seine phänomenologische Philosophie, und nicht erst in seiner Krisis, zu überwinden. Ein solcher Rückgang auf historische
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Ursprünge und ein solcher Überwindungsversuch liegen ganz ausserhalb der modernen empirischen Naturwissenschaften, während die faktische menschliche Geschichte zwar nicht in die reine Phänomenologie, aber durchaus zur phänomenologischen Philosophie gehört, die auch auf historischen Tatsachen beruht, und während Phänomenologie durch statische und genetische Bewusstseinsanalyse grundsätzlich der Überwindung des «neuzeitlichen Gegensatzes zwischen physikalistischem Objektivismus und transzendentalem Subjektivismus» fähig ist. Wenn jemand diese Überwindung durchführen würde, wäre er wirklich «der Retter, ja der Begründer der Philosophie». Aber das ist im Irrealis gesprochen, es handelt sich um eine Idee, ein gemeinsam zu verfolgendes, aber nie erreichbares Ideal, nicht um einen realistischen Gedanken.
6. Kapitel. Die wichtigsten Unterschiede zwischen der Monadologie Husserls und derjenigen von Leibniz. Wenn die Monadologie Leibnizens durch die Phänomenologie Husserls korrigiert und ergänzt und wenn die Monadologie Husserls durch wichtige Gedanken der Monadologie Leibnizens erweitert würde, könnte die umfassendste, wahrste und tiefste Metaphysik der europäischen Tradition seit Aristoteles entstehen
Was ich im obigen Titel schrieb, ist meine feste Überzeugung, und ich hoffe in den vorangegangenen fünf Kapiteln dieses Buches die Gründe dafür teilweise gezeigt zu haben und in diesem sechsten noch weitere dafür anführen zu können.
§ 42. Husserls Monadologie ist gänzlich zentriert in mir, dem jeweils phänomenologisierenden faktischen Ich, der ich im strengen Sinn für mich das einzige Ich bin. Leibnizens Monadologie ist auch zentriert im Denken und Wollen Gottes, der unendlichen Monade, der alle endlichen Monaden geschaffen hat und kontinuierlich schafft Ein Unterschied zwischen der Monadologie Husserls (1859–1938) und derjenigen von Leibniz (1646–1716) besteht darin, dass Husserls Monadologie gänzlich zentriert ist in mir, dem jeweils phänomenologisierenden faktischen Ich, der ich im strengen Sinn für mich das einzige Ich bin. Nach Husserls phänomenologischer Philosophie reflektiere ich als das phänomenologisierende faktische Ich phänomenologisch auf mein intentionales Erfahren von mir selbst und von anderen Ich (alter ego) und auf das intentionale Erfahren der anderen von mir erfahrenen Ich und die von mir und von den von mir erfahrenen anderen einzeln und
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6. Kapitel. Unterschiede zwischen Husserls und Leibnizens Monadologie
gemeinsam, intersubjektiv erfahrenen Welt, so wie diese in diesen Erfahrungen zum Erscheinen gebracht wird. Bei Leibniz kann von einer solchen totalen Zentrierung der Monadologie im eigenen phänomenologisch reflektierenden faktischen Ich nur teilweise gesprochen werden. Die zweite der drei verschiedenen Grundlagen der Monadologie von Leibniz, die apriorisch-logische und theologische Grundlage, lässt Leibnizens Monadologie in den Gedanken, dem Willen und der Schöpferkraft Gottes, der unendlichen Monade, zentriert sein.308 Nur seine erste Grundlage, seine reflexivIn meinem Versuch, die Leibnizische Monadologie zu verstehen, habe ich drei verschiedene Gesichtspunkte unterschieden, von denen aus Leibniz seine diesbezüglichen Fragen stellt, diskutiert und beantwortet. Diese drei Gesichtspunkte der Leibnizischen Monadologie versuche ich folgendermassen zu kennzeichnen: erstens, die reflexiv-phänomenologische Grundlage; zweitens, ihre apriorisch-logische theologische Grundlage; drittens, ihre empirisch-phänomenale Grundlage. Man kann diese Grundlagen als die Gesichtspunkte auch seines metaphysischen Philosophierens bezeichnen. Bei der Unterscheidung von diesen drei Grundlagen kann ich mich auf eines der letzten und vollendetsten Werke von Leibniz, auf seine Principes de la philosophie (Monadologie) von 1714 stützen. Ihre Komposition ist sehr aufschlussreich. Nicht nur bestätigt sie die von mir versuchte Unterscheidung dieser drei Grundlagen von Leibnizens monadologischem Philosophieren, sondern gibt auch Hinweise auf seine Sicht des Verhältnisses zwischen diesen drei Grundlagen. Bedeutsam ist schon, dass alle drei Grundlagen je 30 Paragraphen in diesem Werk von 90 Paragraphen einnehmen. Im ersten Teil (Paragraphen 1 bis 30) führt Leibniz zuerst in dessen ersten Hälfte (Paragraphen 1 bis 15) den Begriff der Einheit oder der Monade als leeren, nicht durch innere Anschauung erfüllten Begriff ein, nämlich als Bedingung der Möglichkeit der Gegenstände der äusseren Erfahrung erschlossenen Begriff, um dann in der zweiten Hälfte dieses ersten Teils (Paragraphen 16 bis 30) durch innere Erfahrung oder Reflexion auf die eigenen Erlebnisse diesem Begriff eine anschauliche Fülle zu geben. Der erste Paragraph lautet: «Die Monade, von der wir hier sprechen werden, ist nichts anderes als eine einfache Substanz (substance simple), welche in die zusammengesetzten Substanzen eintritt: einfach, d. h. ohne Teile.» Der Anfang des 16. Paragraphen lautet: «Wir erfahren selbst (nous experimentons nous mêmes) eine Vielheit in der einfachen Substanz [Monade], wenn wir finden, dass der geringste Gedanke, dessen wir uns bewusst sind (la moindre pensée dont nous nous appercevons), eine Mannigfaltigkeit im [gedachten] Objekt enthält.» Vor dem 16. Paragraphen hatte Leibniz zwar schon von Perzeption (Wahrnehmung) und Appetition (Strebung) gesprochen, aber gab ihnen noch keine Fülle durch phänomenologische Reflexion, definiert sie nicht in Begriffen solcher Reflexion, sondern leer-formal. Im Paragraphen 14 führte er den Begriff der Perzeption wie folgt ein: «Der vorübergehende Zustand (l’état passager), welcher eine Vielheit in der Einheit oder in der einfachen Substanz [Monade] enthält oder repräsentiert, ist nichts anderes, als was man Perzeption nennt.» Und im Paragraphen 15 führt er den Begriff der Appetition (Strebung) in derselben leer-formalen Weise ein: «Die Tätigkeit (l’action) des inneren Prinzips, welche die Veränderung oder den Übergang von einer Perzeption zu anderen bewirkt, kann als Appetition (Strebung) bezeichnet werden.» Der zweite Teil (§§ 31–60) beginnt mit den zusammengehörenden Paragraphen 31 und 32. § 31 lautet: «Unsere logischen Schlüsse (nos raisonnements) sind auf zwei grossen Prinzipien begründet, demjenigen des Widerspruches, aufgrund dessen wir als falsch beurteilen, was einen solchen enthält, und wahr, was dem Widersprüchlichen oder Falschen entgegengesetzt ist.» § 32 lautet: «Und auf demjenigen des 308
§ 42. Leibnizens Monadologie: auch zentriert im Denken und Wollen Gottes
ausreichenden Vernunftgrundes (de la raison suffisante), aufgrund dessen kein Tatsache als wahr oder existierend gefunden werden kann, keine Aussage als wahrhaftig (aucune énonciation comme véritable), ohne dass es einen ausreichenden Vernunftgrund gäbe, warum es so ist und nicht anders. Obschon diese Vernunftgründe uns meistens nicht bekannt sein können.» In diesem logisch aufgebauten Teil erfolgt in den §§ 37 und 38 der Gottesbeweis als Schluss vom kontingent Seienden auf etwas notwendig Seiendes. Dieser zweite Teil beruht auf der apriorischlogischen theologischen Grundlage. Im dritten Teil (§§ 61 bis 90), welcher der empirisch-phänomenalen Grundlage der Leibnizischen Monadologie gewidmet ist, interpretiert Leibniz in dessen ersten Hälfte (§ 61 bis § 75) die empirischen Erscheinungen der äusseren Welt der zusammengesetzten körperlich-physischen Substanzen aufgrund der reflexiven phänomenologischen Erfahrungen in der zweiten Hälfte (§ 16 bis § 30) des ersten Teils, während seine zweite Hälfte (§ 76 bis § 90) diese empirischen Erscheinungen aufgrund der apriorisch-logischen theologischen Grundlage des zweiten Teils (Paragraphen 31 bis 60) interpretiert. In der ersten Hälfte lautet zum Beispiel § 67: «Jedes Stück Materie kann wie ein Garten voller Pflanzen und wie ein Teich voller Fische aufgefasst werden. Aber jeder Pflanzenzweig, jedes Glied des Tieres, jeder Tropfen Wasser seiner Säfte ist wiederum ein solcher Garten oder ein solcher Teich.» Das heisst für ihn, überall bis ins unendlich Kleine erscheinen der wahrnehmenden und denkenden Monade lebendige Monaden. Dieser dritte Teil beruht auf der empirisch-phänomenalen Grundlage der Leibnizischen Monadologie. Von nicht geringerer Bedeutung ist die Reihenfolge der drei Teile im Aufbau der Principes de la philosophie (Monadologie). Die existenziellen phänomenologischen Überlegungen über die Monade gehen den apriorisch-logischen und theologischen voran, und die phänomenal-empirischen nehmen die letzte Stelle ein. Diese Ordnung entspricht dem methodischen Aufbau der philosophischen Erkenntnis in Leibnizens Idee eines Leitfadens der [philosophischen] Besinnung (Filium meditandi), die der etwa dreissigjährige Leibniz in kritischer Auseinandersetzung mit Descartes’ Meditationes de prima philosophia in einem wahrscheinlich 1776 geschriebenen Brief an den katholischen Priester und Gelehrten Simon Foucher de Careil darlegte: «Obschon die Existenz der Notwendigkeiten [nämlich die Existenz der Essenzen, der ewigen Wahrheiten] in sich und in der Ordnung der Natur die erste ist, bleibe ich doch damit einverstanden, dass sie nicht die erste in der Ordnung unserer Erkenntnisse ist. Denn Sie sehen, dass ich, um die Existenz zu beweisen, als anerkannt angenommen habe (j’ai pris pour accordé), dass wir denken und Gefühle (sentiments) haben. So gibt es zwei allgemeine absolute Wahrheiten, das heisst solche, die von der aktuellen Existenz der Dinge sprechen, die eine, dass wir denken, die andere, dass es in unseren Gedanken eine grosse Mannigfaltigkeit gibt (qu’il y a une grande variété dans nos pensées). Aus der ersten Wahrheit folgt, dass wir sind, aus der anderen folgt, dass es irgendetwas anderes als uns gibt (qu’il y a quelque autre chose que nous), also eine andere Sache als die denkende und welche die Ursache der Mannigfaltigkeit unserer Erscheinungen (apparences) ist. Nun ist eine dieser zwei Wahrheiten ebenso unbestreitbar und ebenso unabhängig wie die andere. Indem Herr Descartes sich in der Ordnung seiner Meditationen nur an die erste [dieser beiden Wahrheiten] band, verfehlte er die Vollkommenheit, die er sich vorgenommen hatte. Wenn er genau dem gefolgt wäre, was ich Leitfaden der [philosophischen] Besinnung (Filium meditandi) nenne, hätte er, wie ich glaube, die Erste Philosophie vollendet.» In der Ordnung unserer Erkenntnis, die eine Ordnung der Begründung ist, gehen also diese beiden in «innerer Erfahrung» oder «Reflexion» gegebenen und in diesem Sinne auch notwendigen «Tatsachenwahrheiten» den «ewigen apriorischen Vernunftwahrheiten» voraus. Die Existenz hat gegenüber der Möglichkeit und Essenz den Vor-
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phänomenologische, gibt Leibnizens Monadologie eine Zentrierung im auf sich selbst reflektierenden Ich, wobei in seiner Redeweise dieses Ich oft die erste Person des Plural, also das Wir, ist. Dabei reflektiert Leibniz aber nicht phänomenologisch darauf, wie dieses gemeinsam reflektierende Wir für jedes in diesem Wir beschlossene faktische Ich zur Erfahrung kommt. Doch das Wir in dieser Rede von Leibniz kann auch nur der Pluralis majestatis sein, ist also dasselbe wie das Ich. Husserl versucht nie, die eigene und die fremden Monaden vom «Gesichtspunkt» Gottes zu sehen. Er entspricht dem, was Antoine Arnauld (1612–1694), ehemaliges Mitglied der Sorbonne, dann katholischer Geistlicher in Kloster PortRoyal des Champs und theologischer Lehrer Blaise Pascals, am 13. Mai 1686 an Leibniz in Hannover schrieb:
rang. Dies bringt mit sich, dass nur in diesen beiden ursprünglichen Tatsachenwahrheiten das allein im metaphysischen Sinne wirklich Existierende, nämlich die Vielheit in der Einheit, nämlich die einfache Substanz oder Monade, in unmittelbarer und absoluter Weise zur Erkenntnis kommt – gegenüber der Einheit in der Vielheit, was ein Körper, d. h. eine zusammengesetzte Substanz, ist, die aber als blosses äusseres Phänomen der Monade nur erscheint. Die ewigen apriorischen und notwendigen Vernunftwahrheiten sind in dem Sinn nur hypothetische Wahrheiten (Voraussetzungen), als sie, erstens, konditionale Relationen betreffen (vorausgesetzt dieses, dann notwendig jenes); und, zweitens, diese Relationen sind nur unter der Voraussetzung keine blossen «Hirngespinste» (quelque chose de chimérique), dass sie im göttlichen Verstand fundiert sind. Die auf innerer Erfahrung oder Reflexion beruhende phänomenologische Erkenntnis von notwendigen «Tatsachenwahrheiten» gewinnt nach Leibniz nur aufgrund der apriorisch-logischen und theologischen Wahrheiten den Charakter wahrhafter philosophischer Erkenntnis. Nicht dass die dritte Grundlage der Leibnizischen Philosophie, die Aussenerfahrung der phänomenalen Welt dazu irrelevant wäre. Leibniz weist in seiner Philosophie der äusseren Natur immer wieder zugleich auf, erstens, die «ratio ordinis» (Vernunftgrund der Ordnung), in welcher die innere oder reflexive Erkenntnis die Priorität hat, zweitens, auf den Vernunftgrund des am vollkommensten Handelnden (ratio perfectissime agentis), d. h. Gottes, oder auf den apriorischen Vernunftgrund (ratio a priori), und, drittens, auf die äussere Erfahrung (experientia), die empirisch festgestellte Gewohnheit der Natur (consuetudo naturae). Aber das empirisch in der körperlichen Natur Festgestelle ist nur Phänomen, blosse Erscheinung. Die einfache Substanz, deren Erkenntnis der «Schlüssel der inneren Philosophie ist», ist nichts Phänomenales, sondern nur durch die innere Erfahrung oder die Reflexion gegeben. Leibniz schrieb am 22. März 1714 an Louis Bourget (1678–1742), der sich in der Naturphilosophie zu Leibnizens Lehre bekannte: «Ich bin Ihrer Meinung, mein Herr, dass man nicht erklären könnte, was die Existenz einer Substanz ist, wenn man ihr die Tätigkeit (das Wirken: l’action) abspricht. Aber im Gewöhnlichen bemüht man sich nicht um die Definition der Termini und man spricht verworren (confusement) von der Substanz, deren Erkenntnis doch der Schlüssel der inneren Philosophie ist. Das ist die Schwierigkeit, die sich darin findet, welche Spinoza und Herrn [John] Locke so in Schwierigkeiten gebracht hat.» Leibniz war also der Auffassung, dass nur das wahrhaft wirklich ist, was wirkt, nämlich die durch innere Erfahrung oder Reflexion gegebene Monade.
§ 43. Die Notwendigkeit einer Annahme Gottes
«Tout ce que j’en veux conclure est, que ce n’est point en Dieu, qui habite à notre égard dans une lumière inaccessible, que nous devons aller chercher les vraies notions, ou specifiques ou indivdiduelles des choses que nous connaissons, mais que c’est dans les idées que nous en trouvons en nous-mêmes.» (Alles, was ich daraus schliessen will, ist dies, dass wir unsere wahren Begriffe der Dinge, die wir kennen, seien sie allgemein oder individuell, nicht in Gott suchen sollen, der in einem uns unzugänglichen Licht wohnt, sondern in den Ideen, die wir davon in uns selbst finden.)309
Ich denke, dass eine echte monadologische Philosophie wie diejenige Husserls Antoine Arnauld beipflichten muss.
§ 43. Husserl lässt es beim faktischen Ich, seinen anderen faktischen Ich und der gemeinsamen faktischen Welt bewenden, während Leibniz nach dem ausreichenden Grund fragt, warum solche Fakten existieren und nicht vielmehr nicht existieren. Die Notwendigkeit einer Annahme Gottes bei Leibniz und bei Husserl Leibniz lässt es nicht bei Fakten oder bei den kontingenten (im Gegensatz zu den notwendigen, z. B. mathematischen) Wahrheiten bewenden, sondern fragt nach ihrem ausreichenden Grund. Denn nach ihm muss alles, was existiert, einen ausreichenden Grund haben. Im § 7 der 1714 für den kleingewachsenen französischen katholischen Priester («le petit prêtre») und grossen General des Österreichisch-ungarischen Kaiserreiches, Prinz Eugen von Savoyen (1663–1736), verfassten Principes de la nature et de la grâce, fondés en raison (Durch Vernunft begründete Prinzipien der Natur und der Gnade) schreibt Leibniz: «Bisher haben wir als blosse Physiker [Naturphilosophen] gesprochen (en simples physiciens); nun müssen wir uns zur Metaphysik erheben, indem wir uns des im Allgemeinen wenig benutzten grossen Prinzips bedienen, dass nichts ohne ausreichenden Vernunftgrund geschieht (que rien ne se fait sans raison suffisante), d. h., dass nichts geschieht, ohne dass derjenige, der hinlänglich die Ding kennt, einen Vernunftgrund vorlegen kann, der ausreicht zu bestimmen, warum es so und nicht anders ist (c’est-à-dire, que rien n’arrive sans qu’il serait possible à celui qui connaîtrait assez les choses de rendre une raison qui suffise pour déterminer, pourquoi il en est ainsi et pas autrement). Ist dieses Prinzip gesetzt, wird die erste Frage sein, zu der man berechtigt ist: Warum gibt es eher etwas als nichts (pourquoi il y a plutôt quelque chose que rien)? Denn das Nichts ist einfacher und leichter als etwas (car le rien est plus simple et plus facile que quelque chose).» 309 Siehe Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, herausgegeben von C. J. Gerhardt, Band II, Olms, Hildesheim 1965, S. 32.
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Schon nur durch diese aller metaphysischen Fragen radikalste, die vor und nach Leibniz von niemandem gestellt wurde, erweist sich dieser als der grösste Metaphysiker der europäischen Tradition. Als die erste Frage der Metaphysik galt bisher die Frage im siebenten Buch (Buch Z) der Metaphysik von Aristoteles: «Die Frage, welche von Alters her so gut wie jetzt und immer erforscht wurde und ratlos machte, die Frage, was das Seiende ist (τί τò ὄν, ti to on), bedeutet nichts anderes, als was die Seiendheit ist (τίς ἡ οὐσία, tis he ousia). Denn vom Seienden sagen die einen, es sei das Eine (ἕν, hen), andere mehr [als eins], einige, es sei begrenzt, andere es sei unbegrenzt. Darum müssen wir hauptsächlich und zuerst und sozusagen einzig betrachten, was das Seiende ist.» (Bekker, 1028b, 2–7)
Durch die Frage «Warum gibt es eher etwas als nichts» (pourquoi il y a plutôt quelque chose que rien) wird ein philosophierender Mensch vor den Abgrund des Nichts gestellt, aus dem er herkommt und den er immer in sich hat, denn er kann ja in sich selbst keinen ausreichenden Grund dafür finden, warum er existiert und nicht vielmehr nicht existiert. Und mit dem Nichts ist er auch konfrontiert, wenn er darüber nachdenkt, wie beschränkt er ist, d. h. was er alles nicht ist. Und je mehr er weiss, was er ist, umso mehr weiss er auch, wie wenig er ist, wie er auch, je mehr er weiss, desto mehr weiss, wie wenig er weiss. In seinen im selben Jahr 1914 verfassten, wahrscheinlich systematischsten seiner Veröffentlichungen, in den Principes de la philosophie (auch Monadologie genannt), beantwortet Leibniz diese radikalste aller metaphysischen Fragen wie folgt. In den §§ 31 und 32 schreibt er: «Unsere Vernunftschlüsse (raisonnements) gründen in zwei grossen Prinzipien, demjenigen des Widerspruchs (celui de la contradiction) […] und demjenigen des ausreichenden Vernunftgrundes (celui de la raison suffisante), aufgrund dessen wir denken, dass keine Tatsache (fait) wahr sein oder existieren kann, ohne dass es einen ausreichenden Vernunftgrund gibt, warum es so und nicht anders ist (une raison suffisante pourquoi il en soit ainsi et non pas autrement), obschon dieses Vernunftgründe uns meistens nicht bekannt sein können.»
In den §§ 36 bis 39 schreibt er weiter: «Aber der ausreichende Vernunftgrund muss sich auch in den kontingenten oder Tatsachenwahrheiten (vérités de faits) finden, das heisst, in der Folge der im Universum befindlichen Dinge. Hier könnte die Auflösung in einzelne Vernunftgründe in Einzelheiten grenzenlos sein (la résolution en raisons particulières pourrait aller à un détail sans bornes). […] Und da all diese Einzelheiten nur andere vorangegangene und noch vereinzeltere Dinge enthalten, deren jedes zur Angabe seiner Vernunftgründe noch einer gleichen Analyse bedarf, ist man damit nicht weitergekommen (on n’en est pas plus avancé). Es ist notwendig, dass sich der ausreichende oder letzte Vernunftgrund ausserhalb der Folge oder der Serien der Einzelheiten der Kontingenzen befindet, so unendlich sie auch sein mag. Und so ist es, dass der letzte Vernunftgrund der Dinge in einer notwendigen Sub-
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stanz sein muss als ihrer Quelle […]. Und das ist es, was wir Gott nennen. Da nun diese Substanz der ausreichende Vernunftgrund aller dieser Einzelheiten ist, die überall verbunden sind, gibt es nur einen Gott, und dieser Gott ist ausreichend (et ce Dieu suffit).»
Die von Leibniz erfundene binäre Arithmetik, die nur mit Null und Eins operiert, ist ein Bild des Verhältnisses zwischen dem, was den ausreichenden Grund seiner Existenz nicht in sich selbst hat, also auch nicht existieren könnte, und dem, was diesen Grund in sich selbst hat. Eins steht für das Sein, die Null für das Nichts. Alle endlichen Monaden (Einheiten) sind eine Kombination von Eins und Null, d. h. sie sind aus dem Nichts geschaffen, sie sind aus dem Nichts ins Sein gehoben worden, und sie tragen als endliche Monaden dieses Nichts immer in sich, was bedeutet, dass sie nicht selbst der ausreichende Grund dafür sind, dass sie sind (existieren) und nicht vielmehr nicht sind. Ihre Endlichkeit ist diese ihre Nichtigkeit. Gott, die unendliche ewige Monade, ist reine Eins, er ist nicht aus dem Nichts ins Sein erhoben worden, sondern hat den ausreichenden Grund seines Seins (Existierens) in sich selbst. In ihm gibt es nichts Nichtiges. Obschon Husserl im oben im § 39 zitierten Brief vom 3. Juni 1932 an seinen Freund Gustav Albrecht schrieb, dass «das Sein Gottes» «das Prinzip» der teleologischen Entwicklung «der sich in mir erschliessenden transzendentalen Allsubjektivität – der wahren Stätte göttlichen ‹Wirkens› ist», hat er nie einen Gottesbeweis versucht. Aber er hat in Bezugnahme auf die Postulatenlehre in Kants Kritik der praktischen Vernunft, welche u. a. die Existenz Gottes postuliert, die Existenz Gottes als ein Postulat bezeichnet. Er geht aus von der blossen Faktizität und insofern «Irrationalität» der Konstitution (des Zum-erscheinen-Bringens) einer geordneten Welt im transzendentalen Bewusstsein. Das Bewusstsein könnte, mit Kant gesprochen, auch «ein blosses Gewühl von Empfindungen» sein.310 In seinem Brief vom 3. April 1925 an Ernst Cassirer (1874–1945, von 1919 bis 1934 Professor in Hamburg) schrieb er: «Ihr Buch311 lässt, wie Sie selbst wissen […] ungeheure Probleme offen. Vor allem die Idee und Form einer mythischen Weltanschauung und jeder sonstigen zu Einheit einer Gesamtanschauung sich verflechtenden universalen Intentionalität einer vergemeinschaftet dahinlebenden Menschheit charakterisiert zunächst ein historisch faktisches Gebilde. Historische Genesis steht aber unter Wesensgesetzen. Es gilt aus dem ABC der transzendentalen Strukturen und darunter denjenigen der Genesis des transzendentalen Lebens die notwendigen Stufen der konkreten Entwicklungstypik der geltenden und doch nicht endgültigen Weltanschauungen einer Menschheit überhaupt verständlich zu machen: die Entwicklungstypik der geltenden und doch nicht endgültigen Weltanschauungen, ebenso wie die Typik der universalen Scheine und Verirrungen auf der Stufe der schon erwachten Siehe in Iso Kern, Husserl und Kant. Eine Untersuchung über Husserls Verhältnis zu Kant und zum Neukantianismus, Martinus Nijhoff, Den Haag 1964, Neudruck 1987, § 27 («Die Faktizität der Weltkonstitution bei Husserl und die Möglichkeit der Metaphysik»), S. 293–303. 311 Nämlich Philosophie der symbolischen Formen, Band II: Das mythische Denken, 1925.
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Vernunft. Dazu natürlich auch auf anderer Seite die Probleme der Faktizität als solcher, die der ‹Irrationalität›, die, wie mir scheint, nur behandelt werden können in einer erweiterten Methode der Kantischen Postulate. Das ist vielleicht die grösste der Kantischen Entdeckungen. Freilich, wie alles Kantische nur Entdeckung, die allererst endgültiger wissenschaftlicher Begründung, Umgrenzung bedarf.»312
Durch die in diesem Paragraphen wiedergegebenen genialen Gedanken Leibnizens ist die Monadologie Husserls zu ergänzen.
§ 44. Husserls und Leibnizens Monadenbegriff haben verschiedene Ursprünge. Husserls Begriff stammt aus der reflexiv-phänomenologischen deskriptiven Analyse des intentionalen Bewusstseins und bedeutet den Inbegriff des selbst Erlebten, derjenige von Leibniz aus einem metaphysischen Prinzip oder einer metaphysischen Überlegung Oben im § 1 («Drei verschiedene Begriffe der primordinalen Erfahrung […]») der vorliegenden Studie habe ich bei der Kennzeichnung des dritten Begriffs, der Husserls Begriff der Monade ausmacht, einen Text vom Januar 1934 zitiert. In ihm schreibt Husserl unter dem Titel «Doppeldeutigkeit der Primordinalität»: «Im ursprünglich methodischen Sinn bedeutet sie [die Primordinalität] die Abstraktion, die ich, das ego der reduktiven Einstellungen, phänomenologisierend vollziehe, indem ich abstraktiv ausscheide [abblende, ausschalte] alle ‹Einfühlungen›. Sage ich nachher ‹primordinales ego›, so nimmt es die Bedeutung der urmodalen Monade [d. h. der eigenen Monade im Gegensatz zu den anderen, fremden] an, in welche die urmodale [d. h. die eigene, die von mir selbst vollzogene] Einfühlung mit aufgenommen ist.»313
Die eigene urmodale Einfühlung ist mit in die urmodale Monade aufgenommen, weil diese Einfühlung in andere erlebende und tätige Monaden das eigene Einfühlen und damit das eigene Erleben ist und nicht etwa dasjenige einer anderen Monade; und aufgenommen ist auch das intentionale Korrelat dieses erlebenden Einfühlens, das Eingefühlte, so wie es mir als der urmodalen Monade im eigenen erlebenden Einfühlen gegeben ist. Dieser dritte Begriff der Primordinalität umschliesst also auch die eigenen gegenwärtigen, vergangenen und künftigen Einfühlungen. Denn diese sind und waren vom Ich «original» selbst erfahren bzw. 312 Edmund Husserl, Briefwechsel, Band V, Die Neukantianer, in Verbindung mit Elisabeth Schumann herausgegeben von Karl Schumann, Kluwer Academic Publishers, Dordrecht, Boston, London 1994, S. 5/6. 313 Hua XV, Text Nr. 36 (Mitte Januar 1934), S. 635.
§ 44. Ursprünge von Husserls und Leibnizens Monadenbegriff
werden von ihm selbst erfahren, selbst erlebt, und gehören daher zur Eigenheitssphäre der Monade. Dieser dritte Begriff umschliesst nach Husserl konsequenterweise auch «jede Erscheinungsweise vom Fremdem», d. h. er umschliesst auch die fremden Subjekte, und zwar so wie sie mir in meinem eigenen Erleben, d. h. in meinem eigenen Wahrnehmen, Einfühlen in sie und Kommunizieren mit ihnen als intentionale Korrelate erlebt (gegeben) sind. D. h., dieser dritte Begriff der Primordinalität umschliesst die fremden Subjekte, wie sie von mir erlebt sind, für mich sind. Aber dazu gehören nicht die fremden Subjekte, so wie sie von ihnen selbst erlebt sind, so wie sie sich selbst gegeben sind, oder wie sie für sie selbst sind. Den Terminus «Monade» hat nicht Leibniz in die Philosophie eingeführt, sondern er hat ihn seit 1696 vom griechischen Neuplatoniker Proklos (410/11– 485) übernommen. Vor 1696 sprach er nur von der «substance simple» (einfachen Substanz) im Gegensatz zur «substance composée» (zusammengesetzten Substanz), d. h. dem phänomenalen teilbaren Körper, dessen Teile sich aussereinander befinden (partes extra partes), während in der einfachen Substanz ihre verschiedenen Einzelheiten einander implizieren. Leibniz betrachtete «einfache Substanz» oder «Monade» als einen metaphysischen Begriff im Sinne, dass es bei ihm um das Sein oder die Existenz geht. «Monade» bedeutet Einheit, unitas, unité. Die gedankliche Wurzel von Leibnizens Monadenbegriff ist wahrscheinlich sein Axiom «Was nicht in Wahrheit ein Sein ist, ist nicht ein Sein» (ce qui n’est pas véritablement un être, n’est pas un être).314 Er erklärte zu diesem Satz nur ein Jahr nach der Publikation seines ersten systematischen metaphysischen Werkes, seines Discours de Métaphysique (1686), in seinem Brief vom 30. April 1687 an Antoine Arnauld: «Ich betrachte diesen identischen Satz als ein Axiom, der nur durch den Akzent diversifiziert wird: was nicht in Wahrheit ein Sein ist, ist nicht ein Sein» (je tiens pour un axiome cette proposition identique qui n’est diversifiée que par l’accent, savoir que ce qui n’est pas véritablement u n être, n’est pas un ê t r e).315 Leibniz erklärte weiter in diesem Brief vom 30. April 1687 an Antoine Arnauld die Begriffe Sein und Einssein als reziprok («man hat immer geglaubt, dass das Eine und das Sein reziproke Dinge sind [das heisst, das Eine ist Sein, und das Sein ist Eines]»)316 und beruft sich dabei auf die scholastische Transzen-
Lettres de Leibniz à Arnauld, d’après les manuscrits inédits, avec une introduction historique et des notes critiques par Geneviève Lewin, Presses Universitaires de France, Paris 1952, S. 69. 315 Lettres de Leibniz à Arnauld, d’après les manuscrits inédits, avec une introduction historiques et des notes critiques par Geneviève Lewin, Presses Universitaires de France, Paris 1952, S. 69; G. W. Leibniz. Die philosophischen Schriften, herausgegeben von C. J. Gerhardt, Georg Olms Verlagsbuchhandlung, Hildesheim 1965, Band II, S. 97. 316 Brief an Antoine Arnauld vom 30. April 1687 (Lettres de Leibniz à Arnauld, d’après les manuscrits inédits, avec une introduction historiques et des notes critiques par Geneviève Lewin, Presses Universitaires de France, Paris 1952, S. 69; G. W. Leibniz. Die philosophischen 314
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dentalienlehre. Ein Satz dieser Lehre lautet: ens et unum convertuntur (Seiendes und Eins sind miteinander auswechselbar, ineinander umwandelbar, was existiert, ist also eo ipso eins, und was eins ist, existiert eo ipso). Die transzendentalen Begriffe sind nach dieser scholastischen Lehre diejenigen Begriffe, welche die aristotelischen Kategorien transzendieren, d. h. übersteigen (dem lateinischen transcendere entspricht das deutsche Wort übersteigen). Das ist in der europäischen Philosophiegeschichte der ursprüngliche Begriff des Transzendentalen, der bei Kant und Husserl eine ganz andere Bedeutung annehmen wird. Auch in einer der beiden letzten Schriften von Leibniz, in den sehr systematisch aufgebauten Principes de la philosophie, auch Monadologie genannt, die im Jahre 1714 geschrieben wurden, also 27 Jahre später als der soeben zitierte Brief vom 30. April 1687, wird der Begriff der Monade rein formal als ein metaphysischer Begriff eingeführt, und nicht wie bei Husserl durch phänomenologische Deskription von Bewusstseinsinhalten. Die ersten drei Paragraphen dieser Schrift aus dem Jahre 1714 lauten: «Die Monade […] ist nichts anderes als eine einfache Substanz, die Bestandteil der zusammengesetzten Dinge ist (qui entre dans les composés); einfach, das heisst, ohne Teile. Es ist notwendig, dass es einfache Substanzen gibt, da es Zusammengesetztes gibt; denn das Zusammengesetzte ist nichts anderes als ein Haufen oder Aggregat der einfachen [Substanzen]. Nun dort, wo es keine Teile gibt, gibt es weder Ausdehnung, noch Figur, noch mögliche Teilbarkeit. Und die Monaden sind die wahren Atome der Natur und in einem Wort die Elemente der Dinge.»
Erst vom Paragraphen 14 an und bis zum Paragraphen 30 dieser 90 Paragraphen umfassenden Schrift schreibt Leibniz über Bewusstseinsinhalte. Und in den §§ 19 bis 23 spricht er von einer Art von Bewusstseinsinhalten, von denen Husserl nicht spricht, nämlich von unbewussten Bewusstseinsinhalten.
§ 45. Bewusstseinsinhalte, von denen Husserl nicht spricht: Leibnizens unbewusste Bewusstseinsinhalte Der § 14 der Principes de la philosophie (Monadologie) beginnt mit dem Satz «Der vorübergehende Zustand, der eine Vielheit […] in der einfachen Substanz umfasst und repräsentiert, ist nichts anderes als was man Perzeption (Wahrnehmung: perception) nennt, die man von der Apperzeption (Mitwahrnehmung: apperception) oder dem Bewusstsein unterscheiden muss, wie es im Folgenden deutlich werden wird». Der § 15 beginnt mit dem Satz «Die Tätigkeit des inneren Schriften, herausgegeben von C. J. Gerhardt, Georg Olms Verlagsbuchhandlung, Hildesheim 1965, Band II, S. 97.
§ 45. Leibnizens unbewusste Bewusstseinsinhalte
Prinzips, welches die Veränderung oder den Übergang von einer Perzeption zu einer anderen bewirkt, kann Appetition (Streben: appétition) genannt werden». § 16 sagt unter anderem: «[…] wir finden, dass der kleinste Gedanke (la moindre pensée), dessen wir uns bewusst sind, eine Verschiedenheit im [gedachten] Gegenstand umfasst (enveloppe une variété dans l’objet).» Was ein Gedanke ist, hat Leibniz in den vorangehenden Paragraphen nicht definiert, aber er könnte anstatt von «Gedanke» auch von Perzeption (Wahrnehmung) sprechen. So wie Descartes’ denkende Substanz (substance pensante) im Gegensatz zur «ausgedehnten Substanz» (substance étendue) auch das Wahrnehmen mit einschliesst, so schliesst bei Leibniz die perception (Wahrnehmung) auch das Denken mit ein. Mit der Aussage, dass die kleinste Perzeption (oder der kleinste Gedanke), dessen wir uns bewusst sind, eine Varietät in ihrem Gegenständlichen umfasst, hebt Leibniz das hervor, was Husserl die Intentionalität des Bewusstseins nennt, nämlich dessen Charakter, Bewusstsein von etwas, d. h. von etwas Gegenständlichem, zu sein. Im § 19 schreibt Leibniz: «Wenn wir alles, was Perzeptionen und Begehren (appétits) hat, Seelen nennen wollen […], dann könnten alle […] Monaden Seelen (âmes) genannt werden. Aber da die Auffassung [von etwas] (sentiment) mehr ist als eine einfache Perzeption, bin ich damit einverstanden, dass der allgemeine Name von Monaden […] für die einfachen Substanzen genügt, die nur das [einfache Perzeption] haben, und dass man nur solche [Monaden] Seelen nennt, deren Perzeption differenzierter und von Gedächtnis begleitet ist.»
Mit anderen Worten haben nach diesem zweiten Verständnis von «Seele» nur Tiere und Menschen eine seelische Monade. In was für einem Zustand sind nach Leibniz Monaden, die zwar Perzeptionen und Begehren haben, aber keine Seelen sind? Um einen solchen Zustand verständlich zu machen, weist Leibniz im nächsten Paragraphen (§ 20) darauf hin, dass auch unsere Seelen sich zeitweise in einem solchen Zustand befinden, nämlich «wenn wir in Ohnmacht fallen oder von einem tiefen traumlosen Schlaf überwältigt werden. In diesem Zustand unterscheidet sich unsere Seele gar nicht merklich von einer blossen Monade» (lorsque nous tombons en défaillance ou quand nous sommes accablés d’un profond sommeil sans aucun songe. Dans cet état l’âme ne diffère point sensiblement d’une simple Monade). Die blosse Monade (simple monade) nennt Leibniz im § 24 auch «ganz nackte Monade» (monade toute nue). Dafür, dass wir in diesen Zuständen der Ohnmacht oder des traumlosen Schlafes dennoch Perzeptionen haben, gibt Leibniz im § 23 folgendes Argument: «Da man, von der Betäubung (étourdisement) erwacht, sich seiner Perzeptionen bewusst wird (on s’apperçoit des ses perceptions), ist es notwendig, dass man unmittelbar davor welche davon gehabt hat, obschon man sich ihrer nicht bewusst war. Denn eine Perzepti-
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on kann natürlicherweise nur von einer anderen herkommen, wie eine Bewegung natürlicherweise nur von einer anderen Bewegung herkommen kann.»
Leibniz spricht hier nur von unbewussten Perzeptionen. Aber in ihnen sind unbewusste Appetitionen (Strebungen) oder unbewusste appétits (Begierden) inbegriffen, da diese die Ursachen davon sind, dass eine Perzeption in eine andere übergeht. Ich zweifle nicht, dass Leibniz die verworrenen Perzeptionen (perceptions confuses) im Gegensatz zu den differenzierten Perzeptionen (perceptions distinctes) meint, wenn er im § 20 seiner Principes de la philosophie (Monadologie) vom Zustand der Ohnmacht oder des traumlosen Tiefschlafes schreibt: Dieser Zustand ist ein Zustand völliger Passivität, und insofern kann es in ihm nur verworrene Perzeptionen geben. Aber nicht nur in einem solchen Zustand, in dem überhaupt keine differenzierten Perzeptionen auftreten, hat eine Monade verworrene Perzeptionen, sondern nach Leibniz sind verworrene Perzeptionen auch Bestandteile der differenzierten Perzeptionen. Im § 13 seiner Principes de la nature et de la grâce fondés en raison, wie die Principes de la philosophie (Monadologie) aus dem Jahr 1714, schreibt er: «Jede differenzierte Perzeption (perception distincte) [von etwas] enthält eine Unendlichkeit von verworrenen Perzeptionen (perceptions confuses), welche das Universum umschliessen (qui enveloppent l’univers), und weil die Seele selbst die wahrgenommenen Sachen nur in dem Masse kennt, als sie differenzierte und abgehobene Perzeptionen besitzt (des perceptions distinctes et relevées), hat sie Vollkommenheit im Masse ihrer differenzierten Wahrnehmungen. Jede Seele kennt das Unendliche, kennt alles, aber in verworrener Weise (confusement). Es ist so, wie wenn ich am Ufer des Meeres spaziere und wenn ich den von ihm gemachten grossen Lärm höre, ich die Lärme (les bruits) jeder einzelnen Welle höre, aus denen der ganze Lärm zusammengesetzt ist, aber ohne sie zu unterscheiden (mais sans les discerner).»
Das Hören des Lärmes des Meeres ist also eine differenzierte Wahrnehmung (Perzeption), während das Hören des kleinen Lärmes der einzelnen Wellen, aus dem das Hören des grossen Lärmes zusammengesetzt ist, verworren ist. Die verworrenen oder, wie sie von Leibniz manchmal auch genannt werden, die kleinen Perzeptionen (petites perceptions) spielen auch in der Wahrnehmung (sensation) der sinnlichen Qualitäten eine grosse Rolle. Leibniz schreibt im Vorwort (Préface) seiner Nouveaux Essais sur l’entendement: «Diese kleinen Perzeptionen sind also durch ihre Folgen von grösserer Wirkung, als man denkt (sont donc de plus grande efficace par leur suites qu’on ne pense). Sie sind es, die dieses Ich-weiss-nicht-was ausmachen (qui forment ce je ne sais quoi), diese Geschmäcker (goûts), diese Bilder der Sinnesqualitäten (ces images des qualités des sens), klar in ihrer Zusammenstellung (dans l’assemblage), aber verworren in den Teilen. Diese Eindrücke
§ 45. Leibnizens unbewusste Bewusstseinsinhalte
(impressions) der umgebenden Körper bewirken in uns, die wir das Unendliche einwickeln / enthalten (enveloppent), diese Verbindung (liaison), welche jedes Sein mit dem Übrigen des Universums besitzt. Man kann sogar sagen, dass in der Folge dieser kleinen Perzeptionen das Gegenwärtige schwanger mit dem Künftigen geht und mit dem Vergangenen beladen ist (est gros de l’avenir et chargé du passé), dass alles zusammenwirkt (que tout est conspirant), (σύμπνοια πάντα, sympnoia panta, wie Hippokrates sagte) und dass in der geringsten der Substanzen so durchdringende Augen wie diejenigen Gottes die genaue Folge (suite) der Dinge des Universums lesen könnten.»
Im Extrait du [Nouveau] Dictionnaire [critique] de M. [Pierre] Bayle, article Rorarius p. 2599 sqq. De l’Edition de l’an 1702 avec mes Remarques schreibt Leibniz, dass, wenn ein Mensch ein Lied oder eine Arie nach einer Partitur singt und wenn er dabei zu einer bestimmten Stelle des Liedes oder Arie gekommen ist, auch eine verworrene Perzeption von dem hat, was er in diesem Lied oder Arie noch weiter singen wird, «denn das ist eingewickelt in den verworrenen Perzeptionen der Seele» (car cela est enveloppé dans les perceptions confuses de l’âme). Das lässt sich auch vom Teil des Liedes oder der Arie sagen, welche der Sänger schon gesungen hat. Denn wie wir soeben hörten, gehen wir nicht nur schwanger mit dem Künftigen, sondern tragen auch unsere Vergangenheit auf unserem Rücken. Im Verlaufe des Lebens einer endlichen Monade bewahren sich also in ihr die verworrenen Perzeptionen, die differenzierten Perzeptionen bewahren sich als unmerkliche, und auch die künftigen Perzeptionen sind schon in den aktuellen als verworrene enthalten. Die perzeptive Beziehung der endlichen Monade zum Universum ist notwendigerweise eine verworrene. Wenn sie vollständig differenziert wäre, wäre die Monade unendlich, sie wäre ein Gott: Leibniz schreibt im zweiten Teil seiner Essais de Théodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme et de l’origine du mal, § 124: «Wenn sie [die intelligente Kreatur] nur differenzierte Gedanken hätte, wäre sie ein Gott» (si elle n’avait que des pensées distinctes, ce serait un Dieu).317 Im zweiten Buch seiner Nouveaux Essais sur l’entendement sagt Leibniz, dass unsere differenzierten Vorstellungen (Ideen) Vorstellungen Gottes sind – «Gottes» in Sinne des objektiven Genetiv, d. h. unsere differenzierten Vorstellungen sind Vorstellungen, die Gott selbst hat, denn Gott hat nur differenzierte Vorstellungen – und dass unsere verworrenen Vorstellungen des Universums unsere Vorstellungen sind, die nur wir als endliche, geschaffene Monaden vom Universum haben. Das bedeutet nicht, dass wir nicht auch zum Teil differenzierte Vorstellungen vom Universum haben, aber eben nur zum Teil. Wir haben notwendigerweise auch immer verworrene Perzeptionen in unseren Vorstellungen des immer auch materiellen Universums. Leibniz sagt: G. W. Leibnitz. Die philosophischen Schriften, herausgegeben von C. J. Gerhardt, Georg Olms Verlagsbuchhandlung, Hildesheim 1965, Band VI, S. 179.
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«Die äusseren sinnlichen Gegenstände sind nur mittelbar (les object externes sensibles ne sont que médiats), da sie nicht unmittelbar auf die Seele wirken können. Gott allein ist der unmittelbare äussere Gegenstand (Dieu seul est l’objet externe immédiat). Man könnte sagen, dass die Seele selbst ihr (der Seele) unmittelbare innere Gegenstand ist (son object interne), aber insofern sie die Vorstellungen enthält oder das, was [in ihr] den Dingen entspricht. Denn die Seele ist eine kleine Welt, in der die differenzierten Vorstellungen eine Repräsentation von Gott sind, und in der die verworrenen [Vorstellungen] Repräsentationen des Universums sind (car l’âme est un petit monde, où les idées distinctes sont une représentation de Dieu et où les confuses sont des représentations de l’univers).»318
Nur durch ihre verworrenen Perzeptionen «wickelt» eine endliche Monade das unendliche Universum «ein» (enveloppe), d. h. umschliesst, umfasst es, und zwar in seiner ganzen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Durch ihre verworrenen Perzeptionen ist die endliche Monade das, was Aristoteles im dritten Buch seiner Schrift über die Seele sagte: «Die Seele ist gewissermassen die Gesamtheit der Dinge (ἡ ψυχὴ τὰ ὄντα πώς ἐστι πάντα).» (Bekker, 431b 21) In der auf Aristoteles zurückgehenden und Leibniz bestbekannten Scholastik wurde dieser Satz ein geflügeltes Wort: «anima est quodammodo omnia» (die Seele ist gewissermassen alles). Was sind die Gründe, warum nach Leibniz die endlichen Monaden verworrene Perzeptionen haben müssen? Ich habe dafür sechs gefunden. Den ersten Grund davon haben wir oben in diesem § 45 schon gehört: «Wenn sie [die intelligente Kreatur] nur differenzierte Gedanken hätte, wäre sie ein Gott.» Zweiter und dritter Grund: Leibniz erklärt, dass die Perzeptionen, die eine endliche Monade in sich umfasst, zu zahlreich sind, als dass sie alle differenziert sein könnten, denn in jedem Augenblick gibt es in uns eine Unendlichkeit von Perzeptionen, und er erklärt (dritter Grund), dass die Perzeptionen zu vereinheitlicht sind (trop unies), sodass sie nichts haben, was sie genügend von anderen unterscheidet. Er schreibt im Vorwort (Préface) seiner Nouveaux Essais sur l’entendement: «Übrigens gibt es tausend Zeichen, die urteilen lassen, dass es in jedem Augenblick (à tout moment) in uns eine Unendlichkeit von Perzeptionen gibt, aber ohne Apperzeption (Mitwahrnehmung, Bewusstsein) und ohne Reflexion; das heisst [es gibt] Veränderungen in der Seele selbst, deren wir uns nicht bewusst sind (dont nous ne nous appercevons pas), weil die Eindrücke (impressions) entweder zu klein oder zu gross sind und in zu grosser Zahl [= zweiter Grund:]; oder [weil die Perzeptionen] zu vereinheitlicht sind (trop unies), so dass sie nichts haben, was sie genügend von anderen unterscheidet (en sorte qu’elles n’ont rien d’assez distinguant à part); aber, angefügt an andere, in der Vereinigung auch ihre Wirkung ausüben und sich mindestens verworren fühlen lassen (mais jointes à
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Nouveaux Essais, Zweites Buch, 1. Kap., § 1.
§ 45. Leibnizens unbewusste Bewusstseinsinhalte
d’autres, elles ne manquent pas de faire leur effet et de se faire sentir au moins confusément dans l’assemblage) [= dritter Grund].»
Vierter Grund: Die Verworrenheit der Perzeptionen der endlichen Monaden hat ihren Grund in deren notwendiger Passivität. In dem Masse, in dem eine endliche Monade passiv und rezeptiv ist, sind ihre Perzeptionen verworren. Leibniz sagt im zweiten Buch, Kapitel 21, § 72 seiner Nouveaux Essais sur l’entendement: «Aber, indem man die Tätigkeit (l’action) als eine Ausübung der Vollkommenheit und die Passivität (passion) für das Gegenteil davon nimmt, gibt es in den wahren Substanzen [Monaden] nur Tätigkeit, wenn die Perzeption sich entwickelt und differenzierter wird, wie es Passivität nur dann gibt, wenn sie verworrener wird.» Im § 13 von Les principes de la Nature et de la grâce fondés en raison schreibt Leibniz: «Aber die verworrenen Perzeptionen sind das Ergebnis der Eindrücke (impressions), welche das ganze Universum auf uns ausübt. Bei jeder Monade ist es so. Gott allein hat eine differenzierte Erkenntnis vom allem, denn er ist die Quelle von allem.» Und im § 49 seiner Principes de la philosophie (Monadologie) heisst es: «So schreibt man der Monade Tätigkeit zu, insofern sie differenzierte Perzeptionen hat, und Passivität, insofern sie verworrene hat.» Fünfter Grund: Weiter lässt Leibniz die Verworrenheit der Perzeption in Raum und Zeit, in der Ausdehnung und Dauer gründen. Er schreibt im ersten Teil, § 124, seiner Essais de Théodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme et de l’origine du mal: «Sobald es ein Gemisch (mélange) von verworrenen Gedanken gibt, sind auch die Sinne und die Materie vorhanden (voilà les sens, voilà la matière). Denn diese verworrenen Gedanken kommen von der Beziehung zwischen allen Dingen gemäss der Dauer und der Ausdehnung (car ces pensées confuses viennent du rapport de toutes les choses entre elles suivant la durée et l’étendue). Dies bewirkt, dass es in meiner Philosophie keine vernünftigen Kreaturen ohne irgendeinen organischen Leib gibt (sans quelque corps organique) und dass es keinen geschaffenen Geist (esprit créé) gibt, der völlig von der Materie losgelöst ist (entièrement détaché de la matière).»
Sechster Grund: Leibniz schätzt die Verworrenheit der Perzeptionen nicht nur negativ ein, sondern misst ihr auch eine praktische Nützlichkeit für unser Leben bei. Unsere Unwissenheit (Verworrenheit) über mancherlei innere Appetitionen und Perzeptionen erlaubt uns, instinktiv schneller zu handeln, und lässt uns von differenzierten sinnlichen Wahrnehmungen von Gegenständen ungestört, die uns dabei hinderlich sein würden. Ich vermute, dass Leibniz an die bekannte Erfahrung denkt, dass wir oft unsere Schmerzen, sofern sie uns nicht völlig überwältigen, kaum spüren, d. h. in die Verworrenheit versinken lassen, wenn wir unsere Aufmerksamkeit ganz auf eine praktische Aufgabe konzentrieren, ja überhaupt auf etwas ganz anderes als den Schmerz konzentrieren. Z. B. habe ich mir bei einer schmerzhaften zahnärztlichen Behandlung zur Devise gemacht, an
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etwas anschaulich zu denken, was mich sehr interessiert oder sehr lieb und angenehm ist, und meine Aufmerksamkeit nicht auf den durch den Bohrer verursachten Schmerz zu richten. Leibniz schreibt im zweiten Buch, 20. Kapitel, § 6 seiner Nouveaux Essais sur l’entendement: «[…] ich würde lieber sagen, dass es im Begehren selbst (dans le désir lui-même) eher eine Disposition und eine Vorbereitung für den Schmerz gibt als den Schmerz selbst. Es ist wahr, dass sich diese Perzeption [der Disposition und der Vorbereitung für den Schmerz] manchmal nur dem Grade nach von derjenigen [Perzeption] unterscheidet, die es im Schmerz hat, aber es ist so, weil der Grad zum Wesen des Schmerzes gehört, denn er ist eine bemerkenswerte [bemerkbare?] Perzeption (une perception notable). Man sieht dies auch am Unterschied, der zwischen dem Appetit und dem Hunger besteht. Denn, wenn die Irritation des Magens zu stark wird, belästigt sie, so dass man auch hier unsere Lehre von den Perzeptionen anwenden muss, die [beim Appetit] zu klein sind, um „beiwahrnehmbar“ (bewusst: apperceptibles) zu sein. Denn das, was in uns geschieht, während wir ziemlich vergrösserte Begierden und Wünsche haben, würde uns Schmerz verursachen. Deshalb hat der unendlich weise Schöpfer unseres Seins es zu unserem Guten gemacht, wenn er es so machte, dass wir uns oft in der Unwissenheit und in verworrenen Perzeptionen befinden, um schneller durch Instinkt handeln zu können und um nicht durch zu differenzierte sinnliche Wahrnehmungen von vielen Gegenständen belästigt zu werden, die uns dazu nicht gänzlich nötig sind (pour agir plus promptement par instinct et pour ne pas être incommodés par des sensations trop distinctes de quantité d’objects qui ne nous reviennent pas tout à fait) und auf welche die Natur verzichten konnte, um ihre Ziele zu erreichen.»
Die verschiedenen Gründe der Notwendigkeit und der Grund der praktischen Nützlichkeit der verworrenen Perzeptionen haben einen inneren Zusammenhang: Alle verweisen auf die in Raum und Zeit zum Ausdruck kommende Passivität der Monade. Leibniz schreibt in § 13 seiner Principes de la nature et de la grâce fondés en raison aus dem Jahre 1714: «Jede differenzierte Perzeption (perception distincte) [von etwas] enthält eine Unendlichkeit von verworrenen Perzeptionen (perceptions confuses), welche das Universum umschliessen (qui enveloppent l’univers).» Bei dieser «Unendlichkeit von verworrenen Perzeptionen» kann es sich meines Erachtens nicht wie bei den Monaden um eine aktuelle Unendlichkeit handeln, sondern nur um eine unbestimmte, aber bestimmbare potenzielle Unendlichkeit. Denn die Perzeptionen sind ja die subjektiven Korrelate der äusseren weltlichen Phänomene, die nicht aus unendlich vielen aktuellen unteilbaren Atomen zusammengesetzt, sondern potenziell ins Unendliche teilbar sind. Gäbe es phänomenale unteilbare Atome, so wäre für uns eine unverworrene, völlig differenzierte Perzeption der räumlich-zeitlichen Körperwelt grundsätzlich möglich. Leibniz sagt im zweiten Buch, 23. Kapitel, §12 seiner Nouveaux Essais sur l’entendement:
§ 46. Verworrene und differenzierte, dunkle und anschauliche Perzeptionen
«Wenn es Atome gäbe, wie der Autor [Locke] an einem anderen Ort [seines Essay on Human Understanding] zu glauben schien, dann überstiege die vollkommene Erkenntnis der Körper nicht jedes endliche Seiende (la connaissance des corps ne pourrait être audessus de tout être fini). Wenn übrigens Farben oder [sinnlichen] Qualitäten vor unseren besser bewaffneten oder scharfsichtigeren Augen verschwinden würden, dann entstünden offensichtlich andere, und es wäre ein neues Wachstum unserer Scharfsichtigkeit nötig, um auch sie zum Verschwinden zu bringen. Das könnte ins Unendliche gehen, wie die aktuelle Teilbarkeit der Materie tatsächlich geht.»
Das in diesem Paragraphen 45 über Leibniz Ausgeführte kann die phänomenologisch begründete Monadologie Husserls ergänzen.
§ 46. Husserls Lehre von der Wahrnehmung eines zeitlichen Ablaufes durch Impression, Protention und Retention und seine Lehre vom äusseren und vom inneren Horizont der Wahrnehmung von Gegenwärtigem entsprechen teilweise Leibnizens Lehre von den verworrenen und differenzierten Perzeptionen ( perceptions confuses et perceptions distinctes ) Husserl gebraucht nicht Leibnizens gegensätzliches Begriffspaar verworren – differenziert, sondern das gegensätzliche Begriffspaar dunkel (oder leer) – anschaulich (oder erfüllt). Ich werde im Folgenden dieses Paragraphen 46 zwischen eckigen Klammern und kursiv das entsprechende Leibniz’sche Begriffspaar einfügen. A. Husserls Lehre von der Wahrnehmung eines zeitlichen Ablaufes durch Impression, Protention und Retention Husserls wichtigstes Beispiel für die Wahrnehmung eines zeitlichen Ablaufes ist das Hören einer Tonfolge, z. B. einer Melodie. Er unterscheidet hier drei notwendig zusammengehörende Momente: Erstens: die «Urimpression»319 oder die «Urempfindung».320 Ihr entspricht das Jetzt-Moment des Zeitobjektes, z. B. der gerade erklingende Ton. In einem 319 Siehe Edmund Husserl. Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), herausgegeben von Rudolf Boehm, Martinus Nijhoff, Den Haag 1966, Husserliana, Band X, S. 67, 100. 320 Siehe Edmund Husserl. Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), herausgegeben von Rudolf Boehm, Martinus Nijhoff, Den Haag 1966, Husserliana, Band X, S. 77 ff, 325 f., 372.
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«Momentan-zugleich» sind mehrere Urempfindungen oder eine komplexe Urempfindung möglich, z. B. der gerade erklingende Akkord.321 Zweitens: «Zugleich» mit der Urimpression besteht eine Kontinuität (ein «Schwanz oder Kometenschweif»)322 von «frischen» oder «primären Erinnerungen». Es ist ein «zurückhaltendes Noch-Bewusstsein»,323 dem am Zeitobjekt das «Vorhin», das «Soeben», oder «Nicht-mehr» entspricht, im Beispiel der Melodie die soeben verklungenen Töne oder Tonphasen. Von 1909 an wird Husserl dem Ausdruck «frische oder primäre Erinnerung» immer mehr den Ausdruck «Retention» (wörtlich übersetzt «Zurückhaltung») vorziehen.324 Denn dieses «zurückhaltende Noch-Bewusstsein» ist nach Husserl keine Erinnerung (oder Wiedererinnerung). Diese ist ein sich vergegenwärtigendes mehr oder weniger anschauliches [differenziertes] Zurückversetzen in die eigene Vergangenheit, wie unten in diesem Abschnitt A deutlich werden wird. Jede Retention in dieser Kontinuität von Retentionen hat einen bestimmten Modus, in dem sich ein früherer Zeitpunkt (ein mehr oder weniger zurückliegendes «Nicht-mehr») abschattet.325 Je weiter die Zeitpunkte zurückliegen, desto dunkler [verworrener] sind sie retiniert: «das Ganze verschwindet ins Dunkel [Verworrene], in ein leeres [verworrenes] retentionales Bewusstsein».326 Husserl spricht auch von einer Art zeitlicher
Siehe Edmund Husserl. Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), herausgegeben von Rudolf Boehm, Martinus Nijhoff, Den Haag 1966, Husserliana, Band X, S. 376. 322 Siehe Edmund Husserl. Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), herausgegeben von Rudolf Boehm, Martinus Nijhoff, Den Haag 1966, Husserliana, Band X, S. 377/378. 323 Siehe Edmund Husserl. Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), herausgegeben von Rudolf Boehm, Martinus Nijhoff, Den Haag 1966, Husserliana, Band X, S. 81. 324 Siehe Edmund Husserl. Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), herausgegeben von Rudolf Boehm, Martinus Nijhoff, Den Haag 1966, Husserliana, Band X, S. 335 ff. Noch im ersten Band von Husserls Ideen (1913) wird die Retention als «primäre Erinnerung» charakterisiert: Edmund Husserl. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, neu herausgegeben von Karl Schuhmann, Husserliana, Band III, 1, Martinus Nijhoff, Den Haag 1976, S. 163. 325 Dieses Bewusstsein der soeben verklungenen Töne oder Tonphasen ist nicht zu verwechseln mit dem Phänomen des «Nachhalls»; das Nachhallen eines Tones ist auch «Urimpression». Siehe Edmund Husserl. Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), herausgegeben von Rudolf Boehm, Martinus Nijhoff, Den Haag 1966, Husserliana, Band X, S. 31. 326 Siehe Edmund Husserl. Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), herausgegeben von Rudolf Boehm, Martinus Nijhoff, Den Haag 1966, Husserliana, Band X, S. 26, 62.
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§ 46. Verworrene und differenzierte, dunkle und anschauliche Perzeptionen
Perspektive, in der sich das Retinierte mit der zeitlichen Entfernung immer mehr «zusammenzieht» und dunkel [verworrener] wird.327 Drittens: Das dritte notwendige Moment für die Wahrnehmung eines zeitlichen Ablaufes ist nach Husserl die Erwartung der «Protention». Sie intendiert das unmittelbar Kommende, das «Noch-nicht». Sie ist nach Husserl eine Vorzeichnung oder Antizipation des Kommenden aufgrund des retentional Bewussten,328 ein «vorausgeworfener Schatten» oder eine Projektion des Vergangenen als Erwartung in die Zukunft.329 Im Bespiel des Hörens einer Melodie erwarte ich die kommenden Töne aufgrund der retinierten vergangenen Töne. Ich ergänze zu dem von Husserl Geschriebenen: Dieses Erwarten ist zwar aufgrund der Retention differenziert, aber nicht eindeutig differenziert. Denn wenn ich eine Melodie oder ein grösseres musikalisches Werk nicht genau kenne, ist die Erwartung des Kommenden zwar nicht völlig verworren, ich erwarte nicht irgendwelche Töne oder Harmonien, aber teilweise unbestimmt, teilweise verworren. Diese drei Momente, Urimpression, Retention und Protention, konstituieren nach Husserl die Lebensgegenwart, welche das «originäre [ursprüngliche] Zeitfeld» ist.330 Dieses besteht also in einem Jetzt mit einem «Zeithof», d. h. mit einem lebendigen Horizont des Nicht-mehr (Soeben) und des Noch-nicht (des Kommenden) in verschiedenen Abstufungen. Doch mit diesen drei Momenten, die selbst eine Kontinuität bilden, ist nach Husserl erst eine momentane Phase der Wahrnehmung eines Zeitobjektes beschrieben. Diese Wahrnehmung hat in jeder ihrer Phasen urimpressional-retentional-protentional ihr originäres Zeitfeld. Aber diese Phase geht stetig über in eine neue Phase, diese Wahrnehmung ist in einem stetigen Wandel,331 in einem stetigen Fluss.332 Kontinuierlich tritt ein neues Jetzt auf und schiebt die früheren Siehe Edmund Husserl. Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), herausgegeben von Rudolf Boehm, Martinus Nijhoff, Den Haag 1966, Husserliana, Band X, S. 26. 328 Siehe Edmund Husserl. Analysen zur passiven Synthesis, aus Vorlesungs- und Forschungsmanuskripten, herausgegeben von Margot Fleischer, Martinus Nijhoff, Den Haag 1966, Husserliana, Band XI, S. 186. 329 Siehe Edmund Husserl. Analysen zur passiven Synthesis, aus Vorlesungs- und Forschungsmanuskripten, herausgegeben von Margot Fleischer, Martinus Nijhoff, Den Haag 1966, Husserliana, Band XI, S. 186, 287. 330 Siehe Edmund Husserl. Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), herausgegeben von Rudolf Boehm, Martinus Nijhoff, Den Haag 1966, Husserliana, Band X, S. 31. 331 Siehe Edmund Husserl. Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), herausgegeben von Rudolf Boehm, Martinus Nijhoff, Den Haag 1966, Husserliana, Band X, S. 114. 332 Siehe Edmund Husserl. Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), herausgegeben von Rudolf Boehm, Martinus Nijhoff, Den Haag 1966, Husserliana, Band X, S. 360. 327
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Jetzt in die Vergangenheit zurück,333 bzw. kontinuierlich wandelt sich Urimpression in Retention, diese in modifizierte Retention usw.334 Die Urimpression ist stetig neu, sie ist «ein lebendiger Quellpunkt des Seins».335 Dieses immer neue Jetzt ist das Wichtigste, sozusagen der «Motor» der Zeitkonstitution. «Denn an sich wäre es doch denkbar, dass die Klarheit der unmittelbaren Erinnerung [= Retention] nicht herabsänke, während ohne Anfügung des neuen Jetzt [der neuen Urimpression] Zeitbewusstsein ganz undenkbar wäre.»336 Diesen ganzen vom stetig neuen Jetzt ausgehenden Wandel begreift Husserl als eine Kontinuität iterierter Modifikationen: Urimpression modifiziert sich zu Retention von Urimpression, Retention zu Retention von Retention, die Retention zweiter Stufe zu Retention dritter Stufe usw. Die Retentionen höherer Stufe sind ein «kontinuierliches Ineinander von Retentionen von Retentionen».337 In dieser Weise der Modifikation und der Modifikation von Modifikationen (iterierter Modifikationen) trägt die Retention «sozusagen in der Form einer Abschattungsreihe [in verworrener Weise] das Erbe der ganzen vorangegangenen Entwicklung in sich». Das entspricht genau Leibnizens Auffassung, dass die Monade ihre ganze Vergangenheit in verworrener Weise auf ihrem Rücken trägt. Das originäre Zeitfeld in seinem Wandel ist eine «originäre [ursprüngliche] Selbstgegebenheit»338 und in diesem Sinne wahrgenommen. Die Retention als Moment des Bewusstseins dieses wahrgenommenen ursprünglichen Zeitfeldes ist keine Wiedererinnerung (Erinnerung). Diese ist gewissermassen eine Wiederholung eines ganzen «Zeithofes», sie ist eine Reproduktion dieses ganzen Wahrneh-
Siehe Edmund Husserl. Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), herausgegeben von Rudolf Boehm, Martinus Nijhoff, Den Haag 1966, Husserliana, Band X, S. 43, 63. 334 Siehe Edmund Husserl. Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), herausgegeben von Rudolf Boehm, Martinus Nijhoff, Den Haag 1966, Husserliana, Band X, S. 40; Edmund Husserl. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, neu herausgegeben von Karl Schuhmann, Husserliana, Band III, 1, Martinus Nijhoff, Den Haag 1976, S. 183. 335 Siehe Edmund Husserl. Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), herausgegeben von Rudolf Boehm, Martinus Nijhoff, Den Haag 1966, Husserliana, Band X, S. 67, 69, 100. 336 Siehe Edmund Husserl. Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), herausgegeben von Rudolf Boehm, Martinus Nijhoff, Den Haag 1966, Husserliana, Band X, S. 425. 337 Edmund Husserl. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, neu herausgegeben von Karl Schuhmann, Husserliana, Band III, 1, Martinus Nijhoff, Den Haag 1976, S. 183. 338 Siehe Edmund Husserl. Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), herausgegeben von Rudolf Boehm, Martinus Nijhoff, Den Haag 1966, Husserliana, Band X, S. 38.
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mungsflusses:339 «Das ganze Erinnerungsphänomen hat mutatis mutandis dieselbe Konstitution wie die Wahrnehmung», zum Beispiel im Wiedererinnern einer wahrgenommenen Melodie «hören wir ‹gleichsam› zuerst den ersten, dann den zweiten Ton u. s. w.»; ein Ton erklingt gleichsam wieder und versinkt ins Soeben. Die Wiedererinnerung ist also eine Wiederholung oder Reproduktion von Urimpression, Retention und Protention.340 Aber die wiedererinnerte Melodie ist nicht Gegenwart, sondern «vergegenwärtigte Gegenwart»;341 sie ist nicht «leibhaft» selbstgegeben, nicht wahrgenommen, sondern «nur vorgestellt».342 Diese im Sich-Erinnern vergegenwärtigte Zeit weist notwendig zurück auf ursprünglich gegebene, auf gegenwärtige wahrgenommene Zeit.343 Der Unterschied zwischen Retention und Wiedererinnerung kommt nach Husserl auch durch Folgendes zur Geltung: Zwischen Urimpression und Retention besteht ein kontinuierlicher Übergang, während der Übergang von Zeitwahrnehmung mit ihren Momenten Urimpression, Retention und Protention zur Wiedererinnerung ein diskreter ist. Der Unterschied zwischen Retention und Wiedererinnerung (Reproduktion) besteht nicht darin, dass die Wiedererinnerung nur zeitlich weiter zurückgreifen würde. Denn die Wiedererinnerung kann auch etwas «rekapitulieren», was retentional noch mehr oder weniger klar [differenziert] bewusst ist, also zeitlich nicht weit zurückliegt, wie wenn ich beim Hören einer Melodie den Anfang dieser Melodie wiederholend (mich erinnernd) zurückrufe.344 Der Unterschied ist vielmehr ein struktureller. Während Urimpression kontinuierlich übergeht in Retention und diese in Retention von Retention, wendet sich die Wiedererinnerung zeitlich zurück und „wiederholt“ eine ganze Wahrnehmung (mit Urimpression, Retention und Protention eines zeitlichen Ablaufes). Siehe Edmund Husserl. Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), herausgegeben von Rudolf Boehm, Martinus Nijhoff, Den Haag 1966, Husserliana, Band X, S. 36, 52. 340 Siehe Edmund Husserl. Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), herausgegeben von Rudolf Boehm, Martinus Nijhoff, Den Haag 1966, Husserliana, Band X, S. 35 46, 51 341 Siehe Edmund Husserl. Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), herausgegeben von Rudolf Boehm, Martinus Nijhoff, Den Haag 1966, Husserliana, Band X, S. 36 342 Siehe Edmund Husserl. Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), herausgegeben von Rudolf Boehm, Martinus Nijhoff, Den Haag 1966, Husserliana, Band X, S. 41 f. 343 Siehe Edmund Husserl. Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), herausgegeben von Rudolf Boehm, Martinus Nijhoff, Den Haag 1966, Husserliana, Band X, S. 45 344 Siehe Edmund Husserl. Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), herausgegeben von Rudolf Boehm, Martinus Nijhoff, Den Haag 1966, Husserliana, Band X, S. 62; vgl. S. 50, 153 f.
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Der Unterschied zwischen Retention und Wiedererinnerung wird auch durch das Folgende deutlich: Wenn ich mich z. B. beim Hören (Wahrnehmen) eines längeren Musikstückes beim Hören (Wahrnehmen) seines jetzt erklingenden Endes anschaulich [differenziert] an seinen verklungenen Anfang erinnere und dabei meine Aufmerksamkeit dem Erinnerten zuwende, dann höre ich das jetzt erklingende Ende nicht mehr anschaulich [differenziert], sondern nur noch dunkel oder verschwommen [verworren], denn die Anschaulichkeit des erinnerten verklungenen Anfangs verdeckt die Anschaulichkeit des jetzt wahrgenommenen (gehörten) erklingenden Endes [ich höre es nur noch verschwommen]. Anders verhält es sich, wenn ich z. B. im aufmerksamen Hören des langen Finale des dritten Satzes des Cellokonzertes von Antonín Dvoř ák das verklungene erste Thema des ersten Satzes wiedererkenne, denn dadurch wird meine Aufmerksamkeit nicht vom [differenzierten] Hören dieses jetzt erklingenden Themas abgelenkt, sondern in höre in diesem jetzt [differenziert] erklingenden Thema das verklungene Thema. B. Husserls Lehre vom äusseren und vom inneren Horizont der Wahrnehmung von Gegenwärtigem a) Vorbemerkung
Der Begriff des [Aussen‐]Horizontes tritt bei Husserl kurz vor seinem Werk Ideen für eine reine Phänomenologie und phänomenologische Philosophie, Erstes Buch (geschrieben 1912) auf und löst bei ihm den Begriff der Umgebung ab bzw. ergänzt ihn. Im ersten Buch dieses Werkes gebraucht Husserl «Horizont» gleichbedeutend mit «Hof» und «Hintergrund». Nach Dorian Cairns, Conversations with Husserl and Fink,345 Gespräch vom 22. September 1931, hat Husserl den Horizontbegriff von William James übernommen. b) Innenhorizont und Aussenhorizont in der Wahrnehmung
In seinem letzten, unvollendeten Werk, Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, schreibt Husserl: Das einzelne wahrgenommene Ding ist «nichts für sich, Wahrnehmung eines Dinges ist seine Wahrnehmung in einem Wahrnehmungsfeld. Und wie das einzelne Ding in der Wahrnehmung nur Sinn hat durch einen offenen [Innen‐]Horizont ‹möglicher Wahrnehmungen›, sofern das eigentlich Wahrgenommene auf eine systematische Mannigfaltigkeit möglicher ihm einstimmig zugehöriger wahrnehmungsmässiger Darstellungen ‹verweist›, so hat das Ding noch einmal einen Horizont: gegenüber dem ‹Innenhorizont› einen ‹Aussenhorizont›, aber als Ding eines 345
Phaenomenologica, Martinus Nijhof, Den Haag 1976.
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Dingfeldes; und verweist schliesslich auf die ganze ‹Welt als Wahrnehmungswelt›.»346 Über den Innenhorizont schreibt Husserl in seinen Cartesiansichen Meditationen (1929) das Folgende: «Jedes Erlebnis hat einen im Wandel seines Bewusstseinszusammenhanges und im Wandel seiner eigenen Stromphasen wechselnden Horizont – einen intentionalen Horizont der Verweisung auf ihm selbst zugehörige Potentialitäten des Bewusstseins. Z. B. zu jeder äusseren Wahrnehmung gehört die Verweisung von den eigentlich [differenziert] wahrgenommenen Seiten des Wahrnehmungsgegenstandes auf die mitgemeinten, noch nicht wahrgenommenen, sondern nur erwartungsmässig und zunächst in anschaulicher Leere [Verworrenheit] antizipierten Seiten. […] Dieser [der gegenständliche Sinn], das cogitatum qua cogitatum [das Gedachte als Gedachtes], ist nie als ein fertig Gegebenes vorstellig; er klärt sich [differenziert sich] durch die Auslegung des Horizontes und der stetig neu geweckten Horizonte. Die Vorstellung ist zwar allzeit unvollkommen [unvollkommen differenziert], aber in ihrer Struktur doch von einer Struktur der Bestimmtheit [von einer Struktur der Differenziertheit]. Z. B. der Würfel lässt nach den unsichtigen Seiten noch vielerlei offen, und doch ist er schon als Würfel, und dann in Sonderheit als farbig, rau und dgl., im voraus aufgefasst, wobei jede dieser Bestimmungen [Differenzierungen] stets noch Besonderheiten offen [verworren] lässt. Dieses Offenlassen ist vor den wirklichen Näherbestimmungen, die vielleicht nie erfolgen, ein im jeweiligen Bewusstsein selbst beschlossenes Moment, eben das, was den [Innen‐]Horizont ausmacht. Durch wirklich fortgehende Wahrnehmungen – gegenüber der blossen Klärung durch antizipierende Vorstellungen – erfolgt erfüllende [differenzierende] Näherbestimmung und ev. Andersbestimmung, aber mit neuen [Innen‐]Horizonten der Offenheit.»347
Den Innenhorizont eines Dinges, von dem Husserl in diesem Zitat spricht, möchte ich noch durch ein anderes Beispiel erläutern: Wenn ich z. B. eine Bronzestatuette des aufrecht stehenden Konfuzius vor mir sehe, dann sehe ich anschaulich [differenziert] nur eine Seite, normalerweise die Vorderseite von ihr. Ich sehe nur einen Aspekt von ihr, oder wie Husserl im obigen Zitat sagt, ich nehme nur eine «wahrnehmungsmässige Darstellung von ihr» anschaulich [differenziert] wahr. Doch dieser Aspekt oder diese «Darstellung» verweist dunkel [verworren] auf eine «systematische Mannigfaltigkeit möglicher ihr einstimmig zugehöriger wahrnehmungsmässiger Darstellungen» oder Aspekte. Das heisst, ich bin mir bei diesem anschaulichen [differenzierten] Sehen oder Wahrnehmen dunkel [verworren] bewusst, dass die Statuette auch eine Rückseite, ja unendlich viele Seiten oder Aspekte oder Darstellungen hat. Wenn ich sie z. B. in die Hand nehme und 346 Edmund Husserl, Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, herausgegeben von Walter Biemel, Husserliana, Band VI, Martinus Nijhoff, Den Haag, S. 165 347 Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, herausgegeben und eingeleitet von Stefan Strasser, Husserliana, Band I, Martinus Nijhoff, Den Haag 2. Auflage 1963, S. 82/83.
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sie vor mir langsam um ihre Achse drehe, sehe ich anschaulich [differenziert] immer wieder einen anderen Aspekt, eine andere Darstellung, während die nicht mehr gesehenen Seiten in meinem Bewusstsein immer dunkler [verworrener] werden. Ebenso ist es, wenn ich sie bald von unten und, weil sie hohl ist, von innen, bald von oben, bald in dieser Schrägheit, bald in einer anderen anschaue. Aber auch die Vorderseite dieser Statue hat, wenn ich sie genau [differenziert] ansehe, unendlich viele Aspekte oder «Darstellungen». Ich kann meine Aufmerksamkeit ganz auf den hohen Hut des Konfuzius richten, dann sehe ich diesen anschaulich [differenziert], während das Übrige der Statuenvorderseite in meinem Bewusstsein von ihr im Dunkel (in der Verworrenheit) verbleibt. Wenn ich dann meine Aufmerksamkeit ganz auf die Augen- und Nasenpartie des Kopfes richte, wird diese für mich anschaulich [differenziert], während der Hut bewusstseinsmässig ins Dunkle [Verworrene] gerät und alles, was sich darunter befindet, im Dunklen [in der Verworrenheit] bleibt. Usw. Den Aussenhorizont erläutere ich mit diesem Beispiel wie folgt: Wenn ich diese Statuette vor mir auf Augenhöhe anschaulich [differenziert] sehe, sehe ich auch mehr oder weniger anschaulich [mehr oder weniger differenziert] ihre unmittelbare Umgebung, z. B. das daneben stehende Räuchergefäss und anderes. Aber ich bin mir in wachsender Unanschaulichkeit oder Dunkelheit [wachsender Verworrenheit] auch des Gestells bewusst, auf dem diese Statuette steht, meines Arbeitszimmers, in dem sich dieses Gestell befindet, unserer Wohnung, in dem sich mein Arbeitszimmer befindet, des Hauses, zu dem unsere Wohnung gehört, ich bin mir des Dorfes Krattigen bewusst, in dem sich dieses Haus befindet, des Himmels, der sich über Krattigen wölbt, der Umgebung von Krattigen, der Schweiz, in der sich Krattigen befindet, Europas, zu dem die Schweiz gehört, der ganzen Erde mit ihren Kontinenten, zu denen Europa gehört, schliesslich der ganzen Welt oder des ganzen Universums leer (verworren) bewusst. Die Konfuzius-Statuette «verweist schliesslich [verworren] auf die ganze ‹Welt als Wahrnehmungswelt›», wie Husserl im obigen Zitat schreibt. Das entspricht genau Leibnizens Aussage im § 13 seiner Principes de la nature et de la grâce fondés en raison aus dem Jahre 1714: «Jede differenzierte Perzeption (perception distincte) [von etwas] enthält eine Unendlichkeit von verworrenen Perzeptionen (perceptions confuses), welche das Universum umschliessen (qui enveloppent l’univers). c) Horizont als Zugangshorizont, als Potenzialität des In-ihn-eindringen-Könnens (ich kann, wir können). Der Zeithorizont
Innen- und Aussenhorizont entsprechen dem Können des Ich oder des intersubjektiven Wir, in sie einzudringen, sie zu enthüllen, sie anschaulich zu machen [zu differenzieren].
§ 46. Verworrene und differenzierte, dunkle und anschauliche Perzeptionen
Doch das ist nicht immer der Fall, besonders wenn Husserl Horizont als Zeithorizont versteht. In einem publizierten Forschungsmanuskript aus dem Herbst 1922 schreibt er: «Ich kann nicht in jeden Horizont eindringen, d. h. nicht jeder Horizont ist für mich enthüllbar [differenzierbar]. In der inneren Lebenszeitanschauung verliert sich das Leben in eine dunkle Unendlichkeit. Nicht nach dieser Anschauung, sondern nach Erzählung Anderer gewinnt der Begriff der Geburt seinen Sinn. Die anschauliche Grenze ist nur die eines [zeitlichen] Fernhorizontes von vollkommener Unklarheit [Dunkelheit, Verworrenheit], in den es kein Eindringen gibt.»348
Das Können des Ich, in die räumlichen und zeitlichen Horizonte einzudringen, ist ein «Ich-kann-System»: Auf der Rückseite eines Blattes von Husserls Manuskript seiner Vorlesung Phänomenologische Psychologie von 1925 steht unter anderen folgende Notiz: «Der wahrgenommene Gegenstand als solcher – als X unenthüllter [verworrener] Horizonte; diese [Horizonte] bezogen auf korrelative Richtungen des Ich kann (oder Wir können) […] Ein Gegenstand […] mit offenem Horizont. Aufweckung [Differenzierung] des [verworrenen] Horizonts [durch] Aufweckung meines «Ich-kann-Systems» und meines zugehörigen «so» werde ich [es] finden, «so» wird [es] zu Tage treten.»349
Im oben zitierten Paragraphen 19 («Aktualität und Potentialität des intentionalen Lebens») der Cartesianischen Meditationen aus dem Jahre 1929 schreibt Husserl über den Zeithorizont der Vergangenheit: «Zudem gehört […] zu jeder Wahrnehmung stets ein [verworrener] Vergangenheitshorizont als Potentialität zu erweckender Wiedererinnerungen und zu jeder Wiedererinnerung als Horizont die kontinuierliche mittelbare Intentionalität möglicher (von mir aus tätig zu verwirklichender) Wiedererinnerungen bis zum jeweils aktuellen Wahrnehmungsjetzt hin. Hier überall spielt in diese Möglichkeit hinein das Ich kann und das Ich tue bzw. Ich kann anders als ich tue – im Übrigen unbeschadet der stets offen möglichen Hemmungen dieser wie jeder Freiheit. Die Horizonte sind vorgezeichnete Potentialitäten. Wir sagen auch, man kann jeden Horizont nach dem, was in ihm liegt, befragen, ihn auslegen, enthüllen [differenzieren].»350
Edmund Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität, Zweiter Teil: 1921–1928 (Husserliana XIV) Beilage XXVII (Herbst 1922), S. 218. 349 Edmund Husserl, Phänomenologische Psychologie. Vorlesungen Sommersemester 1924, herausgegeben von Walter Biemel, Husserliana, Band IX, Textkritische Anmerkungen, S. 598/ 599. 350 Edmund Husserl. Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, herausgegeben und eingeleitet von Stefan Strasser, Husserliana, Band I, Martinus Nijhoff, Den Haag 2. Auflage 1963, S. 82. 348
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Im mit Gabelsberger Stenographie geschriebenen sogenannten «Forschungsmanuskript» vom 10. September 1933 scheibt Husserl: «Ich in meiner lebendigen urtümlichen Gegenwart, in meinem aktuellen und potentiellen Geltungsleben. Die ‹Potentialität› ist hier das Problem, nämlich insofern sie selbst Modi hat. Ein anderes Wort ist offenbar unsere Rede von Horizonten, was eingeht in die jeweiligen Apperzeptionen. Diese als solche haben ihre verschiedenen Modi – ihre verschiedene Horizonthaftigkeit, ihre verschieden geweckte Potentialität. – Was im Horizont ist, hat ‹Zugänglichkeit›, es ist ein Zugangshorizont und hat als praktischer seine vom Jetzt aus vorgezeichnete praktische Möglichkeit und Unmöglichkeit. Alle Apperzeptionen, alle Horizonte haben aber ihre universale Einheit in einer universalen Apperzeption in der Jeweiligkeit des Jetzt. Wichtig ist das System der Schichtungen und Mittelbarkeiten in der Horizonthaftigkeit und Zugänglichkeit, die Fundierung der mittelbaren Horizonte im jeweiligen Jetzt – alle in gewisser Weise aktuell, sofern eben die jetzt in Funktion stehende Apperzeption […] lebendig und in gewisser Weise bewusstseinsmässig den ganzen Horizont umfasst.»351
d) Ist jedes erscheinende Ding (Phänomen) mit jedem [Aussenhoriont] Horizont verträglich und verbindbar, der zu einem beliebigen anderen Phänomen gehört?
In einem sogenannten Forschungsmanuskript (publiziert) aus dem Jahre 1921, das Husserl in Gabelsberger Stenographie nur für sich selbst geschrieben hat, notiert er: «Zu einem Phänomen gehört sein Horizont (und jedes erscheinend anschaulich vorgestellte hat seinen anschaulichen Horizont). Wenn ich das [differenziert] Erscheinende umfingiere, so bleibt – da entspringt eben Täuschung – der [verworren bewusste] Horizont als ‹Hof› des Phänomens unmodifiziert [bestehen]; das leere [verworrene] Horizontbewusstsein braucht jedenfalls keine Änderung zu erfahren. Also scheint jedes Phänomen mit jedem Horizont verträglich und verbindbar zu sein, der zu einem beliebigen anderen Phänomen gehört, das mit jenem [Phänomen] in Einheit eines Widerstreites treten kann (in Form möglicher Umfiktion). Das kann aber unmöglich gelten. Zur Lösung gehört wohl dies: Das Umfingierte, das ist das durch Überdeckung mit Fiktion Verdeckte; es ist aber bewusstseinsmässig nicht verschwunden, sondern eben da in verdeckter [und dadurch verworrener] Form und trägt als das weiter seinen Horizont. Und nur dadurch hat das Überdeckende, das sich seinem Identitätspunkt, seinem Substrat nach im Widerstreit doch mit dem überdeckenden identifiziert, numerisch einigt, diesen Horizont als acquirierten [erworbenen]. Es ist in Wahrheit nicht sein eigener Horizont. Einen solchen hat es auch. Warum aber werden die Doppelheit der Horizonte und ihr Widerstreit nicht merklich? Es ist hier empfindlich, dass die fundamentale Theorie der Horizonte sorgfältig ausgebildet werden muss, und das in Zusammenhang mit der Lehre der dunklen (leeren) [verworrenen] ‹Vorstellungen›. Der Horizont ist nicht eigentlich selbst eine Leervorstellung [verworrene Vorstellung], aus ihm hebt sich eine solche [Leervorstellung] heraus, in 351
Ms. B I 10, S. 46 b (10. September 1933) im Husserl-Archiv Leuven.
§ 46. Verworrene und differenzierte, dunkle und anschauliche Perzeptionen
ihm kommt eine solche zur Weckung […]. Ein Leerhorizont ist aber kein für sich geschlossenes und bestimmtes Bewusstsein von einem seinerseits unbestimmt [verworren] oder bestimmt [differenziert] vorstelligen Gegenständlichen, es ist ein einer Vorstellung anhaftender Bewusstseinsmodus, der den Charakter der Potentialität für eine Mannigfaltigkeit von zu ihm gehörigem Sonderbewusstsein, von abgegrenzten intentionalen Erlebnissen hat, die in synthetisch einheitlicher Beziehung zum schon vorstellungsmässig Aktuellen der jeweiligen Leervorstellung [verworrenen Vorstellung] oder anschaulichen [differenzierten] Vorstellung stehen. Ein Widerstreitbewusstsein ist erst möglich, wo sich Vorstellung gegen Vorstellung stellt, wo innerhalb eines Bewusstseinshorizontes oder eines vollständigen Bewusstseins, in dem ein anschauliches [differenziertes] Vorstellen etabliert ist und aus dem Leerhorizont ein unanschauliches [verworrenes] zur Aktualisierung [Differenzierung] gekommen ist, Anschauliches [Differenziertes] und Unanschauliches [Verworrenes], in anderen Fällen Unanschauliches [Verworrenes] und Unanschauliches [Verworrenes], zur Deckung im Widerstreit kommen. Unexplizierte Horizonte streiten nicht, scheiden sich gar nicht, fliessen ineinander, ohne doch zu einem wirklichen Horizont zusammenzufliessen. In eine Wiedererinnerung können andere Wiedererinnerungen hineinscheinen, vermöge einer Assoziation zur Einheit kommen und einen quasi-Horizont ergeben für eine vermischte Wiedererinnerung. Aber er heisst ein quasi-Horizont, weil er eine Einheit der Potentialität von Vorstellungen derart darstellt, dass die Aktualisierung in Vorstellungen zu Unzusammengehörigkeiten, zu Sprengungen der scheinbaren Einheit der Wiedererinnerung führt, zu Vorstellungen, die jenen Horizont als eine Verschmelzung unzusammengehöriger Horizonte erkennen lassen. Das muss aber sorgfältiger und reinlicher geklärt werden.»352
e) Der Urhorizont als Voraussetzung aller Konstitution
In einem publizierten Forschungsmanuskript aus dem Juli 1935 schreibt Husserl: «Der erste Aktus [des frühkindlichen Bewusstseins] – Was ist seine ‹Unterlage›? Das Ich hat schon den ‹Welthorizont› – den uranfänglichen Horizont, in dem der menschliche Welthorizont implizit geboren wird, so wie im Uranfang der Zeitigung der Zeitigungshorizont schon impliziert ist, als Zeitigung, in der immer wieder neue Zeitigung impliziert liegt und so alles in allem an sich Früherem an seiner Stelle impliziert ist. Der Urhorizont, die Erbmasse ist in ihrem Ursinn Leerhorizont [verworrener Horizont]. Die erste Hyle, das erst Affizierende, wird zum ersten Erfassten; in erster Zuwendung ist es erstes Thema als erst Erfüllendes [Differenzierendes]. Das Ich vor diesem Erwachen, das Vor-Ich, das noch nicht lebendige [= noch nicht geborene], hat doch in seiner Weise schon Welt, in der Vor-Weise, seine inaktuelle Welt, ‹in› der es unlebendig [noch nicht geboren] ist, für die es nicht wach ist. Es wird affiziert, es bekommt erste Hyle als erste Fülle [Differenzierung], ersten Anteil an der Welt der wachen, der lebendigen [schon geborenen] Ichsubjekte […]»353
Edmund Husserl, Zur Phänomenologe der Intersubjektivität, Texte aus dem Nachlass, Husserliana, Band XIV, herausgegeben von Iso Kern, Beilage XX (1921), S. 150/151. 353 Edmund Husserl, Zur Phänomenologie. der Intersubjektivität. Dritter Teil: 1929–1935, herausgegeben von Iso Kern, Husserliana, Band XV) Beilage XLV (Juli 1935), S. 604.
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§ 47. Husserl legt die phänomenologischen Grundlagen der ersten Stufe der Einfühlung. In dieser Stufe erscheinen mir von meinem jeweiligen leiblichen Wahrnehmungsgesichtspunkt aus in meinem eigenen sinnlich-leiblich wahrgenommenen Bewegungsraum sinnlich-leiblich wahrgenommene andere sich selbst bewegende Tiere und Menschen als sinnlich-leiblich etwas wahrnehmend und mit etwas leiblich tätig. Leibniz spricht nur vom Gesichtspunkt der Monade und spricht von einer von Gott präetablierten Harmonie von Seele und Leib, wie wenn Seele und Leib im sinnlich-leiblichen Wahrnehmen (Betasten, Beriechen, Schmecken, Sehen und Hören von etwas) zwei verschiedene Dinge wären Ich habe oben im § 4 («Die erste Stufe der Einfühlung») der vorliegenden Studie ausgeführt, dass Husserls phänomenologische Analyse der Konstitution des subjektiv wahrgenommenen Raumes als Raum meiner eigenen Bewegungen, als «Spielraum» meines eigenen motorischen Tuns, in seinen Vorlesungen «Einführung in die Philosophie» vom Wintersemester 1926 (Husserliana, Band XIV, Texte Nr. 20–37 mit ihren Beilagen) alle Grundlagen liefert, um das unmittelbare Wahrnehmen eines sich im Raum bewegenden Menschen oder Tieres als einen lebendig sich selbst bewegenden wahrnehmenden Leib phänomenologisch verstehen zu können. Ich habe aufgrund dieser Husserl’schen Grundlagen auch geschrieben, dass das durch seine verschiedenen Sinne Gegenwärtiges wahrnehmende Subjekt der wahrnehmende subjektive Leib ist, und das heisst eo ipso: der beseelte Leib als eine seelisch-leibliche Einheit. Deshalb habe ich in jenem § 4 auch betont, dass eine Cartesianische substanzielle Trennung zwischen Seele (res cogitans, «denkender Sache») und Leib (res extensa, «ausgedehnter Sache») den phänomenologisch zu analysierenden Phänomenen der sinnlich-leiblichen Wahrnehmung von Gegenwärtigem nicht entspricht und es auch nicht richtig ist, hier von einer von Gott präetablierten Harmonie zwischen wahrnehmender Seelenmonade und ihrem Leib als den ihr untergeordneten Monaden zu sprechen, wie dies Leibniz tut. Denn eine solche Harmonie setzt immer noch eine Zweiheit von Seele und Leib in der sinnlichen Wahrnehmung voraus. Ich möchte dies im Folgenden etwas genauer ausführen. Leibniz vertritt einen psychophysischen Parallelismus in der sinnlichen Wahrnehmung von etwas Gegenwärtigem oder bei gegenwärtigen Leibesempfin-
§ 47. Sinnlich-leibliche Wahrnehmung
dungen, die durch äussere Geschehnisse verursacht werden. Die uns differenziertere Perzeptionen gebenden Tätigkeiten (actions), von denen Leibniz in den sinnlichen Wahrnehmungen (sensations) spricht, können vom Gesichtspunkt von Husserls Phänomenologie der sinnlichen Wahrnehmung nur als ein leibliches Auskundschaften, näher Kennenlernen verstanden werden; z. B. als ein Auskundschaften, näher Kennenlernen eines räumlichen festen Dinges durch das aktive, d. h. sich bewegende Betasten durch die eigenen Finger, evtl. mit ausgestreckten Armen. Analog muss von diesem phänomenologischen Gesichtspunkt das visuelle Wahrnehmen von im gegenwärtigen Raum sich befindlichen Dingen durch das sich bewegende Herumblicken mit den eigenen Augen, evtl. noch durch ein um dieses Ding Herumgehen mit den eigenen Beinen und dem eigenen ganzen Leib begriffen werden; oder im Bereich des Riechens als ein Auskundschaften durch ein Beriechen eines festen oder flüssigen Raumdinges, indem man dieses Ding mit den eigenen Händen näher zu seiner Nase bringt oder durch Sich-Bewegen mit seinem Kopf und Rumpf oder durch Bewegen seines ganzen subjektiven selbstbeweglichen Leibes die Nase näher zum zu beriechenden Raumding bringt. Oder im auditiven Bereich sind die entsprechenden Tätigkeiten in den sinnlichen Wahrnehmungen (sensations) analog zu verstehen als ein Hören durch Sich-Zuwenden mit dem eigenen Kopf und dessen Ohren oder als ein der Schallquelle sich leiblich mit seinem ganzen Leib gehend Annähern, wenn man dort, wo man steht, nicht schon differenziert genug hört, was man genauer hören will. Usw. Also sind die Tätigkeiten (actions) in den sinnlichen Wahrnehmungen (sensations), die uns differenziertere Perzeptionen geben, nicht Sache unserer Seelenmonade, auch nicht Sache unseres Leibes allein, sondern sind seelisch-leibliche Tätigkeiten in Einheit. In diesen Tätigkeiten besteht kein Parallelismus, keine präetablierte Harmonie, keine Beziehung der Repräsentation zwischen seelischen und leiblichen Abläufen, sondern Seele und Leib sind in diesen Wahrnehmungstätigkeiten eins. Allerdings muss der Leib verstanden werden als subjektiver Leib, der trotz seines Sich-Bewegens immer im Nullpunkt der Wahrnehmungsorientierung ist (im «absoluten» Hier); er darf nicht als objektiver, dort im Aussenraum sich befindlicher Körper verstanden werden, den das wahrnehmende Subjekt von hier aus dort sieht, und er darf auch nicht verstanden werden als der Körper, den die anderen monadischen Subjekte sehen, wenn sie vom ihrem Hier aus auf mich blicken, und auch nicht als der Körper, den ich «mit den Augen der anderen» sehe, wenn ich mir vorstelle (vergegenwärtige), wie ich für sie aussehe. Auch im Beispiel Leibnizens vom Menschen, der mit Lust eine Süssigkeit isst und plötzlich von einem Insekt gestochen wird, sodass seine Seele abrupt von Lust zu Schmerz wechselt, kann vom Gesichtspunkt der Husserl’schen Phänomenologie des sinnlichen Wahrnehmens von etwas nicht davon gesprochen werden, dass das, was in der Seele vor sich geht, das repräsentiert oder parallel mit dem abläuft, was sich an ihrem Leib abgespielt hat. Denn dieser Mensch empfand zu-
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erst durch sein leibliches Essen einer Süssigkeit Lust in seinem Gaumen und an seiner Zunge und dann durch den Insektenstich plötzlich Schmerz in oder an seiner Hand, also in Teilen seines subjektiven Leibes. Der Schmerz repräsentiert nur dann etwas anderes, wenn die von einem Insekt gestochene Hand nur von aussen gesehen oder vorgestellt wird als Teil eines von aussen gesehenen objektiven Körpers, in dem man selbst keine Empfindungen von Lust und Schmerz haben kann. Doch dieser Körper ist nicht der eigene subjektive Leib, so wie er vom Menschen unmittelbar erfahren wird. Was Leibnizens psychophysischen Parallelismus in kulturellen Tätigkeiten betrifft, ist vom phänomenologischen Gesichtspunkt Husserl zu fragen: Wenn ein Mensch ein Lied oder eine Arie aufgrund einer Partitur singt, singt da seine Seele oder sein Leib? Und die Antwort ist: Ein guter Sänger oder eine gute Sängerin singt mit ganzer Seele und ganzem Leib in Einheit. Nicht nur ihre Kehle singt, oder die Luft aus der Lunge, die durch ihre Kehle aus- und einströmt, sondern ihre Brust, ihre Hände und Arme, der ganze Leib singt, wenn sie mit ganzer Seele singt. Ich erinnere mich an die Sopranistin Edith Mathis (geboren 1938) aus Luzern, bei der mir schon vor vielen Jahren in einem Konzert aufgefallen war, dass beim Singen ihr ganzer klein gewachsener Leib vibrierte wie bei einem laut singenden kleinen Vogel. Zum Singen eines Liedes oder einer Arie mit Partitur gehört nicht nur das soeben beschriebene seelisch-leiblich einheitliche Tun, sondern es gehört dazu auch das Verstehen der Noten der Partitur und das Verstehen des zu singenden Textes. Dieses Verstehen ist keine leib-seelische, sondern eine Verstandesleistung. Diese Verstandesleistung ist keine blosse Verstandesleistung, unter der ich phänomenologisch eine blosse Vergegenwärtigung von Nichtgegenwärtigem verstehe, z. B. eine Erinnerung an etwas selbst erlebtes Vergangenes. Sondern zum Verstehen der Noten der Partitur und zum Verstehen des zu singenden Textes gehört auch das sinnlich-leibliche Sehen der Musiknoten und des zu singenden Textes. Dieses Singen eines Liedes oder einer Arie ist also ein Verstehen, das im Sinnlich-Leiblichen verkörpert oder instituiert ist. Es ist damit eine Kulturleistung.354 Das richtige Verständnis des Verhältnisses von Seele und Leib ist deshalb grundlegend für das Verständnis der Intersubjektivität zwischen den seelischen und geistigen Monaden, weil wir Tiere und andere Menschen nur dadurch als andere Subjekte verstehen und mit ihnen irgendwelche intersubjektiven Beziehungen aufnehmen können, wenn wir selbst und auch sie leibliche Wesen sind. Wir müssen als leibliche Wesen sie als leibliche Wesen mit unseren Augen sehen 354 Genaueres siehe in Iso Kern, Idee und Methode der Philosophie. Leitgedanken für eine Theorie der Vernunft, Walter de Gruyter, Berlin, New York 1975, II. Abschnitt («Vernunft und Sinnlichkeit»), 3. Kapitel («Die Gestaltung der Sinnlichkeit durch den Verstand: die Vernunft, die Kultur»), S. 158–233.
§ 47. Sinnlich-leibliche Wahrnehmung
oder mit unseren Ohren hören oder mit unseren Händen betasten, um mit ihnen irgendwelche intersubjektiven Beziehung aufnehmen zu können. Und auch sie selbst müssen uns als leibliche Wesen sehen, hören, riechen oder irgendwie sonst sinnlich wahrnehmen, um mit uns in einen intersubjektiven Kontakt treten zu können. Mit leiblosen reinen endlichen Geistern, die es nach Leibniz nicht geben kann und auch vom Gesichtspunkt der Husserl’schen Phänomenologie nicht gibt, könnten wir, wenn es sie gäbe, ebenso wenig wie mit blossen festen oder flüssigen Raumkörpern, wie Steinen und Wasserläufen, intersubjektive Beziehungen aufbauen. Wie es mit den Pflanzen steht, die leben und nach aristotelischer Lehre wie auch nach derjenigen von Leibniz eine vegetative Seele haben, davon möchte ich in diesem Zusammenhang absehen. Leibniz sieht allerdings das sinnlich wahrnehmbare, phänomenale Körperliche der sich verhaltenden Tiere und der wachsenden, Blüten und Früchte hervorbringenden Pflanzen, denen beiden er Seelen zuspricht, bloss mechanistisch. Ein solches Körperliches kann nicht zu intersubjektiven Beziehungen dienen, denn mit einer Maschine können wir keine intersubjektiven Beziehungen aufnehmen. Leibniz sagt im zweiten Buch seiner Nouveaux Essais sur l’entendement, 9. Kapitel, § 11: «Ich neige wegen der grossen Analogie zwischen den Pflanzen und den Tieren zum Glauben, dass es irgendwelche Perzeption und Appetition auch in den Pflanzen gibt; und wenn es eine vegetative Seele gibt (âme végétable), wie dies die allgemeine Meinung ist, muss es auch Perzeption geben. Doch ich lasse nicht davon ab, alles was in den Körpern der Tiere und der Pflanzen geschieht, dem Mechanismus zuzuschreiben, ausgenommen ihre erste Bildung (Cependant je ne laisse pas d’attribuer au mechanisme tout ce qui se fait dans les corps des plantes et des animaux, exepté leur première formation). So bleibe ich damit einverstanden, dass die Bewegung der Pflanze […] vom Mechanismus herkommt, und ich billige nicht, dass man auf die Seele rekurriert, wenn es sich darum handelt, die Einzelheiten der Phänomene der Pflanzen und Tiere zu erklären.»
Mit anderen Menschen als geistigen Wesen können wir in intersubjektiver Zusammenarbeit nur Werke der materiellen und geistigen Kultur hervorbringen, wenn wir miteinander sprechen und einander mit unseren Ohren hören, oder, wenn unser intersubjektiver Kontakt schriftlich geschieht, mit unseren Augen lesen können, was wir einander geschrieben haben. Und Analoges ist der Fall, wenn wir z. B. zusammen ein Haus bauen, wenn wir nach intersubjektiver Verabredung gemeinsam Hand anlegen, um einen gemeinsames Werk zustande zu bringen. Das alles ist nur möglich, wenn wir leibliche Wesen sind. Durch das in diesem Paragraphen Ausgeführte ist die Monadologie Leibnizens zu korrigieren.
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§ 48. Nach Husserl haben die Monaden «Fenster», nach Leibniz nicht Ich habe oben im § 39 folgenden Text Husserls aus dem Jahre 1921 zitiert. Er schrieb in ihm zuerst gegen Leibniz: «Die Monaden haben Fenster [zu anderen Monaden].» Aber er erklärte diese Aussage zunächst einmal in einer Weise, durch die sie mit Leibnizens Sicht übereinstimmt: «Jedes Ich ist eine Monade. Aber die Monaden haben Fenster. Sie haben insofern keine Fenster oder Türen, als kein anderes Subjekt reell [in sie] eintreten kann, aber durch die hindurch es [das andere Subjekt] (die Fenster sind die Einfühlungen) so gut erfahren sein kann wie vergangene eigene Erlebnisse durch Wiedererinnerung. Dadurch erwächst aber nicht nur in jeder der einfühlenden Monaden ein neues Erlebnis und ein erfahrendes neues Meinen von Rechtscharakter.»355
In Texten, die ich oben im § 5 zitiert habe, erklärt Husserl aber auch, warum die in der Einfühlung erfahrenen Erlebnisse nicht wie in der Wiedererinnerung eigene, sondern fremde Erlebnisse sind.
§ 49. Husserl reflektiert auf die Kommunikation der menschlichen Monaden durch Ausdrucksbewegungen mit tierischen Monaden und auf die Kommunikation durch Ausdrucksbewegungen sowie durch die spezifisch menschliche logische Sprache mit anderen menschlichen Monaden, was Leibniz nicht tut Ich verweise hier auf den oben stehenden § 15 («Die Person im Personenverband»), § 16 («Husserls phänomenologische Darstellung der reziproken Einfühlung in ein Du (die Beziehung Angesicht zu Angesicht), seine Analyse der intentionalen Akte des sich an andere Wendens in Akten des auf Gegenwärtiges Zeigens, des etwas Gegenwärtiges Ausdrückens und des deskriptiven Mitteilens von etwas Abwesendem»), § 17 («Die Gemeinschaft in der Kommunikation durch Akte des Sprechens und Verstehens des Gesprochenen») und § 34 («Die Einfühlung in Kinder und Tiere und in ihre Welten durch Interpretation aufgrund von ‹Abbau› der Genesis der Naturerfahrung. Der Unterschied zwischen der Erfahrung der Natur und dem interpretierenden Verstehen der Naturerfahrung anderer Subjekte. Das Problem der Kommunikation mit Tieren und der Interpretation der Kommunikation zwischen Tieren»). 355
Husserliana, Band XIV, S. 260.
§ 52. Husserls Monadologie ist intersubjektiv, Leibnizens nicht
§ 50. Husserl reflektiert auch auf die praktische Zusammenarbeit mit anderen menschlichen Monaden und auf die damit verbundenen gemeinsamen Zwecke und gemeinsam verwendeten Mittel, was Leibniz nicht tut Ich verweise hier auf den § 20 («Gemeinschaft des praktischen Willens»). Leibnizens Monadologie ist durch diese Gedanken Husserls zu ergänzen.
§ 51. Husserl reflektiert darauf, wie ich mit anderen menschlichen Monaden mehr oder weniger beständige Gemeinschaften wie Vereine und Gesellschaften wie unseren Staat bilde, welche den Charakter von Personalitäten höherer Ordnung besitzen. Darauf reflektiert Leibniz nicht Ich verweise hier auf den § 31 («Personale Einheiten höherer Ordnung» mit seinen sechs Abschnitten: a) («Gemeinsame Leistungen mit einem gemeinsamen Willen»), b) («Gemeinsame Leistungen ohne einen gemeinsamen Willen»), c) («Konstitution personaler Einheiten höherer Ordnung»), d) («Zwei Arten von durch den Willen eines anderen hindurchgehenden Handlungen»), e) («Die Konstitution einer gemeinsamen Welt sinnlicher Erfahrung und die Konstitution einer gemeinsamen personalen Kulturwelt», f) («Kommunikative Vielheit von Personen als Substrat von gemeinsamen Handlungen und von gemeinsamen Leistungen. Der ‹Gemeingeist›»). Auch durch diese Analysen Husserls ist die Monadologie Leibnizens zu bereichern.
§ 52. Husserls Monadologie ist intersubjektiv, diejenige von Leibniz nicht Was in diesem Titel steht, ist eine Zusammenfassung der voranstehenden §§ 47 bis 51: Nicht nur hat jede menschliche Monade vom intentionalen Erleben der anderen tierischen und menschlichen Monaden durch die drei verschiedenen Stufen der Einfühlung Erfahrungen, sondern durch die sozialen Akte wirkt sie auch mit ihnen zusammen in der gemeinsamen intersubjektiven Welt.
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§ 53. Für Husserl ist die Geschichte der Menscheit teleologisch, Leibniz diskutiert diese Frage nicht Husserl spricht von einer teleologischen Entwicklung der menschlichen Monaden durch die Menschheitsgeschichte mit dem Ziel der Liebe, während Leibniz dies nicht tut. Ich verweise dafür auf den § 40 («Die Teleologie der Entwicklung der Monaden. Liebe als Ziel (Telos) dieser Entwicklung»). Durch das oben in den sechs §§ 47 bis 52 Genannte ist die Monadologie Leibnizens durch diejenige Husserls zu korrigieren oder zu ergänzen. Doch Husserls Monadologie ist umgekehrt auch durch die Monadologie Leibnizens zu ergänzen, worauf ich schon im § 43 hingewiesen und in den folgenden §§ 54 bis 56 verdeutlichen möchte.
§ 54. Leibniz stellt in seiner Monadologie die radikalste Frage der Metaphysik: «Warum gibt es eher etwas als vielmehr nicht nichts» ( pourquoi il y a plutôt quelque chose que rien ), und entwickelt aufgrund dieser Frage einen Gottesbeweis. Husserls Monadologie stellt diese Frage nicht, aber er gibt Hinweise auf einen Gotteserweis Durch diese im obigen Titel genannte radikalste Frage der Metaphysik ist die monadologische Metaphysik Husserls zu ergänzen. Ich verweise dazu auf den Paragraphen 43 («Husserl lässt es beim faktischen Ich, seinen anderen faktischen Ich und der gemeinsamen faktischen Welt bewenden, während Leibniz nach dem ausreichenden Grund fragt, warum solche Fakten existieren und nicht vielmehr nicht existieren. Die Notwendigkeit einer Annahme Gottes bei Leibniz und bei Husserl»). Husserl gibt keinen Gottesbeweis. Aber in welcher Richtung könnte er liegen? Er schrieb im oben im § 39 zitierten Brief vom 3. Juni 1932 an seinen Freund, den Mathematiker und Physiker Gustav Albrecht, dass das «Sein Gottes Prinzip der teleologischen Entwicklung» der Monaden sei. Ich zitiere nochmals den engeren Kontext dieser Aussage: «Die höchstgelegenen aller Fragen […] sind aber die metaphysischen; sie betreffen Geburt und Tod, letztes Sein des ‹Ich› und des als Menschheit objektivierten Wir, die Teleologie, die letztlich zurückführt in die transzendentale Subjektivität und ihre Historizität, und natürlich als Oberstes: das Sein Gottes als das Prinzip dieser Teleologie und der Sinn dieses Seins gegenüber dem Sein des ersten Absoluten, dem Sein meines transzendentalen Ich und der sich in mir erschliessenden transzendentalen Allsubjektivität – der wahren Stätte göttlichen ‹Wirkens›.»
§ 55. Macht und Ohnmacht
Gott als Prinzip der teleologischen Entwicklung der menschlichen Monaden ist also nicht das Telos dieser Entwicklung, welches vielmehr die wahre Liebe zwischen menschlichen Monaden ist, sondern das, was in dieser teleologischen Entwicklung als «in seiner wahren Stätte wirkt». Nach Husserl wirkt also Gott so, dass er, mit Leibniz gesprochen, der «ausreichende Grund» dafür ist, dass menschliche Monaden sich teleologisch zur gegenseitigen echten Liebe hin entwickeln. Oder einfacher ausgedrückt, er bewirkt, dass Menschen sich immer vollkommener lieben. Leibnizens Gottesbeweis und Husserls phänomenologisch fundierter Gotteserweis können einander fruchtbar ergänzen.
§ 55. Nach Leibniz bedeuten differenzierte Perzeptionen Macht ( puissance ) und Herrschaft ( empire ), verworrene Perzeptionen bedeuten Ohnmacht ( impuissance, étourdissement, évanouissement ) und Knechtschaft ( esclavage ). Die Differenziertheit und Verworrenheit der Perzeptionen einer monadischen Seele repräsentieren nach Leibniz die Differenziertheit und Undifferenziertheit der Organe ihres eigenen Leibkörpers. Husserl spricht in seiner phänomenologisch begründeten Monadologie nicht von Machtverhältnissen Im § 15 seines Discours de métaphysique (1686) schreibt Leibniz: «[…] wenn sie [eine einfache Substanz, Monade] tätig ist /wirkt (agit), ändert sie sich zum Besseren (change en mieux) und erweitert sich (s’étend), insofern sie wirkt. Wenn also eine Veränderung eintrifft, von der mehrere Substanzen betroffen sind (sont affectées) (da in Wirklichkeit jede Veränderung alle berührt: comme en effet tout changement les touche toutes), glaube ich sagen zu können, dass diejenige, die dadurch unmittelbar zu einem höheren Grad an Vollkommenheit oder zu einem vollkommeneren Ausdruck (ou à une expression plus parfaite) [der anderen Substanzen] übergeht, ihre Macht [auf sie] ausübt (exerce sa puissance) und wirkt (agit) und dass diejenige, welche zu einem niedrigen Grad übergeht, ihre Schwäche (faiblesse) erkennen lässt und leidet (pâtit). Auch halte ich dafür, dass jede Tätigkeit (action) einer Substanz, welche Perzeption hat, eine gewisse Wollust mit sich führt (importe quelque volupté), und jedes Leiden (passion) einen gewissen Schmerz […].»
Und im § 64 des ersten Teils seiner Essais de Théodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme et de l’origine du mal (1710) schreibt er: «[…] Es gibt in ihr [in der Seele] nicht nur einen Bereich (un ordre) von differenzierten Perzeptio-
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nen, die ihre Herrschaft ausmacht (qui fait son empire), sondern auch eine Folge (suite) von verworrenen Perzeptionen oder Leiden (ou de passions), welche ihre Knechtschaft ausmacht (qui fait son esclavage).» Die Tätigkeit im Sinne der Differenziertes oder Abgehobenes zur Erscheinung bringenden und dadurch Macht oder Herrschaft ausübenden Perzeption bringt Leibniz in direkten Zusammenhang mit dem Leib der Monade. Er schreibt im § 4 seiner Principes de la nature et de la grâce fondés en raison (1714): «[…] es gibt eine Unendlichkeit von [Vollkommenheits‐]Graden in den Monaden. Die einen herrschen mehr oder weniger über die anderen (les unes dominent plus ou moins sur les autres). Aber wenn die Monade so angepasste Organe besitzt, dass es durch sie vermittelt (par leur moyen) Abgehobenes und Unterschiedenes (du relief et du distingué) in den Eindrücken (impressions) gibt, die sie empfängt, und folglich (par conséquant) in den sie repräsentierenden Perzeptionen gibt (wie z. B., wenn durch die Gestalt (figure) der Dünste (humeurs) der Augen die Lichtstrahlen konzentriert werden und kräftiger wirken), so kann sie [die Perzeption] bis zur Auffassung (sentiment) [von etwas als etwas] gehen, d. h. bis zu einer Perzeption, die von Gedächtnis begleitet ist (perception accompagnée de mémoire), d. h. [bis zu einer Perzeption] deren Echo lange bleibt, um sich bei Gelegenheit Gehör zu verschaffen (pour se faire entendre à l’occasion). Ein solches Lebewesen wird Tier (animal) genannt, wie seine Monade Seele genannt wird. Und wenn diese Seele bis zur Vernunft (raison) erhoben wird, […] wird sie zu den Geistern (esprits) gezählt.»
Und im § 25, im reflexiv-phänomenologischen Drittel (§§ 1–30) seiner 90 Paragraphen umfassenden Principes de la philosophie (Monadologie) desselben Jahres 1714, steht: «Wir sehen auch, dass die Natur den Tieren Perzeptionen mit Abhebungen / mit Relief (perceptions relevées) gegeben hat, dass sie dafür gesorgt hat, ihnen Organe zu liefern [nämlich Seh- und Gehörsinn], die mehrere Lichtstrahlen oder mehrere Luftwellen zusammenraffen (ramasser), um durch ihre Vereinigung ihre Wirkung zu steigern. Etwas Annäherndes findet sich im Geruch, im Geschmack und im Tastsinn, und vielleicht in vielen anderen Sinnen, die uns unbekannt sind. Und ich werde bald erklären, wie das, was in der Seele geschieht, das repräsentiert, was in den Organen geschieht.»
Soweit ich sehe, erfolgt diese Erklärung in den §§ 62 und 63: «Obschon jede geschaffene Monade das ganze Universum repräsentiert, repräsentiert sie differenzierter (plus distinctement) den Körper, der ihr besonders zugewiesen ist (le corps qui lui est affecté particulièrement) […]: Und wie dieser Körper das ganze Universum durch die Verknüpfung der ganzen Materie im Vollen ausdrückt (exprime), so repräsentiert die Seele auch das ganze Universum, indem sie diesen Körper repräsentiert, der ihr in besonderer Weise gehört.» (§ 62) «Der Körper, der einer Monade gehört, die […] seine Seele ist, macht […] das aus, was man ein Lebewesen nennen kann (constitue ce qu’on peut appeler un vivant), und zusam-
§ 55. Macht und Ohnmacht
men mit der Seele, was man ein Tier (animal) nennt. Nun ist dieser Körper eines Lebewesens oder eines Tieres immer organisch. Denn da jede Monade, indem sie auf ihre Weise ein Spiegel des Universum ist und indem das Universum in einer vollkommenen Ordnung geregelt ist, ist es notwendig, dass es auch eine Ordnung im Repräsentierenden gibt, d. h. in der Perzeption der Seele, und folglich (par conséquant) im Körper, dem gemäss das Universum repräsentiert ist.» (§ 63)
Also repräsentiert «das, was in der Seele durch ihre Perzeptionen geschieht, das, was in den Organen geschieht» (§ 25), und da der Körper durch seine Organe das Universum repräsentiert (§ 63), repräsentiert die Seele durch ihre Perzeptionen das Universum, indem sie das repräsentiert, was in den Organen ihres Körpers geschieht. Nach Leibniz übt also die differenzierte Monade ihre Macht über die anderen durch den ihr entsprechenden differenzierten Leib aus. «Es gibt in der Seele nicht nur einen Bereich (un ordre) von differenzierten Perzeptionen, die ihre Herrschaft ausmacht (qui fait son empire), sondern auch eine Folge (suite) von verworrenen Perzeptionen oder Leiden (ou de passions), welche ihre Knechtschaft ausmacht (qui fait son esclavage).» Dem Bereich (un ordre) von differenzierten, die Herrschaft der Seele ausmachenden Perzeptionen entspricht ein differenzierter Leib. Leibniz spricht nicht davon, aber es ist eine bekannte Tatsache, dass eine solche herrschende menschliche Seele ihren ihr entsprechenden Leib noch differenzierter und dadurch mächtiger machen kann, dass sie ihn mit Säbeln, Schwertern und Spiessen verlängert; oder dass sie ihren Leib durch einen Pferdeleib vergrössert, indem sie mit ihrem Leib auf ihm sitzt und dadurch die Macht und die Geschwindigkeit eines Kentauren erreicht; oder dass sie mit Steinschleudern, Schiessen von Kanonenkugeln und mit Bombenflugzeugen, durch mit Raketen für Bomben bestückten Schiffen und Unterseeboten usw. die Reichweite ihres Leibes um Tausende von Kilometern vergrössert und damit auch ihre Macht über die Leiber von anderen Seelenmonaden erweitert und sie in Knechtschaft (esclavage) bringt. Und es ist ebenso eine Tatsache, dass diese anderen Monaden ihren Leib in analoger Weise mächtiger machen können und dadurch zwischen den menschlichen Monaden Streit und Krieg um Vormacht entsteht und es nur noch durch ein Gleichgewicht der Mächte zu Frieden kommt. Husserls Teleologie der Entwicklung der menschlichen Monaden mit dem Ziel (Telos) der personalen Liebe ist durch diese Gedanken von Leibniz über ganz andere, nämlich materielle menschliche Entwicklungen zu ergänzen, welche durch die technisch immer grösseren und differenzierteren «Organe» des Leibes immer mehr Machtstreben (appétition de puissance) und Machtgier (appétit de puissance) und Macht hervorbringen, welche andere menschliche Monaden in Machtlosigkeit (impuissance), Betäubung (étourdissement), Ohnmacht (évanouissement) und Knechtschaft (esclavage) stürzen. Sie können aber auch durch
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Niederlagen zur eigenen Ohnmacht führen, oder die mächtig mit technischen Organen aufgerüsteten Gegner können einander in Schach halten.
§ 56. Leibnizens reflexiv-phänomenologisch ausgewiesene metaphysische Lehre von der Kraft fehlt in der Monadologie Husserls Kraft (lateinisch: vis, französisch: force) ist nach Leibniz Bewegung in ihrer Konzentration, und zwar Bewegung in ihrer Ursache oder ihrem Ursprung. Die aus der Substanz hervorgehende oder aus ihr abgeleitete (derivative) Kraft ist der gegenwärtige Zustand der Bewegung, sofern er zu einem folgenden hinstrebt. In seinem Brief an Jacques Lelong vom 5. März 1712 schreibt er: «Unter der Kraft, die ich den Substanzen gebe, verstehe ich nichts anderes als einen Zustand, aus dem ein anderer hervorgeht, wenn nichts ihn verhindert (un état duquel suit un autre, si rien ne l’empêche.»356 In der Kraft hat die Bewegung oder Veränderung ihre Wirklichkeit und überwindet ihre blosse Relativität. Am 4./14. Januar 1688 schrieb Leibniz an Antoine Arnauld: «[…] die Bewegung in sich selbst, von der Kraft getrennt, ist nur etwas Relatives, und man kann ihr Subjekt, in dem sie sich befindet, nicht bestimmen. Aber die Kraft ist etwas Wirkliches und Absolutes (quelque chose de réel et d’absolu), und ihre Berechnung (son calcul) ist von derjenigen der Bewegung verschieden, wie ich klar bewiesen habe. Man muss sich nicht darüber verwundern, dass die Natur dieselbe Quantität der Kraft bewahrt, aber nicht dieselbe Quantität der Bewegung.»357
Einerseits ist nach Leibniz die derivative, von der Substanz abgeleitete Kraft sinnlich wahrnehmbar,358 sie ist auch in den Phänomenen vorzufinden, sie ist etwas Empirisches. Aber sie wird allein durch den Verstand differenziert erfasst359 und ist dadurch nicht mehr Gegenstand der Einbildung (imagination), sondern intelBrief veröffentlicht in André Robinet, Malebranche et Leibniz, Relations personnelles présentées avec les textes complets des auteurs et de leur correspondants, revus, corrigés et inédits, Vrin, Paris 1955, S. 412. 357 Brief vom 4./14. Januar 1688 an Arnauld, Lettres de Leibniz à Arnauld d’après un manuscrit inédit, par Geneviève Lewis, Presses Universitaires de France, Paris 1952. 358 Speculum dynamicum I (1695): «Diese Anstrengung /Kraft kommt allenthalben den Sinnen zu (hic nisus passim sensibus occurrrit) und wird nach meinem Urteil in der Materie eingesehen (intellegitur) auch wo sie den Sinnen nicht erscheint (etiam ubi sensui non patet)». 359 Nouveaux Essais, zweites Buch, Kap. 23, § 28 (?): […] wenn die Macht/Kraft intelligibel ist und differenziert erklärt werden kann (et se peut expliquer distinctement), muss sie den primären Qualitäten zugerechnet werden; aber wenn sie nur sinnlich (sensible) ist und nur eine verworrene Idee gibt, muss man sie unter die sekundären Qualitäten setzen.» 356
§ 56. Leibnizens metaphysische Lehre von der Kraft
ligibel.360 Ihrem Wesen und Ursprung nach ist die Kraft eine metaphysische Wirklichkeit, sie gehört also in den Bereich der Monaden. So verbindet bei Leibniz der Begriff der Kraft den sinnlich wahrnehmbaren physischen Bereich der materiellen Phänomene mit dem intelligiblen Bereich der Metaphysik der geistigen Monaden. Im § 18 seines Discours de Métaphysique (1886) schreibt Leibniz: «Aber die Kraft oder unmittelbare Ursache dieser Veränderungen (la force ou cause prochaine de ces changements [les mouvements]) ist etwas Wirklicheres, und es gibt genügend Grundlage (il y a assez de fondement), um sie eher diesem als einem anderen Körper zu attribuieren; auch ist es nur durch sie, dass man erkennen kann, zu welchem Körper die Bewegung eher gehört.»361
In ihrer Wirklichkeit oder in ihrem Ursprung in der Kraft ist die Bewegung nicht mehr eine bloss relative Veränderung der Lage, sondern es kann in einem absoluten Sinn gesagt werden, dass ein Körper sich bewegt. Mehr noch, es ist vor allem dieser Begriff der Kraft, der von der materiellen Welt der Phänomene zur immateriellen Welt der Monaden hinüberführt. Im ersten mit dem Titel «De principis cognitionis humanae» (Über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis) versehenen Teil seiner um 1700 entstandenen Abhandlung Animadversiones in partem generalem Principiorum Cartesianorum (Bemerkungen zum allgemeinen Teil von Descartes’ Prinzipien [der Philosophie]) schreibt er: «[…] ich halte dafür, dass die mechanischen Prinzipien und die allgemeinen Gesetze der Natur aus höheren Prinzipien entstehen und nicht aus der blossen Betrachtung der Quantität und der geometrischen Dinge erklärt werden können, vielmehr eher, dass etwas Metaphysisches in jenen ist (quin potius aliquid Metaphysicum illis inesse), das unabhänConsiderationes de vi insita in rebus: «Die Kraft ist keine der Einbildung unterworfene Sache (vis non est res imanginationi subjecta), daher darf von ihr keine Erklärung der Imagination gefordert werden, sondern sie ist nur intelligibel (sed tantum intelligibilis), der wir dadurch entsprechen, dass wir den Vernunftgrund angeben (reddendo rationem).» (zitiert bei Wolfgang Janke, Leibniz. Die Emendation der Metaphysik, Philosophische Abhandlung 23, Klostermann, Frankfurt a. M. 1963, S. 248); De ipsa natura sive de vi insita actionibus creaturarum, pro Dynamicis suis confirmandis illustrandisque: «Diese einwohnende Kraft aber kann nämlich differenziert eingesehen, aber nicht durch die Einbildung erklärt werden (haec autem vis insita distincete quidem intellegi potest, sed non explicari imaginabiliter). Und sie darf nicht auf gute Weise (sane) so erklärt werden, nicht mehr als die Natur der Seele. Die Kraft gehört nämlich zur Zahl jener Dinge, die nicht durch die Einbildung, sondern durch den Verstand erlangt wird (est enim vis ex earum rerum numero, quae non imaginatione, sed intellectu attingitur.» 361 Discours de Métaphysique, Commentaire du Discours de Métaphysique de Leibniz, par Pierre Burgelin, Presses Universitaires de France, Paris 1959, S. 40 und S. 221; G. W. Leibniz. Discours de Métaphysique, Edition collationnée avec le text autographe par Henri Lestrinenne, Vrin, Paris 1975, S. 58. 360
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gig von den Begriffen ist, welche die Einbildung (imaginatio) liefert, und das sich auf die Substanz bezieht, die unbeteiligt an der Ausdehnung ist (referendumque ad substantiam extenionis expertem). Denn ausser der Ausdehnung und ihren Variationen befindet sich in der Materie die Kraft selbst oder die Fähigkeit tätig zu sein (vis ipsa seu agendi potentia), welche den Übergang herstellt vom Mathematischen zur Natur, vom Materiellen zum Immateriellen (qui transitum facit a mathematica ad naturam, a materialibus ad immaterialia).»
Die einzelnen Phänomene sind nach Leibniz zwar mechanisch durch Grösse, Figur, Undurchdringlichkeit und Bewegung zu erklären. Aber die Gesetze der Mechanik und Bewegung können nicht durch diese phänomenalen oder materiellen Begriffe begründet werden. Durch sie ist nicht zu erklären, warum jede Veränderung kontinuierlich (per gradus) geschieht, warum keine neue Kraft ohne Verminderung der vorangehenden entsteht, warum in der Wirkung nicht mehr Kraft vorhanden sein kann als in der Ursache usw.362 In seiner Frühschrift Hypothesis physica nova qua phaemenorum naturae plerorumque causae ab unico quodam universali motu in globo nostro supposito, neque Tychonicis neque Copernicanis asperando, repetuntur363 aus dem Jahre 1671 hatte Leibniz versucht, allein aufgrund jener Cartesianischen Körperbegriffe eine Physik zu konstruieren. Doch danach kam er zum Schluss, dass diese Begriffe ohne besonderes Eingreifen Gottes zu einem chaotischen Universum führen. Erst die Entdeckung der vom durch all diese Begriffe Konstruierbaren verschiedenen Idee der Kraft und des Gesetzes ihrer Erhaltung ermöglichte Leibniz eine wissenschaftlich befriedigende Erklärung der Natur. Die Kraft ist nach Leibniz nichts Phänomenales, kein Gebilde der Einbildung (imagination), sondern etwas Metaphysisches. Er sagt im zweiten Buch seiner Nouveaux Essais sur l’entendement: «Die wirklichen Bewegungsgesetze sind aus einer Ursache abgeleitet, die über der Materie steht.»364 Daher ist für ihn die Physik, obschon sie die Phänomene mechanisch zu erklären hat, «eine Verbindung der Metaphysik mit der Mathematik» (combinatio metaphysicae cum mathesi). Dass die Kraft nach Leibniz nichts Phänomenales, kein Gebilde der Einbildung (imagination), sondern etwas Metaphysisches ist, möchte ich im Folgenden mit fünf Texten aus der Zeit vom Jahre 1686 bis zum Jahre 1712 belegen, wobei ich sie in chronologischer Reihenfolge anführe: Erster Text: In seinem Brief vom 28. November / 8. Dezember 1686 schrieb Leibniz an Antoine Arnauld:
Siehe Specimen dyamicum I (1705). Hypothesis physica nova qua phaemenorum naturae plerorumque causae ab unico quodam universali motu in globo nostro supposito, neque Tychonicis neque Copernicanis asperando. 364 Nouveaux Essais, Zweites Buch, Kap. 23, § 28.
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§ 56. Leibnizens metaphysische Lehre von der Kraft
«Alle Phänomene der Körper können wie Maschinen oder durch die Philosophie der kleinsten Körper erklärt werden (tous les phénomènes des corps peuvent être expliqués machinalement ou par la philosophie corpusculaire) gemäss gewissen mechanischen Prinzipien, die gesetzt werden, ohne dass man sich darum bekümmert, ob es Seelen gibt oder nicht. Aber in letzter Analyse der Prinzipien der Physik und der Mechanik selbst findet es sich, dass man diese Prinzipen nicht durch die blossen Modifikationen des Ausgedehnten erklären kann, und die Natur der Kraft fordert schon etwas anderes (la nature de la force demande déjà quelque autre chose).»365
D. h., sie fordert etwas Metaphysisches, Immaterielles. Zweiter Text: Im ersten Entwurf seines Système nouveau pour expliquer la nature des substances et leur communication entre elles, aussi bien que l’union de l’âme et du corps (1695) schreibt Leibniz: «[…] nach meiner Meinung geschieht in der Natur alles mechanisch, und um einen genauen und vollständigen Vernunftgrund irgendeines einzelnen Phänomens zu geben (wie z. B. des Gewichts oder der Elastizität: de la pesanteur et du ressort par exemple), genügt es, nur die Figur und die Bewegung (la figure et le mouvement) zu brauchen. Aber die Prinzipien selbst der Mechanik und der Bewegungsgesetze entstehen meines Erachtens aus etwas Höherem, das eher von der Metaphysik als von der Geometrie abhängt und das die Einbildung (imagination) nicht erreichen kann, obschon der Geist es sehr gut erfassen kann (quoique l’esprit le conçoit fort bien). So finde ich, dass man in der Natur ausser des Begriffs der Ausdehnung denjenigen der Kraft gebrauchen muss, welche die Materie der Tätigkeit und des Widerstandes fähig macht (la force qui rend la matière capable d’agir et de résister).»366
Dritter Text: In seinem Brief an den Basler Mathematiker Johann Bernoulli (1667–1748) vom 22. August 1698 schrieb Leibniz: «Was die Natur des Körpers anbetrifft, habe ich immer gesagt (was du nicht zu missbilligen scheinst), dass alle Phänomene der Körper (omnia phaenomena in corporibus) mechanisch (mechanice) erklärt werden können, sogar die elastische Kraft (adeoque vim elasticam); dass indessen aber die mechanischen Prinzipien oder das Gesetz der Bewegung aus der blossen Betrachtung der Ausdehnung und der Undurchdringlichkeit (impenetrabilitatis) nicht abgeleitet werden können, so dass etwas anderes im Körper aufgestellt werden muss (statuendum est), aus dessen Modifikationen die Tendenzen und Antriebe (conatus et impetus) entstehen, wie aus der Modifikation der Ausdehnung die Formen (figurae).»367
365 Brief vom 28. November / 8. Dezember 1686 an Arnauld, Lettres de Leibniz à Arnauld d’après un manuscrit inédit par Geneviève Lewis, Presses Universitaires de France, Paris 1952, S. 56/57. 366 Système nouveau pour expliquer la nature des substances et leur communication entre elles, aussi bien que l’union de l’âme et du corps, Erster Entwurf. 367 Brief an Bernoulli vom 22. August 1698.
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Vierter Text: Im zweiten Buch seiner Nouveaux Essais sur l’entendement (1701– 1709) sagt er: «Es ist wahr, dass die wahren Gesetze der Bewegung von einer über der Materie stehenden Ursache abgeleitet sind (il est vrai, que les véritables lois de la matière sont dérivées d’une cause supérieure à la matière).»368 Fünfter Text: In seiner Réponse aux réflexions contenues dans la seconde édition du Dictionnaire Critique de M. Bayle, article Rorarius, sur le système de l’Harmonie préétablie (1712) schreibt er: «[…] ich habe oft gezeigt, dass in den Körpern selbst, obschon die Einzelheiten (le détail) der Phänomene mechanische Gründe haben (raisons mécaniques), die letzte Analyse der mechanischen Gesetze und die Natur der Substanzen uns schliesslich verpflichtet, auf aktive unteilbare Prinzipien zu rekurrieren (nous oblige enfin de recourir aux principes actifs indivisibles)».369
Dass die den Gesetzen der Bewegung und Mechanik zugrunde liegende Kraft metaphysischer oder geistiger Natur ist, zeigt sich nach Leibniz auch darin, dass diese Gesetze nicht die «blinde» und absolute Notwendigkeit der Geometrie oder Logik besitzen, sondern vom Grundgesetz der metaphysischen Wirklichkeit, von der Finalität (Zweckmässigkeit) bestimmt sind. Die physische Gesetzlichkeit oder Notwendigkeit hat ihre Grundlage in einer geistigen oder moralischen Notwendigkeit, d. h. in der Wahl durch die vollkommene Weisheit (= Gott). Letztlich führt Leibniz dies alles auf seinen Satz vom ausreichenden Vernunftgrund zurück (principe de la raison suffisante). Ich belege dies mit folgenden sechs Zitaten, die ich wiederum chronologisch anordne. Erster Text: Im § 4 seiner aus der Zeit um 1700 stammenden Abhandlung De ipsa natura sive de vi insita actionibus creaturarum (Über die Natur selbst oder über die Kraft, welche sich in den Tätigkeiten der Geschöpfe befindet) schreibt Leibniz: «Ich meine aus bestimmten Vernunftgründen der Weisheit und der Ordnung (puto enim determinatis sapientiae atque ordinis rationibus), dass die von Gott kommenden Gesetze auf das, was in der Natur beobachtet wird, zu übertragen sind, und dass es daraus deutlich wird, dass […] die finale Ursache nicht nur in der Ethik und in der natürlichen Theologie dient, sondern auch in der Physik selbst zur Auffindung und Aufdeckung von verborgenen Wahrheiten (finalem causam non tantum prodesse ad virtutem et pietatem in ethica et theologia naturali, sed etiam in ipsa physica ad inveniendum et detegendum abditas veritates).»370
Nouveaux Essais, Zweites Buch, Kap. 23, § 28. Réponse aux réflexions contenues dans la seconde édition du Dictionnaire Critique de M. Bayle, article Rorarius, sur le système de l’Harmonie préétablie. 370 De ipsa natura sive de vi insita actionibus creaturarum. 368
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Zweiter Text: In seinen Bemerkungen zum Artikel 64 des zweiten Teils seiner um 1700 geschriebenen Animadversiones in partem generalem Principiorum Cartesianorum (Bemerkungen zum allgemeinen Teil von Descartes’ Prinzipien [der Philosophie]) schreibt Leibniz: «Jene Kraft (vis) hat ihre Gesetze nicht bloss aus den Prinzipien der absoluten und sozusagen blöden Notwendigkeit (brutae necessitatis) wie in der Mathematik, sondern aus denjenigen des vollkommenen Vernunftgrundes (perfectae rationis) abgeleitet. Wenn sie [diese Gesetze des vollkommenen Vernunftgrundes] einmal in Wahrheit in allgemeiner Erörterung aufgestellt sind (his vero semel in generali tractatione constitutis), kann nachher, wenn von den Phänomenen Rechenschaft gegeben wird (ratio redditur), alles mechanisch vonstatten gehen […]».371
Dritter Text: Im Vorwort (Préface) seiner Essais de Théodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme et de l’origine du mal (1710) scheibt Leibniz: «[…] nachdem ich neue Entdeckungen über die Natur der aktiven Kraft (force active) und die Gesetze der Bewegung machte, habe ich gezeigt, dass diese nicht von einer geometrischen Notwendigkeit sind, wie Spinoza zu glauben schien, und dass sie nicht bloss willkürlich sind, obschon dies die Meinung von Herrn [Pierre] Bayle [1647–1706] und einigen modernen Philosophen ist, sondern dass sie von der Angepasstheit (convenance) […] oder von dem abhängen, was ich das Prinzip des Besten (le principe du meuilleur) nenne, und dass man darin wie in allen anderen Sachen die Charaktere der ersten Substanz [Gott] sehen kann, dessen Hervorbringen eine höchste Weisheit zeigt und die vollkommenste Harmonie bewirkt (dont les productions marquent une sage souveraine et font la plus parfaite harmonie).»
Vierter Text: Im § 2 der Vorrede (Discours préliminaire) seiner Essais de Théodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme et de l’origine du mal (1710) schreibt er: «So kann man sagen, dass die physische Notwendigkeit auf einer moralischen Notwendigkeit gegründet ist, d. h. auf der Wahl des Weisen, der seiner Weisheit würdig ist […].» Die moralische Notwendigkeit hat ihren Vernunftgrund in der Finalität des Besten, des Vollkommenen, des Übereinstimmenden (Harmonischen). Fünfter Text: Im § 11 seiner Principes de la raison et de la grâce fondés en raison (1714) schreibt Leibniz: «Und es ist überraschend, dass man durch die blosse Betrachtung der Wirkursachen oder der [Ursachen] der Materie (causes efficientes ou de la matiére) von diesen Gesetzen der Bewegung nicht Rechenschaft (den Vernunftgrund) geben kann (on ne saurait rendre raison), die zu unserer Zeit entdeckt wurden und von denen ein Teil von mir selbst entdeckt wurde. Denn ich habe gefunden, dass man auf die Zweckursachen (Finalursachen) zurückgreifen muss (recourrir aux causes finales) und dass diese Gesetze nicht vom Prin-
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Animadversiones in partem generalem Principiorum Cartesianorum.
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6. Kapitel. Unterschiede zwischen Husserls und Leibnizens Monadologie
zip der Notwendigkeit abhängen wie die logischen, arithmetischen und geometrischen Wahrheiten, sondern vom Prinzip der Angepasstheit (Harmonie) (principe de la convenance), d. h. der Wahl der Weisheit [Gottes].»
Sechster Text: Ende November 1715 schrieb Leibniz an Samuel Clarke (1675– 1729), Schüler, engen Vertrauten und Gehilfen von dem die englische Wissenschaft und Philosophie beherrschenden Newton: «Das grosse Fundament der mathematischen Wissenschaften ist das Prinzip des Widerspruchs oder der Identität (le principe de la contradiction ou de l’identicité) […]. Aber um von der Mathematik zur Physik überzugehen, braucht es noch ein anderes Prinzip […], nämlich das Prinzip des ausreichenden Vernunftgrundes, d. h., dass nichts geschieht, ohne dass es einen Vernunftgrund dafür gibt, warum etwas so und nicht anders ist (le principe de la raison suffisante, c’est que rien n’arrive, sans qu’il y ait une raison pourquoi cela soit ainsi plutôt qu’autrement). […] Nun beweise ich allein durch dieses Prinzip (par ce principe seul) […] die Gottheit und das Übrige der Metaphysik oder der natürlichen Theologie, und sogar in gewisser Weise die von der Mathematik unabhängigen physischen Prinzipien, das heisst die dynamischen Prinzipien oder [die Prinzipien] der Kraft (les principes physiques indépendants de la mathématique, c’est à dire les principes dyanmiques ou de la force).»372
Ich möchte nun versuchen, Leibnizens Begriff der Kraft noch genauer zu fassen, indem ich dessen Beziehung zu seinen Begriffen der Tätigkeit, Perzeption und Selbstbewegung untersuche. Dadurch soll die Beziehung zwischen diesen drei zuletzt genannten Begriffen klarer werden. In den §§ 17 und 18 seines Discours de Métaphysique (1686) und in den Jahren danach schreibt Leibniz nur von Kraft (force). Anstatt nur von Kraft (force), spricht Leibniz in seiner kurzen Schrift aus dem Jahre 1694 De primae Philosophiae emendatione et de notione substantiae (Über die Verbesserung der Ersten Philosophie und über den Begriff der Substanz) auch von «tätiger Kraft» (vis activa), «vis agendi» (Kraft zu wirken) oder «virtus agendi» (Tüchtigkeit des Wirkens): «Die tätige Kraft (vis activa) ist nämlich von der in den gewöhnlichen Schulen bekannten blossen (nackten) Möglichkeit (potentia nuda) verschieden, weil die tätige Möglichkeit (potentia aciva) der Scholastiker oder das Vermögen (facultas) nichts anderes ist als die unmittelbare Möglichkeit des Wirkens (propinqua agendi possibilitas), die aber einer fremden Erregung (aliena excitatione) wie eines Treibstachels (stimulus) bedarf, um in die Tätigkeit übergeführt zu werden. Demgegenüber enthält die tätige Kraft (vis activa) ein gewisses Tun (actum quendam) oder eine Wirksamkeit (εντελέχειαν, entelecheian) und ist in der Mitte zwischen der Fähigkeit des Wirkens und der Tätigkeit und enthält
Brief von Ende November 1715 an Clarke, Correspondance Leibniz – Clarke, présentée d’après les manuscrits originaux de Hannover et de Londres par André Robinet, Presses Universitaires de France, Paris 1957, S. 35/36.
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§ 56. Leibnizens metaphysische Lehre von der Kraft
einen Anlauf [zum Wirken] (inter facultatem agendi actionemque media est et conatum involvit). Und so geht sie [die tätige Kraft] durch sich selbst in die Tätigkeit über und bedarf keiner Hilfe, sondern nur der Beseitigung des Hindernisses (atque ita per se ipsam in actionem fertur, nec auxilliis indiget, sed sola sublatione impedimenti). […] Und ich sage, dass diese Tüchtigkeit des Wirkens (agendi virtutem) jeder Substanz innewohnt und dass aus ihr immer irgendein Tun entsteht (semperque aliquam ex ea actionem nasci) und dass so selbst die körperliche Substanz (nicht mehr als die geistige [die Monade]) nie mit Wirken aufhört (adeoque nec ipsam substantiam corpoream (non magis quam spiritualem) ab agendo cessare unquam). Das scheinen diejenigen nicht genügend wahrzunehmen, welche das Wesen von ihr [von der körperlichen Substanz] allein in der Ausdehnung oder auch noch in der Undurchdringlichkeit sehen und sich den Körper grundsätzlich als ruhend vorstellen.»373
Im Système nouveau pour expliquer la nature des substances et leur communication entre elles, aussi bien que l’union de l’âme et du corps (1695) nennt Leibniz die Kraft «ursprüngliche Kraft» (force primitive) und betrachtet sie als seelische Kraft: «[…] um diese wirklichen Einheiten [= Monaden] zu finden, war ich gezwungen, auf ein formales Atom (un atome formel) zu rekurrieren, da ein materielles Ding (un être matériel) nicht zur selben Zeit materiell und vollkommen unteilbar oder von einer vollkommenen Einheit sein kann. Es war also notwendig, an die substanziellen Formen [des Aristoteles], die heute so verschrieen sind, zu erinnern und sie zu rehabilitieren, aber in einer Weise, die sie intelligibel macht und unterscheidet zwischen dem Gebrauch, den man von ihnen machen muss, und dem Missbrauch, den man von ihnen gemacht hat. Ich fand also, dass ihre Natur [die Natur der substanziellen Formen] in der Kraft besteht (leur nature consiste dans la force) und dass daraus etwas Analoges wie die Auffassung [von etwas] und das Begehren (le sentiment et l’appétit) folgt und dass man sie [die Kraft] auf diese Weise in Nachahmung des Begriffes denken muss, den wir von der Seele haben (et qu’ainsi il fallait les concevoir à l’imitation de la notion que nous avons de l’âme). Aber da die Seele nicht gebraucht werden soll, um von den Einzelheiten des Haushaltes des Körper des Tieres durch Vernunftgründe Rechenschaft zu geben (mais comm l’âme ne doit pas être employée pour rendre raison du détail de l’économie du corps de l’animal), urteilte ich gleicher Weise, das diese [substanziellen] Formen, obschon sie zur Aufstellung der allgemeinen Prinzipien notwendig sind, nicht gebraucht werden sollen, um die einzelnen Probleme der Natur zu erklären. Aristoteles nannte sie erste Entelechien (entelechies premières), ich bezeichne sie vielleicht verständlicher (plus intelligiblement) als ursprüngliche Kräfte (forces primitives), die nicht nur den Akt (Wirken) als das [relative] Komplement der Potenz (possibilité) als der Möglichkeit dieses Wirkens enthalten, sondern noch die ursprüngliche Tätigkeit (mais encore l’ activité originale).»374
De primae Philosophiae emendatione et de notione substantiae. Système nouveau pour expliquer la nature des substances et leur communication entre elles, aussi bien que l’union de l’âme et du corps. 373
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Die «ursprünglichen Kräfte» (forces primitives) sind also sowohl die kräftigen Fähigkeiten (Möglichkeiten, Potenzen) zu kräftigen Tätigkeiten als auch diese Tätigkeiten selbst als Verwirklichungen jener Möglichkeiten. In den Begriffen von Aristoteles gesprochen, sind die «ursprünglichen Kräfte» (forces primitives) sowohl δύναμις, dynamis, als auch ἐνέργεια, energeia. Wenn die ursprünglichen Kräfte das sind, was Aristoteles als die substanziellen Formen (μορφαί, morphai) oder Entelechien ἐντελεχίαι, entelechiai (ununterbrochene Wirksamkeiten) bezeichnete, also das sind, was die Substanz ist, dann kann gesagt werden, dass nach Leibniz die eigentlichen Substanzen, die Monaden, ursprüngliche Kräfte oder Kraftzentren der Tätigkeit sind, aus denen die Wirklichkeit besteht, und dass folglich nur das wirklich ist, was wirkt. Den Begriff der substanziellen Form gebraucht Leibniz ab Ende der Neunzigerjahre im Zusammenhang des Begriffes der «ursprünglichen Kraft» nicht mehr, um ihn dadurch nicht dem Vorurteil der Cartesianer dagegen auszusetzen.375 Im Zusammenhang seiner Diskussion in den Nouveaux Essais sur l’entendement (1701–1709) mit Lockes Essay concerning Human Understanding nennt Leibniz die Kraft auch aktive, mit der Wirktendenz verbundene Macht (puissance active) und sagt, dass diese Tendenz, verstanden als substanzielle Tendenz, Seelen sind, wenn sie von Perzeption begleitet ist: «Die aktive Macht (puissance active) kann vielleicht als Fähigkeit (faculté) bezeichnet werden und die passive als Empfänglichkeit (receptivité). Es ist wahr, dass die aktive Macht manchmal in einem vollkommeneren Sinn verstanden wird, wenn ausser der Fähigkeit auch die Tendenz [zu wirken] vorhanden ist; und so verstehe ich sie in meinen dynamischen Betrachtungen. Man kann sie besonders als Kraft (force) bezeichnen, und die Kraft wäre Entelechie (Wirksamkeit) oder Anstrengung (effort). […] Die Entelechien (Wirksamkeiten), d. h. die ursprünglichen oder substanziellen Tendenzen, sind Seelen, wenn sie von Perzeption begleitet sind (les entelechies, c’est à dire les tendances primitives ou substantielles, lorsqu’elles sont accompagnées de perception, sont les âmes).»376
In seinem Brief vom 1. Juli 1704 an den Basler Mathematiker Johann Bernoulli erklärt Leibniz die Kraft durch innere Erfahrung und führt sie auf Perzeptionen und Appetitionen zurück: «Wie ich die letzten Vernunftgründe (rationes ultimas) des Raumes und der Zeit durch die Ordnung der Grössen des entweder gleichzeitigen oder sukzessiven Existierens erklärte, so erklärte ich auch jenes Fundament der Kräfte durch Analogie des Prinzips des Wirkens, das wir in uns erfahren, das [nämlich jenes Fundament] nichts anderes enthält als Perzeption und Begehren (ita et fundamentum illud virium explicui per analogiam ejus
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Siehe Leibnizens Brief an Johann Bernoulli vom November 1698. Nouveaux Essais, Zweites Buch, Kap. 21, § 1.
§ 56. Leibnizens metaphysische Lehre von der Kraft
agendi principii, quod experimus in nobis, ut scilicet nihil aliud contineat quam perceptionem et appetitum).»377
Ich verstehe die Kraft der Seelenmonade als den Grund für die Spontaneität, welche Leibniz dem ganzen Leben der Seelenmonade zuschreibt. Von der ersten, ursprünglichen oder substanziellen Kraft unterscheidet Leibniz abgeleitete (derivative) Kräfte. Während die substanzielle Kraft, die er in gewissen Zusammenhängen im Anschluss an Aristoteles auch substanzielle Form nennt, immerwährend bleibt,378 ist die derivative Kraft, sofern sie in der Tätigkeit (bzw. Bewegung) aktualisiert ist, «das Momentane in der Tätigkeit, aber in Beziehung zum folgenden Zustand» (in actione momentaneum est, sed cum relatione at statum sequentem), wie Leibniz am 30. Juni 1706 an Baruch de Volder schrieb. Diese momentane Kraft oder Tendenz der Tätigkeit, welche den folgenden Zustand impliziert, nennt Leibniz auch «conatus», was mit «Anlauf» übersetzt werden kann, und im zweiten Buch seiner Nouveaux Essais sur l’entendement auch «Anstrengung (effort)“379 und «Streben» (appétition)380 heisst. Der conatus oder die appétition ist der Anfang der künftigen Tätigkeit in der aktuellen Tätigkeit, mit anderen Worten, er ist die momentane Tätigkeit, sofern sie in die unmittelbare Zukunft vorausgreift. Also ist die Appetition, von der Leibniz im Zusammenhang der Perzeption der Monade spricht, von deren substanzieller Kraft abgeleitet. Wird die derivative aktive Kraft von Leibniz nicht als das Momentane in der Tätigkeit aufgefasst, sondern im Gegensatz zur substanziellen, primären Kraft als relativ beständige akzidentelle oder sekundäre Kraft, dann wird sie von ihm auch als Qualität bezeichnet. Sie ist dann kein Ingrediens der Substanz, sondern von ihr trennbar; sie ist eine durch Begrenzung entstehende Modifikation der substanziellen primären Kraft. Leibniz schreibt im § 87 des ersten Teils seiner Essais de Théodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme et de l’origine du mal: «[…] Wenn die Kraft kein Bestandteil (ingrédient) der Substanz selbst ist (d. h. die Kraft, die nicht ursprünglich, sondern abgeleitet ist: c’est à dire la force qui n’est pas primitive mais dérivative), ist sie eine Qualität, welche von der Substanz verschieden und von ihr abtrennbar ist (est une qualité qui est distincte et séparable de la substance). Ich habe auch gezeigt, dass die Seele eine ursprüngliche Kraft ist, welche durch die derivativen Kräfte oder Qualitäten modifiziert und variiert und in den Tätigkeiten ausgeübt wird (et exercée dans les actions).»
Und im § 396 des zweiten Teiles desselben Werkes schreibt Leibniz: Brief vom 1. Juli 1704 an Bernoulli. Essais de Théodicée, Erster Teil, § 87: «Die substanzielle Form (wie z. B. die Seele) ist völlig permanent, wenigstens nach mir, und die akzidentelle ist es nur für eine Zeit.» 379 Nouveaux Essais, Zweites Buch, Kap. 21, § 5. 380 Nouveaux Essais, Zweites Buch, Kap. 21, § 5.
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«Und ich begreife (conçois) die Qualitäten oder die abgeleiteten Kräfte oder das, was man akzidentelle Formen nennt, als Modifikationen der ursprünglichen Entelechie, gleich wie die Figuren Modifikationen der Materie [der Ausdehnung] sind. Deshalb sind jene Modifikationen in einer beständigen Veränderung, während die einfache Substanz (Monade) bleibt.»
Nach Leibniz erlangen die Begriffe der Kräfte höchstmögliche Intelligibilität, wenn sie von der inneren oder reflexiv-phänomenologischen Erfahrung der mit Passivität verbundenen Aktivität der eigenen Seele her verstanden werden. Ich möchte dies durch die folgenden acht Texte belegen, die ich hier in chronologischer Reihenfolge vorlege und deren erster aus dem Jahre 1695 und deren letzter aus dem Jahre 1714 stammt. Erster Text: Leibniz schreibt im Système nouveau pour expliquer la nature des substances et leur communication aussi bien que de l’union de l’âme et du corps (1695): «Ich habe gefunden, dass ihre Natur [die Natur der substanziellen Formen] in der Kraft besteht, und daraus folgt etwas der Auffassung (sentiment) und dem Begehren (appétit) Analoges. Und so mussten sie [die substanziellen Formen] in Nachahmung des Begriffes verstanden werden, den wir von den Seelen haben (il fallait les concevoir à l’imitation de la notion que nous avons des âmes)».
Zweiter Text: Im selben Sinn schrieb Leibniz in seinem Brief vom 18. November 1698 an den Mathematiker Johann Bernoulli (1667–1748) aus Basel, der damals noch Lehrer an der Universität in Groningen war, bevor er an die Universität seiner Heimatstadt berufen wurde und mit dem er schon seit 1693 in Korrespondenz stand: «In bester Weise urteilst du, dass alle Körper in der Welt durch eine Zusammenschliessung der in ihnen liegenden Kräften entstanden sind (complicatione virium insitarum oriri corpora omnia in mundo), noch bezweifle ich, dass die Kräfte selbst mit der Materie gleichewig sind (materiae ipsi coaevae sint vires), da ich urteile, dass die Materie ohne Kräfte nicht bestehen kann. Doch halte ich dafür, dass die ursprünglichen Entelechien oder Leben etwas anderes sind als die toten Kräfte, welche zusammen vielleicht immer aus den lebendigen entstehen (quae et ipsamet fortasse semper oriuntur ex vivis), wie es deutlich wird, wenn das vom Zentrum zurückweichende Streben (conatus recedendi a centro), das unter die toten Kräfte gerechnet werden muss, aus der lebendigen Kraft der Drehung entsteht (oritur ex vi viva circulationis). Aber das Leben oder die erste Entelechie ist etwas Umfassenderes als irgendein einfaches totes Streben (aliquid amplus est quam conatus aliquis simplex mortuus). Ich denke nämlich, dass in ihm [im Leben] sowohl Perzeption als auch Appetition ist (inesse ei et perceptionem et appetitionem), sozusagen im [lebendigen] Tier, wobei beide [Perzeption und Appetition] dem gegenwärtigen Zustand der [Leibes‐]Organe entsprechen (quasi in animali, utramque respendentem statui organorum).»
§ 56. Leibnizens metaphysische Lehre von der Kraft
Die klarste Idee der Kraft haben wir nach Leibniz daher aus der geistigen Selbsterfahrung. In ihr allein ist die Kraft konkret und in ihrer Wirklichkeit erfahren, während die verschiedenartigen phänomenal-empirischen derivativen Bewegungskräfte einen abstrakten Charakter haben. Dritter Text: Leibniz schrieb in seinem Brief vom 20. Juni 1703 an den Holländer Burcher de Volder (1643–1709), der in Leyden die Professur für Philosophie, Physik und Mathematik innehatte: «Aber in den Phänomenen oder in den zusammengeschlossenen/zusammengesetzten (aggregatis) [Dingen] wird jede neue Veränderung aus dem Zusammennehmen (a concursu) zum Teil der geometrischen, zum Teil der metaphysischen Gesetze abgeleitet. Es bedarf nämlich der Abstraktionen, damit die wissenschaftlichen Dinge erklärt werden können (abstractionibus enim opus es ut res scientivice explicentur).»
Nur aufgrund der inneren Erfahrung erhält das Fundament oder der Ursprung der derivativen Kräfte, nämlich die substanzielle Kraft, unmittelbaren Bedeutungsinhalt. Vierter Text: Ein Jahr später schrieb er in seinem Brief vom 30. Juni 1704 an denselben Adressaten: «Es ist aber der Mühe wert zu betrachten, dass in diesem Prinzip der Tätigkeit ein höchster Grad an Intelligibilität liegt (in hoc principio actionis plurimum inesse intelligibilitatis), da sich in ihm ein Analoges von demjenigen findet, was in uns ist, nämlich Perzeption und Appetition.» Fünfter Text: Und einen Tag später, am 1. Juli 1704, schrieb er an Johann Bernoulli (1667–1748), «unseren berühmtesten Bernoulli (celeberrissimus Bernullius noster)», wie Leibniz ihn oben im zitierten Brief an Burcher de Volder vom 20. Juni 1703 nennt, und der immer noch in Groningen war, bevor er ein Jahr später (1705) Inhaber des Lehrstuhles für Mathematik an der Universität Basel wurde: «Jenes Fundament der Kräfte habe ich durch Analogie zu jenem Prinzip der Tätigkeit erklärt, das wir in uns erfahren, so dass es nämlich nichts anderes enthält als Perzeption und Appetition.»381 Anderthalb Jahre später, am 19. Januar 1706, schrieb er in seinem letzten Brief an Burcher de Volder: «Ich fürchte, dass jene Kraft (vis illa), welche in der Ausdehnung oder Masse (in extensione vel mole) gleichsam ausserhalb der Perzipierenden oder ihrer Phänomene (tanquam extra percipientia aut phaenomena ipsorum) konzipiert wird, nicht zur selben Natur gehört. Nichts kann nämlich in der Natur wirklich sein als die einfachen Substanzen [Monaden] und die aus ihnen sich ergebenden Verbindungen (et ex iis resultantia aggregata). In den einfachen Substanzen kennen wir jedoch nichts anderes als die Perzeptionen oder die Gründe der Perzeptionen (aut perceptionum rationes). […] Als bewiesen halte ich […], dass es der [einfachen] Substanz wesentlich ist, dass der gegenwärtige Zustand die kommenden enthält (involvit) und umgekehrt, und dass von nirgendwoher sonst die Brief vom 1. Juli 1704 an Bernoulli, Gerhardt, Leibniz. Mathematische Schriften, Band III, S. 756. 381
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Kraft (vis) oder der Grund (ratio) des Überganges (transitus) zu neuen Perzeptionen gefordert werden kann.»
Sechster Text: In seinen Nouveaux Essais sur l’entendement (1701–1709) bestätigt Leibniz ganz allgemein, dass wir die klarste Idee der Kraft aus der geistigen Selbsterfahrung haben. Im zweiten Buch dieses Werkes sagt Théophile (Leibniz) zu Philalèthe (Locke): «Doch bin ich immer einverstanden mit Ihnen, dass die klarste Idee der aktiven Macht [oder der Kraft] uns vom Geiste [von der Selbsterfahrung unseres Geistes] kommt (que la plus claire idée de la puissance active nous vient de l’esprit) […].»382 Siebenter Text: Es muss etwas ausser der Materie angenommen werden, was sowohl Prinzip der Perzeption, d. h. der inneren Tätigkeit, als auch der Bewegung oder äusseren Tätigkeit ist, nämlich die ursprüngliche, substanzielle Kraft, das heisst die Seele. In diesem Sinne schreibt Leibniz in einer kurzen Abhandlung ungefähr aus dem Jahre 1710: «Und es muss etwas ausser der Materie angenommen werden, was sowohl Prinzip der Perzeption oder inneren Tätigkeit (actionis internae) als auch der Bewegung oder äusseren Tätigkeit ist. Und ein solches Prinzip nennen wir substanziell, ebenso ursprüngliche Kraft (vim primitivam) […], mit einem Namen Seele, was als Aktives verbunden mit dem Passiven die vollständige [einfache] Substanz ausmacht (uno nomine animam, quod activum cum passivo conjunctum substantiam completam constituit).»383
Achter Text: Als Beleg dafür, dass Leibniz spätestens seit 1695 die Einsicht gewann, dass seinen Begriffen der substanziellen und derivativen Kraft die höchste Intelligibilität durch phänomenologische Reflexion auf das zuwächst, was die eigene Seelenmonade als Kraftzentrum tut, möchte ich schliesslich noch auf seine Principes de la philosophie (Monadologie) aus dem Jahre 1714 hinweisen, in denen er die reflexiv-phänomenologische Erörterung der Monade voranstellt, nämlich im ersten Drittel dieses Werkes (§§ 1–30) und ihnen dann in den beiden weiteren Dritteln gemäss ihrem Gewicht an zweiter Stelle die apriorisch-logische und theologische Konstruktion seiner Philosophie (§§ 31–60) und zuletzt deren phänomenal-empirisches Grundlage folgen lässt. Ohne Zweifel ist die Kraft in ihrem Wachsen, aber auch in ihrem Abnehmen und Überwältigtwerden durch unsere Aufgaben sowohl als Prinzip der eigenen subjektiven leiblichen Tätigkeiten wie dem Stossen eines schweren Steines als auch als Prinzip geistiger Tätigkeiten wie dem Nachdenken über schwierige Probleme oder dem Aushalten seelisch kaum ertragbarer Situationen durch eigene «innere Erfahrung» gegeben. Husserl hat davon nicht geschrieben, wie er auch nicht von der Erfahrung der eigenen Macht und Ohnmacht schrieb, worauf ich 382 383
Nouveaux Essais, Zweites Buch, Kap. 21, § 4. Gerhardt, Leibniz. Philosophische Schriften, Band VII, Abhandlung XV, S. 329.
§ 56. Leibnizens metaphysische Lehre von der Kraft
im voran stehenden § 55 hingewiesen habe. Husserls phänomenologisch begründete Monadologie sollte durch beide Fragestellungen und Einsichten Leibnizens ergänzt werden.
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Neun Schlussbemerkungen in Aussicht auf die Zukunft echten Philosophierens
Ich möchte die hier vorliegenden Untersuchungen über «Phänomenologie der Intersubjektivität und metaphysische Monadologie. Zu einer Synthese von Husserl und Leibniz» mit folgenden neun Bemerkungen abschliessen: 1. Wenn Leibnizens Monadologie mit Husserls intersubjektiver Monadologie ergänzt und durch sie korrigiert und wenn Husserls Monadologie mit wichtigen Lehren von Leibnizens Monadologie ergänzt würde, hätten wir vor uns eine philosophisch streng begründbare und weit umfassendere Monadologie, als wenn wir nur die Monadologie eines dieser beiden philosophischen Riesen betrachten würden. Nach meiner Überzeugung wäre eine solche Monadologie die beste und radikalste phänomenologisch begründete Philosophie, die wir zur Zeit im europäischen Kulturraum erlangen können. 2. Doch sie wäre nicht etwas ein für alle Mal Fertiges, sondern immer wieder zu ergänzen und zu korrigieren durch neue, auch durch die empirischen Wissenschaften angestossene, philosophische Einsichten. Und, vor allem, es wären immer wieder neue, vertiefende und erweiternde Fragen zu stellen, von denen das Philosophieren lebt. 3. Selbstverständlich könnten und sollten sich auch Philosophen, die sich nicht auf die Phänomenologie Husserls berufen, durch ihre eigenen Einsichten an der Weiterentwicklung einer solchen Monadologie beteiligen, und zwar Philosophierende oder sich auf die eigene innere Erfahrung Besinnende der europäischen, indischen wie auch der chinesischen Tradition. 4. Eine solche Monadologie wäre auch durch eine praktische Philosophie, d. h. eine ethische und politische Philosophie zu krönen. Die praktische Philosophie halte ich, Husserl und anderen Philosophen folgend, für den wichtigsten Teil der Philosophie. 5. Für eine praktische Philosophie ist die Frage grundlegend, was das menschliche Gewissen als ethisches Bewusstsein ist. Die Wichtigkeit dieser Frage zeigt sich auch im Artikel 1 der «Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinigten Nationen» von 1948: «Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt.» Die Frage, was das Gewissen ist, könnte sowohl reflexiv-phänomenologisch durch Bewusstseinsanalyse im Sinne Husserls beantwortet werden, aber auch zum Beispiel
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Neun Schlussbemerkungen
durch das in Gesprächsaufzeichnungen, Briefen und vor allem in der «Lehre von den vier Sätzen» (1527) festgehaltene Reflektieren des chinesischen Philosophen Wang Yangming (1472–1529) auf das eigene Handeln.384 6. So würde die durch phänomenologisches oder auch durch anders genanntes Reflektieren auf unser Bewusstsein im Erleben, Handeln und Tun in den Bereichen des Wahren, des Guten und Schönen begründete Monadologie als immer wachsendes und nie vollendetes gemeinsames Werk der Zusammenarbeit der im echten Sinne Philosophierenden aller Kulturen der Erde bedürfen. 7. Dieses gemeinsame philosophische Werk ist für uns notwendig, wenn wir als wahre Menschen, d. h. im Bewusstsein dessen, was wir eigentlich sind, handeln und leben wollen. 8. Wir sollen werden, was wir sind. 9. Für jeden Einzelnen von uns Menschen gilt: «Werde, was du bist!»
384 Siehe Iso Kern, Das Wichtigste im Leben. Wang Yangming (1472–1529) und seine Nachfolger über die «Verwirklichung des ursprünglichen Wissens», Schwabe Verlag, Basel 2010. Chinesische Übersetzung: 人生第一等事王陽明及其后学论致良知, 北京商务印书馆 (The Commercial Press, Beijing 2014); Iso Kern, «The ‹Wirkungsgeschichte› of Wang Yangming’s Teaching in Four Propositions up to Liu Zhonmgzhou and Huang Zongxi» in Concepts of Philosophy in Asia an in the Islamic World, Vol. 1: China and Japan, Senior Editors: Raji C. Steibeck, Ralph Weber; Co-editors: Elena Louisa Lange, Robert H. Gassmann, Brill, Leiden/Boston 2018, p. 273–323.
Zitierte Schriften
Aristoteles, Metaphysik, Siebentes Buch (Buch Zeta) – Über die Seele, Drittes Buch Arnauld, Antoine, Brief an Leibniz vom 13. Mai 1686, in Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, herausgegeben von C. J. Gerhardt, Band II, Hildesheim, Olms 1965, Band II, S. 32 Bernet, Rudolf, Iso Kern, Eduard Marbach, Edmund Husserl, Darstellung seines Denkens, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1989 Brentano, Franz, Psychologie vom empirischen Standpunkt, 1. Band, 1874; unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1924, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1973 Cairns, Dorian, Conversations with Husserl and Fink, Gespräch vom 22. September 1931, Phaenomenologica, Martinus Nijhoff, Den Haag 1976 Cassirer, Ernst, Philosophie der symbolischen Formen, Band II: Das mythische Denken, 1925 Descartes, René, Les méditations métaphysiques, Presses Universitaires de France, Paris 1956 von Frisch, Karl, «Über die ‹Sprache› der Bienen. Eine tierpsychologische Untersuchung», in Zoologische Jahrbücher (Physiologie), Bd. 40, 1923, S. 1–186 Goethe, Wolfgang, Harzreise im Winter Homer, Odyssee Huntington, Samuel P., The Clash of Civilisations and the Remaking of World Order, Simon & Schuster, New York 1996, 2011 Husserl, Edmund, «Erneuerung als individualethisches Problem», in japanischer Sprache veröffentlicht in der japanische Zeitschrift The Kaizo, 1924, Heft 2, S. 2–31, veröffentlicht in deutscher Sprache in Aufsätze und Vorträge (1922–1937), Hua XXVII siehe unten, S. 20– 42 –, Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kritik der logischen Vernunft, Max Niemeyer Verlag, Halle (Saale) 1929 –, «Die Krisis der Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie», in Philosophia. Philosophorum nostris temporis vox universa, edidit Arthur Liebert, Beograd 1936, S. 77–176 –, Erfahrung und Urteil: Untersuchungen zur Genealogie der Logik. Hrsg. von Ludwig Landgrebe. Academia/Verlagsbuchhandlung, Prag 1939, zweite unveränderte Auflage, Claassen Verlag, Hamburg 1954; 6. Auflage, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1985, Philosophische Bibliothek –, Méditations Cartésiennes, französische Übersetzung von E. Lévinas und G. Pfeiffer, durchgesehen und korrigiert durch A. Koyré, A. Colin, Paris 1931. –, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, herausgegeben und eingeleitet von Stephan Strasser, Hua I, Martinus Nijhoff, Den Haag 1950 –, Die Idee der Phänomenologie. Fünf Vorlesungen, herausgegeben und eingeleitet von Walter Biemel, Hua II, Martinus Nijhoff, Den Haag 2. Auflage (Neudruck 1973)
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Zitierte Schriften
–, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, Husserliana, Band III, neu herausgegeben von Karl Schuhmann, Martinus Nijhoff, Den Haag 1976 –, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution, herausgegeben von Marly Biemel, Husserliana, Band IV, Martinus Nijhoff, Den Haag 1952 –, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, herausgegeben von Walter Biemel, Husserliana, Band VI, Martinus Nijhoff, Den Haag 1954 –, Erste Philosophie (1923/24). Erster Teil. Kritische Ideengeschichte, herausgegeben von Rudolf Boehm, Husserliana, Band VII, Martinus Nijhoff, Den Haag 1956 –, Erste Philosophie (1923/24). Zweiter Teil. Theorie der phänomenologischen Reduktion, herausgegeben von Rudolf Boehm, Husserliana, Band VIII, Martinus Nijhoff, Den Haag 1959 –, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), herausgegeben von Rudolf Boehm, Husserliana, Band X, Martinus Nijhoff, Den Haag 1966 –, Phänomenologische Psychologie. Vorlesungen Sommersemster 1925, herausgegeben von Walter Biemel, Husserliana, Band IX, Martinus Nijhoff, Den Haag 1962 –, Analysen zur passiven Synthesis, aus Vorlesungs- und Forschungsmanuskripten, herausgegeben von Margot Fleischer, Husserliana, Band XI, Martinus Nijhoff, Den Haag 1966 –, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Erster Teil: 1905–1920, herausgegeben von Iso Kern, Husserliana, Band XIII, Martinus Nijhoff, Den Haag 1973 –, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Zweiter Teil: 1921– 1928, herausgegeben von Iso Kern, Husserliana, Band XIV, Martinus Nijhoff, Den Haag 1973 –, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Dritter Teil: 1929–1935, herausgegeben von Iso Kern, Husserliana, Band XV, Martinus Nijhoff, Den Haag 1973 –, Logische Untersuchungen. Ergänzungsband, Zweiter Teil, Texte für die Neufassung der VI. Untersuchung: Zur Phänomenologie des Ausdrucks und der Erkenntnis (1893/94–1921), herausgegeben durch Ullrich Melle, Husserliana, Band XX/II, Springer, Dordrecht 2005 –, Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung, herausgegeben von Eduard Marbach, Husserliana, Band XXIII, Martinus Nijhoff, Den Haag 1980 –, Aufsätze und Vorträge (1922–1937) mit ergänzenden Texten, herausgegeben von Thomas Nenon und Hans Rainer Sepp, Husserliana, Band XXVII, Kluwer Academic Publishers, Dordrecht, Boston, London 1989 –, Vorlesungen über Ethik und Werttheorie (1908–1914), herausgegeben von Ullrich Melle, Husserliana, Band XXVIII, Kluwer Academic Publishers, Dordrecht, Boston, London 1988 –, Natur und Geist. Vorlesungen Sommersemester 1927, herausgegeben von Michael Weiler, Husserliana, Band XXXII, Kluwer Academic Publishers, Dordrecht, Boston, London 2001 –, Einleitung in die Ethik. Vorlesungen Sommersemester 1920 und 1924, herausgegeben von Henning Peucker, Husserliana, Band XXXVII, Kluwer Academic Publishers, Dordrecht, Boston, London 2004 –, Grenzprobleme der Phänomenologie. Aalysen des Unbewusstseins und der Instinkte. Metaphysik. Späte Ethik. Texte aus dem Nachlass, herausgegeben von Rochus Sowa und Thomas Vongehr, Husserliana, Band XLII, Springer, Dordrecht, Heidelberg, New York, London 2013
Zitierte Schriften
–, Briefe an Roman Ingarden: Mit Erläuterungen und Erinnerungen an Husserl. Phaenomenologica 25, Martinus Nijhoff, Den Haag 1968 –, Briefwechsel, Band V, Die Neukantianer, in Verbindung mit Elisabeth Schuhmann herausgegeben von Karl Schuhmann, Kluwer Academic Publishers, Dordrecht, Boston, London 1994 –, Briefwechsel, Band IX: Familienbriefe, in Verbindung mit Elisabeth Schuhmann herausgegeben von Karl Schuhmann, Kluwer Academic Publishers, Dordrecht, Boston, London 1994 –, Manuskripte oder Transkriptionen von unveröffentlichten Texten im Husserl-Archiv Löwen: Ms A I 36 Ms. B I 10, S. 46 b (10. September 1933) Ms B III 10 Ms E III 2 (geschrieben wahrscheinlich 1915) E III 4 (Transkription) Ms K III 6, S. 151 a M III 1, II 1 M III 2 Janke, Wolfgang, Leibniz. Die Emendation der Metaphysik, Philosophische Abhandlung 23, Klostermann, Frankfurt a. M. 1963 Kern, Iso, Husserl und Kant: Eine Untersuchung über Husserls Verhältnis zu Kant und zum Neukantianismus. Phaenomenologica 16, Martinus Nijhoff, Den Haag 1964, 2. Auflage 1978 –, Idee und Methode der Philosophie: Leitgedanken für eine Theorie der Vernunft, Berlin: De Gruyter, 1973 –, «Review of Edmund Husserl, Natur und Geist: Vorlesungen Sommersemester 1927.», in Husserl Studies 19, no. 2 (2003), S. 167–177 –, «Trinität – Theologische Überlegung eines Phänomenologen», in Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie, 33 (1986), Heft 1–2. Aufgenommen unter dem Titel «Trinity: Theological Reflections of a Phenomenologist» im Sammelband Essays in Phenomenological Theology, ed. by Steven W. Laycock and James G. Hart, State University of New York Press, New York 1986, S. 23–38 –, «Die Lebenswelt als Grundlagenproblem der objektiven Wissenschaften und als universales Wahrheits- und Seinsproblem», in Rudolf Bernet / Iso Kern / Eduard Marbach, Edmund Husserl. Darstellung seines Denkens, Felix Meiner, Hamburg 1996, S. 199–208 –, «Die Vermittlung chinesischer Philosophie in Europa», in Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 17. Jahrhunderts, Band I, herausgegeben von Jean-Pierre Schobinger, Schwabe Verlag, Basel 1998, S. 225–295 –, «Zwei Prinzipien der Bewusstseinseinheit: Erlebnis und Zusammenhang der Erlebnisse.», in Facta Philosophica 2 (2000), S. 51–66 –, Das Wichtigste im Leben. Wang Yangming (1472–1529) und seine Nachfolger über die «Verwirklichung des ursprünglichen Wissens», Schwabe Verlag, Basel 2010. Chinesische Übersetzung: 人生第一等事王陽明及其后学论致良知, 北京商务印书馆 (The Commercial Press, Beijing 2014) –, «Mengzi (Mencius), Adam Smith and Husserl on Sympathy and Compassion», in Intersubjectivity and Objectivity in Adam Smith and Edmund Husserl, herausgegeben durch Christel Fricke und Dagfinn Føllesdal, Ontos Verlag, Frankfurt, Paris, Lancaster, New Brunswick 2012, S. 139–170
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Zitierte Schriften
–, Der Gute Weg des Handelns, Versuch einer Ethik für die heutige Zeit, Schwabe Verlag, Basel 2020 –, «The ‹Wirkungsgeschichte› of Wang Yangming’s Teaching in Four Propositions up to Liu Zhonmgzhou and Huang Zongxi» in Concepts of Philosophy in Asia an in the Islamic World, Vol. 1: China and Japan, Senior Editors: Raji C. Steibeck, Ralph Weber; Co-editors: Elena Louisa Lange, Robert H. Gassmann, Brill, Leiden/Boston 2018, p. 273–323 Kern, Iso, und Eduard Marbach, «Understanding the Representational Mind: A Prerequisite for Intersubjectivity Proper», in Journal of Consciousness Studies 8, no. 5–7 (2001), S. 69–82 von Kues, Nikolaus (Cusanus), De visione Dei («Die Gottesschau»), 1453 van Lawick-Goodall, Jane, In the Shadow of Man, William Collins Sons, London 1971 Leibniz, Gottfried Wilhelm Gesamtausgabe: Gottfried Wilhelm Leibniz, Sämtliche Schriften und Briefe, 1924 ff., herausgegeben von der Preussischen Akademie der Wissenschaften; nach dem Zweiten Weltkrieg bearbeitet in Berlin, Hannover, Münster und Potsdam, herausgegeben von de Gruyter, Berlin Teilausgaben: G. W. Leibniz. Textes inédits d’après les manuscrits de la bibliothèque provinciale de Hannovre, publés et annotés par Gaston Grua, zwei Bände, Presses Universitaires de France, Paris 1948 Einzelne Schriften (in zum Teil ungefährer chronologischer Reienfolge): De arte combinatoria [1665] Hypothesis physica nova qua phaemenorum naturae plerorumque causae ab unico quodam universali motu in globo nostro supposito, neque Tychonicis neque Copernicanis asperando, repetuntur [1671] Systema theologicum (erst 1819 veröffentlicht) mit dem Ziel der Wiedervereinigung der christlichen Kirchen Consilium Aegyptium [ungefähr 1672] Confessio Philosophi. La profession de foi du philosophe [1673] Texte, traduction et notes par Yvon Belaval, Vrin, Paris 1961 Discours de métaphysique [1686], Edition collationée avec le texte autographe par Henri Lestienne, Vrin, Paris 1975 Commentaire du Discours de métaphysique de Leibniz, par Pierre Burgelin, Presses Universitaires de France, Paris 1959 Leibniz. Discours de métaphysique et correspondance avec Arnauld, Introduction, texte et commentaire par Georges Le Roy, 3. Auflage, J. Vrin, Paris 1970 Animadversiones in partem generalem Principiorum Cartesianorum [um 1700] Considérations sur la doctrine d’un esprit universel [1702] Specimen dynamicum I [1695] Nouveaux Essais zur l’entendement [1701–1709] Essais de Théodicée sur la bonte de Dieu, la liberté de l’homme et l’origine du mal [1710] Extrait du [Nouveau] Dictionnaire [critique] de M. [Pierre] Bayle, article Rorarius p. 2599 sqq. De l’Edition de l’an 1702 avec mes Remarques Réponse aux réflexions contenues dans la seconde édition du Dictionnaire Critique de M. Bayle, article Rorarius, sur le système de l’Harmonie préétablie [1712]
Zitierte Schriften
Principes de la nature et de la grâce fondés en raison, Principes de la philosophie (Monadologie) [1714], publiés integralement d’après les manuscrits de Hanovre, Vienne et Paris et présentés d’après des lettres inédites par André Robinet, Presses Universitaires de France, Paris 1955 Lettre sur la philosophie chinoise à Nicolas de Rémond [1716], in Gottfried Wilhelm Leibniz. Zwei Briefe über das binäre Zahlensystem und die chinesische Philosophie, aus dem Urtext neu ediert, übersetzt und kommentiert von Renate Loosen und Franz von Essen, Belser Presse, Stuttgart 1958, S. 39–132 Ausgaben von Briefen, in der Ordnung der Familiennamen der Adressaten: Leibniz, Gottfried Wilhelm, Lettres de Leibniz à Arnauld, d’après les manuscrits inédits, avec une introduction historique et des notes critiques par Geneviève Lewin, Presses Universitaires de France, Paris 1952 Correspondance Leibniz-Clarke présentée d’après les manuscrits originaux des bibliothèques de Hannovre et de Londres par André Robinet, Presses Universitaires de France, Paris 1957 Malebranche et Leibniz, Relations personnelles présentées avec les textes complets des auteurs et de leur correspondants, revus, corrigés et inédits, par André Robinet, Vrin, Paris 1955 Zitierte einzelne Briefe (in der Ordnung des Namens des Adressaten, die Briefe eines Adressaten in chronologischer Ordnung): Brief von Antoine Arnauld an Leibniz vom 13. Mai 1686, in Gerhardt, Die philosophischen Schriften, Band II, S. 25–34 Brief an Antoine Arnauld vom 4./14. Juli 1686, in Lettres de Leibniz à Arnauld, d’après les manuscrits inédits, avec une introduction historique et des notes critiques par Geneviève Lewis, Presses Universitaires de France, Paris 1952, S. 47–51 Brief an Antoine Arnauld vom 28. November / 8. Dezember 1686, in Lettres de Leibniz à Arnauld, d’après les manuscrits inédits, avec une introduction historique et des notes critiques par Geneviève Lewis, Presses Universitaires de France, Paris 1952, S. 56/57 Brief an Antoine Arnauld vom 30. April 1687, in Lettres de Leibniz à Arnauld, d’après les manuscrits inédits, avec une introduction historique et des notes critiques par Geneviève Lewis, Presses Universitaires de France, Paris 1952, S. 63–75 Brief an Johann Bernoulli vom 22. August 1698 Brief an Johann Bernoulli vom 18. November 1698, in Leibniz, Akadamie Ausgabe, Göttingen, III, 7, S. 944/945 Brief an Johann Bernoulli vom 1. Juli 1704 Zweiter Brief an Samuel Clarke von Ende November 1715, in Correspondance Leibniz – Clarke, présentée d’après les manuscrits originaux de Hannover et de Londres par André Robinet, Presses Univeristaires de France, Paris 1957, S. 35–40 Brief an De Volder vom 20. Juni 1703 Brief an de Volder vom 30. Juni 1704 Brief an de Volder vom 19. Januar 1706 Brief an de Volder vom 30. Juni 1706 Lipps, Theodor, Ästhetik: Psychologie des Schönen und der Kunst, Verlag von Leopold Voss, Hamburg 1903. Lipps, Theodor, «Weiteres zur Einfühlung», in Archiv für die gesamte Psychologie 4 (1905), S. 465–519
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Zitierte Schriften
Locke, John, An Essay concerning Human Understandig, 1670 Lorenz, Konrad, Er redete mit dem Vieh, den Vögeln und den Fischen, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1964 van Lommel, Pim, Endloses Bewusstsein. Neue medizinische Fakten zur Nahtoderfahrung, Patmos-Verlag, München 2009. Niederländische Originalausgabe: Eindeloos bewustsijn. Een wetenschappelijke visie op de bijnadood ervaringe, Uitgeverij, Ten Have 2007 Mahnke, Dieter, «Leibnizens Synthese von Universalmathematik und Individualmetaphysik», in Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, Niemeyer Verlag, Halle (an der Saale), 7. Band (1925), S. 305–612 Merleau-Ponty, Maurice, Phénomenologie de la Perception, Biblothèque des Idées, Librairie Gallimard, Paris 1945 Misch, Georg, Lebensphilosophie und Phänomenologie: Eine Auseinandersetzung der Diltheyschen Richtung mit Heidegger und Husserl, B.G. Teubner, Stuttgart, 3. Auflage 1967 Moody, R. A., Life after Life, Mockingbird Books, Covington 1975 Neues Testament, Evangelium nach Matthäus, Evangelium nach Lukas Pascal, Blaise, Traité des coniques in Pascal. Œuvres complètes, présentation et notes de Louis Lafuma, Editions du Seuil, Paris 1963, S. 35–42 –, Lettre de A Dettonville [= Pascal] à Monsieur A. D. D. S. en lui envoyant la démonstration à la manière des anciens de l’égalité des lignes spirale et parabolique in Pascal. Œuvres complètes, présentation et notes de Louis Lafuma, Editions du Seuil, Paris 1963, S. 172–184 da Ponte, Lorenzo, Le nozze di Figaro («Die Hochzeit des Figaro»), Libretto der gleichnamigen Oper von Mozart Robinet, André, Malebranche et Leibniz, Relations personnelles présentées avec les textes complets des auteurs et de leur correspondants, revus, corrigés et inédits, Vrin, Paris 1955 de Sade Marquis, Donatien Alphonse François, Justine ou Les malheurs de la vertue Schuhmann, Karl, Husserl-Chronik: Denk- und Lebensweg Edmund Husserls, Springer, Dordrecht 1977 de Spinoza, Benedictus, Ethica ordine geometrico demonstrata, in Benedicti de Spinoza opera quotquot reperta sunt, recognoverunt J. van Vloten et J. P. Land, editio tertia, tomus primus, Hagae comitum apud Martinus Nijhoff, 1914, S. 35–273 Spitz, René A., The First Year of Life, New York 1965; deutsche Übersetzung: Vom Säugling zum Kleinkind. Naturgeschichte der Mutter-Kindbeziehung im ersten Lebensjahr, KlettCorra, Stuttgart 1996 Sutherland, Ch., Transformed by the Light. Life after Near-Death Experiences, Bentam Books, London 1992 Tönnies, Ferdinand, Gemeinschaft und Gesellschaft, 1887, 2. Auflage 1912, 3. Auflage 1920, 8. Auflage 1935, neueste Auflage: Profil-Verlag, München, Wien 2017 Wenger, Elisabeth, Als lebender Besen im Kamin. Einer vergessenen Vergangenheit auf der Spur, Orell Füssli, Zürich 2010. Dieses Buch ist Elisabeth Wengers eigene deutsche Übersetzung ihres italienischen Buches I ragazzi del camino, eigene Ausgabe (Selbstausgabe) 2008.
Das Signet des Schwabe Verlags ist die Druckermarke der 1488 in Basel gegründeten Offizin Petri, des Ursprungs des heutigen Verlagshauses. Das Signet verweist auf die Anfänge des Buchdrucks und stammt aus dem Umkreis von Hans Holbein. Es illustriert die Bibelstelle Jeremia 23,29: «Ist mein Wort nicht wie Feuer, spricht der Herr, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeisst?»
Phänomenologie der Intersubjektivität und metaphysische Monadologie Zu einer Synthese von Husserl und Leibniz Die Monadologie Husserls, die durch eine Phänomenologie der Intersubjektivität begründet ist, weist gegenüber der metaphysischen Monadologie von Leibniz Vorzüge auf. Andererseits fehlt Husserls Monadologie Leibniz’ philosophisch radikalste Frage, «Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?», ebenso fehlen ihr Leibniz’ Lehren vom Verhältnis der Macht und Ohnmacht zwischen den Monaden und der Kraft der Monaden. Den Versuch, die Fragestellungen und die Lehren der beiden zu vereinigen, unternimmt Iso Kern in diesem Band – durch eine Synthese kann die beste Metaphysik der europäischen Philosophiegeschichte entstehen. Sie ist unbegrenzt durch neue Fragen zu bereichern, aber auch zu korrigieren. Iso Kern promovierte mit einer Untersuchung über das Verhältnis von Husserl zu Kant in Löwen. Er edierte drei Bände über die Phänomenologie der Intersubjektivität aus Edmund Husserls Nachlass, ehe er sich an der Universität Heidelberg mit einer Arbeit über die Frage «Was ist Vernunft?» habilitierte. Es folgten Lehrtätigkeiten in Heidelberg, Bern, Zürich und Freiburg i. Ue. In dieser Zeit veröffentlichte er zum Verhältnis von europäischer und chinesischer Philosophie und zu phänomenologischen Fragen. Bei Schwabe erschienen von Iso Kern Das Wichtigste im Leben. Wang Yangming (1472–1529) und seine Nachfolger über die «Verwirklichung des ursprünglichen Wissens» (2010), Der gute Weg des Handelns. Versuch einer Ethik für die heutige Zeit (2020), Die Religion von Philosophen. Konfuzius, Sokrates, Epiktet, Montaigne, Pascal (2021) und Erinnerung – Personale Einheit – Reflexion. Drei Philosophische Studien (2021). In Planung ist: Was ist Vernunft?
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783796 543852