Freundschaft und Selbstliebe bei Platon und Aristoteles: Semantische Studien zur Subjektivität und Intersubjektivität 9783495997499, 3495479856, 9783495479858


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0 Einführung
1 Erster Teil: Platons Theorie der Freundschaft
1.1 Freundschaft und Freundesliehe: Der Dialog Lysis
1.1.1 Die Ausgangssituation des Lysis
1.1.2 Freundschaft und Vertrauen
1.1.3 Freundschaft zwischen Liehe und Begehren
1.1.4 Die Idee der Reziprozität unter Freunden
1.2 Die Ordnung der Seele: Der Dialog Gorgias
1.2.1 «Unrecht Tun ist schlechter als Unrecht Leiden«
1.2.2 Selhstühereinstimmung und Selhstwiderspruch
1.3 Eros und Freundschaft: das Symposion
1.3.1 Die Freundschaft als das »Werk« des Eros
1.3.2 Selhstreferentielle Bezüge im Aufstieg zum Schönen
1.3.3 Der Auftritt des Alkihiades
1.4 Exkurs: Die Reziprozität der Liehenden: Phaidros
1.5 Gerechtigkeit als Freundschaft mit sich selhst: Politeia
1.5.1 »Freunden Gutes, Feinden Schlechtes tun«: Politeia I
1.5.2 Das »mit sich Befreundetsein« des Tugendhaften
1.5.3 Die sozialethische Relevanz der Freundschaft
2 Zweiter Teil: Philos und Philia: Aristoteles’ Theorie der Freundschaft im achten und neunten Buch der Nikomachischen Ethik
2.1 Freundschaft als externe Relation: NE VIII
2.1.1 Die Mehrdeutigkeit der Philia und ihre Aporien
2.1.2 Formale Bestimmungen der Freundschaft
2.1.3 Freundschaft und Wohlwollen
2.1.4 Zur Analogie der Freundschaftsverhältnisse
2.1.5 Beständigkeit als Charakteristikum der vollkommenen Freundschaft
2.2 Freundschaft als Selhstverhältnis: NE IX.4
2.2.1 Die Charakteristika der Freundschaft
2.2.2 Zum defizienten Verhalten der Schlechten
2.2.3 »Freundschaft mit sich selbst«: Metaphorische Redeweise oder reales Selbstverhältnis?
2.3 Die Bestimmung der Selbstliebe: NE IX.5-IX.9
2.3.1 Zur Genese der Selbstliebe: Der Übergang von NE IX. 4 zu NE IX.8
2.3.2 Der Primat der Selbstliebe: IX.8
2.3.3 Zur Diskussion um die egoistische Konzeption der Selbstliebe
2.3.4 Autarkie und Angewiesenheit des Glücklichen: NE IX.9
2.3.5 Das gemeinsame Tätigsein: Freundschaft und Glück
3 Schluß
Bibliographie
Personenregister
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Freundschaft und Selbstliebe bei Platon und Aristoteles: Semantische Studien zur Subjektivität und Intersubjektivität
 9783495997499, 3495479856, 9783495479858

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A

Peter Schulz

Freundschaft und Selbstliebe bei Platon und Aristoteles Semantische Studien zur Subjektivität und Intersubjektivität

BAND 64 ALBER PRAKTISCHE PHILOSOPHIE https://doi.org/10.5771/9783495997499 .

B

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

https://doi.org/10.5771/9783495997499 .

Das Buch bietet eine historische und systematische Untersuchung der Selbstbeziehung des menschlichen Verhaltens, ln historischer Hinsicht wird untersucht, welche Formen der Selbstbezüglichkeit die Philoso­ phie der Antike bereits erkannt und thematisiert hat; in systematischer Hinsicht geht es um die Frage, wie diese antiken Theorien im Vergleich mit entsprechenden modernen Theorien einzuschätzen sind, Der Arbeit liegt dabeidie Annahme zugrunde, daß die Phänomene Freundschaft und Liebe in das Zentrum dieser Fragestellung einführen. Freundschaft und Liebe geben nicht nur Aufschluß über den Bezug des Menschen zu anderen Menschen, sondern auch über den Bezug zu sich selbst. Denn Subjektivität als ein Verhältnis zu sich selbst ist, so die Fundamental­ einsicht von Platon und Aristoteles, nur in der umgreifenden Relation eines Verhältnisses zu einem anderen oder zu etwas anderem erfahrbar und beschreibbar. Das Platonische Konzept der Selbstsorge und der Aristotelische Begriff der Selbstliebe haben in dieser Reflexion auf die umgreifende Relation des jeweils anderen ihren systematischen Ort. This book offers an historical and systematic examination of the selfrelation of human behavior. From an historical viewpoint the question of, which forms of self-relatedness were known and discussed by ancient philosophy, is examined. From a systematical viewpoint, this is concerned with the question of how these ancient theories are to be evaluated in comparison to corresponding modern theories. This work is based on the assumption that the phenomena of friendship and love will lead to the core of the question. This is because friendship and love not only provide Information about the relation of the human being to other human beings but also about the relation to himself; since subjecti'vi'ty as a relation to ones self is, according to the fundamental insight from Plato and Aristotle, only experiencable and describable within the encompassing relation of a relationship to someone or something else. The Platonic concept of self-reliance and the Aristotelian concept of self-love have their systematic place within this reflection on the encompassing relation of the other. Der Autor: Dr. phil. Peter Schulz, geb. 1958, ist Professor für Semiotik an der Kommunikationswissenschaftlichen Fakultät der Universität Lugano, Schweiz. Veröffentlichungen zu Edith Stein, Simon Frank, Philosophischer Anthropologie u. a. Arbeitsschwerpunkte: Semiotik, Anthropologie, Phänomenologie.

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Peter Schulz Freundschaft und Selbstliebe bei Platon und Aristoteles

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Alber- Reihe Praktische Philosophie Hnter Mitarbeit von Jan P. Beckmann, Dieter Birnbacher, Deiner Hastedt, Ekkehard Martens, Oswald Schwemmer, Ludwig Siep und Jean-Claude Wolf herausgegeben von Günther Bien, Karl-Heinz Musser und Annemarie Pieper Band 64

https://doi.org/10.5771/9783495997499 .

Peter Schulz

Freundschaft und Selbstliebe bei Platon und Aristoteles Semantische Studien zur Subjektivität und Intersubjektivität

Verlag Karl Alber Freiburg/München

https://doi.org/10.5771/9783495997499 .

Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein und der Maximilian-Bickhoff-Stiftung

Die Deutsche Bibliothek - CVP-Einheitsaufnahme Schulz, Peter: Freundschaft und Selbstliebe bei Platon und Aristoteles : semantische Studien zur Subjektivität und Intersubjektivität / Peter Schulz. - Freiburg (Breisgau) ; München : Alber, 2000 (Alber-Reihe praktische Philosophie ; Bd. 64) Zugl.: Eichstätt, Kath. Hniv., Habil.-Schr., 1998 ISBN 3-495-47985-6 Texterfassung: Autor Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Alle Rechte Vorbehalten - Printed in Germany © Verlag Karl Alber GmbH Freiburg/München 2000 Einbandgestaltung: Eberle H Kaiser, Freiburg Einband gesetzt in derRotis SemiSerifvon Otl Aicher Satzherstellung: SatzWeise, Föhren Inhalt gesetzt in der Aldus und Gill Sans Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg 2000 ISBN 3-495-47985-6

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Vorwort

Das vorliegende Buch stellt die gekürzte Fassung meiner Habilita­ tionsschrift dar, die 1998 von der Philosophisch-Pädagogischen Fa­ kultät der Universität Eichstätt angenommenen wurde. Diese Unter­ suchung wäre ohne kritische Anregungen und Gespräche wohl kaum entstanden. Mein besonderer Dank gilt dabei den Professoren Niko­ laus Lobkowicz, Klaus Oehler, Arthur Madigan, Michael Pakaluk, Bernhard Schleißheimer und Reto L. Fetz. Dr. Erich Naab und Stefa­ nie Haas verdanke ich redaktionelle Anregungen. Danken möchte ich auch der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die mir einen nutz­ bringenden Forschungsaufenthalt an ausländischen Universitäten fi­ nanziert hat. Dem Geschäftsführer des Verlags Karl Alber, Dr. Falk Redecker, sei ebenso wie den Herausgebern der Reihe für die Auf­ nahme in das Verlagsprogramm gedankt. Zu danken ist ferner der Maximilian-Bickhoff-Stiftung sowie der Geschwister Boehringer In­ gelheim Stiftung für Geisteswissenschaften, welche die Veröffent­ lichung durch einen Beitrag zu den Druckkosten unterstützten. Lugano, im Herbst 2000

Peter J. Schulz

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https://doi.org/10.5771/9783495997499 .

Inhalt

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Einführung

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1

Erster Teil: Platons Theorie der Freundschaft............

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1.1 Freundschaft und Freundesliehe: Der Dialog Lysis .... 22 1.1.1 Die Ausgangssituation des Lysis....................... 24 1.1.2 Freundschaft und Vertrauen ................................... 25 1.1.3 Freundschaft zwischen Liehe und Begehren .... 29 1.1.4 Die Idee der Reziprozität unter Freunden ............ 41 1.2 Die Ordnung der Seele: Der Dialog Gorgias ................... 47 1.2.1 «Unrecht Tun ist schlechter als Unrecht Leiden« . . 49 1.2.2 Selhstühereinstimmung und Selhstwiderspruch . . 59 1.3 Eros und Freundschaft: das Symposion....................... 67 1.3.1 Die Freundschaft als das »Werk« des Eros............ 70 1.3.2 Selhstreferentielle Bezüge im Aufstieg zum Schönen 78 1.3.3 Der Auftritt des Alkihiades...................................... 87 1.4 Exkurs: Die Reziprozität der Liehenden: Phaidros .... 89 1.5 Gerechtigkeit als Freundschaft mit sich selhst: Politeia . . 103 1.5.1 »Freunden Gutes, Feinden Schlechtes tun«: Politeia I .................................................................. 105 1.5.2 Das »mit sich Befreundetsein« des Tugendhaften . 116 1.5.3 Die sozialethische Relevanz der Freundschaft . . . 129 2

2.1

Zweiter Teil: OtLog und OiLta: Aristoteles’ Theorie der Freundschaft im achten und neunten Buch der Nikomachischen Ethik ............................................

138

Freundschaft als externe Relation: NE VIII............... 138 2.1.1 Die Mehrdeutigkeit der ^iLia und ihre Aporien . . 148 2.1.2 Formale Bestimmungender Freundschaft.............. 156 9

Freundschaft und Selbstliebe bei Platon und Aristoteles https://doi.org/10.5771/9783495997499 .

Inhalt

2.1.3 Freundschaft und Wohlwollen............................... 2.1.4 Zur Analogie der Freundschaftsverhältnisse .... 2.1.5 Beständigkeit als Charakteristikum der vollkom­ menen Freundschaft ............................................... 2.2 Freundschaft als Selhstverhältnis: NE IX.4...................... 2.2.1 Die Charakteristika der Freundschaft...................... 2.2.2 Zum defizienten Verhalten der Schlechten............. 2.2.3 »Freundschaft mit sich selbst«: Metaphorische Redeweise oder reales Selhstverhältnis?................ 2.3 Die Bestimmung der Selbstliebe: NE IX.5-IX.9............. 2.3.1 Zur Genese der Selbstliebe: Der Übergang von NE IX. 4 zu NE IX.8 ..................................................... 2.3.2 Der Primat der Selbstliebe: IX.8 ............................ 2.3.3 Zur Diskussion um die egoistische Konzeption der Selbstliebe ............................................................... 2.3.4 Autarkie und Angewiesenheit des Glücklichen: NE IX.9..................................................................... 2.3.5 Das gemeinsame Tätigsein: Freundschaft und Glück

197 206 210 224 229 243 243 246 267 283 296

Schluß.................................................................................

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Bibliographie..............................................................................

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Personenregister

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PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Peter Schulz

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Einführung

Zum Selbstverständnis philosophischer Ethik gehört die Annahme, daß die menschliche Praxis über eigene sittliche Einsichten verfügt, die von denen der theoretischen Vernunft unabhängig sind. Mit wel­ chen Bezeichnungen man auch immer im einzelnen diese ursprüngli­ chen Einsichten benennen will, sie bilden Ausgangspunkt und Be­ zugsbereich für die Aufgabe der praktischen Philosophie, die mit Hilfe des ihr eigenen Begründungsverfahrens diese Einsichten zum Gegenstand einer Theorie zu erheben sucht. Eine philosophische Auseinandersetzung über solche Erkenntnisquellen kann darin be­ stehen, sich zu fragen, ob sie geeignet sind, Handlungen zu empfeh­ len, die sich auf sie berufen. Keinesfalls aber vermag eine praktische Philosophie solche Erkenntnisquellen zu konstituieren oder durch andere zu ersetzen. Zu den ursprünglichen Gegebenheiten menschlicher Lebenspra­ xis wird von Platon wie von Aristoteles auch die ^lAta gezählt, was man im Deutschen mit »Freundschaft« wiederzugeben pflegt. Diese Übersetzung kann durchaus beibehalten werden, vorausgesetzt man meidet dabei die irreführende Assoziation, die der gängige Gebrauch dieses Ausdrucks weckt: Gemeint ist damit keineswegs eine beson­ ders intime zwischenmenschliche Beziehung. Gerade für die Bedeu­ tung der Freundschaftstheorien in der Antike, wie sie Gegenstand dieser Untersuchung sind, ist nicht unwichtig, daß sie intersubjektive Beziehungen aller Art umfassen. Darauf weist Platon in seinem Al­ terswerk (Legg. V, 738 d-e) ebenso ausdrücklich hin wie Aristoteles zu Beginn seiner Freundschaftsbücher (NE VIII.1.1155 a 5-10). Inwiefern ist die Feststellung, daß der Mensch in Beziehungen zu anderen Menschen lebt, etwas, worüber sich auch zu philosophie­ ren lohnt? Dazu sind im Folgenden drei an Bedeutung zunehmende Thesen zu formulieren, die mit dieser Untersuchung vorgelegt wer­ den. Die erste These lautet: Wenn die Philosophie zwar nicht nur, aber doch auch die Aufgabe hat, durch Untersuchung grundlegender ^ 11

Freundschaft und Selbstliebe bei Platon und Aristoteles https://doi.org/10.5771/9783495997499 .

Einführung

Begriffe das menschliche Selhstverständnis zu erhellen, so gehört zu diesen Begriffen auch die Freundschaft. Platons und Aristoteles' Un­ tersuchungen über die Freundschaft sind Ausdruck der Suche nach einer angemessenen Selbstverständigung des Menschen über sich selbst und über den Bezug zu anderen. Die zweite These besagt, daß man es in den Platonischen und Aristotelischen Untersuchungen der Freundschaft zu anderen Menschen und in der damit einhergehen­ den Bestimmung der Selbstbeziehung mit einem grundlegenden Topos zu tun hat, dessen Untersuchung eine systematische Bedeutung für die Erfassung der Subjektivität besitzt. Die dritte These behaup­ tet, daß es zur positiven Aufwertung der Selbstbeziehung, wie sie sich insbesondere in der Platonischen Lehre von dem »mit sich Be­ freundetsein« und in der Aristotelischen Bestimmung der Selbstliebe niederschlägt, nur unter bestimmten Voraussetzungen kommen konnte, die hier vorläufig als Ideal einer gemeinsamen Praxis von Menschen bezeichnet wird. Alle drei Thesen bedürfen einer Erläute­ rung, um die Richtung dieser Arbeit zu umschreiben. Zur ersten These: Die wachsende Aufmerksamkeit, die in den vergangenen Jahren allgemein der Beziehungsform der Freundschaft in der praktischen Philosophie, besonders aber den Freundschafts­ theorien in der Antike zuteil wurde, wird nur den erstaunen, der übersieht, daß in der Antike mit der Behandlung der Freundschaft ein klassisches Thema der Sozialphilosophie gegeben ist. Im Gegen­ satz zu zeitgenössischen Ansätzen in der praktischen Philosophie, die das Phänomen enger freundschaftlicher Beziehungen insbesondere durch die ihnen eigene moralische Vorzüglichkeit wieder in eine mo­ ralphilosophische Diskussion einholen,1 reicht der Gegenstands­ bereich in der Antike ungleich weiter. Das mag, die Richtung der vorliegenden Untersuchung andeutend, anhand einer Stelle aus dem Platonischen Alterswerk, den Nomoi, illustriert werden. Der Athe­ ner schildert hier die Größe Athens zur Zeit der Perserkriege, die nach seiner Beschreibung im Wesentlichen mitbestimmt war durch die bestehende Ehrfurcht seiner Bewohner vor den geltenden Ge­ 1 Stellvertretend für andere Beiträge seien hier erwähnt: Elizabeth Telfer: Friendship. In: Proceedings of the Aristotelian Society 71 (1970/71), S. 223-241. Lawrence A. Blum: Friendship, Altruism and Morality. London u. a. 1980. Michael Stocker: Values and Purposes: The Limits of Teleology and the Ends of Friendship. - In: Journal of Philosophy 78 (1981), S. 747-765. Marilyn Friedman: Freundschaft und moralisches Wachstum. - In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 45 (1997), S. 235-248 (Mit weiteren Literatur­ angaben).

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PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

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Einführung

setzen und Autoritäten. Diese Ehrfurcht, so Platon, habe unter den Bewohnern eine Verbundenheit und gegenseitige Freundschaft (aXX^Xmv ^iXtav, Legg. III, 699 c 1; vgl. III, 698 c; VI, 759 b) hervor­ gerufen. Und nur wenige Zeilen vorher war die Rede von der per­ sischen Despotie, deren Zustandekommen durch den Mangel an Freundschaft und Gemeinschaft im Volk erklärt wird (III, 697 c-d). Man mag anläßlich dieser und vergleichbarer historischer Deutun­ gen den Philosophen nicht von jeder Naivität freisprechen. Unbe­ schadet der historischen Fakten ist in dieser Beschreibung zweifellos eine Beobachtung bemerkenswert, um deretwillen Platon diese Dar­ stellung vermutlich auch unternommen hat: Das Thema der Freund­ schaft akzentuiert bei ihm wie später bei Aristoteles die Frage nach dem, was menschlichen Beziehungen noch vor den durch Recht und Satzung geregelten Vereinbarungen ihre Konsistenz und Tragfähig­ keit verleiht. Freundschaft ist insofern auch als ein klassisches »mo­ ralisches« Phänomen zu bezeichen, als es in ihr auch um die Frage geht, was ein vorzügliches Verhalten gegenüber anderen Menschen charakterisiert. Eine Theorie der Freundschaft geht folglich nicht nur mit einer Selbstdeutung des Menschen einher, sie ist vor allem der Versuch einer begründeten Rechtfertigung ihrer gemeinsamen Pra­ xis. Daß Platon und Aristoteles gerade dem Handeln des Menschen in übergreifenden sozialen Gefügen einen besonderen Stellenwert beigemessen haben, bedarf an dieser Stelle keiner ausdrücklichen Be­ gründung. Der Hinweis mag genügen, daß für beide die Erörterun­ gen der Freundschaft nicht allein im Horizont der Sozialität des Menschen stehen, sie vielmehr ein Leben ohne Freunde als ein miß­ lungenes Leben betrachten.2 Was die zweite These anbelangt, so ist kaum ein anderer Begriff derart geeignet, das Zusammenspiel von Selbstbezug und Weltbezug in der griechischen Ethik zu thematisieren wie jener der Freund­ schaft. Das zeigt nicht nur die Eigenart seines Gebrauchs bei Platon und Aristoteles, die ihn ebenso zur Charakterisierung intersubjekti­ 2 In den Nomoi heißt es bei Platon im Zusammenhang jener Güter, die für ein glückszuträgliches Leben erforderlich sind, daß ein Mensch ohne Freunde wahrhaft be­ dauernswert sei (730 c). Er würde sein Leben, zumal im fortgeschrittenen Alter im Zu­ stand völliger Vereinsamung verbringen. Und Aristoteles stellt nicht nur den Erörte­ rungen in den Freundschaftsbüchern die Feststellung voran, daß die Freundschaft zu den notwendigsten Gütern des menschlichen Lebens zu rechnen sei (EN VIII.1.1155 a 3-5; vgl. EE 1234 b 34; Pol. II.4.1262 b 7), er reflektiert diesen Zusammenhang in einem eigenen Abschnitt über die Autarkie des glücklichen Menschen (EN IX.9).

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Freundschaft und Selbstliebe bei Platon und Aristoteles https://doi.org/10.5771/9783495997499 .

Einführung

ver Bezüge einsetzen, wie sie ihn reflexiv zur Bestimmung des Selhstverhältnisses einer Person verwenden: Man ist nicht nur mit anderen befreundet, man ist es in besonderer Weise auch mit sich selbst. Anders formuliert: Dem Menschen geht es in seinem Verhal­ ten zu anderen immer auch um sich selbst. Deshalb ließe sich der Ausdruck der »Freundschaft« im transitiven wie intransitiven Sinne auch als ein grundlegender Topos für die Gestalt der Subjektivität anführen, wenn man deren spezifisches Kennzeichen dahingehend versteht, daß Subjektivität ein Verhältnis zu sich selbst innerhalb eines Verhältnisses zu einem anderen oder zu etwas anderem beschreibt.3 In Untersuchungen zum Thema der Selbstbeziehung in der An­ tike hat neben der Beschäftigung mit den Fragen eines selbstbezüg­ lichen Wissens vorwiegend das Platonische Konzept der Selbstsorge (emp,ekeLa eauxoü) eine besondere Aufmerksamkeit erfahren. Spä­ testens durch die Untersuchungen von Pierre Hadot und Michel Foucault ist es zu einem in der wissenschaftlichen Diskussion weithin geläufigen Begriff geworden.4 Der Ausdruck steht gemeinhin für die insbesondere in Platons Frühdialogen entwickelte Lehre der Selbstzuwendung und der Verantwortlichkeit für das eigene Leben. 3 Vgl. dazu neuerdings Rete L. Fetz: Dialektik der Subjektivität: Alkibiades I, Epiktet, Meister Eckhart. - In: Reto L. Fetz, Roland Hagenbüchle und Peter Schulz (Hg.): Ge­ schichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität. (European Cultures. Studies in Literature and Arts, Vol. 11.1 und 11.2). Berlin, New York 1998, Bd. 1, S. 177-203, hier S. 179. 4 Pierre Hadots Untersuchungen der Antike liegt dabei die Annahme zugrunde, daß Philosophie eine Theorie und Praxis einer Lebensform darstellt, die auf die Realisierung des authentischen menschlichen Selbst zielt. (Pierre Hadot: Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike. Berlin 1991[veränd. dt. Ausgabe v. Exercices spirituels et philosophie antique. Paris 1981]). Michel Foucault hat, bezugnehmend aufHadot, den Begriff der »Selbstsorge« als den Leitbegriff einer Philosophie als Lebensform heraus­ gestellt, die mit dem »Erkenne dich selbst« des delphischen Orakels anhebe und in der Praxis einer Selbsttransformation sich vollende (»Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit«. Bd. 2 Frankfurt 1986. (Titel der frz. Originalausgabe: Le souci de soi = Histoire de la sexualite, Tome 2. Paris 1984). Die Sorge um sich. Sexualität und Wahr­ heit. Bd. 3 (Paris 1984), Frankfurt 1986. Ferner ders.: Technologien des Selbst. - In: Luther H. Martin u.a. (Hg): Technologien des Selbst. Frankfurt 1993 (Zunächst erschie­ nen in: L. H. Martin u.a. (Hg): Technologies of the Self. A Seminar with Michel Fou­ cault. Amherst 1988). M. Foucault: Freiheit und Selbstsorge. Interview 1984 und Vor­ lesung 1982. Hg. von H. Becker u.a. (Frankfurt a.M. 1985). P. Courcelle: Connais-toi toi-meme. De Socrate a saint Bernard. Tome I (Paris 1974) Tome II (Paris 1975). Für den dt. Sprachraum ist besonders zu verweisen auf Hans Krämer: Integrative Ethik. Frank­ furt a. M. 1992.

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PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

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Einführung

Zu dieser »Sorge um die Seele« (Apol. 29 d-30 b) kommt es in Folge der Einsicht in die Unzulänglichkeit menschlichen Wissens, die den Menschen zu einem reflektierenden Rückgang auf sich selbst anhält. Gerade für die Bedeutung dieser Hinwendung zu sich selbst ist wich­ tig, daß sie nicht ausschließlich auf einer Introspektion beruht. Es hieße den Begriff der Selbstsorge, wie ihn Platon verwendet, mißver­ stehen, wollte man ihn einzig und allein auf eine Besorgnis um das individuelle Leben beschränken. Die Selbstzuwendung, wie sie mit diesem Begriff angezeigt wird, erfolgt vielmehr im Dienste der Tu­ gend (aper^), die ebenso die Vorzüglichkeit des eigenen Lebens er­ wirkt wie sie dem Zusammenleben mit anderen Menschen dient.5 Insofern korrespondiert der »Sorge um die Seele« notwendig ein Weltbezug. Entgegen der neuzeitlichen Problematik der Selbstbezie­ hung vollzieht sich die Hinwendung auf sich selbst in der Antike noch ganz in der als vorgegeben verstandenen Poliswirklichkeit, in welcher der Mensch seinen ihm nach der natürlichen Ordnung der Dinge zukommenden Platz hat. Wenngleich der Begriff der Selbstsorge durchaus einen Welt­ bezug impliziert, wird doch dessen Verschränkung mit der Hinwen­ dung zum eigenen Leben im Begriff der Freundschaft ungleich deut­ licher. Denn in der Freundschaft ist, anders als in der Selbstsorge, zunächst eine Zusammengehörigkeit der Menschen untereinander ausgedrückt. Den Überlegungen zur Freundschaft kommt überdies insofern auch ein methodischer Vorrang in der Klärung der Selbst­ beziehung zu, als für Platon und für Aristoteles erst auf dem Wege einer Reflexion über das Charakteristikum einer gelungenen inter­ personalen Beziehung auch das Eigentümliche der Selbstbeziehung aufgewiesen werden kann. Es ist in methodischer Hinsicht kein Zu­ fall, daß Platon in der Politeia auf dem Wege einer Reflexion über das Makrogebilde der Polis zur Bestimmung der Selbstübereinstimmung des einzelnen Menschen gelangt, und Aristoteles' Ausführungen über die Selbstliebe in den ethischen Pragmatien sich jeweils an die Darlegungen über die Freundschaft anschließen. Die letzteren Überlegungen legen die noch stärkere dritte These nahe, daß Selbstliebe im positiven Sinne nur im Ausgang von der paradigmatischen Bedeutung der Freundschaft zugänglich ist. Um diese These zu erläutern, gilt es sie vorab vor einer ebenso nahelie­ genden wie irreführenden Interpretation zu schützen: Keineswegs ist 5 Ausdrücklich wird dies etwa in der Apologie gemacht. Apol. 30 a-b.

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Freundschaft und Selbstliebe bei Platon und Aristoteles https://doi.org/10.5771/9783495997499 .

Einführung

damit gemeint, daß die Selbstliebe ein Epiphänomen der Freund­ schaft ist, gleichsam ihren nachgeordneten Reflex darstellt. Die in der Untersuchung herangezogenen Texte sprechen sich vielmehr in aller gewünschten Deutlichkeit dafür aus, daß die Selbstliebe ein­ schließlich jener Illusionen, die durch sie hervorgerufen werden, zur Natur des Menschen gehören. Vor diesem Hintergrund wird ver­ ständlich, weshalb Platon in den Nomoi vor der übergroßen Selbst­ liebe (o^oöpa eantoü ^iXia, V, 731 e 4) als Ursache aller Vergehen warnen kann. Gemieden werden soll die mit der Selbstliebe einher­ gehende egoistische Verfolgung der eigenen Interessen gerade um eines authentischen Selbstbezugs willen, der den anderen Menschen mit einschließt. Keineswegs aber ist diese Warnung vor der Selbst­ liebe gleichbedeutend mit der radikalen Absage an das, was dem Menschen von Natur aus mitgegeben ist.6 Bei Aristoteles heißt es eher beiläufig im Zusammenhang der Diskussion um den Wert persönlichen Eigentums in der Politik: »Sicherlich nicht umsonst hat ein jeder die Liebe zu sich selbst«.7 Diese dritte These, die wir insbesondere anhand der Aristote­ lischen Freundschaftsbücher untersuchen wollen, bezieht sich auf die Annahme, daß es Aristoteles bei der Herausstellung der authen­ tischen Selbstliebe des Tugendhaften auf den Nachweis ankommt, daß die Selbstliebe auf das Entstehen solcher Freundschaften abzielt, in der das Gute eines Freundes als eigenes Gut aufgefaßt wird. Inso­ fern ist die Selbstliebe nicht außerhalb der Bestimmung der Rezipro­ zität unter Tugendhaften möglich. Wie hier eines das andere bedingt, gilt es zu zeigen. Mit der These, daß der positive Sinn der Selbstliebe, wie er in den Theorien Platons und Aristoteles formuliert wird, im Ausgang vom Bezug zu anderen Menschen zugänglich wird, ist indessen eine grundlegende erkenntnistheoretische Voraussetzung getroffen. Ver­ gleichbar dem oben skizzierten Verhältnis von innen und außen steht auch die Problematik eines selbstbezüglichen Wissens in der Antike ganz in der Bewandtnis, nur in der Form möglich zu sein, daß ein reflexives Wissen sich stets auf ein objektbezogenes Wissen richtet, 6 Die zitierte Stelle gilt es folglich nicht isoliert, sondern innerhalb des nachfolgenden Zusammenhangs zu interpretieren, in der Platon ausführt, daß die Aufgabe der egoisti­ schen Verfolgung der eigenen Interessen von der Absicht getragen wird, ein großer Mensch (^eyav avö^a, V, 732 b 2) zu werden. 7 Vgl. Pol. II.5.1263a 41-1263b5 (^ yag oh ^dt^v t^v ahtov ahtoc e%ei ^iXiav exaatoc).

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PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

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Einführung

dessen Gegenstände der Selbstreflexion ihren Inhalt gehen. Gerade dieser Prohlemzusammenhang hat moderne Interpreten immer wie­ der auf die Begrenztheit der Voraussetzungen antiker Erkenntnis­ theorie hinweisen lassen. Zu diesen Voraussetzungen, wie sie der Platonischen wie der Aristotelischen Erkenntnistheorie zueigen sind, zählt insbesondere die Annahme, daß ein Verständnis der Erkenntnis nicht primär vom Erkennenden, sondern von den Gegenständen und Inhalten her zu gewinnen ist. Die Feststellung, daß eine derart ge­ genstandsorientierte Erkenntnistheorie nur in begrenztem Umfang zum Verständnis der Selhstheziehung heizutragen vermag, ist zu einem Gemeinplatz geworden. Gelegentlich wird dahei freilich übersehen, um welchen Preis man sich die Aufgabe der gegenstandsorientierten Theorie einhan­ delt. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang der Aufwertung der Selbstliebe ist die Tatsache, daß weder die Platonischen noch die Ari­ stotelischen Erörterungen die Selbstliebe ausschließlich zum Gegen­ stand einer Theorie erheben oder als letzten Bezugspunkt einer be­ grifflichen Verständigung ansehen. Über die Klärung des Begriffs der Selbstliebe hinaus wird auch von beiden Autoren in pointierter Form ein entsprechendes Handeln empfohlen. Dieser Rahmen, innerhalb dessen sich sowohl die Ausführungen Platons als auch jene des Ari­ stoteles bewegen, ist nicht nur aufgrund des damit verbundenen Selbstverständnisses der Ethik zu berücksichtigen, der es nach Ari­ stoteles mit der Erkenntnis des Handelns zugleich um das Handeln selbst geht. Man hat ihn auch deshalb nicht zu vernachlässigen, weil er direkt in die Begründung des positiven Sinns der Selbstliebe miteingeht. Ihre Aufwertung nachzuvollziehen stellt den zeitgenös­ sischen Interpreten auch vor die Aufgabe, mit zu berücksichtigen, inwiefern die authentische Form der Selbstliebe zur Konsistenz und Tragfähigkeit intersubjektiver Beziehungen beiträgt. Man würde der ^lAta-Theorie, wie sie von Platon und Aristoteles dargelegt wurde, nicht gerecht werden, wollte man darin lediglich das Bemühen um eine adäquate Darstellung ihres Gegenstandes sehen. Dies würde den ihr eigenen Anspruch übersehen lassen, dem gemäß mit der Darstel­ lung der Selbstliebe notwendig der Handelnde selbst und sein Leben im ganzen zum Thema wird. Eine der grundlegenden Voraussetzungen der klassischen Freundschaftstheorie besteht darin, daß verantwortete Praxis stets innerhalb des Bezugs zu einem Menschen steht. Anders als das The­ ma der Selbstsorge ist die Untersuchung der Freundschaft gerade ^ 17

Freundschaft und Selbstliebe bei Platon und Aristoteles https://doi.org/10.5771/9783495997499 .

Einführung

deshalb von Bedeutung, weil sie ihre paradigmatische Bedeutung im Ausgang vom Welthezug und den interpersonalen Bezügen gewinnt, die Interiorität also immer auf der Exteriorität aufhaut. Im Kontext des umrissenen Prohlemhorizonts steht auch diese Ar­ beit. Die Darstellung wird sich in zwei Teile gliedern. Der erste Teil untersucht die Platonischen Dialoge Lysis, Gorgias, Symposion, Phaidros und Politeia mit Rücksicht auf das darin aufscheinende Thema der Freundschaft zu anderen und mit sich selbst. Dabei sollen Platons Überlegungen entwickelt und auf ihre Motive wie auf nahe­ liegende Bezüge hin abgefragt werden. Der zweite Teil will die Aristotelische Freundschaftstheorie durch eine detaillierte, den Argumentationsgang erschließende Kommentierung der Freund­ schaftsbücher rekonstruieren. Eine solche Rekonstruktion ist nicht nur durch den philosophischen Rang dieser Abhandlung gerechtfer­ tigt, sondern auch aufgrund der Stellung, die sie im Gefolge der Pla­ tonischen Ansätze gewinnt. Bei allen Differenzen, die man in der Regel zwischen der Platonischen und Aristotelischen Theorieent­ wicklung feststellt, darf man die Kontinuität der Problemstellung nicht verkennen. Es ist eine der Aufgaben der nachfolgenden Unter­ suchung, zu zeigen, daß bei einer weitgehenden Gemeinsamkeit in der Problemstellung erst in den Aristotelischen Freundschaftsbü­ chern das Problem der Freundschaft so aufgegriffen wird, daß auch die bei Platon offengebliebenen Fragen einer Antwort zugeführt wer­ den können. Daß in dieser Arbeit also Aristoteles nach Platon behan­ delt wird, spiegelt nicht einfach ein geschichtliches Nacheinander wi­ der; vielmehr geht es um die Erfassung des inneren, thematischen Bezugs, der die Aristotelische Theorie bei aller Eigenständigkeit mo­ tivationsgeschichtlich an die Platonische zurückbindet. Ob diese The­ sen sich rechtfertigen lassen, wird nach der vorhergehenden Rekon­ struktion der Argumentation in den beiden Hauptteilen am Ende zu beurteilen sein.

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Erster Teil: Platons Theorie der Freundschaft

Die Frage, inwiefern die griechische Philosophie das Thema der Selhsthezüge reflektiert hat, ist im Blick auf Platon wie auf Aristote­ les in vielfacher Weise erörtert und diskutiert worden. Unter den Platonischen Dialogen, die für dieses Thema aufschlußreich sind, hot sich für die Untersuchung von reflexiven Selhstheziehungen vor allem der Dialog Charmides mit seiner Erörterung der Tugend der Besonnenheit an. Ohwohl die Erörterung kontrovers verläuft, spricht doch vieles für die Annahme, daß die hei Platon untersuchten refle­ xiven Strukturen des Wissens anders als für die neuzeitliche Traditi­ on der Reflexionsprohlematik stets Strukturen vom Typus einer üher einen Gegenstand hzw. ein Gegenstandsgehiet vermittelten Selhstheziehung sind.1 Daraus zu folgern, daß man es sowohl in den Wer­ ken Platons als auch in denen des Aristoteles vorwiegend mit einer gegenstandshezogenen Reflexion zu tun hahe, die zum Thema der Selhsthezüge kaum Nennenswertes heizutragen hahe, wäre aller­ dings irreführend. Der sokratische Elenchos kann geradezu als me­ thodisches Musterheispiel dafür gelten, wie mit der Überprüfung der durch die Gesprächspartner vorgetragenen Meinungen eine Entlar­ vung jener persönlichen Üherzeugungen und Einstellungen einher­ geht, mit denen sich der Gesprächspartner jeweils identifiziert und die einen Selhsthezug vermuten lassen. Selhsthezüge hesonderer Art liegen dem Platonischen Werk im Umkreis jener Dialoge zugrunde, die sich mit dem Thema der Liehe oder aher auch mit der Bestimmung des gerechten Handelns hefassen

1 Unter den vielzähligen Untersuchungen seien hier vor allem die Untersuchungen von Klaus Oehler: Die Lehre vom Noetischen und Dianoetischen Denken hei Platon und Aristoteles. Ein Beitrag zur Erforschung der Geschichte des Bewußtseinsprohlems in der Antike. Hamhurg 1985; sowie Wolfgang Wieland: Platon und die Formen des Wis­ sens. Göttingen 1982, hes. S. 309 ff., erwähnt.

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und die Gegenstand der nachfolgenden Überlegungen sind.2 Das Charakteristische dieser Selbstbezüge läßt sich vor allem hinsichtlich zweier Gesichtspunkte verdeutlichen. Zum einen handelt es sich hierbei nicht um die Erörterung eines selbstbezüglichen Wissens, wie sie Gegenstand des Charmides ist. Im Vordergrund der zu erörternden Selbstbezüge steht vielmehr jener allgemeine Zusam­ menhang, gemäß dem jede intentionale Ausrichtung des strebenden und handelnden Subjektes in letzter Instanz auf das Subjekt selbst zurückführt. Was auch immer als Ziel des Handelns erstrebt wird, der Handelnde will es, weil es als gut und nützlich für ihn selbst erscheint. In dieser Hinsicht liegt allem Streben und Handeln eine Weise des Selbstbezugs zugrunde. Neben diesem allgemeinen Modell findet sich jedoch noch ein weiteres, spezifischeres Charakteristikum des Selbstbezugs, das ins­ besondere im Rahmen der Beziehungen zu anderen Menschen erörtert wird. Gleich, ob hierbei wie im Lysis im Vordergrund die Frage nach der Tugend der Freundschaft steht, ob, wie im Gorgias, das Herrschen über andere Menschen oder aber, wie in der Politeia, das gerechte Handeln anderen gegenüber erörtert wird, jeweils geht es um die Problematik, daß die Möglichkeit eines moralischen Ver­ haltens anderen Personen gegenüber auf die Voraussetzung der Möglichkeit eines »wahren« Selbstbezugs zurückweist. So führt im Lysis Sokrates in der Diskussion mit Menexenos die Möglichkeit einer Freundschaft mit anderen Menschen auf die Voraussetzung zurück, daß das Subjekt einer solchen Freundschaft ein guter Mensch sein müsse, da nur ein solcher mit sich selbst übereinstimme. Ähn­ lich geht es Sokrates in der Politeia um den Nachweis, daß ungerech­ te Handlungen zwangsläufig zur Folge haben, daß ein Mensch mit sich selbst uneins ist, Feind seiner selbst wird, und er infolgedessen weder sich selbst noch anderen gegenüber gerecht zu handeln ver­ mag.3 In einem ersten Schritt in der Untersuchung der drei Dialoge Lysis, Gorgias und Politeia soll gezeigt werden, wie dem Phänomen nach das, was später bei Aristoteles unter dem Begriff der Selbstliebe in den Freundschaftsbüchern der Nikomachischen Ethik dargestellt 2 Nicht zufällig wird auch später, bei Aristoteles, die Erörterung der Selbstliebe in Ana­ logie zur Frage, ob man sich selbst gegenüber gerecht sein kann, eingeleitet. 3 Weitere Stellen in der Politeia: 351 e-f.; vgl. 367 a, 413 e, 428 d, 430 e-f., 434 d, 441 c, 443 c, 579 c, 580 c, 621 c; Nom. 626 c, 644 b.

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wird, bereits bei Platon über die Erörterung des »Zugehörigen« der Person (olxetov) gegen Ende des frühen Dialogs Lysis eingeführt wird. Um einen anderen Menschen als ein Gut für das eigene Leben, ja als das am meisten erstrebte Gut im Leben (212 a 5 f.) betrachten zu können, wird im Lysis eine Klärung der Frage erforderlich, wie denn der eine zum Freund des anderen werden könne. Daß nur mora­ lisch gute Menschen die Voraussetzung für ein Befreundetsein mit anderen mit sich führen, war ein der antiken Dichtung und Natur­ philosophie durchaus geläufiger Topos, auf den sich auch Platon des öfteren bezieht. Freilich geht es Platon bei der Überprüfung dieser Annahme vor allem um die Erörterung eines »moralischen Wis­ sens«, das den moralisch vorzüglichen Menschen befähigt, sich einem anderen über dessen »funktionellen« Wert bzw. Nutzen hin­ aus anzuvertrauen. Diese Voraussetzung, so soll in dieser Interpre­ tation des Lysis gezeigt werden, kann ihrerseits nicht in den Blick kommen, solange man sich in einem allgemeinen Sinne mit der Fest­ stellung begnügt, gemäß der ein jeder Mensch in seinem Leben auf das erste Geliebte (nprötov ^dov) bezogen ist. Für die leitende Fragestellung dieser Untersuchung, welche Rol­ le der Selbstliebe in der philosophischen Ethik zukommt, ist der Dia­ log Gorgias nicht minder aufschlußreich, in dem Platon die Bestim­ mung des gerechten Handelns bzw. der Gerechtigkeit auf die Frage nach dem zurückführt, was es bedeutet, mit sich selbst eins zu sein. Die Metapher, der sich Platon für die Darstellung dieses Zusammen­ hangs bedient, ist jene der seelischen Gesundheit des Gerechten. Man hat gelegentlich diese Platonische Metapher der »seelischen Gesund­ heit« des Gerechten dahingehend interpretiert, daß mit ihr ein ethi­ sches Konzept der Ausgewogenheit menschlichen Lebens einher­ gehe, das zugleich den wahren Nutzen wie das Motiv moralischen Lebens nach Platon darstelle. Gegenüber einer solchen Darstellung geht es in unserer Interpretation darum, zu zeigen, daß für Platon Inhalt der Selbstliebe weniger das Modell eines Ausgeglichenseins von Strebungen einerseits und rationalen Überlegungen andererseits ist, als vielmehr die Frage, was es bedeutet, daß der Mensch in seinem Leben immer mehr er selbst wird. Von hier aus kann der Platonische Elenchos, mittels dessen ein Mensch zur Überprüfung geläufiger Meinungen und Ansichten angehalten wird, geradezu als die Metho­ de schlechthin für das Erreichen des Zieles, nämlich er selbst zu wer­ den, verstanden und in seinem Zusammenhang mit der Selbstliebe dargestellt werden. ^ 21

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Was sich bereits im Gorgias hinsichtlich der seelischen Gesund­ heit des Gerechten im Blick auf die Selbstliebe andeutet, findet seine systematische Erörterung in jenen Partien der Politeia, in denen das Mitsichbefreundetsein des moralisch vorzüglichen Menschen als Höhepunkt der Platonischen Bestimmung der Tugend dargelegt wird. In den Ausführungen über das Mitsichbefreundetsein des Ge­ rechten wird die leitende Fragestellung des Dialogs nach dem Nutzen und Motiv gerechten Handelns zu einem vorläufigen Abschluß geführt. Diesem Mitsicheinssein der einzelnen Teile der Seele wie der Teile der Polis, so wird zu zeigen sein, kommt eine grundlegende Funktion innerhalb moralphilosophischer Erörterungen insofern zu, als Platon auf diesem Wege die Verklammerung der Motivationsfra­ ge, welchen Nutzen derjenige erfährt, der gerecht handelt, mit der Frage, weshalb gerechtes Handeln erforderlich ist, aufzuzeigen sucht.

1.1 Freundschaft und Freundesliebe: Der Dialog Lysis Daß der Dialog Lysis implizit wie explizit das Thema der Selbstliebe behandelt und untersucht, wie die Liebe (^lAta) im Selbstbezug ver­ ankert ist, ist öfter, auch kritisch, angemerkt worden.1 Hinsichtlich der Entstehungszeit dieses Dialogs geht man heute weitgehend da­ von aus, daß der Lysis vor dem Symposion und dem Phaidros verfaßt wurde.2 Was den formalen Aufbau des Dialogs anbelangt, handelt es sich beim Dialog über die Freundschaft wie sonst auch im Charmides 1 Vgl. Ursula Wolf: Die Suche nach dem guten Leben. Platons Frühdialoge. Reinbeck 1996, S. 129-150; Paul Seech: Plato's Lysis as Drama and Philosophy. Ph. D. Thesis, Univ. of California. San Diego 1979, S. 71; Hans-Georg Gadamer: Logos und Ergon im platonischen Lysis. - In: ders.: Kleine Schriften III. Tübingen 1972, S. 50-63; Gregory Vlastos: The Individual as Object of Love in Plato. - In: ders.: Platonic Studies. 2. Aufl. Princeton 1981, S. 3-42. Zu Vlastos vielbeachteter These, daß »the lover Socrates has in view seems positively incapable of loving others« (S. 8), vgl. weiter unten Anm. 19. Nicht mehr eingearbeitet wurde in die vorliegende Darstellung die vorzügliche Arbeit von Michael Bordt: Platon: Lysis. Uebersetzung und Kommentar (Platon: Werke. Bd. V 4. Hrsg. v. Ernst Heitsch und Carl Werner Müller), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998. 2 Zur Chronologie der Platonischen Dialoge vgl. Leon Robin: La theorie platonicienne de l'amour. 3. Aufl. Paris 1964, S. 44-46. Zur Datierung des Lysis vgl. außerdem Hans v. Arnim: Platos Jugenddialoge und die Entstehungszeit des Phaidros. Hamburg 1914, S. 37-70, sowie Donald N. Levin: Some Observations Concerning Plato's Lysis. - In: John P. Anton und George L. Kustas (Hg.): Essays in Ancient Greek Philosophy. Albany 1972, S. 236-258.

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um einen erzählten Dialog, hei dem der Adressat des Berichts unge­ nannt hleiht. So manchem hekannten Interpreten gilt der Lysis als ein miß­ lungener Dialog.3 4Man hat ihn auch als eine Art logischer Ühung, die sowohl eines substantiellen Inhalts als auch einer eigenen Theorie der Freundschaft entbehrt, eingestuft. Demgegenüber findet sich eine andere Lesart, die die Behandlung der Freundschaft und der Lie­ be in diesem Dialog als eine Art transitorisches Moment, als ein Prolegomenon zum Symposion, dem Phaidros sowie dem Staat inter­ pretiert. Diese Interpretationen berufen sich dabei vorwiegend auf die Bestimmung des nprötov ^ilov im Lysis und seine sachliche Nä­ he zum xakov avxö im Symposion bzw. der Idee des Guten in der Politeia.4 Im übrigen lassen jene Interpretationen, die den Lysis le­ diglich als eine Art zweitrangige Schrift gelten lassen, übersehen, daß grundlegende Einsichten der Aristotelischen Freundschaftskonzepti­ on in Auseinandersetzung mit dem Lysis entwickelt wurden. Der Dialog, der gelegentlich aufgrund seiner großen Nähe zum Charmides insbesondere in der Eingangspartie dessen »Zwillings­ bruder« genannt wurde,5 wird innerhalb der Frühdialoge zu den so­ genannten »Definitionsdialogen« gerechnet: Gegenstand der Unter­ 3 Vgl. William K. C. Guthrie: A History of Greek Philosophy I—VI. Cambridge 1962— 1981. Bd. IV: Plato. The Man and his Dialogues: Earlier Period, 1975, S. 143: Sein Urteil »is simply that the Lysis is not a success«. Ähnlich George Grote: Plato and the Other Companions of Socrates. 2. Aufl. London 1975, S. 186: »To multiply defective explanations, and to indicate why each is defective, is the whole business of the dialogue.« Weitere Beispiele für eine derartige Geringschätzung des Lysis nennt Thomas A. Szlezak: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Berlin 1985, S. 117, Anm. 1. Da, so Szlezak, die Frustration, die beim Lesen dieses Dialogs entsteht, jedoch beabsich­ tigt ist, »werden wir eher die Naivität, mit der über Platons nicht ganz ausreichendes Talent geurteilt wird, zwar nicht frustrierend, aber doch deprimierend finden«. Ähnlich Ursula Wolf: Die Suche nach dem guten Leben, S. 129: »Für einen mißlungenen Dialog besitzt er einen überraschend kunstvollen Aufbau«. Die Geringschätzung des Lysis ist wohl auch auf die von Diogenes Laertius (III.35) kolportierte Anekdote zurückzuf­ ühren, nach der dieser Platonische Dialog nach seiner Verlesung von Sokrates selbst heftigst kritisert wurde. Zur Fortwirkung dieser Anekdote im 19. Jahrhundert vgl. Ro­ bert G. Hoerber: Plato's Lysis. — In: Phronesis 4 (1959), S. 15—28, hier S. 15. 4 Vgl. dazu etwa Hans Joachim Krämer: Arete bei Platon und Aristoteles. Zum Wesen und zur Geschichte der platonischen Ontologie. Heidelberg 1959, bes. S. 499ff. Ferner die Ausführungen bei Laszlo Versenyi: Plato's Lysis. — In: Phronesis 20 (1975), S. 185— 198, hier S. 185 f., Anm. 2 (mit ausführlichen Belegen). 5 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf: Platon. 2 Bde. 2. Aufl. Berlin 1920, Bd. I, S. 68. Hans von Arnim: Platos Jugenddialoge und die Entstehungszeit des Phaidros, S. 69 ent­ hält einen ausführlichen Vergleich der Eingangsszene beider Dialoge.

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redungen ist die Bestimmung der Tugend der ^ilta bzw. des ^ilov. Der Einleitungsszene (203 a-207 d) folgen zwei Unterredungen, eine zwischen Sokrates und Lysis, das sogenannte protreptische Ge­ spräch (207d-210e), sowie nach einem kurzen Zwischenstück (210 e 1-211 d 5) das »eristische« Gespräch des Sokrates mit Menexenos (211 d 6-213 d 5), bevor dann das Hauptgespräch zwischen Sokrates, Lysis und Menexenos (213 d 6-222 e 7) einsetzt, in wel­ chem das ^tlov als Gegenstand menschlichen Strebens behandelt wird. Das Gespräch endet abrupt, als die Pädagogen der beiden Jun­ gen eintreffen und sie nach Hause bringen. 1.1.1 Die Ausgangssituation des Lysis Kunstvoll werden bereits in der Einleitungszene die einzelnen Mit­ spieler in Szene gesetzt. Ort des Gesprächs ist die Palaestra, wo So­ krates auf den in den Knaben Lysis verliebten Hippothales sowie auf seinen Freund Ktesippos trifft. Durch den Spott des Ktesippos über die Liebeslieder und Gedichte seines Freundes veranlaßt, fordert So­ krates, dem von Gott die Gabe der Erkenntnis des Liebenden und Geliebten verliehen ist,6 den Hippothales auf, Rechenschaft abzule­ gen über sein Verständnis (öidvota, 205 b 2) der Liebe. Daß es sich bei dieser Überprüfung der Liebesauffassung um alles andere als um einen »akademischen« Disput über die angemessene Abfassung von Liebeserklärungen handelt, wird ebenfalls im Einleitungsteil darge­ legt. Sich selbst Rechenschaft abzulegen, wie dies Sokrates von Hippothales verlangt, schließt vielmehr die Überlegung ein, ob man sich selbst in seinem Tun und Reden schadet oder nutzt.7 Noch vor dem Beginn der Erörterung der ^ilta führt Sokrates nicht dem Begriff, wohl aber der Sache nach das Thema des Selbstbezugs ein, wie er 6 eipi 6’ Eym ta pEv aXla ^anlog Kai ax0t|otog, toüto 6E pot mmg Ek 0eoü 6E6otai, taxü ot'm t’ eivai yvmvai EQmvta te Kai Egmpevov. (»Übrigens wohl mag ich schlecht sein und wenig nutz; dieses aber ist mir so von Gott verliehen, daß ich gleich erkennen kann Liebende sowohl als Geliebte.« 204 b 8-c 2). Vgl. dazu auch Symp. 177 d. Platon wird, wenn nicht anders vermerkt, in deutscher Übersetzung nach der Ausgabe von Gunther Eigler (Platon: Werke in acht Bänden. 3. Aufl. Darmstadt 1990) zitiert. Zu wichtigen Ausdrücken und Sätzen ist der griechische Text der Ausgabe von J. Burnet hinzugefügt, nach dessen Zeilenzählung auch zitiert wird. 7 Kattoi olyai Eym avSga moi^oei ßlamtovta Eantov ohx av oe E0Eleiv opoloy^oai mg äya0ög mot’ Eotiv moirft^g, ßlaßegog mv Eantm. (»Denn ich glaube doch, demje­ nigen, der durch seine Dichtungen sich selbst schadet, wirst du nicht zugestehen wollen, daß er ein guter Dichter sei, da er sich selbst zum Schaden ist.« 206 b 6-8).

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dem Verlangen nach einem Freund zugrundeliegt: Dem Hippothales hält er vor, dieser bringe seine Lohgedichte auf den Lysis aus ei­ gennützigen Motiven vor. Sollte ihm nämlich die Eroberung des Ly­ sis gelingen, so fiele das Loh auf den erfolgreichen Liehhaher Hippothales selbst zurück (205 e). Er käme dadurch ebenso zu Ehren wie er heim Scheitern des Versuchs Spott ernten müßte. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang nicht nur Sokrates' Vergleich des wahren Liebhabers mit einem Jäger, sondern auch der Umstand, daß Hippo­ thales auf diesen impliziten Selbstbezug seines Tuns erst durch So­ krates hingewiesen werden muß. Als Hippothales sein Unvermögen eingesteht, die Gunst des Ge­ liebten zu gewinnen, bietet sich Sokrates an, die Unterredung mit Lysis zu führen, um ihm damit zu zeigen, wie man einen Menschen sich gewogen stimmen kann. Auf diese Weise werden erst Lysis, spä­ ter dann sein Freund Menexenos von Sokrates ins Gespräch gezogen. Das Einleitungsgespräch führt neben der Vorstellung der beteiligten Personen auch das Thema des Dialogs ein, indem es zwei Formen von ^iXta bzw. EQrnc, vorstellt: die egoistische Verliebtheit des Hippotha­ les und die »naturhafte« Freundschaft der beiden Jungen.8 Daraus entsteht die Frage nach der richtigen, angemessenen Form der ^iXta. 1.1.2 Freundschaft und Vertrauen Um mit der Pointe des ersten Teils der Unterredung zwischen Sokra­ tes und Lysis anzufangen: die protreptische Unterredung zwischen Sokrates und dem jungen Lysis endet mit dem Eingeständnis aus dem Munde des Lysis, daß er noch kein verständiger Mensch sei und infolgedessen von den Menschen nicht als Freund begehrt wer­ den kann. Dem liegt die Einsicht zugrunde, daß erst ein in bestimm­ ten Angelegenheiten kompetenter, und das heißt tauglicher und gu­ ter (x0^oip,oc; xal ayaOoc;, 210 d 2) Mensch auch anderen als ein Freund (91X05) gelten könne. Gewiß weist Sokrates auf diese Weise Hippothales einen Weg, wie mit einem Menschen, dessen Freund­ schaft man sich erwerben will, umzugehen sei: Statt diesen in der 8 Vgl. Hans-Georg Gadamer: Logos und Ergon im platonischen Lysis, S. 54: »Freund­ schaft ist für sie jene naive Kameradschaft des Wettbewerbs und des Prahlens, in der sich Kinder miteinander anwärmen. Doch liegt in dieser Art der Freundschaft, die sich im Wettbewerb des Vergleichens bewegt, eine erste fraglose Gemeinsamkeit, die bereits ins Wahre deutet.«

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eigenen Eitelkeit durch lohende Worte zu bestärken, komme es viel­ mehr darauf an, ihn zu »demütigen«, ihn in seinem Glauben in seine eigene Selbstgenügsamkeit zu erschüttern (210 e 2 ff.).9 Diese Bloß­ stellung durch Sokrates wiederum erfolgte in der Absicht, Hippothales zu zeigen, wie man vorgehen müsse, um dem Geliebten ange­ nehm zu werden (206c1ff.). Daß Sokrates dieser »Versuch« gelingt, dafür spricht, daß Lysis ihn zum nachfolgenden Gespräch mit Menexenos bewegt, Sokrates also zum Vertrauten der eigenen Angelegenheit seiner Freundschaft mit dem gleichaltrigen Menexenos macht. Aufschlußreich in diesem Zusammenhang ist jedoch weniger das Ergebnis der Bloßstellung des Lysis, als vielmehr die Frage, auf welchem Wege und d. h. durch welche Reden dies Sokrates gelingt. Zu Beginn des Gesprächs mit Lysis wird das Thema des Dialogs aus­ gehend vom Beispiel der Elternliebe dargelegt. Zu ihrer Charakteri­ sierung wird erstmals eine wichtige Bedeutung des Verbes ^iXetv erwähnt: Daß Eltern ihre Kinder lieben bedeutet, daß sie das höchstmögliche Glück ihrer Kinder wollen.10 Das Glück der Kinder, um das es den Eltern in ihrer Liebe zu tun ist, kann seinerseits nicht unabhängig von der Erfahrung bestimmt werden, daß glücklich und erfüllt zu sein soviel bedeutet wie alles tun zu können, was man will und wonach man begehrt.11 Damit ist der Sache nach bereits ein zen­ traler Aspekt des Strebens und Wollens eingeführt, wie er im wei­ teren Verlauf des Dialogs noch eingehender zur Sprache kommt: Das Ziel des Strebens im ganzen wird später unter dem Begriff des npmxov 91I0V als das erörtert, was in allen partikulären Strebenszielen intendiert wird. Haben aber Eltern das Glück ihrer Kinder auch dann vor Augen, wenn sie ihm nur bestimmte Tätigkeiten erlauben, andere jedoch verbieten? Die Antwort auf diese Frage des Sokrates an Lysis bringt 9 Vgl. auch 206 a 1-4: »Wer also, o Freund, in der Kunst zu lieben ein Meister ist, der lobt den Geliebten nicht eher, bis er ihn hat, aus Furcht, wie die Sache ablaufen werde. Überdies auch werden die Schönen, wenn man sie lobt und verherrlicht, voll Einbildung und Hochmut.« 10 207 d 5-e 1: ^ rton, ö5 eyü, w Ahoi, oyobga ^iXet ae o xal ^ ^t^q ndvn ye, ^ ö5 05. - Ohxohv ßohXoivTo dv ae ehöai^oveaTaTov eivai - Hwg yd@ oh 11 Die Auffassung, daß Glück gleichbedeutend mit der Freiheit ist, tun zu wollen, was man will, war eine dominierende Vorstellung der Demokratie, in der Lysis lebte. Vgl. dazu auch Rep. 557 b, 561 d; La. 179 a 4-8; Aristoteles Pol. V. 9.1310 a 32-35.

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vor die allgemeine Erörterung des Zusammenhangs von Glück und Einsicht, zu dem die Untersuchung der Elternliebe hinführte, jedoch ohne daß dieser Zusammenhang in ihrem Rahmen erschöpfend be­ handelt werden konnte. Zunächst gilt: Wenn Eltern ihre Kinder in dem Sinne lieben, daß sie deren Glück wollen, so heißt dies, daß sie dem Kind nur das erlauben zu tun, wovon es sich eine Einsicht ver­ schafft hat, wenn anders es sich selbst Schaden zufügt. Wenn aber erst die Einsicht den rechten Umgang mit den jeweiligen Angelegen­ heiten ermöglicht, und es von ihrem Erwerb abhängt, daß jemand tun und lassen kann, was er will, so ist ohne sie auch das Glück des Menschen nicht denkbar.12 Man könnte an dieser Stelle einwenden, daß der Aufweis des Zusammenhangs von Glück und Einsicht mit dem Thema des Dia­ logs kaum etwas zu tun hat. Doch ließe ein solcher Einwand überse­ hen, daß gerade dort, wo der Ausgangspunkt der Elternliebe zugun­ sten der allgemeineren Frage nach den Bedingungen der rechten Gemeinsamkeit mit anderen Menschen verlassen wird, ein wichtiger Aspekt der ^lAta eingeführt wird. Ebenso wie die Eltern dem Kind die Regelung ihrer Angelegenheiten überlassen, sobald es sich die erforderliche Einsicht angeeignet hat, werden sich auch andere Men­ schen Lysis anvertrauen, sowohl in privaten wie öffentlichen Ange­ legenheiten. Die von Sokrates angeführten Angelegenheiten bezie­ hen sich auf die verschiedenen Lebensbereiche wie die Ökonomie und die Politik. Offensichtlich dient diese Analogie dazu, jene Bedeutung der ^lAta einzuführen, wie sie in einem weiten Sinne den Beziehungen unter Menschen, die sich einander aufgrund bestimmter Einsichten anvertrauen, zugrundeliegt. Diese Einsicht besteht darin, daß ein Mensch, der sich bestimmte Handlungskompetenzen erworben hat, anderen als schätzenswert, »lieb« erscheint. Fragt man nach der Grundlage der rechten Gemeinsamkeit unter Menschen, nach dem, weshalb sich ein Mensch dem anderen anvertraut, so läßt sich als ein Grund dafür die Klugheit (^pov^otc;) bzw. die Erfahrenheit nennen. Klugheit, so zeigen die Beispiele des Sachverständigen in Haushalts­ angelegenheiten, eines Arztes etc., die Sokrates anführt, ist hier noch 12 Die gleiche Überlegung, wonach Heranwachsende erst zu dem Moment sich selbst überlassen werden dürften, zu dem sie die rechte Verfassung erlangt haben, wird Platon in der Politeia wieder aufgreifen. Rep. IX, 590 e — 591 a. Vgl. dazu weiter unten, Ab­ schnitt 1.5.3.

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in einem weiten Sinne eines Erfahrungswissens wie einer Hand­ lungskompetenz zu verstehen, die es als begründet erscheinen lassen, daß man sich trotz augenscheinlich widersprechender Indizien einem Fachkundigen eben aufgrund seines Wissens anvertraut.13 Einem sachkundigen Augenarzt, so Sokrates, würde man sich, selbst wenn er Asche in die Augen streut, aufgrund seines Rufes als guter Arzt nicht entziehen (210 a 1 ff.). Die Bestimmung der 91X1,0 im Sinne eines begründeten Sichanvertrauens, demzufolge sich ein Mensch dem anderen aufgrund sei­ ner bestimmten Fähigkeiten und Fertigkeiten zuwendet, steht in der ersten Unterredung im Vordergrund. Es sind folglich bestimmte Vorzüge, die einem Menschen zu eigen sind und weshalb andere sich ihm anvertrauen. Dieser Zusammenhang klingt bereits gegen Ende des ersten Abschnitts im Lysis an, wenn Sokrates den Lysis fragt, ob man jemandem lieb ist »in Hinsicht auf dasjenige, wozu wir unnütz sind«.14 Bereits hier zeigt sich, daß 91X10 keinesfalls auf eine subjek­ tive Neigung zurückgeführt werden kann, und man sich folglich nicht im Bereich des Irrationalen bewegt, wenn man versucht, die Struktur dieser nichtdiskursiv erworbenen Wertschätzung aufzuklä­ ren. Zweifelsohne handelt es sich bei der 91X10 um ein Wissen, wenn auch um eines eigener Art. Einmal zugestanden, daß die sachkundige Kompetenz eines Menschen den Grund bildet, weshalb sich ein Mensch einem anderen anvertraut, ihn schätzt bzw. »liebt«, kann auch Lysis einräumen, daß er, der noch des Lehrers bedarf, zur Freundschaft in dem erörterten Sinne des Für-andere-nützlich-Seins noch nicht geeignet ist. Das Ergebnis des protreptischen Gesprächs kann zusammenfassend so umschrieben werden, daß die rechte Ein­ sicht und die Verständigkeit in Angelegenheiten die Voraussetzung dafür darstellt, daß andere Menschen dem Lysis »freund« (91X05) und »zugetan« (01x8X05) wären, da er sich als brauchbar und nützlich erweisen würde.15 13 Vgl. Prot. 340 a 7-b 2. 14 210 c 5f. üq’ oüv trn 91A0L Eoo^80a xatT15 r|p,ä5 9lA^oel evTOUT015, ev 015 av ävm98X8X5 15 210 d 1-4. ’Eav ^ev aga 00905 yev^, m max, mavt85 001 91A0L xai mavt85 001 01x8x01 E00vtai - xepoi^05 yag xai dya0Ö5 eo^ - 8i 6e p,f|, 00'i 0ÖT8 aAA05 0ÖS815 0ÖT8 o matr|Q 91A05 eotol 0ÖT8 r| ^Tt|Q 0ÖT8 0101x8X01. Hier wird bereits der Schluß­ teil des Dialogs vorweggenommen, der die Bestimmung der 91X10 im Ausgang vom 01x8X05 enthält. Vgl. dazu Konrad Glaser: Gang und Ergebnisse des platonischen Lysis. - In: Wiener Studien 53 (1935), S. 47-67, hier S. 48.

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Auffällig ist im ersten Teil der Unterredung aber auch der hier behandelte Zusammenhang der erworbenen Handlungskompetenz mit dem Selbstverständnis seines Inhabers. Durch den Erwerb von praktischem oder technischem Wissen, von Fähigkeiten und Fertig­ keiten im Hauswesen oder in der Politik wird derjenige, der sie sich aneignet, nicht nur nützlich für andere; er wird auf diese Weise erst zu dem, der er ist und sein möchte. Folglich ist nicht allein das Ge­ brauchswissen bzw. die Klugheit hinsichtlich ihres Nutzens für ande­ re hier thematisch, vielmehr geht es darüberhinaus auch um jenes Selbstbewußtsein, das mit dem Erwerb des nutzbringenden Wissens einhergeht. Die Verständigkeit ist nicht allein erforderlich, um ande­ ren Menschen »freund« zu werden; vielmehr bildet sie auch den ur­ eigensten Bereich des Selbstbezugs in dem Sinne, daß das, worauf sich der Handelnde in seinem Tun jeweils versteht, zugleich das ist, was er uneingeschränkt auszuüben imstande ist. Hier schließt sich der Bogen zu dem eingangs thematisierten Zusammenhang zwischen der Elternliebe und dem Wunsche, alles tun zu können, was man will: »Darüber, wovon wir uns richtige Einsichten erworben haben, wird jedermann uns schalten lassen, Hellenen und Ausländer, Männer wie Frauen; wir werden darin tun, was wir nur wollen, und niemand wird uns gern hindern, sondern wir werden hierin ganz frei sein und auch gebietend über andere, und dieses wird das Unsrige sein, denn wir werden Genuß davon haben.«16 Vor diesem Hintergrund erscheint auch die Aporie, in die Sokrates Lysis geführt hat, als der absichtlich inszenierte Wendepunkt, an dem Lysis danach verlangt, seine Le­ bensführung von begründeteren Auffassungen her verstehen zu können, ein Selbstverständnis, in dem das, was er weiß, mit dem, was er ist, als unauflöslich miteinander verbunden erscheint. 1.1.3 Freundschaft zwischen Liebe und Begehren Im anschließenden, sogenannten eristischen Gespräch zwischen So­ krates und Menexenos17 wird das Thema des Dialogs neu eingeführt. Nicht die Frage, was Freundschaft sei, sondern wie man einen Freund 16 210 a 9 -b 5. eig ^ev xaüxa, & av ^QÖvi^oi yEvm^E0a, ämavxeg r|p,Tv EmrcQE^onoiv, eXXx|ve5 xe xai ßdgßaQoi xai avÖQEg xai yxivaixeg, moi^oo^Ev xe Ev xonxoig öxi av ßonXm^e0a, xai oESeig r|p,äg Exmv eivai E^mo6iet, äXV aExol xe EXeE0eqoi Eoö^e0a Ev aExotg xai aXXmv aQxovxeg, ^^Exeqü xe xaüxa Eoxai17 Die Bezeichnung dieses Teils der Unterredung als »eristisch« bezieht sich auf 211 b 8, wo Sokrates Menexenos »streitbar«, EQioxixög, nennt. Im Gegensatz zum bisherigen

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gewinne, wie man zum Freund des anderen werde, rückt nunmehr in den Mittelpunkt. Bereits das kurze Zwischenstück, in dem Sokrates erklärt, er sei in seinem Lehen stets darauf aus gewesen, statt dem ein oder anderen Besitzgut (Pferde, Hunde, Geld und Ehre) einen guten Freund zu erlangen,18 macht deutlich, daß die Frage nach der 9iXia jetzt auf einer anderen Ehene verhandelt wird. Der Perspektiven­ wechsel in der Erörterung der Freundschaft hringt es mit sich, daß in einer anderen Hinsicht nach den Gründen und dem Wissen zu fragen ist, die zur Freundschaft hinführen. Solange nämlich die Freundschaft im Sinne des Vertrauenfassens gegenüber einem Sach­ kundigen Gegenstand der Erörterung war, ist die Frage, weshalh man sich einem anderen Menschen anvertraut, unschwer zu beantworten: man tut es, weil der Sachkundige in einem bestimmten praktischen Erfordernis den rechten Rat zu geben weiß. Anders hingegen verhält es sich, wenn man anstelle eines Sichnutzbarmachens des Wissens einer anderen Person nach dem Freund als einem Gut für das eigene Leben fragt. Diese Frage schließt zumindest implizit auch schon eine Kenntnis darüber ein, was das gelingende bzw. gute Leben bedeutet, für das sich der Freund als ein Gut erweisen kann. Auf diesen Sach­ verhalt zielt Sokrates' Äußerung, daß er im Leben nichts lieber ha­ ben möchte als Freunde, aber nicht einmal wisse, wie der eine zum Freund des anderen werde (212 a 5 f.). Vor allem wird das Freundsein nun in einen Zusammenhang mit dem menschlichen Streben in einem umfassenden Sinn gerückt: Was das Leben im ganzen als erfülltes erscheinen läßt, ist das Streben nach etwas, dem man in jedem partikulären Streben »freund«, 91X05, ist. Deshalb liegt die Annahme nahe, daß das sokratische Nichtwis­ sen hinsichtlich der Entstehungsbedingungen der Freundschaft aufs Verlauf nimmt die Unterredung nunmehr Züge eines Streitgesprächs an, in dessen Vor­ dergrund begriffliche Distinktionen treten. 18 211d7-e 5. Tuyxdvw ya@ ex naiboc, emöu^wv xt^atog ton, wa^e^ dXXog dXXou. o ^ev yd@ ti5 krcrtoug emöu^et xtdaöai, o öe xhvag, o öe x^uaiov, o öe ti^dg; eyw öe ^05 ^ev tahta rt^dwg ftQög öe t^v twv ^iXwv xt^aiv ^dvu e^wtixwg, xal ßouXoi^v dv ^oi ^iXov dyaööv yeveaöai ^dXXov ^ töv d^iatov ev dvö^w^oig o^tuya ^ dXext^udva (»Ich trage nämlich von Kindheit an ein großes Verlangen nach einer Sache, wie denn jeder so die seinige hat. Denn einer hat große Lust Pferde zu haben, einer Hunde, einer Geld, einer Ehre. Ich aber bin gegen alle diese Dinge ziemlich gleichgültig, dagegen aber auf den Besitz von Freunden ganz leidenschaftlich, und einen guten Freund zu haben wäre mir lieber als die beste Wachtel oder der beste Hahn von der Welt.«). Sokrates bezeichnet sich selbst wenig später in diesem Zusammenhang als ^iXetai^og (211 e 8), als »freundeslieb«.

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engste mit den Schwierigkeiten einer Definition des guten Lehens zusammenhängt. Um hehaupten zu können, daß ein Freund ein Gut für das eigene Lehen darstellt, gilt es zunächst sich Rechenschaft darüher ahzulegen, worum hzw. um welches Gut es einem im eige­ nen Lehen geht. Man kann diesen Zusammenhang, wie er in der Frage des Sokrates angedeutet ist, auch so umschreihen, daß die dis­ positionelle Fähigkeit der Wertschätzung eines anderen Menschen auf die Frage zurückverweist, was man selhst als ein Gut für das ei­ gene Lehen im Ganzen erstreht. Um zu wissen, welcher Mensch ein Freund für einen selhst ist, genügt es nicht, einige Definitionen oder Regeln des Verhaltens anzugehen; vielmehr schließt dieses Wissen in einer noch näher zu hestimmenden Weise die Frage mit ein, welche Voraussetzungen in der Gestalt von Dispositionen einen Menschen auszeichnen, der sich einem anderen anvertraut. Das sokratische Nichtwissen hezüglich der Art, in der einer des anderen Freund wird, ist deshalh nach unserer Interpretation auf den Erwerh der disposi­ tionellen Fähigkeit der Wertschätzung eines anderen Menschen zu heziehen. Versteht man die Behauptung des Sokrates, er wünsche sich für sein Lehen am meisten einen Freund ist, dahingehend, daß die Wert­ schätzung des Freundes an die Einsicht in das gute Lehen zurückgehunden hleiht, so läßt sich aus diesem Zusammenhang auch nicht jene Annahme herleiten, daß Freundschaft im Platonischen Sinne von vornherein egoistisch konzipiert wäre. Daß der andere als Gut und d. h. als nutzhringend für das eigene Lehen angesehen wird, kann zumindest solange nicht in den Kategorien von Egoismus hzw. Al­ truismus verhandelt werden, als man zuvor die Frage, worum es im eigenen Lehen geht und welches Gut erstreht wird, nicht geklärt hat.19 Die Untersuchung dieser Frage endet freilich im Lysis - trotz

19 In seinem Beitrag »The Individual as Ohject of Love in Plato« hat Gregory Vlastos hezugnehmend auf diese Passage im Lysis seine These zu hekräftigen gesucht, daß nach Platon die Konzeption einer Freundschaft, in der der Freund um seiner selhst willen geschätzt und gelieht werde, unvorstellhar sei. Daß ein Mensch den anderen liehe, könne nach Platon nur in dem Maße verständlich gemacht werden, in dem man zeigt, wie der eine des anderen hedarf. Gerade dieses Erklärungsmodell aher erweist sich nach Vlastos als ungenügend, um tatsächlich den Bezug zum anderen um seiner selhst willen zu erläutern. Bezugnehmend auf diesen Beitrag von Gregory Vlastos hat auch Julia Annas (Plato and Aristotle on friendship and altruism. - In: Mind 86 [1977], S. 532-554) die Auffassung vertreten, Platon kenne im Unterschied etwa zu Aristoteles nur eine egoi­ stische, keine altruistische Form zwischenmenschlicher Beziehungen. Zur Auseinander­

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der abschließenden Reflexionen über den Zusammenhang von Selbstbezug und Beziehung zum Freund - in einer Aporie. Der Hauptteil des Dialogs, der mit der Unterredung zwischen Sokrates und Menexenos (211 c 10-213 d 5) über die Frage einsetzt, wie ein Mensch des anderen Freund (91X05) wird, bringt zunächst eine subtile begriffliche Differenzierung der Mehrdeutigkeit des Wortes 91X05 bzw. 91X0V. Was sich hier dem Anschein nach wie eine Abfolge spitzfindiger, logischer Disjunktionen ausnimmt, dient tat­ sächlich dazu, die Bedeutungsfülle des Wortes bzw. die ihm verwand­ ten Ausdrücke wie 91X10 und das Verb 9iXeXv einzugrenzen. Das Verb 9lXelv bedeutet in seiner gewöhnlichen Verwendung soviel wie »jemanden lieben«, »jemanden mögen«; es hat durchaus eine affektive Konnotation, die jedoch schwächer ist als das Wort epöv. Es kann sich ferner auf bestimmte Aktivitäten beziehen, die man gerne ausübt, wie etwa wenn man sagt, daß man gerne reitet oder Bücher schreibt.20 Das Wort 91X05 hat drei voneinander zu unterscheidende Be­ deutungen, die jeweils aus dem Kontext seiner Verwendung hervor­ gehen. Es kann zum einen als Substantiv verwendet werden. Als 91X05, Freund, bezeichnet man - vergleichbar dieser Wortbedeutung im Deutschen - einen Menschen dann, wenn eine gegenseitige Wert­ schätzung vorliegt. Von 91X05 als Freund ist das Substantiv 91X10, Freundschaft, abgeleitet, das, wie im Deutschen, sich ausschließlich auf Beziehungen unter Personen bezieht. Wird das Wort 91X05 bzw. 91X0V hingegen als Adjektiv verwen­ det, lassen sich noch seine aktive und seine passive Bedeutung unter­ scheiden. In passiver Verwendungsweise kann es in gleicher Bedeu­ tung erscheinen wie das von 9iXeXv gebildete Partizip 9iX0Üp,ev05, und heißt dann soviel wie »geliebt« oder »geschätzt«, was ebenso Personen wie Gegenständen gelten kann.21 Auch Handlungen von freundschaftlichem Charakter, die einer Person zugedacht sind, las­ sen sich darunter fassen. Vom 91X05 in passiver Verwendung zu un­ terscheiden ist seine aktive Bedeutung. Sie besteht darin, daß ein Mensch eine andere Person, eine Sache oder eine Tätigkeit schätzt, setzung mit Vlastos vgl. insbesondere Anthony Price: Love and Friendship in Plato and Aristotle. Oxford 1989, S. 9 ff. 20 Vgl. Henry G. Lidell and Robert Scott: A Greek-English Lexicon. Bd. II, Oxford 1940. Direkt zum Dialog: David B. Robinson: Plato's Lysis: The Structural Problem. - In: Illinois Classical Studies 11 (1986), S. 63-83, hier S. 65 f. 21 Beispiele bei Robinson, ebd. S. 66.

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sie mag oder eine Vorliebe für sie hat. Im Lysis findet es sich in dieser Bedeutung in Zusammensetzung mit entsprechenden geliebten Be­ zugsobjekten, etwa wenn Sokrates von »Pferdeliebhabern« oder »Hundeliebhabern« spricht (212 d 5-7). Wenn Gegenstand des Dialogs die Frage tl eotiv to 9iXov ist,22 so kann damit je nach dem Kontext noch zweierlei erfragt sein: ent­ weder 9iXov in der Bedeutung dessen, was man mag, sich wünscht oder erstrebt, oder aber 9iXov im Sinne der Wechselseitigkeit, was auf die Erörterung der Freundschaft hinweist. Gewiß besteht, wie sich im weiteren Fortgang noch deutlicher zeigen wird, ein sachlicher Zusammenhang zwischen den beiden Bedeutungen: Freund von et­ was zu sein ist gleichbedeutend mit dem, die Freundschaft mit dem betreffenden Referenzobjekt zu pflegen. Sokrates setzt diese Mehr­ deutigkeit des Wortes 91X05 bzw. 91X10 nun gezielt in seine Unter­ suchung mit Menexenos ein, wenn er zu erfahren sucht, ob die Freundschaftsbeziehung aktiv, passiv oder wechselseitig ist. Schon die Eingangsfrage enthält diese Mehrdeutigkeit, und im Folgenden wird weiter ersichtlich, daß alles darauf ankommt, den Unterschied zwischen der 91X10 im Sinne des Mögens von jemanden und im Sin­ ne der gegenseitigen Freundschaft zu wahren.23 Alle drei Verwendungsweisen des Ausdrucks 91X05 werden in der Unterredung zwischen Sokrates und Menexenos durchgespielt, alle drei werden jeweils wieder verworfen, weil keine von ihnen die Bedeutung von 91X05 trifft (213 c 5-9), sondern jeweils nur be­ stimmte Aspekte deutlich werden läßt. Und dennoch, so ist anzuneh­ men, läßt diese Aporie erst die Frage zum Vorschein treten, worin die 22 In dieser Hinsicht wäre auch der Lysis zu den sogenannten Definitionsdialoge zu zählen, denen jeweils die Frage »Was ist X ?« zugrundeliegt. Zu diesem Typus Plato­ nischer Dialoge vgl. insbesondere Peter Stemmer: Platons Dialektik. Die frühen und mittleren Dialoge. Berlin 1989. 23 212 a 8-b2. Kai ^oi eine; erteiödvTi^TLva 9iXfl, inmepog note^on 91X05 yiyvetai, o 9iXwv tou 9iXon^8von p o 9iXoh^evog tou 9iXoüvtog; p ohöev 61098^1 (»Sage mir also, wenn einer einen liebt, welcher wird des andern Freund, der Liebende des Geliebten oder der Geliebte des Liebenden? Oder macht das keinen Unterschied?«). Als ein Beispiel für das Erfordernis der Differenzierung zwischen dem 91X0V, das Inhalt des Strebens ist, und dem Freund, mit dem man sich einer wechselseitigen Wertschät­ zung teilt, mag hier jenes des Weines angeführt werden, das Aristoteles später in seinen Grundbestimmungen der 91X10 in EN VIII.2 wieder aufgreift. Unter der Voraussetzung, daß das »Liebende keinem freund ist, was nicht wieder liebt« (Ohx d^a eativ 91X0V tw 9lXouvtl oh6ev ^,p ohx dvti9iXoüv. Lys. 212 d4f.), gilt auch, daß man den Wein zwar lieben kann, nicht aber ihm freund sein kann.

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entscheidende Bedeutung des 91X05 besteht, die den jeweiligen Aspekten Rechnung trägt. Da diese begriffliche Differenzierung noch nicht zu einem tiefe­ ren Verständnis von Freundschaft führt, wird sie abrupt abge­ brochen. Der neue Ansatz einer Klärung der 91X10 nimmt seinen Ausgang bei der Weisheit der Dichter (214 a 1) und der Naturphi­ losophen (214 b 4 f.). Der Auffassung von Homer bzw. Empedokles zufolge entsteht Freundschaft nur unter Gleichen oder Ähnlichen. In der Überprüfung dieser Auffassung wird erstmals im Dialog in die Erörterung der Freundschaft auch die Frage nach den moralischen Qualitäten der Menschen miteinbezogen. Das Dichterwort, daß Glei­ ches sich anzieht, träfe wohl für die Freundschaft unter Guten zu, nicht aber für die Schlechten, die einander Unrecht tun. Offen bleibt an dieser Stelle die Frage, was das Gutsein der Personen bedeutet. Dennoch fällt ein entscheidender Hinweis darauf, weshalb der moralischen Güte einer Person in Freundschaftsbeziehungen eine zentrale Bedeutung zukommt. Als Grund für die Annahme der Dich­ ter und Naturphilosophen, daß nur unter guten Menschen Freund­ schaft möglich sei, wird deren Selbstbezug, die Freundschaft mit sich selbst angeführt. Nur die Guten, die mit sich selbst eins sind, können miteinander befreundet sein, wie umgekehrt gilt, daß die Schlechten nicht einmal sich selbst ähnlich, sondern veränderlich und unbe­ rechenbar sind.24 Damit scheint zunächst nicht mehr behauptet, als daß nur derjenige Mensch zum Freund werden kann, der sich in sei­ nen Überzeugungen und Handlungen durch seine Verläßlichkeit auszeichnet, infolge derer man sich ihm auch anvertraut. Die Überlegung, daß das Gutsein bzw. die Selbstübereinstim­ mung der Person eine konstitutive Voraussetzung für die Freund24 214 c 6-d 3. AXXd ^01 Soxoüotv XEyEtv toüg dyaOoüg ö^olong eivai aXX^Xoig xai 91X0U5, toüg Se xaxong, ömEQ xai XEyEtat mEQi ahtmv, ^x|6En:otE ö^olong ^x|6’ ahtoüg ahtofg Etvat, aXX’ E^mX^xtong tE xai aotaO^tong; ö SE ahtö ahtm avo^oiov eIV| xai SiaqoQOv, oxoX^ yE tm aXXm ö^otov ^ 91XOV yEvott’ av; (»Aber mich dünkt, sie wollen nur von den Guten sagen, daß sie einander ähnlich sind und freund; die Bösen aber, was ja auch von ihnen gesagt wird, wären niemals nicht einmal sich selbst ähnlich, sondern veränderlich und nicht zu berechnen. Was aber sich selbst unähnlich ist und mit sich selbst in Zwietracht, das hat kaum Aussicht, daß es jemals sollte einem anderen ähnlich werden und freund.«). Vgl. die gleichlautende Stelle Phdr. 255 b 1f.: »Denn niemals ist dies bestimmt, daß ein Böser einem Bösen freund, oder ein Guter einem Guten nicht freund werde.« Ferner Gorg. 507 e 3-6 Rep. I, 351 a-b: Selbst Räuber und Diebe müssen ö^ovota und 91X10 besitzen, die ihrerseits nur durch die Gerechtigkeit möglich wird.

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Schaft darstellt, wird jedoch im weiteren Fortgang der Unterredung bald fallengelassen. Ungeklärt hleiht hierin vor allem die Motiva­ tionsfrage: Weshalb nämlich ein Mensch eines Freundes bedarf und auf ihn angewiesen ist, läßt sich letztlich nicht allein im Rückgang auf seine moralischen Qualitäten ermitteln. Berücksichtigt man, daß in der Diskussion der ^lAta im Lysis nicht nur enge zwischen­ menschliche Beziehungen behandelt werden, sondern darüberhinaus das menschliche Zusammenleben in der Polis bis hin zum Bezug des Menschen zum Gesamt der Wirklichkeit untersucht wird, so erweist sich diese Frage als grundlegend für die Untersuchung, worin die Polis ihren Bestand hat. Die Tatsache, daß sich ein Mensch in seinen Handlungen und Überzeugungen als verläßlich erweist, schließt nicht ein, daß man sich ihn auch zum Freund wünscht. Eben diese Unterscheidung zwischen dem Motiv im Sinne einer subjektiven »Anhänglichkeit« an einen Menschen und seiner objektiven mora­ lischen Güte führt in einem nächsten Schritt vor die Aporie, daß die Gleichen, die insofern Freunde sind, als sie gut sind, einander gar nicht bedürfen, weil sie sich selbst genügen.25 Dennoch bringt, wie auch in anderen Platonischen Dialogen, diese Aporie durchaus einen Erkenntnisfortschritt mit sich. Von nun an wendet sich die Untersuchung der ^lAta in besonderer Weise der Frage zu, inwiefern man Freunde braucht und in welchem Sinne man auf sie angewiesen ist.26 Eingeleitet wird dieses Thema durch die Fra­ ge, welchen Nutzen ein ethisch guter Mensch für einen Freund hat. Offenbar keinen, da die guten Menschen sich selbst genügen. Wenn aber kein Nutzen besteht, weshalb sollten Menschen dann einander schätzen? Nimmt man umgekehrt jedoch an, daß der Nutzen den motivationalen Grund für die Freundschaft darstellt, so müßte das »Entgegengesetzte«, also das, worin beide am meisten voneinander 25 215 b 3-7. Hmg ohv oi äya0oi toTg äya0oTg r|p,Tv qfkoi Eoovtat tf|v ägxhv, oi ^te ämovtEg mo0Etvoi äkk^kotg - Ixavoi yag EantoTg xai x^Qig ovteg - ^te magovtEg XQEiav aütmv Exonotv toüg 6f| toioutoug ttg ^,r|xavf| megi mokkoü moiETo0ai äkk^kong (»Wie also können uns nur überall Gute mit Guten freund werden, welche weder in der Abwesenheit sich nacheinander sehnen, denn sie genügen jeder sich selbst auch einzeln, noch auch vereinigt irgend Nutzen voneinander haben? Wie ist zu bewerkstel­ ligen, daß solche einander sehr wert seien?«). 26 Diese für das Verständnis der Freundschaft in der antiken Literatur grundlegende Frage wird später Aristoteles in seinen Freundschaftsbüchern in der Untersuchung auf­ greifen, in der er sich fragt, ob ausgehend von der Autarkie des moralisch vorzüglichen Menschen her überhaupt noch seine Angewiesenheit auf Freunde verständlich gemacht werden kann. Vgl. dazu weiter unten Abschnitt 2.3.4.

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profitieren, das Paradigma der Freundschaft darstellen. Diese Mei­ nung wiederum wird durch die Schlußfolgerung ad absurdum geführt, daß in ihrer Folge die Unrechttuenden mit den Gerechten am meisten befreundet sein müßten. Man hat wohl zurecht diese letzten Argumente als verworren und unklar bezeichnet, da sie die erforderlichen begrifflichen Diffe­ renzierungen vermissen lassen.27 Doch wird zugleich auf diesem We­ ge erst das Erfordernis einer tiefergehenden Reflexion über die Be­ dürftigkeit der menschlichen Natur sichtbar, wie sie im weiteren Fortgang des Dialogs als Modell für die Erklärung der ^lAta in den Mittelpunkt rückt. Dieses Erfordernis läßt sich auf die vordergründig zu Fall gebrachte These zurückbeziehen, derzufolge das Gutsein bzw. die Selbstübereinstimmung des Menschen noch keine hinreichende Erklärung für die Entstehung der Freundschaft bietet. Führt nämlich die Selbstübereinstimmung der moralisch guten Person eine Selbst­ genügsamkeit mit sich, so läßt sie zugleich die Angewiesenheit auf andere Menschen unverständlich werden. So besehen erweist sich die Widerlegung der Annahme, daß Freundschaft nur unter Guten möglich sei, mit dem Hinweis auf die Selbstgenügsamkeit der ethisch guten Menschen als wegweisend für die weitere Bestimmung der Freundschaft mit sich selbst. Vor allem aber wird aus den abschlie­ ßenden Reflexionen des Dialogs deutlich werden, daß der aporetische Ausgang wesentlich auf jene Schwierigkeit zurückzuführen ist, wie sie durch die Verbindung der Selbstgenügsamkeit der Guten und ihrer Angewiesenheit auf Freunde hervorgerufen wird. Im gegenwärtigen Kontext fährt Sokrates mit einer anfangs nur zögerlich eingeführten Annahme fort, die sich jedoch für den wei­ teren Argumentationsgang als grundlegend erweist. Ausgehend von einer Analyse des menschlichen Strebens und Mögens soll nun er­ klärt werden, wie es dazu kommt, daß man dem Guten freund ist. Bezeichnenderweise tritt in dieser Reflexion auf die Natur des Strebensaktes das ^ilov in den Vordergrund; die Frage nach dem guten Freund bzw. der Freundschaft unter den Guten wird erst nach dieser Analyse wieder gegen Ende (221 e 5-222 a 3) aufgegriffen. Offen­ sichtlich hat die Untersuchung dieser Annahme direkt mit jenen Schwierigkeiten zu rechnen, die zwangsläufig dort auftauchen, wo 27 Vgl. u.a. Ursula Wolf: Die Freundschaftskonzeption in Platons Lysis. - In: Emil Angehrn u.a. (Hg.): Dialektischer Negativismus. FS für Michael Theunissen zum 60. Ge­ burtstag. Frankfurt a.M. 1992, S. 103-129, hier S. 111f.

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das Gute nicht im Sinne einer objektiven, moralischen Vorzüglich­ keit, sondern in jener Perspektive untersucht wird, in der ein Mensch etwas als gut betrachtet, weil er danach strebt. Angedeutet wird diese Schwierigkeit durch Sokrates' Bedenken, daß die Gleichsetzung des 91I0V mit dem xaköv und dem aya0öv etwas »gar Weiches, Glattes und Schlüpfriges« sei.28 Die Annahme geht davon aus, daß neben den beiden Gattungen des Guten und Bösen sich noch eine dritte fände, die nämlich des weder Guten noch Schlechten. Nachdem die beiden ersten Genera zur Erklärung der Frage, weshalb jemand etwas mag und es erstrebt im Vorhergehenden ausgeschieden worden waren, soll jetzt dieses dritte Genus eingehend untersucht werden: allein das Genus des we­ der Guten noch Bösen, so lautet Sokrates' Annahme, kann dem Gu­ ten freund werden.29 Was soll, was kann aber diese Annahme hin­ sichtlich der Erklärung menschlichen Strebens nach dem Guten leisten? Bezieht man diese Annahme auf die Ausgangsproblematik der Freundschaft unter ethisch guten Menschen, so liegt die Vermutung nahe, daß mit ihrer Einführung die Frage nach der Motivation, also was einen eigentlich dazu veranlassen kann, das Gute zu erstreben und sich einem guten Menschen anzuvertrauen, in der Perspektive des eigenen Nutzens aufgegriffen wird. Will man die beiden Beispie­ le richtig verstehen, mit deren Hilfe Sokrates die Hypothese verdeut­ licht, daß die Liebe zum Guten ihren Grund in einem akzidentellen Mangel hat, dann gilt es auf den Zusammenhang von erstrebtem Guten und seinem Nutzen für das Subjekt des Strebens zu achten. Der Leib, der an einem Gebrechen leidet, bedarf zu seiner Genesung des 91I0V der ärztlichen Heilkunst ebenso wie die Philosophen, die weder weise noch ganz unverständig nach dem 91I0V der Weisheit streben. Daß hier zwischen dem Leib, der als solcher weder gesund noch krank ist, und seinen vorübergehenden, akzidentellen Leiden unterschieden wird, und analog dazu die Weisheitsliebenden eine Mittelstellung zwischen wissend und unwissend einnehmen, ver­ deutlicht den Sachverhalt, daß die Verwendung des Begriffs 91I0V (ähnlich wie der des Nutzens) sinnvollerweise nur relational erfolgt. Man kann von einer Sache niemals behaupten, daß sie an und für sich 28 216 c 7. 801X8 yoüv ^aXaxm tm xai Xeim xai Ximagm; 29 216 d 3. Aeym t0ivuv äm0^avteuö^ev05, toü xaX0Ü te xai äya00ü 91X0V eivai to ^te äya0öv ^te xaxöv;

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liebenswert sei; sie ist es stets für ein Subjekt und dies aus einem bestimmten Grund. Wenn folglich Sokrates behauptet, die Bestim­ mung des 91I0V sei gefunden im Begriff des Guten, das vom weder Guten noch Schlechten wegen der Anhaftung eines Mangels geliebt werde, so ist an dieser Feststellung trotz der sich daran anschließen­ den Kritik zumindest soviel richtig, daß mit ihr auch der prädikative Gebrauch des Begriffes »gut« im Sinne des »gut für etwas oder je­ manden« eingeführt wird. Die folgenden Argumente präzisieren die gewonnene Einsicht, daß liebenswert das ist, was in Beziehung auf ein bestimmtes Subjekt aus einem bestimmten Grund gut ist, indem sie zunächst innerhalb der Ordnung des Handelns die zwei Beweggründe des umwillen von etwas (Tivog evexa) und aufgrund von etwas (ötd tu) unterscheiden. Auf Sokrates' Beispiel vom Leibe bezogen besagt dies, daß man die ärztliche Heilkunst um der Gesundheit willen (das Ziel) und wegen einer Krankheit (Grund) sucht. Es ist hier wichtig, zu verstehen, daß beide Beweggründe, sowohl das umwillen von etwas als auch das aufgrund von etwas, sich an der Vorstellung eines Guten als einer Bestimmung des letzten Zieles des Subjektes orientieren. Im Text läßt sich Sokrates von seinen beiden Gesprächspartnern zunächst die Annahme bestätigen, daß man das, was man liebt bzw. erstrebt, sowohl umwillen von etwas, das man liebt, als auch aufgrund von etwas, was man zu meiden sucht, erstrebt, um dann das mpröTov 91kov als das wahrhaft Erstrebte einzuführen.30 Auch wenn an dieser Stelle offengelassen wird, um was für ein mpröTov ^tkov es sich hier handelt, so liegt doch die Annahme nahe, daß hiermit die euöaipovla gemeint ist.31 Diesem Schluß von einem bestimmten Zweck, den man in sei­ nem Handeln verfolgt, auf das letzte Ziel, das man um seiner selbst 30 219 c 5-d 2. ÜQ’ ohv ohx avdyxr| ameimefv rjpäg ofrcmg lovTag ^ a^ixeoBai em Tiva uqx^v, ^ ouxet’ Emavoloei em’ akko qfkov, akk’ ^|ei em’ Exefvo ö Eotiv mgräTov qfkov, oü evexa xai Ta akka qa^Ev mavTa qfka elvai (»Müssen wir also nicht müde werden, so umherzugehen und bei einem Anfange ankommen, der nicht wieder auf eine andere Freundschaft zurückführt, sondern auf jenes selbst führt, dem wir zuerst freund sind, allem andern aber nur um seinetwillen freund zu sein gestehen?«). 31 Vgl. Euthyd. 278 e 3-282 a 6; Men. 77 b 6-78 b 2; Charm. 173 df. In der mQÖTov qfkov-Teleologie hat man des öfteren auch den Ursprung der klassischen Ideenphiloso­ phie erblickt. Vgl. dazu etwa Andreas Graeser: Probleme der platonischen Seelentei­ lungslehre. Überlegungen zur Frage der Kontinuität im Denken Platons. München 1969, S. 67. Weitere Parallelstellen in Symp. 211, Rep. 505 ff. bes. 509 b —511 d sowie bildhaft Phdr. 247 cff.

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willen erstrebt, kommt nun in zweifacher Hinsicht eine grundlegen­ de Bedeutung zu. Zunächst liegt ihm die Vorstellung einer durch­ gängig teleologischen Ausrichtung allen Handelns zugrunde, für die charakteristisch ist, daß jedes Partikularziel Bestandteil eines über­ greifenden teleologischen Gefüges ist. Das Beispiel, das Sokrates an dieser Stelle anführt (220 a 1-5), ist geeignet, diesen Sachverhalt zu veranschaulichen. Wer Gold und Silber erstrebt, verfolgt gemäß der Vorstellung einer teleologischen Ordnung des Handelns ein be­ stimmtes Partikularziel, das wiederum auf die ihm zugrundeliegende Ausrichtung auf ein übergeordnetes letztes Ziel hin befragt werden kann. Ob die mit der Wahl eines Partikularzieles verbundene Absicht dabei eingestanden wird oder nicht, ist im Zusammenhang der Er­ örterung des npötov 91I0V unerheblich. Dieses letzte Ziel mensch­ lichen Handelns ist den einzelnen Optionen vorgegeben, es steht dem Handelnden nicht mehr zur freien Disposition. Infolgedessen kann sich Sokrates im Text auch die Zustimmung zu seiner Annahme bestätigen lassen, daß wenn immer man um eines anderen willen »freund ist, dann benennen wir es offenbar nur mit einem fremden Wort, freund aber mögen wir in der Tat wohl nur jenem sein, in welchem alle diese sogenannten Freundschaften endigen.«32 Mit dem Aufweis, daß ein bestimmtes konkretes Handlungsziel zu intendieren stets einhergeht mit der Ausrichtung auf ein letztes Ziel, das zu intendieren dem Handelnden nicht mehr zur Verfügung steht, ist nur ein, wenn auch wichtiger Aspekt menschlichen Strebens erwähnt. Was man erstrebt, ist nicht der Erwerb von bestimmten Besitztümern, sondern der mit ihnen erstrebte Zweck, das npötov 91I0V. Was dagegen erst in einem nächsten Schritt in die Diskussion mitaufgenommen wird, ist die Frage nach dem Zusammenhang des npötov 91I0V mit dem Guten. Das erste, was in diesem Teil der Unterredung (220 b) auffällt, ist die Verknüpfung des Begriffs des Guten mit dem des Nützlichen. Sokrates führt diese durch die Hy­ pothese ein, daß fraglich ist, wozu das Gute nützlich sei, wenn es kein Schlechtes gäbe, aufgrund dessen (öid tu) man das Gute erstrebe. Diese Frage ergibt sich aus dem Kontext der Unterredung dadurch, daß vom Guten bisher als Mittel zur Beseitigung von Übeln die Rede war, nunmehr aber nach dem Aufweis des npmTov 91I0V das Pro32 220 a 7-b 3. öoa yaQ qa^ev elvai r|p,Tv evexa ^Aon Tivog eteqou, q^uti ^aivö^eBa XEyovTEg afrtö; ^Aov 6e Tm övti xivb'uve'uei Exervo aHo eivai, eig ö mäoai aÜTai ai XeYÖ^evai ^iXiai TeXeuTmoiv. Vgl. La. 185 d 5-7.

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Wem entsteht, inwiefern das Gute, wenn es das letzte Ziel mensch­ licher Handlung darstellt, überhaupt nützlich sein kann. Sokrates verdeutlicht dies am Beispiel der Arznei, die man ein­ nimmt, weil man gesund werden will. Gut ist die Medizin, weil sie im Hinblick auf den erstrebten Zweck, vom Übel der Krankheit geheilt zu werden, von Nutzen ist. In welcher Hinsicht aber kann sich die Rede von »gut« auch dann noch als sinnvoll erweisen, wenn es keine Übel mehr gibt, um deretwillen man etwas Gutes erstrebt? Um diese Abhängigkeit des Guten vom Übel zu überprüfen, führt Sokrates die Annahme ein, daß man sich vorstellen solle, die Übel seien aus der Welt verschwunden. Mit dieser Vorstellung würden immer noch die Begierden und Wünsche übrigbleiben, die ihrer Natur nach weder gut noch böse sind wie etwa Hunger und Durst.33 Wenn man aber auch dann noch etwas begehrt, und das, was dem Begehren ent­ spricht, zugleich auch liebt, so kann die Anwesenheit von Übeln zu­ mindest nicht der einzige Grund des ^ikeXv sein. Im Dialog über die Freundschaft wird mit dieser Argumentation das Begehren (emöupfa) als ein begründender Aspekt der Freund­ schaft thematisiert34 und auf dem Wege einer Reflexion über die Na­ tur des Begehrens, das auf das Bedürfnis verweist, in der Folge das der menschlichen Natur Zugehörige (olxelov) bestimmt. Fraglich ist jedoch, welche Bedeutung diese Substitution hat, derzufolge das Be­ gehren als Grund für die Wertschätzung von etwas angenommen wird.35 Was kann damit gemeint sein, daß das Begehren der Grund 33 Gut und schlecht sind diese Begierden jeweils nur in bestimmten Umständen. Vgl. auch Gorg. 499 c 6—e 3. 34 221 d 2—6. d^5 ouv; tw ovtl, wa^e^ d^ti eXeyo^ev, p emön^ia ^iXiag aitia, xal to emöu^oüv ^lXov eativ toutw ou emön^et xal tote otav emöu^fl, o öe to rt^ote^ov eXeyo^ev ^lXov eivai, höXog tig ^v, wa^e^ rcoip^a ^ax^ov anyxei^evov (»Ist nun in der Tat, wie wirjetzt sagten, das Begehren die Ursache der Freundschaft und das Begehrende dem freund, was es begehrt, dann wann es begehrt? Alles aber, was wir zuvor sagten >vom freund seine, war nur Geschwätz wie ein langes, zurechtgelegtes Machtwerk.«). 35 Über die Funktion der ernön^ia im Lysis herrscht in der Literatur große Uneinigkeit. Hans von Arnim (Platons Jugenddialoge und die Entstehungszeit des Phaidros, S. 58f.) vertritt die Auffassung, daß es sich bei der Rückführung des ^iXetv auf die ernön^ia um eine Tautologie handele, der Platon sich bedient, um eine fremde Ansicht zu desavouie­ ren. Platon ginge es hier um die Betonung seiner Ansicht, »daß das Gute geliebt und begehrt wird, weil es gut ist, und nicht etwa, weil es begehrt wird, gut ist« (S. 56). Ähnlich Ursula Wolf (Die Freundschaftskonzeption in Platons Lysis, S. 116): »Wenn wir lieben, was wir begehren, fallen dann ^iXia und ernön^ia nicht einfach zusam­ men?« David Bolotin (Plato's Dialogue on Friendship. Ithaca, London 1979, S. 180f.)

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dafür ist, daß man bestimmte Dinge mag und sie erstrebt? Offen­ sichtlich scheint es in diesem Zusammenhang darauf anzukommen, in die Erörterung des Mögens bzw. Liebens die Motivationsfrage ein­ zubringen. Erörtert man das Mögen bzw. Lieben unter dem Aspekt des Begehrens, dann geht es einem nicht um die inhaltliche Bestim­ mung, wozu man etwas Bestimmtes braucht. Man bedarf keiner be­ sonderen inhaltlichen Bestimmung des Guten mehr, wenn man erst einmal eingesehen hat, daß einem das fehlt, was für einen gut ist. Dies scheint wohl auch der Angelpunkt der sokratischen Rück­ führung des Liebens bzw. Mögens auf den Grund des Begehrens zu sein, wie er vor allem in der weiteren Bestimmung des otxetov zum Tragen kommt. 1.1.4. Die Idee der Reziprozität unter Freunden Ausgehend von der Vorstellung, daß das Begehren Grund der Freundschaft sei, untersucht Sokrates in einem nächsten Schritt (221d6-e3) mit seinen Gesprächspartnern die Frage, was dieses Begehren charakterisiere. Daß man etwas begehre, so schlägt er vor, bedeutet, daß man etwas erstrebt, was einem fehlt. Auf die Zustim­ mung von Menexenos hin fährt Sokrates mit der Frage fort, ob man dem, was einem fehlt, auch freund ist. Als diese Frage ebenfalls be­ jaht wird, folgert Sokrates, daß das, was einem fehlt, entzogen ist. Was einem aber derart entzogen ist, bezeichnet er als das Zugehörige (otxetov, 221 e 3). Dieses Zugehörige aber wiederum ist letztlich das, worauf sich Liebe (epmc;), Freundschaft und Verlangen richten. An dieser Stelle des Dialogs wendet sich Sokrates wieder von der Unter­ suchung des ^iketv ab und der Erörterung der Freundschaft unter Menschen zu, indem er, an die Adresse von Menexenos und Lysis gewandt, folgert, daß wenn man sich gegenseitig (dXX^Xoic) Freund ist, dies darauf zurückzuführen sei, daß man seiner Natur nach ein­ ander zugehöre.36 Daß Menschen miteinander befreundet sind und einer den anderen liebt und begehrt, muß darauf zurückgeführt wer­ den, daß der Liebende im Freund etwas ihm eigenes wahrnimmt, »überhaupt der Seele nach oder wegen irgendeiner Gesinnung, Art meint, daß mit der Einführung des Aspektes des Begehrens der andere Grund, das Nichthabenwollen von Übeln, nicht obsolet wird, sondern daß sich beide Aspekte wech­ selseitig ergänzen. 36 221 e 5f. h^etc a^a et ^LXoi eatov dXX^Xoic, ^haei otxetoi eaö’h^tv ahtotc.

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und Eigenschaft«.37 Und daß man im anderen das einem seihst von Natur Zugehörige liehe, und zwar notwendigerweise (avayxdtmc;) liehe, hat nach Sokrates auch zur Folge, daß auch der Geliehte nicht umhin könne, diese Liehe zu erwidern. Notwendigerweise muß auch der echte Liehhaher, der sich nicht nur so anstellt, wiedergelieht wer­ den von seinem Liehling. Einmal angenommen, es handelt sich hei diesen letzten Schluß­ folgerungen nicht um eine hewußte Irreführung der Gesprächspart­ ner durch Sokrates, sondern um einen zumindest üherprüfenswerten Argumentationsschritt, so ließe sich dieser etwa so umschreihen: Wenn gilt, daß to ^tlov gleichhedeutend ist mit to olxeXov, dann soll daraus auch folgen, daß ot ^ilot gleich olxeXot sind. Dieser Schluß wird allerdings von Sokrates in der Folge durch zwei zusätz­ liche Überlegungen zurückgewiesen. Zum einen dadurch, daß die olxeXot mit den sich Ähnlichen, den opotot, gleichgesetzt werden. Von denen aher hatte es hereits anfangs geheißen, daß sie nicht mit­ einander hefreundet sein können. Und gleiches gilt, wenn man die olxeXot den Guten, den ayaBot gleichstellt, von denen ehenfalls zu Beginn des Dialogs hereits erwiesen wurde, daß sie keinen Grund hahen, hefreundet zu sein. Was so am Ende der Unterredung hleiht, ist die Einsicht in das gescheiterte Unternehmen, das zu hestimmen, was ein Freund ist.38 Trotz des aporetischen Ausgangs wirft der Dialog einige Schwierig­ keiten und Prohleme auf in der Bestimmung der Freundschaft hzw. des Liehens und der mit diesen unmittelhar zusammenhängenden Aspekten, die sich his in die ethischen Pragmatien des Aristoteles hinein als grundlegend erweisen. Diese gilt es ahschließend nochmals zu rekapitulieren. Auszugehen ist dahei von den ahschließenden Re­ flexionen üher das olxeXov, in dem die hisher entwickelten Bestim­ mungen des ^tleXv hzw. des ^tloc; zusammenlaufen. Gewiß kommt diesen Ausführungen auch im dramaturgischen Kontext des Dialogs eine zentrale Bedeutung zu, insofern sich als wahrer Liehhaher So­ krates erweist, nicht aher der vermeintliche Liehhaher Hippothales.39 Doch lassen sich auch unahhängig von einer Identifikation der Rolle 37 222 a 2f. xata tr|v tyux^v ^ xata tl t^c ^nx^c ^0oc ^ tgörnonc ^ eihoc;. 38 223 h 7f. onmm 6e ott eotlv o qXloc oioi te Eyevö^eBa e|euqeXv. 39 Die Einhindung sachlicher Aussagen in den dramaturgischen Kontext des Dialogs hat vor allem Zachary P. Seech (Plato's Lysis as Drama and Philosophy) herausgearheitet.

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des wahren Liebhabers mit Sokrates sachliche Gründe finden, welche die Annahme rechtfertigen, daß es Platon mit der Rückführung auf den wahren Liebhaber darum zu tun war, einen Kulminationspunkt zu finden, indem sowohl die Erörterungen des Liebens als auch des Freundes zusammenlaufen.40 Um diese Annahme zu rechtfertigen, ist es erforderlich, sich kurz den Argumentationszusammenhang zu vergegenwärtigen, wie er vor der Erörterung des olxeXov verlassen wurde. Erst so vermag einsichtig zu werden, aus welchem Grund hier ein Wechsel in der Argumentationsebene statthatte und erforderlich wurde, und was die Einführung des olxeXov an neuem Erkenntniswert mit sich führt. Bedenkt man, wie die Diskussion des ^lLeXv erfolgte, so fällt auf, daß sich die einzelnen Argumente, die zur Bestimmung eingeführt wur­ den, allesamt im Horizont einer Zweck-Mittel-Bezogenheit beweg­ ten. Was der Ausdruck ^lLeXv bedeutet und wie er verwendet wird, darauf verwies die Erörterung der beiden Ursachen des »Umwillen von« bzw. die des Grundes. Die Ursache läßt sich jeweils ermitteln, indem die inhaltliche Bezogenheit auf bestimmte Zwecke bis hin auf einen letzten Zweck, das npmxov ^ilov, angegeben wird. Die Medi­ zin ist wie auch der Arzt schätzenswert, weil mittels ihrer ein be­ stimmter Zweck erreicht wird. Der gleiche Mittel-Zweck-Zusammenhang, wie er bei der Untersuchung des Umwillen von etwas sichtbar wurde, gilt mutatis mutandis auch für den Grund, das ötd tl, als Defizit, aufgrund dessen man das Gute schätzt und erstrebt. Nun geht aber mit der Orientierung der Frage nach dem Grund des Mögens bzw. der Freundschaft an einer Theorie von Mittel und Zweck eine Sinnverengung im Begriff des ^lLeXv einher, die ins­ besondere in der Anwendung des Begriffs auf interpersonale Be­ ziehungen zum Vorschein kommt: Was bei der Untersuchung des Ausdrucks ^lLeXv in diesem Verweisungszusammenhang von Mit­ tel-Zweck Beziehungen nämlich verdeckt bleibt, ist die Frage nach dem Gesichtspunkt, von dem aus eine Beurteilung des jeweils er­ strebten Gegenstandes möglich ist und Strebensinhalte hinsichtlich ihrer Geeignetheit überprüft werden können. Eine Erörterung der 40 Noch in seinem Alterswerk, den Nomoi, spricht Platon von der Natur der »sogenann­ ten Liebessachen« (837 a); er hält fest, daß sich die Schwierigkeit dieser Frage von der Mehrdeutigkeit des Begriffs herleite. Dabei unterscheidet er näherhin zwei Formen von qfXov: Liebe als eine Verbindung von gleich und gleich bei ähnlicher Vorzüglichkeit; Liebe andererseits als eine auf Ungleichheit beruhende Verbindung wie etwa der von Bedürftigkeit und Fülle.

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Gründe des ^lXelv, die sich ausschließlich auf die Strehensinhalte und Handlungszwecke heziehen, läßt ühersehen, daß diese nicht al­ lein als Bestandteile, wie sie menschliches Verhalten charakterisie­ ren, sondern ehenso auch hinsichtlich ihrer Bedeutung für das han­ delnde Suhjekt zur Geltung kommen. Im Bezug auf persönliche Freundschaftsrelationen erheht sich die Frage, was einen dazu ver­ anlassen mag, sich einer Person, einem Freund, auch außerhalb von dem durch den Zweck vorgegebenen Verhalten anzuvertrauen. Man könnte in diesem Zusammenhang auch nach der Motivation zu interpersonalen Beziehungen fragen, sofern man dahei herücksichtigt, daß es dabei spezifisch um die Frage nach jenem Motiv geht, das außerhalh der aufgewiesenen Zweck-Mittel-Bestimmungen einen dazu bewegt, sich einer anderen Person anzuvertrauen. Will man den Wechsel der Argumentationsehene, wie er in 221 d von So­ krates eingeführt wird, präzise hestimmen, so läßt sich der Grund dafür so umschreiben, daß die Erörterung des ^lXelv im Zusammen­ hang von Mittel-Zweck-Bestimmungen nur einen hestimmten Be­ reich menschlichen Verhaltens berücksichtigte, nun jedoch durch die Bestimmung des olxelov übergeleitet wird zu der Untersuchung der Frage, was einen Menschen unabhängig von der funktionellen Inter­ pretation des ^lXelv eigentlich dazu bewegen kann, eine Beziehung zu einem anderen Menschen begründeterweise zu leben.41 Eingeführt wird das Zugehörige, olxelov, im Dialog durch eine Reflexion auf die Bedürftigkeit des Menschen.42 In dieser Bedürftig­ 41 Zu einer ähnlichen Schlußfolgerung gelangt bereits Gadamer (Logos und Ergon im platonischen Lysis, S. 60): »Was wirklich das Fundament von Freundschaft ist, ist in einem ganz anderen Sinne >liebc, als daß es mir lieb ist, weil es zu etwas dient. Was in der Steigerung aller Relativitäten, die zu etwas dienen, herauskommt, ist nicht eine Steigerung von Dienlichkeit, sondern eine andere Seinsart von >gutc überhaupt. [...] Begriffe wie >gutc, >rechtc, >liebc erfüllen sich in ihrem Sinn nicht befriedigend, wo man sie nur als ein Pharmakon, als ein Heilmittel zu etwas anderem ansieht.« 42 In der Literatur wurde die Funktion des olxelov unterschiedlich interpretiert. Von Arnim (Platons Jugenddialoge und die Entstehungszeit des Phaidros, S. 58) vermutet darin eine platonische Polemik gegen eine fremde Ansicht über das olxelov. Theodor Becker (Zur Erklärung von Platons Lysis. - In: Philologus 41 [1882], S. 284-308, hier S. 306) hält die Herleitung des olxelov aus dem der Begierde für eine »oberflächliche« Konstruktion. Konrad Glaser (Gang und Ergebnisse des platonischen Lysis, S. 47-67) gelangt unter Einbeziehung anderer Dialoge sowie des 7. Briefes zu der Deutung, derzufolge das olxelov auf die »Verwandtschaft« bzw. »Vertrautheit« des höheren Teiles der Seele mit dem Eidos hinweist. Hinsichtlich des Themas des Lysis bedeutet dies, daß nicht »Verwandtschaft der Seelen untereinander [...] die wahre Freundschaft [be­ gründe], sondern die [...] Verwandtschaft der Seelen zur Sache, dem Seienden, dem

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keit, so läßt sich Sokrates bestätigen, liegt bereits das enthalten, des­ sen man bedarf. Man bedarf aber nur dessen, was einem eigentlich eigen und zugleich entzogen ist, worüber man also nicht verfügt. Was einem dergestalt fehlt, wird als das »Zugehörige« bestimmt. Es ist das, worauf Liebe, Freundschaft und Begehren sich richten. In die­ ser Hinsicht erläutert das olxeXov die »objektive« Bedürftigkeit des Menschen. Diese Bedeutung ist durch die gewöhnliche Verwendung im Griechischen gedeckt. Das Adjektiv olxeXoc bzw. olxeXov, vom Substantiv oLxoc, Haus oder Wohnung abgeleitet, bezeichnet Sachen wie auch Personen, die zu einem Haus gehören. Es bedeutet ebenfalls das, was einem zueigen ist oder was man besitzt. Ein anderer Sinn des olxeXov kommt im Text hingegen dort zum Tragen, wo Sokrates die Freunde als olxeXot beschreibt: Sie sind es in dem Sinne, in dem sie bestimmte Affinitäten aufweisen, Eigenschaf­ ten, Neigungen oder Bestrebungen, in denen sie übereinstimmen. Diese Art der »Kongenialität« läßt die Bezugnahme auf das olxeXoc im Sinne des Verwandten auch plausibel erscheinen. Im Hinblick auf Personen läßt sich auch jene Bedeutung nachweisen, nach der unter Freund ein »Angehöriger« oder ein »Verwandter« zu verstehen ist, mit dem man bestimmtes - »Gesinnung, Art und Eigenschaft« (222 a 2f.) - gemein hat. Entscheidend hierbei ist die Präzisierung, derzufolge nicht an eine »naturhafte« Zugehörigkeit der beiden Freunde zu denken ist. Von hier aus bietet sich jene Interpretation an, die das Zugehören von Lysis und Menexenos als durch ihre ge­ meinsame Beziehung auf das Gute bestimmt sieht. Den Befreunde­ ten ist gemeinsam die Bezogenheit auf das Gute, sie sind einander zugehörig und d. h. »gut« durch diese Beziehung.43 Eidos, um dessen Erkenntnis die Freunde sich in der edlen Gemeinschaft freier Erziehungc mühen« (S. 62f.). Wenig später heißt es bei Glaser: »Erst dank der Verwandt­ schaft zur Sache, die bei einem anderen Menschen wiedergefunden wird, entsteht eine Freundschaft zwischen diesen Menschen. So schafft Liebe zur Sache, gegründet aufVer­ wandtschaft zur Sache, erst die Liebe zur Person. [...] Primär ist das philon, sekundär der philos.« »So löst sich aber auch die Schwierigkeit, die aus der Autarkie der Guten entsprang. Solche Menschen können doch einander nichts mehr zu bieten haben, hieß es im Lysis. Nun wird dies aber irrelevant, da sie eben, auf solcher Höhe angelangt, einem dritten ihre liebende Erziehung zuwenden« (S. 63). 43 Für diese Interpretation hatte sich schon Konrad Glaser (Gang und Ergebnisse des platonischen Lysis) ausgesprochen. Ihm folgten andere Autoren wie Peter M. Steiner (Psyche bei Platon. Neue Studien zur Philosophie Bd. 3. Hg. v. Rüdiger Bubner, Konrad Cramer und Reiner Wiehl. Göttingen 1992) und Thomas A. Szlezak (Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie). Nach Gadamer (Logos und Ergon im platonischen Lysis,

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In der Fortsetzung dieser Perspektive wird auch ersichtlich, wie in die Bestimmung von Freundschaftsrelationen der Selhsthezug ein­ geht. Mit dem Begriff des olxeXov zur Bestimmung der Freundschaft soll offensichtlich die Bewertung dessen, was einem zugehört in dem Sinne, was für einen selbst das entsprechende und angemessene Gut ist, in den Vordergrund gerückt werden.44 Innerhalb interpersonaler Beziehungen gibt das olxeXov den maßgeblichen Gesichtspunkt ab, unter dem das Verhalten eines Mitmenschen sicher beurteilt werden kann. Die unvertretbare Funktion dieses Begriffs besteht darin, daß von ihm aus geprüft werden kann, inwiefern das, was ein Mensch erstrebt, auch von Bedeutung für ihn ist. Dies gilt zunächst noch unabhängig davon, ob das jeweils Erstrebte eine Sache oder ein Freund ist, auch wenn er in der Beurteilung des Verhaltens des Mit­ menschen gegenüber seine entscheidende Anwendung findet. Dies kommt auch im abschließenden Übergang zur Erörterung der Freundschaftsrelation zum Vorschein. So besehen bildet das olxeXov auch eine entscheidende Voraussetzung, um den Freund als ein Gut für das eigene Leben zu begehren bzw. zu lieben: Je mehr einer das ihm Zugehörige, verstanden als das, wonach er als Mensch im ganzen strebt, erfaßt, um so mehr wird er imstande sein, einen anderen Menschen in dem, was ihn als guten Menschen kennzeichnet, als Freund wahrzunehmen. Abschließend gilt es nochmals auf die Behauptung Sokrates' ein­ zugehen, nach der aus der Tatsache, daß ein Mensch das ihm Zugehö­ rige liebt, notwendigerweise auch folgt, daß der Freund, der einem nach »Gesinnung, Art und Eigenschaft« zugehört, geliebt wird und man von ihm wiedergeliebt wird. Diese Behauptung ist, wie bereits festgestellt, insofern von zentraler Bedeutung im Dialog, weil durch sie eine Verbindung der bisher unabhängig voneinander untersuch­ S. 184f.) verweist das olxeXov auf die Eigenart eines Verlangens, »das nicht aufhört, wenn es befriedigt wird, und wo das, worin das Verlangen Erfüllung findet, selber nicht aufhört, einem lieb zu sein. Das ist das, was mir zugehört und wozu ich gehöre und das so verläßlich und bestandhaft ist wie alles, was einem sein Haus ist. Sokrates folgert nun, wenn einer wirklich einen anderen als Freund liebt, dann ist sein Verlangen so auf den anderen gerichtet, daß er sich selbst darin erfüllt. Was er also am Ende sucht, ist das Zugehörige im anderen, und das gibt seinem Verlangen seine Legitimation.« 44 Peter M. Steiner (Psyche bei Platon, S. 32) formuliert vorsichtig, es soll von Sokrates »eine gewisse Nachdenklichkeit durch das Problem, wie die Seele zu sich und dem An­ gehörigen stehe, geweckt werden«.

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ten Grundbedeutungen der ^iLla im Sinne des Mögens bzw. Wünschens sowie im Sinne der Freundschaft hergestellt wird. Han­ delt es sich bei der Feststellung, daß wenn ein Mensch seinen Freund liebt, notwendigerweise auch seine Liebe vom Freund erwidert wer­ den muß, tatsächlich um einen abwegigen Trugschluß? Gegen diese Annahme läßt sich einwenden, daß in dieser Folge­ rung bereits das logische Problem eines Relationsverhältnisses auf­ scheint, wie es sich später für die Aristotelische Freundschaftskon­ zeption als maßgeblich herausstellen wird. Verständlich würde dieser Übergang vom x6 ^tLov bzw. x6 olxelov zu ot 91I0L bzw. olxelol unter der Voraussetzung, daß Platon hierbei etwa folgende Analogie zugrundelegt: Angenommen, R steht für die Relation eines Menschen zu dem ihm Zugehörigen, R[anfeinf] hingegen für jene Relation, in der A den Freund B als den ihm Zugehörigen wahr­ nimmt, und R[anfdop] wiederum für die Relation, die A wechselsei­ tig mit B aufgrund der gemeinsamen »Gesinnung, Art und Eigen­ schaft« hat. Dann ergäbe sich R ~ R' ~ R", wobei >~< für die Analogizität der Relationen steht. Auch wenn im Kontext des Dia­ logs nicht ausdrücklich formuliert, steht hinter diesem Übergang of­ fensichtlich eine weitere Zusatzannahme: Wenn die Relation R er­ strebenswert ist, ferner A ~ B gilt, dann ist auch B erstrebenswert, usw. Legt man diese Zusatzannahme dem Übergang zugrunde, dann ergibt sich folgender Schluß: Wenn R erstrebenswert ist, dann ist es in der Folge auch R' und da R' ~ R'' ist es auch R''. Vor dem Hintergrund dieses Modells würde auch verständlich werden, weshalb Sokrates in der weiteren Folge die Untersuchung dessen, was ein Freund ist, als gescheitert betrachtet und aufgibt. Aufgegeben wird sie gerade deshalb, weil die Substitutionen des olxelov durch das opoiov bzw. das ayaöov jeweils der Zusatzbedin­ gung insofern nicht genügen, als sie nicht erklären können, weshalb R tatsächlich erstrebenswert ist. Unter dieser Gegebenheit bleibt dann auch ungeklärt, was R'' erstrebenswert macht. So besehen läßt der aporetische Ausgang des Dialogs wichtige Probleme der ^iLla erkennen.

1.2 Die Ordnung der Seele: Der Dialog Gorgias An zwei Stelle nur handelt der Gorgias, der die aporetischen Frühdia­ loge beschließt, ausdrücklich von der ^iLla. Was keineswegs heißt, ^ 47

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daß diese Stellen für den umfangreichen Dialog unbedeutend ist. Eine davon findet sich in der umfassenden Erwiderung des Sokrates auf seinen Gesprächspartner Kallikles. Wer in seinem Leben glück­ lich werden will, so führt Sokrates hier aus, müsse in der Verrichtung seiner Angelegenheiten die Gerechtigkeit wie die Besonnenheit berücksichtigen, anstatt seine Begierden zügellos werden lassen und sie befriedigen. »Denn weder mit einem anderen Menschen kann ein solcher befreundet sein noch mit Gott; denn er kann in keiner Ge­ meinschaft stehen, wo aber keine Gemeinschaft ist, da kann auch keine Freundschaft sein. Die Weisen aber behaupten, o Kallikles, daß auch Himmel und Erde, Götter und Menschen nur durch Ge­ meinschaft bestehen bleiben und durch Freundschaft und Schicklich­ keit und Besonnenheit und Gerechtigkeit, und betrachten deshalb, o Freund, die Welt als ein Ganzes und Geordnetes, nicht als Verwir­ rung und Zügellosigkeit.«1 Es sind noch mehrere Platonische Grundmotive, die an dieser Stelle anklingen und in einem engen Zusammenhang mit dem vor­ hergehenden und folgenden Beweisgang stehen. Zunächst ist es die Vorstellung eines Menschen, der mit sich selbst in dem Sinne über­ einstimmt, daß vernünftige und alogische Elemente bei ihm nicht im Widerspruch stehen. Allein eine derartige Verfassung befähigt ihn, ebenso mit anderen Menschen wie mit Gott in Gemeinschaft und Freundschaft zu stehen. Ferner deutet Sokrates an dieser Stelle - be­ zugnehmend auf die Pythagoreer und Empedokles - eine Analogie zwischen dem Ordnungsgefüge der Seele und jenem der Welt an.2 Entsprechend dem Gesetz dieser kosmischen Ordnung hat man sich, so geht aus dem Zusammenhang der Stelle außerdem hervor, nicht nur die Selbstübereinstimmung der Seele vorzustellen; ihre imma­ nente Wirkung ist zugleich der maßgebliche Grund dafür, daß das Leben des Menschen als glücklich bezeichnet werden kann. 1 Gorg. 507 e 3-508 a 4. oöte yaQ av akkm äv0Qmmm av eIV| 6 toloütoc; oute 0Erä; xoivmvEÜv yaQ ähuvaTog, ÖTm 6e ^,r| evi xotvmvla, ^tkla oüx av eIV|. qaoi 6’ oi oo^oI, m KaXAxXEig, xai oÜQavöv xai y^v xai 0eoÜ5 xai äv0Qmmoug TÜ|v xotvmvlav ouvexelv xai ^iXiav xai xoo^iÖT^Ta xai om^Q0ouvr|v xai 6ixaiÖTyta, xai to öXov toüto 6ta TaÜTa xöo^ov xakoüotv, m etuIQe, oüx äxoo^iav oü6e äxokaolav. Die andere Stelle, 510 b 2-d 3, greift auf die bereits im Lysis zitierte Ansicht der »oo^oi« zurück, wonach als Freund der »Ähnliche« (6^,0105) und Gleichgesinnte gilt. 2 Zu den spezifischen Kennzeichen der Platonischen Ordnungsidee und ihren Unter­ schieden etwa zur Mikrokosmostheorie eines Demokrits vgl. Hans Joachim Krämer: Arete bei Platon und Aristoteles, S. 69 f.

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Daß ein bestimmtes Ordnungsgefüge des inneren Menschen eine Voraussetzung für seine Beziehung zu seinen Freunden dar­ stellt, war bereits im Lysis erwähnt worden, gleichwohl nur als eine zuletzt unhaltbare Vorstellung von Dichtern und Naturphilosophen. Gewiß erfolgt die Behandlung der spezifischen Ordnung der Seele im Gorgias unter anderen Bedingungen, wie sie durch das Thema dieses Dialogs, der Bestimmung des Recht- und Unrecht Tuns, vorgegeben werden, was auch die spärliche Bezugnahme auf die ^lAta erklärt. Und doch scheint sich in der »anthropologischen« Rückführung des Themas der Recht- und Unrechtsfrage auf die Selbstübereinstim­ mung des gerechten Menschen ein Überschneidungsbereich mit der Untersuchung der Freundschaft bzw. des wahren Liebhabers anzubie­ ten, da jeweils eine bestimmte Verfaßtheit der Selbstübereinstim­ mung als Voraussetzung für entsprechendes Handeln erscheint. Die Frage dieser Selbstübereinstimmung im Sinne einer entsprechenden Ordnung (to^lc;) steht erst in der Unterredung zwischen Sokrates und Kallikles ab 492 an ausdrücklich im Zentrum des dialogischen Geschehens. Ihre Untersuchung im Folgenden wird insbesondere zu prüfen haben, ob darunter ausschließlich ein »Spiegelbild« der kos­ mischen Ordnung zu sehen ist oder ob sie noch andere, für das The­ ma des Selbstbezugs wichtige Aspekte enthält. Dies ist auch deshalb aufschlußreich, weil die oben angeführte Bestimmung der ^iLta nicht ausschließlich auf die kosmische Ordnung hinzuweisen scheint. Zuvor aber ist noch auf das Polosgespräch (461b-481b) einzu­ gehen, in dessen Verlauf ebenfalls für die Untersuchung der Selbst­ beziehung wichtige Annahmen diskutiert werden. Darunter ist insbesondere das Erklärungsmodell eines psychisch gesunden Men­ schen zu nennen. 1.2.1 »Unrecht Tun ist schlechter als Unrecht Leiden« Zu den grundlegenden Annahmen Platonischer Moralphilosophie gehört bekanntlich die Überzeugung, daß kein Mensch freiwillig Un­ recht begehe, eine Überzeugung, die eine ausführliche Erörterung auch in der Unterredung zwischen Sokrates und Polos im Gorgias erfährt.3 Polos, ein junger und unerfahrener Parteigänger der Sophi­ sten, der im Gegensatz zu Gorgias und Kallikles in seinen Anschau­ ungen kaum über eine eigene Standfestigkeit verfügt und der öffent3 Vgl. Prot. 345 d-e, 352 d-f, 358 a-b; Hipp. 296 c-d; Men. 77 b- 78 a.

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liehen Meinung hörig ist, bewundert den Erfolg und das Ansehen erfolgreicher Mensehen, ohne darauf zu aehten, wie es jeweils er­ langt wurde. In der Unterredung mit Sokrates kommt die Frage zur Sprache, die bereits im vorhergehenden Gespräch des Dialogs zwi­ schen Gorgias und Sokrates eine Rolle spielte: In welchem Maße nämlich das Erstreben von Einfluß im Staat auch moralischen Fragen unterliegt. Damit verbunden ist die Frage, was das Gute bzw. das Schlechte ist, und wie ein Mensch sein Leben ausrichten sollte. Die Erörterung dieser Fragen erfolgt im dialogischen Geschehen in Ge­ stalt von vier Behauptungen des Sokrates. Die Thesen lauten im ein­ zelnen: 1. Redner wie Tyrannen haben den geringsten Einfluß im Staate, da diese nicht das tun, was sie wollen, sondern lediglich das, was ihnen das Beste zu sein scheint (466 b-468 e). 2. Unrecht Tun ist schlechter als Unrecht Leiden (469 b-c; 472 c473 a und 479 c-e). 3. Unrecht Tun und der Bestrafung Entgehen ist schlechter als Un­ recht Tun und Strafe Erleiden (476 a-479 e). 4. Der Nutzen der Rhetorik kann folglich nicht darin bestehen, daß man mit ihrer Hilfe der gerechten Strafe zu entkommen sucht (480 a-481 b). Um zu zeigen, wie im Gorgias die Erörterung des Guten mit dem Selbstbezug verbunden ist, werden wir uns im Folgenden hauptsäch­ lich auf die Darstellung und Diskussion der ersten drei Thesen be­ schränken, die vierte Behauptung hingegen, die sich als Folgerung aus der zweiten und dritten These ergibt, außer acht lassen. Ihren Ausgang nimmt die Diskussion der ersten Behauptung von der Feststellung des Polos, daß rhetorisch gebildete Menschen in der Polis in hohem Ansehen stehen, weil sie großen Einfluß auf andere Menschen haben und damit Macht im Staat auszuüben vermögen. Auch wenn dies erst im weiteren Verlauf der Unterredung aus­ drücklich gemacht wird (468 e 6-9), liegt dieser Feststellung von An­ fang an die Annahme zugrunde, daß ein Mensch, der über einen der­ artigen Einfluß verfügt, auch insofern als glücklich zu bezeichnen ist, als er tun und lassen kann, was er will. Der Behauptung des Polos stellt Sokrates die bereits im Lysis verwendete Unterscheidung gegenüber zwischen einem eigentlichen, basalen Ziel, das im Glück besteht, und der Macht, die das Mittel zum Erreichen dieses Zieles darstellt. Diese Unterscheidung ist nun nicht 50

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so zu verstehen, als oh Macht und Glück zwei voneinander unter­ schiedene Güter seien. In einer gewissen Hinsicht sind sie sogar eins, insofern man, indem man Macht ausüht, glücklich ist. Man verwirk­ licht mit anderen Worten das Glück durch die Ausühung der Macht. Dennoch hesitzt ihre Einführung insofern ihr Recht, als Sokrates auf dem Wege der Um-willen-Relation, wie sie zwischen Macht und Glück hesteht, gegenüher der Identität von Mittel und Zweck eine intentionale Differenz zwischen heiden aufrechtzuerhalten sucht. Diese intentionale Differenz kommt inshesondere dort zum Tra­ gen, wo Sokrates ausgehend von einer Reflexion üher Handlungen das, was der Handelnde in letzter Instanz für sich wünscht, von dem unterscheidet, was ihm das Beste zu sein scheint. Drei Schritte sind im Argumentationsgang zu unterscheiden: Erstens gilt es zu differenzieren zwischen Tätigkeiten, die um ihrer selhst willen, und d. h. weil sie in sich gut oder erstreht sind, durch­ geführt werden, und jenen Tätigkeiten, die um eines anderen Zwekkes willen durchgeführt werden. Diese sind in sich weder gut noch schlecht, sondern sind es nur p,exa^ü (467 e 2). Zweitens wird jede willentliche Tätigkeit um eines angenommenen Gutes willen für den Handelnden durchgeführt. Und drittens können deshalh Tätigkeiten, die sich in ihrem Ergehnis als nachteilig für den Handelnden erwei­ sen, auch nicht mit dem Willen des Handelnden ühereinstimmen. Für die Um-willen-Relation stehen sowohl das Beispiel der Me­ dizin, die man um der Heilung willen zu sich nimmt, als auch jenes vom Risiko einer Schiffahrt, das man um des möglichen Erwerhs von Reichtümern auf sich nimmt (467 c-d). Beide Beispiele dienen dazu, die teleologische Ordnung einer menschlichen Handlung aufzuwei­ sen, die Sokrates an dieser Stelle (467 d) als verallgemeinerhar dar­ stellt4 und die hereits im Lysis unter dem Begriff des npmxov ^ilov anklang. Diese teleologische Ordnung des Handelns wäre allerdings noch nicht ausreichend heschriehen, wenn nicht zugleich auch sein End­ ziel mit in seine Bestimmung einhezogen würde. Was immer man tut, kann daraufhin hefragt werden, weshalh man es tut, und die folgerichtige Antwort hesteht darin, daß man es um des Glücklich­ 4 467 d 6-e 1. aXXo xi oüv oüxm xai megi mavxmv rav xlg xi rnQaxx^ evexa xon, oh xoüxo ßohXexai ö mQaxxei, alJC exelvo oh evexa mQaxxei »Wenn jemand etwas um eines andern willen tut, so will er nicht das, was er tut, sondern das, um deswillen er es tut.«

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seins willen tut. Als Beispiel für diese Ordnung wird im Gorgias angeführt, daß selbst die Ermordung eines anderen Menschen in der Absicht erfolgt, »es sei uns besser, dieses zu tun als nicht« (468 b). Diese Unterscheidung zwischen der einzelnen Handlung und der Endabsicht, die jeweils ein angenommenes Gut für den Handeln­ den darstellt, läßt sich nun Sokrates von Polos bestätigen, bevor er sie für die Ausgangsfrage, ob Tyrannnen wirklich Macht im Staat haben, fruchtbar macht. Einmal zugestanden, daß man zwar über die Mittel, das erstrebenswerte Gut zu erreichen, disponieren kann, nicht aber über die teleologische Ordnung des Handelns, derzufolge jede Tätigkeit um eines Guten willen erfolgt, stellt sich das Problem des Tyrannen und seines Einflusses in Gestalt jener Frage dar, ob das, was er für sich selbst als das Beste erachtet, tatsächlich auch dem entspricht, was er will (468 d). Es geht hier also um die Frage, daß Tätigkeiten, die Ausdruck der Machtfülle eines Tyrannen sind, wie etwa die Hinrichtung anderer Menschen oder der unrechte Erwerb ihres Vermögens, stets an die zuvorliegende Frage zurückgebunden sind, ob sie dem entsprechen, was er will und was für ihn ein Gut ist. Selbst ein Tyrann, darauf läuft die Argumentation hinaus, wird sich niemals mit dem zufrieden geben wollen, was nur den Anschein des Besten für ihn hat, was aber nicht zugleich auch er selbst für gut hält. Um die Unterscheidung zwischen dem Anschein des Guten für sich, um dessentwillen man etwas unternimmt, und dem, was wirk­ lich für einen gut ist, kommt auch der Tyrann nicht herum. Selbst für ihn kommt es auf die richtige Einsicht an in das, was wirklich zu seinem Guten ist. Mit dem Aufweis des unauflöslichen Zusammenhangs zwischen den jeweiligen Handlungen und der ihnen zugrundeliegenden End­ absicht erhebt sich die weiterführende Frage, nach welchen Kriterien man festlegen will, was für den Handelnden jeweils das Beste ist und in welchem Falle er nicht nur dem folgt, was ihm als das Beste er­ scheint, sondern was es de facto auch ist. Wenn nach den bisherigen Ausführungen nicht die jeweilige einzelne Handlung in sich bereits das Kriterium zur Beurteilung ihrer moralischen Qualität enthält, sondern nur der in ihrer Durchführung angestrebte Zweck ein mora­ lisches Urteil über die konkrete Handlung ermöglicht, so fragt sich, wann dieser Zweck tatsächlich erreicht (gewollt) wird, und wann hin­ gegen es sich nur um ein scheinbares Gut handelt. In diesen Kontext ist auch die Diskussion der zweiten sokrati52

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sehen These einzuordnen, wonach das Unrecht Tun schlechter sei als das Unrecht Leiden. Zunächst gilt es festzuhalten, daß in der Unter­ redung mit Polos nicht zur Debatte steht, oh Unrecht Tun moralisch verwerflich sei. Polos ist kein Vertreter jener Position, die grundsätz­ lich Recht und Unrecht in Frage stellt, und so erkennt er durchaus an, daß Unrecht Tun weniger schön ist als Unrecht Leiden.5 Uneinig sind sie sich stattdessen in der Beurteilung der Frage, oh aus der Sicht des Eigeninteresses des Menschen das Unrecht Tun oder das Unrecht Leiden vorzuziehen sei. Im Gegensatz zu Polos, der im Unrecht Lei­ den eine Einschränkung des Glücks des Handelnden sieht und nicht anerkennt, daß wenn etwas gerecht ist, dies auch ein hinreichender Grund ist, es zu tun, macht sich Sokrates für die These stark, daß nicht nur unter moralischem, sondern auch unter dem Gesichtspunkt des Eigeninteresses des Handelnden das Unrecht Leiden dem Unrecht Tun vorzuziehen sei. Dies jedenfalls gilt nach Sokrates in konkreten Handlungsumständen, die eine entsprechende Wahl des Handelnden ahverlangen (469 c 1-8). In Sokrates' These, wonach nur derjenige Mensch glücklich zu nennen sei, der rechtschaffen und gut handele (470 e), ungerechte und moralisch verwerfliche Handlungen hin­ gegen zum Elend des Menschen führten, geht also insofern die vor­ gehende Unterscheidung zwischen dem jeweils angenommenen Be­ sten und dem, was tatsächlich das Beste und von Vorteil für das eigene Lehen ist, mit ein. In unserem Zusammenhang ist die Diskussion dieser zweiten These vor allem deshalh aufschlußreich, weil sie das Eigeninteresse des Handelnden, glücklich zu sein hzw. ein gelungenes Lehen zu führen, zum Thema macht. In dieser Hinsicht hesteht zwischen den beiden Gesprächspartnern, die sich in ihrer Begründung jeweils auf das wohlverstandene Eigeninteresse herufen, keinerlei Differenz. Wohl aber gehen ihre Auffassungen in der Frage auseinander, worin denn das jeweils Zuträgliche für den Handelnden zu suchen und vor allem wie es zu erreichen ist. Für Polos, einen radikalen Parteigänger der sophistischen Aufklärung, kann der einzig angemessene Beweg­ grund für ein moralisches Handeln im Eigeninteresse des Handeln­ den liegen. Eine Begründung moralischen Handelns hingegen, die sich auf überkommene Traditionen und Wertvorstellungen bezieht, enthält keinen hinreichenden Grund, ihr Folge zu leisten. Seine Vor­ stellung ist nun, daß man mit dem Unrecht Leiden in jedem Falle 5 474 c 7f. al'oxiov möxEQOv xö äSixetv ^ xö ä6ixEfo0ai[...] xö äSixEiv.

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etwas zum eigenen Nachteil bewirkt. Auf die Folgen einer Unrechten Handlung in Gestalt von Strafen zu verzichten verschafft doch scheinbar einen größeren Vorteil, als die Bestrafung in Kauf nehmen zu müssen. So gerät die These des Polos vom Einfluß und der Macht der Tyrannen unter der Hand zu der These, wie vorteilhaft es wäre, wenn man aufgrund des eigenen Einflusses sich die nachteiligen Fol­ gen ersparen könnte. Sie entspricht überdies durchaus dem zuvor erreichten Erkenntnisstand, daß kein Mensch ernsthaft und willent­ lich eine Handlung zu seinem eigenen Schaden und wider sein eige­ nes Glück verrichten werde. Wenn es überdies in vielerlei Hinsicht beschwerlich sein mag, präzise angeben zu können, was das Gute ist, das man für sich erstrebt, so scheint gerade jene Übereinkunft der Menschen, die ihren eigenen Vorteil im Vermeiden der Strafe sehen, für sich zu sprechen. In seiner Argumentationsstrategie kommt es Sokrates in erster Linie darauf an, sich über die Verwendung der Ausdrücke »gut« und »schlecht« bzw. »schön« und »häßlich« klar zu werden. Denn schon zu Beginn der Erörterung hatte Polos seine Gesamtthese auf der Grundlage einer unterschiedlichen Werteskala begründet. Es sind of­ fensichtlich zwei voneinander zu unterscheidende Perspektiven, in denen er Unrecht Tun und Unrecht Leiden gegenüberstellt. Wenn Polos behauptet, daß Unrecht Leiden schlechter (xaxtov) als Unrecht Tun ist, so hat er offenbar ein anderes Kriterium vor Augen, als wenn er in anderer Perspektive das Unrecht Tun als häßlicher (alo/LOY) als das Unrecht Leiden bezeichnet. Es kommt ihm mit dieser Unterschei­ dung letztendlich darauf an, seine eigene Annahme zu erhärten, wo­ nach man das Unrecht Tun entsprechend den geltenden Moralvor­ stellungen als verwerflich bezeichnen mag. Davon unberührt bleibt jedoch seine Überzeugung, nach der ein solches mehr im Eigeninter­ esse des Handelnden begründet liegt als das Unrecht Leiden. Wäh­ rend das, was die überkommene Moral empfiehlt, nach Polos Auffas­ sung als angemessen, xakoc;, bezeichnet werden mag, ist damit noch kein hinreichender Grund dafür angegeben, daß man ihm Folge lei­ stet. Deshalb ist es auch kein dyaBöc;. Anders als für Polos ist für Sokrates die Unterscheidung von »schön« (xakoc), »gut« (dyaBöc;), »häßlich« und »schlecht« zumindest in dieser Frage irrelevant.6 Un­ 6 Auch an anderen Stellen verwendet Platon die Ausdrücke xaXov und dyaöov als Synonyme. In Symp. 204 elf. ersetzt er ton xaXon durch tw ayaöw und nennt gute Dinge auch xaXd (20l c 2). In Men. 77 b heißt es, derjenige, der das Schöne liebt, sei

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recht Leiden ist in jedem Falle, so seine These, dem Unrecht Tun vorzuziehen. Und er begründet diese These auf dem Wege einer Re­ flexion über die Zusammengehörigkeit von xaköv und dya66v. Daß Sokrates' Argumentation in diesem Teil der Unterredung an mehre­ ren Punkten nicht stichhaltig ist, darauf ist bereits von anderer Seite ausführlich hingewiesen worden.7 Freilich sollte auch nicht überse­ hen werden, daß in diesen Überlegungen des Sokrates sich noch nicht die entscheidende Argumentation zugunsten seiner These vom Zu­ sammenstimmen moralischer Normen und dem Eigeninteresse des Handelnden findet. Aufschlußreicher ist dafür die im nachstehenden Abschnitt des Dialogs entfachte Diskussion über die dritte These, wonach eine Be­ strafung wegen des Unrecht-Tuns besser ist als der gerechten Strafe für begangenes Unrecht zu entkommen. Hier gilt es zunächst einen häufig erhobenen Einwand gegen diese These zu prüfen, nach dem Sokrates die gerechte Bestrafung eines Unrechts deshalb für »schöner« und nützlicher hält als eine folgenlos bleibende ungerech­ te Handlung, weil damit die Gerechtigkeit im Staat gewahrt bleibt und insbesondere diejenigen geschützt werden, die dem Gesetz ge­ mäß handeln.8 Offensichtlich jedoch zielt die Argumentation Sokrates' auf den Erweis, daß es im Interesse des Handelnden liegen müsse, wenn er die Bestrafung für das begangene Unrecht auf sich nehme. Begründet wird das Eigeninteresse des Handelnden, das ihm Zuträgliche und Vorteilhafte dadurch, daß jener, der ein Unrecht begangen hat, für auch der Liebhaber der dya6d. Vgl. außerdem Apol. 29 b 7 und 28 b 9, c 3, d 7; Krit. 49 a 6, b 5. Wolfgang Wieland (Platon und die Formen des Wissens. Göttingen 1982, S. 172f.) verweist allerdings auf Stellen in der Politeia, an denen das Schöne in ein Gegensatzverhältnis zum Guten gebracht wird. 7 Wegweisend war der Artikel von Gregory Vlastos: Was Polus refuted? - In: American Journal of Philology 88 (1967), S. 454-460, auf den in der Folge auch Terence Irwin (Plato's Moral Theory: The Early and Middle Dialogues. Oxford 1977) und - sehr diffe­ renziert - Charles H. Kahn (Drama and Dialectic in Plato's »Gorgias«. - In: Oxford Studies in Ancient Philosophy 1 [1983], S. 75-121, bes. S. 87-97) Bezug nahmen. Und vor Vlastos hatte bereits Eric R. Dodds in seinem Buch »Plato. Gorgias« (Oxford 1976, S. 249) wichtige Einwände vorweggenommen. Für den deutschen Sprachraum vgl. Peter Stemmer: Unrecht tun ist schlechter als Unrecht leiden, S. 505f. 8 Vgl. Gregory Vlastos: Was Polus refuted?, S. 454f. Ähnlich bereits Eric Dodds: Plato, S. 249: »when Polus said that doing wrong was less admirable, he clearly meant that it was less ophelimon for the community, and from this is does not immediately follow that it is less ophelimon for the agent«.

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das er auch bestraft wird, »der Seele nach besser« werde.9 Um diese These zu stützen, bedient sich Sokrates im Folgenden eines Erklä­ rungsmodells, das sich an die Vorstellung des Strebens nach leiblicher Gesundheit anlehnt (478 b-c). Ein kranker Mensch, der in seinem Bestreben, gesund zu werden, einen Arzt aufsucht, tut dies in der Erwartung und um des erstrebten Zwecks willen, nämlich der Gene­ sung von seinem Leiden. In seinem eigenen Interesse nimmt er dabei auch eine schmerzhafte Behandlung in Kauf, sofern er durch diese die Gesundheit, und d. h. die »Befreiung von einem großen Übel« (478 c 1), wiedererlangt. Jener hingegen, der angesichts des mit der Heilung verbundenen schmerzhaften Eingriffs sich einer Behand­ lung entzieht, irrt sich in der Annahme, mit dieser Handlungsweise seinem eigenen Wohl zu dienen. Verwechselt er das eigene Interesse doch mit dem, was - im Augenblick - weniger schmerzhaft ist. Was jenem, der den ärztlichen Eingriff vermeidet, ermangelt, ist, wie es im Text weiter heißt, die Einsicht in das, »was es eigentlich mit der Gesundheit und Tüchtigkeit des Körpers auf sich hat«.10 Diese Vorstellung eines der menschlichen Natur immanenten Anspruches, der zwar in verkürzter Weise wahrgenommen werden kann, nicht jedoch vollkommen zur Disposition des Handelnden steht, wird von Sokrates nun als Erklärungsmodell für das Eigen­ interesse jenes Menschen herangezogen, der Unrechtes getan hat und um der seelischen Unversehrtheit willen zum Richter geht.11 Während es im Falle der physischen Krankheit allerdings kaum Mühe bereitet, den ursprünglichen und einsichtigen Anspruch, die Gesundheit wiederzuerlangen, als genuines und begründetes Eigen­ interesse des Handelnden zu verstehen,12 stellt der Vergleich mit der psychischen Beeinträchtigung der Seele - und um eine solche geht es in der Ungerechtigkeit, die ein Mensch sich zu schulden kommen 9 477 a 5f. &Qa ^vmeQ Eym hmoka^ßdvm tf|v mqieVav ßektlmv tf|v ylyvetai, eHeq Sixalmg xoka^etai (»Etwa den Vorteil, welchen ich mir vorstelle, daß er nämlich der Seele nach besser wird, wenn er doch rechtmäßig gezüchtigt wird?«). 10 479 b 3f. dyvomv ye, mg Eoixev, oiov Eotiv r| hyleia xai aQetf| om^atog. 11 Der Vergleich physischer Gesundheit mit der seelischen Unversehrtheit wird eben­ falls von Aristoteles in der Nikomachischen Ethik gezogen. Vgl. 1104 b17. 12 Mit diesem Anspruch auf Gesundheit geht keineswegs die Folgerung einher, daß man in bestimmten Lebenssituationen nicht um eines anderen Gutes willen den Schutz der eigenen Gesundheit hintanstellt. Vielmehr kommt es hier auf den Nachweis an, daß es überhaupt solche ursprünglichen Ansprüche wie den auf Gesundheit oder Unversehrt­ heit gibt, die freilich in den Bedingungen der individuellen Situation durchaus zugun­ sten anderer zurückgestellt werden können.

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läßt - doch vor erheblich größere Probleme. Zum einen setzt Sokra­ tes in seiner Argumentation gegenüber Polos voraus, daß es ver­ gleichbar dem Streben nach Gesundheit für den Leib auch ein ähnlich geartetes Verlangen nach »psychischer« Unversehrtheit gäbe. Des­ halb solle auch derjenige, der ein Unrecht begangen hat, freiwillig die Strafe auf sich nehmen, damit »die Krankheit der Ungerechtig­ keit nicht durch die Länge der Zeit in die Seele sich einfresse und sie unheilbar mache« (480 b 1 f.). Gegenüber dieser Analogie zwischen physischer und seelischer Gesundheit hat man deshalb auch verschiedentlich eingewendet, daß im Gegensatz zur körperlichen Unversehrtheit die psychische Ge­ sundheit eher eine suggestive Metapher als ein reales Objekt des Strebens, um deretwillen man gerechte Handlungen vollzieht, dar­ stellt.13 Zwar spricht Platon nicht ausdrücklich von der psychischen Gesundheit, doch erlaubt der Vergleich, dessen sich Sokrates fort­ gesetzt bedient, die Verwendung dieses Ausdrucks. Glücklich ist und am besten lebt diesem Vergleich mit der körperlichen Gesundheit zufolge jener Mensch, der sich kein Unrecht zuschulden kommen läßt, bzw. derjenige, der sich in diesem Falle davon heilen läßt. Nicht glücklich und »am schlechtesten« hingegen lebt derjenige, der unge­ recht handelt und sich von diesem Übel nicht befreien läßt (478 e). Während es offensichtlich nicht schwierig ist, festzustellen, wann jemand körperlich gesund ist, verhält sich dies bei der Rede von der seelischen Gesundheit anders. Gibt es Kriterien, die es ähnlich wie im Falle der körperlichen Gesundheit ermöglichen, festzustellen, wann jemand seelisch gesund ist? 13 Ähnlich P. Stemmer: Unrecht tun ist schlechter als Unrecht leiden. Auf Platons Ver­ gleich des guten Lebens der Seele mit der seelischen Gesundheit wird noch später im Abschnitt über die Politeia zurückzukommen sein. Andere Einwände, die im Kern frei­ lich auf diesselbe Problematik zielen, finden sich bei Walter Pfannkuche: Platons Ethik als Theorie des guten Lebens. Freiburg, München 1988. Daß sich der Unrecht Tuende seine psychische Gesundheit jedoch durch eine Bestrafung erhält, scheint aus minde­ stens zwei Gründen fragwürdig. Zum einen, so läßt sich einwenden, bewirkt nicht jede gerechte Bestrafung bereits den Effekt, den sie nach dieser Behauptung wohl erlangen sollte, nämlich den Unrecht Tuenden zur Einsicht in begangenes Unrecht und mög­ licherweise zur charakterlichen Stärkung zu führen. Zum anderen ist ebensowenig ge­ sagt, daß ausschließlich die Bestrafung diesen Effekt erzielen könnte. Es wäre genauso denkbar, daß diese Einsicht durch andere Faktoren, etwa den eines schlechten Gewissens, herbeigeführt werden könnte. Bereits Otto Apelt (Platons Straftheorie. - In: ders.: Pla­ tonische Aufsätze. Leipzig, Berlin 1912, S. 189-202) wies darauf hin, daß es sich bei dieser Passage keineswegs um die Rechtfertigung einer Vergeltungstheorie handle.

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Nun sollte nicht übersehen werden, daß die von Sokrates ver­ wendete Metapher einer gesunden Seele für das begründete Wissen um das in letzter Instanz erstrebte Gut des Menschen steht. Die Dis­ kussion darüber, ob man für begangenes Unrecht Strafe erleiden soll oder vielmehr diese zu vermeiden hat, ist folglich vor dem Hinter­ grund der Bestimmung zu sehen, gemäß der ein Mensch, der im Konfliktfall die ihm für das begangene Unrecht zustehende Strafe vermeidet, in Wirklichkeit nicht weiß, was er tut. In diesem Zusam­ menhang gilt zu berücksichtigen, daß vor dem Einstieg in die Diskus­ sion der These sich Sokrates zunächst von Polos die Annahme bestä­ tigen läßt, gemäß der das Glück des Menschen als letztes Strebensziel nicht in der Befreiung vom Übel besteht, sondern darin, keine Ge­ meinschaft mit ihm zu haben. Ist erst einmal die prinzipielle Finalität des Glücks gegenüber den Mitteln zugestanden, so ist in der Folge auch die Auseinandersetzung um die Strafe eine Diskussion über die für das Erreichen des Zieles angemessenen Mittel. Deren Diffe­ renzierung erfolgt in dem Maße, in dem sich der Handelnde seines letzten Strebenszieles bewußt ist. So besehen rechtfertigt sich auch der Vergleich der seelischen Unversehrtheit mit der leiblichen Ge­ sundheit vom Standpunkt eines begründeteren Wissens, das allein bei jenem offenkundig wird, der sich in seiner Beurteilung dieser Mittel nicht von einem vordergründigen Empfinden leiten läßt. Einer solchen Beurteilung müßte entgegengehalten werden, daß ihr das Wissen um das, was man eigentlich erstrebt, ermangelt. Insofern scheinen mir die Ausführungen keinen Beleg für die Annahme zu enthalten, Platon gehe es in seiner Begründung für das Erfordernis, Strafe für begangenes Unrecht zu erleiden, im Wesentlichen um die Metapher einer gesunden Seele. In der Perspektive dieses begründeten Wissens um das in letzter Instanz erstrebte Gute muß, wie die nachfolgende Unterredung des Sokrates mit Kallikles zeigen wird, auch das Modell der Selbstüber­ einstimmung verortet werden. Hier nämlich wird die Frage auf­ geworfen und erörtert, ob jemand in seinem Handeln moralisch sein kann, der mit sich selbst nicht übereinstimmt.14 Im Gespräch mit 14 Charles H. Kahn: Drama and Dialectic in Plato's »Gorgias«, S. 101, Anm. 48, vertritt die These, daß der Begriff des Guten in der Politeia viel verwickelter sei. Im Gorgias finde sich lediglich die Unterscheidung des Guten für die Seele, für den Körper sowie äußerliche Güter. Hinsichtlich des »moralischen« Gutes ist im Gorgias allein das Gute als psychische d^et^ erörtert (vgl. 501 b, 502 e-503 a, 504 d-e, 506 d-f, 513 e — 514 a, 517 a—518 a, etc.).

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Kallikles versucht Sokrates zu zeigen, daß dessen Auffassungen sich nicht zu einem konsistenten Verständnis vom Ziel des Lehens ver­ einigen lassen und infolgedessen sich Kallikles sich seihst wider­ spricht, indem er sein Wollen des Guten nicht hinreichend versteht. 1.2.2 Selbstübereinstimmung und Selbstwiderspruch Die Einsichten, die in der Unterredung mit Polos gewonnen wurden, lassen sich so zusammenfassen, daß Moralität in einem Bezug zum Interesse des Handelnden steht. Dieser Zusammenhang ist zwar an­ gedeutet, aher kaum hegründet. Erst die ahschließende Unterredung mit Kallikles hringt in dem hier entwickelten Konzept der Selhstühereinstimmung eine weiterreichende Begründung. Was hisher in der Polos-Unterredung in der Analogie von physischer und psychi­ scher Gesundheit thematisiert wurde, wird in der Unterredung mit Kallikles auf die ihr zugrundeliegende Prohlematik des Selhstwiderspruches reflektiert, in den sich Kallikles in seinem moralischen Selhstverständnis verstrickt. Entscheidend für das Folgende wird sein, daß Platon im Gegensatz zu der sich widersprechenden ganz­ heitlichen Ausrichtung des Kallikles in Sokrates jene widerspruchs­ freie und mit sich einsseiende Position charakterisiert, in der zumal die angelsächsische Platonforschung einen »Leithegriff der Plato­ nischen Ethik« erhlickte. Kaum ein anderer Dialog hehandelt derart umfassend das The­ ma der Selhstühereinstimmung hzw. des Selhstwiderspruches wie der Gorgias. Als Leithegriff wird es schon zu Beginn der Kalliklesrede eingeführt, wenn dieser dem Sokrates vorhält, was er hehaupte, stün­ de im Widerspruch zur gängigen Lehenspraxis. Entsprechend scharf ist der Spott des Kallikles, der die Ausführungen des Sokrates als einen Scherz hezeichnet. Träfe nämlich die Behauptung des Sokrates zu, »so wäre ja wohl das menschliche Lehen unter uns ganz verkehrt und wir täten in allen Dingen das gerade Gegenteil, wie es scheint, von dem, was wir sollten« (481 c 2-4). Auffällig in seiner Antwort auf diesen Vorwurf ist, daß Sokrates nicht direkt die Meinung des Kallikles üher das gängige Moralemp­ finden attackiert, sondern die ihr zugrundeliegende Identifizierung seines Gesprächspartners erschüttert. Daß Kallikles sich niemals selhst widerspreche, sei darauf zurückzuführen, daß er sich in seinen Ansichten in privaten wie auch in öffentlichen Angelegenheiten stets nach dem richte, was andere, sei es das Volk oder sein Geliehter, ihm ^ 59

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vorgeben. Da er diesen nicht widersprechen könne, sei Kallikles auch unbeständig in seinen eigenen Auffassungen und lasse sich hin- und herwerfen, je nach dem, was sein Liebling gerade behaupte.15 Für sich und seine Liebe zur Philosophie nimmt Sokrates dem­ gegenüber in Anspruch, in dem, was er in seinen Handlungen er­ strebt, und seinen Behauptungen, die er aufstellt, mit sich selbst in Einklang zu sein.16 Eine derartige Selbstübereinstimmung sei in je­ dem Falle der Ausrichtung an den (ungeprüften) Vorstellungen an­ derer Menschen vorzuziehen. Wenn Kallikles seine Gegenthese zur Behauptung nicht begründen könne, würde er mit sich selbst nicht übereinstimmen (opokoyEtv, 482 b 5) und mit sich selbst im Zwie­ spalt liegen (öta^mvelv, b 6). Dieser Selbstwiderspruch jedoch sei schlechter, als mit den meisten Menschen nicht übereinzustimmen (opokoyEtv, c 1).17 Was in diesen einleitenden Bemerkungen zum Thema der Selbstübereinstimmug anklingt, erfährt erst im weiteren Verlauf des dialogischen Geschehens seine ausführliche Begründung. Eines ist aber bereits von Beginn an offensichtlich: Mit der Selbstüberein­ stimmung bzw. dem Selbstwiderspruch geht es weniger um die logi­ sche Inkonsistenz von Behauptungen; stattdessen geht es um die Fra­ ge, worauf sich der Handelnde in seinem Selbstverständnis in letzter Instanz bezieht. Insofern geht es in der Erörterung der Selbstüber­ einstimmung um eine reflexive Inkonsistenz, die dort vorliegt, wo eine Behauptung im Widerspruch zum Leben und Handeln des be­ treffenden Subjektes steht.18 15 oh Suva^Evon avxikeyeiv, akk’ avm xai xatm ^Etaßakko^Evon; 481 d 7f. Vgl. 481 e 1-3. Das Verb ^.EtaßdkkEtv verwendet Aristoteles in gleichem Zusammenhang, wenn er in den Freundschaftsbüchern als Charakteristikum des Schlechten die mangeln­ de Selbstübereinstimmung in dessen Auffassungen anführt. Dieser werde »hin- und hergeworfen wie von den Fluten des Euripos« (EN IX.6.1167 b 6-8). Vgl. dazu weiter unten Abschnitt 2.2.3. 16 In diesen Zusammenhang ist auch Sokrates' früher (458 a 2-7) vorgetragene Be­ hauptung einzuordnen, er rechne sich zu den Menschen, die sich gerne korrigieren lassen, um so von großen Fehlern befreit zu werden. Eine gleichlautende Maxime ist bereits von Demokrit bezeugt. Vgl. Hermann Diels und Walther Kranz: Die Fragmente der Vorsokratiker. Unveränd. Nachdruck der 6. Aufl. Zürich 1972, 68 B 60. 17 xaltot EymyE ol^at [...] xai tf|v kvQav ^ot xQErttov Elvat avaQ^ootov te xai Sta^mvEtv, xai xoqov m xoCTyolriv, xai mkElotong avOQmrnong ^,f| o^okoyEtv ^ot akk’ Evavtla kEyEtv ^äkkov ^ Eva övta e^e E^antm aoh^mvov Elvat xai Evavtla kEyEtv. 482 b 7-c 3. 18 Den treffenden Ausdruck der »reflexiven Inkonsistenz« übernehme ich von Wolf­ gang Wieland: Platon und die Formen des Wissens, S. 319.

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Wenn Sokrates an dieser wie auch an weiteren Stellen in der Diskussion mit Kallikles den Selhstwiderspruch auf jene reflexive Inkonsistenz zwischen dem Selhstverständnis des Handelnden und seinen entsprechenden Behauptungen andererseits zurückführt, so wird dieser Hinweis von Kallikles zunächst gar nicht verstanden. Dieser fährt damit fort, die Selhstheziehung des Handelnden aus­ schließlich in der Hinsicht des jeweiligen Nutzens für ihn zu be­ stimmen.19 In dieser Perspektive erweist sich allerdings Sokrates' Anspruch auf Selbstübereinstimmg als eine eher spitzfindige Überle­ gung, die vor allem in der möglichen Handlungssituation einer Be­ drohung durch andere unerheblich, weil ineffizient ist. Welche Evi­ denz, so könnte man die Position Kallikles' zusammenfassen, mag einer Reflexion über das eigene Selbstverständnis angesichts der Tat­ sache zukommen, daß sie einen aus den lebensbedrohenden Gefah­ ren nicht zu retten vermag (vgl. 486 b—c)? Es soll hier nicht im Einzelnen darauf eingegangen werden, wie Kallikles im Fortgang des Dialogs die Selbstübereinstimmung des Handelnden, wie sie eingangs durch Sokrates bestimmt wurde, gera­ de dadurch zu umgehen versucht, daß er den axiologischen Primat der Besonnenheit bestreitet und diese als im Dienst der Begierden und der Lust stehend betrachtet.20 Wichtig ist hingegen festzuhalten, daß Sokrates zunächst über die Unterscheidung guter und schlechter Lüste, dann über eine Reflexion über die Ordnung (xöapoc;) und Gliederung (xd^ig), mittels derer die Dinge ihre Brauchbarkeit (dpex^) erlangen,21 zur Vorstellung einer inneren Ordnung des Menschen überleitet (504 ff.). Darunter ist auch an dieser Stelle jener Zweckzusammenhang menschlichen Handelns zu verstehen, dem gemäß alles um des Guten willen getan wird. Indem Sokrates sich von Kallikles die Zustimmung zu dieser bereits im Polos-Gespräch getroffenen Annahme einholt, tritt zutage, daß auch Kallikles nicht anders kann, als eine teleologische Ordnung des Handelns anzuer­ kennen, innerhalb derer der Handelnde seine Entscheidungen trifft, ohne indes über diese Ordnung selbst disponieren zu können. Zu­ gleich wird auf diese Weise einsichtig, daß die eingangs eingeführte 19 So heißt es im Blick auf die von Natur aus Schwachen: ahtohc ohv xal xo ahxoic an^e^ov xovc, xe vo^onc xiöevxai xal xohg ertaivonc ertaivohaiv xal xohg ^oyong ^eyonaiv; 483 b6—c1. 20 Dementsprechend kann nach Kallikles nur jener Mensch als glücklich bezeichnet werden, der seinen Begierden folgt. Vgl. 491 e. 21 506 elf. xd|ei d^a xexay^evov xal xexoa^^ivov eaxlv ^ d^ex^ exdaxon

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Selbstübereinstimmung auf diese teleologische Ordnung des Han­ delns verweist, die zugleich das eigentliche Gegenprinzip zu jenem »Mehrhaben« (nXeove^ta) des Starken gegenüber dem Schwachen darstellt. Es liegt nach diesen Ausführungen nahe, in der spezifischen Ordnung (olxeloc; xoopoc;) der Seele den Angelpunkt für das zu se­ hen, was im Vorhergehenden als Selbstübereinstimmung dargestellt wurde. Diese Wohlgeordnetheit der Seele ist zudem, wie man der bereits oben zitierten Stelle entnehmen kann, die entscheidende Vor­ aussetzung dafür, daß ein Mensch mit anderen wie mit den Göttern in einer Freundschaft zu leben vermag. Im Text setzt Sokrates die moralische Wohlgeordnetheit der Seele mit deren Besonnenheit gleich (507 alf.). Im moralischen Sinne gut und vorzüglich wäre die Seele diesem Konzept zufolge nur dann, wenn und indem sie ihre Begierden zu zügeln versteht. Man hat nun diese innere Ordnung des Menschen gelegentlich dahingehend interpretiert, daß es Platon hierbei um das Konzept einer affektiven Ausgewogenheit ginge. Die Vorstellung eines glücklichen und gelungenen Lebens sei dementsprechend auch auf eine Übereinstimmung zwischen dem vernünftigen und alogischen Teil der Seele zurückzuführen. Daß Sokrates die gute Verfaßtheit der Seele mit deren Besonnenheit, ihre Unordnung hingegen mit ihren Begierden in einen Zusammenhang bringt, findet offensicht­ lich seine Berechtigung weniger im Konzept der affektiven Aus­ gewogenheit, das als solches bereits ein Kriterium für das Gutsein der Seele enthielte. Plausibler hingegen erscheint die Annahme, daß nach Platon die Vorstellung von der Wohlgeordnetheit der Seele un­ mittelbar in einem Zusammenhang mit jener Disposition der Seele steht, in der diese sich auf ihre Endabsicht eines glücklichen Lebens besinnt und die Beherrschung ihrer Leidenschaften dem Ziel ihres Lebens entsprechend erfolgt. Für eine solche Interpretation spricht zum einen, daß Platon an jenen Stellen, an denen er sich mit den Leidenschaften als Hindernis für die Besonnenheit auseinandersetzt, diese offensichtlich nicht als rein affektive Bewegungen ohne jeglichen kognitiven Inhalt auffaßt. Die Begierden nach dem Angenehmen enthalten ebenso wie die nach Macht bereits eine bestimmte Vorstellung über die Bedeutung der Dinge, die ihrerseits handlungsleitend sind. Wenn Sokrates dem Kallikles vorhält, er lasse sich durch Begierde leiten, so präzisiert er zu­ gleich, welcher Art diese Begierde sei: Kallikles nämlich lasse sich in 62

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seinen Leidenschaften von der Vorstellung leiten, daß es stets auf ein Mehrhahen ankomme (508 a). Die Leidenschaften stehen hier folg­ lich auch für das, was an Ideen und Vorstellungen üher den Sinn der jeweiligen Angelegenheiten den Handelnden hestimmt. Will man also die Unterscheidung der heiden Lehensweisen an der Frage des Umgangs mit den eigenen Leidenschaften festmachen, um auf diese Weise die Konsistenz des Modells der Wohlgeordnetheit der Seele zu überprüfen, so ist dafür nach Platon die Berücksichtigung des Zieles unumgänglich, von dem her sich der Handelnde selbst versteht und im Blick auf das er seine Leidenschaften heherrscht. Hinsichtlich der Besonnenheit des guten Lehens gilt, daß in der Distanznahme22 zu den eigenen ungerechten Vorstellungen sich der Handelnde im Hinhlick auf sein Ziel einsetzt und zur Übereinstimmung mit sich selhst gelangt. Vor dem Hintergrund dieser Üherlegung kommt hereits hei Platon der Ühereinstimmung mit sich selhst eine grundlegende Be­ deutung für die Frage nach einem geordneten Zusammenlehen mit anderen Menschen zu. Diese Üherlegung setzt voraus, daß es für den einzelnen tatsächlich hereits eine Evidenz dafür giht, daß er in sei­ nem Lehen von sich aus und nicht erst durch die gesellschaftliche Vermittlung auf das Gute hezogen ist. Wenngleich der Mensch üher diese teleologische Ordnung des Handelns, gemäß der der Handelnde auf das gute Lehen im Ganzen hezogen ist, nicht frei disponieren kann, ist diese ursprüngliche mo­ ralische Grundhaltung doch der Bedrohung ausgesetzt, sofern sie nicht kontinuierlich mittels des sokratischen Elenchos zurückgewon­ nen wird. Die im Gorgias vorgenommene Gleichsetzung von Wissen und Tugend hzw. dem guten Lehen wird dann verständlich, wenn das praktische Wissen, um das es hier geht, verstanden wird in seiner Funktion, diese ursprüngliche Grundhaltung wiederzugewinnen. In diesem Prozeß geht es darum, die Selhstwidersprüchlichkeit zu ver­ meiden: terminus ad quem dieser Erkenntnis ist jene Haltung, in der sich der Mensch so einsetzt, wie es mit seinem Ziel des guten Lehens ühereinstimmt. Eine Begründung dieser ursprünglichen Evidenz, gemäß derer der einzelne auf das gute Lehen im Ganzen hezogen ist, findet sich 22 Mit dem Ausdruck der Distanznahme zu sich selhst soll jener Sachverhalt henannt werden, den Sokrates am Ende der Polos-Unterredung und während des Gesprächs mit Kallikles so umschreiht, daß derjenige, der Unrecht hegangen hahe, sich selhst anklagen müsse (508 h).

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im Dialog Gorgias nicht. Wohl aber wird ausgehend von dieser Evi­ denz das Erfordernis eines vernunftgeleiteten Lehens hervorgehohen, dessen Ziel die Übereinstimmung mit sich selbst darstellt. Diese Übereinstimmung mit sich selbst bestimmt sich im Wesentlichen von der Endabsicht eines gelungenen Lebens. Was dieser Annahme zugrundeliegt, ist die Bestimmung der Identität der Person im Sinne der Rückgewinnung ihrer ursprünglichen Haltung. Damit wird die Idee des vernunftgeleiteten Lebens gleichgesetzt mit dem, was man den Reifeprozeß der Person nennen könnte: einen Prozeß des Urteilens, der ausgehend von der unverzichtbaren Evidenz der Bezogenheit auf das Gute, und nicht in Bezogenheit auf gesellschaftlich vor­ gegebene Auffassungen einsetzt. Wie die bisherige Interpretation des Gorgias gezeigt hat, steht die Konzeption des guten Lebens als eines vernunftgeleiteten im Ho­ rizont jener Vorstellung, daß nur mittels der Selbstübereinstim­ mung, wie sie ausgehend von der Evidenz der Bezogenheit auf das gute Leben durch Überprüfung zu erreichen ist, ein Mensch er selbst ist. In dieser Selbstüberprüfung geht es um eine Haltung, in der die Freiheit sich auf sich selbst besinnt und sich so beherrscht, daß der Handelnde sich dem Ziel gemäß einsetzt. Damit stellt sich, abschlie­ ßend zu dieser Interpretation, die Frage, warum sich der Mensch überhaupt auf diese Überprüfung einlassen sollte und was ihn von diesem Erfordernis überzeugen könnte. Wie so oft in Platonischen Dialogen ist auch diese Frage im Gorgias eng ins Handlungsgeschehen der Gesprächspartner miteingeflochten und gibt bereits der Verlauf des Dialogs einen impliziten Hinweis. Die renitente Position des Kallikles, der, von wenigen Aus­ nahmen abgesehen (vgl. etwa 510 af.), im letzten Teil der Diskussion nur noch auf Geheiß des Gorgias dem Sokrates Rede und Antwort steht, ansonsten sich jedoch beharrlich dem sokratischen Elenchos entzieht, mag als ein Indiz dafür gewertet werden, daß hier ein Pro­ blem ganz anderer Größenordnung, nämlich das der Motivation der Gesprächspartners, im Vordergrund steht. Was trotz der eloquenten Schlußparänese des Sokrates ausbleibt, ist die Einwilligung des Kallikles in den gewiß mühevollen Prozeß der Selbstüberprüfung, selbst wenn dessen Zweck das gute Leben sein sollte. Wenn folglich das Ziel, um dessentwillen sich Sokrates der Unterredung mit Kallikles gestellt hatte, von Anfang bis Ende darin bestand, diesen zu einem glücklichen Leben zu bewegen (vgl. 527 c 4f.), so muß dieses Ziel als unerreicht betrachtet werden. Das offene Ende des Dialogs erlaubt 64

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zumindest keinen gegenteiligen Schluß. Dafür ist wohl weniger die mangelnde Beweiskraft der Argumente verantwortlich zu machen, die zugunsten des guten Lehens von Sokrates ins Spiel gebracht wur­ den. Eher liegt die Vermutung nahe, daß Platon hier sehr bewußt die Möglichkeit einer Verweigerung eines Gesprächspartners gegenüber der Idee des vernunftgeleiteten Lehens inszeniert, um anzudeuten, daß auch eine stringente Argumentation niemals als solche bereits ausreicht, um in jene Selhstüherprüfung einzuwilligen, die ein mora­ lisch gutes Lehen gewährleisten. Was aber, wenn nicht allein die Ar­ gumente, kann dann einen Menschen dazu bewegen, das Ziel des guten Lebens in der Suche nach der Wahrheit einschließlich der da­ mit verbundenen Preisgabe von eigenen Vorstellungen anzustreben? Diese Frage drängt sich jedenfalls dann auf, wenn man das Verhalten des Kallikles als implizit moralische Aussage des Dialogs zu berück­ sichtigen bereit ist. An expliziten Aussagen, die die Vermutung stützen könnten, daß Platon diese Frage tatsächlich berücksichtigt hat, läßt sich im Dialog nur wenig finden. Allenfalls der von Sokrates abschließend vorgetragene Mythos der Jenseitsvorstellung mag einen Anhalts­ punkt dafür bieten, daß dem Motivationsproblem, weshalb also sich ein Mensch auf den sokratischen Elenchos einlassen sollte, eine ge­ wichtige Funktion zukommt. Trotz der Vorbehalte, die gegen die Ver­ wendung von Mythen vorgebracht werden können,23 ist diese Passa­ ge aus zweierlei Gründen von Bedeutung. Einerseits wird dieser Mythos, gemäß dem die Seelen im Jenseits für ihr gerechtes Leben belohnt, für ihr ungerechtes hingegen bestraft werden, von Sokrates mit der Einschränkung vorgetragen, daß es sich hierbei um eine Fik­ tion handle, auf die man, sollte sie die Funktion der Erklärung des Gemeinten nicht erfüllen, durchaus auch verzichten könnte (527 a). Platon selbst scheint hier mit dieser Einschränkung bereits die mögli­ chen Bedenken seiner späteren Kritiker gegenüber der Verwendung von Mythen vorwegzunehmen. Zum anderen läßt der Jenseits­ mythos auch eine andere Deutung zu als jene, die man gemeinhin dafür in Anspruch nimmt. Es ist wohl weniger die Absicht des Sokra­ tes, seinen Gesprächspartner von dem Erfordernis eines vernunft­ geleiteten Lebens dadurch zu überzeugen, daß er ihm Belohnungen 23 Vorbehalte gegen die Verwendung von Mythen formuliert Günther Patzig: Ethik ohne Metaphysik. Göttingen 1983, S. 34. Platon bediene sich solcher Mythen und Bilder immer dann, wenn er mit seinen Argumenten zuende sei. ^ 65

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und Strafen, die ihn für begangene Taten im Jenseits erwarten, in Aussicht stellt. Plausibler erscheint hingegen die Annahme, derzufolge die Aufgabe der Jenseitsvorstellung darin besteht, deutlicher das Motiv vorstellig zu machen, um dessentwillen es sich lohnt, daß der Mensch sich vom Ideal des vernunftgeleiteten Lebens bewegen läßt. Dieser Schritt kann allein durch die Unterscheidung des irren­ den von jenem wahren Willen offensichtlich nicht verständlich ge­ macht werden. Was den Menschen dieser Interpretation zufolge hin­ gegen dazu anzuhalten vermag, sich von den Leidenschaften mitsamt den durch sie hervorgerufenen Vorstellungen zu lösen und sich auf die Suche nach der Wahrheit, nach dem guten Leben als jenem Be­ zugspunkt, durch den die Seele ihre Ordnung erlangt, zu begeben, ist die Liebe zu seiner Bestimmung als unsterbliche Seele. Trifft diese Interpretation zu, so hätten wir, wenngleich nur an­ deutungsweise und verschlüsselt, keineswegs aber systematisch erörtert, bereits im Gorgias den Phänomenbestand der Selbstliebe in der Gestalt des Elenchos ausfindig machen können.24 Freilich ist ent­ scheidend, festzuhalten, an welcher Stelle das Phänomen sich zeigt. Es wird eben dort eingeführt, wo die Frage, weshalb sich ein Mensch der Idee des vernunftgeleiteten Lebens unterstellen sollte, virulent wurde. Das, was den Menschen folglich dazu bewegt, sich der Über­ prüfung der eigenen Angelegenheiten wie der der anderen zu stellen, bis hin zu der Bereitschaft, dafür mit dem eigenen Leben einzuste­ hen, ist jenes affektive Ergriffensein von der Idee der eigenen Un­ sterblichkeit, wie sie in dem Mythos des Jenseits symbolisch dar­ gestellt wird. Für eine solche Interpretation spräche zum einen, daß Platon einen Zirkelschluß in seiner philosophischen Ethik, die maß­ geblich durch die Idee des vernunftgeleiteten Lebens getragen ist, dadurch vermieden hätte, daß er die Frage, aufgrund welchen Motives sich jemand zu einem moralischen Leben entscheidet, anders als auf dem Wege einer Reflexion über die Idee des Guten zu beantwor­ ten gesucht hätte. Trifft darüberhinaus auch zu, daß dem Modell der psychischen Gesundheit oder der Harmonie, das Anlaß zur Unter­ suchung des Gorgias gab, eine nichtmoralische Bestimmung zugrun­ deliegt? Zwar erlauben die Erörterungen im Gorgias keine schlüssige Antwort auf diese Frage, jedoch kann die Vermutung nicht ohne wei­ teres als rein spekulativ abgewiesen werden, daß auch die Idiopragie24 Vgl. etwa auch 513 c »Jene zweifache Liebe eben, die du in der Seele hast, steht mir entgegen.« 66

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formel ihre Begründung in letzter Instanz nicht in einem Konzept der affektiv-volitiven und rationalen Ausgeglichenheit findet, son­ dern ihr - wie auch den anderen Tugenden - nach Platon jene Zunei­ gung zu sich selbst als unsterbliche Seele zugrundeliegt.25

1.3 Eros und Freundschaft: das Symposion Was hat der Platonische Eros mit der Liebe zu tun? Besteht zwischen ihm und dem Lieben (^lXelv) bzw. der Freundschaft (^iXta) ein Zu­ sammenhang? Eine Zusammenstellung der Stellen, an denen im Symposion von letzteren ausdrücklich die Rede ist oder deren Ver­ bindung mit dem epmc; zumindest angedeutet wird, erweist sich auf den ersten Blick als recht unergiebig. Allenfalls en passant nehmen die Redner des Trinkgelages in ihren Anpreisungen des Eros auf die Freundschaft Bezug. Phaidros, der mit seiner Rede (178 a-180 b) den Anfang macht, nennt Alkestis' Bereitschaft, für den Ehemann zu sterben, »obschon er noch Vater und Mutter hatte«, als Beispiel für ihre Freundschaft, die darin jene seiner Eltern übertraf (179 b 5c 2).*1 Pausanias Hymne auf den göttlichen und irdischen Eros (180 c-185 c) geht auf die Freundschaft nur geringfügig ausführli­ cher ein. Dreimal immerhin wird sie erwähnt. Bei aller Kürze geben diese Bezugnahmen doch einen gewissen Anhaltspunkt für die Freundschaft, selbst eine Verbindung mit dem Eros wird angedeutet. Den Barbaren, so weiß Pausanias zu berichten, sind um der Stabilität ihrer Herrschaftsgewalt willen wichtige Einsichten ebenso verhaßt wie tragfähige Freundschaften und Gemeinschaften. Das gelte nicht minder für Athens eigene Tyrannen. Schließlich, so Pausanias' histo­ rische Reminiszenz, habe die Liebe (epmc;) des Aristogeiton und des Harmodios, die zu einer festen Freundschaft geworden war, die Herr­ schaft der Tyrannen beendet.2 Was die Verbindung von epmc und 25 Anders als Ursula Wolf (Die Suche nach dem guten Leben) scheint mir deshalb bei Platon auch nicht ein Auseinanderfallen zweier Ebenen, eines psychologischen Wissens einerseits und einer für die philosophische Ethik konstitutive Ebene des Elenchos ande­ rerseits, feststellbar zu sein. Vgl. dazu S. 171 ff. 1 Eben dieses Beispiel greift Diotima später (208 d 3) wieder auf, indem sie als den wahren Beweggrund einer solchen Handlung das Streben nach Unsterblichkeit in der Gestalt des eigenen Nachruhms anführt. 2 182 c 5-7. o ya@ A^iOToyeiTovoc xal ^ A^oöion ^iXta ßeßaiog yevo^ev^ xateXnaev auTÖv t^v d^xhv- Eine gleichlautende Erklärung für den Umsturzversuch ^ 67

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^Llia anbelangt, so heißt es, pflege der Eros verbunden mit den Ein­ sichten solch tragfähige Freundschaften zu bewirken.3 Eryximachos streift in seiner Rede (185 e- 188 c) das Thema nur am Rande, wenn er von der Freundschaft zwischen Göttern und Menschen als einer Frucht der Seherkunst (pavtix^) handelt.4 Bei Aristophanes (189 c-193 d) wird die ^Llia immerhin an einer zen­ tralen Stelle seines Mythos von den einstigen Übermenschen ein­ geführt, die Zeus in der Mitte auseinanderschneiden ließ. Gegen En­ de seiner Schilderung, wie sich die einander zugehörigen Hälften suchen, heißt es zu ihrer glücklichen Wiedervereinigung, beide seien derart ergriffen von einem Gefühl der Freundschaft, Zusammen­ gehörigkeit und Liebe, daß sie nicht mal mehr einen Moment von­ einander lassen, vielmehr ihr ganzes Leben lang miteinander verbun­ den bleiben wollen.5 Nicht, daß Aristophanes an dieser Stelle näher auf die Freundschaft eingeht. Allerdings ist bemerkenswert, daß sie in einem Zuge mit der wechselseitigen Zugehörigkeit (olxelöt^tl) genannt und vor ihrem Hintegrund auch auf die Dauerhaftigkeit die­ ser Verbindung verwiesen wird. Auch Agathon (194 e-197 e) ver­ gißt nicht, die Freundschaft zumindest in der Hinsicht zu nennen, in der sie als ein Synonym für Eintracht und Friede steht, wie sie durch die Kraft des Eros erwirkt werden (195 c 5). Wenngleich diese Erwähnungen der ^Llia der Vorredner des Sokrates kaum weitere Rückschlüsse über ihre Zuordnung zum Eros erlauben, stimmen sie doch alle in einem überein: Die Freundschaft scheint zumindest in der Hinsicht für den Eros von Bedeutung, als sie eine der signifkantesten Anzeichen seiner Wirksamkeit darstellt. Dafür spricht nun auch, daß Sokrates eben diesen Aspekt in der Wie­ dergabe der Diotima-Rede aufgreift. Ein Mensch, so wurde Sokrates von Diotima belehrt, der von Jugend an in der Einsicht erzogen wur­ im Jahre 514 gibt Thukydides in seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges, VI 54, 2-3. 3 Die Stelle (c 1-c 4) lautet im Ganzen: oh yaQ olyrn ou^eqel Totg Sqxouol ^qov^yaTa yEyala ^YylyvEoBaL töv aQxoyEvmv, ohöE ^tllag loxnQag xai xotvmvlag, ö 6r| yalLOTa ^lAel tu te nUa mavTa xai o EQmg EymoLEtv. Die beiden anderen Erwähnun­ gen der ^tlla in der Pausanias-Rede (184 b 5 und 185 a 7) können aufgrund ihrer Kürze hier übergangen werden. 4 188 d 1. Vgl. zur yavTLX^ auch Phdr. 244 a 8-e 4. 5 ÖTav yEv ohv xai ahTÖ ExEtvm Evrhxp tö ahTOü ^yiOEL xai o maLÖEQaOTr|g xai allog mag, töte xai 0anyaOTa Exml^rtovTaL ^tlla te xai o’lxelöt^tl xai eqwtl, ohx E0ElovTEg mg Emog eHelv xmQitEO0aL all^lmv ohöE oyLXQÖv xqövov. 192 b 5c 2. 68

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de, wird im fortgeschrittenen Alter sich auf die Suche nach dem Schönen begehen. Begegnet er dann einer schönen, edlen und wohl­ geratenen Seele, so empfindet er eine große Freude. Er wird mit ihr über die Tüchtigkeit reden und darüber, wie der rechte Mann zu sein hat und was er treiben soll. »Denn wenn er, denke ich, das Schöne berührt und mit ihm verkehrt, so zeugt er und pflanzt das fort, wo­ von er erfüllt war, und in der Nähe und in der Ferne denkt er daran und erzieht das Erzeugte gemeinsam mit jenem auf. Und so haben die Menschen dieser Art eine viel tiefere Gemeinschaft miteinander als die zu leiblichen Kindern, und eine festere Freundschaft, da sie ja auch schönere und unsterblichere Kinder miteinander haben.«6 Bis in die Diktion hinein wird hier von Sokrates der von den Vorrednern angedeutete Zusammenhang von Eros und ^iXta aufgenommen und innerhalb der Systematik der Eros-Theorie präzisiert: Bereits zu Be­ ginn hatte Sokrates entsprechend der zuvor von Agathon vorgeschla­ genen Disposition der Rede (199 c) in einem ersten Schritt die Be­ schaffenheit des Eros und darauffolgend seine Wirkungen erörtern wollen. Und hinsichtlich der letzteren wird nunmehr die ^iXta als das spezifische Werk des Eros schlechthin eingezeichnet. Insofern hat also auch der Eros mit der Freundschaft zu tun. Dennoch bedarf dieser Zusammenhang einer weiteren Präzisie­ rung: Welche Form des Eros ist es, die eine derartige tragfähige Freundschaft hervorzurufen vermag? Schon die Frage deutet an, daß die Bestimmung der ^iXta im Symposion einzig und allein in der Perspektive der ihr zugrundeliegenden Beschaffenheit des Eros the­ matisch wird. Die Erörterung der Reziprozität als Spezifikum der Freundschaft wird dabei allenfalls am Rande berücksichtigt. Implizit ist sie allenfalls insofern Bestandteil des Dialogs, als man sich etwa fragen kann, um welche Art von Beziehung es sich in dem Verhältnis zwischen Diotima, der Seherin von Mantinea, und Sokrates handelt, oder wenn man den abschließenden Teil des Dialogs betrachtet, in dem Alkibiades in beredten Worten seine (Nicht-)Beziehung zu So­ krates darlegt. Eine andere, für den Zusammenhang unserer Unter­ suchung wichtige Frage ist, wie dem Eros auch eine Form der Selbst6 ämxö^Evog yaQ oiyai xoü xaXoü xai o^iXmv aüxm, & maXai exuel xixxel xai yEvvä, xai maQmv xai ämmv ^e^v^^evo^, xai xo yevvx|0ev ouvexxqe^el xolv^ ^ex’ exelvoxi, moxE moXü ^Ei^rn xoivmvtav x^g xöv rnatSmv mQÖg äXX^Xoug oi xoioüxoi l'oxouoi xai ^iXtav ßEßaioxEQav, üxe xaXXiövmv xai ä0avaxmxEQmv rnatSmv XExoivmvrixöxEg. 209 c 2-7. ^ 69

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Beziehung zugrundeliegt. Auf beide Fragen hin gilt es im Folgenden den konzeptionellen Hauptteil des Dialogs, Diotimas Ausführungen über den Eros (201 d-212 b), zu untersuchen. Ferner wird abschlie­ ßend auf die letzte Szene des Dialogs, das Auftreten des Alkibiades mit dessen Rede auf den Sokrates als wahren Liebhaber, einzugehen sein. 1.3.1 Die Freundschaft als das »Werk« des Eros Daß Sokates im Symposion - anders als in den Frühdialogen - in autoritativer Gesprächsführung zentrale Einsichten zum Thema Eros vortragen kann, führt er auf die Belehrung zurück, die ihm von der Seherin Diotima von Mantinea zuteil wurde.7 Was der Eros ist, will Sokrates entsprechend dem von Agathon in seiner Ansprache ge­ wählten Dispositionsschema so darlegen, daß in einem ersten Schritt seine Natur und daraufhin seine Wirkungen erörtert werden.8 Um die Antwort auf beide Fragen vorwegzunehmen, wie sie Sokrates erst in der Wiedergabe der Diotima-Rede geben wird: Der Eros geht da­ rauf aus, daß »einem das Gute für immer gehören soll«.9 Und bezüg­ lich seiner spezifischen Wirkungen gilt, daß der Eros »Zeugung im Schönen, sowohl nach dem Leibe als nach der Seele« ist.10 Bevor der Zusammenhang von beiden Momenten des Eros zur Sprache kommt, gilt es zuvor noch die Entwicklung der Definition der Beschaffenheit des Eros darzulegen. Bereits in seiner Unterredung mit Agathon hatte Sokrates die Relationalität des Eros geltend gemacht (199 c3-e 8). Der Eros ver­ lange stets ein Objekt, auf das er sich bezieht, er ist also ein epmc; tlvo^. Ferner wurde in einem weiteren Schritt sein Mangelcharakter hervorgehoben (200 a 1 - 201 a 1): Der Eros sei stets im Modus der Bedürftigkeit auf das begehrte Objekt bezogen. Zur Begründung hat­ te Sokrates darauf hingewiesen, daß man stets das begehrt, was man nicht hat und was einem fehlt. Der mögliche Einwand, man könne schließlich gesund oder reich sein, und dennoch beides begehren, 7 Ausführlich auf die gegenüber dem Elenchos in den Frühdialogen geänderten Regeln der philosophischen Kommunikation geht Thomas A. Szlezak ein: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, S. 253-270. 8 Tic eativ o e^wg xal rtotoc tlg bzw. ta e^ya ahton; 201 elf. Das Dispositionsschema in der Agathon-Rede in 195 a 4f. 9 eativ a^a anXX^ßö^v, e^, o e^wg ton to dyaöov ahtW eivai dei. 206 a 11. 10 eati ya@ tonto toxog ev xaXw xal xata to aw^a xal xata t^v ^nx^v. 206 b 7f. 70

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scheitert daran, daß der Mangelcharakter des Eros sich nicht auf den gegenwärtigen Zustand begrenzen läßt, sondern sich zugleich darin zeigt, daß man das, was man derzeit besitzt, noch nicht für die künfti­ ge Zeit besitzt und folglich bedürftig ist.11 Der dritte Schritt enthielt als Schlußfolgerung aus dem Vorhergehenden zugleich die zentrale Widerlegung der Annahme Agathons, derzufolge der Eros der glücklichste, weil schönste und beste der Götter sei. Wenn der Eros nämlich im Modus des Begehrens auf das Schöne und Gute bezogen ist, so müsse es ihm nach dem bisher Gesagten am Guten wie am Schönen mangeln und er beider bedürftig sein (201 a 2 - c 9). Ausgehend von der Belehrung, wie er sie durch Diotima erfah­ ren hatte, knüpft Sokrates in der Wiedergabe dieser Unterredung an die Mittler-Stellung des Eros an, die zunächst durch seine Charakte­ risierung als daimon und kurz darauf durch den Mythos der Abstam­ mung des Eros von seinem Vater Poros (der Personifikation der Mit­ tel und Wege) und seiner Mutter Penia (der personifizierten Armut) verdeutlicht wird. Dieser ätiologische Mythos soll zeigen, daß Eros stets in Mangel und Not, zugleich aber auch erfinderisch hinsichtlich des Guten als letztem und einzigem Ziel des Strebens ist. Wenn der Eros derart eine Zwischenstellung zwischen gut und schlecht ein­ nimmt, so muß seine Besonderheit durch einen eigenen Begriff er­ faßt werden. Dies eben ist die Funktion des »Mittleren«, und hier wird wiederum - wie zuvor im Lysis - der Begriff des Mittleren am Beispiel des Philosophen beschrieben, der um Weisheit bemüht ist, jedoch nicht über sie verfügt.12 Daß es ebenso, wie zuvor in bezug auf den Eros ausgeführt wurde, ein Mittleres zwischen Wissen und Nichtwissen gibt, wird an dem Gegensatzpaar des Weisen und Un­ wissenden vorgeführt. Ein solches Mittlere ist das »Meinen des Rich­ tigen«, über das man zwar kein gesichertes Wissen hat, von dem man aber dennoch nicht völlig ahnungslos ist.13 11 Zur Diskussion um die Konsistenz dieser Begründung vgl. insbesondere Anthony Price: Love and Friendship in Plato and Aristotle, S. 56 f. 12 Vgl. auch Euthyd. 282 c 1-d 2, Phdr. 278 d 3-6. 13 Vergleichbare Stellen zur Probematik von Wissen und Meinung finden sich außer­ dem in: Men. 97 a-d; Rep. VI, 506 c; VII, 533 e-f sowie Phil. 59 a-f. Für eine ausführ­ liche Diskussion der Wissensproblemaik bei Platon vgl. auch Klaus Oehler: Die Lehre vom Noetischen und Dianoetischen Denken bei Platon und Aristoteles. Ein Beitrag zur Erforschung der Geschichte des Bewußtseinsproblems in der Antike. 2. Aufl. Hamburg 1985, S. 103 ff. Ferner Theodor Ebert: Meinung und Wissen in der Philosophie Platons. Untersuchungen zum >Charmidesc, >Menon< und >Staatc. Berlin, New York 1974. Gerold Prauss: Platon und der logische Eleatismus. Berlin 1966. ^ 71

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Dieses Meinen des Richtigen steht nun auch am Ausgangspunkt des unmittelbar folgenden Elenchos über die Natur des Eros, in den Sokrates von Diotima gezwungen wird. Wenn man aufgrund einer solchen richtigen Meinung den Göttern zuschreibt, sie seien glück­ lich und schön (eu8aip,ovac; eLvat xal xakoüc;, 202 c 7), und dabei unter glücklich versteht, daß einem das Gute und Schöne uneinge­ schränkt zur Verfügung stehe, dann sind zwar sie, nicht aber der Eros, der in seiner Bedürftigkeit nach dem Guten und Schönen verlangt, göttlicher Natur. Man hat in dieser Bestimmung der Natur des Eros eine Kritik Platons an jenen anthropomorphen Vorstellungen der Götter ver­ mutet, die eine Gleichsetzung des Eros mit seinem angestrebten Ziel der wahren Göttlichkeit vornehmen.14 Daran ist soweit festzuhalten, als der in der Gestalt des Eros charakterisierten Bedürftigkeit des Menschen keine Souveränität hinsichtlich ihrer Erfüllung zukommt. Bemerkenswert an der Bestimmung des Mangelcharakters des Eros, wie er durch seine Mittler-Stellung hervorgehoben wird, ist noch eine weitere Einsicht. Der Mangelcharakter wird nämlich von Diotima nicht nur im Blick auf die Götter ausgelegt, die in keiner Weise bedürftig sind, weil sie das Schöne und Gute im umfassenden Sinne ihr eigen nennen können; er findet seine Bestimmung ebenfalls durch eine Abgrenzung nach unten von den Unverständigen, die in Unkenntnis ihrer eigenen Bedürftigkeit gar nicht erst glücklich und einsichtig werden wollen.15 Dies unterstreicht auch die nachfolgende Präzisierung Diotimas, daß Eros nur dem Anschein nach dem Eromenos gleichzustellen sei, in Wirlichkeit jedoch am Tun des Erastes ab­ zulesen sei: Man verkennt das Wesen des Eros, solange man in sei­ 14 Vgl. dazu Gerhard Krüger: Einsicht und Leidenschaft. Das Wesen des platonischen Denkens. Frankfurt a.M. 1939, S. 150: »So wie es zwar richtig ist, daß das menschliche Denken nicht ohne tragende Leidenschaft besteht, aber nicht so, daß der Mensch dabei keine Selbständigkeit hätte, so ist es zwar an der alten Religion als solcher richtig, daß sie den Grund der tragenden Leidenschaft als eine ungebundene, übermenschliche >Seelec anspricht, aber nicht so, daß dieser letzte wahrhaft souveräne Grund schon in der unmittelbaren, nächsten Gewalt zu suchen wäre, die der faktischen Leidenschaft das konkrete Gepräge gibt.« 15 Vgl. 204 a 1 ff. »Kein Gott philosophiert oder begehrt, weise zu sein, sondern er ist es, noch auch, wenn sonst jemand weise ist, philosophiert dieser. Ebensowenig philosophie­ ren auch die Unverständigen oder bestreben sich, weise zu werden. Denn das ist eben das Arge am Unverstande, daß er, ohne schön und gut und vernünftig zu sein, doch sich selbst ganz genug zu sein dünkt. Wer nun nicht glaubt, bedürfig zu sein, der begehrt auch das nicht, dessen er nicht zu bedürfen glaubt.« Vgl. Lys. 218 a- b. 72

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nem Begehren nach dem Guten und Schönen übersieht, daß er seihst dies werden, und das heißt diese Güter erlangen will. Man kann hier­ in einen ersten, grundlegenden Hinweis auf den selhstreferentiellen Bezug des Eros sehen. Dieser Selhsthezug hleiht sowohl hei denjeni­ gen ausgehlendet, die im Vollbesitz der Eigenschaften des Schönen und des Guten sind; ebenso fällt er hei jenen aus, die den eigenen Einsatz auf den Erwerb des Guten und Schönen hin durch ihre Selhstgenügsamkeit in Vergessenheit geraten lassen. Wie aber hängt nun diese Beschaffenheit des Eros mit seinem Wirken zusammen? Daß beides, Natur und spezifische Tätigkeit des Eros, nicht unvermittelt nebeneinander stehen, ist bereits angedeutet in der Reflexion über die Zusammengehörigkeit dessen, was gut ist (ayaOoc;), mit dem, was schön (xakoc;) ist: Auch wenn es sich hierbei nicht um Synonyme handelt, stimmen doch beide darin überein, daß sie jeweils vom Eros erstrebt werden. So kann Diotima auch vor­ schlagen, das, was schön ist, durch den Ausdruck »gut« zu ersetzen: Fragt man nämlich, inwiefern der Liebende das Schöne bzw das Gute erstrebt, so zeigt sich, daß man es tut, um glücklich, euöat^mv, zu sein. Denn durch den Besitz des Guten sind die Glücklichen glücklich (205 a lf.). Angesichts der Eudaimonie des Menschen ist es, so Diotima, allerdings auch nicht mehr sinnvoll, weiter zu fragen, weshalb man danach strebt, glücklich zu sein. So erweist sich das Glück als der letzte motivationale, nicht mehr weiter hinterfragbare Grund, um dessentwillen menschliches Handeln erfolgt. Bezogen auf dieses letz­ te Strebensziel kommen also das Gute und Schöne überein. Im Blick auf unsere Ausgangsfrage, welcher Eros für das Entste­ hen tragfähiger Freundschaften bemüht werden kann, gibt die nun einsetzende Differenzierung weiteren Aufschluß. Den selbstgestell­ ten Einwand, daß zwar alle Menschen das Glück erstreben, nicht von jedem aber behauptet werden kann, daß er es auch liebe, beantwortet Diotima zunächst mit dem Vergleich der Liebenden mit den »Poe­ ten«, ein Wortspiel, das im Deutschen nur schlecht wiederzugeben ist: alle Poeten (vom griechischen Verb notelv, »machen«, abgeleitet) bringen etwas zustande, obwohl nicht alle deshalb schon Dichter ge­ nannt werden können. Ähnlich ist jedem Menschen das Begehren des Guten zueigen, doch nicht jeder verdient deshalb auch schon als ein Liebender bezeichnet zu werden. Der Vergleich dient Diotima dazu, die »naturalistische« Deutung des Eros zurückzuweisen, wie sie im Vorhergehenden Aristophanes dargeboten hatte. Der Rede des Aristophanes zufolge besteht das »Werk« des Eros in der Restitution des ^ 73

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ursprünglich guten, weil ganzheitlichen und unversehrten körperli­ chen Zustand des Menschen. Der Mythos der Aristophanes-Rede ak­ zentuiert damit bereits die auch für den weiteren Dialog grundlegen­ de Vorstellung einer Ganzheit des menschlichen Daseins, allerdings so, daß die Ausrichtung auf die Ganzheit der Existenz ausschließlich mit dem leiblichen Akt der Vereinigung in Beziehung gesetzt wird. In diesem auf die körperliche Ganzheit abzielenden Eros des Aristophanes war überdies bereits die Vorstellung des otxetov, des Guten, das einem von Natur aus zugehörig ist, evoziert worden. Was genau aber soll Diotimas Behauptung besagen, wonach nicht jeder, der das Gute verlangt, auch schon als Liebender bezeich­ net werden kann?16 Ist es die Vorstellung, daß der wahre Eros, um dessen Beschaffenheit es hier geht, sich nicht allein durch die Be­ schreibung seines Tuns, seiner Ausrichtung auf das Geliebte infolge der ihm eigenen Bedürftigkeit erfassen läßt, und statt dessen das an sich und unabhängig von seinem Streben Gute, worauf er sich rich­ tet, in seine Definition als wahrer Eros eingehen muß? Für diese Annahme spricht, daß Diotima gleich darauf die Intentionalität des Eros ausgehend von den Qualitäten des Referenzobjektes präzisiert.17 16 Wenn Diotima die These des Aristophanes angreift, so erfolgt dies nicht etwa aus dem Grunde, weil dieser das Verlangen mit Hilfe des Begriffs des Ganzseins zu bestim­ men sucht. Ihre Kritik setzt vielmehr dort an, wo Aristophanes das Ganzsein auf die leibliche Unversehrtheit bezieht. Das wirkliche Ganzsein des Menschen als wesentliches Kriterium für sein Verlangen nach dem Guten an seiner sinnenfälligen Gestalt fest­ zumachen heißt jedoch zu verkennen, daß Menschen gegebenfalls sogar eine Amputa­ tion von Gliedmaßen in Kauf nehmen, um auf diese Weise unbeeinträchtigt leben zu können (205 e 3). Eben deswegen muß man die Erklärung des Eros, der auf das Verlan­ gen nach Ganzheit abzielt, auch dahingehend präzisieren, daß man sie von einer nur scheinbaren, irrtümlich angenomenen Erfahrung des Seinigen unterscheidet: »Denn nicht an dem Seinigen hängt jeder, glaube ich, es müßte denn einer das Gute das An­ gehörige nennen und das Seinige, das Schlechte aber Fremdes. So daß es nichts gibt, was die Menschen lieben, als das Gute.« (205 e) Gleichwohl scheint doch ebenfalls Diotimas Bestimmung des Eros im Folgenden am Modell der Ganzheit abgelesen, wenn dieses Modell auch an einem anderen Punkt festgemacht wird. Im Vordergrund steht hierbei die Überlegung, daß die wirkliche Liebe zum Guten einschließt, daß man »selbst das Gute immer haben will« (206 a). Ausgeschlossen wird damit implizit der Eros als Liebe zujenem Guten, das man nur um äußerer Konsequenzen willen erstrebt. Zugleich weist die Formel Diotimas auf den Punkt hin, an dem auch das Kriterium für die Unterschei­ dung der wirklichen Liebe von anderen Formen der Liebe verständlich wird: Was jene charakterisiert, ist eben das Streben nach einem ganzheitlichen, nicht auf den partiku­ lären Moment gerichteten Erfülltsein. 17 oh yd@ to eantwv oi^ai exaatoi dartd^ovtai, et ei tlg tö ^ev dyaööv otxetov xaXet xal eantoh, to öe xaxöv dXXot^iov; (»Denn nicht an dem Seinigen hängt jeder, 74

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Davon ausgehend wird auch das Erklärungsmodell des Aristophanes als ungenügend zurückgewiesen. Es kommt hier darauf an, den spezifischen Zusammenhang zwi­ schen dem genuinen Eros und seinem Werk (epyov) zu verstehen. Bemerkenswert ist, daß nach Diotima das, was man im eigentlichen Sinne den Eros nennt, nicht unabhängig von dem, was er hervorhringt, zu definieren ist.18 Sein Werk ist nicht irgendein Produkt sei­ ner Zeugungskraft, es ist vielmehr allein die »Zeugung im Schönen« (vgl. oben). Diese Präzisierung erfolgt offensichtlich anhand dessel­ ben Erklärungsmodells, das bereits der Unterscheidung der »Poeten« von den Dichtern zugrundelag: Allein eine spezifische Weise des Hervorbringens kann zur Bestimmung des Eros herangezogen wer­ den.19 Dieser allgemeine Zusammenhang zwischen dem genuinen Eros und seinem spezifischen Werk bleibt allerdings noch solange unterbestimmt, als man sich fragen kann, was denn das »Zeugen im Schönen« sei. Bezieht man die weiteren Ausführungen der Diotima auf diese Frage, so ergeben sich zwei Anhaltspunkte für ihre Beantwortung. Zum einen gelangt Diotima auf dem Wege einer Reflexion über die motivationale Struktur des Erzeugens zur Feststellung, daß es ebenso bei untermenschlichen Lebewesen wie beim Menschen, die dem Pro­ zeß des Werdens und Vergehens unterliegen, um der eigenen Un­ sterblichkeit willen erfolgt.20 Dies gilt noch, wie auch ihre Einbezie­ hung des Erzeugens bei Tieren verdeutlicht, gleichermaßen für das leibliche wie seelische Erzeugen. Zum anderen gelangt Diotima in der Differenzierung der jeweiligen »Werke« des Erzeugens auch zur Bestimmung der Freundschaft. Das Sterbliche, so legt Diotima zunächst dar, strebe in der Weise glaube ich, es müßte denn einer das Gute das Angehörige nennen und das Seinige, das Schlechte aber Fremdes.« 205 e 5-7). 18 So heißt es im Anschluß an die Definition des Eros: ote tonto o e^wg eotlv dei, ^ ö5 twv tiva t^ortov öiwxovtwv anto xal ev tivi n^d^ei p o;rcou6p xai p ohvtaoig e^wg dv xaXoito ti tonto tuyxdvei ov to e^yov (»Wenn nun die Liebe immer dieses ist, auf welche Art und in welcher Handlungsweise gehen ihm nun diejenigen nach, deren Betrieb und Anstrengung man eigentlich Liebe zu nennen pflegt? Was für ein Werk ist dieses?«, 206 b 1-3). 19 Besonders deutlich wird dies im Übergang der allgemeinen Beschreibung der Liebe, die auf das Schöne geht, zur Festlegung der besonderen Art, wie sie auf das Schöne geht, nämlich durch dessen Erzeugung. Vgl. 206 e 2-5: eotiv yd@, w Süx^ateg, e^, on ton xaXon o e^wg, wg oh olei. ’AXXd ti ^,pv Tpg yevvpoewg xal ton toxou ev tw xaXw. 20 döavaoiag yd@ xd^iv rcavtl aht^ p o;rcou6p xal o e^wg ercetai. 208 b 5f. ^ 75

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der »Zeugung« im Körperlichen wie im Seelischen danach, unsterb­ lich zu werden. Als Beispiele für diese Zeugungsmächtigkeit des Eros werden zunächst für den Bereich des Körperlichen die biologischen Nachkommen angeführt. Sowohl für Menschen als auch für Tiere offenbart sich bereits in der leiblichen Erzeugung einer Nachkom­ menschaft auf der untersten Stufe die Telosbestimmung des Eros, sich zu verewigen. Diese Telos-Bestimmung des Eros liegt, wie Diotima hervorhebt, nicht allein dort vor, wo sie bewußt als solche auch anerkannt wird. Sie durchwaltet vielmehr alle Stufen der Natur, gleich ob es sich dabei um ein triebhaftes Geschehen handelt oder aber, wie im Falle des Menschen, der zur Schau des Schönen gelangt, um die höchste Form der Anerkennung, daß diese Bestimmtheit auch einen inneren Sinn für die eigene Existenz hat.21 Hat man erst einmal eingesehen, daß eine jede Weise des Erzeu­ gens um des Beweggrundes der eigenen Unsterblichkeit willen er­ folgt, so kann man, wie Diotima dies auch tut, in einem zweiten Schritt ausgehend von der jeweiligen Tätigkeit der Zeugung auch eine leibliche von einer seelische Weise unterscheiden. Diese Unter­ scheidung geht in die Beantwortung der Frage, was die Erzeugung im Schönen ist, insofern ein, als der Beweggrund des Zeugens, die eige­ ne Unsterblichkeit, eher in dem Dauerhaften wie der Einsicht und jeder anderen Tugend (^qov^olv xe xal x^v aXX^v apex^v, 209 a 3 f.) als in der Erzeugung leiblicher Kinder seine Vollendung findet.22 Als Beispiel für die nächsthöhere Stufe der seelischen Zeu­ gungwird die Ehrliebe (^lAoxtpia, 208 c 1 - 209 e 4) jener Menschen erwähnt, die des Ruhmes in nachfolgenden Generationen wegen hel­ denhafte Taten vollbringen.23 Ähnliches gilt für die Dichter wie etwa 21 Vgl. dazu auch Julius Stenzel: Platon der Erzieher. Hamburg 1961, S. 209-248. Stenzel geht in seiner Interpretation des Symposion vor allem auf den Zeugungsvorgang in seiner thematischen Einheit mit der Bildung und Erziehung des Menschen ein. 22 Das wird freilich nur am Rande (209 c 7-d 4) angedeutet. Der entscheidende Angel­ punkt der Ausführungen Diotimas ist nicht die Unterscheidung zwischen leiblichen und seelischen Erzeugnissen, sondern zwischen dem Schönen und Häßlichen, in dem er­ zeugt wird. Vgl. 209 b 2-4. Eine vergleichbare Stelle zum Zeugen im Schönen findet sich in Phdr. 276 e. 23 Auch im Phaidon findet sich in der Diskussion der einzelnen Formen des Strebens der Hinweis auf die »Geld-« sowie die »Ehrliebhaber«, von denen das Streben nach Weis­ heit unterschieden wird. Vgl. Phd. 68 b-c. Und zu Beginn des Trinkgelages hatte Phaidros in seiner Rede den Zusamenhang von Eros und Ehrliebe hervorgehoben. Nichts vermag, so seine These, ein schönes, weil ruhmvolles Leben so sicher zu gewährleisten wie der Eros, denn dieser bewirke, daß man vor nichts anderem sich derart auszuzeich­ 76

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Homer oder Hesiod, die sich durch ihre Werke einen »unsterblichen Namen auf ewige Zeiten« zu erwerben suchen (209 d 1 ff.). Analog zu der leiblichen Erzeugung einer Nachkommenschaft wird auch auf dieser Stufe der seelischen Zeugung von Diotima die eigene Fortdau­ er in den nachfolgenden Generationen durch die Vorstellung akzen­ tuiert, daß eine vortreffliche Tat den Nachkommen als Vorbild und Orientierung im Verhalten zu dienen vermag. Der Beschreibung des Wirkens des Eros im seelischen Bereich, wie es von Diotima an den »geistigen« Vermächtnissen der Helden und der Dichter ebenso wie an den »geistigen Schöpfungen« der Ge­ setzgeber festgemacht wird - genannt werden Lykurg in Sparta und Solon in Athen -, folgt jene Wirkstufe des Eros, auf der die Entste­ hung der größten Tugenden wie Besonnenheit und Gerechtigkeit verortet wird, die mittels des pädagogischen Eros auch in einem an­ deren Menschen erzeugt werden (209 a 8 f.).24 Unter allen möglichen seelischen Erzeugnissen räumt Diotima nun den Tugenden der Be­ sonnenheit und Gerechtigkeit aufgrund ihrer Schönheit den höch­ sten Vorrang ein, da sich erst kraft ihrer die wahre Anordnung der Staaten sowie des Hauswesens zeigt.25 In dieser Bestimmung des ge­ nuinen Eros, der sich im Schönen - in der schönsten Einsicht - er­ zeugt, wird von Diotima der entscheidende Anhaltspunkt formuliert, der wenig später den Übergang des Eros zur ^ikia ermöglicht und gewährleistet: Die vorzügliche Anordnung der Staaten und des Hauswesens ist jener bereits zitierten beständigen Freundschaft und tragfähigen Gemeinschaft gleichzusetzen, die das Werk des Eros ist, der sich im Schönen dauerhaft erzeugt. nen wünscht wie vor dem Geliebten. In der von Phaidros thematisierten Ehrliebe begeg­ net man jenem im Begriff des xaXov enthaltenen Zusammenhang von Schönheit und Ansehen. 24 Die Tragweite dieser Erörterung des zeugenden Eros und seinem jeweiligen Werk wird sich später in den Aristotelischen Reflexionen über die ^iXia erweisen. Vgl. dazu weiter unten Abschnitt 2.3.1. Auch außerhalb der Freundschaftsbücher spricht Aristo­ teles bezüglich des Menschen als Subjekt seiner Taten von einem »Erzeugen«, wobei er sich ebenfalls des Vergleichs mit dem leiblichen Zeugen bedient. Vgl. NE III, 1113 b 18 f. Siehe zu dieser Metapher bei Platon und Aristoteles auch Jürgen Wippern: Eros und Unsterblichkeit in der Diotima-Rede des Symposions. - In: Helmut Flashar und Konrad Gaiser (Hg.): Synusia. Festgabe f. W. Schadewaldt. Pfullingen 1965, S. 123-159, hier S. 153, Anm. 78. 25 rtoXh öe ^eyiat^, xal xaXXiat^ t^g ^ ^e^l ta xwv ;rc6Xewv te xal olx^aewv öiaxoa^aig, ^ ovo^d eati aw^oanv^ te xal öixaioanv^ (209 a 5-8). ^ 77

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1.3.2 Selbstreferentielle Bezüge im Aufstieg zum Schönen Inwiefern kommt der im vorhergehenden Teil gedeutete Zusammen­ hang von Eros und Freundschaft auch im abschließenden Abschnitt der Diotima-Rede (209 e 5 - 212 a 7) zum Tragen, der vom metapho­ rischen Aufstieg eines Menschen handelt, der über die leibliche und seelische Erzeugung hinaus im Streben nach Weisheit die höchste Stufe erreicht? Die Annahme, die es im Folgenden zu überprüfen gilt, besagt, daß die selbstreferentiellen Bezüge, wie sie in die Schil­ derung des Aufstiegs mit eingehen, durchaus nicht nur zur genaue­ ren Bestimmung des Eros, der auf das Schöne geht, dienen. In der Konsequenz der bisherigen Interpretation bietet es sich darüberhinaus auch an, daß diese selbstreferentiellen Bezüge auch im Sinne einer Klärung der Voraussetzung gedeutet werden, gemäß der der Eros als sein Werk die Freundschaft hervorbringt. Dafür, daß dieser abschließende Teil in einem engen sachlichen Zusammenhang mit den vorausgehenden Darlegungen steht, spricht auch der Umstand, daß eben an jenes Beispiel des jungen Menschen angeknüpft wird, der in einem anderen Menschen so zu erzeugen sucht, daß eine festere Freundschaft entsteht.26 Allerdings werden nunmehr Differenzierungen auf der Ebene des Bewußtseins des Ver­ langens erforderlich, denen jeweils die einzelnen Stufen des Auf­ stiegs korrelieren. Seinen Ausgang nimmt der Aufstieg von der un­ tersten Stufe, auf der die Schönheit der einzelnen sinnenfälligen Gestalt erblickt wird, gefolgt von der nächsthöheren Stufe, auf der man das gestalthafte Schöne des Körperlichen schaut. Auf der dritten Verstehensstufe wendet sich der Blick der Schönheit der Seelen zu, indem er erzieherisch tätig schöne Handlungen zu erzeugen sucht. Und über die Einsicht in die Schönheit der Erkenntnis jener Hand­ lungen führt der Aufstieg schließlich zur höchsten Stufe, auf der die Idee der Schönheit selbst geschaut wird. Für diese Verstehensstufe gilt dann, daß erst hier infolge des Erschauens des Schönen selbst 26 In der Literatur begegnet man gelegentlich der Auffassung, es gäbe zwischen dem ersten Teil der Diotima-Rede über Wesen und Eigenschaften des Eros (201d-204c) und dem mittleren Teil (204c-209e), der vom Nutzen des tätigen Eros handelt, unüberwindbare Inkongruenzen, die man auf verschiedene Phasen der Entstehungs­ geschichte des Symposions zurückführen wollte. Jürgen Wippern hat die Unhaltbarkeit dieser Annahme überzeugend erwiesen und dabei gezeigt, daß auch die Reflexionen im Mittelteil der Diotima-Rede nicht als absurd und widersprüchlich hingestelt werden können. Vgl. Jürgen Wippern: Eros und Unsterblichkeit in der Diotima-Rede des Sym­ posions, S. 123-159. 78

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das Leben des Menschen auch lehenswert sei: »Und an dieser Stelle des Lehens, lieber Sokrates, sagte die Mantineische Fremde, wenn irgendwo, ist es dem Menschen erst lehenswert, wo er das Schöne selbst schaut« (211 d 1 ff.).27 Worauf es in unserem Zusammenhang ankommt, ist zu verste­ hen, daß der Aufstieg zum Schönen nicht in der ausschliesslichen Absicht einer erkenntnistheoretischen Erörterung erfolgt. Darauf deutet jedenfalls die höchste Verstehensstufe hin, auf der die Schau des Schönen dem Lehenswerten des Lehens gleichgesetzt wird.28 Diotima fährt im Kontext zunächst mit der Präzisierung fort, daß das, was auf der höchsten Stufe erhlickt wird, das Wahre ist, weshalh in der Folge ein Mensch kraft dieser Einsicht nicht Ahhilder (el'ömla) der Tugend, sondern die wahre Tugend erzeugt. Schon vorher, hei der Beschreihung der Einsichten auf der dritten Stufe, war von der Er­ zeugung der höchsten Tugenden, der Gerechtigkeit und der Beson­ nenheit, die Rede. Und es ist üherflüssig, hier nochmals an ehen diese heiden Tugenden zu erinnern, wie sie die Voraussetzung für die Ord­ nung im Hauswesen und in den Staaten hildeten. Worin hesteht aher dann das Spezifikum der Tugenden, wie sie auf der höchsten Stufe erzeugt werden? Auch aus anderen Dialogen ist die Unterscheidung hekannt, die Platon zwischen einem Tugendhegriff in einem landläufigen Sinne gegenüher der durch Einsicht erworhenen Tugend trifft. Was die gän­ gige Vorstellung der Tugend anhelangt - wozu auch die Tugenden der Gerechtigkeit und der Besonnenheit gezählt werden -, zeichnet 27 Evxaü0a xoü ßlon, m ^Ae SmxQaxeg, ^ Mavxmxf| |Evr|, eIAeq mon aAo0t, ßtmxöv äv0Qmmm, 0em^Evm ahxö xö xalov. (211 d 1-3) Den Ausdruck ßimxog den auch wir mit »lehenswert« wiedergehen, verwendet Platon im verneinenden Sinne auch in der Apol. 38 a 6 (Vgl. Fridericus Astius: Lexicon Platonicum sive vocum Platonicarum index. 2 Bde. Unveränderter Nachdruck der Ausgahe von 1835-1838. Bonn 1956, zum Wort). Noch hei Plotin werden diese fünf Stufen der Liehe ausführlich hehandelt: Von den fünf Stufengraden der Liehe hildet der oherste die reine Liehe zum Schönen, der vorletzte die leihliche Liehe zu Frauen, durch die für die Erhaltung und Kontinuität der Gattung Mensch gesorgt wird, während auf der letzten Stufe das Verhalten derjenigen verortet wird, die auf naturwidrige Weise zeugen wollen. Vgl. Plotin III. Enneade V. Buch 1. Später, in Marsilio Ficinos wirkmächtiger Schrift üher die Liehe, die sich als ein Kommentar zum Platonischen Symposion versteht, kommt es dann zu einer Rück­ führung auf drei Formen des Eros: den hetrachtenden göttlichen Eroten, den tätigen menschlichen sowie den ausschließlich auf sinnliche Lust fixierten tierischen Eroten. 28 Vgl. auch die weitere Bezugnahme auf das gute (hzw. schlechte) Lehen wenig später, 211 e 4-212 a 2. ^ 79

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sich diese durch ein auf Gewohnheit beruhendem Verhalten aus.29 Was die Tugend in einem landläufigen Sinne betrifft, so hatte bereits Agathon sie in seiner Rede evoziert und in einen direkten Zusam­ menhang mit dem Eros gestellt. Dieser sei Urheber der Gerechtigkeit wie der anderen Tugenden. Denn das, worin alle Menschen sich mühelos verständigen und Übereinkommen, sei das Gerechte. Wenn­ gleich Platon dieser landläufigen Vorstellung der Tugend, wie sie durch Konventionen zustande kommt, auch ihren bedingten Eigen­ wert nicht abspricht, so steht sie, insofern sie ohne Einsicht in das höchste Gut verwendet wird, stets in der Gefahr, auch für falsche Zwecke instrumentalisiert zu werden.30 Die auf Gewohnheit beru­ hende Tugend, die der Einsicht ermangelt, entspricht daher eher den Vorgehensweisen von Dichtern, die kraft ihrer Eingebungen etwas schaffen, ohne eine Einsicht in das, was ihr spezifisches Tun auszeich­ net, zu besitzen.31 Bezieht man nun die Unterscheidung dieser beiden Tugend­ begriffe auf den im Symposion beschriebenen Aufstieg zum Schö­ nen, läßt sich noch ein weiterer Gesichtspunkt geltend machen. So­ wohl auf der dritten als auch auf der fünften Verstehensstufe geht es jeweils um das Streben nach dem Schönen, dem xaköv. In diesem Ausdruck schwingt zugleich die Bedeutung des Ansehens und der Ehre mit, die ein Mensch sich durch sein Verhalten erwirbt.32 Die Bedeutung des Schönen im Sinne des Ansehens, das man durch vor­ treffliche Taten erlangt, überwiegt auf der dritten Stufe. Als ent­ scheidender Beweggrund für moralisches Verhalten steht das Streben nach Ansehen stets in der Bewandtnis, von der Anerkennung, die dem Strebenden durch andere Menschen zuteil wird, abhängig zu sein. In dieser Hinsicht handelt es sich um eine Form der Unsterb­ lichkeit, die durch andere Menschen vermittelt wird, nicht jedoch allein durch das eigene Streben erreicht werden kann. Demgegen­ über läßt sich für die eine »wahre Tugend«, wie sie auf der fünften Stufe erzeugt wird, gegenüber der Vielzahl von konventionellen Tu­ genden auf der dritten Stufe keinerlei Relativierung feststellen. 29 Vgl. etwa Phd. 68 cff., wo diese Vorstellung der Tugend deshalb auch mit Bildern einer Theaterkulisse verglichen wird. 30 Vgl. etwa Men. 88 b. Zum Problem der Ambivalenz der Tugenden siehe auch Wolf­ gang Wieland: Platon und die Formen des Wissens, S. 185 ff. 31 Vgl. dazu Men. 96 d, 100 b sowie Apol. 21 b-e. 32 Auf diese Bedeutung des xokov kommt bereits Agathon in seiner Rede zu sprechen (194 e-197 e). 80

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Schon deshalb liegt die Annahme nahe, daß erst die fünfte Stufe, die Schau des Schönen selbst, den letzten, weil nicht mehr relativierba­ ren Maßstab enthält, wie er jedem konventionellen Verhalten vor­ geordnet bleibt.33 Für den Aufweis der selbstreferentiellen Bezüge im Aufstieg zum Schönen ist auszugehen von der Überlegung, wonach die Bezie­ hung auf die Schönheit selbst als letzter Orientierungspunkt der Exi­ stenz gilt. Dafür bietet der Text noch mehrere Anhaltspunkte. Am Ziel des Aufstiegs angekommen, fordert Diotima Sokrates auf, den zurückgelegten Weg nochmals, ausgehend von der nun gewonnenen Einsicht in das Schöne, zu rekapitulieren (211 d 5 - 8). Dabei erweist sich im Rückblick die Vorläufigkeit der Schönheit auf den ersten vier Stufen: Die früheren Ausrichtungen auf das leibliche Erzeugen und auf den Erwerb der Anerkennung und Ehre in den nachfolgenden Generationen erweisen sich vom höchsten Orientierungspunkt her als vorläufig. Erst aus der Perspektive der fünften Stufe erfüllt die Schau des Schönen selbst die Funktion eines Orientierungspunktes, von dem aus die Ausrichtungen auf den Vorstufen in ihrer Bedingt­ heit, Vorläufigkeit sowie ihrer Verfehlung des »Lebenswerten« aus­ gewiesen werden können. Der Mensch bleibt auf allen Stufen dieses Aufstiegs, wenngleich auf unterschiedliche Weise, auf das Gute, das er für immer für sich selbst begehrt, bezogen. Erst auf der höchsten Stufe in der Schau des Schönen selbst kommt das ausdrückliche Bewußtsein um das zum Vorschein, was das Leben erst »lebenswert« macht. Insofern ist auch der Aufstieg zum Schönen selbst jedenfalls nicht ausschließlich als eine Art Abstraktionsprozeß vom sinnenfälligen Schönen zu seiner Idee selbst zu interpretieren. Eher schon könnte man vermuten, daß Platon hierbei an ein vorprädikatives, intuitives Wissen um das, was lebenswert ist, denkt. Allerdings ist festzuhalten, daß das direkte Er­ fassen der Schönheit selbst und der damit einhergehende Besitz ihres Wissens allein der Seherin von Mantinea vorbehalten bleibt. Ob So­ krates jemals in den Genuß dieses Wissens gelangen werde, wird nicht nur von Diotima in Frage gestellt - ihr Schüler nimmt für sich dieses Wissen um das Schöne selbst nicht in Anspruch, ebensowenig 33 Eine weitere Begründung, weshalb sich nach Platon erst hinsichtlich der fünften Ver­ stehensstufe des Aufstiegs von der »wahren« Tugend sprechen läßt, wird sich weiter unten ergeben im Zusammenhang mit der Frage, inwiefern der Aufstieg zur Erkenntnis des Schönen auch eine entsprechende »moralische« Disposition nach sich führt. ^ 81

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wie er seinen Trinkgenossen den Erwerb dieses Wissens in Aussicht stellt. Die einzige Konsequenz, die er aus dem von Diotima Vernom­ menen ableitet, besteht im Hinweis auf das Schöne selbst als einem Orientierungspunkt, den stets im Auge zu behalten er anmahnt. Den im Symposion geschilderten Aufstieg zum Schönen selbst ausschließlich als einen fortschreitenden Prozeß der Erkenntnis­ gewinnung zu interpretieren, der seinen Ausgang in der sinnlichen Betrachtung nimmt und im Erkennen des Orientierungspunktes der Schönheit selbst kulminiert, hieße freilich eine wichtige Vorausset­ zung zu übersehen: Derselbe Prozeß des Aufsteigens, der streng­ genommen nicht als ein Beweis, sondern als eine Hinführung zur Wahrheit dient,34 kann nämlich nicht nur von der Sicht der Idee des Schönen als einem letzten Orientierungspunkt aus dargestellt wer­ den, sondern ebenfalls von seiten des Subjekts, das diesen Aufstieg um des Schönen als einer Lebensorientierung willen vollzieht. Bei der dynamisch aufsteigenden Beziehung zum Erschauen des Schönen selbst gilt es zunächst zu berücksichtigen, daß das xakäv auch soviel wie das Schöne im Sinne des Wahren bedeutet, also des­ jenigen, das - aufgrund der ihm eigenen Anziehungskraft - mit Gründen vorgezogen wird, weil es als geeigneter Gegenstand des Strebens erscheint. Darin enthalten ist folglich die Konnotation des­ sen, was man als »bedeutungsvoll«, als geeignet und gut für das ei­ gene Leben begehrt. Im unmittelbaren Anschluß an diesen Aufstieg wird deshalb auch bekräftigt, daß in der Schau des Schönen das Wah­ re berührt wird und derjenige, der die Wahrheit des Schönen erfaßt hat, unsterblich wird und von den Göttern geliebt zu werden verdient (212 a).35 Gleichfalls ist hier die Rede davon, daß die Schau des Schönen selbst die Einsicht in das Lebenswerte schlechthin mit sich führt. Die Annahme liegt folglich nahe, daß schon zuvor die früheren Stufen in der Perspektive des Lebenswerten betrachtet werden können und dem xaköv als dem jeweils Erstrebten auch die Bedeu­ tung des »Zuträglichen« für die eigene Existenz zukommt. 34 Diese Hinführung dient im Kontext des Dialogs dazu, den Gastgeber Agathon zum Philosophieren anzuhalten. Vgl. dazu auch Peter M. Steiner: Psyche bei Platon, S. 82, mit weiterer Literatur. 35 Bereits zuvor wird diese Explikation des rechten Eros mit der Telosbestimmtheit des guten Lebens folgendermaßen angedeutet: »Denn dies ist die rechte Art, sich auf die Liebe zu legen oder von einem anderen dazu angeführt zu werden, daß man von diesem einzelnen Schönen beginnend jenes einen Schönen wegen immer höher hinaufsteige.« (211 c 1 ff., Hervorhebung durch PS). 82

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Für die Frage nach den selhstreferentiellen Bezügen, wie sie in den Aufstieg zum Schönen mit eingehen, ist es entscheidend, fest­ zuhalten, daß sie nicht aus einem bereits präkonstituierten Begriff des Ich abgeleitet werden. Sie kommen gleichsam nur im Zuge der Einsicht, wie sie auf der jeweiligen Stufe erreicht wird, zum Tragen und lassen sich deshalb auch nur an den jeweiligen Akten ablesen. Will man also dem Unterschied der einzelnen Stufen, wie sie im Auf­ stieg anhand von Graden der Erkenntnis beschrieben werden, gerecht werden, so kann man dies nicht aus der Perspektive des außenstehen­ den Betrachters tun. Es wird stets auch darauf ankommen, in die In­ terpretation des Aufstiegs miteinzubeziehen, wie sich die Stufen des Wissens demjenigen darstellen, der sich selbst auf einer dieser Stufen befindet. Zur Charakterisierung der jeweiligen Stufe gehört folglich neben ihren objektiven Merkmalen zugleich auch ihre Selbstdeu­ tung. Es steht folglich zu vermuten, daß nach Platon die die Selbst­ beziehung konstituierenden Faktoren sich erst in jener Tätigkeit, wie sie der Aufstieg zum Schönen selbst darstellt, erschließen lassen. Nach welchen Kriterien will man aber über eine Gewichtung der Stufen für das Subjekt und damit über seine Entsprechung zur Wahr­ heit entscheiden, wie es Platon offensichtlich tut? Offensichtlich genügt es nicht, die Differenzierung der einzelnen Stufen hinsicht­ lich des jeweils intendierten Gegenstandes bzw. Gegenstandsbereichs vorzunehmen. Denn gerade beim Aufstieg zum Schönen ist der je­ weilige Bezugsbereich ein ganz anderer als der einer »theoretischen« Wahrheit: Hier geht es nämlich nicht darum, bestimmte sinnenfäl­ lige Gestalten sich lediglich vorzustellen. Das Subjekt, das den Auf­ stieg vollzieht, intendiert zwar jeweils einen bestimmten Gegenstand bzw. Gegenstandsbereich, jedoch läßt sich sein intuitives Wissen um das Schöne, wie es auf den einzelnen Stufen zustandekommt, nicht allein von dieser intentionalen Ausrichtung auf den Gegenstand her umfassend deuten. Ein derart intuitives und gegenstandsbezogenes Wissen enthält noch vor dem Erwerb des Wissens um das Schöne selbst eine Voraussetzung, die nur am Rande zur Geltung gebracht wird: Es setzt voraus, daß es einem im Bezug auf das Schöne immer schon um das geht, was das Leben »lebenswert« macht. Anders etwa als im Fall eines propositionalen Wissens ist beim Aufstieg zur Er­ kenntnis des Schönen mit einer solchen Disposition des Subjekts zu rechnen, die ihm den Gegenstandsbereich des Schönen unter den Be­ dingungen der Frage, was das letztlich Gute ist, um das es einem im Leben geht, erschließt. ^ 83

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Was also im Aufstieg zur Idee des Schönen seihst zum Thema wird, ist die differenzierte Dynamik des Eros, die zum einen durch den Bezug auf den jeweiligen Gegenstand hzw. Gegenstandshereich zu heschreihen ist, zum anderen diese Disposition des Suhjekts zu herücksichtigen hat. Will man diese Disposition des Suhjekts in Be­ zug auf das Zustandekommen seiner Erkenntnis des Schönen he­ schreihen, so hietet sich die Überlegung an, daß Platon im Aufstieg zum Schönen eine stufenhaft heschriehene Loslösung vorläufiger Auffassungen vom Schönen zugunsten seiner wahren Erkenntnis heschreiht, in deren Prozeß es auch zu einer wahren Selhstdeutung kommt. Der heschriehene Aufstieg zum Erschauen des Schönen selhst, eine Erkenntnis, die das Lehen dem Menschen lehenswert wer­ den läßt, kann also selhstreferentiell interpretiert werden als die Hinführung des Menschen zur Bestimmung seines eigenen Lehens. Diese Heranführung an die Bestimmung erfolgt im Zuge einer ahgestuften Loslösung von eigenen - unangemessenen - Vorstellungen und Auffassungen der Gegenstände hzw. ihrer Bezugshereiche. Wie aher läßt sich das einsichtig machen? Legt man nämlich dem Aufstieg jene eingangs der Diotima-Rede getroffene Bestimmung des Eros zugrunde, der das unverkürzt Gute für immer erstreht, so läßt sich die Frage nach dem Kriterium, dem gemäß eine Differenzierung der Stufen gewonnen wird, da­ hingehend heantworten, daß auf der untersten Stufe, auf der die Anhänglichkeit an einen Sinneseindruck die Auffasssung des Gegen­ standes hestimmt, nur eine eingeschränkte Kenntnis des Gegenstan­ des möglich wird. Dem ontologischen Status der einzelnen sinnen­ fälligen Gestalt entspricht eine hestimmte Form der Selhstdeutung, die sich durch die Anhänglichkeit an einen Sinneseindruck heschreihen läßt. Auf der zweiten Stufe richtet sich der Erast zwar auf das intelli­ gihle Schöne, aher er hleiht dahei auf Gegenstände der sinnenfälligen Welt angewiesen. Was diese Stufe gegenüher der vorhergehenden auszeichnet, ist der Umstand, daß hier die Gegenstände als Ahhilder des intelligihel Schönen, damit aher hereits in einem umfassenderen Sinne als hedeutungsvoll für das eigene Lehen intendiert werden. Ähnlich gilt auch für die heiden nächstfolgenden Stufen, auf denen sich der Blick der Schönheit der Seelen zuwendet hzw. die Einsicht in die Schönheit der Erkenntnis und Sitten statthat, daß ihnen der Eros zur Bestimmung des eigenen Lehens korreliert. Was die Aufwärtshewegung zum Schönen selhst ermöglicht, ist 84

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nicht ein Abstraktionsvermögen, das sich von der einzelnen sinnen­ fälligen Gestalt hin zur Idee selbst erhebt; vielmehr scheint hier im Blick auf die Disposition des aufsteigenden Subjekts jene »Gesetzmä­ ßigkeit« formuliert, gemäß der das Bestreben, den jeweiligen »Ge­ genstand« wirklich zu erkennen, gegenüber vorläufigen und deshalb nicht angemessenen Vorstellungen über seine Bedeutung prävalieren muß. Auch die Unsterblichkeit der Seele, die Diotima nur zögerlich dem Menschen zuzusprechen bereit ist,36 wird hier in der Folge jenes Bemühens um die wahre Erkenntnis des Gegenstandes thematisch. Gewiß handelt es sich bei diesem Aufstieg um eine Art Loslösung der Seele von verfehlten Auffasssungen des eigenen Lebens,37 doch läßt eine solche deskriptive Bestimmung möglicherweise übersehen, daß Platon an dieser Stelle eine »moralische« Disposition der Erkenntnis der »Natur« eines Gegenstandes im Blick hat, die man auch so um­ schreiben könnte: Wenn immer ein Mensch etwas für ihn Gutes (At­ traktives) erstrebt, weil es für ihn von Bedeutung (und das heißt: anziehend und schön) ist, kommt es darauf an, den in Frage stehen­ den Gegenstand bzw. Gegenstandsbereich anstelle von vorgefaßten Meinungen wirklich zu erkennen. Hier gilt es an das zu erinnern, was bereits oben im Zusammenhang der Bestimmung des Mangel­ charakters des Eros ausgeführt wurde: Dieser schließt das bewußte Ausgerichtetsein auf den Besitz des Schönen und Guten ein, ein Merkmal, das ihn »nach unten« von den Unverständigen, die sich im Schein der Selbstgenügsamkeit befrieden, abgrenzt. Unter der Voraussetzung, daß diese Disposition die Bedingung des Aufstiegs ausmacht, erhebt sich allerdings die Frage, was einen Menschen in den Prozeß dieser Bemühung eintreten läßt und von seiner Erforderlichkeit zu überzeugen vermag. Auch wenn man auf diese Frage nur am Rande des Textes eine Antwort erhält, so scheint doch die Annahme nahezuliegen, daß der Eros diese Schlüsselfunk­ tion übernimmt. Am Ende der Unterredung Diotimas mit Sokrates faßt dieser, an die Teilnehmer des Trinkgelages gewandt, zusammen, daß, um in den Besitz jener Erkenntnis des Wahren zu gelangen, die menschliche Natur »keinen besseren Helfer finden könnte als den

36 »Wer aber wahre Tugend erzeugt und aufzieht, dem gebührt, von den Göttern geliebt zu werden, und wenn irgendeinem anderen Menschen, dann gewiß auch ihm, unsterb­ lich zu sein.« (212 a). 37 Vgl. etwa Steiner: Psyche bei Platon, S. 82. ^ 85

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Eros« (212 a). Somit erweist sich seine Lohrede auf den Eros als eine Aufforderung zu dieser Bemühung. Fassen wir zusammen: Im Aufstieg zur Idee des Schönen seihst wird dieser Interpretation zufolge zugleich jene moralische Disposi­ tion des Suhjekts implizit heschriehen, die Voraussetzung für das Er­ kennen des Schönen ist. Ohne die Einheziehung dieser Disposition wäre die differenzierte Dynamik der Erkenntnis des Schönen, wie sie den Eros charakterisiert, nur unvollständig heschriehen. Dem Stu­ fenweg in der Erkenntnis des Schönen entspricht dahei eine Aneig­ nung der rechten und angemessenen Haltung, ohne die sich eine Erkenntnis des Schönen nicht einzustellen vermag. Man könnte im Blick auf diese Voraussetzung auch von einer moralischen Disposi­ tion für das Erkennen sprechen, deren Regel sich auch so umschreihen ließe, daß je schöner, weil hedeutungsvoller hinsichtlich der ei­ genen Existenz, der jeweilige Gegenstand hzw. Gegenstandshereich erscheint, desto mehr streht der Erast auch danach, den in Frage ste­ henden Gegenstand hzw. seinen Bezugshereich auf angemessenere Weise zu erkennen als aufgrund von vorläufigen Meinungen und Ansichten, wie sie ihn auf den ersten vier Stufen hewegen. Freilich sollte man hei der Schilderung dieses Aufstiegs zum Schönen auch nicht die Skepsis hinsichtlich des Erlangens des Wis­ sens um das Schöne selhst unterschätzen, wie sie nicht nur in den Worten Diotimas zum Ausdruck kommt,38 sondern sich auch darin niederschlägt, daß Sokrates in keiner Weise sich selhst zum Inhaher eines solchen Wissens erklärt. Damit rückt üher die Möglichkeit eines Verfehlens dieses Erkennens wieder einmal jene Disposition des wahren Erasten in den Blick, der sich am Ende allein von daher versteht, daß das intuitive Wissen um das Schöne selhst jene Haltung hervorhringt, die danach streht, daß sie üher alle gelehte und erfah­ rene Anhänglichkeit an Vorstellungen und Ansichten hinaus den in Frage stehenden Gegenstand auf angemessenere Weise zu erkennen sucht. Auch wenn Platon den Begriff der Selhstliehe nicht verwendet, so ist doch im Symposion der Sache nach in der Beschreihung der moralischen Disposition, wie sie der Erkenntnis der Idee des Schönen 38 »Soweit nun, o Sokrates, vermagst wohl auch du in die Geheimnisse der Liehe einge­ weiht zu werden; oh aher, wenn jemand die höchsten und heiligsten, auf welche sich auch jene heziehen, recht vortrüge, du es auch vermöchtest, weiß ich nicht.« (209 e 10-210 a 3) 86

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zugrundeliegt, das Thema bereits virulent. Für diese moralische Dis­ position des Erkennens gilt es ebenfalls festzuhalten, daß sie sich nicht auf ein kognitives Vermögen zurückführen läßt. 1.3.3 Der Auftritt des Alkibiades Die Annahme, daß im Aufstieg zum »Schönen selbst« die differen­ zierte Dynamik des Eros als Selbstbeziehung thematisch wird, soll abschließend nochmals am letzten Teil des Symposions, wie er mit dem Auftritt des Alkibiades eingeleitet wird, verifiziert werden. Ge­ rade hier erfährt das, was zuvor in der Wiedergabe der Rede Diotimas konzeptionell ausgeführt wurde, seine Bestätigung in den Worten und dem Verhalten des Alkibiades. Über die Schau des Schönen selbst gesprochen zu haben ist solange ambivalent, als diese Schau nicht auch auf ihre Wirkung im Lebensvollzug hin bezogen wird. Eben dies darzutun ist die Pointe des letzten Teiles des Symposions. Alkibiades, der als Feldherr im athenischen Volk über hohes An­ sehen verfügt und an Ehrenbezeugungen der ihn Umgebenden (vgl. 216 b 6) gewohnt ist, bekennt offenkundig, daß er sich allein vor So­ krates schämt.39 Dieser gilt ihm schlechthin als das Maß der Dinge, so sehr, daß Sokrates Gegenwart ihn vor den Gewissenskonflikt stellt, nämlich zu wünschen, daß Sokrates gar nicht leben möge: »geschähe es aber etwa, so weiß ich gewiß, daß mir das noch bei weitem schmerzlicher sein würde, so daß ich gar nicht weiß, wie ich es halten soll mit dem Menschen« (216 c 1 ff.) Manches von dem zuvor in der Diotima-Rede Ausgeführten wird nun durch den neu hinzugekommenen Alkibiades, der von den vorhergehenden Reden nichts mitbekommt, bestätigt. Was Sokrates zuvor den Symposiasten über die ihm durch Diotima zuteilgeworde­ ne Belehrung mitgeteilt hatte, wird ihm aus dem Munde des verspä­ tet eingetroffenen Alkibiades für seine eigene Existenz bestätigt: Er, Sokrates, so führt Alkibiades aus, kümmere sich nicht im geringsten um die Schönheit der sinnenfälligen Gestalt; er erwecke zwar den 39 Bereits Phaidros hatte in seiner Rede die Scham vor der Schande als eigentlichen Ursprung des Eros bestimmt (178 d-e). Die Angst vor dem Verlust des eigenen Anse­ hens vor dem Liebhaber beflügele nicht nur den einzelnen zu großen Taten, sie sei ebenso auch der Ursprung für die Unbeugsamkeit und die tapferen Taten eines Heeres. Wolle man folglich ein Heer zur Tapferkeit anhalten, so müßte man sich seine Kämpfer aus den Reihen der Liebhaber und Liebenden rekrutieren, die aus Sorge um den Verlust ihres Ansehens alles tun würden, um sich vor dem Geliebten als tapfer zu erweisen. ^ 87

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Anschein, als habe er ein Interesse an der Schönheit, in Wirklichkeit aber habe er etwas anderes im Blick (217 a). Was zunächst von Alkibiades im Detail nachgezeichnet wird, ist das, was man auch die Platonische Dialektik der sinnlichen Gewißheit nennen könnte: Überzeugt von der eigenen Schönheit und ihrer An­ ziehungskraft auf andere Menschen schildert Alkibiades, wie er in schier unermüdlichen Versuchen Sokrates als Liebhaber zu gewinnen trachtete. Bedeutsamer als das Faktum, daß diese Versuche scheiter­ ten, ist freilich die Tatsache, wie dies vonstatten geht: Es zieht einen Wandel des Selbstverständnisses des Alkibiades nach sich, worüber Rechenschaft abzulegen ihm freilich nur aufgrund seines angetrun­ kenen Zustandes gelingen will: »Also auch ich, der ich noch empfindlicher gebissen bin und am empfindlichsten Ort, wo nur einer kann gebissen werden - denn am Herzen oder an der Seele oder wie man es nennen soll bin ich verwundet von den Reden der Weisheit, die sich an eine junge, nicht unedle Seele, wenn sie sie einmal ergriffen, heftiger als eine Natter ansaugen und sie in Wort und Tat zu allem bringen können.« (218 a 2ff.) Daß sein Zusammentreffen mit Sokrates Alkibiades in der Folge nicht davon abhält, auf der ersten Stufe des Verlangens zu verharren, wird dem Leser des Dialogs durch die Schlußszene in zweifacher Weise vor Augen geführt. Was Alkibiades nicht zulassen will, ist, daß Agathon neben dem Sokrates zu liegen kommt - den Übergang zur zweiten Stufe, auf der nach der Diotima-Rede die Schönheit in »allen Leibern für die eine und dieselbe« gehalten wird, will er nicht nachvollziehen. Was ihn zum zweiten eben daran hindert, wird von Sokrates ausdrücklich hervorgehoben: Es ist das, was man auch die Eigenliebe des Alkibiades bezeichnen könnte, nämlich die mit seinem Begehren einhergehende egoistische Auffassung des anderen als ei­ nem Menschen, auf den man einen Anspruch hat. So kann Sokrates dem athenischen Feldherrn vorwerfen, er sei der Ansicht, »ich dürfe nur dich lieben und keinen anderen, und Agathon [dürfe] nur von dir geliebt werden und auch nicht von einem anderen sonst.« (222 d 1 ff.) Alkibiades erweist sich in dieser Entlarvung durch Sokrates als ein Liebhaber, dessen Verlangen, ausschließlich von Sokrates geliebt zu werden bzw. Agathon als einzigen zu lieben, bar jeder Überlegung ist, was für Liebende und Geliebte jeweils das gute Leben ist. Was ihm nach diesen Worten des Sokrates fehlt, ist folglich der Eros zur Bestimmung des eigenen Lebens. 88

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Diese Schlußszene ist hinsichtlich der Schilderung des Verhal­ tens des Sokrates zu nahe der Platonischen Sicht seines Lehens, als daß man in dieser Charakterisierung des Alkihiades durch Sokrates noch eine irgendwie geartete ironische Wendung vermuten müßte. Gerade die Gegenüberstellung der Erasten Sokrates und Alkihiades läßt sich hingegen als ein weiteres Indiz dafür nehmen, daß mit der Eigenliebe des Alkihiades die zuvor im Aufstieg zum Schönen skiz­ zierte »wahre« Selbstliebe des Sokrates kontrastiert wird, eine Selhstliehe, die in ihrer Einzigartigkeit auf einer anderen Stufe anzu­ siedeln ist als etwa jene Bestrebungen und Lehensorientierungen, wie sie herühmte Gestalten wie Achill oder Perikles kennzeichneten. Was aher charakterisiert diese »wahre« Selhstliehe in actu, als deren authentischen Repräsentanten unserer Interpretation zufolge das Symposion den Sokrates schildert? Gewiß ist es die Einsicht in die Notwendigkeit einer Überprüfung der Frage, was es mit dem Strehen nach dem guten Lehen auf sich hat.40 Für die dafür erforder­ liche Loslösung von verkürzten Ansichten und vorläufigen Anschau­ ungen, wie sie heispielsweise üher den Eros vorherrschen, mag ehen­ falls die eindringliche Schilderung des Verhaltens Sokrates' vor Beginn des Trinkgelages wie auch an seinem Ende stehen: Unhesorgt um das Mißfallen der Symposiasten, die ungeduldig auf sein Erschei­ nen warten, sinnt Sokrates im Vorhofe des Hauses von Agathon üher ein nicht näher angegehenes Prohlem nach. Was in dieser Weise zu­ nächst als Distanznahme von anderen (einschließlich ihrer Ansich­ ten) erscheint, könnte genau so gut als die »wahre Tugend« erschei­ nen, als eine moralische Disposition des Sokrates, wie sie durch das »Ergriffensein« von der Idee des Schönen selhst als Bestimmung des eigenen Lehens hervorgerufen wird.

1.4 Exkurs: Die Reziprozität der Liebenden: Phaidros Bereits im Symposion war hei der Beschreihung des Liehhahers, der heim Zusammentreffen mit dem Geliehten im gemeinsamen Phi­ losophieren »Kinder« erzeugt, die wahrer sind als die leihlichen Ah40 Vgl. das ahschließende Fazit des Sokrates, als Alkihiades einsehen muß, daß er mit seinen Verlockungen und Üherredungskünsten gescheitert ist: »wir wollen von nun an immer nach reiflicher Üherlegung dasjenige tun, was hierin und in allem andern uns heiden das heste zu sein scheint.« (219 a 10ff.) ^ 89

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kömmlinge, schon die Vorstellung einer durch den Eros hervorgeru­ fenen Wechselwirkung evoziert worden. Diesem Zusammenhang, wonach die fördernde Macht des Eros den Liebhaber über sich hin­ ausführt und ihm im Zusammenwirken mit anderen Menschen Ein­ sichten erschließt, zu denen er von sich aus nicht imstande wäre, ist ebenfalls im Phaidros ein an mehreren Stellen behandeltes Thema, auf das im Folgenden einzugehen ist. Phaidros, der Gesprächspartner des Sokrates, ein etwas einfälti­ ger junger Mann,1 ist für die rhetorische Kunstfertigkeit des Lysias ebenso voller Bewunderung wie für eine seiner Schriften. In dieser hatte Lysias die paradoxe Behauptung vertreten, daß es für einen jungen Mann, der eine päderastische Beziehung zu einem älteren sucht, vorteilhafter sei, dem Werben eines nichtverliebten Menschen nachzugeben als dem eines Verliebten. Anders noch als im Sympo­ sion zieht Phaidros in der nach ihm benannten Unterredung die Be­ deutung des Eros dadurch in Zweifel, daß er, darin durch die Schrift des Lysias bestätigt, auf die Unzuverlässigkeit und die begrenzte Dauer päderastischer Beziehungen in ihrem üblichen Zustandekom­ men hinweist. Die Pointe des witzigen Einfalls, wie er der Schrift des Lysias zugrundeliegt, liegt gerade in der Empfehlung, jenen Men­ schen als Liebhaber vorzuziehen, dessen Gewinn langfristig gesehen besser und nützlicher, weil dauerhafter ist. Insofern hat man, auch wenn das Motiv des Nutzens von solcherlei Beziehungen im Dialog nur untergründig vorhanden ist und am Rande in Erscheinung tritt, in der Untersuchung immer auch auf die Verschränkung des Nutzen­ motivs mit der Frage, wie die Wechselseitigkeit einer Beziehung an­ gemessen zu bestimmen ist, zu achten. So sehr hat sich Phaidros den Inhalt der Schrift des Lysias zu eigen gemacht, daß er sie zu Beginn des Dialogs auswendig dem So­ krates wiederzugeben weiß. In seiner ersten Rede nimmt Sokrates die Behauptung des Lysias auf und präzisiert sie zunächst anhand des

1 Zu seiner Charakterisierung und der der anderen Akteure des Dialogs sowie zur fik­ tiven Chronologie und zur Örtlichkeit des Dialogs vgl. den Kommentar Ernst Heitsch in: Platon: Phaidros. Übersetzt und kommentiert von Ernst Heitsch. - In: Platon: Werke. Hg. im Auftrag der Kommissision für Klassische Philologie der Akademie der Wissen­ schaften und der Literatur zu Mainz von Ernst Heitsch und Carl Werner Müller. Bd. III.4. Göttingen 1993, bes. S. 71 ff. Die folgenden Übersetzungen aus dem Phaidros sind dieser Ausgabe entnommen. 90

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Erklärungsmodells, nach dem der Mensch durch zwei Kräfte bewegt wird: einerseits durch das eingeborene Verlangen nach Lust und Ver­ gnügen (emBupia ^öovmv, 237 d 8), andererseits durch die eigene Meinung und durch die im Laufe des Lebens erworbenen eigenen Ansichten (86^a e^tepev^ xoü aptoxou, 237 d 8 f.); Ziel des mensch­ lichen Lebens müsse es sein, mittels der logischen Fähigkeit die irra­ tionalen Triebe gemäß den Anforderungen der Sittlichkeit zu mäßi­ gen. Ausgehend von diesem Modell kann Sokrates in der Folge die fragliche Behauptung des Lysias aufgreifen, die besagt, daß das irra­ tionale Verlangen nach Vergnügen, das sich auch im Begehren der körperlichen Schönheit niederschlägt, dem Verliebten, hingegen ra­ tionales, weil beherrschtes Verhalten dem Nichtverliebten zuzuord­ nen ist. Und in der weiteren Folge seiner Ausführungen gelangt So­ krates in seiner ersten Rede zu einer Bestätigung der Behauptung, daß der Nichtverliebte als Partner dem Verliebten vorzuziehen sei (241b 6-cl). Die ironische Distanz zur eigenen Rede, wie sie in der anschlie­ ßenden Selbstkommentierung des Sokrates zutage tritt, kann kaum übersehen lassen, daß er sich mit dem Inhalt seiner Ausführungen nicht zu identifizieren vermag. Gleichwohl ist seine erste Rede nicht ohne jeglichen Erkenntniswert für den weiteren Fortgang des Dia­ logs. Immerhin gelangt auf diesem Wege der Kern der These des Lysias dadurch zum Vorschein, daß diese in einen theoretischen Be­ zugs- und Begründungsrahmen eingeordnet wird. Der Behauptung des Lysias, der Nichtverliebte sei vorteilhafter als Partner, liegt die in der ersten Rede des Sokrates herausgestellte Auffassung zugrunde, nach welcher der Eros im Wesentlichen der Preisgabe des Verstandes gleichkomme. Was demgegenüber die Dauerhaftigkeit päderastischer Beziehungen gewährleistet, ist ein rationales Nutzenkalkül, unbeeinträchtigt von jeglicher Leidenschaft. Mit dieser Aufdeckung der Voraussetzungen der These des Lysias ist bereits die Aufgabe vorgegeben, um deren Lösung willen Platon Sokrates seine Palinodie vortragen läßt: Hatte Sokrates sich zunächst für die Behauptung stark gemacht, daß der vernünftige Mensch dem Leidenschaftlichen als Freund vorgezogen werden müsse, so soll nunmehr in seiner zweiten Rede der Nachweis für die entgegengesetzte Annahme geführt werden, nach der gerade der Eros eine Freundschaft hervorzurufen imstande ist, die nicht nur hinsichtlich ihrer Dauerhaftigkeit, sondern auch im Blick auf das wahre Wissen den von Lysias skizzierten Idealfall menschlicher Be^ 91

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Ziehungen hei weitem überragt.2 Es steht also zu vermuten, daß die Widerlegung der Behauptung von der Autarkie und Unhedürftigkeit des Nichtverliehten einhergeht mit der gleichzeitigen Widerlegung des ihr zugrundeliegenden theoretischen Bezugsrahmens, wonach der Eros ausschließlich als Widerpart der Vernunft zu betrachten ist. Insofern wird es auch in der Palinodie neben der Widerlegung der Autarkie und Unhedürftigkeit des Nichtverliehten in hesonderer Weise auf den Erweis der logischen Komponente des Eros ankom­ men. Was mit dem dichterischen Widerruf der ersten Rede des Sokra­ tes geleistet werden soll, wird zu Beginn ausdrücklich festgestellt: Gezeigt werden soll zum einen, daß es unter den verschiedenen For­ men des Wahnsinns einen gibt, der zu den zuträglichen Gütern gehört,3 zum anderen daß der Eros zu diesen Gütern zu rechnen ist. In einer Hinsicht ähnelt die Disposition dieser Rede jener des Sokra­ tes aus dem Symposion. Entsprechend dem Dispositionsschema für die Erörterung des Eros wird auch im Phaidros zuerst die Natur der Seele (245 c-246 d 5), daraufhin das jenseitige Lehen der Seele (246 d 6-249 d 3) und abschließend (249 d 4-257 a 2) die Wirkun­ gen des Eros behandelt.4 Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird es besonders auf die Interpretation des letzten Abschnitts der Palino­ die ankommen, insofern hier auf dem Wege einer Reflexion über die Reziprozität der Beziehung zwischen Liebenden und Geliebten die Vorstellung der Autarkie und Unbedürftigkeit als des eigentlich er­ strebenswerten Guten zurückgewiesen wird. Die Behandlung der Natur der Seele wird von Sokrates mit dem Beweis ihrer Unsterblichkeit eingeleitet. Dieses ursprünglich allein den Göttern vorbehaltene Prädikat will Sokrates dadurch auch der 2 Dies geht vor allem aus den abschließenden Folgerungen der zweiten Rede hervor. Vgl. dazu weiter unten. 3 Wörtlich ist die Rede vom größten Glück, »das von den Göttern verliehen wird«. Vgl. 245 b 7-c 1. 4 Darüberhinaus bieten sich noch weitere Parallelen zwischen der Rede im Phaidros und der Schilderung des Aufstiegs zum Schönen im Symposion an. Die physische An­ ziehung, von der ausgehend der Liebende zu den charakterlichen Qualitäten des Gelieb­ ten geführt wird, lassen einen an den Aufstieg von der 1. Stufe der sinnlichen Anzie­ hung zur 2. (210 b 6-7) Stufe denken, auf der man der Schönheit der Seelen ansichtig wird. Allerdings gibt es in beiden Reden insofern eine grundlegend andere Disposition, als es im Symposion um den Aufstieg eines Individuums geht, das sich zudem von jeder individuellen Gestalt des Schönen freimacht, im Phaidros hingegen die allmähliche Ent­ wicklung der Beziehung der Liebenden untereinander im Vordergrund steht. 92

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menschlichen Seele zusprechen, daß er für sie den Nachweis ihrer immerwährenden Bewegung antritt. Einmal vorausgesetzt, daß das Spezifikum des Lehens die Bewegung ist, so gilt, daß das, was sich bewegt, auch leht. Wenn es sich immer hewegt und niemals zur Ruhe kommt, dann leht es auch immer und ist unsterblich. Wie aber läßt sich nun für die Seele nachweisen, daß ihr diese Eigenschaft der im­ merwährenden Bewegung zukommt? Der Beweis für die Unsterb­ lichkeit der Seele erfolgt vor dem Hintergrund einer Unterscheidung der Fremdhewegung von der Selhsthewegung: Was seine Bewegtheit einem Anstoß von außen verdankt, dessen Bewegung endet, sohald dieser Anstoß zu seiner Bewegung aufhört. Was hingegen sich selhst hewegt, hleiht immer hewegt und hat daher auch keinen Anfang sei­ ner Bewegung. Bezüglich der möglichen Bewegungsarten gilt für die Seele, daß sie ihre Bewegung nicht einem Anstoß von außen ver­ dankt, sondern sich selhst hewegt. Wenn ihr nun die Selhsthewegung als wesentliche Eigenschaft zuzurechnen ist, dann auch die Unsterhlichkeit. Folglich ist die menschliche Seele auch unsterhlich.5 An den Unsterhlichkeitsheweis schließt sich Sokrates' Beschrei­ hung der Form (löea) der Seele im Bild eines geflügelten Seelen­ gespanns an.6 Auch wenn dieser hildhafte Vergleich sich letzthin einer realistischen Ausdeutung entzieht,7 hleiht festzuhalten, daß er zumindest drei Aspekte der spezifischen Bewegung der Seele ver­ anschaulicht: Zum einen geht in die Veranschaulichung des Bewegt­ seins der Seele die Vorstellung einer Zusammensetzung heterogener, aufeinander hezogener »Teile« (Wagen, Pferde und Lenker) mit ein.8 5 Auf die Schwierigkeiten des Beweises, inshesondere auf die kontrovers diskutierte Frage, oh in 245 c 5 vom »Selhsthewegten« (ahtoxiv^tov) oder vom »Immerhewegten« (deixiv^tov) die Rede ist, muß im Zusammenhang unserer Fragestellung nicht eigens eingegangen werden. Mit Ausnahme des Papyr. Oxyr. 1017 ist in den Handschriften durchweg deixivrjtov üherliefert. Wir folgen aus Gründen, die im angestrengten Be­ weisgang dieser Passage liegen, der Annahme, daß es Platon an dieser Stelle um den Nachweis geht, daß die Seele vergleichhar den Gestirnen und Göttern sich in immer­ währender Bewegung hefindet. Vgl. dazu E. Heitsch: Phaidros, S. 107 f., hes. Anm. 198. Die Begründung, die jüngst noch Peter M. Steiner zugunsten des Vorzugs vom ahtoxiv^tov geliefert hat, ist nicht üherzeugend (Psyche hei Platon, S. 86f.). 6 eoixetw an^utw önvd^ei u^o^te^on ^euyong te xal ^vioxon. (»Wir wollen also annehmen, sie sei vergleichhar der vereinigten Kraft eines geflügelten Gespanns und seines geflügelten Lenkers«, 246 a 6f.). 7 Vgl. dazu den Kommentar von E. Heitsch: Phaidros, S. 93 f. 8 Oh die drei Bestandteile des Gespanns tatsächlich den drei Seelenteilen so zugeordnet werden können, daß der Lenker der Vernunft (Xoyiatixov), das tüchtige Pferd dem Mut (ön^oeiö^g) und das schlechte Pferd dem Begehren (ernön^tixov) entsprechen, kann ^ 93

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Wichtig ist in diesem Zusammenhang, daß die einzelnen Bestand­ teile als eine Einheit dargestellt werden, die Bewegung folglich als eine des ganzen Gespanns, und nicht nur einiger seiner Bestandteile, gedacht werden muß.9 Zum anderen veranschaulicht das Gleichnis die Bewegung als einen Aufschwung der Seele über die raumzeit­ lichen Beschränktheit. Was diesen Aufschwung ermöglicht, ist, wie mehrfach im Text festgestellt wird, der Anblick der wahren Dinge wie der Gerechtigkeit, Besonnenheit und anderer (247 d 2-4; 248b7-cl). Im Gegensatz zu dem Gespann, über das die Götter verfügen, sieht sich dabei das Zweigespann der Menschen mit der Schwierigkeit konfrontiert, daß die Schlechtigkeit eines der beiden Pferde (246 b; 247 b) die Lenkung und damit auch die Überwindung der Begrenztheit erschwert. Und ferner werden ausgehend von der unterschiedlichen Intensität der Schau des wahrhaft Seienden, zu der die menschliche Seele gelangt, die unterschiedlichen Folgen im irdi­ schen Leben der einzelnen erläutert.10 In der Beschreibung der Natur und des Schicksals der Seele kommt es Sokrates darauf an, zu zeigen, daß eine jede Menschen­ seele das wahre Wesen der Dinge einst erblickt hat und deshalb prin­ zipiell auch imstande ist, sich während ihrer irdischen Existenz an die »unwandelbaren Gegenstände zu erinnern« (249 e 4-250 a 1). Wenn so auch kein Unterschied hinsichtlich der Voraussetzungen der Erkenntnis des Wahren besteht, so bleibt doch festzuhalten, daß gleichwohl Differenzen unter den Menschen hinsichtlich ihrer Ver­ gegenwärtigung der einst ansichtigen Wahrheit in der irdischen Exi­ stenz bestehen. Nicht jeder läßt sich auch von den irdischen Abbil­ dern an das intuitive Wissen um das Wahre erinnern.11 Mit der Darstellung dieser Schwierigkeiten, die während der ir­ an dieser Stelle offen gelassen werden. Zur Diskussion dieser Annahme, für die sich besonders A. Graeser (Probleme der platonischen Seelenteilungslehre. München 1969, S. 41-45) ausgesprochen hat, vgl. E. Heitsch: Phaidros, S. 94f. Wichtig ist freilich fest­ zuhalten, daß die Bewegung an dem aus drei Komponenten bestehenden Gespann zu­ standekommt, nicht jedoch die Heterogenität dieser Elemente selbst als Ursache der Bewegung angesehen wird. 9 Die Vermutung bietet sich an, daß die Darstellung der Seele im Bild eines geflügelten Gespanns jene Vorstellung der Einheit und Ordnung der Seele aufnimmt, die in den vorhergehenden Dialogen bereits anklang. 10 Genau genommen entscheidet über das spätere Schicksal der Seele neben der Inten­ sität der Schau des wahrhaft Seienden auch die Zugehörigkeit zum Gefolge eines be­ stimmten Gottes. 252 d 1-3. Vgl. dazu weiter unten. 11 dva^vflaxeaöai öe ex twvöe exetva oh gdöiov d^da^, 250 a1f. 94

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dischen Existenz mit der Vergegenwärtigung der Welt des Ewigen verbunden sind, hängt nun unmittelbar auch die maßgebliche Funk­ tion des Eros zusammen, wie er im abschließenden Teil von Sokrates erörtert wird. Während nämlich Gerechtigkeit, Besonnenheit und all jene Dinge, die der Seele wertvoll (xtpta ^D/alc;, 250 b 2) sind, nur in schwacher Weise ihre Urbilder repräsentieren, verhält es sich mit der Schönheit anders. Diese vermag in ihren irdischen Abbildungen die Schönheit, wie sie einst gesehen wurde, angemessener zu vergegen­ wärtigen. So besehen kommt es dem Eros zu, in einer gegenüber der Gerechtigkeit und Besonnenheit privilegierten Form einen Zugang zur Welt des Ewigen zu bieten. Deutlicher und plausibler kann mit­ tels des Eros der Mensch die Erfahrung machen, daß er aus einer anderen, wahreren Welt als der irdischen kommt und für diese auch bestimmt ist. Es ist in diesem Zusammenhang auf die Begründung zu achten, die Sokrates für die Annahme vorlegt, daß dem Eros, der auf die Schönheit geht, eine Erinnerung an die Schau der wahren Dinge ein­ dringlicher zukommt als das Wissen um Gerechtigkeit und Beson­ nenheit anhand deren Repräsentationen. Immerhin ist diese Stelle eine der wenigen im Dialog, die eine Auskunft darüber erwarten läßt, daß der Eros sich nicht aus einer Kontraposition zum Vernünftigen her begreifen läßt, er selbst vielmehr eine »logische« Komponente enthält.12 Zunächst hat es den Anschein, als ob der Vorrang, der hier der Schönheit gegenüber den anderen, für das menschliche Leben wertvollen Gegenständen (davon war bereits 247 c 3-e 6 die Rede), 12 Das, was hier die »logische« Komponente des Eros genannt wird, der in anderer Wei­ se als die Vernunft eine Einsicht sui generis enthält, klingt mehrfach im Text an. Das gilt schon dort, wo von den eigentlichen Adressaten der Ausführungen die Rede ist. So heißt es zu Beginn der Palinodie, der Beweis, daß der Wahnsinn als größtes Glück von den Göttern verliehen werde, würde gewiß nicht unter den Gelehrten, wohl aber unter den Gebildeten Glauben finden (^ öe ö^ drtoöeL^LC eaxaL öslvolc ^ev dmaxog, ao^otc öe rnax^. 245 c 1f.). Und in der abschließenden Gegenüberstellung der Beziehung des Lie­ benden zum Geliebten im Gegensatz zum Verhältnis des Nichtverliebten zum Geliebten heißt es bezüglich der Frage, was der Geliebte jeweils als spezifische Gabe der Beziehung erlangen könne: Das Verhältnis mit dem Nichtverliebten sei bestimmt durch weltliche Klugheit (aw^Qoauvfl öv^x®, es verschaffe zwar bestimmte Güter, die in den Augen der Menge anerkennenswert seien, ansonsten freilich führe es nur dazu, daß man neun­ tausend Jahre lang auf und unter der Erde herumtreibe, bar jeder Vernunft (dvonv) (256 e 3-257 a 2). Gewiß wird hier die »logische« Komponente des Eros nur via negationis eingeführt, doch verweist auch eine solche Beschreibung auf das, was in den Aus­ führungen über den Eros stets vorausgesetzt wird. ^ 95

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wie der Gerechtigkeit oder Besonnenheit, zugesprochen wird, auf die durch die sinnlich wahrnehmbare Präsenz des Gegenstandes vermit­ telte Unmittelbarkeit zurückzuführen sei. Im Text wird dieser Vor­ rang ferner damit begründet, daß unter den körperlichen Wahrneh­ mungen der optische Sinn als der schärfste gilt.13 Die Intensität, wie sie der Schau des Schönen zu eigen ist, könne nur durch jene der direkten Wahrnehmung der Weisheit (^pövqOLc;) überboten werden (250 d). Was begründet nun näherhin die Einzigartigkeit des Zugangs zur Welt des Ewigen, wie sie Sokrates der Liebe zum Schönen zu­ spricht? Unter allen Gegenständen glänzt sie am klarsten, wie es im Text heißt (250 c 8-d 3). Dafür bieten sich noch mehrere Interpreta­ tionen an. Man kann diese qualitative Auszeichnung der Schönheit gegenüber den anderen Dingen der Gerechtigkeit und Besonnenheit auf die Relation zwischen den ewigen und unwandelbaren Gegen­ ständen und den irdischen Abbildern zurückführen. Demnach ähneln irdische Abbildungen der Schönheit in größerem Maße ihrem Urbild als Abbildungen der Gerechtigkeit und Besonnenheit.14 Eine andere Erklärung besagt, daß der Vorzug der Schönheit in der besonderen Intensität und Unmittelbarkeit zu sehen ist.15 Auf die Frage, weshalb im Eros der Mensch direkter und unmittelbarer die Erfahrung machen kann, daß er aus einem »überhimmlischen Ort« (unepoupdvlov TÖnov, 247 c 3) stammt und für diesen auch bestimmt ist, läßt sich aber noch eine weitere Antwort rekonstruieren. Sie hat von der Besonderheit des dispositionellen Wissens auszugehen, die Sokrates im Phaidros anhand seiner Darstellung des Eros zwar nicht aus­ drücklich erörtert, die jedoch in seine Behandlung entscheidend mit eingeht.16 Die Lehre von dem mittels des Eros erreichten Wissens muß zunächst vor dem Hintergrund der vorangegangenen Ausführungen über die Möglichkeit der Begriffsbildung situiert werden. Auf die im 13 In anderem Zusammenhang wird ein ähnlicher Vorrang dem Sehorgan eingeräumt, das darin auch die Voraussetzung für das Philosophieren darstellt. Vgl. Tim. 47 a-d. 14 So etwa Gerrit J. de Vries: A commentary on the Phaedrus of Plato. Amsterdam 1969, zu 250 b 2f. 15 Vgl. E. Heitsch: Phaidros, S. 119. 16 Für das Folgende ist grundlegend die Untersuchung Wolfgang Wielands zu den propositionalen und nichtproportionalen Wissensformen bei Platon. Vgl. seine Studie »Pla­ ton und die Formen des Wissens«, bes. §13 und §14. Vgl. auch Charles L. Griswold: Self-Knowledge in Plato's Phaedrus. New Haven, London 1986, bes. Kap. 3 und 4. 96

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Menon (80d-86b) eingeführte, im Phaidon (72e-77c) bezug­ nehmend auf die Unsterblichkeit der Seele weiterentwickelte Erin­ nerungslehre kommt der Platonische Sokrates auch im Phaidros zurück, wenn er hier ausführt, daß die menschliche Fähigkeit, sinn­ liche Wahrnehmungen durch Überlegung zu einer Einheit zusam­ menzufassen,17 Erfahrungen um das wahre Sein der Dinge voraus­ setzt, wie sie die Seele in der Präexistenz gemacht hat. Gewiß kommt die Lehre der Erkenntnis als Wiedererkenntnis im Phaidros nur am Rande zur Geltung und wird weitaus beschränkter behandelt als in anderen Dialogen.18 Doch kommt der Erinnerungslehre insofern auch im Phaidros eine wichtige Bedeutung zu, als im Rahmen dieses Dialogs Möglich­ keiten, das vorhandene latente Wissen in ein bewußtes und explizites Erkennen zu überführen, erörtert werden. In diesem Zusammen­ hang ist vor allem zu beachten, daß die Erinnerungslehre im Phai­ dros nicht auf jede Art der Erkenntnis und ihre jeweiligen Gegen­ standsbereiche angewendet wird, sondern einzig und allein an jenen Erkenntnisgegenständen durchgespielt wird, von denen es heißt, daß sie »für die Seelen von Wert sind«.19 Darin stimmen Schönheit, Ge­ rechtigkeit, Besonnenheit und andere Dinge ebenso überein wie hin­ sichtlich der Besonderheit ihrer Überführung des vorausgesetzten dispositionellen Wissens in ein bewußtes Erkennen, das jeweils diesselbe Bewandtnis aufzuweisen scheint: Sowohl hinsichtlich des Ge­ rechten, Besonnenen, aber auch des Schönen gilt, daß jeweils auf­ 17 Sei yaQ avBpmmov onviEvat xat’ E1605 keyöpEvov, ex mokkmv löv ala0f]OEmv elc ev koytopm onvaipohpEvov; (»Denn als Mensch muß man verstehen, was begrifflich dargestellt wird, was aus einer Vielzahl von Wahrnehmungen hervorgeht und dann durch Überlegung in eine Einheit zusammengefaßt wird«, 249 b 6-c 1). 18 Man kann, wie E. Heitsch dies in seinem Kommentar tut (S. 110 ff.), in der entspre­ chenden Passage vor allem den Vorgang der Begriffsbildung beschrieben sehen. Freilich scheint es dabei nicht allein um die logische Fähigkeit zu gehen, aufgrund vieler Wahr­ nehmungen übergreifende Begriffe zu bilden. In einen solchen Vorgang geht, zumin­ dest wenn man an bestimmte Begriffe wie jene von Handlungen oder auch Beziehungen denkt, immer auch schon die Frage nach ihrer Bedeutung mit ein. Heitsch scheint diese Möglichkeit selbst in Betracht zu ziehen (vgl. bes. S. 111, Anm. 207). In diesem Fall ist die Fähigkeit, Begriffe zu bilden, nicht allein auf die Verallgemeinerung von Wahrneh­ mungen zurückzuführen. Deshalb ist zumindest auch die Möglichkeit zu berücksichti­ gen, daß das Vermögen der Begriffsbildung, das im Text als charakteristisch für den Menschen dargestellt wird, auch in einem Zusammenhang mit den nachfolgenden Ausführungen über das Wissen der Gerechtigkeit, Besonnenheit etc. zu sehen ist. 19 Die Stelle lautet: 6ixaioohvr|c pkv ohv xai om^poauvric xai öoa akka tlpta ^nxatc ohx Eveott [...]. 250 b 1f. ^ 97

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grund ihrer Repräsentationen deren Urbild, wie es in der Präexistenz geschaut wurde, potentiell erkennbar ist. Weitere Differenzierungen bezüglich der Wissensarten, die Sokrates in diesem Zusammenhang geltend macht, ergeben sich erst im Blick auf die jeweiligen Gegen­ standsbereiche. Im Unterschied zur Vergegenwärtigung des Schönen an seinem Abbild vermögen die Repräsentationen der Gerechtigkeit, Besonnenheit und anderer Dinge, auf denen »keinerlei Glanz« liegt, nur wenigen Menschen Anlaß zur bewußten Erfassung der Urbilder sein. Und als ein weiterer Grund der defizienten Wahrnehmung des wahren Seienden führt Sokrates die stumpfen Organe (apDÖpmv opydvrnv, 250 b 3 f.) an. Wir hatten bereits darauf hingewiesen, daß die Aufnahme der Erinnerungslehre im Phaidros hinsichtlich des Bereichs jener Gegen­ stände erfolgt, deren Erkenntnis in der Formulierung Sokrates' für die Seele von Wert ist. Diese Wendung macht die Annahme wahr­ scheinlich, daß der erkenntnismäßige Vorrang, wie er dem Eros ge­ genüber der Erkenntnis der Gerechtigkeit und Besonnenheit einge­ räumt wird, nicht in erster Linie von den intendierten Gegenständen, sondern in der Rückbeziehung des Wissens auf den Wissenden selbst zu begründen ist. Daß die irdischen Repräsentationen der Gerechtig­ keit und Besonnenheit nur in geringem Maße die in der Präexistenz gemachten Erfahrungen des wahren Seins der Dinge zu vergegen­ wärtigen imstande sind, muß nicht notwendigerweise mit der Art ihrer Gegebenheit zusammenhängen. Wahrscheinlicher und plausi­ bler ist vielmehr die Annahme, daß die paradigmatische Funktion für die Erinnerung an das wahre Sein, wie sie dem Eros zugeschrieben wird, auf den höheren Grad der Einheit dieses Wissens mit seinem Inhaber zurückzuführen ist. Im Gegensatz zu den Gegenstandsberei­ chen der Besonnenheit und Gerechtigkeit, für die eine Objektivie­ rung ihres Wissensgehaltes maßgeblich ist, läßt das Wissen, wie es dem Eros zugrundeliegt, eine entsprechende Distanznahme des Wis­ senden erst gar nicht zu. Das Wissen, um dessen besondere Funktion im Hinblick auf den Eros es Sokrates geht, ist von der Gestalt, daß sein Inhaber darin etwas über sich selbst erfährt. In der Hinsicht der Reflexivität des Wissens, das sich an den Gegenständen der körper­ lichen Schönheit als Instanzen der Vergegenwärtigung des Urbildes bewährt, nicht aber diese als solche intendiert, kann folglich auch der Vorrang des Eros aufgewiesen werden. Als einen weiteren Beleg für unsere Interpretation, wonach die Besonderheit des Wissens, wie es dem Eros zugrundeliegt, durch sei­ 98

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ne Rückbeziehung auf seinen Inhaber zu beschreiben ist, läßt sich auch die im Text folgende Darstellung der Rückwirkungen des Eros auf den Zustand des Liebenden nehmen. Die physiologische Be­ standsaufnahme steht dabei von vornherein im Dienst der Erklärung, wie der Aufstieg zum Schönen möglich wird. Zu Beginn der Be­ schreibung, wie aufgrund der irdischen Abbilds die Vergegenwärti­ gung der Schönheit stattfindet, stehen die körperlichen Symptome, die in der Folge der Wahrnehmung einer anmutigen Gestalt den Lie­ benden befallen: Dieser wird von einem Schauer ergriffen, Schweiß und Hitze überfallen ihn, wodurch sein eingetrocknetes Gefieder zu wachsen beginnt, das wiederum den Aufstieg erlaubt. In diese phy­ siologische Beschreibung der Einwirkungen seitens des Geliebten geht mit ein die Darstellung des Schmerzes und des Unbehagens, die nur durch die erneute Zuwendung zur Schönheit des Geliebten ausgeglichen werden können (251c 5-dl). Die Mischung beider Gefühle20 verursacht den »rätselhaften Zustand« der Seele, der sie ebenso aus dem gewohnten Lebensrhythmus herausholt, wie er sie zur Aufgabe der Regeln des Anstands und Schicklichkeit führt. Vor allem aber legt Sokrates in seiner Beschreibung des Zustands der Seele, die vom Eros ergriffen wurde, Wert auf die Feststellung, daß alles, was bisher dem Liebenden zu eigen war, durch die Begegnung mit dem Geliebten relativiert wird: Nicht nur wird er achtlos gegen­ über dem Besitz, er vergißt darüberhinaus auch Mutter, Brüder und Freunde (252 a). Die Faszination, wie sie vom Geliebten ausgeht, weckt im Liebenden allein die Sehnsucht, in möglichst großer Nähe zum Objekt seiner Liebe zu leben. 20 In seinem Buch über den Platonischen Phaedros (Listening to the Cicadas. A Study of Plato's Phaedrus. Cambridge 1987) hat Giovanni R. Ferrari zur Interpretation dieser physiologischen Beschreibung des Seelenzustandes die Platonische Lehre der Gemisch­ ten Lust aus dem Philebos (44 b-50 e) herangezogen. An einer Stelle wird hier unter anderen seelischen Affekten wie dem Zorn, der Furcht oder der Eifersucht auch die Liebe erwähnt (Phil. 47 e 1-3). Er gelangt auf diesem Wege zu der Schlußfolgerung, daß dem philosophischen Eros im Phaidros eine vergleichbare »natürliche Komplexität« zugrun­ deliegt, die Platon auch zur allegorischen Darstellung geführt habe (vgl. bes. S. 150­ 160). Der Hinweis auf die Platonische Lusttheorie im Philebos, dem an dieser Stelle nicht ausführlicher nachgegangen werden kann, scheint mir insofern wichtig zu sein, als mit dem Theoriestück der Gemischtheit der seelischen Affekte im Philebos gerade das Moment des Pseudos in ihnen aufgewiesen wird. Diese Vorstellung scheint auch im Phaidros insofern präsent zu sein, als die Beschreibung der Zusammenkunft des Lieben­ den mit dem Geliebten tatsächlich die Überwindung des inneren Zwiespalts der Seele enthält. ^ 99

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An diesem Punkt seiner Beschreibung des Eros erläutert Sokra­ tes die philosophische Bedeutung des Eros durch einen Rückgriff auf die Lebensform der Seele in ihrer Präexistenz. Zu erklären ist dabei vor allem der Sinn der Behauptung, daß der Liebende in möglichst unmittelbarer Nähe zu seinem Geliebten leben will. Und das Modell, das dafür herangezogen wird, ist jenes der Zugehörigkeit zu dem Gefolge eines Gottes, aufgrund derer man in der Präexistenz zur Schau des wahrhaft Seienden gelangte.21 Dieses Modell soll genau genommen noch zweierlei erklären: Zum einen beantwortet es die Frage, weshalb der Eros nicht beliebig ist, vielmehr ein jeder seine Liebe zu den Schönen nach seinem Charakter wählt.22 Zum anderen wird vor dem Hintergrund der Zugehörigkeit zum Gefolge eines Gottes auch das spezifische Wirken des Liebenden erläutert. Dieser nämlich, fasziniert und bewegt von seinem Geliebten, in dem er die Gegenwart des Gottes, dem er zugehört, wahrnimmt, versucht sich, so weit ihm möglich, von Charakter und Lebensweise seines Gottes erfüllen zu lassen.23 Und wie sich selbst versucht er auch den Ge­ liebten nach Maßgabe dieses Ideals zu formen.24 Bezogen auf unsere Interpretation, wonach dem mit dem Eros verbundenen Wissen sein Spezifikum durch die Rückbeziehung auf den Inhaber des Wissens zukommt, läßt sich noch ein weiterer Ge­ sichtspunkt geltend machen. Die körperliche Schönheit, welcher der Liebende begegnet, ermöglicht ihm, sein Leben in der Präexistenz, 21 xai oütm xa0’ Exaotov 0EÖv, oü Exaotog ^v xogEut^g, ExEtvov ti^mv te xai ^ou^EVog E15 to Suvatov (»Und so ist es mit jedem Gott: In wessen Chor einer gehörte, den hält ein jeder in Ehren und ahmt ihn nach, so weit ihm das möglich, und führt ein entsprechendes Leben«, 252 d 1 f.). 22 töv te ohv EQmta tmv xakmv mgog tQÖmou ExkEyEtai Exaotog (252 d 5f.). 23 IxvEnovtEg 6e mag’ Eauträv ävEUQioxEiv tf|v ton o^eteqou 0Eon ^hoiv Ehmogonoi 6ia to onvtövmg ^vayxdo0ai mgog tov 0Eov ßkEmEiv, xai E^amtö^Evoi ahtoü tfi ^v^fl Ev0onoimvtE5 E| ExEtvou ka^ßavouoi ta E0r| xai ta Emit^6Eh^ata, xa0’ öoov Snvatöv 0Eon äv0Qmmm ^EtaoxEtv; (»Der Versuch aber, mit eigenen Mitteln die Natur ihres Gottes herauszufinden, wird ihnen dadurch erleichtert, daß sie gezwun­ gen sind, intensiv den Blick auf ihren Gott zu heften, und während sie ihn in Erinnerung erreichen, werden sie von ihm erfüllt und übernehmen von ihm Charakter und Lebens­ weise, so weit es dem Menschen möglich ist, an einem Gott Anteil zu gewinnen.« 252 e 7-253 a 5). 24 Die Liebhaber suchen »durch ihre eigene Nachahmung des göttlichen Vorbilds und dadurch, daß sie ihren Geliebten beeinflussen und formen, ihn zu Verhaltens- und Er­ scheinungsweise jenes Gottes zu führen, so weit das in ihren Kräften steht«; sie beab­ sichtigen, »ihn ihnen selbst und dem Gott ihrer Verehrung möglichst ganz und in jeder Hinsicht ähnlich zu machen« (253 b-c). 100

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das er in der Zugehörigkeit zum Gefolge seines Gottes gelebt hat, als das Leben anzuerkennen, das er in letzter Instanz führen will. Vor dem Hintergrund dieser Zugehörigkeit zum Gefolge eines Gottes ist auch die nachfolgende Darstellung einzuordnen, wie Liebender und Geliebter zueinander finden und welchen gemeinsamen Umgang sie untereinander pflegen. Zur Begegnung im Sinne der beschriebenen Wahrnehmung des Göttlichen am anderen kann es nur so kommen, daß der Wagenlenker des Gespanns, das durch die Faszination der körperlichen Schönheit in Bewegung gesetzt wird, sich von seiner Erinnerung an die Schönheit - und, wie sich jetzt hinzufügen läßt: von seiner Wahl für das Leben, das er führen will - leiten läßt (254 b-e) und ihr gemäß auch das schlechte Pferd zurückzuhalten versteht. Entscheidend ist hierbei die Wendung, daß durch die gelun­ gene Bändigung es allererst möglich wird, daß die Seele des Lieben­ den dem Geliebten folgt.25 Nun erst wird auch ein gemeinsamer Umgang möglich, der über das Gespräch und die physische Nähe auf sportlichen Wettkampf­ stätten eine wechselseitige Zuneigung entstehen läßt. Es ist dieser Abschnitt, der die oben angedeutete Idee der Reziprozität von Lie­ benden und Geliebten im einzelnen verdeutlichen soll. Zu Beginn wird eine Sentenz aus der Odyssee in Erinnerung gerufen, auf die später auch Aristoteles in seinen Freundschaftsabhandlungen Bezug nehmen wird. Demnach könne es nicht Bestimmung des Schicksals sein, »daß zwar der Schlechte mit dem Schlechten, nicht aber auch der Gute mit dem Guten befreundet sei.«26 Die Erwiderung der Liebe durch den Geliebten, der nun seinerseits zum Liebenden wird, durch­ läuft spiegelbildlich all jene Stadien, die im Vorhergehenden bereits im Blick auf den ursprünglich Liebenden beschrieben wurden: ange­ fangen vom Wechselspiel von Sehnsucht nach dem Geliebten und gleichzeitiger Scheu bis hin zur Aufgabe, durch die Bändigung des schlechten Pferdes eine ideale Verbindung zu gewährleisten. Und die Darstellung dieser wechselseitigen Zuneigung schließt mit der Behauptung, daß ein derartiges Leben von innerer Eintracht das größtmögliche Gut während der irdischen Existenz sei (256 b). In diesem Zusammenhang kommt es darauf an, die spezifische 25 rnotE onpßalvEi tot’ p6r| Tt|v toü equotoü toig maibixotg albonpEvriv te xai ÖEbimav EmEO0ai. 254 e 8-255 a 1. 26 on yap SpmoTE EipapTai xaxöv xaxrä qAov on6’ äya0öv pp ^Aov äya0m Elvai. 255 b 1 f. Vgl. Odyssee 17, 218 sowie EE VlI.2.1238 a 33-35 und MM II.11.1209 b 36. ^ 101

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Tätigkeit des Geliebten zu klären, wie sie im Umschlag vom vormali­ gen Zustand des Geliebtseins zum Lieben beschrieben wird. Zu Be­ ginn steht die immerhin anfängliche Tätigkeit des Geliebten, der das Werben seines Liebhabers zuläßt. Den eigentlichen Umschlag dieses Gewährenlassens zur Gegenliebe, wodurch nun auch der Geliebte selbst zum Liebenden wird, beschreibt der Platonische Sokrates mit Hilfe desselben Bildes, das er bereits oben zur Darstellung der Ent­ stehung der Liebe im Liebenden herangezogen hatte (251 b 2). Dabei kommt es zur Wahrnehmung der Schönheit des anderen durch einen Reiz, den das Wahrnehmungsobjekt auf das Organ der Wahrneh­ mung ausübt. Sowohl der Reiz wie auch seine Aufnahme werden nun mit dem Modell eines ständigen, gleichermaßen »osmotischen« Austausches von »Abflüssen« (anoppoat) erklärt: Den Abflüssen der Wahrnehmungsorgane entspricht aufseiten des Wahrnehmungs­ objektes der Abfluß der Schönheit.27 Auf diese Weise soll nicht nur verständlich gemacht werden, wie die Schönheit durch die Augen in den Verliebten eindringt; das Modell soll zugleich erklären, weshalb es nunmehr auch zur Reziprozität der Beziehung kommen kann: Ist nämlich der Verliebte von den Abflüssen »bis an den Rand gefüllt«, so flutet er gleichsam über, und der »Strom der Schönheit fließt zu dem Schönen zurück« (255 c 5-7). Um das Entstehen der Wechselwirkung zwischen Liebenden und Geliebten zu verstehen, wie Platon es an dieser Stelle mit dem osmotischen Austausch von »Abflüssen« deutet, kommt es entschei­ dend darauf an, sich vom Deutungsmodell eines Reiz-Reaktion­ Schemas freizumachen. Daß der Geliebte selbst zum Liebenden wer­ den kann, ist dementsprechend ebensowenig in den Kategorien eines rationalen Zweck-Nutzen-Kalküls zu beschreiben, wie sich seine Zu­ wendung im Ausgang und als Reaktion auf die ihm zuteilgewordene Wertschätzung seitens des Liebhabers deuten läßt. Bezeichnend dafür ist die Beschreibung, die Sokrates vom Geliebten gibt, der zum Liebenden geworden ist: Dieser vermag nicht nur keine Ursache für seine Zuwendung zum anderen anzuführen, er bemerkt auch

27 Dieses Erklärungsmodell der Wahrnehmung, dessen sich Platon auch in Men. 76 c-d und Theait. 156 bedient, geht zurück auf Empedokles. Vgl. dazu William K. C. Guthrie: A History of Greek Philosophy I-VI. Cambridge 1962-1981. Bd. II: The Presocratic tradition from Parmenides to Democritus. Repr. Cambridge 1980, S. 231-234 (»Pores and effluences«). 102

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nicht, daß er seihst Anlaß für die Liehe des anderen ist und folglich in seine nun entstehende Liehe er seihst mit eingeht. Wieweit sich die hier entwickelte Idee der Reziprozität unter den wahrhaften Erasten von jener ahheht, die Lysias in seiner Schrift verfolgt hatte, mag ahschließend das Fazit der zweiten Sokrates-Rede helegen. Zusammenfassend und direkt an die Adresse des Phaidros gerichtet, werden die »reichlichen Gahen« hervorgehohen, mit denen die Freundschaft des Verliehten (epaotoü ^iZta) den Geliehten ver­ sieht. Im Gegensatz dazu steht das Verhältnis zu einem Nichtverliehten, »das hestimmt wird durch weltliche Klugheit, weltliche Güter verschafft in hescheidenem Umfang und in der Seele des Freundes Unfreiheit erzeugt«. Ein solches Verhältnis führe üherdies dazu, daß die Seele sich neuntausend Jahre lang auf Erden herumtreihe »har jeder Vernunft« (256 e 3-257 a 2).28

1.5 Gerechtigkeit als Freundschaft mit sich selbst: Politeia Zu den zentralen Fragen, die sich hei der Beschäftigung mit der Poli­ teia stellen, ist nicht erst seit den vergangenen Jahrzehnten die Aus­ einandersetzung um das zu rechnen, was Platon mit der psychischen Gesundheit umschreiht. Diese Aufmerksamkeit hängt entscheidend mit dem Umstand zusammen, daß manche der grundlegenden Aus­ führungen, wie sie dieser Dialog mit dem Untertitel »Üher die Ge­ rechtigkeit« (toql ÖLxaton) enthält,*1 in einem direkten Zusammen­ hang mit dieser Metapher stehen. Dies gilt schon für den Beginn des Dialogs mit seiner ersten, noch allgemein gehaltenen Untersuchung der Verschränkung von Gerechtigkeit und Freundschaft, und wird im weiteren Fortgang des Dialogs ausdrücklich zum zentralen Gegen­ stand der Erörterungen, wenn Platon im vierten Buch die Gerechtig­ keit eines einzelnen Menschen als eine hierarchische Ordnung der Seelenteile heschreiht. Im Gegensatz zur »Vielgeschäftigkeit« wird hier die Gerechtigkeit gerade auf dem Wege der harmonischen Zu­ ordnung der einzelnen Teile der Seele hestimmt. Bezugnehmend auf 28 Daß Sokrates gegenüher der höchsten Form der wechselseitigen Beziehung, wie sie dem philosophischen Lehen entspricht, eine weitere, defiziente Form anführt (256 c-d), sei der Vollständigkeit halher erwähnt, hraucht jedoch nicht eigens kommentiert zu werden. 1 Nach William K. C. Guthrie (A History of Greek Philosophy. Bd. IV, S. 434, Anm. 1) hat Platon selhst diesen Untertitel üher die Schrift gesetzt. ^ 103

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diese Vorstellung hat in der Literatur zur Politeia zunehmend die Untersuchung der sogenannten »psychischen Gesundheit« im Vor­ dergrund gestanden.2 Mit der Einführung dieses Begriffs, so die Annahme, beabsichtigt Platon die seit der Unterredung mit Thrasymachos im Mittelpunkt stehende Frage nach der Motivation zu beantworten, die jemanden zum gerechten Handeln zu veranlassen vermag. Der Mensch wird, so die Antwort Platons, wenn er gerecht handelt, eins mit sich; daß ein Mensch mit sich »freund geworden ist« (91I0V yev6p,evov eautm), entspricht dem ihm als Mensch eige­ nen Grundbedürfnis, gesund zu sein. Demgegenüber stellt ungerech­ tes Handeln das entscheidende Symptom der Krankheit der Seele dar, die der Heilung bedarf. Gerade weil dieser Vorstellung eine Verklam­ merung von moralischen Handlungen und ihrer Zuträglichkeit für den Handelnden zugrundeliegt, wurde der Platonischen Metapher des »mit sich Befreundetseins« eine weitreichende Beachtung zuteil. Die wichtigen Fragen sind damit bereits vorgegeben: Welche Ver­ schränkung besteht zwischen Fragen der Gerechtigkeit und Freund­ schaft in der Politeial Wir werden im Folgenden zunächst anhand des ersten Buchs der Politeia die hier vorgenommene Zuordnung von Fragen der Gerech­ tigkeit mit jenen der Freundschaft aufzeigen, bevor in einem näch­ sten Schritt die Erörterungen im vierten Buch, die zweifelsohne für diese Fragen den systematischen Höhepunkt darstellen, untersucht werden. Abschließend gilt es auf deren Fortführung im neunten Buch einzugehen, in dem die drei Beweise für die Glückszuträglich­ 2 Im angelsächsischen Sprachraum wurde die kontroverse Diskussion um diesen Begriff sowie um die damit verbundenen Folgerungen vor allem durch den Beitrag von David Sachs eingeleitet. (A Fallacy in Plato's Republic. - In: Philosophical Review 72 [1963], S. 141-158; wiederabgedr. in: Gregory Vlastos [Hg.]: Plato II. Ethics, politics, and philosophy of art and religion. New York 1971). Unter den nachfolgenden - zustimmenden und ablehnenden Beiträgen - seien ferner erwähnt: J. Schiller: Just Men and Just Acts in Plato's Republic. - In: Journal of the History of Philosophy 6 (1968), S. 1-14. Gregory Vlastos: Justice and Happiness in the Republicl - In: ders. (Hg.): Plato II, S. 66-95. Richard Kraut: Reason and Justice in Plato's Republic. - In: Edward N. Lee, Alexander P. D. Mourelatos und Richard M. Rorty (eds.): Exegesis and Argument, Phronesis Sup­ plement 1. Assen 1973, S. 207-224. Terence Irwin: Plato's Moral Theory. Oxford 1977 (Kap. 7, Abschnitt 9-11). Anthony Kenny: Mental Health in Plato's Republic. -In: ders.: The Anatomy of the Soul. Oxford 1973, S. 1-27. Eine gute Übersicht über die unter­ schiedlichen Positionen gibt Julia Annas: Plato and Common Morality. - In: Classical Quarterly 28 (1978), S. 437-451. Für den deutschen Sprachraum sei verwiesen auf Wal­ ter Pfannkuche: Platons Ethik als Theorie des guten Lebens. 104

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keit des Gerechtseins im Blick auf ihren Ertrag für das »mit sich Be­ freundet sein« dargestellt werden sollen. 1.5.1 »Freunden Gutes, Feinden Schlechtes tun«: Politeia I Noch bevor Thrasymachos mit seiner Definition der Gerechtigkeit als »das für den Stärkeren Zuträgliche« in das dialogische Geschehen einzugreifen und den weiteren Fortgang der Unterredung zu bestim­ men vermag, wurden von Sokrates und Polemarchos bereits solche Definitionsvorschläge der Gerechtigkeit behandelt, die sich direkt auf ihre Verschränkung mit der Freundschaft beziehen. Anlaß dazu hatte ihnen der greise Kephalos in zumindest zwei Hinsichten gegeben. Von Sokrates aufgefordert, den jüngeren Gesprächsteilnehmern über seine Lebenserfahrung zu berichten, kommt Kephalos aufgrund sei­ nes nahe bevorstehenden Todes auf seine Besorgnis um die im Hades ausgleichend waltende göttliche Gerechtigkeit zu sprechen. Sein im Leben erworbener Reichtum diene ihm in diesem Lebensumstand dazu, versehentlich begangenes Unrecht an Menschen noch vor dem Tode wiedergutzumachen. Auch wenn dabei nicht ausdrücklich von der ^lAta die Rede ist, so ist sie doch implizit in der Vorstellung einer Beziehung zu Göttern vorhanden, gegenüber denen man sich für sein Tun gegenüber den Menschen zu rechtfertigen hat.3 In diese Vorstel­ lung spielt die Annahme, daß die Götter Urheber des Rechts sind, ebenso hinein wie die Furcht vor ihren Sanktionen. Eine weitere Be­ stimmung, die sich aus den Darlegungen des Kephalos ergibt, und die allein Sokrates in seiner Entgegnung aufgreift, ist die der Gerechtig­ keit: Diese schließe nach Kephalos soviel wie Aufrichtigkeit oder Wahrhaftigkeit (I, 331 c) ein, ferner bestehe sie darin, daß man Ge­ schuldetes korrekt zurückgibt (332 c). Der nun durch Sokrates eingeleiteten Diskussion der Frage, ob Kephalos' Vorstellung der Gerechtigkeit als Wechselseitigkeit des Gebens und Nehmens von Dingen und Reden in jedem Falle die kon­ kreten Handlungssituationen wie die jeweilig involvierten Personen ausreichend berücksichtige, ist der Hausherr nicht mehr gewachsen. Er zieht sich zurück, um für die heiligen Dingen Sorge zu tragen (331 d), und es bleibt seinem Sohn Polemarchos überlassen, nun eine präzisere Bestimmung in die Debatte zu werfen. Man mag bis zu einem gewissen Grade in der Beschreibung des Kephalos jene Hal­ 3 Vgl. I, 352 b 1f.; II, 362 c; 364 c-366 a. ^ 105

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tung personifiziert sehen, die im Phaidros als weltliche Klugheit, die weltliche Güter verschafft und von der Menge als Tüchtigkeit geprie­ sen wird, bestimmt wurde. Zwar ist dem Kephalos nicht eine formale Korrektheit im Umgang mit Gütern abzusprechen, doch fehlt es ihm offensichtlich ebenso an einem begründeten Selbstverständnis, als auch an einem ausreichenden Verständnis, wem gegenüber er sich verantworten und seine Handlungen rechtfertigen will. Erst durch Polemarchos wird nun die Verschränkung von Ge­ rechtigkeit und Freundschaft ausdrücklich gemacht. Zugrunde liegt seinem Definitionsvorschlag der Gerechtigkeit eine Behauptung des Simonides, wonach gerecht zu sein bedeute, Freunden Gutes zu tun und Feinden Böses.4 Diese in der griechischen Tradition verbreitete Handlungsmaxime, für die Polemarchos auch andere Kronzeugen als den populären Lyriker Simonides hätte aufführen können, enthält zunächst nicht mehr als die sprichwörtliche Behauptung »wie du mir, so ich dir«: Man ist und handelt jenem gegenüber gut, der sich selbst zu einem gut verhält.5 Als »Freund« des Handelnden wird von Pole­ marchos dabei in einem vagen Sinn derjenige bezeichnet, dem ge­ genüber Gutes zu tun man verpflichtet ist. Will man verstehen, was Polemarchos mit diesem neuen Defini­ tionsvorschlag der Gerechtigkeit gegenüber der Vorgabe von Kephalos gewonnen zu haben glaubt, so ist zu berücksichtigen, woran diese Vorgabe scheiterte. Mit der Gerechtigkeit im Sinne der Wechsel­ seitigkeit des Gebens und Nehmens hatte Kephalos ein Verhaltens­ muster beschrieben, dessen Tragweite von Sokrates durch seine Anwendung auf eine fiktive Handlungssituation in Frage gestellt worden war: Angenommen, ein wahnsinnig Gewordener würde Waffen zurückverlangen, die er einmal ausgeliehen hatte, so dürfte man gewiß nicht unter Berufung auf die Formel der Gerechtigkeit dieser Forderung nachkommen.6 Aufgrund ihrer mangelnden All­ 4 tolg yaQ 91X015 oietai o^eIXeiv toüg 91X0U5 aya0ov ^ev ti 6qüv, xaxöv 6e ^^6ev. 332 a9f. 5 Gegen Ende ihrer Unterredung kann Sokrates deshalb auch ausführen, daß ein solches Verständnis der Gerechtigkeit auch von korrupten Politikern vertreten werden könnte (336 a-b). Zur Verankerung dieser Maxime in der griechischen Traditon vgl. Olof Gigon: Gegenwärtigkeit und Utopie. Eine Interpretation von Platons »Staat«. Zürich, München 1976, S. 35 f. 6 Später, in Rep. II, 382 c, deutet Sokrates selbst einen Ausweg aus dieser fiktiven Hand­ lungssituation an. In dem Falle, daß Freunde aus Wahnsinn Unheil anrichten können, sei ihnen gegenüber die Lüge erlaubt, die hier wie ein nützliches Abwehrmittel fungie­ re. (Vgl. III, 414 c ff.) Entscheidend in diesem Zusammenhang ist, daß erst die vorher­ 106

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gemeingültigkeit erweist sich also die von Kephalos vorgeschlagene Formel als unzureichend. Diesem Mangel der Gerechtigkeit, verstan­ den als ein Verhaltensschema, versucht Polemarchos nun dadurch zu entgehen, daß er seine Definition des Gerechtseins erweitert um die Bestimmung der Rücksicht auf den jeweiligen Menschen, dem ge­ genüber man sich entsprechend der Definition der Gerechtigkeit ver­ hält. Was er sich von dieser Bestimmung erhofft, ist offensichtlich die Vermeidung der dem Verhaltensschema eigentümlichen Ambiva­ lenz durch ein zusätzliches Kriterium der jeweiligen Beziehung: Freunden gegenüber, so lautet der modifizierte Vorschlag der Ge­ rechtigkeitsdefinition, soll man Gutes tun, Feinden hingegen Schäd­ liches.7 Zwar wird auf diesem Wege die bisher allgemein gebliebene Formel der Gerechtigkeit auch um einen inhaltlichen Anspruch, in seinem Handeln sich an der jeweiligen Qualität der anderen Person (Freund - Feind) auszurichten, ergänzt. Indessen erweist sich auch diese Definition, wie die folgende Überprüfung durch Sokrates zeigt, als vorläufig. Betrachtet man nämlich die Gerechtigkeit in der Hin­ sicht des »Zukommenden« (npoo^xov), in der sie also nach dieser Definition dem Freunde Nutzen, dem Feinde Schaden erwirken soll, und untersucht dabei die spezifische Leistung der Gerechtigkeit im Unterschied zu jener der einzelnen »Künste« (te/vai), so fällt es schwer, der Gerechtigkeit einen eigenen Sachbereich vergleichbar je­ nen der anderen Künste zuzuordnen. Auf anderem Wege erweist sich hier die Gerechtigkeit als eine bloße Korrektheit in der Verwaltung der eigenen Angelegenheiten, als eine Art »Sozialtechnik«.8 Nicht minder aufschlußreich ist die zweite Aporie, in der die Überprüfung von Polemarchos' Vorschlag endet: Durch eine Refle­ xion auf die Wissenskomponente, wie sie den einzelnen Künsten zu­ grundeliegt, will Sokrates auf eine weitere Ambivalenz der Gerech­ tigkeit hinweisen. Wer sich nämlich auf die Kunst des Bewachens gehende Aufdeckung einer besonderen Art des Wissens um das, was für die Seele wahr ist, eine Notlüge zu rechtfertigen scheint. So wenig, wie man hinsichtlich der eigenen Seele in Unwissenheit verharren darf, so sehr mag unter bestimmten Umständen und Bedingungen des Handelns die Lüge gerechtfertigt sein. 7 To toog 91X005 a^a eo rtoietv xal toog t%QQovc, xaxwg öixaioaov^v Xeyei, 332 d 7f. 8 So der treffende Ausdruck von O. Gigon: Gegenwärtigkeit und Utopie, S. 37. Vgl. das ironische Fazit in 333 e lf.: »Also, mein Freund, einen wirklichen Wert hat doch die Gerechtigkeit überhaupt nicht, wenn sie nur für den Nichtgebrauch brauchbar ist.« ^ 107

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oder auf die ärztliche Kunst versteht, kann nicht nur gemäß dieser Fähigkeit wirken. Seine Kenntnis ermöglicht ihm zugleich auch, das Entgegengesetzte zu erreichen, dem Wächter also, sein Heer zu be­ stehlen, und dem Arzt, einen Menschen krank zu machen.9 Auf die Gerechtigkeit bezogen erweist sich der Definitionsvorschlag von Polemarchos folglich auch deshalb als vorläufig, weil er diese Ambiva­ lenz nicht in Rechnung stellt. Gerechtigkeit könnte in diesem Falle aber, wie Sokrates folgert, ebenso gut auch als eine Art Diebeskunst zum Vorteil der Freunde wie zum Nachteil der Feinde aufgefaßt wer­ den (334 b). Mit der Aufdeckung dieser Ambivalenz ist auch bereits der Gang der weiteren Untersuchung festgelegt. Wenn Sokrates und Polemarchos sich nun erneut der Frage der Freunde zuwenden und ihre Bedeutung für die Definition der Gerechtigkeit erörtern, so erfolgt dies in der Annahme, daß ihre Einbeziehung eine Instanz darstellt, von der her sich der richtige vom falschen Gebrauch der Gerechtig­ keit unterscheiden läßt. Und auch wenn sich dieser Weg letztlich als ungenügend erweist, so ist es doch kein Zufall, daß diese Möglichkeit durchgespielt wird. Denn zum einen geht es hier um eine Über­ prüfung des populären Verständnisses der Gerechtigkeit, das sich, wie abschließend (335 e) festgestellt wird, maßgeblich an der gesell­ schaftlichen Bezugsgröße des Freundes bzw. des Feindes orientiert. Zum anderen liegt die Vermutung nahe, daß die späteren Ausfüh­ rungen im vierten Buch der Politeia zum »mit sich Befreundetsein« möglicherweise auch in einem Zusammenhang mit dieser populären Auffassung stehen. Darauf wird später zurückzukommen sein. Der Versuch, über die Bestimmung des Freundes und des Fein­ des zu einer Präzisierung der Gerechtigkeitsformel zu gelangen, scheitert zunächst daran, daß Polemarchos unter dem Begriff des Freundes all jene Menschen subsumieren will, die einer spontanen Zuneigung entsprechen.10 Mit dieser Wendung ist indes wenig er­ 9 333 e-334b. Diese Ambivalenz der Künste hat Platon ausführlich auch in Hipp. II. 366 c-e und 374 e-f erörtert. 10 Elxog ^ev, ohg av tlg ^y^tai x^atohg ^iXeiv, ohg ö5 av ^ov^ohg ^taeiv. 334 c4f. Das Adjektiv x^atog (gut, nützlich, angenehm, zuträglich etc.) hat noch mehrere Konnotationen (vgl. Lidell/Scott II, zum Ausdruck), und wird an dieser Stelle wohl bewußt auch in einem weiten Sinne verwendet. Zu der Auffassung, Freund ist derjenige, der einem unwillkürlich entspricht, findet sich in Rep. II, 376 a-b die iro­ nische Replik, daß auch Hunde philosophische Neigungen haben müßten, da sie schließ­ lich Freundschaft und Feindschaft beim Anblick eines anderen danach bestimmen, ob sie 108

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reicht, gilt es doch zu berücksichtigen, daß man sich in der auf Zu­ neigung aufhauenden Einschätzung des anderen auch täuschen kann. Erweist man aber einem irrtümlich für einen Freund Gehaltenen et­ was Gutes, so verkehrt man den Sinn der Gerechtigkeitsdefinition in ihr Gegenteil: Man nutzt einem Feind und schadet umgekehrt einem Freund, den man für einen Feind hält. Aber auch der modifizierte Vorschlag Polemarchos', als letzte Instanz für den richtigen Ge­ brauch der Gerechtigkeitsdefinition nicht die eigene, dem möglichen Irrtum ausgesetzte, Einschätzung des anderen, sondern den »wirklich guten Freund« oder »wirklich schlechten Feind« anzunehmen,11 wird von Sokrates als unhaltbar erwiesen. Man hat in diesem Zusammen­ hang darauf zu achten, daß vom Definitionsvorschlag, »gerecht zu sein bedeutet dem wirklich guten Freund wohlzutun, dem Feind hin­ gegen zu schaden«, in der Unterredung nur das zweite Glied der Definition untersucht wird. Bestritten wird allein, daß das Prädikat »gerecht« demjenigen zuzusprechen ist, der seinem Feind schadet. Freilich kann am Ende der Unterredung zwischen Polemarchos und Sokrates auch der ganze Definitionsvorschlag deshalb berechtigter­ weise zurückgewiesen werden, weil einer der Voraussetzungen sich als unzulänglich erweist.12 Sokrates' Widerlegung der Annahme, daß der Ausdruck Ge­ rechtsein auch einschließen könne, dem anderen Menschen Schaden zuzufügen, setzt die prädikative Verwendung des Adjektivs »gut« (ayaBöc;) voraus. Als »gut« in diesem Sinne wird etwa eine be­ stimmte Fähigkeit (xe/v^) nicht schlechthin bezeichnet, sondern in­ sofern dieses Können in einer bestimmten Relation zu anderen Din­ gen oder Menschen steht.13 Ob eine Fähigkeit gut ist, hängt nicht zuletzt von dem durch sie erzielten Resultat ab. Wenn jemand über vorzügliche Fähigkeiten in einem bestimmten Bereich verfügt, so besitzt er das, was im Griechischen als apex^ bezeichnet wird. Dieser Zusammenhang ist im Kontext der sokratischen Argumentation vor­ ihn kennen. Wißbegierig müßten sie schließlich sein, wenn sie Vertrautes und Fremdes (xo xe oixeiov xal xo aXXoxpiov, 376 b 6) nach Kennen und Nichtkennen zu unter­ scheiden vermögen. 11 eaxiv öixaiov xov ^ev ^iXov ayaöov ovxa en ;xoieiv, xov ö5 e/öpcv xaxov ovxa ßXdmeiv, 335 a 8-10. 12 ohöa^oh ydp öixaiov ohöeva ^iv e^dv^ ov ßXd^xeiv, 335 e 5. 13 Bezugnehmend auf einen Vorschlag von Georg H. von Wright (The Varieties of Goodness. Bristol 1993. Repr. der Ausgabe London, New York 1963, S. 19) spricht man auch vom »technischen Gutsein«. ^ 109

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ausgesetzt. Das Zugeständnis, daß das Prädikat »gerechtsein« einer Handlung nur insofern zugesprochen werden kann, als diese in einer Relation zu ihrer Wirkung betrachtet wird, erwirkt sich Sokrates mit dem Vergleich, daß ein Mensch, der sich auf Musik oder Reiten ver­ steht, andere nicht unmusikalisch bzw. zu »Nichtreitern« machen kann: In der Hinsicht, in der ein Mensch eine besondere Fähgikeit besitzt und diese am anderen ausübt, kann er diesem nicht zugleich auch schaden (ßXdftreiv). In den Beispielen, die Sokrates zur Verdeutlichung seiner Argu­ mentation heranzieht, wird nur scheinbar die Personrelation beibe­ halten. Daß man einem anderen Menschen nicht schaden kann, wird allein mit dem Hinweis auf den Besitz der aper^ der Gerechtigkeit begründet. Fragt man, wozu die aper^ der Gerechtigkeit da ist, wird man gewiß nicht behaupten wollen, daß sie dem anderen Menschen zum Schaden gereicht. Doch hat man auf diesem Wege die Aus­ gangsfrage, ob es gut und erstrebenswert ist, dem Freund Gutes, dem Feind Schlechtes zu tun, bereits verlassen. Offensichtlich hat man es also an dieser Stelle mit einer jener absichtlichen Verdrehun­ gen zu tun, deren sich der Platonische Sokrates gelegentlich bedient, um den Leser zum Nachdenken anzuhalten. Das vorläufige Ergebnis der Unterredung ist jedenfalls darin zu sehen, daß die Freund-Feind­ Relation unzulänglich für die Gerechtigkeitsdefinition ist. Von ihr wird deshalb auch im ersten wie in den beiden nachfolgenden Büchern der Politeia kein weiterer Gebrauch gemacht. Der weitere Fortgang der Unterredung ist für den Zusammenhang unserer Untersuchung insofern von Bedeutung, als hierin auf dem Wege einer Reflexion über das »Zuträgliche« die Selbstbezüglichkeit des Handelnden in anderer Weise zum Thema wird. Für die nun ein­ setzende Unterredung (336 bff.) zwischen Sokrates und Thrasymachos gilt zu beachten, daß ihr ein anderer Ausgang zugrundeliegt als der vom Gutsein der re/v^. Wenn Thrasymachos die Gerechtig­ keit als »das für den Stärkeren Zuträgliche« bestimmt,14 dann geht es ihm um das letzte Worumwillen alles Tuns und Lassens, das wieder­ um dem Wohlergehen oder dem Glück gleichzusetzen ist. In der Be­ hauptung, das Gerechtsein sei das Zuträgliche (oup^epov), werden zwei wichtige Aspekte hervorgehoben. Zum einen stellt das Zuträg­ liche einen relationalen Begriff dar: Als zuträglich kann etwas nur eivai ro Sixaiov oüx aXXo r ^ ro roü xpeirrovog ou^epov, 338 c 1f. 110

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bezüglich einer Person, für die es förderlich ist, bezeichnet werden. Zugleich ist über den personalen Bezug, in dem das Zuträgliche steht, auch ein teleologischer Kontext akzentuiert: Zuträglich ist etwas stets für jemanden und zu etwas.15 Die Besonderheit der Gerechtig­ keitsdefinition des Thrasymachos wird verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß sie durch ihren Zusatz »für den Stärkeren« von vornherein die Untersuchung ausschließt, ob sich das Zuträgliche nicht nur an Individuen, sondern auch an einer Mehrheit von Per­ sonen, also am für alle gemeinsam Zuträglichen, orientieren kann. Darüberhinaus identifiziert Thrasymachos im weiteren Fortgang des Dialogs den Begriff »der Stärkere« (xpetrcmv) mit dem Inhaber der politischen Macht, eine Gleichsetzung, die keineswegs zwangs­ läufig ist, insofern damit auch »der Tüchtigere« hätte gemeint sein können.16 Seine eigentliche Brisanz erhält also dieser Definitionsvorschlag dadurch, daß Thrasymachos die Erörterung der Gerechtigkeit aus­ drücklich in den Zusammenhang der Frage nach einem gelungenen Leben einzeichnet. Es ist dieser Zusammenhang, der in der Folge auch zur leitenden Fragestellung der Politeia wird, ob und wie näm­ lich gerecht zu sein auch das dem menschlichen Leben wahrhaft Zu­ trägliche darstellt. Thrasymachos stellt diese Verklammerung durch die Überlegung her, daß die Ungerechtigkeit in dem Sinne vorteil­ hafter als die Gerechtigkeit sei, als sie dem Unrecht Tuenden ein Mehr an Gütern verschaffe (344 a). Damit tritt die Frage nach der Motivation, die den Handelnden zum gerechten Tun veranlassen kann, in den Vordergrund. Die Auseinandersetzung zwischen Sokra­ tes und Thrasymachos entwickelt sich deshalb nicht über die Frage, ob man das Gerechtsein mit Hilfe des Begriffs des Gutseins bzw. des dem menschlichen Leben wahrhaft Zuträglichen bestimmen kann. Darin sind sich beide, freilich in einem ausschließlich formalen Sin­ ne, einig. Ihr grundlegender Dissens hingegen besteht in der Bestim­ mung dessen, was denn über diesen formalen Zusammenhang von Gerechtsein und gelungenem Leben hinausgehend für den einzelnen tatsächlich und in einer inhaltlich bestimmten Weise das wahrhaft Zuträgliche ist. Während Thrasymachos unter dem wahrhaft Zuträglichen für 15 Vgl. dazu die ausführliche Darstellung bei P. Stemmer: Platons Dialektik, S. 155 ff. 16 Vgl. dazu bes. Techne-Analysen 341b-342 d. Ausführlich dazu O. Gigon: Gegen­ wärtigkeit und Utopie, S. 51 f. ^ 111

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den Handelnden all das begreift, was diesen in die Lage versetzt, sei­ ne eigenen Interessen uneingeschränkt und ohne Rücksichtnahme auf andere durchsetzen zu können - als Inbegriff für dieses Ideal gilt ihm die Lebensweise des Tyrannen -, leitet sich Sokrates' Widerle­ gung der Argumentation des Thrasymachos von der Annahme ab, daß sich glückliches Leben nicht anders als durch das Gerechtsein verwirklichen läßt. Bei der Untersuchung der in Frage stehenden These kommt es darauf an, zu verstehen, daß mit den divergierenden Ansichten über das wahrhaft Zuträgliche für das glückliche Leben des einzelnen immer auch schon die eigentlichen Interessen des Han­ delnden zur Debatte stehen. Die Globalthese des Thrasymachos ge­ winnt ihre augenscheinliche Faszination maßgeblich daher, daß keine anderen Interessen des Selbst geltend gemacht werden als jenes, demgemäß das glückliche Leben in dem maximal möglichen Aus­ leben der eigenen Bedürfnisse besteht. Umgekehrt orientiert sich die Argumentationsstrategie des Sokrates entscheidend daran, daß man sich sehr wohl in den Vorstellungen von dem, was zum eigenen Vorteil gereicht, irren kann. Die Möglichkeit, einen solchen Irrtum aufzuzeigen, steht und fällt allerdings mit der Aufklärung über die angemessene Perspektive, in der das eigene Selbst einschließlich sei­ ner ihn bestimmenden Interessen wahrgenommen wird. Der Herausstellung des richtig verstandenen Eigeninteresses, des »Zuträglichen«, dient zunächst durchaus auch die Bestimmung der einzelnen Formen der xe/v^. Da Thrasymachos in seiner Gerech­ tigkeitsdefinition davon ausgegangen war, daß der Machthaber, der auf das für ihn selbst Zuträgliche bedacht ist, in einem »technischen« Sinne gut handelt, kann Sokrates diese These durch den Nachweis entkräften, daß jede Form der xe/v^, jedes Können, auf etwas ande­ res, für das es sorgt, bezogen ist. Von jemandem zu sagen, er sei ein guter Arzt oder ein guter Regent, heißt, daß er von dem, was er als Arzt oder Regent tut, etwas versteht. Gleich nun, ob es sich dabei um die ärztliche Heilkunst, das Können des Steuermanns, die Reitkunst oder die Wissenschaften handelt, stets liegt ihnen als strukturelles Merkmal ein Wissen bzw. ein kundiger Umgang mit dem jeweiligen Objekt zugrunde. Der für die Ausübung der jeweiligen xe/vat erfor­ derliche kundige Sachverstand und die damit verbundene spezifische Leistung läßt sich nicht anders als im Rückgang auf die Sache bestim­ men. Wenn Thrasymachos sich gegen diese Darstellung wehrt, in­ dem er am Beispiel der Hirten darlegt, daß deren Können zugleich auch ihnen selbst zugute kommt, bringt er einen anderen, den »eu112

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daimonistischen« Aspekt des Gutseins zur Geltung. In Frage steht nicht mehr das Gute im Sinne dessen, wozu etwas, eine Fähigkeit, da ist, sondern wonach der Machthaber strebt. Auch der harsche Ton, in dem Thrasymachos diesen Aspekt vorbringt, kann nicht über seine Berechtigung hinwegtäuschen. Durch seine Intervention wird erst, wenn auch mit durchaus fragwürdigen Gründen, in die Erörterung des Gerechtseins ausdrücklich die Personrelation mit aufgenommen. Es ist eben diese Frage, wie man das Leben im ganzen führen wolle, auf die Sokrates in seiner Erwiderung eingeht.17 Wir über­ springen nun die einzelnen Argumente, mit Hilfe derer einzelne Aspekte des »Zuträglichen« für den Handelnden aufgedeckt werden, um uns direkt jenem, für unsere Fragestellung zentralen Abschnitt (351a-352 d) zuzuwenden, in dem Sokrates die Bestimmung der Gerechtigkeit mit der Selbstübereinstimmung des Handelnden ver­ bindet. Ihren Ausgang nimmt die Überlegung von Thrasymachos' Behauptung, die Ungerechtigkeit sei mächtiger und kraftvoller (8uvatmtepov xal lö/npÖTepov, 351 a2f.) als die Gerechtigkeit, was sich auch daran zeige, daß der ungerechte Staat andere Staaten un­ terwerfen und beherrschen könne. Auch diese Behauptung steht ganz im Dienst des »Zuträglichen«. Dagegen wendet Sokrates nun ein, daß selbst Menschen, die sich durch ungerechtes Handeln Vor­ teile und Macht über andere verschaffen, untereinander nicht Unrecht tun dürfen, wenn anders sie etwas gemeinsam ausrichten wollen. Selbst Diebe - so das Beispiel, das Sokrates anführt -, die gemeinsam auf Beutezug gehen, müßten sich vorher erst einmal ge­ genseitig das Stehlen abgewöhnen. Das Argument, daß im Falle eines gemeinsamen Tuns die Realisierung eines Vorhabens davon abhängt, daß die Betreffenden untereinander nicht in Zwietracht leben, wen­ det Sokrates in einem weiteren Schritt auf jede Form einer sozialen Entität an: Es gilt ebenso für einen Staat, für ein Hauswesen, in dem Freie und Unfreie zusammenleben, wie auch für die Gemeinschaft von zwei Menschen. Und Sokrates bezieht es darüberhinaus auch auf das Selbstverhältnis des einzelnen: Ungerechtsein hat für den einzelnen einerseits zur Folge, daß er aufgrund des Zwiespalts mit 17 ^ o^ixQÖv ol'ei EraxEiQEtv rnQÜy^a 6ioQiteo0ai ökon ßlon Siaymy^v, f| av 6iayo^Evog Exaotog rjpmv k'uoiTEkeOTdTr|v £rn^v (»Meinst du denn, es handelte sich um eine Kleinigkeit, die du zu bestimmen versuchst, und nicht vielmehr um die ganze Art der Lebensführung, von deren Befolgung es für einen jeden von uns abhängt, ob er das zweckmäßigste Leben führt?« 344 e 1-3). ^ 113

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sich seihst unfähig zum Handeln ist; andererseits führe dieser Zwie­ spalt zu einer Feindschaft mit sich seihst und in der Folge zur Feind­ schaft mit den Gerechten.18 Wenn auch nicht dem Begriff, so wird doch der Sache nach mit dieser Überlegung hereits die entscheidende Annahme eingeführt, wonach die Übereinstimmung des Menschen mit sich seihst, sein »mit sich Befreundetsein«, ein wichtiges Charakteristikum des ge­ lungenen Lebens, der Eudaimonie darstellt. Im Text stützt Sokrates seine Beweisführung auf die Behauptung, daß Zwietracht und Haß das Werk (epyov, 351 d 9) der Ungerechtigkeit sei, Eintracht und Freundschaft entsprechend jenes der Gerechtigkeit.19 Fragt man, was diese sokratische Wendung von der für das gemeinsame Wirken er­ forderlichen Einheit in einer Gruppe von Menschen zum Selbst­ verhältnis des einzelnen rechtfertigt, so geht es hierhei wohl um den dem Handeln in individueller wie allgemeiner Hinsicht zugrunde­ liegenden Aspekt dessen, was jeweils die Handlungsfähigkeit fördert hzw. heeinträchtigt. Eingeschränkt würde diese Fähigkeit dadurch, daß man mit sich selhst in Zwiespalt lehte, gefördert hingegen durch Eintracht und Freundschaft mit sich selbst. Damit erscheint die Be­ hauptung widerlegt, daß die Ungerechtigkeit wirkungsvoller als die Gerechtigkeit ist. Dennoch werden mit dieser Annahme der Selhstühereinstimmung bzw. des »mit sich Befreundetseins« zunächst mehr Fragen auf­ geworfen als beantwortet. Zum einen bleibt unklar, wie das Verhält­ nis von Freundschaft und Gerechtigkeit zu verstehen ist. Niemand würde schließlich behaupten wollen, daß Diebe, die hinsichtlich des gemeinsam gefaßten Vorhabens eines Beutezugs zusammenhalten, deshalb auch schon untereinander in mehr als diesem Vorhaben über­ einstimmen müssen. Auf diesen Einwand ließe sich immerhin noch antworten, daß es Platon an dieser Stelle nur um den Nachweis geht, daß ein gemeinsam gefaßtes und übergreifendes Ziel die Unterord­ nung partikulärer Interessen erforderlich mache. Vor allem aber bleibt an dieser Stelle offen, wie der Übergang von der Übereinstimmung einer Mehrheit von Beteiligten hinsicht­ 18 mgrätov ^ev d6iivatov aEto moiEtv mgattEiv ^E0’ aEtoü 6ia to otaoiatEiv xai Sia^EQEoBai, Eti 6’ e%0Qbv Etvai Eautm tE xai trä Evavtim mavti xai trä Sixaim, 352 a 1-3. 19 StdöEig ydg mou [...] ^ yE d6ixia xai ^ai ^axag Ev aXX^Xoig magExEi, r| 6e 6ixaioo,uvr| o^ovoiav xai ^iXiav; 351 d 4-6. 114

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lieh eines gemeinsamen Vorhabens zur Seihstühereinstimmung des Einzelnen zu verstehen ist. Was stimmt hier mit wem überein, hzw. was liegt untereinander in Zwietraeht? Das Ziel, das Sokrates mit dieser Verbindung der Gereehtigkeit mit der Eintraeht verfolgt, seheint offensiehtlieh darin zu bestehen, die Gereehtigkeit als eine Disposition des Einzelnen zu umsehreihen, sie, die eine Art Ordnungshegriff darstellt, auf das handelnde Subjekt zurüekzuführen. Und der weitere Verlauf (bes. 366 e; 367 e) wird in dieser Hinsieht aueh die Untersuehung der Gereehtigkeit fortsetzen. Aueh der spätere methodologisehe Vorsehlag, was die Gereehtigkeit ist, zunäehst am Makrogebilde des Staates und erst in der Folge an der sehwieriger wahrzunehmenden Einheit des Einzelnen zu er­ örtern, seheint in diese Riehtung zu weisen.20 Man wird überdies die Ausführungen über das Einssein des Mensehen aueh deshalb nieht ins Abstruse absehieben dürfen, da So­ krates in diesem Kontext aueh die Folgerung nahelegt, daß vor dem Hintergrund dieses Selbstbezugs die Annahme bewiesen werden kann, wonaeh die Gereehteren aueh ein besseres Leben führen.21 Das Einssein mit sieh wird als Indikator eines Vollkommenheits­ zustandes des Handelnden dargestellt, der deshalb aueh als glüeklieh zu bezeiehnen ist. Zugleieh wird an dieser Stelle auf das Erfordernis eines eigenen Beweises verwiesen. Man geht wohl nieht fehl in der Annahme, darin einen Hinweis auf die späteren Reflexionen im vier­ ten Bueh zu sehen. Denn Sokrates' eigene Ausführungen, die absehließend den Zusammenhang von Gereehtsein und glüekliehem Leben verdeutliehen sollen, werden nieht nur von ihm selbst skeptiseh hinsiehtlieh ihrer Beweiskraft betraehtet (354 b). Sie erweisen sieh in dem Versueh, von der Funktionstüehtigkeit eines Organs auf die Bestimmung eines guten und gelungenen Lebens zu sehließen, in der Tat aueh als unzulänglieh. Erst die weiteren Untersuehungen die­ 20 Vgl. II, 368 d-e. Ausführlieh zur Bedeutung dieses methodologisehen Verfahrens Bernard Williams: The Analogy of City and Soul in Plato's »Republie«. - In: Edward N. Lee, Alexander P. D. Mourelatos und Riehard M. Rorty (eds.): Exegesis and Argument (Phr. Supp. Vol. 1), Assen 1973, S. 196-206. 21 et öe xal a^eivov ^waiv ot öixaioi twv döixwv xai ehöai^oveate^oL etaiv, to hate^ov ^^onöe^eöa axe^aaöai, axercteov. ^aivovtai ^ev ohv xal vöv, ye ^oi öoxet, wv etp’pxa^ev; (»Ob aber die Gereehten aueh ein besseres Leben führen und glüeklieher sind als die Ungereehten, was wir uns ferner zu erwägen vorgesetzt haben, ist noeh zu erwägen. Zwar läßt sieh die Riehtigkeit dieser Annahme sehon aus dem Gesagten erkennen, wie mir wenigstens seheint.« 352 d 2-5). ^ 115

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ses Zusammenhangs, wie sie im vierten und später im achten und neunten Buch vorgenommen werden, können darüber einen näheren Aufschluß geben. Als Ergebnis der Unterredung mit Thrasymachos kann jedenfalls soviel festgehalten werden, daß nach Sokrates zu­ mindest kein Widerspruch zwischen der tugendhaften Tätigkeit und dem Glück des Menschen zu konstruieren ist. Damit ist freilich noch nicht erwiesen, daß die tugendhafte Tätigkeit für den, der die Ge­ rechtigkeit um ihrer selbst willen vollzieht, tatsächlich auch mehr als die nichttugendhafte Tätigkeit zum glücklichen Leben des Men­ schen beiträgt. Ob und inwieweit dafür der Begriff des »mit sich Be­ freundetseins« geeignet ist, gilt es im Folgenden zu untersuchen. 1.5.2 Das »mit sich Befreundetsein« des Tugendhaften Was Sokrates gegenüber Thrasymachos an Argumenten für die tu­ gendhafte Tätigkeit und ihren Bezug zum glücklichen Leben ins Feld geführt hatte, will Glaukon zu Beginn des zweiten Buches einer er­ neuten und begründeteren Untersuchung unterziehen, in der erwie­ sen werden soll, inwiefern die Gerechtigkeit ein Gut im eudaimonistischen Sinne genannt werden könne, ein Gut also, das um seiner selbst willen erstrebt werde. Um dieses Beweisverfahren einzuleiten, macht Glaukon die Gegenthese stark, daß die Gerechtigkeit schon deshalb nicht ein Gut sein könne, das man um seiner selbst willen erstrebe, weil sie unter bestimmten Handlungsbedingungen zwangs­ läufig als Zweck des Lebens aufgegeben werde. Gerechtigkeit, so läßt sich dieser Einwand verschärfen, kommt nicht zustande und wird nicht erstrebt, weil sie ein Gut für den Menschen ist, sondern ent­ steht aus der Not. Sie ist deshalb solange ein angemessenes Hand­ lungsmotiv, als sie im menschlichen Zusammenleben dazu dient, gegenüber anderen Menschen den Anschein ordnungsgemäßen Handelns zu wahren. In der Fiktion von Handlungsbedingungen, die es dem Handelnden ermöglichen, ohne Rücksicht auf diese Re­ geln zu agieren, wird er nicht die Gerechtigkeit erstreben, sondern das, worin er seinen eigentlichen Nutzen sieht. Zur Veranschaulichung dieser These führt Glaukon die Sage von Gyges und seinem Ring an. Die Pointe dieser Erzählung besteht in der Überlegung, daß ein jeder Mensch, der durch einen solchen Ring in die Lage versetzt wird, sich unsichtbar zu machen, zwangs­ läufig auch offenbaren wird, daß die ihn in seinem Handeln leitenden Beweggründe Vorteile von der Art sind, wie sie Thrasymachos im 116

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ersten Buch der Politeia beschrieb. Braucht er die Entdeckung durch andere nicht zu fürchten, so wird sein Handeln zwangsläufig offen­ baren, daß »niemand mit gutem Willen gerecht ist, sondern nur aus Not, weil es eben für keinen an sich gut ist« (360 c). Die These, daß die Gerechtigkeit ein Gut sei, das der Handelnde für sich selbst er­ strebe, mag, so ließe sich der Sinn der Sage von Gyges und seinem Ring auf unsere Fragestellung des Selbstbezugs hin zuspitzen, zwar unter den konkreten Bedingungen menschlichen Handelns zutref­ fend sein, solange man aufeinander Rücksicht nehmen muß aus Furcht vor der Entdeckung durch andere Menschen. Die Gerechtig­ keit erweist sich aber hinsichtlich dessen als hinfällig, was den Han­ delnden ursprünglich in seinem Überlegen und Tun, das durch den eigenen Nutzen bestimmt ist, bewegt. Das Gyges-Modell repräsentiert eine Art Testfall, dessen An­ wendung es ermöglichen soll, die eigentlichen handlungsleitenden Motive zum Vorschein zu bringen. Einher geht mit ihm die der sokratischen Behauptung eines Bezugs von tugendhafter Tätigkeit und glücklichem Leben kontradiktorische These, daß Gerechtigkeit nie­ mals um ihrer selbst willen, sondern stets als Mittel zu einem Zweck erstrebt wird. Um eben diesen Einwand zu widerlegen, verlangt Glaukon von Sokrates, er möge nicht nur zeigen, daß Gerechtigkeit besser als Ungerechtigkeit sei, sondern wozu gerechtes Handeln den macht, der es wirklich praktiziert (367 b; vgl. 367 e). Und auf die Gyges-Sage kommt Sokrates am Ende der Politeia nochmals zu spre­ chen, wenn er zusammenfassend behauptet, der Gerechte würde auch dann nicht anders handeln, wenn die Konsequenzen seines Handelns unentdeckt blieben (612 b). Was Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit ist und wie sie sich je für sich und unabhängig von der Anerkennung durch Freunde oder Götter »in der Seele verhalten«, dies ist die Frage aus dem Beginn des Dialogs,22 auf die im vierten Buch wieder zurückgekommen wird. Nach einigen Vorüberlegungen kommt Sokrates im vierten Buch auf die Frage des Bezugs von Gerechtigkeit und glücklichem Leben zurück. Zunächst werden die vier die vollkommene Polis bestimmenden Tugenden der Weisheit (oo^ta, 428 b-429 a 7), Tap­ ferkeit (avöpeta, 429 a 8-430 c 5), Besonnenheit (orn^pooüv^, 430 e 3-432 a9) und Gerechtigkeit (öixaiooüvq, 432 b 2-434 a 1) 22 Ti [...] Eotiv ExdtEQOv mi tiva Exei Suva^iv aütö xa0’ auto Evov ev t^ 358 b 4-6. ^ 117

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inhaltlich bestimmt. Die ideale Polis ist demzufolge weise und wohlheraten, nicht hinsichtlich eines bestimmten Gegenstandsbereiches, sondern im Blick auf die Weise, in der »sie mit sich selbst und mit anderen Städten am besten umgehen soll« (428 d lf.). Es ist die Tu­ gend der »vollkommenen« Hüter, der Regenten (414 b, 428 d), die einen Teil der Stadt bilden. Ähnlich wird die Tugend der Tapferkeit inhaltlich bestimmt als die »Aufrechterhaltung der richtigen und ge­ setzlichen Vorstellung von dem, was furchtbar ist und was nicht«.23 Wenn im Gegensatz zu den Ausführungen zur Weisheit und Tapferkeit in die Bestimmung der Besonnenheit von Anfang an ihre reflexive Komponente mit eingeht, sollte dies nicht übersehen lassen, daß die Besonnenheit ebenso wie die anderen beiden Tugenden in der Beziehung zum Guten steht; wegen dieser Beziehung sollte sie un­ tersucht werden. Man würde ihre Beschreibung folglich auch miß­ verstehen, wollte man sie aus diesem Bezug herauslösen und sie auf­ grund der ihr eigenen reflexiven Komponente verselbständigen. Im Text vergleicht Sokrates die Besonnenheit mit einem gewissen Zu­ sammenklang und mit Harmonie (onp^mvia tivl xal appovta, 430 e 3 f.), und, nachdem seine Gesprächspartner ihm in diesem Ver­ gleich nicht folgen können, beschreibt er sie inhaltlich als eine Ord­ nung sowie als eine Überlegenheit über Lüste und Begierden.24 Es ist besonders das zuletzt erwähnte Charakteristikum der Herrschaft, das in den folgenden Darlegungen über die Besonnenheit im Vorder­ grund steht. Daß Sokrates zu seiner Erläuterung zunächst auf die Redensart »stärker als man selbst« bzw. »sich selbst überlegen« (xQELTTm auxoü, 430 e 7; e 11) zurückgreift, läßt vermuten, daß es sich hierbei möglicherweise um eine traditionelle Auffassung der Be­ sonnenheit handelt, deren genaue Bedeutung allerdings erst noch zu ermitteln ist. Den Sinn dieser vorgefundenen, ungereimten Wen­ dung präzisiert Sokrates deshalb im Folgenden auch dahingehend, daß »im Menschen in bezug auf die Seele ein Besseres und ein Schlechteres«25 sich findet. Die Redewendung bedeute nun soviel, 23 tr|v 6r| toiautriv Suva^iv xal omtr|Qlav 6ia mavtog 6o|r|g ÖQ0^g te xal vo^M-ou SEivmv te mEQi xal ävÖQEiav EymyE xakm xal tl0E^ai, 430 b 2-4. 24 Koo^og mou tig [...] ^ om^Qoouv^ Eotlv xal f]6ovmv tivmv xal Emi0u^imv EyxQdtEia, 430 e 6f. Als eine bestimmte Geordnetheit hatte bereits Sokrates die Beson­ nenheit im Charmid.es beschrieben. Vgl. Charm. 159 bff. Die Charakterisierung der Besonnenheit als einen Zusammenklang wird Aristoteles später in der Topik wegen ihrer mangelnden Präzision als ungenügend kritisieren. Vgl. Top. 123 a 3-37. 25 ev ahtm trä av0Qmmm mEQl tr|v ^nx^v to ^Ev ßEktiov evi, to SE xeiqov, 431 a 4f. 118

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daß das der Natur nach Bessere über das Schlechtere regiere. So ver­ standen würde diese Wendung sogar eine Empfehlung enthalten. Im entgegengesetzten Fall, daß das Schlechtere gegen die Natur das Bes­ sere überwiege, habe man es mit einem tadelnswerten Verhalten zu tun. Bezogen auf den vollkommenen Staat, um dessentwillen in die­ sem Kontext auf die Besonnenheit eingegangen wird, ist damit die richtige Relation zwischen den Herrschenden und den Beherrschten thematisiert. Sokrates fährt deshalb auch damit fort, Kinder, Frauen, Sklaven sowie die überwiegende Mehrheit der »sogenannten Freien« den zu Beherrschenden zuzuordnen, insofern diese sich in der Regel von Begierden und Affekten bewegen lassen; zu den Herrschenden hingegen seien jene zu rechnen, die durch die Überlegung, die Ver­ nunft und die richtige Meinung sich leiten lassen.26 Wichtig in die­ sem Zusammenhang ist, daß die Besonnenheit nunmehr auf die ge­ meinsame, von Herrschenden und Beherrschten geteilte Auffassung darüber, wer herrschen soll, bezogen wird.27 Erst diese Übereinstim­ mung ermöglicht es, die Tugend der Besonnenheit dem ganzen Ge­ bilde zuzusprechen, und nicht etwa allein den Herrschenden. Hin­ sichtlich dieser Einigkeit zwischen beiden Teilen kann Sokrates dann auch die Verwendung der Metapher einer Harmonie rechtfertigen. Zudem unterscheidet sich gerade hinsichtlich dieses Zusammen­ klangs die Besonnenheit von den beiden Tugenden der Weisheit und Tapferkeit, die jeweils nur einem bestimmten Stand im Staat zukom­ men. Die Definition der vierten Gerechtigkeit als »das Seinige tun«28 schließlich soll gewährleisten, daß die übrigen Kardinaltugenden der Weisheit, Tapferkeit und der Besonnenheit sich als das entfalten, was sie sind. Der Zustand der Gerechtigkeit im vollkommenen Staat ist erst dann erreicht, wenn sichergestellt ist, daß die einzelnen Stände 26 ^eta von te xai 6o|r|5 OQ0^g koyto^m ayovTai, 431 c 5f. Daß hier in einem Zu­ sammenhang Überlegung, Vernunft und richtige Meinung genannt werden, mag als Anzeichen dafür gewertet werden, daß es sich bei der Bestimmung der Besonnenheit ebenso wie bei der nachfolgenden der Gerechtigkeit um vorläufige Ausführungen han­ delt, die einen weiteren Durchgang erforderlich machen. Im sechsten Buch, das diesen Grundriß der Tugenden wiederaufgreift, wird dementsprechend auch eine genaue Un­ terscheidung zwischen der Meinung und der Vernunft getroffen. Vgl. Rep. II, 506 cff. 27 Kai ^f|v eHeq ah ev akk^ rnöket r| ahtf| 6ö|a eveotl tolg te aQxonot xai üqxo^evotg megitoh ohottvag 6el aQXEtv, 431 d 9-e 1. 28 to ta ahtoü rngattELV, 433 b 4. Sie diente im Charm. 162 e-163 e zur Beschreibung der Besonnenheit, wobei »das Seinige« dem »Eigenen« (olxelov) und in der Folge dem »Guten« gleichgesetzt wurde. ^ 119

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sich nicht gegenseitig in ihrem Wirken beeinträchtigen. Während nun die übrigen Gesprächsteilnehmer sich mit diesem Umriß der vier Tugenden zufriedenstellen wollen, macht Sokrates (435 d) geltend, daß ein weiterer Durchgang für die präzise Bestimmung der Gerech­ tigkeit erforderlich sei. Dieser »längere Weg« wird im sechsten Buch (ab 506 b) mit der Untersuchung der Idee des Guten als höchstem Gegenstand des Wissens eingeschlagen. Entsprechend dem bereits im Vorfeld der Untersuchung an­ gekündigten Verfahren, wendet sich die Unterredung ab 434 d bis zum Ende des vierten Buches der Frage der Gerechtigkeit in der Seele des einzelnen Menschen zu. Es ist dies der Abschnitt, der eine einge­ hendere Beantwortung der oben offen gebliebenen Frage erwarten läßt, was Sokrates unter dem Einssein bzw. dem »mit sich Befreun­ detsein« fassen will. Man würde erwarten, daß bei einer solchen Analogie zunächst auf das Problem eingegangen wird, wie sich der Staat als eine Vielheit disparater Stände überhaupt mit dem Men­ schen als einer homogenen Einheit vergleichen läßt. Statt dessen wird von Sokrates die Lösung der Frage angeführt, ob verschiedene Tätigkeiten mit der ganzen Seele (okfl 436 b 1) oder aber nur mit einer ihrer Fähigkeiten verrichtet werden. Wichtig ist, daß der Platonische Sokrates an dieser Stelle den Begriff des Ganzen der Seele verwendet, jedoch den zu erwartenden Komplementärbegriff der Teile vermeidet. Worum es ihm in dieser Analogie geht, darauf deutet der phänomenale Befund, daß in der Seele voneinander unter­ schiedene, gegensätzliche Strebungen existieren. Das Beispiel, an­ hand dessen Sokrates diese Differenzierung der Seele einführt, ist jenes des Durstes, der für eine Form des menschlichen Begehrens steht. Für dieses wie für andere Formen des Begehrens ist dabei ty­ pisch, daß sie das Objekt ihres Begehrens intendieren, ohne dabei über dessen jeweilige Qualität und Wert zu befinden. Niemand, so Sokrates, möge einwenden, daß man stets nur ein verträgliches Ge­ tränk begehre (438 a 1-3). Um die Natur des Begehrens zu bestim­ men, soll dies als ein von anderen unterschiedenes Vermögen begrif­ fen werden. Der Grund für diese Vorgehensweise wird ersichtlich, sobald man die nachfolgenden Ausführungen über die Existenz ge­ gensätzlicher Strebungen mitberücksichtigt. Das, was einen dazu an­ halten mag, diesem Begehren zu widerstehen, kann nicht aus dem Vermögen des Begehrens heraus plausibel gemacht werden. Vor­ bereitet wurde dieser Schritt durch den zu Beginn eingeführten Satz vom Widerspruch, gemäß dem gilt, daß in der Seele niemals etwas in 120

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gleicher Hinsicht und zugleich etwas zu tun oder zu erleiden vermag (436 h 8 f.). Wenn sich zeigt, daß sich in der Seele ein Begehren regt, sie zugleich aher diesem nicht nachgiht, dann müssen hinsichtlich dieses Phänomenhestandes zwei Seelenteile unterschieden werden. Vom »Begehrlichen« (emBup^tixöv), das mit dem »Unüberlegten« (aköyiotöv) gleichgesetzt wird, unterscheidet Sokrates folgerichtig in der Seele das Überlegte (Aoyiotixöv).29 Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung wird ein erster, wichtiger Aspekt der Selbstbeherrschung einsichtig, wie sie der Pla­ tonische Sokrates ohen hereits thematisierte. Selhstheherrschung wird dort möglich und verständlich, wo der Mensch sich überlegt in ein Verhältnis zu seinem Begehren zu bringen versteht. Zugleich ist damit auch eine Erklärung für die mögliche Desintegration gegeben. Daß jemand sich überlegt zu den Strebungen verhalten kann, impli­ ziert auch die Möglichkeit, daß ein solches sich in Bezug setzen in einer weniger gelungenen Weise erfolgen kann. Mit dem Aufweis von zwei nicht aufeinander reduzierbaren Vermögen der Seele ist keinesfalls behauptet, daß Platon die beiden Seelenteile von vornher­ ein auch konfliktuell konzipiert hat. Offensichtlich kann über ihre angemessene Zuordnung erst dann genaueres gesagt werden, wenn die Kriterien gegeben sind, nach denen man nach Platon von einem guten bzw. einem mißlungenen Verhalten gegenüber seinen Stre­ bungen zu sprechen vermag. Es liegt folglich in diesem Zusammen­ hang bereits die Annahme nahe, daß dieses Sichverhalten in einem direkten Bezug zur weiteren Frage nach dem gelungenen Leben steht. Von einer hinreichenden Klärung dieser Kriterien wird ebenso die Bestimmung einer gerechten Handlung als auch allgemeiner eine Antwort auf die Frage des geglückten Lebens - und damit auf das, was die Gesundheit der Seele bedeutet - zu erwarten sein. Im Text führt Sokrates zusätzlich zu den beiden genannten See­ lenteilen jenen des Mutes bzw. des Eifrigen (Bupoc;) ein.30 Dieser umfaßt, wie aus den angeführten Beispielen hervorgeht, Gefühle, Gemütsbewegungen bis hin zu Leidenschaften des Menschen. Die Eigenständigkeit dieses Seelenteiles gegenüber dem »Begehrlichen« 29 439 d4-8. Zur Beschreibung des alogischen Begehrens an dieser Stelle, »es werde hingerissen« (emo^tai, 439 d 7), vgl. die gleichlautenden Stellen: Phaid. 68 c, Symp. 206 d und Krat. 404 a. 30 Dieser Ausdruck taucht bereits im dritten Buch der Politeia im Zusammenhang der Untersuchung der Wirkung, die die Musik auf die Seele ausübt, auf (411 b 3f.). ^ 121

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wie gegenüber dem »Überlegten« will Sokrates dadurch nachweisen, daß der önp,oc; auch gegen die Begierden streiten kann. Als Beispiel dient ihm die Geschichte von Leontios, der angesichts hingerichteter Menschen zwischen der Lust und dem Abscheu hin und her schwankte. Innerhalb der Platonischen Beschreibung der mensch­ lichen Konstitution kommt dem Bnpöc; die Funktion zu, zwischen den Begierden und vernünftigem Überlegen zugunsten der Vernunft zu intervenieren, die ohne ihn kraftlos wäre (440 b). Die spärlichen Ausführungen des Sokrates über diesen dritten Seelenteil erschwe­ ren allerdings seine präzise Bestimmung.31 Immerhin ist ihnen soviel zu entnehmen, daß es sich beim Onpöc; auch um jene seelischen Re­ gungen und Affekte (Zorn und Eifer) handelt, die mittelbar auch in den Bereich sittlichen Lebens hineinragen. Im Text werden jedenfalls Bewegungen des Onpöc; auch in einen Zusammenhang mit dem Eifer für Gerechtigkeit gestellt.32 Daß der Mensch nicht nur theoretisch 31 Die kontroversen Interpretationen diskutiert ausführlich A. Graeser: Probleme der platonischen Seelenteilungslehre. Kaum überzeugend ist der Vergleich des ön^oc mit einer »Art Autoaggressivität«, der »Durchsetzungsenergie des vernünftigen Seelen­ teils«, wie ihn Pfannkuche (Platons Ethik als Theorie des guten Lebens, S. 210) anstellt. Der Ausdruck ön^oc leitet sich her von öhw, was soviel bedeutet wie »sich heftig bewe­ gen« oder »ergriffen sein« von etwas. Daß Platon ihn als einen eigenständigen Seelen­ teil ansetzt, mag seine Berechtigung darin finden, daß der Genese von Gemütsbewegun­ gen stets etwas, ein Ding, ein Vorfall etc. zugrundeliegt, was gleichsam von außen in das Leben des Menschen eindringt und in ihm eine Gemütsbewegung hervorruft. Dabei gilt, daß je wichtiger die jeweilige Sache oder Angelegenheit empfunden wird, desto nachhaltiger auch der entsprechende Gemütszustand sein wird, der, wie Sokrates ausführt, bis zu den gesteigerten Formen von Leidenschaft oder Zorn zu führen vermag. Wenn Sokrates bezüglich des ön^oc behauptet, er müßte im »Zwiespalt der Seele die Waffen für das Vernünftige ergreifen« (440 e 3), so kann diese Interferenz von Ver­ nunftfähigkeit und ön^oc auch so verstanden werden, daß die Gemütsbewegung, sofern sie nur der Vernunft zugeordnet bleibt, eine wesentliche Voraussetzung für das ange­ messene Verstehen bildet. 32 Der zornmütige Seelenteil (ön^oeiö^c;) bezeichnet das Vermögen von Tier und Mensch, mit seiner jeweiligen Umwelt in Berührung zu kommen. Wie Platon bereits an früherer Stelle der Politeia darlegt (375 af.), hängt beispielsweise die jeweilige Reak­ tion des Tieres davon ab, ob es mit einem ihm bekannten oder unbekannten Tiere zu­ sammentrifft. Bei einem ihm unbekannten Lebewesen tritt eine feindliche Regung auf, in deren Folge das Tier sich ihm gegenüber durchzusetzen sucht. Hinsichtlich des Men­ schen gilt, daß der ön^oc sein Vermögen darstellt, sich durchzusetzen und gegen eine Gefahr anzugehen. Dem Zusammmenspiel von ön^oc und Vernunft liegt, wie ins­ besondere die Beschreibung des Standes der Wächter verdeutlicht, die Vorstellung zu­ grunde, daß beim Mensch, dessen ön^oc in rechter Weise erzogen ist, der Zorn sich regt, sofern ein Mensch Unrecht erleidet. Er wird sich in der Folge für das Recht ein­ setzen (vgl. 440 cf.). 122

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einen Sachverhalt als bedeutsam für sein Lehen erkennt, sondern auch mit einem Affekt darauf reagiert, und dieser Affekt noch lange vor einer entsprechenden rationalen Überlegung im Lehen des Men­ schen wirksam ist, darin scheint unserer Interpretation zufolge die Bedeutung dieses dritten Seelenteiles zu liegen. Es gibt folglich Ge­ mütsbewegungen, deren Genese weder durch das intentionale Aus­ sein auf bestimmte Objekte noch auf bestimmte Gehalte gedeutet werden können. Ausgehend von der empirischen Tatsache, daß der Mensch Trä­ ger mannigfaltiger Strebungen, Gemütsbewegungen sowie bewußter Überlegungen ist, erhebt sich die naheliegende Frage, wie dieses We­ sen leben will und was dementsprechend als eine gute bzw. verwerf­ liche Verfassung seines Seins zu bezeichnen ist. Es ist eben diese Fra­ ge, auf die Sokrates nach der Unterscheidung der Seelenteile zu sprechen kommt, wenn er die am Makrogebilde der idealen Polis abgelesene Bestimmung der vier Kardinaltugenden auf den einzel­ nen Menschen überträgt, wobei in einem ersten Schritt die innere Ordnung der Tugenden (441 e-442 b), in einem zweiten (442 b-d) ihre Wirkung nach außen behandelt wird. Bezugnehmend auf die erste Tugend der Weisheit in der vollkommenen Polis heißt es hin­ sichtlich des einzelnen Menschen, daß dem überlegenden Teil der Seele, dem Loyiotixov, das Herrschen wie die Fürsorge (npop^Beta) für die gesamte Seele zukommen (441 e 4-6). Ihm haben sich die alogischen Strebungen des Menschen unterzuordnen. Tapfer ferner sei jener Mensch, der in der Bestimmung des wahrhaft Bedrohenden den Anweisungen der Vernunft folgt (442 b-c). Entsprechend der Beschreibung der Besonnenheit in der idealen Polis, die deren unterschiedliche Stände eint, heißt es nunmehr in bezug auf den einzelnen Menschen, daß sie einen Einklang aller drei Instanzen herbeiführe. Ausdrücklich ist dabei die Rede von der »Freundschaft« der Seelenteile,33 die als eine weitere Metapher für die Übereinstimmung der Teile verwendet wird. Man wäre aufgrund der Unauffälligkeit, mit der sie hier eingeführt wird, geneigt, sie zu übersehen, hätte Sokrates sich nicht zuvor verpflichtet gesehen, in 33 omqiQova oh t^ xai on^mvla t^ ahtmv tohtmv, ötav to te uqxov xai tm aQxo^Evm to koyiotixov 6^o6o|moi 6eüv uqxeiv xai ^,f| otaoia^moiv ahtm (»Beson­ nen nennen wir ihn doch wegen der Freundschaft und des Einklangs dieser Teile, wenn das Herrschende und die beiden Beherrschten sich darüber einig sind, daß dem vernünf­ tig denkenden Teil die Herrschaft gebühre, und wenn jede Auflehnung gegen ihn unter­ bleibt?« 442 c 10-d 1). ^ 123

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der Bestimmung der Besonnenheit als einer »Ordnung« und einer »Harmonie« den Gesprächsteilnehmern eine eingehende Begrün­ dung dieser Wendungen zu liefern (vgl. oben). Anstelle der oben ausführlich für die Polis beschriebenen Harmonie ist nun hinsicht­ lich des »innerseelischen« Verhältnisses von der Freundschaft die Re­ de. Von der Sache her wird damit nicht etwa das einseitige Herrschen des XoyLOTLXÖv über das em0'upprLXÖv erfaßt, vielmehr geht es um das beiderseitige Einverständnis zwischen dem Verstehen, das Sache des Wissens (emorppp) ist, und der richtigen Meinung (öo^a), die dem Begehren zuzuordnen ist. Daß das Begehren über die öö^a verfügt, äußert sich darin, daß es auf die Anweisungen der Vernunft zu hören und ihnen Folge zu leisten vermag. Mit der Freundschaft bzw. dem »mit sich Befreundetsein« wäre dementsprechend jene Übereinstimmung umschrieben, die in jenen Fällen gegeben ist, in denen das Begehren aufgrund der richtigen Meinung bereit ist, sich der Vernunft unterzuordnen. Abzugrenzen wäre eine derartige Über­ einstimmung darüber, wer rechtmäßig regieren und wer regiert wer­ den soll, gegenüber dem, was man mit einer Kontrolle der Vernunft über alogische Bestrebungen umschreiben könnte. Darüberhinaus wird mit der Freundschaft als Metapher für die Besonnenheit zu­ gleich die Integrität des Menschen beschrieben: Es ist die Besonnen­ heit, welche die einzelnen Teile zusammenhält. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, daß mit dieser Bestimmung der Besonnenheit bereits ein Vorgriff auf das geleistet zu sein scheint, was die Idiopragieformel »das Seinige tun« enthält. Tatsächlich gibt es eine Stelle in der Politeia, an der eine direkte Über­ schneidung der Besonnenheit und der Gerechtigkeit anklingt, die über jene Formel hinausgeht. Hier nämlich ist die Rede davon, »daß jeder das Seinige tut im bezug auf das Herrschen und Beherrschtwer­ den«.34 Auch wenn sich Sokrates an dieser Stelle mit Andeutungen begnügt, ist doch dem Kontext zu entnehmen, daß im Gegensatz zur Gerechtigkeit die Tugend der Besonnenheit jeweils auf anderes als die Seele selbst bezogen ist. Diese Präzisierung ist insofern wichtig, als sie die Interpretation wahrscheinlich macht, daß die Besonnenheit 34 [...] ör ahroü rmv ev ahrm exaorov ra ahroü rngarrei üqx^? re meQi xai roü aQX£O0ai 443 blf. O. Gigon (Gegenwärtigkeit und Utopie. Eine Interpretation von Platons »Staat«, S. 525) meint deshalb, daß diese Stelle einen Versuch darstelle, die Gerechtigkeit und Besonnenheit in einem einzigen Begriff zusammenzufassen »mit dem evidenten Risiko, daß auf diesem Wege der ohnehin prekäre Unterschied zwischen den beiden Tugenden vollständig verlorengeht«. 124

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- das »mit sich Befreundetsein« - eines von der Tätigkeit des Men­ schen unterschiedenen Inhalts bedarf. Sie realisiert sich immer inner­ halb eines bestimmten Bezugsbereiches und läßt sich nicht durch eine reine Rückbezüglichkeit definieren. Dieses Verständnis bietet sich in diesem Kontext auch noch aus einem anderen Grund an. Eine Übereinstimmung zwischen dem emBup^tixov und dem koytatixov im bezug auf das Herrschen und Beherrschtwerden kann einzig und allein im Bereich von Objekten des Strebens, auf die sich die Begier­ den beziehen, thematisch werden. Ein »mit sich Befreundetsein«, das sich nicht auf Objekte bezieht, die von dem Streben selbst verschie­ den sind, scheint dem gegenüber unvorstellbar zu sein.35 Daß dennoch Gerechtigkeit und Besonnenheit dicht beieinan­ derliegen und nahezu ineinander übergehen, zeigt die Beschreibung der Gerechtigkeit hinsichtlich ihrer »inneren«, nicht ihrer »äußeren Tätigkeit«. Diese Unterscheidung will besagen, daß das, was Gerech­ tigkeit letztlich bedeutet, nicht am Ergebis der Handlungen abge­ lesen werden kann. Der Gerechtigkeit als »Tun des Seinigen« liegen vielmehr jene Tätigkeiten des Menschen zugrunde, deren Ergebnis die durch sie erwirkte Haltung (e^tc;) der Seele darstellt. Sokrates deutet die Eigenart der transitiven Handlung im Unterschied zu den intransitiven im Bilde des Schusters an, der, wenn er sich auf die Anfertigung des Schuhwerks versteht, nur ein »Schattenbild« der Gerechtigkeit herstellt. Die Gerechtigkeit im eigentlichen Sinne soll indessen festgemacht werden an der inneren Tätigkeit, die das »wah­ re Selbst und wahrhaft das Seinige ist«.36 Gerechtigkeit äußert sich entsprechend der Idiopragie in der vollkommenen Polis darin, daß jede Instanz der Seele das tut, was sie angeht. Der auf diese Weise erreichte Zustand der Seele wird von Sokrates mit der Metapher des »wohlbestellten Hauses«, der »Ordnung« und, auch hier, mit der »Freundschaft« verglichen.37 Die Entdeckung dieser Übereinstim­ mung des Menschen, dessen Seele »eines aus vielem geworden ist« (eva yevöp,evov ex nokkmv, 443 e 1), ermöglicht in der Folge auch eine angemessene Bestimmung des Handelns (npättetv): Ein jedes Handeln ist eben dann gerecht und schön zu nennen, wenn es aus 35 Es ist hier nochmals an den Charmides zu erinnern, dessen Erörterung der aw^Qoahv^, verstanden als »das Seinige tun« (161 b 5), gerade über das Problem der Selbstbezüglichkeit von Eigenschaften und Vermögen in die Aporie gerät. 36 dX^öwc rcepL eantov xal td eantoh, 443 d 1. 37 tw ovtt td olxeia en öe^evov xal d^avta antov antoh xal xoa^aavta xal ^iXov yevo^evov eantw xal anva^oaavta t^ia ovta, 443 d 3-5. ^ 125

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der beschriebenen Haltung hervorgeht, sie bewahrt und erwirkt (443 e5f.). Offensichtlich wird von Sokrates in diesen Ausführungen über die Selbstübereinstimmung und das Einssein des Gerechten das ent­ scheidende Kriterium nicht nur für die gute Verfassung des Men­ schen, sondern auch für das, was tugendhaftes Handeln bedeutet, formuliert. Welche Handlungen auch immer ein Mensch vollziehen mag, als gerecht sind sie insofern zu bezeichnen, als in ihnen das Mitsicheinssein als die gute Verfassung des Handelnden zum Aus­ druck kommt. Gelderwerb, Körperpflege, politische Betätigung oder private Abmachungen: in diesen von Sokrates für das Handeln an­ geführten Beispielen wie in anderen geht es nicht vorwiegend um einen bestimmten Zweck, sondern um den Handelnden selbst, der diese Tätigkeiten jeweils um seines eigenen Mitsicheinsseins willen verrichtet. Und er wird jene Handlungen als »gerechte und schöne« wählen, die die Qualität des Mitsicheinsseins aufweisen und mit her­ vorbringen. So besehen steht auch das »mit sich Befreundetsein« in einem direkten Zusammenhang mit den jeweiligen Handlungen. Es fungiert als ein inhaltliches Kriterium, anhand dessen die jeweilige Vorzüglichkeit einer Handlung bestimmt werden kann: Gerecht und schön ist eine Handlung dann, wenn sie um des Mitsicheinsseins willen vollzogen wird. Daß ein Mensch ein moralisch vorzügliches Leben führt, steht und fällt nach Sokrates mit der Annahme, daß ein Mensch in seinem Leben, verstanden als der gesamte Zusammenhang seiner Strebun­ gen und Tätigkeiten, eine Übereinstimmung mit sich selbst gewinnt. Über eine rein empirische Deskription menschlichen Lebens hinaus liegt der Vorstellung eines naturgemäßen Herrschens der Vernunft über die Begierden die Unterscheidung zwischen dem, was die Men­ schen begehren und wünschen, und einer einsichtig gewordenen und gerechtfertigten Orientierung des Lebens im Ganzen zugrunde. Dementsprechend wäre die Seele dann in einer guten Verfassung, wenn ihre faktischen Wünsche und Neigungen Bestandteil einer sol­ chen ganzheitlichen Ausrichtung des Lebens bildeten. Mit dieser Zu­ ordnung präjudiziert Platon noch nichts hinsichtlich der inhaltlichen Bestimmung eines gelungenen Lebens, ebensowenig wie er damit etwas über wahre oder falsche Neigungen behauptet. Mit dem Eins­ sein mit sich selbst wird lediglich etwas über die Art und Weise, wie das Leben im ganzen zu einem gelungenen werden kann, ausgesagt. Bezieht man in den Sinn der bisherigen Ausführungen auf das »mit 126

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sich Befreundetsein« des Tugendhaften, so folgt, daß nur jener Mensch ein gelungenes und moralisch vorzügliches Lehen führt, der in seinen Handlungen und Tätigkeiten sich seihst verwirklicht, und nicht etwa als Maßstah seiner Handlungen die Anerkennung durch andere wählt. Die zentrale Funktion des mit sich Einsseins hestätigen auch via negationis die sich im Text anschließenden Darlegungen zur Un­ gerechtigkeit und ihre Folgen für das handelnde Suhjekt. Vom Un­ gerechtsein heißt es in Analogie zur Gerechtigkeit, sie zeichne sich durch einen »Zwiespalt« (otoolc;) aus, es herrsche in ihr eine »Auf­ lehnung eines der Teile gegen das Ganze der Seele« sowie eine Um­ kehr der von Natur aus zum Herrschen hzw. zum Beherrschtwerden gegehenen Ordnung (444 h 3-5). Diese Charakterisierung hezieht sich zunächst auf die Verfassung der Seele, wird aher in der Folge von Sokrates auch auf ungerechte Handlungen, die durch ihre Ver­ fassung hervorgehracht werden, ausgeweitet. Umgekehrt kann an der Beziehung zwischen der jeweiligen Verfassung der Seele und ihren Tätigkeiten, in denen sie sich manifestiert, auch der Grund erläutert werden, warum man gerecht handeln und Unrechttun vermeiden solle. Zur Erläuterung greift Sokrates auf den aus dem Gorgias hekannten Vergleich mit der Gesundheit zurück.38 Wie Gesundheit für Seele und Leih in einem naturgemäßen Verhältnis der Ausgewogenheit, des »Beherrschens und von-einander-Beherrschtwerdens« der Teile hesteht und Krankheit durch ein entspre­ chendes Mißverhältnis indiziert ist, verlangt auch die Gerechtigkeit wie jedwede tugendhafte Tätigkeit eine entsprechende Ausgewogen­ heit. Üher den Bezugspunkt von naturgemäßem Herrschen und Be­ herrschtwerden hinaus, wie er dem Vergleich von Gerechtigkeit und Gesundheit zugrundeliegt, heruht diese Analogie ferner auf der Vor­ stellung, daß ein gerechtes Handeln ähnlich Gerechtigkeit erwirkt wie das gesunde Verhalten die Gesundheit. Zweifellos kann man im Aufweis der Übereinstimmung des Tu­ gendhaften mit sich selhst einen systematischen Höhepunkt der Pla­ tonischen Tugendlehre vermuten. Umso verwunderlicher mag es deshalh erscheinen, daß gegen Ende der letzten Ausführungen So­ 38 Gorg. 463 a-465 e. Gesundheit und Krankheit im ühertragenen Sinne spielten hereits zuvor in den Ausführungen üher die Erziehung der Wächter eine Rolle (Rep. III, 403 c-412 h). Zur Verwendung der Formel im Gorgias, nach der die Gerechtigkeit dasselhe für die Seele sei wie die Gesundheit für den Körper, vgl. ohen. ^ 127

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krates erneut das Erfordernis eines weiteren Durchgangs in Erinne­ rung ruft. Dieser habe der Frage nachzugehen, oh und inwiefern für den Menschen gerechtes Handeln wie schöne Bestrebungen auch ohne eine entsprechende Anerkennung durch andere zuträglich seien (444 e 7-445 a 4). Glaukons Erwiderung auf diesen Einwand ist inso­ fern grundlegend, als auf diesem Wege dem Leser eine unterschied­ liche Einschätzung des Resultats der bisherigen Ausführungen angehoten wird. Glaukon hält eine erneute Diskussion dieser Frage für überflüssig, da sie mit dem Vergleich der Gerechtigkeit mit der psy­ chischen Gesundheit bereits beantwortet sei. Hat man nämlich erst einmal eingesehen, daß ein jeder Mensch, dessen körperliche Ge­ sundheit gefährdet ist, alles tun wird, um diese wiederzuerlangen, und daß Vergleichbares für die seelische Unversehrtheit zutrifft, dann benötigt man keinen weiteren Beweggrund, um sich um seiner selbst willen auch zum gerechten Handeln zu entschließen. Sokrates stimmt dieser Entgegnung zu, macht aber gleichzeitig geltend, daß ein Anlaß für eine weitere Überprüfung im Erfordernis gegeben ist, die Dinge »so einleuchtend wie möglich« zu machen. Man sollte angesichts dieser Relativierung der bisherigen Er­ gebnisse die Möglichkeit des folgenden Problems in Betracht ziehen: Zwar sind bisher die Beweggründe für ein moralisch vorzügliches Handeln erwähnt worden, jedoch werden diese nicht notwendiger­ weise auch eine Zustimmung des Handelnden zur Folge haben. Der Vorschlag, in einem weiteren Durchgang die Dinge noch plausibler darzustellen, wäre dementsprechend auch nicht als Selbstkritik an der mangelnden Klarheit der bisherigen Ausführungen zu verstehen. Er würde stattdessen in die Richtung zielen, weitere Konvenienzgründe geltend machen zu wollen, die geeignet sind, eine entspre­ chende Zustimmung seitens des Handelnden hervorzurufen.39 Ange­ nommen, diese Interpretation trifft zu, so könnte man darin zugleich den Grund für die weitere Annahme sehen, daß erst in der zustim­ menden Übernahme der von Sokrates und den Brüdern Platons gewonnenen Einsichten die Selbstübereinstimmung des Menschen erfolgt. Man hätte es dieser Annahme zufolge in den sich im Text 39 Es gilt sich in diesem Zusammenhang die erziehungsprogrammatische Absicht der Politeia zu vergegenwärtigen, die darauf gerichtet ist, von Beginn an den Menschen zur »Ähnlichkeit, Freundschaft und Übereinstimmung mit derjenigen Rede [zu führen], die für das Schöne eintritt«. (etg o^oiot^td te xal ^iXiav xal an^wviav xti xaXw Xoyw dyonaa, III, 401 d 1-3). 128

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anschließenden Reflexionen über die unterschiedlichen Arten der Ungerechtigkeit, wie sie sich in bestimmten Staatsformen der Polis und im einzelnen Menschen niederschlagen, mit einer Beschreibung von Formen der Selbstzerstörung zu tun, deren Berücksichtigung Sokrates anempfiehlt, um einen Menschen zusätzlich zu den bisher angeführten Gründen zur Einwilligung in gerechtes Handeln um des »mit sich Befreundetseins« willen zu motivieren. 1.5.3 Die sozialethische Relevanz der Freundschaft Auf die Unterscheidung der drei Seelenteile, wie sie der »Ordnung« und dem »mit sich Befreundetsein« zugrundeliegt, kommt Platon im neunten Buch der Politeia zurück. In einem neuen Durchgang wird hier die Frage untersucht, ob der gerechte Mensch auch als der »Glücklichste« bezeichnet werden kann.40 Im Unterschied zu den vorangegangenen Untersuchungen werden im neunten Buch für den Erweis derselben Annahme die Gründe und Ursachen ex contra­ rio angeführt: Wenn nämlich gezeigt werden kann, daß der Unge­ rechte auch unglücklich ist, dann kann nach Sokrates auch die Be­ hauptung abgeleitet werden, daß der Gerechte der Glückliche ist. Dennoch bestätigen die Darlegungen des zweiten Durchgangs nicht nur bereits Bekanntes. Es kommt in ihnen deutlicher als bisher die sozialethische Relevanz der Selbstübereinstimmung zum Vorschein. Deren Erfordernis läßt sich besser an den verheerenden Folgen ihres Ausbleibens aufzeigen. Zugleich wird angesichts der möglichen Fol­ gen einer tyrannisch verfaßten Seele die Notwendigkeit einer kon­ tinuierlichen Erziehung deutlich. Wenn im Vorhergehenden mit dem Einssein ein zu erstrebendes Lebensideal in den Blick genommen wird, dessen umfassende Verwirklichung gleichwohl nur durch die entsprechende Erziehung erreicht zu werden vermag, so soll nun auf dem Wege über eine Beschreibung der Folgen ihre Notwendig­ keit dargestellt werden. 40 Vgl. die Feststellung am Ende des ersten der drei angestrengten Beweisgänge: »Wol­ len wir nun durch einen bezahlten Herold es ausrufen lassen, oder soll ich es selbst verkünden: der Sohn des Ariston hat den Besten und Gerechtesten für den Glücklich­ sten erklärt. Das ist nach seinem Urteil der wahrhaft königlich Gesinnte, der über sich selbst wie ein König herrscht.« (Mioöwow^eöa ohv x^guxa, ö5 eyw, p ahtog dveircw oti o ’A^iatwvog hog tov d^iatov te xal öixaiotatov ehöai^oveatatov ex^ive, toütov ö5 eivai tov ßaaiXixwtatov xal ßaaiXehovta ahtoü, Rep. IX, 580b8-c2). ^ 129

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Die Beschreibung der notwendigen Folgen, die das Handeln einer zwiespältig und tyrannisch verfaßten Seele hervorzurufen ver­ mag, setzt ein mit der Erforschung ihrer Entstehungsbedingungen. Als Voraussetzung hierfür wird wieder einmal die verkehrte Sub­ ordination von Vernunft und Strebungen angeführt (571 bff.). Zu­ sätzlich zu dem Bekannten weist Sokrates auf die maßgebliche Funk­ tion des Eros hin, unter dessen Antrieb und Führung sich Begierden und Strebungen gegen die Herrschaft des Überlegten auflehnen.41 Auf die Folgen einer derartigen Verfassung des Menschen für seine Beziehungen zu anderen kommt die Rede ausgehend von der ins Un­ ermeßliche gesteigerten Begehrlichkeit zu sprechen: Sie wählen sich solche Menschen als Freunde, die »ihnen schmeicheln und zu jedem Dienst bereit sind« (575 e3-5); sie tun alles, um anderen Menschen als Freunde zu erscheinen, haben sie jedoch ihren Zweck erreicht, wollen sie auch nichts mehr von ihnen wissen. Als zwangsläufige Folge des Zustands einer tyrannisch verfaßten Seele folgert Sokrates ihr grundsätzliches Unvermögen einer Beziehung zu anderen Men­ schen.42 Daß es sich bei den letzten Darlegungen nicht allein um psycho­ logische Beobachtungen an einem Extremfall handelt, vielmehr ein quasi-gesetzmäßiges Verhalten beschrieben wird, wonach man vom Selbstverhältnis auf das Verhältnis zu anderen Menschen extrapolie­ ren kann, geht auch aus dem folgenden Abschnitt hervor, der diese Entsprechung im Verhalten sich selbst wie den anderen Menschen gegenüber auf die Frage zurückführt, worauf sich ein Mensch in letz­ ter Instanz bezieht. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist die methodologische Vorbemerkung, die dieser Untersuchung vorange­ stellt wird. Sokrates macht hier darauf aufmerksam, daß eine ange­ messene Überprüfung dessen, worauf sich ein Mensch bezieht, ein eigenes Urteilsvermögen erforderlich macht, das sich von augen­ scheinlichen Beobachtungen nicht zu falschen Folgerungen verleiten 41 Deshalb wird in Anlehnung an ein Euripides-Zitat der Eros dem Tyrannen gleichge­ setzt. 573 b 6f. Vgl. 573 e 6f.; 574 e 2-575 a 1. In dieser Argumentationslinie sind auch die Ausführungen in den Nomoi zu sehen. Vgl. hegg. I, 627 e-628 d; V, 738 d-e. 42 Vgl. etwa 576 a 4-6: »Ihr ganzes Leben lang also sind sie niemals jemandes Freund, sondern immer sind sie der grausame Herr oder der kriechende Knecht eines anderen. Von wahrer Freiheit und Freundschaft aber hat die Tyrannennatur gar keine Ahnung.« (5Ev ;avtl a^a tw ßiw ^wai 91X01 ^ev ohöe^ote ohöevi, del öe ton öeafto^ovteg ^ öonXeuovteg aXXw, eXenöe^iag öe xal ^iXiag dX^öohg tn^avvix^ ^uaig del ayenato^.). 130

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läßt. Diese Vorbemerkung ist insofern von Bedeutung, als sie auf die Schwierigkeit hinweist, die mit der Beurteilung des Verhaltens eines Menschen verbunden ist. Offensichtlich hängt diese Schwierigkeit mit dem Umstand zusammen, daß sie nicht die auf einen Gegenstand gerichtete Handlungsintention, sondern die damit einhergehenden reflexiven Implikate der Handlung zum Thema hat. Indem diese selbstbezüglichen Momente des Handelns nun zur Untersuchung an­ stehen, schließt diese Vorbemerkung nahtlos an die vorangegange­ nen Reflexionen über die richtige Zuordnung von Herrschen und Beherrschtwerden an. Gezeigt werden soll in den nachfolgenden Be­ weisen, daß derjenige, der sich aufgrund der verkehrten Subordinati­ on der Teile selbst Feind ist, nicht in bezug auf sich selbst, und des­ halb auch nicht in bezug auf andere Menschen zu handeln vermag. Der erste Beweis (577 c-580 c) soll zeigen, daß die Erfahrungen des Unrechttuenden ihn als jemanden ausweisen, der weder mit sich noch mit anderen sich einheitlich verstehen kann, und der infolge­ dessen auch unglücklich ist. Platon versucht dies ausgehend von der bereits im Gorgias anzutreffenden Annahme zu zeigen, daß der ty­ rannische Staat ebenso wie die tyrannische Seele sich deswegen im Zustand des höchsten Unglücks befinden, weil sie jeweils weniger imstande sind, das zu tun, was sie eigentlich wollen.43 Aufgrund die­ ser Diskrepanz sei der tyrannische Staat wie die tyrannische Seele immer voll Schrecken und Reue (577 e 3), stets unbefriedigt und er­ bärmlich (578 a lf.), voller Furcht und Klagen (578 a 4f.). Eine der­ artige Lebensweise, wie sie durch ihre stete Zwietracht mit sich selbst charakterisiert ist, könne nun in bezug auf ihre negativen Auswir­ kungen nur noch dadurch überboten werden, daß einem solchen Menschen auch eine Herrschaft über andere zukommt. Um Eigenart und Wirkungen, welche die Zwietracht der tyrannischen Lebenswei­ se hervorruft, zu verdeutlichen, konstruiert Sokrates die fiktive Handlungssituation eines Tyrannen, der sich mit seiner Familie und seinem Gefolge außerhalb des geordneten Rahmens der Polis im rechtsfreien Raum einer Wüste vorfindet. Diese Fiktion soll es offen­ sichtlich ermöglichen, die Verhaltensweisen einer tyrannischen Seele zu beschreiben, welche die Macht über andere, die sie anstrebt, um die eigenen Bedürfnisse befriedigen zu können, erst noch erwerben muß. Innerhalb dieser fiktiven Handlungssituation zeigt sich, daß die 43 xai ^ tugavvou^E vr| aga ^uxr| ^xiota moi^oei & av ßouXr|0^, mg megi öXr|g eHeev ^uxfjg; 577 elf. ^ l3l

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eigene Intention des Tyrannen nur mit Mitteln wie Versprechungen und Schmeicheleien gegenüber den Sklaven realisierbar ist, mit Mit­ teln, die dem beabsichtigten Ziel des Herrschens zuwiderlaufen. In­ sofern der Tyrann jedoch diejenigen, die er zu beherrschen bestrebt ist, de facto nur durch Schmeicheleien an sich zu binden vermag, macht er sich selbst zum Sklaven (579 a). Auch in anderer Hinsicht meint Sokrates zeigen zu können, daß die tyrannische Lebensweise unter der Hand zu Abhängigkeiten führt, die zumindest ursprünglich nicht in der Intention des Unrecht Tuenden gelegen sein können. Da er seine Begierden nur gegen an­ dere Menschen durchsetzen kann, lebt er in ständiger Furcht vor ih­ nen, so daß er sich nur schwerlich frei in seiner sozialen Umgebung zu bewegen vermag. Daß die Möglichkeit einer Herrschaft über an­ dere die Herrschaft über sich selbst voraussetzt, wird im ersten Be­ weis einmal mehr mit der Metapher der Krankheit veranschaulicht. Weil der Tyrann der Selbstbeherrschung entbehre, gleiche er einem Kranken, der sich körperlichen Wettkämpfen mit anderen stellen müßte (579 c). Entscheidend ist in diesen Ausführungen, daß ein Mensch, der sich selbst Feind ist, sich auch anderen gegenüber nur feindlich verhalten kann.44 Was die Konzeption einer Zwietracht mit sich selbst, wie sie die tyrannische Lebensweise charakterisiert, betrifft, so verlangt diese also zunächst eine Differenzierung auf der Ebene des Bewußtseins, das der Mensch von den Intentionen seiner Handlungen hat. Ihre Ursache findet diese Zwietracht offensichtlich darin, daß das Be­ wußtsein des Tyrannen von seiner Machtfülle sich auf veränderbare Handlungsbedingungen stützt. So vermag der Tyrann sich solange im Glauben an seine Macht über andere Menschen zu wähnen, als er die dafür erforderlichen Bedingungen nicht eigentlich durch­ schaut. Was Sokrates am Beispiel des Tyrannen, der unter veränder­ ten Handlungsbedingungen seine Macht nur durch Versprechungen und Begünstigungen der Sklaven aufrechtzuerhalten vermag, exem­ plarisch vorführt, ist folglich jene Form des irrenden Selbstbewußt­ seins, das seine scheinbare Autonomie de facto nur äußeren und wechselnden Umständen verdankt. Daß ihm diese Bedingungen ver­ 44 Vgl. die Quintessenz des ersten Beweises in 580 a 5-7: »Aufgrund all dessen muß er an erster Stelle selbst unglücklich sein, dann aber auch seine Umgebung dazu machen.« (xai e| dmavtmv tohtmv ^.aktota ^ev ahtm SuotuxEt Etvat, EmEtta Se xai toüg mkr|olov ahtm totohtoug amEQydtEoOat). 132

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borgen bleiben und er sich auf die Herrschaft über andere zu verste­ hen glaubt, charakterisiert den Zustand der Selbsttäuschung, in der sich der Tyrann befindet. Darüberhinaus hat diese Verfassung auch zur Folge, daß der Unrecht Tuende sich zum Feind seiner selbst macht, der ebensowenig im Blick auf das eigene Leben wie auf das des Staates zu handeln vermag. Es bleibt festzuhalten, daß der erste Beweis ausgehend von be­ stimmten psychologischen Beobachtungen wie Furcht und Reue, Schrecken und ständiges Unbefriedigtsein im Leben des Tyrannen diese auf die Ursache zurückführt, daß der Unrechttuende nicht in Übereinstimmung mit sich selbst lebt und ungerechtes Handeln ihn zum Feind seiner selbst werden läßt. Mit diesem Beweis wird indirekt auch schon die Annahme gestützt, daß nur derjenige ein glückliches Leben habe, der mit sich selbst eins ist. Freilich ist dieses Mitsicheinssein ebenso wie die Tatsache, daß der Ungerechte feind seiner selbst ist, an die Voraussetzung gerechten Handelns zurückgebunden und kann nicht unabhängig von ihr erreicht werden. Glück und Moral stehen folglich in einem Verhältnis zueinander, innerhalb dessen mo­ ralisches Handeln Bedingung für ein gelungenes Leben ist. Der­ jenige, der sich blind von seinen Begierden leiten läßt, begibt sich zwangsläufig in Abhängigkeiten von anderen, und befindet sich in­ folgedessen nicht in Übereinstimmung mit sich selbst. Der zweite Beweis (580 d-583 a) will ausgehend von der Theo­ rie der Seelenteile aufzeigen, daß es entsprechend dieser Seelenteile drei Arten der Lust gebe. Platon will in diesem zweiten Beweis für das Glücklichsein des Gerechten zeigen, daß die Lebensweise des Wahrheitsliebenden jene ist, die das größte Wohlbefinden mit sich bringt. So führe die Tätigkeit der Erkenntnis die ihr entsprechende Lust mit sich, ähnlich wie »Tätigkeiten« des Begehrens nach Speise, Trank, nach Liebe und Geld sowie das Verlangen nach Ehre jeweils die ihnen eigene Lust hervorrufen. Offensichtlich liegt dieser Diffe­ renzierung in der Rede von Lust eine Abwandlung der Theorie der Seelenteile zugrunde, nach der die einzelnen Seelenteile jeweils für das stehen, auf das sich der Handelnde bezieht und von woher er sich selbst versteht. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, daß Sokrates zur Umschreibung dieser dem Selbstverständnis zugrun­ deliegenden Identifizierung eigene Komposita verwendet, die jeweils mit dem Wortstamm 91A- gebildet sind. Hinsichtlich der Strebensobjekte des emOup^TLXÖv ist entsprechend die Rede vom »Geldgie­ rigen« (^ikoxp^^axov, 580 e 5; 581 a 6) oder, allgemeiner, vom »Ge­ ^ 133

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winngierigen« (^lXoxeqöec;, 581 a 7). Der »muthafte Seelenteil« (Bu^oeLÖec;) bezieht sich auf Macht, Sieg und Ehre und kann deshalb dem Vorschlag Sokrates' folgend auch als »siegliebend« (^lXovlxov, 581 b 2) oder »ehrliebend« (^lXötl^ov, 581 b 2) bezeichnet werden, während das »Überlegende« (loyLOTLXÖv), das auf die Wahrheit geht, das »lernbegierige« (^üopaBec;, 581 b 9) oder weisheitsliebende (^üöoo^ov, 581 b 9) heißt. Der Überprüfung dieser unterschiedlichen Formen des Selbst­ verständnisses, wie es aus der affektiven Bezogenheit auf einen vom Menschen unterschiedenen Inhalt hervorgeht, stellt Sokrates zu­ nächst die Bemerkung voran, daß worauf auch immer sich der Han­ delnde beziehen mag - ob er sein Leben auf die Maximierung sinn­ licher Genüsse, auf das Erlangen von Ehre und Anerkennung oder aber auf den Gewinn von Erkenntnis hin ausrichtet -, er stets die eigene Lebensweise für die angenehmste halten wird. Entscheidend an dem zweiten Beweis ist der Versuch, eine Differenzierung in der Rede von Lust und Freude anzubringen, die sich nicht von dem Ge­ sichtspunkt, welche Lebensweise schöner und moralischer sei, herlei­ tet, sondern die gleichsam immanent anhand des Begehrens selbst gewonnen wird. Es geht folglich um die Annahme, daß das, was das Wohlbefinden der jeweiligen Lebensweise im subjektiven Sinne cha­ rakterisiert, sich von dieser selbst her qualitativ unterscheiden lassen kann. Der Angelpunkt des Beweisgangs, der wie die beiden vorange­ gangenen Bedingungen erörtert, unter denen sich das Ideal des Eins­ seins des Menschen realisiert, ist dabei in der Überlegung zu sehen, daß wer sein Selbstverständnis von dem herleitet, worauf er sich be­ zieht, es stets in der Annahme tut, daß es gut ist, diesen affektiven Strebungen nachzugeben. Man hat in diesem Zusammenhang darauf zu achten, daß wenn Sokrates sich auf die Erfahrung (e^neLQta) be­ ruft, aufgrund deren Gegebenheit zu entscheiden ist, welche der unterschiedlichen Arten des Wohlbefindens vorzuziehen sei, unter Erfahrung nicht die Daten sinnlicher Empfindung und Wahrneh­ mungen zu verstehen sind, diese Erfahrung sich vielmehr mit dem Urteil über den Sinn dessen, was man erlebt, verbinde. Entsprechend hat die Überprüfung aufgrund der Erfahrung auch wesentlich zu tun mit der Einsicht und der Begriffsbildung.45 Vor diesem Hintergrund wird verständlich, daß die Differenzierung der unterschiedlichen For­

45 ’EmeiSri 6’ E^mEiQia xai ^qov^oei xai loym 582 e 7. 134

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men des Begehrens eine Überprüfung dieser Annahme mit einzube­ ziehen hat. Gerade im Bewußtsein von dem, worauf sich der logische Seelenteil bezieht, erweist er sich den anderen überlegen (582 d-e). Insofern bewährt sich auch in der Überprüfung der unterschiedlichen affektiven Bezogenheiten die Annahme, daß im Blick auf das Ideal der Selbstübereinstimmung dem »Überlegenden« der Vorrang in der Subordination der Seelenteile zukommt. Der dritte Beweis (583 b-588 a) für das Unglücklichsein des Ungerechten, der unter allen dreien auch der entscheidende sein soll, will ausgehend von einer Theorie der Lust die Annahme erhärten, daß die Lust am Wahren die angenehmste sei, hingegen jene Arten der Lust, wie sie durch die beiden anderen Seelenteile erlangt wer­ den, weder ganz rein noch ganz wahr seien. Man hat diesem Beweis nicht nur allein deshalb eine besondere Bedeutung beizumessen, weil nach Platon eine Entscheidung über die beste der drei Lebenskonzep­ tionen nur unter Berücksichtigung der Frage, welche am meisten lustvoll zu sein verspricht, zu fällen ist. Darüberhinaus bringt dieser Beweisgang einen weiteren Aspekt der Selbstbezüglichkeit der Seele zur Geltung. Die Behauptung des Sokrates, daß nur die Lust des Wei­ sen rein und wahr sei, ist in einem Zusammenhang mit jener wei­ terführenden Annahme zu sehen, daß die tugendgemäße Tätigkeit sich nicht nur auf Lust bzw. Unlust beziehe, sondern darüberhinaus die tugendgemäße Tätigkeit auch gewährleiste, daß das richtige Han­ deln nicht durch Lust und Unlust beeinträchtigt werde. Eine Differenzierung der unterschiedlichen Formen der Lust will Sokrates auf dem Wege einer Reflexion über die Verklamme­ rung des jeweils erstrebten Guten mit dem subjektiven Zustand her­ beiführen. Der Phänomenbestand, auf den er sich dabei bezieht, er­ weist, daß Lust stets im Zusammenhang mit der Erfahrung eines erlebten Mangels einhergeht. Erstrebt wird ein Gut gleich welcher Art stets in der Annahme, daß sein Erlangen mit der Befriedigung eines Mangels verbunden ist. Dies gilt gleichermaßen für »leibliche« wie »geistige« Strebungen. Daß die Lust nach dem Erwerb von »Kenntnissen« im Vergleich mit der körperlichen Lust als die wahr­ haftere gelten kann, begründet Sokrates mit der Dauerhaftigkeit der Befriedigung, wie sie durch eine erworbene Kenntnis erreicht werde. Im Vergleich mit der vorübergehenden Befriedigung der leiblichen Bedürfnisse handele sich bei der geistigen Lust um eine Befriedigung durch ein »mehr Seiendes« (p,äkkov övxoc;, 585 b 9f.). Der entschei­ dende Gesichtspunkt für die Differenzierung der einzelnen Lüste ^ 135

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wird auch in der Folge an der jeweiligen Teilhahe am Seienden fest­ gemacht.46 Was Sokrates an dieser Stelle mit der größeren Auffüllung durch das Seiende, die zugleich die angenehmere ist, umschreiht, läßt sich durch folgende Zusatzannahme verständlich machen: Üher die phänomenale Vielfalt der Lustformen ist erst innerhalb des umfas­ senderen Zusammenhangs des Strebens des Menschen nach einem guten und erfüllten Leben im ganzen zu befinden. Auf diesen Zu­ sammenhang kann sich indessen der Mensch nur mittels seines Loyiatixov beziehen. In der Differenzierung der unterschiedlichen Lustformen geht es also im dritten Beweis um die Frage, wie das ihnen zugrundeliegende Streben nach einem Wohlergehen sich auf das Leben im ganzen oder nur auf die Lust, wie sie in partieller Hin­ sicht erreicht wird, bezieht.47 Vor dem Hintergrund dieser Zusatz­ annahme wird auch einsichtig, mit welchen Gründen Sokrates die Lust, wie sie Tätigkeiten menschlichen Erkennens nachfolgt, als an­ genehmer empfehlen kann. Dieser Empfehlung, nach der Lust der Erkenntnis zu streben, liegt die Annahme zugrunde, daß allein jener Mensch in vollem Umfang die Bedingungen seiner menschlichen Existenz berücksichtigt, der sich auf ein Wohlergehen seines Lebens im ganzen zu beziehen vermag. Trifft diese Interpretation des dritten Beweisganges zu, dann läßt sich sein Ergebnis so zusammenfassen, daß derjenige das höchste Wohlergehen in seinem Leben erfahren und am angenehmsten leben wird, der den Bedingungen und An­ sprüchen, wie sie kraft seiner Existenz gegeben sind, in vollem Um­ fang Rechnung trägt. So besehen formuliert auch der dritte Beweis Bedingungen, die im unmittelbaren Zusammenhang mit der Selbst­ Übereinstimmung und der Einheit des Menschen stehen.48 46 »Wenn es also angenehm ist, mit dem von Natur Angemessenen angefüllt zu wer­ den, so bewirkt das, was in Wirklichkeit und mit Seiendem mehr angefüllt wird, durch wahre Lust auch eine wirklichere und wahrhaftere Freude.« (El d^a to rtX^ohaöai xwv ^haei rt^oa^xovtwv ^öh eati, to tti ovti xal twv ovtwv ^X^oh^evov ^äXXov ^äXXov ovtwg te xal dX^öeate^wg xat^eiv dv ^oiot ^öovfl dX^öet, 585 d 11-e 1). 47 Daß Platon auf diese Zusatzannahme zurückgreift, legt die folgende Stelle (586 b 4f.) nahe, an der der Unterschied zwischen Mensch und Tier daran aufgezeigt wird, daß das Tier sich auf sein Wohlergehen lediglich durch körperliche Lustgefühle bezieht, der Mensch hingegen auf diese Weise nicht sein Wohlergehen erreichen kann, nach dem er strebt. 48 Sokrates kann deshalb auch ausdrücklich das Ergebnis des dritten Beweises nochmals auf die Feststellung beziehen, daß allein jener Mensch, der dem »weisheitsliebenden Seelenteil« folgt, nicht in Zwietracht mit sich selbst lebt. 586 e 4-587 a 1. 136

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Im Text faßt Sokrates die in bezug auf das Einssein des Men­ schen gewonnenen Ergebnisse im Bild der dreigestaltigen Seele zu­ sammen. Diese besteht aus einem obereren Teil für den »inneren Menschen«, einem unteren Teil, dem »Vielköpfigen«, für die vielfäl­ tigen Strebungen sowie dem mittleren Teil für das Muthafte, das »Löwenartige«. Die Metapher soll veranschaulichen, daß die see­ lische Disposition des Gerechten erwirkt wird im angemessenen Zu­ sammenwirken des obersten, denkenden Seelenteiles mit Hilfe des Mittleren und des Unteren. Dieses Zusammenwirken, die richtige Zuordnung des »Herrschenden« und »Beherrschten«, ist seit den Ausführungen des vierten Buches der Politeia Thema des »mit sich Befreundetseins«. Wichtig hierbei sind Sokrates' abschließende Schlußfolgerungen, die ausdrücklich auf die Ausgangsfrage aus der Unterredung mit Thrasymachos Bezug nehmen. Es habe sich näm­ lich gezeigt, daß entgegen der Annahme Thrasymachos' ein Bewoh­ ner der Polis nicht zu seinem eigenen Schaden beherrscht werden müsse. Vielmehr sei es für jedermann besser, »sich vom Göttlichen und Vernünftigen beherrschen zu lassen, am besten so, daß es seiner Seele als eigener Besitz angehört, andernfalls so, daß es von außen her als sein Gebieter auftritt, damit wir nach Möglichkeit alle ein­ ander gleich und befreundet werden, wenn wir von ein und demsel­ ben geleitet werden«.49 Deutlich wird an dieser Stelle nicht nur, daß die mögliche Einheit unter den Menschen in der Polis sich grundsätz­ lich unter den gleichen Bedingungen realisieren wird wie jene des einzelnen Menschen und eine Ordnung im Makrogebilde der Polis niemals ohne ihr Pendant im einzelnen Menschen zustandekommen wird. Darüberhinaus ist im Begriff der Freundschaft, der sowohl das Verhältnis zu anderen Menschen als auch das Selbstverhältnis um­ faßt, die maßgebliche Bezogenheit des Menschen auf andere thema­ tisiert. Und schließlich wird in dem »mit sich Befreundetsein« von Sokrates auch ein inhaltliches Kriterium für den Umgang mit ande­ ren Menschen in der privaten Sphäre wie in der Öffentlichkeit for­ muliert. Ein letzter Bezugspunkt für die Beurteilung der Handlungen und Bestrebungen eines Menschen bildet die Frage, ob das, was er tut und von anderen erfährt, tatsächlich die eigene Übereinstimmung der Seele gewährleistet (591 b-592 a). 49 dXV mg a^Eivov öv mavti ürno 0eiou xai ^Qoviyoti aQXEO0ai, ^.a^iota ^ev o’ixEiov Exovtog Ev aütm ei Se p,f|, E|m0Ev E^EOtmtog, iva Big Suva^iv mavtEg ö^oioi m^Ev xai qAoi, tm aEtm xnßEQvm^Evoi, 590 d 3-6. ^ 137

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Zweiter Teil: OiXog und OiXxa: Aristoteles’ Theorie der Freundschaft im achten und neunten Buch der Nikomachischen Ethik

2.1 Freundschaft als externe Relation: NE VIII In einer heute noch immer lesenswerten Darstellung der Aristote­ lischen Freundschaftshücher, die Rudolf Eucken, ein Schüler Adolf Trendelenhurgs, im Jahre 1884 vorlegte, heißt es, der Ertrag dieser Ahhandlung könne nicht hoch genug veranschlagt werden, da »an keiner andern Stelle seiner Weltanschauung sich das menschliche Lehen so sehr als ganzes erschließt.«1 Auf die Aristotelische Konzep­ tion der Freundschaft im Sinne einer »gemeinsamen Tätigkeit der guten Menschen« versucht Eucken in der Folge seiner Darlegungen grundlegende Schwerpunkte und Themen des Corpus Aristotelicum zu fokussieren: Gleich oh es um die Definition der Eudaimonie aus den Anfangskapiteln der Nikomachischen Ethik, um die hegriffliche Bestimmung der menschlichen Tätigkeit, der evegyeia, in der Meta­ physik oder aher um das Verhältnis des Menschen zur Polis geht: all diese Aspekte lassen sich in den Ausführungen der Freundschaftshücher wiederfinden. Der ausführlichen und präzisen Darstellung folgt Euckens ahschließende Würdigung, die hei allen Verdiensten der Lehre Aristoteles' doch keinen Zweifel an der Feststellung aufkom­ men lassen will, »daß Aristoteles' philosophische Lehre von der Freundschaft [...] geschlossen hinter uns liegt«2. Es sind nur zum Teil schulmäßige Einwände, die der ursprüng­ lich dem Idealismus Fichtes nahestehende Philosoph und spätere Vor­ hereiter der Lehensphilosophie an dieser Stelle vorhringt, und noch weniger sind es Zweifel an der philosophischen Theorie des Aristote­ 1 Rudolf Eucken: Aristoteles' Anschauung von Freundschaft und von Lehensgütern. Berlin 1884, S. 20. Gut 15 Jahre zuvor hatte Eucken eine für die Aristoteles-Forschung der nächsten Jahrzehnte wichtige Schrift vorgelegt: Üher den Sprachgehrauch des Ari­ stoteles. Beohachtungen üher die Präpositionen. Berlin 1868. 2 Rudolf Eucken: Aristoteles' Anschauung, a. a. O., S. 42. 138

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Freundschaft als externe Relation: NE VIII

les, deren Systematik und »bewunderungswürdige Sachlichkeit« er sich anzuerkennen gezwungen sieht. Stattdessen betrachtet er die Freundschaftskonzeption als überholt, zum einen weil »die Idee der Menschheit in dem ethischen Systeme des Aristoteles keine große Bedeutung erlangt«, zum anderen weil es befremden muß, »wie we­ nig Beachtung bei der Freundschaft die Individualität, die geistige Besonderheit der Einzelnen findet«.3 Man wird nur schwerlich diesen beiden Vorbehalten im Blick auf Aristoteles widersprechen können. Tatsächlich wären für Aristo­ teles ebenso die »Idee der Menschheit« wie auch damit verbundene etwaige Reflexionen zu einer allgemeinen Menschenliebe kaum vor­ stellbar gewesen, und sie lassen sich gewiß auch nicht im Nachhinein in seine Schriften hineinlegen.4 Diese Einwände Rudolf Euckens wur­ den deshalb, wenn auch in abgewandelter Form, immer wieder gegen Aristoteles vorgebracht. Daß es der Aristotelischen Freundschafts­ theorie an der Klärung der »geistigen Besonderheit der Einzelnen« ermangelt, kommt etwa in ihrer gegenwärtigen Diskussion dort zum Tragen, wo man ihr vorhält, daß sie zwar einen Begriff der Freund­ schaft unter Tugendhaften entwickelt, ohne diese Konzeption mit den jeweiligen Inhabern dieser Eigenschaften aber verbinden zu kön­ nen. Auch Euckens Einordnung der Thematik der Aristotelischen Freundschaftsbücher in den Gesamtzusammenhang seiner Werke ist schon früh übernommen und entsprechend der jeweiligen Unter­ suchungsperspektive auf die Auslegung der Freundschaft angewen­ det worden. Unter jenen Interpreten, die sich zu Beginn des Jahrhun­ derts vorwiegend mit dem Begriff der ^tUa bzw. mit dem des epmc; in der griechischen Philosophie in seiner »Vorläuferrolle« für das christliche Verständnis der Liebe in der Antike befaßten, stellte so der Begriff bei Aristoteles eine konkrete Entfaltung allgemeiner, in der Metaphysik bereits grundgelegter Prinzipien dar. Es mag ge­ nügen, sich in diesem Zusammenhang die Einschätzung Anders Nygrens zu vergegenwärtigen, nach der man sich hinsichtlich der Bedeutung des Erosgedankens bei Aristoteles »eigentlich nicht an seine Ethik, sondern an seine Metaphysik, speziell an seine Bewe­ 3 Ebd., S. 41. 4 Vgl. zu letzterem insbesondere den Beitrag von Rudolf Stark: Die aristotelische Wer­ tung der Philanthropie - In: Aristotelesstudien. Philologische Untersuchungen zur Ent­ wicklung der Aristotelischen Ethik (Zetemata 8). 2. Aufl. München 1972, S. 96-109. ^ 139

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Zweiter Teil: $iLog und

Aristoteles’ Theorie der Freundschaft

gungslehre« zu wenden habe.5 Wie andere, dieser Interpretation ver­ pflichtete oder jedenfalls ihr nahestehende Untersuchungen kann sie sich auf jene berühmt gewordenen Reflexionen in der Metaphysik des Aristoteles berufen, in denen er auf die Frage, wie das, was selbst vollkommen unbewegt ist, etwas anderes in Bewegung zu setzen ver­ mag, mit dem berühmten xlvel mg epmp,evov (Met. XII.7.1072 b 3) antwortet. Das Prinzip einer jeden Bewegung initiiert dieser Wen­ dung zufolge Prozesse vergleichbar der Art, wie der geliebte Gegen­ stand den Liebenden in Bewegung versetzt, durch das Verlangen, das geweckt wird. Eine andere, für das Verständnis der Freundschaftsbü­ cher ebenfalls immer wieder vorgenommene Einordnung ist jüngst durch Jacques Derridas rasch bekannt gewordenen Vortrag über »The Politics of Friendship«6, in dem auf die politische Herkunftslinie des Aristotelischen Freundschaftsbegriff verwiesen wird, erneut ins Be­ wußtsein einer größeren Leserschaft gerufen worden. Einen gänzlich anderen Interpretationsrahmen wird an die Freundschaftsbücher der Nikomachischen Ethik von jenen Vertre­ tern vorwiegend angelsächsischer Provenienz angelegt, die sich in ihren Untersuchungen vor allem auf die Frage konzentrieren, inwie­ fern die Aristotelische Bestimmung der ^lAta bestimmten Anforde­ rungen genügt, wie sie im Felde der Diskussion um Selbstinteresse 5 Anders Nygren: Eros und Agape. Gestaltwandlungen der christlichen Liebe. 2. Aufl. Gütersloh 1954, S. 123. In seiner Darstellung des Eros bei Platon und Aristoteles ist er weitgehend beeinflußt von der zuvor erschienenen Studie von Heinrich Scholz: Eros und Caritas. Die platonische Liebe und die Liebe im Sinne des Christentums. Halle 1929, S. 16. Auch Ernst Hoffmann, auf dessen Darstellung man sich in der Literatur zu den Aristotelischen Freundschaftsbüchern häufig verwiesen sieht, ordnet dort, wo er in sei­ nen Ausführungen über eine Paraphrase von NE VIII und IX hinausgeht, Aristoteles' Freundschaftskonzeption grundlegenden Begriffen der Metaphysik zu. Ernst Hoff­ mann: Aristoteles' Philosophie der Freundschaft. - In: Fritz-Peter Hager (Hg.): Ethik und Politik des Aristoteles. Darmstadt 1972, S. 149-182. (Zuerst erschienen in: August Faust: Festgabe für Heinrich Rickert zum 70. Geburtstag. Bühl, Baden 1933, S. 8-36). Vgl. etwa S. 169: »Schon aus dieser Aufzählung geht hervor, in welcher Art Aristoteles über die Freundschaft philosophiert ... Was er vorträgt, ist Substanzphilosophie, ange­ wandt auf das Liebenswerte«. Ähnlich Maria Fasching: Zum Begriff der Freundschaft bei Aristoteles und Kant. Würzburg 1990. Vgl. etwa S. 114: »Mit dem Begriff der Liebe kehrt Aristoteles somit zur Grundlage der Ethik in der Ontologie zurück, in deren Sinn das Sein als Gutes geliebt wird«. Vor dem Hintergrund dieser Zuordnung gelangt Fa­ sching zu ihrer These, daß am Aristotelischen Begriff der Freundschaft die »grundsätz­ liche Grenze eines an der Natur und nicht der Freiheit orientierten Begriffs des Men­ schen sichtbar« werde. Ebd., S. 12. 6 Jacques Derrida: The Politics of Friendship. - In: Journal of Philosophy 85 (1988), S. 632-644. 140

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und der Berücksichtigung der Interessen anderer Menschen an den Begriff einer selbstlosen Liehe gegenüber anderen Menschen zu rich­ ten wären. So kann man seit etwa zwei Jahrzehnten vor allem im angelsächsischen Sprachraum auf dem Gebiet der praktischen Phi­ losophie ein steigendes Interesse an der Beschäftigung mit dem The­ ma der Freundschaft verzeichnen. Noch lange vor Jacques Derridas Vortrag begegnet man sowohl in der Literatur zu Aristoteles als auch in sozialphilosophischen Erörterungen, die von der Aristotelischen Tugendethik ausgehen, einer zunehmenden Auseinandersetzung mit dem Thema der Freundschaftsverhältnisse. Diese Aufwertung der Freundschaftsverhältnisse als genuin moralische Phänomene mag insofern nicht verwundern, als die Freundschaft geradezu als ein klassisches Phänomen dafür zu stehen scheint, daß unabhängig von einem Überprüfungsverfahren, wie es eine an Kant orientierte Moralphilosophie vorsieht, aus persönlichen Beweggründen wie aus persönlichen Vorzügen7 heraus, dauerhafte Beziehungen sowohl im engen zwischenmenschlichen Bereich als auch im größeren sozial­ philosophischen Rahmen hervorgehen.8 In einem engen thematischen Zusammenhang mit dieser sozial­ philosophischen Untersuchungsperspektive steht zugleich eine ande­ re Frage, für die augenscheinlich die Aristotelischen Freundschafts­ bücher in besonderer Weise geeignet zu sein scheinen. Es ist die für die Erörterung der ^lAta im Allgemeinen, für die Freundschaft der 7 Unter solcherlei persönlichen Vorzügen ist etwa auch das Aristotelische Diktum zu subsumieren, es sei schlimmer, einem Kameraden Geld zu stehlen als einem Mitbürger, ebenso wie man eher einem Fremden als dem Bruder die Hilfe verweigern dürfte. Zu­ sammenfassend heißt es bei Aristoteles, daß das Recht »gleichzeitig mit der Freund­ schaft wächst, da es in demselben Bereich steht und sich gleich weit erstreckt.« (VIIL9.1159 a 5—8) Aristoteles-Zitate in Deutsch folgen, wenn nicht ausdrücklich an­ ders vermerkt, der Übersetzung von Olof Gigon, München 1972. 8 Für den zögerlichen Beginn einer Rezeption dieser philosophischen Diskussionen der Freundschaft als einem moralischen Phänomen spricht, daß die Deutsche Zeitschrift für Philosophie dieses Thema im 2. Heft im Jahre 1997 zum Schwerpunkt gemacht hat. Hier fndet man unter anderem in deutscher Übersetzung einen Auszug aus Lawrence A. Blums Buch »Friendship, Altruism and Morality«. London, Boston, Melbourne 1980. Vgl. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 45 (1997), S. 217—265 mit weiteren Literatur­ angaben. Parallel zu den verstärkten philosophischen Erörterungen erfreut sich die Er­ forschung des Freundschaftsthemas in den Reflexionen der Antike einer zunehmenden Aufmerksamkeit. Einen ausgezeichneten Literaturbericht zu diesem Thema findet man bei Alfons Fürst: Streit unter den Freunden. Ideal und Realität in der Freundschaftslehre derAntike. (Beiträge zurAltertumskunde, Bd. 85), Stuttgart, Leipzig 1996, S. 13 ff. Vgl. ferner David Konstan: Friendship in the Classical World. Cambridge 1997. ^ 141

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Zweiter Teil: $1^05 und $iAia: Aristoteles’ Theorie der Freundschaft

Tugendhaften im Besonderen konstitutive Frage nach dem, was es heißt, den anderen um seiner seihst willen zu liehen, statt ihn aus kontingenten und »eigensüchtigen« Gründen anzuerkennen. Gerade hinsichtlich dieser Frage drängt sich die Vermutung auf, daß die Aristotelischen Ausführungen üher die Freundschaft oftmals einen willkomenen Anlaß gehoten hahen, jene moralphilosophische Kon­ troverse zwischen Egoismus und Altruismus auf dem Felde der hegrifflichen Unterscheidungen fortzuführen, wie sie von Aristoteles zur Verfügung gestellt werden. Auch der naheliegende Einwand, Aristoteles hahe weder dem Begriff noch der Sache nach jemals das, was man herkömmlich unter altruistischen Strehungen fäßt, thema­ tisiert, kann nicht darüher hinwegsehen lassen, daß gleichwohl von Beginn an im Zuge der Erörterungen der Liehe eines Freundes um seinetwillen das achte und das neunte Buch der Nikomachischen Ethik wie schon zuvor die Endemische Ethik eine hestimmte Form des Strehens in einem zwischenmenschlichen Verhalten als mora­ lisch vorzüglich zu erweisen suchten, das zwar schlechterdings nicht als »selhstlos«, wohl aher im Gegensatz zu den Freundschaftsverhält­ nissen des Nutzens wie der Lust als angemessen gegenüher dem Freunde hezeichnet werden kann. Mit diesen heiden Aspekten, dem »sozialphilosophischen« wie dem der Verschränkung von Selhsthezug und Bezug zum Freunde, werden sich auch die folgenden Untersuchungen der Aristotelischen Freundschaftshücher zu hefassen hahen. Was die sozialphilosophi­ sche Komponente des Freundschaftshegriffs anhelangt, so stellen die Freundschaftshücher hekanntlich den vorrangigen Ort der Behand­ lung moralischer Fragen zwischenmenschlicher Beziehungen dar und werden deshalh gemeinhin auch als das sozialphilosophische Lehrstück der Aristotelischen Schriften hezeichnet.9 In der Tat zielen diese Erörterungen nicht auf freundschaftliche Beziehungen in dem engen Sinne, in dem sie heute in der Regel verstanden werden. Dies verdeutlichen hereits die einleitenden Ahsätze der Nikomachischen Ethik, die von der Feststellung ausgehen, daß Menschen in Gruppen der verschiedensten Größen lehen und darin hestimmt sind durch verschiedene Gemeinsamkeiten wie Verwandtschaft, Lokalität, Ge­ wohnheit und Anschauungen. Gewiß finden sich in diesen unter­ schiedlichen Weisen der Zusammengehörigkeiten von Menschen 9 Vgl. dazu James Opie Urmson: Aristotle's Ethics. Oxford 1988. Kap. 9: Social Relationships, S. 109-117. 142

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auch solche, die gefühlsmäßig gefärbt und durch die gegenseitige Vertrautheit bestimmt sind. Und diese Formen spielen, wie sich zei­ gen wird, in den Untersuchungen Aristoteles' auch deshalb eine gro­ ße Rolle, weil sie für den Menschen als soziales Wesen in besonderer Weise sinnstiftend zu sein scheinen. Doch umfaßt die Freundschaft, wie sie von Aristoteles als Thema eingeführt wird, ebenso enge, »in­ time« Bindungen wie übergeordnete Beziehungen in Gemeinschaf­ ten bis hin zu dem, was man im angelsächsischen Sprachraum die »civic friedship«10 nennt. Fragt man, was es sachlich rechtfertigt, daß derart verschiedene Formen des Zusammenlebens, wie sie von Aristoteles in seiner Theorie der ^iXta behandelt werden, unter einem Begriff subsumiert werden, so liegt die Annahme nahe, daß die Tragfähigkeit zwischenmenschlicher Beziehungen sowohl im Nahbereich dieser Beziehungen als auch im Makrogebilde der Polis thematisiert wird. Was die Verschränkung von Selbstbeug und Bezug zum anderen anbelangt, so kommt es im Zusammenhang der vorliegenden Unter­ suchung darauf an, zu zeigen, daß Aristoteles' Diskussion der Freundschaftsverhältnisse in der Nikomachischen Ethik bereits im­ plizit eine Theorie der Subjektivität als Selbstverhältnis enthält, eine Theorie, die freilich erst im nachfolgenden neunten Buch zum eige­ nen Gegenstand der Reflexion gemacht wird.11 Entscheidend für die Ausführungen im achten Buch ist die Einsicht, daß diese Struktur der Selbstbezüglichkeit am Phänomen der Freundschaft, die ihrem We­ sen nach nicht Angelegenheit eines einzelnen ist, abgelesen und erörtert wird. Darin ist enthalten, daß die konstitutiven Aspekte des Selbstverhältnisses erst dort zum Vorschein kommen, wo sie im Zu­

10 Vgl. dazu insbesondere John M. Cooper: Political Animals and Civic Friendship. - In: Günther Patzig (Hg.): Aristoteles' »Politik«. Akten des XI. Symposium Aristotelicum. Göttingen 1990, S. 221-241. 11 Auch Rudolf Eucken deutet diese Eigenheit der Aristotelischen Theorie der Selbst­ bezüglichkeit bereits in den Worten an, daß dem Philosophen Aristoteles »als das wahre Selbst des Menschen die Höhe seines Wesens [gilt], das Auszeichnende seiner Natur, die Vernunft in ihm. Er denkt daher bei der Behauptung des Selbst nicht an etwas, das die Menschen gegen einander abschließt, sondern an das, was sie einander verbindet«. Ari­ stoteles' Anschauung von Freundschaft und von Lebensgütern, S. 19. In dieselbe Rich­ tung geht auch Hans-Georg Gadamers Interpretation der Aristotelischen ^iXantia. Vgl.: Freundschaft und Selbsterkenntnis. Zur Rolle der Freundschaft in der griechischen Ethik. - In: ders.: Gesammelte Werke Band 7 (Griechische Philosophie III. Plato im Dia­ log). Tübingen 1991, S. 396-406. ^ 143

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Zweiter Teil: $iAog und $iAia: Aristoteles’ Theorie der Freundschaft

sammenhang zwischenmenschlicher Verhältnisse und der jeweils darin enthaltenen Form der Gegenseitigkeit interpretiert werden. Der Kenner des Aristotelischen uvre mag sich fragen, warum die nachfolgende Untersuchung der ^lAia nur am Rande auch andere Schriften miteinhezieht. In einer solchen Vorgehensweise zeigen sich zwei wichtige Dinge. Zum einen liegt diesem Vorgehen die Annahme zugrunde, daß die Nikomachische Ethik schon aus sich heraus, auch ohne eine Kenntnis von Aristoteles' Texten zu Wissenschaftstheorie, zu Naturphilosophie und der sogenannten Metaphysik verständlich ist. Zum anderen kann man in einer solchen Darstellung eine Ein­ lösung des heute erhohenen Anspruchs sehen, gemäß der eine jede ernstzunehmende Ethik sich als eine »Ethik ohne Metaphysik« zu erweisen hahe. Gerade das Ziel, eine Darstellung des Prohlems der ^lAia zu liefern, läßt ein Vorgehen angemessen erscheinen, das sich zunächst an den einzelnen Aussagen und Behauptungen des Textes orientiert, wohei es dem Duktus der Ausführungen des Aristoteles folgt. Den­ noch ist mit diesem Verfahren mehr heahsichtigt als eine Art von Kommentar zu den Freundschaftshüchern, der sich vorwiegend um die Klärung philologischer und historischer Unklarheiten hemüht. Ohne den Wert der Behandlung philosophischer Texte mit Hilfe phi­ lologischer Methoden in Ahrede stellen zu wollen, wie es gerade im Blick auf die Freundschaftshücher eine Vielzahl giht, wird auf solche philologische Ahhandlungen im Rahmen der vorliegenden Arheit nur am Rande verwiesen. Im Vordergrund steht das Bemühen, nicht nur Erkenntnisse üher hestimmte Zusammenhänge des Textes zu formulieren, son­ dern die im Text enthaltenen Einsichten zugleich auf den in ihnen hehaupteten Wahrheitsgehalt zu üherprüfen. Ein solcher Anspruch wird sich nur dann erfüllen lassen, wenn auch hestimmte Zusatzhedingungen mit herücksichtigt werden, von denen im Text des öfte­ ren nicht explizit die Rede ist, die jedoch zu seinem Verständnis un­ umgänglich sind. Nur in sehr wenigen Fällen findet sich in diesen wie anderen Texten des Aristoteles auch ein Hinweis, aus dem sich ent­ nehmen läßt, warum er gerade so und nicht anders für hestimmte Behauptungen argumentiert. Einem Interpreten hleiht eine entspre­ chende Rekonstruktion ehenso üherlassen wie die Erschließung der Sache, von der jeweils die Rede ist. Gerade aher weil es nicht in jedem Fall ohne weiteres und selhstverständlich vorausgesetzt werden kann, von welcher Art eigentlich die Sache ist, auf die sich der Text 144

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bezieht, erscheint ein solche Reflexion auf die Zusatzbedingungen des Textes als dringend erforderlich, um angemessen über den Wahr­ heitsanspruch der einzelnen Einsichten auch urteilen zu können. Was den Aufbau der beiden Freundschaftsbücher anbelangt, so folgen sie unserer Annahme zufolge einem präzisen Plan. Nach einer Einleitung werden verschiedene Formen der Freundschaften klassi­ fiziert (bis einschließlich VIII.14), bevor Aristoteles in den beiden abschließenden Kapiteln des achten und den ersten drei Kapiteln des neunten Buches die Frage erörtert, wie in der Freundschaft unter Gleichen bzw. der Freundschaft unter ungleichen Menschen die Vor­ stellung der Reziprozität aufrechterhalten werden kann. Die Kapitel IX.4-IX.9 enthalten die stufenweise Entfaltung der Theorie der Selbstliebe, die im abschließenden Kapitel in der Frage kulminiert, inwiefern der glückliche Mensch der Freunde bedarf. Es liegt in der Konsequenz des Gesagten, daß bei den folgenden Textinterpretationen eine durchgängige und detaillierte Auslegung zusammenhängender Argumentationsgänge unternommen wird. Nach den Voruntersuchungen zur Bedeutungsanalyse der ^iXta zu Beginn der Nikomachischen Ethik soll eine Interpretation von NE VIII.2 zeigen, wie Aristoteles auf dem Wege einer Reflexion über die Referenzobjekte der freundschaftlichen Zuneigung (^lA/qOLc;), näm­ lich die unterschiedlichen Gestalten des Liebenswerten (^iXqTÖv), zur Distinktion der drei Arten der Freundschaft gelangt. Ausgehend von dieser Erkenntnis soll dann die Aristotelische Freundschaftslehre als eine Theorie der Reziprozität interpretiert werden. Besondere Aufmerksamkeit verlangt dabei der Umstand, daß diese Konzeption stets einen impliziten Bezug auf das Selbst voraussetzt, der allerdings erst in den nachfolgenden Kapiteln des neunten Buches, insbesondere in IX.4 und IX.8 explizit gemacht wird. Die Selbstbezüglichkeit, wie sie Aristoteles nunmehr in der Untersuchung der Analogie von Selbstbezug und Bezug zu anderen thematisiert, steht im Horizont seiner Theorie der Reziprozität. Dies belegt auch die abschließende Interpretation der Aristotelischen Diskussion der Autarkie des guten Menschen in IX.9. In dieser Hinsicht, so unsere These, enthält bereits das erste der beiden Freundschaftsbücher Ansätze zu einer Theorie der Subjekti­ vität als Selbstverhältnis.12 Für die Aristotelische Theorie der Subjek­ 12 Um nochmals Eucken zu zitieren: »Dem Philosophen [gemeint ist Aristoteles, PS] gilt als das wahre Selbst des Menschen die Höhe seines Wesens, das Auszeichnende seiner ^ 145

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Zweiter Teil: $iLog und $iAia: Aristoteles’ Theorie der Freundschaft

tivität als Selbstbezug, wie sie in den Freundschaftsbüchern entwikkelt wird, sind dabei zwei Annahmen entscheidend. Zum einen han­ delt es sich hierbei offenkundig um eine Theorie, die sich an einer Interpretation menschlicher Handlungen bzw. deren Motive und Be­ weggründe orientiert. Lust-, Nutzen- und Tugendfreundschaften kommen jeweils darin überein, daß sie einen bestimmten Beweg­ grund menschlichen Verhaltens gegenüber anderen thematisieren. Dies schließt zwar, wie insbesondere in der Erörterung der Aristote­ lischen Theorie der Selbstliebe zu zeigen sein wird, einen affektiven Selbstbezug nicht aus, doch wird dieser stets nur gleichsam in der Folge und an dem jeweiligen Verhalten gegenüber anderen »abge­ lesen«. Die zweite Annahme läßt sich am systematischen Aufbau der Freundschaftsbücher festmachen. In allen drei Ethiken wird der Be­ handlung der Selbstliebe jeweils die Untersuchung der verschiedenen Freundschaftsverhältnisse vorausgeschickt. Diese Anordnung mag ein erster Hinweis darauf sein, daß die Erörterung der Selbstliebe sachlich nur im Rahmen interpersonaler Beziehungen möglich ist. Erst von den gelungenen zwischenmenschlichen Bezügen ausgehend überträgt Aristoteles in der Endemischen wie in der Nikomachischen Ethik die grundlegenden Charakteristika in der Folge auch auf intra­ personale Bezüge. Die nunmehr einsetzende Beschreibung der Selbstliebe bedeutet freilich keineswegs, daß man sie gleichermaßen unabhängig und losgelöst von interpersonalen Bezügen interpretie­ ren dürfte. Aristoteles' Theorie der Subjektivität als Selbstverhältnis steht und fällt vielmehr mit der an interpersonalen Bezügen abge­ lesenen Charakteristika. Daraus folgern zu wollen, daß Aristoteles konstitutive Momente eines Selbstverhältnisses unberücksichtigt ge­ lassen hätte, wäre jedoch verfrüht. Gerade ein Blick auf seine Unter­ scheidungen der Nutzen- und Lustfreundschaft von jener der Tu­ gendhaften vermag dies zu zeigen. Bevor Aristoteles im neunten Buch der Nikomachischen Ethik die Selbstliebe zum Thema der philosophischen Ethik macht, hat er zuvor bereits in der Diskussion der verschiedenen Freundschaftsfor­ men und damit in interpersonalen Verhältnissen die grundlegende Struktur jener Wertschätzung des Anderen um seiner selbst willen Natur, die Vernunft in ihm. Er denkt daher bei der Behauptung des Selbst nicht an etwas, das die Menschen gegen einander abschließt, sondern an das, was sie einander verbindet.« Eucken: Aristoteles' Anschauung von Freundschaft, S. 19. 146

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entwickelt. Mit einem gewissen Recht läßt sich behaupten, daß die Erörterung der Selbstliebe der Diskussion zwischenmenschlicher Be­ ziehungen nachfolgt, und parallel zu ihr entwickelt wird. Anders for­ muliert: Was die wahre Selbstliebe darstellt, läßt sich angemessen erst verstehen, wenn zuvor in interpersonalen Verhältnissen die Lie­ be des anderen um seiner selbst willen dargestellt wurde. Dement­ sprechend gilt es zunächst Aristoteles' philosophische Theorie der Freundschaft zu diskutieren, um im nächsten Abschnitt die Erörte­ rung der Selbstliebe anzugehen. Es soll dabei von der Fassung der Nikomachischen Ethik ausgegangen werden, die Endemische Ethik stellenweise zum Vergleich herangezogen werden13 und die in ihrer Echtheit nach wie vor umstrittene Magna Moralia14 nur ergän­ zungsweise berücksichtigt werden. 13 Hinsichtlich der Darstellung der verschiedenen Freundschaftsformen und ihrer je­ weiligen Charakterisierung finden sich unterschiedliche Akzentuierungen in der EE und der NE. Vgl. zu den technischen Details die Erörterungen bei William W. Fortenbaugh: Aristotle's Analysis of Friendship: Function and Analogy Resemblance, and Focal Meaning. - In: Phronesis 20 (1975), S. 51-62; ferner A. D. M. Walker: Aristotle's Account of Friendship in the Nicomachean Ethics'. - In: Phronesis 24 (1979), S. 180­ 196. Die Endemische Ethik wird heute weithin als echt und in der Regel als erste ethi­ sche Pragmatie des Aristoteles anerkannt. Gelegentlich, wie etwa bei Anthony Kenny, wird ihr sogar der Vorrang vor der Nikomachischen Ethik eingeräumt. Vgl. dazu seine Monographie: The Aristotelian Ethics. A Study of the Relationship between the Eudemian and Nicomachean Ethics. Oxford 1978, bes. S. 215-220 und S. 225-230. Anders hingegen Christopher J. Rowe: The Eudemian and Nicomachean Ethics: A Study in the Development of Aristotle's Thought. - In: Proceedings of the Cambridge Philological Society. Suppl. Vol. III, 1971. Zur Diskussion siehe Friedo Ricken: Die Rehabilitierung der EE. - In: Philosoph. Rundschau 29 (1982), S. 251-265. 14 Die Authentizität der Magna Moralia verteidigt Hans von Arnim: Die drei Aristote­ lischen Ethiken. Akademie der Wissenschaften in Wien, Phil.-histor. Kl. Sitzungsberich­ te, 202. Band, 2. Abhandlung. Wien, Leipzig, Berlin 1924, S. 96-124. (Nachdruck Am­ sterdam 1967), S. 37-71. Franz Dirlmeier (Aristoteles: Magna Moralia. Berlin 1958, S. 113-147), der zuletzt ihre Echtheit verteidigt, räumt aufgrund des sprachstatistischen Materials ein, daß sie in »ihrer schriftlich niedergelegten Form von einem unbekannten Peripatetiker stammen muß« (S. 153). Mit anderen Argumenten als Dirlmeier vertei­ digt diese ethische Pragmatie John M. Cooper: The Magna Moralia and Aristotle's Mo­ ral Philosophy. - In: American Journal of Philology 94 (1973), S. 327-349. Vgl. dazu aber die Erwiderungen von Christopher J. Rowe: A Reply to John Cooper on the Magna Moralia. - In: American Journal of Philology 96 (1975), S. 160-172. Für gewöhnlich wird die Magna Moralia als eine Sammlung von Lehrmeinungen angesehen, die nach Aristoteles' Tode zusammengestellt wurde. Vgl. dazu den knappen Überblick bei Rene Antoine Gauthier, Jean Yves Jolif: L'Ethique a Nicomaque. Introduction, traduction et commentaire. 2. Aufl. Louvain, Paris 1970, S. 93-98, sowie Günter Widmann: Autarkie und Philia in den Aristotelischen Ethiken. Diss. phil. Tübingen 1967, S. 7-23. ^ 147

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Zweiter Teil: $tXog und $iXta: Aristoteles’ Theorie der Freundschaft

2.1.1 Die Mehrdeutigkeit der ^iXta und ihre Aporien Im ersten Kapitel des achten Buches wendet Aristoteles ein Verfah­ ren an, dessen er sich auch in anderen Zusammenhängen öfters be­ dient, indem er zunächst nach den vorherrschenden plausiblen An­ sichten (evöo^a) der Leute zum betreffenden Thema fragt und diese auflistet. Eröffnet wird die Behandlung des Themas der Freund­ schaftsbücher mit einer Bemerkung, die wohl auf die Bestimmung des gelungenen Lebens, der ehhaipovta,15 zurückverweist und damit die Notwendigkeit einer Erörterung der ^iXta im Rahmen der mo­ ralphilosophischen Ausführungen hervorhebt.16 Aristoteles führt als Begründung für die Untersuchung zwei Überlegungen an, auf die er im weiteren Verlauf seiner Ausführungen zurückkehren wird. Zu­ nächst, so heißt es, ist die Freundschaft eine Tugend oder stehe doch in einem engen Zusammenhang mit ihr; außerdem zähle die Freund­ schaft zu den notwendigsten Gütern des menschlichen Lebens.17 15 Diese Übertragung scheint im Blick auf die Verwendung des Ausdrucks bei Aristote­ les geeigneter zu sein als durch das Wort »Glück«. Zum einen, weil »Glück« die Konnotation des Unverfügbaren mit sich führt, die Aristoteles zwar ebenfalls kennt (vgl. dazu IX.9.1169 b 7 f.), ohne daß sie im Vordergrund steht. Zum anderen geht es Aristo­ teles in ihrer Bestimmung nicht um die Beschreibung einer Verfassung, sondern um eine bestimmte Tätigkeit des Menschen. Vgl. dazu auch Anselm W. Müller: Praktisches Folgern und Selbstgestaltung nach Aristoteles. Freiburg, München 1982, S. 138 f. 16 Vergleichbar dem Eingang dieser Vorlesung über die ^iXta sind die Darlegungen in EE VII.1. Vgl. Erenbert J. Schächer: Studien zu den Ethiken des corpus Aristotelicum II: Quellen- und problemgeschichtliche Untersuchungen zur Grundlegung der ^iXtaTheorie bei Aristoteles und im frühen Peripatos (Studien zur Geschichte und Kultur des Altertums. Bd. XXII 2). Paderborn 1940. Schächers Beurteilung der EE ist freilich fragwürdig. 17 eati yd@ d^et^ tig ^ ^et5 d^et^g, eti ö5 dvayxaiotatov elg tov ßtov. (1155 a 3-5) Vgl. EE 1234 b 34 sowie Pol. II.4.1262 b 7. Es ist nicht eindeutig zu unterscheiden, in welchem Sinn der Superlativ hier zu deuten ist. »Notwendig« kann nach Aristoteles soviel bedeuten, wie etwas, das um eines anderen willen wünschenswert ist (vgl. X.6.1176 b 2). So versteht Michael Pakaluk den Ausdruck an dieser Stelle. Er kann je­ doch auch in einem »absoluten« Sinne aufgefaßt werden. Vgl. dazu etwa das Ende des zweiten Kapitels der Topik: »Ferner, was an sich schöner (sittlich besser), würdiger und lobenswerter ist; so Freundschaft mehr als Reichtum, Gerechtigkeit mehr als Stärke. Denn das eine gehört an sich zu dem Würdigen und Lobenswerten, das andere nicht an sich, sondern eines anderen wegen. Niemand schätzt den Reichtum seinet-, sondern eines anderen wegen, aber die Freundschaft schätzt man an sich, wenn man sich auch sonst keinen Vorteil von ihr verspricht.« (Top. III.3.118 b 3-9). Michael Pakaluk, dessen Kommentarband zu den Freundschaftsbüchern der NE 1998 in der Reihe der Oxforder Aristoteles-Kommentare erschien, möchte ich an dieser Stelle für die Vielfalt von An­ regungen danken, die ich durch den Austausch mit ihm erhielt. Seiner Interpretation 148

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Zugunsten der letzteren Behauptung wird im Folgenden (a 5­ 16) angeführt, daß keiner ohne Freunde leben möchte. Selbst begü­ terte und in der politischen Verantwortung stehende Menschen bedürfen der Freunde, um ihnen gute Taten erweisen zu können. Der hohe Stellenwert der Freundschaft (weshalb sie von Aristoteles wohl auch zum Notwendigsten im Leben gerechnet wird), ist darin zu sehen, daß sie für jede Phase des Lebens - für die Jugend wie für das Alter - erforderlich ist.18 Als weitere plausible Ansichten, die das Eingangskapitel anführt, werden zum einen genannt, daß die Freundschaft dem Er­ zeuger gegenüber dem Erzeugten von Natur innezuwohnen scheint, was nicht nur für Tiere, sondern in besonderer Weise für Menschen zutrifft (a 16-19); zum anderen bildet die Freundschaft die Grund­ lage für die Gemeinschaft der Staaten (a 22); ferner bedarf man dort, wo Freundschaft besteht, keiner Gerechtigkeit (a 26-26) und schließ­ lich trägt die Freundschaft folglich mehr als die Gerechtigkeit zur Moral bei (a 28). Auf die zuletzt genannten Aspekte der ^lAta kommt Aristoteles gegen Ende des achten Buches in den Kapiteln 14-16 zu sprechen. Hier wird ebenso die ^lAta in Verwandtschafts­ verhältnissen thematisiert als auch ihr Modellcharakter für die poli­ tischen Staatsformen der Aristokratie, der Demokratie sowie der Timokratie erörtert. Aus diesen kurzen einleitenden Bemerkungen zum Erfordernis, die ^lAia im Rahmen der Ethik zu behandeln, wird soviel schon deut­ lich, daß sie weit über die Klärung bestimmter zwischenmenschlicher verdanke ich viel, auch dort, wo ich mich seinen Überlegungen nicht anzuschließen vermag. 18 Bereits das erste Buch der NE hatte das Thema der Freundschaft am Rande als eines der Güter des menschlichen Lebens erwähnt. Im Rahmen der Einteilung in »äußere«, »körperliche« und »seelische« Güter, wie sie Aristoteles hier im achten Kapitel vor­ nimmt, werden die seelischen Güter als »die eigentlichen und die hervorragendsten« dargestellt (I.8.1098 b 12). Obwohl nun die Tugend das höchste der seelischen Güter ist, reicht sie dennoch für sich allein genommen nicht für ein gelungenes Leben aus. Gerade um ein Leben gemäß der d^et^ zu leben, bedarf es auch der äußeren Güter. In diesem Zusammenhang ist die Rede auch von den Freunden, von denen es zunächst heißt, sie seien, ähnlich wie Reichtümer oder Macht, »Werkzeuge«, durch die man vieles errei­ chen könne. Über diesen instrumentellen Zweck freundschaftlicher Beziehungen hinaus wird wenig später ein weiterer Sinn der Freundschaft geltend gemacht, der diese als unentbehrlich für das gelungene Leben betrachtet. Wir werden auf diese Passage bei der Behandlung von NE IX.9 zurückkommen. Zu dieser Anmerkung vgl. Nancy Sher­ man: The fabric of character. Aristotle's theory of virtue. Oxford 1989, S. 126. ^ 149

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Beziehungen hinaus den genuinen Ort der Aristotelischen Sozialphi­ losophie darstellt. Daß der Ausdruck 91X1« ein umfangreiches Spek­ trum von Bedeutungen umfaßt, der sich im Deutschen mit »Freund­ schaft« (hzw. in anderen westeuropäischen Sprachen mit friendship, amitie, amicizia etc.) nur unzureichend wiedergehen läßt, ist hin­ länglich bekannt.19 Freundschaft, 91X1«, meint weit mehr als etwa eine mehr oder weniger vertraute Beziehung unter Personen. Eben­ sowenig akzentuiert der griechische Ausdruck bereits jene Vor­ stellung der individuellen Besonderheit des Freundes, wie sie dem modernen Sprachgebrauch zugrundeliegt.20 Der griechische Aus­ druck - darauf verweisen die einleitenden Bemerkungen von NE VIII.1 - dient im ursprünglichen Sinne ebenso zur Umschreibung von Verwandtschaftsverhältnissen21, wie er auch für Beziehungen 19 Aus der umfangreichen Literatur zum Thema der Freundschaft in der Antike sei insbesondere auf die ebenso umfassende wie präzise Studie von David Konstan verwie­ sen: Friendship in the Classical World. (Key Themes in Ancient History ed. by P. A. Cartledge and P. D. A. Garnsey). Cambridge 1997. Vgl. ferner die mit umfangreichen Literaturangaben versehene Studie von Alfons Fürst: Streit unter Freunden. Ideal und Realität in der Freundschaftslehre der Antike. Stuttgart, Leipzig 1996. 20 Als Beispiel eines solchen modernen Freundschaftsverständisses, das sich gleicherma­ ßen durch die besondere Individualität des Freundes als auch durch die Vertrautheit der Beziehung konstituiert, mag der 28. Essay von Montaigne zitiert werden: Hier schreibt Montaigne im Blick auf seine Freundschaft mit Etienne de la Boetie: »Aber in einer Freundschaft, wie ich sie meine, geht eine so vollständige Verschmelzung der zwei See­ len miteinander vor sich, daß an dem Punkte, wo sie sich treffen, keine Naht mehr zu entdecken ist. Die Zweiheit ist verschwunden. Wenn ich sagen soll, warum ich ihn so lieb hatte, kann ich mein Gefühl nur in die Worte kleiden: >Weil er es war; weil ich es warc« (Michel de Montaigne: Essais. Auswahl und Übers. von Herbert Lüthy. 5. Aufl. Zürich 1984, S. 225). Die besondere Individualität des Freundes, wie sie in der affektiven Zuneigung zu ihm erfahren wird, ist dabei noch unabhängig von seinenjeweiligen Cha­ raktereigenschaften und kann auf diese nicht zurückgeführt werden. Elizabeth Telfer kommt dieser Vorstellung sehr nahe, wenn sie in ihren »passions of friendship« von jener affektiven Zuneigung zum Freunde als einem »desire for another's welfare and happiness as a particular individual« spricht und weiter ausführt, »[this affection] does not seem to have any necessary connexion with the particular character of him for whom it is felt. If asked to explain why we are fond of someone, we may mention characteristics in him which stimulate affection, but it makes equally good sense to give an historical explanation. [...] Affection is in this sense irrational, and because of this may survive radical changes in the character of its object.« Elizabeth Telfer: Friendship. In: Proceedings of the Aristotelian Society 71 (1970/71), S. 223-241, hier S. 224. 21 Vgl. Franz Dirlmeier: Philos und philia im vorhellenistischen Griechentum. Diss. phil. München 1931. Nach Dirlmeier ist das zugrundeliegende Adjektiv 91X05 ein Aus­ druck, das auf den eigenen Besitz hinweist. So sindbei Homer die 91X01 jene Menschen, die zu jemanden gehören: die Meinen, die Seinen: die Frau ist demzufolge 9tXq 150

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im soziologischen wie politischem Raum steht.22 Und ebenfalls lassen sich darunter Geschäftsbeziehungen, Reisegesellschaften wie Mit­ gliedschaften in politischen Parteien oder anderen Vereinigungen subsumieren. Auf diese Mehrdeutigkeit des Begriffs der ^iXta, die sich im Deutschen weder durch den Ausdruck »Freundschaft« noch den der Liebe angemessen wiedergeben läßt, weist Aristoteles selbst hin, wenn er im ersten Kapitel eine Reihe von Beispielen anführt, in denen von Freundschaft in einem weiteren Sinne die Rede ist. Frei­ lich verwendet man auch im Deutschen den Ausdruck »Freund­ schaft« nicht nur im Blick auf gleichsam »intime«, interpersonale Beziehungen. Die Rede von »Geschäftsfreunden« suggeriert kei­ nesfalls eine zwischenmenschliche Freundschaft, eher schon ein Ver­ trauensverhältnis hinsichtlich bestimmter Belange, wie sie sich innerhalb eines konkreten, gemeinsamen Wirkungs- und Betäti­ gungsfeld ergeben. Und ebenfalls ist von »Freundschaft« in einem weiteren Sinne etwa dann die Rede, wenn ein Parteivorsitzender die Mitglieder seiner Partei als »Freunde« anspricht. Dies rechtfertigt, daß wir im Folgenden den griechischen Ausdruck ^iXta mit dem deutschen Ausdruck »Freundschaft« wiedergeben. Zu beachten bleibt bei dieser Übertragung, daß Aristoteles in der Untersuchung der Freundschaftsbücher durchaus den gesamten Bereich zwischen­

(»Freundin«) ihres Mannes, nicht weil er sie liebt, sondern weil er sie in sein Haus genommen hat und sie zu ihm gehört. Zur Genese des Ausdrucks ^iXta sowie zu seiner Bedeutungsvielfalt siehe insbesondere die Ausführungen von Gauthier/Jolif II, S. 655­ 658. Ferner Arthur William Hope Adkins: Merit and Responsability. Repr. d. Ausg. Oxford I960. Chicago u.a. 1975, Kapitel XVI sowie ders.: >Friendship< and >Self-Sufficiencyc in Homer and Aristotle. - In: The Classical Quarterly 13 (1963), S. 30-45. 22 EN IX.1.1155 a 22f.: eoixe öe xal tag ^oXeig anvexeiv ^ ^iXta (»Außerdem scheint die Freundschaft die Staaten beisammenzuhalten«). In Bezug auf diese Stelle und die weiteren Ausführungen in VIII.14-16 finden sich vorwiegend in der angelsächsischen Literatur eine Vielzahl von Untersuchungen zur sogenanten »civic friedship«. Vgl. dazu John M. Cooper: Aristotle on the Forms of Friendship. - In: Review of Metaphysics 30 (1976/77), S. 619-648; hier S. 620 und S. 645 ff. Sowie ders.: Political Animals and Civic Friendship. - In: G. Patzig (Hg.): Aristoteles' »Politik«. Akten des XI. Symposium Aristotelicum. Göttingen 1990, S. 221-241. Terence Irwin: The Good of Political Activity. In: G. Patzig (Hg.): Aristoteles' »Politik«. Akten des XI. Symposium Aristotelicum. Göttingen 1990, S. 73-98. Paul Schollmeier: Other Selves. Aristotle on Personal and Political Friendship. State University of New York 1994. Judith A. Swanson: The Public and the Private in Aristotle's political Philosophy. Ithaka/London 1982. J. Hook: Friendship and Politics in Aristotle's Ethical and Political Thought. B. A. Thesis. Harvard University 1977. ^ 151

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menschlicher Beziehungen vor Augen hat.23 Ein ähnlich weites Be­ deutungsspektrum wie der ^iXta kommt dem Verh »liehen« {^iXetv} zu. Einzig und allein das Suhstantiv »Freund«, 91I05, scheint Aristo­ teles in einem engeren Sinne zu verwenden.24 Angesichts der von Aristoteles eingangs erwähnten Bedeu­ tungsvielfalt des Ausdrucks ^iXta erheht sich nun die Frage, was es sachlich zu rechtfertigen vermag, mit ein und demselhen Ausdruck derart divergierende Formen des menschlichen Zusammenlehens, angefangen von Beziehungen zwischen Mann und Frau üher die Freundschaft der Guten his hin zu Beziehungen von Menschen in einem Gemeinwesen, zum Gegenstand einer moralphilosophischen Untersuchung zu machen. Einiges spricht dafür, daß es in der Unter­ suchung der ^iXta um alle nur denkharen Formen des wirkenden Zusammenlehens von Menschen geht: Es geht mithin um zwischen­ menschliche Beziehungen aller Art, wohei im Vordergrund die Frage steht, wie es in den jeweiligen Formen um ihre Konsistenz und Trag­ fähigkeit hestellt ist. Nicht oh Freunde ein erstrehenswertes Gut sind, steht zur Dehatte, denn hierin kann sich Aristoteles nicht nur auf einen weitgehenden Konsens herufen; es scheint darüherhinaus zu jenen unaufgehharen Bezügen zu gehören, in denen ein Mensch von Beginn seines Lehens an steht. Zum anderen ist zu untersuchen, 23 Was also in der 9iXia erörtert wird, sind insonderheit jene Formen menschlichen Zusammenlehens, in denen in irgend einer Weise eine Zugehörigkeit auf dem Spiel steht. Price (Love and Friendship in Plato and Aristotle. Oxford 1989, S. 159 f.) faßt 9iXia als »positive interaction hetween human heings«. Ähnlich John M. Cooper: Ari­ stotle on Friendship. - In: Amelie O. Rorty (Hg.): Essays on Aristotle's Ethics. Berkeley 1980, S. 301-340. Martha Nusshaum umschreiht 9iXia als ein »desinterested henefit, sharing, and mutuality«. Martha C. Nusshaum: The Fragility of Goodness. Camhridge 1986, S. 354. Catherine Oshorne (Eros unveiled. Plato and the God of Love. Oxford 1994, hes. S. 139-163; hier S. 143) schlägt hezugnehmend auf die Aristotelische Rede von den etai^oi (1159 h 32; 1160 a 2 und 1160 a 5) vor, 9iXia mit Kameradschaft, 91X05 mit »ally« zu ühersetzen. Wenn der Ausdruck 9iXia im Folgenden mit Freundschaft statt mit »Liehe« ühersetzt wird, gilt zu heachten, daß »Freundschaft« nach Aristoteles ehen auch Beziehungen wie jene zwischen Mann und Frau, zwischen Eltern und Kin­ dern suhsumiert. 24 So heißt es in der EE VII.4.1239 a 4-6 nach der Unterscheidung der drei Freund­ schaftsformen, die jeweils unterteilt werden können in jene der Gleichheit oder Üherlegenheit: 9iXiai ^ev onv d^ote^ai, ^iXoiö’oi xatd t^v laotpta; dto;rcov yd@ dv eip et dv^£ rtaiöiw 91XO5, 9iXet öe ye xal ^iXettai (»Beides nun sind Freundschaften, Freunde aher sind nur die, deren Basis die Gleichheit ist. Denn es wäre ahsurd, wenn ein Mann eines Kindes Freund sein sollte; immerhin aher lieht er und wird [wieder] gelieht«). 152

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welcher Art diese Freundschaft ist und sein sollte, damit sie - hegründetermaßen - als ein erstrehenswertes Gut vom einzelnen Men­ schen hejaht werden kann. Was nun zu Beginn des zweiten Kapitels des achten Buches folgt, ist eine Auflistung der wichtigen Aporien (dnoptai) der Freundschaft, deren Lösung eine eingehende Behandlung des The­ mas erforderlich macht. Als erstes Prohlem taucht dahei die Frage auf, oh Menschen, die zu Freunden werden, notwendigerweise gleichgeartet sein müssen oder oh es sich nicht vielmehr so verhält, daß entgegengesetzte Charaktere sich anziehen. Für die eine wie für die andere Auffassung lassen sich Sprichwörter wie Zitate aus Dich­ tungen anführen, ja für heide Positionen dieser Auseinandersetzung kann sich Aristoteles auch auf unterschiedliche, sich widersprechende »grundsätzliche« Erklärungen der Vorsokratiker Euripides, Heraklit und Empedokles herufen.25 Er selher wird erst im zehnten Kapitel für diese Aporie einen Lösungsweg vorschlagen.26 Daß die Frage nach Freunden als einem notwendigen Gut für das eigene Lehen eine spezifische Frage der praktischen Philosophie dar­ stellt, deren Beantwortung nicht von der Metaphysik her, sondern nur auf der Grundlage der Erfahrungen des Menschen und in Aus­ einandersetzung mit ihrem Niederschlag in den vorherrschenden Ansichten erfolgen kann, stellt Aristoteles im Anschluß an diese lose Aneinanderreihung von Dichterzitaten und Ansichten der Vorsokratiker fest. Gegenüher den »naturphilosophischen« Erklärungsver­ suchen der Freundschaft soll sich die Untersuchung auf jene »kon­ kreten« Fragen heschränken, die den Menschen, und d. h. seinen Charakter und seine Gefühle, hetreffen.27 Aporien, die in diesem Zu­ sammenhang auftauchen, sind Fragen wie jene, oh man auch mit 25 Wir sahen, wie hereits Platon im Lysis sich eingangs auf eine Auseinandersetzung mit Dichterauffassungen hezog. (Vgl. ohen, Ahschnitt 1.1.3). In der EE führt Aristoteles in der Auflistung der Aporien zur Freundschaft noch eine Reihe weiterer Zitate aus Dichtungen an. Belegstellen für diese Zitate finden sich hei Franz Dirlmeier: Philos und philia. Ferner Jean-Claude Fraisse: Philia. La notion d'amitie dans la philosophie antique. Paris 1974. 26 Vgl. VIII.10.1159 h 2-24. 27 oaa ö eatlv dvö^wmxd xal dvqxei etg td qöq xai td ^döq (1155 h 9-10). Diese Zurückweisung naturphilosophischer Spekulationen wird in VIII.11.1159 h 24 wieder­ holt. Dirlmeier sieht darin eine Parallele zum Platonischen Vorgehen im Lysis (vgl. Kommentar zu NE S. 510 zu 171, 2 und S. 523 zu 182, 5). Allerdings ist zu herücksichtigen, daß Aristoteles die ganze metaphysische Spekulation um das erste Liehenswerte ausklammert. ^ 153

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moralisch verwerflich handelnden Menschen Freundschaft schließen kann, ferner oh es eine oder mehrere Arten der Freundschaft gibt (1155 h 10-26). Die erste dieser beiden Aporien wird Aristoteles im fünften Kapitel einer Lösung zuführen.28 Er argumentiert dort, wie zu zeigen sein wird, daß eine solche Beziehung nur in begrenzter Hinsicht möglich ist. Insofern schlechte Menschen in sich unbestän­ dig sind, kommen sie auch für eine dauerhafte Freundschaft nicht in Frage. Wenn von einer Freundschaft unter Schlechten die Rede ist, dann kann dies allenfalls in dem Sinne gelten, daß sie sich gegen­ seitig in bestimmter Hinsicht von Nutzen hzw. angenehm sind.29 Ebenso wie die Frage, ob die Schlechten untereinander befreun­ det sein können, ist offensichtlich auch die Aporie, ob es eine Art (eL8o5) der Freundschaft gibt oder mehrere, auf Diskussionen in der Platonischen Akademie zurückzuführen. Diese Dinge, so Aristoteles, seien bereits früher besprochen worden.30 28 Vgl. VIII.5.1157 a 16-20, b 1-5. 29 Daß Aristoteles gegenüber der Platonischen Einzigkeitsthese im Lysis (214 d 3-7), wonach allein der gute Mensch mit anderen befreundet sein kann, der schlechte hin­ gegen weder mit seinesgleichen noch mit dem guten Mensch befreundet sein kann, in seiner Erörterung der ^iXia an der Vielfalt ihrer konkreten Erscheinungsformen fest­ halten will, darauf haben bereits Hans J. Krämer (Arete bei Platon und Aristoteles. Zum Wesen und zur Geschichte der platonischen Ontologie. 1959, S. 552) und Konrad Gaiser (Platons ungeschriebene Lehre. Studien zur systematischen und geschichtlichen Be­ gründung der Wissenschaften in der Platonischen Schule. Stuttgart 1963, S. 308 ff.) hingewiesen. Günther Bien (Die Grundlegung der politischen Philosophie bei Aristote­ les. Freiburg, München 1973, S. 97f., Anm. 35) kritisiert zurecht die diesbezügliche Zweideutigkeit in Dirlmeiers Kommentar. 30 elp’ptai ö amtiv e^rc^oaöev, 1155 b 15f. Die richtige Zuordnung dieses Ver­ weises auf frühere Diskussionen geht in ihrer Bedeutung über eine ausschließlich phi­ lologische Frage hinaus. Der antike Kommentator Aspasios bezieht diesen Rückverweis auf die ausgefallenen Bücher der NE. Spätere Kommentatoren, zunächst Grant, und in seiner Folge Stewart sowie Gauthier/Jolif II, S. 669, weisen darauf hin, daß Aristoteles das infragestehende logische Problem an keiner anderen Stelle der NE behandelt habe, und schreiben deshalb diese Bemerkung der Interpolation eines Kopisten zu, der mögli­ cherweise in NE II.8 die vorhergehende Behandlung vermutete. Dirlmeier (Kommentar zu NE, S. 511 f., zu 171,9) schließt sich nach ausführlicher Diskussion dieser Argumente der Annahme an und merkt darüberhinaus an, daß es Aristoteles hierbei um eine inhalt­ liche Zurückweisung der in Platonischen Kreisen verbreiteten Lehre von der einen wah­ ren Freundschaft (bzw. der einen wahren Lust) gehe: »Warum bekämpft Ar. dies, wo er doch mit beiden prinzipiell übereinstimmte? Offenbar weil es der Fülle des Lebens nicht gerecht wird, weil dann die F.-Abhandlung schon gleich am Anfang ihr Ende erreicht hätte« (Ebd., S. 512). Gegen diese Annahme, die eine sachliche Übereinstimmung zwi­ schen Platon und Aristoteles in der einen Gestalt der Freundschaft, die noch unter­ schiedliche graduelle Differenzen zuläßt, voraussetzt, ist allerdings, wie im Folgenden 154

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Für den weiteren Fortgang seiner Untersuchung scheint neben dieser Auflistung der zu lösenden Aporien vor allem der soeben er­ wähnte methodologische Hinweis hilfreich zu sein. Wenn Aristoteles die Untersuchung der Freundschaft auf das einschränken will, was den Menschen angeht, bedeutet dies keinesfalls eine Verkürzung oder Einschränkung der zu behandelnden Sache. Eher schon ist die­ sem methodologischen Hinweis zu entnehmen, daß die Bedeutung der ^iXta angemessen nur dann erfaßt zu werden vermag, wenn sie nicht von vornherein in einem erweiterten Sinne, wie es der populäre Sprachgebrauch ebenfalls nahegelegt haben muß, auch auf Formen der Beziehungen unter Lebewesen schlechthin ausgedehnt wird.31 Eine an anderen Bereichen der Natur abgelesene und in der Folge auf zwischenmenschliche Beziehungen übertragene Gesetzmäßigkeit steht in der Gefahr, das Phänomen der Freundschaft unter Menschen im Besonderen wie die Frage nach zwischenmenschlichen Beziehun­ gen im Allgemeinen zumindest insofern zu verfehlen, als auf diese Weise keine Antwort auf die Frage nach ihrem Sinn für das mensch­ liche Leben erreicht zu werden vermag. Anstelle einer solchen »Reduktion« des Zustandekommens in­ tersubjektiver Beziehungen auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten bietet sich nun ein anderer Weg der Untersuchung als der einer »natur­ philosophischen« Erklärung an, den Aristoteles in der Folge auch tatsächlich beschreiten wird. Nicht nur wird auf diesem Wege das »Gegenstandsgebiet« der Freundschaft auf jene von zwischen­ menschlichen Beziehungen eingegrenzt, ihre Erörterung wird da­ noch zu zeigen wird, einzuwenden, daß Aristoteles einen anderen Weg zur Bestimmung der ^iXta einschlägt. Einen ebenso bemerkenswerten wie plausiblen Vorschlag zum Verständnis des Rückverweises hat Michael Pakaluk (Friendship and the Comparison of Goods. - In: Phronesis 37 [1992], S. 111-130) unterbreitet, der hierin eine Bezug­ nahme auf die Aristotelische Ideenkritik in NE I.4, insbesondere auf 1096 b 24f., nach­ weist. Aristoteles faßt an dieser Stelle seine vorhergehende Diskussion in der Behaup­ tung zusammen, wonach es ein Gutes, das gemeinsam wäre und als einzige Idee aufgefaßt werden könnte, nicht existiert. Diesen Bezug zu NE I.4 einmal vorausgesetzt, würde Aristoteles in EN VIII.2.1155 b 15 f. auf seine frühere These zurückgreifen, um in der Folge den jeweiligen Grund der verschiedenen Freundschaftsformen - to dyaöov, to und to X0hai^ov - nicht einem einzigen Genus zuzuordnen. Ihr Verhältnis untereinander müßte in anderer Weise bestimmt werden als durch die Aufdeckung einer gemeinsamen Struktur. 31 Diese übertragene Verwendung der ^iXta auf den Bereich der Vögel im Besonde­ ren und der Tiere im Allgemeinen hat Aristoteles bereits weiter oben angedeutet (1155 a 18). ^ 155

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rüber hinaus auch aus der subjektiven Perspektive des Menschen auf­ gegriffen, dem es in der ^iXta um das jeweils »Geliebte« geht: Einen näheren Aufschluß über das Thema der Freundschaft, so wie es sich aus der subjektiven Perspektive der Menschen heraus darstellt und in den entsprechenden Meinungen niederschlägt, soll nach Aristoteles eine Untersuchung des Liebenswerten (^lX^tov) ermöglichen, desje­ nigen also, was im Bereich interpersonaler Beziehungen jeweils als deren Gut und Worumwillen bejaht und erstrebt wird. 2.1.2 Formale Bestimmungen der Freundschaft Der erste grundlegende Argumentationsschritt, mit dem Aristoteles seine systematische Untersuchung der Freundschaft einleitet, findet sich in jenem Abschnitt des zweiten Kapitels, in dem er auf dem Weg einer Reflexion über das Liebenswerte (^lX^tov) grundlegende Vor­ entscheidungen für die nachfolgenden Ausführungen trifft. Dem er­ sten Anschein nach weist dieser Einsatz der Untersuchung Parallelen zum Platonischen Lysis auf. Einen näheren Aufschluß über die Freundschaft versuchte auch Sokrates dort (216 d 3 ff.) auf dem Wege einer Überprüfung dessen, »aufgrund« (öid) dessen eine Zuneigung entsteht, das er ebenfalls das ^iX/^TÖv, das Ziel des Mögens und Strebens, bezeichnete.32 In diesem Dialog wurden, wie gezeigt, die Grün­ de erörtert, weshalb ein Mensch einen anderen bzw. etwas anderes erstrebt. So liebt oder erstrebt man etwas immer um etwas willen (evexa TIV05) und aufgrund von etwas (öid tu). Und eine weitere Gemeinsamkeit der Untersuchungen im Lysis und in den der Aristo­ telischen Freundschaftsbüchern bietet sich in der Überlegung des So­ krates an, der im fortgeschrittenen Teil des Dialogs die Diskussion über die Freundschaft unter den Jungen um die allgemein gehaltene Fragestellung des Verhältnisses von elterlicher Liebe, erotische An­ ziehung, Zuneigung unter Freunden sowie der Anziehungskraft un­ belebter Gegenstände erweitert.33 Der Aristotelische Begriff des ^iX/^cöv scheint zunächst eben­ falls wie sein Platonisches Pendant auf Strebensinhalte unter dem Aspekt des subjektiven Mögens und Fürguthaltens zu verweisen. Diese wie andere Parallelen lassen sich unschwer in einer Gegenüber32 Vgl. dazu weiter oben, Abschnitt 1.1.3. 33 Dies kündigt sich bereits in 221b 7f. an, wo Sokrates die Unterschiede zwischen ^iXta, e^05 und emGü^ia vernachlässigt. 156

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Stellung des Platonischen Lysis mit den Aristotelischen Freundschaftshüchem ausfindig machen, weshalb gelegentlich auch die These vertreten wurde, wonach die Aristotelischen Freundschaftshücher auf dem Boden des Lysis erwachsen sind.34 Doch sollte hei allen Vergleichbarkeiten in der Problemstellung nicht die unterschiedliche Behandlung des Themas durch Platon und Aristoteles verdeckt wer­ den. Dafür spricht bereits der Umstand, daß Aristoteles in seinen Untersuchungen des Lieheswerten anders als Platon nicht das npmxov 91I0V als letzte Entsprechung des menschlichen Bedürfnisses zum entscheidenden Bezugspunkt der ^iXta erhebt. Statt dessen ist ihm, letztlich im Blick auf die unterschiedlichen Gestalten der ^iXta, an einer Klärung der ihr zugrundeliegenden strukturellen Merkmale gelegen. In NE VIII.2 heißt es zunächst, man erlange Klarheit in diesen Dingen, wenn man versteht, was das Liebenswerte (^iXptöv) bedeutet. Zur Begründung dieses Vorgehens, das seinen Ausgang bei der Erörterung des ^iXptöv nimmt, führt Aristoteles an, daß nicht alles geliebt werde, sondern nur das Liebenswerte, das wiederum ent­ weder gut oder angenehm oder nützlich zu sein scheint. Aus­ geschlossen wird gleich darauf das Nützliche als möglicher Kandidat für das Liebenswerte, da mit dem Nützlichen dasjenige bezeichnet wird, wodurch etwas Gutes oder Angenehmes zustande kommt. Folglich könne das Liebenswerte als Ziel nur das Gute oder das An­ genehme haben.35 Die Schwierigkeiten bei der Interpretation dieser Passage rüh­ ren daher, daß Aristoteles hier wie im Folgenden eine Definition der 34 Vgl. dazu etwa den Kommentar von Dirlmeier (S. 513 zu 171, 10). Vgl. auch Hans von Arnim: Die drei Aristotelischen Ethiken. Ausführlich zum Verhältnis des Plato­ nischen ;@wtov qfXov zur Aristotelischen teXeta ^iXta unter Berücksichtigung der Parallelstelle in EE VII.2.1236 a 15—32 vgl. Gauthier/Jolif II, S. 675f., sowie Werner Jaeger: Aristoteles. Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung. 2. Aufl. Berlin 1955, S. 254—256. 35 Tdxa ö5dv yevoito ;eQL ahtwv ^ave^ov yvwQiaöevtog ton ^iXptoh; öoxet yd@ on ;dv ^iXetaöai dXXd to ^iXptov, tonto ö’eivai (to) dyaöov p pöh p X0h°i^ov. öo|eie ö’ dv xopaipov eivai öi5 oh ytvetai dyaöov ti p pöovp, wate ^iXptd dv eip tdyaöov te xal to pöh wg teXp. (»Klarheit erhalten wir vielleicht über diese Dinge, wenn wir wissen, was das Liebenswerte sei. Denn offenbar wird nicht alles geliebt, sondern nur das Liebenswerte, und dieses scheint gut oder angenehm oder nützlich zu sein. Da aber nützlich dasjenige heißen wird, wodurch etwas Gutes oder Angenehmes zustande kommt, so wird also das Liebenswerte als Ziel nur das Gute oder das Angenehme an sich haben.« 1155 b 17—21). ^ 157

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wichtigen Ausdrücke im Umfeld der Freundschaft vermissen läßt. Mit dem hängen andere Wörter eng zusammen. Das Adjek­ tiv 9Lk^TÖ5 läßt sich am besten mit »geliehtsein«, »liebenswert« oder »Gegenstand der Liehe« wiedergehen.36 Mit den anderen, im Text häufig wiederkehren Ausdrücken 9iXEiv, 91X^015 und 9iXta hat es den Wortstamm 91k- gemeinsam, dessen Grundbedeutung »eigen«, »zugehörig« ist. Das Verb 9iXEiv, liehen, verweist ursprünglich auf das Verhältnis oder die Einstellung, die man zu dem hat, das einem gehört; es bezeichnet die Zuneigung zu dem, was einem zugehört. Der Aristotelische Gebrauch des Verbes 9iXEtv variiert, es ist auf ein »Tun« im weiten Sinne bezogen und läßt sich in etwa wiedergeben mit »begehren«, »erstreben«, »wählen« oder »gern haben«. Das Sub­ stantiv 91X^015 bedeutet soviel wie freundliche Zuneigung, es um­ schreibt eine Disposition, die sich ein Mensch über eine längere Zeit hinweg durch sein Handeln angeeignet hat.37 Als 9iX^tov, »liebens­ wert«, wird entsprechend von Aristoteles der jeweilige Gegenstand bezeichnet, auf den sich diese Zuneigung bezieht. Der Ausdruck »lie­ benswert« verweist folglich auf eine Eigenschaft, die dem jeweiligen Gegenstand der Zuneigung zukommt. Im gegenwärtigen Kontext gilt dabei zu beachten, daß der Aus­ druck »liebenswert« hinsichtlich seines logischen Status sich nur als mehrstelliger Prädikator sinnvollerweise verwenden läßt: Liebens­ wert ist eine Sache oder eine Person niemals für sich allein genom­ men, sondern immer für ein konkretes Subjekt. Der Gebrauch des Ausdrucks »liebenswert« impliziert folglich eine ihm zugrun­ deliegende Zuneigung einer bestimmten Person, die etwas Bestimm­ tes liebt und bejaht, weil und insofern es darin der Person auch um sich selbst geht. Man könnte, um einen modernen Ausdruck zu ver­ wenden, hinsichtlich einer so verstandenen Zuneigung auch von einer »pro-attitude« sprechen: »liebenswert« zu sein setzt demzufol­ ge voraus, daß jemand etwas wünscht oder liebt.38 36 Vgl. Liddell-Scott II, 1934. 37 Vgl. dazu insbesondere ihre spätere Abgrenzung von der Wohlgesinntheit: xal p ^ev 91X^015 ^Eta onv^ÖEiag, p ö5 Envoia xal ex rt^oortaton, oiov xal ^eql tohg dywviotd5 on^ßaiVEi; (»Die Zuneigung erwächst außerdem aus der Gewöhnung, die Wohl­ gesinntheit kann aber auch plötzlich entstehen wie etwa Wettkämpfern gegenüber«, 1166 b 34-1167 a 1). Vgl. auch 1168 a 19: xal p ^ev 91X^015 rtoipOEi eoiXEV, to 91XEioöai öe tw rtdoxEiv. (»Die Zuneigung scheint einem Machen zu gleichen, das Ge­ liebtwerden einem Erleiden«). 38 Der Terminus »pro-attitude« wurde wohl ursprünglich von Alfred Cyril Ewing: A 158

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Freundschaft als externe Relation: NE VIII

Gleichzeitig, und das ist die andere Seite der Zuneigung, auf die Aristoteles an dieser Stelle zu sprechen kommt, erfolgt diese stets um eines bestimmten Gegenstandes bzw. einer Person willen. Das grie­ chische Verb 9lXelv wie dessen Substantiv 91X^015 - das zeigte sich ebenfalls im Platonischen Eros - verlangt ebenso wie im Deutschen notwendigerweise einen Gegenstand. Die Relationalität der Zunei­ gung bildet nun aus zwei Gründen den wichtigen Bezugspunkt der Untersuchungen. Zum einen stellt sich vor ihrem Hintergrund die Frage, welcher Art die Relata der Zuneigung sind. Zum anderen ist Aristoteles in der zitierten Passage offensichtlich davon überzeugt, daß sich ausgehend von einer Differenzierung der Relata, die alle­ samt darin übereinstimmen, daß sie in einer Beziehung auf ein be­ stimmtes Ziel liebenswert sind, auch eine weitere Differenzierung in der Zuneigung und der Freundschaft vornehmen läßt. So besehen enthält der Beginn der eingehenden Untersuchung der ^lAta als entscheidende Voraussetzung die Behauptung, daß ihre Klärung mit der vorhergehenden Bestimmung der liebenswerten Ge­ genstände der ^lAta bzw. der 91X^015 einhergeht. Will man verste­ hen, wie diese Ausdrücke richtig zu verwenden sind, und - was in diesem Zusammenhang mitbehauptet wird - was es heißt, in Wahr­ heit einen Freund zu lieben, so läßt sich dies nur auf dem Wege er­ reichen, auf dem die Bedeutung des 9lX^t6v ermittelt wird. Diese wiederum verweist auf die Frage, welche Eigenschaften den Gegen­ ständen zueigen sind, um deretwillen sie als liebenswert gelten. Nun ist die Wendung to 9lX^t6v noch mehrdeutig: Der be­ stimmte Artikel mit dem bloßen Adjektiv im Neutrum Singular kann sowohl - generalisierend - dahingehend verstanden werden, daß von der Klasse all derjenigen Dinge die Rede ist, welche die glei­ che Eigenschaft haben und infolgedessen auch als »liebenswert« be­ zeichnet werden können. In diesem Falle wäre die Klärung des 9lX^t6v als Frage nach dem »Liebenswertsein« zu verstehen. Der bestimmte Artikel kann ebenso gut aber auch in der Bedeutung der Eigenschaft »liebenswert« aufgefaßt werden. Eine dritte Möglich­ keit, wonach die Wendung to 9lX^t6v auf das beispielhaft »Liebens­ werte«, also in einem qualitativ auszeichnenden Sinne verwendet wird, kann bei Aristoteles wohl ausgeschlossen werden. Suggested Non-naturalistic Analysis of Good. - In: Mind 48 (1939), S. 1-22, hier S. 8, eingeführt, freilich der Sache nach bereits früher behandelt. Vgl. dazu Peter Stemmer: Gutsein. - In: Zeitschrift für Philosophische Forschung 51 (1997), S. 65-92. ^ 159

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Wenn in einem ersten Schritt die Hinwendung zu den Gegen­ ständen, denen die freundschaftliche Zuneigung gilt und die deshalb als liebenswert bezeichnet werden können, als der methodische Weg gewiesen wird, auf dem sich Aristoteles eine Beilegung des Dissenses über die Bedeutung der ^iXta erhofft, so nimmt er gleich darauf eine Zuordnung vor, die das ^iX/^xov mit dem Guten, Angenehmen oder Nützlichen gleichsetzt. Nach unserer bisherigen Interpretation ließe sich der Sinn dieser Zuordnung dahingehend zusammenfassen, daß wenn immer ein Mensch einen Gegenstand als liebenswert erachtet, er dies deshalb tut, weil es für ihn entweder angenehm, gut oder nützlich ist. Oder, um es gemäß der oben getroffen Voraussetzung darzustellen, nach der sich die Zuneigung nach der jeweiligen Eigen­ schaft des Gegenstandes richtet: Eine notwendige Bedingung dafür, daß ein Gegenstand als liebenswert erachtet wird, ist, daß er die Ei­ genschaft »Gutsein«, »Nützlichsein« oder »Angenehmsein« besitzt. Die Frage, weshalb A X liebt, wobei für X sowohl ein Gegenstand, ein Tun oder eine Person in Betracht kommt,39 wäre demzufolge erst dann vollständig beantwortet, wenn auf eine der genannten Prädika­ te rekurriert würde. Setzt man etwa für die Variable X die Tätigkeit »Reisen« ein, dann wäre die entsprechende Frage, warum A das Rei­ sen liebt, erst dann hinlänglich beantwortet, wenn man angibt, in welchem Zusammenhang der angegebene Grund mit dem Gutsein oder dem Angenehmsein steht. Der Aristotelische Argumentationsgang in der zitierten Stelle ist ebenso einsichtig wie zwingend. Er enthält zwei wichtige Einsich­ ten. Wenn von etwas behauptet wird, es sei liebenswert, so setzt dies ein zugrundeliegendes Lieben bzw. Begehren voraus, dem es ent­ spricht. Zum anderen läßt sich fragen, warum man etwas Bestimm­ tes wertschätzt und liebt, ihm diese Einstellung entgegenbringt. Und in der Antwort auf diese Frage gibt es nach Aristoteles zwei Möglich­ keiten. Entweder weil dasjenige, dem man eine betreffende Einstel­ lung entgegenbringt, gut ist, oder weil es lustvoll ist. Es kommt in diesem Zusammenhang darauf an, zu verstehen, daß sowohl das Gutsein als auch das Lustvollsein Eigenschaften des fraglichen Ge­ genstandes der Wertschätzung bzw. des Liebens sind, und daß diese Eigenschaften wiederum den Grund dafür bilden, dem Gegenstand gegenüber eine entsprechende Einstellung mitzubringen. 39 Erst später, ab 1155 b 27, wird die Untersuchung auf die ^iXta gegenüber Personen eingegrenzt. 160

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Nun ließe sich gegen diese Zuordnung einwenden, daß es auch andere, »letzte« Gründe als das Gute, Angenehme oder Nützliche gehen mag, aufgrund derer man ebensogut berechtigterweise davon sprechen könne, daß A X lieht. Hierauf könnte man im Sinne Aristo­ teles antworten, daß erstens zu überprüfen wäre, inwieweit mögliche anderen Eigenschaften nicht auf die drei genannten zurückgeführt werden können; zweitens scheint Aristoteles auch für das vor­ geschlagene Interpretationsmodell zur Untersuchung der ^iXta kei­ nen Anspruch auf dessen Vollständigkeit zu erheben. Die Aristotelische Behauptung, daß alles, was als ein Ziel geliebt wird, gut oder angenehm für den Liebenden sein müsse, ist offen­ sichtlich einzig und allein als eine notwendige, nicht aber als eine hinreichende Bedingung für die Bestimmung des Verhältnisses zwi­ schen dem Liebenden und dem geliebten Gegenstand zu verstehen. Sie liegt folglich noch vor jeglicher Unterscheidung von spezifischen Interessen und Absichten, die der Liebende mit dem Gegenstand sei­ ner Zuneigung verbindet. Deshalb kann auch aus dieser Feststellung keinesfalls ein Zusammenhang zwischen dem Gegenstand der Liebe und einem spezifischen Selbstinteresse abgeleitet werden, wie das üblicherweise bei den Interpreten der Fall ist, die unter Berufung auf diese und vergleichbare Stellen die Aristotelische Konzeption der Freundschaft auf die Gegenüberstellung von eigennützigem und selbstlosem Interesse auslegen.40 Daß es Aristoteles in der behandelten Passage um die Klärung der notwendigen, nicht aber um die hinreichenden Bedingungen des Zustandekommens der Zuneigung zu tun ist, dafür spricht auch, daß er das, was nützlich ist, ausscheidet. Offenbar liegt dem folgende Üb­ erlegung zugrunde: Die Behauptung, A liebt X, insofern es nützlich ist, kann jederzeit dadurch präzisiert werden, daß auf die Frage, wes­ halb X für A nützlich ist, angegeben wird, welches Gut A durch X erlangt. Folglich wäre die Behauptung, A liebt X, insofern es nützlich ist, noch unvollständig und kann deshalb auch als Ziel ausgeschlossen werden. Wir sagten, daß Aristoteles auf dem Weg einer Reflexion über die einzelnen Relata und die notwendigen Bedingungen ihrer Exi­ stenz zur Bestimmung der ^iXta gelangen will. Im unmittelbar dar­ auffolgenden Abschnitt (1155 b 21-27) geht es um das personenbe­ 40 Auf eine eingehende Auseinandersetzung mit diesen Interpretationen wird später zurückzukommen sein. Vgl. Abschnitt 2.3.3 und 2.3.4. ^ 161

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zogene, »subjektive« Moment des Liebens. Aristoteles unterscheidet hier zwischen dem an sich und dem für den jeweiligen Menschen Guten und Lustvollen, indem er fragt, ob man das Gute schlechthin oder das für einen selbst Gute liebe. Und in der Antwort auf diese Frage heißt es, daß jeder Mensch das liebt, was für ihn gut ist.41 Geht man einmal davon aus, daß es Aristoteles um die Klärung der not­ wendigen Bedingungen geht, unter denen berechtigterweise vom 91Xelv die Rede sein kann, so setzt eine Behauptung vom Typ »A liebt X«, die wahr sein soll, nicht notwendigerweise voraus, daß der Ge­ genstand der Zuneigung tatsächlich auch ein »schlechthin Gutes« bzw. ein »schlechthin Angenehmes« darstellt. Einzig und allein eine Bedingung muß erfüllt sein, die nämlich, daß der Gegenstand der Zuneigung auch gut oder angenehm für das Subjekt sein muß. Welche Bedeutung aber kommt dann dem »schlechthin Guten« zu? Warum, so läßt sich fragen, wird hier in einem ersten Schritt eine Differenzierung zwischen dem Guten schlechthin und dem Guten für einen selbst vorgenommen, wenn diese in den darauffolgenden Schritten wieder zurückgenommen wird in dem ^ik^töv, das iden­ tisch ist mit dem, was als gut erscheint? Was ist mit dieser Differen­ zierung zwischen dem »Guten schlechthin« und dem »für den Ein­ zelnen Guten« auch im Blick auf die nachfolgende Begründung der unterschiedlichen Freundschaftsformen gewonnen? Dafür, daß diese Unterscheidung nicht zu vernachlässigen ist, spricht der Umstand, daß Aristoteles auch im weiteren Verlauf des achten Buches mehrfach auf sie zurückkommt.42 Im vierten Kapitel heißt es im Zusammenhang der Bestimmung der Freundschaft unter den Tugendhaften, jeder von beiden sei »an sich gut und gut für den Freund. Denn die Tugendhaften sind schlechthin gut und einander gegensätzlich nützlich, und ebenso auch angenehm. Denn auch schlechthin angenehm sind die Tugendhaften, wie auch füreinander

41 mÖTEQOv ohv tayaBov ^iXonoiv ^ to ahtofg aya0öv SiaqmvEf yaQ evIote taüta. o^olmg 6e xai me^i to ^6h. 6oxei 6f| to ahtm äya0öv ^iXefv Exaotog, xai eivai arnXmg ^ev Täya0öv ^iX^töv, Exdotm 6e to Exdotm. ^iXef 6’ Exaotog oh to ov ahtm dya0öv aXXa to ^aivö^evov. (»Liebt man aber das Gute oder das für einen selbst Gute? Das ist zuweilen nicht dasselbe. Dieselbe Frage stellt sich auch beim Angeneh­ men. Es scheint nun jeder das für ihn Gute zu lieben, so daß also liebenswert schlechthin das Gute wäre und für den Einzelnen das für ihn Gute. Freilich liebt der Einzelne nicht, was für ihn gut ist, sondern was ihm so erscheint..« 1155 b 21-26). 42 Vgl. etwa VIII.4.1156 b 20; VIII.7.1157 b 26f. 162

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gegenseitig«.43 Und im siebten Kapitel heißt es, ebenfalls im Kontext der Umschreibung der Freundschaft der Tugendhaften: »Denn als liebens- und wünschenswert gilt das schlechthin Gute und Angeneh­ me, für den Einzelnen aber, was für ihn so ist. Der Tugendhafte ist dies für den Tugendhaften aus beiden Gründen.«44 Eine Interpretation, die sich bezüglich der Unterscheidung zwi­ schen dem an sich und dem für den jeweiligen Menschen Guten und Lustvollen in VIII.2.1155 b 21-27 anbietet, könnte sich auf eine ähn­ lich lautende Differenzierung berufen, wie sie Aristoteles bereits an früheren Stellen der Nikomachischen Ethik verwendet hatte, und auf die er nun zurückgreift.45 Eine ähnlich gelagerte Argumentation zur Unterscheidung, was der einzelne Mensch für das Gut des Menschen hält und dem, was schlechthin gut ist, findet sich im sechsten Kapitel des dritten Buches der NE. Dort führt Aristoteles aus, daß das, was der einzelne Mensch für das Gute hält, das letztlich Erstrebte ist. Was er jeweils für ein Gut erachtet, kann seinerseits noch wahr oder falsch sein, woraus folgt, daß auch etwas, das nicht ein Gut schlechthin für den Men­ schen ist, als letztes Ziel des Strebens angenommen werden kann. Aristoteles löst dieses Problem durch die Differenzierung zwischen dem, was faktisch der einzelne Mensch als das ihm erscheinende Gut erstrebt, und dem, was von Natur aus bzw. schlechthin und in Wahr­ heit letztes Ziel des Strebens ist. Dies wiederum ist identisch mit dem Gut des Menschen (III.6.1113 a 23 ff.). Das Gute schlechthin - und ähnlich das Angenehme schlechthin - wird hier bezogen auf das Handeln des guten Menschen, der aufgrund seiner tugendmäßen Verfassung, wie es im Text heißt, Richtschnur und Maß für die Er­ kenntnis der Wahrheit im Einzelnen ist. Demgegenüber wäre das, was für eine bestimmte Person gut wäre, ein Gut nur deshalb, weil diese unter bestimmten Voraussetzungen es benötigt. Deshalb wäre es auch vom Guten schlechthin zu unterscheiden. Läßt sich nun unter Berufung auf diese Überlegungen der Sinn 43 xai eotiv exdtEQog arnlmg äya0Ö5 xai tm qAm; oi yaQ äya0oi xai arnlmg äya0oi xai äll^loig m^Eli^oi. o^olmg 6e xai ^ÖEtg; xai yaQ arnlmg oi äya0oi ^6el5 xai äll^loig; (1156 b 12-15). 44 SoxEi yaQ qiilr|töv ^ev xai a'iQEtöv to arnlmg äya0öv ^ ^6h, Exdotm 6e to ahtm toioütov; o 6’ äya0Ö5 tm aya0m 6i’ a^m taüta. (1157 b 26-28). 45 Vgl. EN III.6.1113 a 23 f. und V. 2.1129 b 4-6 geht es um die Unterscheidung zwischen dem schlechthin Guten und dem jeweils für den Einzelnen Guten, in VII.13.1152 b 27 um dieselbe Unterscheidung hinsichtlich der Lust. ^ 163

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der Aristotelischen Behauptung in VIII.3., wonach liebenswert schlechthin das Gute wäre, dahingehend auslegen, daß einzig und allein der gute Mensch aufgrund seiner tugendhaften Verfassung im­ stande ist, das »schlechthin Liebenswerte« zu erfassen, während Menschen, denen es in ihren Affekten und Handlungen an dieser Verfassung ermangelt, faktisch ihren eigenen Neigungen folgen? Diese Interpretation wäre mehr als unbefriedigend, auch weil sie das entscheidende Problem, nach welchen Kriterien der tugendhafte Mensch jeweils das Gute wertschätzt und liebt, nur verlagern, nicht aber lösen würde. Im Zusammenhang dieser Fragestellung mag vielleicht ein Blick auf die Darstellung der vergleichbaren Problemstellung in der Ende­ mischen Ethik weiterführen.46 Zu Beginn der Erörterung der Aporien, die sich mit der Untersuchung der Freundschaft stellen, wird gefragt, ob das Lustvolle oder das Gute Beweggrund der Freundschaft sei.47 Um diese wohl von anderen Autoren aufgeworfene Aporie 46 Auch die MM setzt in der Untersuchung der Freundschaft mit der Behauptung ein, daß Gegenstand der Freundschaft das Liebenswerte (^lX^tov) sei (II.11.1208 36­ 1209 a 3): El ö^ tl5 ^sto touto emaxe^aLTO tl sotl tö ^lX^tov, sotlv ohv ohx aXXo tl p TayaOov. sts^ov ^ev ohv eaTi to ^lX^tov xal to ^lX^tsov, wa^e^ xal to ßonX^TÖv xal to ßonX^Teov. ßonX^TÖv ^ev ya@ to ayaOov, ßonX^Teov öe to exdaTW ayaOov. outw xal ^lX^töv ^ev tö ayaOov, ^lX^tsov öe tö auTÖ ayaOov, Wots tö ^ev ^lX^töv xal ^lX^tsov, tö öe ^lX^tsov ohx Sotl ^lX^tov (»Wenn man nun zu untersuchen fortfährt, welches Ding liebenswert ist, so lautet die Antwort: nur jenes, das gut ist. Nun gibt es einen Unterschied zwischen dem, was an sich liebenswert ist und dem, was dazu führt, daß jemand es liebt, ebenso wie zwischen dem, was an sich erstrebt wird und dem, was dazu führt, daß man es erstrebt. Das Gute an sich oder Gute schlechthin ist erstrebenswert, aber ein jeder erstrebt das, was gut für ihn ist. Und in gleicher Weise ist das schlechthin Gute liebenswert, aber man liebt das, was gut für einen selbst ist. Daraus folgt, daß der Gegenstand, den man liebt, immer liebenswert ist, während das Liebenswerte nicht immer das eigene Lieben bestimmt« [Eigene Übersetzung]). Diese Unterscheidung wird im Folgenden direkt für die Klärung der Frage in Anschlag gebracht, ob eine Freundschaft zwischen einem tugendhaften und einem schlechten Menschen möglich sei. So fährt Aristoteles fort, die Zuordnung zwi­ schen dem Liebenswerten schlechthin und dem Liebenswerten für den einzelnen auf die intersubjektive Beziehung unter den tugendhaften Freunden zu übertragen. Für diese gilt, daß der tugendhafte Freund als schlechthin liebenswert gelten kann. Anders hin­ gegen verhält es sich in dem freundschaftlichen Verhältnis zwischen einem tugendhaf­ ten und einem moralisch schlechten Menschen, insofern dieser zwar nicht liebenswert schlechthin ist, sich durchaus aber infolge anderer ihm zukommenden Eigenschaften (nützlich, angenehm etc.) als liebenswert für den tugendhaften Menschen erweisen kann. 47 sxsl ö5 a^o^Lav xal rccTepov tö pöh p tö ayaOov sotl tö ^lXou^svov (»Eine Apo164

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einer Lösung zuzuführen, erklärt Aristoteles, daß beide Beweg­ gründe, die Lust wie das Gute, zunächst darin übereinstimmen, daß sie beide jeweils Objekt des Strebens sind.48 Dabei ist, wie Aristoteles hervorhebt, darauf zu achten, daß dieses Übereinstimmen der Lust wie des Guten im Objekt des Strebens noch vor aller Überprüfung liegt, inwiefern das Erstrebte tatsächlich und nicht nur scheinbar ein Gut ist. Diese begriffliche Klärung, wonach unter dem Erstrebten so­ wohl das Lustvolle als auch das Gute zu subsumieren ist, hilft freilich wenig, solange ungeklärt bleibt, in welchem Sinne es hier überhaupt Kriterien gibt, mit Hilfe derer zu entscheiden ist, wann genau man es mit einem nur scheinbaren, wann hingegen mit einem wirklichen Gut zu tun hat. Es scheint gerade dieses Problem zu sein, das Aristo­ teles in den darauffolgenden Zeilen der EE einer Antwort zuführen will, wenn er die Unterscheidung zwischen dem an sich und dem für den jeweiligen Menschen Guten und Lustvollen einbringt.49 Um in­ haltlich festzulegen, was nicht nur scheinbar, sondern »schlechthin« ein Gut ist, greift Aristoteles auf das Beispiel des gesunden Körpers zurück.50 Als schlechthin gut kann diesem Beispiel zufolge nur das bezeichnet werden, was für den gesunden Körper zuträglich ist. Zur Begründung dieser Behauptung führt Aristoteles an, daß das, was man dem kranken Leib zu seiner Genesung zuführt, nur in bestimm­ ter Hinsicht, nämlich unter der Gegebenheit seiner Erkrankung, als ein Gut bzw. etwas Zuträgliches angesehen werden kann. Ähnlich könne auch nur das als schlechthin »lustvoll« bezeichnet werden, was einem unversehrten Körper so erscheine. Diese Bestimmung des »schlechthin Guten« als das, was einem gesunden und unversehr­ rie ist aber auch durch die Frage gegeben, ob das Lustvolle oder das Gute das ist, was uns lieb ist«, Vll.2.1235 b 18-20). 48 to ya@ o^extcv xal ßonX^töv ^ to dyaöov ^ to ^aivo^evov dyaöov (»Objekt des Strebens und des Wünschens ist entweder das Gute oder was als solches erscheint«, VII.2.1235 b 25 f.). 49 twv ya@ dyaöwv ta ^ev eatlv dyaöd, ta öe tivi, ö5 oh. xal ta ahta drtXwg dyaöa xal drtXwg ^öea (»Von den Gütern sind die einen Güter schlechthin, die anderen nur für bestimmte Menschen, nicht schlechthin. Und dieselben Dinge sind Güter schlechthin und sind lustvoll schlechthin«, 1235 b 31-33). 50 Auf Beispiele aus dem medizinischen Bereich griff bereits Platon zur Erläuterung bestimmter ethischer Annahmen zurück (vgl. oben zum Gorgias und zur Politeia). Zu dieser Parallelisierung bei Aristoteles vgl. besonders Fritz Wehrli: Ethik und Medizin. Zur Vorgeschichte der aristotelischen Mesonlehre. - ln: Museum Helveticum 8 (1951), S. 36-62. ^ 165

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ten Körper als »gut« erscheint, überträgt Aristoteles in der Folge auch auf das moralische Verhalten des Menschen: Nicht alles, was der Mensch für das Ziel seines Strebens hält, ist auch von Natur aus sein letztes Ziel. Vielmehr kommt als wahrhaft letztes Ziel nur das in Betracht, was der einsichtige Mensch als ein solches ausgibt.51 Daß sowohl das an sich als auch das für den jeweiligen Men­ schen Gute und Lustvolle je nach Umständen und Verfassung des einzelnen differieren kann, ist einsichtig. Doch ließe sich einwenden, daß Aristoteles die Problematik einer inhaltlichen Begründung, wann nämlich von einem scheinbaren, wann hingegen von einem in Wahrheit bestehenden Gut die Rede sein kann, nur verschoben, kei­ neswegs aber gelöst hat. Wenn man nämlich, um im Beispiel zu blei­ ben, den an Leib und Seele gesunden Menschen als Maßstab für die Entscheidung ansetzt, was man als das von Natur aus Gute erstreben solle, könnte dies einer willkürlichen Festlegung dessen gleichkom­ men, was als ein Gut bezeichnet wird. Gerade dieser mögliche Einwand führt zur interessanten, weil problematischen Frage, ob Aristoteles tatsächlich in der zitierten Pas­ sage der EE wie in der NE das schlechthin Gute und Lustvolle so versteht, daß es sich dabei um das Gute und Lustvolle für den Men­ schen handelt, der in guter und tugendgemäßer Verfassung lebt. Im Kontext der behandelten Passage der EE fährt Aristoteles mit der Behauptung fort, daß der Ausdruck »gut« noch mehrere Bedeutun­ gen zuläßt, worunter sich auch jene findet, gemäß der etwas »gut« genannt wird, weil ihm diese Eigenschaft in wesentlicher Hinsicht zukommt.52 Es scheint sich nun gerade diese Bedeutung des Aus­ drucks »gut« am ehesten für das Verständnis des »schlechthin Gu­ ten« anzubieten. »Schlechthin gut« wäre demzufolge etwas dann zu nennen, wenn es etwas Gutes seiner Art wäre. Daß ein Gegenstand von der Art X »schlechthin gut« ist, wäre gleichbedeutend damit, daß es ein gutes X wäre. Entscheidend in dieser Interpretation wäre die Annahme, daß Aristoteles das »schlechthin Gute« bzw. »schlechthin 51 mo 6’ Exei mai61ov xai 0r|Qtov rngög av0Qmmov xa0EOträta, oütmg exei o ^aüXog xai aqiQmv rngög töv EraEix^ xai ^QÖvi^ov; (»Wie sich aber Kinder und Tiere zum gestandenen Mann verhalten, so verhält sich der Schlechte und Uneinsichtige zum wertvollen und einsichtigen Menschen«, VII.2.1236 a 3-5). 52 e^e'l ohv ta äya0a rnXEovaxräg (tö ^ev yaQ trä toiöv6’ Etvai XEyo^Ev äya0öv, tö 6e trä rn^EXi^ov xai XQ^oi^ov) (»Da also >gut< mehrere Bedeutungen hat, denn wir nennen das eine >gutFriendship< and >Self-Sufficiency< in Homer and Aristotle« vertrat Arthur Adkins die These, daß sich die Aristotelische Konzeption der qaXia in kaum nennenswerter Weise von ihrem Verständnis bei Homer abhebt. In der Begründung seiner Annahme diskutiert Adkins dabei zunächst jene Interpretation der Aristotelischen Freundschaftsbücher, wie sie maßgeblich von J. A. Stewart in seinem Kommentar »Notes on the Nicomachean hthics of Aristotle« (2 Bände, Oxford 1892 [Nachdruck 1973]) formuliert wurde: Dieser Interpretation zufolge beruht die entschei­ dende Neuerung, wie sie durch Aristoteles in die Bestimmung der qaXia eingeführt wurde, in der Differenzierung einer altruistischen Tugendfreundschaft von der egoi­ stisch motivierten Nutzen- und Lustfreundschaft. Gegen eine solche Interpretation wendet Adkins nun ein, daß sich Aristoteles an der entscheidenden Stelle seines Argu­ mentationsganges eines »linguistischen Tricks« bedient und keinesfalls eine stringente Begründung einer altruistischen Freundschaftskonzeption geliefert habe. Adkins Ari­ stoteles-Kritik wendet sich näherhin gegen dessen Verwendung des Ausdrucks exeivon evexa, dem in der Tat eine zentrale Funktion im Argumentationsgang zukommt: »harlier, 1155 b 31, in a passage which is relevant to all three types of philia, ekeinou heneka is used in an >ordinary Greek< sense, and must be intended to include wanting useful or pleasant things for a man >for his own sakefor their own sake< is opposed to >as a resultat of some accidental qualityagathon for both A and B at the same timec, but >really agathon for A, who finds things which are really agathon agathon for him because he is agathosc.« (ebd.) Wir haben Adkins Begründung der Annahme, daß Aristoteles Freundschaftskonzeption ähnlich wie jene des Homers ganz im Zeichen einer »egoistisch« motivierten Voraus­ setzung steht, deshalb so ausführlich wiedergegeben, da aus ihr deutlich wird, welcher entscheidende Stellenwert einem angemessenen Verständnis des theoretischen Rah­ mens der Aristotelischen Freundschaftskonzeption zukommt, wie er in der Unterschei­ dung zwischen dem »Guten schlechthin« und dem Guten im relationalen Sinne besteht. Wo diese Differenzierung nicht ausreichend berücksichtigt wird, wie es uns in der These Adkins der Fall zu sein scheint, wird es in der Folge auch unmöglich, einen nicht-egoi­ stisch motivierten Selbstbezug innerhalb einer intersubjektiven Beziehung heraus­ zupräparieren. Zu einer ähnlichen Schlußfolgerung in der Auseinandersetzung mit Adkins gelangt auch Suzanne Stern-Gillet: Aristotle's Philosophy of Friendship (SUNY series in ancient Greek philosophy, ed. by Anthony Preus). Albany 1995, S. 68f. 56 Vgl. auch Met. XII.7, wo Aristoteles ausführt, daß man etwas für gut nicht deswegen hält, weil man danach strebt, vielmehr erstrebe man etwas, weil man es für gut hält (1072 a 29). Im Gutsein des fraglichen Objektes ist folglich der Grund für die Richtigkeit der entsprechenden Einstellung enthalten. 170

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interpretiert, daß er Aristoteles im Kontext der NE bzw. den ver­ gleichbaren Ausführungen in der EE dazu dient, das Gutsein des fraglichen Gegenstandes in einer Weise zu beschreiben, die nicht von der Tatsache herzuleiten ist, daß sich das Subjekt, der Liebende, den Gegenstand erstrebt. Die Feststellung, daß A den Gegenstand X liebt und erstrebt, muß hingegen so verstanden werden, daß X sozu­ sagen die Ursache für die Wertschätzung durch A darstellt. Ausgehend von dem Hinweis des Aristoteles, daß es nicht im­ mer dasselbe ist, ob man das Gute schlechthin oder das Gute für einen selbst liebt, sind nun zwei Fälle denkbar, die sich schematisch folgendermaßen darstellen lassen: (1) A liebt den Gegenstand X, in­ sofern dieser in Bezug auf A (für einen selbst) gut ist, ohne zu überprüfen, ob X auch schlechthin gut ist. (2) A liebt den Gegenstand X, insofern dieser in Bezug auf A gut ist, wobei die Tatsache, daß X für A gut ist, eine Folge davon ist, daß X schlechthin gut ist. Aus den vorangegangenen Überlegungen wird ferner ersicht­ lich, daß das, was Aristoteles als das »schlechthin Gute« bezeichnet, nicht eine Eigenschaft ist, die dem erstrebten Gegenstand an und für sich zukommt, sie besteht nur relativ auf das dem Subjekt zugrun­ deliegende Wollen. Ließe sich gegen diese Behauptung nicht ein­ wenden, daß Aristoteles damit unter der Hand ein wertendes Urteil in ein deskriptives Urteil umwandelt? Dieser Einwand läßt sich durch den Hinweis entkräften, daß die Behauptung, wonach der er­ strebte und geliebte Gegenstand gut ist, zugleich eine Feststellung bezüglich des zugrundeliegenden Strebens impliziert. Daß Aristote­ les diesen Einwand jedenfalls berücksichtigt, wird später noch deut­ lich werden. Inwiefern beide Punkte für die Behandlung des Themas der Freundschaft relevant sind, mag folgende Überlegung verdeutlichen. Was den ersten Punkt anbelangt, kann man sich fragen, welche Ei­ genschaft es ist, durch die sich ein Freund als ein Gut für einen selbst erweist. Dies läßt sich dadurch beantworten, daß man in Erfahrung zu bringen sucht, warum man überhaupt etwas von einem Freund will. Und in der Antwort auf diese Frage liegen die verschiedenen Formen der Freundschaftsverhältnisse beschlossen: Er ist gut, weil er einem nutzt - er ist gut, weil er einem angenehm ist - er ist gut, weil er tugendhaft ist. Alle drei Formen zeichnen sich strukturell dadurch aus, daß ein Gutsein (»der Nutzen«, »die Lust«, »die Tu­ gend«) einem zugrundeliegenden Streben entsprechen. Es scheint eben dieses Entsprechungsverhältnis dafür maßgeblich zu sein, das ^ 171

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es Aristoteles erlaubt, noch vor jeder weiteren Differenzierung die Analogie der einzelnen Freundschaftsverhältnisse zu behaupten.57 In diesem Entsprechungsverhältnis liegt noch mehr enthalten, als es dem ersten Eindruck nach den Anschein hat. Die Bestimmung des intrinsisch bzw. des schlechthin Guten, das nicht schon durch das jeweilige Streben festgelegt ist, sondern unabhängig von ihm defi­ niert werden muß, verlangt nämlich eine weitere Präzisierung des Zusammenhangs, daß im Gutsein der geschätzten Person der Grund dafür zu sehen ist, daß man sie als jemanden, der für einen selbst gut ist, liebt. Zugleich erhebt sich an dieser Stelle die Frage, wie Aristo­ teles aufzeigen kann, daß die Tugendfreundschaft gegenüber den an­ deren Freundschaftsverhältnissen die »vollkommenere« und mora­ lisch vorzüglichere ist. Der Weg, den Aristoteles zur Beantwortung dieser Frage im Folgenden einschlagen wird, besteht, um es zusam­ menfassend vorwegzunehmen, in dem Aufweis, daß die Tugend­ freundschaft in einer umfassenderen Weise dem zugrundeliegenden »vernünftigen« Streben entspricht.58 Wenn für alle drei Freundschaftsverhältnisse gilt, daß der Nut­ zen, die Lust und die Tugend auf ein entsprechendes Streben zurück­ verweisen, auf das hin sie bezogen sind, so erhebt sich die Frage, wie das zugrundeliegende Streben zu beurteilen ist. Dieses kann in der Art beurteilt werden, daß man sich fragt, was vernünftigerweise von einem Freund zu erwarten ist. Aristoteles' Antwort auf diese Frage besteht darin, daß er als eine wesentliche Eigenschaft die Beständig­ keit anführt.59 Dieses von einem Freund zu wollen ist vernünftig. Demgegenüber ist freilich jenes Wollen, wie das des Nutzenfreundes etc., nur in einem eingeschränkten Maße vernünftig, da in ihr der Nutzen erwartet wird, der als solcher keine Beständigkeit verschafft. Ein Freund, der diesem Streben nach Nutzen entspricht, ist zwar in­ sofern ein Gut, aber er ist es nur im Hinblick auf dieses besondere Streben, keinesfalls ist er deshalb aber auch ein guter Freund. Es bleibt allerdings noch zu klären, was Aristoteles dann mit der 57 Vgl. dazu im Folgenden den Abschnitt 2.1.4 »Zur Analogie der Freundschaftsverhält­ nisse«. 58 Warum einzig und allein dieses Streben als »vernünftig« zu bezeichnen ist, wird sich später bei der Interpretation von IX.9 zeigen, wo Aristoteles auf den Zusammenhang von genuiner Selbstliebe und wahrer Einsicht zu sprechen kommt. Vgl. dazu weiter unten, Abschnitt 2.3.4. 59 Vgl. dazu im Folgenden den Abschnitt 2.1.6 »Beständigkeit als Charakteristikum der vollkommenen Freundschaft«. 172

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Einführung der Wendung des »Guten schlechthin« hzw. »Lustvollen schlechthin« für die Leitfrage der Freundschaft gewinnt. Man kann dies zunächst durch eine weitere Stelle aus der EE verdeutlichen, in der Aristoteles die getroffene Differenzierung zwischen dem schlecht­ hin Guten und dem personenhezogenen Guten ausdrücklich auf die ^tlta hezieht. Dort heißt es: Zugleich aher darf der Freund nicht nur gut schlechthin sein, sondern er muß es auch für dich sein, wenn der Freund wirklich für dich sein soll. Gut schlechthin nämlich ist er dadurch, daß er gut ist; Freund aher ist er, indem er für einen anderen gut ist: schlechthin gut und schlechthin Freund aher ist er, wenn dieses heides im Einklang ist, so daß, was schlechthin gut ist, auch für den anderen ein solches Gut ist.60 Aristoteles heahsichtigt an dieser Stelle, zu der es eine weitgehende Parallelstelle in EN VIII.4.1156 h 7-19 giht, eine grundlegende Be­ stimmung für die Freundschaft der Tugendhaften zu gehen.61 Er will zeigen, daß eine vollkommene Freundschaft eine notwendige Bedin­ gung erfüllen muß, um als solche hezeichnet zu werden. Diese Be­ dingung hesteht darin, daß die Partner auch gut und lustvoll für ein­ ander sind, und daß sie aufgrund dieser Gegehenheit auch hefreundet sind. Als »gut schlechthin« wird der Freund im Kontext der Stelle aufgrund seiner Tugenden hezeichnet, die ihn zu gutem Handeln im Verhund mit anderen Menschen disponieren. Dies ist die Vorausset­ zung für die Freundschaft der Tugendhaften, doch ist damit allein die notwendige Bedingung ihres Zustandekommens erfüllt. Man kann den Sinn dieser Stelle auch durch folgende Üherlegung verdeutlichen: Angenommen, ein Mensch trifft die Fest­ stellung, daß ein anderer Mensch sich durch jene Eigenschaften auszeichnet, die man einem guten und tugendhaften Menschen zuschreiht, so hehauptet er damit nichts weiter, als daß diese Eigen­ schaften Ziel eines menschlichen Strehens an sich sind. Dieser 60 ü^a 6e ei ^f| ^ovov amlmc aya0ov Eivai alla xai oot Eivai, qfloc Eotai 001 aya0oc ^ev yaQ amlmc Eoti tm aya0oc Eivai, qfloc 6E tm allm aya0öc;; amlmc aya0oc xai qfloc, ötav on^mv^o^ taüta a^m, motE ö Eotiv amlmc aya0öv, tm tohton allm, (1238 a 3-7). 61 Dirlmeier weist in seinem Kommentar zur EE (S. 402 f. zu 71, 29) ehenfalls auf die Parallele zu NE VIII.4 hin und meint, daß »der Ahschnitt insofern in das Hauptthema zu passen [scheint] als auch hier, mit Hilfe der stillschweigenden Umwandlung der Güter­ lehre in eine personale Wertlehre, eine Distanzierung zwischen >erster< Fr. und NutzenFr. ausgesprochen wird«. ^ 173

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Mensch mag, da er im Besitz dieser tugendhaften Eigenschaften etwa der Beständigkeit und Verläßlichkeit - ist, als ein guter Freund erscheinen. Keineswegs ist mit der Feststellung dieser Eigenschaften auch bereits mitgegehen, daß dieser andere sich als Freund für einen selbst erweist. Dazu bedarf es eines speziellen praktischen Kontextes, innerhalb dessen sich der andere tatsächlich als Freund einem selbst gegenüber verhält. 2.1.3 Freundschaft und Wohlwollen Während sich Aristoteles in den letzten Überlegungen ausschließlich mit dem ^iX/^TÖv und der damit eng zusammenhängenden freund­ schaftlichen Zuneigung, der 91X^015, befaßte, geht er im nächsten Abschnitt (1155 b 27-1156 a 5) zur Wohlgesinntheit bzw. zur Ab­ sicht, dem Freund das Gute zu wünschen, über. Dieser Übergang ist unproblematisch und bietet sich von der Sache her direkt an: Sowohl das Wohlwollen als auch Gutes (ßonk^oi5 ayaBoü) zu wünschen sind Phänomene, die unmittelbar mit der Zuneigung für einen ande­ ren Menschen verbunden sind und gleichsam als deren natürlicher Ausdruck und als »Tätigkeit« verstanden werden können.62 Nicht eindeutig hingegen ist, was Aristoteles unter dem »Gutes wünschen« versteht, wie es für die Freundschaft konstitutiv ist. Man muß, so heißt es, die Zuneigung zu unbeseelten Dingen aus der Definition der Freundschaft heraushalten, da es bei diesen Dingen weder Gegen­ liebe noch Gutes zu wünschen gibt.63 Und als Beispiel verweist Ari­ stoteles darauf, daß es lächerlich wäre, dem Wein Gutes zu wollen; man will ihn allenfalls erhalten, um ihn genießen zu können. Anders hingegen verhält es sich im Falle des Freundes, dem man, wie man sagt, gute Dinge um seinetwillen wünscht.64 Geht es Aristoteles in diesem Vergleich um die Unterscheidung einer »selbstlosen« Liebe des Freundes von einer interessegeleiteten Besorgnis um den Wein? Oder aber soll dieser Vergleich der Verdeutlichung dienen, wonach die Zuneigung zum Freund im Gegensatz zu jener zu leblosen Din­ gen eine Gegenliebe zumindest potentiell nach sich führt? 62 Man könnte diesen Übergang auch mit jener Stelle im Symposion vergleichen, wo Platon im Anschluß an die Darlegungen über den Eros, der das Gute zu besitzen strebt, dazu übergeht, als die charakteristische Tätigkeit des Eros seine »Fortpflanzung« zu untersuchen.. 63 oh yd@ eoTiv dvTi^iX^oig, ohöe ßohX^oig exeivwv dyaöoh (1155 b 28f.). 64 tw öe ^aol öetv ßohXeoöai Tdyaöd exeivon evexa (1155 b 31). 174

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Beide Interpretationen sind nicht auszuschließen, doch hietet sich aufgrund unserer hisherigen Darstellung der Aristotelischen Untersuchung zur Zuneigung, wie sie durch das jeweilige Referenzohjekt, das Liehenswerte, hervorgerufen wird, noch eine andere Les­ art dieser Stelle an. Das Bedingungsverhältnis von Zuneigung und Liehenswertem vorausgesetzt, muß die Unterscheidung hezüglich des infragestehenden Wohlwollens am jeweiligen zugrundeliegen­ den Ohjekt erfolgen. Im Gegensatz zum Freund, dem man wohlwill, ist der Wein als unheseelter Gegenstand nicht als solcher ein Gut, er ist es allenfalls hinsichtlich der Intention des Menschen, der ihn hewahrt, um ihn zu einem späteren Zeitpunkt zu trinken. Demgegenüher wünscht man einem Menschen das Gute, das ihm zu eigen ist. Ihm Gutes zu wollen hieße dementsprechend auch zu wünschen, daß das Gute, das er hesitzt, (durch ihn selbst) hewahrt und gefördert wird. Wenn diese Interpretation zutrifft, dann ist mit dem »Guten wünschen« an dieser Stelle nicht mehr hehauptet, als daß zum einen das hetreffende Referenzohjekt selhst und unahhängig von dem, der nach ihm verlangt, ein Gut hesitzen muß - es ist ein Gut, das nicht erst durch die intentionale Ausrichtung des Menschen zustande­ kommt. Diese »Unahhängigkeit« ist eine Besonderheit der Bezie­ hung unter den 91I0L; die Freunde schätzen einander aufgrund dieser Tatsache. Ferner enthält das Gute wünschen eine Wechselseitigkeit in der Intention der Bewahrung dieses Gutes. Keineswegs wird damit in irgendeiner Weise etwas in Richtung einer »selhstlosen« Zuneigung einem Freund gegenüher präjudiziert. Die Wendung »um seinetwil­ len«, exetvou evexa, weist hingegen darauf hin, daß der Freund als Inhaher eines Gutes auch Gegenstand des entsprechenden Wunsches sein kann. Jemandem in dieser Weise Gutes zu wünschen, wird von Aristo­ teles in Anlehnung an den Sprachgehrauch als Wohlgesinntheit (euvota) hezeichnet.65 Solange dieser Wunsch nur einseitig ist und nicht erwidert wird, hat man von Wohlgesinntheit zu sprechen; heruht er auf heiden Seiten, kann auch von Freundschaft die Rede sein. Auf die Wohlgesinntheit kehrt die Erörterung erst im fünften 65 Im Lateinischen wird sie als »henevolentia« ühertragen. Vgl. etwa den Kommentar zur Nikomachischen Ethik von Thomas von Aquin: Sententia lihri ethicorum. - In: Opera omnia iussu Leonis XIII P. M. Edita. Cura et studio fratrum praedicatorum. Bd. 47. Rom 1969, zu: 1155 h 32. ^ 175

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Zweiter Teil: $tXog und $iXta: Aristoteles’ Theorie der Freundschaft

Kapitel des neunten Buches zurück. Allerdings wird sie, nachdem in den dazwischenliegenden Kapiteln bereits eine definitive Bestim­ mung der Freundschaft erreicht wurde, präziser als initiales und af­ fektives Moment erfaßt, das zur Freundschaft hinführen kann. Einem anderen Menschen wohlgesinnt sein, schließt nach Aristoteles eine affektive Anteilnahme am Leben des Anderen ein, bedeutet je­ doch nicht, daß man sich für das Wohl des Anderen auch einsetzt. Eben dieses Ausbleiben eines kooperativen Verhaltens unterscheidet das Wohlwollen präzis von der Liebe zu einem Freund, weshalb Ari­ stoteles auch vom Wohlwollen als einer »untätigen Freundschaft«66 sprechen wird. So mag das Wohlwollen zwar ein hinreichender, je­ doch kein notwendiger Grund für die Entstehung der ^lAta sein. Ent­ scheidend an dieser metaphorischen Redensweise vom Wohlwollen als einer »untätigen Freundschaft« ist die Einsicht, daß die Anteil­ nahme am Leben eines anderen Menschen noch ohne jegliche wil­ lentliche und tätige Regung ist. Diejenigen, die wohlgesinnt sind, wünschen zwar dem Freund das Gute, freilich streben sie nicht nach einem gemeinsamen Handeln.67 Was darüber hinaus die geläufige Annahme des Wohlwollens als Bestandteil einer Freundschaft enthält und weshalb sie mit Recht als deren Vorform betrachtet wird, zeigt einmal mehr die Frage, ob das Wohlwollen oder, wie man auch sagen könnte, die Anteilnahme am Leben des Anderen eigennützigen Motiven entspringt. In der Antwort auf diese Frage macht Aristoteles geltend, daß der Wunsch, einem anderen möge es gut ergehen, nicht einem Nutzenkalkül ent­ springt, und umgekehrt jeder, der aus eigennützigen Motiven dem Anderen Gutes wünscht, diesem gegenüber nicht wohlgesonnen ist. Wer aber dem anderen wegen eines eigenen Nutzens behilflich ist, der könne nicht ein Freund sein.68 Man könnte folglich in der Aristo­ 66 610 ^eta^EQmv qiai,r| tig av ahtf|v aQyf|v Eivai ^iXtav (1167 a 10f.). 67 Auf diese Unterscheidung gilt es insbesondere gegenüber jener Aufassung hinzuwei­ sen, die wie J. Cooper in der Affektivität der Freundschaft einen zentralen Aspekt der Aristotelischen Freundschaftstheorie erblicken, den dieser infolge seiner Selbstver­ ständlichkeit nicht eigens thematisiert habe. Vgl. J. M. Cooper: Aristotle on Friendship, S. 308, Anm. 9. Eine wohl überzogene Gegenposition hierzu vertritt Catherine Osborne mit ihrer These, »that Aristotle's analysis of philia is not concerned with loving others«. Catherine Osborne: Eros unveiled, bes. S. 139-163, hier S. 151. 68 o 6e ßonko^Evog tiv’ EnrngayElv, Ekra6a Exmv EhmoQtag 6h ExeIvou, ohx Eoix’ Euvong EXEtvm Etvai, äkka ^äkkov Eantm, xa0arnEQ oh6E qfkog, e! 0EQarnEUEi ahtöv 6ia tiva X0^oiv. (»Wer einem anderen Wohlergehen wünscht, in der Hoffnung, er werde dann von jenem profitieren, scheint nicht jenem wohlgesinnt zu sein, sondern 176

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telischen Fassung der euvoia eine affektive Regung gleich dem des Gefallens, das man an einer anderen Person findet, erblicken, wobei für diese Wohlgesinntheit ihr kognitiver Charakter, mittels derer die betreffende Person als ein Gut erkannt wird, charakteristisch ist. Gleichzeitig schließt die Wohlgesinntheit weder ein gemeinsames Handeln noch eine irgendwie geartete volitive Strebung mit ein. Wir haben auf die späteren Ausführungen Aristoteles' über die Wohlgesinntheit vorgegriffen, um zeigen zu können, daß ihre Ein­ führung in NE VIII.2 nur in bedingtem Umfang für die Bestimmung der Freundschaft, wie sie Aristoteles hier beabsichtigt, tauglich ist. Im zweiten Kapitel knüpft Aristoteles an die sprachliche Gepflogen­ heit, wonach Freundschaft eine gegenseitige Wohlgesinntheit ent­ hält,69 eine für die nachfolgenden Ausführungen über die Freund­ schaft folgenreiche Zusatzbedingung, die sich zuvor im Hinweis auf das Erfordernis der Gegenliebe (avTL^d^OLc;) bereits ankündigte. Demzufolge reicht zur Bestimmung der Freundschaft der gegenseiti­ ge Wunsch, sich Gutes zu tun, nicht aus; hinzu kommt das Erforder­ nis, erkennen zu können, daß auch der Freund tatsächlich die gleiche Absicht besitzt. Auch wenn Aristoteles sich an dieser Stelle sehr kurz hält, wird doch hierin bereits eine wichtige Vorentscheidungen hinsichtlich der ^ikla getroffen. Damit überhaupt von der ^ikla als einer zwischen­ menschlichen Beziehung die Rede sein kann, kommt es nach Aristo­ teles offensichtlich entscheidend darauf an, daß es eine Art der Ge­ meinsamkeit gibt, auf deren Grundlage wiederum einer den anderen aus demselben Grund lieben kann, wie er selbst auf Grund dessen vom anderen geliebt wird. Mit dem konstitutiven Merkmal des Wis­ sens darum, daß auch der Freund um die eigene Wohlgesinntheit weiß, wird hervorgehoben, daß es sich bei der ^ikla um etwas han­ delt, was »zwischen« den betroffenen Personen besteht. Dieses »zwi­ schen« läßt sich präziser und auf der Grundlage des Textes dahin­ gehend umschreiben, daß ein jeder seine Wohlgesinntheit in einer noch näher zu beschreibenden Weise mit der Wohlgesinntheit des anderen ihm gegenüber in einem Verhältnis sehen muß. Insofern ist die Gegenseitigkeit in einer Freundschaftsrelation nur dort gewähr­

eher sich selbst; so ist er auch kein Freund, wenn er jenem wegen irgendeines Nutzens dient«, 1167 a 15-18). 69 euvoiav ya@ ev dvtLrtertovöoai ^iXlav eivai (1155 b 33 f.). ^ 177

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Zweiter Teil: $tAog und $tAta: Aristoteles’ Theorie der Freundschaft

leistet, wo sich die Beteiligten über ihr gegenseitiges Einander-Gutsein auch im Klaren sind und ihnen dies nicht verborgen bleibt. Dieser Aspekt ist, wie sich auch noch im Folgenden in der Unter­ suchung der Beständigkeit zeigen wird, insofern von grundlegender Bedeutung, als erst durch seine Einführung Aristoteles die Behand­ lung der ^tkta nicht auf die jeweilige Art der Wertschätzung eines Menschen durch einen anderen einschränkt. Erst durch den Aspekt der Gegenseitigkeit wird der interpersonale Charakter der ^lAta sichtbar, wie er zwar stets auf die beteiligten Personen zurückver­ weist, nicht aber auf deren individuelle Strebungen zurückgeführt werden kann. Die Präzisierung der ^lAta durch den Begriff der Ge­ genseitigkeit ist ohne weiteres einsichtig, ihm kommt überdies die Funktion zu, eine Folgerung vorzubereiten, die Aristoteles im späte­ ren Verlauf ausdrücklich macht: Eine grundlegende Voraussetzung aller Freundschaft ist eine Verbundenheit, wie sie aus dem Zusam­ menleben (on^v) hervorgeht.70 Freundschaft, so heißt es zum Abschluß des zweiten Kapitels des achten Buches, bedeutet folglich »einander wohlgesinnt sein und das Gute wünschen, und zwar so, daß man dies voneinander weiß, und zwar auf Grund einer der angeführten Dinge.«71 72 Die ersten beiden Glieder dieser Festlegung, nämlich das einander wohlgesinnt sein bzw. das Gute wünschen sowie das Wissen darum, können nach dem Gesagten als bekannt vorausgesetzt werden. Anders verhält es sich mit der letzten Bemerkung, bei der offen ist, worauf sie sich bezieht. Welche der erwähnten Dinge sind es, die hier in diese Bestimmung der Freundschaft eingehen und die deshalb auch als relevant angese­ hen werden müssen? Dies ist schon deshalb nicht unwichtig, weil Aristoteles offenbar in der zitierten Passage eine erste Definition der ^lAta gibt, von de­ ren Verständnis auch die Einschätzung der nachfolgenden Ausfüh­ rungen über die einzelnen Freundschaftsformen abhängt. Angenom­ men, es handelt sich bei dieser Stelle um eine Definition der Freundschaft sensu strictu/2 und jede zwischenmenschliche Bezie­ 70 Vgl. 1157 b 19: ovbev yaQ oütmg EOti qfkmv mg to ou^v (»Denn nichts charakte­ risiert so sehr die Freundschaft wie das Zusammenleben«). 71 Sei aga ehvoEiv äkk^kotg xai ßonkeoBat täya0a ^f| kav0avovtag 6h ev tt tmv EtQ^^Evmv (1156 a 3-5). 72 Was unter einer Definition im strengen Sinne zu verstehen ist, läßt sich am besten anhand des ersten Kapitels der Kategorien zeigen. Eine Definition wäre dann gegeben, 178

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hung, sofern sich für sie das Charakteristikum der Wohlgesinntheit aufweisen lasse, ist folglich auch als Freundschaft anzusehen, dann wären Aristoteles' nachfolgende Darlegungen über die Unterschiede zwischen Nutzen-, Lust- und Tugendfreundschaft zumindest hin­ sichtlich der Wohlgesinntheit irrelevant. Alle drei Formen wären in der entscheidenden Hinsicht bereits als Freundschaft definiert.73 Anders hingegen verhält es sich, wenn man - wie es auch in den herkömmlichen Kommentaren der Fall ist74 - davon ausgeht, daß es sich bei dieser Stelle um eine erste und vorläufige Bestimmung der Freundschaft handelt, die einer weiteren Präzisierung bedarf. Inter­ pretiert man die Stelle in diesem Sinne, so wäre von den nachfolgen­ den Ausführungen eine weitere Differenzierung hinsichtlich der Freundschaft zu erwarten. Für die letztere Interpretation sprechen noch mehrere Gründe. Zum einen führt Aristoteles in den der Passa­ ge unmittelbar folgenden Zeilen aus, wie die drei Formen der Freund­ schaft ein und demselben Genus zugehören, was bei einer Definition sensu strictu kaum vonnöten wäre (vgl. 1157 a25ff.; 1158 b 5-11). Zum anderen legen bestimmte Wendungen, wie sie Aristoteles in Bezug auf die Freundschaft der Tugendhaften benutzt, wenn er von dieser etwa als Freundschaft schlechthin spricht, nahe, daß es ihm in der Untersuchung der Freundschaftsformen tatsächlich um eine hier­ archische Abstufung geht. Nicht zuletzt wird Aristoteles in NE VIII.7 geltend machen, daß der Wunsch des Guten nicht in allen drei For­ men verwirklicht ist. wenn die Glieder der Definition eine gemeinsame Klassenzugehörigkeit aufweisen, wenn diese also gemäß den Ausführungen in den Kategorien Synonyme sind. (Cat. 1 a 7f.). Demgegenüber wäre von einer weiten oder vorläufigen Definition dann zu spre­ chen, wenn ihre Glieder darin übereinstimmen, daß sie denselben Namen tragen, sich auf diesen jedoch nicht in derselben Bedeutung beziehen (Vgl. Cat. 1 a 1). Im letzteren Falle wäre eine weitere Differenzierung hinsichtlich der unterschiedlichen Spezies er­ forderlich (vgl. Top. VI. 2, VI.8 und VI.10). 73 Für diese Interpretation hat sich insbesondere Cooper mit seiner These ausgespro­ chen, gemäß der Aristoteles den Begriff der ^iXia zur Bezeichnung unterschiedlichster Formen sozialer Beziehungen unter Menschen benutze, Formen, die jeweils darin über­ einstimmen, daß in noch zu differenzierender Weise ein Mensch sich für einen anderen um seinetwillen sorgt. Diese auf breite Resonanz stoßende These findet sich erstmals in seinem Aufsatz: Aristotle on the Forms of Friendship. - In: Review of Metaphysics 30 (1976/77), S. 619-648; Cooper hat sie erweitert nochmals vorgetragen in: Friendship and the Good in Aristotle. - In: The Philosophical Review 86 (1977), S. 290-315. Eine überarbeitete Zusammenfassung der beiden letztgenannten Beiträge stellt sein Artikel dar: Aristotle on Friendship. 74 Gauthier/Jolif II, S. 670ff. Dirlmeier, Kommentar zu NE, zur Stelle. ^ 179

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Nun liegt es insbesondere für jene Interpretation nahe, die in NE VIII.2 bereits eine präzise Definition der Freundschaft sieht, zur Stützung dieser Annahme auf eine ähnliche Bestimmung zu verwei­ sen, die Aristoteles im vierten Kapitel des zweiten Buches der Rheto­ rik gibt. Freundschaft bedeutet, so heißt es hier, dem Freunde das Gute wünschen, und zwar um des Freundes willen: Lieben sei also, einem anderen das wünschen, was man für Güter hält, und zwar um dessent- und nicht um unseretwillen und nach Kräften dafür tätig sein. Freund aber ist der, der liebt und wieder geliebt wird. Die aber glauben Freunde zu sein, die sich in einem solchen Verhältnis miteinander wähnen. Legen wir nun diese Definition zugrunde, so muß ein Freund derjenige sein, der über das Gute Mitfreude empfindet, über das Traurige aber mit leidet, und zwar nicht aus irgendeinem anderen Grun­ de, sondern nur aufgrund jenes.75 Ein Vergleich der in dieser Definition aus der Rhetorik erwähnten drei konstitutiven Aspekte der Freundschaft - nämlich (1) das Gute wünschen, dies nicht (2) um seiner selbst, sondern um des Freundes willen sowie (3) das Bewußtsein dieser Gegenseitigkeit - mit der Stelle aus NE VIII.2 zeigt, daß Aristoteles in der Ethik das zweite Charakteristikum nicht mit in die Definition aufnimmt. Stattdessen wird als notwendige Voraussetzung für die Rede von Freundschaft ausschließlich das gegenseitige Wohlwollen sowie die Bekanntheit mit der Intention des Anderen erwähnt. Vor dem Hintergrund der Definition aus der Rhetorik läßt sich im Blick auf die Stelle aus der Ethik auch die These stark machen, daß Aristoteles mit dem Hinweis auf die »bereits erwähnten Dinge« sich auf jenen Aspekt bezieht, wonach die Freundschaft jeweils ein­ schließt, daß man dem Freunde um seinetwillen das Gute wünscht. In dieser Argumentationslinie ließe sich dementsprechend auch das

75 Eotm 6f| TÖ 91XEIV tö ßohXEO0al tivi & oiEtai äya0d, exeIvou EVExa aXXa ^,f| ahtoü, xai TÖ xata Suva^iv rngaxtixov Eivai toutmv. 91X05 6’ eotIv o 91XÖV xai dvti^iXou^EVog. olovtai 6e qfXoi Eivai oi oütmg exeiv olo^EVoi mQÖg aXX^Xong. toutmv 6e hmoxEi^Evmv dvdyxr| qfXov Eivai töv onvr|6ö^EVov tofg aYa0oi5 xai ouva^youvta tofg Xurn^Qoig ^f| 6ia ti eteqov aXXa 6i’ exeevov. (1380 b 35­ 1381 a 6). Vgl. zu dieser Stelle insbesondere J.-C. Fraisse: Philia. La notion d'amitie, sowie John M. Cooper: Friendship and the Good in Aristotle. Beide Autoren interpretie­ ren den Gehalt der Aristotelischen Freundschaftskonzeption im Ausgang und im Bezug auf die Stelle der Rhetorik. 180

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oben erwähnte Weinbeispiel als ein Hinweis auf die Uneigennützig­ keit der Wohlgesinntheit interpretieren.76 Gegen eine solche These, die zum Verständnis der Freund­ schaftsdefinition von NE VIII.2 auf eine ähnlich lautende Be­ stimmung aus der Rhetorik zurückgreift, ist jedoch nicht nur ein­ zuwenden, daß die Rhetorik eine Sammlung von Überlegungen und Betrachtungen darstellt, die ihrem Charakter nach nicht dem Stan­ dard von Definitionen genügen. Gerade das Ausbleiben jenes Aspekts der Freundschaft, wonach man dem Freunde um seinetwillen das Gute wünschen solle, legt die Annahme nahe, daß Aristoteles in der Nikomachischen Ethik eine systematische Theorie der Freund­ schaft gerade im Ausgang von diesem Charakteristikum der Freund­ schaft zu entwickeln sucht. Was in ihrer Umschreibung in dem ande­ ren Sachzusammenhang der Rhetorik als gegeben vorausgesetzt werden konnte, soll nun im Rahmen der moralphilosophischen Un­ tersuchung des vorzüglichen Handelns des Menschen eine eigene Begründung erfahren. Zugleich soll die im zweiten Kapitel aufgewor­ fene Frage, ob und in welcher Weise es noch mehrere Gestalten der Freundschaft gebe, durch die Klärung dieses Momentes, dem Freunde das Gute um seiner selbst willen zu wünschen, entschieden werden. Diese Annahme würde auch das Fehlen des zweiten Aspekts in der vorläufigen Freundschaftsdefinition verständlich machen: Da dieser Aspekt noch ungeklärt ist und im Folgenden erst zu entwickeln sein wird, kann er an dieser Stelle auch nicht in die Definition mit aufge­ nommen werden. Auch die Fortsetzung der Erörterung im dritten Kapitel läßt da­ rauf schließen, daß die vorläufige Definition der Freundschaft noch nichts hinsichtlich der drei Formen der Freundschaft, der des Nutzens (X0B°Lhov)77, der der Lust (^8n) sowie der gemäß der Tugend wegen 76 Cooper: Friendship and the Good in Aristotle; ders.: Aristotle on Friedship, vertritt die These, daß die Definition der Freundschaft aus der Rhetorik den in den Ethiken behan­ delten Freundschaftsformen des Nutzens, der Lust sowie der Bestheit jeweils zugrun­ deliege. Ähnlich M. Nussbaum: The Fragility of Goodness, hier Teil II, Kapitel 12. Fer­ ner Julia Annas: The Morality of Happiness, Oxford 1993, S. 249 ff. Anders hingegen Price: Love and Friendship in Plato and Aristotle, der in den »niederen« Formen der Freundschaft, also der gemäß des Nutzens und der Lust, Zweifel anmeldet, ob diese tatsächlich noch als Formen der Freundschaft thematisiert werden können. 77 Genau genommen nennt Aristoteles noch zwei Formen der Freundschaft, die auf dem gegenseitigen Nutzen aufbauen: die eine ist jene Freundschaft, die auf dem Gesetz auf­ baut, eine andere hingegen, die auf dem Charakter beruht. Da die erstgenannte lediglich durch Abmachungen zustandekommt und auf den kommerziellen Bereich beschränkt ^ 181

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Zweiter Teil: $iLog und $iLia: Aristoteles’ Theorie der Freundschaft

(xat’ apet^v) präjudiziert. Was allen drei »Arten« (el'öei) der Freundschaft eignet, ist die Gegenseitigkeit, die den Betroffenen nicht verborgen bleibt. Und ferner geht es in jeder Form der Freund­ schaft, gleich ob sie von nützlichen Motiven, von der Lust oder der Vorzüglichkeit bestimmt ist, in irgendeiner Weise um ein Gutes, das man sich gegenseitig wünscht. Dieses gegenseitige Wohlwollen, wie es einer Freundschaftsrelation zugrundeliegt, läßt sich allerdings nicht erklären, wenn man es einfachhin als gegeben annimmt. Es wirft vielmehr von sich aus die Frage auf, um wessentwillen ein Mensch dem anderen wohlgesonnen ist bzw. was man in der Wert­ schätzung des Freundes liebt. Daß Freundschaft, ausschließlich als eine Beziehung zwischen zwei Personen genommen, sich nicht ver­ stehen läßt, sofern nicht der implizite Bezug zum Guten, in dem ein jeder steht, berücksichtigt wird, diese Einsicht formuliert Aristoteles, indem er schreibt: »die einander Liebenden wollen also einander das Gute in der Hinsicht, in der sie einander lieben« (1156 a 9).78 In allen drei Formen der Freundschaft findet sich folglich der formalen Struk­ tur nach jeweils etwas, was als wertvoll bzw. liebenswert bejaht wird. Und erst eine genauere Untersuchung des jeweils faktisch als liebens­ wert Anerkannten vermag Aufschluß darüber zu geben, in welcher Hinsicht die drei behandelten Formen der Freundschaft nicht nur mögliche Ausgestaltungen sind, sondern inwiefern der Freundschaft xat’ apex^v als die vollkommene79, die anderen hingegen als ihre Derivate bestimmt werden. 2.1.4 Zur Analogie der Freundschaftsverhältnisse Erst im dritten Kapitel des achten Buches unternimmt Aristoteles den Versuch, nach der Erwähnung landläufiger Ansichten sowie der Be­ deutungsanalyse grundlegender Termini argumentativ zu begrün­ bleibt, jedoch kaum ein »freundschaftliches Element« enthält, wird sie zwar erwähnt, in der Analyse der Freundschaftsformen jedoch nicht in Betracht gezogen (1162b21— 1163 a 9). Ähnlich bereits die EE 1242 b 31—1243 b 14. Vgl. dazu auch Cooper: Friendship and the Good in Aristotle, S. 639, Anm. 20. 78 Bereits der Platonische Lysis zeichnete diese Problemstellung vor. Vgl. oben, Ab­ schnitt 1.1.3. 79 Aristoteles nennt diese Freundschaft auch xeXeia (»vollkommen«, 1156 b 7). Sie ist die »erste und wichtigste« (rtpwtwg xal xopirng), der die übrigen »gemäß der Ähnlich­ keit« (xaö5 o^oiot^ta) entsprechen. Vgl. 1157 a 30f. Zur Analogie der Freundschafts­ verhältnisse vgl. auch Fortenbaugh: Aristotle's Analysis of Friendship: Function and Analogy, Resemblance, and Focal Meaning. 182

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den, weshalb unter den drei Freundschafts-Verhältnissen jene Be­ ziehung unter den Tugendhaften als die vollkommene (xekeia, 1156 b 7) zu gelten hat. In diesem Zusammenhang lautet die Be­ gründung ex negativa, die Freundschaftsverhältnisse des Nutzens so­ wie der Lust seien dadurch charakterisiert, daß in ihnen sich die Freun­ de des Nutzens bzw. der Lust wegen, nicht aber »als solche« (xa6’ autonc;, 1156 a 11), geliebt würde. Infolgedessen seien intersubjekti­ ve Beziehungen, die sich auf Lust oder Nutzen gründen, auch unbe­ ständig. Es ist nun dieser Abschnitt, von dem zu erwarten steht, dass er in der Erörterung der unterschiedlichen Formen der Freundschaft An­ haltspunkte dafür bietet, weshalb die Tugendfreundschaft die vorran­ gige Gestalt eines kooperativen Verhaltens darstellt. Insbesondere wird in den folgenden Argumentationsschritten in NE VIII.3 im Blick auf unsere Ausgangsthese darauf zu achten sein, inwiefern in die Be­ gründung der idealen Gestalt des kooperativen Verhaltens zwischen Menschen deren jeweiliger Selbstbezug bereits mit eingeht. Die Absicht, die Aristoteles bei der Gegenüberstellung der Freundschaftsverhältnisse bewegt, ist offenkundig: Es soll die Freundschaft der Tugendhaften, in welcher der andere jeweils um seiner selbst willen wertgeschätzt wird, als die moralisch vorzügli­ che Weise eines zwischenmenschlichen Verhaltens aufgewiesen wer­ den. Nicht minder einsichtig ist auch die Schwierigkeit, mit der ein solches Unterfangen von vornherein zu rechnen hat: Subsumiert man nämlich unter dem Begriff der ^lAta sowohl jene zwischen­ menschlichen Beziehungen der Nutzen- und Lustfreundschaft als auch jene der Freundschaft unter tugendhaften Menschen, so stellt sich zwangsläufig die Frage, worin jenes verbindende Moment be­ steht, das eine Analogie der unterschiedlichen Gestalten der Freund­ schaften zu begründen vermag. Anders gefragt: Wie kann ein und derselbe Ausdruck, das ^lLely, sowohl als Umschreibung für jene intersubjektive Beziehung verwendet werden, in welcher der Freund um seinetwillen geschätzt wird, als auch für jene Beziehungen, in denen es um vorläufige, der Person des anderen nicht angemessene Zwecke geht. Folgt Aristoteles an dieser Stelle einfach den Usancen der Umgangssprache, die den Ausdruck ^lAia noch in einem unspe­ zifischen Sinne für die Bezeichnung aller möglichen Formen zwi­ schenmenschlicher Verbindungen bereithält,80 oder verwendet er 80 Vgl. etwa 1157 a 25-32: ernel yaQ oi av6Qmmot lEyouoi qAouc xai toüc 6ta to XQ^ot^ov, morneQ ai möleic (Soxoüoi yaQ ai ou^axiat taic möleoi yivEo6ai evexu ^ 183

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die Mehrdeutigkeit des Ausdrucks als einen Beleg für seine eigene Theorie der Freundschaft? Zum einen bleibt also das Verhältnis der unterschiedlichen For­ men der Freundschaft untereinander zu klären, was sie miteinander verbindet und worin sie sich unterscheiden. Diese Frage ist schon deshalb für Aristoteles' Ausführungen bedeutsam, weil es ihm in seiner philosophischen Theorie der Freundschaft gerade darum zu tun ist, nicht eine einzelne, weil vollkommene Form der Freundschaft herauszustellen und diese begrifflich wie der Sache nach von anderen Formen der Freundschaftsverhältnisse abzugrenzen; vielmehr soll deren Analogie bewahrt bleiben. Erschwert wird die Beantwortung dieser Frage allerdings durch folgendes Dilemma: Hält man an der Definition der Freundschaft der Tugendhaften fest, für die charakte­ ristisch ist, daß man dem Freund um des Freundes willen das Gute wünscht, dann ist nicht einsehbar, weshalb man zwischenmensch­ liche Beziehungen, die auf dem Nutzen bzw. der Lust beruhen und in denen ausschließlich egozentrische Motive zu dominieren schei­ nen, noch als Freundschaften bezeichnen will.81 Die im 3. Kapitel vor­ xov uu^e^ovrog), xal Tohg öi5 ^öov^v äXX^Xoug ate^yovTag, warte^ oi rtaiöeg, l'awg Xeyeiv ^ev Sei xal ^äg ^iXoug Tohg ToiouToug, elö’p öe T^g ^iXiag rtXeiw, xal rt^wTwg ^ev xal xu^Mg T^v twv äyaöwv p äyaöoi, Tag öe Xoirtag xaö5 o^oioT^Ta; (»Da nun die Leute auch solche als Freunde bezeichnen, die es wegen des Nutzens sind, und ebenso die Staaten (denn diese schließen die Bündnisse offenbar um des Vorteils willen), und da auchjene, die einander wegen der Lust lieben, so genannt werden, wie es bei Kindern der Fall ist, so werden vielleicht auch wir solche Menschen Freunde nennen müssen; dann gibt es mehrere Arten der Freundschaft, als erste und wichtigste die der Guten als gute, dann die übrigen gemäß der Ähnlichkeit.«). 81 Die Frage, wie die drei Typen der Freundschaftsverhältnisse logisch aufeinander zu beziehen sind, wird in der Literatur nicht erst in diesem Jahrhundert kontrovers dis­ kutiert. Schon der älteste der überlieferten spätantiken griechischen Kommentare zu den Aristotelischen Freundschaftsbüchern von Aspasios aus der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts n. Chr. befaßt sich mit dieser Frage. Vgl. dazu Paul Moraux: Der Aristotelismus bei den Griechen von Andronikos bis Alexander von Aphrodisias. Band 2: Der Aristotelismus im 1. und 11. Jh. n. Chr. (Peripatoi 6). Berlin, New York 1984, S. 290-293. In der neueren Forschung haben sich bezugnehmend auf die Aristotelischen rt^og ev-Analysen in der Metaphysik, derzufolge verschiedene Weisen, von etwas zu spre­ chen, auf einen einzigen zentralen Sachverhalt bezogen bleiben und »in bezug auf ein Eines gesagt sind« (rt^og ev Xeyeaöai), Gwilym Owen und Gauthier/Jolif dafür aus­ gesprochen, in der Analyse der Freundschaftsverhältnisse in der NE eine gemäß dieser Lehre von der Zentralbedeutung (»focal meaning« bzw. »focal analysis«) vorgetragene Untersuchung zu sehen. Vgl. Gwilym E. L. Owen: Logic and Metaphysics in Some Earlier Works in Aristotle. - 1n: 1ngemar Düring and Gwilym E. L. Owen (eds.): Aristotle and Plato in the Mid-Fourth Century. Göteborg 1960. Gauthier/Jolif 11, S. 669 und 686. 184

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genommene Einteilung der einzelnen Freundschaftsformen scheint folglich der Analogiethese augenscheinlich zu widersprechen. Hier nämlich führt Aristoteles scheinbar aus, daß zwischenmenschliche Beziehungen, die sich vom Nutzen oder von der Lust her bestimmen, eigennützigen Motiven entspringen und infolgedessen nicht jenes Moment enthalten, demzufolge man dem anderen um seiner selbst willen das Gute wünscht. Diejenigen, so heißt es, deren gegenseitige Wertschätzung auf dem Nutzen oder der Lust beruht, tun es um des eigenen Nutzens bzw. der eigenen Lust wegen, »und nicht sofern der Freund ist, was er ist, sondern nur soweit er nützlich oder angenehm ist.« (1156 a 15 f.) Ferner heißt es von diesen beiden Formen der Freundschaft, sie dauerten nur solange, als das jeweils versprochene Gut Bestand hat, beide Formen der Freundschaft lösten sich deshalb auch bald auf.82 Gerade ein Blick auf den Argumentationgang in der Ende­ mischen Ethik zeigt, daß es in der Absicht Aristoteles' liegt, in den verschiedenen Freundschaftsformen ein analoges Verhältnis aufzu­ weisen, ihre Gemeinsamkeit bei aller Unterschiedenheit aufzu­ decken.83 Wie in der Nikomachischen Ethik findet sich die Unter­ scheidung der Freundschaft gemäß des Nutzens, der Lust sowie der Bestheit ebenfalls in der Endemischen Ethik. Auch hier wird hervor­ gehoben, daß sich die Wertschätzung einer anderen Person aufgrund ihrer vorzüglichen Charaktereigenschaften qualitativ vor den beiden anderen Formen der Freundschaft auszeichnet. Dabei argumentiert Zum Begriff der »focal analysis« vgl. insbesondere Joseph Owens: The Doctrine of Being in the Aristotelian Metaphysics. Toronto 21963, S. 116-125. Dieser Auffassung gegenüber hat Fortenbaugh ausgehend von einer Interpretation der Freundschafts­ bücher der NE die Ansicht vertreten, Aristoteles habe hier die fehlgeschlagene »focal analysis« der EE zugunsten einer Zuordnung der drei Freundschaftstypen »in terms of resemblance and [...] in terms of function and analogy« (S. 62) aufgegeben. Während die Freundschaft der Tugendhaften vollkommen (teXeia) im Sinne von umfassend sei, da sie gleichzeitig den Nutzen wie die Lust miteinschließe, würden die beiden anderen Typen zumindest eines dieser Elemente entbehren. Vgl. W. W. Fortenbaugh: Aristotle's Analysis of Friendship. Ähnlich bereits Geoffrey Percival: Aristotle on Friendship, Lon­ don 1940, S. 22 f. Zur Kritik an Fortenbaugh vgl. insbesondere Walker: Aristotle's Account of Friendship in the Nicomachean Ethics. 82 Wir können an dieser Stelle weitere Differenzierungen, die Aristoteles hinsichtlich der Freundschaft aus Nutzen bzw. der Lust anbringt, außer Betracht lassen. Vgl. etwa 1157 a 5-16. Vgl. auch 1158 a 21, wo Aristoteles die Freundschaft aus Nutzen als »or­ dinär« (dyo^aiwv) bezeichnet. Außerdem 1162 b 11-20. 83 Vgl. dazu im Einzelnen Julie K. Ward: Focal reference in Aristotle's account of philia: Eudemian Ethics VII.2. - In: Apeiron 28 (1995), S. 183-205. ^ 185

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Aristoteles’ Theorie der Freundschaft

Aristoteles in der Endemischen Ethik (VII.2.1236 a 16 ff.), daß die drei Arten von Freundschaft nicht im strengen Sinne Arten einer gemeinsamen Gattung sind. Andererseits wäre ebenso die Annahme verfehlt, daß alle drei Formen in keinerlei Hinsicht etwas gemeinsam haben, »Freund­ schaft« also lediglich ein mehrdeutiger Ausdruck sei. Das Verhältnis der drei Formen der Freundschaft ist vielmehr, so Aristoteles, das einer analogischen Beziehung, innerhalb derer die Freundschaft xar’ aperqv die »erste« ist,84 die anderen Formen sich hingegen auf diese beziehen, und daher auch ihre Bezeichnung erhalten. Der Text fährt fort, indem er dieses Analogieverhältnis der Freundschaftsformen mittels des Vergleichs der Mehrdeutigkeit des Wortes »gesund« illu­ striert, das in mehrfacher Hinsicht und deshalb auch in einer vor­ rangigen, ersten Hinsicht ausgesagt werden kann.85 Gesund bzw. heilsam nämlich ist die Seele, der Leib als auch bestimmte Mittel (Werkzeuge), und es geht nicht an, in der Verwendung des Aus­ drucks »gesund« in mehrfacher Hinsicht eine Äquivokation anzu­ nehmen. Ebenso wie sich in der Vielsinnigkeit des Ausdrucks »ge­ sund« ein erstes ausmachen läßt, dem diese Bezeichnung im eigentlichen, weil im vollen Sinne, den anderen aber nur in davon abgeleiteter Weise zukommt, gibt es auch hinsichtlich der Rede von der Freundschaft eine »erste«, die das wahre Wesen darstellt, und andere, davon abgeleitete Formen der Freundschaft. Wie immer man nun im Einzelnen das Verhältnis der unter­ schiedlichen Freundschaftsformen zueinander bestimmt, die Aus­ führungen Aristoteles' scheinen auf jene zentrale Bestimmung hinauszulaufen, daß die erste Freundschaft in allen anderen, wie im­ mer gearteten Formen der Freundschaft mitgegeben sei. Abgelehnt wird damit jenes Modell, das die Annahme eines Gemeinsamen

84 Es liegt nahe, bei der Bezeichnung dieser Freundschaft als der »ersten« an die Plato­ nische Rede vom rtpwrov qfXov im Lysis (219 c) zu erinnern. Darauf wies erstmals Grote hin, worin ihm dann auch Werner Jaeger (Aristoteles. Grundlegung einer Ge­ schichte seiner Entwicklung, S. 254f.) und von Arnim (Die drei Aristotelischen Ethiken) folgten. Vgl. ferner Hans-Georg Gadamer: Freundschaft und Selbsterkenntnis. Zur Rol­ le der Freundschaft in der griechischen Ethik. - In: ders.: Gesammelte Werke Band 7 (Griechische Philosophie III: Plato im Dialog), Tübingen 1991, S. 396-406; hier S. 399. 85 Ähnliche Beispiele für die Illustration analoger Beziehungen finden sich etwa in Met. IV. 2.1003 b 1-3. Instruktiv ist die Studie von Joseph Owens: The Doctrine of Being in the Aristotelian »Metaphysics«. A Study in the greek background of mediaeval Thought. 3. Aufl., Toronto 1978, bes. S. 116 ff. 186

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in allen unterschiedlichen Formen der Freundschaft ausschließt (VII.2.1236 a 25-30) und das nur hinsichtlich des wahren Wesens der Freundschaft den Ausdruck gelten läßt.86 Statt dessen scheint zu gelten, daß die Definition der ersten Freundschaft in allen anderen Formen implizit enthalten ist, nicht umgekehrt jedoch die anderen Formen den vollen Sinn der Freundschaft vergegenwärtigen. Wir haben zuletzt einige der zentralen Anfragen und Schwierig­ keiten genannt, die mit der Interpretation von NE VIII.3-4 (bzw. mit EE VII.2) verbunden sind. Worin aber besteht nun die Analogie der Freundschaftsverhältnisse, welches verbindende Moment liegt ihnen jeweils zugrunde, das es rechtfertigen würde, sowohl im Blick auf die Charakterfreundschaft87 als auch auf die Nutzen- und Lustfreund­ schaften von unterschiedlichen Formen der ^ikta zu sprechen? Als eine mögliche Lösung dieses Problems scheinen sich nun die das 3. Kapitel einleitenden Überlegungen anzubieten, in denen der Übergang von der Freundschaftsdefinition zu ihren einzelnen For­ men vorgenommen wird. Zunächst ist die Rede von den Dingen, die sich hinsichtlich ihrer Form unterscheiden, eine Behauptung, die im gegenwärtigen Kontext wohl auf die Arten des ^ik/^tov zu beziehen ist.88 Dabei greift Aristoteles nochmals ausdrücklich das für alle For­ men der Freundschaft konstitutive Moment der Gegenseitigkeit auf. Entscheidend für die Zuordnung der jeweiligen Zuneigung zu den Freundschaftsarten scheint die nachfolgende Stelle zu sein, in der es

86 Vgl. 1236 b 21-23: tö ^ev ohv Exelvmg ^ovov kEyeiv töv qfkov ßidteo0ai xd qaivo^evd EOti, xai maQd6o|a kEyeiv dvayxafov; (»Unter Freundschaft also nur jene [gemeint ist die erste, PS] verstehen heißt den Tatsachen Zwang antun und führt not­ wendigerweise zu paradoxen Behauptungen«). 87 Gelegentlich wird in Übersetzungen und in der Literatur diese Freundschaft unter Tugendhaften, die sich nach Aristoteles um ihrer vorzüglichen Qualitäten willen schät­ zen, auch als »Charakterfreundschaft« oder als »Freundschaft der Charaktere« bezeich­ net. Ausdrücklich ist vom Charakter nur in 1164 a 12 f. (^tklai töv ^0öv) bzw. in 1165 b 8f. (qiikefo0ai 6td tö f0og) die Rede, doch kann man diese Bezeichnung auch auf ähnlichlautende Umschreibungen in 1156 b 7-9 oder 1157 a 19 f. beziehen, wo Ari­ stoteles von der Freundschaft aufgrund des Guten spricht. 88 Im Ganzen lautet die Stelle: Aia^EQEi 6e taüta dkk^kmv eiöei; xai al ^ik^oeig dga xai al qiiklai. tQta 6f| td t^g qiikiag el'6r|, lodQi0^a tofg ^ikr|tofg (»Doch diese Dinge unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Art; demnach unterscheiden sich auch die Zunei­ gung und die Freundschaft hinsichtlich ihrer Art. Es gibt also drei Arten der Freund­ schaft, entsprechend der Anzahl der Arten des Liebenswerten.« 1156 a 6-8; eigene Übersetzung). Daß zu Beginn der Stelle von den Arten des Liebenswerten die Rede ist, geht aus dem nachfolgenden Satz hervor. ^ 187

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heißt: »die einander Liebenden wollen also einander das Gute in der Hinsicht, in der sie einander liehen«.89 Wie aber hängt nun das »einander liehen« mit dem »Gutes zu wollen« zusammen? Wir sagten, daß Aristoteles' Erklärungsmodell des Liehens die Vorstellung zugrundeliegt, daß A den Freund B not­ wendigerweise aufgrund der Eigenschaft X, die B zu eigen ist, lieht. Wohlgesinntheit aber hzw. das Gute dem Freunde zu wünschen be­ zieht sich darauf, daß A den Freund B in der Hinsicht fördert, in der B diese Eigenschaft besitzt. Der Ausdruck »Gutes zu wollen« schließt die Konnotation mit ein, das zu fördern, was dazu führt, daß der andere diese Güter auch erlangt. Unter diesen beiden Voraussetzun­ gen würde diese Stelle auch die Zuordnung von Lieben und Wohl­ wollen verständlich machen: Lieben und Wohlwollen hängen so zu­ sammen, daß wenn immer A den Freund B um der Eigenschaft X willen liebt, er ihn auch in dieser Eigenschaft X zu fördern sucht. Lieben bedeutet ihm jenes Gut zu wünschen und ihn in jenem Gut zu fördern, das ihm eigen ist. Dabei kann im Einzelnen für die Eigen­ schaft X noch ebenso der Nutzen, die Lust oder auch die Tugend stehen. Und je nach der betreffenden Eigenschaft lassen sich auch entsprechende Freundschaftsformen unterscheiden. Entscheidend für diese Interpretation ist, wie bereits ausgeführt, die Annahme einer strukturellen Bewandtnis des ^lLelv, die Aristoteles mit ihrer Analyse verbindet: Danach schließt die Tatsache, daß man jemanden liebt, notwendigerweise mit ein, daß man ihn »aufgrund von etwas« liebt. Dieses »aufgrund von etwas« kann seinerseits nicht auf einen subjektiven Beweggrund allein zurückgeführt werden, es findet viel­ mehr - darauf verweist einmal mehr die Differenzierung der Zunei­ gung hinsichtlich des liebenswerten Gegenstandes zu Beginn von VIII.3 hin - seine Entsprechung in dem jeweiligen Referenzobjekt. Zugleich hätte man in dieser strukturellen Bewandtnis der ^iXta das­ jenige Moment, das allen Formen der Freundschaft zu eigen ist.

89 oi 6e 91X0ÜVTE5 akk^kong ßohkovtat tayaBa akk^kotg taut^ f| qiiko'öoiv (1156 a 9 f.) Dirlmeiers Übersetzung »die einander freundschaftlich Gesinnten wün­ schen sich gegenseitig das Gute entsprechend dem Motive ihrer Gesinnung« ist insofern mißverständlich, als sie von vornherein allein subjektive Präferenzen im Zustandekom­ men der ^tkla suggeriert. Price hat zum Verständnis dieser Stelle auf die Aristotelische Diskussion der verschiedenen Typen der Ursachen in Phys. II.3.195 a 3 - b 30 hinge­ wiesen. 188

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Im folgenden Abschnitt (1156 a 10-24) geht Aristoteles dazu über, die Eigenart der Nutzen- wie der Lustfreundschaft zu beschreiben, und es sind diese Darlegungen, die durch ihre Formulierungen in der Literatur zur geläufigen Unterscheidung zwischen einer mora­ lisch vorzüglichen und den verwerflichen Freundschaftsarten geführt haben. Als Charakteristikum der Freundschaft um des Nutzens wil­ len wird hier angeführt, daß man sich aufgrund des Nutzens (ötd tö XQ^ol^ov) und nicht als solche (xa6’ ahtohc;) liebt, sondern sofern man einander Gutes verschafft.90 Dasselbe gilt entsprechend für die Freundschaft derjenigen, die sich einander wegen der Lust lieben, darin aber den anderen nicht aufgrund seiner Qualitäten wertschät­ zen, sondern weil sie sich angenehm sind.91 Man hat bezugnehmend auf diese Stelle gelegentlich die Ver­ mutung vorgetragen, daß es Aristoteles ausgehend von unterschied­ lichen Gesinnungen und subjektiven Motiven, um deretwillen sich Menschen befreunden, um eine Entgegensetzung in der Weise zu tun ist, daß man auf der einen Seite die Freundschaftsarten aus nie­ deren Bewegsgründen, auf der anderen Seite jene aus dem vorzüg­ lichen Beweggrund gegenüberstellen kann. Diese voreilig morali­ sierende Juxtaposition scheint jedoch dem Reflexionsniveau der Aristotelischen Ausführungen nicht gerecht zu werden. Eine solche Vorstellung setzt überdies als von vornherein gegeben voraus, daß die Wendung vom Freund, den man als solchen bzw. den man um des Nutzens oder der Lust willen liebt, als solche bereits einsichtig ist. Was ist nun näherhin unter solchen Wendungen wie »um des Nutzens willen«, »um der Lust willen« zu lieben, zu verstehen? Man kommt der Eigenart dieser beiden Freundschaften wohl dadurch am nächsten, daß man sich fragt, worin sowohl die Nutzen- als auch die Lustfreundschaft übereinstimmen. Für beide Freundschaftsformen scheint eine Art kausale Beziehung charakteristisch zu sein, inner­ halb derer die Wirkung ausschlaggebend ist, die der Liebende in ihr erfährt und die durch den Geliebten hervorgerufen wird. Wenn A den Freund B um dessen Eigenschaft X willen liebt, wobei für X ent­ weder der Nutzen oder die Lust steht, so wird B insofern geliebt, als 90 oi ^ev oüv 6lu tö xq^ol^ov ^lIoüvtec dll^louc oü xa6’ auxoüc ^lIoüolv, alJC f| YiYVEtaf, tl aÖToic mag’ dll^lmv dYa6ov (1156 a 10-12). 91 o^oimc 6e xai oi 6l’ ^6ov^v; oü y^Q tü moLoüc TLvac EivaL dYammOL toüc EÜTQamelonc, dll’ ötl ^6eic aÜToic (1156 a 12-14). ^ 189

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durch dessen Eigenschaft der Liebende ein Gut, nämlich X, erfährt. Demgegenüber wäre die Wendung, daß man etwas xa6’ autöv liebt, darauf zu beziehen, daß man dies nicht um der Relation willen liebt, in der die betreffende Eigenschaft des Referenzobjekts zu dem Lie­ benden steht. Die Wendung erhält ihre Bedeutung gerade aus dem Sachverhalt, daß etwas, was xa6’ autöv geliebt wird, nicht aufgrund seiner Relationalität geschätzt wird.92 Auf die naheliegende Frage, was es dann aber heißen kann, daß in der Tugendfreundschaft der andere wegen bestimmter Charaktereigenschaften geliebt wird, wird noch zurückzukommen sein. Im Text fährt Aristoteles damit fort, Unstimmigkeiten auf­ zudecken, die durch die grammatikalische Struktur des Ausdrucks »Liebens« in der Nutzen- und Lustfreundschaft verdeckt bleiben. Wenn man einen anderen Menschen um des Nutzens willen oder der Lust wegen liebt, so geschieht dies um des eigenen Gutes bzw. der eigenen Lust wegen und nicht sofern der Geliebte ist, was er ist (xal ovx B o ^iXoü^evög eativ), sondern soweit er nützlich oder angenehm ist.93 Die grammatikalische Struktur einer Behauptung vom Typ »A liebt den Freund B um dessen Nutzen willen« scheint nahezulegen, daß der Nutzen eine Eigenschaft von B ist, die diesem unabhängig von der Liebe A zu B zukommt. Gleiches gilt für die Liebe um des Angenehmen willen. Verdeckt bleibt darin die Tatsache, daß eine Freundschaft um des Nutzens und des Angenehmen willen wegen der Beziehung zu dem Liebenden, nicht wegen der Eigen­ schaften von B erfolgt. Damit hängt auf das Engste zusammen, daß die »Ursache« für beide Freundschaftsformen nicht eigentlich die Ei­ genschaften des Nutzens und des Angenehmen bilden, die der Freund besitzt, sondern im Vordergrund das steht, was der Liebende bedarf. Die Tatsache, daß der Freund diesem Bedürfnis entspricht, scheint demgegenüber zweitrangig zu sein. Daß A den Freund B lie­ 92 Auch andere Verwendungszusammenhänge lassen diese Bedeutung erkennen. So et­ wa V. 3.1129 b 31-33, wo Aristoteles im Bezug auf die vollkommene Tugend ausführt, daß ihr Inhaber diese nicht nur für sich, sondern auch anderen gegenüber anzuwenden versteht. teXeia ö5 eativ, otl o exwv avt^v xal n^ög ete^ov öhvatai tfl d^etfl X0h°6ai, dXX5 ov ^ovov xa65 ahtov. 93 oi te ö^ öid tö x^ai^ov ^iXohvteg öid tö ahtoig dya6öv ate^yonai, xal oi öi5 ^öov^v öid tö ahtoig ^öh, xal ovx B o ^iXov^evog eativ, dXX5 B XOBaiMO B ^öhg (1156 a 14-16). Zu a 16 vgl. auch die Erörterung von Modestus van Straaten und Ger­ rit J. de Vries: Notes on the 8. and 9. books of Aristotle's Nicomachean Ethics. - In: Mnemosyne, Leyde 13 (1960), S. 193-228. 190

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benswert findet, hängt von dem Gut ab, das A wünscht und welches B verschaffen kann. Trifft diese Interpretation zu, so wird in der Folge auch verständlich, weshalb Aristoteles zwischenmenschliche Bezie­ hungen um des Nutzens bzw. der Lust willen als zufällige Freund­ schaften bezeichnet.94 Aus dem Kontext von NE VIII.3 heraus wäre das Merkmal der Zufälligkeit dieser beiden Freundschaftsrelationen darauf zu beziehen, daß die Relation von A zu B nicht gemäß der Eigentümlichkeit der Eigenschaft von B beschrieben wäre.95 Wir sagten, daß das Charakteristikum der Nutzen- und Lustfreund­ schaft im Unterschied zur Tugendfreundschaft für Aristoteles darin zu sehen ist, daß das, was man am Freund liebt, wenn man ihn um des Nutzens oder der Lust willen liebt, die besondere Art der Beziehung ist, in welcher der Freund zu dem Liebenden steht. Aristoteles führt im dritten Kapitel paradigmatisch für beide Freundschaftsformen die Freundschaft unter alten Menschen für die Nutzenrelation, die unter Heranwachsenden für die Lustrelation an. Ein Freundschaftsverhält­ nis unter Alten kommt dadurch zustande, daß man sich schätzt auf­ grund des gegenseitigen Nutzens, wie er in der gemeinsamen Soli­ darität im Alter zustandekommt. Man schätzt den anderen um der Unterstützung willen, die man durch ihn erhält. Infolgedessen wünscht man ihm das Gute, denn würde es dem Freund daran man­ geln, so böte er auch keinerlei Unterstützung mehr für das eigene Leben.96 Von gleicher Weise ist die Lustfreundschaft, für die Aristo­ teles im dritten Kapitel beispielhaft die Beziehungen junger Men­ schen anführt. Sie sind sich einander angenehm und wünschen sich

94 xata ou^ßeß^xog te 6f| ai ^iklai antal elotv (1156 a 16f.). 95 Als Beleg für diese Annahme läßt sich, wie Pakaluk (S. 68 ff.) zeigt, auf Aristoteles' Erörterungen der Relationen in den Kategorien (7. Kapitel) verweisen. Vgl. dazu auch die instruktive Einleitung von Klaus Oehler in: Aristoteles: Kategorien. Darmstadt 1997, S. 41-142, sowie seinen Kommentar zum siebten Kapitel, S. 292-313. Dafür, daß man diese Ausführungen auch auf die Erörterung der ^tkla in der Nikomachischen Ethik beziehen kann, spricht zum einen, daß man es auch in den unterschiedlichen Gestalten der freundschaftlichen Verbindungen mit Relationen zu tun hat. Zum ande­ ren würde dieser Vergleich auch verständlich machen, aus welchem Grunde Aristoteles Freundschaften um des Nutzens und der Lust willen als akzidentell bezeichnet. Man hätte es, diesem Vergleich zufolge, insofern bei diesen Freundschaften nur mit akziden­ tellen Beziehungen zu tun, als in ihnen das dem Relativum des Liebens zugehörige Korrelativum, nämlich der Nutzen oder die Lust, ein Akzidenz des Freundes darstellt. 96 Vgl. Rhet. II.4.1381 a 30-35. ^ 191

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folglich einander in der Hinsicht und solange das Gute, als der andere einem selbst angenehm ist. Offensichtlich hat man es bei dem Reflexivpronomen auxÖ5, das Aristoteles in diesem Zusammenhang zur Beschreibung der Freundschaften um der »eigenen Lust« und des »eigenen Nutzens« willens einsetzt, mit einer Verwendung des »eigenen« in einem re­ flexiven Sinn zu tun. »Eigene Lust« wie »eigener Nutzen« ist nicht dahingehend zu verstehen, daß es sich um eine Lust oder einen Nut­ zen handelt, die man selbst und nicht ein anderer empfindet bzw. besitzt. Denn sowohl in der Nutzen- als auch in der Lustfreundschaft empfinden die jeweils Beteiligten in ähnlicher Weise einen eigenen Nutzen bzw. eine eigene Lust. Gemeint sein kann also kaum, daß man sich selbst die Lust und den Nutzen anstatt einem anderen ver­ schafft, daß hiermit also gleichsam »eigensüchtige« Formen der Freundschaft »selbstlosen« gegenübergestellt werden.97 Gegen eine solche Annahme sprechen indes zwei Gründe. Zum einen profitieren in der Aristotelischen Beschreibung der Nutzen- und der Lust­ freundschaft jeweils beide Beteiligten daran. Wenn jeder seinen Nut­ zen davon trägt, ist es freilich nicht einsichtig, weshalb man verlan­ gen sollte, daß man den eigenen Nutzen zugunsten des anderen aufgibt. Folglich schlägt auch jene Interpretation fehl, welche die Ausdrücke »um des eigenen Nutzens« und »um der eigenen Lust« willen als eine Entgegensetzung von »eigen« und »des anderen« liest. Der zweite, gewichtigere Grund ist darin zu sehen, daß Aristo­ teles in der Gegenüberstellung von Nutzen- und Lustfreundschaft einerseits, der Tugendfreundschaft andererseits, sich an einem Mo­ dell orientiert, dem die Vorstellung zugrundeliegt, daß jene Relation als vollkommen gegenüber den anderen ausgewiesen ist, in der A den Freund B nicht um der Beziehung willen schätzt, in der B zu A steht. Dies gilt es nun anhand der Darlegungen Aristoteles' zur Tugend­ freundschaft zu zeigen, wie sie in NE VIII.4 thematisch wird. Vorab ist festzuhalten, daß es Aristoteles in seiner Analyse der Tugend­ freundschaft um die Bedingungen und Voraussetzungen geht, unter denen diese Art der zwischenmenschlichen Beziehung zustande­ kommt. Der Einwand, daß diese Darlegungen nicht zu erklären und zu begründen vermögen, weshalb ein Mensch, der im Besitz der Tu97 Diese Interpretation findet sich häufiger in der Literatur zu Aristoteles. Vgl. etwa Leon Olle-Laprune: Essai sur la Morale d'Aristote. Paris 1881. Vgl. dazu im Folgenden den Abschnitt 2.3.3. 192

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genden ist, nicht mit allen anderen Tugendhaften befreundet sein müßte, vermag deshalb auch nicht zu greifen.98 Zunächst ist zu bemerken, daß die Behandlung der Freundschaft der Tugendhaften im Vergleich mit jener der anderen Freundschafts­ formen viel kürzer ausfällt und ihre grundlegenden Bestimmungen vor dem Hintergrund dessen, was als Defizienz der anderen Relatio­ nen bisher beschrieben wurde, gewonnen werden. Dies gilt bereits für das erste Charakteristikum, wonach in dieser Freundschaftsrela­ tion die Freunde sich einander gleichmäßig das Gute wünschen, in­ sofern sie gut sind, wobei sie tatsächlich gut an sich selbst (xa6’ autobc;) sind,99 ein Merkmal, das darüberhinaus nicht eingehender bestimmt wird. Allerdings läßt sich der Sinn dieser Beschreibung in der Argumentationslinie der bisherigen Interpretation folgenderma­ ßen bestimmen: Innerhalb der vollkommenen Freundschaft (xeketa ^ikia), wie die Relation der Tugendhaften auch genannt wird, ist die Tatsache, daß A den Freund B liebt, nicht ausschließlich darauf zurückzuführen, daß B in bestimmter Hinsicht liebenswert für A ist. Und dies gilt umgekehrt auch für das Verhältnis von B zu A. So ver­ standen weist die Wendung vom xa6’ autobc; auf eine Eigenschaft des Freundes hin, die ihn unabhängig von der Beziehung, in der die­ ser zum Liebenden steht, als Objekt der Liebe liebenswert macht. Die betreffende Eigenschaft des Freundes, sein »Gutsein«, ist näherhin, wie Aristoteles im bisherigem Verlauf der NE schon hinlänglich aus­ geführt hatte, darin zu sehen, daß er verschiedene Tugenden besitzt. Sich in der Freundschaft der Tugendhaften einander Gutes zu wünschen, wäre folglich gleichbedeutend damit, daß A dem Freund B all das an Gutem wünscht, was dazu führt, daß B diese Tugenden bewahrt. Daß der Freund diese Tugenden bewahrt, ist seinerseits wie­

98 So sieht Elijah Millgram folgendes Paradox in der Aristotelischen Freundschaftskon­ zeption, das er in der Folge zu lösen versucht: »If the friend's virtue provides the reason for the friendship, it would seem that one has identical reason to love all virtuous persons, or, if this is not possible, to replace one's virtuous friends with still more virtuous person«. Vgl.: Aristotle on Making Other Selves. - In: Canadian Journal of Philosophy 17 (1987), S. 361-376, hier S. 363. Vergleichbar die Einwände von Gregory Vlastos: The Individual as Object of Love in Plato. - In: ders.: Platonic Studies. Princeton 1981, S. 3­ 42; Ferdinand Shoeman: Aristotle on the Good of Friendship. - In: Australasian Journal of Philosophy 63 (1985), S. 269-282; Paula Reiner: Aristotle on personality and some implications for friendship. - In: Ancient Philosophy 11 (1991), S. 67-84. 99 ohtoL ya@ tdya6a o^otwc ßonXovtai dXXflXoic, fl dya6ot, dya6oi ö5 etai xa65 anxonc (1156 b 8f.). ^ 193

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derum nicht auf das Zuträgliche der Beziehung, in der der Freund für den Liebenden steht, zurückzuführen.100 In diesem Zusammenhang kommt es darauf an, zu verstehen, daß die Behauptung, gemäß der die Freunde in der Relation der Tu­ gendhaften gut an sich sind, keineswegs einen Bezug auf ein diesem Urteil zugrundeliegendes Wollen ausschließt, diesen Bezug vielmehr definitiv einschließt. In den nächsten Zeilen heißt es denn auch, daß jene, welche die Güter den Freunden um deretwillen (exeivmv evexa) wünschen, im eigentlichen Sinne (pdAtata) als Freunde zu bezeich­ nen sind, weil sie sich an sich (öl’ autouq) so verhalten, und nicht zufällig.101 Aus dem Kontext der Stelle wird deutlich, daß dieses »an sich« so verhalten sich auf den Umstand bezieht, daß die Wertschät­ zung der Freunde um deretwillen nicht zufällig, gleichsam akziden­ tell geschieht. Um hingegen die Aristotelische Wendung von der Wertschät­ zung des Freundes, ihm Gutes um seiner selbst willen zu wünschen, zu verstehen, gilt es zwei Aspekte zu berücksichtigen. Zum einen kommt sie offensichtlich nur in jenem Falle zustande, in dem der Freund tatsächlich auch über die entsprechende Eigenschaft verfügt, ein guter und d. h. tugendhafter Freund zu sein. An diese Bedingung ist die Freundschaft der Tugendhaften unauflöslich gebunden, sie scheint zumindest als notwendige Konsequenz auch die Vorstellung nahezulegen, daß es unmöglich ist, einem nichttugendhaften Men­ schen Gutes um seiner selbst willen zu wünschen. Zum anderen, be­ zogen auf die vorhergehenden Untersuchungen und im Kontrast zu den Freundschaftsformen des Nutzens und der Lust, scheint in der Bestimmung der Relation der Tugendhaften der einzige und paradig­ matische Fall jener zwischenmenschlichen Beziehung gefunden zu sein, anhand dessen festgehalten werden kann, daß es zumindest eine Form der Beziehung gibt, die sich nicht dadurch definieren läßt, daß der Grund, weshalb A den Freund B liebt, einzig und allein in der bestimmten Beziehung zu sehen ist, in der B zu A steht. Dieser letzte Aspekt scheint allerdings größere Schwierigkeiten mit sich zu führen. Im Text fährt Aristoteles mit der Behauptung 100 Welcher Zusammenhang hier besteht, wird später im Zusammenhang der Unter­ suchung relevant, ob der Tugendhafte der Freunde bedarf, eine Untersuchung, die Ari­ stoteles in NE IX.9 vornimmt, und auf die weiter unten (Abschnitt 2.3.4) zurückzukom­ men sein wird. 101 oi 5e ßonXo^evoL tdyaöd toig 9LX0L5 exeivwv evexa ^dXLata ^lXol, öl’ ahtohg yd@ ohtwg exonaL, xal on xatd an^ßeß^xog (1156 b 9-11). 194

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fort, daß ein weiteres Charakteristikum der Freundschaft der Tu­ gendhaften darin zu sehen ist, daß ihre Subjekte schlechthin gut (ankmc; ayaBol) und einander gegenseitig nützlich wie angenehm sind: denn gute Menschen sind sowohl schlechthin angenehm als auch einander angenehm.102 Daß die Tugendhaften sich gegenseitig angenehm und nützlich sind, könnte zunächst als ein Widerspruch zu unserer Interpretation erscheinen, wonach A dem Freund B Gutes will, ohne daß A dies aus dem Grund beabsichtigt, weil es sich für ihn in irgendeiner Weise als zuträglich erweist. Man könnte versuchen, diesen augenscheinlichen Widerspruch dadurch aufzulösen, daß man folgende These vertritt: Selbst wenn A voraussieht, daß sein Verlan­ gen des Guten für den Freund B X zur Folge hat, und X wiederum A zugute kommt, bedeutet dies nicht, daß A um X willen das Gute für B wünscht.103 Eine andere Annahme ergibt sich, wenn man die nachfolgende Passage in die Interpretation mit einbezieht. Bezugnehmend darauf, daß die Tugendhaften schlechthin nützlich und angenehm und dies auch einander sind, heißt es hier, daß einem jedem (der Tugendhaf­ ten) »die ihm eigentümlichen Handlungen Freude bereiten und die damit verwandten; die Handlungen der Guten sind aber die entspre­ chenden oder doch ähnliche«.104 Als Begründung, weshalb im Unter­ schied zu den Freundschaftsformen um des Nutzens und des Ange­ nehmen willen die Tugendhaften nicht nur an sich, sondern auch für einander angenehm und nützlich sind, ist der bloße Verweis auf die Eigentümlichkeit der Handlungen der Guten nicht einsichtig. War­ um sollte dies nicht auch bei jenen zutreffen, die um des Nutzens oder des Angenehmen willen zusammen sind? Es spricht vieles dafür, daß eine Auflösung dieser Schwierigkeit eine eingehendere Bestimmung des Selbstverhältnisses des Tugend­ haften voraussetzt, wie sie Aristoteles in NE IX.4 vornehmen wird. Erst auf diesem Wege einer Reflexion über die Entsprechung zwi­ schen dem Selbstverhältnis des Tugendhaften und seiner Beziehung zum tugendhaften Freund wird einsichtig werden, weshalb der Tu­ gendhafte, gerade weil er an sich gut, angenehm und nützlich ist, 102 oi yaQ ayaBol xal amXmc ayaBol xal aXX^Xoic m^EXi^oi. ö^olmc 6e xal ^6eic; xal yaQ amXmc oi ayaBol ^6eic xal aXX^Xoic; (1156 b 13-15). 103 In diese Richtung zielt der Vorschlag von Pakaluk, a. a. O. (Zur Stelle). 104 exdotm yaQ xaB’ ^6ov^v eloiv ai olxetai mQa|eic xal ai toiantai, tmv ayaBmv 6e ai ahtal ^ ö^oiai. (1156 b 15-17). ^ 195

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entsprechendes auch für den Freund zu sein vermag. Man könnte im Hinblick auf den Nutzen und das Angenehme, wie es in den Verhält­ nissen von Tugendhaften zutage tritt, also folgern, daß Aristoteles durchaus eine Verwendungsweise des »eigenen« zuläßt, die nicht nur seiner Kritik an den Formen des Nutzens und der Lust in zwi­ schenmenschlichen Beziehungen standhält, sondern an der darüberhinaus auch so etwas wie ein authentischer Selbstbezug abgelesen werden kann. Diese Gegenüberstellung kann zunächst als Indiz dafür gewertet werden, daß die Aristotelische Theorie der Subjektivität als Selbstverhältnis, gerade insofern sie sich als eine auf den eigenen Lebensvollzug bezogene Theorie versteht, in der Aufwertung eines possessiv verstandenen Selbstbezugs grundgelegt ist. Auf diesen Aspekt wird später in der Behandlung der Selbstliebe ausführlich einzugehen sein. Durch die Interpretation von NE VIII.3 erlangt unsere Ausgangsfra­ ge nach der vorrangigen Gestalt eines kooperativen Verhaltens, wie sie die Tugendfreundschaft darstellt, eine weitere Präzisierung. Als vorrangig gegenüber den anderen Formen der Freundschaft zeichnet sie sich zunächst dadurch aus, dass sie das Ideal gemeinsamer Hand­ lungspraxis gleichermaßen außerhalb eines instrumentellen Rah­ mens vorstellt. Die Besonderheit der Freundschaft von Tugendhaften könnte - negativ - dadurch charakterisiert werden, dass sie eine Be­ ziehung darstellt, in der einer seinen Freund nicht um der vorteilhaf­ ten Beziehung wegen schätzt. Auch wenn innerhalb der Differenzie­ rung der unterschiedlichen Freundschaftsformen der Selbstbezug der Freunde nicht ausdrücklich behandelt wird, scheint er doch wesent­ lich in die Begründung des Ideals kooperativen Verhaltens mit ein­ zugehen. Wir sahen in der Aristotelischen Beweisführung, wie die Wendung vom xa6’ auxoÜ5 auf eine Eigenschaft des Freundes hin­ weist, die ihn unabhängig von der Beziehung, in der dieser zum Lie­ benden steht, als Objekt der Liebe liebenswert macht. Und ebenfalls verweist die zuletzt behandelte Behauptung, wonach die Tugendhaf­ ten schlechthin gut als auch einander gegenseitig nützlich und ange­ nehmen sind, daß in den bisherigen Ausführungen der Selbstbezug als tragendes Element im Bezug zu anderen vorausgesetzt, noch nicht aber eingehend auch behandelt wurde.

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2.1.5 Beständigkeit als Charakteristikum der vollkommenen Freundschaft Wenn immer Aristoteles im achten Buch die Freundschaft der Tu­ gendhaften sowie die beiden derivaten Formen der Freundschaft be­ schreibt, fügt er über die bereits erwähnten Charakteristika hinaus ein weiteres Kriterium an, anhand dessen die Differenzierung der Relationen vorgenommen wird: die Beständigkeit der jeweiligen Be­ ziehungen. So wird bereits in die Beschreibung der derivaten Freund­ schaftsformen deren jeweilige Unbeständigkeit als ihr spezifisches Signum aufgenommen. Von denjenigen, die um des Nutzens oder der Lust wegen den Freund lieben, heißt es, daß sie sich über einen längeren Zeitraum hinweg als unbeständig erweisen, »da die Partner nicht dieselben bleiben«.105 Ähnlich wird am Prototyp der Freund­ schaft um der Lust wegen, nämlich jener der Heranwachsenden, ge­ sagt, daß diese vornehmlich das suchen, was im Augenblick ange­ nehm ist, ihre Beziehung deshalb einer ständigen Veränderung unterworfen ist.106 Vordergründig scheint für die Unbeständigkeit als Spezifikum der derivaten Freundschaftsformen die Beschränkt­ 105 eüöiaXutoi ai toiautai etai, ^ öia^evovtwv ahtwv o^olwv; (1156 a 19f.). 106 1156 a 31—b 1. Daß die anderen Freundschaftsformen weniger dauerhaft sind, wie­ derholt Aristoteles mehrfach in der Nh. Vgl. 1158 b 4—5: oti Ö ^ttov etalv ahtai ai ^iXlai xal ^evonaiv, eip^tai (»Daß aber dies Freundschaften geringeren Grades und weniger dauerhaft sind, haben wir gesagt«). Auch in den anderen beiden ethischen Pragmatien, insbesondere in FE VII.2, wird die Beständigkeit und Unbeständigkeit von Freundschaft ausführlich behandelt. Die für das Thema relevanten Stellen hat A. Fürst: Streit unter Freunden, S. 86 f. zusammengestellt. Seiner These zufolge läuft Aristoteles' Begründung der Beständigkeit einer Tugendfreundschaft im Kern auf die Platonische Annahme der Unumstößlichkeit der auf wahrem Wissen beruhenden Tugend hinaus (vgl. etwa S. 89). Entgegen seiner sonstigen Kritik an der sokratisch-platonischen Be­ stimmung der Tugend als Wissen habe sich, so Fürst, Aristoteles zur Begründung der Beständigkeit von Tugendfreundschaft auf diese Annahme berufen. Von einer ausführ­ lichen Auseinandersetzung mit der bemerkenswerten Interpretation von Fürst muß an dieser Stelle abgesehen werden. Seine These gewinnt ihre Plausibilität unter der Vor­ aussetzung, daß man die Begründung der Aristotelischen Freundschaftskonzeption auf seine Erörterungen im achten Buch der NE beschränkt, ohne die beiden entscheidenden Kapitel NE IX.4 und IX.8 mit in den Aristotelischen Argumentationsgang einzubezie­ hen. Unter Berücksichtigung dieser beiden Kapitel wird allerdings, wie zu zeigen sein wird, eine andere Begründungsstrategie zum Vorschein kommen. Zu einer anderen Ein­ schätzung als Fürst gelangen wir auch bezüglich der Frage, wie »der Philosoph aus Stageira, der dieses Thema als erster bewußt formuliert und reflektiert hat« (S. 101), Streitigkeiten und Zerwürfnisse unter Freunden behandelt. Vgl. dazu weiter unten, Abschnitt 2.1.6. ^ 197

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heit der Motive verantwortlich zu sein. Dementsprechend glichen sich Lust- und Nutzenfreundschaft, schematisch gesprochen, darin, daß wenn die Person A die Person B um der Eigenschaft X willen lieht, diese Beziehung nur solange Bestand hat, als B die Eigenschaft X hesitzt, aufgrund derer sich B für A als liehenswert erweist. Demgegenüher gilt für die vollkommene Freundschaft, daß sie sich auf­ grund der Tugend der Freunde als heständig (pövipov) erweist.107 Gewiß wird auch in anderen Zusammenhängen, in denen Ari­ stoteles von der Tugend handelt, deren Beständigkeit erwähnt. Sie kommt etwa innerhalb der Untersuchung der tugendgemäßen Tätig­ keiten zum Tragen, unter denen wiederum die rein theoretischen aufgrund ihrer Beständigkeit am meisten herausragen. Ehenfalls ist im ersten Buch der NE hinsichtlich der glücklichen Menschen davon die Rede, daß diese dauerhaft in tugendhaften Tätigkeiten leben (1.11.1100 h 12-17). Doch es fällt auf, daß insbesondere die Unter­ suchung der ^ikta das Spezifikum der Beständigkeit in hesonderer Weise thematisch werden läßt.108 Nun ließe sich allerdings von der Sache her gegen diese Darle­ gungen einwenden, daß eine Beziehung um des Nutzens willen nicht notwendigerweise von geringerer Beständigkeit sein hräuchte, als je­ ne, die um der Tugend willen hesteht, zumal es ohne weiteres vorstellhar ist, daß jemand auch üher einen längeren Zeitraum hinweg auf einen Nutzen angewiesen ist, und ein anderer sich ihm als an­ dauernd nützlich erweist. Um diesen Einwand auf seine Konsistenz zu prüfen, gilt es zuvor andere Aspekte, die in einem Zusammenhang mit der Beständigkeit der Tugendfreundschaft stehen, zu vergegen­ wärtigen. Die weitere Erörterung der Freundschaftsformen erfolgt in NE VIII.4-5 vorwiegend unter der Rücksicht auf die Frage, wann und unter welchen Bedingungen eine zwischenmenschliche Beziehung Bestand hat. Dies wird ehenso hinsichtlich der vollkommenen Freund­ schaft als auch für die anderen defizienten Modi der Freundschaft durchgeführt. Die Beständigkeit der vollkommenen Freundschaft wird in diesem Zusammenhang noch in zweierlei Weise zum Thema 107 Sia^Evei ohv ^ tohtmv ^iXia Emg av äya0oi moiv, ^ 6’ aQEtf| ^.övi^ov (1156 h11f.). 108 Vgl. folgende Belegstellen zur Beständigkeit der auf der Tugend heruhenden Freundschaft: 1156 h 17f.; VIH.8.1158 h 6-11, h 20-23; Vm.10.1159 a 33-h 10; Vm.14.1162 a 9-16; IX.1.1164 a 8-13. Vergleichsstellen der EE: VII.2.1236 h 17-19; 1237 h 7-13; 1238 a 10-30; VII.5.1239 h 10-18. 198

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gemacht. Zum einen spielt der zeitliche Faktor eine entscheidende Rolle in der Reflexion über die Entstehungshedingungen jener ersten Freundschaftsform. Anders nämlich als in jenen Verhältnissen, die durch gegenseitigen Nutzen oder Lust »in kurzer Zeit« Zustande­ kommen, bedarf die vorzügliche Freundschaft in ihrer Genese langer Zeit und Gewöhnung.109 Der Hinweis auf die für die Entstehung der Freundschaft unter Tugendhaften erforderliche Zeit ist noch am ehe­ sten in Zusammenhang mit der Tugend zu bringen, die gleiches für den Erwerb entsprechender Dispositionen voraussetzt. Auf die Freundschaft bezogen enthält er die Einsicht, daß tugendhafte Freun­ de die Dispositionen erwerben müssen, die es ihnen ermöglicht, be­ freundet zu bleiben. Anders hingegen verhält es sich, wenn die Beständigkeit nicht auf die Voraussetzung der Dispositionen der Tugenden, sondern di­ rekt auf der Beständigkeit der Relation bezogen wird. Das Problem, das Aristoteles hierbei beschäftigt, scheint folgendes zu sein: Es ist eines, daß ein Freund aufgrund bestimmter Tugenden die erforderli­ chen Voraussetzungen für die vollkommene Freundschaft erfüllt. Ein anderes ist es, danach zu fragen, was für das Zustandekommen einer solchen Relation hinsichtlich der Tatsache, daß mehrere Personen beteiligt sind, notwendig ist. Die Untersuchung der Beständigkeit in diesem Sinne wäre folglich gleichbedeutend mit der Frage, welche Art von Vertrautsein unter den Beteiligten besteht. Gewiß schließt auch die Entstehung einer Vertrautheit, wie sie paradigmatisch in der vollkommenen Freundschaft gegeben ist, eine zeitliche Dimension mit ein.110 Doch geht es Aristoteles hierbei vornehmlich um die Erörterung der Voraussetzungen der Beständigkeit im Sinne ihrer Tragfähigkeit und Zuverlässigkeit. Ausgehend von dem Paradigma der vollkommenen Freund­ schaft werden in VIII.5 verschiedene Weisen zwischenmenschlicher Beziehungen auf deren jeweilige Tragfähigkeit untersucht. Mit der ersten Freundschaft, die auch hinsichtlich der Zeit vollkommen ge­

109 1156 b 25. Vgl. EE VII.3.1237 b 12. 110 Als Besonderheit der vollkommenen Freundschaft gegenüber ihren derivaten For­ men wird wenig später ausgeführt, daß im Gegensatz zu diesen, die in kurzer Zeit ent­ stehen können, jene anderen zeitlichen Entstehungsbedingungen unterliegt. öet öe xal e^rtei^iav Xaßetv xal ev anv^öeia yeveaöai, o rtayxaXe^ov (»Außerdem muß man Erfahrung erwerben und sich aneinander gewöhnen, was außerordentlich schwierig ist.« 1158 a 14f.). ^ 199

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nannt wird,111 sind andere Beziehungen insofern zu vergleichen, als auch sie eine gewisse Zeit dauern, und dies umso mehr, als in ihnen eine Reziprozität gewahrt ist.112 Fragt man nun, inwiefern die Rezi­ prozität dieser Beziehungen zu ihrer Dauerhaftigkeit beiträgt, so scheint dieser Vorstellung folgende Überlegung zugrunde zu liegen: Die Beständigkeit dieser Freundschaftsformen erwächst dadurch, daß A den Freund B mit dem Gut X versorgt, damit B wiederum aufgrund des erlangten Gutes X für den Freund A das Gut X hervorzubringen vermag. Die Beständigkeit ihrer Beziehung wächst dabei in dem Ma­ ße, in dem die Freunde Dinge und Güter der gleichen Art austau­ schen, da dadurch auch die Reziprozität ihrer Zuneigung gewahrt bleibt. Wenn hingegen das dem Austausch zugrundeliegende Gut unterschiedlicher Art zugehört, ist die Stabilität der Beziehung nur in einem geringeren Umfang gewährleistet. Deshalb führt Aristote­ les im Kontext des fünften Kapitels (1157 a 6-10) auch aus, daß bei Mischformen zwischenmenschlicher Beziehungen wie etwa der zwi­ schen einem älteren Verehrer und einem jungen, attraktiven Men­ schen, bei dem A dem Freund B nützlich ist und B dem Freund A angenehm, die Beständigkeit nur in geringerem Maße zu bestehen scheint. Einen Sonderfall der hinsichtlich ihrer Dauer erörterten Bezie­ hungen stellt hingegen die auf dem Nutzen beruhende Freundschaft dar, die jeweils mit dem Nutzen selbst endet.113 Als Begründung hierfür führt Aristoteles an, daß in dieser Relation die Betreffenden nicht miteinander befreundet sind, sondern allein mit dem Vorteil, den sie aus der Freundschaft zogen.114 Nun scheint es in Aristoteles' Ausschluß der Nutzenfreundschaft aus den Überlegungen über die Beständigkeit der Freundschaft darauf anzukommen, daß der ange­ messene Grund, um sich einer zwischenmenschlichen Beziehung zu vergewissern, wie sie durch den Nutzen zustande kommt, in einer 111 xaxa töv xeovov [...] teXeia toxi, (1156 b 33f.). 112 ^aXioxa 6e xai ev xohxoig ai ^iXiai Sia^Evonoiv, öxav tö ahxö yiyv^xai mag’ äXX^Xmv, oiov ^6ov^, xai ^f| ^ovov ohxmg äXXa xai ämö xoü aüxoü, oiov xoig EÜxQamEXoig (1157 a 3-6). 113 Andere zwischenmenschliche Beziehungen, die Aristoteles im fünften Kapitel aus­ gehend von der Reziprozität auf ihre Beständigkeit hin überprüft, sind die Freundschaft der Gewandten (EUTQamEXog, 1157 a 6), jene zwischen Liebhaber und Geliebten, bei deren Beziehung der ursprüngliche Beweggrund sein Gewicht verloren hat ( a 10-12) sowie die Beziehung von Menschen, bei denen der eine im Tausch für sein erotisches Vergnügen den Freund mit nützlichen Dingen versorgt (a 12-16). 114 oh yag äXX^Xmv f]oav qAoi äXXa xoü XuoixELohg (1157 a 15 f.). 200

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anderen Vorgehensweise, die im Wesentlichen durch ein Zweck­ Nutzen-Kalkül bestimmt ist, zu suchen ist. Bestritten wird folglich auch nicht die zeitliche Dauer der Nutzenfreundschaft, sondern der Grund ihrer Beständigkeit, der nicht wie in der vollkommenen Freundschaft in den tugendhaften Menschen zu sehen ist, die wegen sich selbst (öl’ autouc;, 1157 a 18) befreundet sind. Auch im Zusam­ menhang der Reflexionen über die Beständigkeit der Freundschaft scheint in der Annahme, daß einzig und allein die Freundschaft der Tugendhaften beständig ist, insofern sie wegen sich selbst befreundet sind, bereits ein Hinweis auf die folgenden Ausführungen in IX.4 und IX. 8 über das Selbstverhältnis des guten Menschen enthalten zu sein. Beständigkeit im Sinne einer erprobten und erfahrenen Zuver­ lässigkeit des Anderen als grundlegendes Unterscheidungsmerkmal der verschiedenen Freundschaftsformen spielt auch in jenen Überle­ gungen eine wichtige Rolle, in denen Aristoteles ihre Tragfähigkeit in besonderen Lebenssituationen wie jener der Verleumdung des Freundes zu überprüfen unternimmt (1157 a 20-25). Allein für die »wahre Freundschaft« (dk^Omc; ^Lkia, a 24) trifft es zu, daß sie in­ folge ihrer Bewährung »während langer Zeit« solchen von anderen an sie herangetragenen Vorwürfen standzuhalten vermag, während jede andere zwischenmenschliche Beziehung durch solche Herausfor­ derungen erschüttert werden kann.115 Fragt man nun nach dem Horizont, innerhalb dessen die Aristo­ telische Diskussion der Beständigkeit von Freundschaft ihren Sinn und Bedeutung erhält, so stößt man unweigerlich auf jenes Merkmal 115 Vgl. dazu auch VIII.8.1158b 5-11, wo Aristoteles die Zuverlässigkeit der Freund­ schaft der Tugendhaften als ihre Besonderheit und Auszeichnung vor den anderen deri­ vaten Formen in Anspruch nimmt: xti bk t^v ^ev dbLdßX^tov xal ^ovl^ov eivaL, tahtag bk ta%kwc, ^etam^teLv dXXoLg te bLa^k^erv rtoXXoic, ov ^aivovtaL ^LXiaL öl’ dvo^oLüt^ta exeiv^c (»andererseits sind sie ihr unähnlich und wirken nicht als Freundschaften, weil jene vor Verleumdung sicher und dauerhaft ist, diese aber rasch wechseln und sich auch in vielen anderen Dingen unterscheiden«, b 8-11). In engem Zusammenhang damit mag auch die Dauerhaftigkeit der Freundschaft unter den Tu­ gendhaften aufgrund ihrer »inneren« Beschaffenheit stehen. Während sowohl die Nut­ zen- als auch die Lustfreundschaft aufgrund der Begrenztheit ihrer Intentionen Anlässe zu Zerwürfnissen bieten, ist die Beständigkeit der ersten Freundschaft durch deren Ab­ sicht gewährleistet. Vgl. dazu 1163 a 21-23: ev bk taig xat’ d^et^v eyxX^ata ^kv ovx eotLv, ^kt^w b’ eoLxev ^ ton b^doavtog rt^oai^eoLC (»Bei den Freundschaften auf Grund der Tugend gibt es keine Vorwürfe, und als Maß gilt die Absicht des Gebenden. Denn das Gewicht der Tugend und des Charakters liegt in der Absicht.«) ^ 201

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der Freundschaft, das Aristoteles im sechsten Kapitel als ihr entschei­ dendes Charakteristikum behauptet: das Zusammenleben (ou^v) der Menschen.116 Der griechische Ausdruck weist in erster Linie da­ rauf hin, daß man miteinander die Zeit verbringt; er besagt nicht notwendigerweise, daß man auch räumlich zusammenlebt. Es ist nicht die erste Stelle, an der in den Freundschaftsbüchern vom Zu­ sammenleben die Rede ist. Bereits bei der Behandlung des Prototyps der Lustfreundschaft, nämlich jener unter Heranwachsenden, war bereits deren Streben nach einem Zusammenleben erwähnt worden.117 Mit der Untersuchung des Zusammenlebens als wesentlichen Charakteristikums der Freundschaft im sechsten Kapitel geht die Feststellung einher, daß ein solches Zusammenleben letztlich nur in individueller Absicht auch zustandekommt. Für diese Interpretation spricht, daß Aristoteles das Angenehme als unabdingbare Vorausset­ zung für die Entstehung der Freundschaft anführt. Eine solche ist nicht nur in dem Fall unangenehmer Menschen undenkbar, sie ist selbst auch in jenen Fällen unvorstellbar, in denen der Betreffende ansonsten über tugendgemäße Dispositionen verfügt.118 In diesem Zusammenhang ist es wichtig, zu verstehen, daß mit der Vorstellung von subjektiven Präferenzen, die in die Wahl der Freunde, mit denen man zusammenleben will, eingehen, keinesfalls »hedonistische« Affekte den Ausschlag geben. Gewiß akzentuiert die Vorstellung des Angenehmen, um dessentwillen Freunde sich finden und Zusammenleben, auch den Sachverhalt, daß nicht die Überle­ gung einer objektiven Angemessenheit, sondern das eigene Gefühl darüber befindet, mit wem sich jeweils ein Mensch zusammen­ schließt. Doch wird sich später in der Interpretation der Autarkie des tugendhaften Menschen in NE IX.9 zeigen, wie Aristoteles diese 116 oh6Ev yaQ ohtmg Eoti qfkmv mg to ou^v (»Denn nichts charakterisiert so sehr die Freundschaft wie das Zusammenleben«, 1157 b 19). 117 onvri^EQE'UEiv 6E xai ou^v ohtot ßohkovtat (»Was sie wollen, ist zusammensein und leben«, 1156 b 4f.). 118 ohhEig 6E 6hvatat ouv^^eqeueiv tm kumriQm oh6E tm ^,f| ^6el (1157 b 15 f.). Vgl. 1157 b 22f.: ouvSiayEtv 6E ^.Et’ akk^kmv ohx Eott ^,f| ^hEtg övtag ^,r|6E xalgovtag tofg ahtofg (»Man kann aber nicht zusammensein, wenn man nicht angenehm ist und an denselben Dingen Freude hat«). Ähnlich heißt es wenig später in Bezug auf die mürrischen Menschen, denen man zwar Gutes wünschen, nicht aber Freunde werden kann: qfkot 6’ oh mdvu Eioi 6td to ^f| ouv^^EgEUEiv ^,r|6E xalgEtv akk^kotg, ä 6f| ^.aktot’ Etvat 6oxEt ^tktxa (»aber Freunde sind sie nicht, weil sie nicht zusammenleben und aneinander keine Freude haben, was doch am meisten zur Freundschaft gehört«, 1158 a 8-10). 202

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subjektiven Präferenzen gerade auf das bezieht, was von beiden Freunden gemeinsam wahrgenommen und empfunden wird. Es bleibt festzuhalten, daß es einen analytischen Zusammen­ hang zwischen dem Zusammenleben als entscheidendes Charakteri­ stikum der Freundschaft und der Diskussion ihrer einzelnen Formen gibt, der sich etwa folgendermaßen umschreiben läßt: Vollkommen also ist die »erste« Freundschaft, weil sie aus einem Verhalten im menschlichen Zusammenleben hervorgeht, das eine möglichst große Beständigkeit mit sich führt. Auch die Freundschaften gemäß des Nutzens bzw. der Lust zielen tendenziell auf ein Zusammenleben ab, jedoch vermögen sie diesem nur bis zu einem bestimmten Grad eine Dauerhaftigkeit zu verleihen. Letzter Bezugspunkt der Beurtei­ lung der unterschiedlichen Freundschaftsformen ist die in ihnen je­ weils realisierte Beständigkeit des Zusammenlebens. Es gibt eine Stelle, an der Aristoteles eben dies ausdrücklich macht, und dem Ziel zugleich andere Formen zuordnet: »Die Schlechten aber haben keine Beständigkeit; sie sind ja nicht einmal sich selbst gleich und bestän­ dig. So werden sie für kurze Zeit miteinander befreundet und freuen sich gegenseitig an ihrer Schlechtigkeit. Die Nützlichen und Ange­ nehmen beharren mehr, nämlich solange sie einander Lust oder Nut­ zen verschaffen.«119 Trifft diese Interpretation zu, gemäß der als Leitfaden für das Verständnis der Freundschaftsformen jener der Beständigkeit von zwischenmenschlichen Beziehungen zu gelten hat, so hätte man hier­ in auch den maßgeblichen Grund, weshalb die Untersuchung der 91kta sich nicht auf zwischenmenschliche Beziehungen im engen Sinne beschränken läßt, sondern als genuiner Ort der Aristotelischen Sozi­ alphilosophie auch soziale Beziehungen, wie sie einer politischen Staatsform zugrundeliegen, umfaßt. Es bleibt abschließend zur Beständigkeit als dem Charakteristi­ kum der »vollkommenen Freundschaft« noch ein Aspekt anzufügen, den Aristoteles' Theorie der Freundschaftsverhältnisse zumindest implizit mitberücksichtigt. Woher, so ließe sich fragen, vermag man denn im Einzelfall zu entscheiden, ob und wann man es in der Bezie­ hung zu einem Mitmenschen tatsächlich mit einem Freund zu tun hat, dem es in seinem Verhältnis nicht um den eigenen Nutzen geht, 119 oi 6e ^ox0^qoI TÖ ^ev ßEßaiov otx exouoiv; oii6e yaQ aüxoig Sia^Evouoiv ö^oioi 0VTE5; Ern’ oVyov 6e xgovov yiyvovTai ^IXoi, xafyovTEg t^ äXX^Xmv ^ox0^Qia. oi XQ^oiyoi 6e xai ^ÖEtg Ern m^Eiov Sia^Evonoiv; (1159 b 7-1159 b 11). ^ 203

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sondern dem man sich anvertrauen kann, weil es ihm um das geht, was man selbst ist? Nun findet sich im achten Buch kein einziger Hinweis, dem man entnehmen könnte, daß sich Aristoteles auch explizit mit dieser Fra­ ge auseinandergesetzt hat. Daraus jedoch schließen zu wollen, daß er, weil es an einer ausdrücklichen Behandlung der Frage fehlt, wie man zur Gewißheit über die jeweilige Art der Beziehung gelangt, keine eigene Theorie der Subjektivität als Selbstverhältnis entwickelt habe, wäre allerdings verfrüht. Gewiß fehlt es an einer eigenen, metho­ disch abgesicherten Erörterung eines entsprechenden Verifikations­ verfahrens, doch sollte nicht übersehen werden, daß das Phänomen einer verläßlichen gegenüber einer möglichen Schwankungen aus­ gesetzten Beziehung von Aristoteles in der Abgrenzung der Nutzenund Lustfreundschaft von jener der tugendhaften Menschen von vornherein stets mit im Blickpunkt steht. Und wenn Aristoteles ebenso im achten und neunten Buch der Nikomachischen Ethik wie später in der Politik120 die Freundschaft der Tugendhaften als Grund­ lage für ein Gemeinwesen ins Spiel bringt, so kommt darin unter anderem auch jene Vorstellung zum Ausdruck, daß ein Gemeinwe­ sen, das ausschließlich auf Beziehungen eines Nutzenkalküls oder des Lustgewinns beruht, a la longue gesehen ein recht unsicheres und hinsichtlich der Gewähr und der Dauerhaftigkeit von mensch­ lichen Beziehungen ein höchst unzuverlässiges Gebilde darstellte. Wenngleich also Aristoteles keine hinreichende Theorie eines Verifikationsverfahrens anbietet, können doch seine wiederholten Hinweise auf das Zusammenleben, wie es die Freundschaft der Tu­ gendhaften charakterisiert, als Bedingung interpretiert werden, die einem solchen Verifikationsprozeß notwendigerweise zugrundelie­ gen muß. Um zu einer Gewißheit darüber zu gelangen, daß man selbst von einem anderen Menschen nicht um des Nutzens willen geschätzt wird, sondern sich ihm anzuvertrauen vermag, ist ein Zu­ sammenleben und ein gegenseitiges Anteilnehmen unabdingbar. Umgekehrt wäre gerade die fehlende Verbundenheit ein Indiz für 120 Zur Analogie von persönlichen Freundschaftsverhältnissen und politischen Syste­ men vgl. 1160 a 31-1161 a 9. Dieser Zusammenhang der Polis mit der Freundschaft ergibt sich gerade aus der Ausrichtung auf das gute Leben, um dessentwilen beide exi­ stieren. In dieser Hinsicht ist die Polis auf verschiedene Formen des menschlichen Zu­ sammenlebens angewiesen, die ihrerseits wiederum das »Werk der Freundschaft« bil­ den, denn »Freundschaft ist nichts anderes als die Entscheidung, miteinander zu leben« (Pol. III.9.12S0 b 36-39). 204

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ein von Nutzen und Lust bestimmtes zwischenmenschliches Verhält­ nis.121 Auf eine andere Bedingung für einen solchen Verifikations­ prozeß, wie sie Aristoteles an späterer Stelle im Zusammenhang der Untersuchung des Verhältnisses von Selbstbezug und Bezug zu Freunden in NE IX.4 zu formulieren scheint, wird noch zurück­ zukommen sein. Wir überspringen nun im Folgenden jene Kapitel des achten Buches der NE, in denen Aristoteles auf die Möglichkeiten eines Austau­ sches zwischen unterschiedlichen Typen der Freundschaft, wie sie insbesondere durch die Ungleichheit der Freunde hervorgerufen wer­ den, zu sprechen kommt. Mit diesen Reflexionen wird zugleich der Rahmen, wie er durch die bisherige Erörterung der Freundschaft un­ ter Tugendhaften gezogen wurde, gesprengt. Wenn nun Möglichkei­ ten einer Reziprozität in Freundschaftsformen untersucht werden, so werden einerseits auch jene zwischenmenschlichen Beziehungen mit in die Untersuchung einbezogen, die sich dem bisherigen Klassifika­ tionsschema von Tugend-, Nutzen- und Lustfreundschaft entziehen. Zugleich wird auf dem Wege der Untersuchung dessen, was eine Wechselseitigkeit in ungleichen Freundschaften gewährleistet, durch Aristoteles der in den abschließenden Kapiteln des achten Buches vorgenommene Vergleich zwischen den drei Freundschaftsformen und den politischen Konstitutionen der Monarchie, Aristokratie und der Timokratie vorbereitet. Die Leitfrage dieser Kapitel ist, nach wel­ chen Kriterien und Maßstäben hier im Einzelnen ein Ausgleich ge­ sucht wird und dadurch die Wechselseitigkeit gewährleistet werden kann. Von der Sache her erweist die Untersuchung der Wechselsei­ tigkeit einmal mehr das Erfordernis einer eingehenderen Bestim­ mung des Freundes als ein anderes Selbst, wie sie im vierten Kapitel des neunten Buches eigeführt und in den nachfolgenden Kapiteln vertieft wird. 121 Vgl. dazu 1156 a 25 f. Vgl. außerdem insbesondere 1156 b 28-32: odö5 drtoöe^aaöai ö^ rt^ote^ov odö5 eivai 91X005, rt^lv dv exdte^og exaregw 9avfl 91X^005 xal rtiatenöfl. oi öe taxewg td 9iXixd rt^ög dXX^Xong rtoionvteg ßodXovtai ^ev 9iXoi eivai, odx etal öe, et ^ xal 9iX^tol, xal tont5 l'aaaiv; ßodX^aig ^ev yd@ taxeia 9iXlag yivetai, 9iXla ö5 od. (»So kann man auch nicht einander näherkommen und Freund werden, bevor nicht jeder dem anderen sich zuverlässig als liebenswert erwiesen hat. Wer rasch miteinander Freundschaft schließt, diese wollen zwar Freunde sein, sind es aber nicht, wenn sie nicht auch liebenswert sind und dies voneinander wissen. Denn Wille zur Freundschaft kann rasch entstehen, Freundschaft aber nicht.«) ^ 205

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Zweiter Teil: $1^05 und $iAia: Aristoteles’ Theorie der Freundschaft

Und ebenso können in unserem Zusammenhang die ersten drei Kapitel des neunten Buches unberücksichtigt bleiben, in denen Ari­ stoteles Möglichkeiten des Ausgleichs bei Uneinigkeiten in Freund­ schaften aufgrund der Überlegenheit darstellt. Während in NE VIII.16 die Ehre als mögliche Kompensation für Ungleichheiten un­ tersucht wird, diskutiert Aristoteles in IX.1, inwieweit dem Geld au­ ßerhalb kommerzieller Bereiche die Funktion eines Ausgleichs zuge­ messen werden kann. IX.2 untersucht drei Sonderfälle ungleicher Freundschaften: ob man dem Vater alles gewähren soll, ob man eher dem Freunde als dem Tugendhaften behilflich sein soll sowie ob man im Zweifelsfalle eher dem Wohltäter als dem Freunde Gutes erwei­ sen soll. Ebenfalls Sonderfälle, freilich von einem anderen Typus, behandelt IX.3, das die Auflösung von Tugendfreundschaft zum Ge­ genstand hat. Mit diesen Kapiteln kommt jedenfalls die Darstellung der Weisen, wie in Freundschaften unter Gleichen und unter Unglei­ chen die Reziprozität aufrecht erhalten werden kann, zu ihrem Ab­ schluß. Was in den nächsten Kapiteln des neunten Buches folgt, geht über das Bisherige hinaus. Zum einen tritt an die Stelle der Behand­ lung der Freundschaft als einer externen Relation nun ihre Bestimung gemäß ihrer internen Struktur. Auf diesem Wege wird Aristo­ teles auch zu einer eingehenden Klärung der Freundschaft als einer Weise des Selbstverhältnisses gelangen. Zum anderen schließt die Untersuchung der Freundschaft im Sinne eines Mitsichbefreundetseins die Möglichkeitsbedingung ihrer Entstehung sowie ihrer Ent­ wicklung mit ein.

2.2 Freundschaftals Selbstverhältnis: NE IX.4 Im bisherigen Gang unserer Interpretation des ersten der beiden Freundschaftsbücher drängte sich die Annahme auf, dass die Aristo­ telische Unterscheidung der Nutzen- und Lustfreundschaften von jenen unter Tugendhaften zunächst allein unter formalen, nicht je­ doch bereits unter inhaltlichen Gesichtspunkten vorgenommen wur­ de. Die Charakterisierung der Nutzen- und Lustfreundschaften als »zufällige« Verbindungen gegenüber der Freundschaft »an sich« der Tugendhaften ist insofern als vorläufig zu bezeichnen, weil sie allen­ falls etwas über die korrekte Interpretation von interpersonalen Be­ ziehungen besagt. Keinesfalls aber kann ihr bereits entnommen wer­ den, was eine authentische Beziehung unter Freunden beinhaltet. 206

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Freundschaft als Selbstverhältnis: NE IX.4

Im Zuge dieser Annahme steht zu erwarten, dass erst die nach­ folgenden Kapitel IX.4-9 eine eingehende Begründung liefern, wor­ in die Eigenart der Freundschaft der Tugendhaften, die einander um ihrer selbst willen liehen, besteht. Eine wichtige Vorentscheidung bezüglich des angemessenen Verständnisses der kommenden Kapitel scheint jedoch bereits durch die bisher getroffene Annahme gegeben: Ist nämlich eine Freundschaft unter Tugendhaften wesentlich da­ durch bestimmt, dass der Freund (und seine ihn auszeichnenden Ei­ genschaften) nicht um der Beziehung willen, in der er zum Lieben­ den steht, vielmehr um seiner selbst willen geschätzt wird, so steht zu erwarten, dass die nunmehr einsetzende Begründung der Freund­ schaft der Tugendhaften nicht aus der Reziprozität ihrer Beziehung abgeleitet wird. Sie hat stattdessen darauf einzugehen, welche struk­ turellen Eigenschaften es sind, die einem Menschen zukommen und ihn als geeignet für eine Freundschaft erscheinen lassen, wie sie un­ ter Tugendhaften möglich ist. Im vierten Kapitel des neunten Buches befaßt sich Aristoteles mit dem freundschaftlichen Verhältnis des Menschen zu sich selbst, mit dem, was gemeinsam mit den Ausführungen im achten Kapitel die Grundlage für das Thema der Selbstliebe in der Ethik bildet. Der Aufbau des vierten Kapitels ist klar strukturiert: Ausgehend von der These, was das freundschaftliche Verhalten zu nahestehenden Men­ schen kennzeichne, könne von dem Verhalten sich selbst gegenüber hergeleitet werden,1 werden in einem ersten Schritt (1166 a 2-10) vier Charakteristika der Freundschaft (^ikixd) zu anderen Menschen aufgeführt. Von diesen wird im Folgenden zunächst dargelegt, wie sie im Selbstverhältnis einer moralisch vorzüglichen Person (1166 a 13-29) anzutreffen sind, bevor in einem nächsten Schritt be­ gründet wird, weshalb sie nicht im Selbstbezug der schlechten Men­ schen realisiert sind (1166 b 6-25). Das Kapitel endet mit einer der wenigen Paränesen der NE, man möge die Schlechtigkeit meiden und mit aller Kraft versuchen, anständig zu handeln (1166 b 25-29).2 Bereits die Eingangsthese, wonach das freundschaftliche Verhal­ 1 Ta qiilixa 6e ta rngog toüg qAong, xai oig ai ^ilfai ÖQi^ovtai, eoixev ex tmv rngog Eantov El^lu0Evai (»Das freundschaftliche Verhalten zu nahestehenden Menschen und die Charakteristika der Freundschaft scheint aus dem Verhalten sich selbst gegenü­ ber abgeleitet zu werden«, 1166 a 1-a 2). 2 Zwei weitere derartige Ermahnungen finden sich im neunten Buch, 1165 a 33-34 und 1177 b 31-34. ^ 207

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ten zu anderen und die Charakteristika der Freundschaft aus dem Verhalten sich seihst gegenüber abgeleitet werden kann, wirft einige Fragen auf, deren Beantwortung für das angemessene Verständnis des Kapitels von folgenreicher Bedeutung ist. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, zu verstehen, was Aristoteles genau unter der Her­ leitung versteht. Dafür lassen sich wenigstens drei unterschiedliche Interpretationsvarianten anführen.3 Man kann diese Behauptung (1) im Sinne einer psychologischen Gesetzmäßigkeit verstehen, die zusammengefaßt die Tatsachenhehauptung vertritt, wonach das Ver­ halten eines jeden gegenüber ihm nahestehenden Menschen tatsäch­ lich davon hergeleitet werden kann, wie er sich zu sich selbst verhält. Diese These enthält einen Primat der »Freundschaft zu sich selbst« in der Weise, daß ein bestimmtes Individuum sich anderen Menschen gegenüber so verhalten wird, wie es sich zu sich selbst verhält.4 Für diese Interpretation läßt sich, wie zu zeigen sein wird, auf andere Belegstellen im neunten Buch verweisen, insbesondere auf die nach­ folgenden Kapitel IX.5-7. Ebenso könnte die Eingangsthese auch (2) dahingehend inter­ pretiert werden, daß Aristoteles mit ihr eine logisch-semantische In­ terdependenz von Freundschafts- und Selbstverhältnis behauptet. In dieser Hinsicht würde man zu einer korrekten Bestimmung des freundschaftlichen Verhaltens zu anderen nur auf dem Wege einer Reflexion über die Charakteristika der Selbstliebe gelangen. Eine Er­ klärung und Definition der Freundschaft würde dieser Interpretation zufolge nur im Ausgang der Klärung der Charakteristika im Selbst­ bezug möglich sein. Für diese Annahme spricht, daß Aristoteles in der Eingangsthese ausdrücklich auf die Charakteristika (^iXixd) ein­ geht. Eine weitere (3), gegenüber der zweiten wesentlich schwäche­ 3 Daß die Herleitung des freundschaftlichen Verhaltens zu anderen Menschen aus dem selbstreferentiellen Verhalten des tugendhaften Menschens keineswegs »chronolo­ gisch« zu verstehen ist, hatte bereits Stewart dargestellt: Notes on the Nicomachean Ethics of Aristotle, Bd. II, S. 352-354. 4 In der Literatur haben sich für diese Interpretationsvariante u.a. Julia Annas aus­ gesprochen. Vgl. Self-Love in Aristotle. - In: The Southern Journal of Philosophy (Sup­ plement Proceedings of the Spindel Conference). 27 (1988), S. 1-18. Dies.: The Morality of Happiness. Oxford 1993, S. 249-262, bes. S. 256 f. Im deutschen Sprachraum schei­ nen mir Ernst Tugendhat (Vorlesungen über Ethik. Frankfurt a.M. 1994, S. 261 ff.) und Ursula Wolf in diese Richtung zu argumentieren. Vgl.: Über den Sinn der Aristote­ lischen Mesoteslehre. - In: Phronesis 33 (1988), S. 54-75. (Wiederabgedr. in: Otfried Höffe [Hg.]: Die Nikomachische Ethik. Berlin 1995, S. 83-108). Ferner dies.: Das Pro­ blem des moralischen Sollens. Berlin, New York 1984, S. 133 ff. 208

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ren These besagt, daß mit der Herleitung des freundschaftlichen Ver­ haltens zu anderen aus dem Verhalten sich selbst gegenüber nichts anderes als eine Entsprechung zwischen Selbstverhältnis und des Verhaltens zu Freunden behauptet wird.5 Die einzelnen Thesen müssen sich freilich nicht notwendigerweise gegenseitig ausschlie­ ßen. Was die erste These anbelangt, gilt es zu berücksichtigen, daß die Ausführungen des achten Kapitels ihrem Anspruch nach über die einfache Tatsachenbehauptung einer Abhängigkeit des Verhaltens zu Freunden vom selbstreferentiellen Bezug hinausweisen. Gezeigt wer­ den soll, was auch durch die Schlußparänese hervorgehoben wird, mehr als lediglich eine psychologische oder kausale Gesetzmäßigkeit im Verhalten: warum nämlich der Tugendhafte mit anderen befreun­ det sein kann, der schlechte Mensch indes dazu nicht imstande ist. Dies schließt zwar die erste These nicht gänzlich aus, sofern sie durchaus in einem anderen Verständnis der Herleitung impliziert sein kann. Jedoch kann sie selbst nicht als letzter Deutungsrahmen für die Aristotelische Zuordnung von Selbstbezug und Bezug zu an­ deren hergenommen werden. Die zweite These, wonach man zum genuinen Verständnis der Freundschaft nur auf dem Wege einer angemessenen Bestimmung der im Selbstverhältnis anzutreffenden Charakteristika gelangen kann, scheint noch über die logische-semantische Klärung des Be­ griffsstatus hinauszugehen. Sie impliziert zum einen, daß man, um die Bedeutung des Ausdrucks ^lAta zu verstehen, auf das Selbstver­ hältnis zurückgehen muß. Sie könnte darüberhinaus aber auch die Behauptung einschließen, daß wer immer sich freundschaftlich zu Freunden verhalten will, dies nur dann erreichen wird, wenn er darin von seinem genuinen Selbstverhältnis ausgeht. In dieser Hinsicht ließe sich diese These auch als ethische Zuordnung von Selbstver­ hältnis und Fremdbezug interpretieren. Für diese Lesart ließe sich vom Text her etwa jene Stelle anführen, an der Aristoteles frühere Darlegungen zusammenfassend auf den Tugendhaften und die Tu­ gend als Maß für alles verweist (1166 a 12-13). Die dritte These der Entsprechung von Selbstverhältnis und freundschaftlichem Verhalten zu anderen ist als solche unproblema­ tisch und durchgehend in den Ausführungen des vierten Kapitels gedeckt. So führt Aristoteles gegen Ende seiner Darlegungen zu den 5 Vgl. dazu insbesondere Michael Pakaluk, a.a.O., S. 162 ff. ^ 209

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Freundschaftscharakteristika aus, daß diese gleichermaßen im Selbst­ verhalten des Tugendhaften wie in seinem Verhalten gegenüber den Freunden aufzuweisen sind und daß darin eben die Freundschaft be­ steht.6 Man kann überdies, wie zu zeigen sein wird, für diese These Aristoteles' Darlegungen zur Analogie in den Kategorien und der Metaphysik anführen. Ob sich demgegenüber auch die zweite These begründen läßt, wird später zu klären sein. 2.2.1 Die Charakteristika der Freundschaft Im Text führt Aristoteles die charakteristischen Kennzeichen eines freundschaftlichen Verhaltens auf, die sich ebenso in der Beziehung des Menschen zu sich selbst, jedenfalls beim Guten, wie in seinem Verhalten gegenüber den Freunden auffinden lassen. Als einschlägi­ ge Merkmale des freundschaftlichen Verhaltens zählt Aristoteles jene vier auf (1166 a 2-10), die bereits in den vorhergehenden Kapi­ teln über die Freundschaft Erwähnung fanden. So will und tut (1) ein Mensch seinem Freund das Gute (oder was also solches erscheint) um seines Freundes willen.7 Er wünscht (2), daß sein Freund am Leben bleibt, und zwar um des Freundes willen. Dieses Charakteristikum freundschaftlicher Beziehungen verdeutlicht Aristoteles zum einen am Beispiel der Mütter, die ihre Kinder selbst ohne Gegenleistung lieben; gleiches gilt zum anderen für jenen, der seinem Freunde auch nach einem Streit das Leben wünscht.8 Ferner zeigt sich (3) die Freundschaft daran, daß man mit dem Freund einträchtig zusam­ menlebt und dasselbe wünscht.9 Schließlich (4) teilt man mit dem 6 Vgl. 1166 a 29-33: tm 6f| rngog ahtov ^ev Exaota tontmv hmdQxeiv tö EmEixef, mQÖg 6e tov ^Aov Exeiv rnorneQ mQÖg Eantöv (Eoti yaQ o 9H05 allog ahtög), xai ^ qiilla tontmv Eivalti 6oxet, xai^Aoiolgta'öB’ ürnaQxei. (»Da sich nun jedes einzelne davon beim Tugendhaften im Verhältnis zu sich selbst findet und er sich zum Freund verhält wie zu sich selbst (denn der Freund ist ein anderer er selbst), so scheint auch die Freundschaft darin zu bestehen und Freunde solche, die dies besitzen.«) 7 ti0Eaoi yaQ ^Aov tov ßonlö^evov xai rngattovta tdya0a ^ ta qaivö^eva exeIvon Evexa (1166 a 2-4). 8 ^ tov ßonlö^evov elvai xai t^v tov qAov ahtoü xdgiv; ö^eq al ^^tEQeg rngog ta tExva mEmov0aoi, xai töv qAmv ol rnQooxEXQonxöteg. (1166 a 4-6.). 9 ol 6e tov onvhidyovta xai tahta a'tQon^evov (a 6f.). In einer Reihe von Kommen­ taren zur NE werden fünf Charakteristika der Freundschaft und analog dazu der Selbst­ liebe unterschieden. Diese Untergliederung kommt dadurch zustande, daß das dritte Charakteristikum in unserer Auflistung in zwei gesonderte unterschieden wird, näm­ lich (3) einträchtig zusammenleben und (4) dasselbe wünschen. Diese Aufteilung findet 210

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Freunde Freuden und Leiden, ein Kennzeichen, das ebenfalls am mei­ sten von den Müttern gilt.10 Alle vier Charakteristika sind in den vorausgegangenen Darle­ gungen zur Freundschaft bereits erwähnt worden.11 Vom Text her läßt sich dabei nicht entscheiden, wie sich die einzelnen Kennzeichen zueinander verhalten und ob jeweils alle vier Kennzeichen im freundschaftlichen Verhalten realisiert sein müssen, um von der 91LLa sprechen zu können, oder ob es sich bei ihnen um disjunktive Möglichkeiten handelt, von denen nur einige realisiert zu sein brau­ chen.12 Diese vier strukturellen Merkmale der Freundschaft will Aristo­ teles nunmehr im darauffolgenden Teil (1166 a 10-28) auf die Weise beziehen, wie sich der Mensch zu sich selbst verhält. Auffällig ist dabei zunächst der Zusatz, daß jede der vier Bestimmungen der Freundschaft sich nicht nur im selbstreferentiellen Verhalten des ed­ len Menschens (emeixec) aufweisen lassen, sondern auch für jene sich bereits im Kommentar von Thomas von Aquin, und viele der späteren Kommenta­ toren - etwa Stewart, Burnet, Dirlmeier und Gauthier - haben sie übernommen. Anders Olof Gigon in seinem Kommentar (Die Selbstliebe in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles. - In: Constantin Vourveris, Arist. Skiadas [Hrsg.]: Dorema [FS für Hans Diller]. Athen 1975, S. 77-114), der ebenfalls vier Kennzeichen auflistet. Wenn wir das dritte und vierte Merkmal der Freundschaft zu einem einzigen zusammenziehen, so läßt sich dafür der Umstand geltend machen, daß sich in den bisherigen Ausführungen zu diesen vier Charakteristika jeweils eine Parallelstelle aus dem achten Buch der NE anführen läßt. 10 q xov anvaXyo'övxa xal anyxaL^ovta xw ^dXiaxa öe xal xonxo ^e^l xac, an^ßaLvei (a 7-9). 11 Daß jemand anderem Freund zu sein bedeutet, ihm das Gute um seinetwillen zu wünschen, wurde in VIII.2.1155 b 31 erwähnt; daß der Freund um seinetwillen leben und darin bewahrt sein möge in VIII.8.1159 a 31-32, wobei hier wie dort die Liebe der Mutter zu ihrem Kinde als Paradigma angeführt wird; das Merkmal der Freundschaft, mit dem anderen zusammenleben zu wollen, in VIII.5.1157 b 7-8 sowie das vierte Cha­ rakteristikum in VIII.3.1156 b 14-17 bzw. VIII.6.1158 a 9. 12 Hans von Arnim hat in seiner Abhandlung »Die drei Aristotelischen Ethiken« auf der Grundlage eines Vergleichs zwischen der Endemischen Ethik und der Magna Moralia die These vertreten, daß sich Aristoteles in der Anführung der vier Kennzeichen auf eine Kontroverse zwischen verschiedenen Strömungen in der Akademie hinsichtlich der Freundschaftsdefinition bezieht. Aristoteles' »Fundamentalthese« würde sich in die­ ser Kontroverse für eine Lösung stark machen, die das Erfülltsein aller Charakteristika als Voraussetzung für die qaXLa betrachte. Vgl. von Arnim: Die drei Aristotelischen Ethiken. Akademie der Wissenschaften in Wien. Phil.-histor. Kl. Sitzungsberichte, 202. Band, 2. Abhandlung. Wien, Leipzig 1924, S. 96-124. Gauthier/JolifII, 2, S. 726 ff., bekräftigen diese These. ^ 211

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gelten, die sich seihst als tugendhaft einschätzen.13 Die unmittelbar nachfolgende Bemerkung, wonach der Tugendhafte das Maß für alles sei, verdeutlicht, weshalb Aristoteles in die Anwendung der vier Charakteristika auf den Selhsthezug auch jene miteinschließt, die ihrem eigenen Anspruch nach als tugendhaft erscheinen wollen. Selbst diejenigen, die nur ihrer eigenen Einschätzung nach als gute Menschen erscheinen wollen, müssen sich schon in diesem ihren An­ spruch auf das beziehen, was für das Selhstverhältnis des Tugendhaf­ ten gilt. Was der Tugendhafte als ein Gut in freundschaftlichen Be­ ziehungen betrachtet, ist nicht nur ein tatsächliches Gut, es stellt zugleich den Standard dar, an dem sich ein jeder zu orientieren hat. Nichttugendhafte Menschen müssen sich folglich, wenn immer es um das freundschaftliche Verhalten zu anderen bzw. zu sich selbst geht, an dem guten Menschen messen lassen.14 An ihm als dem mo­ ralisch vorzüglichen Menschen sind alle menschlichen Verhaltens­ weisen auf ihre Entsprechung bzw. auf ihre Defizienz hin zu beur­ teilen. Die Überleitung von den vier Freundschaftsmerkmalen im Ver­ halten gegenüber anderen zum Selbstbezug des tugendhaften Men­ schen erfolgt dabei in der Weise, daß Aristoteles den Tugendhaften charakterisiert als einen Menschen, der mit sich selbst in Überein­ stimmung lebt (opoyvmpoveX eauxm) und mit seiner ganzen Seele eines und dasselbe begehrt (xal xmv auxmv opeyexai xaxd näoav x^v ^u/^v, 1166 a 13-14).15 Bezieht man sowohl die nachfolgenden 13 mQÖg Eauxov 6e xohxmv Exaoxov xrä EmEixef hmaQXEi, xofg 6e Xoimoü;, f| xoioüxoi 'umoXa^ßdvouoiv eivai (1166 a 10f.). 14 Die Behauptung, daß der Tugendhafte das Maß der Dinge ist, findet sich auch in anderen Stellen der NE. Vgl. 111.4.1113 a 32; X.5.1176 a 17-18. In 111.4.1113 a 23­ 33 erläutert Aristoteles die Vortrefflichkeit des moralisch guten Menschen durch den Vergleich mit dem physisch wie psychisch unversehrten und gesunden Menschen. Der Vergleich zum Gorgias wie zur Politeia drängt sich hier geradezu auf. Vgl. oben, Ab­ schnitt 2.1.2 Anm. 57. Und in Protr. heißt es: »Wer kann uns ein genauerer Maßstab und ein Richtpunkt für das Gute sein als der sittlich einsichtige Mensch? Wofür er sich entscheidet, wenn er auf Grund von Überlegung und Wissen eine Wahl trifft, das ist gut, und schlecht ist das Gegenteil davon.« Fragment B. 39, in: Der Protreptikus des Aristoteles. Einl., Text, Übers. und Kommentar von Ingemar Düring. Frankfurt a. M. 1969. 15 Dirlmeiers Kommentar zu dieser Stelle (S. 543 zu 200,6) insistiert darauf, daß sich hier die Platonische Dreiteilung der Seele wiederfindet. Doch das o^OYvm^ovef Eauxm soll wohl nur darauf verweisen, daß beim sittlich Guten das Phänomen der inneren Zerrissenheit nicht auszumachen ist, vielmehr alle Seelenzustände über die Zeit ein­ heitlich sind und sich nicht in sich widersprechen. So spricht Aristoteles auch in 212

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Ausführungen (1166 a 15-27) als auch die Parallele zu den schlech­ ten Menschen in die Interpretation dieser Passage mit ein, so ist wohl mit dem Lehen in Übereinstimmung die Harmonie zwischen dem rationalen Teil der Seele und ihrer selbst beschrieben, während der zweite Aspekt, wonach die ganze Seele ein und dasselbe begehrt, die Zuordnung zwischen dem rationalen und dem nichtrationalen Teil der Seele, ihren volitiven Strebungen und Affekten (vgl. 1168 b 20), thematisiert. Die vier Charakteristika heben jeweils bestimmte Aspekte dieser Selbstübereinstimmung hervor.16 Hinsichtlich des ersten Charakteristikums (1') heißt es im Blick auf das Selbstverhältnis des guten Menschen, daß er für sich selbst genuine als auch scheinbare Güter wünscht und das Gute tut, und zwar um seiner selbst, (d. h. um seines denkenden Teiles) willen (der sein wirkliches Selbst zu sein scheint).17 Das zweite Charakteristi­ kum (2') lautet in der Übertragung auf den Selbstbezug des Tugend­ haften, daß dieser für sich das Leben und die Erhaltung seiner Exi­ stenz verlangt, in besonderer Weise aber für seinen denkenden Teil.18 Ebenso wie (3') sich die Freundschaft zu anderen dadurch auszeich­ net, daß man mit ihnen zusammenleben will und sich die gleichen 1166 a 35, wo von »zwei oder mehr der genannten Stücke« die Rede ist, nicht von See­ lenteilen, sondern von ihren Zuständen, und das können entweder mehrere disparate oder ein einheitlicher sein. Vgl. dazu auch Gerhard Müller: Probleme der Aristote­ lischen Eudaimonielehre. - In: Museum Helveticum 17 (1960), S. 121-143. Neudr. in Fritz-Peter Hager (Hg.): Ethik und Politik des Aristoteles (Wege der Forschung 208). Darmstadt 1972, S. 368-402, hier S. 380, Anm. 15. 16 Im Unterschied zu anderslautenden Interpretationen in der Literatur zu dieser Stelle liegt dieser Darstellung die Annahme zugrunde, daß der Text stringent in seiner Argu­ mentation aufgebaut ist und sich jeweils zu den vorausgegangenen Freundschaftscha­ rakteristika eine Parallele im Selbstbezug aufzeigen läßt. Zum einen kommen andere Auffassungen zustande, weil man vier statt fünf Charakteristika annimmt und dement­ sprechend einen anderen Aufbau rekonstruiert. Entsprechend findet sich etwa die Be­ hauptung, Aristoteles sei in der Aufzählung von der anfangs gegebenen Reihenfolge abgewichen und habe die Übereinstimmung mit sich selbst vorangestellt, der oben noch die Übereinstimmung mit dem Freunde und das Zusammenleben mit ihm entsprochen hatte, ist zwar auffällig, angesichts der systematischen Absicht jedoch durchaus ver­ ständlich. Zum anderen findet man - wie bei O. Gigon - die Auffassung, es handele sich beim vierten Kapitel um einen schlecht redigierten Text. Vgl. O. Gigon: Die Selbstliebe in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, S. 82 ff. 17 xal ßohXetai eavxti tdyaöd xal td ^aivo^eva xal rt^dttei (ton yd@ dyaöon tdyaöov öiartovetv), xal eantoh evexa; ton yd@ öiavo^tixon xd^iv, o^e^ exaatog eivai öoxet, 1166 a 14-17. 18 xal £^v öe ßohXetai eantov xal aw^eaöai, xal ^dXiata tonto w ^ovet, 1166 a 17-19. ^ 213

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Dinge wünscht, gilt dies auch für die Seihstühereinstimmung des guten Menschen. Daß ihm das Zusammensein mit sich seihst wünschenswert erscheint, wird phänomenologisch daran festge­ macht, daß dem Tugendhaften die Erinnerungen an seine Tätigkeiten in der Vergangenheit erfreulich sind ehenso wie die Erwartungen für die Zukunft. Auch sein gegenwärtiges Wissen ist ihm angenehm, insofern es reich an Betrachtenswertem ist.19 Das letzte Charakteri­ stikum (4') der Freundschaft, wonach man des anderen Freude und Sorgen teilt, hedeutet hinsichtlich des guten Menschen eine affektive Ausgewogenheit, die sich darin niederschlägt, daß ihm stets das glei­ che erfreulich wie anderes hedauerlich erscheint, im Wechsel seiner Affekte ihn also eine konstante Ausrichtung auf das gleiche Gut hestimmt. Da seine Affekte nicht durch jede heliehige Vorstellung oder Annahme hewegt werden, wird er auch von den Folgen seiner Hand­ lungen nicht wünschen, sie wären nicht eingetreten: Das Gefühl der Reue, so Aristoteles, ist dem Tugendhaften fremd.20 Auffällig ist in der Analogie zwischen dem freundschaftlichen Verhalten zu anderen und dem Selhsthezug zunächst die Vielfalt der Wendungen, mit denen Aristoteles inshesondere heim ersten und zweiten Charakteristikum den rationalen Teil der Seele heschreiht. Die Rede ist vom »denkenden Teil« (to Siavo^xixöv, 1166 a 17), von dem, »mit dem er denkt« (m ^qoyel, 1166 a 18),21 von »dem, das denkt« (xo vooüv, 1166 a 22) sowie von dem »in seinem Verste­ hen« (x^ 6iavoi,a, 1166 a 27). Ausdrücklich wird dahei an zwei Stel­ len der dianoetische Teil mit dem eigentlichen Selhst des Menschen gleichgesetzt.22 Jedoch müssen die unterschiedlichen Umschreihun­ gen nicht unhedingt auf eine mangelhafte Konzeption des vierten

19 ouvSiayeiv xe o xoioüxog Eauxm ßoüXexai; f6Emg yaQ aüxö moiet; xmv xe yaQ mEmQayQEvmv EmxEQmefg ai QV^Qai, xai xmv QEXXövxmv EXraheg ayaBai; ai xoiaüxai 6’ fjSEtai. xai 0emQr|Q,axmv 6’ e'Moqel x^ Siavoia (1166 a 23-27). 20 ouvaXyet xe xai ouv^Sexai Q,aXio0’ Eauxm; rnavxoxe yaQ Eoxi xo aüxö XiOTr|QÖv xe xai f6ü, xai oüx aXXox’ aXXo; a^exa^EX^xog yaQ mg eHelv (1166 a 27-29). 21 Dirlmeier ühersetzt den Ausdruck mit »für die geistig-sittliche Kraft« und interpre­ tiert diese Stelle als ein weiteres Zeugnis für den Platonismus des Aristoteles. Doch ist an dieser Stelle die Selhstliehe des sittlich guten Menschen Thema, und deshalh steht hier richtigerweise die ^QÖv^oig. Vgl. dazu auch G. Müller: Prohleme der Aristote­ lischen Eudaimonielehre, S. 380, der darauf hinweist, daß ^QÖv^oig und voüg von Ari­ stoteles unter strenger Einhaltung der Terminologie geschieden werden. 22 örneQ Exaoxog eivai 6oxef (1166 a 17) sowie 6ö|eie 6’ av xo vooüv Exaoxog eivai, ^ QaXioxa (1166 a 22). 214

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Kapitels Hinweisen.23 Einer solchen Annahme steht entgegen, daß Aristoteles auch in anderem Zusammenhang, etwa im zehnten Buch, wo die Eudaimonie als Tätigkeit der höchsten Vorzüglichkeit be­ stimmt wird, ebenfalls vorsichtig und zwischen mehreren Aus­ drücken abwägend sich dem Thema nähert.24 Ähnlich scheint es auch für das vierte Buch der Fall zu sein. Wenn aber in den verschiedenen Bezeichnungen jeweils ein und dasselbe, nämlich der rationale Teil der Seele umschrieben wird, so bleibt dennoch die Frage offen, wie sich diese nicht weiter erläuterte Bezugnahme erklären läßt. Eine erste plausible Erklärung wäre die, daß Aristoteles um einer Begründung der Entsprechung zwischen dem Verhältnisses von Freundschaft zu anderen und der Freundschaft zu sich selbst we­ gen auch in der Struktur der Selbstbezüglichkeit entsprechende Relata einführen will, wobei sich hier die Grundunterscheidung zwi­ schen dem rationalen Seelenteil und dem alogischen Teil anbietet. Die Struktur der Selbstbezüglichkeit, wie sie Aristoteles themati­ siert, baute sich folglich den Gegebenheiten der Freundschaft zu an­ deren als Zweiheit von Partnern entsprechend auf der Grundunter­ scheidung zweier Seelenteile auf. Diese Erklärung würde die dritte These in dem Sinne bestätigen, daß Aristoteles in IX.4 die Teile der Seele analytisch-kompositorisch allein darum auseinander hält, um

23 Gigon hat bezugnehmend auf diese Wendungen die These vertreten, daß das vierte Kapitel einer sorgfältigen Überarbeitung ermangelt und IX.8 als der maßgebliche Inter­ pretationsschlüssel für das vierte Kapitel betrachtet werden müsse. Detailliert setzt sich mit dieser These auseinander Hartmut Erbse: Aristoteles. Über die Selbstliebe. - In: ders.: Ausgew. Schriften zur klassischen Philologie. Berlin 1979, S. 432-450, S. 435. Ferner G. Müller: Probleme der aristotelischen Eudaimonielehre, S. 380. Ebensowenig überzeugt Gigons Annahme, aus dieser Passage sei abzuleiten, daß Aristoteles die Per­ son mit der theoretischen Vernunft identifiziert. Dies scheint weder plausibel noch für deren Verständnis erforderlich. Außer dieser Stelle in IX.4 und X.6 gibt es noch zwei weitere Stellen, an denen eine Identifikation des wahren Selbst mit der theoretischen Vernunft vorzuliegen scheint: Prot. 6. Fragment (B 59-70 Düring) und EN IX. 8. 1168 b 28-1169 a 3. Wir werden auf diese Frage in der Behandlung von IX. 8. wieder zurückkommen. Ausgewogen die Argumentation Coopers in: Reason and Human Good in Aristotle. Cambridge (Mass.), London 1975, S. 170ff. 24 Die Frage, wie sich die Fähigkeit zur praktischen Überlegung (öiavo^tixov), welches in IX. 4 mit dem Selbst identifiziert wird, zu der Gleichsetzung der Person mit ihrer theoretischen Vernunft in X. 7 verhält, kann an dieser Stelle unberücksichtigt bleiben. Ihr würde erst in einer Behandlung des zehnten Buches eine größerer Bedeutung zu­ kommen. Auch im achten Kapitel (1169 a 2 ff.) wird nochmals das Selbst mit dem vong identifiziert. ^ 215

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eine Entsprechung der Freundschaft zu anderen und der Freundschaft zu sich aufzuweisen. Doch liegen die Schwierigkeiten, die mit dieser Zuordnung ein­ hergehen, auf der Hand. Die Freundschaft mit sich selbst auf der Grundlage der Unterscheidung zwischen zwei Seelenteilen zu be­ schreiben könnte zu dem Mißverständnis führen, daß man es hierbei mit zwei wirklich getrennten Partnern zu tun hat. Dieser Paradoxie ist sich Aristoteles bewußt. Wenngleich er in der Beschreibung der Freundschaft mit sich selbst von einer Zweiheit der Seelenteile aus­ geht, erfolgt dies nur in der Absicht, sie in der Einheit und Einigkeit des tugendhaften Menschen als untrennbar zu denken. Ein irgendwie geartetes »substantialisiertes« Geistverständnis ist ausgeschlossen. Dies zeigt sich bereits beim ersten Kennzeichen, wonach der gu­ te Mensch um seines denkenden Teiles willen genuine wie scheinbare Güter wünscht und das Gute tut, eine Bestimmung, die auf die Un­ terscheidung zwischen dem nichtrationalen und rationalen Seelenteil im ersten Buch der NE zurückgreift. Hier, im 13. Kapitel, hatte Ari­ stoteles dargelegt, daß zwischen einem vernunftlosen (dkoyov) und einem vernunftbegabten (x6 koyov e/ov) Teil der Seele zu differen­ zieren sei (1.13.1102 a 29). Ersterem sind das Ernährende (OpenTtxöv, 1102 b 11) und das Begehrende sowie allgemein das Strebende (emOu^^TLXÖv xal 6Xm$ opextixov, 1102 b 30) zu eigen, während sich das, was Aristoteles den vernunftbegabten Teil der Seele nennt, am besten wiedergeben läßt mit »überlegend« bzw. »überlegt Vor­ gehen«. Eine ähnliche Diktion findet sich auch im neunten Buch der NE,25 so daß die Schlußfolgerung naheliegt, die Wendung des dianoetischen Teiles, um dessentwillen der Gute handele, verweise auf das, was den Menschen in vorzüglicher Weise und in Abgrenzung gegenüber anderen Lebewesen charakterisiert. Es ist hierbei nicht an die Vernunftbegabung zu denken, sondern daran, daß beim Tugend­ haften die affektiven und volitiven Strebungen auf die Vernunft »hören«. Worauf es also im Zusammenhang der affektiven Aus­ gewogenheit ankommt, ist zu verstehen, daß nach Aristoteles sich die Affekte eines Strebevermögens in der Verfassung der dper^ nicht willkürlich regen, sondern sich in Übereinstimmung mit der Ver­ nunft verhalten. Was darunter näher zu verstehen ist, hatte Aristoteles ebenfalls 25 Belegstellen lassen sich insbesondere für das achte Kapitel aufweisen: 1168 b 20; 1168 b 35; 1169 a 18; ferner 1166 a 13; 1166 b 7. 216

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schon früher im 13. Kapitel des ersten Buches ausführlicher darge­ legt. Hier vergleicht er die Art der Zuordnung der Affeke des Strebe­ vermögens zur Vernunft mit dem Hören auf die Anweisung des Vaters und den Rat der Freunde (1.13.1102 h 30-33). Auch die Affek­ te des Tugendhaften hleihen auf unmittelbare Eindrücke und Vor­ stellungen hezogen und sind folglich hinsichtlich ihrer Genese der Vernunft entgegengesetzt (1102 h 24). Doch ist damit keinesfalls ein grundlegend konfliktuelles Verhältnis zwischen menschlicher Affek­ tivität einerseits und der Vernunft andererseits intendiert. In anderer Hinsicht nämlich stehen sie in Übereinstimmung mit den Wei­ sungen der Vernunft. Wenn diese zur Einsicht gelangt, daß ein hestimmter Affekt wie etwa der des Zornes in einer konkreten Hand­ lungssituation unangemessen ist, wird sich die Affektivität des Tugendhaften gemäß dieser Weisung verhalten hzw. zumindest ihr nicht zuwiderlaufen. Die affektive Ausgewogenheit schließt mithin nach Aristoteles keinesfalls ein, daß Affekte oder Begierden in vernünftige Strehungen üherführt oder umgewandelt würden. Viel­ mehr liegt ihr die Vorstellung zugrunde, daß Affekte und Begierden das erstreben, was durch die dianoetische Tugend der Phronesis als richtig und zutreffend eingesehen wird.26 Hinsichtlich des ersten Charakteristikums zeichnet sich die Selhstühereinstimmung des tugendhaften Menschen dadurch aus, daß er für sich selhst genuine als auch scheinhare Güter wünscht und ferner um seiner selbst willen das Gute tut. Daß beide Arten von Gütern in einem Zuge als erstrehenswert für den Tugendhaften genannt werden, erklärt sich daher, daß der Tugendhafte als mora­ lisch vorzüglicher Mensch das wahre Gut, nämlich jenes, das gut für ihn als Tugendhaften ist, erstreht. Hinsichtlich dieses selhstreferen26 Vgl. dazu bereits den Kommentar zur NE von Thomas von Aquin: Sententia lihri ethicorum. - In: Opera omnia iussu Leonis XIII P. M. Edita. Cura et studio fratrum praedicatorum. Bd. 47. Rom 1969, S. 514 (ad 1166 a 27): »[...Jostendit quod virtuosus habet concordiam ad se ipsum secundum passiones. Et dicit quod ipse maxime condolet et condelectatur sibi ipsi, quia toti sibi, id est quantum ad partem sensitivam et intellectivam, est idem triste et delectabile et non aliud alii, quia videlicet pars sensitiva in eo adeo est rationi subiecta quod sequitur motum rationis vel saltem non vehementer renititur; non enim ducitur a passionibus sensitivae partis ut postea passione cessante paeniteat de eo quod iam fecit contra rationem, sed quia semper secundum rationem agit non de facili paenitet et ita maxime consentit sibi ipse.« Grundlegend zum Verhält­ nis von Lust und ethischer d^etq bei Aristoteles sind nach wie vor die Ausführungen von Friedo Ricken: Der Lustbegriff in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles. Göttin­ gen 1976 (Hypomnemata. 46), bes. S. 81 ff. ^ 217

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tiellen Bezugs stimmen folglich genuine als auch scheinbare Güter überein. Desweiteren gehört ebenfalls zu diesem Aspekt, das Gute für sich zu wünschen, daß dieses nicht nur intentional erstrebt, son­ dern auch durch den Tugendhaften für sich selbst hervorgebracht wird. Das zweite Charakteristikum, das für den Selbstbezug des Tu­ gendhaften sein Verlangen nennt, um seines denkenden Teiles willen zu leben und in seiner Existenz bewahrt zu bleiben, braucht ebenso­ wenig in einer substantialistischen Weise gedeutet zu werden. Es gilt in diesem Zusammenhang die besondere Weise der Selbsterhaltung zu berücksichtigen, wie sie den moralisch vorzüglichen Menschen kennzeichnet. Daß ein jedes Lebewesen nach der Erhaltung seines Seins strebt, hatte Aristoteles bereits an anderer Stelle ausführlich dargelegt.27 In De Anima führt er aus, wie bei den untermenschlichen Lebewesen die Funktion des Lebensprozesses in der Erhaltung des eigenen Seins besteht.28 Wohl kann auch hinsichtlich der Pflanzen und Tiere von einem Streben und Begehren gesprochen werden kann, das im Dienste der Erhaltung des eigenen Seins steht. Für die­ ses Streben ist charakteristisch, daß es nicht bewußtseinsmäßig auf die Erhaltung des eigenen Seins sowie dessen, was dafür gut ist, be­ zogen ist. Im Unterschied dazu ist die Weise, in welcher der Mensch nach der Erhaltung seiner Existenz und dem dafür Guten strebt, da­ durch ausgezeichnet, daß er sich nicht allein durch unwillkürliche Empfindungen leiten läßt, sondern kraft seiner Überlegung sich auf die Erhaltung seines Seins bezieht. Der Mensch steht mithin auf je­ ner Stufe der Natur, auf der das Streben nach Erhaltung des Seins nicht nur funktionell in der Suche nach dem für die physische Exi­ stenzerhaltung Zuträglichen besteht; er vermag sich kraft seines dianoetischen Vermögens auch die Frage nach dem guten Leben zu stellen.29 Diese Überlegungen aus De Anima mögen im neunten Buch der NE bereits vorausgesetzt sein, weshalb hier der Hinweis darauf 27 Das Thema der Selbsterhaltung der Lebewesen wird im Rahmen der Nikomachischen Ethik etwa im sechsten Kapitel des ersten Buches (1097 b 33) berührt. In den Kapiteln sieben und neun des neunten Buches wird es eingehender behandelt. Vgl. dazu weiter unten, Abschnitt 2.3.4. 28 De an. II.4.415 b 1. 29 In der Politik formuliert Aristoteles, daß nur der Mensch, weil er in »Sätzen« (Xoyoi) redet, auf das Sein und das dafür Gute bezogen ist. Vgl. Pol. I.2.1253 a 9-15. Vgl. auch NE I.6. 218

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genügt, daß ein jeder sich seihst das Gute wünscht (1166 a 19). Im Kontext der Seihstreferenz des Tugendhaften geht es darüherhinaus darum, darzutun, daß der tugendhafte Mensch nicht nur wie jeder andere Mensch nach der Erhaltung seiner Existenz streht, sondern auch danach, gut zu lehen. Vielmehr ist das Gute, von dem jetzt im Blick auf das Strehen des Tugendhaften die Rede ist, in einem Zu­ sammenhang mit der hesonderen Weise zu sehen, wie der Tugend­ hafte das Gute erstreht. Es liegt also nahe, das öiavo^xixöv dahin­ gehend zu verstehen, daß der Tugendhafte sich in üherlegter Weise auf das erstrehte Gute hezieht. Wenn für jeden Menschen gilt, daß er nach der Erhaltung seiner Existenz streht und das Gute für sich wünscht, dann trifft dies hesonders auf den tugendhaften Menschen zu. Das Gute, das dieser dahei erstreht, hesteht darin, tugendhaft sein. Diese Überlegung präjudiziert folglich noch keineswegs eine hestimmte Vorstellung des Tugendhaftseins. Unseren hisherigen Üherlegungen zufolge kann also eine suhstantialistische Interpretation des öiavo^xixöv ausgeschlossen wer­ den. kann. Bietet sich noch ein anderer Weg des Verständnisses der heiden erstgenannten Charakteristika mit ihrer jeweiligen Bezug­ nahme auf das an, womit der tugendhafte Mensch denkt? Dieser könnte folgendermassen skizziert werden. In heiden Aspekten geht es immer auch um die Frage, wem jeweils der Wunsch, das Gute zu tun hzw. das Lehen zu erhalten, zugute kommt. Die Wendung »um des denkenden Teiles willen« könnte demnach so verstanden werden, daß hinsichtlich des ersten Charakteristikums gilt, es kommt ihm deshalh zugute, weil erst mittels des ötavo^xixöv das Gute zu tun auch einem zugeschriehen werden kann. Entsprechend gälte hin­ sichtlich des zweiten Charakteristikums, daß der gute Mensch, der sich das Lehen und die Bewahrung seiner Existenz wünscht, dies nicht um der Bewahrung seiner physischen Existenz, sondern seines rationalen Teiles wegen wünscht. An das zweite Charakteristikum schließt sich nun unmittelhar ein Argumentationsgang an (1166 a 20-23), der nicht ohne weiteres verständlich ist und aufgrund seiner gedrängten Form in der Litera­ tur hinsichtlich seines Stellenwertes kontrovers diskutiert wird. Ari­ stoteles fährt mit der Behauptung fort, jeder wünscht sich selhst das Gute, kein Mensch wünscht ein anderer (nämlich Gott) zu werden, und daß dann dieser andere alles Gute hahe - denn Gott hat schon jetzt das Gute, sondern (jeder Mensch wünscht sich das Gute) als der, der er (gegenwär­ ^ 219

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tig) ist, mag er sein, was er will. Nun scheint es der denkende Teil zu sein, der das Wesen des einzelnen Menschen, ganz oder doch in erster Linie, ausmacht.30 Man kann diese gedrängte Überlegung in drei einzelne Argumenta­ tionsschritte unterteilen. Ausgehend von der Annahme, daß ein jeder Mensch sich selbst das Gute wünscht, wird in einem ersten Schritt behauptet, daß niemand sich alles Gute wünschen würde unter der Bedingung, daß derjenige, dem dieses dann zugute käme, nicht mehr er selbst, sondern ein anderer wäre. Der zweite Teil des Beweisganges beruht auf dem Argument, daß selbst Gott das Gute in der Weise besitzt, daß er ist, was er immer war. Der dritte und abschließende Argumentationsschritt, der offensichtlich als Folgerung aus den bei­ den vorhergehenden Bestimmungen eingeführt wird, bezieht sich auf das Denkende (TO vooüv, 1166 a 23) im Menschen. Mensch und Denkendes werden gleichgesetzt, dies könnte, vorausgesetzt es han­ delt sich tatsächlich um einen Argumentationszusammenhang, der zwar in gedrängter, aber denoch verständlicher Form überliefert ist, vor dem Hintergrund des zweiten Argumentationsschrittes dahin­ gehend zu verstehen sein, daß Aristoteles hierin jenes Moment des menschlichen Lebensvollzuges hervorhebt, das diesen als unverän­ derlichen auszeichnet. Seine Fähigkeit zur Einsicht, kraft derer er sich zum Guten, das er sich wünscht, verhalten kann, würde seine Weise der Selbsterhaltung insofern derjenigen der Gottheit ver­ gleichbar machen, als er sich ebenfalls in seinem Streben nach dem Guten auf etwas unveränderliches, nämlich auf sein Denkendes be­ zieht. Auch wenn Aristoteles diese Schlußfolgerung an dieser Stelle nicht ausdrücklich zieht, so scheint die Vermutung zumindest nicht von vornherein abwegig, daß diesem Argumentationsgang die Über­ legung zugrunde liegt, daß der tugendhafte Mensch zu leben wünscht gemäß dem, was in ihm unveränderlich ist. Das aber ist der dianoetische, nicht der alogische Seelenteil. Dementsprechend wäre die menschliche Selbsterhaltung, sofern sie auf Veränderlichem bzw. auf den alogischen Funktionen der Seele beruht, eine defiziente Rea­ lisierung des Wunsches zu leben und seine Existenz zu erhalten.31 30 Exaotog 6’ Eantm ßoh.Etai tayaBa, yEvo^Evog 6’ aM.05 oöSeR aiQEitai mavt’ exeiv EXEivo to yEvo^Evov; exei yaQ xai vüv o 0EO5 tayaBov, a..’ Sv ö ti mot’ Eotlv; 6o|eie 6’ av to vooüv Exaotog Eivai, ^ ^a.iota (1166 a 19-23). 31 Diese Textstelle hat in der Literatur zu großen Kontroversen Anlaß gegeben. Eine einfache Übersetzung ist durch die Kürze der Formulierungen kaum möglich. Es kom­ men noch verschiedene Übersetzungsvorschläge in Betracht. Für eine ausführliche Be220

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So verstanden wäre der Argumentationsgang folglich nicht al­ lein auf eine Präferenz des dianoetischen gegenüber dem alogischen Seelenteil zu beziehen, er würde vielmehr über die bisherigen Aus­ führungen hinaus durch die Analogie zu Gott den Vorrang des ötavo^TLXÖv gegenüber den affektiven Regungen durch dessen Un­ veränderlichkeit behaupten. Dies wiederum ermöglicht es, das Den­ kende vorzugsweise dem Menschen gleichzusetzen. Das Ergebnis der vorangegangenen Überprüfung der vier Charakte­ ristika der ^lAta hinsichtlich ihrer möglichen Anwendung auf das Selbstverhältnis des tugendhaften Menschen läßt sich folgender­ maßen zusammenfassen: Offensichtlich verteidigt Aristoteles den Sinn der Wendung »Freundschaft mit sich selbst« in der Hinsicht, in der ebenso wie in der Freundschaft zu anderen auch für die Selbstbezüglichkeit des tugendhaften Menschen eine Einheit und Einigkeit aufzuweisen ist, die sich in den erwähnten vier Charakteristika spe­ zifizieren läßt. Insofern läßt sich die dritte These, wonach NE IX.4 von der Entsprechung von Freundschaftsverhältnissen und Selbst­ bezug handelt, bestätigen. Dafür spricht überdies auch Aristoteles' abschließende Zusammenfassung der Übertragung der Freund­ schaftsmerkmale auf das Selbstverhältnis des Tugendhaften, in der ausdrücklich die Parallele von Freundesbezug und Selbstbezug fest­ gehalten wird: »Da sich nun jedes einzelne davon beim Tugendhaften Handlung und Diskussion der verschiedenen Übersetzungen vgl. Cornelia de Vogel: Selbstliebe bei Platon und Aristoteles und der Charakter der aristotelischen Ethik. - In: Jürgen Wiesner (Hg.): Aristoteles Werk und Wirkung, 1. Band (Aristoteles und seine Schule). Berlin, New York 1987, S. 393-426, hier S. 403ff. Ich folge hier dem Überset­ zungsvorschlag von Hartmut Erbse: Aristoteles. Über die Selbstliebe. - In: ders.: Ausgew. Schriften zur klassischen Philologie. Berlin, New York 1979, S. 432-450, hier S. 437. Ähnlich wie im letzten Teil der Überlegung hatte Aristoteles bereits früher im achten Buch argumentiert, daß einem Freund das höchste Gut zu wünschen nicht be­ deuten könne, diesem ein göttliches Dasein zu wünschen, denn dies bedeutete, daß der Freund in der Folge kein Gut mehr wäre (1159 a 5-15). Vgl. zu dieser Textstelle ins­ besondere den erhellenden Kommentar von Pakaluk. Gigon schreibt: »Beide Texte wol­ len also [...] herausarbeiten, daß nicht ein beliebiges und übermenschliches Gutes er­ strebt werden darf, sondern das dem Menschen erreichbare Gute. Für den Andern zu wünschen, daß er Gott werde, zerstört die Freundschaft, und für sich selber dies zu wünschen, führt zum Ende allen Wünschens.« (»Die Selbstliebe in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles«, S. 89). Kajetan Gantar vermutet eine implizite Kritik an Platons Aufforderung im Theaitetos, das menschliche Dasein zu fliehen und Gott ähnlich zu werden (Theait. 176 a-b). Gantar: Amicus sibi. Zur Entstehungsgeschichte eines ethi­ schen Begriffs in der antiken Literatur, S. 57. ^ 221

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im Verhältnis zu sich seihst findet und er sich zum Freund verhält wie zu sich seihst (denn ein Freund ist ein anderes Seihst), so wird die Freundschaft mit dem ein oder anderen von ihnen [den Freund­ schaftsmerkmalen] gleichgesetzt und sind Freunde jene, hei denen sich diese finden.«32 Ehenso scheint der hehandelte Ahschnitt von IX.4 die These einer logischen Interdependenz von Freundschafts­ und Selhstverhältnis zumindest in dem Sinne zu hestätigen, daß eine korrekte Bestimmung und Erklärung des freundschaftlichen Verhal­ tens zu anderen nur auf dem Wege einer Reflexion üher die Charak­ teristika möglich ist. Treffen diese Annahme zu, dann lassen sich in den Aristote­ lischen Ausführungen in NE IX.4 die zentralen Anhaltspunkte dafür finden, dass die Wesensmerkmale der Freundschaft unter Tugend­ haften nicht nur zur Charakterisierung intersuhjektiver Bezüge die­ nen, sondern ehenso reflexiv zur Bestimmung des Selhstverhältnisses einer Person verwendet werden. Der angemessene Umgang mit anderen schließt notwendigerweise auch eine angemessene Form des Selhsthezugs mit ein. Oh sich üher die heiden Thesen hinaus anhand der hisherigen Ausführungen des Aristoteles noch die weiterführende These des psychologischen Primats der Selhstliehe helegen läßt, scheint indes fragwürdig. Unter Berufung auf die soehen zitierte Stelle, wonach »der Freund ein anderes Selhst ist« (eoti ydp o 91I05 dXXog autög, 1166 a 32), hat man gelegentlich die Annahme vertreten, daß Aristo­ teles die Freundschaft mit sich selhst als die Präfiguration der voll­ kommenen Freundschaft verstanden hat. Gegen diese Annahme, so­ weit sie sich auf die zitierte Formulierung stützt, lassen sich jedoch wichtige Einwände geltend machen. Zum einen gilt es zu herücksichtigen, daß es weder die einzige noch die erste Stelle ist, an der sich Aristoteles einer solchen Wendung hedient. Diese scheint üherdies eine geläufige Redensart gewesen zu sein.33 Bei Aristoteles war hereits zuvor im achten Buch im Zusammenhang mit der Erörterung der Empfindungen von Eltern zu ihren Kindern in vergleichharer Weise, wenn auch im Plural, die Rede von den Kindern als den etepoi

32 trn 6r| mQÖg antöv ^ev Exaota toutmv nmaQXEiv trä EraEixEt, mpög 6e töv qt.ov exeiv morneQ rnQÖg Eantöv (eoti yap o 91I05 aM.05 autög), xai r| 91.1a toi)tmv eivai, ti 6oxet, xai 91.OI oig Taü0’ ümaQxei. (1166 a 29-33). 33 Vgl. dazu Gauthier/Jolif II, S. 731 f. Ferner Dirlmeier, Kommentar zu NE, zur Stelle. 222

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Freundschaft als Selbstverhältnis: NE IX.4

outol.34

Hinsichtlich seiner eigenen, »getrennten« Existenz wird das Kind als ein anderes Selbst bezeichnet, das gleichwohl einen Teil der Eltern darstellt: es gehört ihnen zu »wie der Zahn oder das Haar dem gehört, der es hat«.34 35 Andere Stellen, an denen ebenfalls vom Freund als einem anderen Selbst die Rede ist, finden sich im neunten Buch der NE.36 Ein verwandter Ausdruck wird in der EE gebraucht, wo der Freund als ein getrenntes Selbst (auTÖc; öimpeTÖc;, EE VII.12. 1245 a 35) bezeichnet wird. In der MM verwendet Aristoteles die Wendung dkkoc; eyrn (II.15.1213 a 13; 1213 a 24). Angesichts dieser wie weiterer Belegstellen erhebt sich außer­ dem die Frage, ob Aristoteles mit der Wendung des Freundes als ein »anderes Selbst« mehr zu erklären beabsichtigt, als es eine metapho­ rische Ausdeutung nahelegen würde. Angenommen, es handelt sich bei dieser Wendung um eine Metapher im Aristotelischen Sinne,37 so würde sie lediglich dazu dienen, die bestehende Analogie zwischen der Freundschaft zu anderen und dem Selbstverhältnis zu ver­ anschaulichen, darüberhinaus jedoch nichts signifkant Neues hin­ zufügen. Auf diese Frage wird später nochmals zurückzukommen sein. Auch unabhängig von der Klärung dieser Schwierigkeit bleibt festzuhalten, daß Aristoteles den Umgang mit sich selbst und die Freundschaft mit sich selbst nur sehr zurückhaltend als einen treffen­ den Begriff gelten läßt. Dies verdeutlicht ebenso die in der nachfol­ 34

yovEic ^ev oüv texvu ^lXoüolv mg Eatrcoüc (tu yaQ e| aÜTmv oiov eteqol aÜToi tm XEXguten Menschenc rückhaltlos seine Zustimmung: gerade so soll der spoudaios sein, gerade so soll man Selbstliebe haben.« de Vogel: Selbstliebe bei Platon und Aristoteles, S. 400. 262

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folglich die Aristotelische These, wonach der Tugendhafte sich seihst mehr lieht als den anderen und für sich seihst mehr an Schönem heansprucht, ehen dann wahr, wenn sich nachweisen ließe, daß der Tugendhafte für sich stets höhere Güter in Anspruch nimmt. Damit ist allerdings erst eine der heiden Zusatzhedingungen ge­ nannt, die für das Verständnis der Argumentation im hetreffenden Ahschnitt vorausgesetzt sind. Die andere Annahme hetrifft die jewei­ ligen Güter, die man sich selhst oder dem Freunde wünscht. Güter, die Aristoteles in diesem Zusammenhang anführt, sind einerseits solche, zu denen man in einem Besitzverhältnis steht. In der Reihen­ folge, in der sie Aristoteles aufführt, handelt es sich hierhei um Lehen, Geld, Ehre sowie um eine einflußreiche Stellung. Darüherhinaus gewinnt die Rede von den Gütern auch in jenen Zusammen­ hängen eine Bedeutung, in denen man die Güter nicht ausschließlich als ein Ergehnis einer Tätigkeit, die man um des Freundes oder um seiner selhst willen vollzieht, heschreiht, die Tätigkeit selhst vielmehr als ein Gut für den Handelnden hetrachtet. Wenngleich etwa das freigehige Verhalten einem Freund gegenüher eine zweckhezogene Handlung impliziert - so üherläßt man ihm Güter wie Geld, Ehre etc. - hat es zugleich seinen Zweck in sich selhst und kann in dieser Hin­ sicht als ein Gut hestimmt werden. Diese Beschreihung der Tätigkeit des freigehigen Verhaltens, das nicht in erster Linie um des Zweckes der Tätigkeit, sondern um der Tätigkeit selhst willen ein Gut ist, klingt hereits in den ersten Zeilen des Ahschnitts an, wenn Aristoteles darlegt, daß der Tugend­ hafte Güter wie Geld und Ehren, ja sogar sein Lehen zugunsten des Schönen, das er für sich heansprucht, aufgiht.37 Die Aristotelische 37 aXr|0E5 6e mEQi ton omonbaion xai to tmv qfkmv evexu mokka rngattEiv xai tqg matQtbog, xav 6e^ hmEQamo0vqoxEiv; rnQoqöEtai yaQ xai xCTM-ata xai ti^ag xai ökmg ta mEQi^ax^ta dya0d, mEQimoion^Evog Eantm to xakov; (1169 a 18-22). Gaut­ hier und Jolif sehen in dem Hinweis auf das Sterhen des Tugendhaften um des Vater­ landes willen einen nachträglich eingefügten Zusatz, dem nur sekundäre Bedeutung zuzumessen ist: »[...] accessoire, n'etant appelee dans un contexte ou elle n'a que faire que par une association d'idees deja consacree.« Gauthier/Jolif II, 2, S. 748-50. Freilich dürfte den Hörern diese Bezugnahme auf das Sterhen für das Vaterland, wie es auch hei Homer (Ilias), den Tragödiendichtern, Thykidides und Platon (vgl. etwa die Worte des Glaukon VI. 206 ff.) hehandelt wird, nicht neu gewesen sein. Wenn man außerdem in Betracht zieht, daß Aristoteles in der Politik (1280 h 36-40) eine Form des Zusammen­ lehens unter Menschen idealiter darstellt, die um des Guten willen hesteht, und diese Vorstellung den Ausführungen in der NE zugrundelegt, so ließe sich diese Stelle durch­ aus auch als genuin Aristotelisch interpretieren. ^ 263

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These, daß der Tugendhafte sich seihst mehr als andere lieht, ist nur unter der Voraussetzung verständlich, daß sich dessen Tätigkeit seihst als ein Gut heschreihen läßt, das mit den anderen Gütern auf einer gemeinsamen Güterskala eingeordnet werden kann.38 Hier ist nun wichtig zu heachten, daß der phänomenale Tathestand, den Aristoteles in der Bestimmung der Tätigkeit als ein Gut reflektiert, sich nicht durch Handlungsregeln angehen läßt. In den Tätigkeiten, wie sie das freigehige Verhalten des Tugendhaften gegenüber einem Freund charakterisieren, manifestiert sich vielmehr das Gutsein des Menschen. Für den Tugendhaften kommt es also darauf an, nicht vorrangig diese oder jene Handlung mit ihrem kon­ kreten Zweck zu vollziehen, es reicht hingegen vollkommen aus, ex­ emplarisch anhand einiger Fälle darzulegen, daß in hestimmten Tä­ tigkeiten sich das So-Sein des Tugendhaften zeigt. Dieser Aspekt ist für das Verständnis des Ahschnitts insofern von Bedeutung, als es offensichtlich Aristoteles nicht um einen Be­ weis für die Notwendigkeit geht, gemäß der ein Mensch ausnahms­ los sich stets mehr lieht als irgend einen anderen.39 Bestimmte Vor­ 38 Oh sich also hezugnehmend auf die Feststellung, daß der Tugendhafte für sich die größeren Güter heansprucht, tatsächlich die These der Selhsthezogenheit des Tugend­ haften konstruieren läßt, wird weiter unten zu prüfen sein. Diese Stelle kommentiert Terence Irwin folgendermaßen: »Clearly the virtuous person's attitude to his friend's good is not entirely selfless and self-forgetful«. (Nicomachean Ethics, translation with commentary hy T. Irwin. Indianapolis 1985, S. 371.). 39 Eine hemerkenswerte Interpretationsvariante hietet Vasilis Politis in seinem Beitrag »The Primacy of Self-Eove in the Nicomachean Ethics« (in: Oxford Studies in Ancient Philosophy, Clarendon Press 11 [1993], S. 153-174). Aristoteles ahschließende Feststel­ lung, daß der Tugendhafte in allem Eohenswerten für sich selhst mehr am Schönen heanspruche (1169 a34-h1) hezieht Politis auf die Ausgangsfragestellung, oh man sich selhst am meisten liehen sollte. Wie läßt sich das rtXeov angemessen wiedergehen, ohne daß es im Sinne eines Konkurrenzverhältnisses zu anderen interpretiert wird und den­ noch der Annahme, daß man sich mehr liehen sollte als einen anderen, nicht wider­ spricht? Politis' Eösungsvorschlag setzt ein mit der Differenzierung der hei Aristoteles zur Diskussion stehenden Güter hinsichtlich ihrer unterschiedlichen Bedeutsamkeit. Demzufolge sind Tugenden und praktische Vernunft den größeren Gütern zuzurechen, wohingegen die »äußeren Güter« geringer, weil unwichtiger sind. Wenn es nun hei Aristoteles heißt, der Edle üherlasse seinem Freund Geld, Ehren und Ämter und heansprucht auf diese Weise für sich das größere Gut, so gehe es im Kern dieser Behauptung nicht um eine Ahwägung unter mehreren zur Verfügung stehenden Gütern, in der das eine, wichtigere dem anderen, unhedeutenderen um des Freundes willen vorgezogen werde. In Thesenform dargestellt lautet die Argumentation von Politis: (1) Tugend und praktische Vernunft sind die höchsten Güter, und deshalh auch höher als »äußere« Güter; wenn (2) sich einjeder um die Hingahe der höchsten Güter hemühen sollte, sollte 264

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Die Bestimmung der Selbstliebe: NE IX.7-IX.9

züglichkeiten, wie sie das Verhalten des Tugendhaften charakterisie­ ren und anhand derer die These des Vorrangs der Selbstliebe des Tugendhaften erörtert wird, lassen sich demnach nicht auf Regeln zurückführen, wie sie in konkreten Handlungssituationen zu berück­ sichtigen wären. Damit hängt ein weiterer Aspekt eng zusammen: Die Fälle, an­ hand derer Aristoteles die Präferenz der Liebe des Tugendhaften zu sich selbst gegenüber seiner Zuneigung zu Freunden diskutiert, sind einem bestimmten Bereich von Handlungen zugeordnet, solchen nämlich, die direkt auf andere Menschen bezogen sind. Präferenzen, wie sie im Zusammenhang der These des Vorrangs der Liebe des Menschen zu sich selbst gegenüber der zu anderen erörtert werden, können demnach auch nicht auf allgemeine soziale Bezüge hin, wie sie Gegenstand der Erörterung der Gerechtigkeit sind, erweitert wer­ den. Gleich, ob es um das Leben, Geld, Ehre, um öffentliches Anse­ hen oder aber um die guten Tätigkeiten selbst geht, der Gesichts­ punkt, unter dem Aristoteles diese Fälle beurteilt, ist ein anderer als jener der Gerechtigkeit, gemäß dem zu fragen ist, was dem anderen zusteht oder was in bestimten Umständen zu leisten ist. Zu fragen, worin sich die genuine Selbstliebe niederschlägt, ist eines; etwas an­ deres hingegen ist die Frage, welche Umstände es erfordern können, zugunsten des anderen auf Güter wie Besitz, Ehre, einflußreiche Stellung und sogar das eigene Leben zu verzichten.40 Aufschlußreich in diesem Zusammenhang ist die Behauptung Aristoteles', daß sich die Selbstliebe des Tugendhaften darin zeigt, man (3) eher auf die Tugend als auf die äußeren Besitztümer verzichten. Da man nun (4) zugunsten anderer nur auf die »äußeren« Güter verzichten kann, mit sich selbst aber nur die höchsten Güter teilen kann, folgt (5), daß man mit sich selbst die höchsten Güter teilen und weniger um den Verzicht auf die äußeren Güter zugunsten der Freunde willen bemüht sein sollte. Dies aber ist gleichbedeutend mit der Behauptung, daß man sich selbst mehr als andere lieben sollte. Die Beweisführung von Politis scheint jedoch vor allem an seiner Annahme angreifbar, daß nach Aristoteles im Verhältnis zu anderen allein der Verzicht auf »äußere« Güter möglich sei. Dagegen spricht aus dem Text, daß das Überlassen der Durchführung tugendhafter Handlungen nicht unter den unbedeu­ tenderen Gütern subsumiert werden kann, ja diese Stelle sogar, wie bereits im Vorher­ gehenden ausgeführt, als ausdrücklicher Hinweis auf die »Gütergemeinschaft« im Sin­ ne der in der tugendhaften Tätigkeit geeinten Handlungsgemeinschaft interpretiert werden kann. 40 Auch die abschließende Feststellung, daß der Tugendhafte in allem Lobenswerten für sich selbst mehr am Schönen beansprucht (1169 a 34-1169 b 1), bezieht sich auf die in diesem Abschnitt erörterten Güter. ^ 265

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Zweiter Teil: $t^og und $Ata: Aristoteles’ Theorie der Freundschaft

daß er, wenn er für andere stirbt, für sich Großes und Edles erwirbt.41 Zuvor hat es bereits geheißen, daß der Tugendhafte es vorzieht, kur­ ze Zeit, dafür aber schön zu leben, als ein langes, aber unerfülltes Leben zu führen.42 Ebenso wird er lieber eine große statt viele kleine Taten vollbringen, was sich insbesondere an denen zeigt, die für an­ dere Menschen sterben.43 Im Sinne der Präferenz der Selbstliebe, die der Tugendhafte in einer solchen Handlung offenbart, liegt enthal­ ten, daß sie sich nur dort als eine solche erweisen kann, wenn sie eben nicht sozusagen durch die konkrete Handlungssituation gefordert ist. Deshalb wäre es auch höchst fraglich, ob Aristoteles etwa die Hand­ lung eines Soldaten, der von seinem Vorgesetzen aufgefordert wird, an vorderster Front zu kämpfen, und der dabei sein Leben verliert, tatsächlich als Ausdruck seiner Selbstliebe gelten lassen würde. Wir haben gesehen, wie Aristoteles seine These, gemäß der der Tugendhafte sich mehr liebt als andere, dadurch zu begründen sucht, daß er die Tätigkeit des Wohltuns selbst als ein Gut betrachtet, das der Tugendhafte erwirbt. Sprachlich schlägt sich die Differenzierung darin nieder, daß Aristoteles hinsichtlich des Guten der Tätigkeit vom Schönen (xakov) spricht. Einen Sonderfall scheint in diesem Zusammenhang die Behauptung Aristoteles' zu bilden, daß der Tu­ gendhafte auch gute Handlungen dem Freunde überläßt, und es schöner ist, solche Handlungen den Freund ausführen zu lassen als sie selbst zu tun.44 Damit ist wohl soviel gemeint, daß der Tugend­ 41 T015 6’ ümEQamo0v^oxouoi toOt’ l'omg on^ßalvEi; aigoOvtai 6f| ^.Eya xaXöv EanT015 (1169 a25f.). 42 Vgl. ähnliche Stellen in der Schilderung des »Großgesinnten«, etwa 1124 b 6-9: »Er bringt sich ferner nicht gerne und wegen Kleinigkeiten in Gefahr, da er nur wenige Dinge schätzt. In großen Dingen dagegen tut er es und schont dann sein Leben nicht, da es sich nicht lohnt, unter allen Umständen zu leben.« 43 Bereits Platon hatte in der Politeia das Verhalten von Menschen, die obwohl sie an körperlichen Gebrechen leiden, sorgfältige Vorkehrungen treffen, um ein hohes Alter erreichen zu können, als ein »langwieriges Sterben« bezeichnet. Ihnen stellte Platon das Bild eines Handwerkers gegenüber, der statt langer Besorgungen um seinen Gesund­ heitszustand bereit ist zu sterben, da ein Leben, das nicht durch Arbeit ausgefüllt ist, ohnehin keinen Wert für ihn hat (Rep. III, 406 b-e). Und noch vor Platon findet sich dieser Topos bei Homer in der Schilderung des Achill, der seine Mutter zurückweist (Ilias, XVIII, 98-104). Auf diese Stelle bezieht sich der Platonische Sokrates in der Apologia, wenn er Achill dafür preist, daß dieser weder Tod noch Gefahr in seine Über­ legung miteinbezogen habe (vgl. Apol. 28 d 4-5). 44 Ev6ExEtai 6E xai rngalEig trä qAm mQotEO0ai, xai Etvai xaXXiov toO antöv mQä|ai to aitiov trä qArn yEvEo0ai (1169 a 32-34). Daß Aristoteles in die Auflistung jener Güter, auf die der wahre Selbstliebende zugunsten seines Freundes verzichtet, 266

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hafte durch den Verzicht, eine entsprechende Handlung durchzuf­ ühren, sie dem Freund ermöglicht. Dagegen ließe sich einwenden, daß eine solche Annahme in einen infiniten Begründungsregreß führt oder doch beträchtliche Begründungsschwierigkeiten nach sich zieht. Angenommen, der Tugendhafte sollte tugendhafte Tätigkeiten stets seinem Freund überlassen, statt sie selbst zu vollziehen, da der Verzicht das höhere Gut darstellt. Und gleiches gälte für seinen Freund. Demnach wäre es das höhere Gut, wenn A Gutes tut, weil er es zuvor seinem Freund B ermöglicht hat, und B wiederum es seinem Freund A ermöglicht hat, als wenn A ohne vorherige Ermög­ lichung durch seinen Freund B das Gute tut.*45 Gerade in Anbetracht eines solchen Einwands läßt sich die oben getroffene Unterscheidung zwischen Handlungsregeln und Haltun­ gen, wie sie den tugendhaften Tätigkeiten zugrundeliegen, zur Gel­ tung bringen. Wir sagten, daß es Aristoteles im vorliegenden Ab­ schnitt keinesfalls um die Begründung von Handlungsregeln für das Verhalten der Selbstliebe des Tugendhaften geht. Dementsprechend läßt sich auch die Situation, in der ein Mensch zugunsten seines Freundes auf die Durchführung tugendhafter Handlung verzichtet, nicht als eine verallgemeinerbare Soll-Bestimmung, sondern nur als ein möglicher Fall, in dem sich die Haltung manifestiert, als eine Kann-Bestimmung verstehen. 2.3.3 Zur Diskussion um die egoistische Konzeption der Selbstliebe Aristoteles' Ausführungen über die Selbstliebe in NE IX.8 sind in früheren Standardwerken zur Nikomachischen Ethik häufig als Be­ auch die tugendhaften Handlungen mitaufgenommen hat, trug ihm in der Literatur gelegentlich den Vorwurf der Inkonsistenz ein. Stellvertretend für andere mag hier der Kommentar Gigons stehen: »Das kalon konstituiert sich gerade durch Taten, wie es der Verzicht auf das Vermögen, auf Ehrenämter und schließlich auf das eigene Leben sind; und der Verzicht wird tragbar nur dadurch, daß durch ihn sich das kalon für den Ver­ zichtenden mehrt. Wo aber der vollkommene Mensch sogar auf das Tun des kalon ver­ zichtet, handelt er der wahren philautia zuwider. Er reduziert einen Anspruch, den ein­ zigen Anspruch, den er nicht reduzieren dürfte.« (Die Selbstliebe in der EN, S. 111). 45 Diesen Einwand hat Price: Love and Friendship in Plato and Aristotle, S. 111-114, vorgebracht. Vgl. dazu auch Price: Friendship (VIII und IX). - In: Otfried Höffe (Hg.): Aristoteles. Berlin 1996, S. 229-251, hier S. 248f. Eine ausführliche Auseinanderset­ zung mit Prices Einwänden findet sich bei Pakaluk, a.a.O., S. 199f. Als gegenstandslos weist C. D. C. Reeve diese Aporie zurück: Practices of Reason. Aristotle's Nicomachean Ethics. Oxford 1992, S. 177f. ^ 267

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weis für die egoistische Konzeption seiner Moralphilosophie in An­ spruch genommen worden. Einige dieser Thesen sollen im Folgenden auf die Konsistenz ihrer Begründung hin überprüft werden. Darüberhinaus soll in die Diskussion dieser Thesen die Interpretation und Rechtfertigung des Aristotelischen Konzepts der Selbstliebe miteinhezogen werden, wie sie jüngst von dem dänischen Aristoteles-Inter­ preten Troels Engherg-Pedersen sowie von Richard Kraut in einer ebenso ausführlichen wie profunden Studie vorgelegt wurden.46 Die Behauptung, daß Aristoteles' Theorie der Selbstliebe als klassischer Typ einer egoistisch konzipierten Moralphilosophie gel­ ten kann, ist in unterschiedlichen Varianten vorgetragen worden.47 Wir beschränken uns im Folgenden auf jene, die sich in ihrer Be­ gründung direkt auf die Freundschaftsbücher, insbesondere auf NE 46 Richard Kraut: Aristotle on the Human Good. Oxford 1989. Vgl. außerdem seine Erwiderung auf Annas: Comments on Julian Annas »Self-Love in Aristotle«. - In: Sout­ hern Journal of Philosophy 27 (1988), S. 19-22. 47 Vgl. etwa Leon Olle-Laprune: Essai sur la morale d'Aristote. Paris (Neudr. Aalen 1979), S. 234-249. Für den deutschen Sprachraum sei stellvertretend für andere auf das frühe Urteil Friedrich Ueberwegs verwiesen, gemäß dem die »aristotelische Persön­ lichkeitsmoral« keinen Raum lasse für eine vollkommen selbstlose Hingabe an den Mit­ menschen (Das Aristotelische, Kantische und Herbartsche Moralprinzip. - In: Zeit­ schrift für Philosophie und philosophische Kritik. Neue Folge. 24 [1854], S. 71 ff.). W. D. Ross (Aristotle. London 1923, S. 231ff.) schränkt sein Urteil insoweit ein, daß der Egoismus des guten Menschen in der Konzeption des Aristoteles »the same characteristics as altruism« habe. In dem Versuch, die Antithese von Egoismus und Altruismus zu durchbrechen, ist Aristoteles freilich nach Ross' Einschätzung gescheitert. Guy C. Field: Moral Theory: An Introduction to Ethics. 2. Aufl. London 1966, S. 109 und 111. William F. R. Hardie: Aristotle's Ethical Theory. 2. Aufl. Oxford 1980, S. 323-335ff. Donald James Allan: The Philosophy of Aristotle. 2. Aufl. Oxford 1970, S. 138. Whit­ ney J. Oates: Aristotle and the Problem of Value. Princeton 1963, S. 294. Eine Sonder­ stellung nimmt Terence Irwin ein, der die Aristotelische Position als egoistisch bezeich­ net, jedoch zugleich hinzufügt, daß diese Variante des Egoismus insofern moralisch nicht verwerflich sei, als sie zur Voraussetzung das Glücksstreben eines jeden Menschen mache. Vgl. Aristoteles: Nicomachean Ethics, S. XVIII, S. 304 und S. 372. An weiterer Literatur zur Diskussion der Aristotelischen Selbstliebe, die in unserem Zusamenhang nicht eigens berücksichtigt werden muß, seien erwähnt: David H. Calhoun: Friendship and self-love in Aristotle's ethics. Evanston: Diss. Northwestern University 1989. Den­ nis McKerlie: Friendship, Self-Love, and Concern for Others in Aristotle's Ethics. - In: Ancient Philosophy 11 (1991), S. 85-101. Paul Schollmeier: Other Selves. Aristotle on Personal and Political Friendship. State University of New York 1994. Raimund Ritter: Die aristotelische Freundschaftsphilosophie nach der Nikomachischen Ethik. Phil. Diss., München 1963. Eine Aristotelische Version des Egoismus verteidigt W. D. Falk: Morality, Self, and Others. - In: Hector-Neri Castaneda and George Nakhnikian (eds.): Morality and the Language of Conduct. Detroit 1963, S. 25-67. 268

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IX.8 beziehen.48 Diese Einschränkung ist auch daher gerechtfertigt, daß sich in diesen Passagen augenscheinlich die wichtigsten Belege und Argumente für die Begründung der entsprechenden Thesen fin­ den lassen. Es sind näherhin zwei Behauptungen, anhand deren sich das Problem des Egoismus in NE IX.8 exponieren läßt. Als »egoistisch« könnte man zum einen das Aristotelische Konzept der Selbstliebe insofern bezeichen, als aus seiner Begründung nicht hervorgeht, daß der Tugendhafte tatsächlich zu altruistischen Handlungen imstande ist. Bezogen auf die von Aristoteles in NE IX.8 erwähnten Fällen ergeben sich nämlich folgende Fragen. Wendungen wie jene, wonach der Tugendhafte seinem Freund Güter überläßt und dabei das Schönere für sich beansprucht, scheinen die Annahme nahezulegen, daß Aristoteles im eigentlichen Sinne selbstlose und altruistische Handlungen nicht den Tugendhaften zuschreibt. Denn es ist generell fraglich, ob in Zusammenhängen, in denen ein Mensch etwas für seinen Freund aufgibt, um dadurch ein höheres Gut zu erlangen, sinnvollerweise von einem selbstlosen Opfer gesprochen werden kann.49 Eine solche Verhaltensweise könnte man in dem Sinne als 48 Nicht berücksichtigt wird dabei die Diskussion dieser These im größeren Zusammen­ hang der Auseinandersetzung um die beiden historischen Grundtypen der Aristote­ lischen und Kantischen Moralphilosophie, wie sie in die analytische Ethik in die Typo­ logie einer deontologischen und einer teleologischen Normbegründung eingegangen ist. Vgl. dazu etwa Günther Bien: Aristotelische Ethik und Kantische Moraltheorie. - In: Freiburger Universitätsblätter 1981, S. 57-74. 49 Dieser Einwand findet sich etwa bei Julia Annas: Self-Love in Aristotle, vgl. S. 9f.: »[...] even the ultimate sacrifice, dying for another, turns out to be assigning to yourself more of what matters more. [...] But if self-sacrifice turns out really to be a form of self-love, then we have Aristotle apparently endorsing a basically self-centered model of ethical action even in cases where the agent sacrifices his interests for others. [...] If the cases of self-sacrifice Aristotle describes are really cases of self-love, then all cases of altruism would seem to be cases of self-love.« In einem früheren Beitrag (Plato and Aristotle on friendship and altruism, S. 544) war die Verfasserin noch davon ausgegan­ gen, daß NE IX.8 das Problem des Egoismus bzw. Altruismus nicht behandele. In ihrem Buch The Morality of Happiness, S. 254 ff. argumentiert Annas im Sinne ihrer 1988 vorgetragenen Aristoteles-Kritik, wobei sie auch auf die kritischen Bemerkungen von Kraut eingeht. Vgl. ferner von der Verf.: Comments on J. Cooper. - In: G. Patzig (Hg.): Aristoteles' »Politik«. Akten des XI. Symposium Aristotelicum. Göttingen 1990, S. 242-248. Im Zusammenhang der Selbstaufopferung sollte freilich auch berücksich­ tigt werden, mit welchem Argument Aristoteles an anderer Stelle die Selbsttötung ab­ lehnt. Massgeblich scheint hierbei die Überlegung zu sein, daß wer sich selbst tötet, nicht nur der Gesellschaft schadet, sondern auch ein Unrecht gegen sich selbst begeht. Insofern nun die Polis die Gemeinschaft der Geschlechter und Gemeinden zum Zweck ^ 269

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egoistisch hezeichen, als sie zwar Interessen anderer Menschen zur Kenntnis nimmt, aber ohne daß diese in die eigenen Stellungnahmen und Handlungen miteinbezogen werden.50 Ein Sonderproblem in diesem Zusammenhang stellt die Frage dar, weshalb Aristoteles unter den erwähnten Fällen der Aufgabe von Gütern zugunsten des Freundes auch die Selbstaufopferung nennen kann. Wäre dies im Gegensatz zu allen Mutmaßungen nicht der ent­ scheidende Beleg für seine altruistische Konzeption der Freund­ schaftsliebe?51 Sie wäre es insbesondere dann, wenn sie sozusagen deren Paradigma darstellen würde. In diesem Fall erhebt sich aller­ dings die weiterführende Frage, wie eine Handlung der Selbstauf­ opferung zugunsten des Freundes überhaupt als Ausdruck der genui­ nen Selbstliebe verstanden werden kann. Überdies ist fraglich, in welcher Weise der Verzicht des Tugendhaften auf das eigene Leben zugunsten eines Freundes mit dem Anspruch auf ein glückliches Le­ ben zu vereinbaren ist. Man mag zwar ohne Mühe bereit sein, ein­ zugestehen, daß im Verzicht auf das eigene Leben zugunsten des Freundes eine »edle« Handlung vorliegt. Wie aber läßt sich dies mit der Voraussetzung vereinbaren, wonach der Tugendhafte auf diesem Wege das Schöne (xakov) für sich beansprucht, was Aristoteles mehrfach ausdrücklich feststellt? Vertreter dieses Einwandes haben des vollkommenen und selbständigen Lebens ist (Pol. 1281 a 1), schadet jemand, der sich selbst tötet, nicht nur sich selbst, sondern ebenso der Gemeinschaft: denn durch die Integration in die Gesellschaft hat er erst die Möglichkeit, eigenhändig zu handeln, erlangt. Vgl. dazu insbesondere Klaus Oehler: Die Selbsttötung als philosophisches Pro­ blem. In: Verhandlungen der Athener Akademie, 57 (1982), 133-141. 50 In seinem Beitrag »Egoism and Altruism« (in: ders.: Problems of the Self: Philosophical Papers 1956-1972. Cambridge 1973, S. 250-265.) gibt Bernard Williams folgen­ de, auch für unseren Zusammenhang brauchbare Definition. Unter Egoismus versteht er »the position of an amoralist who [...] is concerned solely with his own interests« (S. 251). Im Gegensatz dazu umschreibt er mit Altruismus »a general disposition to regard the interests of others, merely as such, as making some claim on one, and in particular, as implying the possibility of limiting one's own projects« (S. 250). 51 Nancy Sherman meint, in IX 8 könne Aristoteles in dem Verzicht des Tugendhaften zugunsten seiner Freunde gar kein Opfer, keine Selbsthingabe gemeint haben, da er hervorhebt, daß der Tugendhafte dabei zu seinem eigenen Vorteil handelt: »Aristotle is indeed loathe to view such actions as self-sacrifices [...] there is no real sacrifice here because the virtuous individual does not forfeit his rational capacity or the desire to use it in making himselfthe seat of excellence. We might find this deeply unsatisfying [...]«. Sherman: Aristotle on Friendship and the Shared Life. - In: Philosophy and Phenomenological Research 47 (1987), S. 589-613, hier S. 608. 270

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immer wieder auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die mit einem eingehenden Verständnis des xaköv Zusammenhängen. Man könnte etwa, wie Hardie das getan hat, fragen, weshalb das xakov, das sich der Selbstliebende durch die Hingabe seines Lebens erwirbt, größer ist als die möglichen künftigen Güter, auf deren Erwerb er verzichten würde, wenn er vorzeitig aus dem Leben scheidet.52 Die andere, schwächere Behauptung lautet, daß Aristoteles zwar in den erwähnten Fällen der Aufgabe bestimmter Güter zugunsten des Freundes scheinbar altruistische Handlungen berücksichtigt. De facto handelt es sich jedoch dabei stets um solche Handlungen, die in dem Sinne selbstbezogen sind, als - wie es im Text heißt - jeder Geist (vonc;) stets für sich selbst das Beste wünscht. Argumente, die zur Begründung dieser Annahme angeführt werden, gehen entsprechend von einer bestimmten Interpretation des vonc; in NE IX.8 aus. Ein dritter, weiterführender Einwand, auf den allerdings erst weiter unten nach der Interpretation von NE IX.9 eingegangen wer­ den kann, betrifft das grundsätzliche Problem, ob sich die Aristote­ lische Strebensethik mit der Freundschaftskonzeption verbinden läßt.53 Er ließe sich folgendermaßen vortragen: Das Leben des Tu­ gendhaften ist nach Aristoteles ohne Freundschaft zu anderen Tu­ gendhaften nicht vorstellbar. Diese Freundschaft impliziert eine im Wesentlichen uneigennützige Anteilnahme am Leben des Freundes, den Wunsch, ihm das Gute um seiner selbst willen zu tun. Wie aber läßt sich dann das Leben des Tugendhaften mit dem Leben identifi­ zieren, das am meisten enbat^ov ist? Glücklich sollte der Mensch genannt werden, der gemäß der vollkommenen Tugend tätig und mit äußeren Gütern hinlänglich versehen ist, und dies nicht nur vorübergehend, sondern ein ganzes Leben lang.54 Besteht demnach nicht ein grundsätzlicher Widerspruch zwischen dem guten Leben und der Anteilnahme am Leben des Freundes um seiner selbst willen?55 Was den ersten Einwand, die Möglichkeit altruistischer Hand­ lungen des Tugendhaften anbelangt, gilt es zunächst einen Weg zur Lösung dieser Aporie zu prüfen, den Gauthier vorgeschlagen hat.56 52 Vgl. Hardie: Aristotle's Ethical Theory, S. 323-335, bes. S. 330. 53 Vgl. dazu weiter oben die Literaturangaben zur egoistischen Konzeption des Aristo­ telischen Freundschaftskonzeption. 54 EN I.11.1101 a 14-16. 55 Vgl. dazu J. O. Urmson: Aristotle's Ethics, S. 112-117. 56 Zum Folgenden vgl. Gauthier/Jolif II, 2, S. 747-748. ^ 271

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Er bezieht die Aristotelische Unterscheidung der zwei Formen der Selbstliebe auf die Unterscheidung zwischen einem vulgären Ego­ ismus und einem tugendhaften bzw. rationalen Egoismus. Während der vulgäre Egoismus seine Befriedigung auf Kosten anderer Men­ schen sucht, ist der Vertreter eines tugendhaften Egoismus aus­ schließlich motiviert von »un desir exclusif de la beaute morale«57, der ihn nicht auf seinen eigenen Vorteil bedacht sein läßt. Nach Gauthier läßt sich ferner das Aristotelische Konzept der Selbstliebe sowohl im Sinne der Position eines psychologischen Egoismus als auch eines ethischen Egoismus interpretieren. Auch wenn Gauthier eine eindeutige Bestimmung des psycho­ logischen bzw. tugendhaften Egoismus vermissen läßt, scheint er dar­ unter wohl etwa Folgendes zu verstehen: Der psychologische Ego­ ismus vertritt zusammengefaßt die Tatsachenbehauptung, wonach ein jeder Mensch tatsächlich nur nach seinem Eigeninteresse handelt, und dieses das einzige Handlungsmotiv darstellt. Auf den nahelie­ genden Einwand hin, es gäbe auch uneigennützige Handlungsmoti­ ve, würde ein Vertreter einer solchen Position einwenden, diese seien de facto nur kaschierte egoistische Motive, die allem Anschein zu­ wider im Endeffekt darauf hinauslaufen, daß man sich selbst zu Ge­ fallen handelt. Demgegenüber würde die Lehrmeinung des »tugendhaften« bzw. rationalen Egoismus besagen, ein jeder solle nur nach seinem Eigeninteresse handeln, wobei darunter ein spezifisch aufgeklärtes verstanden wird. »Aufgeklärt« bzw. »rational« bedeutet für Gauthier in diesem Zusammenhang wohl, daß Menschen nur aufgrund einer solchen Selbstliebe handeln sollten, deren Ergebnis das Gesamtwohl aller Beteiligten impliziert. In diesem Sinne meint Gauthier auch die genuine Bedeutung der Aristotelischen Selbstliebe der Position eines tugendhaften bzw. aufgeklärten Egoismus gleichsetzen zu können: Die Aporie ließe sich demnach so lösen, daß eine von der rationalen Selbstliebe motivierte Handlung niemals gegen den Freund gerichtet sein kann. 57 Ebd. S. 748. Ähnlich die Darstellung bei Werner Jaeger sowie bei Giovanni Reale: Storia della filosofia antica. Bd. I—IV. Bd. II: Il Platone e Aristotele. 3. Aufl. Milano 1979, S. 370: »Normalmente si chiama egoista chi ama la parte inferiore di se e chi vuole avere per se il piu possibile di ricchezze e di piacere; ma Aristotele osserva che >egoista< e anche chi ama la parte superiore di se e vuole per se il piu possibile dei beni spirituali: la differenza sta nel fatto che il primo e egoista in senso deteriore e quindi negativo, il secondo e invece egoista in senso superiore e quindi positivo.« 272

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Gegenüber dieser Interpretation erheben sich freilich zwei Be­ denken. Zum einen liegt es zwar nahe, das geläufige Verständnis des Ausdrucks »selbstliebend«, wie es Aristoteles skizziert, als egoistisch zu bezeichnen, doch scheint ihre Alternative, die vorzügliche Selbst­ liebe, weder mit »altruistisch« noch mit »tugendhaft egoistisch« an­ gemessen wiedergegeben zu sein. Zum anderen erscheint es nach unseren bisherigen Ausführungen schon deshalb als fragwürdig, die Aristotelische Konzeption der Selbstliebe in der Begrifflichkeit histo­ rischer Positionen darzustellen, wie sie durch den »psychologischen«, »logischen« oder »rationalen Egoismus« abgesteckt werden kön­ nen,58 da es Aristoteles weder um die Selbstliebe als umfassendes Handlungsmotiv (wie in den entsprechenden Theorien stets voraus­ gesetzt wird) noch um die Gleichsetzung von Tugend und Selbstliebe zu tun ist.59 Insofern erklärt die von Gauthier vorgeschlagene Lösung einerseits zu viel, andererseits zu wenig. Weiter als die von Gauthier vorgeschlagene Lösung der Aporie scheint indes ein anderer Weg zu führen. Dem ersten Einwand, nach welchem dem Tugendhaften keine altruistischen Handlungen zu­ geschrieben werden können, liegt die Vorstellung zugrunde, daß freundschaftliche Handlungen entweder um des Freundes willen oder aber um des eigenen Wohles willen vollzogen werden, und daß Handlungen um des Wohls des Freundes willen notwendigerweise solche sein müssen, die nicht dem Handelnden zugute kommen, und erst recht nicht für ihn von höherem Nutzen sind als die für den Freund.60 Solcherlei Entgegensetzungen lassen den Sinn der Ari­ 58 Vgl. dazu die Einleitung von Birnbacher zu den verschiedenen Positionen des Ego­ ismus in: Dieter Birnbacher und Norbert Hoerster (Hg.): Texte zur Ethik. 8. Aufl. Mün­ chen 1991, S. 164-169. Für eine ausführliche systematische und historische Einführung vgl. Jan Österberg: Self and Others. A Study of Ethical Egoism. Dordrecht, Boston, London 1987 (Studies in Epistemology, Logic, Methodology, and Philosophy of Science Vol. 196). 59 Dies aber suggeriert Gauthier II, S. 748. Der Vergleich der Aristotelischen Konzep­ tion der genuinen Selbstliebe mit nachfolgenden philosophiegeschichtlichen Positionen wurde in der Literatur bereits früh gezogen. In seinem Kommentar zur Nikomachoschen Ethik meint etwa Stewart, es bestünde eine weitgehende Affinität der NE IX.8 zu Spinozas Ausführungen über die rationale Selbstliebe in dessen »Ethik«. (Vgl. Notes on the Nicomachean Ethics, S. 375 ff.). Zur Rechtfertigung seiner These weist Stewart insbesondere auf die scheinbar analogen Begründungszusammenhang von Selbstliebe und Selbstaufopferung hin. Vgl. dazu auch Stern-Gillet: Aristotle's Philosophy of Friendship, S. 107ff. 60 Einen bemerkenswerte Überlegung, die einen Ausweg aus dem Dilemma von altrui­ stischer Freundschaftskonzeption und »egoistischem« Streben nach dem höchsten Gut ^ 273

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stotelischen Bestimmung der Tätigkeiten übersehen, die in der Hin­ sicht um ihrer selbst willen durchgeführt werden, als der Handelnde in ihnen sein eigenes Sein vollzieht. Diese Juxtaposition trifft allen­ falls unter der Voraussetzung zu, daß man Handlungen in dem en­ geren Sinne versteht, in dem sie durch ein Ziel definiert sind, das durch sie erreicht werden soll. In dieser Hinsicht wäre tatsächlich die Abwägung zwischen den Zielen und damit verbunden eine Ent­ gegensetzung angezeigt. Wenn man hingegen, wie Aristoteles dies nicht nur in NE IX.8 tut, eine Verschränkung von Tätigkeiten, die der Tugendhafte um seiner selbst willen tut, mit Handlungen an­ nimmt, die als Mittel zur Erreichung eines Zieles dienen, und die Handlung um des Freundes willen weiterhin in einer Tätigkeit fun­ diert ist, die man um seiner selbst willen tut, dann läßt sich daraus kein Widerspruch ableiten. Im gegenwärtigen Kontext gilt es ferner zu berücksichtigen, daß Aristoteles diese Verschränkung von Hand­ lungen und Tätigkeiten bereits durch den Aufweis des strukturellen Zusammenhangs vom Sein im Sinne der Existenz und den Tätigkei­ ten in NE IX.7 vorbereitet hatte. Demzufolge vollzieht der Mensch sein Sein gerade in den jeweiligen Tätigkeiten. Daß es ihm um sein Sein geht, kommt allein in der Weise seines Tätigseins zum Vor­ schein. Wenn diese Überlegung der Aristotelischen Theorie der Selbst­ liebe zugrundeliegt, dann kann man - gegen den Einwand des feh­ lenden altruistischen Handlungskonzeptes - argumentieren, daß ge­ rade ausgehend von der zentralen Bedeutung der Tätigkeiten der Selbstliebende im genuinen Sinne daran interessiert sein muß, daß er das, was er tut, immer auch um seiner selbst willen tun sollte.61 bieten könnte, hat Urmson mit folgendem Fallbeispiel vorgetragen. Einmal angenom­ men, man opfert in einer konkreten Handlungssituation sein Leben für den Freund, weil man andernfalls stets mit dem Vorwurf leben müßte, daß man sein eigenes Leben hat retten wollen. Wäre nun ein solches Handeln als selbstlos zu bezeichnen? Man könnte die Frage insofern bejahen, als einem solchen Handeln die Wertschätzung des Lebens des Freundes als Handlungsmotiv zugrundeliegt. Diese Überlegung, so Urmson, könnte möglicherweise die Aristotelische Annahme erklären, daß es Handlungen gibt, die man zwar um seiner selbst willen vollzieht, in die als Beweggrund dennoch aber das Wohl des Freundes eingeht. James O. Urmson: Aristotle's Ethics, S. 112 ff. In eine ähnliche Rich­ tung scheint auch Stern-Gillets Auflösung der »Aporie« zu zielen: Aristotle's Philosophy of Friendship, S. 113f. 61 Gegenüber der Rekonstruktion der Aristotelischen Theorie der Selbstliebe in dieser Argumentationslinie scheint mir auch nicht der Einwand von Julia Annas zu greifen, wonach eine solche Position ihre Geltung dadurch erlangt, daß man die Perspektive des 274

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Daraus folgt hinsichtlich des Umgangs des Tugendhaften mit den Gütern, daß diese jeweils Güter sind nach Maßgabe ihres Bezugs auf das Selbst als das eigentliche Gute. Und umgekehrt gilt, daß die Möglichkeiten des Handelnden erst an und mit der Güterwelt aus­ gemacht und realisiert werden können. Will man in diesem Sinne hinsichtlich des Selbstliebenden von seinem »Egoismus« sprechen, so könnte man dies allenfalls in dem Sinne tun, als man behauptet, daß er ein Interesse hat, seine grund­ legenden, ihn als Menschen konstituierenden Bedürfnisse, eben das, was »für ihn das Beste und Schöne ist«, zu verfolgen. Im Gegensatz dazu stünde das Verhalten desjenigen, der, anstatt diesem Verlangen selber nachzugehen, es an andere Menschen überträgt.*62 Für dieses Verständnis des Abschnitts würde überdies sprechen, daß es sich in der Aristotelischen Begründung, die sich sowohl auf das xaköv als auch den voüc; stützt, um keine disparaten Erklärungswege handelt.63 Was die Selbstaufopferung des Tugendhaften zugunsten seines Freundes um des xaköv willen anbelangt, so läßt sich hierfür tat­ sächlich im Rahmen der obigen Ausführungen eine plausible Ant­ wort finden. Skizzieren wir zuvor die Schwierigkeiten im Verständ­ nis dieser Passage, die insbesondere mit der angemessenen Deutung des xaköv zusammenhängen. Wie nämlich, wenn nicht als altruisti­ sches Handlungsmotiv, kann dann das xakov, um dessentwillen der Tugendhafte auf die Güter, ja auf sein eigenes Leben verzichtet, ver­ standen werden? Madigan hat hierfür zwei mögliche Interpretatio­ nen vorgeschlagen. Zum einen könne darunter, bezugnehmend auf Handelnden unberücksichtigt läßt. Vgl. J. Annas: The Morality of Happiness, S. 259: »It seems perfectly all right as long as we describe it from outside, in the third person. It becomes more problematic when we ask what form the agent's thought will take from the agent's point of view. Is the agent supposed to be thinking, >I'll sacrifice this money, so that my friends can gain more, for that is a generous action, and so fine; and I'm sacrificing mere money and gaining the fine, so I'm assigning myself the greater good and come off best after alle ? There seems to be something wrong with this.« 62 In seinem bereits zitierten Werk »Practices of Reason« hat Reeve bezugnehmend auf die Aristotelischen Formen der Selbstliebe eine Unterscheidung eingeführt, die für die von uns beschriebene Interpretation hilfreich sein könnte. Bezugnehmend auf die Ari­ stotelischen Freundschaftsbücher und die Diskussion über Egoismus und Altruismus will er zwischen einem »Egoism about values« von einem »Egoism about desire« unter­ scheiden. Unter dem ersten wäre folgende Position beschrieben: »What makes X valuable is that I want it«. Der »Egoism about desire« hingegen würde behaupten: »Get valuable things most of all for yourself«. 63 So Madigan: Beyond Egoism and Altruism?, S. 77. ^ 275

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NE 1169 a 6-8, die Anerkennung, die man aufgrund der Tat durch andere Menschen erwirbt, verstanden werden. Der naheliegende Einwand, wonach derjenige, der sein Leben für seinen Freund hin­ gibt, nicht in den Genuß dieser Anerkennung gelangen wird, trifft insofern nicht, als man annehmen könnte, daß er die Anerkennung vorwegnehmend sich zu einer derartigen Handlung entschließt. Ebenso wäre es möglich, das xakov im Sinne eines intrinsischen Gu­ tes der Selbsthingabe zu verstehen. Gegen diesen Vorschlag macht Madigan geltend, daß dieses Verständnis kaum zu begründen ist, da es über den Status einer Intuition nicht hinausgelange.64 Wenngleich auch in anderen Zusammenhängen der Nikomachischen Ethik vom xakov im Sinne dessen die Rede ist, das Aner­ kennung durch andere verdient, scheint dies doch, wie oben bereits ausgeführt, in IX.8 nicht der hauptsächliche Aspekt zu sein. Bezug­ nehmend auf die von Madigan aufgeworfenen Frage, weshalb eine selbstaufopfernde Handlung ein xakov im Sinne eines intrinsischen Gutes darstellen könne, ließe sich vielleicht folgende Antwort geben. Aristoteles hatte im Kontext ausgeführt, daß der Tugendhafte es vor­ zieht, ein Jahr lang schön zu leben, als viele Jahre beliebig, und eben­ so eine schöne Tat ausführt als viele mittelmäßige Taten. Und in der Folge wird die Selbstaufopferung als ein Exempel dieser einen schönen Tat dargestellt. Wie kann man dieses Beispiel vom Schein des Paradoxen befreien? Eine Lösung bietet sich an, wenn man einen anderen exemplari­ schen Fall heranzieht, anhand dessen Aristoteles ähnlich wie im Bei­ spiel der aufopferungsvollen Tat des Freundes die mögliche Hingabe des eigenen Lebens als Ausdruck einer schönen Tat darstellt. Aristo­ teles führt das Beispiel eines Menschen an, der trotz akuter Lebens­ gefahr in einer Schlacht standhält, weil er tapfer handeln will; ein 64 «It is hard to imagine what Aristotle would answer if one ask him why the self-sacrificing action was kalon. If one may risk anachronism, it is almost as though being kalon were a simple non-natural property, known by a kind of Intuition« Madigan: Beyond Egoism and Altruism?, S. 79. Bereits in I.6.1099 a 24 verwendet Aristoteles allerdings das Prädikat xaXov für die Umschreibung der ontologischen Vollkommenheit des Menschseins. Und vergleichbar heißt es in Bezug auf das göttliche Sein in De gen. anim. 2, 731b25f., es sei aufgrund der nur ihm eigenen ontologischen Auszeichnung der Notwendigkeit xaXov. Die Schwierigkeit, diese Bedeutung des Begriffs im gegenwärti­ gen Kontext gelten zu lassen, mag daher rühren, daß Aristoteles in Rhet. I.9.1366 a 33 f. das xaXov einführt als das, was »um seiner selbst willen wählenswert ist und gelobt zu werden verdient« (vgl. EE VII.13.1248 b 19f.). Auf diese Definition allein beruft sich etwa auch Urmson (»Aristotle's Ethics«) in der Diskussion der Ethikstelle. 276

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solcher Mensch fürchtet und wagt jeweils, was sich gehört und wor­ aufhin es sich gehört.65 Das Woraufhin oder das Ziel eines solchen Tuns, so erläutert Aristoteles gleich darauf, ist das »Handeln auf Grund eines bestimmten Verhaltens. Das gilt auch für den Tapferen. Die Tapferkeit ist etwas Schönes. Derart ist auch der Endzweck, und alles wird durch den Endzweck bestimmt. Um des Edlen willen also harrt der Tapfere aus und tut, was der Taperkeit gemäß ist.«66 Im gegenwärtigen Kontext ist dieser Vergleich in zwei Hinsich­ ten aufschlußreich. Zum einen nennt Aristoteles das tapfer Handeln in dieser Situation insofern schön (xakov), als es um einer bestimm­ ten Haltung willen, nämlich tapfer zu sein, ausgeführt wird. Zum anderen wird an diesem Beispiel auch die oben beschriebene Ver­ schränkung von Handlungen und ihrem Umwillen, ihrem Ziel deut­ lich. Standhalten in akuter Gefahr um des Tapferseins willen ist nicht in einem instrumentellen Mittel-Zweck Verhältnis miteinander ver­ bunden, das Aushalten ist vielmehr das Tapfersein. Diese strukturelle Identität von Mittel und Ziel, die Aristoteles auch an anderen Stellen zur Bestimmung des gelungenen Daseins verwendet,67 scheint für die Verwendung des Ausdrucks xakäv konstitutiv zu sein. Darin kommt zum Ausdruck, daß man es mit einer Handlung zu tun hat, die in ihrer Ausführung auf die in ihr enthaltene Endbestimmung, das gelungene Leben, verweist. Man hätte es demnach auch im Falle der Selbstaufopferung für den Freund mit einem ausgezeichneten Fall der Realisierung des Selbst zu tun. Abschließend soll zur Verdeutlichung unserer bisherigen Darlegun­ gen noch auf zwei Autoren näher eingegangen werden, die sich ein­ gehend mit der möglichen Rechtfertigung gegenüber seiner egoisti­ schen Lesart auseinandergesetzt haben. Einer der Autoren, der NE IX. 8 bezugnehmend auf die Egoismus-Altruismus Kontroverse inter­ pretiert und hierin eine Lösung für das von Sidgwick aufgeworfene 65 EN m.10.1115 a 11-24. 66 tEkog 6e mdor|5 eveQyeiac, Eöti tö xata tr|v E|iv.

xai trä dvbQEtm 6e r| dvbQEta xakov. toioütov 6r| xai tö tEkog; ÖQi^Etai yaQ Exaotov trä teXei. xakoü 6r| EvExa o avbQElog hrno^EvEi xai rngdttEi ta xata tr|v avbQEiav. 1115 b 20-24.

67 Vgl. dazu insbesondere Anselm Müller: Praktisches Folgern und Selbstgestaltung nach Aristoteles, insbesondere §21. Müller berücksichtigt in seiner Darstellung auch die wichtigen Einsichten von Gertrude E. Anscombe zu der beschriebenen Identitäts­ struktur von Mittel und Ziel in ihrem Buch »Intention«. 2. Aufl. Oxford 1963, bes. §§ 23-26. ^ 277

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Problem zu erkennen meint, wie rationales Wohlwollen und utilita­ ristische Pflicht mit dem Glück des Handelnden zu vereinbaren sind, ist der dänische Aristoteles-Interpret Troels Engberg-Pedersen. Sei­ nen Darlegungen liegen zwei wichtige Annahmen bezüglich des xaXöv und des V0Ü5 zugrunde. Die Aristotelische Wendung »um des xaXöv willen zu handeln« will Engberg-Pedersen zunächst so verstanden wissen, daß sie soviel besagt wie »um der anderen willen zu handeln«. Eine »edle« Handlung wäre dementsprechend durch das Teilen der Güter mit anderen bestimmt. So besehen stellt sich natürlich die Frage, ob es Kriterien gibt, nach denen man im jeweili­ gen Handlungskontext entscheiden kann, wie die Güter mit anderen zu teilen sind. Auf diese Frage antwortet Engberg-Pedersen mit einer bestimmten Deutung des Aristotelischen V0Ü5, wie er den Ausf­ ührungen in NE IX.8, insbesondere in jener Passage zugrundeliegt, in der es heißt, daß jeder Geist (V0Ü5) sich das Beste wünsche. V0Ü5 bedeute hier soviel wie die »universal and impersonal reason«. Dar­ unter versteht Engberg-Pedersen näherhin: »[...] when a person >pays no attention to himselfhis own< desires. But the point is not that he pays no attention whatever to himself or neglects all his desires. What he does is just to take account of himself as one among others [...]. Since the basic problem is that of how natural goods should be shared, reason can find no foothold for a criterion anywhere else than in properties that are impersonal; reason sees that initially all human beings have an equal claim.«68 Man kann in dieser Deutung des V0Ü5 eine ähnliche Argumen­ tationsstrategie vermuten, wie sie Thomas Nagel in seiner Begrün­ dung der Möglichkeit des Altruismus verfolgt hatte. Demnach sind Handlungen dann als altruistisch zu bezeichnen, wenn in ihnen ein Gut verfolgt wird, das objektiv und vernünftigerweise als erstrebens­ wert erachtet wird. Als vernünftig wiederum können die Handlun­ gen dann gelten, wenn sie auch unabhängig vom eigenen Interesse des Handelnden gerechtfertigt werden können.69 Innerhalb einer sol­ 68 Engberg-Pedersen: Aristotle's theory of moral insight, S. 44f. 69 Thomas Nagel: The Possibility of Altruism. Princeton, New York 1970. Vgl. etwa S. 109f.: »To apply a principle to oneself impersonally, one must be able to apply it to the person who one is, in abstraction from the fact that is oneself.« In dieser Perspektive, in der man sich selbst als eine Person unter anderen betrachtet, heben sich egoistische und altruistische Motive gegenseitig auf. Anders als Derek Parfit (»Reasons and Persons«. Oxford 1984), der jede signifikante Unterscheidung zwischen einer Person und 278

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chen Perspektive versucht auch Engherg-Pedersen die Bedeutung der Aristotelischen Ausführungen üher den Verzicht des Tugendhaften auf Güter zugunsten seines Freundes zu rechtfertigen: dieser Ver­ zicht ist seiner Ansicht nach ehen dann hegründet, wenn man in ihm die Anerkennung sieht, daß der Freund herechtigterweise denselhen Anspruch auf die Güter wie man seihst hesitzt.70 Ahgesehen davon, daß sich zum einen für diese Interpretation des V0Ü5 kaum Anhaltspunkte im Text finden lassen dürften, zum anderen die Handlungen des Tugendhaften um des xaköv willen kaum einem altruistischen Handlungsmotiv gleichgesetzt werden können,71 sind diese Darlegungen doch insofern aufschlußreich, als sie ex negativa verdeutlichen helfen, was in der Ausweitung der Ari­ stotelischen Konzeption der Selhstliehe auf die Egoismus-Altruis­ mus-Kontroverse verlorengeht. Zum einen wird dahei ühersehen, daß es Aristoteles anstatt um Regeln, die der Tugendhafte in hestimmten Handlungskontexten zu heachten hat, um Handlungsdis­ positionen zu tun ist, die ihrer Natur nach auf verallgemeinerhare Normen nicht reduzierhar sind. Zum anderen gilt zu heachten, daß die Selhstliehe innerhalh der Erörterung der ^iZta nicht auf all­ gemein-menschliche Bestimmungen ahstellt, sondern daß vom Ver­ zicht auf Güter angesichts von Freunden des Tugendhaften die Rede ist. Diesen Rahmen zu ühersehen und die Aristotelische Konzeption der Selhstliehe auf allgemeine Vernunftforderungen zu heziehen, kä­ me dem Versuch gleich, sie ehenso als ein mögliches Thema der Ge­ rechtigkeit zu erörtern. Die ausführlichste Erwiderung auf die ohen skizzierten Interpretatio­ nen, die in NE IX.8 einen entscheidenden Beweis für die Annahme sehen, wonach Aristoteles eine im moralisch relevanten Sinne »egoi­ stische« Position vertreten hahe, hat Kraut in dem hereits mehrfach anderen (und damit auch die Unterscheidng zwischen egoistischen und altruistischen Motiven) in Ahrede stellt und eine solche als Ergehnis eines irreleitenden metaphysi­ schen Individualismus hetrachtet, hält Thomas Nagel an der Perspektive des handelnden Suhjekts fest. 70 Ehd., S. 47: »[...] there is no legitimate ground for ascrihing to oneself a claim to the goods that is any stronger than that of any other human heing who will he affected hy the goods heing shared out in one way or another.« 71 Auf den ersten Punkt wies hereits Madigan: Beyond Egoism and Altruism?, S. 86 f., in seiner Auseinandersetzung mit Engherg-Pedersen hin, auf den zweiten Stern-Gillet: Aristotle's Philosophy of Friendship, S. 106f. ^ 279

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erwähnten Buch »Aristotle on the Human Good« unternommen. Der Kern seiner These besteht dahei in dem Nachweis, daß die Selbstliebe des tugendhaften Menschen durchaus mit der Opferhereitschaft sowie mit dem Altruismus kompatibel ist. Die Handlun­ gen des Selhstliehenden, der zugunsten der Freunde auf bestimmte Güter verzichtet, um auf diese Weise das »Schöne« zu erreichen, sind seiner Interpretation zufolge genuin altruistische Akte.72 Krauts Begründung geht aus von einem in der Literatur durch­ aus verbreiteten Verständnis jener Textstelle (IX.8.1169 a 8-11), in der Aristoteles darlegt, daß die Bemühung aller Menschen um das Edle (xakov) zur Folge hat, daß die Gemeinschaft alles erreichen würde, was notwendig ist. Wir haben bereits oben in der Behandlung der Stelle auf mögliche Übersetzungsvarianten hingewiesen; in die­ sem Zusammenhang ist es wichtig, die Bedeutung des »wetteifern« (aptkkdopm) um das Edle zu verstehen. Nun läßt sich nicht von vornherein ausschließen, daß der Ausdruck wörtlich im Sinne einer Konkurrenz zwischen mindestens zwei rivalisierenden Parteien um ein bestehendes Gut interpretiert wird.73 Die Betonung läge in die­ sem Falle weniger auf dem Bemühen und dem Bestrebtsein der je­ weiligen Mitglieder der Gemeinschaft, in den Besitz des erstrebten Gutes zu gelangen. Vielmehr ginge es in dieser wörtlichen Interpre­ tation um ein Konkurrenzverhältnis, welches in der Regel auch ein­ schließt, daß es sowohl Gewinner wie auch Verlierer gibt. Bezugneh­ mend auf diese wörtliche Auslegung der Stelle vertritt Kraut die Auffassung, daß es Aristoteles hierbei tatsächlich um einen mora­ lischen Wettbewerb (»moral competition«) geht. Im Unterschied zu einem Konkurrenzverhältnis um materielle Besitztümer, wie sie der pejorativen Form der Selbstliebe zugrunde liegt, hat der moralische Wettbewerb, wie er unter tugendhaften Menschen zustandekommt, sozusagen »innere« Güter, also solche der Tugend zum Gegenstand. Ein solcher Wettbewerb ist auch deshalb dem für alle Beteiligten schädlichen Verteilungskampf um äußere Güter entgegengesetzt, da er sowohl allen Teilnehmern als auch den anderen der politischen Gemeinschaft zugute kommt. Es ist ein Wettbewerb, der nur Gewin­ ner, jedoch keine Verlierer kennt.74 72 Vgl. zum Folgenden: Kraut: Aristotle on the Human Good, 2. Kapitel. 73 Vgl. dazu oben Anm. 50. 74 Vgl. Kraut: Aristotle on the Human Good, bes. Kapitel 2.9. Zu der soeben aus der NE zitierten Stelle heißt es bei Kraut: »I take Aristotle to be saying that moral rivalry differs 280

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Kraut illustriert seine These am Beispiel von Musikern, die sich gemeinsam treffen, um herauszufinden, wer von ihnen der Beste sei. Jeder von ihnen wird nun sein ganzes Können unter Beweis stellen, und wenn auch am Ende ihres Zusammentreffens nur ein Gewinner unter ihnen ausgemacht wird, so waren doch alle Beteiligten Nutz­ nießer der Tatsache, daß ein jeder sein Bestes gegeben hat. Ohne Wettbewerbsbedingungen wäre hingegen niemand in den vollen Ge­ nuß der Kunst des anderen gekommen, da sich keiner in der entspre­ chenden Weise um den Erwerb der Auszeichnung bemüht hätte. Auf die Unterscheidung der beiden Formen der Selbstliebe bezo­ gen, hat man es demnach in der pejorativen Form mit einer egoisti­ schen Konzentration auf das unmittelbare Verlangen nach äußeren Gütern zu tun, die, gemessen an ihren Folgen für das Zusammen­ leben in der Gemeinschaft, einen erbitterten Verteilungskampf um den Besitz der den Mitgliedern nur im begrenzten Maße zur Verfü­ gung stehenden äußeren Güter nach sich zieht. Genuin selbstliebend und altruistisch sind demgegenüber die tugendhaften Menschen des­ halb, weil ihre Auffassung vom glücklichen Leben das gute Zusam­ menwirken und Leben in der politischen Gemeinschaft gewährlei­ sten würde. Da es in der tugendhaften Form der Selbstliebe dem Subjekt nicht nur in der richtigen Weise um sich selbst, sondern auch um die anderen geht, kann Aristoteles nach Kraut auch behaupten, daß der Selbstliebende nicht nur die Pflicht habe, sich selbst zu lie­ ben, sondern sich selbst mehr als alle anderen lieben soll.75 Prima facie kann sich diese These zumindest auf einen Teil der Aristotelischen Begründung stützen, nämlich zunächst auf den wechselseitigen Nutzen, den alle Beteiligten aus einem solchen Wettbewerb ziehen. Den naheliegenden Einwand gegenüber dieser idealen Kokurrenzsituation, wonach ein Wettbewerb per definitionem auf der Seite der Unterlegenen ein Gefühl der minderen Kom­ petenz hervorruft, versucht Kraut dabei durch den Hinweis zu ent­ kräften, daß ein jeder der Beteiligten danach strebt, sein Bestes zu geben, nicht aber danach, den anderen zu übertrumpfen. Folgerichtig from other forms of competition in precisely this respect: normally when people try to outdo one another, one person's gain is another's loss; but when virtuous individuals >compete for the finec then everyone benefits in some way or other. One person wins the competition, but in a way [...], no one loses.« S. 117. 75 Ebd., S. 19: »He seems to say that each person should try to outdo all others in this area [s.c. in the realm of ethical virtue, AdV], and in this sense his thesis is not merely that one should love oneself, but also that one should love oneself most of all«. ^ 281

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könnte auch die Hoffnung auf Fehler, welche die Konkurrenten be­ gehen, nicht moralisch sanktioniert werden.76 Des weiteren könnte sich diese Interpretation darauf stützen, daß im Kontext der Be­ schreibung der Tugendfreundschaft Aristoteles von einem Wett­ eifern um das Gute spricht, das sich diese Freunde wechselseitig zufügen, ein Bestrebtsein, das im Unterschied zur Nutzenfreund­ schaft gegenseitige Vorwürfe und Zerwürfnisse ausschließt, da das Gute, das einer durch den anderen empfängt, dadurch erwidert wird, daß man seinerseits das Gute tut (1162 b 5-12; vgl. dazu oben). Der eigentliche Schwachpunkt in der Deutung Krauts scheint jedoch in ihren konsequenzialistischen Implikationen zu liegen. Die Einzeichnung der Selbstliebe in den übergeordneten Interpretations­ rahmen eines moralischen Wettbewerbs legt zum einen den Akzent auf das erreichte Resultat, und nur hinsichtlich dessen sind auch die Bedingungen seines Zustandekommens von Bedeutung. Zum ande­ ren antwortet der Vergleich des tugendhaften Selbstliebenden mit einem moralischen Wettbewerb auf die Frage, wie jeder einzelne und die politische Gemeinschaft zu dem höchsten Gut gelangen kann, und sieht in der genuinen Selbstliebe das dafür geeignete Mit­ tel zum Zweck. Damit wird der Selbstliebe, wenn auch unter umge­ kehrtem Vorzeichen als in den egoistischen Interpretationsvarianten, die Funktion einer Handlungsregel zugeordnet: Wenn immer Du handelst, handele in der vernunftkonformen Einstellung der Selbst­ liebe, die dich sowohl hinsichtlich des eigenen Lebens als auch jenes der Gemeinschaft das Schöne erstreben läßt.77 Gegenüber dieser The­ se Krauts scheint der Text allerdings nur die schwächere These zuzu­ lassen, wonach Aristoteles offensichtlich den gegen sein Verständnis der genuinen Selbstliebe naheliegenden Einwand entkräften will, nach dem jede Form der Selbstliebe strukturell eigensüchtig und des­ halb notwendigerweise gegen das gleichgeartete Interesse der ande­ ren gerichtet ist. Was Aristoteles mit seiner Bestimmung der genui­ 76 Vgl. ebd., S. 118: »This of course does not mean that each hopes the others will make moral mistakes, or fail to fulfill their potential: that way of wanting to be best is incompatible with a good person's desire to see others flourish.« 77 Vgl. S. 117: »[...] he defends such competition by claiming that everyone is better off when each tries to outdo the others: when each tries to outperform the others, then each >will have the greatest of goods, since that is just what virtue isc (1169 a 10-11). Here Aristotle points to the active benefits that accrue to each individual who competes with others: in this way, one becomes a more virtuous person, and gains the greatest of goods.« 282

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nen Selbstliebe liefert, zielt auf eine andere Zuordnung von Inter­ essen einzelner Subjekte und deren Zugehörigkeit zur Polis hin, als es das geläufige Verständnis der Selbstliebe nahelegt. Es geht ihm um Güter, die für den einzelnen die größten Güter sind, und die dennoch nicht den Bedingungen äußerer Güter unterliegen, nach denen gilt, daß deren Besitz durch den einen das Nichtbesitzenkönnen des ande­ ren notwendigerweise einschließt. Gibt es folglich solche größten Güter, deren Besitz ebenso erstrebenswert für den einzelnen ist wie diese Güter umgekehrt nicht den gleichzeitigen Besitz durch mehre­ re Subjekte ausschließen, dann ist folglich auch jenes Streben, das der genuinen Selbstliebe zugrundeliegt, moralisch nicht verwerflich. Dies eben nun scheint mir der Sinn der These Aristoteles' zu sein, wonach, wenn sich alle Menschen um das Schöne bemühten, die Ge­ meinschaft auch alles erreicht hätte, was notwendig ist.78 2.3.4 Autarkie und Angewiesenheit des Glücklichen: NE 1X.9 Eine grundlegende Frage, die sich im Rahmen einer Untersuchung über die Freundschaft als maßgeblichen Bestandteil einer philosophi­ schen Ethik stellt, ist jene, in welcher Hinsicht die Freundschaft ein Gut für das Leben des Menschen darstellt.79 Will man die Vielzahl von Stellen, an denen in den Aristotelischen Ethiken von der Freund­ schaft als einem Gut die Rede ist, zusammentragen, so wird man leicht auf scheinbare Widersprüche in deren Bestimmung stoßen. Dies hängt u. a. damit zusammen, daß eine strikte Unterscheidung zwischen dem, was man ein instrumentelles Verständnis der Freund­ schaft nennen könnte, und der Wertschätzung eines anderen um sei­ ner selbst willen nicht immer in aller Eindeutigkeit durchgehalten zu werden scheint. Kritiker der Aristotelischen Freundschaftskonzepti­ on konnten sich auf Abschnitte berufen, in denen ausdrücklich von Freunden als »Werkzeugen« (öl’ opydvmv, I.9.1099 a 1) die Rede ist, 78 Andere Kritikpunkte an Krauts Ausführungen werden vorgebracht von A. Price: Friendship (VIII und IX), bes. S. 247 f. S. Stern-Gillet: Aristotle's Philosophy of Friendship, S. 116 ff. J. Annas: Self-Love in Aristotle, S. 7 ff. Zu Annas vgl. auch Krauts Erwi­ derungen: Comments on Julian Annas »Self-Love in Aristotle«. 79 Wir sahen bereits im ersten Teil, wie im Platonischen Dialog Lysis eingehend die Frage erörtert wird, ob der gute Mensch, insofern er gut ist, nicht selbstgenügsam ist. Vgl. oben TeilI, Abschnitt 1.1.3. Lysis 215a6f.: Tl de ov% o dyaöog, xaö’ oaov dyaöog, xatd toaohtov ixavog dv eip avx& (»Wie aber, wird nicht der Gute, inwie­ fern er gut ist, insofern auch sich selbst genügen?«). ^ 283

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mittels derer jemand das, was er erstrebt, zu erreichen imstande ist. Im achten Kapitel des ersten Buches der NE etwa hatte Aristoteles bezugnehmend auf Platon ein Schema von »äußeren«, »körperli­ chen« und »seelischen« Gütern entworfen und darauf hingewiesen, daß die seelischen Güter »die eigentlichen und die hervorragend­ sten« darstellten (I.8.1098 b 12). Obwohl nun die Tugend als see­ lisches Gut das höchste darstellt, reicht sie dennoch für sich allein genommen nicht für das erstrebte glückliche Leben aus. Gerade um ein Leben gemäß der apex^ zu leben, bedarf es auch der äußeren Güter. In diesem Zusammenhang ist ausdrücklich die Rede von den Freunden, von denen es heißt, sie seien, darin vergleichbar mit Reichtümern oder Macht, »Werkzeuge«, da man durch sie vieles er­ reichen könne. Es mag angesichts solcher und ähnlicher Formulie­ rungen kaum verwundern, daß man die Bedeutung der Ausführun­ gen zum Freunde, der nicht um des eigenen Vorteils und Nutzens willen gesucht wird, in ihrer Tragweite zu relativieren gesucht hat.80 Einen weiteren Beleg für das instrumentelle Verständnis der Freunde scheint jene Stelle nahezulegen, an der Aristoteles diese im gleichen Sinne als unentbehrlich für das gelungene Leben betrachtet wie ein vorteilhaftes Aussehen, eine Herkunft aus geordneten Verhältnissen oder gut erzogene Kinder.81 Freundschaftliche Beziehungen sind mit­ hin ein äußeres Gut, das Aristoteles im Folgenden noch hinsichtlich seines Stellenwertes für das Erreichen der euhaipovia differenziert: Von diesen Gütern gilt, daß sie sowohl instrumentell (»in der Form von Werkzeugen«) nützlich sein können als auch notwendigerweise (nndp/etv avayxalov, 1099 b 27) einen Bestandteil des gelungenen Lebens darstellen.82 Auch in den folgenden Büchern der NE lassen 80 In der EE heißt es: »Indes zeigt sich wirklich auch in diesem Fall, daß der Freund nicht da ist um der Brauchbarkeit und nicht um des Vorteils willen, sondern daß der Tugend­ freund der einzige Freund ist.« (VII.12.1244 b 15). 81 «Denn vollkommen glücklich kann man denjenigen nicht nennen, der in seinem Äu­ ßeren übermäßig häßlich ist oder von geringerer Herkunft oder einsam und kinderlos, und vielleicht noch weniger denjenigen, der ganz übel geratene Kinder oder Freunde hat, oder dem sie gut waren, aber gestorben sind.« (1099 b 4f.). 82 Vgl. zu diesen zwei Typen äußerer Güter die Ausführungen von T. Irwin: Permanent Happiness: Aristotle and Solon. - In: JuliaAnnas (Hg.): Oxford Studies in Ancient Philosophy 3 (1985), S. 89-124. Ferner: Nancy Sherman: The fabric of Character, S. 123 ff. Eine eingehende Behandlung der Frage, in welcher Weise Aristoteles Freunde als äußere Güter behandelt, enthält die Untersuchung von John M. Cooper: Aristotle on the Goods of Fortune. - In: Philosophical Review 94 (1985) 173-196, sowie Martha Nussbaum: 284

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sich weitere Anhaltspunkte für eine zweckdienliche Auffassung der Freundschaft ausfindig machen. In NE III.5 etwa wird sie thematisch innerhalb der Erörterung des Problems, daß sich der Handelnde nicht nur über das Ziel seiner Handlung im Klaren sein muß, sondern ebenfalls die zu seinem Erreichen notwendigen Mittel und Wege zu überprüfen hat. Dies kann etwa in der Weise eines guten Rates er­ reicht werden (1112 b 11), indem also ein Freund dazu beiträgt, das angestrebte Ziel zu erreichen. Andere Beispiele und Ansichten über den instrumentellen Sinn der Freundschaft trägt Aristoteles zu Be­ ginn des achten Buches vor: Sie ist dort vorhanden, wo hilflose Men­ schen unterstützt werden (1155 a 13). Ein vom instrumentellen Gebrauch der Freundschaft zu unter­ scheidender Sinn scheint auch in jenen Zusammenhängen nicht zur Sprache zu kommen, in denen Aristoteles der Frage nachgeht, ob es möglich sei, auch ohne Freunde ein gelungenes Leben zu führen. Gerade die unauflösliche Verbindung, wie sie von Aristoteles hin­ sichtlich der Freundschaft mit der Frage nach einem gelungenen Le­ ben konstruiert wird, wirft das entscheidende Problem auf, ob nicht schon deshalb eine angemessene Erörterung von vornherein verbaut ist, weil Freundschaft einzig und allein als ein Gut betrachtet wird, dessen man für ein gelungenes Leben bedarf. Als einschlägige Stel­ len, die diesen problematischen Konnex beleuchten, lassen sich etwa der Beginn des achten Buches der NE als auch jener der EE anführen, wo die Rede davon ist, daß kein Mensch ohne Freunde leben möchte, selbst wenn er über alle übrigen Güter verfügte (1155 a 5 f.). Ähnlich heißt es in NE IX.9 in der Widerlegung der These, wonach die glücklichen und selbstgenügsamen Menschen keiner Freunde be­ dürften, es sei offensichtlich unsinnig, wenn man dem Glückseligen alle Güter zuteile, ihm aber keine Freunde gäbe, die doch das Größte der äußeren Güter zu sein scheinen (1169 b 8-10; vgl. auch 1169 b 16 f.). Und schon im ersten Buch der NE hatte Aristoteles diesen Zu­ sammenhang zwischen dem letzten Strebensziel und der Selbst­ genügsamkeit eingeführt. Wenn das vollkommene Gut sich dadurch auszeichnet, daß es um seiner selbst und nicht um eines anderen Gutes willen gesucht wird, so ist, wie Aristoteles folgert, auch die Selbstgenügsamkeit ein Kriterium dieses höchsten Gutes und damit The Fragility of Goodness: Luck and Rational Self-Sufficiency in Greek Ethical Thought: The Tragic Poets, Plato, and Aristotle. Cambridge 1986, Kapitel 12. ^ 285

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des gelungenen Lebens. Selbstgenügsam, so die Definition, ist ein Gut genau dann, wenn es für sich genommen das Leben begehrens­ wert und umfassend bedürfnislos macht.83 Dieser Schluß ist einsich­ tig und scheint ohne weitere Zusatzannahme aus der Annahme des Glücks, das um seiner selbst willen erstrebt wird, hervorzugehen. Problematischer hingegen ist die sich anschließende Erläuterung der Selbstgenügsamkeit, von der es heißt, sie könne nicht allein auf den für sich Lebenden bezogen werden, sie gelte hingegen auch für die engeren Verwandten sowie »für seine Freunde und Mitbürger, da ja der Mensch seiner Natur nach in der Gemeinschaft lebt.« (1097 b 9­ 11). Wie aber läßt sich die Selbstgenügsamkeit des Einzelnen mit der auch an anderer Stelle vorgetragenen Behauptung vereinbaren, daß der Mensch »seiner Natur nach« in der Gemeinschaft lebt?84 Was ist unter einer Selbstgenügsamkeit zu verstehen, die nicht von vornher­ ein Beziehungen zu anderen Menschen ausschließt?85 Allgemeiner läßt sich die Frage auch so formulieren, inwiefern es eine Struktur der Selbstbezüglichkeit zu geben vermag, die nicht auf die Struktur der Subjektivität eingeschränkt werden kann. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß auch der Platonische Lysis in der möglichen Vermittlung der Selbstgenügsam­ keit der Tugendhaften mit ihrer Angewiesenheit auf gute Freunde eine der grundlegenden Aporien der Freundschaftskonzeption ent­ deckt hatte.86 Offen geblieben war die Frage, weshalb zugunsten 83 EN I.5.1097 b 14-15: tö 6’antaQXEg tIBe^ev ö ^ovoii^evov a'iQEtöv morn töv ßiov xai ^^6evö5 ev6eü; Wenn Aristoteles als autark mithin das bezeichnet, was für sich allein genommen dazu führt, daß es dem Leben an nichts mangelt, dann enthält das Autarke alles, was man um seiner selbst willen erstrebt. Wie der Begriff des letzten Zieles dient also auch der Begriff der Autarkie der Umschreibung des Sachverhaltes, daß es etwas gibt, dem nichts hizuzufügen wäre, wodurch es ein vollkommeneres Ziel würde. Zur Kontroverse um den Aristotelischen Begriff der Autarkie, wie er im ersten und zehnten Buch der NE in Erscheinung tritt, vgl. Kenny: Aristotle on the Perfect Life, S. 23-42, sowie Nussbaum: The fragility of Goodness, S. 318-372. 84 Vgl. Pol. 1252 b 29 f.; 1253 a 1ff.; 1278 b 19 ff.; 1280 b 33 ff. Zum Begriff der Selbst­ genügsamkeit bzw. Autarkie vgl. Widmann: Autarkie und Philia in den aristotelischen Ethiken, bes. S. 27, S. 33-36, S. 45. 85 Vgl. dazu auch Sherman: The fabric of character, S. 128, mit Stellenangaben aus MM und EE: In MM heißt es, »wir untersuchen nicht die Selbstgenügsamkeit eines Gutes, sondern von menschlichen Wesen«. In EE heißt es, »für uns [ist] das Glück eine Bezogenheit nach außen [...], für Gott aber gilt, daß er selbst allein sein eigenes Glück ist« (VII.12.1245 b 18-19). 86 Insofern ist im Lysis (215 a-c) bereits die entscheidende Frage vorgezeichnet, ob nämlich ein Freund eines anderen bedarf. Die Antwort auf diese Frage ist - in diesem 286

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eines gelungenen Lebens die Selbstgenügsamkeit des Tugendhaften zu überschreiten sei, gerade deshalb, weil die Eigenart der Bedürftig­ keit, auf gute Menschen angewiesen zu sein, nicht geklärt werden konnte. Gerade im Hinblick auf eine Klärung der hier angeschnittenen Fragen bieten nun die Erörterungen der Selbstgenügsamkeit im neunten Buch der NE einen wichtigen Anhaltspunkt. Anders als in den vorhergehenden Stellen der NE, die ebenfalls von der Selbst­ genügsamkeit handeln, kommt es hier auf dem Wege einer Über­ prüfung der Ansicht, wonach der glückliche Mensch über alle ihm für sein Wohlergehen erforderlichen Güter verfüge, zur systemati­ schen Erläuterung, weshalb die Autarkie des Tugendhaften nicht als ein Argument gegen seine Angewiesenheit auf Freunde interpretiert werden kann. Zugleich läßt sich im Rahmen dieser Erläuterung auch ein Aufschluß über den eigentlichen Kern des Problems, was eine solche Angewiesenheit auf andere tatsächlich bedeutet und ein­ schließt, erwarten. Aristoteles' Behandlung der Kernfrage, ob der glückliche Mensch Freunde braucht, läßt sich in drei aufeinander aufbauende Abschnitte einteilen. Der Einleitung in die Fragestellung folgt im Abschnitt 1169 b 8-22 eine erste Rechtfertigung der Auffassung, die den Men­ schen von Natur aus auf das Zusammenleben mit anderen Menschen angelegt sieht. Der zweite Abschnitt, 1169 b 22-1170 a 13, ordnet die Frage ein in den Zusammenhang der übergreifenden Erörterung des gelungenen Lebens als einem tätigen Leben, während im ab­ schließenden Teil (1170 a 13-1170 b 19) der Beweisgang in der Auf­ nahme der bisherigen Argumente sein Ziel in dem Nachweis er­ reicht, daß ohne einen tugendhaften Freund ein gelungenes Leben als unmöglich erscheint. Für die zum Eingang des Kapitels von Aristoteles referierte An­ sicht, wonach der glückliche Mensch autark ist, wird eine naheliegen­ de Begründung angeführt, die man auch so umschreiben könnte: Als »glücklich« bezeichnet man einen Menschen aufgrund der Tatsache, aporetischen Dialog - eindeutig: »Wie also können uns nur überall Gute mit Guten freund werden, welche weder in der Abwesenheit sich nacheinander sehnen, denn sie genügen jeder sich selbst auch einzeln, noch auch vereinigt irgend einen Nutzen vonein­ ander haben?« Und in der Politeia wird die Selbstgenügsamkeit eines tugendhaften Menschen gewürdigt: »Ein guter Mann ist sich zum glücklichen Leben selbst genug und braucht, anders als die Masse, die andern gar nicht« (Rep. III. 387 d). ^ 287

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daß es ihm an nichts mangelt und er all das, was er benötigt, kraft eigenen Vermögens erlangen kann. In diesem Sinne ist der Glückli­ che deshalb auch selbstgenügsam, weil er alles für sich Erforderliche selbst besorgen kann und nicht auf Freunde angewiesen ist, die ihm beim Erreichen des eigenen Glücks behilflich sind.87 Dies bekräftigt auch das von Aristoteles angeführte Euripides-Zitat, das bezeichnen­ derweise die dem Ausdruck Glück, der EnSaipovla, zugrundelie­ genden Wortstämme »daimon« und »gut« (en) enthält.88 Sinngemäß übersetzt könnte es lauten: Wenn das Schicksal es gut mit einem gemeint hat, dann braucht man auch keine Freunde, die einem behilf­ lich sind. a) Erster Abschnitt (1169 b 8-22 ) Der folgende Abschnitt führt drei Argumente an, mit Hilfe derer die Eingangsthese entkräftet werden soll. Das erste (1169 b 8-10) besagt, daß wenn ein glücklicher Mensch alle Güter besitzt, Freunde aber zu den höchsten Gütern zu zählen sind, dann wird folglich auch der Glückliche Freunde haben. Das zweite Argument besteht, zusam­ mengefaßt, darin, daß der glückliche Mensch der Freunde bedarf, um ihnen Gutes zu tun.89 Es wendet sich darin gegen die Vorausset­ 87 Ap^ioßr|tEftai SE xai megi töv enSalpova, el SepOEtai qAmv p pp. on0Ev yaQ ^aoi SeLv qAmv toig paxagloig xai antaQxeoiv; hmaQXEiv yaQ antofg täya0a; antaQxeig oüv övtag onSevög mQooSEfo0ai, töv SE qflov, Etegov antöv övta, noQi^Eiv ä Si’ ahton äSnvatEf; ö0ev »ötav o Salpmv eü SiSm, ti Sei qflmv« (»Man diskutiert auch, ob der Glückliche der Freunde bedarf oder nicht. Es wird nämlich gesagt, daß glückliche und selbstgenügsame Leute keine Freunde brauchen, da sie alle guten Dinge schon hätten. Da sie also sich selbst genug sind, bedürfen sie folglich nichts wei­ ter; der Freund aber, da er ein anderer man selbst ist, verschafft Dinge, die man für sich selbst zu erreichen nicht imstande ist. Daher heißt es auch: >Wenn ein Gott Glück ge­ währt, was bedarf es der Freunde««, 1169 b 3-8). 88 ötav o Salpmv eü SiSm, tl Sei qAmv. Euripides: Orestes 667. Vgl. dazu Tim. 90 c 4-6. 89 ei te qAon püllöv Eoti tö eü moiEfv p maoxeiv, xai Eoti ton äya0oü xai tpg ÖQEtpg tö EnEQYEtefv, xalliov S’ eü moiefv qfkong ö0velmv, träv eü meioopEvmv Sepoetai o omonSaiog (»Wenn es bezeichnender ist für einen Freund, anderen Gutes zu tun als gut behandelt zu werden, und es bezeichnender ist für den Guten und die Tugend, anderen Gutes zuzufügen, und es endlich schöner ist, Freunde gut zu behandeln als Fremde, so bedarf der Gute der Menschen, denen er Gutes tun kann.« 1169 b 10-14). Eine ähnliche Überlegung findet sich am Anfang des achten Buches, wo Aristoteles im Blick auf den Reichen, den Regierenden sowie den Fürsten ausführt, daß ihnen ihre Güter kaum etwas nutzen, wenn ihnen das Wohltun gegenüber anderen Menschen unmöglich gemacht ist. Vgl. VIII.1.1155 a 5-7 sowie 1156 a 6-1156 b 8. 288

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zung, wie sie der Behauptung der Selbstgenügsamkeit des Glückli­ chen zugrundeliegt: sie gründet nämlich in der Vorstellung, daß man Freunde nur deshalb benötigt, weil man nur durch sie, nicht aber aus eigener Kraft zu den erstrebten Gütern gelangt. Diese Voraussetzung läßt allerdings übersehen, daß ein Freund nicht durch seine mögliche Indienstnahme bestimmt ist; vielmehr braucht man ihn auch in dem Sinne, daß man ihm Gutes erweisen kann. Insofern kommt es dem Freund - darin dem tugendhaften Menschen vergleichbar - eher zu, Gutes zu tun als Gutes zu erfahren. Daß man also der tugendhaften Freunde bedarf, begündet Aristoteles in diesem Argument damit, daß das gelungene Leben in entsprechenden gelungenen Tätigkeiten ge­ genüber dem Freund besteht. Insofern sind diese auch für ein gelun­ genes Leben erforderlich. Dieses Argument verdeutlicht zwar eine Schwäche der Ein­ gangsthese, die den Freund ausschließlich im Sinne seiner Nutz­ barkeit bestimmt, ohne allerdings hinsichtlich der vorgebrachten Be­ stimmung des Freundes zu überzeugen. Denn daß man einen Freund benötigt, nicht um durch ihn Vorteilhaftes zu erfahren, sondern um ihm wohlzutun, könnte nicht minder als eine Form der Indienstnahme des anderen für eigene Zwecke, etwa den, sich als wohltuend zu erfahren, aufgefaßt werden.90 Es wird im nächstfolgenden Abschnitt, der ausdrücklicher die eubaipovia als eine Tätigkeit behandelt, zu zeigen sein, daß Aristoteles diesen Einwand durchaus berücksichtigt hat. Das dritte Argument im ersten Abschnitt überprüft die mög­ lichen Konsequenzen der Annahme, daß der glückliche Mensch keine Freunde benötigt. Gesetzt den Fall, ein Mensch verfügte über alle erforderlichen Güter, so könnte er sich kaum wünschen, diese allein für sich zu behalten. Der Grund hierfür ist, daß er als Mensch in einer staatlichen Gemeinschaft lebt und von Natur aus zum gemein­ samen Leben bestimmt ist.91 Außerhalb der Gemeinschaft mit ande­ 90 Auf diese Schwäche weist auch Kenny zusammenfassend in seinem Vergleich der »Autarkie-Kapitel« der EE mit der NE hin: »Whichever Ethics we take as our text, we are left with the same question to pose to Aristotle. If the happy man needs friends in order to benefit them rather than himself, then surely his ultimate goal is not, as the systematic development of the treatises leads us to believe, his own supreme good. If, on the other hand, he needs friends to promote his own self-knowledge and self-satisfaction, then surely his friendship is not a genuine love of his friends for their own sake.« Aristotle on the Perfect Life, bes. das 3. Kapitel, hier S. 54. 91 ouGeig yd@ eXoit5 av xaö5 ahtov td rtdvt5 exeiv dyaöd; ^oXitixov yd@ o ^ 289

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ren würde auch dem glücklichen Menschen etwas fehlen, wonach er von Natur aus verlangt. Infolge dieser jedem Menschen eigenen Be­ stimmtheit, mit anderen zusammenzulehen, kommt es dem glückli­ chen Menschen eher zu, mit Freunden und Tugendhaften anstatt mit Fremden und Beliehigen zusammenzulehen. Alle drei angeführten Argumente sprechen demnach, wie es zusammenfassend heißt, für die Annahme: »Also hedarf der Glückliche der Freunde«.92 Gerade das letzte Argument hringt einen Aspekt ausdrücklich zum Vorschein, der für die folgenden Darlegungen Aristoteles' ent­ scheidend ist. Es zeigt unter Berufung auf die Natur des Menschen, daß dieser auf das Zusammenlehen mit anderen verwiesen hleiht, und leitet von daher zur Folgerung üher, daß auch der Glückliche als Mensch an dieser Bedingung menschlicher Existenz teilhat. Worauf nicht eigens eingegangen wird, ist die Frage, oh der Glückliche, inso­ fern er glücklich ist, der Freunde hedarf. Die Ausgangsfrage, oh der glückliche Mensch der Freunde hedarf, ist nicht durch den Hinweis auf eine grundlegende Bedingung menschlicher Existenz, die der Glückliche mit allen anderen Menschen teilt, zu heantworten. Ge­ fragt wird hingegen, inwiefern der Mensch, sofern er glücklich ist, der Freunde hedarf. Folglich steht zu erwarten, daß Aristoteles in seiner Erörterung der Frage inshesondere den konstitutiven Zusam­ menhang zwischen dem Glück des Menschen und der Angewiesen­ heit auf Freunde herücksichtigen wird. Dieser Zusammenhang ent­ hält näherhin noch zwei Fragen. Zum einen ist zu klären, inwiefern der Mensch, sofern er glücklich ist, der Freunde hedarf. Zum anderen gilt es die Voraussetzung des dritten Arguments zu prüfen, nach dem der Glückliche der Freunde, näherhin anderer tugendhafter Men­ schen (und nicht »Fremder und Beliehiger« hzw. anderer Menschen) hedarf. h) 2. Ahschnitt (1169 h 22-1170 a 13) Wahrscheinlich sind es diese offen gehliehenen Überlegungen, die Aristoteles dazu anhalten, im nächstfolgenden Ahschnitt dieselhe av0Qmrnog xaion^v ^ETuxäg. xaitm Ei)6al^ovi 6f| toü0’,umaQXEt; ta yag tfl t^oel äya0a exel 6^kov 6’ mg ^Eta Ttkmv xai EraEtxmv xQEfttov ^ ^Et’ o0vEimv xai tmv tnxovtmv ouv^^eqeueiv; (1169 h 17-21). 92 6ei aga tm Ei)6al^ovi Ttkmv (1169 h 22) Daß der glückliche Mensch der Freunde hedarf, war als Behauptung schon mehrfach in den hisherigen Ausführungen der NE geäußert worden. Vgl. VIII.1157 h 33-34, VIII1159 a 8. 290

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Frage in einer anderen Persepektive nochmals aufzugreifen. Für diese Annahme spricht, daß sich nunmehr die Untersuchung auf dem We­ ge einer Reflexion über die eubaipovia der Bedeutung des Aus­ drucks »bedürfen« zuwendet.93 Dieser Weg könnte sich deshalb als erfolgversprechend erweisen, da hierbei nicht nur der Gegenstand, den man benötigt, sondern ebenfalls das Subjekt, also der Mensch, der als ein Glücklicher der Freunde bedarf, zum Thema wird. Gerade die Einbeziehung des bedürftigen Subjekts mag zu weiteren Nuan­ cierungen im Untersuchungsbereich führen, die einer allgemeinen, auf die Natur des Menschen beschränkten Reflexion vorenthalten bleiben müssen. Geht man, so leitet Aristoteles den Argumentationsgang des zweiten Abschnitts ein, einmal davon aus, daß der glückliche Mensch der Freunde nicht bedürfe, ist dieser Ansicht insofern recht zu geben, als sie die Vorstellung abwehrt, wonach die Freunde ihm entweder von Nutzen oder aber zum Gefallen seien. Weder benötige der Glückliche solche Menschen, die ihm nützlich sind, denn er verfüge über alle Güter, noch sei er auf ihm angenehme Menschen angewie­ sen, da sein Leben in sich bereits angenehm sei und folglich auch keiner von außen herangebrachten Lust bedürfe (1169 b 24-27). Worauf es Aristoteles hier ankommt, ist den genuinen Bedarf an Freunden zu verstehen, die den glücklichen Menschen charakteri­ siert. Aus der Tatsache, daß er ihrer nicht im Sinne eines äußeren Gutes ermangele, könne nicht geschlossen werden, daß er überhaupt der Freunde nicht bedürfe. Wie aber läßt sich dann, wenn das Modell der Ermangelung eines Guten, über das man von sich aus nicht verfügt, eine Erklärung der Angewiesenheit des Menschen auf ande­ re nicht zu liefern vermag, noch verständlich machen, daß der glückliche Mensch der Freunde bedarf? In der Antwort auf diese Frage kommt es zur Wiederaufnahme der Definition der eubai^ovia aus dem ersten Buch der NE, der zu­ folge das gelungene Leben ein tätiges ist, das also auch nicht als ein 93 Den hier zu erörternden Aspekt scheint Williams in seiner Diskussion der Angewie­ senheit des tugendhaften Menschen auf Freunde zu übersehen, wenn er behauptet, daß Aristoteles' Betonung der Überlegenheit der Tugendfreundschaft gegenüber anderen Formen zwischenmenschlicher Beziehungen zu einem unauflösbaren Widerspruch führt. Die Konzeption der Freundschaft »is discussed by Aristotle in a way which now seems bizarre in its determination to reconcile the need for friendship with the aim of self-sufficiency«. B. Williams: Philosophy. - In: M. I. Finley (ed.): The Legacy of Greece. A new Appraisal. Oxford 1981, S. 202-255, hier S. 252 f. ^ 291

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vorhandener Besitz gedeutet werden kann (1168 h 29-30. Vgl. 1.6.1098 a 16-18). Auch andere Aspekte des gelungenen Lehens, wie sie ehenfalls im ersten Buch der NE in seine Definition eingingen, werden an dieser Stelle angeführt. So heißt es, ein solches Lehen sei in sich angenehm, es heschränke sich ferner nicht auf einen vorüber­ gehenden Augenhlick, sondern sei dauerhaft.94 Die Einführung der ehhatgovia scheint dem ohen genannten Erfordernis, den Zusam­ menhang zwischen dem glücklichen Menschen und seiner Angewie­ senheit auf andere tugendhafte Menschen eigens zu hehandeln, Genüge zu leisten. Aufs Ganze gesehen handelt es sich hei diesem ersten Beweis­ gang des zweiten Teils (1169 h 33-1170 a 4) freilich um ein kompli­ ziertes Gefüge einzelner Annahmen und Argumente, und es ist nicht zunächst ohne weiteres einsichtig, was genau Aristoteles mit der Aufnahme der Definition des gelungenen Lehens in den Beweisgang zu zeigen heahsichtigt. Üher die hereits erwähnten Argumente hin­ aus lassen sich folgende Behauptungen unterscheiden. 1. Die Tätigkeit des Tugendhaften ist gut und angenehm in sich selhst.95 2. Das Vertraute (olxetov) gehört zum Angenehmen.96 3. Wir sind leichter imstande, unsere Nächsten zu hetrachten, als uns selhst, und ihre Handlungen (mgd^etg) leichter als unsere ei­ genen (olxetag).97 4. Die Handlungen (mgd^etg) der Tugendhaften sind angenehm für die Tugendhaften, die ihre Freunde sind (denn heide hahen das von Natur aus Angenehme).98 94 1169 h 30-33; 1170 a 4; vgl. 1.9.1098 h 25. Zur Dauerhaftigkeit sowie zum Angeneh­ men der Tätigkeit heißt es wenig später in IX.9: ol'ovtal te 6efv ^6Emg tov ehhatgova; govmt^ gEv ohv xalemog o ßlog; oh yag gahtov xa0’ ahtov Evegyefv onvexmg, ge0’ EtEgmv 6E xai mgog allong gaov. Eotat ohv r| EvEgyeta onvexeotEga, ^6efa ohoa xa0’ aht^v, ö Sei megi tov gaxagtov elvat; (»Man meint auch, daß der Glückli­ che angenehm lehen müsse. Für einen alleinstehenden Menschen ist das Lehen mühsam, denn es ist nicht einfach, fortwährend allein tätig zu sein; mit anderen hin­ gegen und für andere ist es leichter. Also wird die Tätigkeit auf diese Weise kontinuier­ licher sein, weil sie in sich angenehmer ist, wie es der Fall sein muß hei einem glück­ lichen Menschen.« 1170 a 4-8; vgl. I.6.1098 a 18). 95 toh 6’ äya0oh r| EvEgyeta omonhata xai ^6efa xa0’ aht^v, h 31f. 96 Eott 6E xai to olxetov tmv ^6Emv, h 33. 97 0emgefv 6E gällov tohg mElag 6nvage0a ^ Eantohg xai tag Exetvmv mga|etg ^ tag olxetag, 1169 h 33-35. 98 al tmv omonhatmv 6r| mga|etg qflmv övtmv ^6efat toig äya0ofg; ag^m yag Exonot ta tfl qhoet ^6Ea. 1169 h 35-1170 a 2. 292

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5. Der Glückliche wünscht tugendhafte und ihm vertraute Handlun­ gen (npd^etc; olxetac;) zu betrachten." 6. Die Handlungen des tugendhaften Menschen, der Freund des Glücklichen ist, sind tugendhaft (und dem Glücklichen vertraut). 7. Der Glückliche wird solcher guten Freunde bedürfen. Eine erste Schwierigkeit im Verständnis des Beweisgangs stellt zu­ nächst die gehäufte Verwendung der Ausdrücke olxetov bzw. olxetac; dar, die jeweils denselben Wortstamm olxet haben, dem je nach Ver­ wendungskontext eine unterschiedliche Bedeutung zukommt. Der Stamm olxet kann sowohl soviel wie »eigen« als auch »vertraut«, »zugehörig« bedeuten.99 100 Diese Mehrdeutigkeit erschwert insbeson­ dere das Verständnis der zweiten und fünften bzw. der dritten Be­ hauptung. Wie immer man auch im Einzelnen diese Behauptungen übersetzen möchte, entscheidend für das Verständnis des Beweis­ gangs ist die Wahrung der semantischen Unterscheidung zwischen dem »vertrauten« und dem »eigenen«. Diese ist insbesondere für die fünfte Behauptung von großer Tragweite.101 Übersetzt man näm­ lich diese Stelle so, daß hier - darin vergleichbar der dritten Behaup­ tung - anstelle von »vertrauten« von »eigenen« Handlungen die Re­ de ist, die der Glückliche zu betrachten wünscht, dann hieße dies, daß Aristoteles im vorliegenden Argumentationsgang folgenden Nach­ weis zu erbringen sucht: Der glückliche Mensch möchte sich selbst, und das heißt seine Handlungen, betrachten. Da nun jene des Freun­ des leichter zugänglich sind, bedarf er der Freunde, deren Handlun­ gen besser zu verstehen sind als seine eigenen. In dieser Interpretati­ on erwiese sich der Beweis als besonders geeignet für die These, daß

99 eHeq 0ewqeiv mQoaiQEttai mQa|Eic EmeixEic xai olxetac, 1170 a 2f. 100 Vgl. Liddell/Scott II. Unter olxefoc finden sich hier u. a. folgende Einträge: I. of persons: of the same household, family. II. friendly. III. of things: belonging to one's house or family, one's own. IV. proper to a thing, fitting, suitable. 101 Rolfes übersetzt olxetov in 1169 b 33 mit »das ihm Eigentümliche und Zugehörige«, olxetac in 1169 b 35 mit »eigenen«, in 1170 a 3 mit »verwandten«. Bei Dirlmeier über­ trägt den Ausdruck mit »in unserem Wesen verankert« bzw. mit »eigenen«. Bei Ross heißt es zu 1169 b 33-35: »and if the sense that a thing is our own is also pleasant, yet we are better able to contemplate our neighbors than ourselfes, and their actions than our own«, und zu 1170 a 3: »the supremly happy man will require good friends, insomuch as he desires to contemplate actions that are good and that are his own« (Herv. PS.). Pakaluk übersetzt: »and what is familiar is one sort of pleasant thing« und 1170 a 3 wie Ross. Wir folgen hier den differenzierten Ausführungen Pakaluks. ^ 293

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Aristoteles hierin ein starkes Argument für eine altruistische Positi­ on geliefert habe. Gegen diese Annahme läßt sich zum einen einwenden, daß Aristote­ les in der Prämisse des Beweises nicht von einem derartigen Verlan­ gen, sich selbst zu betrachten, spricht. Anders als etwa in der EE oder der MM findet sich auch in der NE keinerlei andere Textstelle, auf die man sich mit dieser These berufen könnte. Zum anderen bliebe un­ klar, wie dieses Verlangen mit dem Glück im Leben und im Tätigsein, um das es in diesem Beweis offensichtlich geht, in Beziehung zu set­ zen wäre. Um diese Schwierigkeiten zu umgehen, liegt es nahe, die zweite Behauptung dahingehend zu verstehen, daß hierin das Ver­ traute dem Angenehmen zugerechnet wird, die fünfte behauptung diese Annahme im Bezug auf den Glücklichen aufgreift, der tugend­ hafte und ihm vertraute Handlungen zu betrachten wünscht, wäh­ rend im dritten Punkt behauptet wird, daß man leichter seine Näch­ sten und deren Handlungen als sich selbst zu betrachten imstande ist. Zusammengefaßt würde der zweite Abschnitt also besagen: Die Handlungen eines tugendhaften Menschen, mit dem man befreundet ist, erweisen sich in zweierlei Sicht als ein Gut für den Glücklichen. Einerseits sind vorzügliche Handlungen als solche bereits angenehm, andererseits sind sie dem glücklichen Menschen vertraut und deshalb ebenfalls angenehm. Folglich wird auch der Glückliche, der tugend­ hafte Freunde hat, sein Leben angenehm verbringen. Und er wird folglich besser handeln und leben können. Was aber wäre in diesem Falle hinsichtlich einer Lösung des Problems, inwiefern der glückliche Mensch der Freunde bedarf, ge­ wonnen? Im Zusammenhang dieser Frage kommt der dritten Be­ hauptung ein hoher Stellenwert zu, wonach man die Nächsten und ihre Handlungen leichter betrachten könnte als sich selbst. Einmal angenommen, es handelt sich bei dem Beweis tatsächlich um die Üb­ erlegung, daß der Tugendhafte insofern der Freunde bedarf, als er sein eigenes Glück nur inmitten anderer tugendhafter Menschen er­ wirkt, sein soziales Umfeld folglich angenehm und zustimmungs­ wert für ihn sein muß, so bezieht sich diese Behauptung auf den Umstand, daß er sein eigenes Glück besser im Umfeld tugendhafter Menschen erreichen kann als wenn er von Menschen umgeben wäre, die ihm gleichgültig oder sogar zuwider sind. In den Handlungen und Verhaltensweisen dieser Menschen könnte er nichts entdecken, was ihm vertraut wäre. Die Behauptung, daß der Mensch die Handlungs­ weisen anderer leichter betrachten könne als seine eigenen, wäre 294

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dementsprechend als Erfordernis zu verstehen, für das Erreichen des eigenen Glücks auf ein entsprechend angenehmes und dem Handeln­ den vertrautes Umfeld angewiesen zu sein. Damit erweist sich zu­ sammenfassend dieser Beweisgang als eine Begründung der These, die Aristoteles im Vorhergehenden aufgestellt hatte, wonach der glückliche Mensch nicht irgendwelcher Menschen, sondern der tu­ gendhaften Freunde bedarf. Für diese Interpretation spricht auch die nachfolgende Passage, in der Aristoteles darlegt, daß der Glückliche sich wesentlich leichter tut, wenn er gemeinsam mit anderen handelt, als wenn er allein auf sich gestellt ist. Als Begründung hierfür wird angeführt, daß die Tä­ tigkeit des Glücklichen auf diese Weise ebenso an Beständigkeit wie an Angenehmem gewinnt.102 Vorausgesetzt ist an dieser Stelle be­ reits, daß der andere, dessen der gute Mensch bedarf, nicht irgend­ einer, sondern ein Tugendhafter zu sein hat. Unter der Vorausset­ zung, daß es dem Glücklichen, der einen tugendhaften Freund hat, besser geht, als wenn er nur allein auf sich gestellt ist, gilt dann auch, daß durch das Zusammenleben mit anderen es zu einer Art der Ein­ übung in die vorzüglichen Tätigkeiten und Tugenden komme.103 Das Ergebnis unser bisherigen Überlegungen läßt sich dahin­ gehend zusammenfassen, daß der Zusammenhang zwischen dem gu­ ten Menschen und seiner Angewiesenheit auf andere tugendhafte Menschen im Sinne einer erforderlichen Unterstützung durch das soziale Umfeld plausibel geworden ist. Doch läßt sich auch diesem Beweisgang gegenüber noch einwenden, daß er zwar das Erfordernis eines guten Freundes für das Gelingen des eigenen Lebens geltend machen kann, ohne jedoch den Vorwurf der instrumentellen Indienstnahme des Freundes für eigene Ziele entkräften zu können. Einen Freund als erforderlich für das Gelingen eines tugendhaften Lebens zu bezeichnen, würde gerade jene Auffassung stärken, die in ihm eher ein Mittel als ein Zweck an sich sieht. Ferner bleiben die bisherigen Ausführungen noch eine Erklärung darüber schuldig, welcher Art näherhin das Bedürfnis, die Angewiesenheit auf einen Freund ist. Gerade der soeben behandelte Beweis läßt erkennen, wie Aristoteles an dieser Stelle mit einem objektiven Verständnis der aper^ operiert. Wenn Freunde in dem Sinne erforderlich sind, als sie zur Aneignung tugendgemäßer Handlungen und, was damit zu­ 102 1170 a 4-1170 a 10. Vgl. oben Anm. 14. 103 1170 a 11-1170 a 13. ^ 295

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sammenfällt, einer objektiven Verbesserung des Lebens behilflich sind, dann läßt sich daraus freilich nicht ableiten, daß man ihrer auch bedarf, um - nunmehr in einem subjektiven Sinne - glücklich zu sein. 2.3.5 Das gemeinsame Tätigsein: Freundschaft und Glück c) Dritter Abschnitt (1170 a 13 - 1170 b 19) Wenn die Annahme zutrifft, daß die beiden bisher behandelten Ar­ gumentationsgänge die Ausgangsfrage nur unzureichend behandelt haben, einerseits weil sie, wie im ersten Beweis, die Glücksdisposition des Tugendhaften unberücksichtigt lassen, andererseits weil sie, wie im zweiten Abschnitt, ein instrumentelles Verständnis des Freundes zugrundelegen, dann wäre der dritte Abschnitt vor allem dann von weitreichender Bedeutung, wenn er die bisherigen Defizite in seine Argumente miteinbezieht. Für eine ausreichende Begründung, wes­ halb der Tugendhafte der Freunde bedarf, ist ja gerade eine Antwort gesucht, die beide Aspekte miteinander verbindet. Daß Aristoteles dieser Verbindung im dritten Abschnitt Rechnung trägt und damit tatsächlich das infragestehende Problem einer Lösung zuführen kann, gilt es nunmehr zu zeigen. Der Gedankengang im dritten Abschnitt ist ebenfalls sehr kom­ plex und gedrängt, so daß gelegentlich bereits bestritten wurde, daß er tatsächlich einen Sinn ergibt.104 Deshalb scheint es auch in diesem Kontext angebracht, den Abschnitt nochmals in drei zusammen­ hängende Überlegungen zu unterteilen.105 Die erste, vorbereitende Überlegung (1170 a 13-25) setzt mit der Bemerkung ein, daß nun eine grundlegendere, der Natur des Problems angemessene Erörte­ rung klären soll, inwiefern der tugendhafte Freund dem Tugendhaf­ ten nämlich von Natur wünschenswert (aL0ex65) sei.106 Die zweite 104 Vgl. etwa Stewart: Notes on the Nicomachean Ethics, Bd. 11, S. 389 (zu 1170 a 13). Gegen den Vorschlag Ramsauers, im nachfolgenden Abschnitt a 19-25 sogar die Zeilen a 22-25 zu streichen, hat sich bereits Gauthier mit überzeugenden Belegen gewendet. Gauthier/Jolif 11, S. 757 f. 105 Gauthier teilt den komplexen Argumentationsgang in elf Schritte. Auch William D. Ross: The Works of Aristotle. Translated into English. Vol. 9. Oxford 1915, Fußnote zu 1170 b 19 unterscheidet elf Syllogismen. Zu anderen Unterteilungen vgl. Cooper: Aristotle on Friendship, S. 318 sowie Anm. 18. 106 ^uaix^te^ov ö5 emaxortouaiv eoixev o artouöatog 91X05 xti artouöaiw ^haei 296

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erstreckt sich von 1170 a 25 bis 1170 h 5 und behandelt die Frage, weshalb das Lehen wünschenswert sei. Die dritte, 1170 h 5-14, ent­ hält den eigentlichen Kern der Beweisführung, indem sie darlegt, warum der glückliche Mensch der tugendhaften Freunde bedarf. Die erste Überlegung nimmt zunächst die auch an anderen Stel­ len von Aristoteles vorgetragene Bestimmung des Lebens, das durch die Fähigkeit der Wahrnehmung charakterisiert ist, auf, indem sie diese um den Aspekt erweitert, weshalb das Leben zu dem gehört, was an sich gut und angenehm ist. Fragt man bei einem Lebewesen nach dem, was sein Leben konstituiert, so besteht dies darin, daß es tätig ist, was wiederum gleichbedeutend ist mit der Verwirklichung seiner Fähigkeiten.107 Die jeweiligen Fähigkeiten der Wahrnehmung bzw. des Denkens sind dabei gegenüber ihrer Verwirklichung von sekundärem Rang; entscheidend ist die Tätigkeit, deren Vermögen sie sind.108 Der Ansatz beim Begriff der Tätigkeit legt die Vermutung nahe, daß es Aristoteles entscheidend auf den Vorrang der Tätigkeit gegenüber dem Vermögen ankommt. Weshalb dem so ist, wird sich erst im Folgenden zeigen. Nicht ohne weiteres einsichtig ist indes die anschließende Pas­ a'tQEtög Etvai; to yaQ tfl qinOEi äya0äv EtQr|tai öti trä omonbaim äya0äv xai ^6u Eoti xa0’ autö;. Vgl. zum Ausdruck qinoixmtEQov auch Cooper: Aristotle on Friendship, S. 318. 107 to 6E £^v oQl^ovtai tofg £moig bnvaQEi a’io0^OEmg, äv0Qmmoig 6’ a’io0^OEmg ^ vo^OEmg; r| 6E 6uvaQ,ig Eig tf|v EvEQyEiav ävayEtai. to 6E xuqiov ev tfl EvEQyEia; eoixe 6f| to t^v Eivai xnQimg to aio0avEO0ai ^ voelv. to 6E £^v träv xa0’ auto äya0mv xai ^6Emv; mQiOQEvov yaQ, to 6’ mQiOQEvov t^g täya0oü quOEmg. to 6E tfl ^Uoei äya0öv xai trä EmiEixEt; biömEQ eoixe mäoiv ^6ü Etvai. oh 6eE 6E ka^ßavEiv ^ox0^Qav £m^v xai 6iE^0aQ^Ev^v, oü6’ Ev kumaig; äÖQiotog yaQ r| toiahtr], xa0amEQ ta umaQxovta aht^. Ev toig Exo^Evoig 6E mEQi t^g khmr|g Eotai qavEQmtEQov. (»Ferner wird das Leben des Lebendigen durch das Vermögen der Wahrnehmung bestimmt, bei den Menschen durch [das Vermögen der] Wahrnehmung oder des Den­ kens. Das Vermögen aber wird auf die Tätigkeit zurückgeführt, denn das eigentliche ist die Tätigkeit. So scheint also das Leben wesentlich auf dem Wahrnehmen oder dem Denken zu beruhen. Das Leben gehört aber zu dem an sich Guten und Angenehmen. Denn es ist bestimmt [umgrenzt], und das Bestimmte [Umgrenzte] gehört zur Natur des Guten. Was aber von Natur aus gut ist, ist es auch für den Tugendhaften. Also scheint das Leben auch für alle angenehm zu sein. Man darf dabei nicht an ein schlechtes und verdorbenes oder an ein kummervolles Leben denken. Denn einem solchen fehlt es an einer Bestimmtheit [Umgrenztheit] ebenso wie seinen Attributen. Im Folgenden wird klarer, was wir mit dem Kummer meinen« 1170 a 16-25). Vgl. auch 1.6.1098 a 2; De an. II.2.413 b 1, 414 b 18; Prot. B 80. 108 Vgl. NE I.6.1098 a 5-7; De an. II.5.417 a 22-417 b 1; Met. IX.8.1050 a 7-10; 1051 a 29 sowie Prot. B 81-82. ^ 297

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sage, in der Aristoteles von dem Zusammenhang zwischen Fähigkei­ ten und Tätigkeiten zu der Feststellung übergeht, daß das Lehen zu dem an sich Guten und Angenehmen gehöre, da es umgrenzt sei, das Umgrenzte seinerseits ein Kennzeichen der Natur des Guten sei.109 Vermutlich geht es Aristoteles hier zunächst um den Zusammen­ hang zwischen den jeweiligen Tätigkeiten des Lehens, nämlich der Wahrnehmung und des Denkens einerseits und dem Guten im Sinne des Erstrebenswerten andererseits intendiert. Fragt man hei einem Lebewesen, worum es ihm in seinen Tätigkeiten jeweils geht, so wäre die Antwort darin gelegen, daß das, wonach es letztlich streht, sein Lehen, näherhin sein gutes Lehen ist. Daß das Lehen dahei als an sich Gutes und Angenehmes hestimmt wird, erklärt sich aus dem Strehenscharakter der jeweiligen Tätigkeiten. Mit der Behauptung, daß das Lehen zu dem an sich Guten gehört, wird lediglich hetont, daß das xeko5 der Lehenstätigkeit sich auf das Lehen im ganzen beziehen soll.110 In der sich anschließenden zweiten Überlegung hegründet Aristote­ les, weshalh das Lehen für den Menschen im Allgemeinen »wün109 Bereits an früherer Stelle, NE II.6.1106 h 29-30, hatte Aristoteles eine ähnliche Be­ stimmung in Anlehnung an die Pythagoreer gehraucht. Hier heißt es, das Schlechte sei dem Unhegrenzten zugeordnet und das Gute dem Begrenzten. (Vgl. NE X.4.1174 a 14­ 16). Diese Auslegung findet sich hereits hei Stewart: Notes on the Nicomachean Ethics, S. 389 (zu 1170 a 24). 110 Wir lassen hier eine eine eingehende Erläuterung, inwiefern das Umgrenzte ein Kennzeichen der Natur des Guten sei, außen vor. Bereits an früherer Stelle, NE II.6. 1106 h 29-30, hatte Aristoteles eine ähnliche Bestimmung in Anlehnung an die Pythagoreer gehraucht. Hier heißt es, das Schlechte sei dem Unhegrenzten zugeordnet und das Gute dem Begrenzten. (Vgl. NE X.4.1174 a 14-16). Diese Auslegung findet sich hereits hei Stewart: Notes on the Nicomachean Ethics, S. 389 (zu 1170 a 24). Eine Erklä­ rung, die sich in diesem Kontext anhietet, könnte sich darauf stützen, daß Aristoteles an anderer Stelle in erkenntnistheoretischer Perspektive ausführt, daß Wahrnehmung und Denkenjeweils die Aufnahme einer Erkenntnisform der Dinge implizieren (Vgl. De an. II.12 und III.4). In diese Richtung geht schon ein Vorschlag von Stewart: Notes on the Nicomachean Ethics, S. 390. Zu erkennen vermag der menschliche Geist erst durch eine aus dem Sinnlichen stammende Erkenntnisform, die ihn aktuiert. Und generell gilt für die Aristotelische Erkentnislehre, daß etwas nur insofern erkennhar ist, als es verwirk­ licht, aktuiert, ist, nicht aher insofern es nur in Potenz ist. Die Bestimmtheit des Er­ kenntnisvermögens macht es hingegen vollständig und auch gut, insofern es aktuiert ist, und keine Potentialität kennt (Vgl. Met. VII.10.1035 h 34-1036 a 12; IX.8. 1051 a 18-19. Vgl. zu dieser Interpretation auch Pakaluk, a.a.O., zur Stelle). Dement­ sprechend gälte, daß etwas, dessen Vermögen, ein hestimmtes Ziel zu erreichen, nicht verwirklicht wird, auch als schlecht hezeichnet werden kann. 298

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sehenswert« (atgETÖv), das der glücklichen und tugendhaften Men­ schen sogar am »wünschenswertesten« (atgETmTaroc;) ist.111 Diese unproblematische Überlegung, die sieh mit der Wendung des »wün­ schenswerten«112 auf das stützt, worauf das subjektive Streben aus­ gerichtet ist, knüpft gerade an das an, was in den bisherigen Erörte­ rungen der Frage offen geblieben war. Gefragt war nach dem, was in einem subjektiven Sinne von einem Bedürfnis sprechen läßt. Als wünschenswert wird das Leben bezeichnet, weil es intrinsisch gut und angenehm ist. Von vornherein scheint damit auch bereits an­ gedeutet, daß es Aristoteles mit dem »wünschenswerten« um ein voluntatives Verhalten zum eigenen Sein zu tun ist. In einem zweiten Schritt wird eine Rechtfertigung der Annah­ me, daß das Leben wünschenswert ist, auf dem Wege einer Reflexion über den Bezug zum eigenen Sein hergeleitet, diese Annahme also in den größeren Zusammenhang des selbstbewußten Lebens gestellt: Menschliche Existenz, so heißt es hier, ist selbstbewußtes Leben, denn sie besteht in Wahrnehmung und Denken, beides aber sind selbstbewußte Tätigkeiten. Selbstbewußtsein bedeutet in diesem Zu­ sammenhang, daß der Sehende sich bewußt ist, daß er sieht, der Den­ kende bewußt ist, daß er denkt. Im Vollzug dieser Tätigkeiten wird er sich seines Seins bewußt.113 Man hat zurecht in der Interpretation dieser Überlegung auf die gleichlautende Stelle in De anima hingewiesen.114 Aristoteles will in 111 ei 6’ anrö TÖ ^pv äya0öv xai ^6h (Eoixe 6E xai ex roü mavrac ÖQEyEO0ai anroü, xai ^aXiora roüc EmiEixefc xai ^axaglonc;; rohroic yag o ßloc; a'iQETmraroc;, xai r| rohrmv ^axaQimrarr| £rnf|). 1170 a 25-29. 112 Gigon übersetzt den Ausdruck a'iQETÖv mit »wünschenswert«, Rolfes mit »begeh­ renswert«, Dirlmeier mit »höchster Gegenstand der Wahl«. Bei Gauthier/Jolif ist von »desirable« die Rede. 113 o 6’ ÖQÖv öri öqü alo0avErai xai o äxohmv öri axonei xai o ßa61trnv öri ßa61£ei, xai Emi röv akkmv o^olmc Eori ri tö a’io0avö^Evov öri eveqyoü^ev, more aio0avoi^E0’ av öri a’io0avö^E0a xai voof^ev, öri vooü^ev. tö 6’ öri a’io0avö^E0a ^ vooü^ev, öri Eo^Ev; tö yag elvai ^v aio0avEO0ai ^ voefv. (»wenn nun der wahr­ nimmt, der sieht, daß er sieht, und hört, daß er hört, und als Gehender wahrnimmt, daß er geht, und wenn es bei allem anderen ebenso eine Wahrnehmung davon gibt, daß wir tätig sind, so daß wir also wahrnehmen, daß wir wahrnehmen, und denken, daß wir denken: und daß wir wahrnehmen und denken, ist uns ein Zeichen, daß wir sind [denn das Sein war eben Wahrnehmen oder Denken]«, 1170 a 29-1170 b 1). Vgl. De an. III.2.425 b 12-25. De somno 2.455 a 15-25. De sensu 7.448 a 26-30. 114 Vgl. die Exposition des Problems in De an. 425 b 12 f.: ’Emei 6’ aio0avö^E0a öri ÖQö^Ev xai äxoho^ev, ävayxr| ^ r^ ö^ei aio0avEO0ai öri öqü, ^ ErEga. Daß es sich bei der Reflexion auf sich selbst um etwas handelt, was erst innerhalb einer besonderen ^ 299

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dieser Schrift ausgehend von der Feststellung, daß mit jeder Sinnes­ wahrnehmung eine Selhstwahrnehmung einhergeht, zeigen, daß letztere weder selbst eine Sinneswahrnehmung sein kann noch daß sie einem anderen, von der primären Wahrnehmung zu trennenden Wahrnehmungsvermögen entspringt. Dies nämlich würde in einen infiniten Regreß führen, insofern die sekundäre Wahrnehmung eine weitere erforderlich machen würde, die wiederum sie erfassen würde. Aristoteles führt die Schwierigkeit einer Lösung zu, indem er im Wahrnehmen eine zweifache Bedeutung unterscheidet: den (primä­ ren) Akt des Wahrnehmens, der auf das spezifische Wahrnehmungs­ objekt gerichtet ist, und den (sekundären) Akt oder das Begleitwissen darum, daß man etwas wahrnimmt. An dieser Aristotelischen Ein­ sicht in den reflexiven Charakter der menschlichen Wahrnehmung ist festzuhalten, daß sie an vorgängige nach außen gerichtete Wahr­ nehmungsakte gebunden ist und deshalb auch nicht zu einer unab­ hängig von ihnen sich konstituierenden Selbsterkenntnis führen kann.115 In der NE wird dieser reflexive Charakter der Wahrnehmung noch dahingehend erweitert, daß nunmehr auch andere Tätigkeiten wie das Wahrnehmen und Denken, zu denen es jeweils eine beglei­ tende Wahrnehmung gibt, mit einbezogen werden. Auf diese primä­ ren Akte bleibt das Wissen um die eigene Existenz bezogen. Der im Zusammenhang unserer Frage, inwiefern der Tugend­ hafte auch in einem subjektiven Sinne der Freunde um seines Glücks bedarf, entscheidende Schritt der Argumentation stellt nun die dritte Überlegung dar. Hier führt Aristoteles aus, da man sich in den zuvor genannten Akten seines Lebens als etwas Angenehmes bewußt wird. Denn, so heißt es weiter, sich bewußt zu sein, daß man ein Gut be­ sitzt, ist angenehm. Und das Bewußtsein, daß man lebt, ist gleichbe­ deutend mit dem Bewußtsein, daß man ein Gut besitzt. Vorzugswei­ se für die Tugendhaften wird das Leben lustvoll sein, da sie in sich »das an sich Gute« wahrnehmen und sich daran freuen.116 Blickwendung zutage tritt, wird in Met. XII.9.1074 b 35 angemerkt: »Die Wissenschaft, die Sinneswahrnehmung, die Meinung, das Denken haben offenbar immer etwas ande­ res als sich selbst zum Gegenstand, sich selbst aber nur nebenbei«. 115 Vgl. dazu und zu dem Problem des neuzeitlichen Selbstbewußtsein nach wie vor die Studie von Klaus Oehler: Die Lehre vom Noetischen und Dianoetischen Denken bei Platon und Aristoteles. Ein Beitrag zur Erforschung der Geschichte des Bewußtseins­ problems in der Antike. 2. Aufl. Hamburg 1985, bes. S. 253-261. 116 to ö’ alaödveaöai otl xwv ^öewv xaö5 ahto; ^haei yd@ dyaödv td ö5 dyaödv hrtd^xov ev eantw alaödveaöai ^öh. aipetöv öe td 300

^ai ^dXiata toig

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Über die Feststellung des reflexiven Charakters der Wahrneh­ mung leitet Aristoteles folglich zu der Annahme über, daß man sich seiner eigenen Existenz inne wird sowie daß die sekundäre Wahrneh­ mung, das Begleitwissen um die primären Akte, zum an sich Ange­ nehmen gehört und deshalb wünschenswert sei. Es kommt entschei­ dend darauf an, den hier über die Erörterungen in De anima hinaus konstatierten Zusammenhang zwischen der reflexiven Wahrneh­ mung der eigenen Existenz und dem Angenehmen zu verstehen. Dies ist schon deshalb wichtig, weil es nach unseren bisherigen Über­ legungen Aristoteles um eine Klärung der Frage geht, inwiefern auch »subjektiv« gesehen der Tugendhafte der Freunde bedarf. Kann dafür allerdings ein Rückgriff auf das Erklärungsmodell in De anima aus­ reichen, wonach wir über die Existenz des Menschen auf dem Wege einer Reflexion über die Wahrnehmungsobjekte erfahren, die ihrer­ seits Aufschluß über die betreffenden Akte und ihre Vermögen ge­ ben, die der Seele zu eigen sind? Wir sagten bereits oben, daß die reflexive Wahrnehmung auf die Akte zurückbezogen bleibt, und dieser Zusammenhang scheint uns nun auch der Aristotelischen Behauptung zugrundezuliegen: Die Ausführung der primären Akte ist Ursache dafür, daß in der re­ flexiven Wahrnehmung das Sein als angenehm empfunden wird. Diesen Zusammenhang mag das Beispiel eines Jungen veranschau­ lichen, der aus unterschiedlichen Gründen sich weigert, sich Grund­ kenntnisse in der Geometrie anzueignen. Er wird, solange er sich sträubt, sich mit der Materie zu befassen und entsprechende Tätig­ keiten auszuführen, nicht entdecken können, daß er möglicherweise eine gewisse Begabung dafür hat. Anders hingegen verhielte es sich, wenn er sich darauf einließe und eine entsprechende Betätigung auf­ nähme. Indem er sich damit befaßt, wird er feststellen können, wozu er imstande ist, und auf diese Weise würde er auch durch seine Tätig­ keit sein Sein verstehen und es so als angenehm erfahren. Hervorzuheben ist hier der analytische Zusammenhang zwi­ schen der Ausübung einer Tätigkeit (primärer Akt) und dem Leben, das in reflexiver Wahrnehmung als angenehm erfahren wird. Des äyaBolg, öti to eivai äyaBöv eotiv ahtolg xai ^6n; onvaloBavö^evoi yaQ ton xa0’ ahtä ayaBoü ^bovtai. (»und wenn das Wahrnehmen, daß man lebt, zum an sich An­ genehmen gehört [denn das Leben ist von Natur angenehm, und ein sich vorhandenes Gutes wahrzunehmen ist angenehm], so ist also das Leben vorzugsweise für die Tu­ gendhaften wünschenswert, da das Sein für sie gut und angenehm ist [denn sie nehmen zugleich in sich das an sich Gute wahr und freuen sich]«, 1170 b 1-5). ^ 301

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weiteren ist in dem Beispiel enthalten, daß sich das Angenehme des Lehens darauf beziehen läßt, daß der Handelnde sich selbst als fähig und imstande versteht, etwas zu tun. Sowohl in De anima als auch in der NE wird in der Beschreibung der reflexiven Wahrnehmung je­ weils der Bezug des Wahrnehmens auf den Wahrnehmenden thema­ tisch, indem Aristoteles vom »wir«, das wahrnimmt, spricht. Man könnte, um einen für Aristoteles gewiß unvorstellbaren Grenzfall zu konstruieren, behaupten, daß ein untätiger Mensch sein Sein nie­ mals als etwas angenehmes empfinden könnte. Daß der Mensch bewußtseinsmäßig auf sein Sein bezogen ist, ließe sich ausgehend von der Ethikstelle schematisch in folgender Weise darstellen: Ein Subjekt S vollzieht den Wahrnehmungsakt X, und S nimmt wahr, daß S X ausübt. Im ersten Falle, SX, ließe sich auch von der primären Wahrnehmung sprechen, im zweiten Falle, in dem die primäre Wahrnehmung selbst zum Gegenstand einer Wahr­ nehmung wird, also S»SX«, hingegen von einer sekundären Wahr­ nehmung oder vom Begleitwissen des Wahrnehmungaktes. Beide ge­ meinsam konstituieren das, was Aristoteles an dieser Stelle mit dem reflexiven Charakter der Wahrnehmung umschreibt. Der reflexive Charakter der Wahrnehmung konstituiert den Bezug zum eigenen Sein. Wenn zwischen den primären Aktvollzügen und ihrem Begleit­ wissen unterschieden wird, so kann das nicht bedeuten, daß es sich bei letzteren um ein eigenes Vermögen handelt, das gleichermaßen zur Wahrnehmung hinzukommt. Daß das Leben als etwas Ange­ nehmes erfahren wird, ist dabei nach 1170 b 1 dem sekundären Be­ gleitwissen zuzuordnen, das seinerseits wiederum auf die zugrun­ deliegenden Akte zurückverweist. Die Behauptung, daß für die tugendhaften Menschen das Sein als an sich gut und angenehm er­ fahren wird (b 4-5), bezieht sich offensichtlich auf die Akte des Se­ hens, Hörens etc., deren Vollzug ihrerseits das Sein im Sinne des Existierens konstituieren. Insofern bleibt das Wissen darum, daß das Leben angenehm und wünschenswert ist, auf die eigene Existenz bezogen. An die Begründung des Wünschenswerten des Lebens aufgrund des Aktbewußtseins schließt sich unmittelbar im Text die Überle­ gung an, wonach der tugendhafte Mensch sich analog zu sich selbst wie zu seinem Freund verhält. Die Antwort auf die Ausgangsfrage, ob sich der tugendhafte Mensch selbst genügt oder der Freunde be­ darf, wird sich in der Tat daran entscheiden, ob der Nachweis gelingt, daß eine Analogie zwischen der Selbstbeziehung im soeben beschrie­ 302

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benen Sinne und der Beziehung zum Freunde besteht. Diese Analo­ gie kann ihrerseits nur in dem Maße überzeugen, in dem sie in sub­ jektiver Perspektive - und nicht etwa als objektives Erfordernis geltend gemacht werden kann. Anders gesagt: Um einzusehen, daß tugendhafte Freunde wünschenswert sind und man ihrer bedarf, kommt es entscheidend darauf an, von der eigenen Person, und d. h. von ihrem subjektiven Streben statt von einem Erfordernis von Freunden in einem objektiven Sinne auszugehen. Wir werden im Folgenden sehen, wie der Beweis der Angewiesenheit auf Freunde an zentraler Stelle diesen methodischen Gesichtspunkt zu berück­ sichtigen sucht. Um die Angewiesenheit des Tugendhaften auf gute Freunde zu begründen, greift Aristoteles auf die Freundschaftsdefinition des vierten Kapitels zurück,117 indem er sie um die Bestimmung ergänzt, daß der tugendhafte Mensch das Sein des Freundes so oder ähnlich wünscht, wie er es sich selber wünscht. Diese Analogie wird dabei ausdrücklich auf die vorhergehende Einsicht in das Wünschenswerte des eigenen Seins in der reflexiven Wahrnehmung bezogen.118 Of­ fenbar soll hier ausgehend von der reflexiven Wahrnehmung des ei­ genen Seins die Angewiesenheit auf den Freund begründet werden, wobei der entscheidende Ausdruck in diesem Zusammenhang, den diese Analogie eigens hervorhebt, das Mitwahrnehmen (ouvaioödveoöaL) ist.119 Mit dieser Stelle sind freilich noch mehrere Schwierigkeiten verbunden. Man könnte annehmen, daß der Grund, weshalb Aristo­ 117 mg 6E mQÖg Eautöv Exei o ornoubaiog, xai mgög töv qfkov; EtEQog yaQ antog o 91X05 Eotiv. 1170 b 5-7. 118 xaOarnEQ ohv tö antöv Etvai a'tQEtöv Eotiv Exaotm, oütm xai tö töv qfkov, ^ maQamX^oimg. tö 6’ Etvai ^v a'tQEtöv 6ia tö aloOdvEöOai ahtoü ayaOoü övtog. r| 6E toiahtr] aioO^oig ^6Eta xa0’ Eautov. ouvaio0dvEO0ai aga 6el xai ton qAou öti Eotiv, toüto 6E yivoit’ av Ev tm ou^v xai xoivmvEiv köymv xai 6iavoi,ag; (»Wie also für einen jeden sein eigenes Sein wünschenswert ist, so ist es auch das Sein des Freundes oder doch ähnlich. Dessen Sein aber war wünschenswert, weil er sich selbst als gut seiend wahrnimmt; und eine solche Wahrnehmung ist angenehm in sich selbst. So muß es also ein Mitwahrnehmen vom Freunde geben, daß er ist, und dies geschieht in ihrem Zusammenleben und in der Gemeinschaft des Redens und Denkens.« 1170 b 7­ 12). 119 Den Ausdruck benutzt Aristoteles außer in EN 1170 b 4 und b 10 nur selten, so etwa in der EE 1245 b 22 und b 24-25, sowie in Hist. anim. IV. 8.534 b 18. Ferner kommt er in der pseudoaristotelischen Schrift De audibilibus 803 b 36 vor. Auf die zentrale Stelle des Ausdrucks im gegenwärtigen Begründungskontext weisen bereits Pakaluk und An­ thony Price hin. ^ 303

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teles so ausführlich auf das Wünschenswerte des Lehens eingeht, in der Aufdeckung des Selhsthewußtseins, durch welches das Lehen als ein wünschenswertes erfahren wird, zu sehen ist. Nur auf diesem Wege kann Aristoteles in der Folge auch von dem Wünschenswerten des eigenen Lehens zu der des Freundes üherleiten. Eine solche Über­ leitung wäre hingegen nicht möglich, wenn er statt dessen als Aus­ gangspunkt die Urheherschaft angesetzt hätte. Berücksichtigt man die vorhergehenden Überlegungen, wonach inshesondere der Tugendhafte seine Existenz und Sein aufgrund einer vorzüglichen Ausühung seiner Tätigkeiten als angenehm er­ fährt und sich seiner selhst gewahr wird, dann könnte man einwen­ den, daß gerade von diesem Ansatzpunkt aus Aristoteles nicht ein­ sichtig machen kann, weshalh der Tugendhafte noch der Freunde hedarf. Schließlich ist er sich durch seine eigenen vorzüglichen Tätig­ keiten schon dessen hewußt, daß er selher wahrnimmt und andere Akte vollzieht, wie sie im Kontext der Stelle genannt werden. Gerade aher das Selhsthewußtsein markiert in diesem Ühergang zum Wün­ schenswerten des Seins des Freundes die entscheidende Nahtstelle des Beweises. Welche Bedeutung kommt dann aher dem »Mitwahr­ nehmen« zu? Man könnte auf diesen Einwand mit dem Hinweis antworten, daß der Tugendhafte, gerade um seiner eigenen Tätigkeit als einer guten hewußt zu werden, auf das Urteil anderer, für den jeweiligen Sachhereich kompetenter Menschen angewiesen ist. Eine solche The­ se findet sich auch an anderen Stellen des Corpus Aristotelicum,120 und im vorhergehenden Ahschnitt (1169 h 28-1170 a 4) hatte Ari­ stoteles, wenn auch in einer allgemein gehaltenen Formulierung, hereits angeführt, daß wir unsere Nächsten eher hetrachten können als uns selhst.121 Es scheint also, als oh auch im gegenwärtigen Kontext 120 Vgl. 1.3.1095 h 28; Rhet. 1.11.1370 h 33-35; Rhet. II.2.1379 a 36-h 1. 121 Cooper (Aristotle on Friendship, hes. S. 317-324) hehauptet, der Ahschnitt EN 1170a13-h 14 sei in der Argumentation inkonsistent. Das »naturphilosophischere« Argument müsse als »ahortive« (S. 320) hetrachtet werden, denn: »it assumes, altogether without explicit warrant, that a good man will have friends« (S. 318). In der Folge hegründet Cooper seine These mit dem Argument, daß der eigentliche Kern der Aristo­ telischen Beweisführung in EN 1169 h 28-1170 a 4zu sehen ist. Zur Begründung seiner Annahme führt er die Parallelstelle in der MM II.15.1213 a 10-26 an, die auch hier vollumfänglich in der Ühersetzung von Dirlmeier zitiert werden soll: »Wenn man nun den Begriff >Freund< ins Auge faßt und heohachtet, was Wesen und Eigenart des Freun­ des ist - nun, seine Eigenart dürfte darin hestehen, ein zweites Ich (ete^og eyw) zu sein, jedenfalls wenn man sich einen ganz hesonders nahen Freund vorstellt; [und] im Sinne 304

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Aristoteles die strukturelle Angewiesenheit auf Freunde vom man­ gelhaften Selbstbewußtsein der eigenen Tätigkeiten herleitet.122 Dann würde allerdings der Abschnitt gegenüber den bisherigen Ar­ gumenten nur Bekanntes, und dies in unnötig komplizierter Form des Sprichworts >Der ist ein zweiter Heraklesc ist der Freund ein zweites Ich. Da es nun einerseits die schwerste Aufgabe ist, wie einige der großen Weisen gesagt haben, sein eigenes Wesen zu erkennen (to yvtivai avtov), andererseits aber auch die angenehmste - denn ein Wissen von sich selbst haben ist angenehm (to ya@ avtov elöevai qöv) und wir nun aus uns selbst heraus nicht zu einem Bilde von uns selbst kommen können (avtol ^ev ovv avtovg e| avttiv ov övva^eOa OeaoaoOai) - daß wir dies selbst nicht können, wird schon daraus klar, daß wir auf andere schelten und selber gar nicht mer­ ken, wie wir genau dasselbe tun; das kommt vom Wohlwollen (gegen die eigene Person) oder von der (Verblendung der) Leidenschaft; vielen von uns verschattet das (die Besin­ nung), so daß uns kein klares Urteil möglich ist -; wie wir nun, wenn wir unser eigenes Gesicht sehen wollen, durch einen Blick in den Spiegel den Anblick zustande bringen, so müssen wir auch, wenn wir unser eigenes Wesen erkennen wollen, auf den Freund blikken: dann kommen wir zur Erkenntnis (wo^e^ ovv otav OeXw^ev avtol avttiv to rt^oawrtov löeiv, elg to xaton^ov e^ßLe^avteg el'öo^ev, o^oiwg xal otav avtol avtovg ßovXqOö^ev yvtivai, elg tov ^iXov löovteg yvw^ioai^ev av). Denn es ist ja, wie wir sagen, der Freund ein zweites Ich. Wenn es nun angenehm ist, sein eigenes Wesen zu erkennen, diese Kenntnis aber nicht möglich ist ohne einen anderen, den Freund, so braucht, wer sich selbst genügt, die Freundschaft um sich selber zu erkennen (et ovv qöv ^ev to avtov elöevai, tovto ö5 ovx eotiv elöevai avev aXXov ^iXov, öeoit5 av o avta^xqg ^iXiag rt^og to avtog avtov yvw^i^eiv).« Unabhängig davon, ob man die MM für eine Zusammenfassung der Aristotelischen Ethik durch Aristoteles selber oder durch einen Kompilator halten will, kann man Cooper gegenüber zunächst die Wichtigkeit dieser Stelle in diesem Sinne zugestehen, daß eine in der NE nur im begrenzten Umfang erläuterte Bestimmung in der MM aus­ führlich erklärt wird. Daß sie aber zugleich als die einzig konsistente Beweisführung für die Angewiesenheit des Tugendhaften auf Freunde in der NE betrachtet wird, ist nur unter der Voraussetzung einsichtig, daß - wie Cooper annimmt - tatsächlich allein auf dem Wege der Selbsterkenntnis (to avtov yvtivai, 1213 a 15, a 23; elöevai, a 16, a 25; yvo^itetv, a 23, a 26), wie sie in der MM im Vordergrund steht, nicht aber über das in der NE dominierende to aloöaveoöai avtov das Entsprechungsverhältnis erläutert werden kann. Dagegen spricht allerdings, daß es - wie im Folgenden zu zeigen sein wird - durchaus auch für den späteren, umstrittenen Abschnitt der NE eine plausible, in äußerst prägnanter Form vorgetragene, Deutung gibt. 122 Als Beispiele für diese in der Literatur verbreitete Interpretation mögen hier aus­ führlich Gauthier und Stewart zitiert werden. Bei Gauthier heißt es (II, S. 761): »Si nous avons besoin d'amis, ce n'est pas parce que nous possedons la conscience, c'est parce que nous ne la possedons que dans un etat imparfait, voila ce que montrait le premier argu­ ment (1169 b 30-1170 a 4): nous sentons mieux le bien d'autrui que le notre propre, et donc nous en eprouvons plus de joie, fut-il moindre. Voila un des fondements de notre besoin d'amitie et une des raisons pour lesquelles Dieu, lui, n'a pas besoin d'amis: il possede la conscience a l'etat parfait, ou plutot, il est conscience pure (Met, Lambda, 9. 1074 b 33-1075 a 5).« Stewart kommentiert die Quintessenz des Argumentationsgan^ 305

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Zweiter Teil: $1^05 und

Aristoteles’ Theorie der Freundschaft

wiederholen. Vor allem aber würde diese Erklärung im Wesentlichen nichts am instrumentellen Verständnis des Freundes, dessen man be­ darf, ändern. Angesichts dieser Schwierigkeiten mag möglicherweise ein an­ derer Weg mehr zum Verständnis der Stelle beitragen. Gegenüber dem bisherigen Erklärungsmodell, das auf die Bedürftigkeit als Aus­ gangspunkt der Beweisführung rekurriert, kann man das Problem der Selbstgenügsamkeit des Tugendhaften auch so angehen, daß man sich fragt, ob es in seiner Beziehung zu Freunden etwas gibt, das ihr Sein in analoger Weise für wünschenswert erscheinen läßt wie das eigene. So besehen ginge es Aristoteles im dritten Abschnitt um die Klärung der dafür erforderlichen Voraussetzungen. Für die Plausibilität einer solchen Interpretation spricht sowohl die Tatsache, daß Aristoteles an entscheidender Stelle die Freundschaftsbestim­ mung aus IX.4 wiederaufgreift, als auch den Ausdruck der Mitwahr­ nehmung, o'uvaio0dveo6ai, einen Ausdruck, der seine Entspre­ chung in den früheren Reflexionen über das Zusammenleben (on^v) findet. Zunächst könnte man das o'uvaio0dveo6ai auf eine harmlose Weise interpretieren, und dieses Verständnis wird bereits durch seine erstmalige Verwendung in b 4 nahegelegt.*123 Für die Tugendhaften, so heißt es hier, ist das Sein gut und angenehm, denn sie finden Ge­ ges folgendermaßen (Notes on the Nicomachean Ethics, S. 392): »In seeing, Hearing, walking, etc., a man is conscious of himself — of his own existence This perception of self, however, would hardly be possible to man if his only objects of experience were his own sensations [...]. [H]is experience of his own actions would be accompanied by only a dim consciousness of a self distinguished from them. But man is not confined to his own actions. He has a >sympathetic consciousnessc of the actions of his friend — of actions which are still in a sense >his ownc (for his friend is a 8T8905 ahtog), and yet are not in such a way >his ownc as to make it difficult to distinguish >himselfc from them [...]. In other words — it is in the consciousness of the existence of another that a man becmes truly conscious of himself.« 123 Zu Stewarts Vermutung (S. 393), die Verwendung des Begriffs in b 4 stelle eine Interpolation dar, vgl. Gauthier/Jolif II, S. 759. Dirlmeier und Rolfes folgen in ihrer Übersetzung dem Vorschlag Stewarts. In Zeile b 10 übersetzt Dirlmeier onvaio6dveo6ai mit den Ausdruck mit »man muß ein einbeziehendes Bewußtsein haben« (S. 211), Rolfes mit »mithin bedarf es auch eines Bewußtseins vom Dasein des Freundes« (S. 229) und bei Gigon heißt es: »So muß man also vom Freunde mit wahrnehmen, daß er ist«; b 4 lautet in der Übertragung Gigons: »[...] denn sie nehmen zugleich in sich das an sich Gute wahr und freuen sich« (S. 275). Selbst wenn man inb4 eine Interpolation ansetzen müßte, würde dies an unserer Interpretation aufgrund der wiederholten Verwendung dieses Ausdrucks in b 10 nichts ändern. 306

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Die Bestimmung der Selbstliebe: NE IX.7-IX.9

fallen daran, eine gemeinsame Wahrnehmung von dem zu besitzen, was an sich gut ist. Offenbar wird mit dem »Mitwahrnehmen« hier die reflexive Wahrnehmung im Ganzen beschrieben, die nach den vorhergehenden Erörterungen nicht allein durch den einzelnen Wahrnehmungsakt konstituiert wird, sondern ebenfalls das Begleit­ wissen miteinschließt, das ein Subjekt von seinem jeweiligen Akt hat. Dem Mitwahrnehmen würde, wie aus der Wiederaufnahme der Bestimmung des Freundes als einem anderen Selbst hervorgeht, die Vorstellung zugrundeliegen, wonach sich ein jeder der beiden (tu­ gendhaften) Freunde so zum anderen verhält, wie er sich zu sich selbst verhält. Entscheidend ist dabei in der sich anschließenden Folgerung, wonach wie für einen jeden sein eigenes Sein auch das Sein des Freundes wünschenswert ist, der Zusatz »oder doch so ähnlich« (^ napank^oimc;, b 8). Man wird ihn in diesem Zusammenhang dahin­ gehend zu verstehen haben, daß er auf ein Entsprechungsverhältnis hinweist.124 Hatten nun die bisherigen Darlegungen allein Argumen­ te für das Selbstbewußtsein des (tugendhaften) Menschen erbracht, wonach für ihn das Sein wünschenswert ist, so soll dieses nunmehr auch für die Relation des Freundes gezeigt werden. Es ist genau diese Stelle, an der die Wendung vom »Mitwahr­ nehmen« ihre zentrale Bedeutung erlangt. Denn ebenso wie Aristo­ teles bisher das Wünschenswerte des eigenen Seins auf dem Wege einer Reflexion über die Akte des Denkens, den Wahrnehmungen des Sehens, Hörens und der anderen Tätigkeiten bestimmt hatte, soll nunmehr über die gemeinsamen Tätigkeiten gezeigt werden, daß auch das Sein des Freundes wünschenswert ist. Im Text heißt es, daß das Mitwahrnehmen des Freundes, seiner Existenz, im Zusammenle­ ben und in der Gemeinschaft des Redens und Denkens geschieht. Die Formulierung, wonach man vom Freunde wahrnimmt, daß er ist, erinnert daran, daß die Wahrnehmung der eigenen Existenz zuvor ausdrücklich der sekundären, das eigene Sein und Leben erfassenden Wahrnehmung, zugewiesen wurde. In diesem Wissen um die eige­ nen Wahrnehmungen wird sich das Subjekt seines Seins und seines Lebens gewahr. Inwiefern kann die Mitwahrnehmung aber auch als Beweis für die Entsprechung zwischen dem eigenen Sein und Leben 124 Wenig später, in b 15, ist nochmals hinsichtlich der Entsprechung, wie sie zwischen dem Tugendhaften, der sein Sein als wünschenswert erfährt, und dem Freund, der glei­ ches erfährt, von dem »Ähnlichsein« (rta^a^X^aiov) die Rede. ^ 307

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Zweiter Teil: $t^og und $Ata: Aristoteles’ Theorie der Freundschaft

und dem des Freundes gedeutet werden, die für das Problem der Selbstgenügsamkeit vorausgesetzt wird? Dafür bietet sich folgende Interpretation an. Ähnlich wie der Mensch die Tatsache, daß er existiert und lebt, von Akten her ver­ steht, die er vollzieht, nimmt er auch die Existenz des Freundes mit­ tels der gemeinsamen Tätigkeiten wahr, insofern durch das gemein­ same Tätigsein auch der Freund als Subjekt dieser Tätigkeiten aufgefaßt wird. Das Mitwahrnehmen des Freundes in seinem Leben und seiner Existenz ist demnach kein einzelner Akt der Wahrneh­ mung, es entspricht vielmehr der reflexiven Wahrnehmung des ei­ genen Seins. Verdeutlichen läßt sich das schematisch in folgender Weise: Subjekt A nimmt wahr, daß sein Freund B nicht nur die Wahr­ nehmung X hat, sondern auch das damit einhergehende Begleitwis­ sen der Wahrnehmung (A^»B^'B^X'«). Umgekehrt weiß B, daß A nicht nur eine Wahrnehmung hat, sondern sich dieser bewußt ist (B^»A^'A^X'«). Folglich weiß A auch darum, daß B um As Be­ gleitwissen weiß und umgekehrt. Das Mitwahrnehmen des Freundes im Sinne einer gemeinsamen Betrachtungsperspektive erfolgt ent­ sprechend diesem Schema auf der Stufe, auf der sich A bewußt ist, daß B um As Begleitwissen weiß. Auf dieser Ebene entsprechen sich folglich auch Mitwahrnehmen und reflexive Wahrnehmung. Es scheint eben der Aufweis dieser Analogie zu sein, vor dessen Hintergrund auch einsichtig wird, daß ein Mensch sein Sein aus ver­ gleichbaren Gründen wie sein Freund als wünschenswert erfährt. Fragt man, weshalb Aristoteles offensichtlich der sekundären Wahr­ nehmung einen Vorrang gegenüber den primären Wahrnehmungen einräumt, so liegt die Annahme nahe, daß erst in der sekundären Wahrnehmung das Streben nach Bewußtsein der eigenen Tätigkeit festgemacht werden kann. So heißt es im selben Kontext auch, daß das spezifisch menschliche Zusammenleben im Unterschied zu je­ nem der Tiere in der Gemeinschaft des Redens und des Denkens be­ stehe, was auf das soeben dargestellte reflexive Wissen, das allein dem Menschen eigentümlich ist, schließen läßt.125 Damit ist zugleich auch die nachfolgende Passage verständlich. Das zentrale Argument, das Aristoteles hier zur Begründung ein­ 125 oütm yaQ av 6o|ele tö ou^v Emi Tmv äv0Qmmmv XEyEO0ai, xai ov% momEQ Emi Tmv ßooxr^aTmv tö Ev tm anTm vE^EO0at. (»Denn so wird das Zusammenleben bei den Menschen zu verstehen sein und nicht wie beim Vieh, das auf derselben Wiese weidet«, 1170 b 12-14). 308

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führt, weshalb der Freund auch ein Gut im Sinne des Erstrebenswer­ ten darstellt, lautet, daß ebenso wie für den glücklichen Menschen das Sein an sich wünschenswert ist, und es sich ebenso für den Freund verhält, darum gehöre er auch zum Erstrebenswerten. Der glückliche Mensch »bedarf« also deshalb der tugendhaften Freunde, weil deren Existenz für ihn ähnlich wie sein eigenes Sein wünschens­ wert ist.126 Dieses abschließende Argument enthält und verbindet die zen­ tralen Behauptungen, die im bisherigen Verlauf angeführt wurden. Daß das Glück des Menschen in seiner Tätigkeit besteht, ist implizit enthalten in der Behauptung, daß für den glücklichen Menschen das Sein an sich wünschenswert ist. Denn diese Erfahrung verbindet sich, wie oben gezeigt wurde, mit dem Begleitwissen um primäre Wahr­ nehmungen und andere Tätigkeiten. Daß das Sein an sich für den tugendhaften Menschen wünschenswert ist, verweist ferner nicht nur auf die reflexive Natur des Begleitwissens, es enthält zugleich das Streben nach Bewußtsein der Tätigkeit. Und dieses wiederum ermöglicht aufgrund seiner Reflexivität die Analogie zwischen der Selbstbeziehung und der Bezogenheit auf den Freund. Wie man selbst aufgrund der Tätigkeiten, die man vollzieht, versteht, daß man existiert, so gilt entsprechend, daß man ausgehend von den ge­ meinsamen Tätigkeiten über die reflexive Wahrnehmung zur Ein­ sicht kommt, daß für den Freund das Sein vergleichbar wünschens­ wert ist wie für einen selbst. Schließlich kommt hinzu, daß mit dem Aufweis dieser Struktur auch das instrumentelle Verständnis des Freundes umgangen werden kann, insofern in der geteilten Perspektive das Leben und die Tätig­ keit des Freundes ebenso als wünschenswert erfahren wird wie das eigene Sein. Weshalb ist damit auch bewiesen, daß der Glückselige der Freunde bedarf? Als Antwort auf diese Frage böte sich an, daß Aristoteles folgendes beabsichtigt: Ähnlich wie ein Mensch, der al­ lein in seinen primären Wahrnehmungen aufgeht und sein Selbst­ bewußtsein nicht als unterschieden von den jeweiligen Bewußtseins­ gehalten versteht, gilt bezüglich des Mitwahrnehmens des Freundes, daß ein Leben mit Freunden besser ist als allein zu leben. Damit han­ 126 ei 6r| tm ^axaQim to Etvai a'iQEtöv Eoti xa0’ afrtö, äya0öv tfl 9U0EI öv xai ^6u, maQamX^oiov 6e xai to toü qtXo'u eouv, xai o 91X05 tmv a'iQetmv av eIV|. ö 6’ Eotiv aEtm a'iQEtöv, toüto 6ei ürnaQxeiv aEtm, ^ taut^ Ev6er|5 Eotat 6et]Oei aga tm Ei)6ai^ovr]oovti qtXmv omou6aimv. (1170 b 14-19). ^ 309

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delt es sich hei dem Nachweis, daß der Tugendhafte auf Freunde an­ gewiesen ist, nicht um ein irgendwie ohjektiv, von außen kommendes normatives Postulat. Es gilt ahschließend unsere Interpretation gegenüher einem na­ heliegenden Einwand ahzusichern. Auf der Grundlage einer hestimmten Lesart jener Passage, die das neunte Kapitel heschließt (1170 h 14-19), könnte angenommen werden, daß Aristoteles im Gegensatz zu unserer Annahme sehr wohl die Bedürftigkeit als Aus­ gangspunkt der Erklärung dessen heranzieht, daß der Tugendhafte auf Freunde angewiesen ist. Dieser Einwand könnte geltend machen, daß an dieser Stelle Aristoteles seine Definition der Autarkie aus EN I.5.1097 h 14-16 wieder aufgreift. Als autark gilt ihm hier das, »was für sich allein das Lehen hegehrenswert macht und vollständig hedürfnislos« ist. Vorausgesetzt, der glückliche Mensch ist völlig hedürfnislos, dann sind die Reflexionen üher die Angewiesenheit auf Freunde in IX.9 ausschließlich so zu verstehen, daß Aristoteles hier darlegt, was der Tugendhafte durch die Freunde an Gütern hinzu gewinnt.127 Die Stelle, auf die sich der hetreffende Widerspruch hezieht, ge­ hen wir zunächst in eigener Übersetzung wieder: »Wenn nun für den vollkommen Glücklichen das Sein an sich wünschenswert ist, da es von Natur gut und angenehm ist, und wenn es sich darüherhinaus auch ähnlich für das Sein seines Freundes verhält, so wird auch sein Freund ehenso zu den Dingen gehören, die (für ihn) wünschenswert sind. Aher alles für den vollkommen Glücklichen Wünschenswerte muß ihm auch gehören, andernfalls wird er in dieser Hinsicht hedürftig sein. Also hedarf ein jeder, der glücklich ist, der Freunde, die gut sind.«128 127 Als einer der Vertreter dieses Einwandes sei hier Cooper genannt, dessen Hervorhehung der umfangreicheren Selhsterkenntnis, wie sie durch die Freunde erlangt wird, wohl im Kern auf die Frage hinausläuft, was der Glückliche durch seine Freunde an zusätzlichen Gütern gewinnt. Es ist einzuräumen, daß Cooper zwar nicht expressis verbis diesen Einwand erheht, doch scheint mir evident zu sein, daß seine Ausführungen üher die Autarkie des Glücklichen die Idee eines derartigen instrumentellen Verhält­ nisses impliziert. Ausdrücklich hat sich Kraut für die Annahme ausgesprochen, daß in EN 1170 h 14-19 die Autarkiedefinition aus NE I aufgegriffen wird. Vgl. »Aristotle on the Human Good«, S. 140ff., hes. Anm. 55. 128 et ö^ tw ^axa^iw to eivai aipetov eati xaö5 adto, dyaöov tfl 9naei ov xal ^ön, ^a^a^X^aiov öe xal to ton 91X00 eativ, xal o 91X05 twv aipetwv dv el'9 o ö5 eatlv adtW atperov, tonto öet d^d^xeiv adtW, p tant^ evöe^g eatai. öe^aei d^a tw edöai^ov^aovti 9iXwv a^onöaiwv. (1170 h 14-19). Dirlmeier ühersetzt: »Wenn also 310

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Die Bestimmung der Selbstliebe: NE IX.7-IX.9

Der erste Satz kann als Zusammenfassung der vorausgehenden Darlegungen betrachtet werden. Dann wäre er nach unserer Inter­ pretation dahingehend zu verstehen, daß der vollkommen Glückliche auf andere Menschen, die seine Freunde sind, deshalb angewiesen ist, weil er ihr Sein ebenso wie sein eigenes als wünschenswert erfährt. Von dieser Entsprechung zwischen dem eigenen Sein und dem des Freundes, das in beiden Fällen als wünschenswert erfahren wird, hängt es nun in der Folge auch ab, wie man die weitere Behauptung der Passage zu verstehen hat, wonach der Glückliche deshalb der Freunde bedarf, weil ihm andernfalls etwas fehlen würde. Übersieht man, daß Aristoteles diese Entsprechung als Grundlage für seine Fol­ gerung ansetzt, dann läßt sich auch bezogen auf die Freunde, deren der Glückliche bedarf, die Idee eines instrumentellen Verhältnisses nicht umgehen. In einem derartigen Verhältnis aber sind das Gut des Freundes und das eigene Glück verschiedene, einander äußerliche Güter, die einzig und allein durch die Bedürftigkeit des Glücklichen einander zugeordnet werden.129 Hat man sich die Ausführungen in NE IX.9 so weit vergegen­ wärtigt und verdeutlicht, wird auch einsichtig, wovon Aristoteles spricht, wenn er in b 14-19 sagt, daß für den vollkommen Glück­ lichen der Freund zu den Dingen gehört, die (für ihn) wünschenswert sind. Aristoteles bezieht sich hier tatsächlich auf die Bedürftigkeit, doch schließt diese zum einen aufgrund der vorausgehenden Refle­ xionen über die Tatsache, daß man das Sein des Freundes in ähnlicher Weise als wünschenswert wie das eigene erfährt, eine instrumentelle Deutung des Freundes als ein äußeres Gut aus. Zum anderen sollte wohl der abschließende Satz, wonach der Glückliche der guten Freunde bedarf, auch als Hinweis auf das Erfordernis der gemein­ samen Tätigkeiten - das ouvaLO0dveo6aL - verstanden werden. Es gilt in diesem Zusammenhang die Verschränkung des Mitwahrneh­ dem vollendet Glücklichen das Dasein ein Gegenstand der Wahl an sich ist, ein Wert und eine Lust, die von Natur gegeben sind, und wenn fast in demselben Grade das Dasein des Freundes für ihn wählenswert ist, dann ist auch der Freund ein Gegenstand seiner Wahl. Was für ihn aber Gegenstand der Wahl ist, das muß ihm auch zu Gebote stehen - andernfalls wird er in dieser Hinsicht einen Mangel aufweisen. Und wir gewin­ nen als Ergebnis: der Mensch, der glücklich sein soll, braucht wertvolle Freunde.« 129 Diese Entsprechung wird ebenso von Cooper wie von Kraut in ihren Reflexionen über die Autarkie des Glücklichen übersprungen. So stimmt Kraut Coopers Annahme zu, daß Aristoteles es als Gegebenheit vorausetzt, daß der Glückliche der Freunde be­ darf. »Aristotle on the Human Good«, S. 141, Anm. 56. ^ 311

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mens zu berücksichtigen, in deren Folge Aristoteles zu der Folgerung überleiten konnte, daß das Sein des Freundes ähnlich als wünschens­ wert verstanden wurde wie das eigene Sein.130 130 Auch in der LL wird der Behandlung der Autarkie des guten Menschen ein eigenes Kapitel gewidmet. Die Ausführungen in VII.12 setzen mit der gleichen Leitfrage wie in der NL ein. Und wie in der NL wird auch in der LL der entscheidende Ausdruck des O'uvaiaöaveaöai zur Umschreibung der Bezogenheit auf andere tugendhafte Freunde verwendet. Auch in den Schlußfolgerungen kommt Aristoteles, freilich mit anderen Nuancierungen, zum gleichen Resultat: daß der glückliche Mensch der Freunde bedarf. Vergleicht man die Behandlung der Angewiesenheit des glücklichen Menschens auf Freunde, wie sie in den beiden Aristotelischen Lthiken dargestellt ist, so fällt insbeson­ dere auf, daß in der LL der wesentliche Akzent auf dem Nachweis beruht, daß der Bezug zum Freund den glücklichen Menschen keineswegs seiner eigenen Subjektivität ent­ zieht, ja ihn darin nur bestärkt und bekräftigt. Bemerkenswert ist in diesem Zusammen­ hang insbesondere die in der LL vorgenommene Parallelisierung von Gott und dem autarken Menschen (1244 b 22-24; 1245 b 10-19). Inwiefern aber wird durch eine Ge­ genüberstellung göttlicher und menschlicher Selbsterkenntnis auch deutlich, weshalb im Gegensatz zu Gott der Mensch auf Freunde angewiesen ist, um ein glückliches Leben aufs Ganze gesehen führen zu können? Daß Gott zur Lrkenntnis seiner selbst nicht eines anderen bedarf, sondern seiner Dignität es einzig und allein entspricht, daß er sich selbst als das Vorzüglichste erkennt, hatte Aristoteles im zwölften Buch der Metaphysik im Rahmen seiner Gotteslehre ausführlich dargelegt. Diese Überlegungen sind eben­ falls, wenn auch in gedrängter Form, in der LL im Kontext der Autarkie-Stelle präsent (vgl. 1245 b 16-19). Der entscheidende Unterschied zu der Modalität menschlicher Selbsterkenntnis besteht bei Gott darin, daß sein Geistsein nicht als unverwirklichtes Vermögen gedacht werden kann. Bezugnehmend auf die Selbsterkenntnis Gottes hatte Aristoteles in der Metaphysik behauptet, daß sie »bestes und ewiges Leben« sei (1072 b 28). Darin ist die Annahme enthalten, daß sich das Leben Gottes strukturell in Tätigkeiten vollzieht, die ausschließlich um ihrer selbst willen vollzogen werden. Gera­ de weil Gott alles, was er tut, um seiner selbst willen, und nicht um einer noch zu erreichenden Wirklichkeit willen tut, kann sein Leben das beste und ewige Leben ge­ nannt werden. Gerade weil Gott alles, was er tut, um seiner selbst willen, und nicht um einer noch zu erreichenden Wirklichkeit willen tut, kann sein Leben das beste und ewige Leben genannt werden. Diese strukturelle Ligentümlichkeit des göttlichen Seins und Lebens scheint nun im Beweisgang der LL den entscheidenden Gesichtspunkt zu bilden, vor dessen Hintergrund die Selbsterkenntnis und Selbstwahrnehmung für jeden Men­ schen als am meisten wünschenswert erscheint (LL VII 1244 b 26 f. Vgl. auch 1244 b 34). Wenn als das eigentliche Worumwillen des menschlichen Lebens die Lrkennbarkeit des eigenen Seins angesetzt wird, so drängt sich die Annahme auf, daß es in allen Tätigkeiten und Handlungen dem Menschen darum geht, daß er das, was er tut, auch um seiner selbst willen tut, und das wiederum heißt, daß er sich in seinen Tätig­ keiten und Handlungen als Subjekt erfährt. Damit ist allerdings ausschließlich etwas zum Vorrang des Subjekts im Verhältnis zum Freund behauptet. Bezogen auf die Aus­ gangsfrage, ob ein Mensch der tugendhaften Freunde bedarf, würde die umfassende Antwort nunmehr lauten: Zum einen ist es eine strukturelle Ligentümlichkeit des Men­ schen, sich selbst erkennen und verstehen zu können. Zum anderen bedarf er, um die312

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Man wird den Reflexionen über die Freundschaft mit anderen wie mit sich selbst, einem zentralen Lehrstück der Platonischen und Ari­ stotelischen Philosophie, nur gerecht, wenn man drei ihrer wesent­ lichen Merkmale berücksichtigt: ihren Zusammenhang mit Fragen der Selbstverständigung und vernünftigen Lebensgestaltung, die be­ sondere Gestalt menschlicher Subjektivität in interpersonalen Be­ zügen sowie die Voraussetzungen für das Zustandekommen trag­ fähiger sozialer Beziehungen. In der Einleitung hatten wir drei Ausgangsthesen aufgestellt. Um nun deren Wahrheitsgehalt zu überprüfen, beginnen wir mit einer Zusammenfassung dessen, was die vorstehenden Untersuchun­ gen von einigen der frühen und mittleren Dialoge Platons sowie der Freundschaftsbücher Aristoteles' zum Thema Freundschaft und Selbstliebe erbracht haben. Unsere erste These war, daß Freundschaft in der griechischen Ethik zu den zentralen Begriffen der mensch­ lichen Selbstverständigung und Selbstdeutung zählt. Es ist nicht al­ lein die Verklammerung von Freundschaft und dem, was man in letz­ ter Instanz als Gut erstrebt, wie sie Sokrates im Lysis für sich in Anspruch nimmt, derzufolge er sich im Leben am meisten einen Freund wünscht, die diese erste These bestätigen. Ebenso sind es die zur Aporie des Dialogs führenden Fragen, was einer verläßlichen Be­ ziehung zu einem Freund zugrunde liegt. So steht die Bestimmung der im Sinne eines begründeten Sichanvertrauens, demzufolge sich ein Mensch dem anderen aufgrund seiner bestimmten Fähigkei­ ten und Fertigkeiten zuwendet, im Vordergrund. Entscheidend in diesem Zusammenhang ist die Bestimmung der ^iZta analog zur asymmetrischen Struktur des Begehrens: die Relation des Begehrensem Bedürfnis entsprechen zu können, des Freundes, angesichts dessen er sich selbst zu erkennen vermag. Nicht behandelt wird von Aristoteles die Frage, ob man in nichts anderem als in der Beziehung zum Freund sich erkennen kann. ^ 313

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den zum Begehrten beinhaltet, daß der letztere etwas hat, dessen der erste bedarf. Ein reziprokes Verhältnis wird gesucht, das anderer Art ist als jenes, in der Begehrender und Begehrter zueinander stehen. Die Untersuchung der entsprechenden Passagen im Gorgias er­ gaben, daß gerade durch die Darlegungen der Reflexivstrukturen des Handelns und Herrschens die Selbstbeziehung auf dem Wege einer Reflexion über die Bestimmung der Beziehung zu anderen thema­ tisch wurde. Die Metapher der »psychischen Gesundheit« der Seele versteht sich ebenso wie die Bestimmung des moralischen Handelns, das der Bedingung der Selbstübereinstimmung und dem Einssein genügen muß, wie wir anhand des den Dialog beschließenden My­ thos dargelegt haben, nicht aus sich selbst heraus. Das Einssein be­ zieht sich in letzer Instanz auf ein das eigene Leben insgesamt auf Wahrheit ausrichtendes, überprüfendes Wissen. Die Selbstüberein­ stimmung des Handelnden steht dabei für die Verfassung eines Men­ schen, der dieses Wissen nicht besitzt, jedoch über die entsprechende Disposition für den Erwerb dieses Wissens verfügt. Entscheidend ist in diesem Dialog, daß mit der Metapher des »mit sich Befreundet­ seins«, die eine Disposition des Menschen umschreibt, die entspre­ chende Voraussetzung für den Erwerb des ethischen Wissens be­ schrieben wird. Unserer Untersuchung des Symposion wie des Phaidros lag die - gewiß die Intentionen der Ausführungen des Dialogs nicht in ihrer Gesamtheit widerspiegelnde - Annahme zugrunde, daß es in beiden Dialogen jeweils auch um die Frage der Verschränkung von Eros und Freundschaft geht. Diese Annahme erwies sich insofern als fruchtbar, als auf diesem Wege die Erörterung des Entstehens tragfähiger inter­ subjektiver Beziehungen zum Vorschein kam. So konnte die Freund­ schaft als spezifisches »Werk« des Eros interpretiert werden. Darüberhinaus wurden sowohl im Symposion als auch im Phaidros die Verschränkung intersubjektiver und selbstreferentieller Bezüge of­ fenbar. Ein weiteres Thema ist im Phaidros die Reziprozität der Be­ ziehung zwischen Liebendem und Geliebtem, mit deren Erörterung die Vorstellung der Autarkie und Unbedürftigkeit als dem eigentlich erstrebenswerten Gut zurückgewiesen wird. Beides, Autarkie und Angewiesenheit auf andere, können unserer zweiten Ausgangsthese zufolge als Fragen an die richtig verstandene Reziprozität unter Menschen aufgefaßt werden. Freundschaft wird im Zusammenhang der Bestimmung der Ge­ rechtigkeit in der Politeia sowohl in transitiver wie intransitiver Ver­ 314

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wendung zum Thema. Als bemerkenswert erwies sich hier nicht al­ lein die Einführung des Ausdrucks ^lAta, sondern zuerst sein Aus­ schluß aus der Gerechtigkeitsdefinition im ersten Buch: Als untaug­ lich für die gesuchte Bestimmung der Gerechtigkeit zeigte sich der Ausdruck insbesondere in seiner gängigen, formelhaften Verwen­ dung des »Freunden Gutes, Feinden Schlechtes tun«. Diese von Polemarchos vertretene Handlungsmaxime wird aus Gründen der mög­ lichen Zweifel, wer wahrhaft ein Freund sein kann, zurückgewiesen. Polemarchos' Vorstellung nach war der Freund einer, der aufgrund spontaner Zuneigung gewählt wurde. Wenn dennoch im weiteren Verlauf der Untersuchungen auf Freundschaft Bezug genommen wird, so deshalb, weil nunmehr ein Weg gefunden zu sein scheint, auf dem sich der »wirklich gute Freund« vom Feind unterscheiden läßt. Erforderlich dafür war eine Bestimmung des wahrhaft Zuträglichen. In unserer Untersuchung des vierten Buches kam es darauf an, zu zeigen, daß die Bestimmung der Besonnenheit, die am Makrogebilde der Polis als richtige Relati­ on zwischen den Herrschenden und den Beherrschten gewonnen wird, nicht zufälligerweise an interpersonalen Bezügen festgemacht wird. Besonnenheit, so die Definition, impliziert ebensowenig eine Kontrolle der Herrschenden über die Beherrschten wie eine von Ver­ nunft über Emotionen. Vielmehr geht es um die gemeinsam von Herrschenden und Beherrschten geteilte Auffassung darüber, wer zu herrschen habe. Dies soll die eigentliche Bedeutung der Redensart »stärker als man selbst« sein. Diese Vorstellung der Reziprozität ist es auch, die der Wendung vom »mit sich Befreundetsein« ihren Sinn verleiht. Auf die Wirkungsgeschichte dieses Topos der Selbstbeherr­ schung und der damit einhergehenden Wendungen »Ordnung« (xoopoc;), »Eintracht« (opovota) und »Harmonie« (appovta) ist mehrfach hingewiesen worden. Man hat in bezug auf die Plato­ nischen Darlegungen zu der Formel »stärker als man selbst« behaup­ tet, daß für die nachfolgende Rezeption dieser Vorstellung auch die entscheidende moralische »Quelle des Selbst« verbunden sei, wonach der Mensch gut ist, wenn die Vernunft herrsche, böse hingegen, wenn seine Begierden die Oberhand gewinnen.1 In unserer Unter­

1 Vgl. Charles Taylor: Sources of the Self. The Making of the Modern Identity. Cam­ bridge 1994, bes. 6. Kapitel. ^ 315

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suchung hat sich ergehen, daß zwar nicht die zentrale Bedeutung dieser Metapher hestritten werde kann, Platon seihst aher hereits wichtige Korrekturen anhringt. Auch Aristoteles kommt in seinen Ausführungen zur »Selhstliehe« des Tugendhaften auf den in der Politeia im Zusammenhang der Erörterung der Selhstheherrschung grundlegenden Phänomenhestand von »Zwietracht« der Seele zurück. Anders als hei Platon wird hier jedoch erstmals eine eigene, explizite Begründung gegehen. Um zu zeigen, wie Aristoteles die im Zusammenhang seiner Diskus­ sion der Selhstliehe des Tugendhaften heschriehenen Phänomene der Ühereinstimmung mit sich selhst, des »Einsseins« hzw. der »Zwie­ tracht« und ähnliche Wendungen versteht, war eine durchgehende systematische Interpretation der heiden Freundschaftshücher erfor­ derlich. Nur auf diesem Wege konnte der Nachweis erhracht werden, daß die heschriehenen Phänomene nicht für sich stehen, sondern innerhalh einer eigenen und neuen Theorie einzuordnen sind. Das Erfordernis einer ausführlichen Diskussion der Freund­ schaft um der menschlichen Selhstverständigung willen hringt Ari­ stoteles nicht nur zu Beginn seiner Ahhandlungen mit der Be­ hauptung zum Ausdruck, daß diese zu den größten Gütern (NE VIII.1.1155 a4f.) gehöre. Es wird nicht weniger deutlich in der Zu­ sammenfassung, in der das erzielte Ergehnis der Untersuchungen direkt auf die spezifische Weise menschlichen Zusammenlehens im Gegensatz zu jenem der Tiere hezogen wird. Das Ausmaß der Freundschaftsahhandlungen in allen drei ethischen Pragmatien he­ legt üherdies den Rang, der diesem Untersuchungshereich von Ari­ stoteles zugestanden wird. Unsere zweite These hehauptete die Verschränkung von Selhstheziehung und Beziehung zu anderen Menschen. Hier gilt es in Kürze die wichtigsten Aspekte zu rekapitulieren. Die formalen Vorüherlegungen zur Struktur des »Liehens« und seines Referenzohjektes ließen deutlich werden, auf welchem Wege Aristoteles diesen Phänomenhereich in seine Ethik einhezieht. In seinem Vorgehen wurde inshesondere deutlich, inwiefern die ^lAta mit Hilfe der für die Philoso­ phie charakteristischen Formen der Begründung zum Gegenstand einer Theorie erhohen werden kann. Dies erfolgt in einem ersten Schritt auf dem Wege der Analyse ihrer notwendigen Entstehungshedingungen. Dazu ist nicht allein das hetreffende Referenzohjekt zu 316

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rechnen, sondern ebenfalls das ihm zugrundeliegende Streben. Darüberhinaus ist in diesem Zusammenhang die formale Bestim­ mung der Reziprozität unter Freunden zu nennen. Unsere Unter­ suchung versuchte zu zeigen, daß die Aristotelische Unterscheidung der Nutzen- und Lustfreundschaften von jenen unter Tugendhaften zunächst unter formalen, nicht schon unter inhaltlichen Gesichts­ punkten vorgenommen wurde. Daß die letztere »Art« der Freund­ schaft den beiden anderen gegenüber vorzuziehen sei, ist nach unse­ rer Interpretation das Ergebnis einer Reflexion über die korrekte Interpretation der Relationen. Und eine solche ist nach Aristoteles unter Freunden allein in dem Falle gegeben, in dem der Freund (und seine ihn auszeichnenden Eigenschaften) nicht um der Beziehung willen geschätzt wird, in der er zum Liebenden steht. Man würde folglich die entsprechenden Ausdrücke wie »zufällig« und »an sich«, die Aristoteles zur Charakterisierung der unterschiedlichen Freund­ schaftstypen gebraucht, mißverstehen, wenn man sie nicht auf das infragestehende Problem der korrekten Bestimmung der Reziprozi­ tät unter Menschen bezieht. Diese Interpretation erwies sich im Blick auf unsere zweite und dritte Ausgangsthese aus zwei Gründen als gewinnbringend. Zum einen wird so im Ausgang von intersubjektiven Bezügen das Er­ fordernis einer eingehenderen Klärung ihrer Voraussetzung in der Selbstliebe des Tugendhaften deutlich. Gerade die Eigenart der Freundschaft der Tugendhaften, die einander um ihrer selbst willen (xa6’ auxov) wertschätzen, bedarf einer Begründung, die nicht aus der Reziprozität ihrer Beziehung hergeleitet werden kann. Zum an­ deren kommt an dieser Stelle auch unsere dritte These zum Tragen, wonach die authentische Form der Selbstliebe in letzter Instanz auf das Entstehen solcher Freundschaften abzielt, in der das Gut eines Freundes zugleich als das eigene Gut verstanden wird. Erst die um­ fassende Begründung dieser letzten Annahme in den Schlußkapiteln des neunten Buches wird man überdies als definitive Bestätigung der Vorläufigkeit der Nutzen- und Lustfreundschaft verstehen dürfen, wie sie in den ersten Kapiteln des achten Buches von Aristoteles be­ hauptet wurde. Insbesondere das zuletzt erwähnte Problem klang ebenso im Platonischen Lysis wie im Phaidros an, doch erst Aristote­ les entwickelt dafür eine eigene philosophische Theorie. Daß die konstitutiven Aspekte des Selbstverhältnisses innerhalb der Bestimmung der Freundschaftsverhältnisse herausgestellt wer­ den, ist auch für das Verständnis der authentischen Selbstliebe des ^ 317

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Tugendhaften wichtig, wie sie Aristoteles in NE IX.4 darlegt. Ent­ gegen anderen Interpretationen wird nach unserem Verständnis in diesem Kapitel ausschließlich eine Entsprechung zwischen dem freundschaftlichen Verhalten der Tugendhaften und dem Selbstver­ hältnis des einzelnen begründet. Gerade hinsichtlich der Kennzeichen, die Aristoteles in IX.4 für den Tugendhaften anführt, läßt sich eine weitgehende Aufnahme je­ ner phänomenologischen Beschreibung erkennen, wie sie von Platon in der Politeia in bezug auf den Zustand des Gerechten bzw. des Ungerechten geleistet wurde. Daß Aristoteles die Metapher der »Freundschaft mit sich selbst« nur zögerlich gebraucht, haben wir als einen Hinweis auf eine noch zu erbringende Fundierung des Selbstbezugs interpretiert. Die vier Charakteristika der Freundschaft wie des authentischen Selbstbezugs können überdies - in Analogie zu entsprechenden Ausführungen Platons in der Politeia - als die Vorstellung jener Bedingungen interpretiert werden, unter denen das Ideal des authentischen Selbstbezugs als Einssein der Person mit sich selbst ebenso wie die Freundschaft unter Tugendhaften realisiert werden kann. So besehen würde sich Aristoteles hierin um eine Rechtfertigung der Platonischen Formulierung vom »mit sich Be­ freundetsein« bemühen, eine Wendung, wie sie dem vorherrschen­ den Sprachgebrauch ungewöhnlich erschienen sein mag. Auch die Untersuchung von anderen reflexiven Wendungen wie etwa jene des Sich-Unrechttuns durch Aristoteles lassen einen zögerlichen Umgang erkennbar werden. Man würde allerdings den Sinn von Aristoteles' Zurückhaltung gegenüber dem Gebrauch reflexiver Wendungen verkennen, würde man diese als eine Distanznahme zu Platon interpretieren. Es scheint Aristoteles indessen darauf anzu­ kommen, eine einsichtige Fundierung dieser selbstbezüglichen Ver­ hältnisse zu suchen. Fragt man, was der Aufweis der vier Charakteristika im Verhält­ nis unter Tugendhaften wie im Selbstbezug leistet, so bietet sich fol­ gende Antwort an. Entscheidend ist Aristoteles' Überlegung, daß das reziproke Verhältnis zwischen Freunden nicht gemäß einer asym­ metrischen Struktur, wie sie etwa zwischen dem Begehrenden und dem Begehrten vorliegt, gedacht werden kann. Vermieden werden soll mit dem Aufweis dieser Charakteristika gerade jenes Modell, das den einen Menschen als angewiesen auf den anderen beschreibt. Insofern liegt also ein wichtiger Bezug zu Platons Diskussion der Fehlform interpersonaler Bezüge vor, wonach der eine etwas hat, des­ 318

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sen der andere bedarf: Beide würden nur im komplementären Ver­ hältnis von Mangel und Vermögen Zusammenkommen. Unsere zentrale dritte These zum Verhältnis von Freundschaft und Selbstliebe besagt, daß die authentische Selbstliebe des Tugendhaften solche Freundschaften erwirkt, in denen das Gute des Freundes als eigenes Gut verstanden wird. Sie kann man bereits anhand der Übergangskapitel zwischen IX.4 und IX. 8 belegen. Zunächst erwei­ sen diese Reflexionen über Wohlwollen, Eintracht und Wohltun den praktischen Primat des Selbstverhaltens gegenüber jenem zu Freun­ den, indem sie in zunehmender Bedeutung die reflexiven Kom­ ponenten und autoteleologischen Dimensionen des Handelns darle­ gen. Sie münden schließlich in die im achten Kapitel ausdrücklich gemachte Behauptung, daß der Tugendhafte sich mehr als andere lieben solle. Wenn Aristoteles an dieser Stelle die Besonderheit dieser vorzü­ glichen Selbstbeziehung gegenüber dem gängigen Gebrauch des Ausdrucks »Selbstliebe« rechtfertigt, arbeitet er mit vergleichbaren Wendungen, die zuvor Platon in der Politeia zur Charakterisierung des gerechten Handelns benützt hatte. Auch in bezug auf die Aristo­ telische Bestimmung der Selbstliebe des Tugendhaften gilt, daß der Mensch als »beherrscht« oder »unbeherrscht« bezeichnet wird, »je nachdem der Geist herrscht oder nicht, da dieser das eigentliche Selbst ist« (xal eyxpax^c; 8e xal axpax^c; keyexaL xm xpaxetv xov voüv ^ mc xonxon exdoxon övxoc;, EN IX.8.1168 b 34f.). Diese Selbstübereinstimmung und positive Aufwertung des Selbstbezugs erfährt allerdings ihre letzte Rechtfertigung erst durch den Aufweis, daß die richtig verstandene Selbstliebe des Tugendhaften jene ist, die auf das Zustandekommen von Beziehungen jener Art hinwirkt, in der das Gut eines Freundes als eigenes Gut aufgefaßt wird. In unserer Argumentationslinie läßt sich dementsprechend auch das Autarkie­ Kapitel IX.9 keineswegs ins Abstruse abschieben, es stellt vielmehr einen Höhepunkt in den Ausführungen über Selbstliebe und Freund­ schaft dar. Und dies nicht nur aufgrund des inneren Zusammenhangs von Selbstliebe und Freundschaft zu anderen, sondern auch deshalb, weil Aristoteles an dieser Stelle auf dem Wege einer Reflexion über das »Mitwahrnehmen« (onvaLO0dveo6aL) einsichtig zu machen ver­ sucht, wie es möglich ist, das Sein des anderen Menschen analog zur Wahrnehmung des eigenen Seins als ein Gut zu erfassen. Darin liegt die eigentliche theoretische Leistung des Aristoteles, durch die er die ^ 319

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Platonischen Problemstellungen nicht nur fortführt, sondern sie auf ein neues Reflexionsniveau bringt. Offenbar soll hier ausgehend von der reflexiven Wahrnehmung des eigenen Seins die Angewiesenheit auf den Freund begründet wer­ den, wobei der entscheidende Ausdruck in diesem Zusammenhang, der diese Analogie eigens hervorhebt, das Mitwahrnehmen ist. Da­ mit wird in systematischer Hinsicht Entscheidendes für eine Theorie der Freundschaft und der sie fundierenden Selbstliebe erbracht. Ge­ genüber einem Erklärungsmodell, das Freundschaftsbeziehungen auf die eigene Bedürftigkeit zurückführt, gelingt Aristoteles der Nach­ weis, daß es in einer Beziehung zu Freunden etwas gibt, das ihr Sein für ebenso wünschenswert erscheinen läßt wie das eigene. Die Mit­ wahrnehmung, so ergab unsere Interpretation, fungiert als der ent­ scheidende Beweis für die Entsprechung zwischen dem eigenen Sein und Leben und dem des Freundes. Man wird den Aristotelischen Ausführungen zur Selbstliebe des Tu­ gendhaften in ihren letzten Konsequenzen nur dann gerecht, wenn man sie nicht allein als eine Theorie betrachtet, sondern, um ein Diktum von Ingemar Düring abzuwandeln, sie als »Erscheinungsfor­ men des Guten und der Struktur des ethischen Handelns« aner­ kennt.2 Unserer Interpretation der Kapitel IX.4-IX.9 lag die Annah­ me zugrunde, daß es Aristoteles in der Herausstellung der authentischen Selbstliebe des Tugendhaften darauf ankommt, daß die Selbstliebe auf das Entstehen solcher Freundschaften abzielt, in der das Gute eines Freundes als eigenes Gut aufgefaßt wird. Damit kann man in seinen Reflexionen über die Selbstliebe den von Aristoteles im ersten Buch der NE erhobenen Anspruch exem­ plarisch eingelöst sehen, daß die Ethik das vernunftgemäße (npä^tc; xatd koyov) und sittliche Handeln zum Gegenstand hat (NE I.1.1094b 27-1095 all). Es ist hier nicht der Ort, der Frage nach der Tragweite einer so verstandenen philosophischen Ethik, die zu­ gleich eine rationale wie eine auf die menschliche Praxis gerichtete Disziplin sein will, nachzugehen.3 Doch sollen abschließend einige 2 Ingemar Düring: Aristoteles. Darstellung und Interpretation seines Denkens. Heidel­ berg 1966, S. 458. Düring beschreibt Aristoteles' Ethik als eine »theoretische Analyse der Erscheinungsformen des Guten und der Struktur des ethischen Handelns«. 3 Zur Besonderheit der Aristotelischen Ethik, die über das kognitive Interesse an der menschlichen Praxis hinaus das sittliche Handeln selbst zum Gegenstand macht, vgl. Otfried Höffe: Ethik als praktische Philosophie - Die Begründung durch Aristoteles. 320

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der wesentlichen Implikationen der Theorie der Selbstliebe auf­ gezeigt werden, die ihre Leistung über eine lediglich doxographische Bestandsaufnahme hinaus auch für eine Diskussion mit zeitgenös­ sischen Ansätzen, insbesondere jenen einer neu zu formulierenden Tugendethik, fruchtbar machen könnte.4 Beginnen wir mit dem, was diese Theorie nicht zu leisten beab­ sichtigt. An erster Stelle ist hier zu nennen, daß weder die Plato­ nische Wendung des »mit sich Befreundetseins« noch die Aristote­ lische Bestimmung des Selbstliebenden losgelöst und unabhängig von den intersubjektiven Bezügen zu interpretieren sind. Das Thema der Selbstliebe wird nicht nur in einem sozialphilosophischen Kon­ text virulent, es bleibt auf diesen Zusammenhang auch deshalb verwiesen, weil die Selbstliebe in letzter Instanz auf das Entstehen tragfähiger interpersonaler Beziehungen hin bezogen ist. Bei allen Differenzen in den Begründungen scheint mir dieser Bezug sowohl bei Platon als auch bei Aristoteles in letzter Instanz gewahrt zu sein. Ausgangspunkt der Bestimmung der Selbstliebe bildet jeweils eine soziale Praxis, die nunmehr darauf befragt wird, inwiefern das Gute eines Freundes auch als eigenes Gut aufgefaßt zu werden vermag. In der Hinsicht dieser Fragestellung läßt sich tatsächlich auch ein Bogen vom Platonischen Lysis zu NE IX.9 schlagen. Es hieße die Vorläufig­ keit zentraler Wendungen übersehen, wie sie Platon und Aristoteles zur Beschreibung des Selbstbezüglichkeit gebrauchen, wollte man diese aus ihrem Begründungskontext herausnehmen und isoliert für eine Theorie der Selbstliebe, unabhängig von der umgreifenden so­ zialen Praxis, geltend machen. Das gilt insbesondere im Hinblick auf jene modernen Interpretationsansätze, die in der affektiven Selbst­ übereinstimmung, in dem Einssein der Person, die über sich selbst im Sinne ihrer Strebungen und affektiven Regungen herrscht, gleichsam ein antikes fundamentum inconcussum der griechischen Ethik annehmen. Will man die Rolle von Freundschaft und Selbstliebe angemes­ sen in der griechischen Ethik verorten, so hat man sich ihren syste­ In: ders.: Ethik und Politik. Grundmodelle und -probleme der praktischen Philosophie. Frankfurt a.M. 1979, S. 38-83. 4 Für den deutschen Sprachraum ist hier besonders zu verweisen auf Hans Krämer: Integrative Ethik. Frankfurt a.M. 1995. Gleiches gilt für die Ansätze einer Neubewer­ tung der Tugendethik im englischsprachigen Raum, für die hier genannt seien Alasdair MacIntyre: After Virtue: A study in moral theory. 2. Aufl. London 1985; ferner Philippa Foot: Virtues and Vices. Oxford 1978. ^ 321

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matischen Ort zu vergegenwärtigen, wie er durch eine Reflexion auf das sittliche Handeln gegeben ist, um dessentwillen Platon und Ari­ stoteles ihre Untersuchungen überhaupt anstellen. Auszugehen ist dabei von der menschliche Praxis, die sich innerhalb eines konkreten Kommunikations- und Interaktionszusammenhangs - nach Platon und Aristoteles in der Polis - vollzieht, dem ein Mensch angehört. Wie Aristoteles gegen Ende der Ausführungen über die Selbstliebe lapidar formuliert (EN IX.9.1170 b 12-14; vgl. Pol. I.2.1252 b 29f.), ist es dieser Kontext menschlicher Praxis, von dem ausgehend sich die Erörterung des gemeinsamen Gut-Lebens als eine Aufgabe der philosophischen Ethik stellt - anders ginge es allein um das bloße Überleben des Einzelnen. Daß die Zugehörigkeit menschlicher Praxis zu diesem übergreifenden sozialen Zusammenhang besonders in den Reflexionen über die Freundschaft (und damit verbunden der Selbst­ liebe) thematisch wird, bildete eine der Voraussetzungen dieser Untersuchung. Gewiß ist die Freundschaft nicht der einzige Unter­ suchungsbereich sozialer Gemeinschaften, und es stellt sich ins­ besondere in bezug auf die Aristotelische Politik die weitere, in der vorliegenden Arbeit nicht angegangene Aufgabe einer präzisen Zu­ ordnung der beiden Schriften unter Berücksichtigung der Freund­ schaftsbücher. In unserem Zusammenhang kommt es darauf an, den genuinen Gegenstandsbereich der freundschaftlichen Beziehungen von angrenzenden Themen wie etwa jenem der Gerechtigkeit ab­ zuheben. Daß beide Bereiche von Aristoteles auseinandergehalten werden, zeigte sich in seinen Ausführungen über die Freundschafts­ formen unter Ungleichen. Zwar gilt Aristoteles im Gegensatz zu mancher modernen, sittlich neutralen Rechts- und Staatstheorie die Gerechtigkeit als ein sittliches Phänomen, das sich nicht auf ord­ nungspolitische Dimensionen begrenzen läßt. Doch erwiesen ebenso seine Vergleiche einzelner Staatsformen mit Freundschaftsformen als auch die Ausführungen über Freundschaft unter ungleichen Men­ schen, daß in einer Hinsicht auch die Bestimmung der Gerechtigkeit auf Ergänzungen durch die Erörterungen der Freundschaft angewie­ sen bleibt: Erst in diesem Bereich wird nämlich die Frage des gemein­ samen Wohles der Menschen behandelt, auf das sich auch die Über­ legungen zur Gerechtigkeit in letzter Instanz verwiesen sehen. Freundschaft wie auch Selbstliebe behandeln »Ordnungs«-Fragen anderer Art. Sie berühren aufgrund ihrer Eigenart keineswegs Überlegungen, welche die für das Zusammenleben von Menschen erforderlichen institutionellen Vorkehrungen betreffen. Statt dessen 322

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untersuchen sie das, was man auch Formen einer authentischen Teilhahe des einzelnen Menschen an einem Zusammenleben mit ande­ ren bezeichnen könnte. Wenn sie die Bedingungen eines derartigen Zusammenlebens überprüfen, so geschieht dies in der praktischen Absicht, das Zustandekommen solcher Verhältnisse durch eine ge­ prüfte Einsicht ihrer Voraussetzungen zu fundieren. Auch wenn die vorangegangenen Untersuchungen eine systematische Theorie erst in den Aristotelischen Freundschaftsbüchern feststellen konnte, bleibt doch festzuhalten, daß grundlegende Ansätze bereits bei Pla­ ton, insbesondere in der Politeia, ausgemacht werden können. In diesem Zusammenhang gilt es nochmals auf die Selbstliebe bzw. das »mit sich Befreundetsein« als Voraussetzung für die Freund­ schaft und im größeren Rahmen für die ideale Polis zurückzukom­ men. Wenn Platon im Gorgias, und deutlicher noch in der Politeia, das »mit sich Befreundetsein« wie das »stärker als man selbst« als Voraussetzung der Möglichkeit eines Handelns und des Herrschens über andere anführt, werden auf diese Weise Reflexivstrukturen des Handelns thematisch, wie sie gerade den jeweiligen Vertretern eines amoralischen Handelns - Kallikles und Thrasymachos - verdeckt bleiben. Daraus die Annahme ableiten zu wollen, Platon habe mit der Selbstbeherrschung und der Selbstübereinstimmung eine Dicho­ tomie zwischen innerem und äußerem Menschen begründet, bei der in bezug auf den inneren Menschen von einer Ordnung zu sprechen ist,5 scheint mir weder in bezug auf das gerechte Handeln zuzutref­ fen, um dessen Bestimmung es in beiden Dialogen geht, noch den Grund der Einführung der Metapher richtig wiederzugeben. Auch wenn spätere Autoren Platon in dieser Weise mißverstanden haben mögen - und Taylors Rekonstruktionen insofern auch zutreffen -, geht es doch Platon bei der Verwendung der entsprechenden Wen­ dungen um die Festlegung jener Bedingungen, unter denen sich der Mensch in seinem Handeln als einer und einheitlicher erfahren kann. Darin, daß diese Bedingungen über den einzelnen Menschen hinaus zugleich auf die Polis angewendet werden, erkennen wir den Hinweis auf das ideale Zusammenleben der Menschen in diesem Lebens­ zusammenhang. So besehen formuliert Platon mit den genannten Wendungen Kriterien, die es dem Menschen zu prüfen ermöglichen, unter welchen Voraussetzungen er es mit gerechten Handlungen zu 5 Vgl. Charles Taylor: Sources of the Self. The Making of the Modern Identity, 6. Ka­ pitel. ^ 323

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tun hat. Zugleich erlauben sie es dem Handelnden, sein Tun auf das Ideal eines solchen Zusammenlebens auszurichten. Kann man analog auch die Aristotelische Bestimmung der Selbstliebe des Tugendhaften als Vorstellung der Bedingungen, unter denen ein gutes Leben gemeinsam mit anderen gelingen wird und an denen sich folglich der Tugendhafte in seinem Handeln zu orientie­ ren hat, interpretieren? Man hat in der Beantwortung dieser Frage darauf zu achten, daß sie zwei Aspekte enthält, die von Aristoteles nicht eigens unterschieden werden (was sich aufgrund seiner, von uns oben kurz umrissenen, Konzeption der Ethik als sittlich gerecht­ fertigte Praxis ergibt). Zum einen kann unter der Selbstliebe als Vor­ aussetzung für die Freundschaft soviel verstanden werden wie die Frage nach dem, was es ermöglicht, daß solche Freundschaften zustandekommen, in der das Gute eines Freundes als eigenes Gut aufgefaßt wird. Es bereitet keine Schwierigkeit, festzustellen, daß in dieser Hinsicht Aristoteles mit der Selbstliebe des Tugendhaften Bedingungen vorgestellt hat, von denen er zugleich überzeugt ist, daß sie Kriterien an die Hand geben, um gemeinsame Handlungen zu beurteilen. Freilich gilt es zu berücksichtigen, daß die Selbstliebe als Bedingung notwendigerweise mit dem Anspruch einhergeht, al­ lein jene gemeinsame Handlungspraxis zu rechtfertigen, in der das Gute des Freundes als eigenes aufgefaßt wird. Ohne diesen Bezug könnte man wohl nach Aristoteles auch nicht von der Selbstliebe als einer Bedingung sprechen. Sie bleibt es in bezug auf das vorgestellte Ideal gemeinsamer Handlungspraxis. Es ist in diesem Zusammen­ hang offensichtlich, daß unter dieser Voraussetzung auch die Egoismus-Altruismus-Debatte, wie sie vorwiegend im angelsächsischen Sprachraum (seit Sidgwick) einen Großteil der Beiträge zu den Freundschaftsbüchern prägt, unterlaufen wird. Denn einerseits ist, wie wir zu zeigen versucht haben, die Tätigkeit des Tugendhaften von vornherein so beschaffen, daß sie an den anderen dieselben Kri­ terien des Selbstvollzugs anlegt wie an sich selbst. Andererseits rea­ lisiert sich der Primat der Selbstliebe gerade in der gemeinsamen Tätigkeit mit dem Freund. Da es, so gesehen, keine trennende Ent­ gegensetzung von Ego und Alter gibt, lösen sich auch altruistische bzw. egoistische Handlungsmotive von selbst auf. Mit unserer Deutung der Platonischen und Aristotelischen Theorie der Selbstliebe ergeben sich Fragen, die zu weiteren Untersuchungen führen könnten. Dies gilt an erster Stelle für die Wirkungs- und Re­ 324

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zeptionsgeschichte der Freundschaft im Allgemeinen und der Selbst­ liebe im Besonderen. Hierzu gibt es bisher nur wenige Studien. Wenn der Begriff der ^iXatma in der auf Aristoteles folgenden Zeit aufgenommen wird, scheint er vor allem mit pejorativen Konnotationen belegt zu sein. Für eine solche Verwendung brauchte man nicht eigens auf gleichlautende Stellen bei Platon und Aristoteles zurückzugreifen; der gängige Wortgebrauch scheint einen solchen Sinn nahegelegt zu haben. Erstaunlich bleibt indessen, daß in der Rezeption dieses Topos das von Aristoteles gewonnene hohe Refle­ xionsniveau schon eine Generation später in Vergessenheit zu gera­ ten scheint. Inwiefern dies auch für seine modifizierte Übernahme in der otXELmOLcyLehre der Stoiker zutrifft, wäre ebenfalls zu prüfen. Damit ließe sich auch die Frage neu stellen, warum in den neuzeit­ lichen Philosophien das Selbsterhaltungstheorem in den Vorder­ grund rückte, die Selbstliebe hingegen ihren Primat einbüßte und zu einem seit Descartes als passio der Psychologie anheimgegebenen Sekundärphänomen verkam.

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Alkibiades I Apologie Charmides Kriton Epistula VII Euthydemos Euthyphron Gorgias Hippias maior Hippias minor Laehes Nomoi Lysis Menon Phaidon Phaidros Philebos Politeia Protagoras Symposion Timaios Theaitet

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Analytica Posteriora Analytica Priora Categoriae (Kategorienschrift) De Anima De somno et vigilia De sensu et sensatio De generatione et corruptione De Interpretatione De motu animalium De partibus animalium Ethica Eudemia (Eudemische Ethik) Ethica Nicomachea (bei den in Klammern gegebenen Nachweisen; NE = Nikomachische Ethik im durchlaufenden deutschen Text) Historia animalium Metaphysica (Metaphysik) Magna Moralia Physika Poetica Politica (Politik) Protrepticus (Protreptikos) Ars rhetorica (Rhetorik) Sophistici elenchi Topica (Topik)

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PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Peter Schulz

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