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German Pages [312] Year 2020
Martin-Heidegger-Gesellschaft Schriftenreihe · Band 12
Harald Seubert (Hg.)
Neunzig Jahre ›Sein und Zeit‹ Die fundamentalontologische Frage nach dem Sinn von Sein
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495820858
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B
VERLAG KARL ALBER
A
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Martin-Heidegger-Gesellschaft Schriftenreihe Herausgegeben von Harald Seubert und Klaus Neugebauer Wissenschaftlicher Beirat: Damir Barbarić (Zagreb) Thomas Buchheim (München) Michael Großheim (Rostock) John Sallis (Boston) Band 12
https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
Harald Seubert (Hg.)
Neunzig Jahre »Sein und Zeit« Die fundamentalontologische Frage nach dem Sinn von Sein
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
Harald Seubert (ed.) Ninety Years »Being and Time« The Fundamental Ontological Question of the Meaning of Being 90 years after the first publication of Heidegger’s magnum opus Being and Time the contributions of this volume reconstruct the fundamental ontological approach from the perspectives of the philosophy of modernity and occidental metaphysics, but also from within the context of Heidegger’s thinking path. There is only a handful of philosophical works that, like Heidegger’s chef d’œuvre, continue to instil an unabated fascination with their readers. The papers of the present volume combine a variety of possible interpretations of Heidegger’s work. Phenomenological and philological, immanent readings of the text are present just as are approaches and applications of analytical philosophy. The papers are therefore a representation of contemporary intellectual work on Heidegger. Internal and more external perspectives are complementing each other in a stimulating way. The phenomena and concepts that Being and Time exposes and develops are analysed according to their immanent structural meaning as well as in their contexts and their systematic relevance. Last but not least Heidegger’s personal, lifelong dialogue with his text plays a central role.
The Editor: Harald Seubert, born in 1967, has been Professor of Philosophy and Religious Studies at Basel STH since 2012 and has also been teaching at the Bavarian School for Public Policy in Munich since 2010. Numerous publications of books and articles. Chairman of the Martin Heidegger Society since 2016.
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Harald Seubert (Hg.) Neunzig Jahre »Sein und Zeit« Die fundamentalontologische Frage nach dem Sinn von Sein 90 Jahre nach der Erstpublikation von Heideggers Hauptwerk Sein und Zeit rekonstruieren die verschiedenen Beiträge des Bandes den fundamentalontologischen Denkansatz im Horizont der Philosophie der Moderne ebenso wie der abendländischen Metaphysik und nicht zuletzt im Zusammenhang von Heideggers Denkweg. Wie wenige Werke der Philosophie entfaltet Heideggers chef d’œuvre noch immer eine ungebrochene Faszination. In den Aufsätzen verbinden sich unterschiedliche Zugänge zu Heideggers Werk, von der Phänomenologie über die philologischtextimmanente Interpretation bis zu Verfahrensweisen der analytischen Philosophie. Sie lassen sich daher als repräsentativer Querschnitt heutiger auf dessen Denken konzentrierter Heidegger-Forschung verstehen. Innen- und Außenperspektiven ergänzen einander dabei fruchtbar. Die in Sein und Zeit exponierten und entwickelten Phänomene und Begriffe werden gleichermaßen sowohl in ihrer immanenten Bedeutungsstruktur wie auch in ihren Kontexten und ihrer systematischen Relevanz analysiert. Nicht zuletzt spielt Heideggers eigene lebenslange Auseinandersetzung mit Sein und Zeit eine Rolle.
Der Herausgeber: Harald Seubert, geboren 1967, ist seit 2012 Professor für Philosophie und Religionswissenschaften an der STH Basel und lehrt seit 2010 auch an der Hochschule für Politik in München. Zahlreiche Buchund Aufsatzveröffentlichungen. Seit 2016 ist er Vorsitzender der Martin-Heidegger Gesellschaft.
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg/München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Umschlagmotiv: Manuskript im Nachlass von Martin Heidegger © DLA Marbach Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49039-6 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82085-8
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Inhalt
Harald Seubert: Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
Harald Seubert: Zur Eröffnung: ›Sein und Zeit‹ im Licht von Heideggers Denkweg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
Norbert Bolz: Ungebrochene Faszination . . . . . . . . . . . .
26
Ingeborg Schüßler: Die Lichtung des Seins aus der Zeit. Zu Heideggers Grundgedanken und seinen Wandlungen . . . .
43
Pirmin Stekeler-Weithofer: Angst und Sorge. Existenzlogische Voraussetzungen personalen Seins
. . . . . .
82
Paola L. Coriando: Da-sein als Befindlichkeit: von Sein und Zeit zum seinsgeschichtlichen Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . .
107
Niels Weidtmann: Heideggers ontologische Wende der Phänomenologie. Anmerkungen zum Verhältnis von Sinn und Sein . .
120
Igor Mikecin: Die Geschichtlichkeit des Daseins und die Aufgabe einer historischen Destruktion der Geschichte der Philosophie .
140
Dietmar Koch: Von der ›Erschlossenheit‹ in »Sein und Zeit« zur ›Lichtung für das Sichverbergen‹ im »Ereignis-Denken«. Die Skizzierung eines fruchtbaren Bruches . . . . . . . . . . .
156
Klaus Neugebauer: Die Frage nach dem Wahrsein zwischen Dasein und Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
175
Reinhard Knodt: Korrespondenz und »Mitsein« – eine Distanzeinschätzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
189
Reinhard Mehring: Heideggers Publikationspolitik bis 1937 und das »sogenannte Buch« Sein und Zeit . . . . . . . . . . . . . .
202
Alina Noveanu: »Sein und Zeit« und »Die Zollikoner Seminare« .
220
7 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
Inhalt
Günther Neumann: Heideggers Freiheitsbegriff in Sein und Zeit unter Berücksichtigung der neueren Diskussion in den Neurowissenschaften und der Rechtsphilosophie . . . . . . . . . . .
239
Rainer Enskat: Heideggers Weg zur Antwort auf die Seinsfrage und wie ihn Kant dabei begleiten kann . . . . . . . . . . . . .
275
Arnulf Heidegger: Zur Lage der Gesamtausgabe . . . . . . . . .
302
Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . .
307
8 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
Vorwort
Vom 30. 9.–1. 10. 2017 fand die 19. Tagung der Martin HeideggerGesellschaft statt, erstmals seit langen Jahren wieder in Meßkirch. Beabsichtigt war bereits in der Konzeption die Konzentration auf ›Sein und Zeit‹, anlässlich des 90. Jahrestags des Erscheinens dieses Grundbuchs der Philosophie, nicht nur im 20. Jahrhundert. Damit verbindet sich eine Bündelung auf das erste Zentrum von Heideggers Denken, das gleichermaßen Summe ist wie Ausblick in das Künftige, den Weg in die Seinsgeschichte. Fragen des Kontextes und der Zeitgenossenschaft sollten keineswegs ausgeblendet werden, doch die Maßstäblichkeit von Heideggers Denken sollte eindeutig und entschieden im Zentrum stehen. Nicht zuletzt ging es darum, Heideggers Werk denkend und bedenkend zu feiern. Dies löste sich, auch dank der renommierten internationalen Beiträger in hervorragender Weise ein. Dieser Band enthält die, teilweise überarbeiteten und Momente der Diskussion einbeziehenden Beiträge in der Reihenfolge, in der sie vorgetragen wurden. Dabei dürfte sich dem Leser und der Leserin zeigen: Konzentration und Vielstimmigkeit schließen einander nicht aus. So ergibt sich das Spektrum einer sachlichen, Ideologie ausschließenden und damit dem Geist der Phänomenologie nahen, zugleich vielfältigen Perspektive auf Heideggers Denken, in der aus unterschiedlichen methodischen Ansätzen Aspekte und Motive von ›Sein und Zeit‹ beleuchtet werden und für systematisches Denken und heute sich stellende neuralgische Fragen fruchtbar gemacht werden können. Rekonstruierende Ansätze stehen neben eher systematischen, problemgeschichtliche neben eher phänomenologischen Zugangsweisen. Auf diese Weise wird eine wesentliche Wegmarke von Heideggers Denkweg, eben die Ausarbeitung des fundamentalontologischen Wegs zur Seinsfrage, neu vergegenwärtigt.
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Vorwort
Die einzelnen Beiträge seien kurz charakterisiert: Harald Seubert, Vorsitzender der Martin Heidegger-Gesellschaft seit 2016, eröffnete die erste von ihm geleitete Tagung mit der Deutung von ›Sein und Zeit‹ als ›Aluvisionsgebilde‹, ein Begriff, den Nietzsche im Blick auf Platon gebrauchte. Darin sei Heideggers bisheriger Denkweg gleichsam gesammelt, die seinsgeschichtliche Kehre deute sich aber an. Einen starken Akzent setzt dann bereits der Eröffnungsvortrag von Norbert Bolz, der Heideggers Denkansatz in die Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts einzeichnet. Bolz verweist auf das »als ob nicht« als Formelement von Heideggers Denken und erschließt die bleibende, ungebrochene Faszination nicht zuletzt aus der Exposition der ›extremen‹ Grundstimmungen von Angst und Langeweile. Auch ein moderne- und medientheoretisches Potenzial komme Heidegger in hohem Maß zu. Ingeborg Schüßler, eine hochgradig ausgewiesene Heideggerkennerin, legt differenziert als Heideggers Grundgedanken den Zusammenhang von Zeit und Sein frei, genauer die »Lichtung des Seins aus der Zeit«, womit ein Leitfaden für den Weg von der fundamentalontologischen zur seinsgeschichtlichen Exposition der Seinsfrage gewonnen ist. Pirmin Stekeler-Weithofer, wie Heidegger in Meßkirch geboren und einer der maßgeblichen systematischen Philosophen der Gegenwart, zeigt, dass mit einem gnomisch-logischen, an Descartes und Hegel geschulten, durch die avanciertesten Strömungen heutiger analytischer Philosophie geschärften Denkinstrumentarium Heideggers Exposition personalen Seins aus Angst und Sorge expliziert werden kann. Paola L. Coriando, heute Ordinaria in Innsbruck und Schülerin von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, widmet sich in einer luziden Phänomenanalyse dem Zusammenhang von Dasein und Befindlichkeit; und auch sie zieht die Linie von ›Sein und Zeit‹ in das spätere seinsgeschichtliche Denken. Die folgenden drei Vorträge, Beiträge der ersten Sektion, sind durch ihr dezidiert phänomenologisches Interesse miteinander verbunden. Niels Weidtmann demonstriert die Kohärenz von Heideggers Denken am Spannungsverhältnis von ›Sinn‹ und ›Sein‹ und lässt darin die ontologische Wendung der Phänomenologie Profil gewinnen. Dem ›Geschichtlichkeitsbegriff‹ Heideggers, verbunden mit Dasein und Temporalität, gewinnt Igor Mikecin eine kontrapunkti10 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
Vorwort
sche Position zu Historismus und Geschichtsphilosophie ab; während Dietmar Koch die gesamte Wegbahn Heideggers im Blick hat und das Gefüge von ›Erschlossenheit‹ und ›Lichtung‹ sensibel auslotet. Die zweite Sektion ist eher systematischen Konstellationen gewidmet: Klaus Neugebauer, Stellvertretender Vorsitzender der Gesellschaft, exponiert das Feld des Wahr-seins, mit Ausblicken auf die Wahrheit der Kunst, im philosophischen Spannungsfeld zwischen Heidegger’schem Daseins- und Bewusstseinsproblem, während Reinhard Knodt den Versuch unternimmt, Heideggers Kategorie des Mitseins als Korrespondenzverhältnis, aus dem ›Zwischen‹ von Mensch und Welt, zu verstehen. Die dritte Sektion wendet sich Kontexten von Heideggers Denken zu, wobei Reinhard Mehring die frühe Publikationsstrategie Heideggers materialreich untersucht und damit verbunden, den Werkbegriff von ›Sein und Zeit‹ und seine Textgenese behandelt. Alina Noveanu spürt dem Verhältnis von fundamentalontologischem Seinsdenken und Heideggers Zuwendung zur Tiefenpsychologie in den ›Zollikoner Seminaren‹ nach, die er gemeinsam mit dem Schweizer Psychologen und Psychiater Medard Boss veranstaltete. Dabei kann sie erstmals, Band 89 der Gesamtausgabe mit einbeziehend, auf die Präsentation der ›Zollikoner Seminare‹ mit allen Vor- und Begleitarbeiten Heideggers Bezug nehmen. Günther Neumann schließlich thematisiert ein wichtiges Desiderat: Heideggers Freiheitsbegriff im Licht heutiger Debatten von Neurowissenschaften und rechtsphilosophischer Problematik. Unstrittig dürfte hier ein Anknüpfungspunkt für weitere Diskurse um HeideggersVermächtnis liegen. Den Abendvortrag hielt Rainer Enskat, der vor drei Jahrzehnten mit einer grundlegenden Studie über Wahrheit und Entdeckung habilitiert wurde und damit einen bis heute Maßstäbe setzenden Beitrag zur Verbindung zwischen Phänomenologie, Heidegger’schem Denken im Besonderen und analytischer Philosophie erbrachte. Enskat zeigt eindrücklich die systematische Konsistenz von Heideggers Seinsfrage an; er expliziert sie in Seitenblicken auf Kant, erläutert sie modaltheoretisch aus dem Möglichkeitsmodus und nähert sich so der luziden Dimension von Heideggers Exposition der ›schenkenden Gunst‹. Last but not least ist, repräsentativ für die Offenheit der Martin Heidegger-Gesellschaft, eine Stellungnahme des Nachlassverwalters RA Arnulf Heidegger dokumentiert. Ebenso ist sein kurzer Bericht zum Fortgang der Gesamtausgabe enthalten.
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Vorwort
Ich bin sicher, dass dieser Band ›Sein und Zeit‹ vielfach neu, überraschend und auf dem Niveau ins Gespräch bringt, das geboten ist: In freier Artikulation der Grundfragen des Denkens, die die Heutigen mit Heidegger verbinden und in einer Leidenschaft für Ethos und Sache des Denkens. Herrn Dr. Klaus Neugebauer danke ich für seine federführende Mitwirkung bei der Zusammenstellung und Redigation des Bandes, meiner Lehrstuhlmitarbeiterin Frau cand. theol. Anna Tabea Rohlfing für ihre Hilfe bei den Korrektur- und Registerarbeiten. Die Beiträge behalten jeweils die, auch philologische, Handschrit der Autorinnen und Autoren. Auf übermäßige Vereinheitlichungen wurde deshalb verzichtet. Harald Seubert, Basel, München, Januar 2019
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Harald Seubert
Zur Eröffnung: ›Sein und Zeit‹ im Licht von Heideggers Denkweg
I Der Taktschlag der Philosophie unterscheidet sich von Grund auf von jenem wechselnder Zeitumstände und medialer Erregungen. Es ist die Sokratische Abständigkeit von der Polis und ihren kratischen Bemühungen, die Philosophie und Philosophieren auszeichnet – in einem längeren Atem, einem dauerhaften Gespräch, das der Aporetik nicht ausweicht und vor Engpässen nicht zurückschreckt. So hält der platonische Sokrates seinen Anklägern vor, dass für ihn die Dokimasia, der unter die Initiationsriten gehörende Akt der Billigung der Gesetze, nicht abgeschlossen sei; sein ganzes Leben bleibe er mit der Dokimasie befasst. 1 Artikuliert ist damit die unaufhebbare Spannung zwischen Politik und Philosophie. Die Differenz von Polis und Philosophie ist durch Leo Strauss’ einschlägige Arbeiten als Kern Politischer Philosophie ausgezeichnet worden, eine Querelle, die ihr Positivum darin zeigt, dass es die Stadt ehrt, wenn sie den Philosophen in ihren Mauern erträgt, und dass es schädlich und schändlich ist, wenn sie ihn ausschließen muss. 2 Philosophie ist immer auch Philosophie ihrer Zeit, auch dann, wenn sich diese Zeit nicht mehr, wie es Hegels Vision war, in Gedanken erfassen lässt. 3 Heidegger wies darauf bereits in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg hin. 4 Wie unerfreulich auch Äuße1 Platon, Apologie 37 ff. und Kriton 51 e ff. Diese Dokimasie wird von den Gesetzen im ›Krion‹ der Fiktion nach erwidert, indem sich die Umkehrung ergibt, dass die Gesetze Sokrates in einen Elenchos ziehen. Dazu H. Seubert, Polis und Nomos. Untersuchungen zu Platons Rechtslehre. Berlin 2005, 174 ff. 2 L. Strauss, The City and Man. Chicago 1964, und ders., The Argument and Acton of Plato’s Laws. Chicago, London 1975. 3 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Theorie-Werkausgabe Band 7. Frankfurt/Main 1970, 26 (Vorrede). 4 Vgl. z. B. Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie. Freiburger Vorlesungen Kriegssemester 1919 und Sommersemester 1919. Frankfurt/Main 1987, 7 ff. und 129 ff.
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Harald Seubert
rungen sind, die im Zusammenhang der ›Schwarzen Hefte‹ formuliert sind, es ist Zeichen einer mangelnden hermeneutischen und ethischen Urteilskraft, Denken auf Ideologie zurückzuführen und leichtfertig preiszugeben. Nicht zuletzt waren es jüdische Denker, wie Alain Finkielkraut, die einem allzu billigen und eilfertigen AntiAntisemitismus dieser Art misstrauten, 5 und auch die Erben Emmanuel Lévinas’, 6 neben vielen anderen, setzten ein beißend kritisches Fragezeichen hinter die Narrative, die dadurch in die Welt gesetzt wurden und um deren empörte oder dekonstruktivistisch selbstverliebte Enthüllung sich die Heidegger-Debatten seit 2015 in medialen Echoräumen drehten. Ähnlich wie Finkielkraut und Cohen-Halimi wären vermutlich auch Heideggers bedeutende jüdische Hörer und Schüler über die billig ideologische, den Anspruch des Denkens preisgebende Weise solcher Erledigungsversuche entsetzt gewesen. Es versteht sich, dass eine derartige Konjektur keine Verharmlosung fundieren darf. Es kann, um es noch einmal zu betonen, nicht darum gehen, das Dunkel-Unerfreuliche von Äußerungen Heideggers und von Gesprächskonstellationen, in denen er stand, zu ignorieren. Doch eine Hermeneutik, die zwischen Philosophie und Ideologie nicht zu unterscheiden vermag, und weil selbst zuinnerst ideologisch, Philosophie bzw. Denken zur Ideologie hinunterbricht, wie es Emmanuel Faye und seine Epigonen mit Heidegger tun, 7 ist selbst ein Akt tiefer Barbarei, einer Schlagwort-Unkultur, der Heideggers Denken nicht preisgegeben werden darf – und der es, wie auch die Diskussionen weitergehen mögen, standhalten wird. Jene Unkultur ähnelt viel stärker, als sie sich selbst bewusst ist, dem totalitären Gegner, gegen den sie sich wendet: Nachweis einer Gegen-Aufklärung, die das Gespräch der Philosophie und die Sache des Denkens nicht zerstören darf. Gründe, weshalb, wie ich meine, Heidegger’scher Horizont und Perspektive in keinem Fall leichtfertig preisgegeben werden dürfen, A. Finkielkraut, in: www.franceculture.fr, 7. 10. 2017. Vgl. auch schon ders., Philosophie und reines Gewissen, in: J. Altwegg (Hg.), Die Heidegger-Kontroverse. Frankfurt/Main 1988, 106 ff. 6 Sie arbeiten mit psychoanalytischem und dekonstruktivem Vokabular an der Problematik: M. Cohen-Halimi und Francis Cohen (Hg.), Der Fall Trawny. Zu den Schwarzen Heften Heideggers. Wien-Berlin 2015. 7 Vgl. das einen Nullpunkt aller Interpretation bezeichnende, vor den ›Schwarzen Heften‹ publizierte Buch E. Faye, Heidegger. Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie. Im Umkreis der unveröffentlichten Seminare zwischen 1933 und 1935, Berlin 2009. 5
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Zur Eröffnung: ›Sein und Zeit‹ im Licht von Heideggers Denkweg
gibt es vielfache. Nicht nur, dass zahlreiche philosophische Ansätze in der Genese der Phänomenologie bis in den Dekonstruktivismus und in neuere Fragestellungen analytischer Philosophie Heidegger nicht nur etwas, sondern, wie Heribert Boeder auf einer früheren Tagung der Martin Heidegger-Gesellschaft einmal sagte, buchstäblich alles verdanken, 8 dass sie in einer Matrix, die sein Denken erst ermöglicht hat, ihre Orientierung wählen können, ist der tiefere Grund dafür. Zu nennen wären hier Denker in Anziehung und Abstoßung in einem internationalen Rayon: von Derrida über Hans Jonas und Leo Strauss bis zu Heinrich Rombach und vielen anderen. Der noch offensichtlichere Grund ist, dass Heidegger sowohl die Kondition der Philosophie wie auch der modernen Welt, mitten im ideologischen Zeitalter, von Grund auf in Frage stellt und, anders als etwa die Kritische Theorie, in seinem Denken zu keinem ideologischen Gerüst Zuflucht nimmt. Diesem Anspruch und dieser Strittigkeit auszuweichen, bedeutete ein Ungenügen, in der öffentlichen Debatte ebenso wie im philosophischen Diskurs.
II Diese Jahrestagung der Martin Heidegger-Gesellschaft soll deshalb in einer sehr bewussten Akzentuierung die Konzentration auf den Kern von Heideggers Denken ins Zentrum rücken. Sie tut dies auch, bewusst, wieder in Heideggers Herkunfts- und Geburtsstadt Meßkirch. Nicht als Rückzug, nicht als kritiklose museale Verehrung, sondern in der Überzeugung, dass das konzentrierte Nachdenken in der Zwiesprache mit einem Denken ein und das vermutlich stärkste anti-ideologische Signal ist, das gesetzt werden kann. 90 Jahre, nachdem ›Sein und Zeit‹ im »Frühjahr 1927 in dem von E. Husserl herausgegebenen Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung Bd. VIII und gleichzeitig als Sonderdruck« 9 erschienen ist, kann das Hauptwerk des noch nicht Vierzigjährigen, das den fundamentalontologischen Zugang zur Seinsfrage niederlegt, vielleicht nach dem Bild verstanden werden, mit dem Nietzsche die H. Boeder, Heideggers Vermächtnis. Zur Unterscheidung der Aletheia, in: E. Richter (Hg.), Die Frage nach der Wahrheit. Frankfurt/Main 1997, 107–125. 9 Heidegger, Sein und Zeit, Vorbemerkung zur siebenten Auflage 1953. Halle/Saale 15 1984, o. pag. 8
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Harald Seubert
Platonische ›Politeia‹ deutete: als »Alluvionsgebilde«. 10 Gemeint ist damit ein komplexes Gefüge, in dem die verschiedenen, oftmals aporetisch fragmentiert bleibenden frühen Denkansätze Niederschlag und Manifestation finden. Zugleich enthält dieses ›Alluvionsgebilde‹ bereits Ansätze in sich, die auf dem weiteren Denkweg entfaltet wurden: man kann im Licht des Späteren auf ›Sein und Zeit‹ zurückkommen und die Ansatzstelle erkennen. Dass die Sache des Denkens auf einem Weg manifest wird, Wege – nicht Werke: Heideggers Vorsatz zu der Gesamtausgabe, Energeia – nicht nur Ergon, dies werden auch die Deutungsperspektiven auf das Werk zeigen, die in den Beiträgen dieser Tagung sich verbinden. Die Grundfrage nach dem Sinn von Sein, der aller Bestimmung von einzelnem Seienden vorausliegt und mit der fundamentalontologischen Bestimmung des Daseins, menschlichen In-der-Welt-Seins ansetzt, rückt ›Sein und Zeit‹, signalisiert durch das anfängliche Zitat aus dem ›Sophistes‹ 244 a auf der Frontispizseite, in das Jahrtausendgespräch um den logos tes ousias, in jene Gigantomacheia um das Prädikat ›seiend‹ ein, die das Vertraute in eine Verlegenheit versetzt. In der von Heidegger mitgeteilten Übersetzung lautet das Zitat: »Denn offenbar seid ihr doch schon lange mit dem vertraut, was ihr eigentlich meint, wenn ihr den Ausdruck ›seiend‹ gebraucht, wir jedoch glaubten, es einst zwar zu verstehen, jetzt aber sind wir in Verlegenheit gekommen«. Damit verbunden zeigt sich hier ein Grundmoment insistierenden philosophischen Fragens, das bei Heidegger immer wieder aufscheint, dass das Selbstverständliche gerade nicht selbstverständlich ist, wenn man darüber nachsinnt. Man denke als Analogon an die Eröffnung der Untersuchung über die Zeit in Aurelius Augustinus’ ›Confessiones‹ XI. An die Untersuchung der großen Gattungen im Platonischen ›Sophistes‹ schließt Heidegger nicht unmittelbar an. Er muss erst auf dem Weg der ›Destruktion‹, des Abbaus metaphysischer Seinsartikulation, die originäre Frage nach dem Sinn von Sein und jenes Phänomen freilegen, an dem sie sich primär und originär zeigt: das sich-Zeigen der Seinsfrage im Dasein, dem es in seinem Sein um dieses Sein selbst geht. 11
F. Nietzsche, Vorlesungsaufzeichnungen WS 1871/72 bis WS 1874/75. Kritische Gesamtausgabe Band II.4. Berlin 1995, 79. 11 Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O., 5 f. 10
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Zur Eröffnung: ›Sein und Zeit‹ im Licht von Heideggers Denkweg
Eingang finden in das Alluvionsgebilde Heideggers frühe Vorlesungen, der ›Hermeneutik der Faktizität‹, des Gegenhaltes von vergehender Zeitlichkeit, Ruinanz einerseits und des Ethos andererseits, 12 als des Aufenthaltes in der Welt, der aller Ethik vorausgeht, der sie nicht dementiert, wohl aber ihre Bedingtheit anzeigt. Hier hat auch die Natorp-Ausarbeitung, die 1989 im Dilthey-Jahrbuch veröffentlicht wurde, ihren Ort, die Grundbegriffe der aristotelischen Metaphysik und Epistemologie aus den Kategorien der praktischen Klugheit und epitaktischen Urteilskraft erhellt: eben dem zeithaften Aufenthalt des Daseins in der Welt. 13 Ein Vorrang praktischer Vernunft zeichnet sich hier ab, der von großer Prägekraft für das 20. Jahrhundert sein sollte, über Hans-Georg Gadamer und Wolfgang Wieland bis in gegenwärtige analytische Rekonstruktionsversuche. Heidegger hat die vielfachen Einzelfäden seiner bis heute faszinierenden frühen Vorlesungen, unter denen die äußerst differenzierte Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Logik, Trendelenburg und anderen, mit dem Neukantianismus und nicht zuletzt mit der phänomenologischen Neubegründung der Ersten Philosophie unter Husserl hervorragen, in ›Sein und Zeit‹ nicht leichthin kompiliert. Sie stehen im Hintergrund eines Werkes, das eine weite philosophische und philosophiehistorische Perspektive entwickelt, aber die akademische Sprache der Philosophie der eigenen Zeit nicht verleugnet. Ebenso finden sich die Spurenelemente des christlich eschatologischen Zeitverständnisses, das sich ihm über Paulus, Augustinus und Luther den Aufriss der nur befristeten Zeit erhellte 14 (von Jacob Taubes bis Giorgio Agamben aufgenommen) und das durch die moderne Spurensuche bei Kierkegaard und Dostojewski zugespitzt und geschärft wurde. Die Verdichtungsleistung ist enorm, die Spuren, die die Philologie seither zutage zu fördern vermag, zeigen es. 15 Dennoch Dazu Heidegger, Ontologie (Hermeneutik der Faktizität). GA 63, hg. von Käte Bröcker-Oltmanns. Frankfurt/Main 32018, 9 ff. und 53 f. 13 Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (Anzeige der hermeneutischen Situation), hg. von H.-U. Lessing, in: Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften 6 (1989), 237–289. Gadamer sprach im Blick auf diese frühe Edition, in Analogie zur Nohl’schen Hegel-Edition, von Heideggers theologischen Jugendschriften. 14 Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, GA Band 60, hg. von C. Strube u. a. Frankfurt/Main 22011. 15 Über die neuere philosophische Paulus-Rezeption vgl. meinen Beitrag: Politische Theologie bei Paulus? Ein neuerer philosophischer Diskurs, in: Verkündigung und Forschung 55 (2010), 60–71. 12
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Harald Seubert
wäre es verfehlt, den Denkansatz Heideggers auf jene ›Membra disiecta‹ zurückzuführen, da er alle vor-ontologischen Zeugnisse in die sachliche Frage einrückt und sie in die formale Anzeige der der mannigfaltigen Bedeutung des Seienden zugrundeliegenden Seinsstruktur eingefügt werden: vom pragmatischen Weltverhältnis des Daseins, das besorgend und gebrauchend bei seiner Welt ist und sich originär eben nicht in einer transzendentalen Subjekt-Objekt-Struktur zeigt, bis zum Sorgemotiv im Goethe’schen ›Faust‹, der Struktur der ekstatisch-verschränkten Zeit und dem ausstehenden Zum-TodeSein des Daseins. Diese formal-anzeigende Loslösung und Befreiung von den Geltungsansprüchen der jeweiligen untersuchten Gehalte ist, kurz gesagt, das Erbe der Husserl’schen Epoché, der Urteilsenthaltung, die Husserl als Voraussetzung der strikten Sachlichkeit verstanden hat. Darauf gibt Heideggers in ›Sein und Zeit‹ so eindrücklich unter Beweis gestellte Fähigkeit des ›bedingungslosen‹ Fragens und In-Fragestellens ihre Resonanz, jenes Kopfzerbrechens, das von den jungen philosophischen Eliten allgemein als Neuanbrechen der philosophischen Ernsthaftigkeit wahrgenommen worden sein muss und das die Faszinationsgeschichte, die sich um Heidegger wie um keinen anderen rankt, schon in der ersten Freiburger und in der Marburger Zeit bedingt. Dass Philosophie die Aporetik nicht los wird, und dies auch nicht versuchen sollte, dass der Begründungsengpass überhaupt zu dem Punkt führt, wo sich Wahrheit als Entdeckung lichtet, ist eine maieutische Lehrerfahrung, die sich in Heideggers Vorlesungen und Seminaren, wenn man den einschlägigen Zeugnissen folgt, singulär gezeigt haben dürfte. Dieses Fragen führt nun methodisch dazu, dass Phänomenologie und Hermeneutik, die Gegebenheit des Phänomens und die Selbstauslegung, sich verschränken. Im Licht dieser Verbindung hat Heidegger Wahrheit als Entdeckung erwiesen, als delotisches Geschehen, als aletheuein. 16 Im Licht dieser methodischen Grundhaltung des Zur-Erscheinung-Bringens ihrerseits konnte nun das weitgehende ontologische Defizit im Husserl’schen Profil von Phänomenologie, das in die Auseinandersetzung Husserls und Heideggers im Umkreis des gemeinsam verantworteten Encyclopedia Britannica-Artikels einging, 17 durch den fundamentalontologischen Neueinsatz korrigiert werden. 16 17
Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, § 44, 219 ff. Vgl. die bis heute herausragende Rekonstruktion W. Biemel, Husserls Encyclope-
18 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
Zur Eröffnung: ›Sein und Zeit‹ im Licht von Heideggers Denkweg
Damit verbunden wird die Grundverfasstheit (menschlichen) Daseins als je schon in der Welt-sein und als Bezogenheit auf das Sein transparent gemacht. Die vergleichsweise rasche Entstehungszeit von ›Sein und Zeit‹, eines Werkes, das man, wenn denn solche Wertungen etwas austrügen, mit Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹ auf eine Rangstufe stellen müsste, 18 denn beide zeigen sie den großen Gedanken im Grundriss, ist nur dadurch denkbar gewesen, dass über die frühen Aporetiken hinaus die Fäden in den Marburger Vorlesungen bereits ausgearbeitet waren: Dazu gehört die Exposition der Logik als Frage nach der Wahrheit 19 in Heideggers Marburger Zeit ebenso wie die Bestimmung der Grundprobleme der Phänomenologie. 20 Aber auch die sechsstündige Sophistes-Vorlesung 21 und die Kant-Vorlesung 22 instrumentieren den Gedankengang, der dann in die Architektur von ›Sein und Zeit‹ eingeht. Es ist diese Architektur, die im ersten Abschnitt das Dasein in seinem In-der-Welt-sein fundamental auf seinen Seinscharakter hin durchsichtig werden lässt. Dasein ist in der Weise, in der es ist, seinsverstehend. Es ist daher erst in sekundärem Sinn intentional auf Seiendes bezogen. Auch in seinem Selbstverhältnis, dem um-sich-bekümmert-Sein, ist es deshalb ›ekzentrisch‹ auf das Sein selbst bezogen. Es ist damit aber auch in die Schwebe zwischen ›Sein und Nichts‹ versetzt, die Heidegger in der Freiburger Antrittsvorlesung ›Was ist Metaphysik?‹ als die Grundfrage der Metaphysik thematisieren wird. Sein In-der-Welt-sein und seine Ausgelegtheit, jedoch auch die Kategorien des Mit-seins und In-seins, worunter besonders Verstehen und Sprachlichkeit gehören, die Alltäglichkeit, der Doppelcharakter von ›Geworfenheit und Entdia-Britannica Artikel und Heideggers Anmerkungen dazu, in: Ders., Gesammelte Schriften. Band 1. Schriften zur Philosophie. Stuttgart 1996, 173–209. 18 Den genealogischen und systematischen Zusammenhängen gehe ich weiter nach in der 2019 erscheinenden Monographie: Heidegger. Ende der Philosophie und Sache des Denkens. Freiburg/Br., München (i. E.). 19 Vgl. vor allem die Marburger Vorlesungen: Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit. WS 1925/26. GA Band 21, hg. von W. Biemel. Frankfurt/Main 21995; und Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz. SS 1928. GA 26, Frankfurt/Main 32006. 20 Dazu Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie. SS 1927. GA 24, hg. von F.-W. von Herrmann. Frankfurt/Main 21989, vor allem 321 ff. 21 Heidegger, Platon: Sophistes. WS 1924/25. GA 19. Frankfurt/Main 21989. 22 Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants ›Kritik der reinen Vernunft‹. WS 1927/28. GA 25, hg. von I. Görland. Frankfurt/Main 31995.
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wurf‹ und die umfassende Sorgestruktur, Topoi, an denen sich die Beiträge der Tagung entlang bewegen werden, formen den fundamentalontologischen Weg der Seinsfrage aus und explizieren ihn. Der zweite Abschnitt von ›Sein und Zeit‹ (ausgehend von § 45) entwickelt dann explizit den Zeitlichkeitscharakter des Daseins. Aufgrund dieser Zeitlichkeit ist dem Dasein eine Richtung eingeschrieben, die nicht auf intentional Seiendes geht, sondern, wie in einer Gravitation, auf das Sein selbst. Das eben wird im Sein zum Tode und der Dimension von Sorge und Gewissen sichtbar. Dass Dasein nur aufgrund seiner Zeitlichkeit sich erschlossen ist, tritt im Blick auf Verstehen, Rede, Befindlichkeit und Verfallen in ihrer jeweiligen Zeitlichkeit zu Tage, womit die tiefe Prägung der vorausgehenden Explikationen durch die Temporalität erkennbar wird. Phänomenologie wird damit von dem eidetischen Phänomenbegriff, den Husserl im Zug seiner transzendentalen Epoché die Konstitution im Bewusstseinsstrom einfügte, in das sich-Zeigen im Vollzug eines »aletheuein« umgezeichnet. Eben hier deutet sich, unter Aufnahme des Briefwechsels zwischen Dilthey und dem Grafen Yorck von Wartenburg, die Intuition an, dass Sein selbst geschichtlich temporal aufgefasst werden müsse. 23 In Wartenburgs Beitrag zu jenem Briefwechsel findet man die Hervorhebung von ›Geschichtlichkeit‹ als ›Virtualität‹ und auch einen genuin geschichtlich gedeuteten Begriff von Selbst und Identität: »Und eine Selbstbesinnung, welche nicht auf ein abstraktes Ich, sondern auf die Fülle meines Selbstes gerichtet ist, wird mich historisch bestimmt finden«. 24 Hier konnte Heidegger seine weitergehende Fragestellung anknüpfen. Der 3. Abschnitt des ersten Teils von ›Sein und Zeit‹ ist bekanntlich in der Buchpublikation des Jahres 1927 nicht enthalten. Die Marburger Vorlesung aus dem Sommersemester 1927 25 bildet dazu, in Ergänzung durch das Kolleg vom Sommer 1928 (Metaphysische Anfangsgründe der Logik) 26 einen weitgehenden Ersatz, insofern hier nach der Zeitlichkeit und dem Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, insbes. § 77, 397–404; mit starker Bezugnahme auf den Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg 1877–1897. Halle/Saale 1923, 185 u. ö. 24 Ibid., 71, bei Heidegger zitiert 401. Einschlägig ist weiterhin die Unterscheidung zwischen dem Ontischen und dem Historischen, die, im Briefwechsel 192, vor allem Yorck von Wartenburg offenhält. 25 Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, SS 1927, GA 24, hg von F.-W. von Herrmann. Frankfurt/Main 31997. 26 Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik, S. 22 ff. 23
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Seinssinn des Seienden gefragt wird, das nicht Dasein ist, und insofern damit der gemeinsame ›Boden‹ des Ontischen und Ontologischen gewonnen wird. Die Verfugung des ersten in den anderen Anfang, das Selbe beider Wege, wird besonders deutlich, wenn man die ›Zollikoner Seminare‹, dies einzigartige Stück einer metontologischen Rückwendung Heideggers auf einen ontischen Bereich und dessen wissenschaftliche Behandlung, zu Rate zieht, die soeben in einer umfänglichen Neuausgabe erschienen sind: vor dem Problemfeld einer Einzelwissenschaft, Psychiatrie und Medizin, kommt Heidegger hier im Licht seines eigenen seinsgeschichtlichen Denkens 27 bruchlos auf die fundamentalontologische Problemstellung zurück. Dies ist nur möglich, da der fundamentalontologische Weg auf dem seinsgeschichtlichen Weg der Kehre keinesfalls revidiert, sondern vertieft wird.
III Das »Alluvionsgebilde« von ›Sein und Zeit‹ weist also über sich hinaus auf die innere Kehre, die Heideggers Denken nach ›Sein und Zeit‹ vollzieht. Man könnte treffend von einem ›Gegenhalt‹ oder ›Gegenklang‹ sprechen. Es gilt dabei von vorneherein die Parmenideische Einsicht festzuhalten, dass Hinweg und Rückweg derselbe Weg sind, aber unter einem unterschiedlichen Richtungssinn stehend. 28 Die Methode hermeneutischer Phänomenologie bleibt von ferne auch auf dem seinsgeschichtlichen Weg leitend. Sie verbindet sich seinsgeschichtlich teilweise mit narrativen Zügen, wie sie zuletzt in der Philosophie Schelling in den ›Weltaltern‹ einsetzte. Die Verlagerung des Ausgangspunktes führt aber vom Dasein nun auf das Sein selbst hin. Wahrheit – ›aletheia‹ – bleibt vom Vollzug des ›aletheuein‹ her gedacht und wird zugleich als ›Unverborgenheit‹ gedeutet. Heidegger
Vgl. dazu jetzt die erstmals umfassend erfolgende Ausgabe im Rahmen der GA: Heidegger, Zollikoner Seminare. GA Band 89, hg. von P. Trawny. Frankfurt/Main 2017. Siehe dazu auch den Band M. Riedel, H. Seubert, H. Padrutt (Hg.), Zwischen Philosophie, Medizin und Psychologie. Heidegger im Dialog mit Medard Boss. Köln, Weimar, Wien 2003 (= Collegium hermeneuticum Band 9). 28 Parmenides, Lehrgedicht DK 1. Vgl. Heideggers Auslegung des Parmenideischen Lehrgedichts: Parmenides. WS 1942/43. GA Band 54, hg. von Manfred S. Frings. Frankfurt/Main 21992. 27
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expliziert damit das Ereignis seiner [ihrer] Abkehr und Zukehr, Entbergung und Verbergung, die erst zusammen, mit Friedrich-Wilhelm von Herrmanns Formulierung, »eine Phänomenologie der Wahrheit des Seins« ergeben. Der Weg der Kehre lässt sich deshalb immer auch als Heideggers Selbstinterpretation verstehen, wobei wir heute über die genauen Motive und Stationen dieser Selbstrevision auch im Detail unterrichtet sind. 29 Ähnlich wie ein eminenter Lyriker kein Gedicht zurücknehmen kann (Paul Celan hat darauf mit großem Nachdruck beharrt!), wird auch ein eminenter Denker gewonnene Einsichten der Revision und Prüfung, bzw. wie Heidegger der ›Verwandlung‹, unterziehen, niemals aber negieren. Die Intuition, Sein nicht nach dem Paradigma der Idee, sondern von seinem geschichtlichen Charakter her zu denken, dürfte Heidegger erst in den frühen 1930er Jahren gehabt haben. Wenn man aber das Alluvionsgebilde von ›Sein und Zeit‹ im Rückgriff auf die ›Kehre‹ wahrnimmt, kann man die Spuren und in gewisser Weise auch die Notwendigkeit dieses Schrittes ahnen und in seiner Schrittfolge sogar verständlich machen. Eine linear abfolgende Strukturierung in Heidegger 1 und Heidegger 2 trifft jedenfalls das damit Thematisierte nicht. Das Diktum einer systemischen Vorder- und Rückseite träfe es ebenso wenig: Das Diktum vom Denkweg, der gegangen werden muss – Schellings Denkentwicklung im Abschied von der Systemgestalt kann als Vergleichsgröße ebenso in den Blick kommen wie vielleicht Platon, der im ›Phaidon‹ eine Methexis gegensätzlicher Ideen und ihrer Begleitbegriffe ausschließt, die im ›Sophistes‹ und/oder ›Parmenides‹ konstitutiv wird –, hat angesichts der von Heidegger aufgewiesenen Temporalitätsstruktur des Seins eine umso größere Bedeutung. Auf der letzten Druckseite von ›Sein und Zeit‹ findet man deshalb in der unnachahmlichen und unnachgiebigen Frageform Heideggers die Annäherung an die seinsgeschichtliche Dimension in einer Weise exponiert, der Heidegger nicht mehr ausweichen konnte: »Und lässt sich die Antwort auch nur suchen, solange die Frage nach dem Sinn des Seins überhaupt ungestellt und ungeklärt bleibt? […]. Es gilt, einen Weg zur Aufhellung der ontologischen Fundamentalfrage zu suchen und zu gehen« – und im letzten Satz: »Führt ein Weg
Dazu trägt insbesondere jüngst die detaillierte Bezugnahme in dem Band Heidegger, Zu eigenen Veröffentlichungen. Nach den Handschriften hg. von F.-W. von Herrmann. GA Band 82, Frankfurt/Main 2018, bei.
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von der ursprünglichen Zeit zum Sinn des Seins? Offenbart sich die Zeit selbst als Horizont des Seins?« 30 Die seinsgeschichtliche Wegbahn hat Heidegger in seinen sieben nachgelassenen Abhandlungen, ausgehend von den ›Beiträgen zur Philosophie‹, entfaltet. Aus ihr erhellt der Bezug von Sein und Sprache, die die enge Zwiesprache mit der Dichtung begründet. Flankiert wird dies von der Rekonstruktion philosophischer Grundstellungen von den Vorsokratikern über Platon und Aristoteles, mit besonderem Akzent bei Kant und der nachkantischen Philosophie bis zu einer außerordentlich intensiven, sich selbst mit auf die Probe stellenden und in die Waagschale werfenden Auseinandersetzung mit Friedrich Nietzsche und einer letzten Metaphysik der technischen, ins Totalitäre umschlagenden Welt, die in den Willen zur Macht hinein ausläuft. Wie sich das ›Gestell‹ neuzeitlicher Technik selbst als Erbin der Metaphysik zeigt, als ›Verstellendes‹, wird in Heideggers einschlägigen Schriften, den schon den Zeitgenossen bekanntgewordenen Mitteilungen ›Die Technik und die Kehre‹ aus diesem umfassenden Gesamtgefüge seinsgeschichtlichen Denkens benannt: in einer Weise, die mit ›Technikkritik‹ nichts gemein hat, weil sie auch den puren Funktionalismus als eine Konstellation der Wahrheit aufzufassen ermöglicht. Deshalb stehen in diesem Zusammenhang beim späten Heidegger auch – aus der Seinskehre heraus – neue, intensive Umkreisungen der Logik als Frage nach der Wahrheit, 31 die sich immer enger mit der Zwiesprache mit der Dichtung berühren, mit Hölderlin, George, Rilke und unartikuliert, unartikulierbar Paul Celan. 32 Die Frage nach dem Ursprung des Kunstwerkes, Kehrseite der Technik, erwächst der beginnenden seinsgeschichtlichen Perspektive, ebenso wie die Mitteilung des Briefs ›über den Humanismus‹, nach der europäischen Katastrophe. Sie wurde angesichts der deutschen Verbrechen von FrankHeidegger, Sein und Zeit, a. a. O., 437. Vgl. insbesondere Heidegger, Grundfragen der Philosophie. Ausgewählte ›Probleme‹ der ›Logik‹. Vorlesung WS 1937/38. GA 45, hg. von F.-W. von Herrmann. Frankfurt/Main 1984. 32 Mehrere Gesprächspartner Celans, u. a. Hans Mayer oder Walter Jens, wiesen darauf hin, dass er, angesichts der Verkennung und des Missbrauchs seiner bekanntesten Gedichte, wie der ›Todesfuge‹, auf dem unverlierbaren Geschriebensein bestand. Über Heideggers eigenen Umgang mit seinen Texten vgl. U. von Bülow, Das ›HandWerk‹ des Denkens – Zum Nachlass von Martin Heidegger, in: H. Seubert und K. Neugebauer (Hg.), Auslegungen. Von Parmenides bis zu den Schwarzen Heften. Freiburg/Br., München 2017, 304–332. 30 31
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reich her angefragt; und von Heidegger mit dem allen Weltanschauungen und ›ismen‹ entgegengesetzten Ethos im Sich-Geben des Seins beantwortet. Eine eigene Epoché mag es bedeuten, dass sich Heidegger des Ausgangspunktes vom Dasein als demjenigen Seienden, dem es in seinem Sein um das Sein selbst geht, enthält und ausschließlich dem sich selbst Zeigen und Entbergen der Wahrheit des Seins nachgeht. Dabei ergeben sich neue formale Ausgestaltungen: In den ›Beiträgen‹ ordnet Heidegger den seinsgeschichtlichen Ansatz nicht in der Form des Systems, sondern als ›Fuge‹, mit der Bemerkung, dass dieses Denken des Künftigen einer eher noch strengeren Ordnung bedürfe als jenes der Tradition. 33 Der Riss, der Rückgang, das ›Zuspiel‹, aber auch im Sinn akroamatischer Dimension der Hermeneutik, die Kunst des Schweigens, die ›Sigetik‹, bilden dieses Gefüge ab. Ohne die Klärung und Ausarbeitung der Frage nach dem ›Seinssinn‹ des Daseins in ›Sein und Zeit‹ hätte die seinsgeschichtliche Problemdimension nicht erreicht werden können. ›Sein und Zeit‹ ist insofern Werk auf dem Denkweg und Wegmarke, auch darin, dass es zuletzt als ›Holzweg‹ sich erweist, als eine unüberschreitbare Aporie. Es ist Fragment und Wegzeichen in einem, an dem entlang die Problemlinien des Heidegger’schen Denkens sichtbar werden können.
IV Die Tagung ist so konzipiert, dass aus unterschiedlichen methodischen Ansätzen und Fragestellungen die Problemlagen von ›Sein und Zeit‹ erschlossen, rekonstruiert, systematisch-argumentationsanalytisch fruchtbar gemacht werden sollen, in einem Portfolio maßgeblicher Stimmen der heutigen Heidegger-Forschung. Erkennbar werden hermeneutische, phänomenologische, interkulturell geschärfte neben analytisch sensibilisierten Annäherungswegen. Sichtbar wird, wie eigenständige, etwa an Hegel oder Husserl geschulte Profile ins Gespräch mit Heidegger treten – oder ideengeschichtlich kritische Ansätze sein Denken auch aus den zeitgenössischen Konstellationen kartographieren. Damit kann über Repetitionen hinaus die Fruchtbarkeit und Tragfähigkeit auch im kritischen philosophischen Disput Heidegger, Beiträge zur Philosophie. GA Band 65, hg. von F.-W. von Herrmann. Frankfurt/Main 1989, 3 ff.
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deutlich werden. Nicht zuletzt aber geht es darum, ein Werk zu feiern, das für die Denkgeschichte, ob man sie im 20. Jahrhundert, der Neuzeit oder der Weltphilosophie einordnet, eine fast unerschöpfliche Bedeutung haben dürfte. An den wichtigen systematischen und genealogischen Weichenstellungen Heidegger’schen Denkens solche Fragebewegungen zu ermöglichen, Forum zu sein und Ort der Präsenz der Heidegger’schen Intensität des Denkens und Fragens, wird eine wichtige Aufgabe der Gesellschaft in der Zukunft sein. Weite und symphonische Offenheit des Zugriffs sollen sich mit der Überzeugung von der Tragfähigkeit und epochalen Bedeutung des Denkens von Heidegger verbinden. Dies bedeutet gerade kein Unisono, es bedeutet auch, dass Heideggers ›Sache des Denkens‹, bei all ihrer revolutionären Kraft, aus den Denkinstrumenten der Logik, Analytik und Metaphysik neu anzueignen bleibt. Es ist ihnen nicht nur »Gegenbild«, sondern durchaus zugänglich. Die Martin Heidegger-Gesellschaft und jene, die sie leiten, ebenso wie die renommierten Kolleginnen und Kollegen, die die Einladung annehmen, sind nicht der Auffassung, dass sie Heidegger »repräsentieren« könnten oder sollten. Sie meinen auch nicht, dass der Rang seines Denkens ihrer Hegung bedürfte. Ich erinnere mich der Aussage meines Lehrers Manfred Riedel, der langjährig das Präsidium der Gesellschaft innehatte. Er sagte in den neunziger Jahren, dass Heideggers Bedeutung erst noch im Kommen sei, deshalb weil er sich wie vielleicht kein Denker der Moderne »dem nicht zu bewältigenden zu Denkenden« ausgesetzt habe. Das bleibt bedenkenswert und richtig: Eine Philosophie, die diesem Anspruch ausweichen würde, bliebe hinter den Aufgaben und Möglichkeiten sträflich zurück.
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I.
Der Rätselcharakter der Seinsfrage
Beginnen wir mit drei formalen Beobachtungen. Da ist erstens: die Faszination der Gewalt. Konkretion gibt es in »Sein und Zeit« immer nur durch Destruktion. Heidegger bietet primär negative Charakteristiken, Darstellen heißt Wegräumen von Verdeckungen. Und er betont selbst die »Gewaltsamkeit« der existenzialen Analyse (311). 1 Genauer geht es um die »Destruktion des überlieferten Bestandes der antiken Ontologie auf die ursprünglichen Erfahrungen« (22). Erst diese Destruktion der Tradition ermöglicht die Konkretion der Seinsfrage. Aus dieser Aufgabenstellung ergibt sich auch ein weiterer Faszinationswert des Heideggerschen Denkens, nämlich das souveräne Urteil über alle anderen Denker. Da ist zweitens: der antiwissenschaftliche Affekt. Heidegger befriedigt ihn nicht durch Ressentiments, sondern durch eine Überbietungstechnik. Die vorspringende, produktive Logik von »Sein und Zeit« überspringt die Wissenschaften im Rückgriff auf die vortheoretische Erfahrung, um zu den ursprünglichen Fragen zu kommen. Die positiven Wissenschaften vom Seienden machen blind für das Sein – eine Blindheit, wie wir sie aus Platons Höhlengleichnis kennen. Nur dass Heidegger den ontologischen Komparativ Platons zur ontologischen Differenz radikalisiert. 2 Da ist drittens: die faszinierend fremde und doch irgendwie verständliche Eigensprache von »Sein und Zeit«. Heidegger geht gleichsam von einer Pseudomorphose aus: Das neue Denken ist in einer alten Sprache gefangen. Da eine neue Sprache nicht verfügbar ist, muss die alte Sprache des Alltags verformt werden. So macht Heidegger aus den Zeitwörtern der Alltagssprache philosophische Begriffe. 1 2
Sein und Zeit wird direkt im Text nach Seitenzahlen in ( ) zitiert. Vgl. Hans Blumenberg, Höhlenausgänge, 738.
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Und er prägt Wortnetze mit Hilfe von Bindestrichen, mit denen Strukturganzheiten dargestellt werden sollen. Die Bindestriche stehen dabei für die gegliederte Struktur (327), z. B. »Sich-vorwegschon-sein-in (der-Welt-) als Sein-bei« (192). So wird Bedeutsamkeit als Weltstruktur (87) formalisiert, nämlich als ursprüngliche Ganzheit unter sich selbst verklammerter Bezüge des In-der-Welt-seins. Was entspricht diesen formalen Faszinationswerten nun auf der inhaltlichen Ebene von »Sein und Zeit«? Hier hilft ein Blick voraus auf die Davoser Disputation mit Cassirer im Jahre 1929. Es geht um Sein vs. Bedeuten, um Substanz vs. Funktion. Und wie Luther im Abendmahlsstreit setzt Heidegger auf das substanzielle An-sich. Das spezifisch Neue dieses Denkens besteht nun aber darin, dass als die Substanz des Menschen die Existenz angesetzt wird. Das ist keine bloße Umetikettierung. Da nämlich das Selbst in der Existenz gründet, ist es weder Substanz im traditionellen noch Subjekt im Hegelschen Sinne. Das Ek-sistere öffnet das Sein des Menschen auf Möglichkeiten. Und das Vorlaufen in die Möglichkeiten verhindert das Versteifen auf bestimmte Lebensformen. Um seine Antithese zu Cassirer deutlich zu markieren, muss Heidegger offensiv an dessen zentralen Gedanken von der modernen Ersetzung der Substanzbegriffe durch Funktionsbegriffe heran. Das Relationssystem der Weltlichkeit, das in »Sein und Zeit« entfaltet wird, soll gerade nicht mit mathematischer Funktionalisierung verwechselt werden. Mit anderen Worten: Dass die Welt als Verweisungsganzheit gefasst wird, soll nicht implizieren, dass die Substanzen in Funktionszusammenhänge aufgelöst werden. »Funktionsbegriffe dieser Art sind ontologisch überhaupt nur möglich mit Bezug auf Seiendes, dessen Sein den Charakter reiner Substanzialität hat. Funktionsbegriffe sind immer nur als formalisierte Substanzbegriffe möglich.« (88) Man kann diesen Sachverhalt auch so fassen: Die Faszination des Begriffs Sein rührt gerade daher, dass im modernen Denken die Substanzbegriffe durch Funktionsbegriffe ersetzt worden sind. Und so kann Heidegger fragen: »Doch das Sein – was ist das Sein? Es ist Es selbst.« 3 Das ist eine spätere, sehr verrätselte, aber gerade deshalb auch faszinierende Formel. In der Marburger Vorlesung vom Sommersemester 1925 ist das Sein des Seienden immerhin noch auf den Wirklichkeitsbegriff bezogen; das Sein des Seienden entspricht hier 3
Martin Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, 76.
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also noch der »Wirklichkeit des Wirklichen«. 4 Das lässt sich gut nachvollziehen, und zwar mit Husserls Operation der Epochä. Heidegger definiert sie treffend als »Umschaltung des Blickes«, 5 die die Intentionalität herauspräpariert, also eine Umschaltung von Was zum Wie. Um von Husserls Epochä zur Seinsfrage zu kommen, muss »Sein und Zeit« eine eigentümliche Anfangsschwierigkeit überwinden. Heidegger hat mit seinem neuen Denken nämlich nicht das Problem, dass wir den Ausdruck »Sein« nicht verstehen würden. Das Problem ist vielmehr, dass wir gar nicht verstehen, dass es hier etwas zu verstehen gibt. Heidegger muss deshalb zunächst einmal eine Verlegenheit erzeugen, nämlich die »Verlegenheit, den Ausdruck ›Sein‹ nicht zu verstehen« (1). Den Ausdruck »Sein« nicht zu verstehen, wäre dann der erste Schritt auf dem Weg zum Seinsverständnis. Demnach kann die Seinsfrage nur auf dem Weg einer Daseinsanalyse erfragt werden. Denn Sein ist nur, wenn es Seinsverständnis gibt; es ist im Verstehen. Deshalb gibt es Sein nur, solange Dasein ist. Die Frage nach dem Sinn von Sein kann man so formulieren: Was ist gemeint, wenn man das Wort »ist« gebraucht? Das lässt sich nicht von der Kopula her verstehen. Mit dieser in sich rekursiven Frage leistet Heidegger schon genau das, was der Heideggerianer Derrida dann Dekonstruktion nennen wird. Was damit gemeint ist, lässt sich eben auch nur rekursiv formulieren, nämlich: Dekonstruktion ist die Dekonstruktion des »ist«. Damit gelangt man eine Etage tiefer, nämlich in den Bereich der Fundamentalontologie. In der Seinsfrage geht es nämlich um die apriorische Bedingung der Möglichkeit von Ontologie – und zugleich ist sie die »konkreteste Frage« (9). »Die Frage nach dem Sinn des Seins ist die universalste und leerste; in ihr liegt aber zugleich die Möglichkeit ihrer eigenen schärfsten Vereinzelung auf das jeweilige Dasein.« (39) Dass die universalste Frage zugleich die konkreteste zu sein beansprucht, macht die Faszinationskraft einer Ontologie aus, die nicht spekulativ sein will. Die Fundamentalontologie verfährt ja als Analytik des Daseins, weil sie das ontische Fundament der Ontologie freilegt, nämlich Dasein. Hier drängen sich Ähnlichkeiten zwischen Fundamentalontologie und negativer Theologie auf. Das Sein erscheint wie das Residuum einer Bultmann’schen Entmythologisierung – es ist weder benennbar noch erzählbar, noch vorstellbar. 4 5
Martin Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, Bd. 20, 8. A. a. O., 136.
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»Das Sein ist definitorisch aus höheren Begriffen nicht abzuleiten und durch niedere nicht darzustellen.« (4) Der Sinn von Sein beantwortet keine Frage, sondern will unbefragbar machen. Deshalb ist das Sein auch immun gegen Kritik, die eben immer nur ein Missverständnis sein kann, wenn Sein weder Seiendes noch Begriff sein soll. Das zeigt sich gerade auch an der hilflosen Kritik an Heidegger, zum Beispiel bei Adorno. Humoristisch komprimiert, aber deshalb um so schlagender ist Hans Blumenbergs Kritik der Seinsfrage als Rätselfrage. Die Frühromantiker würden sagen: Das Rätsel ist, dass man rät. Blumenberg trifft dasselbe mit Hitchcocks Wort »MacGuffin«. Der MacGuffin ist ein bedeutungsloses, nichtiges Requisit, das scheinbar größte Bedeutung hat: das höchst verdichtete Geheimnis – das aber nicht enthüllt wird. So wie der zweite Teil von »Sein und Zeit« nie geschrieben wurde! In diesem Sinne spricht Blumenberg vom »MacGuffin des Seins«. 6 Gemeint ist also die unendliche Bedeutsamkeit des völlig Unverständlichen. Um die Seinsfrage gegen derartige Entlarvungsversuche immun zu machen, hat Heidegger eine interessante rhetorische Technik entwickelt. Er provoziert ein naheliegendes Verständnis, um es dann brüsk abzulehnen. Man könnte auch sagen: Die Abwehr des naheliegenden Verständnisses schützt die Faszination der Seinsfrage. Und diese Geste wiederholt Heidegger unentwegt. Wenn man etwa liest, das Sein des Daseins sei die Sorge, so glaubt man doch zu wissen, was Sorge ist. Aber Heidegger wehrt sofort alle naheliegenden Assoziationen ab: Mit Besorgnis, Mühsal, Trübsinn und Lebenssorge habe Sorge nichts zu tun (57). Genauso soll der Ausdruck »Gerede«, der doch im normalen Sprachgebrauch eine eindeutig pejorative Färbung im Sinne von Geschwätz hat, »nicht in einer herabziehenden Bedeutung gebraucht werden.« (167) Vom Titel »Verfallen«, der das Sein der Alltäglichkeit zum Ausdruck bringt, heißt es, er impliziere »keine negative Bewertung« (175). Das gilt dann sogar für den Titel »Unwahrheit«: »Jede ontisch negative ›Wertung‹ ist bei seinem existenzial-analytischen Gebrauch fernzuhalten.« (222) In der Marburger Vorlesung des Sommersemesters 1925 charakterisiert Heidegger den Rundfunk durch eine »Tollheit auf Nähe« – doch nur um dann den Disclaimer anzubringen: »ich bitte das ohne irgendeine Wertung zu Blumenberg, Die Verführbarkeit des Philosophen, 98. – Heideggers »Sein« ist der Rettungsanker gegen die Reflexivität, die die Vernunft subvertiert.
6
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verstehen!« 7 Man glaubt bei der Lektüre von »Sein und Zeit« also oft zu wissen, wovon die Rede ist, und muss sich doch immer wieder sagen lassen, es sei anders gemeint. Die uns vertrauten existenziellen Bestimmungen verdeckten gerade die existenziale Problematik; das ontische Verständnis verstelle die Möglichkeit der ontologischen Frage.
II.
Die drei großen Disclaimer
Und damit sind wir bei den drei großen Disclaimern von »Sein und Zeit«. Immer wieder betont Heidegger, es handle sich nicht um Theologie, Anthropologie und Kulturkritik. Aber wenn wir nach den Gründen der ungebrochenen Faszination dieses Buches fragen, kommen wir eben zu der Einsicht, dass es ›Theologie als ob nicht‹, ›Anthropologie als ob nicht‹ und ›Kulturkritik als ob nicht‹ bietet. Beginnen wir mit Heideggers ›Theologie als ob nicht‹, und zwar mit den Spuren, die sie in den Werken von Hans Jonas und Rudolf Bultmann hinterlassen hat. Es ist kein Zufall, dass Hans Jonas seine berühmten Gnosis-Studien auf Heideggers Analytik der Existenz aufbauen konnte. Und das gilt nicht nur für Themen wie Geworfenheit, Angst und Ruf. Vor allem der gnostische Grundgedanke des ganz Anderen wird von der ontologischen Differenz her gedacht. Auch die Theologie des Kerygma ist »Sein und Zeit« verpflichtet. Rudolf Bultmann, der Heidegger den ersten Band von ›Glauben und Verstehen‹ gewidmet hat, meint ja, dass in Heideggers Denken des Seins »die Möglichkeit einer formalen Bestimmung des Gottesgedankens enthalten ist.« 8 Der theologische Index der Seinsfrage wird deutlich, wenn man sich daran erinnert, dass das Mittelalter das, was im höchsten Maße ist, Gott nannte. Für Odo Marquard ist Heideggers »Sein« deshalb ganz schlicht »das Pseudonym Gottes«. 9 Und für Karl Löwith ist Heidegger einfach »ein gottloser ›christlicher Theologe‹«. 10 Dass »Sein und Zeit« als kryptotheologischer Traktat verstanden werden könnte, hat Heidegger antizipiert und als grundlegendes Missverständnis zuHeidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, 312. Rudolf Bultmann, Glauben und Verstehen, Bd. IV, 106. 9 Odo Marquard, Der Einzelne, 232. 10 Karl Löwith, Gesammelte Abhandlungen, 83. 7 8
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rückgewiesen. So heißt es schon in den Marburger Vorlesungen im Sommersemester 1925: »Weil diese Analyse immer wieder dem Missverständnis begegnet, betone ich, es wird keine versteckte Theologie vorgetragen, sie hat grundsätzlich nichts damit zu tun.« 11 Es handle sich um reine Strukturbetrachtungen und nicht etwa um Themen wie die Erbsünde. Aber genau diesen Eindruck – dass es nämlich um das Thema Erbsünde geht – kann der Leser von »Sein und Zeit« durchaus bekommen, wenn er immer wieder darauf stößt, dass Heidegger von einer Art Strukturschuld des Daseins ausgeht: Weil ich ein endliches Wesen bin, muss ich aus Möglichkeiten wählen und bleibe deshalb immer hinter meinen Möglichkeiten zurück. Das Dasein wird also prinzipiell an seinen Möglichkeiten schuldig. Dieses formalisierte Schuldigsein kennt kein Schuldbewusstsein. Die Schuld resultiert aus der Knappheit der Zeit, d. h. aus der Befristung des Lebens. Man könnte also von der Erbsünde des hinter den Möglichkeiten Zurückbleibens sprechen und nichts anderes heißt für Heidegger Freiheit (285). »Sein und Zeit« sei also deshalb keine versteckte Theologie, weil sie der christlichen Theologie überhaupt erst ihr begriffliches Fundament verschaffe. Mit anderen Worten: Das formalisierte, existenzial bestimmte Schuldigsein hat für Heidegger nichts mit Sünde zu tun, kann aber von der Theologie als ontologische Bedingung der Möglichkeit des Sündenstandes verstanden werden (306, 179 f.). 12 Auch der Zentralbegriff der Daseinsanalyse, nämlich Sorge, hat Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, 391. Ähnlich auffällig wird Heideggers Theologie im Gebrauch des »als ob nicht«, des paulinischen ›hos mē‹, das den später so wichtigen Begriff der Gelassenheit strukturiert. Und obwohl Heidegger sich immer wieder dagegen verwahrt hat, als christlicher Philosoph verstanden zu werden, leitet sich sein Begriff der Gelassenheit eindeutig vom Paulinischen »als ob nicht« ab. Gemeint ist die Haltung des gleichzeitigen Ja und Nein zur Welt. Wir nehmen die Dinge der Welt so in Gebrauch, wie sie genommen werden müssen, aber doch so, dass wir sie jederzeit loslassen können. Mit anderen Worten, wir behandeln die Dinge dieser Welt als etwas, was uns nicht im Innersten und Eigentlichen angeht. Der neben Karl Barth bedeutendste evangelische Theologe des 20. Jahrhunderts, Rudolf Bultmann, hat nicht nur bei Heidegger studiert, sondern auch seine gesamte Theologie auf der Grundlage von Heideggers Denken entwickelt. Und dabei spielt die Deutung des »als ob nicht« als Gelassenheit eine Schlüsselrolle. Man könnte auch mit Kierkegaard von Humor oder mit Jacob Taubes von Weltlockerung sprechen. Entscheidend ist, dass sich der Christ der weltlichen Einrichtungen nur in der Distanz des ›als ob nicht‹ bedient.
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einen deutlichen theologischen Index. Vordergründig ist er gegen den unbeteiligten Weltzuschauer Husserls gerichtet. Aber seine eigentliche polemische Schärfe bekommt der Begriff erst, wenn man Sorge und In-der-Welt-Sein als Antithese zur Sorglosigkeit in der Weltlosigkeit der Intermundien Epikurs begreift. Epikurs Entängstigungsthese lautet ja: Solange ich bin, ist der Tod nicht. Genau dagegen richtet sich Heideggers Sein zum Tode. Das Pathos der Eigentlichkeit des Seins zum Tode exponiert Heidegger antithetisch, in einer Kritik des Man, also des Konformismus der Vielen und der falschen Selbstverständlichkeiten dessen, was man zunächst und zumeist tut und denkt. Das Man philosophiert ganz epikureisch: Der Tod ist nichts für uns – »zunächst bleibt man selbst unbetroffen« (253). Das epikureische Man besorgt derart die Sorglosigkeit, die ständige Beruhigung und unbehelligte Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod. Aber das ist für Heidegger eine feige Fluchtbewegung. Mutig ist nicht, wer keine Angst vor dem Tod hat, sondern der, der den »Mut zur Angst« vor ihm hat. Und als sei es direkt zu Epikur gesprochen, heißt es in »Sein und Zeit«: »Die Ausbildung einer solchen ›überlegenen‹ Gleichgültigkeit entfremdet das Dasein seinem eigensten, unbezüglichen Seinkönnen.« (254) Heideggers Sein zum Tode ist also die schärfste Antithese zu Epikur. Gegen die Ataraxie, die göttliche Sorglosigkeit, setzt er Cura, die Sorge, die immer den Doppelsinn von Angst und Hingabe hat. Heideggers Sorge heißt ursprünglich Selbstbekümmerung. Die große Seinsfrage, die Heidegger einer Jahrhunderte währenden Vergessenheit, die Positivismus heißt, entreißen wollte, gründet in der Daseinssorge, in der es dem Menschen um sein Sein geht. Der entscheidende anti-epikureische Satz über das richtige Leben lautet dann: Gerade durch das Sein zum Tode wird das Dasein ganz. Das Dasein hat nicht einfach nur Sorgen, sondern ist Sorge. Damit wird das In-der-Weltsein zum exakten Gegenbild zur Weltlosigkeit der sorglosen Epikurischen Götter in ihren Intermundien. Hans Blumenberg schreibt dazu: »Im letzten bleibt Heideggers von Sorge gezeichneter Mensch der des frühen Luther, mit dem sich der Heidegger der Marburger Zeit so eingehend beschäftigt haben soll: einer, der kraft seines natürlichen Seins nicht anders kann, als nicht zu wollen, dass Gott Gott sei, und nur zu wollen, er selbst sei es.« 13 Wenn man diese Überlegung Blumenbergs weiterdenkt, könnte 13
Blumenberg, Beschreibung des Menschen, 201 f.
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Ungebrochene Faszination
man sagen: Die Seinsfrage Martin Heideggers bleibt rätselhaft, wenn man nicht den Schlüssel Martin Luther hat. Wir können nämlich sehen, dass diese Frage Heideggers an exakt die Stelle tritt, die bei Luther die Frage nach dem gnädigen Gott besetzt hält. Das Sein des Seienden ist das Wort Gottes, das im Anfang war. Heidegger räumt ja mehrfach ein, dass er von den erbaulichen Schriften Luthers und Kierkegaards gelernt hat – wohlgemerkt von den erbaulichen, nicht von den dogmatischen (10, 235). Daraus könnte man schlussfolgern: Die Frage des Glaubens nach dem Sein zu Gott findet ihr Komplement in der Seinsfrage. Komplementarität heißt für Heidegger aber nicht Säkularisierung. Und deshalb tritt seine Fundamentalontologie auch immer wieder mit einer systematischen Zurückweisung der Säkularisierungsthese auf. So heißt es in den Marburger Vorlesungen vom Wintersemester 1925/26 zwar, die Daseinsstruktur der Eigentlichkeit entspreche durchaus der christlichen Daseinsauslegung. Doch dann sagt Heidegger: »Es darf aber nicht diese Struktur so verstanden werden, als wäre sie selbst eine spezifisch dem christlichen Daseinsbewusstsein zugehörige, sondern die Dinge liegen umgekehrt; sofern das Dasein in sich selbst qua Sorge diese Struktur hat, besteht die Möglichkeit einer spezifisch christlichen Auffassung des Daseins«. 14 Kommen wir nun zu Heideggers ›Anthropologie als ob nicht‹. »Sein und Zeit« fasziniert durch präzise anthropologische Beschreibungen, die Heidegger dann aber immer wieder in die Frage nach dem Sinn von Sein zurücknimmt. Der Leser ist beeindruckt von der diagnostischen Kraft der Analyse der Alltäglichkeit, um dann aber zu erfahren, dass es darum nicht geht. Zugleich wird aber auch die Leere des gesuchten Sinns von Sein durch die Fülle der anthropologischen Einsichten immer wieder dem Blick entzogen. Vielleicht lässt sich die ungebrochene Faszination durch »Sein und Zeit« so am besten erklären: Heidegger kombiniert die äußerste Abstraktheit und extremste Formalisierung der Seinsfrage mit der äußersten Konkretheit der Daseinsanalytik. Die Suggestion der Lebensnähe wird dann aber immer wieder durch die Warnung gebrochen, man dürfe die Daseinsanalyse nicht mit Anthropologie verwechseln. So heißt es in der Marburger Vorlesung vom Sommersemester 1925: »Wir stellen uns grundsätzlich außerhalb dieses Erfahrungs- und Fragehorizontes, den die Defini14
Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, Bd. 21, 232.
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Norbert Bolz
tion des gebräuchlichsten Namens für dieses Seiende – d. i. Mensch – homo animal rationale – vorzeichnet.« 15 Die »Uraufgabe einer Analyse des Daseins« 16 soll gerade nicht mit philosophischer Anthropologie verwechselt werden. Sie antwortet auch nicht auf die Frage nach dem Sinn des Lebens, sondern bereitet die Frage nach dem Sinn von Sein vor. Kant hat ja die großen Fragen der Philosophie – Was können wir wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? – resümiert in der Frage: Was ist der Mensch? Heidegger scheint das noch zu überbieten mit der Frage: Was ist der Sinn von Sein? Man könnte das natürlich auch als Verzicht interpretieren. So hat Hans Blumenberg von dem »Verzicht, nach dem Sein statt nach sich selbst zu fragen« 17 gesprochen. In jedem Fall aber wird die Frage »Was ist der Mensch?« ersetzt durch das Dasein, dem es um sein Sein geht. Die Frage nach dem Sinn von Sein ist der Grenzwert philosophischen Fragens. Sie ist von allen großen Fragen die größte. Und sie wird zum Faszinosum, weil die gesuchte Fundamentalontologie in der Kryptoanthropologie des Daseins enthalten ist. Die Frage nach dem Sein muss man nämlich an dasjenige Seiende richten, das im emphatischsten Sinne »ist«, nämlich endlich existiert. Endlichkeit heißt ja konkret Sterblichkeit, Faktizität als unverfügbare Wirklichkeit, die nur hingenommen werden kann. Eigentliches Dasein ist Sein zum Tode als dem Unverfügbaren schlechthin – er kann jederzeit kommen. Endlichkeit, die undurchstreichbare Unganzheit des Daseins (242), verweist auf das Ganzsein durch das Sein zum Tode (249) als dem konkreten Sich-vorweg-sein. So wird die Sorge zum Existenzialapriori (193), nämlich als Vor-Struktur des Sich-vorweg-seins. Apriori heißt jetzt vorgängiger Entwurf (362). Die Daseinsanalyse ist der Seinsfrage ebenbürtig, weil sie nach diesem Apriori fragt, das der Frage »Was ist der Mensch?« zugrunde liegt. Es geht um das ontologische Fundament der traditionellen Anthropologie. Und das wird durch einen Kulturvergleich gerade verfehlt, wenn man also meint, »das Verstehen der fremdesten Kulturen und die ›Synthese‹ dieser mit der eigenen führe zur restlosen und erst echten Aufklärung des Daseins über sich selbst.« (178) In der Auszeichnung des Daseins im Blick auf die Seinsfrage 15 16 17
Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, 207. A. a. O., 201. Blumenberg, Die Verführbarkeit des Philosophen, 58.
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Ungebrochene Faszination
steckt die Verheißung, jeder Mensch könne sich der großen philosophischen Aufgabe stellen. So heißt es schon bei Kierkegaard: »jeder Mensch, der auf sich selbst achtet, weiß, was keine Wissenschaft weiß, da er weiß, wie er selbst ist«. 18 Wie Heideggers Jemeinigkeit ist schon Kierkegaards Einzelner dadurch charakterisiert, dass »das Selbst es selbst sein will«. 19 Dieser Vergleich ist deshalb aufschlussreich, weil man hier sehen kann, wie die ›Anthropologie als ob nicht‹ wieder in die ›Theologie als ob nicht‹ mündet. Wenn es Kierkegaard darum geht, »dass dieser einzelne Mensch vor Gott da ist«, 20 dann haben wir die Urform des Daseins vor uns. Sein des Da meint bei Kierkegaard, dass »sein Selbst vor diesem Gott da ist«. 21 Heidegger zieht nun einfach das »vor Gott« ab. Was dem Dasein bleibt, ist dann »sein Sein als Da« (134). Kommen wir schließlich zur ›Kulturkritik als ob nicht‹. Ihre Kontrastfolie kann man durch Zarathustras Mahnung bestimmen: Wirf den Helden in deiner Seele nicht weg! Einen Helden zu haben, scheint ein Privileg der Jugend zu sein. Selbst auf dem trivialen Niveau der Unterhaltung bilden Bewunderung, Enthusiasmus und Heldenverehrung nach wie vor das Medium, in dem sich ein Charakter entwickelt. Und man bleibt genau so lange jung, wie man Helden hat, die man verehrt. Deshalb hat Nietzsche vor der Verleumdung unserer höchsten Hoffnungen gewarnt: eben »wirf den Helden in deiner Seele nicht weg!« 22 Diese Warnung ist dann in »Sein und Zeit« Philosophie geworden. Im Kapitel über die Grundverfassung der Geschichtlichkeit spricht Heidegger ausdrücklich davon, »dass das Dasein sich seinen Helden wählt« (385). Das ist keineswegs metaphorisch gemeint. Indem sich das Dasein seinen Helden wählt, wiederholt es eine faktisch existent gewesene Möglichkeit. Mein Held wirkt als Kraft der Möglichkeit in meinem Dasein. Und gerade indem ich mich vor der Autorität dieser heroischen Existenzmöglichkeit beuge, bin ich meinem eigenen Selbst treu. Entscheidend wichtig für unsere Fragestellung ist nun: Die Wiederholung einer überlieferten Existenzmöglichkeit erwidert diese
18 19 20 21 22
Sören Kierkegaard, Der Begriff Angst, Philosophische Schriften Bd. 2, 232. Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, a. a. O., 693. A. a. O., 719. A. a. O., 676. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Werke Bd. II, 309.
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Möglichkeit, widerruft damit die Macht der Vergangenheit und »entgegenwärtigt« die Gegenwart. So buchstabiert Heidegger Nietzsches Begriff des Unzeitgemäßen. Der entscheidende Effekt, den die Orientierung an der Autorität des Helden hat, ist die »Entwöhnung von den Üblichkeiten«. (391) Und diese Üblichkeiten sind der Gegenstand der ›Kulturkritik als ob nicht‹, so wie sie vor allem im berühmten § 27 über das alltägliche Selbstsein und das Man entwickelt wird. Sie hat zwei Schwerpunkte, nämlich zum einen die Kritik der Seinsentlastung und zum andern die Kritik der Öffentlichkeit. In »Sein und Zeit« sollen sie zwar nicht moralistisch klingen, sondern ein Resultat der phänomenologischen Einstellung sein. Doch wird jeder unbefangene Leser die Analyse der Fürsorge (122) als Kritik des Paternalismus verstehen. Hier eine besonders deutliche Variante aus der Logik-Vorlesung des Wintersemesters 1925/26: »Die Fürsorge kann sich so verhalten, dass sie dem Anderen gleich die Sorge abnimmt und im Besorgen sich an seine Stelle setzt, für ihn einspringt. Darin liegt, dass der Andere sich aufgibt und zurücktritt, um dann das für ihn Besorgte fertig zu übernehmen, bzw. sich gänzlich davon zu entlasten. In dieser Fürsorge wird der, für den die Sorge einspringt, der Abhängige und Beherrschte«. 23 Die »Diktatur« des Man stabilisiert sich als unauffällige Herrschaft der Anderen, die dem Einzelnen »das Sein abgenommen« (126) haben, die Verantwortung übernehmen und die Entscheidung verdrängen. Man ist niemand, und darein löst sich das seinsentlastete Dasein des Massenmenschen auf. Eine Urzelle der Heidegger’schen Man-Analyse bildet Kierkegaards Kritik des Publikums. Indem es die Einzelnen gerade im Moment ihres Nichtseins fasst, »ist Publikum ein ungeheuerliches Etwas, das abstrakte Öde und Leere, welches alle und niemand ist«. 24 Öffentliche Meinungsfreiheit ist für Heidegger nur Gerede und Geschreibe in dem präzisen Sinne, den Kierkegaard seinem Begriff »Geschwätz« 25 gegeben hat. In »Sein und Zeit« wird dieser Befund zwar immer wieder formalisiert, wenn etwa die Alltäglichkeit des Verfallens als »Verlorensein in die Öffentlichkeit des Man« (175) charakterisiert wird. Doch in den Marburger Vorlesungen von SommerHeidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, 223. Kierkegaard, Literarische Anzeige, 97 ff. 25 Kierkegaard, Der Begriff Angst, 245, 255. Bultmann, Glauben und Verstehen Bd. I. 136 f., hat das Man als die »Welt des gesunden Menschenverstandes« definiert. 23 24
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Ungebrochene Faszination
semester 1925 formuliert Heidegger noch ungeschminkt, dass »der Mensch das Element seiner Existenz im Gekünstelten, Verlogenen, immer schon von anderen Beschwatzten hat«. 26
III. Die extremen Stimmungen: Angst und Langeweile Kommen wir noch einmal auf den Satz zurück, der die Schwierigkeit, nach dem Sein zu fragen, am deutlichsten formuliert: »Das Sein ist definitorisch aus höheren Begriffen nicht abzuleiten und durch niedere nicht darzustellen.« (4) Aber kann man noch tiefer loten? Dass in »Sein und Zeit« nicht von Kategorien, sondern von Existenzialien die Rede ist, bringt die Stimmung gegen die theoretische Anschauung in Stellung. Heideggers neues Denken geht davon aus, dass Stimmungen die Welt ursprünglicher erschließen als das Erkennen. Wir sagten bereits: Husserls Operation der Epochä ermöglicht eine »Umschaltung des Blickes«, 27 die die Intentionalität herauspräpariert, also eine Umschaltung von Was zum Wie. Und dabei zeigt sich eben die Emotionalität, die der Intentionalität zugrunde liegt. Max Scheler hatte das an den Gefühlen von Liebe und Hass gerade vorgeführt, aber man findet entsprechende Analysen eben auch schon bei Kierkegaard. So heißt es in »Der Begriff der Angst«, es sei das Höchste, zu lernen sich recht zu ängstigen; je tiefer die Angst, desto größer der Mensch. Die Angst bilde den Menschen durch die Möglichkeit der Freiheit, »indem sie alle Endlichkeiten verzehrt, alle Täuschungen derselben aufdeckt […]; und kein noch so scharfsinniger Richter versteht den Angeklagten so auszuexaminieren, wie die Angst, die ihn nie entschlüpfen läßt, nicht in der Zerstreuung, nicht im Lärm, nicht unter der Arbeit«. 28 So Kierkegaard. Gerade in der Angst erfährt das Dasein sein Sein im Sinne des In-der-Welt-seins. Deshalb nennt der Heidegger der Marburger Vorlesungen von 1925 die Angst eine »Affektion vom Sein als solchem«. 29 Sich richtig zu ängstigen, will aber gelernt sein – eine in der modernen Gesellschaft durchaus schwierige Lektion. Denn ein von Heidegger geradezu gnostisch verstandener Betrieb von »Betäu26 27 28 29
Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, 37. A. a. O., 136. Kierkegaard, Der Begriff der Angst, 291. Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, 403.
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bungen« und »Zerstreuungen« verhindert den Ausbruch der Angst, genauer: den Ausbruch von Angst – und Langeweile. Langeweile nämlich ist die genau entgegengesetzte extreme Stimmung, die die Welt erschließt. Schon die Vorlesung vom Freiburger Wintersemester 1929/30 arbeitet dann mit der funktionalen Äquivalenz von »sich langweilen« und »sich ängstigen«. Und die Sondierung der Stimmung Langeweile scheint für die heutige Gesellschaft noch faszinierendere Befunde bereit zu halten als der prominente Existenzialismus der Angst. Sehen wir näher zu. Der französische Wirtschaftsmathematiker Antoine-Augustin Cournot hatte schon Mitte des 19. Jahrhunderts erstmals das Bild einer zivilisatorischen Phase entworfen, die man dann Posthistoire, also Nachgeschichte, genannt hat: die Zeit nach dem Ende der Geschichte. Die Leidenschaften des politischen Lebens haben sich beruhigt; alle Interessen haben als gemeinsamen Nenner die Aufrechterhaltung des Status quo. Das Gesellschaftssystem stellt sich auf Dauer, indem es alle politischen Kräfte neutralisiert. Dadurch werden alle Lebensenergien abgespannt. Absehbar wird ein Endzustand absoluter Kristallisation, in dem die Menschen wie Termiten ein Gehäuse endloser Routinen und Ereignisfolgen bewohnen. Dieses statische Zeitalter der Nachgeschichte hat dann wieder die Stabilität der Vorgeschichte erreicht. Es entwickelt sich ohne Krise, ohne Bewusstsein und ohne Freiheit. Posthistoire heißt aber nicht, dass nichts mehr geschieht. Im Gegenteil: Ereignisse, Sensationen, Katastrophen allerorten. Aber es ändert sich nichts Wesentliches mehr in der Grundstruktur der westlichen Gesellschaft. Die wohl berühmteste und polemischste Figuration des Posthistoire bietet Zarathustras Lehre vom Letzten Menschen. »Alle sehr gleich, sehr klein, sehr rund, sehr verträglich, sehr langweilig. Ein kleines, schwaches, dämmerndes Wohlgefühl über alle gleichmäßig verbreitet, ein verbessertes und auf die Spitze getriebenes Chinesentum.« 30 Im Posthistoire des Wohlfahrtsstaats ist Langeweile das Zentralproblem: eine universale geistige Stagnation. Der Letzte Mensch hat viel freie Zeit, aber keine Muße. Muße ist ein Wort aus einer längst vergangenen Zeit. Es klingt so antiquiert wie Tugend oder Frömmigkeit. Jedenfalls lässt sich heute nur noch schwer nachvollziehen, dass Muße einmal ein positiver Begriff für die erstrebenswerte Lebensführung war. Unsere Maßstäbe der Be30
Nietzsche, Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe Bd. 9, 73.
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urteilung sind nämlich die der Industriegesellschaft und ihrer Arbeitsmoral. Muße haben heißt ja, Zeit zu verbringen, ohne etwas zu produzieren. Deshalb erscheint der Müßiggänger aus der Perspektive der Arbeitsmoral als Parasit. Diese Arbeitsethik hat dem kontemplativen Leben ein schlechtes Gewissen gemacht. In Nietzsches »Fröhlicher Wissenschaft« heißt es dazu sehr schön: »Man schämt sich jetzt schon der Ruhe; das lange Nachsinnen macht beinahe Gewissensbisse. Man denkt mit der Uhr in der Hand, wie man zu Mittag isst, das Auge auf das Börsenblatt gerichtet, – man lebt wie einer, der fortwährend etwas ›versäumen könnte‹.« 31 Wir dürfen also die Freizeit nicht mit der Muße verwechseln. Wir könnten allenfalls sagen: Freizeit ist die Verbürgerlichung des aristokratischen Müßiggangs. Diese Verbürgerlichung vollzieht sich als Verdrängung, und zwar in den Medien des Konsums und der Unterhaltung. In der Freizeit hat nämlich der Konsum die Muße ersetzt. Und Unterhaltung ist die entstellte Gestalt, in der die verdrängte Muße in der Industriegesellschaft wiedergekehrt ist. Sie ist, um es noch einmal mit Nietzsche zu sagen, das Vergnügen für »müdegearbeitete Sklaven«. Muße zu haben, ohne Langeweile zu empfinden, war aristokratisch. Unterhaltung zu suchen, um die Langeweile zu vertreiben, ist massendemokratisch. Seit wir in der modernen Welt leben, hat sich die Muße zur Unterhaltung verlangweiligt. Und seither amüsieren wir uns zu Tode. Zerstreuung durch Unterhaltung und die Qual der Langeweile sind also die zwei Seiten derselben Medaille. Martin Heidegger war einer der wenigen Philosophen, die sich um eine systematische Aufhellung dieser gelangweilten und deshalb zerstreuten Existenz bemüht haben. Er charakterisiert sie sehr schön als ein »mitplätscherndes Dabeisein, ein Sichmitnehmenlassen von dem, was da gerade sich abspielt.« 32 Wer sich langweilt, erfährt die Zeit als Feind. Aber gerade deshalb liegt in der Langeweile die einmalige Chance der Aufmerksamkeit auf die Zeit – die eben nicht vergehen will! Deshalb ist diese Stimmung für die Existenzphilosophie so kostbar. Denn in der Langeweile entdeckt das Dasein des Menschen seine Zeitlichkeit. Wer sich selbst kennen lernen will, muss die Negativität dieser Stimmung aushalten. 31 32
Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft, § 329. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, Bd. 29/30, 177.
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Norbert Bolz
Das ist charakteristisch für unsere moderne Welt. Ein großer Roman heißt »Der Ekel«, ein großer Film hat den Titel »Die Verachtung« und unser ganzes Zeitalter ist als eines der Angst beschrieben worden. Der denkende Mensch, der Orientierung sucht, wird auf eine »negative Dialektik« verwiesen, der gläubige Mensch auf eine »negative Theologie«. Und wenn der Mensch das Seiende ist, dem es um sein Sein geht, dann zeigt sich dieses Sein des Menschen im Horizont der Zeit heute eben nur als Langeweile. Sie ist die Begegnung mit dem Nichts, die große Leere, die Theologen als Gottlosigkeit und Philosophen als Nihilismus bezeichnen. Nur dieser negative Weg scheint noch offen. Der Startmechanismus der Philosophie ist heute ein anderer als zu Platons Zeiten. Am Anfang der antiken Philosophie stand das Staunen, am Anfang der modernen Philosophie steht die Langeweile. In den »Philosophischen Lehrjahren« von Friedrich Schlegel heißt es dazu: »Die Begeisterung der Langeweile ist die erste Regung der Philosophie. Alle Langeweile die man hat, macht man eigentlich sich selbst.« 33 Die Begeisterung der Langeweile – das ist eine schöne Paradoxie, die wir jetzt nur noch entfalten müssen. Schlegel selbst gibt dazu den entscheidenden Hinweis, wenn er sagt, dass alle Langeweile aus mir selbst kommt. Schauen wir hier einmal genauer auf den alltäglichen Sprachgebrauch. Erstens, ich kann selbst ein Langweiler sein, das heißt andere langweilen. Zweitens, etwas kann mich langweilen. Und drittens, ich kann mich langweilen. Diese Formen haben natürlich sehr unterschiedliche Wertigkeiten. Am schlimmsten ist es, ein Langweiler zu sein, und deshalb hat La Rochefoucauld recht mit seinem Satz: Wir können denen nicht vergeben, die wir langweilen. Weniger problematisch ist es, wenn etwas mich langweilt; dann muss ich die Schuld nicht bei mir selbst suchen, bleibe aber Gefangener der Situation. Bewegung kommt in die Sache aber erst, wenn ich vom »etwas langweilt mich« durchstoße zum »mir ist langweilig«. Wenn ich nicht weiß, was mich langweilt, stehe ich nämlich kurz vor der Einsicht, dass mich nicht etwas langweilt, sondern ich mich selbst. Der Mensch ist von Stimmungen bestimmt, also nicht nur von der Sorge um Selbsterhaltung, sondern auch vom Unbehagen und Überdruss der Langeweile. Das ist das Thema der Existenzphilosophie. Und ihre erstaunliche ursprüngliche Einsicht liegt darin, dass 33
Friedrich Schlegel, Kritische Ausgabe, Bd. XVIII, 87, 689.
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Ungebrochene Faszination
uns gerade die negativen Stimmungen wie Langeweile und Angst die Welt erschließen. Es ist einem unheimlich – es ist einem langweilig. Im Blick auf das Sein sind das äquivalente Stimmungen. Möge die Sunshine-Psychology den Flow als Korridor zwischen Anxiety und Boredom preisen – Heideggers Erkundungsgang des souveränen Denkens geht in die Extreme, nämlich die Angst (die das Nichts erschließt) und die Langeweile (die das Seiende im Ganzen erschließt). Ich betone das deshalb, weil jene sehr populär gewordene Theorie des Flow von Mihaly Csikszentmihalyi davon ausgeht, dass das gute, erfreuliche Leben gerade einen Mittelkurs zwischen Angst und Langeweile steuern muss. Er geht zu Recht davon aus, dass die Philosophen ihr großes Thema des guten Lebens vernachlässigt haben, und er versteht sein eigenes Buch als Startschuss für eine wissenschaftliche Erforschung der Lebensfreude. In diesem Sinne untersucht er Handlungen, die sich selbst belohnen, und Erlebnisse, die in sich selbst befriedigend sind. Es geht also um das optimale Level der Stimulation, auf dem wir total involviert und fokussiert sind. Es gibt demnach einen schmalen Korridor der Lebensfreude zwischen Überforderung und Unterforderung, das heißt zwischen Angst und Langeweile. Das klingt überzeugend und hat auch viele überzeugt, und doch blockiert gerade die Theorie des Flow-Erlebnisses jedes tiefere Nachdenken über die Langeweile. Was diese mit der Existenzphilosophie verbindet, ist – so erstaunlich das zunächst klingt – ihre Unruhefunktion. Langeweile ist nämlich nicht Ruhe, im Gegenteil. Sie macht unruhig, weil sie unausgefüllt ist. Langeweile ist eine Leere, die auf ein unbestimmtes Anderes verweist. Noch deutlicher: Wer sich langweilt, will etwas anderes. Natürlich ist die extreme Stimmung, die in »Sein und Zeit« dominiert, die Angst – und das gibt dem Buch seinen existenzialistischen Drive. Aber es deutet doch einiges darauf hin, dass Heidegger ursprünglich vom Phänomen der Langeweile ausgegangen ist, das ja eben unmittelbar in den Horizont von Zeit versetzt. Was die Angst für den Raum leistet, leistet die Langeweile für die Zeit: die Reduktion aufs Ich. Sie ist präparierte indifferente Intentionalität. Langeweile beweist, dass man das Leben nicht auf Selbsterhaltung reduzieren kann. Die Langeweile ist eine Sehnsucht nach Hingabe. Sie lässt merken, dass es mit der neuzeitlichen Selbstbehauptung nicht getan ist. Selbsterhaltung ist natürlich eine selbstverständliche Notwendigkeit der Existenz. Aber schon ein modernes Allermundewort wie 41 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
Norbert Bolz
»Selbstverwirklichung« bringt zum Ausdruck, dass es dem Menschen um sehr viel mehr geht. Er ist das bewertende Wesen, und sobald er sich seiner Selbsterhaltung einigermaßen sicher ist, betrachtet er die Welt im wertenden Selbstvergleich. So entsteht der Neid, und der ist neben der Angst und der Langeweile eine der großen negativen Stimmungen, die uns die Welt erschließen. Und es sind diese Stimmungen, die der Letzte Mensch am besten kennt. Nicht umsonst setzen Heideggers Existenzialanalysen an den Befindlichkeiten des »Man« an. Hans Blumenberg bemerkt dazu mit feiner Ironie: »Man ist nicht wichtig, zugegeben; aber nichts ist wichtiger als man.« 34 Was ist Sein? Was ist der Sinn von Sein? Wir haben schon gesehen: Heidegger beantwortet die Seinsfrage nicht. Aber als Leser gewinnt man angesichts der Größe der Frage den Eindruck, es bleibe nichts zu fragen übrig. Statt der Antwort bekommt der Leser eine Auszeichnung. Die Frage ist ja adressiert an das Seiende, das im emphatischen Sinne »ist«. Und das ist die Existenz, d. h. das sterbliche Wesen – und zwar durchaus in seiner Alltäglichkeit. Das ist wohl der Kern des Faszinosums »Sein und Zeit«: Aus dem Alltag und seinen Stimmungen heraus kann man zum neuen Denken kommen. Die größte philosophische Aufgabe ist wieder auf das Maß des Menschen gebracht.
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Blumenberg, Höhlenausgänge, 11.
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Ingeborg Schüßler
Die Lichtung des Seins aus der Zeit Zu Heideggers Grundgedanken und seinen Wandlungen
I.
Einleitende Bemerkungen: Heideggers Frage nach dem Sein und ihre Aktualität
Wir leben heute im Zeitalter der Vollendung sowie des Endes der Metaphysik, wie sie mit Platon, d. h. mit der von ihm als das »eigentlich Seiende« (τὸ ὂν ὄντως) 1 erfahrenen und gesetzten übersinnlichen Idee, beginnt. Wenn die Vollendung solcher ›Ideen-Metaphysik‹ darin besteht, dass die Idee – und mit ihr die Vernunft (νοῦς) als Sicht des wahren und einigen Seins – in einem letzten höchsten Aufschwung absolut, d. i. allumfassend wird (wie dies in den absoluten Systemen des Deutschen Idealismus, insbesondere dem eines Hegel, geschieht), so beruht das Ende derselben sowohl darin, dass die Idee – gleichsam erschöpft – sich nicht länger als Realität zu halten vermag und fortan nur noch als realitätsloses, leeres Schema fungiert, wie auch darin, dass die Vernunft – bar des wahren und einigen Seins – zum bloß analytischen Verstand und schließlich zur rechnenden, maschinell operierenden ratio herabsinkt. Die Ideen- und Vernunft-Metaphysik geht in dem bereits von Nietzsche erfahrenen Nihilismus 2 sowie in der Herrschaft der modernen Maschinen-Technik unter, die heute in der Herrschaft der Rechner (Computer), d. h. in der Digitalisierung aller Lebensbereiche ihren vorzüglichen Exponenten hat. Mit dem Nihilismus aber breitet sich die Öde einer allgemeinen Wesenlosigkeit aus. Und mit dem rasant fortschreitenden Digitalismus Z. B. Phaidros 249c 4; Politeia VI, 490b 5. »Der ganze Idealismus der bisherigen Menschheit ist im Begriff, in Nihilismus umzuschlagen […]. Die Vernichtung der Ideale, die neue Öde […].« Nietzsche, KSA XII, Nachgelassene Fragmente, Ende 1886 – Frühjahr 1887, 7 [54]: 313. »[…] ›Nihilismus‹ (das durchbohrende Gefühl des – ›Nichts‹).«, KSA XIII, Nachgelassene Fragmente, November 1887 – März 1888, 11 [228]: 89. »[…] die ›höchsten Begriffe‹ […] de[r] letzte Rauch der verdunstenden Realität«. Götzendämmerung, »Die Vernunft in der Philosophie«, KSA VI: 76.
1 2
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Ingeborg Schüßler
kommt der heutige Mensch unter einen alle seine Kräfte unablässig herausfordernden Leistungsdruck – einen ›Dauerstress‹ – zu stehen, der ihm jene nihilistische Öde verhüllt. Sollte es aber sein, dass er am Ende aufschreckt und einhält und sich besinnt, dann wird er im Schrecken die abgründige Öde der Wesenlosigkeit erfahren 3 und sich womöglich in der »Besinnung« fragen, wie so etwas wie ein uns angehendes Wesen überhaupt und insbesondere heute inmitten der nihilistischen Wesenlosigkeit sowie der Herrschaft der Rechner möglich ist 4. Diese Frage hat bekanntlich Martin Heidegger in Gestalt der »Frage nach dem Sein« gestellt. Sie ist keine abstrakte Frage ontologischer Doktrinen, sondern sie geht uns alle heute existenziell an. Wie also ist es möglich, dass das Sein dessen, was ist, ins Wesen kommt und uns in diesem angeht? Soll dies möglich sein, muss es ins Offene heraustreten und aus diesem her zu uns her- und an-wesen. Worin aber beruht dieses Offene? Hier kann die überlieferte IdeenMetaphysik einen Hinweis geben. Wenn nämlich Platon – und seit ihm die Metaphysik – das Sein dessen, was ist, in die Idee setzte, so entsprach er damit dem für ihn maßgeblichen Kriterium des eigentlichen Seins, nämlich beständig und immer zu sein. Die übersinnliche Idee ist das immer Seiende (τὸ ὂν ἀεί), sie ist immer ein- und dieselbe (ταὐτὸν ἀεί) und beständig (βεβαίως) in Selbigkeit da- und an-wesend, während das Sinnliche das immer sich Wandelnde (τὸ γιγνόμενον ἀεί), ein bald so, bald Anderes (ἄλλοτ’ ἄλλως), immer auch Schwindendes ist 5. Darin aber liegt offenbar ein zeitliches Moment. Das Sein dessen, was ist, ist irgendwie durch die Zeit bestimmt 6. Wie kommt die Zeit in diesen Rang? Sollte sie dasjenige sein, aus dem her das Sein in das Offene seines Wesens gelangt? Als solche aber müsste Zur Erfahrung der Seinsverlassenheit und Öde des Seienden im Schrecken, vgl. Heidegger GA 65: 15 und 110. 4 In der »Besinnung« geht das Denken dem »Sinn« bzw. – wie Heidegger seit Anfang der dreißiger Jahre im Anhalt an die frühgriechische ἀ-λήθεια sagt – der »Wahrheit« des Seins nach. Vgl. Heidegger GA 66, Nr. 13: 48 sq und Nr. 14: 50. 5 Vgl. Timaios 27d 7; Phaidon 78c 1 – e 5; Kratylos 386a 3 sq. 6 Auch bildet die Zeit, wie Heidegger in der »Einleitung« zu Sein und Zeit herausstellt, das discrimen, durch das die verschiedenen Seinsregionen gegeneinander unterschieden werden. So wird seit Platon der Bereich des zeitlich Seienden, d. i. der Bereich von Natur und Geschichte, gegen den Bereich des unzeitlich Seienden, d. i. den des Mathematischen, und dieser wiederum gegen den des überzeitlich Seienden, d. i. den der Ideen, abgegrenzt. Und im Platonismus werden das Überzeitliche, Ewige einerseits und das Zeitliche, Vergängliche andererseits durch eine Kluft (χωρισμός) voneinander geschieden. Vgl. Heidegger GA 2: 26. 3
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Die Lichtung des Seins aus der Zeit.
sie anderen Wesens sein als die Zeit, die wir als Uhrzeit, d. h. als abzählbare Jetztfolge kennen, – vermag diese doch als Abfolge bloßer Jetztpunkte keineswegs das Offene für das Wesen des Seins abzugeben. Das hier zur Frage stehende Wesen der Zeit müsste also erst ans Licht gebracht werden. Dieser Aufgabe hat sich bekanntlich Heidegger seit Sein und Zeit gestellt.
II.
Heideggers Weg in Sein und Zeit. Die ekstatische Zeitlichkeit des Daseins als Offenheit (Horizont) des Seins des Daseins und des Seins überhaupt
Wie ist hier vorzugehen? Wo ist hier anzusetzen? Offenbar – so lautet Heideggers Antwort in Sein und Zeit – zunächst bei uns Menschen selbst. Denn wir Menschen sind dadurch ausgezeichnet, dass wir immer schon so etwas wie Sein verstehen, sei es auch zunächst nur unser eigenes Sein, unsere »Existenz« 7. In solchem Verstehen sind wir unserem eigenen Sein vorgängig geöffnet: Wir sind offen für es und in solcher Offenheit ist es, in welcher Weise und welchem Grade auch immer, offen für uns da. Sonst könnten wir es nicht verstehen. Insofern sind wir das uns in unserem eigenen Sein verstehende Da-sein 8. Aber indem wir uns in unserem eigenen Sein verstehen, verstehen wir auch immer schon irgendwie Sein überhaupt, – ist doch unser eigenes Sein gemäß Heidegger kein in sich abgekapseltes Sein (wie das neuzeitliche monadologische Subjekt des Bewusstseins), sondern von Haus aus ein In-der-Welt-Sein, so dass wir, indem wir uns in unserem eigenen Sein verstehen, immer auch schon in das Sein des Ganzen dessen, was überhaupt ist, hinausblicken. Mit unserem eigenen Sein ist uns auch immer schon die »Idee von Sein überhaupt« 9 mit gelichtet. Anders gesagt, im Verständnis unseres eigenen Seins ist das Verständnis des Seins überhaupt und im Ganzen (καθόλου) mitbeschlossen. Wir Menschen sind durch »Seinsverständnis« ausgezeichnet 10. Und so wie wir unser eigenes Sein nur verstehen, Heidegger GA 2: 16. »Wir sind das Da-sein« meint genau genommen: Wir sind – in transitiv-»aktivem« Sinne – das Da des Seins, d. h. wir übernehmen es (mit unserer Geburt) und tragen es (bis zu unserem Tode) aus. 9 Heidegger GA 2: 17. 10 »Seinsverständnis ist selbst eine Seinsbestimmtheit des Daseins«. Heidegger GA 2: 16. In der erst später von ihm hinzugefügten Randbemerkung erläutert Heidegger, 7 8
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sofern wir ihm geöffnet und es selbst offen für uns da ist, so ist auch unser Verstehen des Seins überhaupt und im Ganzen nur insofern möglich, als wir ihm geöffnet sind und es selbst offen für uns da ist. Und ebenso wie im Verständnis unseres eigenen Seins auch immer schon das Verständnis von Sein überhaupt mitbeschlossen ist, so ist auch im Offensein für unser eigenes Sein unser Offensein für das Sein überhaupt und mit ihm – so jedenfalls stellt es sich zunächst dar – die Offenheit des Seins überhaupt und im Ganzen mitbeschlossen. Soll also die Zeit als das Konstitutivum der Offenheit von Sein ans Licht gestellt werden, so ist von uns selbst als dem seinsverstehenden Da-sein, genauer: von dessen Verstehen seines eigenen Seins auszugehen, um darin zunächst das Phänomen seines Offenseins für sein eigenes Sein freizulegen und vermittelst desselben zuletzt das in ihm mitbeschlossene Phänomen seines Offenseins für das Sein überhaupt und damit die Offenheit des Seins selbst ans Licht zu bringen 11. Diesen Weg hat Heidegger bekanntlich in Sein und Zeit eingeschlagen. Terminologisch in der Sprache von Sein und Zeit gesagt: Die »existenziale Analytik« des sich in seiner Existenz verstehenden Daseins bildet das Fundament für die Freilegung des Phänomens der Erschlossenheit (Offenheit) von Sein überhaupt. Sie ist die »Fundamentalontologie« 12. inwiefern das so ist: »Sein [ist hier] aber nicht nur als Sein des Menschen (Existenz) [zu verstehen]. Dies wird klar aus dem Folgenden. Das In-der-Welt-sein schließt in sich den Bezug der Existenz zum Sein im Ganzen: Seinsverständnis.« Diese Klarstellung ist insofern erforderlich, als Heidegger das Sein des Daseins als In-der-Welt-Sein erst im Zweiten Kapitel von Sein und Zeit (§§ 12–13) einführt. Vgl. auch: »In der Entworfenheit seines Seins [i. e. des Seins des Daseins] auf das Worumwillen [i. e. auf sein Sein, um das es ihm geht] in eins mit der auf die Bedeutsamkeit (Welt) liegt Erschlossenheit von Sein überhaupt.« (GA 2: 196) 11 Heidegger folgt hier dem Weg des Aristoteles, demgemäß die Philosophie (als Erkenntnis der Dinge in ihrem Sein) so vorgeht, dass sie im Ausgang von dem uns zunächst Bekannten und Vertrauten (τὸ πρότερον πρὸς ἡμᾶς) das an sich selbst, d. i. der Sache nach zuerst Bekannte (τὸ πρότερον καθ’ αὑτό) ans Licht bringt (Physik I, 1; 184a 16–21 und An. post. I, 2; 71b 33-72a 1). Vgl. Schüßler 1979: 240 und 1985: 125 sq; Schüßler 1989: 279; Schüßler 1992: 15 sq. 12 Heidegger GA 2: 18. Hier ist es angebracht, den Terminus »Fundamentalontologie« noch genauer zu bestimmen. Gemäß dem § 3 von Sein und Zeit ist die »Fundamentalontologie« zunächst diejenige Ontologie, die nicht nur – wie die »regionalen Ontologien« (Ontologiae regionales) – nach dem Sein eines bestimmten Seinsbereiches und auch nicht – wie die »allgemeine Ontologie« (Ontologia generalis) – nach dem Sein überhaupt, sondern nach dem »Sinn«, d. i. der Offenheit desselben und damit – wie Heidegger noch in der Sprache der Metaphysik sagt – nach dem »Fun-
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Hier sei nur an das Resultat erinnert, zu dem Heidegger im § 65 von Sein und Zeit gelangt. Dieser trägt den Titel: »Die Zeitlichkeit als der ontologische Sinn der Sorge«. Im Titel ist von der »Sorge« und von der »Zeitlichkeit« als dem »Sinn der Sorge« die Rede. Die Sorge aber ist die Seinsstruktur des Daseins, während die Zeitlichkeit der zeitliche Grundcharakter des Seins desselben ist. Wenn nun im Titel die Zeitlichkeit als der Sinn der Sorge bezeichnet wird, so fungiert die Zeitlichkeit hier offenbar als das »Woraufhin«, auf das hin sich das Dasein verstehend entwirft, um sich in seinem Sein, d. i. seiner Sorgestruktur, zu verstehen, – meint doch der Terminus »Sinn«, wie Heidegger erläutert, das »Woraufhin« des Verstehens von etwas, das die Verständlichkeit der fraglichen Sache ausmacht 13. So wird ja auch dament« aller Ontologien fragt (die ihrerseits als regionale Ontologien die Wissenschaften fundieren). Sie ist allen Ontologien, auch der allgemeinen Ontologie, vorgelagert und sucht sie alle, mit Husserl gesagt, in einer »Letztbegründung« neu zu fundieren. Solche »Fundamentalontologie« beruht aber ihrerseits, gemäß dem § 4 von Sein und Zeit, in der existenzialen Analytik des seinsverstehenden Daseins. Denn es ist eben das Dasein, welches in seinem Seinsverständnis immer schon in den Sinn von Sein hinausblickt, so dass dieser von ihm her allererst in den Blick kommt und demnach auch von ihm her aufzuweisen ist. Insofern ist die Analytik der existenzialen Verfassung des Daseins in der Tat die »Fundamentalontologie«. Und durch solche in der Existenzialität beruhende Fundamentalontologie wären die Wissenschaften neu zu begründen. Wenn Heidegger bis zu seiner Freiburger Antrittsvorlesung (»Was ist Metaphysik?« 1929), ja bis zur Rektoratsrede (»Die Selbstbehauptung der deutschen Universität« 1933) an dem Projekt einer Neubegründung der Wissenschaften aus dem »Sinn von Sein« festgehalten hat, so hat er doch erkannt, dass dieses Projekt noch der Struktur der Metaphysik verhaftet ist und es spätestens seit den Beiträgen zur Philosophie (1936–38) aufgegeben, um fortan die Wissenschaften zwar als Exponenten des Geschickes von Sein, d. i. als Gestell, zu denken, sie aber – als nicht mehr durch das »postmetaphysische« Denken zu Begründende – auf sich beruhen zu lassen. Damit aber ist auch der Terminus »Fundamentalontologie« hinfällig. Was den Terminus »postmetaphysisch« betrifft, so wurde er durch Karl-Heinz Volkmann-Schluck, 1914–1981, im Anhalt an Heideggers Unterscheidung des »noch nicht metaphysischen« und »nicht mehr metaphysischen« Denkens (z. B. GA 15: 109–113 und 125–127) geprägt und von ihm in seinen Vorlesungen und Publikationen vielfach verwendet. »Postmetaphysisch« ist dasjenige Denken, das nicht mehr nach dem Sein als Bestimmtheit des Seienden, d. i. als Grund und Prinzip desselben, sondern nach dem Sinn, d. i. der Offenheit des Seins fragt. Zum Unterschied von »metaphysischem« und »postmetaphysischen« Denken vgl. die ausgezeichnete posthum erschienene Vorlesung von Volkmann-Schluck, Die PhilosophieMartin Heideggers 1996: 7– 26. 13 »Was bedeutet Sinn? […] Sinn [ist] das, worin sich die Verstehbarkeit von etwas hält […]. Sinn bedeutet das Woraufhin des primären Entwurfs, aus dem her etwas als das, was es ist, in seiner Möglichkeit begriffen werden kann.« (Heidegger GA 2: 429).
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ein für uns zunächst unverständliches ontisches Unternehmen dadurch verständlich, dass uns sein »Sinn« – nämlich sein »Wozu« (ἕνεκά του) und zuletzt sein »Worumwillen« (οὗ ἕνεκα), sein »Zweck« – aufgeht und wir es auf diesen hin und aus ihm her verstehen. Demgemäß wird auch das Sein erst dadurch verständlich, dass wir es auf seinen Sinn hin und aus ihm her verstehen. Aber der Sinn des Seins kann doch nicht in einem ontischen Wozu bzw. ontischen Zweck beruhen. Diese würden ja selbst erst als solche verständlich sein, wenn sie in ihrem Sein verstanden wären. Ihnen zuvor muss also bereits ihr Sein als solches verständlich und d. h. offen da sein. Demnach kann der Sinn des Seins niemals etwas Ontisches sein. Vielmehr kann er allein in der Offenheit des Seins als solcher beruhen. Und so steht es nicht nur mit dem Sein eines jeden Seienden, sondern auch mit dem Sein des Daseins, d. i. seiner Sorgestruktur. Wenn also im Titel des § 65 vom »Sinn der Sorge« die Rede ist, so ist damit gerade die zunächst in Sein und Zeit gesuchte Offenheit des Seins des Daseins, d. i. seiner Sorgestruktur gemeint, so zwar, dass solche Offenheit – wie eben der Terminus »Sinn« ebenfalls anzeigt – im Ausgang vom Verstehen des Daseins, von diesem her, als das »Woraufhin« seines verstehenden Entwurfs anvisiert wird und – in dieser Perspektive gesehen – als offener »Entwurfbereich« 14 bzw. offener »Horizont« 15 desselben fungiert. Aber im Titel ist nicht nur vom »Sinn der Sorge«, sondern eben auch schon von der Zeitlichkeit als dem »Sinn der Sorge« die Rede. Damit aber kündigt er an, dass die Zeitlichkeit des Daseins die fragliche Offenheit der Sorgestruktur Dabei ist der »primäre Entwurf« der des Seins in seiner Wesensmöglichkeit, und zwar nicht nur des eigenen Seins des Daseins, sondern des Seins überhaupt und im Ganzen, während der sekundäre, d. i. durch ihn erst mögliche Entwurf jeweils der des Verstehens des Seienden in seiner ontischen Möglichkeit ist. »Streng genommen bedeutet Sinn das Woraufhin des primären Entwurfs des Verstehens von Sein. Das sich selbst erschlossene In-der-Welt-sein versteht mit dem Sein des Seienden, das es selbst ist, gleichursprünglich das Sein des innerweltlich entdeckten Seienden […]. Alle ontische Erfahrung von Seienden […] gründe[t] in jeweils mehr oder minder durchsichtigen Entwürfen des Seins des entsprechenden Seienden. Diese Entwürfe aber bergen in sich ein Woraufhin, aus dem sich gleichsam das Verstehen von Sein nährt.« (Ibid.). Vgl. auch GA 2: 201. 14 Vgl. Heidegger GA 15: 334 sq. 15 So sagt Heidegger in der »Selbstanzeige« zu Sein und Zeit: »Die Abhandlung über ›Sein und Zeit‹ stellt sich die fundamentalontologische Aufgabe, den Horizont des Seinsverständnisses freizulegen. Als solchen Horizont versucht sie, die Zeit zu erweisen.« Heidegger GA 14:125.
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desselben ausmacht und dass sie es ihm ermöglicht, sich in dieser zu verstehen. Sofern nun aber – wie gesagt – in der Offenheit des Daseins für das eigene Sein als einem In-der-Welt-sein letztlich auch immer schon die Offenheit des Seins überhaupt und im Ganzen mitbeschlossen ist, müsste eben in der Zeitlichkeit des Daseins letztlich auch irgendwie die Offenheit des Seins überhaupt mitbeschlossen sein. Diese ist also im Durchgang durch die Zeitlichkeit des Daseins ans Licht zu bringen. Worin also besteht die Zeitlichkeit des Daseins? Da sie dem Dasein ermöglicht, sich in seinem eigenen Sein, seiner Sorgestruktur, zu verstehen, ist hier zunächst an die Sorgestruktur des Daseins zu erinnern. Diese wird bereits im § 4 von Sein und Zeit in dem bekannten Satz angezeigt: »Das Dasein ist ein Seiendes, dem es in seinem Sein um dieses Sein selbst geht« 16. Dem Dasein geht es also immer schon um sein Sein. Dieses lässt es sich angelegen sein. Um dieses sorgt es sich. In ihm ist es sich – es so oder anders verstehend – im verstehenden Entwurf sorgend vorweg. Aber es sorgt sich um dieses, weil es sich in ihm als einem In-der-Welt-Sein immer schon faktisch findet, weil es ihm mit seiner Geburt – ohne sein Zutun – überantwortet ist, weil es seiner nicht Herr ist, sondern in dieses geworfen ist. 17 Das Sein des Dasein ist geworfener Entwurf 18. Und weil es sich immer schon in seinem In-der-Welt-sein als einem geworfen Faktischen findet, findet es sich auch immer schon an das innerweltlich Seiende verwiesen, auf das es in seiner Geworfenheit angewiesen ist. Es ist sich also im Entwurf seines Seins verstehend vorweg, kommt von ihm her auf sein geworfenes In-der-Welt-Sein, in dem es schon ist, zurück und findet sich an das innerweltlich Seiende verwiesen, dergestalt dass es be-sorgend bei diesem ist. Demgemäß fasst Heidegger die Sorgestruktur des Daseins in der Formel: »sich-vorweg – schonsein-in – als sein-bei« 19. In dieser Sorgestruktur versteht sich also das Dasein. Und dieses Verständnis ist – wie gesagt – allein dadurch möglich, dass das Dasein offen für sie und sie selbst offen für es da ist. Wie aber konstituiert sich diese Offenheit? Eben durch die Zeitlichkeit des Daseins. Dies ist
Heidegger GA 2:16. So wie wir uns um einen Menschen (ein Kind z. B.) sorgen, der uns zwar anvertraut ist, ohne dass wir doch seiner jemals Herr sind und ihn in der Hand haben. 18 Heidegger GA 2: 197 (auch 191, 193). 19 Heidegger GA 2: 256, 260, 433. 16 17
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schon in der Sorgestruktur mit angezeigt 20. Deshalb sei diese jetzt in jedem ihrer drei Strukturmomente daraufhin durchgenommen 21: 1) Soll das Dasein sich verstehend in seiner eigenen Seinsmöglichkeit vorweg sein können, muss es sich in seinem Verstehen über alles Seiende hinweg vorgängig auf so etwas wie ein Offenes, d. i. einen offenen Horizont hin entwerfen, damit jene, d. i. die eigene Seinsmöglichkeit, aus diesem, d. i. dem offenen Horizont her als solche überhaupt auf es zu-kommen – »zu-wesen« – kann. Auf diesen offenen Horizont aber entwirft es sich, indem es sich über alles Seiende hinweg – und hier ist der Gebrauch von Präpositionen unvermeidlich – in das »Vor« bzw. das »Zu« – lateinisch gesagt: das Ad – als solches entrückt und gleichsam nichts denn dieses Zu als solches ist. Denn dann ist es in den offenen Horizont der Zu-kunft entrückt, ja ist selbst die Offenheit derselben, so dass es nun sein Sein aus dieser Offenheit her auf sich zu-kommen – »zu-wesen« – lassen und so sich verstehend auf es entwerfen kann. 2) Soll das Dasein sich in seinem Geworfensein, in dem es sich faktisch immer schon findet, verstehen, muss es sich auch in diesem Verstehen – und die Verhältnisse wiederholen sich – über alles Seiende hinweg vorgängig in einen offenen Horizont entrücken, damit aus ihm her sein Geworfensein als solches überhaupt offen als solches zu ihm her-wesen und es sich in ihm verstehen kann. In diesen aber entrückt es sich, indem es sich in das »Immer schon« als solches entrückt und nunmehr gleichsam nichts denn dieses »Immer Schon«, dieses sich ent-ziehende Gewesen, dieses ent-gehende Ab-wesen – lateinisch gesagt: dieses »Ab« – als solches ist. Denn dann ist es in den offenen Horizont des »Gewesen« entrückt, ja ist selbst die Offenheit desselben, so dass es nunmehr aus dieser sein geworfenes Sein, das es schon war, her-wesen lassen und sich in ihm verstehen kann. 3) Soll sich schließlich das Dasein in seinem besorgenden Sein beim innerweltlich Seienden – und das heißt primär: soll es dieses Seiende selbst in dessen zu besorgenden Bei-ihm-Sein – verstehen können, so muss es sich auch hier über alles Seiende hinweg in den entsprechenHeidegger GA 2: 327 sq. Wir folgen hier dem § 65 von Sein und Zeit. Vgl. Heidegger GA 2: 431 sq. Vgl. dazu auch Schüßler 1992: 20 sqq. 20 21
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den offenen Horizont entrücken, damit dieses zu besorgende Beiihm-sein des Seienden für es überhaupt zugänglich werden und es an-gehen soll können. In diesen aber entrückt es sich, indem es sich in das Bei – griechisch gesagt: in das παρά (wie in παρ-οὐσία) – als solches entrückt und nunmehr nichts denn dieses Bei, dieses παρά, als solches ist. Denn dann ist es in den offenen Horizont der Gegenwart entrückt, ja selbst die Offenheit derselben, so dass es nunmehr das innerweltlich Seiende in seinem zu besorgenden Bei-ihm-sein aus ihr her offen zu ihm her-wesen lassen und es als solches – und damit auch sich selbst in seinem besorgenden Bei-ihm-sein – verstehen kann. Die offenen Horizonte, auf die sich das Dasein verstehend entwirft, um sich in den Strukturmomenten seiner Sorgestruktur verstehen zu können, sind also Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart. In diese ist das Dasein jeweils über alles Seiende – auch über sich selbst als Seiendes – hinweg ins offene Draußen und Außer ihm selbst – griechisch-lateinisch gesagt ins Ex – als solches entrückt, dergestalt dass es dieses Außer-sich, dieses Ex, aus-steht und ist. Insofern sind die Entrückungen des Daseins in die offenen Horizonte von Zukunft, Gewesen und Gegenwart die »Ek-stasen« des Daseins. In diesen eröffnet und ist es, sie aus-stehend, jeweils die Offenheit für die entsprechenden Strukturmomente seiner Sorgestruktur: In der Ek-stase der Zukunft die Offenheit für sein allererst auf es zu-kommendes Sein, in der Ek-stase der Gewesenheit die Offenheit für sein faktisches Geworfensein und in der Ek-stase der Gegenwart die Offenheit für das zu besorgende Sein des innerweltlich Seienden. Aber die zeitlichen Ekstasen sind keine isoliert bestehenden Stücke, in die das Dasein auseinanderfallen würde. So wie vielmehr die Strukturmomente der Sorgestruktur immer schon in dieser geeint sind, so sind auch die entsprechenden zeitlichen Ekstasen des Daseins immer schon untereinander in einer bestimmten Einheit geeint. Ja, sie erst recht sind in einer Einheit geeint und müssen in dieser geeint sein, – ermöglichen sie doch als der Sinn – und d. h. jetzt als der einige offene Horizont – letztlich die Einheit der Sorgestruktur 22. Nun 22 Gemäß der metaphysischen Perspektive der »Letztbegründung«, der Sein und Zeit verhaftet bleibt, versteht Heidegger den »Sinn« der Sorgestruktur als Grund der Einheit derselben in der Mannigfaltigkeit ihrer Momente. Vgl. unsere Fußnote Nr. 12 und Heidegger GA 2: 433.
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zeichnet sich zwar gemäß der Formel der Sorgestruktur überhaupt – dem »sich-vorweg – schon-sein-in – als sein-bei« – bereits vor, dass innerhalb der drei Ekstasen die Ekstase der Zukunft den Primat hat und dass sie die beiden anderen ins Spiel bringt. Indes kommt es darauf an, die Einheit der Ekstasen in ihrer höchsten und eigentlichen Möglichkeit zu fassen, – geht es doch in Sein und Zeit am Ende darum, in der ekstatischen Offenheit des Seins des Da-seins die in ihr irgendwie mitbeschlossene Offenheit des Seins selbst freizulegen. Nun aber ist die höchste und eigentliche Einheit der Ekstasen offenbar diejenige, die es dem Dasein ermöglicht, sein Sein im Modus der »Eigentlichkeit«, d. h. auf eine eigens ihm zu eigene, »eigentliche« Seinsmöglichkeit hin zu verstehen. Deshalb stellt sich zunächst die Frage, wie das Dasein sein Sein und d. h. seine Sorgestruktur im Ganzen vollzieht, wenn es dieses im Modus der Eigentlichkeit vollzieht, um sodann im Ausgang vom eigentlichen Vollzug desselben die eigentliche Einheit der Ekstasen als den eigentlichen Sinn des Seins des Daseins aufzuweisen. Wie also vollzieht das Dasein sein Sein, d. h. seine Sorgestruktur, wenn es ihm um dieses nicht nur im Modus einer alltäglich-durchschnittlichen, »uneigentlichen«, sondern in seiner eigens ihm zu eigenen, »eigentlichen« Seinsmöglichkeit geht? Nun ist bekanntlich gemäß dem § 53 von Sein und Zeit die eigenste und letzte Möglichkeit eines jeden Daseins die Möglichkeit seines Todes, die es immer schon, sich auf sie entwerfend (ob ihr ausweichend oder nicht), im offenen Horizont seiner Zukunft auf sich zukommen lässt 23. Sie ist die »Eigenste«, sofern sie die schlechthin »unbezügliche«, unvertretbare Möglichkeit ist, die jedes Dasein selbst und allein zu übernehmen hat. Und sie ist die »Letzte«, sofern sie diejenige ist, mit der sich ihm aller offener Horizont, alle Offenheit seines Daseins überhaupt, schlechthin verschließt, so dass ihm die Möglichkeit, sich überhaupt auf Möglichkeiten entwerfen zu können, schlechthin genommen bzw. entzogen ist 24. Aber der Tod ist nicht nur die letzte, sondern auch die erste Möglichkeit des Daseins, – ist doch jedes menschliche Da-sein schon mit seiner Geburt dem Tode überantwortet. Insofern liegt der
Heidegger GA 2: 349 und 405sq. Vgl. auch Schüßler 1980: 30–36 und Schüßler 1993: 345–348. (Alle bibliographischen Referenzen sind auch für das Folgende gültig). 24 NB: Der Tod verschließt, entzieht, ist eine gleichsam »negative« Macht. Wir nehmen hier die Gelegenheit wahr, auf die Rolle des Todes aufmerksam zu machen, um damit spätere Gedankengänge vorzubereiten (vgl. infra, S. 19sq.) 23
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Tod – wie Heidegger später bündig sagt – nicht nur »vor ihm«, sondern immer auch »hinter ihm« 25: Er ist immer schon in seiner Geworfenheit hinterlegt, ja der ausgezeichnete Exponent derselben. Wenn nun das Dasein im ekstatischen Entwurf den Tod als eigenste Möglichkeit aus dem Horizont der Zukunft eigens auf sich zukommen lässt, dergestalt, dass es ihm – sich ängstigend – eigens »unter die Augen geht« 26, dann versinken ihm – angesichts des Todes als seiner eigensten Möglichkeit – nicht nur alle ontisch-alltäglichen Seinsmöglichkeiten sowie alles innerweltlich Seiende überhaupt in die Unbedeutsamkeit 27, sondern dann enthüllt sich ihm angesichts des Todes als der eigensten Möglichkeit auch und gerade die grundsätzliche Möglichkeit, sich auf sein Sein im Modus einer ihm zu eigenen, »eigentlichen« Seinsmöglichkeit zu entwerfen 28. Aber diese grundsätzliche Möglichkeit kommt doch zugleich – angesichts des Todes als der stets möglichen, letzten Möglichkeit des Sich-Verschließens aller seiner Offenheit – als eine nicht und niemals in seiner Macht Stehende, als »Ohn-mächtige«, »Nichtige« auf es zu, dergestalt dass es sich von ihr her auf seine Geworfenheit als den ohnmächtig »nichtigen Grund seiner Nichtigkeit« 29 zurückverwiesen findet, – wobei ihm indessen zugleich auch die Möglichkeit aufgeht, jener Geworfenheit seine in ihr hinterlegten, jeweils faktisch-ontischen, eigentlichen Seinsmöglichkeiten zu »entreißen« 30. Wenn nun aber das Dasein sich eigens auf jene besagte grundsätzliche Möglichkeit – und mit ihr auch schon auf eine bestimmte ontisch-faktische eigentliche Seinsmöglichkeit – entwirft, d. h. sie eigens aus dem offenen Horizont der Zukunft auf sich zukommen lässt, wenn es mit ihr also Ernst macht und sie – in der von Heidegger sog. »vorlaufenden Entschlossenheit« 31 – eigens als sein nicht und niemals in seiner Macht stehendes, »nichtiges« Sein übernimmt, dann eröffnet ihm solche Entschlossenheit zwar Heidegger GA 7: 180. Heidegger GA 2: 382. 27 NB: Der Tod räumt weg. Heidegger zeigt das Versinken alles Ontischen in die Unbedeutsamkeit vor allem in Bezug auf die Angst (vgl. GA 2: 247), die ja mit dem Sein zum Tode eng zusammengehört. (Angst ist Angst des Da-seins um sein In-derWelt-sein als ein ständig sich verschließen Könnendes. GA 2: 352, auch 408). Zur Befreiung von den ontisch-alltäglichen Seinsmöglichkeiten vgl. auch GA 2: 349 sq. 28 NB: Der Tod enthüllt, ist gleichsam »positiv«. GA 2: 349, 405 sq, 506. 29 Heidegger GA 2: 404, 406, 431. Vgl. GA 2: 376–378. 30 NB: Der Tod entzieht und enthüllt hier zumal. Zum »Entreißen« der ontisch-faktischen eigenen Seinsmöglichkeiten vgl. Heidegger GA 2: 506. 31 Heidegger GA 2: 405 sq. 25 26
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rückweisend seine schon wesende, »gewesene«, nichtige Geworfenheit, so jedoch, dass eben diese Entschlossenheit – als vorlaufende – das Dasein auch schon gegenwärtigend-augenblicklich für die Situation des innerweltlich Seienden werden und dieses in Werk und Tat be-sorgen lässt 32. Demgemäß einigen sich die Ekstasen des Daseins in der vorlaufenden Entschlossenheit – als dem eigentlichen Sein des Daseins zu seinem eigentlichen, immer auch nichtigen Seinkönnen – in der Weise, dass die Zukunft zwar zunächst die Gewesenheit und sodann von dieser her die Gegenwart eröffnet und wesen lässt, so jedoch, dass solche eröffnende Zukunft im besagten ekstatischen Augenblick die Gegenwart, ja sogar die Gewesenheit, auf sich selbst (die Zukunft) hin orientiert, d. h. auf sich selbst hin und zu ins Offene und ins Wesen bringt. Die Ekstase der Zukunft ist also die Erste und Beherrschende, dergestalt, dass sie die beiden anderen Ekstasen, Gewesenheit und Gegenwart, nicht nur eine nach der anderen der Reihe nach eröffnet, sondern sogleich auch schon die Gegenwart, die doch die Dritte ist, ja ihr zuvor sogar die Gewesenheit, die ihr (der Zukunft) entgegen ist, im Hinblick auf sich selbst ins Offene bringt: Zukünftig auf sich zurückkommend, bringt sich die Entschlossenheit gegenwärtigend in die Situation. Die Gewesenheit entspringt der Zukunft, so zwar, dass die gewesene (besser gewesende) Zukunft die Gegenwart aus sich entläßt. 33
Demgemäß beruht die eigentliche Einheit der Ekstasen in der »gewesend-gegenwärtigenden Zukunft« 34. Die Zukunft hat den Primat: Sie bringt eröffnend Gewesenheit und Gegenwart allererst ins Wesen und nimmt sie sogleich in ihren Horizont mit hinein. Da nun Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart die offenen Horizonte sind, auf die hin sich das Dasein über alles Seiende hinweg im verstehenden Entwurf seines Seins entwirft, dergestalt, dass es diese offenen Horizonte jeweils selbst ist, d. h. sie – in sie hinaus-stehend – bis zu seinem Tode, seiner letzten, äußersten Möglichkeit, »aussteht«, da sie also die Weisen seines eigenen ek-statisch-zeitlichen Seins sind, bildet die Einheit derselben die dreifach einige ek-statische »Zeitlichkeit« 35 des Daseins selbst. In dieser sind sie immer schon geeint und kommen stets nur als so Geeinte ins Spiel. Wie in jeder 32 33 34 35
Heidegger GA 2: 431 sq. Heidegger GA 2: 431 sq. Heidegger GA 2: 432. Ibid.
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Ekstase ist das Dasein auch in solcher einigen Zeitlichkeit – und in Wahrheit allein in ihr – das Draußen, das Außer, lateinisch: das Ex – in Bezug auf alles Seiende einschließlich seiner selbst (als Seienden). In ihr ist es nach allen drei Zeithorizonten in das Ex entrückt. Insofern ist das Dasein in dieser seiner Zeitlichkeit bzw. solche Zeitlichkeit selbst (als Weise, wie das Dasein ist) das »ἐκστατικόν schlechthin« 36. Und da es ursprünglich schon ins Ex seines dreifachen Zeithorizontes hinaussteht, nicht aber erst (wie das Selbstbewusstsein) aus sich heraustritt, ist die ekstatische Zeitlichkeit des Daseins das »Außer-sich an […] sich selbst« 37. Damit aber kommt ein anderes Phänomen der Zeit als die uns bekannte Jetztfolge ins Spiel, auch wenn dieses Phänomen sich mit der ekstatischen Zeitlichkeit des Daseins nur erst vorzeichnet. Dieses hat sein Wesen offenbar im Ex, im offenen Draußen des dreifach ekstatischen Zeithorizontes. Dieses Offene hat das Dasein im ekstatischen Entwurf seines Seins eröffnet und in dieses steht es hinaus und steht es aus 38. Indes ist dieses Stehen des Daseins im Ex seiner dreifach ekstatischen Zeitlichkeit kein fixer Zustand, sondern das Dasein steht nur in ihm, sofern es sich je und je auf es entwirft und seine Zeitlichkeit in diesem Sinne zeitigt. Die ekstatische Zeitlichkeit des Daseins ist nur in der Zeitigung ihrer selbst. Und sie zeitigt sich – gemäß den möglichen Verhältnissen ihres dreifachen Horizontes – in mannigfachen möglichen Weisen ihrer selbst. Insofern ist aus der eigentlichen Zeitlichkeit des Daseins am Ende auch die uns bekannte Zeit der Jetztfolge ableitbar 39. Jene erweist sich also als Ursprung von dieser. Deshalb Heidegger GA 2: 435. Ibid. (von Vf. hervorgehoben). 38 Angesichts der uns geläufigen Vorstellung der Zeit als Jetztfolge mag es uns schwerfallen, in diesem Phänomen das Wesen der Zeit, ja womöglich ein ursprünglicheres Wesen der Zeit als die Jetztfolge zu erkennen. Indes kann uns hier Hölderlins Erfahrung der Zeit helfen. Wenn Hölderlin die Zeit die »reißende« nennt, so hat er damit die Zeit nicht nur als fortreißende (vergehen machende), sondern auch und gerade als aufreißende im Blick. Die Zeit ist hier also von der Art eines Offenen, das »aufgerissen«, d. i. eröffnet wird. Ja sie ist es selbst, die – vor aller Eröffnung durch das Dasein – sich selbst als Offene aufreißt. Vgl. Heidegger GA 39: 109 (hier auch die bibliographischen Angaben zu Hölderlin). Ähnlich steht es mit dem Raum. Auch dieser beruht ursprünglich nicht in der sich ausbreitenden Punkt-Mannigfaltigkeit, sondern in einem nach drei Dimensionen sich erstreckenden Offenen, welches das menschliche Dasein »aufbricht«. Das gibt Heidegger zu verstehen, wenn er sich fragt, ob das Tier überhaupt imstande ist, Raum »aufzubrechen«. Heidegger GA 29/30: 354. 39 Heidegger leitet das Verständnis der Zeit als Jetztfolge aus der eigentlichen Zeitlichkeit des Daseins im Durchgang durch die Zeitlichkeit des Besorgens des innerwelt36 37
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kann die eigentliche Zeitlichkeit des Daseins gemäß Heidegger mit Recht die »ursprüngliche Zeit« genannt werden 40. Aber die Mannigfaltigkeit der Zeitigungsweisen der eigentlichen Zeitlichkeit des Daseins trägt weiter, – nämlich bis in die Aufgabenstellung hinein, um die es in Sein und Zeit letztlich geht. Wenn nämlich das Dasein nicht nur sein eigenes Sein, sondern in eins mit ihm als In-der-Welt-sein auch immer schon das Sein überhaupt und im Ganzen versteht, wenn also – wie zu Beginn gesagt – in der Offenheit seines eigenen Seins auch immer schon die Offenheit von Sein überhaupt mitbeschlossen ist, dann müsste eben in seiner ekstatischen Zeitlichkeit unter den mannigfachen Zeitigungsweisen ihrer selbst am Ende auch eine – freilich ausgezeichnete – Zeitigungsweise mitbeschlossen sein, in der sich das Dasein auf den dreifach offenen Horizont des Seins überhaupt entwerfen würde. Diesen würde es also selbst als weitesten Horizont eröffnen, um in ihn das Sein alles dessen, was überhaupt ist – nicht nur das des von ihm zu besorgenden innerweltlich Seienden, d. i. das seiner eigenen Um- und Mitwelt, sondern auch das der Natur, ja das des Göttlichen –, herein-wesen zu lassen und es so zur Verständlichkeit zu bringen. Diese ausgezeichnete Weise der ekstatischen Zeitlichkeit des Daseins würde also den fraglichen Sinn von Sein überhaupt ausmachen, so wahr dieser das Woraufhin und Woher des Verstehens desselben ausmacht. Mit ihr wäre die eigentliche Frage von Sein und Zeit beantwortet und die Aufgabenstellung von Sein und Zeit ins Ziel gekommen. Dies eben drückt Heidegger in den oft zitierten letzten Sätzen von Sein und Zeit aus, – freilich so, dass er sie großenteils in Form von Fragesätzen, also mit einer gewissen zögernden Vorsicht, formuliert: Demnach muß eine ursprüngliche Zeitigungsweise der ekstatischen Zeitlichkeit selbst den ekstatischen Entwurf von Sein überhaupt ermöglichen. Wie ist dieser Zeitigungsmodus zu interpretieren? Führt ein Weg von der ursprünglichen Zeit [d. i. der ekstatischen, eigentlichen Zeitlichkeit des Dalich Seienden und deren Nivellierung im uneigentlichen, alltäglich-verfallenden Sein bei diesem ab. (Vgl. Sein und Zeit, »Sechstes Kapitel: Zeitlichkeit und Innerzeitigkeit als der Ursprung des vulgären Zeitbegriffes«, insbes. §§ 79–81.) 40 »Wenn die der [durchschnittlich-alltäglichen] Verständigkeit des Daseins zugängliche Zeit [d. i. die Zeit als Jetztfolge] als nicht ursprünglich und vielmehr entspringend aus der eigentlichen Zeit nachgewiesen wird, dann rechtfertigt sich gemäß dem Satze, a potiori fit denominatio, die Benennung der jetzt freigelegten Zeitlichkeit als ursprüngliche Zeit.« Heidegger GA 2: 435.
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seins] zum Sinn des Seins [überhaupt]? Offenbart sich die Zeit selbst als Horizont des Seins? 41
Jedoch erweist sich dies am Ende als unmöglich. Denn wenn die Offenheit des Seins in einem Zeitigungsmodus der ekstatischen Zeitlichkeit des Daseins selbst bestünde, also in einem offenen Horizont, auf den sich das Dasein ursprünglich selbst verstehend entwerfen und den es durch seinen verstehenden Entwurf gewissermaßen konstituieren würde, so würde das bedeuten, dass das menschliche Dasein selbst der absolute Herr des Seins überhaupt und im Ganzen wäre, der es beliebig und willentlich in das Offene seines Wesens bringen könnte, und zwar nicht nur jeweils in seinem Dass, sondern auch – je nach seinen Zeitigungsweisen –in seinem jeweiligen Wie. Das aber ist unmöglich, – ist doch das Dasein seit seiner Geburt als geworfenes Sein-zum-Tode nicht einmal Herr seines eigenen Seins. Die Offenheit seines Seins kann sich jederzeit verschließen. Es hat sie – und mit ihr sein Sein – nicht in der Hand, ist ihrer nicht mächtig, und umso weniger und erst recht nicht der Offenheit und des Wesens des Seins überhaupt. Insofern endet der Entwurf von Sein und Zeit in einer Aporie. Freilich zeigt eine echte Aporie auch ihren möglichen Ausweg an. Worin aber würde dieser hier bestehen?
III. Die Aporie von Sein und Zeit und die Gewinnung des leitenden Grundgedankens Heideggers nach Sein und Zeit: Das in sich schwingende Ex des Seins selbst Gemäß der Endlichkeit des Daseins ist mit der ekstatischen Zeitlichkeit ein Phänomen der Zeit freigelegt, das allenfalls die bloße Offenheit des eigenen Seins des Daseins, keineswegs aber die Offenheit des Seins überhaupt auszumachen vermag. Aber es ist doch möglich, dass dieses Phänomen der Zeit – als Konstituens der Offenheit von Sein (sei es auch nur das des Daseins) – über sich in das Phänomen der
Heidegger, GA 2: 577. Was den letzten Satz betrifft, so verstehen wir ihn in folgendem Sinne: Offenbart sich »die Zeit«, d. i. die von Heidegger sog. »ursprüngliche Zeit«, also die ekstatische eigentliche Zeitlichkeit des Daseins, bereits »selbst« als der Horizont des Seins, d. i. des Seins alles dessen, was überhaupt ist? Vermag die Zeitlichkeit des Daseins als solche den Horizont des Seins abzugeben? So verstanden, drückt Heidegger im letzten Satz des veröffentlichten Teiles von Sein und Zeit bereits einen Zweifel aus. 41
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Offenheit des Seins selbst hinausweist. Die bisherige Analytik des Daseins auf die Zeitlichkeit hin wäre dann nicht vergeblich, sondern würde ein Phänomen der Zeit bereitstellen, das die phänomenale Grundlage für den Aufweis der Zeit als Konstituens der Offenheit von Sein überhaupt abgibt 42. Demnach wäre an der ekstatischen Zeitlichkeit des Daseins festzuhalten, so jedoch, dass – gemäß der ohnmächtigen Endlichkeit des Daseins – das ganze bisherige Verhältnis zwischen Dasein und Sein umzukehren wäre: Nicht ist in der eigenen Offenheit des Daseins die Offenheit des Seins überhaupt – als ein Modus derselben – mitbeschlossen, sondern umgekehrt: in der Offenheit des Seins überhaupt ist die Offenheit des Daseins – als deren Modus – mitbeschlossen. Anders gesagt: nicht ist im eigenen ekstatisch offenen Horizont des Daseins der offene Horizont von Sein überhaupt, sondern umgekehrt: in diesem ist jener mitbeschlossen. Aber solches umgekehrte Mitbeschlossensein würde doch immer noch bedeuten, dass es das Dasein selbst ist, welches sich auf diesen weitesten offenen Horizont hin verstehend entwirft, – ist und bleibt doch ein Horizont als solcher das Woraufhin des verstehenden Entwurfs. Das Dasein würde diesen also immer noch selbst konstituieren und so immer noch der konstitutive Grund der Offenheit des Seins überhaupt und als solchen sein, – was eben angesichts seiner ohnmächtigen Endlichkeit unmöglich ist. Was also ist hier abzuwandeln? Als konstitutiver Grund von Horizonten ist das Dasein offenbar von der Art der neuzeitlichen, konstituierenden Subjektivität. Denn so wie im transzendentalen Idealismus eines Kant und insbesondere dem eines Fichte das Subjekt (das seiner selbst bewusste Ich) die Kategorien als Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens der Gegenständlichkeit der Gegenstände konstituiert, so bildet hier eben das Dasein – im verstehend ekstatischen Entwurf – die besagten Horizonte als die Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens von Sein. Damit aber kommt heraus, dass das Phänomen der ekstatischen Zeitlichkeit des Daseins, ja das ganze Sein des Daseins überhaupt, bisher – trotz allen ek-statischen Draußen- und Außer-sich-Seins – im Schat42 Dies gibt Heidegger in der Darlegung seines Denkweges im Seminar in Le Thor 1969 zu verstehen: »Wie ist ein nicht-metaphysisches Denken der Zeit [das diese nicht als Jetztfolge versteht] möglich? Es ist auf dem Wege der Analyse der Zeitlichkeit des Daseins möglich. Der Wesenscharakter dieser Zeitlichkeit beruht in der Ekstase […]. […] Die Analytik des Daseins erbringt […] das Rüstzeug, das den Sinn von Sein in seiner nicht-metaphysischen Bedeutung [d. i. als Offenheit] zu umgrenzen ermöglicht.« (Heidegger GA 15: 339).
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tenwurf der neuzeitlichen Subjektivität und insofern unter der nicht durchschauten Herrschaft derselben stand. Dieser Schatten muss beseitigt werden. Und es fragt sich, wie hier vorzugehen ist. Nun aber hat die entwerfende Subjektivität offenbar im Denken in Horizonten ihren Exponenten. Denn auf diese entwirft sie sich und diese bildet sie selbst im verstehenden Entwurf. Solange also die Offenheit des Seins als in Horizonten bestehend ausgelegt wird, bleibt sie der neuzeitlichen Subjektivität unterstellt. Deren Schatten kann nur beseitigt werden, wenn das Denken in Horizonten aufgegeben wird. Das Offene des Seins, in dem das ekstatische Offene des Daseins irgendwie mitbeschlossen ist, kann also nicht länger als Horizont gedacht werden. Das Horizontdenken ist abzuschaffen, und zwar gründlich, aus dem Grunde seiner Möglichkeit selbst. Nun aber ist alles Sich-Entwerfen auf Horizonte von der Art, dass es sich auf die Zukunft hin entwirft. Für den Entwurf des Seins auf Horizonte hin, hat – unter den drei Modi der Zeit – notwendig die Zukunft den Primat. Denn diese kann gestaltet werden 43. Um den Schatten der Subjektivität in der Auslegung des Verhältnisses von Dasein und Sein zu beseitigen, muss also nicht nur das Verhältnis von Dasein und Sein umgekehrt, sondern auch der für das Horizontdenken konstitutive Primat der Zukunft aufgegeben werden. An dessen Statt muss der Primat der Gewesenheit treten. Denn diese ist, wie sie war, und kann nicht gemacht werden 44. Die Gewesenheit muss fortan der erste Modus der Zeit sein, dergestalt, dass sie es ist, die die beiden anderen Modi der Zeit, Zukunft und Gegenwart, allererst eröffnet und ins Wesen bringt. Erst damit ist der über dem Verhältnis von Dasein und Sein liegende Schatten der neuzeitlichen, machtenden Subjektivität von Grund auf beseitigt. Eben dieses Ablassen vom Horizontdenken sowie die damit verbundene Umkehrung der Rangfolge von Zukunft und Gewesenheit Siehe Fußnote Nr. 44. Aristoteles, Nikomachische Ethik, VI, 2, 1139a 6–8 und b 5–11. Hier stellt Aristoteles heraus: Allein das »sein Werdende« (ἐσόμενον), das ein »Mögliches« (δυνατόν), »sich [so oder] anders verhalten Könnendes« (ἐνδεχόμενον ἄλλως ἔχειν) ist, ist Sache des »[praktischen] Überlegens« (βουλεύεσθαι) sowie des »Hervorbringens« bzw. »Machens« (ποιεῖν), nicht aber das »Gewordene« (γενόμενον), i. e. das bereits Geschehene, das ein »sich nicht anders verhalten Könnendes« (μὴ ἐνδεχόμενον ἄλλως ἔχειν) ist. Selbst dem Gotte bleibe es benommen – wie der Dichter Agathon treffend sage –, »das Geschehene ungeschehen zu machen« (ἀγένετα ποιεῖν ἄσσ’ ᾖ πεπραγμένα). Mit dieser Unterscheidung war Heidegger vertraut, wie seine Interpretation von Eth. Nic. cap. 2–4 bezeugt (in GA 19, 28 sqq.).
43 44
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deutet Heidegger in einer Randbemerkung zum »Aufriss« von Sein und Zeit an: […] Die Überwindung des Horizonts als solchen. Die Umkehr in die Herkunft. Das Anwesen aus dieser Herkunft. 45
Die Herkunft – und mit ihr die Gewesenheit als ihr ursprüngliches Wesen – hat nunmehr den Primat vor der Zukunft und bringt diese ins Wesen. Wie Heidegger auch sagt: »Herkunft […] [ist und] bleibt stets Zukunft« 46. Demgemäß ist das Phänomen der Offenheit des Seins überhaupt, wie es sich zunächst mit der ekstatischen Offenheit des Daseins für sein eigenes Sein vorzeichnete, nunmehr umzudenken. Zwar wird die Offenheit des Seins immer noch irgendwie im Offenen der Zeit, d. h. in den ekstatischen Modi derselben und deren Einheit bestehen. Denn diese sind ja als Ekstatische jeweils selbst von der Art des Ex, d. h. des öffnend Ent-rückenden, dergestalt, dass sie – jeder auf seine Weise –, wie sich gezeigt hat, ein offenes Draußen eröffnen, sei es, wie die Zukunft, das Offene für das Auf-uns-zu-wesen des Seins, sei es, wie die Gewesenheit, das Offene für das sich uns entziehende faktische Wesen des Seins, sei es, wie die Gegenwart, das Offene für das An-wesen des Seins als Bei-uns-Sein (παρ-εἶναι). Aber diese ekstatischen Modi der Zeit müssen eben umgedacht werden. Dabei Heidegger GA 2: 53. Randbemerkung a. Diese Randbemerkung hat Heidegger nach den im »Aufriss« genannten Titeln der beiden ersten – allein veröffentlichten – Abschnitte des Ersten Teiles von Sein und Zeit angeführt. Sie dürfte also andeuten, weshalb er auf die Veröffentlichung des Dritten Abschnittes sowie auf die des ganzen Zweiten Teiles von Sein und Zeit verzichtet hat. (Wir führen sie nur insoweit an, als es unsere Ausführungen zur Lösung der Aporie betrifft.) 46 Das vollständige Zitat lautet: »[…] Ohne [die] theologische Herkunft wäre ich [Heidegger] nie auf den Weg des Denkens gelangt. Herkunft aber bleibt stets Zukunft. / Wenn beide einander rufen und die Besinnung in solchem Rufen einheimisch wird […] / und so zur wahren Gegenwart.« In: Heidegger GA 12: 91. »[…] Das Bleibende im Denken ist der Weg. Und Denkwege bergen in sich das Geheimnisvolle, daß wir sie vorwärts und rückwärts gehen können, dass der Weg zurück uns erst vorwärts führt. […] ›Vor‹ – in jenes Nächste, das wir ständig übereilen, das uns jedesmal neu befremdet, wenn wir es erblicken […].« Heidegger GA 12: 94. Das Zitat »Herkunft aber bleibt stets Zukunft« war das Leitwort der 9. Tagung der Martin-Heidegger-Gesellschaft vom 10. bis 12. Oktober 1997 in Meßkirch und ist Leittitel des die auf ihr gehaltenen Vorträge veröffentlichenden Sammelbandes: Coriando, P.-L. (1998), Martin-Heidegger-Gesellschaft, Schriftenreihe. 45
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kommt es zunächst und vor allem darauf an, den Schatten der Subjektivität, die doch niemals Herr des Seins sein kann, zu eliminieren. Demgemäß können die ekstatischen Modi der Zeit (wie auch die Zeit selbst als Einheit derselben) nicht mehr ihrem ontologischen Status nach von der Art sein, dass sie die durch das Dasein qua Subjekt selbst konstituierten und gesetzten transzendentalen Möglichkeitsbedingungen seines Verstehens von Sein sind, – in die es dann als offene (leere) Horizonte (man weiß nicht recht wie) das Sein jeweils hereinwesen und so verstehbar werden lässt. Vielmehr kann der Status jener ekstatischen Modi der Zeit allein noch darin beruhen, dass sie – aller Konstitution und Setzung zuvor – schon immer die immanenten Grundzüge der Wesung des Seins selbst sind. Das bedeutet zum einen – auf das Sein selbst gesehen –, dass es von Haus aus schon selbst zeitlich sein und immer schon selbst ekstatisch in seinen drei Zeitmodi die dreifache Offenheit seiner Wesung eröffnen muss. Und es bedeutet zum anderen – auf die drei Zeitmodi gesehen –, dass diese ihrerseits ungleich wesender denn bisher als bloß gesetzte transzendentale Möglichkeitsbedingungen, ja sogar zu eigenen mächtigen Wesenszügen im Sein selbst werden müssen. Und wenn dabei nunmehr die Gewesenheit den Primat hat und allererst die Zukunft und – wie bisher zusammen mit dieser – die Gegenwart ins Wesen bringt, so werden doch Gewesenheit und Zukunft sowohl an sich wie auch in ihrer Einheit noch mehr als bisher der Gegenwart gegenüber in den Vorrang kommen, da diese beiden Zeitmodi nunmehr als die Extreme des Offenen des Ex ins Spiel kommen, als welche sie allein den Zeitraum des Seins in seiner ganzen Weite zu eröffnen vermögen. Aber auch das exhafte Hinaus der Gegenwart wird in solchem weiten Offenen an Weite gewinnen. Als Grundzüge des Offenen des Seins in seiner ganzen Weite müssen also alle drei ekstatischen Zeitmodi nicht nur wesender, sondern auch viel extremer werden als bisher und sich wesend jeweils bis in ihr Extrem hinaus bewegen. Und wenn sich entsprechende Tendenzen auch schon in ihnen als bloße Modi der ekstatischen Zeitlichkeit des Daseins vorgezeichnet haben, so werden diese Tendenzen doch jetzt erst als solche eigens heraustreten. Dann wird zwar in Analogie zur ekstatischen Zeitlichkeit des Daseins die Gewesenheit immer noch das Offene, das Ex, für das Sein als des Gewesenen, und die Zukunft immer noch das Offene, das Ex, für das Sein als das auf uns Zukommende sein, aber doch so, dass beide eben in einer ihnen eigenen Bewegung bis in ihr Extrem hinauswesen: Das Ex – das Draußen, das Aus – der Gewesenheit wird selbst – und hier 61 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
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sind wieder Präpositionen unvermeidlich – ein im Weggang, im SichEntziehen begriffenes »Hin-aus« – lateinisch Ab – sein: es wird in verbalem Sinne »ab-haft« und am Ende ab-gründig sein. Und das Ex – das Aus – der Zukunft wird ein in sich ankömmliches Her-aus, ein Her-auf-uns-zu und her-an – lateinisch Ad – sein: es wird in verbalem Sinne »ad-haft«, her-an-künftig sein. Und in ihrer Gegenläufigkeit wird das weite Offene des Seins überhaupt vorrangig (d. i. der Gegenwart zuvor) sein Wesen haben. Die in sich schwingende Zwiefachheit des Ex wird im weitesten Hin und Her ihrer selbst die offene Weite der Zeit des Seins selbst eröffnen. So also wird sich fortan das Phänomen des Offenen der Zeit des Seins überhaupt vorrangig ausnehmen, sofern es aus dem Anhalt an das Phänomen der ekstatischen Offenheit des Daseins gewonnen und dieses entsprechend umgedacht wird. Und aus dem nunmehr so gedachten Offenen wird sich fortan das Sein lichten. Es wird sich aus der Zeit als dem Ex, d. i. vorrangig aus dem zwiefach in sich schwingenden weitesten Aus als einem solchen, lichten, so zwar, dass dieses auch immer schon das Ex qua παρά des herbei-wesenden An-wesens erbringt. Eben diese Lichtung des Seins aus dem dreifach ekstatischen Ex haben wir im Titel unseres Vortrages »Die Lichtung des Seins aus der Zeit« 47 anzuzeigen versucht. Was aber die ekstatische Offenheit des Daseins betrifft, so wird das Dasein in dieser die ex-haft sich lichtende Offenheit des Seins schon immer übernehmen, ausstehen und (transitiv-aktiv) sein. Denn nicht mehr ist – wie im »Projekt« von Sein und Zeit – diese in jener, sondern fortan umgekehrt jene in dieser »mitbeschlossen«. Anders gesagt: Die Ekstatik des Daseins beruht ursprünglich nicht mehr in den sie konstituierenden transzendentalen Akten des Daseins, sondern – mit Heidegger gesagt – in der »Beziehung« des Daseins zum Ex des sich ex-haft lichtenden Sein 48. Dabei nimmt nicht etwa das Die im Titel enthaltende Formulierung stammt von Heidegger (wahrscheinlich GA 94). Die Formulierung »Lichtung des Seins aus der Zeit« ist insofern redundant, als die Zeit ja selbst das »Aus« (Ex) ist. 48 Heidegger GA 15: 339: »Die Ek-stase ist in der Tat nichts anderes als die Beziehung des Daseins zur ἀλήθεια, in der alle Zeitlichkeit [des Daseins] entspringt.« (Heidegger denkt hier die im zwiefachen Ex des Hin- und Her beruhende Offenheit des Seins mit Rücksicht auf den griechischen Anfang der Lichtung des Seins als ἀ-λήθεια, als »Un-verborgenheit« bzw. »lichtende Verbergung«. Dabei entspricht der Grundzug des Sich-Verbergens (-λήθη, λανθάνεσθαι) des Seins dem Sich-Entziehen des Seins ins Ex des Hin-aus und der Grundzug des sich lichtenden Öffnens (ἀ-) des Seins dem auf-gänglichen Auf-uns-zu-kommen des Seins aus dem Ex des Her-an. 47
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Dasein diese Beziehung von sich aus nachträglich als bloß formelle Beziehung auf, sondern das ex-hafte Offene des Seins bezieht selbst ursprünglich das Dasein auf sich, dergestalt, dass es durch solchen Bezug das Dasein in die es ausstehenden Ekstasen versetzt und so allererst als ek-statisches Da-sein ermöglicht 49. Damit haben wir den Grundgedanken Heideggers in Grundzügen umrissen, wie er sich aus der Aporie von Sein und Zeit in Verwandlung der dreifach ekstatischen horizontalen Zeitlichkeit des Daseins ergibt. Formelhaft zusammengefasst besagt dieser, dass das Offene des Seins sein Wesen vor allem im zwiefach einigen Ex, dem Ex qua Ab und dem Ex qua Ad, unter dem Primat des Ex qua Ab, des Gewesen, des Abwesens hat. So wie nun aber die ekstatische Zeitlichkeit des Daseins nur in der Zeitigung ihrer selbst – und d. h. jeweils nur in den möglichen Weisen der Einigung ihrer Ekstasen – west und ist, so west und ist auch das in sich schwingende zwiefältige Ex des Offenen des Seins überhaupt nur in den möglichen Weisen der Einigung seiner selbst. Anders gesagt: Es west nur in den möglichen Wandlungen seiner selbst. Es ist – mit Goethe gesagt – gleichsam ein »Urphänomen«, das nur in seinen »Metamorphosen« existiert 50. In die Ausarbeitung dieser Wandlungen hat sich Heidegger sogleich nach Sein und Zeit begeben, dergestalt, dass er dabei zugleich jenes Urphänomen mehr und mehr vom Schatten der neuzeitlichen, konstituierenden, d. i. »machenden« Subjektivität befreite und es selbst mehr und mehr in Freie brachte. Hier seien drei dieser Wandlungen kurz erinnernd angeführt.
»Die Ekstase […] [ist] die grundlegende Erschlossenheit des Daseins für die ἀλήθεια.« (Heidegger GA 15: 339). »Grundlegende Erschlossenheit« meint: das Aufgeschlossensein (Offensein) des Da-seins für das Sein dank seines Erschlossenseins (Geöffnetseins) durch das Sein, das dem Dasein als solchem »den Grund legt«, d. h. es als solches ermöglicht. 50 Zum Urphänomen und seinen Metamorphosen, vgl. Goethe XIII: 64 sqq. und 367. (Weitere Angaben in Schüssler 2009: 66). 49
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IV. Wandlungen des Grundgedankens Heideggers: Das »nichtende Nichts« – die Φύσις – der Anfang des »anderen Anfangs« 1.
Das »nichtende Nichts«
Heidegger hat den besagten Grundgedanken bereits in seiner Freiburger Antrittsvorlesung (1929) in Gestalt des Phänomens des »nichtenden Nichts« exponiert 51. Da er diese im Rahmen der Universität hielt und d. h. an Wissenschaftler richtete, hat er ihn hier im Ausgang von den neuzeitlich geprägten Wissenschaften vor Augen geführt. Diese aber sind sachlich-objektiv auf das Seiende – und nur auf dieses und »sonst nichts« 52 – orientiert. Demgemäß geht Heidegger hier vom Seienden als dem primär und vordringlich sich Präsentierenden aus. Nun aber ist das Sein offenbar kein Seiendes, es ist nicht ein Seiendes, es ist das »Nicht« des Seienden und insofern irgendwie »nichts« – ein Negatives, eine Negativität. Aber es ist doch nicht schlechthin nichts. Es ist ein Nichts, das irgendwie ist und west, zwar nicht wie ein Seiendes, sondern in eigener Weise: eben der des »NichHeidegger GA 9: insbes. 113–5. Zum »nichtenden Nichts«, vgl. auch Heidegger GA 65: 267, 410, 412. Hilfreiche Hinweise zum Verständnis dieses Gedankens gibt K.-H. Volkmann-Schluck 1996: 110. In seinem »Der Grundgedanke Heideggers« betitelten (unveröffentlichten) Vortrag, den er Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre an der Universität zu Köln gehalten und den die Vf. gehört hat, hat er ihn – wie Vf. sich zu erinnern meint – den »Grundgedanken« Heideggers genannt, freilich so, dass er ihn damals noch weitgehend aus der (von Heidegger später als »Holzweg« verworfenen, weil noch im Schatten der Metaphysik stehenden) »ontologischen Differenz« des Seins zum Seienden, nicht aber aus der in sich zwiefachen Wesung des Seins selbst, ausgelegt hat. Diesen zunächst rein ontologischen Grundgedanken hat er dann in seinem »Der Mensch und sein Geschick (Der Grundgedanke Heideggers)« betitelten Aufsatz mit der von ihm sog. »abschiedlichen Existenz« des Menschen als »Sein zum Tode« verbunden, ihn so als das »Geschick« des Menschen als solchen gefasst und ihn nunmehr in dieser Gestalt als den »Grundgedanken« Heideggers bezeichnet und dargelegt. Auch hat er ihn hier weniger aus der ontologischen Differenz als bereits mehr aus der Wesung des Seins selbst ausgelegt. Vgl. Volkmann-Schluck (1982): 12–13. Diesen Arbeiten verdankt die Vf. das Fragen nach dem »Grundgedanken Heideggers«, auch wenn die Vf. im »nichtenden Nichts« inzwischen nicht mehr diesen Grundgedanken selbst, sondern, wie oben (S. 63) dargelegt, eine der möglichen (gleichursprünglichen und gleichwesentlichen) phänomenalen Abwandlungen desselben sieht (und ihn auch nicht mehr aus der ontologischen Differenz interpretiert). Was das »nichtende Nichts« betrifft, so hat die Vf. das entsprechende Phänomen bereits dargelegt in Schüßler 2009: 60–66 und Schüßler 2017: 245sq. 52 Heidegger GA 9: 105. 51
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tens« 53. Als dieses aber west es zweifach, einmal in gleichsam »negativer«, und zum anderen in gleichsam »positiver« Weise, – wie dies ja auch das Wort »Nichten«, recht gehört, zu verstehen gibt, das Heidegger mit Bedacht in Analogie zu den Verben »Bieten« und »Weisen« gebildet hat. Wie nämlich einmal das Wort »bieten«, als »verbieten« genommen, sowie das Wort »weisen« als »ab-weisen« genommen, einen negativen Sinn haben und wie sie zum anderen, als »bieten« qua »geben« bzw. als »auf etwas weisen« genommen, einen positiven Sinn haben, so hat eben auch das Wort »nichten« einen entsprechenden zweifachen Sinn, nämlich einmal – gleichsam als »vernichten« (wie »ver-bieten«) gehört – einen negativen und zum anderen – als Simplex (wie »bieten«) gehört – einen positiven Sinn. Das Sein als »nichtendes Nichts« west in zwiefacher, nämlich in gleichsam »negativer« und »positiver« Weise, und dies eben, sofern es sich im zwiefachen Ex seiner selbst – im Ex qua Hin, Hin-aus, Hin-weg, sowie im Ex qua Her, Her-aus, Her-zu – lichtet und ins Wesen bringt. Sofern das Sein 1) im Ex qua Hin, Hin-weg – lateinisch Ab – west, west es in »negativer« Weise: Es ist kein Seiendes, nicht das Seiende, und das heißt: Es entzieht sich diesem, ja es west überhaupt nur im Entzug, im Ab-wesen seiner selbst und d. h. eben im »Nichten«, gleichsam im »Ver-nichten« seiner selbst (es streicht sich durch bis ins Nichts). In solchem sich entziehenden Ab-wesen ist es abweisend, ver-bietend und hat sein ganzes Wesen darin: Es weist ab, – in jeder Hinsicht. Es weist zunächst ab von sich selbst, – so wie ja auch der Tod – als der Exponent alles sich entziehenden Ge-wesens und Ab-wesens – ab-weisend, ver-bietend ist. (Ein Toter als der Gewesene, Ab-wesende, der er ist, ist ab-weisend, weist von sich selbst ab, verbietet den Zugriff). Aber in solch ab-weisendem Ab-wesen weist das Sein nicht nur von sich selbst ab, sondern es weist auch das Seiende ab: Es lässt es als solches im Ganzen in die Gleichgültigkeit versinken, – so wie ja auch der Tod, wenn er im Dasein im eigentlichen »Sein zum Tode« (der vorlaufenden Entschlossenheit) eigens ins Wesen kommt, das innerweltlich Seiende in die Unbedeutsamkeit hat versinken lassen 54. Aber indem das Sein in seinem ab-weisenden Ab-wesen das Seiende in die Gleichgültigkeit versinken lässt und es weg-räumt, macht es gerade so etwas wie ein Offenes frei, das freilich – wie es selbst und mit ihm selbst – zunächst im Sich-Entziehen, d. h. 53 54
Heidegger GA 9: 114. Vgl. supra, S. 53 und die Fußnote Nr. 27.
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im Modus des weichenden Hin-weg west 55. Es ist das Ex, das offene Außer und Draußen, das selbst von der Art des Hin-aus ist. Jetzt ist es also nicht mehr das Dasein, welches das weggängliche Ex ekstatisch als Horizont der Gewesenheit für das Verstehen seines geworfenen Seins konstituiert, sondern jetzt ist es das Sein selbst, das dieses ursprünglich ins Wesen bringt, indem es selbst im Entziehen, im Abwesen seiner selbst west. Es er-west im Weg- und Ab-wesen seiner selbst das offene Ex für dieses. In diesem allem west das Sein offenbar als Nichten in dem besagten »negativen« Sinne, d. i. als »Ver-nichten«, als Ab-weisen, als Ver-bieten. Aber es west eben auch 2) in »positivem« Sinne, d. i. als Bieten qua Gewähren, Geben bzw. als Weisen qua Weisen-auf …, und dies, sofern es selbst im Modus des Ex als des Offenen des »Auf- und Herzu«, dem Ex qua Ad west und dieses erwest. Indem es zunächst im Entzug, im Ab-wesen seiner selbst das Offene im Modus des Ex qua Hin-weg er-west und in dieses hin-aus selbst als das sich entziehende Ab-wesen west, wendet es sich umschwingend auch schon immer in seinem ganzen Wesen, einschließlich des von ihm freigemachten Offenen um, um dieses Offene nunmehr als das Ex qua offenes Her-zu, qua Ad, ins Wesen zu bringen und selbst aus diesem her offen auf uns zu zu wesen. Insofern ist es bietend: Es bietet, gewährt, gibt sich selbst. In solchem Auf-uns-zu-und-heran-Wesen bleibt es aber von Entzug und Ab-wesen durchwest, da es sich ja aus dem Entzug seiner selbst in das Auf-uns-zu-Wesen umgewendet hat. Insofern bleibt es ein Nichtiges – so wie ja auch das dem Tod überantwortete, ohnmächtige, geworfene Sein des Daseins als das im ekstatischen Entwurf (der vorlaufenden Entschlossenheit) auf es Zukommende ein todesträchtiges, ohnmächtiges Nichtiges blieb 56. Entsprechend ist das Sich-Gewähren des Seins eben ein von Ab-wesen und Entzug durchwestes »Nichten«. Aber noch mehr. Sofern das Sein sich als das ex-hafte Ab-wesen, das es ursprünglich und zuerst ist, – recht bedacht – im Übermaß solchen weggänglichen Ab-wesens ins Wesen gebracht hat – weshalb es sich eben bis ins Nichts durchgestrichen hat –, es aber aus diesem her sich in das her-zu- und her-an-wesende Sich-Gewähren umwendet, west es auch als solches Sich-Gewähren im Übermaß
Wie Platons χώρα, die – wie das Wort sagt – im χωρεῖν, im »Weichen« ihrer selbst west und so Platz macht und bietet (ἕδραν παρέχει). Timaios: 52b 1 sq. 56 Vgl. supra, S. 53. 55
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seiner Nichtigkeit, – dergestalt, dass es, von seinem übermäßigen Entzugswesen gleichsam mitgenommen und kaum selbst ins Wesen qua Her-an-Wesen kommend, sich auch schon an das sich vordrängende Seiende ver-gibt und in dieses »ver-weist«, d. h. es als Seiendes offenbar macht, – um fortan selbst als bloßes leeres Dass des Seins in befremdender Faktizität zu wesen. Diese ganze Wesensweise des Seins fasst Heidegger in folgenden Worten zusammen: [… Das Nichts] […] ist wesenhaft abweisend. Die Abweisung von sich ist aber als solche das entgleitenlassende Verweisen auf das versinkende Seiende im Ganzen. Diese […] abweisende Verweisung auf das entgleitende Seiende im Ganzen […] ist das Wesen des Nichts: die Nichtung. […] Das Nichts selbst nichtet. […] In der hellen Nacht des Nichts […] ersteht erst die ursprüngliche Offenheit des Seienden als eines solchen: daß es Seiendes ist – und nicht Nichts. Das Wesen des ursprünglich nichtenden Nichts liegt in dem: es bringt das Dasein allererst vor das Seiende als solches. 57
Diese Weise des Seins zu wesen – d. h. vorrangig das Seiende als solches offenbar werden zu lassen, ohne dabei selbst eigens ins Wesen zu kommen, sondern selbst ab-zuwesen –, ist aber gerade die Wesensund Lichtungsweise des Seins im gegenwärtigen Zeitalter der Herrschaft der ontischen Wissenschaften. Aber diese Lichtungs- und Wesensweise des Seins reicht weiter zurück. Sie reicht bis in unsere Herkunft zurück, in der wir wissenschaftlich geprägten, abendländischen Menschen von früh an schon stehen, die am weitesten hinter uns liegt und unser eigentliches Gewesen ist. Diese Herkunft aber ist, wie Heidegger gezeigt hat, die Φύσις, wie sie die frühgriechischen Dichter und Denker vor Plato erfahren haben.
Heidegger GA 9: 114 (siehe auch die Randbemerkungen Heideggers). Wir haben hier von dem noch existenzial-analytisch bestimmten Horizont von Heideggers Auslegung des Seins als des »nichtenden Nichts« in seiner Antrittsvorlesung weitgehend abgesehen, um es sogleich als Phänomen des Grundgedankens Heideggers herauszustellen.
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2.
Φύσις
Auch als diese – und zuerst als diese – west das Sein in der Zwiefachheit seines Ex, seines Her-aus und Her-an sowie seines Hin-aus und Hin-weg, und sogar in sich geltend machender Weise, – haben doch die frühgriechischen Dichter und Denker die Φύσις nicht nur als Auf-gang des Seins des Ganzen dessen, was ist, sondern zumal – ja anfänglicher noch – als Unter-gang des Seins, als Weggang, als Abwesen erfahren. So lodert – gemäß Pindar – aus dem Dunkel der Nacht die Feuersglut auf 58 und aus dem untergänglichen Ex von Winter und Nacht geht – gemäß Sophokles – das aufgängliche Ex des Sommers und des lichten Tages hervor: καὶ γὰρ τὰ δεινὰ καὶ τὰ καρτερώτατα τιμαῖς ὑπείκει τοῦτο μὲν νιφοστιβεῖς χειμῶνες ἐκχωροῦσιν εὐκάρπῳ θέρει ἐξίσταται δὲ νυκτὸς αἰανὴς κύκλος τῇ λευκοπώλῳ φέγγος ἡμέρᾳ φλέγειν δεινῶν τ᾽ ἄημα πνευμάτων ἐκοίμισε στένοντα πόντον […]. Denn auch das Unheimliche, auch das Gewaltigste, Hehrem es weicht. So denn schneetreibende Winter doch ausziehn vor zeitigen Sommern; enttritt auch der Nacht zerquälendes Rund lichtauffahrendem Tag, der entflamme den Glanz; und furchtbares Wehen des Winds sich sänftigend stillt aufstöhnendes Meer […]. 59
Pindar, Erste Olympische Ode, Verse 1–2. Vgl. Heidegger GA 78: 286. Sophokles Ajas, Verse 669–674. Übersetzung von M. Heidegger. GA 78: 306. Die Auseinandersetzung mit den Versen 131–133 und 666–677 aus Sophokles’ Ajas begleitet Heideggers Ausarbeitung des Manuskriptes seiner (nicht gehaltenen) Anaximander-Vorlesung. Sie werden von ihm nicht im Vorlesungsmanuskript selbst zitiert, sondern finden sich, ebenso wie ihre Übersetzung, in einer Beilage (GA 78, Anhang II, Nr. 11). Wie weitere Beilagen zeigen (insbes. Anhang II, Nr. 10, 12, 14, 15, 16, 19, 20, 22), hört Heidegger hier denkend auf die griechische Sprache. Sie enthält u. a. die zwiefache Bedeutung des Ex, die konstitutiv für seinen Grundgedanken ist. So ist in den oben zitierten Versen 1) vom ἐκ-χωρεῖν, d. i. dem »Weichen« (-χωρεῖν) des Winters die Rede, der in solchem Weichen (weg-räumend) aus-zieht (ἐξ-) und den Sommer (ein-räumend) auf-gehen (-ἐξ) lässt, ferner vom ἐξ-ἵστασθαι, dem »Enttreten«, d. i. dem Hin-weg- und Hin-aus-Treten der Nacht, das den Tag »ent-stehen«, d. i. ins Offene her-aus-treten lässt (das Praefix »ent-« gibt, wie die Präposition »aus«, das griechische ἐξ, lat. ex, wieder). Die zwiefache Bedeutung des Ex stellt Heidegger
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Die Lichtung des Seins aus der Zeit.
Aber der Aufgang geht nicht in der Weise aus dem Untergang hervor, dass er ihn hinter sich lässt und bloßer (ewiger) Aufgang ist, ebenso wenig wie der Untergang den Aufgang hinter sich lässt und in sich selbst versinkt. Vielmehr wesen beide, Aufgang und Untergang, immer schon in inniger Einheit zusammen und bringen sich wechselin erhellenden Stichworten insbes. in den Beilagen Nr. 16 und Nr. 19 heraus, die hier zitiert seien: Nr. 16 εἴκειν und Ek-sistenz Vgl. Sophokles, Aias, 666 sqq. ἐκχωρέω – aus dem Ort und Aufenthalt gehen und so An-kommen lassen, ein räumen. ἐξίσταται – heraus treten – auf geben. z. B. vom finsteren Gewölbe der Nacht (kreisend) EK-sistenz – Hinaus in und zugleich Lassen – zurück. Nr. 19 EK-sistenz | h– i EK-: hinaus in das Offene Lichtung – als | Seyn | EK-: heraus aus ihm, weichend vor ihm – und ἐπιστήμη [*]; das EK-statische als Lassen – ᾖθος; die höchste Weise der Einräumung des Seins: der Tod; das »Re«: δεῦρο – zurück re-garder – wardon, warten. ______ [* Antigone 472] Was die Ortsadverbien »Her-aus« und »Hin-aus« betrifft, so versteht Heidegger hier offenbar unter dem »Her-aus« das weichende Her-aus-gehen aus dem rückgänglichen Dunkel und unter dem »Hin-aus« das Hin-ausgehen in das Offene des aufgänglichen Lichten (das immer auch schon ein Zurück ins Dunkel ist). Insofern ist hier sein Sprachgebrauch von dem Unsrigen verschieden (»Hin-aus« = wegräumendes Weichen / »Her-aus« = einräumendes Aufgehenlassen). Indessen ist das »Her-aus« bei Heidegger nicht ein bloßes Her-, sondern vorgängig schon – und darauf kommt es an – ein zurückweichendes Weg-räumen. Insofern handelt es sich der Sache nach um dieselben Phänomene. Indessen entspricht unser Gebrauch des »Hin-« und des »Her-« dem Gebrauch derselben, wie er sich (weitgehend) im durchgeschriebenen Manuskript bei Heidegger findet. Hier ist die γένεσις, das »Ent-stehen«, von der Art des ek-statischen Her-aus und die φθορά, das Ent-gehen, von der Art des ekstatischen
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seitig ins Wesen. Die φύσις west – wie noch Aristoteles sagt – διχῶς: in zwiefach einiger Weise 60. Und dies, weil beide – das untergängliche Ab-wesen im Ex des Ab und das aufgängliche Her-an-wesen im Ex des Ad – sich wechselseitig durchwesen. Aller Aufgang kommt ursprünglich aus dem Ab-wesen, alle Geburt aus dem Tod. Denn das Abwesen west selbst als solches ursprünglich her und her-an. So west ein Toter her und an – und oftmals mehr als zur Zeit seines Lebens. Das Ab-wesen im Ex des Gewesen ist das Erste und aus ihm ergibt sich – in umschwingender Umwendung seiner selbst – das Auf- und Heran-wesen aus dem Ex der Zukunft. Deshalb eben durchwest der Untergang den Aufgang von Anfang bis zum Ende, so dass das Aufgängliche untergehen muss. Aber auch umgekehrt durchwest der Aufgang den Untergang von Anfang bis zum Ende, sofern der Untergang eben innig von Anfang an mit dem Aufgang geeint ist und im höchsten Aufgang durch dessen rückgängliche Umwendung sich eigens ins Spiel bringt. Deshalb ist – wie Heidegger in seinem im Jahre 1939 verfassten φύσις-Aufsatz gezeigt hat – das Entstehen (γένεσις) immer schon ein Vergehen (φθορά) und umgekehrt das Vergehen immer schon ein Entstehen, und dies von Anfang an und in jeder Phase des Entstehens bzw. Vergehens 61. Im Aufgehen der Blüte west das Weggehen der Knospe, wie auch umgekehrt im Weggehen der Knospe schon der Aufgang der Blüte west. Und beide lassen sich wechselseitig in ihrem Offenen eigens wesen: Das aufgängliche Anwesen der Blüte – ihr Sein – lässt die Knospe in ihrem Gewesen – ihrem Nicht-mehr-Sein in seiner unwiderruflichen Härte – eigens an-wesen, und das Gewesen der Knospe – ihr Nicht-mehr-Sein – lässt das aufgängliche Anwesen der Blüte – ihr Sein in der Freude seiner Ankünftigkeit – eigens wesen. Beide, Aufgang und Untergang, Freude und Trauer, durchwesen sich. Und so steht es eben von Anfang an bis zum Ende. Der Untergang, das Ab-wesen, ragt bis in die Spitze des Hin-weg bzw. Hin-aus. Vgl. GA 78: 114–123 und 174 (einschließlich der Fußnote Nr. 113). 60 Aristoteles, Physik II, 1; 193b 19: […] ἡ φύσις διχῶς λέγεται. »[…] die φύσις wird zwiefach [hinsichtlich ihres Seins] ausgesagt«. Vgl. dazu die Auslegung Heideggers GA 9: 294 sq. 61 Heidegger GA 9: 297 sq. (auch für das Folgende). Vgl. auch Heidegger GA 14: 16 (wo sich Heidegger auf die Gegenwart als übergängig Weilende in der frühgriechischen φύσις bezieht, um die im Sein qua An-wesen (bzw. »Anwesenheit«) spielende (ekstatisch-öffnende) Zeit – die es in der Epoche des Endes der Metaphyik zu denken gilt – von der Zeit qua Jetztfolge zu unterscheiden).
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Die Lichtung des Seins aus der Zeit.
Aufgangs hinauf, – weshalb eben alles Aufgehende untergehen muss. Und der Aufgang ragt bis in die tiefste Tiefe des Untergangs hinab, weshalb der Untergang sich auch immer schon in einen neuen Aufgang wendet. Was aber die Gegenwart betrifft, so ergibt sie sich gerade aus solchem wechselseitigen Sich-Durchwesen beider. Indem die Blüte erst noch dabei ist, aufzugehen, wird sie schon vom Untergang hinweggenommen. Und indem sie schon dabei ist, zu vergehen, wird ihr Vergehen durch den immer noch und stets in ihm wesenden Aufgang aufgehalten. Im wechselseitigen Sich-Durchwesen von Aufgang und Untergang west die Blüte in übergängig weilender Gegenwart 62. Die Gegenwart ergibt sich also auch hier aus dem Wechselbezug von Zukunft und Gewesenheit, – aber doch in anderer Weise und als eine andere als die Gegenwart der Augenblicklichkeit des noch von der Subjektivität durchherrschten entschlossenen Daseins. Diese ergab sich primär aus der Zukunft und war in eins mit der Gewesenheit auf sie hin orientiert, während die Gegenwart des φύσει ὄν – als übergängig-weilende – offenbar primär untergänglich ist. So also nimmt sich die Lichtung des Seins aus dem zwiefachen Ex der Zeit in der frühgriechischen φύσις aus. Mögen nun aber auch beide, Aufgang und Untergang, in der frühgriechischen φύσις innig geeint sein, so zeigt sich doch die φύσις primär als Aufgang des Seins in das Offene und den Glanz des Erscheinens (wie dies auch das Wort φύσις – gemäß seiner Verwandtschaft mit den Worten φύειν, »aufgehen«, φαίνειν, »erscheinen«, »scheinen«, und φῶς, »Licht« – selbst sagt) 63. Auch war es ja nur dank solchen Aufgangs ins Erscheinen möglich, dass das Sein (εἶναι) dessen, was ist, als Phänomen vor das Denken (νοεῖν) kam, es an-weste und an-ging und so zur Aufgabe desselben wurde 64, – worin eben der »An-fang« des abendländischen Denkens beruht 65. Denn das Sein ist ursprünglich und seinem eigenen Wesen nach ein Verborgenes, das an sich selbst nur dunkel ins Offene west 66. Das bedeutet aber, dass das Offene des Seins, sofern es von der Art der φύσις ist, ein über sein Vgl. Heidegger GA 78: 171 sq. Heidegger, GA 40: 76. 64 So ausdrücklich im »Lehrgedicht« des Parmenides (vor allem Fragment Nr. 3). 65 Im Wort »An-fang« ist also das An-wesen des Seins zu hören, das in seinem Angang das menschliche Da-sein »fängt«, es gefangen nimmt und gefangen hält, solange es angänglich west. 66 Das bezeugt die Alltäglichkeit, in der das Sein sich im stets sich vordrängenden »Seienden« verbirgt. Das bezeugen aber auch die nicht indo-europäischen – wie z. B. 62 63
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Maß Hinausgehendes und d. h. ein Übermäßiges ist. Indes waltet auch in solchem Übermaß des Offenen des Seins, in solchem Glanze seines Erscheinens, der Untergang, das Ab-wesen, das Sich-Entziehen und Sich-Verbergen (κρύπτεσθαι) des Seins, da dieses stets die ursprüngliche Quelle des Aufgangs ist und bleibt. Aber es waltet und west nun auch seinerseits im Übermaß seiner selbst, – ist doch der Aufgang gemäß dem einig zwiefachen Ex des Offenen nichts anderes als der umschwingend sich umwendende Untergang selbst. Aufgang und Untergang entsprechen sich im Wie ihres Wesens: sie sind einander proportional. Im Übermaß der Aufgangs muss also das Sich-Entziehen und Sich-Verbergen, das κρύπτεσθαι, als waltender Grundzug des Seins ebenso übermäßig wesen wie sein Aufgang in das Offene des Erscheinens, das φύειν, φαίνεσθαι. Wie Heidegger in dem von ihm im Jahre 1969 geleiteten Seminar in Le Thor sagt: Je stärker das wird, was das Wort φύειν bezeichnet, um so mächtiger wird die Quelle, aus der es entspringt, die Verborgenheit in der Unverborgenheit. 67
Damit aber zeichnet sich ein Wandel innerhalb der Wesensverhältnisse der φύσις vor. Das Ex qua Ad und das Ex qua Ab treten im Übermaß ihrer selbst in ein Spannungsverhältnis, in dem sie – obzwar auch weiterhin geeint – zunehmend auseinander treten und sich gegeneinander wenden. Das ad-hafte Ex wird zunehmend zum bloßen Auf, d. h. zur reinen Offenheit des Erscheinens, und das abhafte Ex zunehmend zum sich vertiefenden Hin-weg und Hin-ab bis in den Ab-grund hinein. Demgemäß wird das Sein in seinem Aufgang – bei Platon und seit ihm – zu der in ihrem überhellen Licht aufstrahlenden, beständig seienden Idee 68, während der Untergang des Seins zum abgründigen Ab-wesen wird, das alles im aufgänglichen Sein (Idee) spielende Wesen und An-wesen soghaft in sich zurücknimmt. Das aber hat weitere Folgen. Was die Idee betrifft, so wird diese nicht nur durch den Glanz ihres Lichtes solches abgründige Ab-wesen, solchen Ab-grund, überblenden und danach trachten, alles, was ist (auch und gerade das Sich-Verbergende), in ihr überhelles Licht zu ziehen, ja rücksichtslos fordernd in dieses heraus-zu-fördie semitischen – Sprachen, sofern sie das Wort »sein« (εἶναι, wesen, esse) nicht enthalten. 67 Heidegger GA 15: 331. 68 Vgl. dazu GA 9: 225 und GA 65: 334–335. Ferner Schüßler (2009): 87 sq und Schüßler (2010): 63–66.
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Die Lichtung des Seins aus der Zeit.
dern, sondern sie wird auch auf sich selbst, d. h. ihrer untergangsfreien, beständigen Präsenz bestehen und sich so von der Dimension des Untergangs und Ab-wesens, die doch ihre Quelle ist und bleibt, zunehmend fort-wenden, um sich im »Fort-schritt« ihrer selbst am Ende – als sich selbst konstituierende, »sich machende« – und alles machende – Subjektivität – gänzlich auf sich selbst zu stellen 69. Was aber das untergängliche, alles in sich zurücknehmende Ab-wesen betrifft, so wird es sich – gemäß der besagten Proportionalität – seinerseits von der Idee ab-wenden, um fortan zwar immer noch als deren verborgene Quelle, aber doch primär als ab-gründiger, verödender Sog zu wesen und als dieser alles Wesen in sich zurückzunehmen. Mit solchem zwiefachen Übermaß – dem des Aufgangs und dem des Untergangs – zeichnet sich aber offenbar dasjenige Verhältnis im zwiefachen Ex der Lichtung vor, wie es heute voll zur Macht kommt und das wir zu Anfang angedeutet haben. Denn das Sein dessen, was ist, west ja heute zum einen im Sich-Machen seiner selbst, d. h. als Machenschaft, die durch den Sog des Ab-grundes ausgehöhlt und verödet wird, sowie zum anderen als Herausforderung des Seienden in die absolute Offenheit bestellbarer Präsenz, die durch den maschinell durchgeführten Kalkül derselben – und heute insbesondere durch den Digitalismus – sichergestellt wird, dergestalt dass sie dem heutigen Menschen im ständigen Leistungsdruck die Verödung verhüllt. Die Lichtung des Seins aus dem zwiefachen Ex, dem des Gewesen und dem des Zu-kommens, zieht sich im Übermaß ihrer selbst am Ende auf die sich verhüllende Öde der mach- und bestellbaren Präsenz zusammen. Wenn sich aber der heutige Mensch im Schrecken vor die Verödung gestellt findet 70 und einhält und sich besinnt, wenn also das Gewesen, das Ab-wesen, als der soghaft verödende, alles Wesen in sich zurücknehmende Ab-grund eigens erfahren und in der BesinDiese »Ent-windung« der Dimension des Aufgangs aus dem innig-einigen »Gewinde« von Aufgang und Untergang hat Heidegger vor allem darlegt in GA 68: 173–182, ferner auch in GA 71 (Nr. 38, Nr. 40, Nr. 57, Nr. 79), wo sie ihm gemäß der »Ursprung des Fortgangs« aus der φύσις in den bloßen »Aufgang« ist (Nr. 38 und Nr. 74). Anstelle von »Fortgang« spricht Heidegger auch von »Fortschritt« (in doppeltem Sinne genommen). In GA 65: 175 (»Abkünfte und Fortschritte«). Zum Fortgang der Dimension des Aufgangs aus dem Gewinde der φύσις und ihrem »Fortschritt« in die Machenschaft sowie in die »machende« Subjektivität, vgl. auch Schüßler 2012: 68–80. 70 Zum Schrecken vgl. Heidegger GA 65: 15, 22, 76, 175; auch GA 76, 303. 69
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nung durchdacht wird, dann kündigt sich damit auch schon eine andere und d. h. eine nochmals gewandelte Lichtungsweise des Seins aus dem zwiefachen Ex der Zeit an. Diese ist die Lichtungsweise im Anfang des »anderen An-fangs« der Lichtung des Seins, die mit der frühgriechischen φύσις als ihrem ersten An-fang ihren Ausgang nahm 71.
3.
Die Lichtungsweise des Seins im Anfang des »anderen Anfangs«
Heidegger hat diese Lichtungsweise in seinem 1962 unter dem Titel »Zeit und Sein« gehaltenen Vortrag gedacht 72. Sie gründet in der in ihrer Ab-gründigkeit eigens erfahrenen Gewesenheit, im eigens als solchem erfahrenen tiefsten Ab-wesen, das seine Spitze im Tode als wesender Todesmacht hat. Aber wie der Tod, so vermag auch solches tiefste, abgründige Ab-wesen an-zu-wesen, wie dies Heidegger bereits im Beginn seines Vortrages andeutet: Am bedrängendsten zeigt sich uns das Weitreichende des Anwesens dann, wenn wir bedenken, dass auch das Abwesen durch ein bisweilen ins Unheimliche gesteigertes Anwesen bestimmt bleibt. 73
Auch das Ab-wesen vermag an-zuwesen, – wie sich dies eben im Phänomen des Todes zeigt, der ja das Ab-wesen des einstmals Anwesenden ist, das gerade an-zuwesen vermag (ja oftmals – wie gesagt – mehr als das einstige Anwesen des nunmehr Gewesenen) 74. Ebenso vermag auch das alles Wesen in sich zurücknehmende ab-gründige Gewesen, die soghaft verödende Quelle des Seins, anzuwesen. Und so wie der Tod, so vermag auch dieses tiefste, ab-gründige Gewesen in einem »bisweilen in einem ins Unheimliche gesteigerten An-wesen« an-zu-wesen. Dann steigt es auf und dann versinkt alles gegen-
Wie im Ausdruck »erster Anfang« bedeutet auch im Ausdruck »anderer Anfang« das Wort »An-fang« das »An-wesen« des Seins, das uns an-geht und gefangen nimmt, freilich so, dass es jetzt nicht mehr das aufgängliche An- und Her-wesen des Seins, sondern vielmehr das zur Wesung des Seins gehörende ursprüngliche Ab-wesen es ist, das uns an-west und fängt. (Zum Ausdruck »Anfang«, vgl. supra, S. 71, Fußnote Nr. 65). 72 Heidegger, GA 14: insbes. 17–20. 73 Heidegger GA 14: 11 (Hervorhebung von Vf.). 74 Vg. supra, S. 70. 71
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Die Lichtung des Seins aus der Zeit.
wärtig Seiende in die Unbedeutsamkeit. Dann sind wir für eine Weile dem Unheimlichen seines Her-an-wesens – mehr ahnend als begreifend – ausgesetzt, bis es sich auch schon wieder entzieht. Wie aber ist solches Heran-wesen des tiefsten Ab-wesens möglich? Wie zeitigt es sich in der sich zeitigenden Lichtung von Sein? Sofern – gemäß dem zwiefachen, sich umwendenden Ex des Offenen des Seins – das Offene des Her-wesens stets dem entzugshaften Offenen des Ab-wesens im Wie seines Wesens entspricht und beide einander proportional sind, so wird jenes tiefste Ab-wesen – also der versammelnde tiefste Ab-grund der ganzen Lichtungsgeschichte der φύσις seit dem griechischen Anfang bis heute – als das fernste Gewesen in umschwingender Proportionalität in die fernste Zukunft auf-wesen und aus ihr her auf uns zu- und her-an-wesen. Indem sich so das fernste Ab-wesen umschwingend in das fernste Auf-uns-zuwesen umwendet, durch-geht das Ab-wesen hier offenbar die weiteste Weite, um selbst – wie Heidegger sagt – bis in die fernste Zukunft zu »reichen« und ihr sein An-wesen als Her-an-wesen zu-zu-»reichen« 75. Solches Reichen ist offenbar nichts anderes als die ausschwingende, Anwesen gewährende Wesung des Seins selbst. Es ist deren immanenter Grundzug 76. Es unterscheidet sich also von allem ekstatischen Sich-Entwerfen des Daseins auf die Zeit-Horizonte, seine eigenen und des Seins überhaupt. Das im Sein selbst wesende, gewährende Reichen tritt hier offenbar an die Stelle der Konstitution der Zeithorizonte durch die sie »machende« Subjektivität: Die Zeit ist kein Gemächte des Menschen […]. Es gibt hier kein Machen. Es gibt nur das Geben im Sinne des […] Reichens. 77
Welchen Wesens ist dieses Reichen? Indem das Gewesen bis in die Zukunft reicht und sie er-reicht, d. h. ihr – sie ursprünglich er-öffnend – das An-wesen zu-reicht, »langt« es durch das weite Offene »hindurch« und »durchmisst« es, dergestalt, dass es dieses Offene in solchem durchlangenden »Durchmessen« (lat. dimetiri) allererst in seiner Weite er-öffnet und weitet und so allererst wesen lässt. Das Reichen erweist sich als dimensionierende »Dimension« 78. Und das so reichend-durchlangende Ge-wesen ist die erste Dimension des sich
75 76 77 78
Heidegger GA 14: 17. Vgl. supra, 15. Heidegger, GA 14: 21. Heidegger GA 14: 19.
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hier öffnenden Zeitraumes des Seins. Da nun aber das Her-an-wesen aus der Zukunft – gemäß dem in sich schwingenden zwiefachen Ex der Lichtung – sich auch immer schon in das Offene des Gewesen zurückgewendet findet (wie sich dies insbesondere in der frühgriechischen φύσις zeigte), west und reicht nunmehr auch die fernste Zukunft immer schon bis in das fernste Gewesen zurück, um ihrerseits durch die Weite des Zeitraumes hindurch diesem ihr An- und Her-wesen eigens zu-zu-reichen 79. Die Zukunft ist die zweite – durchmessend-dimensionierende – Dimension des sich hier öffnenden weitesten Zeitraumes. Und so wie Gewesenheit und Zukunft in ihrem Verhältnis stets – so oder anders – das Offene der Gegenwart ergaben, so reichen auch hier Zukunft und Gewesenheit – durch ihren »Wechselbezug« – der Gegenwart das eigene offene An-wesen zu, nämlich (terminologisch gemäß Heidegger ausgedrückt) das Anwesen im Modus des uns »Ent-gegen-Wesens« 80: Ankommen als noch nicht Gegenwart reicht und erbringt […] nicht mehr Gegenwart, das Gewesen, und umgekehrt reicht dieses, das Gewesen, sich Zukunft zu. Der Wechselbezug beider reicht und erbringt […] Gegenwart. 81
Das ab-gründige Ab-wesen, um das es hier geht und auf dessen »Anwesen« die Möglichkeit des anderen An-fangs beruht, west uns also in dieser ganzen Lichtung, wie Heidegger sie hier denkt, bereits als Gegen-wart an. Aber diese Gegenwart ist doch, wie gesagt, von der Art des »Ent-gegen-wesens«. Sie west uns zwar, wie das Adverb »entgegen« sagt, aus einer eigenen Ferne (»ent«) ent-gegen und aus ihr her zu uns an, und in ihr west uns jenes ab-gründige Ab-wesen entgegen und west uns an. Aber dieses uns Ent-gegen-wesen ist doch ein
Dank der sich zurück-wendenden Zu-kunft west das zutiefst ab-gründige Gewesen eigens als solches auf-gänglich an. Abgesehen davon, dass es hier um das An-wesen des zutiefst ab-gründigen Gewesen geht, zeigte sich dieses Verhältnis der Zukunft zur Gewesenheit bereits – freilich noch durch die konstituierende Subjektivität überschattet – in der ek-statischen Zeitlichkeit des Daseins (dergemäß sich das Dasein im ohnmächtigen Entwurf auf sein ohnmächtiges Geworfensein zurückverwiesen findet, dergestalt, dass dieses in seinem offenen Gewesen aus der Zukunft »entspringt«. Vgl. supra, S. 52 sqq.). Das zeigt sich aber auch in der frühgriechischen φύσις, wie Heidegger dies in seiner Auslegung des »Spruches des Anaximander« herausstellt: ἡ φθορὰ γίνεται, »[das] Vergehen ent-steht«, d. h. es west als solches ins Offene eigens her-vor und her-an. Es ist gelichtet. Heidegger GA 78: 115 sqq. 80 Zur »Gegenwart« als »Entgegen-wesen«, vgl. Heidegger GA 14: 16. 81 Heidegger GA 14: 18. 79
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Die Lichtung des Seins aus der Zeit.
Ent-gegen-wesen, d. h. es ist – wie das Präfix »ent-« sagt – in sich entgänglich 82: Kaum da, kaum uns erreichend und angehend, entzieht es sich uns auch schon. Aber auch diese Gegenwart ist durch-langend und durch-messend, dergestalt dass auch sie den beiden anderen Dimensionen ihr An-wesen zureicht 83, um sie nur desto mehr in ihrem fernen Wesen ins Her-an-wesen zu bringen. Insofern ist sie die dritte Dimension des sich hier eröffnenden Zeitraumes des als versammelnder Abgrund erfahrenen Seins. Wenn die Zeit der Jetztfolge – gemäß Kant – nur »eine Dimension hat« 84, so ist – wie Heidegger pointiert gegen Kant sagt – der hier sich öffnende Zeitraum des Seins »dreidimensional« 85. Damit aber stellt sich – wie bereits in Sein und Zeit – die Frage nach der Einheit der drei Dimensionen. Diese beruht hier offenbar im wechselseitigen Sich-Zuspielen derselben. Denn darin gerade reichen sie sich das Anwesen, ja bringen sich ursprünglich eigens ins Wesen. Insofern ist das wechselseitige »Zuspiel« sogar die »vierte Dimension« 86 des sich hier öffnenden Zeitraumes. Wie Heidegger wiederum pointiert sagt – jetzt aber mit Blick auf den physikalischen Zeitraum der Relativitätstheorie: »Die eigentliche Zeit ist vierdimensional« 87, – freilich in ganz anderer Weise als dieser (nämlich der des gebenden Reichens, nicht aber der des stellenden Kalküls). Aber das wechselseitige Zuspiel der drei Dimensionen ist – recht besehen – nicht nur die vierte Dimension, die sich zu diesen bloß hinzusetzt und sie nachträglich einigt. Da vielmehr dieses wechselseitige Zuspiel gerade das ist, was in allen Dimensionen ursprünglich das An-wesen erbringt, Das »Ent-gegen« der Gegenwart ist – wie sowohl das »ent-« wie das »gegen« sagt – in sich selbst her- und [hin-]weg-schwingend. 83 So spricht Heidegger sogleich auch schon vom »Sich-einander-Reichen von Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart« (Hervorhebung von Vf.). Heidegger GA 14: 18. 84 Heidegger GA 14: 15. 85 Heidegger GA 14: 19. 86 Heidegger GA 14: 20. 87 Ibid. Wenn es für uns schon befremdlich ist, dass gemäß der Relativitätstheorie der kosmische Raum (als berechenbarer) im Unterschied zu dem uns vertrauten dreidimensionalen Raum vier-dimensional ist (sofern zu ihm die Zeit als vierte Dimension hinzukommt), so ist es für uns um so befremdender, dass gemäß dem postmetaphysischen Denken Heideggers die »eigentliche Zeit«, d. i. die Zeit in ihrem ursprünglichen Wesen im Unterschied zu der uns vertrauten, nur ein-dimensionalen Zeit (als Jetztfolge) am Ende »vierdimensional« ist. Aber auf diese Befremdlichkeit kommt es im Bereich des »anderen Anfangs« gerade an. Dieser ist in seinem ganzen Wesen, d. i. in allen seinen Strukturmomenten ein Befremdendes. 82
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Ingeborg Schüßler
ist das Reichen von Anwesen als ein solches hier sogar – wie Heidegger wieder pointiert sagt – »die erste Dimension«. Damit aber fragt sich – und Heidegger treibt die Aufklärung des fraglichen beunruhigenden An-wesens des zutiefst ab-gründigen Abwesens noch weiter –, welchen Wesens dieses überall wesende Reichen von Anwesen selbst ist. Da es je aus der Ferne Anwesen reicht, ist es offenbar von der Art der »Näherung«, die alle Dimensionen sowohl an sich selbst wie in Bezug aufeinander wie auch in Bezug auf uns – uns Menschen – nähert. Es muss da »nähernde Nähe« bzw. – wie Heidegger mit einem Worte Kants sagt – »Nahheit« – walten 88, damit das ab-gründige tiefste Ab-wesen heute in ein uns angehendes An-wesen gelangt. So erweist sich am Ende die nähernde Nähe, die »Nahheit« des dreifach heranwesenden in sich ab-gründigen Abwesens als die erste, alles beherrschende Dimension. Mit ihr fängt eigentlich der An-fang des anderen Anfangs des abendländischen Denkens an. Deshalb gilt es in einem letzten Schritt auch diese in ihrem Wesen noch weiter aufzuklären. Nun aber nähert die nähernde Nähe, indem sie entfernt, – ist sie doch selbst das wesende Nahe-kommen des Fernen als solchen. Insofern ist sie selbst immer schon fernend, ent-fernend. Wenn sie also die drei Zeitdimensionen einander nähert und insofern hier selbst als das Ex des Her-wesens waltet, so hält sie sie doch immer auch schon – im Umschwingen ihrer selbst – in das weiteste Ex des Ab-wesens auseinander. Das bedeutet im Einzelnen: Wenn sie die Gewesenheit nähert, dann nähert sie sie so, dass sie ihr gerade »das Ankommen in der Gegenwart verweigert«. Und wenn sie die Zukunft nähert, dann nähert sie sie entsprechend so, dass sie dieser »in ihrem Ankommen die Gegenwart vorenthält«. Das aber ist nichts Ab-trägliches, sondern gerade ein Zu-trägliches. Denn mit solchem Entfernen – und wieder schwingt ihr Ex um – hält sie die Dimensionen der Gewesenheit und der Zukunft als solche offen 89, um das, was im Gewesen verweigert und was im Kommen vorenthalten wird – es vor allem unzeitigen Sichverschleudern be-wahrend und für die Reife des καιρός auf-bewahrend – zu verwahren. Die nähernde Nähe ist verweigernd-vorenthaltende Nähe, die als solche offenhaltend-verwahrend ist.
88 89
Ibid. Ibid.
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Die Lichtung des Seins aus der Zeit.
Aber auch solche ins zwiefache Ex von verweigernder Gewesenheit und vorenthaltender Zukunft hinauswesende – primär entfernende – Näherung ergibt Gegenwart. Es ist eine Gegenwart, die aus der Verweigerung her der sich vorenthaltenden Zukunft entgegenwartet. Solche wartende Gegenwart wartet auch uns entgegen. Sie geht uns an, indem sie uns »braucht«, – ebenso wie die verweigernd-vorenthaltende Näherung im Ganzen – in ihrem Schwingen im Offenen des zwiefachen Ex – uns braucht. Denn allein wir – das ek-statisch gleichermaßen ins Ab- und Zu-wesen ent-rückte sterbliche Da-sein – vermögen sie aus-stehend als solche offenzuhalten und das in ihr sich nähernde ab-gründige Ab-wesen zu verwahren. Andernfalls solches ab-gründige Ab-wesen – das doch der Anfang des anderen Anfangs ist – erneut in die Herrschaft des machenschaftlichen, berechenbaren Seienden versinken würde. Insofern sind wir fortan das wartende Da-sein, das im »Ab-schied« von solchem Seienden dem An-kommen des ab-gründigen, alles Wesen in sich versammelnden Ab-wesens entgegen-wartet. Wie Heidegger in einer Randbemerkung 90 andeutend zu verstehen gibt: Wir sind fortan das abschiedlich gelassene Dasein, das – immer schon ein-gelassen in das tiefste Ab-wesen (den Tod) – vom machenschaftlichen, bestellbaren Seienden ab-lässt und das Zukommen des sich noch vorenthaltenden abgründigen Ab-wesens eigens zu-lässt. 91 Solche gelassen wartende Existenz ist offenbar von der vorlaufend entschlossenen Existenz und ihrer zupackenden Augenblicklichkeit grundverschieden.
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Heidegger GA 14: 20. Randbemerkung: »gebraucht in die Gelassenheit / wartende (nicht hoffende) Abgeschiedenheit«. (Der Abweis der Hoffnung – in der der Hoffende das Erhoffte stets reflexiv auf sich selbst zurückbezieht und die insofern der neuzeitlichen Subjektivität zugehört – richtet sich vor allem gegen Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. 3 Bände, 1954–57). 91 Zum dreifach ek-statischen Lassen der Gelassenheit (Ab-lassen – sich Ein-lassen – Zu-lassen), vgl. Heidegger GA 16: 526–529. 90
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Ingeborg Schüßler GA 12
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Pirmin Stekeler-Weithofer
Angst und Sorge Existenzlogische Voraussetzungen personalen Seins
I.
Heideggers ursprüngliche Einsicht
Wer Martin Heideggers Meisterwerk Sein und Zeit 1 aufmerksam liest, wird sich vielleicht fragen, was denn eine Analyse von Stimmungen wie die der Angst mit der Frage nach dem Sein zu tun hat und ob das Buch nicht ähnlich wie die auf etwas andere Weise unvollendet gebliebenen Philosophischen Untersuchungen Ludwig Wittgensteins 2 in zwei nur oberflächlich verbundene Teile auseinanderfällt. In beiden Fällen scheint der zweite Teil Fragen einer philosophischen Psychologie zu behandeln. Bei Heidegger gehört der erste Teil fraglos zum Bereich der Ontologie, bei Wittgenstein zur sprachphilosophischen Semantik oder Bedeutungstheorie. Das allgemeine Thema der Ontologie ist durch die Frage umrissen, was es wirklich gibt bzw. was es ist, von dem wir sagen und denken können, dass es existiert, oder wenigstens danach fragen können, ob es existiert. Der entsprechende Seinsbereich muss dazu aus logischen Gründen von vornherein ›endlich‹ im Sinne Hegels, und das heißt: irgendwie beschränkt sein. Denn in einem weiten Sinn ›existiert‹ oder ›gibt es‹ alles, was wir irgendwie sinnvoll benennen können, also nicht etwa bloß Körperdinge oder abstrakte Mengen und Zahlen, sondern auch alle fiktionalen Gegenstände wie Pegasus oder reflexionslogische wie den Heiligen Geist. Da wir in unseren Sprachen beliebige Satzteile nominalisieren und damit für die Reflexion abstrakte Gegenstände wie das Sein, den Begriff oder die Existenz schaffen können, gibt es gewissermaßen gar nichts, das nicht gegenstandsförmig thematisierbar ist. Formale Logiker wie Gottlob 1 Martin Heidegger, Sein und Zeit (1927), Tübingen (Niemeyer) 1972, im Folgenden SuZ. 2 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (1952), Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1971, im Folgenden PU.
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Angst und Sorge
Frege, Bertrand Russell und auch ihre Nachfolger wie W. V. O. Quine haben sich noch nicht einmal genügend klargemacht, warum gerade Mathematiker nur beschränkte Quantoren gebrauchen. Denn ein »es gibt« oder »für alle« ist immer nur in Bezugnahme auf einen vorab begrenzten Gegenstandsbereich sinnvoll. Wenn wir daher kolloquial sagen, dass es Pegasus nicht gibt, dann sagen wir damit, dass es im Bereich der innerweltlichen Wesen Pegasus nicht gibt. Aber im Bereich des griechischen Mythus gibt es das geflügelte Pferd des Bellerophon, so wie es in den reellen, nicht aber in den rationalen oder algebraischen Zahlen die Kreiszahl π und damit eine Art der Quadratur des Kreises gibt. Einen Gesamtbereich ›aller‹ Gegenstände, ein so genanntes universe of discourse, gibt es dagegen nicht. Kleine Bibliotheken von Übungstexten würden Makulatur, wenn man diese relativ einfachen Grundtatsachen zur Ontologie im Sinne der Frage »Was ist ein existierender Gegenstand?« begreifen würde. Ohne Beschränkung des Bereiches gibt es sozusagen ›alles‹, auch das, was es nur in unseren Vorstellungen ›gibt‹. Daher kann man mit emphatischen Ausdrücken der Form »es gibt X (nicht) wirklich« allein noch keinen klaren und deutlichen Unterschied artikulieren zwischen Sein und Nichts, wie man sich traditional ausgedrückt hat. Die Frage, was es gibt, verwandelt sich also mit logischer Notwendigkeit in die transzendentallogische Frage Kants nach der Konstitution begrenzter Gegenstandsbereiche. Dabei ist die Frage nach der logischen Verfassung des Bereichs der in der Welt vorhandenen physischen Körper, wie sie Heidegger in dem Buch Die Frage nach dem Ding kommentiert, 3 gerade auch für Kant ein Sonderfall. Seine sinnkritische Philosophie fragt auch nach der Seinsweise von Stellen ›im‹ Raum oder ›in‹ der Zeit und erkennt Raum, Zeit und die ›Punkte‹ in ihnen als bloße Formen lokaler und temporaler Ordnung von Dingen und Sachen auf der Basis von Anschauung als Zugang zu präsentischen Dingen und Sachen. Gott und die Welt war ein anvisierter Buchtitel im so genannten opus postumum, Kants Nachlass. Insgesamt verwandelt Kant den radikalen Skeptizismus von Humes Empirismus in eine sinnkritische Philosophie, indem Ausdrücke
3 Vgl. dazu Martin Heidegger, Die Frage nach dem Ding. Zu Kants Lehre von den transzendentalen Grundsätzen (Vorlesung 1935/36), Tübingen, Niemeyer, 1962, 1975, 1987, ferner auch Martin Heidegger Kant und das Problem der Metaphysik (1929), Gesamtausgabe Bd. 3, Frankfurt a. M., V. Klostermann, und Studienausgabe 1973.
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Pirmin Stekeler-Weithofer
wie »ich«, »das Ich«, »die Vernunft« oder auch »Kraft« nicht einfach als sinn- und bedeutungslos gewertet werden. Stattdessen ist zwischen der mythisch-metaphorischen bzw. figurativ-symbolischen Redeform über das, was Kant »Ideen« nennt, und ihrer recht verstandenen Funktion in unserem reflexionslogischen Sprechen und Denken zu unterscheiden. Es ist überschwängliche Sprachkritik oder gar logischer Unsinn zu sagen, alle diese Wörter benennten dasselbe, nämlich gar nichts. Stattdessen hat kritische Philosophie einen falschen von einem richtigen Gebrauch besonders von Totalitätsbegriffen wie z. B. auch ›Realität‹ und ›Wirklichkeit‹ oder ›Geist‹ und ›Natur‹ zu unterscheiden. Was soll nun aber die Frage nach dem Sinn von Sein in beschränkten Regional-Ontologien mit Angst zu tun haben? Wie führt die aristotelische Frage, was Seiendes ist, ti to on, also was jeweils die Gegenstände sind, von denen wir sagen, dass es sie gibt oder dass sie irgendwie oder sogar irgendwo vorhanden sind, zur Sorge als einer der so genannten Existenzialien der Daseinsanalyse? Die Nennung des Stichwortes »Dasein« führt uns hier schon auf folgenden Weg: Heidegger beginnt sozusagen bloß versuchsweise mit der ontologischen Frage nach einem Gesamtbereich des Seienden. Er geht fast unmittelbar zur Frage über, wer solche Fragen stellen kann. Die eigentliche ›fundamentalontologische‹ Frage betrifft dann gerade nicht schon das Sein des Seienden in den Regional-Ontologien der je beschränkten Gegenstandsbereiche, also etwa irgendwo und irgendwann vorhandene Dinge und Sachen und dann auch fiktionale und abstrakte Gegenstände. Sie betrifft vielmehr das Dasein der so Fragenden und damit auch der Personen, die Antworten geben oder mit irgendwelchen Antworten zufrieden sind. Damit stellt die Daseinsanalyse Heideggers eine Ausweitung der transzendentallogischen Frage Kants nach den kategorialen Vorbedingungen gegenständlicher Rede zunächst über Dinge dar. Heideggers ›Fundamentalontologie‹ ist daher auch jeder empirischen oder philosophischen ›Anthropologie‹ präsuppositionslogisch vorgeordnet, welche nach irgendwelchen angeblich ›basalen‹ Eigenschaften oder Charakteristiken ›des Menschen‹ fragt. In derartigen Anthropologien wird der Mensch als bestimmter Gegenstandstyp in der Welt aufgefasst. Philosophisches Nachdenken über das Dasein im Sinne der Vollzugsweise der Wesen, die wir selbst sind und unser eigenes Sein irgendwie auffassen, betrifft also Themen und Sachen, welche längst schon vorausgesetzt sind, wenn wir nach dem Sein des Seienden, also 84 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
Angst und Sorge
dem Gegenstandsein von Gegenständen oder dem Sinn der Rede von der wirklichen Vorhandenheit einer Sache oder dann auch der Natur des Menschen fragen. Man verwendet hier nicht zuletzt aus Gründen kurzer Formulierung den generischen Singular und erwartet, dass der Leser oder Hörer in der Lage ist, die allgemeine Sprachtechnik dieser Redeform zu verstehen, ohne unwillig auf allzu kluge Weise einzuwenden, den Menschen gäbe es so wenig wie ein Wesen des Menschen. 4 Das ist zwar irgendwie wahr, aber es gilt dann auch für die Menschen und die Dinge, die Zahlen und den Raum, sogar die Welt, nicht nur für Gott. Aus der Frage nach dem Dasein scheint sich sofort die Frage nach dessen Zeitlichkeit und aus dieser die Intentionalität im besorgenden Umgang zunächst mit präsentisch zuhandenen, dann aber auch mit bloß irgendwo in der Welt vorhandenen Dingen und sogar mit möglichen Sachen, insbesondere aber die Sorge um unser eigenes späteres Seinkönnen zu ergeben. Die Angst als Zusammenbruch der Sorge wird so zu einem allgemeinen Thema der Reflexion auf das menschliche Dasein. Dennoch erscheint es vielen Lesern als fragwürdig, die Zeitlichkeit des Daseins auf scheinbar mystische Weise abzuheben von einer Zeit als Maß der Bewegungen vorhandener Dinge in der Welt. Wir selbst sind doch solche Dinge und fallen keineswegs aus der Welt in ihrer vulgären Räumlichkeit und Zeitlichkeit heraus. Oder stimmt hier etwas nicht? Wenn man Heideggers ursprüngliche Einsicht aus dem Blick einer sprachbewussten Wende allgemein formuliert, besteht sie darin, dass die gesamte Tradition der Metaphysik seit Platon und Aristoteles objektzentrierte Vorhandenheitssemantik ist und dass die transzendentalphilosophische, empiristische und perspektivistische Wende zum Subjekt von Descartes über Locke, Hume, Kant bis Nietzsche das Subjekt-Objekt-Verhältnis bloß erst so versteht, dass uns gewisse Gegenstände als in der Welt vorhanden gegenüberstehen. Das Subjekt selbst erscheint entweder als geistiges Ding wie bei Descartes oder als Grenze meiner Welt wie in Wittgensteins
Wir alle gebrauchen generische Sprachformen im Interesse fokussierter Kürze. So nett daher eine genderneutrale Sprechweise wäre, so problematisch ist die Verschiebung der Aufmerksamkeit vom Inhalt auf eine langatmige oder nicht mehr lautsprachlich lesbare politisch korrekte Form, erst recht aber der Anglizismus in der Verwechslung eines ›natürlichen‹ Geschlechts mit dem grammatischen Genus unserer Sprache.
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Pirmin Stekeler-Weithofer
Tractatus 5 oder als Inbegriff meiner Welt wie bei Hegel. Der ›antispiritualistische‹ Naturalismus (auch Physikalismus oder Materialismus) versucht dagegen – wie schon die Gesprächspartner des Sokrates, Simmias und Kebes in Platons Phaidon – die Seele (psyche) als Gesamtfunktion des Leibes aufzufassen, mit dem Gehirn als zentralem Steuerungssystem nach Art eines Computers in einem Roboter. Heideggers Einsicht besteht nun darin, dass sich beide metaphysischen Großbilder, das bewusstseinsphilosophische wie das naturalistische, über ihren eigenen Status nicht klar sind, nämlich als reflexionsphilosophische Bildentwürfe zur Selbstplatzierung der Person in eine Welt des Vorhandenen. Das Problem dieser abendländischen Metaphysik besteht darin, dass wir uns selbst sozusagen durch unsere eigenen Bilder hindurch von der Seite oder von oben zu betrachten versuchen, sub specie aeternitatis, aus dem Blick eines Gottes mit seinem vollkommenen Wissen. Das Problem ist, dass Form und Voraussetzung der Blickweise selbst gerade auch dann aus dem Blick verschwinden, wenn das göttliche Wissen auf physische Sachen in der Welt eingeschränkt wird, also auf das Wissen eines idealen Physikers. Die Voraussetzung ist das jemeinige Sein im präsentischen Lebensvollzug – zum Beispiel im Gebrauch des Ausdrucks »idealer Physiker« oder »psychische (bzw. mentale, propositionale oder intentionale) Haltung«. Was Heidegger unter dem Titel »ontologische Differenz« zwischen Sein und Gegenstand thematisiert, bleibt bis an sein Lebensende das Hauptproblem der ›Seinsvergessenheit‹ einer Vorhandenheitssemantik im Ausgang einer naiven Unterstellung eines festen Bereichs dessen, was es in der Welt angeblich wirklich gibt. Entsprechend problematisch ist schon Wittgensteins Auffassung der Welt als Gesamtheit aller Tatsachen. Man übersieht die Konstitution, die formale und sprachliche Verfassung, aller unserer Gegenstandsbezugnahmen, insbesondere der auf uns selbst. Noch Kant hat nach dem Urteil Heideggers die vorgängige Verfassung des Seins von mir als dem Subjekt meines Wissens und Denkens ›übersehen‹. Es ist das Sein des Daseins in je meiner präsentischen Zeitlichkeit, die als solche noch nicht einfach die Zeit der Relativbewegung von in der Welt vorhandenen Körperdingen ist, sondern die ursprüngliche Modalität meiner je präsentischen Haltung zu Vergangenem und Zukünftigem. Die Konstitution von ob5 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, (1921), Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1960, im Folgenden TLP.
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Angst und Sorge
jektiver Wirklichkeit ist vermittelt durch systematisch konstruierte und gemeinsam, intersubjektiv, kontrollierte Perspektivenwechsel auf eine Welt des Vorhandenen im Ausgang von wahrnehmenden und sprechenden Einzelsubjekten, wie das spätestens Hegel in direkter Nachfolge zu Leibniz und Kant erkennt, was Heidegger nur neu aufgreift. Gebildet durch die Bedenken existentialphilosophischer Überlegungen zur Haltung der Person zu ihrer Welt bei Kierkegaard und Nietzsche erkennt Heidegger über Hegel hinaus die Gefahr der Bemühungen um ›Objektivität‹ und damit die Ursache des Nihilismus als Selbstverdinglichung des Menschen in der Moderne, der Verwandlung des Menschen in ein bloß klug rechnendes Tier, ein animal rationale im modernen Mythos von einem durch das Gehirn als Rechner gesteuerten Leib.
II.
Von der Konstitution des Seienden zur Verfassung des Seins
Es gibt Voraussetzungen dafür, dass der Versuch der Bezugnahme auf ein Ding, genauer: auf einen in der Welt vorhandenen physischen Gegenstand, oder dann auch auf in der Welt stattfindende Geschehnisse glückt. Kants Transzendentalphilosophie ist ein erster Ansatz, die Bedingungen dafür, dass sich eine Rede oder ein Denken auf ein wirkliches Ding bezieht, im Ausgang von allgemeinen logischen Formen des Gegenstandsbezugs und einer präsentischen Anschauung explizit zu machen. Heideggers grundlegende und bis heute noch nicht begriffene Hauptleistung besteht in diesem Kontext darin, Kants obskure Rede von Formen der Anschauung in Formen des präsentischen Lebensvollzugs im Dasein zu verwandeln. Aus Gründen der Vermeidung einer verdinglichenden Deutung gegenstandsartiger Reden von einem personalen Subjekt ersetzt Heidegger diesen Ausdruck sogar durch »das Dasein«. Man kann dann auch mit Karl Bühler 6 und Heidegger sagen, dass Kants Anschauung der Gesamtbereich des empraktischen Seins ist, in dem Perzeptionen zwar die Kontrolle des Zuhandenen vermitteln, der Zugang zum Zuhandenen aber weder rein visuell oder haptisch, auditiv oder olfaktorisch, auch nicht rein synästhetisch, sondern insgesamt tätig ist. Karl Bühler, Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Jena (Fischer) 1934.
6
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Pirmin Stekeler-Weithofer
Bei Hegel und in der deutschen Sprache ist der Ausdruck »das Dasein« übrigens Titel für ein Gesamt je gegenwärtiger und dabei je meiner Weltbezugnahmen, welche als präsentische immer schon zeitlich sind, also sich aus einer, genauer, je meiner, Vergangenheit irgendwie ergeben und auf eine Zukunft, zunächst auf je meine, genauer, auf mein zukünftiges Können und Tun, auch ›Sein und Haben‹ vorausweisen, wobei die Wörter »Sein« und »Haben« wiederum nur für die Inhalte von am Ende ›wahren‹ Aussagen stehen, die sagen, dass ich X bin oder Y habe bzw. Z sein werde oder W haben werde bzw. gewesen bin oder gehabt habe (usf.). »Dasein« ist daher am Ende doch nicht bloß ein anderes Wort für »Mensch«, »Person«, oder Subjekt, sondern holistischer Ausdruck für das zunächst je präsentische ›Sein‹ oder den ›Vollzug‹ des Lebens eines personalen Subjekts, das, wie sogar schon Descartes sieht, je ich bin, wenn ich auf mich und andere bzw. anderes reflektiere. Descartes erkennt demnach schon in nuce das Primat der Jemeinigkeit je meiner Welt und der Existenz vor jeder Essenz, also des »ich bin« vor jedem »es ist«. Diese Gedanken werden in Kants Transzendentaler Apperzeption als Primat des denkenden Bewusstseins in jeder Gegenstandsbezugnahme aufgegriffen, dann auch in Fichtes ›Deduktionsversuch‹ der (insgesamt durchaus unzureichenden) Formeln des Selbstbewusstseins »Ich = Ich« und »Ich = Nicht-Ich« und in Hegels logischer bzw. Heideggers existenzialer Entwicklung dieser Einsichten. Im französischen Existentialismus bei Albert Camus und Jean-Paul Sartre wird die Reihe fortgesetzt. Heideggers erste Hauptleistung der Daseinsanalyse besteht dabei in einer Art ›pragmatischen‹ Verwandlung der Rede Kants über eine empirische und reine Anschauung in die Rede über das gegenwärtige Dasein samt aller praktischen, passiv beeinflussten oder aktiv handelnden Bezugnahmen auf Zuhandenes. Das Wort »rein« spielt in Kants Überlegungen eine zentrale Rolle. In seiner Rede von einer »reinen Vernunft« geht es zum Beispiel um die Formen des verständigen Regelfolgens und des vernünftigen, reflektierenden, Denkens. Die Rede von einer reinen Anschauung markiert, dass es sich um Formen der Anschauung handelt. Genauer gesagt geht es um die raumzeitlichen Ordnungsstrukturen der im Prinzip gemeinsam angeschauten Dinge, 7 nicht etwa nur um Friedrich Kambartel schreibt in »Notwendige Geltung. Zum Verständnis des Begrifflichen« (in: Peter Janich, Hg., Entwicklungen der methodischen Philosophie.
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Angst und Sorge
meine zufällige oder eine vermeintlich uns allen angeborene Ordnung oder Formung von Empfindungen oder Perzeptionen. Charitable Lesarten von Kants Transzendentaler Ästhetik verstehen dementsprechend das Titelwort »Anschauung« als umbrella title und damit metonymisch für das erfahrene Dasein zuhandener Dinge im präsentischen Umgang mit ihnen. Dabei ist »Dasein« in Hegels Sinn verwendet. Anschauung ist also sinnlich vermittelter praktischer Weltbezug im gegenwärtigen Dasein, der im menschlichen Handeln immer schon denkend und damit begrifflich vermittelt oder, was dasselbe ist, durch generisches Wissen informiert ist. Im Kontrast zu den Kategorien, welche gemäß der kantischen Transzendentalen Analytik vermöge der sortalen ›Gegenstandslogik‹ unserer Reden über vorhandene Dinge und Sachen, auch Tatsachen, Ereignisse oder Prozesse, diese in ihrer begrifflichen Bestimmtheit allererst definieren, interessiert sich Heidegger, wie gesagt, für Existenzialien. Diese sind explizit artikulierte basale Momente des Daseins. Heidegger versucht in ihnen, absolut grundlegende und insofern absolute Bedingungen des Seins eines personalen Subjekts auf den Begriff zu bringen. Auch wenn Heidegger – m. E. irrtümlicherweise – Hegels Dialektik in der Analyse des Subjekt-Objekts als angebliche Rhetorik ablehnt und sich damit auch gegen eine »ontologische Interpretation der Substanzialität des Subjekts« (SuZ 22) wendet, geht es bei ihm wie bei Hegel um die Seinsweise der res cogitans, also um die (transzendentalen) Bedingungen der Möglichkeit, ein personales Subjekt zu sein, das je ich bin, indem ich auf hinreichend gute Weise an einer Gemeinschaftspraxis teilnehme, welche es mir allererst ermöglicht, allgemeine Sachen zu wissen und einzelne Sachen zu erkennen. Nur über das Moment des Mit-Seins bin ich daher im vollen Sinn personales Subjekt. Heideggers Daseinsanalyse ist so Analyse der Subjektivität und Personalität im menschlichen Dasein. Dabei ist allerdings zunächst nicht klar, von welcher Art eine Unternehmung der
Frankfurt am Main 1992, 36): »Das Wort ›Anschauung‹ steht in diesem Zusammenhang nicht für eine besondere Art von Wahrnehmung, sondern für unsere Fähigkeit, in gewissen Urteilen mehr oder minder unmittelbar übereinzustimmen, indem wir schlicht unsere normalen Sinne benutzen, um gemeinsam eine Unterscheidung zu treffen, zum Beispiel indem wir aufmerksam hinsehen oder uns durch Anfassen überzeugen, oder etwa gewisse optisch oder haptisch wahrnehmbaren Veränderungen erzeugen.«
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Pirmin Stekeler-Weithofer
Explikation von Existenzialien überhaupt ist, welche Frage oder welches Problem in ihr aufgegriffen wird. In Kants Fall lässt sich die Frageform und das Projekt der Explikation von Kategorien insofern relativ klar skizzieren, als wir in der Bezugnahme auf Dinge allgemeinlogische Voraussetzungen, so genannte Präsuppositionen, darlegen können. Sie betreffen z. B. die Gegenstands- oder Dingidentität: Wie ist diese definiert? Wie wird sie erkannt? Wie ist sie von verschiedenen Leuten kontrollierbar? Dasselbe gilt für die Existenz: Wie unterscheiden sich fingierte, fiktive, bloß mögliche Gegenstände oder wirkliche Dinge? Und wie lässt sich die substantielle Einheit des Dings für sich von einer bloß konsensuellen Klasse oder Bündeln irgendwie lokalisierter, vielleicht sogar freischwebender, ›Wirkeigenschaften‹ unterscheiden, wie z. B. Stellen in einem Kraftfeld? Kants tiefe Einsicht war, dass der allgemeinlogische Begriff eines (reinen) Gegenstandes sich von dem konkreten Weltbegriff eines Dinges bzw., leicht allgemeiner, eines Gegenstandes der Erfahrung durch zusätzliche Bedingungen unterscheidet. Nicht alle formalen Redegegenstände sind Dinge, nicht jede ›Entität‹ (etwa in Theorien) ist ein physisches Objekt, selbst wenn man sie in einem weiten Sinn zu den physikalischen Sachen zählt. Die Kategorien und Grundsätze der Erfahrungsgegenstände bestimmen daher nach Kant, wie die Einheiten und Mengen von Dingen als vorhandene physische Objekte und die auf sie bezogenen Prädikate überhaupt als definiert zu denken sind, bevor wir konkret etwas über ihr Zukommen im Falle eines, mancher oder vieler physischer Objekte wissen können. Die Bedeutung der Einhaltung kategorialer Bedingungen zeigt sich im Kontrast zwischen normalen Verneinungen (Komplementprädikaten) der Art »Cäsar war kein Plebejer« und ›unendlichen‹ Verneinungen der Art »Cäsar ist keine Primzahl« (Frege, Carnap) bzw. »der Geist ist kein Elephant« (Hegel), die auch als Kategorienfehler kenntlich zu machen sind. Kant betreibt als erster eine echte Onto-Logik des Dinges und fragt nicht nur, was wir wissen und kennen (können), sondern erkennt, dass die Frage, was wir wissen oder auch nur glauben können, als Frage nach der Verfassung der Geltungsbedingungen zu lesen ist, also als onto-logische und nicht etwa als ›erkenntnistheoretische‹ oder ›epistemologische‹ Frage nach den Grenzen meines, deines und unseres Wissens und Erkennens (im distributiven Sinn einer WirGruppe). Freilich ist sich Kant selbst dieser Tatsache bestenfalls zum Teil bewusst. 90 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
Angst und Sorge
III. Die Frage nach Gegenständen und Vollzügen Wonach aber fragt Heidegger? Und auf welches Problem antworten seine Existenzialien – das In-der-Welt-sein, das In-sein als besorgendes Bei-sein überhaupt, die Sorge als Obertitel für praktische Umsicht, oder dann auch das Mit-sein im Dasein oder des Daseins? Zunächst ist dazu die Frage nach dem Sinn von Sein in seiner vielfältigen Lesart auseinanderzulegen, zu analysieren. Eine Deutung der Frage ist die ontologisch-ontische. Sie fragt, was es so alles gibt. Eine andere ist die onto-logische. Sie fragt nach der Logik, den begrifflichen Vorbedingungen, erstens, der Rede von Gegenständen (›Seiendem‹) und der Bezugnahme auf sie, zweitens, des Wortes »ist«, das nicht nur als Kopula eine Funktionalapplikation, Identität oder ein Enthaltensein einer Teilmenge ausdrückt, sondern auch Existenz und Dasein. »Sein« ist der Infinitiv zu »ist« und das halbgriechische Lehnwort »Seiendes« (»to on«) ersetzt die deutschen Wörter »Gegenstand«, »Ding«, »Sache« oder die halblateinischen Wörter »Objekt«, »Entität«. Nun ist »Sein« aber auch der Infinitiv zu »bin« und »bist« (»sum«, »jsem« etc.), so dass es so scheint, als bedeutete »ich bin« mehr oder weniger dasselbe wie »er ist« oder »sie ist«, nur dass wir konventionell irgendwie den Sprecher syntaktisch mitnotieren. Allerdings sagt schon das Cartesische cogito ergo sum, »ich denke, also bin ich«, dass es eine wichtige Differenz gibt zwischen dem Schluss »das Tier bewegt sich, also lebt es« und dem Schluss »ich zweifle, lache, fahre Rad, also bin ich, lebe ich«. Heidegger hätte allerdings Recht zu fordern, dass weit mehr zum Cartesischen »sum« zu sagen ist, als Descartes zu sagen bereit ist. Ich würde sogar vorschlagen, seine Existenzialien als Überschriften zu lesen über das, was dazu zu sagen wäre, so dass die gesamte Existenzialanalyse zur Entwicklung einer entsprechenden Kommentarsprache wird. Diese Lesart richtet sich partiell sowohl gegen das Selbstverständnis Heideggers selbst, der meint, unmittelbar etwas über eine ›Struktur‹ des Daseins und des Seins sagen zu können, ohne dass das offenkundig logiktechnische Wort »Struktur« hinreichend erläutert würde, als auch und besonders gegen Epigonen und Kritiker, welche gleichermaßen die besondere Sprachform topographischer Themenbenennungen mit gnomischen Titelsätzen nicht beherrschen. Die Differenz zwischen »sum« (ich bin) und »est« (es ist so …) ist logisch trivial, wenn man die Scheuklappen formalkritischer Logik 91 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
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einmal abgelegt hat und sich nicht bloß auf eine inferentielle Regelsemantik (auch Wahrheitswertsemantik) für logisch komplexe Sätze in rein sortalen Gegenstandsbereichen wie der Arithmetik oder reinen Mengenhierarchie beschränkt. Denn das »ich bin« hat nur Sinn als Ausdruck in einem Äußerungsvollzug. Das »ist« der Kopula aber artikuliert nur irgend eine, je näher zu bestimmende, Verbindung oder Synthesis zwischen Nominalphrase (Satzsubjekt) und Verbalphrase (Prädikat). 8 Und es setzt das »ich bin« eines Sprechers voraus: Jedes »es ist so« muss von einem Sprecher gesagt oder geschrieben sein, und zwar nicht als Zitat, sondern ›mit behauptender Absicht‹, also im performativen Vollzug (›use‹), nicht im bloßen Modus der Erwähnung oder des Zitats (›mention‹). Descartes’ Schluss vom »ich denke« (»ich tue x«) zu »ich bin« (ich existiere) ist kein logischer Schluss auf der reinen Satzebene, sondern ein materialbegrifflicher Schluss auf der Ebene von Sprechhandlungen bzw., allgemeiner, ein Schluss von den Handlungen auf die Handelnden, genauer, vom je meinigen Vollzug auf die Wirklichkeit des Daseins und meiner Welt, sozusagen. Das ist ein unbezweifelbar richtiger Schluss, der aber nicht etwa von der Seite eines äußeren Beobachters her, sondern aus der Perspektive des Sprechenden und Handelnden selbst, also je von mir her zu lesen ist. Der Unterschied zwischen dem Schluss »Fido bewegt sich, also lebt er« und dem Schluss »ich denke, also bin ich« besteht also darin, dass die Wahrheit von »Fido bewegt sich« in dem starken Sinn, dass Fido als lebender Hund (und nicht etwa als toter Kadaver) benennbar ist, noch keineswegs unmittelbar gesichert ist, wozu gehört, dass er sich von selbst bewegt und nicht bloß von außen bewegt wird wie wir das etwa bei einem toten Frosch durch einen Stromstoß bewerkstelligen können. Weil das erst noch zu klären ist, liegt nur eine bedingte Folgerung vor. Außerdem gilt die Übergangsregel »wenn Fido sich bewegt, dann existiert Fido (als lebendes Tier)« nur in der skizzierten Lesart.
Dabei ist es schon Zeichen von Inkompetenz, wenn man in der Nachfolge Freges meint, durch die Deutung der Prädikate als Funktionen schon etwas Inhaltliches zu dieser Synthesis gesagt zu haben. Denn das Wort »Funktion« ist ebenso vage wie »Synthesis« und steht bloß für eine Anzeige einer Form. Logisch komplex sind dabei übrigens alle Sätze, die offen (im Ausdruck) oder verdeckt (in der zuzuordnenden Tiefenstruktur) Wörter bzw. Operatoren wie »nicht«, »und«, »für alle x«, »es gibt ein x«, und dann auch »dasjenige x, für das q(x) gilt« enthalten.
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Ganz anders steht es mit den materialen und doch völlig allgemeinen Folgerungen des Descartes, nach welchen ich aus der unmittelbaren Gewissheit des »ich zweifle, denke, lache, gehe spazieren« unmittelbar auf »ich bin ein (personales) Subjekt« schließen kann. Da mich die Debatte um die psychologische Deutung des Ausdrucks »res cogitans« hier nicht interessiert, ersetzte ich ihn durch den m. E. relevanten Sinn. Aus Gründen der Erzeugung einer entsprechenden Übersicht überspringe ich jetzt aber einige möglicherweise für sich interessante Details und gehe gleich über zur zentralen Frage nach dem, was mein Ausdruck »personales Subjekt« eigentlich meint, genauer also, oder allgemeiner, was das »bin« im Satz »ich bin« bedeuten mag. Wer ›formalistisch‹ denkt, wird darauf hinweisen, dass die scheinbare Aussage »ich bin« (»sum«) bestenfalls elliptisch ist. Im Lateinischen kann man zwar ohne weiteres »sum« in einem vollständigen Sprechakt verwenden, wenn vorher schon klar ist, wonach gefragt wurde. So wie man auf die Frage »existiert Gott?« kurz »ja«, im Lateinischen »est«, antworten kann, so auch auf die Frage »wer ist der Mörder?« mit »ich bin’s«. Die Frage nach dem Sinn von Sein wird jetzt dennoch zur Frage nach dem Sinn des Wortes »bin« in entsprechenden Sprechhandlungskontexten. Es kann gelesen werden – und wird oft so gelesen –, als ginge es um eine Differenz zwischen mir (›meinem Ich‹, meiner res cogitans) und meinem Leib, so dass die Übersetzung von cogito ergo sum (res cogitans) lauten würde: »Ich denke, also gibt es mich als denkende Seele« im Kontrast zu meinem Leib als bloßem ausgedehntem Körper. Gegen eben diese Lesart und alle christlichen Vorstellungen läuft Heidegger Sturm. Infrage steht damit natürlich nicht nur das »bin«, sondern auch das »ich« in »ich bin«, »es gibt mich«, »ich existiere«. Damit aber wird auch die in der Analytischen Philosophie (etwa bei G. E. M. Anscombe oder John Perry im Nachgang zu Wittgensteins PU) intensiv diskutierte Frage nach der Referenz des »ich« fragwürdig – gerade in Kontexten der Art einer Distanzierung von Teilen meines Leibes oder dessen Zuständen (»ich bin nicht mein Gehirn«, »ich bin nicht meine schlechte Laune«). Es ist daher nur eine Art Mischung zwischen Geschmackssache und Unbildung, welche Texte zum »ich« man in der Analytischen Philosophie noch liest, welche nicht, wenn man z. B. Fichte, Hegel und Heidegger bzw. Sartre nicht (mehr) liest und sich stattdessen mit Peter Strawson oder Ernst Tugendhat zufriedengibt, die im 93 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
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Grund meinen, das Wort »ich« benenne meinen Körper, so ähnlich wie »dieser Hund da« diesen Hund nennt. Dabei gelte die Konvention, dass der jeweilige Sprecher mit dem Ausdruck »ich« je seinen Körper benenne, so dass wir am Ende sagen müssten, dass ein Körper sich selbst benennt, indem ein Teil – sein Mund in der Lautsprache (zusammen mit Zunge und Lufthauch) bzw. seine Hand beim Schreiben – diese Benennung ausführt. Aussagen der Art »ich bin gerade in der Bibliothek« sprechen demnach über den Körper, der ich bin. Wie steht es dann aber zum Beispiel mit Aussagen der Art: »Von deiner Kritik an meinem Lieblingsschüler Y fühle ich mich tief getroffen«? Wie kann ich getroffen sein, wenn du Y kritisierst? Ich bin doch nicht Y! Und doch sprechen wir so. Und wie verstehen wir einen Satz der Art: »In hundert Jahren werde ich nicht mehr da sein« bzw. »es wird meinen Körper nicht mehr geben«? Noch dramatischer wird es, wenn ich mich handelnd zu mir selbst verhalte, indem ich handelnd dafür sorge, dass ich später eine Person einer bestimmten Art sein kann, z. B. indem ich mich ausbilde, zum Lehrer etwa oder zum Klaviervirtuosen. Oder ich sorge durch mein heutiges Handeln dafür, dass ich ein ganz bestimmtes personales Subjekt in der Zukunft (möglicherweise) sein kann oder sein werde, also in der Zukunft sagen kann, »ich bin Lehrer/Professor der Philosophie« oder »ich bin Klavierspieler« bzw. »ich bin Organist des Gewandhauses«. Wie schafft es mein Körper, für sich und seine Zukunft zu sorgen? Das könnte man als die – natürlich schon leicht ironisch-polemische – Ausgangsfrage von »Sein und Zeit« ansehen, welche erstens zeigt, warum und wie das Thema ›Zeit‹ ins Spiel kommt, ferner das Thema ›Sorge‹, obwohl wir von der Logik des »ich« und »bin« ausgegangen sind. Diese wird im »Existenzial« des ›Mitseins‹ sozusagen sofort ausgeweitet zu einem Wir, zumal jedes Ich-sagen immer schon ein Wir-sagen implizit enthält, indem es sich an ein Du oder Ihr und eben damit an ein Wir richtet. Denn aus jedem Ihr wird durch die Reflexion auf das Mitsein ein Wir. Die Logik des »bin« und des »ist« wird entsprechend unmittelbar zu einer Logik des »kann sein« und »wird sein«, also des Futur. Die enge Beziehung zwischen Sein und Zeit ergibt sich aus dem zeitlichen Sein des Daseins, aber auch aus der Zeitlichkeit des empirischen »ist«, jeder Vorhandenheit. Hinzu kommt, dass alle inhaltlichen Bestimmungen möglicher Selbstbeziehungen auf einen modalen Zeitraum verweisen, in dem die Zukunft eine Möglichkeit und auf keinen Fall einfach als futuristische Vorhandenheit anzusprechen ist. 94 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
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Eine Logik des Frege’schen »ist« und dann auch der (Russell’schen) Kopula »ε« ist hier deswegen nicht ausreichend, weil diese nur auf überzeitliche, zeitallgemeine Weise ›ewige‹ Namen und ›ewige‹ Prädikate passt, wie z. B. im Fall »5 ist eine Primzahl«. Hier gibt es kein »war« und »wird sein«, im Kontrast zum »ist«. Es gibt schon gar kein »bin«. Das »bin« steht immer schon im Kontrast zu »ich war« (»fui«) und »ich werde sein« – und ist doch ganz eng damit verbunden. In der existenziallogischen Kommentarsprache, die Heidegger entwickelt, kann man kurz sagen, dass das »ich bin« grob und ohne Artbestimmung je mein Dasein nennt, wobei die Ausdehnung des »ich« entweder variabel ist, wenn ich etwa sage, ich sei nicht mehr die Person, die ich gewesen bin, oder sogar alles Meinige umfasst, wenn ich etwa sage, dass auch meine Kinder und Enkel und ihr Leben zu mir gehören. Es wäre daher, um es noch einmal zu sagen, falsch, Heidegger so lesen zu wollen, als hätte er aus irgendwelchen obskuren Gründen die Wörter »ich« oder »Subjekt« durch das Wort »Dasein« ersetzt. Das Wort »Dasein« nennt als abstraktes Nominal je mein gegenwärtiges Sein – ohne weitere Ergänzung –, das durch die Aussage »ich bin« ausgedrückt oder angezeigt ist, so dass wir, wie in solchen reflexionslogischen Nennungen generell, ›über‹ das Dasein weitere Aussagen machen können. Auch sonst können wir ›über‹ abstrakte Sachen sprechen, ob über die Gerechtigkeit oder das Nichts (bzw. das »Nicht«), über die Zahl 7 oder aber die Identität, ausgedrückt durch das Gleichheitszeichen »=«. Diese ›Gegenstände‹ zu mystifizieren ist reine Leseschwäche, zumal alle Logiker und Mathematiker lokal von gerade solchen Abstraktionen immer auch Gebrauch machen – und damit am Ende alle Wissenschaftler. Nur reflektiert man dabei selten oder nie auf die allgemeine Form. Heidegger vermeidet durch seinen Vorschlag, das Wort »Dasein« kanonisch an die Stelle der Rede über das menschliche Subjekt, Ich oder die Person zu setzen, jede ›drittpersonale‹ Rede von einem Gegenstand, Ding oder Lebewesen, und das aus jetzt wohl klar nachvollziehbaren Gründen. Er will die Lesart vermeiden, das Subjekt sei ein geistiges Wesen neben dem Leib oder irgendwie im Leib. Die Fragen »was ist ein Subjekt« und »was ist eine Person« führen außerdem schon aufgrund der Ausdrucksform schnell in die Irre. Erwartet man doch eine ›Definition‹ etwa der folgenden Form
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x ist ein Subjekt genau dann, wenn Ψ(x) bzw. x ist eine Person genau dann, wenn Ψ(x). Das aber ist ein untaugliches ›Definitionsformat‹ für die Frage danach, was wir meinen, wenn wir das Wort »ich« in Verweisungen auf je mein Dasein bzw. mich gebrauchen. Ein abstrakter Ausdruck wie »personales Subjekt« kommt nur in reflexionslogischen Aussagen vor, die es allererst angemessen zu verstehen gilt. Entsprechend verweist der nominalisierte Ausdruck »das Ich« je auf das Aussagesubjekt im Gebrauch des Personalpronomens der ersten Person Singular, also je auf mich, wie ich etwas sage und dabei vielleicht auch schon »ich« sage.
IV. Das Primat des Daseins und des Mitseins Wenn wir wollen, können wir sagen, dass alle animalischen Lebewesen Subjekte sind, insofern sie ihr Sein oder Leben vollziehen. Wir können dann weiter sagen, dass Menschen in personalen Interaktionen mit anderen Menschen, im Vollzug des Existenzials des Mitseins, personale Subjekte sind. Jeder Mensch ist Person, insofern er moralisch und rechtlich zu schützen ist. Im Kompetenzsinn aber wird er durch Bildung und Selbstbildung zur Person und Persönlichkeit im Sinne eines Gesamts von Rollen und Status, wie man etwa auch in der Soziologie sagt. Heidegger interessiert sich aber nicht weiter für die Aufgliederung dessen, was alles unter das Existenzial »Mitsein« fällt, sondern fokussiert stärker auf die Sorge, also die genuine Zeitlichkeit des »ich bin« und »ich werde sein«. Die Bedeutung der logischen Analyse des »ich bin« im Sinne eines Selbstverweises des personalen Subjekts im Vollzug liegt natürlich, erstens, in der Kritik an der cartesischen Vorstellung einer substanzartigen Seele oder res cogitans hinter oder neben dem leiblichen Dasein, aber zugleich auch, zweitens, in einer Überwindung der naiven Identifizierung des ›ich bin‹ mit einem ›es ist‹, der Existenz des personalen Subjekts mit der bloßen Vorhandenheit meines Körpers. Das Titelwort »Jemeinigkeit« artikuliert dabei, was Wittgenstein mit dem orakelartigen Merksatz ausdrückt: »Ich bin meine Welt«, und 96 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
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was Leibniz in dem obskuren und daher zumeist fehlgedeuteten Satz ausdrückt: »Monaden haben keine Fenster«. Gemeint ist nur, dass kein Subjekt (kein ›Ich‹) sich selbst von außen betrachten kann, also nicht außerhalb seiner selbst in der Welt herumspazieren kann. Leibniz selbst spricht daher an manchen Stellen statt von Fenstern von Türen – um klarzumachen, dass je mein Zugang zur Welt zunächst zu meiner Welt führt, also in der (präsentischen) Sphäre des Daseins (Hier-und-Jetzt-Seins) beginnt. Kants Betonung der Anschauung als wesentliches Moment jedes wirklichen Weltzugangs kann jetzt schon klar so verstanden werden: Jeder Weltbezug ist immer schon und auf ewig im Dasein, im je präsentischen Vollzug, fundiert. Das ist ein logischer Truismus, fast eine Tautologie, verwandt mit dem Merkspruch: ago ergo sum oder auch mit der absoluten unmittelbaren ›Wahrheit‹ des Satzes »ich bin, der ich bin«, der mehr sagt, als der Satz »jedes Ding ist, was es ist, und kein anderes Ding« (Bischof Butler). Denn die Tautologie »A ist A« (A = A, »ein A ist ein A« etc.) artikuliert eigentlich nur ein Bedingungsgefüge der Form: »Was immer (ein) A ist, ist (ein) A«, während das »ich bin« zunächst expressiv die Existenz zeigt, demonstriert, also im ersten Schritt noch nicht einfach aussagt, ähnlich wie mein Ruf im Wald »ich bin hier« nicht aufgrund seines Inhalts qua Satztyp, sondern aufgrund seiner Performation als Laut, Ruf, Schrei um Hilfe etc. die anderen über meine Existenz und meinen Ort informiert und orientiert. Das zeigt schon, warum wir extrem vorsichtig sein sollten, die besonderen Inhalte von performativen Vollzügen bloß als Aktualisierungen der allgemeinen Inhalte von Ausdruckstypen misszuverstehen. Sprechhandlungen müssen immer konkret begriffen werden. Dabei darf man nie einfach schon eine abstrakte Differenzierung in ›bloß‹ äußere Aktualisierung und einen rein ›inneren‹ Gehalt in Anschlag bringen. 9
Der Kontrast zwischen Sinn und Bezug ist kontextabhängig und plastisch, gerade so wie der zwischen Ausdruck und Inhalt. D. h., es gibt keine allgemeinen Gleichheiten zwischen Sinn, Bedeutung, Ausdrucksform und Inhalt, so wenig wie bei allen parameterabhängigen Operatoren in allen möglichen Sprachen, nicht nur Formalsprachen. Doch das ist nur eine Bemerkung für Spezialisten, die hier nicht weiter ausgeführt werden kann.
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V.
Selbstsein und authentisches Selbstbewusstsein
Das nackte Sein, das Leben als animalisches Individuum ist natürlich keineswegs das, was im Ausdruck »ich bin« artikuliert ist. Denn ich kann nur als sprachfähige Person im vollen Sinn »ich« sagen. Das kann ich nur in Bezugnahme zu dir und ihm, uns und euch, im Wissen um die Rolle dieses Sagen-Könnens oder dann auch Denken-Könnens. Selbst wenn ich leise zu mir »ich« sage, geschieht das in einem stillen Dialog mit mir selbst, wie schon Platon oder Kant klar sehen. Denken ist stille Rede einer persona veraloquens (Descartes) mit sich selbst. Vorausgesetzt ist eine uns als Personen gemeinsame Sprache (langage), die sich durch eine beliebige menschliche Sprache (langue) vertreten lässt. Ein Papagei hat eine solche Sprache nicht, auch wenn er »ich« sagen und andere Wortfolgen ›sprechen‹ kann. Es ergibt sich die Frage nach der besonderen geistigen Individualität des personalen Einzelsubjekts im Kontrast zur bloß konventionell-schematischen Teilhabe an dem, was man so sagt und macht. Der abstrakte Ausdruck »das Man« benennt diese Grundstruktur aller zunächst bloß angelernten Schemata als Ausgangspunkt eines vollen personalen Seins (als Gesamt der Vollzüge von mir als Subjekt). Die bloße tautologische Jemeinigkeit meines (subjektiven) Lebens ist also noch keine volle Authentizität des bewussten Selbst-Seins und der Selbst-Bezugnahme in einer Selbst-Bestimmung und in der Sorge um sich selbst. Zunächst ist jedes Tun von mir ein Tun, das Folgen für mich hat. Insofern ist es immer schon selbstbezüglich. Das ist eine logische Tautologie – die sich der formale Logiker dadurch abstrakt klarmachen kann, dass er von einer beliebigen Aussage Ψ übergeht zur Aussage Ψ & N = N und in einer beliebigen Aussage Ψ(N) das N überall durch ein neues freies x ersetzt: damit werden sozusagen alle Aussagen formal zu Eigenschaften eines N bzw. sogar zu Selbst-Relationen. In der Normalsprache können wir das so nachspielen: Der Satz »es regnet« wird verwandelt in die Eigenschaft von Dingen, dass sie mit sich identisch sind und es regnet, gerade so wie wir eben DassSätze bilden. Das Verfahren ist eigentlich formal langweilig. Ex negativo zeigt es aber, dass wir uns um die interessanten Selbst-Relationen eigens kümmern müssen. Denn dass ich mit mir identisch bin, oder dass ein Gegenstand irgendwie existiert, wenn er überhaupt sinnvoll benannt werden kann, ist, wie schon gesagt, rein formal wahr. 98 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
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Worin besteht also eine echte, authentische, wahre Sorge um sich, über die triviale Tatsache hinaus, dass all mein Tun selbstbezüglich ist? Im Überlegungsgang zu dieser Frage betrachtet Heidegger sozusagen ex negativo das Negativ- oder Kontrastpaar der Furcht und der Angst zur erwartungsvollen und hoffenden Sorge im aktiven Handeln und Planen zukünftigen Selbstseins. Während die Furcht als propositionelle Haltung davon abhängig ist, ob es das zu Fürchtende gibt (oder ob es als real möglich zu bewerten ist), verneint die Angst die Sorgestruktur total und wirft das personale Subjekt auf das schiere Dasein in der Gegenwart zurück. Die Angst vernichtet also nicht bloß allen Handlungsantrieb, sondern sogar alle Handlungsorientierung, allen Sinn in eben diesem Sinn der Seinsorientierung. In einer Depression oder Angstneurose verliert in der Tat jeder Sinn seinen Sinn. Das ist nur ein Orakel dafür, dass aller Halt und Orientierung wegbricht. Heidegger versucht, diese Erfahrung positiv zu wenden. Furcht ist nur der Negativ-Aspekt eines umsichtigen Besorgens. Angst ist der Zusammenbruch jedes Besorgens – wie in einer Angstneurose oder, der Form nach leichter, in einer Depression. So wie es in der Logik der Sprache zwei wesentlich zu unterscheidende Gebräuche (›Bedeutungen‹) der Wörter »nicht« und »nichts« gibt, nämlich ›endliche‹ oder ›gattungsinterne‹ und ›unendliche‹ oder kategorienverachtende (›transzendente‹), so verhält sich auch die ›Negation‹ der Sorge: die endliche ist die Furcht, die unendliche Angst. Es ist ein Mangel der nach-Frege’schen Logik und nicht etwa ein Mangel der traditionellen Analysen des »nicht« und »nichts« bis herunter zu Heidegger, dass sie die ›unendliche‹ oder ›kategoriale‹ Verneinung nicht mehr explizit artikuliert, sondern sich nur mit der inneren, implizit auf einen bestimmten Gegenstandsbereich eingeschränkten, Verneinung zufrieden gibt. Ansonsten ist Rudolf Carnaps berüchtigte Kritik an Heideggers explizit als katachrestischer Merkspruch ausgewiesenem Satz »das Nichts nichtet« bloß lächerlich. Wer die deutsche Sprache versteht, weiß, dass der Satz das folgende besagt: das Wort »nichts« streicht die Existenz dessen durch, was das Prädikat besagt, so dass eine Aussage der Form »nichts ist P« gerade die Form erhält »nicht es gibt ein x, so dass x ε P«. Das aber ist gerade das, was auch Frege und Carnap als ›Tiefenstruktur‹ des Gebrauchs des Wortes angeben. Es ist daher nur leseschwacher Unwille, 99 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
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selbst zu denken, wenn man behauptet, Heidegger würde »das Nichts« als Namen von etwas verstehen wie Polyphem das Wort »Niemand«. Doch was leistet nun die Liste der Existenzialien des Daseins, des Mitseins, der Jemeinigheit, der Sorge, der Befindlichkeit, und die Kontrastierung von intentionalen (propositionalen) Gefühlen wie Furcht vor x, Hoffnung auf y, Glaube an z, einerseits, ungerichteten Stimmungen wie Angst oder vielleicht auch das ›Hochgefühl‹ des Enthusiasmus, andererseits?
VI. Existenziale Überhöhung der Angst Ludwig Wittgenstein sagt, das Gefühl der Welt als begrenztes Ganzes sei irgendwie das Mystische. 10 Heidegger meint, die Befindlichkeit der Angst bringe uns die Endlichkeit des Daseins in besonderer Weise nahe. 11 Die bloße Erfahrung des Todes anderer Personen führe noch nicht zur Einsicht in die Abgründigkeit des eigenen Daseins und die Relativität allen Sinns. 12 Heidegger spricht vom großen Jubel im Herzen und von dem Wunder aller Wunder, dass es die Welt (und uns in ihr) gibt. Wittgenstein spricht von einem Staunen. Weder sind gerichtete Gefühle wie Furcht, Sorge, Hoffnung frei von Stimmungen, noch ist eine stimmungsmäßige Befindlichkeit wie Angst, Niedergeschlagenheit, auch eine Hochstimmung, völlig bezugslos. Logisch wichtig bleibt die Einsicht Franz Brentanos, dass diese Bezugnahmen nicht (notwendig) auf schon Vorhandenes, sondern auf Möglichkeiten zielen. Dabei ist Heidegger in Sein und Zeit noch nicht einmal radikal genug, um die durch und durch sprachliche Konstitution jeder nicht bloß im gegenwärtigen Vollzug wie bei Tieren implizierte Bezugnahme auf Mögliches in der Zukunft, aber auch an anderen Orten und in der Vergangenheit angemessen hervorzuheben. 13 TLP, 6.45. SuZ, §§ 29 f. u. § 40, ferner § 68, bes. 339–346. 12 Vgl. u. a. SuZ §§ 46–53, bes. 257. 13 Vgl. dazu etwa SuZ § 31. Es wäre hier der Kontrast zwischen der Darstellung des Vollzugs als Ergreifen von Möglichkeiten aus der Perspektive eines Betrachters bzw. Urteilenden und aus der reinen Vollzugsperspektive des Daseins weit deutlicher zu machen gewesen, als Heidegger es schafft. Dabei gehören die je verfügbaren Möglichkeitsspielräume partiell immer auch zur Geworfenheit nackter Faktizität (SuZ § 31, 10 11
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Wie aber beziehen sich Befindlichkeiten auf unsere eigene Existenz und die Welt insgesamt? Warum soll uns gerade in der Angst die absolute Freiheit begegnen, wo sie uns doch handlungsunfähig und damit unfrei macht? Wird damit nicht die Existenzform, die uns zu personalen Subjekten macht, annulliert? Werden wir hier nicht auf die bloß animalische Existenz zurückgeworfen? Und das Ergebnis soll unser ureigenes Selbst sein? Hegel sieht hier vielleicht schon klarer: Subjekte sind wir als animalische Wesen. Personen sind wir als gesellschaftliche, als politische Wesen. Es ist daher zwar richtig, wenn Heidegger sagt: »Die Angst vereinzelt und erschließt so das Dasein als ›solus ipse‹.« 14 Aber er sagt nicht, wie Hegel, dass dieser Solipsismus gerade ein nicht authentisches, sondern bloß verhaltensmäßiges und rein befindliches, stimmungsabhängiges, damit je nur präsentisches Sein ist. Wir sollten uns, mit anderen Worten, vor jeder Art Emphase der Subjektivität und damit vor jeder Art von Selbstanimalisierung hüten. Freilich bleibt richtig, dass wir uns nur über die Negativität des Scheiterns implizit gegebener Tatsachen und positiver Möglichkeiten bewusst werden. In der Angst wird die Bodenlosigkeit allen Sinns präsent. Wir sollten dennoch nicht vergessen, dass die Stimmung der Angst den Zusammenbruch allen Sinn- und Selbstverstehens bedeutet und jedes Lob eines Lohns der Angst abwegig ist. Dabei rufen Heideggers Erinnerungen an die Sinnfelder der Unheimlichkeit 15 im Un-Zuhause 16 nur dazu auf, sich daran zu erinnern, was auch Hegel betont, dass es in allem Selbstbewusstsein darum geht, sich in der Welt heimisch zu machen, da wir nur so die nötige Übersicht über unser Sein und Tun erlangen. Es ist daher irreführend zu meinen, Angst sei Ausdruck, nicht auch Bedrohung unserer Freiheit.
148), von der her Sicht und Voraussicht, Rücksicht und sorgende Selbstbezugnahmen im Entwurf ihren Ausgang nehmen und entsprechend beschränkt bleiben. 14 SuZ, § 40 (188). 15 SuZ, § 40 (188). 16 SuZ, § 40 (189).
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VII. Erwachsene Selbstformung Platon hat schon im Phaidon im Blick auf verschiedene Gebräuche des Wortes psyche, der Rede über die Seele, diese erstens als Subjekt, als Trägerin von animalischer Lebenskraft bzw. des Selbsterhalts und damit der Harmonie oder des Zusammenstimmens des Leibes verstanden, zweitens, und davon unterschieden, als Trägerin aller geistigen Fähigkeiten und Kompetenzen, der arete im Vollzug (während des Lebens) oder des Zusammenstimmens der subjektiven Geistseele, von Verstand und Vernunft während des Lebens. Drittens und erst recht anders verfasst ist die Seele als Trägerin der moralisch zu wertenden Leistungen einer Person, also als Gesamtpersönlichkeit. Während des Lebens oder nach dem Leben erhält oder verdient diese in der Erinnerung der anderen Personen Lob oder Tadel. In diesem Sinn ist sie bleibendes grammatisches Subjekt und objektiver, aber nicht dinglicher, Gegenstand von Verdienst, aber auch von unverdientem Ruhm und unverdienter Ehre, Verdammung oder Verachtung. Außerdem ist die Seele viertens der Erzählgegenstand meines je eigenen Romans, in dem ich der Held oder das Opfer, der Schurke oder der Unschuldige bin oder mir auch nur zu sein scheine. Immer geht es darum, die psyche in richtiger Weise als Satzgegenstand und als Vollzugssubjekt anzusprechen. Kebes und Simmias kennen und behandeln, wie später auch Aristoteles, die Seele nur in den ersten zwei Aspekten. Sokrates und Platon interessieren sich praktisch nur für die letzten drei. Aristoteles argumentiert mit Recht gegen eine Abtrennung der Seele vom endlichen Leben der Person, behandelt aber Platons Problem nicht, dass die Persönlichkeit der Gegenstand und Wahrmacher für bewertende Aussagen bleibt, auch wenn die Person schon tot ist. Hegel entwickelt daraus Einsichten wie die folgenden: Die Seele im Vollzug ist Subjektivität. Der objektive Geist ist das begriffliche System des allgemeinen menschlichen Wissens, unter Einschluss der gegenstandsförmig reflektierten Formen praktischen Wissens im Handelnkönnen. Der absolute Geist oder die Idee des Wahren und Guten ist der Gesamtvollzug aller kooperativ fundierten Praxisformen oder Institutionen, unter Einschluss liturgischer Feiern und anderer Vollzüge der Reflexion. Wir werden Personen im Kompetenzsinn des Wortes nur durch Teilnahme an der so begriffenen Idee. Sie ist das Menschheitsprojekt der Entwicklung des Geistes. Der subjektive Geist ist Personalität. Für 102 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
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sie wesentlich ist und bleibt die religio als vertrauensvolle Bindung an die Idee, an den Prozess der Menschheit. Intuition und Gefühl sind getragen durch Empfindungen und daher bloß erst die niederste Stufe des Bewusstseins. Die Aktivitätsform der Seele, die wir Menschen mit den Tieren gemein haben, ist die des Gewahrseins (awareness), die auf Seiten des Subjekts eine gewisse Wachheit der Sinne (vigilance) und in Bezug auf das Objekt oder die Sache eine gewisse gerichtete Aufmerksamkeit (attention) voraussetzt. Dabei erkennt Hegel aufgrund seiner begeisterten Lektüre von De Anima, dass die Seele bloß als Reflexionsbegriff zu verstehen ist. Es gibt keine ›Entität‹ Seele, die irgendetwas tut oder irgendwie selbständig lebt, wie Platon noch im Phaidon suggeriert. Wir können aber mit Hilfe des Wortes kognitive Eigenschaften oder Fähigkeiten der psyche als Trägerin zusprechen. Sie wird damit in manchen Kontexten als das personale Subjekt im Lebensvollzug, in anderen als die Person im Sinn einer Gesamtpersönlichkeit vom Körper als reinem Leib oder gar Leichnam unterscheidbar. Diese Unterscheidung ist wichtig, weil mentale und geistige Eigenschaften, Charaktere und Fähigkeiten ebenso wie die Bewertungen der Leistungen logisch-kategorial von körperlichen bzw. leiblichen Eigenschaften oder (Lern-)Kompetenzen zu unterscheiden sind, selbst wenn der Leib als ganzer der Träger aller Lebensfunktionen bleibt. Platon sieht dabei schon, dass in den Erinnerungen an Sokrates (der Ausdruck ist ein Titel bei Xenophon) der erinnerte Gegenstand die Persönlichkeit ist, die in ihren wesentlichen Leistungen über den Tod hinausreicht. Die holistischen Eigenschaften des geistigen Vollzugssubjekts sind daher sowohl zeitlich als auch räumlich anders verfasst als die der Gesamtperson (gerade auch post mortem), beide aber ganz anders als die raumzeitlich lokalen Eigenschaften des je bloß präsentischen Leibes und seiner Teile. Die Hauptschwierigkeit scheint darin zu liegen, dass Sokrates nicht anders als der Nazarener Jesus und der Römer Paulus uns zumutet, ohne jede Rücksicht auf ein wirkliches Lob oder eine wirkliche Erinnerung an unsere Leistungen nach Perfektion in allen Dingen zu streben. Nur das ist die arete des Erwachsenen. Nur Kinder brauchen noch Lob und Tadel. Nur eine Herde halberwachsenser Personen braucht geistig-geistliche Hirten oder Pastoren, welche die Geschichte vom Jüngsten Gericht, als Übernahme und Ausmalung des Mythus des Er im 10. Buch der Politeia, so vortragen, als handele es sich um eine wörtliche Wahrheit. Das wahre Projekt philosophischer Aufklä103 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
Pirmin Stekeler-Weithofer
rung sollte uns in die Lage versetzen, ohne literalen Glauben an Metaphern und Mythen auf erwachsene Weise so zu leben, als ob die entsprechenden Mythen wahr wären. Das ist das Bildungsprogramm einer existentialen Philosophie. Es reicht über den Chiliasmus der Urgemeinde in Jerusalem und dessen Rekonstruktion bei Luther weit hinaus. 17 Den ›Glauben‹ an die ›unsterbliche‹, also ›immer seiende‹ Persönlichkeit, die ein personales Subjekt im Laufe seines Lebens ausbildet und verkörpert, ist offenbar ein Sonderfall der Lebensorientierung an verbal konstruierten Möglichkeiten, Fiktionen. Es entsteht die große Frage, wie kontrafaktische Fiktionen wahr sein können, obwohl sie, wörtlich gelesen, klarerweise falsch sind. In der Tat gilt ja, dass der Inhalt eines Glaubens ›an die Seele‹ nicht etwa darin besteht, dass ich als dieses besondere Subjekt mit dieser einzigartigen (immer unfertigen) Innenperspektive über mein Ableben hinaus existiere. Wohl aber bleibt der Typus, den ich (eine Zeitlang) verwirklicht habe, das Ansichsein der Lebensform ›in der Welt‹ und wenn auch nur als Möglichkeit wahrer Erinnerung. Es gibt aber keine ›Fortsetzung‹ des Vollzugs je meines Lebens über den Tod hinaus. Ein Weiterbestehen eines Vollzugssubjekts gibt es nicht: Hier stimmen Simmias und Aristoteles überein und sogar Paulus stimmt zu, da er ja gegen alle Eschatologie und Endzeiterwartung betont, dass das Himmelreich schon da ist und der Messias oder Christus schon da war. Dass Jesus wiederauferstanden ist, bedeutet nur, dass mit seiner Kreuzigung die Wahrheit seiner Lehre und das Muster seines Lebens nicht widerlegt ist. Platons Sokrates hat daher Recht, in dem Sinn, dass wir in unseren Nachkommen weiter leben, soweit wir an der Ausbildung von (guten) Lebensformen teilgenommen haben, ob man sich dabei an uns erinnert oder nicht. In der Sorge um mich und meine Seele geht es bei Sokrates und Jesus also zwar um mich und meine Persönlichkeit, aber nicht bloß begrenzt auf mein zukünftiges Dasein wie bei Simmias und wohl Übrigens lese ich in diesem Zusammenhang Hegels Philosophie so: Sie ist Reflexionslogik mit dem wesentlichen Interesse, neben einer sinnkritischen Begrenzung des möglichen wissenschaftlichen Wissens und des empirischen Wahrheitsbegriffs je post hoc, a posteriori, erstens die Freiheit des Handelns (das ist das Vermächtnis eines Descartes, Hume und Kant) und zweitens den Panentheismus und Pantheismus (das ist das Vermächtnis Spinozas, Leibniz’, Jacobis, auch Goethes, Schellings und Hölderlins) als wahre Entwicklung der Reformation immanent begreifbar zu machen und zu rechtfertigen.
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Angst und Sorge
auch bei Heidegger, auch nicht auf Ehre und Ruhm über den Tod hinaus, nach welchem Leute wie Alexander der Große unter dem Eindruck der Geschichte von Achill gestrebt haben. Es sollte mir aber nicht, wie Alexander, um Ruhm und Ehre gehen, sondern um mich und meine Selbstperfektionierung als Person, und das auf eine Weise, dass ganz egal ist, was andere von mir glauben, denken oder wissen (werden). Robert Spaemanns »Gottesbeweis aus dem Futurum exactum« muss angesichts dieser Überlegung unbedingt modifiziert werden. Spaemann hat zwar recht, seinem Auditorium in München zu sagen: »Für immer und alle Zeiten werde ich heute Abend hier vor Ihnen gesprochen haben.« Mit einem Gottesbeweis hat das aber nichts zu tun. Die Strukturähnlichkeit ist jedoch diese: Das Fortbestehen des Sachverhalts ist unabhängig davon, ob sich noch irgendein Mensch daran erinnert. Es ist dann ein reines non sequitur, eine willkürliche Versicherung Spaemanns, damit würde das Bewusstsein Gottes postuliert. Spaemann folgt im Grunde George Berkeley, für den Gott der große Wahrnehmer von allem ist, was es gibt. Einen solchen Wahrnehmer gibt es aber nur in unseren eigenen Fiktionen, nicht anders als Zeus oder Apoll, Achill oder Sherlock Holmes. Die Rede von Gott und einer unsterblichen Seele ist also rein figurativ. Sie hat nur in der Form einer je konkret auszudeutenden Fiktion einen gewissen reflexionslogischen Sinn. Wir müssen dabei insbesondere zwischen der Fortdauer der Subjektivität (des Vollzugs) meines Lebens und dem, was ich am Ende in die Welt gebracht habe, unterscheiden. Und wir müssen aus der epistemischen in die moralische Ebene wechseln: Wir sollen so handeln, als ob ein allwissender und ewiger Gott uns beurteilte. In allem, was ich tue, beeinflusse ich Teile der Welt, andere Menschen, irgendwelche Dinge und Verhältnisse und in einer entsprechenden Vermittlung am Ende auch mich selbst. Insofern ich auf ewig in entsprechenden Relationen zu allem anderen in der Welt stehe, wie das auch schon Leibniz so sieht, bin ich als Persönlichkeitstypus und dessen Folgen auch unabhängig von der aktualen Erinnerung anderer Menschen in gewissem Sinn ›unsterblich‹ – obwohl die Rede von einem Leben nach dem Tod im nichtmetaphorischen Sinn eines Lebensvollzugs in einer jenseitigen Welt mit irgendwelchen Identitätsbeziehungen zu mir hier und jetzt ins Reich fabelhafter Fiktionen oder, kritischer gesagt, eines reinen Aberglaubens gehört. Die Zumutung an eine erwachsene Person freilich besteht darin, nicht selbst immer spüren, wissen oder kontrollieren 105 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
Pirmin Stekeler-Weithofer
zu wollen, ob sie im Leben oder nach dem Leben hinreichend geschätzt und anerkannt wird. Um eben diesen Gedanken auszudrücken, sprechen wir über die psyche als manifestierten Persönlichkeitstyp, den es dann auch nach meinem Leben jenseits vom Raum und der Zeit gibt, und zwar ganz unabhängig davon, ob das jemandem bewusst ist. Wir sollten uns dann, das ist die gemeinsame Lehre des Sokrates und Jesus, Platon und Paulus, gegenwärtig zu uns und zur Welt so verhalten, als wäre die Fabel von der Unsterblichkeit der Seele wahr. Auf die Frage, warum wir das tun sollten, müsste nun allerdings eine relativ lange Geschichte folgen. Diese aber gibt es schon, als Kulturgeschichte der Religion und Philosophie. Man muss sie m. E. nur ›richtig‹ erzählen. Der Glaube als Vertrauen in Gott (faith) erweist sich dabei als identisch mit der Liebe zu Welt und Menschheit, die Hoffnung auf Gott (trust) brauche ich im Grunde nur in der Form einer allgemeinen Haltung, nicht als Erwartung von Lohn und Lob oder einer Strafgerechtigkeit eines transzendenten Strafgerichts. Weil ich kein Kind mehr bin, weiß ich, dass meine eigenen Selbstbeurteilungen voreingenommen sind, so wie alle Fremdurteile über mich, dass das aber dann nichts ausmacht, wenn man nach dem besten Wissen und Gewissen urteilt und handelt. Besser geht es nicht, und das bleibt immer noch schlecht genug. Das Vertrauen, dass ich in guten Händen bin, ist dennoch auch analog zum Vertrauen des Kindes. Es ist dieses Vertrauen, das im Pragmatismus wie bei Ch. S. Peirce, W. James, G. H. Mead, K. O. Apel, Jürgen Habermas diskutiert wird. Einige Autoren, wie Hans Joas, Richard Swinburne, Robert Spaemann oder Vittorio Hösle sind dabei auf der Grundlage eines solchen Pragmatismus wieder kindlich fromm geworden. Das erwachsene Vertrauen muss dagegen mit der Tatsache leben lernen, dass die eigenen Lebensorientierungen sprachliche Konstruktionen, Fiktionen, Utopien sind, die es nirgends gibt und die jede Vorhandenheitssemantik transzendieren, wie als erster Heidegger erkannt hat.
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Paola L. Coriando
Da-sein als Befindlichkeit: von Sein und Zeit zum seinsgeschichtlichen Denken
I.
Vorbemerkungen. Sein und Zeit, das Nächste, das Ursprüngliche
Mit der Veröffentlichung von Sein und Zeit bricht etwas in die Philosophie ein, dessen Verständnis – nach neunzig Jahren Rezeption und Auseinandersetzung – keineswegs als abgeschlossen betrachtet werden kann, und zwar aus nicht zufälligen Gründen. Das Wort Dasein kristallisiert in sich einen Versuch, der bereits auf fundamentalontologischer Ebene eine »geschichtliche« – und damit in ihrem Wesen unabgeschlossene – Bewegung in sich trägt. Es ist der Versuch, das Denken zurückzubegleiten zu einer (vergessenen) Quelle, zu einem (einst wirksamen und längst verlorenen) Ursprung, oder in der Sprache der Phänomenologie: zu jenen »Sachen selbst«, die in der abendländischen Philosophie einem eigentümlichen Schicksal der Verdeckung und Verstellung anheimgefallen sind und nun anders und befreit wieder begegnen sollen. Das Projekt von Sein und Zeit ist getragen vom Leitgedanken einer »Revolution«, deren Ziel darin besteht, das etablierte, sich seit der Neuzeit in den Bahnen der Subjektivität bewegende Denken umzustürzen, um zu einer wesentlicheren und ursprünglicheren Konzeption des Menschen und des Seins zu gelangen. Versuche dieser Art sind natürlich nicht neu. Im Gegenteil. Seit jeher war das Ursprüngliche ausdrückliches Ziel der Philosophie. Das Ursprüngliche oder jenes, was jeweils als ein solches galt, trug im Laufe der Geschichte verschiedene Namen. Es zeigte sich jeweils als die wahre Wirklichkeit der idea, als ousía, essentia, substantia, res cogitans, reines Selbstbewusstsein usw. Die Grundworte der abendländischen Philosophie tragen alle den Anspruch der Ursprünglichkeit in sich. Weil aber das »ursprüngliche« Wesen metaphysisch und/ oder als eine Dimension gedacht wurde, die nur durch die neutrale Betrachtung und durch die Abstraktion erreicht werden kann, ent107 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
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fernte sich die Philosophie zunehmend vom Nächsten und Alltäglichen. Das Nächste, das konkrete Leben und seine Phänomene, galten der abendländischen Philosophie – zwar in unterschiedlichen Graden und Ausprägungen – nicht nur als etwas Beiläufiges und als ein zu überwindendes Akzidenz, sondern meistens und darüber hinaus auch als etwas Suspektes, wenn nicht gar als eine konkrete und direkte Bedrohung: so die Leiblichkeit, so die Gefühle und Stimmungen wie alles, was sich angeblich fernab vom Licht des Verstandes bewegte und damit – scheinbar – am Rand des Animalischen. Das Nächste wurde nicht zum Frag-würdigen – oder wurde in die Schattenseite des Lebens abgedrängt als das vom gesuchten reinen Wesen des Seins, des Menschen und des Göttlichen fernzuhaltende Unheimliche. Auf dem Weg der theoría und ihrer Suche nach Klarheit, Besitz, Beruhigung musste das Nächste entweder als irrelevant oder als bedrohlich erscheinen, zumal der Gedanke, das Nächste und der Ursprung seien weit voneinander entfernt und wir müssten uns anstrengen, um vom Nächsten zum Ursprünglichen zu gelangen, sich als eine nahezu selbstverständliche Basis der philosophischen Reflexion anbot. Was aber ist das Nächste? Am nächsten sind uns – zum Beispiel – die Hände. Der portugiesische Dichter Fernando Pessoa schrieb einmal: »Die Hände sind nicht wahr, sind nicht real. Sie sind Geheimnisse, die unsere Existenz bewohnen. Manchmal, wenn ich meine Hände betrachte, fürchte ich mich vor Gott«. 1 Mit diesen Worten zeigt Pessoa dichterisch in einen Boden – in einen Grund –, der das Wesen des Menschen anwesend sein lässt, ohne es zu benennen. Pessoa hält sich auf in der Verwunderung für das, was wir sind. Er sagt den Ursprung (zeigt ihn an), indem er das Nächste benennt. Sein und Zeit versucht philosophisch etwas zu sagen, was in dem zitierten Satz von Pessoa – und dies muss hier natürlich eine Behauptung bleiben – einfach anwesend ist. Sein und Zeit ist ein philosophisches Werk, der zitierte Satz Pessoas hingegen Teil eines dichterischen Werkes. Beide haben einen gewissen Bezug zu den wesentlichen, ursprünglichen Dingen, zu jenen Dingen, die wir denken oder vor die wir wenigstens gelegentlich gebracht werden sollten – warum »sollten«? Weil wir das zu denken haben, was wir sind? Weil der Mensch 1 Fernando Pessoa, O Marinheiro, übers. d. Vf. Vgl. Fernando Pessoa, Der Seemann / O Marinheiro. Ein statisches Drama. Aus dem Portugiesischen von Oliver Precht und Nora Zapf mit einem Nachwort von Marcus Coelen. Turia + Kant, Wien / Berlin 2016.
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Da-sein als Befindlichkeit: von Sein und Zeit zum seinsgeschichtlichen Denken
das Seiende ist, das jenes zu denken hat, was es ist, und mit ihm alles, was überhaupt ist? Vielleicht, aber vermutlich – und einfacher – auch deshalb, weil das Leben ohne den Bezug zum Wesentlichen und Ursprünglichen im Bedeutungslosen versinkt: ein Zustand, den Heidegger im seinsgeschichtlichen Denken als die epochale Signatur unserer Gegenwart herausstellt. Wir brauchen das Wesentliche, auch dann und gerade dann, wenn wir nicht mehr davon wissen. Wenn wir den zitierten Satz von Pessoa hören, dann ahnen wir vielleicht, dass dort etwas Ursprüngliches gesagt wird. In Sein und Zeit dagegen wird direkt gesagt, es gehe in den dort entwickelten hermeneutisch-phänomenologischen Analysen um eine ursprüngliche Dimension. Anders als die Dichtung expliziert die Philosophie ihre Gedanken und versucht, mit wohlüberlegten Argumenten von der Richtigkeit ihrer Aussagen zu überzeugen. Ich verwende hier absichtlich die Begriffe »Richtigkeit« und »Aussage« und ich verwende sie – natürlich – provokativ, denn Heideggers Denken ist gerade darum bemüht, die Wahrheit philosophischer Begrifflichkeit jenseits der »abkünftigen« Phänomene der Richtigkeit und der Aussage zu orten. Es ist dennoch bezeichnend, dass ein gedichteter Text uns – vielleicht – in eine Stimmung und damit in die Nähe des Ursprünglichen bringt, des Ursprünglichen und das heißt des Nächsten so, wie wir es noch nie gesehen und gespürt hatten, während bei einem philosophischen Werk wir alle mehr oder weniger dazu tendieren, philosophische Überlegungen als Hypothesen und Konstruktionen zu nehmen, die wir gegeneinander balancieren und von denen wir mehr oder weniger überzeugt sind. Das geschieht natürlich auch, wenn wir Sein und Zeit lesen, obwohl wir wissen, dass es hier um Phänomene geht und nicht um Theorien. Zumal die nur scheinbar banale Frage sich schwer vermeiden lässt: sind die Phänomene, die ich sehe, dieselben, die andere sehen? Die phänomenologische Evidenz – existiert das wirklich? Und wenn ja, warum sehen einige von uns bestimmte Phänomene, andere nicht, oder interpretieren sie anders als wir es tun? Lässt es sich entscheiden, wer über den besseren phänomenologischen Blick verfügt? Und wenn ja, an welchem Maßstab? Ist das phänomenologische Sehen eine Frage des Scharfsinns? Oder der langen Übung? Oder der jeweiligen Stimmung, in der uns die Phänomene begegnen? Können wir philosophische Gedanken wirklich anders erfahren und vermitteln als im Medium der Überzeugung und der Argumentation? Wie kann das Ursprüngliche uns begleiten, wenn wir über Gedachtes reden? 109 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
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Diese langen Vorüberlegungen möchten nur das gewisse Unbehagen anzeigen, das im Raum steht und stehen sollte, wenn wir über ein philosophisches Werk wie Sein und Zeit sprechen. Denn es besteht die Gefahr, dass wir dem, was Heidegger »eigentlich« sagen wollte, zuwiderlaufen, indem wir unversehens oder vielleicht sogar ausdrücklich in das alte Verständnis von Denken als argumentativem Spiel zurückfallen. Es gibt, wie es mir scheint, keinen sicheren Ausweg aus dieser Situation: deshalb ist es gut, wenn das Unbehagen uns begleitet. Denn es erinnert uns daran, dass durch das Gesagte hindurch es immer auch um etwas anderes geht und gehen muss, um jenes »zu Sagende«, das sich niemals festlegen und festhalten lässt.
II.
Da-sein als Befindlichkeit in Sein und Zeit
Mit der hermeneutisch-phänomenologischen Entscheidung, den Menschen nicht primär als animal rationale, sondern als Da-sein zu verstehen, ist auch die Entscheidung verbunden, der Philosophie eine andere Valenz zu geben als in ihrem herkömmlichen Selbstverständnis, und umgekehrt: das Da-sein wird sichtbar, sobald die Philosophie die Dimension der theoría verlässt. Die Philosophie wird zu einer Spur, die sich den Weg zeigen lässt vom Nächsten, von den durchlebten Phänomenen der Existenz, und versucht, diese Phänomene vor-theoretisch zu sagen. Die Verabschiedung der theoria zugunsten des vortheoretischen Mitgehens mit den Phänomenen und die Erschließung des Da-seins als ursprünglicher Verfassung des Menschen bedingen einander. Die Ansetzung des Da-seins als Befindlichkeit ist nur möglich im Rahmen dieser Wandlung des Denkens. Der Paragraph 29 von Sein und Zeit trägt den Titel: Da-sein als Befindlichkeit. 2 Befindlichkeit ist somit als ein Existenzial verstanden, als etwas, das wesensmäßig zum Sein des Menschen gehört, so, dass das Da-sein nicht Befindlichkeiten »hat«, sondern selbst in seinem Wesen Befindlichkeit ist. Das Da-sein ist immer schon ein gestimmtes Da-sein, nicht beiläufig und zusätzlich, sondern so, dass in den Befindlichkeiten und Stimmungen der primäre und fundierende Zugang des Da-seins zur Welt und zu sich selbst geschieht. Auch wenn Heidegger in Sein und Zeit – wie später im seins-
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Martin Heidegger, Sein und Zeit. Einzelausgabe Tübingen 1986, 134 ff.
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Da-sein als Befindlichkeit: von Sein und Zeit zum seinsgeschichtlichen Denken
geschichtlichen Denken – »ausgezeichnete« Stimmungen thematisiert, die in besonderer, eminenter Weise welt- und selbsterschließenden Charakter haben – die Angst in Sein und Zeit; Erschrecken, Verhaltenheit und Scheu im seinsgeschichtlichen Grundgefüge der Beiträge zur Philosophie –, gilt die Wesensbestimmung der Befindlichkeit für alle Stimmungen und Gefühle: für die punktuellen Affekte wie für die unscheinbaren, leisen Stimmungen, die unseren Alltag prägen. Stimmungen sind nicht Begleiterscheinungen des Daseins, die »neben« dem Licht des Verstandes das Da-sein mitausmachen, sie sind ursprüngliche und sehende Zugänge zum Selbst und zur Welt. Die Befindlichkeit erschließt uns die Welt in ihrer bedeutungsmäßigen Gliederung, bevor wir diese »erkennen«. In den Befindlichkeiten ist das Da-sein vor die Wahrheit gebracht: vor die Erschlossenheit von Selbst und Welt in der Faktizität der jeweiligen Existenz in ihrer Situiertheit, in dem unverfügbaren »wie es uns ist«, das uns immer schon eingeholt hat, bevor wir »bewusst« danach fragen können. Befindlichkeiten disponieren uns zu uns selbst und zu unserer Welt. Sie überfallen uns, sind aber immer schon aufgefangen und entworfen, so dass die Haltung, die wir vor ihnen gewinnen können und faktisch immer gewinnen, bereits eine gestimmte Haltung ist. In Sein und Zeit nennt Heidegger drei Momente, wie die Befindlichkeiten das Da-sein vor sich selbst und vor die Welt bringen. Die Befindlichkeiten erschließen dem Da-sein 1. die eigene Geworfenheit, 2. das ganze In-der-Welt-sein sowie 3. seine Angewiesenheit auf die Welt und auf das innerweltliche Seiende. 1. Die Befindlichkeiten bringen das Da-sein vor die eigene Geworfenheit. In jeder Befindlichkeit bekundet sich die Faktizität der Existenz: das Urfaktum, dass wir sind, und das Wie dieses jeweiligen Sichfindens und Sichbefindens in der Welt. Zwar erschließen die Befindlichkeiten die Geworfenheit nicht immer ausdrücklich, zwar bekundet sich die Geworfenheit in verschiedenen Graden der Ausdrücklichkeit, der Zugangstiefe oder auch der Verdeckung. Doch auch in der Abkehr und in der Flucht – in der Uneigentlichkeit des Da-seins – bringen die Befindlichkeiten vor das »nackte Dass« unseres In-die-Welt-Gesetztseins. Die Faktizität des Da-seins bleibt einem diskursiven, erkenntnismäßigen Zugang verschlossen. Das Sichfinden und Sichbefinden des Da-seins in der Welt und vor dem puren Dass seiner Existenz ist ein Phänomen, für welches der Verstand blind bleiben muss. In den Befindlichkeiten ist das Dasein »vor allem 111 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
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Erkennen und Wollen und über deren Erschließungstragweite hinaus erschlossen«. 3 2. Die Befindlichkeiten erschließen dem Da-sein das ganze Inder-Welt-sein. Befindlichkeiten steigen aus dem In-der-Welt-sein auf und durchziehen es. Sie kommen weder ›von außen‹ noch ›von innen‹, weil vielmehr die Weltlichkeit der Welt, das Mit- und Selbstsein und das In-sein als wesentliche Strukturmomente des In-der-Weltseins wesenhaft und ursprünglich, und nicht erst nachträglich, gestimmt sind. Das »es weltet« ist in sich seinem Wesen nach immer ein »es stimmt«. 4 3. Die Befindlichkeiten erschließen die Angewiesenheit an die Welt und an das innerweltliche Seiende – sie sind das tragende Fundament für unseren Umgang mit dem Seienden unseres Alltags im umsichtigen Besorgen wie auch mit den »Gegenständen« des wissenschaftlichen Erkennens und nicht zuletzt mit den »Sachen des Denkens«. Die Befindlichkeiten durchziehen das Sein-beim-Seienden in allen Weisen, wie wir mit Seiendem umgehen, sei es im alltäglichen Besorgen, sei es in den »herausgehobenen« Tätigkeiten unserer Existenz. Alles Seiende – als bedeutsam – begegnet primär in der Befindlichkeit. »Wir müssen in der Tat« – so Heidegger in Sein und Zeit – »ontologisch grundsätzlich die primäre Entdeckung der Welt den ›bloßen Stimmungen‹ überlassen. Ein reines Anschauen, und dränge es in die innersten Adern eines Vorhandenen, vermöchte nie so etwas zu entdecken wie Bedrohliches.« 5 Wenn wichtige Schritte auf dem Weg zur Heraushebung des ursprünglichen Phänomens der Befindlichkeit in der vor-hermeneutischen Phänomenologie vorbereitet wurden – besonders bei Husserl und Scheler mit der Betonung der Intentionalität der Gefühle –, so konnte erst die hermeneutische Phänomenologie diese Einsichten radikalisieren und sie in ihren für die Tradition erschütternden Konsequenzen bedenken. Max Schelers Theorie der Intentionalität des Fühlens z. B. gipfelt im Gedanken des ursprünglichen Wertfühlens, das uns die Welt der Werte in ihrer unmittelbaren Wirklichkeit erschließt. Zwar offenbart sich für Scheler »das Ursprüngliche« vor dem erkenntnismäßigen Zugang und über dessen Grenzen hinaus im intentionalen Fühlen. Doch die ausgezeichnete Intentionalität 3 4 5
Sein und Zeit, a. a. O., 137. Vgl. Sein und Zeit, a. a. O., 136 f. Sein und Zeit, a. a. O., 138.
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Da-sein als Befindlichkeit: von Sein und Zeit zum seinsgeschichtlichen Denken
und Eigengesetzlichkeit der höheren Gefühle, die die Werte ursprünglicher als der Verstand erschließen, richtet sich letztlich auf eine ihr voraufgehende Objektivität, ist somit selbst ein objektivierender Akt höherer Natur. Das »Wesen«, das »Ursprüngliche« wird von Scheler weiterhin als Substanzialität gedacht und zwar als eine Substanzialität, die das Seiende im Gefüge einer wertbehafteten ewigen Ordnung zusammenhält. Scheler bleibt damit am Leitfaden der Wahrheit als adaequatio orientiert. 6 Prämissen und Folgen des Befindlichkeitsdenkens in Sein und Zeit sind radikaler, weil sie in der Überwindung der Subjektivität und der damit eng verbundenen Überwindung der Wahrheit als Richtigkeit der Aussage gründen. Wenn Stimmungen und Gefühle als »sehende« und »erkenntnisgewährende« Zugänge zur Welt gedacht werden, und nicht wie in der Tradition als »blinde« subjektive Zustände, die nur das »Innenleben« des Menschen betreffen, so heißt hier »sehen« oder »erkennen« nicht mehr, wie noch bei Scheler: einen vorhandenen letzten Grund erreichen und präsentieren. Das Erschließen von Selbst und Welt in den Befindlichkeiten hat nicht den Charakter eines präsentierenden Vorstellens, das dem Da-sein eine objektive – und womöglich in der Aussage zu beschreibende – Welt offenbart. Befindlichkeiten erschließen dem Da-sein Selbst und Welt vor-theoretisch, vor-objektiv und vor-erkenntnismäßig. Das in den Befindlichkeiten Erschlossene begegnet in diesem Zugang als ein ursprünglicheres Phänomen, weil es sich diesseits von Kategorien wie Substanzialität, Wert, Ordnung oder gar Ewigkeit hält. Das Wort »ursprünglich« ist hier wieder der zentrale Begriff. Denn wenn die Tradition den Gefühlen und Affekten jegliche »objektive Erkenntnis« abspricht und wenn Scheler hingegen für das Wertfühlen eben dieses – für ihn – »ursprüngliche« Vorstellen der ewigen Wertordnung beansprucht, so verschließen sich sowohl die traditionelle wie auch die Schelersche Auffassung wesensmäßig gegenüber der Möglichkeit, dass die »Gefühle« uns nicht die Substanzialität und nicht die Ewigkeit und nicht Werte oder sonstige Vorstellungen entgegenbringen, sondern die reine, unverdeckte und abgründige Endlichkeit des Menschen. Das Ursprüngliche liegt für die Philosophie der Subjektivität in der – sei es erkenntnismäßigen, sei es gefühlsgeleiteten – Möglichkeit des Menschen, eine ihm voraufgehende ObVgl. v. d. Vf. Affektenlehre und Phänomenologie der Stimmungen. Wege einer Ontologie und Ethik des Emotionalen. Klostermann, Frankfurt a. M. 2002, 82–90.
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jektivität zu präsentieren, sie zu denken, zu begreifen, in Besitz zu nehmen. In der Tradition entscheidet das Primat des theoretischen Blicks darüber, dass Stimmungen und Gefühle als sekundäre und für die Philosophie letztlich irrelevante Phänomene gedacht werden müssen. Schelers Deutung der Gefühle denkt diese zwar in ihrer ursprünglich sehenden Kraft, versucht aber dennoch die (Glaubens-) Tatsache zu begründen, dass der Mensch letztlich aufgehoben ist in einer ihm voraufgehenden Ordnung. Der Abgrund, dem der Mensch ausgeliefert ist, bleibt ungedacht. Es sei hier noch kurz darauf hingewiesen, dass die Ansetzung des Da-seins als Befindlichkeit in eminenter Weise zum gewandelten Verständnis der menschlichen Leiblichkeit beiträgt. Bekanntlich weisen Stimmungen und Gefühle für die Tradition eine eigentümliche Sonderstellung zwischen Geist und Körper auf: Descartes’ Verlegenheit gegenüber den »Leidenschaften der Seele« und ihrer – innerhalb seines Ansatzes – verstörenden Positionierung an der Schnittstelle zwischen Physischem und Psychischem zeigt nicht nur die Grenzen des cartesischen Dualismus, sondern vor allem den Willen, das »Animalische« aus dem exklusiven Bereich des Rationalen fernzuhalten. Mit der Ansetzung des Da-seins als ein »leibendes« Da-sein werden auch alle Spekulationen über die Zugehörigkeit der Gefühle zum Leiblichen und/oder zum Geistigen hinfällig. Hier liegt unter anderem die große Bedeutung, die Heideggers Denken der Befindlichkeit für die daseinsanalytisch orientierte Psychotherapie entwickeln konnte. Die Frage drängt sich nun auf, ob die Ansetzung des Da-seins als Befindlichkeit als eine »Berichtigung« der alten Subjektivitätsphilosophie zu verstehen sei. Diese Frage drängt sich insofern auf, als die Ursprünglichkeit des Stimmungsphänomens im Sinne Heideggers ein echtes Phänomen ist, und zwar ein solches, das sich jetzt an ihm selbst zeigt und in der Tradition – aus Gründen, die erst in der seinsgeschichtlichen Besinnung eigens bedacht werden – verdeckt blieb. Das Verdecktbleiben des befindlichen Da-seins und das Sichvordrängen des Subjektes war damit in Heideggers Verständnis keine beliebige Selbstinterpretation, sondern eine partielle und letztlich tendenziöse Selbstauslegung des Menschen, tendenziös deshalb, weil sie von einer bestimmten, unterschwellig wirkenden Absicht geleitet war, der Tendenz, die Endlichkeit des Menschen zu negieren. Ist nun aber die hermeneutische Phänomenologie nicht selbst eine Stellung nehmende Auslegung dessen, was wir sind? Ist auch 114 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
Da-sein als Befindlichkeit: von Sein und Zeit zum seinsgeschichtlichen Denken
das Da-sein nicht ein Entwurf, der uns verwandelt? Ein Gedanke, mit dessen Hilfe wir uns vielleicht selbst anders an-eignen und anders werden? Ist auch die Heraushebung des Da-seins nicht – und vielleicht stärker noch als das Subjektivitätsdenken – geleitet von einer Absicht? Von einer Absicht und von einer Tendenz – und dies, obwohl sie in echter Weise Phänomene beschreibt? Aber was heißt es, das, was sich zeigt, zu »beschreiben«? Wem zeigt sich welches Phänomen? Damit wären wir aber bei der wichtigen Frage angelangt, ob und inwiefern das philosophische Selbstverständnis des Menschen mehr ist als bloße Analyse, ob das jeweilige Selbstverständnis einen entscheidenden Einfluss auf unser konkretes Leben oder gar auf die Weltgeschichte hat oder haben kann. Was ändert sich, wenn ich mich selbst als befindliches Da-sein anstatt als Subjekt »verstehe«? Wenn ich meinen »Befindlichkeiten«, Stimmungen, Gefühlen, eine grundsätzliche andere Valenz zuschreibe als in der Tradition, und zwar nicht empirisch-psychologisch, sondern philosophisch? Ändert sich überhaupt etwas? Diese Fragen spielen bekanntlich eine große Rolle im seinsgeschichtlichen Denken, sind aber bereits für die Fundamentalontologie von Bedeutung. Sie sind letztlich wie alle Fragen, die die Rückstrahlung des Ontologischen ins Ontisch-Existenzielle betreffen, im ursprünglichen Sinne ethischer Natur. Verstehe ich mich als befindliches Da-sein, so bin ich offen für das, was Befindlichkeiten mir »zu sagen« haben – alle Befindlichkeiten, wenn auch einige Befindlichkeiten eine weitaus herausragendere Rolle spielen mögen als kleine, alltägliche Stimmungen und Verstimmungen. Verstehe ich mich als befindliches Da-sein, so verstehe ich mich als ein Wesen, dessen Wesentlichkeit nicht erst in besonderen, theoretischen Tätigkeiten angesiedelt ist, sondern in der Alltäglichkeit und seinen »Höhen und Tiefen«. Verstehe ich mich als befindliches Da-sein, so lasse ich die beunruhigende Tatsache zu, dass der Mensch – ich selbst und wir alle – in der Alltäglichkeit wie auch im philosophischen Denken primär ein der Faktizität ausgeliefertes Wesen ist, ein gestimmtes – und nicht ein im absoluten Sinne selbst-bestimmtes Wesen. Verstehe ich mich als befindliches Da-sein, dann ist die Endlichkeit nicht mehr etwas, das möglichst überwunden und verdeckt werden soll, sondern das Herz der Erfahrung von Selbst, Welt und Sein. Verstehen wir uns als Da-sein? An »wen« ist überhaupt diese Frage gerichtet?
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Paola L. Coriando
III. Die Grundstimmungen im seinsgeschichtlichen Denken Die mit dem Phänomen der Befindlichkeit zutiefst verbundene Thematik der Ursprünglichkeit (und damit der Eigentlichkeit), die bereits in der Fundamentalontologie den ethischen Sinn der hermeneutischen Phänomenologie bekundet, gewinnt im seinsgeschichtlichen Denken einen über die Grenzen der Jemeinigkeit des Da-seins hinausgehenden Sinn. Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit des Da-seins werden zu geschichtlichen Phänomenen; und so wie in Sein und Zeit die ausgezeichnete Befindlichkeit der Angst die Entscheidung für das Selbst vorbereiten kann, so sind es auch im seinsgeschichtlichen Denken die Grund-Stimmungen, die unsere geschichtliche Situiertheit offenbaren und die Entscheidung für das Da-sein anbahnen können. Wenn die Fundamentalontologie das Phänomen beschreibt, dass das Das-sein sich »zunächst und zumeist« aus dem innerweltlichen Seienden versteht, so ist es im seinsgeschichtlichen Denken unsere geschichtliche Welt, das Un-eigentliche, das einer Wendung bedarf, einer Kehre zurück in die Authentizität. In der Welt des Ent-eignisses »verfehlen« sich der Zuwurf des Seins und der Entwurf des Da-seins in ihrem eigensten Wesen, so, dass das zu besorgende – und hier: zu betreibende, zu »bestellende« – Seiende in seiner Vormacht alles bestimmt. Es ist die Epoche der Machenschaft, des Erlebnisses, des Riesenhaften, die Epoche der Technik und des Ge-stells, welches – als eine geschichtliche Wesung oder Wahrheit des Seins – den Menschen fordert und herausfordert und alles, was ist, an den Maßstab der Machbarkeit bindet. So wie in Sein und Zeit die ausgezeichnete Grundbefindlichkeit der Angst zu einem hermeneutisch-phänomenologischen Leitfaden wird – und damit die Grenzen des Existenziellen verlässt –, so sind auch im seinsgeschichtlichen Denken Grundstimmungen, die den scheinbar funktionierenden Betrieb der Machenschaft unterbrechen, ihn sichtbar machen und als eine Epoche des Seins offenlegen. Diese »ausgezeichneten« Grundstimmungen stellen die Absolutheit unserer Epoche in Frage: sie zeigen in das Andere, in den Ab-grund, in eine Not – in die Uneigentlichkeit als das sich nicht mehr verdeckende und verstellende Ereignis der Seinsverlassenheit. Diejenigen, die von diesen Grundstimmungen gezeichnet sind, verlassen zwar nicht unsere Epoche, sind nicht frei von allen machenschaftlichen Zügen, sie vermögen aber gleichsam die Engführung, in die der Entzug uns gebracht hat, anders zu erfahren: sie ahnen ein anderes Ufer, einen an116 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
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deren Anfang, der »vorbereitet« werden kann – vorbereitet in der Stille eines »erharrenden Wartens«, das sich im Gefüge von den drei Grundstimmungen Erschrecken, Verhaltenheit und Scheu bewegt. Die Grundstimmungen erschließen die Wahrheit – die Wesung – des Seins in ihrer Geschichtlichkeit. 7 Die Wahrheit des Seins: das, was sich uns zeigt, was wir leben, was wir heute sind: nicht »wir« als Folge einer gewissen Chronologie von historischen Begebenheiten, sondern als Folge einer geschichtlichen Wesenswandlung, die für Heidegger unzertrennlich mit den Epochen des (abendländischen) Denkens verbunden ist. Wir sind heute ein fest-gestelltes Wesen – fest-gestellt als animal rationale und dennoch unentschieden, unentschieden dann und erst dann, wenn sich ein Anderes, Ursprünglicheres zeigt: das, was hätte sein können und nicht geworden ist; das, was wir sind und dennoch noch nicht wagen: das Da-sein als Gegenentwurf zur Machenschaft und ihrem ständigen Wachsenmüssen, der sinnlosen Betriebsamkeit, dem Nichtruhenkönnen eines Grundzugs im Sein, im Menschen, der alles als machbar, planbar, veränderbar und verbesserbar entdeckt und nichts kennt als machbare und vermessbare Größen. Wo sich Brüche zeigen – in der Dichtung, im stillen Ahnen oder Verzweifeln einzelner »Herausgerückten« –, so bleiben diese meistens entweder befangen in der bloßen Gegenposition – der unfruchtbaren, wenngleich wesentlichen Revolte – oder sie verlieren sich in den vereinsamten Schicksalen der Wenigen, die ahnen und doch nicht zueinanderfinden. Heideggers Utopie – ich verwende hier das Wort positiv – ist der Gedanke eines »Geschichte stiftenden« Einverständnisses, das »Einzelne« und »Wenige« in der Besinnung auf das Wesen unserer Epoche zusammenführen könnte. Für Heidegger steht fest, dass diese Gemeinsamkeit vom philosophischen Denken vorbereitet werden muss – dieses aber als ein Denken, das sich in und aus GrundStimmungen ereignet. Wir müssen erschrecken und zurückschrecken, damit sich ein Anderes zeigt: etwas, das erst wieder die Scheu ermöglicht und mit ihr die Verhaltenheit als die Mitte, die uns beide aushalten und pflegen lässt. Erschrecken, Scheu, Verhaltenheit, diese Stimmungen gel7 Vgl. Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). Gesamtausgabe Band 65. Hrsg. v. F.-W. von Herrmann. Klostermann, Frankfurt a. M. 1989. Vgl. darüber Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Wege ins Ereignis. Zu Heideggers »Beiträgen zur Philosophie«. Klostermann, Frankfurt a. M. 1994.
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Paola L. Coriando
ten nicht einem Fremden, sondern uns selbst: dem, was wir geworden sind, dem, was wir dennoch – vielleicht – noch sein könnten. Erschrecken – das ist nicht immer nur ein Schlag, ein Stoß, der uns zurückschlägt und in die Verzweiflung treibt. Im Zurückfahren vor der Seinsverlassenheit – vor dem Jetzt und dem Gewesenen, das dieses Jetzt hervorgebracht hat –, in diesem Zurück kann sich die Scheu bilden, die Scheu, die uns das Andere ahnen lässt, das, was vorbereitet werden kann und sich dennoch aller Planbarkeit entzieht. Planbarkeit und Machbarkeit gehören in die Seinsverlassenheit. Die Scheu drängt nicht zu einer Realisierung, sie zögert, bleibt eine Ahnung, die sich dem Betrieb entzieht. Die Scheu ist das befreiende Gegengewicht zum Erschrecken, das Gegengewicht, das uns nicht in den Abgrund der Sinnlosigkeit fallen lässt, aber uns auch nicht einfach fortreißt in die bodenlose Begeisterung. Erschrecken und Scheu haben ihre Mitte in der Verhaltenheit: sie ist die Haltung des befindlichen, in das Offene der Seinsgeschichte gebrachten Da-seins, das Gleichgewicht, das den Übergang vom ersten in den anderen Anfang stimmt und bestimmt. Es ist nicht leicht, sich wirklich von dem, was von Heidegger im seinsgeschichtlichen Denken letztlich intendiert ist, ansprechen zu lassen. Wir können es begrifflich verstehen, und dennoch: da ist etwas, was sich alledem entzieht, aller Anstrengung, aller begrifflichen Genauigkeit – die doch unverzichtbar ist –, etwas, das sich entzieht und uns irgendwie – aber wie? – ins Offene stellt, ins Ungewisse, in einen Kampf, der nicht der Kampf der Ideen und der Theorien und auch nicht der Streit der philosophischen Argumentationen sein kann. Die Radikalität eines Denkens – seine Ursprünglichkeit und seine Fähigkeit, die Wurzel nicht nur zu sehen, sondern zu pflegen und zu neuem Wachstum anzuregen –, die Radikalität dieses Denkens, die in Sein und Zeit ihre Fundamente hat und im seinsgeschichtlichen Denken ausgebaut wurde, ist etwas, die uns nicht durch Begriffe und Argumentationen ansprechen kann, sondern letztlich uns »anstimmt« oder nicht. Damit wären wir aber zurückgekommen zu einer Frage, die zu Beginn bereits im Raume stand. Wie dem entsprechen, was sich in einem Werk wie Sein und Zeit und in weiteren philosophischen Grundwerken niedergelegt hat? Was ist Philosophie? Und was ist das weit Größere – das Denken? Was sollen wir tun, um dem Anspruch eines ursprünglichen Denkens zu entsprechen? Müssen wir überhaupt »etwas tun«? 118 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
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Wahrscheinlich können, sollen, müssen wir nichts tun, denn Erfahrungen, Stimmungen lassen sich nicht erzwingen, und wenn sie sich »vorbereiten« lassen, dann nicht durch die Anstrengung des Verstandes. Viel eher durch die Ruhe, die einen überfällt, wenn wir alle Anstrengung unterlassen und warten – worauf? Vielleicht darauf, dass wir uns wieder über das Nächste wundern. Dass wir zugeben, dass wir nicht alles verstehen; dass wir nicht alles verstehen können, dass wir nicht alles verstehen sollen und erst recht nicht verstehen müssen – und dass es gut ist, wenn wir das Geheimnis lieben lernen, das unsere Existenz bewohnt. Es ist das Geheimnis, das in der großen Dichtung lebt und das die Philosophie allzu oft zergliedert, zerstört und letztlich vergessen hat – das Geheimnis, von dem auch Pessoa weiß, wenn er schreibt: »Die Hände sind nicht wahr, sind nicht real. Sie sind Geheimnisse, die unsere Existenz bewohnen. Manchmal, wenn ich meine Hände betrachte, fürchte ich mich vor Gott«. Mir scheint es, dass Heideggers Denken im ganzen von der liebenden Sorge um das Nächste getragen ist, von der Sorge und von der Achtung vor dem Geheimnis, das wir selber sind. Vielleicht sollten wir den Augenblick vorbereiten und dann pflegen lernen, in dem wir uns (wieder) über unsere Hände wundern. Dieser Augenblick wäre vielleicht so etwas wie – der andere Anfang.
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Niels Weidtmann
»Heideggers ontologische Wende der Phänomenologie. Anmerkungen zum Verhältnis von Sinn und Sein« Phänomenologie meint das Aufmerken auf das Zur-Erscheinungkommen von Wirklichkeit oder, wie Heidegger es in Sein und Zeit sagt: »Das, was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen lassen.« 1 Es würde der Phänomenologie freilich nicht bedürfen, wären die Phänomene überall und immer klar ersichtlich. Das aber sind sie nicht. Stattdessen ist es sogar so, dass die Phänomene »zunächst und zumeist nicht gegeben sind«, wie Heidegger sagt. 2 Die in anderen Wissenschaften häufig gehörte Verwendung des Begriffs der Phänomenologie als einer Beschreibung des äußerlich Vorfindbaren geht deshalb an der Sache vorbei. Die Phänomenologie arbeitet daran, die Wirklichkeit so sehen zu lassen, wie sie zunächst und zumeist nicht erscheint – nämlich so, wie sie sich von sich selbst her zeigt. Sie zeigt sich also offenbar zunächst und zumeist nicht von sich selbst her, sondern von anderswoher. Etwa, wie Pascal sagt, von der Gewohnheit her. Dann sehen und verstehen wir die Dinge so, wie sie üblicherweise gesehen und verstanden werden, ohne sie eigens zu befragen und uns selbst von ihnen ansprechen zu lassen; wir leben unser Leben auf die Weise, wie Generationen vor uns ihr Leben gelebt haben, ohne es selber zu verantworten. Oder, um ein weiteres Beispiel Pascals aufzugreifen, das Heideggers Wort, Wissenschaft denke nicht 3, ebenso vorgreift, wie sich seine Analyse der Gewohnheit in der Verfallenheit an das Man widerspiegelt: Wir wenden unseren Kopf ein wenig und erlernen die wenigen und leicht zu begreifenden Prinzipien wissenschaftlichen Denkens, um die Wirklichkeit fortan diesen Prinzipien folgend erklären zu können. 4 So oder so 1 2 3
Martin Heidegger, Sein und Zeit. GA Bd. 2, Frankfurt/M.: Klostermann 1977, 46. Ebd., 48. Martin Heidegger, Was heißt denken? GA Bd. 8, Frankfurt/M.: Klostermann 2002,
9. Blaise Pascal, Gedanken. Hg. von Jean-Robert Armogathe, übersetzt von Ulrich Kunzmann, Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1997, Nr. 512 (nach Lafuma).
4
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lassen wir die Wirklichkeit nicht selber sprechen und sehen sie nicht so, wie sie sich von sich selbst her zeigt. Es kann kaum verwundern, dass uns die Wirklichkeit dann, wenn wir nicht auf sie hören oder sie erst gar nicht selbst zu Wort kommen lassen, auch nicht wirklich berührt. Sie geht uns nichts an und wird uns gleich-gültig. Darin liegen zugleich die Nivellierung der Wirklichkeit und ein Verlust an Sinn. Gegen beides wendet sich die Phänomenologie. Und tatsächlich hängt beides aufs Engste miteinander zusammen. Der Schritt vom Gegenstand zum Phänomen liegt darin, das Seiende nicht geradehin als das zu nehmen, als das wir es in der durch den Blick der Gewohnheit oder der Wissenschaftlichkeit immer schon vorstrukturierten Welt vorfinden, sondern daraufhin zu befragen und sehen zu lernen, was in ihm von ihm selbst her, und das heißt dann eben von seiner eigenen Wirklichkeitsstruktur bzw. vielleicht besser: von seinem eigenen Wirklichkeitssinn her zur Erscheinung kommt. Das Phänomen ist nur dort richtig gesehen, wo es in seiner eigenen Wirklichkeit gesehen wird. Aufgabe der Phänomenologie ist es deshalb, das Phänomen auf seine eigene Sinndimension hin zu befragen, die es erst zu dem macht, was es ist. Verschiedene Phänomene können nie gleichgültig sein und folglich in einem nivellierten Wirklichkeitsverständnis auch nicht zur Erscheinung kommen, weil sie ihre je-eigene Sinndimension mit aufscheinen lassen. Insofern die Phänomene ihren eigenen Sinn von eben dieser Sinndimension beziehen, lassen sie also gleichsam immer ihre eigene Ermöglichung bzw. das, was in der Tradition das Wesen genannt worden ist, mit aufscheinen. Umgekehrt ist ein Phänomen nur dort richtig gesehen, wo diese wesenhafte Sinndimension mit gesehen wird. Phänomenologisches Sehen meint das Sehen des Wechselbezugs zwischen Erscheinung und Sinndimension. Das Besondere phänomenologischen Sehens liegt nun aber nicht darin, die Doppelstruktur von Seiendem und Sinndimension bloß festzustellen, sondern gerade darin, das Seiende als das Zur-Erscheinungkommen der Sinndimension zu sehen, den Sinn also am Seienden erfahrbar zu machen. Ebenso wie das Seiende nur ist, was es ist, insofern es in seinem eigenen Sinn zur Erscheinung kommt, liegt auch der Sinn nicht irgendwo verborgen vor, sondern geht am Seienden selbst erst auf. Im phänomenologischen Sehen findet also tatsächlich eine Bewegung statt, die sich vorläufig als die Bewegung vom Seienden zur Sinndimension und wieder zurück zum Seienden beschreiben lässt. Eine Bewegung freilich, die konstitutiv ist sowohl für das Sei121 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
Niels Weidtmann
ende wie für die Sinndimension. Erst in ihr kommt das Seiende in seinem je eigenen Wirklichkeitssinn zur Erscheinung. Der Sehende muss an dieser Bewegung teilhaben, will er das Seiende in seinem Sinn zu sehen lernen. Die Bewegung des Zur-Erscheinung-kommens von Seiendem in seinem eigenen Sinn ist nichts, das von außen zu erfassen wäre. Die Phänomenologie verhilft dem Sehenden (oder allgemeiner: dem Erfahrenden) also gleichsam in das Phänomen selbst hinein, sie ermöglicht ihm die Teilhabe am Phänomen, d. h. am ZurErscheinung-kommen des Seienden in seinem Sinn. Von außen lässt sich allenfalls die Erscheinung sehen, nicht aber das Zur-Erscheinung-kommen und damit eben auch nicht der Sinn. Merleau-Ponty beschreibt das, worauf es mir hier wesentlich ankommt, sehr schön am Beispiel des für die Phänomenologie so naheliegenden Phänomens des künstlerischen Sehens. 5 Er spricht davon, dass sich das Sehen »aus der Mitte der Dinge heraus« ereignet, anstatt den Dingen bloß gegenüberzutreten. 6 Das »Rätsel der Sichtbarkeit« 7, von dem er spricht, lässt sich nur fassen, wenn der Mensch am Geschehen der Sichtbarwerdung teilhat, wenn Sehen und Sichtbarkeit in ihrer wechselseitigen Konstitution erfahren werden. Die Künstler sind diejenigen, die so zu sehen vermögen, dass darin die Zusammengehörigkeit von Sehen und Sichtbarkeit mitgesehen wird; die das Sehen als das Geschehen der Sichtbarwerdung erfahren, an dem sie teilhaben. Kunst, das sagt schon Klee, »gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar«. 8 Sie macht dies, indem sie das Sichtbare auf seine Sinndimension hin befragt und es aus ihr heraus von neuem sichtbar werden lässt. Das Sichtbare ist nicht einfach dies oder das, sondern es ist die Selbstaussage einer ganzen Sinndimension, die sich niemals auf eine einzelne Aussage reduzieren lässt. Tatsächlich spricht Merleau-Ponty ausdrücklich von einer solchen Dimension, die im einzelnen Ding sichtbar wird: 5 Maurice Merleau-Ponty, »Das Auge und der Geist«, in: ders., Das Auge und der Geist. Philosophische Essays. Hg. von Christian Bermes, Hamburg: Meiner 2003, 275–317, hier 280. 6 Vgl. dazu Niels Weidtmann, »Das Sichtbarwerden des Unsichtbaren. Anmerkungen zum Verhältnis von Bild und Wirklichkeit«, in: Sergej Seitz, Anke Graneß und Georg Stenger (Hg.), Facetten gegenwärtiger Bildtheorie. Interkulturelle und interdisziplinäre Perspektiven. Cham: Springer 2018, 71–89. 7 Merleau-Ponty, a. a. O., 284. 8 Paul Klee, »Schöpferische Konfession«, in: Kasimir Edschmid (Hg.), Tribüne der Kunst und Zeit. Eine Schriftensammlung. Berlin 1920: Erich Reiß Verlag, 28–40, hier 28.
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»Jedes sichtbare Ding wirkt trotz seiner Individualität auch als Dimension, weil es sich als Ergebnis einer Aufspaltung (déhiscence) des Seins darbietet. Das bedeutet letzten Endes, daß es dem Sichtbaren eigentümlich ist, im strengsten Sinne des Wortes durch ein Unsichtbares gedoppelt zu sein, das es als ein gewissermaßen Abwesendes gegenwärtig macht.« 9
Heidegger macht auf etwas ganz Ähnliches aufmerksam, wenn er in den Klee-Notizen davon spricht, dass Klee der Maler des Zwischen ist. Das Zwischen meint jenen Ort, der zwischen dem Sichtbaren und dem, was im Sichtbaren sichtbar wird, zwischen Sein und Seiendem liegt. Dieses Zwischen ist der Ort des Wirklichkeitsgeschehens, in ihm gehören das Sichtbare und sein Sinn, Sein und Seiendes unmittelbar zusammen, und deswegen lässt sich das Sichtbare nur von ihm her in seiner eigentlichen Wirklichkeit sehen. Merleau-Ponty sieht den Maler hier im Vorteil. Er spricht davon, dass der Maler das Privileg besitzt, die Dinge »in der Schwebe« halten zu dürfen und sie nicht festlegen zu müssen, wohingegen der begrifflich arbeitende Philosoph die Dinge immer schon kategorisiert und feststellt. 10 Der Phänomenologe, der die Dinge als Phänomene und damit so, wie sie sich von ihnen selbst her zeigen, zu sehen versucht, ist darum so etwas wie der Künstler unter den Philosophen. Er ist der Denker des Zwischen – und das heißt eben auch und vornehmlich: Er ist ein Denker im Zwischen. Dem möchte ich im Folgenden in drei Schritten nachgehen. Heideggers Frage nach dem Sinn von Sein folgend, wird dabei das Verhältnis von Sinn und Sein im Zentrum stehen. An diesem Verhältnis wird sich das Zwischen als der Ursprung aller Wirklichkeit erweisen.
I.
Sinn als Horizont
Die Frage nach dem Sinn von Sein lässt sich nur phänomenologisch stellen. Das stellt Heidegger bekanntlich eingangs von Sein und Zeit fest. Den Grund dafür habe ich eben bereits angedeutet: Die Phänomenologie lässt uns die Dinge so sehen, wie sie sich von ihnen selbst her zeigen; und das heißt eben, sie werden durch die Phänomenologie nicht in eine vorstrukturierte Wirklichkeit eingeordnet, sondern von ihrer eigenen Wirklichkeitsstruktur bzw. von ihrer eigenen Sinn9 10
Merleau-Ponty, a. a. O., 313. Ebd., 277 f.
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dimension her gesehen. Das Aufzeigen von Sinn kann nur als ein Sehen-lassen des Phänomens »von ihm selbst her« gelingen. Das »von ihm selbst her« und der Sinn gehören untrennbar zusammen. Zugleich aber verlangt die Frage nach dem Sinn von Sein eine Hinwendung zur Ontologie, weshalb Heidegger davon spricht, dass Phänomenologie in der Nachfolge Husserls nur noch als eine ontologische möglich ist. Darin liegt nun freilich keine Einschränkung der Phänomenologie auf einen bestimmten Gegenstandsbereich. Es greift aber auch zu kurz, in der Hinwendung der Phänomenologie zur Ontologie eine Öffnung phänomenologischen Arbeitens für die fundamentale Dimension der Wirklichkeit zu sehen. Vielmehr wandelt sich mit der Frage nach dem Sinn von Sein die Bedeutung der Phänomenologie im Ganzen. Die Phänomenologie selbst wird ontologisch. Diesen Wandel müssen wir nachzuvollziehen versuchen, wollen wir Heideggers ontologische Wende der Phänomenologie verstehen. Husserl zeigt in den Ideen II, was es heißt, dass ein Gegenstand nur auf dem Boden einer ganzen Sinndimension als der Gegenstand erfasst werden kann, der er ist: »Im Wahrnehmen ist nun dieser Tisch gegeben, aber in jeweils bestimmter Weise gegeben. Das Wahrnehmen hat seinen Wahrnehmungssinn, sein Vermeintes, wie es gerade Vermeintes ist, und in diesem Sinn liegen Anweisungen, liegen unerfüllte Vordeutungen und Zurückdeutungen, denen wir nur zu folgen haben. […] Nur wenn man das Dingnoema, sozusagen die Dingmeinung, indem man sie nach allen Richtungen zu entfaltender Gegebenheit bringt, selbst befragt und von ihr sich im Vollzug ihrer Anweisungen Antwort geben läßt, gewinnt man die Wesenskomponenten der Dinglichkeit wirklich und die notwendigen Wesensverflechtungen, ohne die Dingvermeintes überhaupt nicht gedacht werden kann.« 11
Worauf Husserl hier aufmerksam macht, ist, dass wir im einzelnen Wahrnehmungsakt immer sehr viel mehr wahrnehmen, als reell in ihm gegeben ist. Wir nehmen einen Tisch wahr, obwohl uns dieser in der Wahrnehmung immer nur eingeschränkt oder, wie Husserl sagt, abgeschattet gegeben ist. Wir können den Tisch nur deshalb wahrnehmen, weil wir die Abschattung immer schon als Abschattung eines Sinnganzen verstehen. Da wir den Tisch als solchen nie in der Weise wahrnehmen können, dass er als ganzer reeller Bestandteil der Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution. Hua IV, hg. von Marly Biemel, Den Haag: Martinus Nijhoff 1952, 35.
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Heideggers ontologische Wende der Phänomenologie
Wahrnehmung wäre, setzt die Wahrnehmung also grundsätzlich voraus, dass wir sie vor dem Hintergrund eines Sinnzusammenhangs verstehen, der selbst niemals als solcher gegeben ist. Von diesem Sinnzusammenhang her wird das in der Wahrnehmung Gegebene als Sinnganzes vermeint. Der Wahrnehmungsgegenstand ist deswegen notwendig vermeinter oder intentionaler Gegenstand. Darin liegt keine Einschränkung, sondern im Gegenteil die Bedingung der Möglichkeit aller Wahrnehmung. Der Sinn des im Wahrnehmungsakt Gegebenen kann nur dann erfasst werden, wenn die im Wahrnehmungsakt liegenden Verweisungen auf andere weitere, mit ihm zusammengehörige Wahrnehmungsakte mitgesehen werden. Diesen Verweisungen kann man nachgehen, sie unterliegen also der Ausweisung und Bestätigung und sind dem im einzelnen Wahrnehmungsakt Gegebenen keinesfalls bloß angedichtet. Tatsächlich konstituiert sich der Verweisungszusammenhang seinerseits im Laufe der strömenden Wahrnehmung, wie wir in Anlehnung an Husserls Wort vom »strömenden Bewusstseinsleben« sagen können. 12 Die phänomenologische Analyse macht deutlich, dass der Verweisungszusammenhang nicht durch eine Synthesis verschiedener diskreter Wahrnehmungsakte aufgebaut wird, sondern dem einzelnen Wahrnehmungsakt deshalb immer schon immanent ist, weil dieser an der strömenden Wahrnehmung teilhat, sie also im Ganzen (re-)präsentiert. Weil die Wahrnehmungsakte nicht diskret sind, brauchen sie auch nicht durch Synthesis miteinander verbunden zu werden; stattdessen wird die strömende Wahrnehmung im Ganzen im einzelnen Wahrnehmungsakt auf das in diesem Akt Gegebene hin zusammengezogen. Husserl beschreibt damit erstmals den Konstitutionszusammenhang von reellem Wahrnehmungsinhalt und intentionalem Wahrnehmungsgegenstand. Was im Phänomen zur Erscheinung kommt, lässt sich nur vom Verweisungszusammenhang her verstehen, der konstitutiv für die Erscheinung ist und in ihr mit erscheint. Noch einmal am Beispiel der Tischwahrnehmung: Der Tisch wird nicht deshalb als Tisch wahrgenommen, weil er adäquat repräsentiert wird, sondern weil er vor dem Hintergrund eines in der Wahrnehmungserfahrung konstituierten Sinnzusammenhangs gesehen wird. Für diesen Sinnzusammenhang verwendet Husserl den Begriff des Horizonts. Die Aufgabe der Phänomenologie liegt demnach in der Aufklärung von 12 Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen. Hua I, hg. von Stephan Strasser, Den Haag: Martinus Nijhoff 2. Auflage 1963, 70.
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Horizonten. Sie ist tatsächlich deskriptiv, aber sie beschreibt nicht das an der Oberfläche der Wirklichkeit vorfindbare Seiende, sondern den Verweisungszusammenhang, in dem dieses Seiende steht und der es erst zu dem macht, was es ist. Phänomenologie ist Horizontanalyse und als solche Konstitutionsforschung. Die Welt, in der wir leben, ist Husserl zufolge also im Wortsinne Wahrnehmungs- bzw., allgemeiner, Erfahrungswelt und keine bloße Ansammlung von Seiendem. Die Erfahrung ist dabei immer aus früheren Erfahrungen motiviert und bildet notwendigerweise einen kontinuierlichen Erfahrungszusammenhang. Zwar steht sie, wie bereits angemerkt, grundsätzlich der Bestätigung offen, dabei kann sie aber nur bestätigt oder widerlegt, nicht aber beliebig angepasst werden. Eine korrigierte Erfahrung kann stattdessen ihrerseits nur dadurch zustande kommen, dass das im Erfahrungsakt Gegebene im Horizont anderer, zuvor gemachter Erfahrungen gesehen wird. Husserl kann die Lebenswelt in der Krisis-Schrift deshalb als geschichtlich sich entwickelnde Erfahrungswelt beschreiben. Erfahrungen werden intersubjektiv geteilt, sedimentieren und bilden so den Boden für weitere Erfahrungen. Die Welt wird auf diese Weise immer erfahrungsgesättigter, und das heißt eben auch, sie wird immer evidenter, ihr Sinn immer offensichtlicher und die Menschheit darum zugleich immer einiger. Ein unglaublicher Fortschrittsoptimismus, der da hinter der Analyse einer tief greifenden Krise des europäischen Geistes hervorkommt. Damit Husserls Phänomenologie kein naiver Idealismus bleibt, darf die Erfahrungswelt keine vom Ego – und sei es transzendentaler Natur – vollzogene Interpretation äußerer Sinnesdaten sein. Es gilt zu zeigen, dass sich die Erfahrung nicht dem Ego, sondern dass sich umgekehrt das Ego der Erfahrung verdankt. Tatsächlich spricht Husserl in diesem Sinne vom »Ichpol« der Erfahrung. Der Ichpol bildet sich als die Erfahrung von der Zusammengehörigkeit jener Erfahrungen aus, die auf der Gegenstandsseite der Erfahrung den Horizont konstituieren. Anders als Kant beschreibt Husserl nicht vermeintlich im Ego vorfindbare transzendentale Bedingungen der Möglichkeit von empirischer Erfahrung, sondern er weist die Korrelation zwischen diesen Möglichkeitsbedingungen und der Erfahrung im Erfahrungsprozess konkret aus. Deshalb kann er von »transzendentaler Erfahrung« sprechen. 13 Die transzendentale Erfahrung ist nicht wei13
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ter hinterfragbar, in ihr findet Husserl jene »apodiktische Evidenz« 14, die die Phänomenologie anzielen muss, will sie erste Philosophie sein. Alles in der Erfahrung Konstituierte, und damit die Welt im Ganzen, kann dagegen nicht in der gleichen Weise apodiktisch evident sein, sondern muss sich in unendlich fortlaufender Erfahrung bewähren. Das ist der Ansatzpunkt Heideggers. Er macht gegen Husserls Analyse geltend, dass sich die Wahrnehmung eines Gegenstandes wie beispielsweise die des Tisches durch die Analyse des zugehörigen Horizonts zwar entscheidend erhellen lässt, dass sie aber voraussetzt, dass dieser Horizont seinerseits geklärt, und das heißt vor dem Hintergrund eines weiter ausgreifenden Horizonts verstanden ist. So vermag der Horizont ›Tisch‹ der Einzelwahrnehmung nur dann Sinn zu verleihen, wenn dem zuvor klar ist, worin der Sinn eines Tisches liegt. Das setzt etwa einen weiteren Horizont von Wohnen oder möglicherweise auch den Horizont einer religiös überhöhten Bedeutung von Nahrung voraus, die in der Darbietung eines Opfers auf einem Altar gipfelt, dem sich der Sinn von Tisch vermutlich ursprünglich verdankt. Diese Horizonte setzen ihrerseits weitere Horizonte voraus, die geklärt sein müssen, bevor das in der Einzelwahrnehmung Wahrgenommene als ein Tisch verstanden werden kann. Horizonte verweisen auf andere Horizonte nicht nur im Sinne weitergehender Erfahrung, sondern sie setzen einander auch voraus, um überhaupt sinnstiftend wirken zu können. So liegt Heideggers Einwand gegen Husserl, dass Welt als der äußerste, alle anderen umgreifende Horizont immer schon verstanden sein muss, damit sich überhaupt verschiedene Verständnishorizonte auffächern können, in der Konsequenz der husserlschen Phänomenologie. Zugleich wird deutlich, dass Welt gar nicht als Horizont verstanden werden darf, würde das doch einen weiteren, den Welthorizont klärenden Horizont voraussetzen. Wenn Welt kein Horizont ist, dann kann sie auch nicht transzendental konstituiert sein. Und doch kann das Ego Erfahrungen nur machen, weil es sich immer schon in einem Weltverständnis aufhält. Damit stößt Heidegger auf die strukturelle Zusammengehörigkeit von Ego und Welt. Er folgt Husserl darin, dass Welt nicht die Summe des geradehin Vorfindbaren meint, sondern grundsätzlich verstandene, aufgefasste, vermeinte Welt ist. Sie ist eben nur nicht transzendental konstituiert, weil jede solche Konstitution das Verstehen von Welt schon voraussetzt. Heidegger zeigt, dass dem Ego Welt immer 14
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schon zugehört, und fasst diese Zugehörigkeit in der Struktur des »In-der-Welt-seins«. Sehr deutlich wird die Sollbruchstelle zwischen Husserl und Heidegger an Heideggers Kommentierung des husserlschen Encyclopaedia Britannica-Artikels zum Stichwort Phänomenologie. Heidegger notiert an entsprechender Stelle: »Gehört nicht eine Welt überhaupt zum Wesen des reinen Ego?« 15 Wenn Phänomenologie meint, die Sinndimension im Seienden zur Erscheinung kommen zu lassen, dann bedeutet das nun also: Das einzelne Seiende ist nur dann richtig gesehen, wenn in ihm Welt mitgesehen wird. Das ist mit der ontologischen Wende der Phänomenologie gemeint; die Phänomenologie darf sich nicht wie noch in der Reduktion Husserls auf die transzendentale Erfahrung vom Sein der Welt abwenden, sondern sie muss sich umgekehrt gerade zur Welt hinwenden. Das Mitsehen von Welt im einzelnen Seienden bedeutet, das Seiende eigens in seinem Sein sehen zu lernen und solches Sein nicht einfach vorauszusetzen.
II.
Die Frage nach dem Sein
Husserl hatte die Frage nach dem Sein bewusst ausgeklammert, um sich ganz darauf besinnen zu können, was uns in der Erfahrung gegeben ist. Dadurch musste einerseits der Sinn der Erfahrungen als vom Sein unabhängig erscheinen, andererseits konnte die transzendentale Erfahrung als letzter Konstitutionsgrund verstanden werden, der sich nicht weiter erforschen ließ. Für Husserl konnte das evidente Verstehen von Welt darum auch bloß eine Idee darstellen; wenn alle nur möglichen Erfahrungen gemacht sind, und das sind unendlich viele, dann erst steht die Welt im Ganzen klar und deutlich vor uns – und erst an diesem Punkt lässt sich in der husserlschen Konzeption sinnvollerweise nach dem Sein fragen. Für Heidegger dagegen ist das Weltverstehen jene Offenheit, die Erfahrungen überhaupt erst möglich macht. Mit der Rückführung der transzendentalen Erfahrung, die das Weltverständnis konstituiert, auf die Struktur des »In-derWelt-seins« stellt sich deshalb auch die Frage nach dem Sein von neuem. Während das husserlsche Ego das Sein in der Erfahrung bloß vermeint, vollzieht das als »In-der-Welt-sein« verstandene Dasein in Edmund Husserl, Phänomenologische Psychologie. Ergänzungen, Hua IX, hg. von Walter Biemel, Den Haag: Martinus Nijhoff 1968, 273 f.
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Heideggers ontologische Wende der Phänomenologie
der Erfahrung sein eigenes Sein. Damit wird die Frage nach dem Sein zur drängendsten. Sie muss zunächst geklärt sein, soll überhaupt irgendetwas zum Sinn von Erfahrungen gesagt werden können. Die ursprüngliche Sinnfrage ist deshalb die Frage nach dem Sein. Darin liegt die ontologische Wende der Phänomenologie. Und darin liegt eine Verschärfung der Sinnfrage. Wenn der Sinn einer Sache erfasst werden soll, dann reicht es eben nicht aus, den Horizont aufzuklären, vor dem sie zur Erscheinung kommt, sondern dann muss das ihr eigene Sein aufgewiesen werden. Dieses ist es denn auch, was »zunächst und zumeist« verborgen bleibt und deswegen phänomenologisch gehoben werden muss. Damit bricht die Phänomenologie erst eigentlich in die Wirklichkeit ein. Etwas ist phänomenologisch erst dann richtig erfasst, wenn es nicht nur als sinnvoll erscheint, sondern sinnvoll ist. Das ist evident. Mit diesen ganz vorläufigen Anmerkungen ist schon darauf hingewiesen, dass die Frage nach dem Sein nicht die Frage nach dem ›Sein überhaupt‹ meinen kann, wie sie aus der Metaphysik überliefert ist und wie es uns in Begriffen wie Ousia, Idea, Energeia, Substantia und Monade begegnet. Stattdessen muss immer nach dem Sein des jeweiligen Seienden gefragt werden; Heidegger spricht deshalb von den verschiedenen Seinsweisen und erinnert an Aristoteles’ Wort, dass vom Sein auf vielfältige Weise gesprochen werden kann (tò ón pollachos légethai). Während zur Seinsweise des Daseins offenbar Weltverstehen gehört, gilt dies nicht für die Seinsweise von nichtdaseinsmäßig Seiendem, und zwar bekanntlich weder für die Seinsweise der Tiere und Pflanzen noch für die toter Gegenstände wie etwa dem Stein. Nicht-daseinsmäßig Seiendes kann nur in der Welt vorkommen; dagegen kommt das Dasein gerade nicht in der Welt vor, sondern ist in die Struktur des »In-der-Welt-seins« auseinandergelegt. Dadurch, dass Heidegger nicht nach dem ›Sein überhaupt‹, sondern stattdessen nach den Seinsweisen fragt, stellt sich die Frage nach dem Sein als die Frage nach dem Sinn des Seins der jeweiligen Seinsweise. Die Vielfalt der Seinsweisen lässt sich als eine Auffächerung des Sinns von Sein verstehen. Da sich nach nicht-daseinsmäßig Seiendem nur in der Welt fragen lässt, setzt die Frage nach dem Sinn des Seins des Seienden bereits die Analyse des »In-der-Welt-seins« voraus. Der Vorrang des Daseins in der Seinsfrage ergibt sich aus seiner Seinsweise, nicht daraus, dass wir das Dasein je selber sind. Die Seinsweise des Daseins gründet alle weiteren Seinsweisen, darum spricht 129 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
Niels Weidtmann
Heidegger von Fundamentalontologie. Heideggers Daseinsanalyse ist bekannt, deswegen soll an dieser Stelle nur soweit auf sie eingegangen werden, wie es nötig ist, um die Frage nach dem Verhältnis von Sinn und Sein, also die Frage, wie sich Sein in den jeweiligen Seinsweisen zeigt, vorzubereiten. Das Dasein wird in Sein und Zeit als dasjenige Seiende beschrieben, dem es in seinem Sein um dieses Sein selber geht. Das Dasein hat sich selbst zu sein; das aber nicht in einer noch fernen Zukunft, sondern immer schon; es ist es selbst gerade darin, dass es zu sich selber unterwegs ist. Das ist mit der Existenz des Daseins gemeint: Das Dasein vollzieht sein eigenes Sein und ist immer schon über sich hinaus zu sich selbst unterwegs; und das ganz konkret dadurch, dass es sein Weltverstehen auslegt. Rombach kann deshalb sagen, dass sich das Dasein als Welt entgegenkommt. 16 Freilich erkennt es sich darin zumeist eben nicht und verliert sich deshalb in der und an die Welt. 17 Ich will hier nicht weiter auf die Unterscheidung von Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit, den Ruf des Gewissens, das Vorlaufen zum Tode und das Phänomen der Entschlossenheit eingehen. Im Zuge unseres Gedankengangs ist die entscheidende Frage, die sich mit Blick auf die Daseinsanalyse stellt, die Frage nach dem Sinn des Seins des Daseins. Worin liegt dieser Sinn? Er liegt nicht im Selbstsein, wie es in der existenzialistischen Deutung angenommen wird. Das Selbstsein ist entscheidend für den Vollzug des Seins des Daseins und damit auch von entscheidender Bedeutung für den Sinn des Daseins. Es stellt aber nicht selber diesen Sinn dar. Stattdessen macht Heidegger deutlich, dass die Seinsweise des Daseins eine fundamentale, weil die anderen Seinsweisen gründende ist. Das Dasein erst entdeckt das Sein auf eine Weise, die es nicht-daseinsmäßig Seiendem ermöglicht zur Erscheinung zu kommen. Ganz konkret: Das Dasein spannt im auslegenden Vollzug seines Weltverstehens jene Welt auf, in der das nicht-daseinsmäßig Seiende begegnen kann. Es öffnet also einen Raum, ja es ist wesentlich Offenheit, Auseinander, Aufriss. Heidegger zeigt das in seiner Analyse der Zeitlichkeit des Daseins. Das Dasein ist im Entwurf zukünftig und im Geworfensein gewesen, und das in der Gegen-wärtigkeit seines in den Entwurf Geworfenseins. So in die Dimensionen der Zeit auseinandergelegt, ist Heinrich Rombach, Phänomenologie des gegenwärtigen Bewußtseins. Freiburg: Alber 1980, 139. 17 Ebd. 16
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Heideggers ontologische Wende der Phänomenologie
das Dasein wesentlich Offenheit und als Offenheit vermag es die anderen Seinsweisen zu gründen. Der Sinn des Seins des Daseins ist darum die Zeit. Die Zeit ist das Auseinander des Seins, das Da des Seins, seine Lichtung, die allein das Zur-Erscheinung-kommen des Seins ermöglicht. Der Sinn des Seins des Daseins liegt darin, das Zur-Erscheinung-kommen des Seins zu ermöglichen. Das nicht-daseinsmäßig Seiende kommt denn auch nur in der vom Dasein eröffneten Welt zur Erscheinung. Damit ist auch nochmals gesagt, worin der entscheidende Gewinn der ontologischen Phänomenologie Heideggers gegenüber der transzendentalen, auf Horizonte zielenden Phänomenologie Husserls liegt. Bei Husserl bleibt das Sein als bloßes ›Dass‹ vorausgesetzt; nur deswegen kann es in der Reduktion auch eingeklammert werden. Heidegger dagegen zeigt, dass die Phänomenologie das Sein selbst befragen und in seinem Zur-Erscheinung-kommen aufweisen muss. Nur so kann die Phänomenologie ihre Aufgabe, »das, was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen [zu] lassen«, auch tatsächlich erfüllen. Die Daseinsanalyse hat zudem enthüllt, dass das Dasein, das wir je selber sind, selbst der Vollzug des Zur-Erscheinung-kommens des Seins ist. Der Mensch lebt also in jenem Zwischen, ja als jenes Zwischen, das Merleau-Ponty als das Reich der Malerei bezeichnet hat und das wir eingangs auch für die Phänomenologie in Anspruch genommen haben. Der Mensch, so ließe sich zugespitzt formulieren, ist Künstler und betreibt auch nicht nur gelegentlich Phänomenologie, vielmehr ist er in allem, was er tut, eigentlich Phänomenologe, weil er durch sein eigenes Dasein dem Seienden zum Zur-Erscheinung-kommen verhilft. Richtiger noch, der Mensch gewinnt sein eigenes Dasein darin, das Seiende in seinem Sein zur Erscheinung kommen zu lassen. Der Seinsvollzug des Daseins liegt im Zur-Erscheinung-kommen-lassen des Seienden. Im Dasein ereignet sich Sein. Rombach weist allerdings darauf hin, dass sich in Sein und Zeit auch einige Stellen finden, an denen Heidegger doch wieder so etwas wie das bloße »Dass« des Seienden vorauszusetzen und damit in ein transzendentales Phänomenologieverständnis zurückzufallen scheint. 18 Im Paragraphen 43 heißt es unter der Überschrift »Realität und Sorge«: »Daß Realität ontologisch im Sein des Daseins gründet, kann nicht bedeuten, daß Reales nur sein könnte als das, was 18
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es an ihm selbst ist, wenn und solange Dasein existiert.« 19 Mit der Unterscheidung von Realität, die am Dasein hängt, und Realem, das unabhängig vom Dasein gegeben ist, möchte Heidegger, so Rombachs Vermutung, dem möglichen Vorwurf des Subjektivismus zuvorkommen. Und doch scheint er damit nur zu offenbaren, dass er selbst das Dasein als ein dem Realen gegenüberstehendes Subjekt missversteht. Die am Dasein hängende Realität, in der das Reale erscheint, ist dann aber nichts anderes als ein Horizont. In der Marburger Vorlesung vom Sommersemester 1927 lesen wir ganz ähnlich, dass Innerweltlichkeit nicht zum Sein der Natur, sondern lediglich zum Sein des geschichtlich Seienden gehört. Und weiter heißt es: »Welt ist nur, wenn und solange ein Dasein existiert. Natur kann auch sein, wenn kein Dasein existiert.« 20 Wo liegt da noch die Differenz zu Husserl? So verstanden ist die Zeit als der Sinn des Seins des Daseins nichts anderes als ein Horizont, in dem das Seiende zur Erscheinung kommt und einen geschichtlichen Sinn erhält. Das kann nicht Heideggers Intention sein. Die Stärke der Fundamentalontologie liegt doch gerade darin, dass das Dasein das Sein des nicht-daseinsmäßig Seienden zu entdecken vermag, weil es selbst die Struktur des In-der-Welt-seins besitzt. Nur deshalb vermag die ontologische Phänomenologie Heideggers das Seiende so sehen zu lassen, wie es sich von sich selbst her, und das heißt eben in seinem eigenen Sein zeigt. Ohne Dasein keine Welt und damit auch kein Seiendes »als das, was es an ihm selbst ist«. Wir haben gesehen, dass sich das Dasein auf dem Weg zu sich selbst als Welt entgegenkommt; das heißt aber doch nichts anderes, als dass sich das Dasein in der Entdeckung des Seins des Seienden entgegenkommt, ist doch die Welt jenes Bedeutungsganze, von dem her sich der Sinn des Seienden erschließt. Das Dasein vollzieht sein Sein als solche Entdeckung. Bedeutet das nicht, dass das Sein selbst in der Weise »da« ist, wie das Sein des Seienden entdeckt wird? Offenbar ist sich Heidegger selbst nicht völlig schlüssig, wie diese Entdeckung zu verstehen ist. Ist das Seiende vor der Entdeckung seines Seins durch das Dasein dasselbe Seiende? Oder hängt das Seiende an der Entdeckung seines Seins durch das Dasein? Es ist unwahrscheinlich, dass Heidegger die Entdeckung des Seins des Seienden allein für das Dasein als relevant erHeidegger, Sein und Zeit, 280. Martin Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie. GA Bd. 24, Frankfurt/M.: Klostermann 1975, 241. 19 20
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achtet, während das Seiende selbst von solcher Entdeckung unberührt bleibt, würde er damit doch jenem Irrweg folgen, von dem die parmenideische Göttin sagt, dass ihm nur die doppelköpfigen und wankelmütigen Menschen im Haus der Nacht folgen. Das Seiende ist dagegen erst dann das, was es ist, wenn es in seinem Sein entdeckt ist. Tatsächlich vermag dem griechischen Denken zufolge lediglich der Mensch den Zuspruch des Seins zu vernehmen, das sich in der Zusammengehörigkeit des Seienden ausspricht. Damit ist aber keinesfalls gesagt, dass Natur auch sein kann, wenn kein Dasein existiert. Wenn die Natur nicht in ihrem Sein zur Erscheinung kommen kann, dann kommt ihr eben auch kein Sein zu, das heißt, sie ist nicht. Aber: Kann das Sein des Seienden an der Existenz des Menschen hängen oder ist das Dasein vielleicht selbst ganz anders zu verstehen? Vieles spricht m. E. dafür, dass Heidegger in den genannten Passagen, in denen er das Seiende als unabhängig vom Dasein seiend beschreibt, sein eigenes Denken misszuverstehen droht. Und doch liegt darin ein Hinweis darauf, dass Fragen offen bleiben. Allen voran das Verhältnis von Sinn und Sein, scheint Heidegger in den genannten Passagen doch zu sagen, der Sinn des Seins von nicht-daseinsmäßig Seiendem hinge vom Dasein ab, das bloße Sein des Seienden aber nicht. Was ist Sein, solange sein Sinn nicht entdeckt, solange es nicht verstanden ist?
III. Sinn und Sein Vermutlich muss Heidegger in Sein und Zeit an den Punkt kommen, das nicht-daseinsmäßig Seiende so, wie es an sich selbst ist, als unabhängig vom Seinsverstehen des Daseins anzunehmen und gleichsam schon vorauszusetzen. Schließlich ist das Dasein selbst ein Seiendes, das im Verstehen von Sein seine eigene Seinsweise aufklärt. Darin liegt der hermeneutische Zirkel, und in diesem Sinne ist Heideggers ontologische Phänomenologie primär Hermeneutik. Wenn sich das Dasein auf dem Weg zu sich selbst als Welt entgegenkommt und darin das Sein des Seienden entdeckt, so ist das eben nicht gleichbedeutend mit dem Erscheinen des Seins selbst im Seienden bzw. qua Seiendes, sondern offenbart lediglich das Seinsverständnis desjenigen Seienden, das als sein eigenes Seinsverstehen existiert. Es sagt deshalb nur etwas über das Sein des Daseins, nicht aber über das Sein des Seienden aus. Der Ansatz der Fundamentalontologie erweist sich da133 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
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rin, dass er ein einzelnes Seiendes zum Ausgangspunkt für das Erscheinen des Seins alles Seienden nimmt, als fraglich. Heidegger hat das zweifellos selber gesehen und er hat gesehen, dass damit das Seinsdenken im Ganzen auf dem Spiel steht. Er hat nach Sein und Zeit darum nochmals neu angesetzt und das Sein nicht vom Dasein, sondern nun konsequent vom Sein her zu denken versucht. Indem er etwa in dem auf Sein und Zeit reflektierenden Vortrag »Zeit und Sein« aus dem Jahre 1962 vom Seinsgeschick spricht, denkt er das Sein und die Entdeckung des Seins nicht mehr von der Zeitlichkeit des Daseins her, sondern fasst es in seiner eigenen Geschichtlichkeit. 21 Das Sein selbst ist geschichtlich. Damit ist nicht gesagt, das Sein stünde in der Geschichte und würde dementsprechend geschichtlichem Wandel unterliegen. Vielmehr ist das Sein seinem Wesen nach geschichtlich, so wie das Dasein zeitlich ist. Es ist gerade die Geschichtlichkeit, die den ontologischen Charakter des Seins auszuweisen vermag: Da Sein nicht selber ein Seiendes ist, kann es eben auch nicht in einem Horizont, und sei dieser Horizont das Auseinander der Zeit, zur Erscheinung kommen. Stattdessen kann es sich nur selbst entdecken – und zwar so, dass es in der Entdeckung fortwährend selbst-entdeckend bleibt. Das Sein wird also nicht vom Dasein entdeckt, sondern es entdeckt sich selbst, ohne dass solche Entdeckung je abschließend sein könnte. Die Unabschließbarkeit der Selbstentdeckung des Seins begründet die Geschichte. Das Sein kann sich nur so entdecken, dass es sich als Entdeckendes allein im Entdeckten zeigt, als Entdeckendes aber selbst zurückhält. In diesem Sinne spricht Heidegger davon, dass sich das Sein epochal »schickt«. »Seinsgeschichte heißt Geschick von Sein, in welchen Schickungen sowohl das Schicken als auch das Es, das schickt, an sich halten mit der Bekundung ihrer selbst. An sich halten heißt griechisch ἐποχή. Daher die Rede von den Epochen des Seinsgeschickes.« 22
Das Sein kann sich nur so schicken, dass es sich im Geschick selbst zurückhält und das heißt epochal schickt. Die Epochalität der Seinsgeschichte verweist darauf, dass sich das Sein nur jeweilig, d. h. endlich entdecken kann. Darum gehören Entbergung und Verbergung, Lichtung und Entzug, Geschick des Seins und Ansichhalten des schi-
Martin Heidegger, »Zeit und Sein«, in: ders., Zur Sache des Denkens. GA Bd. 14, Frankfurt/M.: Klostermann 2007, 3–30. 22 Ebd., 13. 21
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ckenden Seins zusammen. Sie stellen verschiedene Momente einer einzigen Figur dar, die sich nur aus der Bewegung, das heißt aus der Geschichtlichkeit des Seins heraus verstehen lässt. Das Sein kommt im Seinsgeschick deshalb auch nicht eigentlich zur Erscheinung, sondern es geht als Seinsgeschick auf. Heidegger denkt das Seinsgeschick in »Zeit und Sein« bekanntlich in enger Verschränkung zum »lichtend-verbergenden Reichen« der Zeit, die im Zusammenspiel der Zeitdimensionen jenen Zeit-Raum öffnet, als welcher das geschickliche Sein anwest. Zeit und Sein gehören im »Ereignis« zusammen, und zwar so, dass sich in ihm das Sein als Anwesen ereignet. Im Ereignis stoßen wir also nicht auf eine das Sein begründende Dimension, sondern vernehmen das Sein in seiner Selbstaussage. Es ist das Sein selbst, das sich entdeckt. Damit erst ist das Horizontdenken wirklich überwunden und wird die Phänomenologie wahrhaft ontologisch. Wenn Heidegger in dem erwähnten Aufsatz »Zeit und Sein« sagt, der Satz »Es gibt Sein« sage so viel wie »Sein gibt Sein« 23, dann ist dies nichts anderes als die Grundstruktur aller Ontologie, die nun nicht mehr substanzialistisch wie noch in den überlieferten Begriffen von Ousia, Energeia und Substantia, sondern konsequent phänomenologisch und das heißt hier vom eigenen Hervorgang her verstanden wird. Die Aussage »Sein gibt Sein« freilich erscheint nicht nur Heidegger-fernen Lesern hermetisch. Sie ist es tatsächlich, schließt sie sich doch einem von außen kommenden Verständnis unmöglich auf. Der Satz »Sein gibt Sein« kann nur dann als Grundstruktur der Ontologie verstanden werden, wenn man ihn von innen heraus erfasst, was nichts anderes bedeutet, als dass er nur verstanden werden kann, wenn man selbst mitten im Seinsgeschehen steht. Und genau das ist der Fall. Der Mensch steht in der Lichtung des Seins. Er verhält sich nicht irgendwie zum Sein, und schon gar nicht verleiht er ihm irgendeinen Sinn. Stattdessen ist er vom Sein getroffen; Heidegger spricht davon, dass der Mensch darin, dass er dieses Getroffensein gewahrt und eigens übernimmt, »das Auszeichnende des Menschseins erlangt«. 24 Der Mensch steht dem Ereignis des Seins nicht gegenüber, sondern gehört selbst in die Selbstaussage des Seins hinein: »Sofern es Sein und Zeit nur gibt im Ereignen, gehört zu diesem das Eigentümliche, daß es den Menschen als den, der Sein vernimmt, indem er inne23 24
Ebd., 23. Ebd., 28.
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steht in der eigentlichen Zeit, in sein Eigenes bringt. So geeignet gehört der Mensch in das Ereignis.« 25
Das ist der eigentliche Sinn der Innenwendung aller Phänomenologie. Die Phänomenologie ist keine Philosophie der Subjektivität im Unterschied zur Analyse objektiv vorfindbarer Realität; sie ist Selbstaussage des Seins. Solche Selbstaussage aber ist keine Aussage über das Selbst, sie ist nicht Reflexion, sondern Aufgang des Selbst. Der Satz »Sein gibt Sein« meint dann, dass das Sein im Geben seiner selbst erst wird, was es ist, nämlich Anwesen. An dieser Stelle ließe sich die Nähe des heideggerschen Denkens zu den vorsokratischen Anfängen der Philosophie entschieden zeigen. Im ersten Fragment spricht Heraklit von der Einsicht in das Gemeinsame, das κοινός, das er verkündet und das den meisten Menschen dennoch verborgen bleibt. Sowohl für die Einsicht in das Gemeinsame, also den Inhalt seiner Lehre, als auch für die Lehre im Sinne des Verkündens dieser Einsicht selbst steht im Griechischen das Wort Logos. Wir können hier nicht mehr auf Heideggers Interpretation des Logos eingehen, aber mir scheint es doch bemerkenswert zu sein, wie nah Heideggers Analyse des Seins als einer geschichtlich-epochalen Selbstaussage an Heraklits Selbstaussage des Logos heranrückt. Heidegger selbst stellt seine Überlegungen am Ende des Vortrags ›Zeit und Sein‹ wie in vielen anderen Texten (man denke etwa an den Kunstwerk-Aufsatz) ausdrücklich in einen Zusammenhang mit dem »Älteste[n] des Alten im abendländischen Denken«, dem A-létheia-Denken. Von hier her rechtfertigt sich der oben gemachte Hinweis auf die parmenideische Göttin, die dem Jüngling die Wahrheit verkündet. Schon bei Parmenides wird keine Wahrheit über das Sein ausgesagt, sondern das Wahrheitsgeschehen als Selbstaussage des Seins gefasst (»Ist ist«, so lautet die von der Göttin verkündete Wahrheit 26). Auch ist bereits bei Parmenides gesehen, dass sich solche Selbstaussage vom Menschen nur dann vernehmen lässt, wenn er an ihr teilhat; darum gehört die Auffahrt des Jünglings wesentlich zur Selbstaussage des Seins dazu. Ohne eine solche Bewegung ist die Seinsaussage tautologisch und bleibt leer. Erst in ihr geht sie auf und gewinnt ihren eigenen Sinn. Wird das Sein von seiner Selbstaussage her verstanden, fällt die Differenz zwischen Sinn und Sein, die in Sein und Zeit schon im Titel Ebd. Hermann Diels und Walther Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker. Bd. 1, Griechisch und Deutsch, 6. Auflage, Zürich: Weidmann 1951, Parmenides Fragment 2.
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bestimmend bleibt, weg. Es kann nicht heißen ›Sein und Geschichte‹, das Sein zeigt sich nicht in der Geschichte, es ist selbst geschichtlich bzw. besser, es gründet Geschichte. Ebenso wenig kann es heißen ›Sein und Hervorgang‹ oder ›Aufgang des Seins‹. Sinn und Sein meinen dasselbe, so das Ergebnis der hier vorgestellten Überlegungen. Allerdings ist damit das Verhältnis von Seiendem und Seinssinn, das sich in der Daseinsanalyse als ein Problem herausstellte, noch nicht hinreichend geklärt. Wenn Sinn und Sein nicht voneinander zu trennen sind, dann ist klar, dass von ›Zeit und Sein‹ her gedacht das Seiende nun nicht mehr das sein kann, »was es an ihm selbst ist« 27, auch dann, wenn es nicht in der Lichtung des Seinsgeschicks steht. Der Mensch mag den Sinn des Seienden, den dieses in der Lichtung des Seinsgeschicks stehend erhält, verkennen, aber dann verkennt er streng genommen eben auch das Sein des Seienden und nimmt es nicht in seiner vollen Wirklichkeit. Das Gleiche gilt für den Menschen selbst. Versteht er sich nicht vom Lichtungsgeschehen her, dann verkennt er sein eigenes Sein und bleibt hinter der ihm möglichen eigenen Wirklichkeit zurück. Freilich bringt er sein Sein nur nicht zur vollen Entfaltung, verliert es aber nicht gänzlich. Der Mensch kann ebenso wenig wie das Seiende ganz aus dem Seinsgeschehen herausfallen. Er kann die Wahrheit des Seinsgeschehens nur vernehmen und ihr entsprechen oder aber sie verkennen. Darin liegt ein Verweis auf die Gestell-Geviert-Thematik, dem wir hier aber nicht weiter nachgehen können. Stattdessen möchte ich abschließend versuchen, die bisherigen Überlegungen nochmals an Sein und Zeit zurückzubinden. Dafür müssen wir noch einen kleinen Schritt weitergehen: So wie der Mensch – und streng genommen eben auch das Seiende – nicht sein kann, was er ist, ohne in der Lichtung des Seinsgeschehens zu stehen, so kann sich das Ereignis dieses Lichtungsgeschehens nicht ereignen, ohne dass der Mensch es vernimmt. Der Mensch und das Sein sind wechselseitig aufeinander angewiesen, Heidegger spricht deshalb vom Menschen als dem »Hirt des Seins«. 28 Die Offenheit der Lichtung muss aus(einander)-gehalten werden, die Lichtung muss tatsächlich etwas erhellen, damit Sein anwesen kann; bzw. umgekehrt, Sein west dadurch an, dass der Mensch im Offenen der Lichtung steht und seine Welt aus der Helle der Lichtung heraus Heidegger, Sein und Zeit, 280. Martin Heidegger, »Brief über den ›Humanismus‹«, in: ders.: Wegmarken. GA 9, Frankfurt/M.: Klostermann 1976, 342.
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versteht. Das lässt sich durchaus so verstehen, dass sich das Sein darin ereignet, dass der Mensch dem Seienden dem epochalen Seinsgeschick entsprechend begegnet. Anders als in Sein und Zeit versteht der in der Lichtung des Seinsgeschicks stehende Mensch das Seiende nicht vom eigenen Entwurf, sondern ursprünglich vom Sein her. Und doch erfährt er dieses Sein eben nur am Seienden bzw., richtiger, er erfährt es entsprechend der Art und Weise, wie er dem Seienden begegnet. Das Sein und damit zugleich der Sinn des Seienden liegen nicht in der Verfügbarkeit des Menschen, aber sie liegen auch nicht jenseits der Begegnung von Mensch und Seiendem, sondern stehen in dieser Begegnung unmittelbar auf dem Spiel. Das bringt uns nochmals zu Merleau-Ponty und seinen Ausführungen zum »Rätsel der Sichtbarkeit« zurück. Merleau-Ponty spricht davon, dass sich das Sehen aus der Mitte der Dinge heraus ereignet. Damit ist anderes und mehr gemeint, als dass die Dinge dann gesehen – und das heißt eben in ihrem Sinn erkannt – werden, wenn sie in einem transzendental konstituierten Horizont erscheinen. Das Ereignis des Sehens aus der Mitte der Dinge heraus gründet das Sehen aber auch nicht im Selbstverstehen des Daseins, wie es sich von der heideggerschen Daseinsanalyse her darstellen würde. Stattdessen ereignet sich das Sehen, das ein Sichtbarwerden der Dinge meint, als das Zwischen eben dieser Dinge. Die Dinge werden dadurch sichtbar, so könnte man vielleicht sagen, dass sie in ihrer Zusammengehörigkeit und das heißt vom Zwischen her gesehen werden. Das Zwischen aber ist nicht als Offenheit, in die die Dinge hineinstehen, schon vorausgesetzt, sondern verdankt sich selbst dem Sehen, das die Dinge überhaupt erst aufeinander bezieht und so in ihrer Zusammengehörigkeit entdeckt. Das Sehen hängt am Sichtbarwerden der Dinge ebenso, wie umgekehrt das Sichtbarwerden der Dinge am Sehen hängt. Das »Rätsel der Sichtbarkeit« hängt an der Selbstaussage bzw. dem Ereignis des Seins. Diese Figur aber scheint in Sein und Zeit bereits angelegt zu sein. Wenn Heidegger beschreibt, wie sich das Dasein auf seinem Weg zu sich selbst als Welt entgegenkommt, dann lässt sich darin das wechselseitige Auseinander-hervorgehen von Sehen und Sichtbarwerden mithören. Die Offenheit des Da konstituiert sich im Seinsvollzug des Daseins; der Seinsvollzug des Daseins aber vollzieht sich doch gerade als die Entdeckung des Seienden. Heidegger denkt diese Figur in Sein und Zeit noch als gestufte, so nämlich, dass das Seinsverstehen des Daseins der Auslegung und damit der Begegnung des Seienden vorausliegt. Liest man die Daseinsanalyse aber von der 138 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
Heideggers ontologische Wende der Phänomenologie
im seinsgeschichtlichen Denken erreichten Einsicht in die Selbstaussage des Seins erneut, dann scheint Heidegger das Ereignis des Seins und damit die Einheit von Sinn und Sein schon in Sein und Zeit vor Augen gehabt zu haben.
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Die Geschichtlichkeit des Daseins und die Aufgabe einer historischen Destruktion der Geschichte der Philosophie Die Geschichtlichkeit wird in Sein und Zeit zuerst im zweiten Kapitel der Einleitung behandelt (§ 6), das sich mit der Methode der Untersuchung befasst, wo sie als der existenzial-ontologische Grund der Geschichte der Ontologie angezeigt wird, und dann ausführlich am Ende der existenzialen Daseinsanalytik, im fünften Kapitel des zweiten Abschnitts (§§ 72–77), wo sie aufgrund der Zeitlichkeit als Existenzial des Daseins bzw. als die Verfassung des Daseinsgeschehens ausgelegt wird. Auf den ersten Blick sieht es so aus, dass die Destruktion nur als eine Aufgabe aufgefasst wird, die ausgeführt werden sollte, erst nachdem die existenziale Daseinsanalytik schon beendet ist. Bekanntlich hat Heidegger die Ausführung der in § 6 von Sein und Zeit exponierten Aufgabe einer Destruktion der Geschichte der Ontologie im vorgesehenen aber nicht ausgeführten zweiten Teil von Sein und Zeit geplant (SuZ 40). Dieser zweite Teil von Sein und Zeit hätte den Titel »Grundzüge einer phänomenologischen Destruktion der Geschichte der Ontologie am Leitfaden der Problematik der Temporalität« tragen (SuZ, 39), und sich mit Aristoteles’ Zeitabhandlung, Descartes’ cogito sum und Kants Lehre vom Schematismus beschäftigen sollen. Was im erschienenen ersten Teil vorliegt, sind neben einzelnen verstreuten Bezugnahmen zu Aristoteles und Kant drei Paragraphen (§§ 19– 21), die sich explizit mit Descartes beschäftigen, sowie der abschließende Paragraph des fünften Kapitels, der eine Auseinandersetzung mit der Auffassung der Geschichte und Historie bei Dilthey und Yorck von Wartenburg enthält. Diese Auseinandersetzung wird von Heidegger bloß als die Vorbereitung für eine mögliche produktive Aneignung bezeichnet. In den §§ 81–82 befindet sich schließlich eine Interpretation von Aristoteles’ und Hegels Begriff der Zeit. Die Auseinandersetzung mit Descartes nennt Heidegger eine »illustrierende Abhebung« und eine Verdeutlichung seiner eigenen Analyse der Weltlichkeit gegen die Ontologie der Welt bei Descartes (SuZ, 66). 140 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
Die Geschichtlichkeit des Daseins
Und die Auseinandersetzung mit Hegel schließt Heidegger mit folgenden Worten: »Ob Hegels Interpretation von Zeit und Geist und ihrem Zusammenhang zu Recht besteht und überhaupt auf ontologisch ursprünglichen Fundamenten ruht, kann jetzt noch nicht erörtert werden« (SuZ, 435). Es könnte so scheinen, als ob die Destruktion der Geschichte der Ontologie für die Ausarbeitung der Daseinsanalytik nicht innerlich notwendig sei, sondern erst nachträglich hinzukomme als philosophiegeschichtliche Illustration des systematischen Teils der Philosophie. Es muss aber im Gegensatz dazu gezeigt werden, dass die Destruktion bei Heidegger nicht bloß eine Aufgabe ist, die der Fundamentalontologie erst nach der Ausarbeitung der Daseinsanalytik bevorsteht, sondern dass sie ihr wesentlich zugehört. Als eine phänomenologische Destruktion ist sie die eigentliche Methode der Philosophie selbst, die die ursprüngliche Seinsfrage in ihrer vollen Ausprägung erst ermöglicht. Um die Frage nach dem Sinn von Sein erneut zu stellen, gilt es nicht nur eine Daseinsanalytik auszuarbeiten, sondern zugleich geht es um eine Destruktion der ontologischen Tradition. Heideggers Programm einer historischen Destruktion der Geschichte der Philosophie findet in Sein und Zeit seine maßgebliche Ausführung, aber wurde schon seit Anfang der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts in seinen frühen Freiburger und Marburger Vorlesungen entwickelt. 1 Der innere Zusammenhang zwischen der ursprünglichen Seinsfrage und Destruktion wird in der Vorlesung Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (Anzeige der hermeneutischen Situation) von 1922, dem sogenannten Natorp-Bericht, ausdrücklich erläutert: »Die Hermeneutik bewerkstelligt ihre Von den Schriften, die in der Zeit von 1919 bis 1929 entstanden sind und die Destruktion ausführlicher behandeln, sind die bedeutendsten: Grundprobleme der Phänomenologie von 1919/20 (GA 58, 139, 162 ff., 240 f., 248, 255); Heideggers Rezension von Jaspers Psychologie der Weltanschauungen, die etwa zwischen 1919 und 1921 entstanden ist (Wegmarken, GA 9, 3); Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks von 1920 (GA 59, 12, 29 ff., 33 ff.); Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung von 1921/22 (GA 61); Phänomenologische Interpretation zu Aristoteles (Anzeige der hermeneutischen Situation) – der sogenannte Natorp-Bericht von 1922 (Phänomenologische Interpretationen ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles zur Ontologie und Logik, GA 62); Ontologie (Hermeneutik der Faktizität) von 1923 (GA 63, 75 f.); Platon: Sophistes von 1924/25 (GA 19, 414); Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs von 1925 (GA 20, 187 f.); Die Grundprobleme der Phänomenologie von 1927 (GA 24).
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Igor Mikecin
Aufgabe nur auf dem Wege der Destruktion. Philosophische Forschung ist, sofern sie die Gegenstands- und Seinsart ihres thematischen Worauf (Faktizität des Lebens) verstanden hat, im radikalen Sinne ›historisches‹ Erkennen. Die destruktive Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte ist für die philosophische Forschung kein bloßer Annex zu Zwecken der Illustration dessen, wie es früher gewesen ist, keine gelegentliche Umschau darüber, was die Andern früher ›gemacht‹ haben, keine Gelegenheit zum Entwerfen unterhaltsamer weltgeschichtlicher Perspektiven. Die Destruktion ist vielmehr der eigentliche Weg, auf dem sich die Gegenwart in ihren eigenen Grundbewegtheiten begegnen muß, und zwar so begegnen, daß ihr dabei aus der Geschichte die ständige Frage entgegenspringt, wie weit sie (die Gegenwart) selbst um Aneignungen radikaler Grunderfahrungsmöglichkeiten und deren Auslegungen bekümmert ist.« (GA 62, 368) Aber es gilt auch umgekehrt: »Die Situation der Auslegung, als der verstehenden Aneignung des Vergangenen, ist immer solche einer lebendigen Gegenwart. Die Geschichte selbst, als im Verstehen zugeeignete Vergangenheit, wächst hinsichtlich ihrer Erfaßbarkeit mit der Ursprünglichkeit der entscheidenden Wahl und Ausformung der hermeneutischen Situation. Vergangenheit öffnet sich nur nach Maßgabe der Entschlossenheit und Kraft des Aufschließenkönnens, über die eine Gegenwart verfügt. Die Ursprünglichkeit einer philosophischen Interpretation bestimmt sich aus der spezifischen Sicherheit, in der philosophische Forschung sich selbst und ihre Aufgaben hält. Die Vorstellung, die philosophische Forschung von sich selbst und der Konkretion ihrer Problematik hat, entscheidet auch schon ihre Grundhaltung zur Geschichte der Philosophie.« (GA 62, 347) Was in der Destruktion erschlossen werden muss, lässt sich nur aus dem Bezug zum jeweils Gegenwärtigen zurückgewinnen: dies gehört mit zum innersten Sinn der Destruktion, dass sie vom Horizont der jeweiligen Gegenwart vollzogen wird. Eine radikal auf Destruktion eingestellte, demgemäß grundsätzlich geschichtlich orientierte Philosophie »ist, was sie sein kann, nur als Philosophie ihrer Zeit«, wie Heidegger in der Vorlesung Ontologie (Hermeneutik der Faktizität) von 1923 sagt (GA 63, 18). Die Interpretation der Geschichte der Philosophie »erbringt uns die Gegenwart, das, was als die Sache des Denkens uns entgegenwartet und dergestalt auf dem Spiel steht. Echte Überlieferung ist so wenig der Schleppzug von Lasten des Vergangenen, dass sie uns viel142 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
Die Geschichtlichkeit des Daseins
mehr in das Gegenwartende befreit und so die tragende Weisung in die Sache des Denkens wird.« (GA 9, 428) Die Problematik des Verhältnisses von Philosophie und ihrer Geschichte erörtert Heidegger in den frühen Vorlesungen unter dem Begriffsgegensatz des Systematischen und Historischen. Die »ganze Scheidung von historisch und systematisch ist … eine unechte«, heißt es schon 1919 in der Vorlesung Phänomenologie und transzendentale Wertphilosophie, und es »läßt sich positiv aufzeigen, wie phänomenologisch-historische Auseinandersetzung eine identisch-einheitliche, ursprüngliche Methode phänomenologischer Forschung darstellt« (GA 56/57, 125). Noch strenger formuliert Heidegger in den Phänomenologischen Interpretationen zu Aristoteles von 1921/ 22: »Im Philosophieren gibt es keine Geschichte der Philosophie und im Historischen des faktischen (philosophierenden) Lebens gibt es keine überzeitliche An-sich-Problematik und Systematik philosophischer Fragen. Philosophieren als prinzipielles Erkennen ist nichts anderes als der radikale Vollzug des Historischen der Faktizität des Lebens, so daß in ihm und für es Geschichte und Systematik gleich fremd und in ihrer Scheidung ebenso und erst recht überflüssig sind.« (GA 61, 111) Und in der Jaspers-Rezension von 1919–1920 heißt es: »das Problem des Zusammenhangs von Geschichte der Philosophie und philosophischer Systematik ist ein in den Wurzeln unechtes Problem« (GA 9, 36). Die Grundfrage der Philosophie zwingt dazu, heißt es 1925 in der Vorlesung Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, »in eine ursprüngliche Forschungssphäre vorzudringen, die vor der traditionellen Aufteilung der philosophischen Arbeit in historisches und systematisches Erkennen liegt«; die entsprechende Forschungsart wird als »weder historisch noch systematisch, sondern phänomenologisch« bezeichnet. (GA 20, 9 f.) Die Hermeneutik der Faktizität bzw. die Phänomenologie als Destruktion nimmt insofern für sich in Anspruch, die Trennung zwischen systematischem und historischem Erkennen zu überwinden. Der Zugang zur Seinsfrage ist wegen ihrer Geschichtlichkeit geschichtlich bedingt. Jede destruktive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist schon in sich selbst systematisch. In der PlatonVorlesung von 1924/25 sagt Heidegger in diesem Zusammenhang: »Systematische Arbeit – nicht um ein System zu machen und die Geschichte von daher maßregeln, sondern um sie sichtbar werden zu lassen für dieses Vordringen zu den seinsmäßigen Wurzeln unseres 143 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
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Daseins selbst.« (GA 19, 634) Diese systematische Arbeit ist umgekehrt eine solche, die die geschichtliche Dimension unmittelbar schon in sich selbst enthält und sie demnach nicht erst nachträglich zu gewinnen braucht. In der Vorlesung Die Grundprobleme der Phänomenologie von 1927 erklärt Heidegger diesen Sachverhalt mit folgenden Worten: »Die Geschichte der Philosophie ist nicht ein beliebiges Anhängsel im philosophischen Lehrbetrieb, um Gelegenheit zu geben, irgendein bequemes und leichtes Thema für das Staatsexamen sich zuzueignen oder sich einmal umzusehen, wie es früher gewesen ist, sondern historisch-philosophische Erkenntnis ist in sich eines, wobei die spezifische Art des historischen Erkennens in der Philosophie gemäß ihrem Gegenstande sich von jeder anderen wissenschaftlichen historischen Erkenntnis unterscheidet.« (GA 24, 31–32) An allen angeführten Stellen betont Heidegger nachdrücklich die Notwendigkeit einer historischen Erkenntnis in der Philosophie. Wie diese Unzertrennlichkeit von Philosophie und ihrer eigenen Historie in Sein und Zeit ausgelegt wird, ist im Folgenden zu zeigen. Es stellt sich aber zunächst die Frage, worin der Grund dafür liegt, dass die historische Erschließung der Philosophiegeschichte für die Eigentlichkeit der geschichtlichen Existenz von entscheidender Bedeutung ist. Vor jeder möglichen ausdrücklichen, d. h. philosophischen Seinsauslegung ist das Seinsverständnis das Existenzial, das die Seinsverfassung des Daseins ausmacht. Durch das Verstehen erschließt das Dasein die Möglichkeiten seines Seins. Aber »das Dasein ist in seiner jeweiligen Weise zu sein und sonach auch mit dem ihm zugehörigen Seinsverständnis in eine überkommene Daseinsauslegung hinein- und in ihr aufgewachsen.« (SuZ, 20) Die überkommene Auslegung wird durch die jeweilige Philosophie im Laufe der Philosophiegeschichte entworfen. Das Dasein kann sich selbst aus einer überkommenen und herrschenden Grundauslegung unausdrücklich verstehen oder sie ausdrücklich auf sich übernehmen, oder es kann selbst eine eigene Grundauslegung entwerfen, die über jene überkommene hinausgeht. Bei der fundamentalen Ontologie geht es aber um eine solche Grundauslegung, die durch die Aneignung der in der ganzen Geschichte der Ontologie herrschenden ontologischen Grundauslegungen die Seinsfrage aus ihrem Grunde erneuert. Die ontologische Grundauslegung zeichnet sich dadurch aus, dass sie schicksalhaft ist. Die eigentliche Geschichte nennt Heidegger das Schicksal. Wenn in der Existenz des Daseins unwesentliche Möglich144 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
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keiten ausgeschlossen sind und wenn das Dasein sich nur auf die wesentlichen und im strengen Sinne eigenen Möglichkeiten entwirft, hat es das Schicksal und existiert schicksalhaft. Diese schicksalhafte Auslegung konstituiert die Geschichte der Ontologie, indem sie die Auslegung aller wesentlichen gewesenen Auslegungen einschließt, und zwar als gewesenen Möglichkeiten des geschichtlich existierenden Daseins. Die Geschichtlichkeit bezieht sich demnach auch auf die Philosophie selbst als auf eine dem Dasein zugehörige ausgezeichnete Möglichkeit des Seinsverständnisses. Insofern die gewesenen Möglichkeiten des Daseins vorzüglich in der Geschichte der Philosophie als der Geschichte der Grundauslegungen des Seins enthalten sind, bezieht sich die Geschichtlichkeit auf die gewesenen Möglichkeiten der Philosophie. In der Philosophie als Fundamentalontologie führt die eigentliche Geschichtlichkeit zur Erneuerung der Seinsfrage, die in verschiedenen gewesenen Möglichkeiten der Philosophie immer wieder auf eine unterschiedliche Weise gestellt wurde. Da die Destruktion der Geschichte der Philosophie am Leitfaden der Zeit als Sinn von Sein überhaupt aufgrund von Zeitlichkeit des Daseins entworfen wird, ist es für das vollständige Verständnis dieser Destruktion und ihrer Bedeutung für die Eigentlichkeit der Existenz nötig zu begreifen, wie die Geschichtlichkeit in der Zeitlichkeit gründet. Die Geschichte ist das Geschehen des Daseins. Die Geschichtlichkeit des Daseins wird von der Zeitlichkeit her als die Seinsverfassung des Daseinsgeschehens verstanden. Das Dasein ist nicht deshalb zeitlich, weil es »in der Geschichte steht«. Vielmehr existiert das Dasein geschichtlich und kann so existieren, »weil es im Grunde seines Seins zeitlich ist«. Die Geschichtlichkeit wird »rein aus der ursprünglichen Zeitlichkeit des Daseins deduziert« (SuZ, 376–377). Die Interpretation der Geschichtlichkeit des Daseins zeigt sich als »eine konkretere Ausarbeitung der Zeitlichkeit« (SuZ, 382). Die Zeitlichkeit ist »die Bedingung der Möglichkeit von Geschichtlichkeit als einer zeitlichen Seinsart des Daseins selbst« (SuZ, 19). Während das Vorhandene in der Zeit ist, ist das Dasein kein innerzeitliches Seiendes, sondern es zeitigt, und das heißt es existiert. Es entwirft sich in seiner Existenz immer auf seine Möglichkeiten. Das Dasein ist ebenso wenig in der Geschichte, es ist kein innergeschichtliches Seiendes, sondern es ist geschichtlich oder ist seine eigene Geschichte, das geschichtliche Geschehen. Als ein Sich145 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
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erstrecken gehört dieses Geschehen des Daseins zum ekstatischen Charakter der Zeitlichkeit. Die Zeitlichkeit nämlich als der Sinn von Sein des Daseins zeitigt sich in der Einheit von drei Ekstasen: Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart. Aufgrund vom Zeitigungsmodus des Daseins unterscheidet sich eigentliche und uneigentliche Zeitlichkeit. Auf diesem Unterschied gründet dann der Unterschied zwischen der eigentlichen und uneigentlichen Geschichtlichkeit. Die eigentliche geschichtliche Existenz in Bezug auf Zukunft ist das Vorlaufen. Als solches aber ist das Vorlaufen in sich selbst das Zurückkommen zum Gewesenen. Die künftige Möglichkeit des Daseins ist durch die gewesene Möglichkeit bestimmt, die es auf sich nimmt. Die eigentliche Existenz in Bezug auf Gewesenheit ist Wiederholung. Die Wiederholung ist das eigentliche Verhältnis zur gewesenen Möglichkeit. Die Entschlossenheit für die eigenste Möglichkeit im Augenblick ist die eigentliche Gegenwart. Die eigentliche Geschichtlichkeit des Daseins ist die Seinsverfassung des einheitlichen Geschehens der vorlaufend-wiederholenden Entschlossenheit im Augenblick. Während die Analyse der Zeitlichkeit in der Frage nach dem Ganzsein des Daseins einen Vorrang der Zukunft in der ekstatischen Einheit der Zeitlichkeit entdeckt, ist die Aufgabe der Analyse der Geschichtlichkeit andererseits, die Ekstase der Gewesenheit zum Austrag zu bringen. Die Gewesenheit überhaupt ist es, die »das Geschichtliche vorwiegend bestimmt« (SuZ, 381). Durch die Exposition der Geschichtlichkeit soll die Rolle der Gewesenheit für die Eigentlichkeit und Ganzheit des Daseins ausgelegt werden. Im Unterschied zum bloß Vergangenen bleibt die Gewesenheit nicht hinter dem Dasein, um nur äußerlich, in der Folge der Zeit, auf die Gegenwart einzuwirken. In Bezug auf die Ekstase der Gewesenheit besteht die Geschichtlichkeit des Daseins darin, dass das Dasein immer schon gewesen ist. Das Dasein hat nicht seine Gewesenheit, sondern es ist seine eigene Gewesenheit. Das eigentliche geschichtliche Existieren in Bezug auf die Gewesenheit bestimmt sich auch als das eigentliche Überliefern, in welchem das Dasein seine gewesenen Möglichkeiten übernimmt. Die eigentliche Geschichte ist also das Geschehen, in welchem das Dasein vorlaufend zum Zukünftigen auf sich selbst kommt, und das Gewesene überliefernd zu sich selbst zurückkommt. Nicht nur also das Zukünftige ist die Möglichkeit des Daseins, sondern auch das Gewesene ist seine existenziale gewesene Möglichkeit und nicht etwas, was als gegeben vorgefunden wird. Die eigentliche Überlieferung ist 146 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
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die Wiederholung der wesentlichen gewesenen Möglichkeiten. Die Wiederholung ist kein bloßes Wiederbringen des Vergangenen, so wie es in der Vergangenheit war, kein Zurückbinden der Gegenwart an das schon Überholte, keine Wiederverwirklichung des Vergangenen im Gegenwärtigen. Das Gewesene geht durch eine Umwandlung und Erneuerung, denn sonst wäre es keine Möglichkeit. Die Wiederholung ist deshalb die Erwiderung des Gewesenen als einer Möglichkeit des dagewesenen Daseins. Aber sie ist auch keine Bewahrung des Vergangenen in seiner Vergangenheit als dessen, was an sich und unabhängig vom Gegenwärtigen ist. Deshalb ist die Wiederholung zugleich auch der Widerruf des Vergangenen. Das heißt, dass das Wiederholte die Überwindung seiner Fremdheit verlangt, damit es wieder als die eigene Möglichkeit entdeckt werden kann. Das in der Wiederholung Widerrufene ist das Verhärtete in der Vergangenheit, das als eine bloß tradierte und nichtangeeignete Seinsauslegung auch noch über das Gegenwärtige herrschen und das Zukünftige vorausbestimmen kann. Das Wiederholen hat bei Heidegger eine zweifache Bedeutung: es ist ein Zurückholen, aber zugleich auch ein Erneuern. Das heißt, dass das Dasein eine ererbte, aber gleichwohl erneuerte Möglichkeit überliefert. Das wiederholende Überliefern ist aber auch ein Sichüberliefern des Daseins wieder in der zweifachen Bedeutung des sich Zulieferns des Gewesenen zu sich und des sich Auslieferns an das Gewesene. Die existenziale Auslegung der Geschichtlichkeit, besonders der erwidernd widerrufenden Wiederholung als der ausdrücklichen Überlieferung, d. h. des Rückgangs in Möglichkeiten des dagewesenen Daseins, ist dann entscheidend auch für das Verständnis der Aufgabe einer historischen Aneignung der gewesenen Möglichkeiten der Philosophie. Ebenso wie die Geschichte als Daseinsgeschehen hinsichtlich ihrer existenziellen Möglichkeiten kann auch die Geschichte der Philosophie als Geschichte der überlieferten Möglichkeiten der Gegenstand der historischen Erschließung werden. »Zum Geschehen des Daseins gehört wesenhaft Erschließung und Auslegung. Aus dieser Seinsart des Seienden, das geschichtlich existiert, erwächst die existenzielle Möglichkeit einer ausdrücklichen Erschließung und Erfassung von Geschichte.« (SuZ, 376) Da das Dasein wesenhaft geschichtlich ist, kann es Tradition entdecken, bewahren und ihr ausdrücklich nachgehen und so Historie haben. Die eigenständige Aufgabe der Historie ist »die Entdeckung 147 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
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von Tradition und die Erschließung dessen, was sie übergibt und wie sie übergibt« (SuZ, 20). Die zeitliche Struktur der Historie gründet auf der zeitlichen Struktur der Geschichtlichkeit, d. h. im Verhältnis der zeitlichen Ekstasen zueinander in der Existenz. Die uneigentliche Historie gründet auf der uneigentlichen Geschichtlichkeit. Sie reduziert das Geschichtliche überhaupt und das Gewesene auf das Vergangene und verhält sich nicht zum Zukünftigen im Vergangenen. Damit trennt sie das Dasein vom dem, was seine eigene Möglichkeit ist, und erreicht nicht das Eigentliche des geschichtlich gewesenen Daseins. Die eigentliche Historie aber erkennt, dass die Geschichtlichkeit die Seinsverfassung des Daseinsgeschehens ist. Sie ist ausdrücklich auf der Geschichtlichkeit gegründet. Sie befasst sich mit dem Gewesenen immer in Hinblick auf die eigenen gewesenen Möglichkeiten der Existenz. Von der an der eigentlichen Geschichtlichkeit orientierten Historie wird die Existenzmöglichkeit des Dagewesenen in der Weise der Wiederholung der gewesenen Möglichkeit erschlossen. Jede Erschließung und Auslegung hat ihren ontologischen Ursprung in der Seinsverfassung des Daseins. Auch die Historie gründet existenzial-ontologisch in der Seinsverfassung des Daseins. Insofern das Sein des Daseins wesenhaft geschichtlich ist, bleibt jede Erschließung »diesem Geschehen verhaftet«. Im Unterschied aber zu allen anderen Erschließungen gründet die Historie »in einer eigenen und vorzüglichen Weise« (SuZ, 392) in der Geschichtlichkeit. Historie als Historizität ist eine »Seinsart des fragenden Daseins«, das »durch die Geschichtlichkeit bestimmt ist« (SuZ, 20). Als die Erschließung der Geschichte des Daseins hat die Historie ihren eigenen existenzial-ontologischen Ursprung in der Geschichtlichkeit des Daseins. Was Historie in ihren ursprünglichen und eigentlichen Möglichkeiten enthüllen kann, ist deshalb die Geschichtlichkeit des Daseins bzw. das Daseinsgeschehen in seiner Gewesenheit. Eine wesentliche Möglichkeit, in der das Dasein seine Geschichtlichkeit erschließt, ist aber die Philosophie. In Sein und Zeit wird die Philosophie als das »denkende Fragen nach dem Sein« bzw. als die Weise aufgefasst, in der die Seinsfrage hier als Hermeneutik der seinsverstehenden Existenz entfaltet wird und die sich mit Notwendigkeit aus der Geschichtlichkeit des Daseins ergibt. Das Dasein ergreift die »in ihm liegende Möglichkeit«, nicht nur »seine Existenz sich durchsichtig zu machen«, sondern »vorgängig dem Sinn des Seins überhaupt nachzufragen«. »Hat sich in solchen Fragen der Blick für die wesentliche Geschichtlichkeit des Daseins geöffnet«, dann 148 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
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muss »die Ausarbeitung der Seinsfrage aus dem eigensten Seinssinn des Fragens selbst als eines geschichtlichen die Anweisung vernehmen, seiner eigenen Geschichte nachzufragen« (SuZ, 21). Was die Geschichtlichkeit ist, kann nicht die Historie als Einzelwissenschaft von der Geschichte verstehen. Das Grundphänomen der Geschichte entzieht sich dem wissenschaftlichen Zugriff und lässt sich nur im fundamental-ontologischen Seinsverständnis erschließen. Zu diesem Seinsverständnis aber gehört wesentlich die Historie der Philosophiegeschichte als Historie der Geschichte der Ontologie bzw. der Geschichte des Fragens nach dem Sein. Sie ist eine ausgezeichnete Möglichkeit der historischen Erschließung. Die Auslegung des existenzial-ontologischen Ursprungs der Historie ist dann die »Vorbereitung für die […] Klärung der Aufgabe einer historischen Destruktion der Geschichte der Philosophie« (SuZ, 392). Nur in einer philosophischen Historie der Philosophie, die eigentlich eine Historie der gewesenen wesentlichen Möglichkeiten der Daseinsund Seinsauslegung ist, können die eigensten dagewesenen Möglichkeiten des Daseins in der faktischen Existenz schicksalhaft überliefert und angeeignet werden. Philosophie als Ontologie, d. h. als die Seinsfrage, hat ihre eigene Geschichte. Vielmehr ist die Philosophie wesentlich geschichtlich. Die Philosophiegeschichte gehört wesentlich zur Philosophie als Fundamentalontologie, weil die Ausarbeitung der Seinsfrage nicht nur die Geschichtlichkeit des Daseins voraussetzt, sondern auch nach der Geschichtlichkeit dieser Frage selbst fragen muss. Das heißt, dass die Ausarbeitung der Seinsfrage historisch werden muss, damit die Gewesenheit dieser Frage angeeignet wird. Indem sie nach dem Sein überhaupt und dem Sein des Daseins geschichtlich fragt, expliziert die Philosophie das Dasein in seiner Zeitlichkeit als geschichtlich. Insofern also die Historie die verstehende Thematisierung der Geschichtlichkeit selbst ist, ist sie nicht mehr bloß eine Einzelwissenschaft von der Geschichte, sondern sie gehört zur Philosophie als ihre eigene Historie. Diese philosophische Historie der Philosophiegeschichte, die ontologisch auf der Geschichtlichkeit des Daseins gründet und die Aufgabe hat, sich durch die Wiederholung alle wesentlichen überlieferten Seinsauslegungen als die wesentlichen gewesenen Möglichkeiten der Ontologie anzueignen, nimmt die Gestalt einer Destruktion der Geschichte der Ontologie an. Die Destruktion ist einerseits das Aufzeigen der Grenzen eines jeweiligen bestimmten ontologischen 149 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
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Seinsverständnisses in Bezug auf das fundamental-ontologische Seinsverständnis und andererseits die Erschließung der gewesenen Möglichkeit der Philosophie in ihrer Ursprünglichkeit, d. h. die Erschließung der ursprünglichen Frage, die verborgen in dem Ausgelegten liegt, und damit die vertiefte erneuernde Auslegung dieser Möglichkeit der Philosophie vom Standpunkt der fundamentalen Ontologie. Der Zweck der Destruktion liegt darin, die Grenze der ganzen Tradition der Ontologie einzusehen und die Seinsfrage als die Frage nach dem Sinn von Sein zu wiederholen, wie sie noch nie seit dem Anfang der Ontologie gestellt wurde. Was Heidegger in der Geschichte des existierenden Daseins, in Bezug auf sein Verhältnis zum Gewesenen, als die Überlieferung bezeichnet hat, wird hinsichtlich der Geschichte der Philosophie die Tradition genannt. Die Tradition ist die Überlieferung der überkommenen Möglichkeiten des Daseins, die sich in der Geschichte der Philosophie vollzieht. Die unausdrückliche Übernahme einer überkommenen Auslegung ist das Verfallen an die Tradition. Das Dasein als solches neigt zum Verfallen an seine Tradition. Dann nimmt die Tradition dem Dasein seine Zukunft und Gegenwart zugunsten der Vergangenheit. Das Dasein folgt dann nur einer gewesenen ontologischen Auslegung, die ihm selbstverständlich wird. Indem die Tradition über das Dasein herrscht, verbirgt sich das, was tradiert wird. Die Tradition verschüttet ihre ursprünglichen Quellen, aus denen die überlieferten Begriffe geschöpft sind, sowie das Bedürfnis nach der ursprünglichen Seinsfrage. Selbst dann, wenn das Dasein die Tradition durch eine ausdrückliche Seinsauslegung wahrt, aber dabei sie nicht wiederholt, dringt es noch immer nicht zur ursprünglichen Frage nach dem Sinn von Sein vor. Indem die Tradition die ursprünglichen ontologischen Quellen vergessen macht, entwurzelt sie damit auch die Geschichtlichkeit des Daseins. Insofern die Geschichtlichkeit des Daseins entwurzelt ist, vollzieht das Dasein nicht den Rückgang zur Vergangenheit im Sinne ihrer produktiven Aneignung. Im Gegensatz dazu ist die Aufgabe des Daseins, seine eigene Geschichtlichkeit zu entdecken, indem es sich die Geschichte der Philosophie produktiv aneignet. Die Entdeckung dessen, was die Tradition überliefert, und der Weise, wie sie es überliefert, ist die philosophisch-historische Entdeckung des geschichtlichen Geschehens der Philosophie. Es ist schließlich die Entdeckung einer ursprünglichen, aber durch die Tradition verborgenen Möglichkeit des Daseins – die Möglichkeit des ursprünglichen Fragens nach 150 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
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dem Sein. Erst wenn sich die Auslegung zur ursprünglichen Seinsauslegung erhebt und wenn diese Auslegung im Ganzen der geschichtlichen Möglichkeiten als destruktiv erneuernde Wiederholung der Geschichte der Philosophie begriffen wird, erreicht das Dasein die Eigentlichkeit seiner Geschichtlichkeit aus ihren ursprünglichen Quellen. Die eigentliche Geschichtlichkeit des Daseins ist letztendlich möglich nur durch die eigentliche historische Erschließung der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie selbst als eine wesentliche Möglichkeit des Daseins ist ihrem Wesen nach historisch. Das geschichtliche Fragen des geschichtlichen Daseins hat in der Form der Destruktion eine positive Absicht. Sie will die verhärteten Traditionen auflockern und die verdeckten ursprünglichen Seinsbestimmungen ablösen. Die Destruktion trifft nicht bloß die Vergangenheit, sondern auch die Gegenwart. Die Destruktion urteilt nicht bloß über die Geschichte der Philosophie, sondern destruiert zugleich die uneigentliche Historie dieser Geschichte. Die Erwiderung der Wiederholung einer Interpretation widerruft zugleich »die herrschende Behandlungsart der Geschichte der Ontologie« (SuZ, 23) (Doxographie, Problemgeschichte) als eine weitere Verdeckung der Philosophiegeschichte und der Geschichtlichkeit des Daseins. Für die Seinsfrage ist es nötig, »die Durchsichtigkeit ihrer eigenen Geschichte« (SuZ, 22) zu gewinnen. Diese Aufgabe fasst Heidegger als »die am Leitfaden der Seinsfrage sich vollziehende Destruktion des überlieferten Bestandes der antiken Ontologie, auf die ursprünglichen Erfahrungen, in denen die ersten und fortan leitenden Bestimmungen des Seins gewonnen wurden«. Diese Destruktion ist »der Nachweis der Herkunft der ontologischen Begriffe« und hat als solche nicht »den negativen Sinn einer Abschüttelung der ontologischen Tradition«, sondern eine »positive Absicht«, diese »in ihren positiven Möglichkeiten« zu erschließen. Die Destruktion bedeutet also »keine Negation und Verurteilung der Tradition zur Nichtigkeit, sondern umgekehrt gerade positive Aneignung ihrer« aus ihrem Ursprung. Die Aufgabe der Destruktion der Geschichte der Ontologie ist letztendlich die aufgrund der Geschichtlichkeit des Daseins sich vollziehende Ausarbeitung der Seinsfrage. Die Destruktion ist nicht destruktiv im Sinne der Zerstörung der Tradition, sie ist Freilegung des verborgenen Grundes der Geschichte der Philosophie (vgl. GA 66, 66). Sie ist der Abbau der wesentlichen Seinsauslegungen in der Geschichte der Ontologie, mit dem Ziel, das ursprüngliche Seinsverständnis zu ermöglichen. Die Destruktion 151 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
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baut das Aufgebaute ab, damit das Baugefüge der geschichtlich entstandenen Ontologie sichtbar wird. Im Baugefüge der Ontologie gibt es einen Grund, und das ist der Anfang der Geschichte der Ontologie bei den Griechen. Die Destruktion gelangt zu diesem Grund und zeigt, wie er in jedem einzelnen Gebäude – der geschichtlichen Seinsauslegung – anwesend ist. Es ist der Abbau, der unmittelbar dem Aufbau dient, »dem Bestand dessen, was sie abbaut, sich immer verpflichtet weiß« (GA 59, 5). Die Wiederholung dieser Auslegungen ist nicht bloß ihre Wiedergabe, sondern die produktive Aneignung. Die Daseinsanalytik selbst muss das ursprüngliche Sein des Daseins »gegen seine eigene Verdeckungstendenz erobern« (SuZ, 311). »Die existential-ontologische Verfassung der Geschichtlichkeit muß gegen die verdeckende vulgäre Auslegung der Geschichte des Daseins erobert werden.« (SuZ, 376) Die Destruktion klärt nicht nur die Geschichte der Ontologie über ihren verborgenen Leitfaden auf, sie will es möglich machen, die grundsätzliche Frage nach dem Verständnis des Seins aus der Zeit her zu stellen. Sein und Zeit wird deshalb als das verborgene Thema der gesamten Geschichte der Ontologie entdeckt. Das ist auch der Grund, warum die in Sein und Zeit enthaltenen philosophiegeschichtlichen Interpretationen im strengen Sinne den Namen einer Destruktion nicht verdienen. Im Vollzug der Destruktion der Geschichte der Ontologie ist die leitende Frage diejenige nach dem Bezug des Seins zur Zeit. Diese fragt danach, »ob und inwieweit im Verlauf der Geschichte der Ontologie überhaupt die Interpretation des Seins mit dem Phänomen der Zeit thematisch zusammengebracht und ob die hierzu notwendige Problematik der Temporalität grundsätzlich herausgearbeitet wurde und werden konnte« (SuZ, 31). Die griechische Auslegung des Seins des Seienden hängt auch mit einem bestimmten Begriff der Zeit zusammen. Dass das Sein »als parousia, bzw. ousia, was ontologisch-temporal ›Anwesenheit‹ bedeutet«, gefasst ist, bedeutet, dass es »mit Rücksicht auf einen bestimmten Zeitmodus, die ›Gegenwart‹, verstanden« (SuZ, 25) ist. Diese Seinsauslegung vollzieht sich ohne »Verständnis der fundamentalen ontologischen Funktion der Zeit, ohne Einblick in den Grund der Möglichkeit dieser Funktion« (SuZ, 26). Im Gegenteil wird die Zeit selbst als »ein Seiendes unter anderen Seienden« genommen und als solche »aus dem Horizont des an ihr unausdrücklich naiv orientierten Seinsverständnisses in ihrer Seinsstruktur« (ebd.) gefasst. Auch in dieser Seinsauslegung enthüllt sich, dass die Zeit, wenn152 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
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gleich nicht ausdrücklich, die Rolle des Leitfadens spielt. Die Geschichte der Ontologie jedoch belegt, »wie alle ontologische Interpretation mit Rücksicht auf den für sie wesenhaft notwendigen Horizont und dessen Versicherung eher einem Herumtappen gleicht als einem eindeutig methodischen Fragen« (GA 24, 459). Durch die Erläuterung der Temporalität können die ursprünglichen Seinserfahrungen der traditionellen Ontologie temporal entworfen werden. Die ontologische Untersuchung ist jeweils durch ihre geschichtliche Lage und die Überlieferung der vorangegangenen Philosophie bestimmt. Weil aber die philosophischen Grundbegriffe von ihren ursprünglichen Quellen entwurzelt sind, deshalb »gehört notwendig zur begrifflichen Interpretation des Seins und seiner Strukturen, d. h. zur reduktiven Konstruktion des Seins und seiner Strukturen, eine Destruktion, d. h. ein kritischer Abbau der überkommenen und zunächst notwendig zu verwendenden Begriffe auf die Quellen, aus denen sie geschöpft sind« (GA 24, 31). Die so gefasste Reduktion, Konstruktion und Destruktion machen die Methode der phänomenologischen Ontologie aus. Diese gehören inhaltlich zusammen und müssen in ihrer Zusammengehörigkeit begründet werden. Die ursprüngliche Seinserfahrung muss durch ihre Verdeckungen hindurch wiedergewonnen werden. Aber die Destruktion durchschaut nicht nur die Verstellungen des Ursprungs, sie zeigt damit auch den Ertrag einer bestimmten Seinsauslegung auf, die sie in der geschichtlichen Überlieferung verortet. Die Destruktion der Geschichte der Ontologie muss zeigen, wie die Seinsfrage der fundamentalen Ontologie von der überlieferten Ontologie vorgegeben wird. Die ontologische Auslegung muss die Geschichte wiederholen und durch ihre historische Aneignung ihren Ursprung erfassen. Ohne eine solche Destruktion wäre letzten Endes die ursprüngliche Auslegung des Seins nicht möglich. Die Destruktion ist in ihrer wiederholenden Aneignung vorgreifend. Sie gründet in einem Vorgriff, der aus der vorverstandenen Grunderfahrung gewonnen wird. Die Daseinsanalytik hat in diesem Sinne keinen Vorrang vor der Destruktion. »Erst in der Durchführung der Destruktion der ontologischen Überlieferung gewinnt die Seinsfrage ihre wahrhafte Konkretion« (SuZ, 26). Die ursprüngliche Grunderfahrung wird erst durch die Destruktion zurückgewonnen und zum vollen Verständnis erhoben. Das bedeutet wiederum nicht, dass die Destruktion vorrangig ist. Destruktion und die existenziale Daseinsanalytik befinden sich in einem Zirkelverhältnis. Die er153 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
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widernd-widerrufende Wiederholung, die das geschichtliche Dasein als ein Fragen nach dem Sein vollzieht, ist ein derartig zirkelhaftes Auslegen dagewesener geschichtlicher Möglichkeiten. Die Destruktion lässt sich nicht als eine rein historische Aufgabe beschreiben, die der Daseinsanalytik von außen als eine bloße Veranschaulichung hinzukäme. Die Seinsfrage, die durch eine Geschichtlichkeit charakterisiert ist, kann nicht ursprünglich gestellt werden ohne die Durchsichtigkeit ihrer eigenen Geschichte. Es gilt, die Tradition der Ontologie für das Gegenwärtige neu freizulegen, um die Seinsfrage erneut und ursprünglich zu stellen. Die Seinsfrage als die Grundfrage der Philosophie überkommt uns von ihrer Geschichte her, aber der Zugang zu ihr muss jeweils ursprünglich erschlossen werden. Das gegenwärtige Philosophieren, der gegenwärtige Zugang zu dieser Frage ist wesentlich durch geschichtlich überlieferte Zugangsweisen bedingt, die heute wirksam sind. Die ursprüngliche Stellung der Seinsfrage lässt sich nicht von einer Aneignung der Geschichte der Philosophie trennen. Zur Philosophie gehört wesentlich ihre Geschichte und die historische Untersuchung dieser Geschichte. Die existenziale Wiederholung in Form der Destruktion der Geschichte der Ontologie enthüllt sich als die Voraussetzung der Fundamentalontologie selbst, die ihren vollen Sinn gerade in der Wiederholung der Seinsfrage hat. Insofern das Dasein seiner Seinsverfassung nach das Seinsverständnis ist, lässt sich die Geschichte als Daseinsgeschehen mit der Geschichte seines Seinsverständnisses in Beziehung setzen. Die Geschichte der Philosophie als die Geschichte der wesentlichen Seinsauslegungen ist nichts anderes als die Geschichte des Seinsverständnisses des Daseins. Deshalb ist die historische Destruktion der Geschichte der Philosophie eine solche Wiederholung, in welcher das Dasein sich nicht nur seine eigensten Möglichkeiten der Existenz aneignet, sondern seine eigene Geschichtlichkeit begreift. Die eigenen gewesenen Möglichkeiten der Existenz decken sich so mit den geschichtlichen Seinsauslegungen als den wesentlichen gewesenen Möglichkeiten der Philosophie. Die Philosophie zeigt sich als die ausgezeichnete Möglichkeit der Existenz, in der sie ihre Eigentlichkeit erreichen kann. Mit der Wiederholung der Frage nach dem Sein wird die Zusammengehörigkeit von der Destruktion der Geschichte der Philosophie und Geschichtlichkeit des Daseins klar. Die Geschichtlichkeit enthüllt sich als jenes Existenzial des Daseins, das die historische Destruktion 154 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
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der Philosophiegeschichte in ihrer konkreten Durchführung ermöglicht, durch welche die Antwort auf die Frage nach dem Sein bis zu ihrer Vollständigkeit entfaltet wird. Andererseits kann das Dasein zur vollständigen Erschließung seiner eigenen Geschichtlichkeit nur durch diese Destruktion gelangen. Die ganze existenziale Analyse des Daseins wird in Sein und Zeit einzig mit dem Ziel durchgeführt, die seit dem Anfang der Philosophiegeschichte verschüttete Frage nach dem Sinn von Sein zu erneuern. Diese Erneuerung kann deshalb nur in einer Auseinandersetzung mit dieser Geschichte erreicht werden. Die historische Destruktion der Geschichte der Ontologie ist umgekehrt die letzte und höchste Ausprägung der eigentlichen Geschichtlichkeit des Daseins. Die Destruktion gibt außerdem der Seinsfrage »ihre wahrhafte Konkretion« und beweist die »Unumgänglichkeit der Frage nach dem Sinn von Sein« (SuZ, 26). Diese Unumgänglichkeit ist die Notwendigkeit einer Wiederholung der in der Geschichte der Ontologie gestellten Seinsfrage. Die Aufgabe der Destruktion dieser Geschichte gehört wesentlich zur Aufgabe der ursprünglichen Erschließung des Seins, weil sie in der existenziellen Wiederholung der gewesenen Seinsmöglichkeiten des Daseins selbst gründet, die sich als eigentliche Geschichtlichkeit vollzieht. Mit den Worten Heideggers gesagt: »Die Ausarbeitung der Seinsfrage muß so aus dem eigensten Seinssinn des Fragens selbst als eines geschichtlichen die Anweisung vernehmen, seiner eigenen Geschichte nachzufragen, d. h. historisch zu werden, um sich in der positiven Aneignung der Vergangenheit in den vollen Besitz der eigensten Fragemöglichkeiten zu bringen. Die Frage nach dem Sinn des Seins ist gemäß der ihr zugehörigen Vollzugsart, d. h. als vorgängige Explikation des Daseins in seiner Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit, von ihr selbst dazu gebracht, sich als historische zu verstehen.« (SuZ, 21) Die historische Destruktion der Geschichte der Philosophie steht nicht bloß als das Resultat am Ende der Fundamentalontologie, sondern sie ist als ihre eigentliche phänomenologische Methode zugleich die Voraussetzung der Möglichkeit der Wiederholung der Seinsfrage.
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Dietmar Koch
Von der ›Erschlossenheit‹ in »Sein und Zeit« zur ›Lichtung für das Sichverbergen‹ im »Ereignis-Denken« Die Skizzierung eines fruchtbaren Bruches 1 I.
Der zweideutige Grundansatz von »Sein und Zeit« und die mehrfältigen Kehren
Vom Da des Seins – seiner ›Gegebenheitsweise‹ – in Gestalt fundamentalexistenzialer Bestimmungen zur Zugehörigkeit des einzelnen Selbst zum Da des Seins als der ›Gegebenheitsweise‹, die zum Sein selbst gehört, ereignet sich ein Bruch. Dieser Bruch mit dem Ansatz von »Sein und Zeit« bringt mit sich eine alles entscheidende Ortsverlagerung des Selbst wie der ›Gegebenheitsweise‹ des Seins. Erst das Verständnis dieser Ortsverlagerung erlaubt einen Zugang zum Denken des »Ereignisses«. Der ›unversöhnliche Übergang‹ vom Da in Gestalt der Erschlossenheit (»Sein und Zeit«) zur Lichtung (»Ereignis«) ist zugleich der Eintritt in die Fruchtbarkeit und ge-
Dieser Vortrag ist die überarbeitete und erweiterte Fassung von Überlegungen, die erstmals auf einer Tagung 1997 in Ljubljana vorgetragen wurden (»Blickbahn, Fragen und Botschaften von Heideggers ›Sein und Zeit‹«. Siehe hierzu Dietmar Koch: »Der doppeldeutige Grundansatz von ›Sein und Zeit‹ und das ›Da-sein‹ im Menschen«, in: Dean Komel: Annäherungen. Zur hermeneutischen Phänomenologie von »Sein und Zeit«. Ljubljana 1999, 39–56). Instruktive Auseinandersetzungen zu unserer Thematik finden sich auf unterschiedliche Weise in folgenden Abhandlungen: Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Wahrheit – Freiheit – Geschichte. Eine systematische Untersuchung zu Heideggers Schrift »Vom Wesen der Wahrheit«. Frankfurt am Main 2002, 197 ff.; Damir Barbarić: Heideggers Lehre von der Temporalität als der Anlass zur Kehre, in: ders.: Aneignung der Welt. Heidegger – Gadamer – Fink. Frankfurt am Main 2007, 31–46; Ewald Richter: Heideggers These vom »Überspringen der Welt« in traditionellen Wahrheitstheorien und die Fortführung der Wahrheitsfrage nach »Sein und Zeit«, in: HSt 5 (1989), 47– 78; Helmuth Vetter: Kehre zum Sein, in ders.: Grundriss Heidegger. Ein Handbuch zu Leben und Werk. Hamburg 2014. 109–115; Carl Friedrich Gethmann: Zum Wahrheitsbegriff, in: ders.: Dasein: Erkennen und Handeln im phänomenologischen Kontext. Berlin – New York 1993, 109–115.
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schichtliche Weite des Denkens des »Anderen Anfangs« als ›Lichtung für das Sichverbergende‹. In diesen Kontext gehört Heideggers Bemerkung zu dem Satz des Parmenides: »ἔστι γὰρ εἶναι ›Es ist nämlich Sein‹. In diesem Wort verbirgt sich das anfängliche Geheimnis für alles Denken« (WM 334). Doch gehen wir Schritt für Schritt vor. In »Sein und Zeit« begegnen wir der Einsicht, dass wir uns »je schon in einem Seinsverständnis bewegen« (SZ 5): Es ist nicht denkbar, dass wir sind und dass kein Verstehen von Seiendem in seinem Sein ist. Im Kontext dieser Grundeinsicht steht die Frage nach dem ›Sinn von Sein‹ als der Frage nach dem Sein selbst, »sofern es in die Verständlichkeit des Dasein hereinsteht« (SZ 152). Diese Frage nach dem Sein ist die nach seinem ›Wesen‹, das heißt nach seiner ›Weise da zu sein‹ oder – mit dem Terminus Heideggers – nach seiner ›Wahrheit‹. »Die Frage in »Sein und Zeit« geht einzig nach der Wahrheit des Seins, nicht nach dem Sein des Seienden, also nicht mehr nach einer Ontologie, weder einer allgemeinen noch einer speziellen« (GF 2). Die Antwort von »Sein und Zeit« in der Gestalt der Entfaltung des Zusammenhangs von Sein und Zeitlichkeit ist keine Antwort auf eine Frage, die sich die klassische ›Metaphysica Generalis und Specialis‹ und ihre Weiterentwicklungen im Deutschen Idealismus als eine zentrale, sie selbst konstituierende Problematik stellten. Die Richtung von Heideggers Antwort in »Sein und Zeit« hat folgende bekannte Ansetzung: Zeit fungiert von alters her als Kriterium der Unterscheidung von Seinsbereichen (s. SZ 18). Dieser Zeitbegriff ist jedoch derjenige im Denken des Aristoteles, das heißt, er ist gewonnen an einem bestimmt gearteten Sein, dem Vorhandensein. Demnach ist er für die Aufklärung des Zusammenhangs von Sein als ganzem und Zeit nicht zureichend. »Wenn aber Sein ursprünglichen Bezug zur Zeit hat, und wenn Seinsverständnis ursprünglich zum Wesen des Daseins, zu seiner inneren Möglichkeit gehört, dann muß die Zeit diese innere Möglichkeit des Daseins mitbestimmen. […] Wir hörten Sein – das Apriori. Wenn aber Apriori ein Grundcharakter des Seins, und wenn Apriori eine Zeitbestimmung ist, Zeit aber mit Sein zusammenhängt, so zwar, dass das Seinsverständnis in der Zeitlichkeit des Daseins verwurzelt ist, dann besteht ein innerer Zusammenhang zwischen Apriori und Zeitlichkeit, d. h. der Seinsverfassung des Daseins, der Subjektivität des Subjekts« (ML 189). Die Antwort auf die Frage nach dem Sinn von Sein geht mithin darauf, die Zeitlichkeit des Seins – die Temporalität – gegründet sein zu las157 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
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sen in den existenzialen Zeitigungsweisen der Zeitlichkeit des Daseins, die zugleich fundierend sind für die existenziale Bestimmung ›ursprüngliche Wahrheit bzw. Erschlossenheit‹ : »Der Terminus ›Temporalität‹ deckt sich nicht mit der Zeitlichkeit, obwohl er nur dessen Übersetzung ist. Er meint die Zeitlichkeit, sofern sie selbst zum Thema gemacht ist als Bedingung der Möglichkeit des Seinsverständnisses und der Ontologie als solcher. Der Terminus Temporalität soll anzeigen, dass die Zeitlichkeit in der existenzialen Analytik den Horizont darstellt, von woher wir Sein verstehen. Was wir in der existenzialen Analytik erfragen, die Existenz, ergibt sich als Zeitlichkeit, die ihrerseits den Horizont für das Seinsverständnis ausmacht, das wesenhaft zum Dasein gehört« (GP 323). Die Temporalität ist der Charakter der Zeitigungsweisen der Zeitlichkeit des Daseins, der den ›zeitlichen‹ Horizont des Verstehens von Sein bestimmt. »Dann ist es am Ende kein beliebiges idealistisches Vorurteil, wie man heute gern verkündet, dass das Apriori-Problem bei Plato und Aristoteles ebenso wie bei Descartes, Leibniz, Kant und dem deutschen Idealismus auf engste mit dem Subjektproblem verschlungen ist, mag der Zusammenhang bislang noch so dunkel sein« (ML 189). Die Bestimmungen ›Verstehen‹, ›Erschlossenheit‹ oder ›ursprüngliche Wahrheit‹ stehen hier – dies sei zum besseren Verständnis angemerkt – als pars pro toto für einen differenzierteren, aber einheitlichen Zusammenhang, so wie er sich in »Sein und Zeit« in der Zusammengehörigkeit von Rede, Befindlichkeit, Verstehen im engeren Sinn und den Weisen des Auslegens in Gestalt der hermeneutischen und der apophantischen Auslegung findet. Eine Erörterung dieser Zusammengehörigkeit nehmen wir uns hier nicht vor. Die ursprüngliche Wahrheit in Gestalt der Erschlossenheit des Seins wie die Temporalität des Seins als die Bedingung der Möglichkeit des ursprünglichen Verstehens gelten als existenziale Bestimmungen. Ausgangspunkt war die Frage nach der Weise der Gegebenheit von Sein, der Daseinsweise von Sein, sofern es »in die Verständlichkeit des Daseins hereinsteht« (SZ 152), und dies im Lichte der Grundstruktur: ›das seiende Dasein versteht je schon Sein als ganzes‹. Die Spannung, in welche das Denken Heideggers mit dieser Konzeption im Folgenden gerät, liegt in dem Umstand, dass er die Frage nach der Weise der zeitlichen ›Gegebenheit des Seins überhaupt‹ durch eine existenziale und das heißt durch eine spezifische ontologische Antwort versucht zu klären. Mit der existenzialontologischen Beantwortung – also den Zeitigungsweisen des Daseins als 158 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
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Gegebenheitshorizont für das Verständnis des Seins überhaupt – steht Heidegger zwingenderweise in Abgrenzung zu ›kategorialen‹ Seinsweisen wie Leben und Vorhandensein. Diese Spannung wird auch durch die bedeutsame Differenz von ›fundamental-existenzialen‹ und ›existenzialen Bestimmungen‹ nicht aufgehoben – auch fundamental-existenziale Bestimmungen bleiben existenziale, wenn auch ausgezeichnete. Diese problematische Doppelbezüglichkeit markiert das Zwitterhafte in der Grundstellung von »Sein und Zeit«. Umkreisen wir zur Verdeutlichung diesen Sachverhalt. Das Verstehen als ›existenziale‹ Bestimmung taucht in »Sein und Zeit« in zwei unterschiedlichen Relationen auf: der Verstehensbezug des Daseins zum Sein als ganzem und als mögliche Verhältnisweise von Seiendem und Sein: Existenzialsein als Verstehendsein in Abgrenzung zu kategorialem Sein als Nichtverstehendsein. Die Frage nach dem Sinn von Sein als die Frage nach dem Entwurfsbereich, worin sich die Verstehbarkeit von Sein überhaupt hält, kann aber mit Blick auf den zweiten, abgrenzenden Sinn nur im Rahmen einer fundierenden Konstitutionstheorie eine mögliche Ausgestaltung erfahren. Das Existenziale wäre in einem gleichursprünglichen Sinne abgegrenzt gegenüber dem ›anderen seiner selbst‹ und zugleich für es fundierend. Die ›Gegebenheitsweise des Seins überhaupt‹ wäre durch die Explikation des existenzialen Seins, die zugleich in Abgrenzung zum kategorialen Sein steht, nur konstitutionstheoretisch anzugehen. Für Heidegger zeigte sich im Laufe der Ausarbeitung dieses Ansatzes – siehe hierzu die »Sein und Zeit« ergänzenden Zeitlichkeitsanalysen in der Vorlesung »Grundprobleme der Phänomenologie« von 1927 – ein mit diesem Weg nicht vereinbarer, jedoch einfacher und folgenreicher Sachverhalt: die Verstehbarkeit von Sein, die Weise, wie es Sein gibt, gehört ursprünglich zum Sein selbst und ist im Grunde indifferent, genauer querstehend gegenüber ontologisch abgegrenzten Weisen des Seins, wie kategorialem und existenzialem Sein. Wenn das Da des Seins nicht mehr im FundamentalExistenzialen verortet ist, dann ist auch die Kluft zwischen dem Sein überhaupt und den Seinsweisen seines Da, die in »Sein und Zeit« ja Seinsweisen eines besonderen Seins sind, aufgehoben: Sein ist von sich selbst her je schon erschlossen. »Sein und Zeit« begreift das Da des Seins hingegen aus der Existenzialität heraus. In der jetzt gewandelten Einsicht sind die fundamental-existenzialen Bestimmungen Bestimmungen des Da des Seins als solchem. Der Reichtum des Existenzialen – das in Abgrenzung zum Kategorialen sich findet – steht 159 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
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nunmehr nicht mehr in der Dimension der fundamentalen Existenzialien, sondern in der Dimension des Da des Seins überhaupt, zu dem ein es offenhaltendes Seiendes gehört. Mit diesem grundlegend anderen Verständnis des Zusammenhangs von Sein und Erschlossensein konnte auch die Antwort auf die Frage nach der Temporalität des Seins nicht mehr in der bisherigen Richtung verfolgt werden. Wir kommen darauf später noch zu sprechen. Ein entscheidender Aspekt der ›mehrfältigen Kehrtwendungen‹, die sich nunmehr einstellen, liegt darin, die Erschlossenheit als eine fundamental-existenziale Bestimmung aufzugeben, eine Bestimmung, die, wie gesagt, immer in einer Abgrenzungs- und zugleich in einer Fundierungsrelation zu kategorialen Bestimmungen stünde. Die gewandelte Erschlossenheit, jetzt Offenheit genannt, ist nun eine Bestimmung des Seins selbst, zu dem ein je und je es offenhaltendes Seiendes gehört. Das einzelne Dasein vollbringt jetzt nicht mehr im Verstehen die Weise seines Seins, wenn es sich zu sich selbst und zum anderen seiner selbst verstehend verhält – also Verstehen als Existenzial –, sondern die Weise des Da des Seins überhaupt. Die Differenz von Sein und Seiendem – das heißt hier von Seinsbestimmung und Vollzug bzw. Vollbringen dieser Seinsbestimmung – ist mit dieser ›Ortsverlegung‹ gewahrt. Nur ist das Verstehen, verstanden als Seinsweise, jetzt keine existenziale mehr, sondern eine Seinsweise des Seins selbst. Das Dasein begreift sich im Verstehendsein nicht mehr als durch seine Seinsweise bestimmt, sondern als dem Sein selbst in seinem Da als ganzem zugehörig. Es erfährt sich in das Da des Seins selbst versetzt bzw. geworfen und als dasjenige Wesen, das diese Geworfenheit austrägt. Die Offenheit oder Wahrheit ist unabhängig gegenüber den ontologischen Besonderungen hinsichtlich kategorialem und existenzialem Sein. Die Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt und im ganzen – jetzt in Gestalt der Wahrheit des Seins (gen. subject.) – erfährt so eine Antwort, die nicht in das für diese Problematik unangemessene Fahrwasser einer bereichsontologischen Abgrenzung gerät oder geraten kann. Später hierzu noch Ausführlicheres. Wäre der Ort der Offenbarkeit – wir bleiben hier im Ansatz von »Sein und Zeit« – die existenziale Seinsweise, dann müssten die anderen Seinsweisen in ihrer Verstehbarkeit durch ein leistendes Entwerfen dieser existenzialen Seinsweise begriffen werden. »In ›Sein und Zeit‹ hat Sinn eine ganz genaue Bedeutung, auch wenn sie heute unzureichend ge160 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
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worden ist […]. ›Sinn‹ ist vom ›Entwurf‹ her zu verstehen, der sich durch ›Verstehen‹ erklärt. Das Unangemessene dieses Ansatzes der Frage liegt darin, dass er es zu sehr ermöglicht, den ›Entwurf‹ als menschliche Leistung zu verstehen […]« (SM 72 f.). Heidegger käme mit einem leistenden Entwerfen, wie angedeutet, in die Schwierigkeiten und Aporien der Selbstkonstitution wie der Fremdkonstitution. Die Antwort auf die Frage nach der spezifischen Wirklichkeitsweise des Seins als solchem geht in eine falsche Richtung, wenn sie mit der Leistung eines bestimmten Seienden in seinem Seiendsein beantwortet wird, konkret: wenn die existenziale Zeitigungsweise in der Gestalt des Entwerfens den Entwurfsbereich von Sein überhaupt und seinen jeweiligen Seinsweisen konstituieren soll. Das Da des Seins, das Wie des Seins in seinen Momenten, gehört je schon zum Sein selbst und verdankt sich nicht erst einem spezifischen Sein, das in der Abgrenzung zu anderem Sein steht. Die Zeitlichkeit gehört je schon zur Gegebenheit des Seins als solchen und wird nicht erst durch eine spezifische Zeitigungsweise eines bestimmten Seienden in seinem Sein (Existenz) für das Sein als ganzes in einer »Schichtung von Entwürfen« geleistet, wie sie die oben erwähnte Vorlesung von 1927 ›Grundprobleme der Phänomenologie‹ im Auge hat (siehe hierzu zentral GP 396). ›Kehren‹ können Wendungen vielfältiger Art sein, Abwendungen von nichtgangbaren Wegen wie Wendungen im Verweisungsgefüge der Sache selbst. Die erste ›Kehre‹, die sich im Denken Heideggers ereignet, ist diejenige, sich zu verabschieden von der regionalontologisch geprägten Zwitterstellung von Bestimmungen als ›existenziale‹, die die Beantwortung der Frage nach dem Entwurfsbereich, worin sich die Verständlichkeit von Sein überhaupt hält, leisten sollen. In der Folge dieser Abwendung erfährt die aletheiologische Perspektive der Fundamentalbestimmung ›Seinsverstehen‹ oder ›Erschlossensein von Sein‹ eine Ortsverlegung. Ist in »Sein und Zeit« noch »Verstehen ein fundamentales Existenzial« (SZ 336; s. SZ 143 und 226), dann ändert sich zwar nach der ›Kehre‹ nicht der Sachverhalt – Verstehen als Erschlossenheit bleibt die ursprünglichste Wahrheit (s. SZ 220) –, aber die Zugehörigkeit zur Existenzialität wird aufgegeben. Diese Zugehörigkeit wird verlassen zugunsten der Einsicht, dass das Verstehen – das jetzt, wie bereits erwähnt, Lichtung, Offenheit oder Unverborgenheit genannt wird – nicht zum Sein des Daseins gehört, sondern zum Sein als solchem, genauer gesagt zum Da des Seins, in welchem der einzelne, seiende Mensch steht, in welchem 161 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
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er sich findet und sich als geworfener erfährt. So wird nun Heideggers Satz verständlich: »Die Lichtung ist kein Existenzial« (ZG 258). Nimmt man den Satz aus dem »Humanismus-Brief« hinzu: »Die Lichtung selber aber ist das Sein« (BH 23) und löst die bei Heidegger sich oft findenden verdichtenden Redeweisen auf, so bedeutet dies, dass der Bezug des einzelnen, verstehenden Daseins zum Sein als ganzem je schon zu diesem Sein selbst als konstitutivem Moment gehört. In Bezug auf »Sein und Zeit« heißt es selbstkritisch: »Die Analytik des Daseins gelangt noch nicht in das Eigene der Lichtung und vollends nicht in den Bereich, dem die Lichtung seinerseits zugehört« (SD 19), also in den Bereich des ›Ereignisses‹. Dies ist der »mit dem Namen der Lichtung erst angezeigte Bereich, darin wir Menschen uns ständig schon aufhalten« (SD 19 f.). Das Verstehen des Seins als etwas sich stets in irgendeiner Weise schon Ereignendes ist mit dem Terminus ›Lichtungsgeschehen‹ (s. III. 2.) genauer gefasst. Gemeint ist damit: das unverfügbare Geschehen des Dass des Verstehens wie auch der jeweilige Austrag, das jeweilige Vollbringen der Lichtung. Der Austrag des Lichtungsgeschehens ist das Innestehen im Bezug zum Sein als dem vermögenden und, wie es sich für Heidegger zeigt, mögenden Möglichen (s. BH). Mit dem einzelnen Dasein geschieht oder ereignet sich je schon das Verstehen, in welcher Weise auch immer. Im Dass des Verstehens gehört das Dasein dem Sein, und zwar als dem je schon irgendwie gelichteten bzw. erschlossenen und deshalb auch weiter erschließbaren bzw. sicherschließenden. »Der Mensch ist der Hüter der Lichtung, des Ereignisses. Er ist nicht die Lichtung selber, ist nicht ganz die Lichtung, ist nicht identisch mit der ganzen Lichtung als solcher. Aber als ekstatisch in die Lichtung Hinausstehender ist er wesensmäßig selbst gelichtet und als so ausgezeichnet Gelichtetes der Lichtung als ganzer und als solcher angehörig, zugehörig, ihr vereignet« (ZG 223). Die Konstellation, dass das Dasein in der Lichtung des Seins steht, gibt mithin die Perspektive des ›Transzendierens‹ und des ›Horizontes‹ von »Sein und Zeit« auf; ›Transzendenz‹ (transzendierendes In-derWelt-sein) und ›Horizont‹ (ekstatisch-horizontale Zeitlichkeit) sind Bestimmungen, die aus der Blickrichtung des existenzialen Daseins gedacht sind. 2 Verwiesen sei hier auf die zutreffenden Ausführungen in den verschiedenen Schriften Friedrich-Wilhelm von Herrmanns zu diesem Sachverhalt (siehe hierzu auch Anmerkung 1).
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Gehen wir auf die Grundfrage nach dem Zusammenhang von ›Seinsverständnis und Zeit‹ (WF 124) zurück. Die Bemerkung Heideggers aus dem Jahre 1962: »[…] die in ›Sein und Zeit‹ gekennzeichnete ekstatisch-horizontale Zeitlichkeit ist keineswegs schon das der Seinsfrage entsprechende gesuchte Eigenste der Zeit« (BR XIII), spielt unter anderem auf den Umstand an, dass die eigene Zeitlichkeit des Seins durch die Beziehung zwischen dem Dasein in seiner Existenzialität und dem Sein als ganzem nicht aufzuklären ist. »Ist der Mensch der Geber der Zeit oder ihr Empfänger? Und wenn er dieser ist, wie empfängt der Mensch die Zeit […]? Die eigentliche Zeit ist die ihr dreifältig lichtendes Reichen einigende Nähe von Anwesen aus Gegenwart, Gewesenheit und Zukunft. Sie hat den Menschen als solchen schon so erreicht, dass er nur Mensch sein kann, wenn er innesteht im dreifachen Reichen und aussteht die es bestimmende verweigernd-vorenthaltende Nähe. Die Zeit ist kein Gemächte des Menschen, der Mensch ist kein Gemächte der Zeit. Es gibt hier kein Machen. Es gibt nur das Geben im Sinne des genannten, den ZeitRaum lichtenden Reichens« (ZS 17). ›Innestehen in der Zeit‹, das ›Gereichtwerden der Zeit‹, der seiende Mensch, der von der Zeit ›schon erreicht‹ ist, all dies zeigt die Wendung oder ›Kehre‹ im Denken Heideggers. Die Antwort auf die Frage nach dem Sinn von Sein hält sich nun in folgender Konstellation: der Mensch, verstanden als einzelnes Dasein, steht im in-ständigen Bezug zum Sein, das in der Weise seines Gegebenseins oder Gereichtseins einer ihm selbst zugehörigen Zeitlichkeit verhaftet ist. Auf diesen Zeitbegriff gehen wir im Verlauf unseres Gedankenganges nicht ein. Zwingend ist es jedoch an dieser Stelle, eine andere, entscheidende Wende im Denken Heideggers, die hier bereits mehrfach zum Vorschein kam, ausdrücklich ins Spiel zu bringen. Die Grundfrage nach dem ›Sinn von Sein‹ fragt nach der Temporalität als der Bedingung der Möglichkeit des Verstehens von Sein überhaupt. Nach der ›Kehre‹ wird zwar in der aletheiologischen Grundstruktur diese Frage nach der Weise des Gegebenseins des Seins wieder aufgenommen. Dies geschieht aber nicht dergestalt, dass die Lichtung in ihrer Möglichkeit durch die Zeit des Seins bedingt ist, und somit die Lichtung das ›Gegründete‹ wäre. Vielmehr ist die Lichtung des Seins als ›Lichtung für das Sichverbergen‹ selbst ein Erstes und Letztes. Die Zeitlichkeit ist nunmehr ein Moment der Weisen, wie es Sein in seiner ›Gelichtetheit für das Sichverbergen‹ gibt. Zur Räumlichkeit bzw. zum Zeit-Spiel-Raum der Lichtung des Seins 163 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
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machen wir hier keine Ausführungen. Was also durch die ›Kehre‹ mit der sachlich begründeten Wende zur aletheiologischen Grundstruktur verknüpft ist, ist die Abwendung von der Konzeption, die ›Zeitlichkeit‹ oder ›Temporalität‹ als den bestimmenden Grund der Lichtung begreifen zu wollen. Die Fundierungsvorstellungen von »Sein und Zeit« greifen nicht mehr. Die Zeit des Seins ist ein konstitutives Moment der Weise, wie sich Sein in der Lichtung gibt; die Lichtung des Seins ist nicht weiter das Fundiertsein in Bezug auf die Zeit als das Fundierende. Die Stellung des Phänomens Zeit ist nicht mehr diejenige, die in »Sein und Zeit« intendiert, letztlich jedoch nicht eingelöst wurde. Aber nicht nur die Rücknahme der existenzial-ontologisch bestimmten Antwort auf die Grundfragestellung, nicht nur die Aufhebung der Begründungsrichtung von gegründetem ›Seinsverständnis‹ und Grund in der ›Zeitlichkeit der Existenz‹ zeigen die Abwendung vom Ansatz von »Sein und Zeit«. Auch die Unmöglichkeit einer Verortung des eigentümlichen ›Bewegtseins des Seins im ganzen‹ in der Geschichtlichkeit des Daseins verlangt nunmehr einen Begriff von Zeitlichkeit als Geschichtlichkeit, der nicht durch Zeitigungsweisen der existenzialen Zeitlichkeit zureichend erfassbar ist: Das Phänomen des geschichtlichen Ankommens oder Sichentziehens von Weisen des Seins im ganzen – die Geschichtlichkeit von Weltverständnissen – kann nicht in einer entwurfsbestimmten Konstitutionstheorie von Zeitigungsweisen einer ontologischen Existenzialität zur Sprache gebracht werden. Damit ist hier kein Durchkommen. Auch dann nicht, wenn Konstitution kein Machen, kein leistendes Setzen, sondern ein Hervorbringen, ein Anwesendseinlassen bedeuten soll. Will man den bestimmenden Be-zug und Ent-zug von Weisen des Seins im ganzen, also von Weltverhältnissen, verstehen, so ist dies nicht durch wie auch immer sich vollziehende Akte des Daseins gegenüber dem Charakter der Momente, die einer solchen ›Weltbewegtheit‹ eigen sind, aufzuklären. An dieser Stelle sei nur auf den gewandelten Begriff der Zeit des Seins im Bereich des Geschehens des Seins verwiesen. Für diesen Begriff sind neben dem schon genannten ›Reichen‹ beispielsweise die Bestimmungen ›Schickung‹, ›Jähe‹ und ›Weile‹ maßgebend. Damit soll auch angedeutet sein, dass es phänomenale Beweggründe gab, den unzureichenden existenzial-ontologischen Zeitlichkeitsbegriff von »Sein und Zeit« aufzugeben, um dem Zeitbegriff der Geschichtlichkeit des Seins weiter nachzugehen. Gegenüber einer philosophischen Konzeption ist es immer ein Einwand, 164 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
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wenn erstens keine Antwort auf die Herkunft, auf den systematischen Zusammenhang oder auch auf die konstitutiven Momenten eines bekannten Seinsphänomens möglich ist oder wenn zweitens dieses Seinsphänomen im philosophischen Entwurf nicht zugelassen ist. Der Einwand besteht nicht darin, dass ein aufgewiesenes Phänomen faktisch nicht zur Sprache kommt, sondern dass es aufgrund des philosophischen Ansatzes keinen Ort finden kann. Dem Phänomen der Geschichtlichkeit des Seinsverständnisses bzw. die Seinsgeschichte selbst war mit »Sein und Zeit«, das nur das Phänomen der Geschichtlichkeit des Daseins kennt und hätte ausbilden können, nicht beizukommen. Als Kehrtwendungen im Denken Heideggers können verstanden werden die Abwendung vom fundamentalontologisch-existenzialen Ansatz und die Zuwendung zum aletheiologischen Grundverhältnis des Seins selbst, wie auch die Abwendung davon, die Temporalität als das Fundierungsphänomen der Verstehbarkeit des Seins begreifen zu wollen. Zu diesen Verabschiedungen gehört natürlich auch und vorgängig, dass Heidegger die Explikation der Temporalität des Seins aus der existenzialen Zeitlichkeit des Daseins aufgibt. Im Ansatz wurde diese Entfaltung, wie erwähnt, noch in der Vorlesung vom Sommersemester 1927 durchgeführt, später jedoch aufgrund der Wendung vom fundamentalontologisch-existenzialen Denkweg zum aletheiologischen nicht weiter verfolgt. Die ›Kehre‹ von der Fundamentalontologie zur ›Fundamental-aletheiologie‹ 3 kann auch – mit bestimmten Einschränkungen, auf die wir hier nicht näher eingehen können – begriffen werden als Wendung zum ›seinsgeschichtlichen Denken‹. In der aletheiologischen Grundstruktur wird das Sein in seiner Geschichtlichkeit und seiner Geschichte in Frage gestellt und nicht nur – wie in ›Sein und Zeit‹ – die Geschichtlichkeit des Daseins als existenziales Phänomen traktiert. Insofern ist Heidegger zu widersprechen, dass »im Denken der ›Kehre‹ die Fragestellung von »Sein und Zeit« auf eine entscheidende Weise ergänzt wird« (BR XIX). Es handelt sich nicht um eine wie auch immer geartete ›Ergänzung‹, sondern um die Aufgabe eines bestimmten Grundansatzes als Antwort auf die Frage
Siehe hierzu Emil Kettering: NÄHE. Das Denken Martin Heideggers. Pfullingen 1987; und ders.: Fundamentalontologie und Fundamentalaletheiologie. In: Martin Heidegger: Innen- und Außenansichten (Herausgegeben vom Forum für Philosophie Bad Homburg), Frankfurt 1989, 201–214.
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nach dem (Entwurfs-)Bereich, worin sich die Verstehbarkeit oder Offenbarkeit von Sein hält. Diese ›Kehren‹ markieren, wie gesagt, Wendungen im Denken Heideggers, sind ein Verlassen von unzureichend erfahrenen Seinsmöglichkeiten, die ein Nicht-durchkommen eines Denkweges und die Zuwendung zu einem anderen anzeigen. Diese Denkwege sind Antwortversuche auf die Frage ›Wie gibt es Sein?‹. In der jetzt auszuarbeitenden aletheiologischen Fundamentalstruktur des Seins wird sich im weiteren, wie bekannt, eine kehrige Struktur der Sache selbst zeigen. Der Bezug des einzelnen Daseins zum Sein in seiner offenen Ganzheit gehört in den Bezug des Seins zum einzelnen Dasein. Der Bezug ›Dasein und Sein‹ ist (je) die ursprungslose Einheit zweier zueinander gehörender aber unterschiedener Bezüge. In der Frage nach der geschichtlichen Verwandlung des Menschen »steht der Mensch hier zur Frage in der tiefsten und weitesten, der eigentlich grundhaften Hinsicht, der Mensch in seinem Bezug zum Sein, d. h. in der Kehre: das Seyn und dessen Wahrheit im Bezug zum Menschen« (GR 214). Ist das ›Ereignis‹ der Begriff für die Grundfigur, ist es das ›Verhältnis aller Verhältnisse‹ (WS 267), dann ist die ›Kehre‹ in der Sache ›Ereignis‹, der gegenschwingende Bezug von menschlichem Dasein zum Sein und von Sein zum menschlichen Dasein. Der ›Bezug aller Bezüge‹ ist der wechselseitige Bezug der Momente ›Gehören‹ und ›Gebrauchtsein‹. Das kehrige Grundverhältnis ist der Abgrund, der Grund, der selbst nicht mehr in anderem gründet, der Grund, von dem jeder weitere Grund ab-steht. »Wenn alles philosophische Denken um so unausweichlicher in dieser Kehre sich bewegen muß, je ursprünglicher es denkt, das heißt je näher es dem kommt, was in der Philosophie zuerst und immer gedacht und bedacht wird, dann muß die ›Kehre‹ wesentlich zu dem gehören, worauf allein die Philosophie sich besinnt (das Seyn als Ereignis)« (GR 47). Zu dieser fundamental-aletheiologischen Kehre-Struktur gehört im Blick auf die geschichtliche Dimension eine zweite, die hier nur erwähnt sei. Gemeint ist eine geschichtliche Um-kehr im Sein selbst, genauer in der Weise, wie Sein sich gibt: Vom ›Gestell‹ als der uneigentlichsten Seinsweise zum ›Geviert‹ als der ›schonenden‹ (s. K 42 ff.). Das ›Gestell‹ als die radikalste Weise der Seinsvergessenheit zu erörtern – also das ›Gestell‹ als das zu begreifen, was es ist – ist bereits der Anfang der ›Kehre‹ von der ›uneigentlichen‹ zur ›eigentlichen Seinsweise‹. Der kehrigen Struktur des Ereignisses wohnt eine auf mögliche Ankunft bezogene Figur von ›Ab-kehr von‹ und ›Zu166 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
Von der ›Erschlossenheit‹ zur ›Lichtung für das Sichverbergen‹
kehr zu‹ inne. Diese ›Kehre‹ ist die von ›Gestell‹ und ›Bestand‹ zu ›Geviert‹ und ›Ding‹. Das ›Gestell‹ wird bereits aus dem ›Ereignis‹ heraus gedacht (siehe hierzu WS 263). Unser aufrissartiger Durchgang zum Phänomen der ›Kehre‹ zeigte dieses in einer Mehrfältigkeit, die sich von der Ab-kehr von unzureichenden Möglichkeiten bis hin zur ›Kehre‹ als nichtprivativem Strukturphänomen des gewandelten und jetzt geschichtlich bestimmten Grundgefüges erstreckte. 4
II.
Zum Da-sein im Menschen
Greifen wir im Folgenden eine Bestimmung auf, die aus dem Bereich der gegenschwingenden Grundstruktur des ›Ereignisses‹ gedacht ist. In dieser Bestimmung manifestiert sich für das Denken Heideggers die Antwort auf die in »Sein und Zeit« sich zeigende Zwitterstellung der fundamental-existenzialen Bestimmung ›Verstehen‹. Der Terminus ›Dasein‹ für den einzelnen seinsverstehenden Menschen ist im Ereignis-Denken streng genommen eine verkürzende Redeweise für den Sachverhalt des ›Da-seins im Menschen‹, also für die Weise, wie das Sein im Bezug zum Menschen da ist. 5 Diese Bestimmung ›Dasein im Menschen‹ markiert nun ausdrücklich die Abkehr von einer fundamentalexistenzialen Bestimmung des Verstehens oder der Wahrheit hin zu einer Bezugsbestimmung des Seins selbst. Das Da des Seins – die Wahrheit des Seins – zeigt sich hier im je schon Angegangensein des Seienden ›Mensch‹ durch das Sein. »Wir verhalten uns nun aber ständig zu Seiendem und sind selbst seiend. Wir stellen dies, dass wir Seiendes sind, auch nicht nur an uns fest, sondern unser Sein, dies, dass wir und wie wir sind, geht uns so oder so an. Das Sein geht uns an, mag es sich um das Sein des Seienden handeln, das wir selbst sind, oder jenes Seiende, das wir selbst nicht sind und nie sein können« (G 65). Das ›Da-sein im Menschen‹ erinnert strukturell an eine Differenzierung von Bestimmungen, die analog sind denen von transzendentalem und nichttranszendentalem Apriori in der Philosophie Zum mehrfältigen Sachverhalt der ›Kehre‹ siehe auch: Susanne Ziegler: Denken und Dichten bei Heidegger. Tübingen 1998. 5 Siehe hierzu beispielsweise die Abschnitte Nr. 173–176, 190–195 und 200–203 in den »Beiträgen« (B). 4
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Kants. Diese Analogie sei hier jedoch nur als eine ›heuristische Leiter‹ ins Spiel gebracht, die wieder weggeworfen werden kann, wenn sie dazu beigetragen hat, eine bestimmte Unterscheidung zu verdeutlichen. Sie soll auch nicht das Ereignis-Denken als versteckte metaphysische Transzendentalphilosophie hinstellen, wenn es auch in den »Beiträgen« einen Gedanken gibt, der bei aller Abgrenzung auf entfernt Verwandtes zeigt: »Die Eröffnung durch den Entwurf ist nur solche, wenn sie als Erfahrung der Geworfenheit und damit der Zugehörigkeit zum Seyn geschieht. Das ist der wesentliche Unterschied gegenüber aller nur transzendentalen Erkenntnisart hinsichtlich der Bedingungen der Möglichkeit« (B 239). Erörtern wir den Zusammenhang zwischen dem Da des Seins – also der einmal unterstellten transzendental-apriorischen Bestimmung – und dem ›Verstehen des Selbst in seinem Sein‹ – also der apriorischen Bestimmung – anhand von folgendem Gedanken aus der Grundkonstellation nach der ›Kehre‹ : »Das Seinsverständnis besagt nicht nur, dass der Mensch in seinem eigenen Sein sich verstehe, nicht nur, dass er dazu und daneben auch noch das Sein des übrigen Seienden verstehe, sondern dass er überhaupt und zuvor Sein verstehe und aus diesem Seinsverständnis her überhaupt erst zum Seienden, das er nicht selbst ist, und zum Seienden, das er selbst ist, sich verhalten kann. Um diesen einfachen und deshalb gerade für den längst verwirrten Blick so schwer faßlichen Wesensbestand noch einmal zu sagen: Der Mensch ist nicht als Da-sein in ein Offenes versetzt, so wie ein Paar Schuhe vor die Tür des Zimmers gestellt werden, sondern der Mensch ist als Da-sein die wandernde Ausgesetztheit in das Offene, dessen Offenheit und Lichtung die Welt heißt.« (MI 43) 6 Der Mensch ist das Da des Seins, weil er in allen Bezügen – im Bezug zu sich (»›das eigene Sein‹, d. h. das In-der Welt-sein«; MI 43) wie im Bezug zum Kategorialen als dem ›anderen seiner selbst‹ – Siehe hierzu die aufschlussreiche Stelle in »Zur Seinsfrage«: »Wir sagen vom ›Sein selbst‹ immer zuwenig, wenn wir, ›das Sein‹ sagend, das An-wesen zum Menschenwesen auslassen und dadurch verkennen, dass dieses Wesen selbst ›das Sein‹ mitausmacht. Wir sagen auch vom Menschen immer zuwenig, wenn wir das ›Sein‹ (nicht das Menschsein) sagend, den Menschen für sich setzen und das so Gesetzte dann erst noch in eine Beziehung zum ›Sein‹ bringen. Wir sagen auch zuviel, wenn wir das Sein als das Allumfassende meinen und dabei den Menschen nur als ein besonderes Seiendes unter anderen (Pflanze, Tier) vorstellen und beides in die Beziehung setzen; denn schon im Menschenwesen liegt die Beziehung zu dem, was durch den Bezug, das Beziehen im Sinn des Brauchens, als ›Sein‹ bestimmt, und so seinem vermeintlichen ›an und für sich‹ entnommen ist« (SF 401).
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Von der ›Erschlossenheit‹ zur ›Lichtung für das Sichverbergen‹
derjenige ›ist‹, der den Bezug zum ›Sein überhaupt und im ganzen‹ austrägt. Sein qua Sein ist im Bezug zu einem bestimmten Seienden da, alle spezifischen Seinsbestimmungen und Verhältnisse stehen in ihrer Eigenart im Lichtungsbereich des Seins, zu dem ein offenhaltendes Seiendes gehört. Nehmen wir die genannte Analogie von transzendentalem und nichttranszendentalem Apriori auf, dann ist das ›Wesen des Wesens‹ – also das Geschehnis der Wahrheit des Seins – eine transzendentale Bezugsgröße, während alle Differenzierungen, alle ›bereichsontologischen‹ Bestimmungen, apriorische Momente wären. Aber führt diese Differenzierung nicht in eine falsche Richtung? Taucht der Grundbezug – die Seinsoffenheit – nicht vielmehr wieder als gleichursprüngliches Moment seiner selbst auf? Muss sich dies nicht sogar zwingend einstellen? Führt der Bezug ›Offenheit des Seins‹ als Grundbezug denn nicht je schon den Bezug ›Nicht-Offenheit des Seins gegenüber dem Seienden‹ mit sich? Der abgründige Grundbezug verweist auf andere Bezüge, nicht als gleichrangige – sonst wäre er dieser –, sondern als gleichursprüngliche Momente seiner selbst. Das Sein in seinem Offenheitsbezug, so scheint es, ist sich selbst und dem anderen gegenüber das Offene. Die Unterscheidung zwischen ›sich selbst‹ und ›das andere‹ ist eine Differenzierung im Grundbezug. Doch meint der Ausdruck ›sich selbst‹ überhaupt den ›Offenheitsbezug des Seins als solchem‹ ? Um der Antwort näher zu kommen, fassen wir in einem allerdings nicht von Hegel her zu denkenden dialektischen, sondern von einem – wie wir später noch erläutern werden – heterologisch gemeinten Verständnis die Figur folgendermaßen: Die Offenheit ist die Offenheit der Offenheit und der Nichtoffenheit. Die Nichtoffenheit ist das andere zu dem einen im einen. Die Gegenstellung des einen und des anderen kommt erst im einen zum Stehen. Zu beachten ist, dass in der oben vorgeführten Auslegung dieser ›Grundformel‹ das Selbstverhältnis des Offenheitsbezuges nicht verwechselt werden darf mit der Selbstbezüglichkeit eines Ichverhältnisses. Vielmehr handelt es sich um die Selbstbezüglichkeit des Da des Seins überhaupt, konkret: der ›Sprache des Wesens‹ in Gestalt der Einheit von Zuspruch und Entsprechung. 7 Dies Das Da des Seins ist das Dasein der Sprache in einem immer auf irgendeine Weise Sprechenden, der das Wesen der Sprache vollbringt. Die Sprache spricht immer irgendwie, wenn sie ist, in einem einzelnen ent-sprechenden Seienden. Das Da des Seins manifestiert sich im Sprachgeschehen. Das Da-sein im Menschen nennt die
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kann sich nur dann so verhalten, wenn das Da des Seins als Moment seiner selbst erscheinen kann. Doch trifft diese Auslegung des Formelwortes ›Offenheit der Offenheit und der Nichtoffenheit‹ zu? Ist die ›zweite Offenheit‹ die ›erste Offenheit‹ als das Moment ihrer selbst? Gehen wir langsam vor, und führen uns – zum Teil ausschnitthaft – noch einmal die beiden Zitate, in denen das Grundverhältnis zur Sprache kommt, vor Augen: »Wir verhalten uns nun aber ständig zu Seiendem und sind selbst seiend. Wir stellen dies, dass wir Seiende sind, auch nicht nur an uns fest, sondern unser Sein, dies, dass wir und wie wir sind, geht uns so oder so an. Das Sein geht uns an, mag es sich um das Sein des Seienden handeln, das wir selbst sind, oder jenes Seiende, das wir selbst nicht sind und nie sein können« (G 65). Und das zweite Zitat: »Das Seinsverständnis besagt nicht nur, dass der Mensch in seinem eigenen Sein sich verstehe, nicht nur, dass er dazu und daneben auch noch das Sein des übrigen Seienden verstehe, sondern dass er überhaupt und zuvor Sein verstehe und aus diesem Seinsverständnis her überhaupt erst zum Seienden, das er nicht selbst ist, und zum Seienden, das er selbst ist, sich verhalten kann« (MI 43). Die ›erste Offenheit‹ in dem Ausdruck ›die Offenheit der Offenheit und der Nichtoffenheit‹ ist das ›Da des Seins als solches‹ : der Angang des Seins überhaupt, dem wir, als Seiende, je schon, in welcher Gestalt und wie auch immer, entsprechen. Dieses Entsprechen geschieht, ob wir wollen oder nicht. Die ›zweite Offenheit‹ nennt dasjenige Seiende, das sich aufgrund der ›ersten Offenheit‹ sprachlich zu sich selbst und zu anderem, das es nicht selbst ist, verhalten kann. Die ›Nichtoffenheit‹ in der Formel nennt dagegen dasjenige Seiende in seinem Sein, das sich nicht zu sich selbst und zu anderem, das es nicht ist, sprachlich-verstehend verhalten kann. 8 Die ›zweite Offensprachlich gefasste Lichtung des Seins. Kein besonderes Sein ist aufgrund seiner Seinsverfassung, wie noch in »Sein und Zeit«, fundierend für die Sagbarkeit von Sein überhaupt. ›Ein offenes Wesen sein‹ heißt ein sprechendes Wesen sein. ›Im Offenen stehen‹ heißt: sagbar sein. 8 In diesem Verhältnis von ›zweitem Offensein‹ und ›Nichtoffensein‹ zeigt sich im Übrigen auch ein bedeutsamer heterologischer Charakter. Das Nichtoffensein birgt als Kategoriales Möglichkeiten, wie Lebendigsein und Vorhandensein: ›Kein Affe kann ein Brötchen nehmen‹, wie es in den »Zollikoner Seminaren« heißt. Der Affe hat streng genommen keine Hand, sondern ein Greiforgan; analog verstanden stirbt ein Tier nicht, sondern es verendet. Um eine Hand zu haben und um sterben zu können, muss man sprechen, muss man etwas als etwas nennen können. Das ›zweite Offensein‹ wie das ›Nichtoffensein‹ stehen im ›ersten Offensein‹, doch birgt das hete-
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Von der ›Erschlossenheit‹ zur ›Lichtung für das Sichverbergen‹
heit‹ ist also nicht der Ausdruck eines selbstreferentiellen Bezuges der ›ersten Offenheit‹. Nebenbei bemerkt: das bekannte und in der neuzeitlichen Philosophie, vor allem bei Kant und im Deutschen Idealismus, zentrale Phänomen der Selbstbezüglichkeit des Selbst kommt erst in der ›zweiten Offenheit‹ zu stehen. Es ist eine Wesensfolge aus der ›ersten Offenheit‹. Das Selbst kann nicht deshalb sprechen, das heißt ›etwas als etwas nennen‹, weil es selbstbezüglich ist, weil es über sich sprechen kann, sondern es kann über sich sprechen, weil es überhaupt von etwas sprechen kann – von etwas, was auch immer es sei, das sich ihm gezeigt hat und zur verlautenden Sprache gebracht werden kann. An dieser Stelle ergibt sich in gewandeltem Zusammenhang wieder eine Zwitterstellung, von der im ersten Teil unseres Vortrages die Rede war. Doch hier ist sie entscheidenderweise nicht verknüpft mit der Existenzialität der Erschlossenheit bzw. der Wahrheit. Gemeint ist hier die unproblematische Doppelbezüglichkeit des einzelnen seinsverstehenden Seienden, das einerseits zum Da des Seins gehört, es voll-bringt, und andererseits – wie alles Seiende in seinem Sein – vom Vollbrachten selbst betroffen ist. Wir verdeutlichen dies beispielhaft an einem bestimmten Zusammenhang. Im Technik-Aufsatz heißt es in Bezug auf die Herausforderung der Seins- oder Weltweise ›Gestell‹ : »Doch gerade weil der Mensch ursprünglicher als die Naturenergien herausgefordert ist, nämlich in das Bestellen, wird er niemals zum bloßen Bestand« (FT 18). Als Bestand ist er, wie auch das andere, das Kategoriale in Gestalt des Lebens und des Vorhandenseins, von der Entbergungsweise des Stellens betroffen; die Differenz von Bestellen und Bestand verweist auf die Differenz von Seinlassen bzw. Vollbringen und von Betroffensein vom Seingelassenen. Das rologisch zu verstehende Verhältnis von ›zweitem Offensein‹ und ›Nichtoffensein‹ die Möglichkeiten der ›regionalontologischen‹ Ausgestaltungen. Gemeint sind die Ausgestaltungen, die die Eigenarten des Seienden in seinem Sein zur Sprache bringen. Das ›Nichtoffensein‹ als eine Weise, wie Sein und Seiendes zueinander stehen können (Nichtoffenes kann sich nicht selbst als solches sprachlich erfassen), birgt offene Möglichkeiten seiner Differenzierungen. Anzumerken ist noch, dass das ›Nicht‹ im Nichtoffensein kein privatives Nicht ist, sondern ein Anderssein anzeigt: das ›andere seiner selbst‹ aus der Perspektive des Offenseins. Privation als Modus, wie etwas sein kann, schließt – im Gegensatz zur Nichtoffenheit als Anderssein – die Möglichkeit der Aufhebbarkeit ein. Ein Blinder ist grundsätzlich vom Sehenkönnen, ein Lahmer vom Gehenkönnen bestimmt. Ein Tier wird als Tier jedoch niemals einen Strafprozess führen können, sowenig wie wir jemals wie eine Pflanze wachsen werden. Mit dem Lebendigen ist etwas grundsätzlich anderes eröffnet.
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Dasein ist selbst tangiert vom Vollbringen der Weltweise, es ist als das Begegnenlassen, hier das Bestellen, eine Voraussetzung für die Begegnung seiner selbst und des anderen: Das welt-entbergende Geschehen ist selbst welt-betroffen. Zurück zum ›Formelwort‹. Wenn die Nichtoffenheit als abgegrenzt zur ›Offenheit im zweiten Sinne‹ aus der Perspektive dieser ›zweiten Offenheit‹ als das ›andere seiner selbst‹ erscheint und die zweite also nicht das selbstbezügliche Moment der ersten ist, was ist dann das ›andere seiner selbst‹ der ›ersten Offenheit‹ ? Oder kann es, vorsichtiger gefragt, überhaupt für die erste Offenheit das ›andere seiner selbst‹ geben, wenn das Sein, wie es heißt, einzig ist und nicht mehrere ›Seine‹ in Ansatz gebracht werden können? Die Antwort sei hier nur genannt und nicht näher ausgeführt: Es ist die Nichtoffenheit in Gestalt des Nichts, das für Heidegger jedoch als das ›andere seiner selbst‹ keine abgrenzende Gegenstellung zum Sein markiert, sondern zum Sein als solchem gehört. Es ist die radikale Endlichkeit des Seins selbst, die Aufhebung der Sprache des Wesens, die zu dieser selbst als Möglichkeit gehört. Hier blitzt das ›Wesensverhältnis zwischen Sprache und Tod‹ auf, das, wie es in »Unterwegs zur Sprache« heißt, noch ungedacht ist. 9 Dieses Nichts durchzieht als zugehörig zur ›ersten Offenheit‹ in ihrer vollen Bestimmung die ›zweite Offenheit‹ und die zu ihr gehörige ›Nichtoffenheit‹ und lässt diese beiden allererst das sein, was sie sind. Die ›zweite Offenheit‹ ist also – wiederholend gesagt – nicht der Ausdruck der Selbstbezüglichkeit der ›ersten Offenheit‹. Die Selbstbezüglichkeit dieser ›ersten Offenheit‹ hat in der für Heidegger ›monologischen‹ bestimmten Grundverfassung der ›Sprache des Wesens‹ – der Sage – ihren Ort. »Aber die Sprache ist Monolog. Dies sagt jetzt ein Zwiefaches: Die Sprache allein ist es, die eigentlich spricht. Und sie spricht einsam. Doch einsam kann nur sein, wer nicht allein ist; nicht allein, d. h. nicht abgesondert, vereinzelt, ohne jeden Bezug. […] Einsam: besagt: das Selbe im einigenden Zusammengehören. […] Die Sage braucht das Verlauten im Wort.« (WS 265 f.) Dass die Sprache als Sage nur in sich selbst und mit sich selbst dieses ernste
»Die Sterblichen sind jene, die den Tod als Tod erfahren können. Das Tier vermag das nicht. Das Tier kann auch nicht sprechen. Das Wesensverhältnis zwischen Tod und Sprache blitzt auf, ist aber noch ungedacht. Es kann uns jedoch einen Wink geben in der Weise, wie das Wesen der Sprache uns zu sich be-langt und so bei sich verhält, für den Fall, dass der Tod mit dem zusammengehört, was uns be-langt« (WE 215).
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Spiel treibt, in dem wir, solange wir sind, die einzelnen Mitspieler sind, dies näher auszuführen, wäre eine zusätzliche Aufgabe, um den hier vorstellten Aufriss von Bezügen zureichend zu entfalten. Lassen Sie mich zum Schluss einem möglichen Missverständnis vorbeugen, das aufgrund der hegelianisierenden Ausdrucksweise der ›Offenheit der Offenheit und der Nichtoffenheit‹ entstehen mag. Die Vermeidung dieses möglichen Missverständnisses dient zugleich der Klärung der zuvor angesprochenen heterologischen Verständnisweise. Die ›erste Offenheit‹ ist die Lichtung für das Sichverbergende. Als diese ist die Lichtung wandelbar und in den Weisen der Wandelbarkeit unauslotbar, sozusagen ab-gründig offen. In der Offenheit als Geschehen der Lichtung für das Sichverbergende zeigt sich ein Anderswerdenkönnen, eine Wandlungsfähigkeit, eine Nichtidentität, die abgründig ist, verwandt der Heraklitischen Seele, deren Grenze nicht ausgelotet werden kann. Pointiert können wir sagen: Die Sprache des Wesens, die sich, wie wir wissen, in »Unterwegs zur Sprache« ja als das Wesen der Sprache erweist, diese Sprache des Wesens, die das sinnträchtige Apeiron, das Sichverbergende in seiner Unerschöpflichkeit, auf das Heidegger immer wieder hinweist, stets mit sich führt, zwingt uns, die Substanz nicht als Subjekt im Hegel’schen Sinne zu denken, sondern als ein abgründiges Sprachgeschehen zu begreifen. Dieses ab-gründige Sprachgeschehen ereignet sich in ›be-wegten Begegnungen‹, die – blicken wir auf die höchste Daseinsweise dieses abgründigen Sprachgeschehens – für eine Weile in Gestalt der Feste von Himmel und Erde, den Göttlichen und den Sterblichen zu stehen kommen können. Das auf diese Weise verstandene Offene wird sich ständig ein anderes, trägt die unauslotbaren Differenzierungen seiner selbst aus, und ist – verdichtend gesprochen – als das vielfältige Zusammenspiel von Er-eignis und Ent-eignis aus diesem Grunde das Anfängliche. Dies ist die Weise, wie das Sein in der gewandelten Grundstellung nach »Sein und Zeit« da ist.
Siglenverzeichnis B BB
– Beiträge zur Philosophie. Vom Ereignis. GA 65. Hrsg. FriedrichWilhelm von Herrmann. Frankfurt a. M. 1989. – Aus den Briefen an Medard Boss. In: Zollikoner Seminare. Hrsg. Medard Boss. Frankfurt a. M. 1987, 297–362.
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Dietmar Koch BH BS
FT G GF GP
GR K MI
ML SD SF SM SZ WE WF
WM WR WS ZG ZO ZS
– Über den Humanismus. 9. Aufl. Frankfurt a. M. 1991. – Nachwort zu dem Aufsatz ›Das Ding‹ (Brief an einen jungen Studenten). In: Vorträge und Aufsätze. 4. Aufl. Pfullingen 1978. 176–179. – Die Frage nach der Technik. In: Die Technik und die Kehre. 6. Aufl. Pfullingen 1985. 5–36. – Grundbegriffe. GA 51. Freiburger Vorlesung vom SS 1941. Hrsg. Petra Jaeger. Frankfurt a. M. 1981. – Die Grundfrage nach dem Sein selbst. In: Heidegger Studies Vol. 2 (1986), 1 f. – Grundprobleme der Phänomenologie. GA 24. Marburger Vorlesung vom Sommersemester 1927. Hrsg. Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt a. M. 1975. – Grundfragen der Philosophie. Ausgewählte Probleme der ›Logik‹. – Die Kehre. In: Die Technik und die Kehre. 6. Aufl. Pfullingen 1985. 37–47. – Die Metaphysik des deutschen Idealismus (Schelling). GA 49. Freiburger Vorlesungen vom I. Trimester 1941 und SS 1941. Hrsg. Günter Seubold. Frankfurt a. M. 1991. – Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz. GA 26. Hrsg. Klaus Held. Frankfurt a. M. 1978. – Zur Bestimmung der Sache des Denkens. Hrsg. Hermann Heidegger. St. Gallen 1984. – Zur Seinsfrage. In: Wegmarken. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1978. 379– 420. – Vier Seminare. Frankfurt a. M. 1977. – Sein und Zeit. 12. Aufl. Tübingen 1972. – Das Wesen der Sprache (3 Vorträge). In: Unterwegs zur Sprache. 5. Aufl. Pfullingen 1975. 157–216. – Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung in die Philosophie. GA 31. Freiburger Vorlesung vom SS 1930. Hrsg. Hartmut Tietjen. Frankfurt a. M. 1982. – Wegmarken. GA 9. Hrsg. Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt a. M. 1976. – Das Wort. In: Unterwegs zur Sprache. 5. Aufl. Pfullingen 1975. 217–238. – Der Weg zur Sprache. In: Unterwegs zur Sprache. 5. Aufl. Pfullingen 1975. 239–268. – Zwiegespräche mit Medard Boss. In: Zollikoner Seminare. Hrsg. Medard Boss. Frankfurt a. M. 1987. 195–292. – Zollikoner Seminare. Hrsg. Medard Boss. Frankfurt a. M. 1987. – Zeit und Sein (Vortrag). In: Zur Sache des Denkens. 2. Aufl. Tübingen 1976. 1–26.
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Die Frage nach dem Wahrsein zwischen Dasein und Bewusstsein
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Die Notwendigkeit der Seinsfrage nach der Wahrheit aus der Unzulänglichkeit der überlieferten Wahrheitsbestimmung
Heidegger hat in seiner Schrift Sein und Zeit den traditionellen Wahrheitsbegriff, den die Philosophie im Laufe ihrer Geschichte immer wieder thematisiert hat, einer radikalen Prüfung unterzogen und gefragt, ob er zu Recht diesen Anspruch erhebt, das Wesen der Wahrheit erfasst zu haben. Die Auseinandersetzung mit diesem Begriff hat ihren systematischen Ort innerhalb des § 44, der zugleich mit dem Abweis des traditionellen Wahrheitsbegriffs dessen ontologischen Fundamente zeigt und innerhalb einer positiven Fundamentalanalyse der Wahrheit steht. Die überlieferte Bestimmung des Wesens der Wahrheit gibt Heidegger zu Beginn seiner Analyse in § 44a in Form von drei Thesen wieder: »1. Der ›Ort‹ der Wahrheit ist die Aussage (das Urteil). 2. Das Wesen der Wahrheit liegt in der ›Übereinstimmung‹ des Urteils mit seinem Gegenstand. 3. Aristoteles, der Vater der Logik, hat sowohl die Wahrheit dem Urteil als ihrem ursprünglichen Ort zugewiesen, er hat auch die Definition der Wahrheit als ›Übereinstimmung‹ in Gang gebracht.« 1 Dies sind die charakteristischen Bestimmungen, die seit der Aristotelischen Definition in »de interpretatione« (1, 16 a 6) allem Denken über das Wesen der Wahrheit untergelegt werden. Die Aristotelesstelle übersetzt Heidegger mit: »die ›Erlebnisse‹ der Seele, die νοήματα (›Vorstellungen‹), sind Angleichungen an die Dinge.« (ebd.) Mit Vorstellungen, νοήματα, ist hier nach metaphysischem, traditionellem Begriff ein Doppeltes gemeint: Einmal nennt es den ak1 Heidegger, Martin: Sein und Zeit, GA 2, 284 (214). Die Seitenangabe in Klammern bezieht sich auf die Einzelausgabe des Max Niemeyer Verlags, 11. Auflage.
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tiven Vollzug des Vorstellens, eine Handlung, die sich auf die Dinge richtet, und dann meint das Vorstellen zugleich das in der Vorstellung Vorgestellte. Es lässt sich im Sinne der traditionellen Definition der Wahrheit dreierlei voneinander abheben: 1. eine bewusstseinsimmanente Erkenntniseinheit, das Vorgestellte. 2. das subjektive Vorstellen oder Urteilen als ein psychischer Vorgang. 3. der bewusstseinstranszendente Gegenstand, auf den sich die Vorstellung letztlich richtet und dessen Bild das Vorgestellte sein soll. Die Wahrheit besteht nun in der Angleichung des in der Psyche vorgestellten Gegenstandes an den Gegenstand, der außerhalb des Bewusstseins liegt. Diese Definition der Wahrheit hält sich in der Geschichte der Philosophie von Aristoteles über Thomas von Aquin bis hin zu Kant durch und bleibt die selbstverständliche Voraussetzung aller Fragen nach der Wahrheit. Heidegger fragt in § 44 in Absetzung gegen die geschenkte Übereinstimmungsbeziehung nach ihrem seinsmäßigen Fundament, nach dem, was in ihr »unausdrücklich mitgesetzt« 2 ist. Die Frage nach dem Sinn dieser Übereinstimmungsbeziehung ist von der traditionellen Philosophie nur unklar beantwortet worden. So lässt sich ›Übereinstimmung‹ nicht durch ›Beziehung‹ ersetzen. Beide Ausdrücke meinen Unterschiedliches. Was in einer Beziehung zueinander steht, muss nicht miteinander übereinstimmen. Offenbar hilft auch die Erklärung der Übereinstimmung als gleichbedeutend mit ›convenientia‹, ›Übereinkunft‹ nicht weiter. Denn Übereinstimmung und Übereinkunft sind nicht einerlei. Die Übereinkunft ist eine Übereinstimmung mit Hinsicht auf etwas. So kommen etwa zwei Vertragspartner überein in Hinsicht auf ihren gemeinsamen Vertrag. Aber wer wollte behaupten, dass sie übereinstimmten? Es zeigt sich, dass die Seinsart der Übereinstimmung und damit die Seinsart der Wahrheit ungedacht bleiben. Dass aber eine fundamentalontologische Analyse das Wesen der Wahrheit in angemessenerer Weise fassen kann, ist bisher nichts als eine Behauptung. Die Unzulänglichkeit der traditionellen Wahrheitsdefinition haben wir kennengelernt; aber warum eine ontologische Analyse das Wesen der Wahrheit aufklären kann, bleibt noch dunkel. Die Loslösung der ontologischen Fragestellung von der Erkenntnistheorie und Logik, vom Neukantianismus und vom Psychologismus, ja von der gesamten philosophischen Tradition kann als Befrei2
GA 2, 285 (215).
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Die Frage nach dem Wahrsein zwischen Dasein und Bewusstsein
ung erfahren werden. Die Grenzen der überlieferten abendländischen Metaphysik erlauben in der notwendigen Eingeschränktheit ihrer Frage nach dem Seiendsein des Seienden keine hinreichende und ursprüngliche Erfassung der Seinsart der Wahrheit. Während die Erkenntnistheorie nach dem Vermögen der menschlichen Erkenntnis, dem Vorgang des Erkennens und nach dem im Erkennen erkannten Gegenstand fragt, bewegt sich die ontologische Fragestellung von vornherein im weiteren und ursprünglicheren Horizont der Frage nach dem Sein. Hier wird also nicht der Versuch unternommen, die traditionellen Wahrheitsbestimmungen durch andere und neue einfach zu ersetzen. Heidegger fragt vielmehr ontologisch nach der Berechtigung der überlieferten Wahrheitstheorie. Die Frage nach dem Wesen der Wahrheit fällt mit der Frage nach ihrer Seinsart zusammen. Und hier findet Heidegger einen ursprünglichen Charakter in der Vollzugsweise des entdeckenden Daseins, und zwar das Aufdecken dessen, was wesensmäßig nicht verdeckt, sondern aufgedeckt ist. Diese Vollzugsweise des Entdeckend-seins verweist uns auf eine der Haupt- und Grundphänomene der Heidegger’schen Philosophie, auf die Erschlossenheit. Erst im grundsätzlichen Zusammenhang mit dem Phänomen Erschlossenheit kann das Entdeckend-sein einer Entdecktheit angemessen verstanden werden. Das heißt zugleich, dass das Entdeckend-sein und die Erschlossenheit im Gesamtzusammenhang der ontologisch-existenzialen Analyse gesehen werden müssen. Obwohl Heidegger zunächst in scheinbarer Unabhängigkeit von der Gesamtthematik in Sein und Zeit das Phänomen ›Wahrsein‹ analysiert, darf dies nicht zur Annahme verleiten, das Wahrsein müsse gleichsam herausgelöst aus dem Gesamtrahmen der fundamentalontologischen Problematik verstanden werden. Die ›Isolierung‹ der Wahrheitsfrage im Gefüge der ontologischen Analytik gilt allein ihrem methodischen Neuansatz. Die Erschlossenheit ist die Grundverfassung des Daseins, die die Entdecktheit des innerweltlichen Seienden begründet. Das zu entdeckende Seiende hat von sich her nicht den Charakter der Entdecktheit. Die Entdecktheit gründet nicht im Seienden selbst, sondern in der Erschlossenheit des Daseins. Die Erschlossenheit und gleichursprünglich die Entdecktheit, in denen das Dasein existiert, sind für es in seiner Existenz aufgeschlossen. Mit der Erschlossenheit, die ihrerseits die Entdecktheit begründet, ist »das ursprünglichste Phänomen der Wahrheit erreicht.« (292 (220 f.)) 177 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
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Bei der Bestimmung des Wahrheitsbegriffs in den Logischen Untersuchungen Husserls stoßen wir auf eine Eigentümlichkeit, die uns bereits bei der Untersuchung der Wahrheit in Sein und Zeit begegnet ist. Das Phänomen Wahrheit wird zwar in beiden Werken eigens thematisiert 3 und hat dort einen bestimmten Ort. Die Analysen der Wahrheit stehen in beiden Schriften jeweils am Ende eines größeren Abschnitts; in Sein und Zeit am Ende der vorbereitenden Fundamentalanalyse, in den Logischen Untersuchungen an deren Ende. Dies kann jedoch nicht bedeuten, dass die Analyse der Wahrheit jeweils als eine Art Anhang gedacht wäre und nur noch in einem lockeren Verbund mit dem Werk selbst stünde. Vielmehr hat sie nicht nur formal äußerlich einen bestimmten Ort, sondern auch systematisch steht sie in beiden Schriften gesichert im Gefüge eines sie umgreifenden Ganzen. Dieses fest gefügte Ganze ist in dem einen Fall der 1. Abschnitt von Sein und Zeit, der die existenzial-ontologische Daseinsanalyse mit dem phänomenologischen Aufweis der das Dasein konstituierenden Existenzialien enthält, die wiederum Weisen der selbsthaften Erschlossenheit sind und das Phänomen der Wahrheit als Entdecktheit des Entdeckend-seins begründen. Die phänomenologische Sichtung und Hebung der Existenzialien erhalten ihre ursprüngliche Einheit im Strukturganzen der Sorge. Die Analyse der Wahrheit nimmt in Sein und Zeit nach dem Aufweis der Strukturmomente des Daseins nun, in § 44, gleichsam einen neuen Anlauf und kann auch ohne die Einbeziehung der existenzialen Gesamtstruktur zu einem vorläufigen Verständnis führen. In Husserls Logischen Untersuchungen dagegen entwickelt sich die Analyse der Wahrheit (in der VI. Logischen Untersuchung) erst schrittweise aus den vorangehenden Untersuchungen, insbesondere aus der I. und der V. Logischen Untersuchung. Ohne die Einbeziehung dieser beiden Logischen Untersuchungen bleibt Husserls Begriff der Wahrheit unverständlich. Deshalb wollen wir zur Klärung der Wahrheitsanalyse bei Husserl einen etwas anderen Weg einschlagen. Wir werden von Husserls Grundansatz bei der Intentionalität ausgehen, die Bedeutungsintentionen und ihre Erfüllungen einbeziehen, um das Wesen der Wahrheit schrittweise sichtbar zu machen. Dabei kommt uns eins zur HilHusserl, Edmund: Logische Untersuchungen. Mit einer Einführung und einem Namen- und Sachregister von Elisabeth Ströker, Hamburg 2009, darin: VI. Logische Untersuchung §§ 36–39; Martin Heidegger: Sein und Zeit, § 44.
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Die Frage nach dem Wahrsein zwischen Dasein und Bewusstsein
fe: Der VI. Logischen Untersuchung »Elemente einer phänomenologischen Aufklärung der Erkenntnis« hat Husserl eine kurze Einleitung vorangestellt 4, die in formal anzeigender Weise das in den vorangegangenen fünf Untersuchungen Erarbeitete knapp resümiert und einen Aufriss der noch in Frage stehenden Problematik gibt. Dabei werden die Ergebnisse der noch ausstehenden Untersuchung bereits vorweggenommen. Die Einleitung bietet also in kürzester Form die Ergebnisse der gesamten Untersuchungen zur Wahrheitsproblematik und öffnet uns zugleich die Möglichkeit eines Einstiegs. Das Denken und Erkennen überhaupt, das heißt in seiner philosophischen sowie vorphilosophischen, also wissenschaftlichen oder außerwissenschaftlichen Prägung, vollzieht sich in Bewegungen, die Husserl in der Klasse der »Akte« (1) zusammenschließt. Diese Akte drücken etwas aus und treten »im Zusammenhang der ausdrückenden Rede« (ebd.) auf. Die Denk- und Erkenntnisbewegungen sind Akte, die mit den Ausdrücken erscheinen. Zum Ausdruck gehört die Funktion der Kundgabe. So sind uns in kommunikativer Rede die Ausdrücke Anzeichen für die psychischen Erlebnisse des Anderen. 5 Teilt uns der Andere zum Beispiel eine Neuigkeit mit, so gilt uns seine Rede als Zeichen dafür, wie er selbst diese Neuigkeit erlebt. Am Ausdruck unterscheidet Husserl neben der Funktion der Kundgabe das physische Phänomen, ein konstituiertes Lautgebilde, das an mein Ohr dringt oder das ich etwa beim Lesen eines Buches wahrnehme. Die Akte verleihen dem Ausdruck seine Bedeutung und geben ihm (möglicherweise) anschauliche Fülle. Diese dem Ausdruck zugehörigen Erlebnisakte gestalten seine Beziehung auf eine Gegenständlichkeit. In den bedeutungsverleihenden und bedeutungserfüllenden Bewusstseinsakten konstituiert sich Gegenständliches. Das Gegenständliche erscheint im Bedeutungsakt etwa einer gegenwärtigenden Wahrnehmung als leibhaft präsentiert, so im Ausdruck: ›Vor mir steht ein Glas‹. Oder das Gegenständliche erscheint ohne die anschauliche, leibhafte Fülle der gegenwärtigenden Wahrnehmung. Dann ist es bloß vergegenwärtigt. So etwa in den Aussagen: ›Vorhin stand ein Glas auf dem Tisch‹ oder ›Das Glas steht hinter mir‹ oder ›Sogleich wird uns ein Glas serviert‹. Sowohl in der gegenwärtigenden Wahrnehmung als auch im vergegenwärtigenden Vorstellen hat der Ausdruck eine gegenständliche Bedeutung. 4 5
Bd. II, 2, 1–7. I. Logische Untersuchung, § 7, 33.
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Hat er keine realisierte Beziehung auf den Gegenstand, das heißt, ist der Gegenstand nicht originär wahrgenommen, so meint der Ausdruck dennoch Gegenständliches, er hat eine gegenständliche Bedeutung, auch ohne die anschauliche Fülle der Wahrnehmung. Die Beziehung des Ausdrucks auf den Gegenstand ist, je nach der anschaulichen Fülle, mehr oder weniger ›leer‹, das heißt ohne die vollkommene ›Anfüllung‹ durch bedeutungserfüllende Akte. Hat der Ausdruck gar keine anschauliche Fülle, so ist er dennoch durch einen bedeutungsverleihenden Akt auf den Gegenstand bezogen. Sein Gegenständliches ist bloß vermeinend intendiert. Dieser Grundunterscheidung der Erlebnisakte in anschauungsleere und anschauungserfüllte gemäß teilt Husserl die Bewusstseinsakte überhaupt in die bedeutungsverleihenden (Bedeutungsintentionen) und die bedeutungserfüllenden (Bedeutungserfüllungen) Akte ein. 6 Die Bedeutungsintention oder auch signitive Intention gehört zum Wesen des Ausdrucks selbst, ist sein phänomenologisches Charakteristikum 7. Dem Ausdruck eignet der intentionale Bezug auf Gegenständliches, gleich, ob dieser Gegenstand als tatsächlich existierender oder nur fiktiv gemeint ist, ob er originär wahrgenommen oder vergegenwärtigt erscheint. Die bedeutungserfüllenden Erlebnisakte, also diejenigen Akte, die eine leere Intention anschaulich erfüllen und so den Bezug des Ausdrucks auf Gegenständliches realisieren, gehören nicht wesenhaft zu den Akten, die das intentionale Wesen des Ausdrucks ausmachen. Der Ausdruck ›die Sonne scheint‹ meint den Gegenstand Sonne, ob dieser selbst beim Vollzug des Bedeutungserlebnisses erfüllt wahrgenommen wird oder nicht. Die Bedeutungserfüllungen sind also dem Ausdruck außerwesentlich. Zur Charakterisierung der unterschiedlichen Erfüllungsweisen der Intentionen führt Husserl die selbstgebende Erfüllung der Wahrnehmung an (56). In der Wahrnehmung erscheint der Gegenstand selbst und nicht bloß vergegenwärtigt, imaginativ oder signitiv, also in Akten, die den Gegenstand nicht in leibhafter Gegenwärtigung geben. Während die Akte der Imaginationen in der Synthesis der Ähnlichkeit Erfüllung finden, vollzieht sich im Wahrnehmungsakt eine Identifizierung von bloß signitiv Vermeintem und dem Selbstgebenden der Wahrnehmung. »Die Sache bestätigt sich durch sich ›selbst‹« (ebd.), nämlich dadurch, dass wir sie als eine und dieselbe 6 7
A. a. O., § 9, 37 f. A. a. O., § 10, 41.
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aus verschiedenen Blickwinkeln wahrnehmen. Die Wahrnehmung erfüllt sich »durch die Synthesis der sachlichen Identität« (ebd.). Der Gegenstand selbst in seiner leibhaften Gegenwärtigung wird nur unvollkommen vorgestellt und kann immer noch vollkommener, anschaulicher wahrgenommen werden. Erst »im idealen Grenzfalle der adäquaten Wahrnehmung« 8 des Gegenstands erfüllt sich die Behauptung, dass die Wahrnehmung den Gegenstand selbst gebe. In der adäquaten Wahrnehmung sind der rein empfundene Inhalt der Intention und der wahrgenommene Gegenstand eins. 9 Der Gegenstand ist in idealer Weise genau so gegeben, wie er gemeint ist. Die vielfachen gegenwärtigenden Wahrnehmungen, die den Gegenstand als ihn selbst, und zwar abgeschattet selbst geben, sind aber nicht losgelöst vom Ideal der Adäquation, sondern stehen in der Beziehung einer engen Zusammengehörigkeit zu ihm. Ob der Gegenstand von oben, unten, von nah oder fern usw. betrachtet wird, gegenwärtig ist in allen Fällen der subjektiven Wahrnehmung der Gegenstand selbst im Ideal seiner Bedeutung. Die Erfüllungssynthesen, in der Vielfalt ihrer Vollzugsweisen, die den Gegenstand ›Berg‹ in allen möglichen Abschattungen und Perspektiven geben können, intendieren ihn letztlich als ihn selbst in der idealen Fülle der Adäquation. Das kann nicht bedeuten, dass die Vorstellungsakte des Bewusstseins, nachdem sie den Gegenstand gegenwärtigend oder vergegenwärtigend vorgestellt haben, nun auch noch die ideale Einheit seiner Gegebenheit intendieren. Vielmehr ist der Gegenstand in den abschattenden Vorstellungen zugleich als ›ideal einer‹ gemeint. In den vielfach unterschiedenen Erfüllungssynthesen wird der Gegenstand, so wie er sich selbst zeigt, mit sich selbst identifiziert, und zwar im Sinne der vollkommenen Fülle der Adäquation. 10 Den Gegenstand selbst in selbstgebender Veranschaulichung bringt erst die Wahrnehmung zur Gegebenheit. Wieder gilt dies nur mit einer Einschränkung. Wenn Husserl (ebd.) sagt, die Wahrnehmung gebe den Gegenstand selbst, so heißt das wiederum nicht, dass der Gegenstand in der gegenwärtigenden Wahrnehmung endgültig und im absoluten Sinne der vollkommenen anschaulichen Fülle präsent sei. Selbst ist der Gegenstand nur gegeben im Rahmen der perA. a. O., § 14b, 57. A. a. O., 57 f. 10 A. a. O., 58. 8 9
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spektivischen Verkürzung und Abschattung. Aber: In der Wahrnehmung wird der Gegenstand dennoch auf einer vollkommeneren Stufe der anschaulichen Fülle vorgestellt als in der Vergegenwärtigung. Die Wahrnehmung, in der etwa die Stadt Paris leibhaft gegenwärtig ist, hat einen größeren Vollkommenheitsgrad der anschaulichen Fülle als die Vorstellung desselben Gegenstandes in der Wiedererinnerung. In der gegenwärtigenden Wahrnehmung ist der Gegenstand selbst anwesend, er erscheint gegenwärtig.
II.
Die erneute Problematisierung des Phänomens der Wahrheit bei Husserl und Heidegger
In der VI. Logischen Untersuchung definiert Husserl dann, was Wahrheit ist. Der Wahrheit, in dieser Weise erlebt, eignen die vier Wesensmerkmale der Gegenständlichkeit, Idealität, Fülle und Richtigkeit. Wenn wir uns die phänomenologische Aufklärung der Wahrheit in diesen wesenhaften Zusammenhängen knapp vor Augen führen, kann Heideggers Hinweis, den er in Sein und Zeit 11 gibt, auf den ersten Blick befremden. Denn zeigt sich in Husserls Aufweis der Wahrheit als dem Ideal der vollkommensten Identifizierung in der Vierfaltigkeit seiner Erscheinung nicht gerade die größtmögliche Kluft zu dem, was Heidegger das Entdeckend-sein der Entdecktheit nennt? Was gibt es da zu ›vergleichen‹ ? Denn zu einem Vergleich, der ein wie auch immer geartetes ›Gleiches‹ vermuten lässt, scheint uns Heideggers Anmerkung herauszufordern. Anders gefragt: Sperrt sich nicht die Verschiedenheit der Analysen, von denen die eine Wahrheit als endgültige Adäquation bestimmt, die andere hingegen diese traditionelle Formel der Übereinstimmung gar nicht positiv akzeptiert, geradezu gegen jede Art der Vergleichung? Sind das nicht Äpfel und/oder Birnen? Oder sind diese Fragen bereits falsch gestellt? Können wir nicht auch das Gegenteil annehmen und fragen, ob sich beide Analysen der Wahrheit überhaupt so grundsätzlich voneinander unterscheiden? Könnten wir uns durch Heideggers Hinweis auf die VI. Logische Untersuchung nicht dazu verleiten lassen, Husserls Untersuchungen und insbesondere die VI. als Quelle für die Wahrheitsanalyse bei Hei11
GA 2, 289 Fußnote (218 Fußnote).
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Die Frage nach dem Wahrsein zwischen Dasein und Bewusstsein
degger anzunehmen? Denn, ist das Entdecken und das bewusstseinsmäßige Identifizieren letztlich nicht ein und dasselbe? Wenn wir nicht geneigt sind, diesen schnellen Schluss zu ziehen, so liegt doch immerhin die Vermutung nahe, dass Heidegger diese VI. Logische Untersuchung für die ontologisch existenziale Analyse aufgenommen hat, dass er dabei zum Beispiel die Begrifflichkeit der von ihm gegebenen Sache angeglichen hat, ansonsten aber die bewusstseinsphänomenologischen Grundzüge unverändert in seine Wahrheitserörterung übernommen hat. Damit hätte er gewiss auch dem Wunsch Husserls entsprochen. Denn meinen nicht Husserls Rede von der totalen Selbstgegebenheit des vorher bloß gemeinten Gegenstands und Heideggers Rede vom gemeinten Seienden, das sich in Selbigkeit zeigt, nicht ein und denselben phänomenologischen Sachverhalt? Die Antwort lautet: Nein. Es geht also in den fundamentalontologischen Interpretationen in erster Linie nicht um eine konkrete und am Dasein orientierte Aufklärung und Auslegung des erkennenden Subjekts in der Fassung des Selbstbewusstseins. Die Hauptaufgabe einer Ontologie des Daseins ist vielmehr die fundamentale Freilegung des Sinnes von Sein überhaupt. Auf dem Boden dieser Problemstellung können das Wesen des Daseins und das uns besonders interessierende Wesen des Wahrseins überhaupt erst zu einem angemessenen Verständnis gelangen. Für die Bestimmung des Daseins ergibt sich ein Mehrfaches: Das Sein des Daseins ist die menschliche Existenz. Das Da des Daseins ist die Erschlossenheit für das Sein des Seienden überhaupt. Der Terminus Dasein meint nur Seiendes von der Seinsart des Menschen und nicht auch Seiendes von der Art des Zuhandenen und Vorhandenen, also nicht auch außermenschliches Sein. Im Begriff Dasein ist der Mensch nicht als ein Seiendes und nicht unter anderem, auch noch vorkommendem Seienden in den Blick genommen, also nicht in seinem Seiendsein bestimmt, sondern eigens in seiner Seinsverfassung phänomenologisch gesichtet. In der Erschlossenheit der menschlichen Existenz (und darüber hinaus des Seins überhaupt) ist eine wesenhafte Zusammengehörigkeit angesprochen, die ihren Grund im Dasein hat. 12 12 Vgl. von Herrmann, Fr.-W.: Subjekt und Dasein. Interpretationen zu ›Sein und Zeit‹ [1974], 2. Auflage 1985, Frankfurt am Main, 20, 23.
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III. Das doppelte Übersehen des Seins Der phänomenologische Aufweis der subjektiven Erkenntnis von Gegenständen erfasst diese immer nur als Seiende in ihrer Seiendheit. Die ontologische Differenz von Sein und Seiendem, in welcher erst der fundamentale, ursprüngliche Unterschied erhellt, geht ihr notwendig verloren. Dies aber kann nicht bedeuten, dass die seinsmäßigen Fundamente des Gegenstandsbewusstseins als ›verlorene‹ jederzeit bei Husserl wieder auffindbar wären. Sie sind vielmehr in zweifacher Hinsicht notwendig übersehen. Erstens hinsichtlich der Entdecktheit des Seienden. Die Weise, wie das Dasein sich zu Seiendem verhält, genauer, wie es sich im bewährenden Erkennen zum Seienden verhält, nennt Heidegger das Entdecken des Seienden in seinem Sein. 13 Das Seiende als der Gegenstand des daseinsmäßigen Entdeckend-seins ist das Entdecktsein, die Entdecktheit. 14 Die entdeckende Ausweisung von Seiendem ist nur dadurch möglich, dass sich das zu entdeckende Seiende bereits zeigt. So bedeutet Entdecken nicht etwa die Adäquation von vorgemeintem und selbst gegebenem Gegenstand des Bewusstseins, sondern die Ausweisung der Entdecktheit des sich zeigenden Seienden im Entdeckend-sein des Daseins. In der Bewährung zeigt sich das Seiende gerade so, wie es an ihm selbst ist. 15 Die Aussage ›das Bild an der Wand hängt schief‹, die wir (mit Husserl) als eine gegenwartserinnernde kennzeichnen können, weist sich dadurch aus, dass wir uns sozusagen ›vor das Bild stellen‹, das heißt, seiner ansichtig werden. Die leibhafte Wahrnehmung des Bildes an der Wand weist die Wahrheit der zuvor nur behaupteten Feststellung aus. Das Bild zeigt sich für das Entdeckend-sein des Daseins als ein entdecktes Seiendes in seiner Selbigkeit.
A. a. O., 289 (218). Nicht alles Entdecken ist ausdrücklich und stets bewährendes Entdecken von Wahrheit oder Falschheit. Nicht immer geht es dem Dasein um bewährendes, ausweisendes Entdecken. Das schlichte, aus der Erschlossenheit abgeleitete Entdecken kann im besorgenden Umgang ›einfach‹ beim Seienden sein, also etwa beim zuhandenen Notebook, ohne dass die thematische, nach Verifizierung oder Falsifizierung strebende Frage im Raum steht, ob dieses Notebook etwa schwarz ist oder dunkelblau. Damit ist nicht gesagt, das Entdecken hänge quasi in der Luft. Vielmehr ist es fundiert in der Erschlossenheit. Diese Differenzierung verdanke ich Dr. Jochen Schlüter anlässlich eines Gesprächs in Freiburg. 14 Heidegger, Martin: Sein und Zeit, GA 2, 292 (220). 15 A. a. O., 288 f. (218). 13
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Die Frage nach dem Wahrsein zwischen Dasein und Bewusstsein
Erst ein ontologisch angemessenes Verständnis des Daseins als Entdeckend-seins gewährt den Absprung in diejenige Verständigungsebene, von der aus das evidente Wahrnehmen des Bewusstseins verstanden werden muss. Die Entdecktheit des Seienden ist nicht ein in sich abgeschlossener Bereich des Seienden, der vom Dasein ›irgendwann einmal‹ entdeckt worden ist und deshalb als Entdecktsein gelten kann. Vielmehr gründet die Entdecktheit des Seienden ihrerseits im wesenhaften Grundcharakter des Daseins, der Erschlossenheit. 16 Entdecktheit und Erschlossenheit sind nicht zwei verschiedene Termini für ein und denselben Sachverhalt. Vielmehr ist die Entdecktheit des innerweltlichen Seienden, das den Charakter des nicht daseinsmäßigen Seienden hat, erst möglich auf Grund der Erschlossenheit als der fundamentalen Seinsverfassung des Daseins. Zweitens sind die Fundamente des Gegenstandsbewusstseins hinsichtlich der Erschlossenheit übersehen, in der das Sein des Daseins für es selbst aufgeschlossen ist und darüber hinaus das Sein des Seienden im Ganzen. Dasjenige, worin Bewusstsein und Gegenstand »spielen«, nämlich die Lichtung oder (in der Begrifflichkeit von Sein und Zeit) die Erschlossenheit, in der Anwesendes begegnet, wird »unterschlagen«. 17 Das Übersehen der Erschlossenheit des Daseins weist nicht auf eine Unvollständigkeit des bewusstseinsphänomenologischen Ansatzes hin, die ein rechtes Verständnis der Husserl’schen Wahrheitsanalyse erschwerte. Mit anderen Worten: Dieses Übersehen kennzeichnet nicht eine phänomenologische ›Lücke‹ in der Deskription der Wahrheit. Das Übersehen der Erschlossenheit des Daseins ist grundsätzlich anderer Natur und zu suchen in Husserls phänomenologischem Ansatz beim Selbstbewusstsein als Wahrnehmungsbewusstsein. Die ontologischen Fundamente des Wahrseins als evidenter Erfüllungssynthesis von gemeintem und selbst gegebenem Gegenstand können gar nicht innerhalb der Husserl’schen Analysen thematisch werden, da sie deren Grenzen überschreiten. Das seinsmäßige Phänomen des Wahrseins, das das Wahrsein des Wahrnehmungsbewusstseins fundamental begründet, kann nur Thema im Sinne einer fundamentalontologischen Untersuchung sein. Damit ist nicht gesagt, dass die phänomenologische Analyse der Wahrheit, ausgehend vom selbstbewussten Wahrnehmungs16 17
A. a. O., 292 (220). Heidegger, Martin / Fink, Eugen: Heraklit, Frankfurt am Main 1970, 204 (202 f.).
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bewusstsein, nicht in gewisser Weise einen Ort innerhalb der Fundamentalontologie haben kann. Dieser systematische Ort muss dort gesucht werden, wo Heidegger das selbsthafte Subjekt in seiner Auszeichnung als Bewusstsein ontologisch, wenn auch unthematisch, sieht. Die Frage nach dem Sein kann also nur im denkenden Abstoß von der Husserl’schen Phänomenologie weitergetrieben werden. In dieser Weise, das heißt unter dem Anspruch der Seinsfrage, ist Heideggers kritischer Abstoß zu verstehen. In seiner Anmerkung auf 289 (218) in Sein und Zeit dürfen wir also keine Aufforderung zum vergleichenden Gegenüberstellen sehen, die Gleiches und Ungleiches, Entsprechendes und Nichtentsprechendes herausstellen soll. Diese Art Vergleich würde sich im Rahmen einer formalen Untersuchung bewegen und dem Wesentlichen in beiden Aufweisen der Wahrheit nicht gerecht werden. Wir sehen vielmehr in diesem »vgl.« im weiteren Sinne den Hinweis auf die kritische Aufnahme und den Abstoß des bewusstseinsphänomenologischen Wahrseins. Das »vgl.« gibt dem Leser den Wink, diese kritische Rezeption denkend nachzuvollziehen. Doch es bleibt die Frage nach der Rezeption. Wie ist die Rezeption der Phänomenologie der Bewusstseinsakte und insbesondere des Wahrseins zu verstehen? Heideggers Seinsfrage und insbesondere seine Bestimmung des Wahrseins kennzeichnen ja nicht nur einen kritischen Abstoß von der Phänomenologie des Bewusstseins, sondern zugleich auch ihre kritische ›Aufnahme‹. Dass Aufnahme hier nicht gleichbedeutend mit bloßer Übernahme ist, braucht nicht mehr betont zu werden. Wir verstehen die Rezeption Heideggers vielmehr im Sinne einer kritischen Auseinandersetzung und kritischen Annahme der Husserl’schen Philosophie. Die kritische Rezeption Heideggers ist als Annahme und zugleich als grundsätzliche Verwandlung des Angenommenen zu verstehen. Diese grundsätzliche Verwandlung ist derart, dass sie das Angenommene aus seinen scheinbar gesicherten Fundamenten hebt und einer radikalen, seinsphänomenologischen Untersuchung unterwirft. Die Frage nach den ontologischen Fundamenten des traditionellen Wahrheitsbegriffs trifft den Husserl’schen Aufweis der Wahrheit unausdrücklich mit. Das so Angenommene und auf seine ontologischen Fundamente hin Befragte gewinnt in der ontologischen Verwandlung einen ursprünglicheren, abgesicherten neuen Boden. Das kritisch Angenommene erweist sich in einem gewissen Sinne 186 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
Die Frage nach dem Wahrsein zwischen Dasein und Bewusstsein
aber auch als möglicher Boden für die seinsphänomenologische Auslegung des Daseins als Wahrsein. Und dies nicht als ein möglicher unter mehreren anderen möglichen, sondern als der einzig ermöglichende Boden für Heideggers phänomenologische Untersuchungen. Diese Ermöglichung ist zu verstehen im Sinne einer der Heidegger’schen Fundamentalontologie zuvorlaufenden Vorarbeit Husserls. Erst gewisse grundlegende phänomenologische Einsichten der Logischen Untersuchungen wie die Intentionalität und die Neubestimmung der Evidenz ermöglichten die Entstehung der Ontologie in Sinne einer universellen Fragestellung nach dem Sein. Wir können nicht die umfassende Erörterung dessen geben, was Heidegger aus den Logischen Untersuchungen kritisch, das heißt in einer ontologischen Verwandlung aufgenommen hat, und beschränken uns auf wenige Aspekte, die uns im Zusammenhang mit der Wahrheitsproblematik als wichtig erscheinen. Die Analyse der Ausweisung eines Seienden als es selbst 18 hat eine gewisse formale Entsprechung in Husserls Idee von der Identifizierung des bloß Vermeinten mit dem selbstgegebenen Gegenstand. Heidegger analysiert die Ausweisung des Seienden in der Selbigkeit seiner Erscheinung sozusagen ›am Modell‹ der Husserl’schen Identifikation. Die wahre Aussage ›das Bild an der Wand hängt schief‹, die jemand mit dem Rücken zu diesem Bild macht, entspricht der Form nach dem, was Husserl ›Gegenwartsvergegenwärtigung‹ nennt. Der Gegenstand der Aussage wird nicht in einer leibhaften Wahrnehmung vorgestellt, sondern seine Wahrheit wird vielmehr in den Akten der Vergegenwärtigung zunächst bloß vermeint. In der Vergegenwärtigung ist der Gegenstand nicht selbst vorgegeben, sondern in mehr oder minder großer Anschaulichkeit vorgestellt. Die ›wahre Aussage‹ ist im strengen Sinne eine zunächst bloß vermeinte wahre Aussage. Dies entspricht der Form nach dem, was Heidegger hier meint. Die bloß als wahr vermeinte Aussage verifiziert sich dadurch, »daß der Aussagende sich umwendend das schiefhängende Bild an der Wand wahrnimmt«. 19 Die vermeinende wahre Aussage erfüllt sich dadurch, dass der Gegenstand originär wahrgenommen wird. Die leibhafte Wahrnehmung gibt den Gegenstand in einem Höchstmaß an anschaulicher Fülle. Er ist nicht mehr bloß intentional als wahrer vermeint, sondern zeigt sich im Ansichtigwerden seiner als er selbst. Im evidenten Iden18 19
Vgl. GA 2, 288 f. (217 f.). A. a. O., 288 (217).
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tifizierungsakt decken sich bloß vermeinter und selbstgegebener Gegenstand in einer aktuell erlebten Erfüllungseinheit. Was Heidegger die Ausweisung des Seienden im Entdeckendsein des Daseins nennt, ist in formaler Entsprechung nichts anderes als das, was bei Husserl die bewusstseinsmäßige Identifizierung von Gemeintem und Selbstgegebenem ist. In gewisser Weise nimmt Heidegger also formal Husserls Modell der Identifizierung auf. Allerdings spricht er nicht mehr im Sinne einer Phänomenologie der Bewusstseinserlebnisse vom aktuell erlebten Wahrsein in der Erfüllungssynthesis des wahrgenommenen Gegenstands. Das Wahrsein ist primär gar nicht die bewusst erlebte Übereinstimmung von Vermeintem und Selbstgegebenem. Als Wahrsein gilt vielmehr, und darin liegt der kritische Abstoß von Husserl, ursprünglicher das Entdeckend-sein des Daseins und letztlich die Erschlossenheit des Daseins selbst.
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Korrespondenz und »Mitsein« – eine Distanzeinschätzung
I.
Erscheinung, Schein und Phänomen oder: Epoché
»Wir weisen den Titel ›Phänomen‹ terminologisch der positiven und ursprünglichen Bedeutung von φαινόμενον zu und unterscheiden Phänomen von Schein als der privativen Modifikation von Phänomen. Was aber beide Termini ausdrücken, hat zunächst ganz und gar nichts zu tun mit dem, was man ›Erscheinung‹ oder gar ›bloße Erscheinung‹ nennt.« 1
Heideggers Disclaimer sind berühmt. Dass eine gedankliche Untersuchung nach den ersten Fragen des Hin- und Herwendens noch gar nicht begonnen habe, dass es bei einem Ausdruck nicht um das gehe, was im »landläufigen Sinne« darunter verstanden werde, dass dasjenige, was in Gestalt des »Geredes« auftauche, nur ein Scheinverstehen erzeuge, wobei doch eine »vorgängige Zueignung der Sache« noch gar nicht stattgefunden habe, 2 sind bekannte Wendungen, die einerseits das Verstehen in ein permanentes Zögern verwandeln und andererseits korrespondierend dazu auf eine vorgeblich gründlichere Ebene weisen, die es erst noch zu erreichen gilt. Dass das »Gerede« bzw. das vorschnelle Einordnen im »landläufigen Sinne« am eigentlichen Gestus des Denkens vorbeiläuft und ins bloße Systematisieren abgleitet, ist dabei nur die eine Seite dieser Hinweise. – Die auf Dauer gestellte Epoché! Im Falle des Phänomens konstatieren wir in der anfangs zitierten Stelle sogar eine Zweifachdistanzierung, die die griechische Bedeutung des Phänomens als das »sich an ihm selbst Zeigende« einer1 Heidegger, Martin, Sein und Zeit (1927). Niemeyer, 13. unveränd. Aufl. Tübingen 1976, 29. 2 »Das Gerede ist die Möglichkeit, alles zu verstehen ohne vorgängige Zueignung der Sache. Das Gerede behütet schon vor der Gefahr, bei einer solchen Zueignung zu scheitern. Das Gerede, das jeder aufraffen kann, entbindet nicht nur von der Aufgabe echten Verstehens, sondern bildet eine indifferente Verständlichkeit aus, der nichts mehr verschlossen ist.« Heidegger, Martin, Sein und Zeit a. a. O., 169.
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seits vom Schein abtrennt, also von einem Phänomen, das sich als ein anderes Phänomen zeigt und das weiterhin diesen Fall eines gewissermaßen maskierten Phänomens noch von der »bloßen Erscheinung« absondert, um die es beim Phänomen sowieso nicht gehe. Es soll nun nicht vertieft werden, was dem Denken des Einen das Phänomen nach allen vorauslagernden Vorbehalten überhaupt noch sein könnte. Stattdessen soll danach gefragt sein, auf welche Ebene Heidegger eigentlich rekurriert, wenn er seine Unterscheidungen, bzw. Abscheidungen trifft. Wenn im obigen Zitat vermerkt ist, dass das (Husserl’sche) Phänomen nicht einfach dasjenige ist, was wir als »landläufige« Bestimmung im Milieu des »Geredes« vor uns haben, sondern etwas, das allererst bestimmt werden muss und sich im fragenden Suchen schließlich zögernd zeige, dann stellt sich nämlich auch zwingend die Frage nach dem Auge, dem es sich nunmehr als solches zeigt, bzw. nach jenem Bewandtniszusammenhang, in welchem es das »sich an ihm selbst Zeigende« ist. Man könnte vorschnell – hier bedienen wir uns selbst der Heidegger’schen Methode – behaupten, hinter dem Phänomenbegriff stecke eine komplexe Wahrnehmungstheorie, ähnlich wie sie bereits bei Husserl thematisiert war. Wir können aber auch fragen, wo denn jenes Erste bzw. jener Zugriff auf das Urphänomen sei, das den Denker darüber belehrt, dass das vorschnell Klassifizierte oder Systematisierte nicht dasjenige sei, um das es gehe. Zugespitzt: Wenn Phänomene nicht das Erste sind, zu dem wir uns denkend verhalten, sondern das Zweite, weil wir sie ja schließlich aufgrund einer Basis von den maskierten Phänomenen und der bloßen Erscheinung absondern können müssen, dann müssen wir auch fragen, was diese Basis bzw. das Erste ist! Was haben wir, und wo stehen wir also, so fragen wir, wenn wir die Phänomene noch nicht haben, sie aber also solche zu bestimmen und von Schein und Maske zu unterscheiden suchen? Was betrifft uns, oder besser, in Korrespondenz wozu stehen wir, wenn wir versuchen sollten, jene berühmte »vorgängige Zueignung der Sache« tatsächlich zu erfahren oder zu erreichen? Gibt es etwas Fundamentaleres in unserem Sachbezug als die Veranschlagung des Phänomens? Haben wir etwas vor dem »sich an ihm selbst Zeigenden«, etwa ein Licht, ein Milieu, eine Stimmung oder Gestimmtheit, einen noch zu ermittelnden Bezug zum Atem der Dinge, in dem sie sich uns dann als solche zeigen? – Und nunmehr schon zu dem Zweck meines Vortrags hin weitergefragt: Gibt es eine Atmosphäre, in der uns die 190 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
Korrespondenz und »Mitsein« – eine Distanzeinschätzung
Phänomene als das wahre »an sich selber sich Zeigende« entgegentreten? Wo läge dieser außerphänomenologische oder auch protophänomenologische Zusammenhang? Vereinfacht – was wäre das Erste, wenn das Phänomen schon das Zweite ist?
II.
Atmosphäre und Korrespondenz
Auf der Suche nach dem logischen Ort vor dem Phänomen gäbe es die Möglichkeit, auf einen keineswegs vorsprachlichen, aber doch wohl stimmungs- oder gefühlsmäßigen Zusammenhang hinzuweisen, den wir im Atmosphärischen finden, also in der affektiven Betroffenheit durch Milieus und Umgebungen, so dass man sagen könnte: Wir leben vor allem sprachlichen Zugriff und vor allen Versuchen, das uns Unheimliche oder affektiv Bestimmende zu bannen, »im Atemkreis der Dinge«, ein Ausdruck, der die deutsche Übersetzung des griechischen Ausdrucks Atmosphäre versucht, der sich auch an die alltagssprachlichen Bestimmungen des Atmosphärischen anschließt, diese aber auszuweiten beabsichtigt. Atmosphären kennen wir. Wir benennen sie umgangssprachlich nach bestimmten Situationen, in denen sie uns bewusst werden – etwa die Atmosphäre eines Weihnachtsabends oder eines Bahnhofs oder einer Krönungszeremonie in Westminster. Wir benennen sie auch nach Gefühlen oder Erregungszuständen, sprechen von aufgeregter Atmosphäre usw. Wir würden sicher auch – ähnlich der Sprachentstehungstheorie Herders – darauf hinweisen können, dass bestimmte Atmosphären uns zu sprachlichen Äußerungen, aber auch zu Zeremonien, Ritualen usw. veranlassen, die als Versuch gedeutet werden können, das atmosphärische Geschehen zu bannen. Dieses Atmosphärische bzw. der Sachverhalt, dass wir im Atem der Dinge leben, wäre der Kandidat meiner Überlegungen zur Korrespondenz. Harald Seubert hat sie einmal als eine Art »Unterströmung« allen Philosophierens bezeichnet. Da die Philosophie im emphatischen Sinne an der Grenze von Sagbarem und Unsagbarem operiert und hier auch ihre wesentlichen Gegenstände konstituiert, möchte ich nicht widersprechen. Einen weiteren Hinweis erhält man in dem berühmten Beispiel vom Kerzenträumer Gaston Bachelards. 3 Dort ging es darum, dass wir den Raum um eine ange3 Bachelard, Gaston, La poétique de l’espace, Paris 1957. Deutsch: Poetik des Raumes, Frankfurt a. M. 1992.
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zündete Kerze herum gar nicht als Phänomen ansprechen dürften, weil wir ihn gewissermaßen nur »träumen«, d. h. abhängig von Erwartungen und Sinneseindrücken als Phänomen aufgrund von Anschein und damit einer privativen Modifizierung von Phänomenen konzipieren, so wie wir das nach Heidegger also gerade nicht tun dürften. Bachelard sprach damals von einer Art pulsierender Aufmerksamkeit zwischen Konzentration auf die Kerze und Raumentwurf, die nicht abschließbar sei und aus der wir das Phänomen eines uns bergenden Raumes nur extrapolierten. Im korrespondierenden Miteinander von Eindrücken, Denkmustern und einer Grundkonstellation – etwa dem ausdrücklichen Richtungswillen hin zum Einen bzw. der Befürchtung, sich unter den Gespenstern des Vielen zu verlieren – könnte also ein erster Zusammenhang gefunden sein, in dem sich Phänomene »an sich selber« zeigen. Dies scheint mir die fundamentale Ebene, auf die die zu Anfang zitierte Bemerkung aus Sein und Zeit hinweist und aus der Heidegger seine Abwehr gegen jede Art der »landläufigen«, dem »Gerede« entsprechenden oder geheimnislosen, technisch alltäglichen Systematisierung abwehrt als jenes, um das es gerade nicht geht. Es ist ein Bereich der Erscheinungen und des Scheins, der diffusen Eindrücke und Ahnungen, der kontemplativen Zusammenschau und der Gefühle, die man poetisch als Atem der Dinge bezeichnen könnte, die man aber nun dadurch fassbarer machen kann, indem man die Muster ihres Zusammenwirkens versuchsweise beschreibt. Man sagt, wer Angst hat, sieht die Dinge vergröbert, und wer sich im heiligen Atem eines Domes befindet, sieht sie ehrfurchtsvoll. Das sind Erfahrungen. Interessant aber wäre, welche Korrespondenzen zur Angst geführt haben oder welche Zusammenhänge und Zusammenspiele in jenem Dom zur Erzeugung der Atmosphäre des »Heiligen« führen und was der Ängstliche oder Ehrfürchtige meint, von woher er »das sich an ihm selbst Zeigende« bestimmen zu können glaubt. Ich nenne solche Zusammenhänge Korrespondenzen, und im Ganzen auch den Strom der Korrespondenzen, in dem wir als Wesen des Zusammenseins mit uns selbst und den Dingen zunächst einmal leben, ein Strom, gegen den wir uns denkend behaupten, indem wir Dinge oder Orte benennen, ein »Subjekt« schaffen und dessen »Objekte«, wo wir Phänomene, deren Beziehungen und Begriffe ins Verhältnis setzen und somit Inseln des Verstehens herstellen, wie auch Inseln technischer Art, auf denen wir uns dann behaupten. – Dass sich im Atem der Dinge uns etwas zeigt und auch benannt wird, wäre der Beginn des Denkens. 192 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
Korrespondenz und »Mitsein« – eine Distanzeinschätzung
Etwaige Systematisierungen sind sekundär. Und ein zweiter Schritt wäre dann, darüber nachzudenken, dass das »an sich selber« des Phänomens gar keinem »Subjekt-Objekt«-Verhältnis entspricht, sondern eher einem Rhythmus im Zusammenhang wirkender Korrespondenzen, aus dem uns die Hinweise auf die Phänomene entgegenkommen. 4
III. Korrespondenzdenken Wollte man ein äußerliches Motiv bestimmen, zu einem vom Korrespondenzbegriff bestimmten Denken zu kommen, so könnte man von der Notwendigkeit eines Brückenbaus zwischen zwei sehr unterschiedlichen Denkstilen des 20. Jahrhunderts ausgehen, die bis heute hoch einflussreich, aber kaum miteinander versöhnt sind. Auf der einen Seite steht der von Habermas in Deutschland inaugurierte Stil des Diskursiven mit seinem von Hegel herrührenden politischen Anspruch und dem damit verbundenen, aus der Informationstheorie der vierziger Jahre hergeleiteten Modell von Sender, Empfänger und einer »Message«, die ja mittlerweile als permanente Diskurs- und Prozessorganisation zum »Projekt der Moderne« deklariert ist und vor allem in der Politik immer noch breite Akzeptanz findet. Man könnte hier metaphorisch von einer Art Dombau der Vernunft sprechen, an dem sich alle beteiligen – etwa nach Maßgabe des herrschaftsfreien Diskurses einer kreativen Demokratie vom philosophischen Seminar bis zum Weltsicherheitsrat. Dem Diskursdenken und den damit verbundenen Stilen der Systemrationalität gegenüber steht – ein wenig altertümlich anmutend, aber doch erstaunlich wehrhaft – Heideggers alte Schwarzwaldhütte bzw. die emphatische Auffassung vom Denken als einem Weg zur Aisthesis, mit den wichtigen methodischen Ausdrücken Entbergung und Seinserfahrung, womit schon gesagt ist, dass man das Wichtige nicht besprechen kann, sondern erfahren muss und daher eben auch nicht diskursiv organisieren kann. Man übertreibt kaum, wenn man sagt, die letzten zwei Generationen des philosophischen Nachdenkens – auch der »Postmoderne« – spielten sich im Streit zwischen der Diskursphilosophie und ihren analytischen Stilen einerseits und den 4 Ausgeführt sind diese Überlegungen in meinem Buch Der Atemkreis der Dinge – Einübung in die Philosophie der Korrespondenz, Freiburg, München 2017.
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mit der Kunst verbündeten offenen oder geheimen Jüngern Heideggers ab. Beide Seiten machten sich dabei typische Vorwürfe, die bis heute die Atmosphäre bestimmen. So wird den Adepten Heideggers gern eine Art ontologischer Tiefenrausch vorgeworfen, eine Sehnsucht nach dem Sein des Seienden, dessen Vergessen im »Ge-stell« der institutionalisierten Diskurse gewissermaßen vorprogrammiert sei, weswegen sich das Bemühen philosophischen Sprechens im Verbund mit der Kunst (möglichst Hölderlin) und im Hören auf die Sprache bewegen sollte, statt sich im »Gerede« der Kongresse zu verlieren. 5 Habermas wird von seinen Gegnern dafür eine Art diskursiver Höhenrausch attestiert, ein fragwürdiger Glaube an die politische Steuerbarkeit immer abstrakter sich türmender Dialogforen und deren Tagungsmaschinerie nach dem Motto: Platons Konferenzen arbeiten langsam, aber gerecht. Selbst die »Kunst« werde in solch einer Welt zum Diskurs bzw. als sozial nützliche Tätigkeit systemtheoretisch vereinnahmt. Die Liebe depraviere zum Dialog zwischen einem Ich und einem Du 6, die Demokratie verkommt zur Konferenztaktik mit medialer Außenfassade, und so weiter und so fort. Die geheime Überzeugung der Kommunikationstheoretiker scheint aus dieser Perspektive zu lauten: Das »Gespräch, das wir sind«, lässt sich organisieren, der Rest ist elitäre Wortklauberei oder eben Dichtung. Man wird vergeblich versuchen, diese Positionen und ihre Derivate durch Abschwächung der Vorwürfe oder Verwischen ihrer Hauptdifferenz anzunähern. Sicher wird man der Kommunikationstheorie und ihren Anhängern keine pauschale Geringschätzung oder platte Vereinnahmung der Kunst vorwerfen können, und auf der anderen Seite hat sich – zumindest offiziell – Heidegger nach der Kehre auch von der Metaphysik verabschiedet, die er, wie es schon in den Nietzsche-Vorlesungen von 1941 hieß, »verwinden« wollte. Doch wirken beide Konzessionen nicht glaubwürdig. Der emphatische Begriff des Denkens, das institutionalisierte Zögern, der Verhalt und das Sichoffenhalten für die Offenbarung des Sinns von Sein bleibt bei den Heidegger-Anhängern der dominierende Gestus. Anders aus5 Heidegger, Martin, Der Ursprung des Kunstwerkes, 1935; vgl. etwa den Begriff der Lichtung und die Auffassung von Schaffen, Verbergen, Verstellen und Ins-Werk-setzen der Wahrheit. 6 Bezeichnenderweise gibt es in der Habermastradition genau ein solches Buch. Vgl. Angelika Krebs, Zwischen Ich und Du – eine dialogische Philosophie der Liebe. Frankfurt a. M. 2015.
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Korrespondenz und »Mitsein« – eine Distanzeinschätzung
gedrückt, es herrscht das enge Verhältnis von Aletheia und Epoché. Die Erben Habermas’ und Luhmanns verwandeln derweil tendenziell alles in Gremienarbeit mit anschließenden telephonbuchstarken Berichten, wobei die umstandslose Identifikation des immer technischer werdenden Tagungsbetriebs mit »Demokratie« nicht unproblematisch ist. Habermas selber bekannte sich ansonsten zu Max Webers Diktum, dass er »religiös unmusikalisch« sei, ein Sachverhalt, den man auf den herrschenden Gestus der Kunst wird übertragen dürfen, denn Religion und Kunst, bzw. deren Priester und Tempel, ähneln sich nicht nur strukturell. Künden oder »bedeuten« wird sich also der Kommunikationstechniker kaum etwas lassen und Heideggers legendäre »Verwindung der Metaphysik« dürfte wohl eher eine der Lebenslügen der Ontologie sein. Im Wesentlichen lauschen wir hier doch nach wie vor auf das niemals ganz zu sich kommende bzw. sich nur zögernd entbergende Sein, welches nur Taoisten kein Problem ist, und tatsächlich spiegelt sich hier auch manches Östliche, etwa in dem Buch »Abwesen« von Byung-Chul Han, 7 der dann auch den deutlichsten Satz elitärer Herablassung gegenüber der Gegenseite ausspricht, wenn er als erklärter Heideggerschüler zum Diskursparadigma konstatiert: »Das Additive, das den kommunikativen Lärm erzeugt, ist nicht die Gangart des Geistes«. 8 Die »Gangart des Geistes« einerseits und der »kommunikative Lärm« andererseits, die schwer und fast nie zu erreichende Einsicht, für die man sich abwartend offen halten muss, auf der einen und die tumbe Herrschaft der Konferenzen auf der anderen Seite, die wenigen wertvollen Blätter edler Jahresgaben der Heidegger-Gesellschaft, die den Nachlass unter Verschluss hält, um ihn nicht vorschnell dem Gerede preiszugeben, auf der einen und die kaum lesbaren Berichtbände tausender Konferenzen auf der anderen, der Gang mit dem Denker auf dem Feldweg in den Momenten der tiefen Einkehr und das Geplapper der Übersetzungskopfhörer im Meer des internationalen Geschwätzes, das sind wahrhaftig schon atmosphärisch kaum zu überbrückende Gegensätze. Eine Philosophie, die sich als Korrespondenzdenken bestimmt, müsste aber selbst hier nicht von der Differenz, sondern eben tatsächlich vom Gedanken einer möglichen Korrespondenz ausgehen, also 7 8
Han, Byung-Chul, Abwesen, Berlin 2007. Ders.: Im Schwarm, Ansichten des Digitalen, Berlin 2013.
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eines Miteinanders am Selben, und dieses ist sehr wohl greifbar: So fundamental sich Heideggers Denken und das systemtheoretische Diskursmodell nämlich unterscheiden, so ähneln sie sich doch in einer anderen Hinsicht ganz erstaunlich, insofern sich, sowohl für den Weltprozess der Kommunikation und seine Institutionen, wie auch für das sich entbergende »Seinsgeschick« zunächst einmal eine fundamentale Distanz zwischen Denkbemühung und Ziel bzw. Erkenntnisgegenstand und Erreichen desselben auftut. Wir fühlen uns in beiden Fällen prinzipiell völlig abgeschlagen angesichts der Aufgabe, die sich vor uns türmt, und zwar sowohl in den institutionellen Verstrebungen des diskursiven Politik-Domes wie auch angesichts des permanent sich bedeutsam vorwärtsfragenden Denkens Heideggers, das bestenfalls zentimeterweit auf einem endlosen Weg vorwärts kommt, und das heißt eben – gar nicht, denn wenn es Heidegger auf etwas ankommt, dann sicher nicht auf das Vorwärts, sondern eher schon auf dessen Gegenteil – die Rückbindung des Gedankens an jenen anfangs erwähnten »Atem der Dinge«, der unser In-der-Welt-sein prinzipiell bestimmt und dessen Extrapolationen und Kristallisationen falsch verstanden werden, sollten wir sie positivistisch als Fortschritt missdeuten in einem Prozess, in dem die Gefahr einer Abkehr vom Wesentlichen bzw. einer Entfremdung auch voneinander immer größer wird. Die Kommunikationstheoretiker würden den elitären Stilen der Selbstdenker mit Weltperspektive süffisant entgegenhalten, dass der »Philosoph« im emphatischen Sinne des Wortes sowieso erledigt sei, eine zeitabgewandte Figur des idyllischen Subjektivismus, der selbstverliebt an irgendeinem Randgebiet der Milchstraße der Diskurse vergeblich nach halkyonischer Höhe sucht und diese bestenfalls imaginiert oder vermessen für einige Anhänger seiner Terminologie organisiert, während der große Diskurs der politisch verfassten Menschheit für ihn doch bestenfalls noch eine Arbeitsstelle bereithält – als Universitätsbeamter oder künstlerischer Sozialarbeiter. Wir – mehr oder weniger Zwangserben Heideggers und Diskursbewohner zugleich, fast ahnten wir es – werden gar nicht mehr alt genug, um jemals die Horizonte zu erblicken, vor denen sich das Land des Verstehens und Entbergens bzw. die demokratische Weltgesellschaft entfaltet. »Nähern« mögen wir uns – gewiss, aber doch wohl eher wie Moses dem gelobten Land, also ohne es zu betreten und in einem »stets vergeblichen« Begreifen, das zugleich das »Begreifen der Vergeblichkeit« ist und sich uns gerade in den Näherungen »ganz 196 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
Korrespondenz und »Mitsein« – eine Distanzeinschätzung
besonders entschieden« entzieht. Wer kennt diese Wendungen Heideggers nicht, die aus dem Denken eine Art andachtsvolles Innehalten machen! Dass dies im Ganzen an jenen Prozess erinnert, den Elias Canetti in seinem Buch »Masse und Macht« im Hinblick auf die Geschichte der römisch-katholischen Kirche beschreibt, also jenen Prozess, in dessen Gang eine Priesterschaft das Jüngste Gericht, Erlösung und den Trost des Ankommens im Paradies immer weiter ins Unendliche verschob, um die Zwischenzeit mit den Ritualen der Macht zu füllen, sei am Rande bemerkt. 9 Parsons, Luhmann und Habermas als ewige Revolutionäre einer zweckrational sich »vorwärts« bewegenden Weltgesellschaft, die das Projekt der Moderne in verbeamtete Konferenzrituale vorwärtstreiben, bis es an seinen Vor- und Rücksichten scheitert und die geschaffenen Zusammenhänge wieder auseinanderbrechen, auf der einen Seite, und auf der anderen Seite Heidegger als ewiger Messdiener, dem sich das Sein im Sinne von Aletheia und Lichtung gerade in der Bemühung entzieht, während sich der priesterliche Gestus seiner Adepten über den »kommunikativen Lärm« erhebt – wären diese beiden »Fälle« am Ende nicht ein wirklich sehr gut korrespondierendes Paar für eine resümierende Betrachtung der Philosophie des 20. Jahrhunderts? Die Situation zweier Perspektiven, die unterschiedlicher nicht gedacht werden können und mehr als gelegentlich in Gegnerschaft münden, haben also etwas Wichtiges gemeinsam und reizen nun zum Entwurf einer Perspektive, die ihren Gegenstand in einem gewissen Sinne immer schon erreicht hat, eine Sicht der Dinge, die ich vorschlage »Korrespondenzdenken« zu nennen und die ich zum Abschluss skizzieren möchte.
IV. Die Perspektive der Korrespondenz 1. Sprachhistorisch hat Korrespondenz ihre Wurzeln im lateinischen respondere, was antworten heißt (responsum). Das Responsorium ist der Antwortgesang in einer katholischen Messe. Co-respondere ist das gemeinschaftliche Zusammenwirken zur Erwiderung einer Anklage, etwa durch Zeugensammlung im Prozess, aber auch im Briefwechsel (correspondentia), womit das Hin- und Herschreiben 9
Canetti, Elias, Masse und Macht, 1960.
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gemeint ist, allerdings auch der dadurch zustande kommende Gedankenkorpus, den man im Unterschied zur Briefsammlung (etwa Plinius’ Villenbriefe) als »Briefwechsel« veröffentlichen kann. 2. Logisch ist Korrespondenz vor allem in der Scholastik der Gegenbegriff zur Differenz und markiert Übereinstimmung in einem größeren Zusammenhang, etwa mit der Heiligen Schrift, im Unterschied zur Differenz, die Nichtübereinstimmung bzw. Unterschied bedeutet. Korrespondierende Beziehungen haben die gleiche Ausrichtung bzw. denselben gemeinsamen Zweck, sie sind sich aber nicht einfach ähnlich, sie führen vielmehr miteinander zu einem neuen Erkenntnis- oder Bewandtniszusammenhang. 3. In einem sozialwissenschaftlichen Sinne entsteht durch Korrespondenz, etwa Geschäfts- oder Vertragskorrespondenz, ein Geschäft oder durch den Austausch von Gesellschaftsklatsch, Argumenten und Rezensionen in den »Korrespondenzblättern« (den Vorläufern der Zeitschriften) jene berühmte »Öffentlichkeit«, von deren Niedergang heute angesichts der social Apps im Internet gelegentlich die Rede ist. Die »Presse«, etwa die Korrespondenzdrucke Walpoles im England des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts waren in dieser Hinsicht Entwicklungsschritte eines Milieus, das nicht einfach vorgegeben oder institutionalisiert war, sondern durch permanente Korrespondenz einer gewissen intellektuellen Schicht aufrechterhalten wurde, wie dies Habermas im »Strukturwandel der Öffentlichkeit« beschreibt. Inwieweit diese »Öffentlichkeit« durch die »Responsivität« der neuen digitalen Medien tatsächlich schwindet oder sich einfach nur radikal umgestaltet, ist eine Frage, die man noch genauer untersuchen könnte. 10 4. Auf den anthropologischen Sinn des Korrespondenzbegriffs wies erst kürzlich wieder der Anthropologe Tim Ingold in seinem Aufsatz »On human correspondence« hin. 11 Schon dass wir uns gelegentlich unwillkürlich an der Hand nehmen, wie auch viele andere Aspekte korrespondierenden Mitseins in Sport, Arbeit, Kampf usw., zeige auf ein prinzipiell viel zu wenig beachtetes Muster immer wieVgl. die Abschnitte »Heideggers Hirte« und »Korrespondenztechnik« in Knodt, Reinhard: Der Atemkreis der Dinge, a. a. O. 11 Ingold, Tim: On human correspondence //Journal of the Royal Anthropological Institute, VL. 23 2017; 9–27; http://dx.doi.org/10.1111/1467–9655.12541. Ingold bezieht sich hier vor allem auf Marcel Mauss’ Schrift: »Die Gabe«, in der das Handgeben, Geschenkeaustauschen und andere responsive Akte beschrieben werden, erweitert die Angelegenheit aber auch ins Prinzipielle. 10
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Korrespondenz und »Mitsein« – eine Distanzeinschätzung
der hergestellter Gleichklänge, die nicht einfach durch Diskurs, Wissensweitergabe oder Erfahrung zustande kommen, sondern Vorgänge unseres situativen Miteinanders beinhalten. Ingold unterscheidet die Korrespondenzen der »Gewohnheit« (habit), etwa der rituellen Feste oder des im Austausch mit der Natur sich ergebenden Gleichklangs der Arbeit, von den Korrespondenzen situativer Aktionsgebundenheit, in der es »kein Ich und kein Du« mehr gibt (»agencing« 12), etwa in einem gemeinsamen Kampf, und markiert schließlich die Korrespondenzen aufgrund angeborenen Sinns für Aufmerksamkeit aufeinander (»attentionality«), die zur ständigen Angleichung an Wortwahl, Perspektive, Attitude, Stimmung, Gestik führt. 13 5. Die Korrespondenzen im Sinne eines ästhetischen Denkens habe ich bereits 1994 relativ ausführlich behandelt und auch am Atmosphärenbegriff exemplifiziert. 14 Es sind vor allem Beziehungen innerhalb des Kunstbereichs, die Frage der Resonanz eines Autors oder der Wirkung eines Bildes, im Ganzen auch des empfundenen »Anspruchs« eines Kunstwerkes oder einer architektonischen Situation, der Erfahrung von Stimmung, Fragen des Miteinanders im Fall der Musik, des Tanzes und ihrer aufeinander bezogenen Medien. 6. Unter Einbeziehung all dieser Korrespondenzbegriffe kann man nun versuchen, zu einem allgemein philosophischen Sinn des Korrespondenzdenkens als einer Strategie zu kommen, nämlich als eine generell auf Gemeinsamkeit und die Analyse von Korrespondenzvorgängen hin sensibilisierte Betrachtungsweise der unterschiedlichsten Phänomene unter dem Gesichtspunkt des Mitseins bzw. Zusammenseins. Ich bin mir bewusst, dass Heideggers Disclaimertechnik hier sofort intervenieren würde und das banale, soziologisch anmutende Zusammensein vom Mitsein als einem ganz ande»In the correspondence of agencing, then, there are no volitional subjects, no ›I‹s or ›you‹s to place before any action.« Weiter unten führt er aus, dass es hier um eine Art von Handeln gehe, in dem der Handelnde in der Situation aufgehe, wie etwa ein Schwimmer im Strom, der im Kampf gegen die Strömung kein rechtes oder linkes Ufer mehr sieht. Vgl. Tim Ingold, a. a. O. 13 »I aim to show that such correspondence rests on three essential principles. The first is habit, the second what I shall call ›agencing‹, and the third attentionality. The theory of correspondence I propose here is not new. It was already adumbrated a century ago in the writings of the pragmatist philosopher and theorist of education John Dewey. For Dewey it was axiomatic that for life to carry on, it must be lived with others.« Vgl. Tim Ingold, a. a. O. 14 Knodt, Reinhard: Ästhetische Korrespondenzen – Denken im technischen Raum, RUB 8986, Stuttgart 1994. 12
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Reinhard Knodt
ren Bereich trennt, doch würde ich mich wahrscheinlich mit Erfolg darauf zurückziehen können, dass Zusammensein im Sinne des Korrespondenzdenkens eben als Mitsein verstanden werden müsse. Ob solche Formen des Zusammenseins (als Mitsein) dann »Öffentlichkeit« heißen oder »Mall«, ob es dabei um Kunst oder Liebe, Religion, Architektur, das limbische System oder das Internet als Milieu geht, immer wird der Sinn von Zusammensein im Zentrum stehen. Es wird dabei vermutungsweise auch immer wieder um den Begriff der Atmosphäre gehen, allerdings nicht mehr als gestimmtem Raum, wie das Bollnow, Ströker und Gernot Böhme veranschlagen, sondern als Korrespondenz-Geschehen in der Zeit, womit das Atmosphärische wesentlich umfassender wird als bisher bearbeitet. Als »Geschehen« (und nicht als Raum) reicht Atmosphäre von den Situationen des schlichten Beieinanderseins bis zu einem Geschäft und vom Miteinander im freundschaftlichen Gespräch bis zum Gebet, das durch Korrespondenz im sprachlichen oder rituellen Feld einen Gott bzw. einen prinzipiellen Bereich des Heiligen herstellen will, aber auch einer Meditation, der gemeinsamen Pflege eines Haushalts oder Gartens, des Musizierens, des einfachen Gehens bis hin zum permanenten Austausch von Mails oder Bildern im Internetverkehr, was ja das Atmosphärische unseres Zusammenseins schon länger über das Mobiltelefon bestimmt. Es sind jene Vorgänge, bei denen wir zu irgendeinem Zweck und in irgendeinem Sinne zusammen sind und zusammen gleichzeitig am Milieu dieses Zusammenseins bauen. Mitsein. Wir sind nicht Einzelne, die jetzt und hier beschließen, eine Botschaft zu senden, die der andere verstehen oder nicht verstehen kann, und wir sind auch nicht im Sein gefangen. Wir sind vielmehr – dazwischen! In einem gemeinsamen Milieu der korrespondierenden Gesten, die unsere Botschaften – atmosphärisch – präformiert und in vielen Fällen auch (von der Atmosphäre zum Gedanken) geradezu zwingend leitet. 7. Korrespondenzen können allerkleinste psychische Einheiten sein, die so fragil sind, dass eine Kleinigkeit – ein falscher Blick, ein Geräusch – die Dynamik des Miteinanders stört. Andererseits sind sie oft auch von geradezu archaischer Robustheit und gesetzmäßiger Wiederkehr, wenn wir an die anthropologischen Konstanten unserer Situation als Lebewesen denken. Es sind Beziehungen, die einen flüssigen, unbestimmten Teil haben und einen festen, die zwar unendliche Varianten haben, aber zugleich auch einfache Grundmuster, so wie etwa Tangotänzer nie aufhören, sich gegenseitig zu neuem Ein200 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
Korrespondenz und »Mitsein« – eine Distanzeinschätzung
satz zu reizen, und dabei eine erstaunliche Dynamik und Vielfalt entwickeln, obwohl sie zugleich mit einem sehr einfachen Grundmuster auskommen. Korrespondenz kann nicht beschlossen oder erfahren werden, und sie ist auch nicht »informations«-abhängig. Sie besteht vielmehr wie eine archaische Freundschaft mit den Dingen und Menschen, in deren Atem wir verkehren und mit denen wir zusammen sind. Sie kommt in der Kunst zur situativen Erscheinung, sie muss gelebt und geübt werden, die diesbezügliche Übung mag ebenso ewig und unendlich ausufernd sein wie die beschriebenen Prozesse der Systemtheorie oder Heideggers, aber sie ist Übung, also praktisch und nicht nur verbal oder Schrift, und damit ist sie wesentlich mehr als bloß Wissenschaft oder Erkenntnis, und wenn »Erkenntnis«, dann eine andere als die einer Wissenschaft. Zu ihr gehören die Kunst, die Medien und die Liebe, die naturwissenschaftlich rekonstruierbaren Vorgänge im limbischen System und in der Quantenphysik wie auch die ganz einfachen Milieus unseres Zusammenseins.
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Reinhard Mehring
Heideggers Publikationspolitik bis 1937 und das »sogenannte Buch« Sein und Zeit
Vorbemerkung Heidegger bezeichnete seine Schriften immer wieder als »Wege«. »Wege, nicht Werke«, lautet bekanntlich der Leitspruch der Gesamtausgabe. Ernst Jünger aber schickte 1974 gute Wünsche »für das opus magnum, das nun beginnt«: 1 für die Gesamtausgabe. In der jüngsten Heidegger-Kontroverse sehe ich meine Aufgabe nicht zuletzt im Verweis auf das Desiderat einer Analyse der Gesamtausgabe als Buch der Bücher oder eigentliches Hauptwerk Heideggers. 2 Dabei vertrete ich eine Frühdatierung der ersten Überlegungen zur editorischen Überlieferung des Gesamtwerks, die ich mit den späten 1930er Jahren und den Nietzsche- und Hölderlin-Interpretationen ansetze. Diesen eingehenderen Analysen der späten Publikationspolitik stelle ich hier nun eine kürze Betrachtung der frühen Publikationspolitik zur Seite, die ihrerseits erstaunliche und seltene Eigentümlichkeiten aufweist: Heidegger publizierte nämlich bis 1933 nur sehr zögerlich und nahm für das Patchwork von Sein und Zeit keinen starken Werkbegriff in Anspruch. Am 24. September 1928 schrieb er dazu bereits an Karl Jaspers: »Ich denke schon gar nicht mehr daran, dass ich vor kurzem ein sogenanntes Buch publiziert habe – nur gelegentlich werde ich durch ›Rezensionen‹ daran erinnert.« 3 Die Rede von einem ersten oder zweiten »Hauptwerk« ist in der Ernst Jünger am 4. Oktober 1974 an Heidegger, in: Ernst Jünger / Martin Heidegger. Briefe 1949–1975, Stuttgart / Frankfurt 2008, 90. 2 Dazu vgl. Reinhard Mehring, Heideggers Überlieferungsgeschick. Eine dionysische Selbstinszenierung, Würzburg 1992; Heideggers ›große Politik‹. Die semantische Revolution der Gesamtausgabe, Tübingen 2016; Martin Heidegger und die Konservative Revolution, Freiburg 2018; im zuletzt genannten Buch findet sich eine andere und längere Fassung dieses Vortrages. Die Vorbemerkung wurde hier ergänzt. 3 Heidegger am 24. September 1928 an Karl Jaspers, in: Martin Heidegger / Karl Jaspers. Briefwechsel 1920–1963, Frankfurt / München 1990, 103. 1
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Heideggers Publikationspolitik bis 1937 und Sein und Zeit
Heidegger-Forschung zwar geläufig; Heideggers Vorbehalte gegen eine solche Rede werden aber oft vernachlässigt. Dabei hat Heidegger seinen Werkbegriff in seinen Vorträgen Der Ursprung des Kunstwerks breit entwickelt; diesen Ausführungen folgend ließe sich vermuten, dass es gerade der starke Konnex von »Werk und Wahrheit« war, der Heidegger die Rede von philosophischen Werken meiden ließ, um den Werkbegriff für »Kunstwerke« zu reservieren. Heideggers Vorbehalte gegen die Bezeichnung fachphilosophischer Publikationen als »Werke« resultierten demnach keineswegs aus einer unterreflektierten Indifferenz, sondern vielmehr im Gegenteil aus einem hohen Interesse und starken Begriff vom Werk. Die Explikation des Werkbegriffs fällt dabei mit den Kunstwerk-Vorträgen gerade in die Zeit der Kehre und Umbesinnung auch in der Publikationspolitik. Das soll hier aber nicht weiter erörtert werden. Der folgende Text gliedert sich nach einleitenden Bemerkungen in zwei Hauptteile. Zunächst wird die Publikationspolitik bis 1937 analysiert. Im zweiten Hauptteil wird Sein und Zeit dann als Patchwork entstehungsgeschichtlich betrachtet. Beide Hauptteile sind knapp und vorläufig angelegt, zumal die entstehungsgeschichtlich relevanten Quellen und Texte bisher nur sehr lückenhaft und unvollständig bekannt sind. Auch nach den Pionierarbeiten von Rainer A. Bast, Dieter Thomä und Theodore Kisiel 4 ist die Entstehungs- und Textgeschichte von Sein und Zeit m. E. noch keineswegs ausgeleuchtet. Eine volle Erschließung dieses Prozesses könnte und sollte m. E. in eine historisch-kritische Edition von Sein und Zeit münden. Das möchte der folgende Text anregen.
Einleitung Der Umbruch zur Industriegesellschaft und Untergang des »langen« bürgerlichen 19. Jahrhunderts wurde in Deutschland mit vielfältigen neu-idealistischen und neo-romantischen Lebensreformbewegungen beantwortet. Der George-Kreis antwortete mit einer Revision des geistesgeschichtlichen Kanons. Nachhaltige lebensreformerische Wir4 Rainer A. Bast, Der Wissenschaftsbegriff Martin Heideggers im Zusammenhang seiner Philosophie, Stuttgart 1986; Dieter Thomä, Die Zeit des Selbst und die Zeit danach. Zur Kritik der Textgeschichte Martin Heideggers 1910–1976, Frankfurt 1990; Theodore Kisiel, The Genesis of Heidegger’s ›Being and Time‹, Berkeley 1993.
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Reinhard Mehring
kungen gingen auch von der »Jugendbewegung« aus, deren Ziele 1913 in der »Autonomieformel« des Hohen Meißner knapp formuliert wurden. Dort heißt es: »Die Freideutsche Jugend will aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein.« 5 Zweifellos war Heidegger von diesen Strömungen beeinflusst, auch wenn er organisatorische Verbindungen mied und weder zum George-Kreis noch zur Jugendbewegung engeren Kontakt pflegte. In seiner Vorlesung solidarisierte er sich aber gelegentlich mit der Jugendbewegung. So meinte er 1924 im Nachruf zum Tode Natorps: »Natorp war einer der wenigen, ja vielleicht der einzige unter den deutschen Professoren, der vor mehr als zehn Jahren verstand, was die deutsche Jugend wollte, als sie im Herbst 1913 auf den Hohen Meißner zog und gelobte, aus innerer Wahrhaftigkeit und Selbstverantwortung ihr Leben zu gestalten.« (GA 19, 5)
Es wird hier nicht deutlich, was genau Natorp von der Jugendbewegung verstand. 6 Manche Stichworte der Jugendbewegung finden sich gerade zu Beginn der Weimarer Republik in Heideggers Texten. Von »innerer Wahrhaftigkeit« und eigener Lebensgestaltung sprach auch er. Besonders deutlich sind hier frühe Briefe an Elfride Heidegger und Elisabeth Blochmann. Ein Schlüsselwort und Anspruch Heideggers ist das »geistige Leben«. Wenige Wochen vor Kriegsende schreibt er im Juni 1918 an Blochmann: »Das geistige Leben muss bei uns wieder ein wahrhaft wirkliches werden – es muss eine aus dem Persönlichen geborene Wucht bekommen, die ›umwirft‹ u. zum echten Aufstehen zwingt«. 7 Bald heißt es mitten in der November-Revolution: »Sicher ist u. unerschütterlich die Forderung an die wahrhaft geistigen Menschen, gerade jetzt nicht schwach zu werden, sondern eine entschlossene Führung an die Hand zu nehmen u. das Volk zur Wahrhaftigkeit u. echten Wertschätzung der echten Güter des Daseins zu erziehen.«
Abdruck in der Dokumentation von Wilhelm Flitner / Gerhard Kudritzki (Hg.), Die deutsche Reformpädagogik. Bd. I: Die Pioniere der Pädagogischen Bewegung, Düsseldorf, 2. Aufl. 1967, 279. 6 Natorp pries die Jugendbewegung, so Thomas Macho (Das Leben nehmen. Suizid in der Moderne, Berlin 2017, 134), 1914 nicht zuletzt als »Vorbotin der deutschen Kriegsbegeisterung«. 7 Martin Heidegger / Elisabeth Blochmann, Briefwechsel 1918–1969, Marbach 1990, 7. 5
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Heideggers Publikationspolitik bis 1937 und Sein und Zeit
Heidegger schließt ein apokryphes Hutten-Zitat an: »Mir ist es in der Tat eine Lust zu leben«. 8 Auch damals schon verband er sein revolutionäres Pathos und seinen Führungsanspruch mit hohen universitätspolitischen Hoffnungen und Erwartungen. Selbstverständlich erschien ihm die Universität als die maßgebende Stätte der Formulierung eines nationalpolitischen und revolutionären Erziehungsanspruchs. Ein Revolutionär blieb Heidegger sein Leben lang. Seine Destruktion der überlieferten Ontologie und Metaphysik beschränkte sich nicht auf die Ideengeschichte und Geschichte des Platonismus, sondern galt auch den resultierenden Formen und Strukturen. Heidegger betrachtete philosophische Ideen und Systeme als wirkmächtige formende Kräfte, hielt sie sogar für entscheidende Kräfte und identifizierte die Geschichte und Kultur einer Gesellschaft mit deren Philosophie. In diesem Sinne vertrat er selbstverständlich einen starken Idealismus. Dabei war er aber ein Revolutionär, der abgelebte Formen zerstören wollte, und er richtete sich hier zunächst und zumeist gegen die Reflexionsformen und Institutionen der »Metaphysik«: gegen die Universität und den Fachbetrieb der Philosophie, mit dessen Lehre und Forschung, gegen den professoralen Habitus der »Bonzen« des Betriebs, den üblichen Vorlesungsstil und die publizistischen Formen der Universitätsphilosophie. Heidegger betonte einen Konnex zwischen Universitätsidee und Philosophiebegriff. Nach dem Scheitern des Rektorats verabschiedete er mit seinem Auszug aus der Universität deshalb auch den Titel des Philosophen und reklamierte ein »anderes Denken« für sich.
I.
Analyse der Publikationspolitik
1.
Publikationsphase I (bis 1933): nur das Nötigste
Die philosophiegeschichtliche Forschung greift oft allzu direkt auf die Ideen und Systeme von Autoren zu und vernachlässigt Kontextanalysen und literaturwissenschaftliche Fragen der Genese. Kein Werk ist vollkommen, jedes ist ärmer und reicher zugleich als irgendwelche initialen Ideen und Textstufen. Heidegger vertrat eine Nachlass- und Fragmenthermeneutik, die von der Defizienz der Texte gegenüber 8
Heidegger / Blochmann, Briefwechsel, 12.
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Reinhard Mehring
initialen Ideen ausging. Stets meinte er: »Jeder wesentliche Denker denkt immer einen entscheidenden Sprung ursprünglicher als er spricht; und in jedem Denken muss er gefasst, sein Ungesagtes muss gesagt werden« (GA 94, 258). Vergegenwärtigen wir uns die Publikationspolitik bis 1937: Ähnlich wie bei George ist hier zunächst eine primäre Adressierung an einen intimen Kreis von Schülerinnen und Schülern und eine anhaltende Publikationsscheu zu konstatieren, die bei Heidegger allerdings durch akademische Publikationszwänge und karrierestrategische Erfordernisse relativiert war. Auch die akademischen Erwartungen an den publizistischen Auftritt eines Universitätsphilosophen sind historisch. Das betrifft nicht nur die monographische Form der Qualifikationsarbeiten, sondern etwa auch die Erwartung eines »dritten Buches«, kooperativer Herausgeberschaften, Internationalität, Drittmitteleinwerbung, Medienpräsenz u. ä. Die unabdingbaren Qualifikationen der Dissertation und Habilitation reichten schon für Heideggers Karriere nicht aus, und so schrieb er seine Phänomenologischen Interpretationen zu Aristoteles als »Natorp-Bericht« für den Entscheider Natorp um der Berufung nach Marburg willen; er verzichtete aber bei Lebzeiten auf die Veröffentlichung. 9 Schon am 8. Mai 1923 schreibt er dazu an Löwith: »Ich überlege mir ernstlich, ob ich meinen Aristoteles nicht zurückziehen soll.- Mit den ›Rufen‹ wird es wohl nichts werden. Und wenn ich erst publiziert habe, wird es gar aus sein mit meinen Aussichten. Vermutlich merkt der Alte [Husserl] dann wirklich, dass ich ihm den Hals umdrehe – und dann ist es mit der Nachfolgerschaft aus.« 10
Das meinte Heidegger ernstlich, und nicht zu Unrecht, war Husserl doch später, nach verspäteter Lektüre, über Sein und Zeit entsetzt. Die Aristoteles-Einleitung war an Natorp als Entscheider adressiert. Doch schon damals zielte Heidegger offenbar aus strategischen Überlegungen vor allem auf die Husserl-Nachfolge. Sein und Zeit publizierte er allerdings zunächst für die Marburger Fakultät und das zuständige Ministerium um der Beförderung zum Ordinarius willen. Dazu schrieb er in Mein Weg in die Phänomenologie:
9 Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, Stuttgart 2003. 10 Martin Heidegger / Karl Löwith, Briefwechsel 1919–1973, Freiburg 2017, 88.
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Heideggers Publikationspolitik bis 1937 und Sein und Zeit
»›Herr Kollege Heidegger – jetzt müssen Sie etwas veröffentlichen. Haben Sie ein geeignetes Manuskript?‹ Mit diesen Worten betrat der Dekan der Marburger Philosophischen Fakultät eines Tages im Wintersemester 1925/ 26 mein Studierzimmer. ›Gewiss‹, antwortete ich. Worauf der Dekan entgegnete: ›Aber es muss rasch gedruckt werden.‹« (GA 14, 99)
Heidegger weist hier nicht zuletzt darauf hin, dass nicht nur die Niederschrift, wie beim Natorp-Bericht, sondern auch die Publikation von Sein und Zeit strategisch bedingt war. Weitere Publikationen stehen im strategischen Zusammenhang mit der Berufung nach Freiburg, der Darstellung von Schülerschaft und Nachfolge sowie der Profilierung gegen den Marburger Neukantianismus. Selbstverständliche publizistische Pflichten waren die Freiburger Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik?, der Beitrag zur Husserl-Festschrift (Vom Wesen des Grundes) und später die Rektoratsrede. Strategisch hilfreich waren die kleine Geschichte des Marburger Lehrstuhls, der Enzyklopädie-Artikel für Husserl 11 und auch die Herausgabe von Husserls Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins im Hausorgan des Jahrbuchs für Philosophie und phänomenologische Forschung, in dem auch Sein und Zeit erschienen war. Nach dem Antritt der Husserl-Nachfolge positionierte Heidegger sich bald gegen den herrschenden Neukantianismus. Dabei stellte er den akademischen Stil um: Hatte er sich mit Sein und Zeit gegenüber Husserl als Innovator behauptet, wobei er terminologiepolitisch aus Husserls Latein oder Fachchinesisch ins Deutsche wechselte, so zeigte er mit dem Kant-Buch seine Beherrschung des akademischen Mainstreams vor. Dafür wechselte er auch den Verlag: vom Phänomenologie-Verlag Niemeyer zum Bonner Cohen-Verlag. Antrittsvorlesung und Festschriftbeitrag waren Emanzipationserklärungen. Nach dem Festschriftbeitrag für Husserl erschien von 1930 bis zum Rektorat kein einziger Text. Die Rektoratsrede war 1933 dann erneut eine akademische Pflicht und darüber hinaus ein politisches Signal. Man könnte nun genauer nach der Publikationsoffensive der Jahre 1927 bis 1929 fragen, an die eine relative Schweigezeit bis 1933 anschloss. Man müsste hier auch bedenken, was er damals nicht publizierte: so die frühen Vorträge. Halten wir aber zunächst nur fest: Nach den ersten Qualifikationsschriften trat eine erste SchweigeDazu vgl. Renato Cristin (Hg.), Edmund Husserl – Martin Heidegger – Phänomenologie (1927), Berlin 1999.
11
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Reinhard Mehring
phase ein, die Heidegger 1927 bis 1929 durch eine Publikationsoffensive ersetzte, an die 1930 bis 1932 erneut eine Schweigephase anschloss.
2.
Publikationsphase II (seit 1933): politischer Anspruch
Sondiert man die Publikationen bis 1933, so findet sich eigentlich keine einzige größere Publikation, die Heidegger jenseits starker strategischer Interessen eigeninitiativ veröffentlicht hätte. Selbst sein Vortrag Vom Wesen der Wahrheit erschien erst 1943 bei Klostermann. Umso interessanter ist die weitere Publikationspolitik im Rektorat: Die Bibliographie von Sass 12 verzeichnet nach der Selbstanzeige der Habilitationsschrift bis 1926 keine einzige Publikation und von 1927 bis 1930 – außer den Monographien – nur sieben Publikationen. Während des Rektorats aber veröffentlichte Heidegger gleich zehn Texte, beginnend mit der Schlageterrede am 1. Juni 1933. Fünf erschienen in der Freiburger Studentenzeitung und richteten sich also primär an die Studentenschaft. Sie betrafen nicht nur organisatorische Fragen, wie die Integration des Arbeitsdienstes in die Universität; sie verpflichteten die »deutschen Studenten« im November 1933 auch auf den Führer »selbst und allein« als »die heutige und künftige deutsche Wirklichkeit und ihr Gesetz« (GA 16, 184) und sprachen eine starke Wahlempfehlung aus, die weit über das Plebiszit für den Austritt aus dem Völkerbund hinausging. Wenn Heidegger hier das Führerprinzip einfordert, ist zu erinnern, dass er damals gerade nach der neuen Hochschulverfassung vom Ministerium als »Führerrektor« bestätigt worden war. Die hochschulinterne Wahl, die ihn Ende April 1933 ins Amt gebracht hatte, war abgeschafft und durch das »Führerprinzip« ersetzt worden. Heidegger nahm dieses Führerprinzip umgehend für sich in Anspruch. Sein Wahlaufruf vom November 1933 lässt sich deshalb nicht als schlichte Wahlempfehlung bezeichnen. Die Autorität des Führerrektors hatte für Heidegger Gesetzeskraft: »Keiner kann fernbleiben am Tage der Bekundung dieses Willens.« (GA 16, 189) Dieses Können ist stärker zu lesen als ein bloßes Sollen. Es meint eine Wahlpflicht. Heideggers Umstellung von einer minimalistischen Publikationspraxis auf die tagespolitische Intervention ist also mit dem Rek12
Hans-Martin Sass, Heidegger-Bibliographie, Meisenheim 1968.
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Heideggers Publikationspolitik bis 1937 und Sein und Zeit
torat und der starken personalistischen Auffassung des Führerprinzips verbunden. Auch die anderen Publikationen, die nicht in der Freiburger Studentenzeitung erschienen, sind damals politisch konnotiert. So unterschrieb Heidegger ein Bekenntnis der Professoren zu Hitler und zum Nationalsozialismus. Seine Texte Nationalsozialistische Wissensschulung und Schöpferische Landschaft erschienen im Alemannen, dem Kampfblatt der Nationalsozialisten Oberbadens. Selten wird beachtet, dass Heidegger damals nach dem Rektorat noch einen Auszug der Rektoratsrede unter dem Titel Die drei Bindungen im Völkischen Beobachter publizierte und damit seinen universitätspolitischen Anspruch grundsätzlich erneuerte. 13 Nach dieser Teilveröffentlichung verstummte er für zwei Jahre und trat erst mit seiner Rede Hölderlin und das Wesen der Dichtung wieder publizistisch hervor. Die Wahl der Zeitschrift Das Innere Reich wurde zutreffend als Abkehr von den direkten politischen Ambitionen und als Wendesignal verstanden. Der kleine Text Wege der Aussprache, 1937 im Jahrbuch der Stadt Freiburg erschienen, einem »Buch von Volkstum und Sendung«, formulierte dann die neue Strategie, 14 der Heidegger fortan auch mit seinen Vorlesungen folgte: Die »Rettung des Abendlandes« erhoffte er nun von einer differenzpoliBeachtlich ist hier auch das Datum: Der Auszug erschien am 20. Juli 1934, und es ist anzunehmen, dass das Erscheinungsdatum abgesprochen war. Das Datum des 20. Juli wurde damals politisch auf den zweiten Jahrestag des sog. »Preußenschlags« vom 20. Juli 1932 bezogen, der im nationalsozialistischen Geschichtsbild – etwa bei Carl Schmitt (Ein Jahr deutsche Politik – Rückblick vom 20. Juli 1932: Von Papen über Schleicher zum ersten deutschen Volkskanzler, in: Westdeutscher Beobachter 9 (1933), Nr. 176 vom 23. Juli 1933) – für den Anfang vom Ende der Weimarer Republik und Auftakt zur nationalsozialistischen Machtergreifung stand, repräsentierte Papen als Vizekanzler Hitlers doch eine Kontinuität der Revolution. Heidegger lehnte Papen allerdings als Vertreter eines politischen Katholizismus und »Jesuitismus« scharf ab. Definiert man die sog. »Konservative Revolution« strikt politisch, durch eine Zwischenstellung zwischen liberaler Demokratie und Nationalsozialismus und eine klare Option für den »autoritären Staat« des Präsidialsystems, so gehörte Heidegger mit seiner Revolutionsoption als Anhänger Hitlers schon vor 1933 eindeutig nicht dazu. Heidegger wählte die Publikation im Völkischen Beobachter also nicht als Bekenntnis zur »konservativen Revolution«. Der 20. Juli 1934 lag allerdings nach dem sog. Röhm-Putsch vom 30. Juni 1934 und den damaligen politischen Morden, mit denen Hitler vor aller Öffentlichkeit als terroristischer Diktator auftrat. Heidegger begriff die Enthauptung der SA und politisch unnötige Ermordung älterer Rivalen wie ExKanzler Schleicher auch als Einschnitt. Umso fataler ist seine neuerliche Empfehlung seiner Universitätskonzeption im Völkischen Beobachter. 14 Dazu auch Martin Heidegger, Europa und die deutsche Philosophie (1936), in: Hans-Helmuth Gander (Hg.), Europa und die Philosophie, Frankfurt 1992, 31–41. 13
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tischen Hermeneutik der »Verständigung«, die auf die »eigene Art« zielte. Heidegger setzte hier Leibniz und Hegel gegen Descartes und verwies zuletzt auf die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit dem »frühen Griechentum«. Diese kleine Publikation setzte sich polemisch vom Pariser Descartes-Kongress ab, der damals im Sommer 1937 der letzte große internationale Philosophenkongress vor dem Ausbruch des Weltkriegs war und auf dem die deutsche Delegation auch zahlreichen deutschjüdischen Emigranten – u. a. Löwith – wiederbegegnete. Heidegger hatte seine Teilnahme – nach den in GA Bd. 16 publizierten Dokumenten – abgesagt, weil seine Erwartung enttäuscht wurde, Delegationsleiter zu werden. Eigentlich wollte er in Paris dem »Vorstoß der herrschenden liberal-demokratischen Wissensauffassung« (GA 16, 345) entgegentreten und sich dabei wohl auch zu Husserls – mit den Cartesianischen Meditationen einst in Paris formulierter – Descartes-Rezeption positionieren. Es gab damals intensive DescartesDiskussionen, die grundsätzliche Stellungnahmen zum »klassischen« französischen Rationalismus und zur französischen Form der Nationalstaatlichkeit implizierten. Heideggers gerade nach Freiburg berufener Kollege Hugo Friedrich 15 beispielsweise publizierte 1937 ein Buch Descartes und der französische Geist. Der kleine Text Wege der Aussprache formulierte nun den neuen metaphysikkritischen Rahmen, in dem Heidegger sein Zwiegespräch zwischen Griechenland und Germanien aufnahm und seine Nietzsche- und Hölderlinvorlesungen sah. Zwei Phasen der Publikationspolitik lassen sich also zunächst unterscheiden: die karrierestrategisch notwendigen Publikationen bis 1933 (eigentlich: 1929) und die politisch motivierten Publikationen seit 1933. Es wäre falsch oder ungenau, hier von einer zögerlichen Publikationspolitik zu sprechen. Was Heidegger karrierestrategisch machen musste, lieferte er pünktlich und entschlossen ab. Es lässt sich aber bereits von einem bewussten Aufschub »eigentlicher« Äußerungen sprechen.
Hugo Friedrich, Descartes und der französische Geist, Leipzig 1937; vgl. auch Karl Jaspers, Descartes und die Philosophie. Berlin 1937.
15
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Heideggers Publikationspolitik bis 1937 und Sein und Zeit
II.
Das Scheitern von Sein und Zeit und die politische Kehre von 1933
1.
Für eine kritische Edition der Textstufen von Sein und Zeit
Heidegger bezeichnete Sein und Zeit gegenüber Jaspers schon 1928 als sein »sogenanntes Buch«. Dass er nur vorbehaltlich von einem »Buch« sprach, hat schon formale Gründe. Bekanntlich publizierte er nur eine Einleitung sowie die ersten beiden »Abschnitte« einer »ersten Hälfte«. Das Werk war »Edmund Husserl in Verehrung und Freundschaft zugeeignet« und die Widmung war mit Ortsangabe Todtnauberg auf den 8. April 1926 datiert. Sie entfiel bekanntlich nach Husserls Tod in der fünften Auflage von 1941 und wurde nach 1945 wieder erneuert. Der 8. April 1926 war Husserls 67. Geburtstag. Sein und Zeit erschien aber erst 1927 im Druck. Die Widmung nennt also einen konkreten Adressaten, an den der Text schon vor der Veröffentlichung adressiert ist, und mit der Bekundung von »Verehrung und Freundschaft« ist auch ein Hinweis auf die kommende Emeritierung und Nachfolgefrage gegeben. Die personale Adressierung nimmt den Öffentlichkeitsanspruch der Publikation zurück: kein Buch für alle und keinen, sondern für jemanden, dessen Nachfolge Heidegger antreten wollte und dessen Werk er längst äußerst distanziert sah. Für Sein und Zeit lässt sich also zwischen den Textstufen und Fassungen von 1926 und 1927 unterscheiden. Die entstehungsgeschichtlich relevanten Quellen und Textstufen sind noch keineswegs voll erschlossen. Manches findet sich gewiss noch im Nachlass und es ist nicht unwahrscheinlich, dass auch die 1926er-DruckbögenUrfassung von Sein und Zeit irgendwo erhalten ist: Für die Beförderung zum Ordinarius wünschte die Marburger Kommission Sein und Zeit in einer »Anzahl von maschinenschriftlichen Exemplaren« bzw. in den Druckbögen. Heidegger gab die Abhandlung ab dem 1. April 1926 in den Druck. Zum 8. April 1926, Husserls Geburtstag, lagen aber noch keine Bögen vor. Husserl muss also eine maschinenschriftliche Urfassung erhalten haben. Malvine Husserl berichtet davon in einem Brief vom 16. April 1926 an Roman Ingarden. 16 Im Juni 1926 sandte die Marburger Fakultät den Stand der Druckbögen dann In: Edmund Husserl, Briefe an Roman Ingarden, Den Haag 1968, 37; hier zitiert nach: Theodore Kisiel, The Genesis of Heidegger’s ›Being and Time‹, Berkeley 1993,
16
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»in doppelter Ausführung« an den zuständigen Preußischen Minister Carl Heinrich Becker. 17 Heidegger berichtet Jaspers, 18 dass der Druck von Sein und Zeit am 1. April 1926 begann und das Ganze als »Übergangsarbeit« 19 am ehesten »gegen Husserl« geschrieben sei, »der das auch sofort sah, aber sich von Anfang an zum Positiven hielt«. 20 Wiederholt nennt er das Werk eine »Abhandlung« und betont, dass die »Verknüpfung mit der Berufungsgeschichte« gleichsam die kathartische Funktion gehabt habe, »die Dinge von mir los« 21 zu bringen. Schon im Sommersemester »sistiert« er damals den Druck und beginnt mit einem »Umschreiben«, 22 das zu einer Teilung und zur Entscheidung für die gesonderte Publikation eines »ersten Bandes« führte. Becker lehnte im November dann den Marburger Berufungsvorschlag ab, wie Heidegger Jaspers am 2. Dezember mitteilt, 23 und schickte die Druckbögen zurück. Ende Dezember beschließt Heidegger einen Abbruch des Projekts. Das Buch erschien dann im April 1927, pünktlich zur Emeritierung Husserls, und wurde sogleich ein großer Erfolg. Bald rückt Heidegger aber vom Werk ab. Am 6. Oktober 1927 schreibt er an Bultmann: »Am II. Teil von Sein und Zeit habe ich streckenweise gearbeitet. Aber ich muss wohl das Ganze noch einmal schreiben«. 24 Es ist also zwischen einer maschinenschriftlichen Urfassung von Sein und Zeit vom April 1926 und verschiedenen Druckbögen-Textstufen zu unterscheiden, die an verschiedene Leser und Korrektoren gingen, an Jaspers ebenso wie an einige Heidegger-Schüler. Adressaten der Textstufen waren Husserl, die Fakultäten in Marburg und Freiburg und die für Berufungsfragen zuständigen Ministerien. Es ist deshalb davon auszugehen, dass verschiedene Versionen und Textstufen erhalten sind. Eine historisch-kritische Edition dieser Versionen ist eine naheliegende Aufgabe für die Heidegger-Edition.
482, dort 480 ff. insgesamt eine Dokumentation der damals bekannten entstehungsgeschichtlichen Äußerungen. 17 Zitiert nach: Kisiel, The Genesis of Heidegger’s ›Being and Time‹, 483. 18 Heidegger / Jaspers, Briefwechsel, 62. 19 Heidegger / Jaspers, Briefwechsel, 64. 20 Heidegger / Jaspers, Briefwechsel, 71. 21 Heidegger / Jaspers, Briefwechsel, 71. 22 Heidegger / Jaspers, Briefwechsel, 67. 23 Heidegger / Jaspers, Briefwechsel, 69. 24 Rudolf Bultmann / Martin Heidegger, Briefwechsel 1925–1975, Tübingen / Frankfurt 2009, 41.
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Heideggers Publikationspolitik bis 1937 und Sein und Zeit
2.
Teil oder Ganzes?
Heidegger nennt Sein und Zeit stets eine »Abhandlung«. Alternativbegriffe lauteten etwa: Buch oder Werk. Als »Abhandlung« hätte Heidegger wohl auch das abgeschlossene Werk bezeichnet. Die Vorbemerkung von 1953 betont: »Die Abhandlung ›Sein und Zeit‹ erschien zuerst Frühjahr 1927 in dem von E. Husserl herausgegebenen Jahrbuch für Philosophie und Phänomenologische Forschung Bd. VIII und gleichzeitig als Sonderdruck.« Heidegger spricht also weiter von einer »Abhandlung« und einem »Sonderdruck«, nicht von einem Buch. Dass Heidegger zwischen Abhandlungen und Monographien unterschied, zeigt schon sein Nietzsche von 1961, der – laut Vorwort – Vorlesungen und Abhandlungen versammelt. Abhandlungen stehen nicht für sich, sondern sie bedürfen der Ergänzung. Sie erheben nicht den Anspruch, eine Frage in der Form eines autonomen Werks gänzlich auszuleuchten. Wenn Heidegger 1953 die Kennzeichnung »erste Hälfte« streicht, könnte dies zwar einen Geltungswechsel von der Abhandlung zur Monographie bezeichnen; Heidegger strich im Text aber nicht die Hinweise auf den ergänzungsbedürftigen oder fragmentarischen Charakter des Werkes und erneuerte 1953 ja auch die Kennzeichnung als »Abhandlung«. Sein und Zeit zielte also wohl von Anfang an auf eine Ergänzung oder Fortsetzung. Als »unendliches Werk« im Sinne der Romantik war es dabei nicht konzipiert. Eine »erste Hälfte« kommt mit einer »zweiten Hälfte« zum Abschluss. Es ist aber fraglich, ob Heidegger einen solchen Abschluss jemals ernstlich schreiben wollte. In den Überlegungen IV spricht er von einem Autodafé des dritten Abschnitts »Zeit und Sein«; er schreibt da: »Freilich musste der in der ersten Fassung unzureichende 3. Abschnitt des I. Teiles über ›Zeit und Sein‹ vernichtet werden.« (GA 94, 272) Arnulf Heidegger erklärte dazu in der Diskussion dieses Vortrages freundlich, dass die Familienlegende gerüchteweise von der Verbrennung eines mehrhundertseitigen Manuskriptes oder Typoskriptes von Sein und Zeit weiß, vermutlich in den frühen 1930er Jahren, die der Umfangsangabe entsprechend vermutlich nicht nur den dritten Abschnitt, sondern auch die »zweite Hälfte« von Sein und Zeit betraf. Eine genaue Klärung dieser Fragen wäre für die Heidegger-Forschung selbstverständlich überaus wichtig. Der Text von 1927 spricht jedenfalls nur von zwei »Abschnitten« 213 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
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eines ersten »Teils«. Die »Einleitung«, »Die Exposition der Frage nach dem Sinn von Sein«, bezieht sich ebenso wie der Titel Sein und Zeit aber nicht auf den »ersten Teil«, sondern sie steht für das mögliche Ganzsein des Werkes. Das Patchwork ist also in merkwürdiger Weise Fragment: Die Teile und Abschnitte sind unvollständig, doch die Einleitung steht für ein Ganzes. Heidegger betont bereits die Vorläufigkeit seines ersten Ansatzes und relativiert den »exemplarischen Zugang« beim »Seinsvorrang« (GA 2, 11) der Daseinshermeneutik. Die Frage nach der »zweiten Hälfte« kann und muss hier nicht weiter ausgelotet werden. Für die Analyse der frühen Publikationspolitik ist hier nur wichtig, dass Heidegger Sein und Zeit 1927 ganz bewusst als vorläufige und ergänzungsbedürftige Abhandlung präsentierte und für sein »sogenanntes Buch« keinen vollen Werkcharakter in Anspruch nahm.
3.
Zur Zweideutigkeit von Sein und Zeit
Der Fragmentcharakter von Sein und Zeit resultiert sachlich aus der vorbereitenden oder propädeutischen Funktion der Daseinshermeneutik (Hermeneutik der Faktizität) für die »Freilegung« der Seinsfrage. Sein und Zeit zielt aber eigentlich auf eine »allgemeine Ontologie«. So heißt es einmal: »Philosophie ist universale phänomenologische Ontologie, ausgehend von der Hermeneutik des Daseins« (GA 2, 51). Die Betonung der Zeitlichkeit und ekstatischen Existenz des Daseins aus der Sorge um die eigene Zukunft diente der Destruktion der ursprünglichen griechischen Präsenzontologie, mit deren Auslegung des Seins als Anwesenheit. Diese Präsenzontologie übernahm das Christentum in seine Konstruktion »ewiger« Wahrheiten (vgl. GA 2, 303). Sein und Zeit endet deshalb auch mit Ausführungen zum stärksten Vorgänger, Hegel, der zwar bereits einen Zusammenhang von »Geist« und »Zeit« sah und damit Heideggers Umbestimmung von Sein und Zeit nahekam, aber noch in der präsenzontologischen Auslegung der Ewigkeit als Augenblick befangen blieb. Gegen Hegel betonte Heidegger auch, dass »das Selbst weder als Substanz noch als Subjekt begriffen werden kann« (GA 2, 439). Heidegger nimmt sich also eigentlich drei Themen vor: die Daseinshermeneutik, die philosophiegeschichtliche Tradition der Präsenzontologie – von Aristoteles bis Hegel – und die Ausarbeitung einer alternativen Ontologie, die vom Primat oder Vorrang der Zeit 214 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
Heideggers Publikationspolitik bis 1937 und Sein und Zeit
bzw. des »Ereignisses« vor dem Sein her dachte. Die letzten beiden Sätze von Sein und Zeit lauten: »Führt ein Weg von der ursprünglichen Zeit zum Sinn von Sein? Offenbart sich die Zeit selbst als Horizont des Seins?« (GA 2, 577) Diese Fragen würde Heidegger gerne bejahen, schon seiner Ablehnung der ontologischen und metaphysischen Tradition wegen, aber ihm fehlte 1927 wohl noch der methodische und begriffliche Zugang. Man könnte sagen, dass Sein und Zeit stockte, weil Heidegger die Grundbegriffe der neuen Ontologie vom Vorrang der Zeit her vor dem geschichtlichen Teil ausarbeiten wollte. Formal gesprochen: Er wollte eigentlich den dritten Abschnitt »Zeit und Sein« als grundbegriffliche Klärung vorausschicken. Erst nach dieser Klärung und »Kehre« zu »Zeit und Sein« schien ihm die zweite Hälfte eigentlich möglich. So erklärte es Heidegger selbst im Brief über den ›Humanismus‹ (GA 9, 327 f.). Man könnte auch vermuten, dass Heidegger bei der Umarbeitung von Sein und Zeit im Sommer 1926 vor den Unklarheiten der allgemeinen Ontologie in die Daseinshermeneutik flüchtete: Weil er mit der allgemeinen Ontologie von Zeit und Sein nicht weiterkam, baute er im Sommer 1926 die Daseinshermeneutik aus. Man könnte weiter vermuten, dass ihm diese Ausflucht in die populären »existentialistischen« Themen selbst misshagte, dass er sie aber um des karrierestrategisch notwendigen Erfolgs willen für zwingend hielt und mit diesem Ausbau überdies schnell und leicht vorankam, weil er hier auf Veranstaltungsthemen seiner Hermeneutik der Faktizität zurückgreifen konnte. Man könnte weiter fragen, ob der Urfassung von 1926 dieser daseinshermeneutische Ausbau oder Unterbau noch fehlte und Heideggers Unzufriedenheit mit dem »sogenannten Buch«, auch seine ständige Polemik gegen die »Philosophische Anthropologie« und andere zeitgenössische Ansätze, mit diesem Übergewicht der Daseinshermeneutik bzw. Abbruch des Projekts im propädeutischen Horizont zusammenhing. Heidegger suchte die Antwort jedenfalls im Ansatz bei der Zeit. Diese philosophische Intuition korrespondierte mit der damaligen Revolution des physikalischen und kosmologischen Weltbilds, wie sie mit dem Namen Albert Einsteins verbunden ist. Hier liegt ein Motiv der philosophischen Konkurrenz mit Cassirer, 25 der näheren Umgang mit Einstein hatte. Zweifellos standen hinter den philoDazu Ernst Cassirer, Zur Einstein’schen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen, Berlin 1921.
25
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sophischen Motiven aber auch religiöse Motive und antirömische Affekte: Die Destruktion der Präsenzontologie diente der Destruktion des Christentums. Man hat oft betont, dass Heideggers Hermeneutik des Daseins mit der Rede von »Uneigentlichkeit«, »verfallenem« Dasein und »Schuld« oder »ursprünglicher Schuldigkeit« gnostische Motive 26 aufgreift und so mit der katholischen Dogmatik rivalisiert. Weniger ergiebig ist eine stark politische Interpretation des Buches: Zweifellos zitierte Heidegger in seinen Vorlesungen damals zwar das Spektrum des antidemokratischen Denkens der Weimarer Republik. Politisch signifikant sind in Sein und Zeit aber nur seine Ausführungen zum »eigentlichen« Mitsein als generationellem »Schicksal« im »Volk« und seine »heroische« und »monumentalische« (GA 2, 523 f.) Konstruktion der Tradition als »Nachfolge« in der Wahl von »Helden«, die ihre Taten als »Siege« (GA 2, 350) auffassen. Hier klingt Heideggers heroischer Nationalismus als »ontisches« Ideal der Existenz leise an. Für eine politische Skandalisierung von Sein und Zeit taugen diese Andeutungen eines heroischen Endlichkeits- und Entschlossenheitspathos aber nicht. Viel wichtiger ist die grundsätzliche Umwertung des Verhältnisses von Sein und Zeit. Heideggers Lösungs- oder Losungswort zur Anzeige des Primats der Zeit besteht dann in der Rede vom »Ereignis«. Mit der Schöpfungstheologie ist hier jeder dogmatische Vorrang des »Seins« gemieden, der der christlichen Ontologie selbstverständlich war und mit dem ja noch Hegel begann.
4.
Distanzierende Selbstdeutungen
Heidegger hat sich nach 1927 in seinen Briefen und Schriften immer wieder distanzierend über Sein und Zeit geäußert. So schreibt er am 18. September 1932 an Elisabeth Blochmann: »Man denkt u. redet schon darüber, dass ich nun Sein u. Zeit II schreibe. Das ist gut so. Aber da Sein u. Zeit I einmal für mich ein Weg war, der mich irgendwohin führte, dieser Weg aber jetzt nicht mehr begangen u. schon verwachsen ist, kann ich S. u. Z. gar nicht mehr schreiben. Ich schreibe überh(au)pt kein Buch.« 27 Dazu schon Barbara Merker, Selbsttäuschung und Selbsterkenntnis. Heideggers Transformation der Phänomenologie Husserls, Frankfurt 1988. 27 Heidegger / Blochmann, Briefwechsel, 54 26
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Heideggers Publikationspolitik bis 1937 und Sein und Zeit
Einige unlängst publizierte Belege aus den Schwarzen Heften seien ergänzend angeführt: So beginnen die erhaltenen Überlegungen mit Relativierungen von Sein und Zeit. Da heißt es: »›Sein und Zeit‹ ein recht unvollkommener Versuch, in die Zeitlichkeit des Daseins zu kommen, um die Seinsfrage seit Parmenides neu zu fragen.« (GA 94, 9) »Es gilt, ›Sein und Zeit‹ als Buch durch das Erwirken des darin Gewollten, aber vielfach Verfehlten, im wirklichen ›Werk‹ in den Schatten zu stellen. Das ist die rechte Widerlegung.« (GA 94, 37) Bald heißt es: »›Sein und Zeit‹ ist auf seinem Weg – nicht in Ziel und Aufgabe – dreier ›Versuchungen‹ der Umgebung nicht Herr geworden: 1. die ›Grundlegungs‹haltung aus Neukantianismus (vgl. GA 94, 113); 2. das ›Existentielle‹ – Kierkegaard – Dilthey; 3. die ›Wissenschaftlichkeit‹ – Phänomenologie«. (GA 94, 75; vgl. GA 82, 44)
Diese Versuchungen hießen für Heidegger namentlich: Rickert, Jaspers, Husserl. Wenn er hier von »drei Versuchungen« spricht, so zitiert er das Evangelium: drei Versuchungen des Teufels direkt nach der Taufe Jesu und vor dessen Wirken. Nietzsche setzte zum Auftakt des Zarathustra die »drei Verwandlungen« dagegen. Später schreibt Heidegger etwa: »Man wartet auf den zweiten Band von ›Sein und Zeit‹ : ich warte darauf, dass dieses Warten aufhört und man sich zuerst mit dem ersten auseinandersetzt.« (GA 94, 184)
In den späten 40er Jahren schreibt er in den Schwarzen Heften auch: »Immer noch und immer wieder fragen sie nach dem II. Band von ›Sein und Zeit‹, gleich als fehle noch die Fortsetzung eines Romans. Man fragt nach dem II. Band, weil man noch am I. Band hängt; weil man noch nicht erfahren hat, dass dieses kein I. Band ist, sondern ein zwar unbeholfen aufgefangener, aber doch erlittener Wink des Geschicks, in dem die Wahrheit des Seins der Vergessenheit weggeblieben. Was soll da ein II. Band? Wäre es nicht würdiger, auf jenen Wink zu achten und dem Geschick des Seins sich zu stellen.« (GA 97, 255)
Heidegger spricht sich in seiner Meditation dann selbst persönlich an: »Aber hast du selbst vergessen, dass vielleicht nur ›Einige‹ vermögen, denkend den Wink des Seyns zu erleiden? Doch hierüber kann kein Mensch ohne den Anschein von Anmaßungen sprechen. Aber wie sollen wir die Vielen, unter denen manch ein Suchender ist, auf das Wesentliche aufmerksam machen, was hier zu bedenken bleibt. Seltsam: nach der Veröffent-
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lichung des ›Briefes über den Humanismus‹ sollte man denken, dass, gesetzt, dass er ›verstanden‹ sei, das Erkundigen nach dem II. Band aufhören; aber es wird nur aufgeregter. Also haben sie wieder nicht nach-gedacht.« (GA 97, 255 f.)
Der sachlichen Selbstkritik tritt in den Schwarzen Heften also bald die Rezeptionskritik zur Seite. Dabei scheint Heidegger der Rezeption vor allem den Einwand zu machen, dass Sein und Zeit nicht als Erfahrung des Autors, sondern als Buch und Werk gelesen wurde, das einen zweiten Band als »Fortsetzung« ermöglichte und versprach. Der innerhalb der Gesamtausgabe die vierte Abteilung eröffnende Band Zu eigenen Veröffentlichungen zeigt jetzt die ganze Radikalität der Verwerfung der Abhandlung Sein und Zeit, die in drei »Grundtäuschungen« befangen geblieben sei: im phänomenologischen, existenzialistischen und ontologisch-transzendentalen Vorurteil. Heidegger erklärt damit Berge von Interpretationen für unhaltbar.
Rekapitulation Fassen wir zusammen: Es wurden zwei Publikationsphasen vor und nach 1933 unterschieden, die sich ihrerseits weiter in Phasen unterscheiden lassen. Für die strategische Phase bis 1933 lässt sich nach den ersten akademischen Qualifikationsschriften, Dissertation und Habilitation, bis 1927 eine erste skrupulöse Schweigephase konstatieren, auf die die strategisch zwingende Publikationsoffensive von 1927 bis 1929 folgte, an die eine zweite Schweigephase anschloss. Für die Zeit bis 1937 lässt sich eine politische Publikationsoffensive im Rektorat konstatieren, an die eine erneute Schweigephase und die »Kehre« zur Metaphysikkritik und »Seinsgeschichte« anschloss. Diesen ersten und offensichtlichen Befund ergänzte ich im zweiten Schritt um eine starke These zur philosophischen Kehre nach Sein und Zeit: Ich konstatierte eine philosophische Zweideutigkeit von Sein und Zeit zwischen Existentialanalyse und Fundamentalontologie, die Heidegger philosophisch nicht lösen konnte. Er brach das Projekt von Sein und Zeit ab, weil er den philosophischen Schritt von der Phänomenologie zur Fundamentalontologie nicht überzeugend fand, und er erhoffte sich von einem Erfahrungswandel einen Neuansatz. Zwei starke Thesen zu dieser »Kehre« wurden hier nur angedeutet: der Zusammenhang mit den Hoffnungen auf eine politische 218 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
Heideggers Publikationspolitik bis 1937 und Sein und Zeit
Revolution, die Heidegger mit Hitler und dem Nationalsozialismus verband, sowie die philosophische Explikation eines starken Werkbegriffs, den Heidegger primär an das »Kunstwerk« und nicht an philosophische Schriften knüpfte: an das »stiftende« Dichten und nicht das nachträgliche Deuten. Heideggers Reserve gegenüber fachphilosophischen Publikationen resultierte, meiner Gesamtauffassung nach, dabei nicht zuletzt aus den alten, schon von Platon erörterten Vorbehalten gegen die Verschriftlichung des lebendigen »Geistes« und dem Primat der ekstatischen Stimmung oder Grundstimmung im philosophischen Eros akademischer Ereignisstiftung. Nach dem Rektorat entsagte Heidegger mit seiner Wendung zur Metaphysikkritik und »Seinsgeschichte« seinem Primat des Nationalsozialismus und starken Konnex von philosophischer »Kehre« und politischer »Revolution« und stellte fortan, mit Nietzsche, von der Mitwelt auf die Nachwelt und den »künftigen Menschen« um. Seine skrupulöse, strategisch bedingte Publikationspolitik ging in die Publikationsoffensive nach 1945 über, die in die Gesamtausgabe mündete.
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Alina Noveanu
»Sein und Zeit« und »Die Zollikoner Seminare«
Die »Zollikoner Seminare« nehmen eine besondere Stellung im Werk Martin Heideggers ein. Das dürfte jedem, der mit seiner unkonventionellen Art der philosophischen Gesprächsführung auch nur einigermaßen vertraut ist, sofort einleuchten 1. Heidegger philosophiert, ohne auf akademische Gepflogenheiten innerhalb und außerhalb des akademischen Raumes Rücksicht zu nehmen. Er ist ein philosophischer Lehrer, der – gemäß seiner konsequent verfolgten Maxime »Wege, nicht Werke« – stets bestrebt ist, ein Fragender zu bleiben und so dem Professoralen jenseits der Geste eine andere Tiefenqualität zu verleihen. Nur einige dieser außerhalb des akademischen Curriculums entstandenen Seminare wurden protokolliert. In Le Thor führte Heidegger Gartengespräche mit Philosophiestudenten (unter ihnen auch Giorgio Agamben) und unternahm mit René Char lange Spaziergänge in der Gegend von Aix en Provence, wo er auch Cézannes Atelier besuchte. In Zürich gab es die berühmte Aussprache mit Emil Staiger und den Literaturwissenschaftlern über das Problem der literarischen Interpretation 2. In Hans-Georg Gadamers Haus in Heidelberg soll Heidegger in den 60er Jahren mehrmals auch im kleinen Kreis vorgetragen haben. Die philosophischen Gesprächsrunden in Todtnauberg und Zähringen sind von manchen seiner Besucher eindrucksvoll beschrieben worden. Über den Inhalt mancher Gespräche wurde viel spekuliert, so über die Begegnungen mit Ernst Jünger, Jacques Lacan und Paul Celan. Vgl. zu dem Gespräch im Umfeld der »Zollikoner Seminare« und dessen weittragenden Wirkungen Riedel, Seubert, Padrutt (Hrsg.), »Zwischen Philosophie, Medizin und Psychologie. Heidegger im Gespräch mit Medard Boss«, Köln, 2003. 2 Vgl. dazu Martin Heidegger »Vier Seminare«, Übersetzung der französichen Seminarprotokolle von Curd Ochwadt, Frankfurt a. M. 1977 und Martin Heidegger, Gesamtausgabe (GA) Band 15, Hrsg. Curd Ochwadt, Seminare (1951–1973), Frankfurt a. M. 1986. 1
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»Sein und Zeit« und »Die Zollikoner Seminare«
Wir wollen hier zunächst die Umrisse einer Problematik skizzieren, die mit Heideggers Einführung seiner philosophischen Grundfiguren in Zollikon vor einem Publikum, das hauptsächlich aus »Naturwissenschaftlern« bestand, zum ersten Mal sichtbar wurde. Dank der Bekanntschaft mit dem Schweizer Psychiater Medard Boss, der in seinem Haus in den 60er Jahren die Veranstaltungen organisierte, versuchte Heidegger über zehn Jahre lang seine »Analytik des Daseins« einer medizinisch ausgebildeten Zuhörerschaft zu vermitteln. Diese war wenig vertraut mit den theoretischen Ausarbeitungen Ludwig Binswangers, die unter dem Titel »Daseinsanalyse« in die psychiatrische Klinik Eingang gefunden hatten. »Des öfteren«, erinnert sich Boss in seinem Herausgeber-Vorwort, »riefen diese Seminar-Situationen die Phantasien wach, es würde erstmals ein Marsmensch einer Gruppe von Erdbewohnern begegnen und sich mit ihnen verständigen wollen.« 3 Ein ungewöhnliches, bisweilen skurriles Gespräch entwickelte sich, das aber geprägt war von der tiefen Bereitschaft, einer Sprache zuzuhören, die in dieser Form keiner der Teilnehmer gekannt oder gesprochen hatte. Es ging zwar um den Menschen, aber als »Bereich des Vernehmenkönnens« 4. Es ging innerhalb der Wesensweisen des Menschseins um Überschreitungen, offene und transzendierende Möglichkeiten, deren freie Entfaltung wesensmäßig gefährdet ist. Krankheit, mussten sich die Ärzte und Studierenden sagen lassen, ist ein ontologisches –sprich: ein Freiheitsproblem und ein geschichtliches Problem. Dabei wurde offensichtlich, dass keiner der Anwesenden mit dem Begriff der Geschichte umgehen konnte. Heidegger betont: »Die ›psychoanalytische Lebensgeschichte‹ ist gar keine Geschichte, sondern eine naturalistische Kausalkette, eine Kette von Ursache und Wirkung, und zudem noch eine konstruierte. Siehe dazu ›Sein und Zeit‹ S. 374 oben und S. 376 (Geschichtlichkeit).« 5 Auf »Sein und Zeit« – nach wie vor das Standardwerk für den Komplex der Daseinsanalytik – bezieht sich Heidegger in den »ZolliVgl. Martin Heidegger, »Zollikoner Seminare«, Protokolle – Gespräche – Briefe, Hrsg. von Medard Boss, Frankfurt a. M. 1987, XII. Der folgende Text bezieht sich, was die Zitierung der Protokolle betrifft und soweit nicht anders vermerkt, auf M. Heidegger, GA Band 89, Hrsg. von Peter Trawny. Frankfurt a. M. 2018. Die Stellen der Protokolle, die nicht in den Text der GA aufgenommen wurden, werden im Folgenden zitiert nach Boss, ZS, Seitenzahl. 4 In Boss, ZS, 3. 5 GA 89, 642–643. 3
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koner Seminaren« andauernd. Es geht ihm zunächst um die Einführung der zentralen Begriffe des In-der-Welt-seins, der Zeitlichkeit und der Lichtung und um derer Verhältnisse. Es geht um das Einräumen von Raum und um die Möglichkeit und Bedeutung einer Analytik des Daseins – letzteres auch in deutlicher Abhebung von der Analyse des Daseins in Binswangers Verständnis. Es geht natürlich auch um die fundamentalen »Sein und Zeit«-Existentialien, Befindlichkeit und Verstehen, um Sprache und Geworfenheit und auch um die praktische Anwendbarkeit dieser Grundbegriffe, wie beispielsweise in der Beschreibung psychosomatischer Phänomene (wie Stress) innerhalb der von den Existentialien bestimmten Verfassung der Existenz. Mit und jenseits von »Sein und Zeit« setzt sich Heidegger mit Freud auseinander, mit der Relativitätstheorie, mit der Bedeutung der Begriffe Natur, Leib, Psyche, Ich oder »Subjekt«. Immer wieder sind die Rückführungen auf das ursprüngliche Phänomen – die Vorgehensweise, die Heidegger auch in den »Sein und Zeit«-Analysen pflegt – eine enorme Herausforderung, da sie von den Zuhörern fordern, bestimmte Denkmuster umzuformen und sich dabei auf Heideggers begriffliches Instrumentarium einzulassen, auf seine Erläuterungen und geheimnisvollen Wendungen, mit denen er die Sprache neu belebt, aber auch verzaubert, verdunkelt, verhext: »Zeitigung als Sich-zeitigen ist Sich-entfalten, aufgehen und so erscheinen. Natura (lateinisch) kommt von nasci = geboren werden. Physis – phyein (griechisch) = aufgehen im Sinne des aus der Verborgenheit ins Unverborgene Kommen. Weder bei natura noch bei physis besteht dem Worte nach ein Zusammenhang mit Zeit. Wissen hängt mit ›wit‹ – videa (Sanskrit vydia) zusammen. Dabei ist im Griechischen bei der idea das V verschwunden. Immer heißt es: etwas ins Licht stellen. Das Zurechtfinden ist erst eine Folge des Sehens, ›Bewissens‹, darin gleiche Form wie ›beschreiben‹ = mit einem Licht umgeben. (Vgl. M. Bleulers Aufsatz über Bewußtseinsstörungen) Bewußtsein setzt Lichtung und Dasein voraus und nicht umgekehrt.« 6
Gerade im Denken eines Subjekt-Bewusstseins, Ausdrücke, die Heidegger konsequent vermeidet (und in »Sein und Zeit« auf das ursprüngliche Phänomen des Gewissens, präziser, des Gewissen-haben-wollens und der Sorge zurückführt), sind die begrifflichen Anstrengungen am deutlichsten. Medard Boss erinnert im Vorwort: GA 89, 643. Hier und im ganzen Text wurden für die griechischen Ausdrücke Transliterationen eingeführt.
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»Sein und Zeit« und »Die Zollikoner Seminare«
»Bliebe man zum Beispiel bei der Bestimmung des Menschen beim Reden von einem Subjekt oder einem ›Ich‹, dann bliebe auch das Verstehen des Wesensgrundes des Mensch-seins, der in einem Aushalten eines vernehmenden Welt-Offenständigkeits-Bereiches besteht, völlig verhüllt.«
Und gleich im Anschluss: »Beim Vorliegen solch damaliger enormer Verständigungsschwierigkeiten mag das Seltsamste der Zollikoner Seminare darin gelegen haben, dass sie weder Martin Heidegger noch einem der Seminaristen je zu dumm wurden. Hartnäckig arbeiteten sich Lehrer und Schüler der ersten Stunde durch die Jahre hindurch einander entgegen.« 7
Das Interessante an den »Zollikoner Seminaren« ist aber keineswegs bloß der Zusammenstoß einer »naturalistischen« und einer »philosophischen« Weltauffassung. Auch wenn es durchaus nicht um eine paritätisch verteilte gegenseitige Befruchtung geht, ist Heidegger hier – man muss es an dieser Stelle anerkennen – nicht nur der philosophische Lehrmeister, denn er lehnt sich weit aus dem Bereich des rein ontologischen Denkentwurfes hinaus. Nicht als ob er plötzlich zum Positivisten geworden wäre, wobei er, was den Stand der Psychologie und der Naturwissenschaften angeht, sehr gut unterrichtet war. Nein, es passiert etwas anderes und sehr viel mehr: In diesen Gesprächen mit Medizinern ist Heidegger gezwungen, einen Begriff auszuformulieren, den die Kritik ab »Sein und Zeit« in seinem Werk vermisst hat und mit dem er weit über die Erläuterungen seines Hauptwerkes hinausgeht. Aus der Vielfalt der in den »Zollikoner Seminaren« angesprochenen Themen sticht eines besonders hervor. Es geht endlich und es geht viel um den Leib. Es geht notwendigerweise um das Verhältnis des Leibes zur Seele. Diesem Themenkomplex nachzugehen, versuchen auch die im Folgenden ausgeführten Überlegungen 8. Boss, ZS, XIII. Die Neuausgabe der »Zollikoner Seminare« (GA 89), die zum ersten Mal die Seminarnotizen Heideggers bekannt macht (sowohl die Vorbereitungen wie auch die laufenden Betrachtungen zum Verlauf der Seminare), bieten eine reiche Auswahl an Themen, deren Entfaltung hier aufgrund der Wahl der Problematik der Leiblichkeit nicht zureichend oder gar nicht unternommen wurde. So liefert zum Beispiel die ausführliche Behandlung der Zeitlichkeit (GA 89, 179-383) einen wertvollen Einblick in die Auseinandersetzung Heideggers mit der These der zeitlichen Konstitution des Seins in Ergänzung und jenseits der »Sein und Zeit«-Analysen. Auch die Überlegungen zur Natur des Grundes und der Begründungsproblematik sind im Kontext des Gesprächs sowohl mit Freud und der Psychoanalyse wie auch mit der modernen Phy-
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I.
Zur »Leiblichkeit« in den Zollikoner Seminaren: die sogenannte »Leerstelle« im Werk Martin Heideggers
Eine bekannte Kritik der vermeintlichen Leibvergessenheit Heideggers geht auf Jean-Paul Sartre zurück 9, der sich nach der Lektüre von »Sein und Zeit« darüber »wunderte« 10, warum Heidegger »nur sechs Zeilen« über den Leib geschrieben habe. Das scheint Heidegger selbst ähnlich gesehen zu haben, wie etwa der im Fink-Heraklit-Seminar gefallene bekenntnisartige Satz belegt: »Das Leibphänomen ist das schwierigste Problem« (GA 15, 236, 1966). Analog dazu kann, sechs Jahre später, die direkte Entgegnung in den »Zollikoner Seminaren« gelesen werden: »Sartres Vorwurf kann ich nur mit der Feststellung begegnen, daß das Leibliche das Schwierigste ist und daß ich damals eben noch nicht mehr zu sagen wußte.« 11 (vgl auch GA 89, ZS, 642) Dabei liefern die verdichteten »Sein und Zeit«-Passagen eine gute Basis, um Heideggers »Unwissenheit« zur Verräumlichung des sik, was die Natur der Kausalität bzw. die Gesetze der Motivation angeht, aufschlussreich und zeugen von der intensiven Beschäftigung Heideggers mit den Naturwissenschaften (vgl. GA 89, 115–178). 9 Im Grunde trifft Sartres Solipsismusvorwurf Husserl gegenüber auch Heidegger mit. Dass man den Anderen nicht konstituieren, sondern ihm begegnen würde, soll auch Heidegger verkannt haben (vgl. Sartre, »Das Sein und das Nichts«, Reinbek, 1982, 313 ff.). Weiterhin gilt es für Sartre, den gleichen Rückfall in den Kantischen Apriorismus zu kritisieren (»So macht die Existenz eines ontologischen und, infolgedessen, apriorischen ›Mit-Seins‹ jede ontische Verbindung mit einer konkreten menschlichen Realität, die für sich als ein absolutes Transzendentes auftauchen würde, unmöglich. Das als Struktur meines Seins begriffene Mitsein vereinzelt mich ebenso sicher wie die Argumente des Solipsismus. Die Heideggersche Transzendenz ist nämlich ein unwahrhaftiger Begriff: wohl beabsichtigt sie, über den Idealismus hinauszugelangen, und es glückt ihr auch in dem Maße, in dem dieser uns eine in sich ruhende und ihre eigenen Abbilder betrachtende Subjektivität vor Augen hält. Aber der so überwundene Idealismus ist nur eine bastardisierte Form des Idealismus, eine Art von empiriokritizistischem Psychologismus.« Ebd. 334). Wir können hier nur darauf verweisen, dass es bei Heidegger bereits vor der expliziten Abweisung der kantischen Terminologie, d. h. schon in »Sein und Zeit« auf eine offene Struktur des Daseins ankommt und dass diese – über die Räumlichkeitsproblematik – die Leiblichkeit mit einschließt. SZ, 132: »Die existenziale Räumlichkeit des Daseins, die ihm dergestalt seinen »Ort« bestimmt, gründet selbst auf dem In-der-Welt-sein. Das Dort ist die Bestimmtheit eines innerweltlich Begegnenden … Der Ausdruck »Da« meint diese wesenhafte Erschlossenheit. … Das Dasein ist seine Erschlossenheit.« (Vgl. Heideggers Randbemerkung »aletheia – Offenheit – Lichtung, Licht, Leuchten«, SZ, 442.) 10 Vgl. M. Boss, ZS 1987, 292, Seminar vom 3. März 1972, Freiburg-Zähringen. 11 ZS, Boss, 292 (3. März 1972, Freiburg-Zähringen).
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»Sein und Zeit« und »Die Zollikoner Seminare«
Daseins in seiner »Leiblichkeit« zumindest infrage zu stellen 12. Das gilt auch dann, wenn der Kontext zwar nicht der Leib als solcher ist, sondern die Auseinandersetzung mit der cartesischen Bestimmung der Welt als Summe von Ausgedehntheiten, res extensae. Heideggers ontologischer Gegenentwurf zum Denken der rein geometrischen Ausdehnung bietet hier einen der ersten Anlässe für eine knappe Auseinandersetzung mit der Leiblichkeit, »die eine eigene, hier nicht zu behandelnde Problematik in sich birgt« (ebd.). Zuvor muss jedoch die eigentliche »Räumlichkeit« des Zuhandenen, des In-der-Weltseins und des Daseins erörtert werden. Heidegger möchte auf das primäre Phänomen zurückführen und zu einem ursprünglicheren Verständnis von Raum finden. Er denkt von einer »Welt« 13 her, die als Bedeutungsgefüge das Dasein seine jeweiligen »Räume« erschließen lässt. Für dieses Gefüge, für die Einheit der Welt »im Ganzen« ist, wie Heidegger wenig später in seiner im Wintersemester 1929/1930 gehaltenen Freiburger Vorlesung 14 ausführen wird, das »Einheit-bildende Vernehmen« zuständig (452 ff.). Diese als »Bedingung der Möglichkeit der Rede« im Kontext der Aristoteles-Auseinandersetzung erörterte Struktur liefert den »Wesensgrund für die Möglichkeit des Entbergens-Verbergens des aufzeigenden logos«: das Bedeuten von etwas als etwas. Nur aufgrund dieses vorlogischen Einheitsblicks wird so etwas wie aufzeigende Rede, logos apophantikos, möglich. Dieser Blick als »die Welt«, aus der her etwas zu verstehen wäre, ist nicht die Summe des mannigfaltig anzutreffenden Seienden oder Ergebnis eines Abstraktionsverfahrens, das dem »bloßen bunten Vielerlei« die Konstruktion eines sinnhaften Ganzen gegenüberstellen würde. Vielmehr muss das Ganze der Welt jeder Begegnung mit Seiendem vorausgehen, damit es überhaupt (»in seinem Sein«) erscheinen kann. Der Mensch ist »im Grunde und Wesen seines Daseins weltbildend« – aber nicht als derjenige, der seine Welt innerhalb seiner Bewusstseinssphäre »konstituiert« 15 oder im Sinne eines VorSo etwa die Passagen im § 23, SZ, 108 ff. und GA 89, 383 ff., 401–403. Zur Weltbildung als Grundgeschehen im Dasein, vgl. GA 29/30, § 74, Frankfurt a. M. 1983. (3. Auflage GA, Hrsg. F.-W. von Herrmann). 14 Vgl. die »Grundbegriffe der Metaphysik, Welt – Endlichkeit – Einsamkeit«, GA 29/ 30. 15 Vorbehalte gegen die vermeintliche Bewusstseinsimmanenz Husserls (unter Anerkennung des ambivalenten Status der V. Cartesianischen Meditation) sind dennoch m. E. berechtigt. 12 13
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stellens »konstruiert«. Es ist genau umgekehrt: Der Mensch findet sich in seinem Weltentwurf vor. »Alles je gerade zugängliche Seiende, uns selbst mit inbegriffen, ist von diesem Ganzen umgriffen.« (513) Dieses vorlogische, zirkulär angesetzte »Verstanden-haben« als »Verstehen-können« des »im Ganzen« (»Wir sehen: die vorlogische Offenbarkeit des Seienden hat den Charakter des ›im Ganzen‹«) ist das immer vor- und mitlaufende, Einheit-bildende Vernehmen von »Welt«. Dies ist wiederum für Heidegger kein Merkmal, das die Orientierungsweise von Lebewesen im Allgemeinen charakterisiert, sondern die Auszeichnung des Menschen schlechthin. Das Seiende, dem es in seinem Sein um dieses selbst geht, ist, was ihn selbst betrifft – und alles Seienden auch –, ontologisch. »Warum denn? Können wir uns nicht einfach an das Seiende halten, dieses oder jenes, was uns angeht, bedrängt oder erfreut und eben so gerade in den Weg kommt? … Wenn wir das nur könnten: ohne das Sein auskommen!« (GA 29/30 515)
Das rätselhafte »im Ganzen« der Welt, aus der wir jede Aussage überhaupt erst formulieren können, hängt mit der »Rätselhaftigkeit des Unterschieds von Sein und Seiendem« zusammen. Das logos-bestimmte Lebewesen »spricht aus dem Ganzen und in dieses hinein« (ebd. 513) und schließt sich selbst darin ein: »Wir selbst sind mit einbegriffen in diesem ›im Ganzen‹, nicht im Sinne eines zugehörigen Bestandstückes, das auch dabei ist, sondern in je verschiedener Weise und in Möglichkeiten, die zum Wesen des Daseins selbst gehören, sei es in der Form des Aufgehens beim Seienden, sei es in der Form des direkten Gegenüberstehens, Mitgehens, Abgestoßenwerdens, Leergelassenwerdens, Hingehaltenseins, Erfüllt- oder Getragenseins. Dies sind Weisen des Umwaltet- und Durchwaltetseins von diesem ›im Ganzen‹, die vor allem Stellungnehmen und vor allen Standpunkten liegen, die unabhängig von subjektiver Reflexion und psychologischer Erfahrung sind.« (513)
Fassen wir zusammen. Dieses »Ganze«, das »uns durchwaltet«, gehört zum »Wesensgrund«, kantisch ausgedrückt: zur Bedingung der Möglichkeit der Rede. 16 Das Einheit-bildende Vernehmen »umgreift« und durchdringt jede Gegebenheit mit einem »Verstehen« von Welt: »vor-logisch« zwar, aber in der Weise eines Vor-greifens oder Vorgriffs (vgl. SZ § 32). Es geht daher – bei dem von Heidegger sehr oft 16
Vgl. § 72 in GA 29/30.
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verwendeten Ausdruck Durchsichtigmachen – zunächst um ein »sehendes Erfassen«, ein ganzheitliches Erblickthaben, ein auf Einheit hin ausgerichtetes Vernehmen »unterwegs« zum Wort. Dieses vorlogische – fundamentalontologische – Verständnis durchdringt auch jede einzelne Wahrnehmung 17 und bietet ihr einen auf einen »Sinn« hin vorbereiteten Boden für ein noch dunkles, aber immerhin ein »Vor-verstehen«. »Ganzheit« (Einheit oder »Gestalt«) kommen nicht nachträglich, als Summe isolierter Empfindungsqualitäten hinzu, sondern sind immer schon im Spiel als ein weit verstandenes Sinnbzw. »Sprachgeschehen«. Dieser am Leitfaden der späteren Auseinandersetzungen mit der Vorsokratik herausgestellte Komplex Denken – Sein – Sprache scheint in »Sein und Zeit« und in den Schriften vor der »Kehre« zunächst hinter der Thematik der Zeitlichkeit zurückzubleiben. Das mögliche Ganzseinkönnen des Daseins hat mit dem Verstehen des Seins als Sein zum Tode den Sinn der Sorge als Zeitlichkeit – und diese wiederum wird von der verschwiegenen, angstbereiten Entschlossenheit her verstanden. Vor jedem kantischen »ich denke« … ist der Ruf des Gewissens ein sich nur im Stillen ereignendes Phänomen der Umkehrung und Vereinzelung, der Selbst-werdung. In diesem als unheimlich erfahrenen Anrufgeschehen und in einer unter das Existenzial der Befindlichkeit fallenden Ganzheitserfahrung scheint die Sprache eher sekundär zu sein. Vor aller Möglichkeit des Ausdrucks gilt: »Alles Verstehen ist befindliches«. 18 Sollten hier auch Leiblichkeitsphänomene aufgehoben sein, dann ist es nicht der Tod als ein leiblich Erfahrenes (die Erfahrung ist ja nur die des Todes der Anderen), sondern das Verstehen dieser Erfahrung, der letztlich sich zur Sprache hin bewegende Nachvollzug einer leiblichen Verankerung. Als erfahrene Zeitlichkeit ist dies das Schlüsselphänomen der gesamten Daseinsanalytik. Ein Befindlichkeitsphänomen: »In der Befindlichkeit wird das Dasein von ihm selbst überfallen als das Seiende, das es, noch seiend, schon war, das heißt gewesen ständig ist …« (328)
Die Engführung von Sprache und Leib bleibt im Kontext der Zeitlichkeits-, Sorge- und Todesthematik weitgehend ausgeblendet. Das DaZur Problematik der Wahrnehmung siehe die Auseinandersetzungen mit Kant und Husserl, vgl. GA 20, 21, 24, 25. 18 SZ, 265. 17
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sein erfährt sich zwar in der Sorge als ein handelndes, wie Heidegger immer wieder betont. Wie die Sprache aber in der Begegnung eines Selbst handelnd »leibt«, das ist in »Sein und Zeit« nicht zum Hauptproblem geworden. Nach der in »Sein und Zeit« zurückgestellten Auseinandersetzung mit der »Leiblichkeit« bietet erst das HeraklitSeminar 19 die Gelegenheit, dem Problemenkomplex vorsichtig nachzugehen. Nicht nur der räumliche Aspekt der Leiblichkeit (»ontische Nähe«) wird hier erörtert, sondern vielmehr die Phänomene von Stimme und Sprache. 20 Und doch scheinen diese von Heidegger angedeuteten Angehensweisen der Leiblichkeitsproblematik (deren enorme Wichtigkeit er gerade trotz der Betonung von Schwierigkeiten durchaus anerkennt) mit wenigen Ausnahmen 21 nicht ausreichend zu sein, um deren spätere Ausarbeitung in den sieben Jahre nach Sartres Tod erschienenen, aber über mehr als ein Jahrzehnt regelmäßig stattgefunden habenden »Zollikoner Seminaren« entsprechend zu würdigen. Dabei bieten diese, gerade in dem beständigen und beharrlichen Versuch, den philosophischen Diskurs auch für die Wissenschaft über den Menschen in seiner körperlich-seelischen Gesamtverfasstheit zu öffnen, vermutlich den wichtigsten Schlüssel zu dem immer wieder thematisierten Phänomen »Leib«. Mehr noch: Sie führen geradewegs in das für Heidegger nach der Kehre zentrale Thema von »Sprache« in ihrem Gesamtverhältnis zur »Leiblichkeit« und zum Sein. Im Kontext eines angemessenen Verständnisses des Sprachbegriffs Heideggers (das wir im Zusammenhang mit den bei Heidegger oft – und M. Heidegger / E. Fink, »Heraklit«, GA 15. Zur Diskussion der Leiblichkeitspassagen im Heraklit-Seminar in aller Kürze: den Anlass bietet die durchaus anspruchsvolle Problematisierung der »ontischen Nähe«, die im Kontext der Berührung von Licht und Dunkelheit (Frg. 26, 99, 55) den »Leib« als einen Sprechenden voraussetzt. Heidegger weist hier nochmal eine explizite Auseinandersetzung mit dem Thema Leib zurück, mit den berühmten Worten: »Das Leibphänomen ist das schwierigste Problem.« Dennoch, gleich im Anschluss: »Hierher gehört auch die adäquate Fassung des Sprachlautes. Die Phonetik denkt zu sehr physikalisch, wenn sie phone als Stimme nicht in der rechten Weise sieht.« (GA 15, 236) 21 Siehe dazu Cathrin Nielsen, »Pathos und Leiblichkeit. Heidegger in den Zollikoner Seminaren«, in: Orth / Lembeck (Hrsg.) Phänomenologische Forschungen, 2003. Gleichwohl, zu Sprache und Leib, s. David Espinet, »Martin Heidegger. Der leibliche Sinn von Sein«, in: Alloa, Bedorf, Grüny, Klass (Hrsg.), »Leiblichkeit«, Tübingen 2012. 19 20
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»Sein und Zeit« und »Die Zollikoner Seminare«
keineswegs beiläufig! – beschriebenen Vernehmens- und Leiblichkeitsphänomenen entwickeln wollen) gewinnt die sogenannte Leerstelle im Werk durchaus an Dichte. Denn überall da, wo über ein wie auch immer geartetes Angesprochenwerden ein Bereich eröffnet wird, in dem, als mögliche Ankunftsstelle von »Sein«, der Mensch als Ganzes in Anspruch genommen wird, ist seine »Leiblichkeit« mit inbegriffen. Diese scheinbar triviale Feststellung kann dazu verführen, ein vielschichtiges und rätselhaftes Phänomen ekstatischen Charakters 22 zu übersehen, dessen Beschreibung über die Vorstellung eines »körperlichen« Niederschlags qua Nebenerscheinung »geistiger« Aktivitäten – oder des Leibes als Vehikels »psychischer« Phänomene – weit hinausreicht.
II.
Die Leitfäden der »Zollikoner Seminare«: »das Problem der Methode der Wissenschaft ist identisch mit dem Leibproblem« 23
Im Rahmen des im Juli 1965 im Hause Boss stattfindenden Seminars zum Thema »Psychosomatik« (sprich: die aus einer philosophischen Perspektive geführte Erörterung und Umgrenzung dieser als Wissenschaft) isoliert Heidegger zwei Fragerichtungen, die aufeinander zu beziehen wären, ohne sich zu decken: die Frage nach dem Leib und die Frage nach dem Verhältnis von Psyche und Soma, das in dem Namen »Psychosomatik« anklingt 24. Letzteres verweist, so Heidegger, auf ein Methodenproblem dieser Wissenschaft, und zwar ein derart fundamentales, dass selbst die Reflexion, welche sie unter dieser Bezeichnung betreibt, als eine »unzureichende oder gar als eine unmögliche Fragestellung« erscheint. Bis zur Klärung des weiteren Vorgehens sollte deshalb, so der Ausgangspunkt der Diskussion, zwischen Leib und Soma keine Identifizierung vollzogen werden: »Ist der Leib etwas Somatisches oder etwas Psychisches? Oder keines von beiden? Sollte dies letztere zutreffen, wie steht es dann mit der Unter-
So gehört zur sprachlichen Dimension der »Leiblichkeit« auch die »Gebärde« (vgl. dazu weiter unten) des Errötens, die in ihrem Bezug auf die Mitmenschen nicht als der äußere »Ausdruck« eines »Inneren« begriffen werden darf. In dem Kontext spricht Heidegger von einem »eigentümlichen ekstatischen Sinn« der Leiblichkeit (ZS, 118). 23 GA 89, 794. 24 Vgl. GA 89, 793 ff. 22
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scheidung von Soma und Psyche? Wird diese am Ende hinfällig?« (GA 89, 793)
Von der adäquaten Beschreibung des »Leibphänomens« macht Heidegger die Legitimität einer Unterscheidung zwischen Psyche und Soma abhängig, die trotz der Ankündigung einer ganzheitlichen Betrachtung gerade durch die »Psycho-somatik« nochmals verschärft wird. Diese grundsätzliche Trennung ist für ihn fragwürdig: »Die Frage muss gefragt werden, auf welchem Wege die Unterscheidung von Soma und Psyche sich vollziehen und wie sie sich begründen lässt. Die Frage nach dem Weg ist die Frage nach der Methode«. (GA 89,ebd.)
Es geht daher, wieder einmal, um ein radikales Zurück zur Sache selbst, um sich, von dieser her und an ihr entlang, den Weg vorgeben zu lassen.
III. Leib- und Körpergrenzen Dass sich das Problem des Leibes und der Leiblichkeit nicht mit dem von Körper und Körperlichkeit identifizieren lässt, hatte Heidegger in dem Seminar vom 14. Mai 1965 anhand der Unterscheidung von Leibgrenze und Körpergrenze thematisiert (vgl. GA 89, 781 ff.). Während der Körper bei der Haut aufhören würde, könnte die Grenze des Leibes beliebig weit hinausgeschoben werden, und zwar je nach dem »Aufenthaltsort« eines sich in der Wahrnehmung vorfindenden »Ich«. Die Frage, die sich mit dem »Hier-Sein« des Menschen stellt, ist die Frage nach »Raum und Leib« und um »das Verhältnis beider«. Der Leib wäre, so Heidegger, im Rahmen eines Bezugs zu betrachten, der über die Begrenztheit des rein Körperlichen immer schon hinausreicht, sich ein »Hier« (ein besonderes »Da« und ein »Jetzt«) einräumt, das mit der körperlichen Ausgedehntheit nicht erschöpft wird. Während der Körper noch in der cartesischen Welt der res extensae ruht, ist der Leib jederzeit »hiesig«. Dies würde bedeuten, der Terminologie von »Sein und Zeit« folgend: Er kann nie bloß »vorhanden« sein, sondern ist immer schon »welthafte« Präsenz: »›Ich bin jederzeit hier‹ heißt also: ich halte mich stets in einem ›Hier‹ auf, das ›Hier‹ ist jedoch jeweilen dieses. Ich bin jederzeit hiesig, bin aber nicht jederzeit hier an diesem bestimmten Ort«. (GA 89, 782, Herv. MH.)
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»Sein und Zeit« und »Die Zollikoner Seminare«
Der Überschuss, die Ambivalenz des leiblichen Aufenthaltes (der auch immer aus einem »Präsens«, einem offenen Jetzt-Da 25 lebt) ist gegenüber dem körperlichen Vorhandensein in einem Raum nicht zu übersehen. Das hiesige »Hier« des Leibes ist im Vergleich zu »diesem Da« des Körpers im geometrischen Raum immer schon um ein zeitliches Verständnis, nämlich um das Präsentsein in der Wahrnehmung, »erweitert«. Der Unterschied Leib – Körper, die angedeutete »Verlängerung« ist nicht nur eine Modifikation in der Quantität des messbaren Raumes: »Man könnte sich denken, rein als theoretische Möglichkeit, dass mein Leib qua Körper sich ausdehnt bis zum wahrgenommenen Fenster, so daß die Leibgrenze und die Körpergrenze sich decken. Aber gerade dadurch wird die artmäßige Verschiedenheit der beiden Grenzen deutlich. Die Körpergrenze wird dadurch, daß sie sich dem Anschein nach mit der Leibgrenze deckt, niemals selber zu einer Leibgrenze. Beim Zeigen mit dem Finger auf das Fensterkreuz dort drüben höre ich nicht bei den Fingerspitzen auf. Wo ist denn die Grenze des Leibes?« (GA 89, 782–783)
Die »Verlängerung« des Körpers um seine Wahrnehmung bestimmt noch nicht hinreichend die Wahrnehmungssphäre des Leibes. Mehr als nur »hier« ist das »Sich-Aufhalten« des Leibes »hiesig«, es »weiß« (wahrnehmend, aber auch erinnernd, vergegenwärtigend) um sein »Jetzt«. Dieses Verständnis ist aber allein deshalb nicht als »psychologische« Erweiterung eines »somatischen« Aspektes zu verstehen. Der qualitative Unterschied zwischen einem an den Fingerspitzen aufhörenden, als solchem jederzeit mess- und wiegbaren Körper und einem um die Gebärde des Zeigens »erweiterten« Wahrnehmungsleib besteht nicht in einer expliziten Reflexion (im Sinne eines psychischen Denkaktes) über die Zeitlichkeit seines Aufenthaltes. Es handelt sich um eine noch zu erörternde Form des Um-sich-Wissens: ein Selbst-Bezug, der nicht von der Gegenwart eines bewussten, reflektierten »Ich nehme wahr« innerhalb eines »Leibes« oder durch einen »Körper« hindurch lebt, sondern von einem merkwürdigen, ek-statischen Selbstverständnis aus dem Sein heraus und vom Sein her. Heidegger nennt dies das »Leiben«.
Jenseits der bereits angesprochenen, in »Sein und Zeit« als Erschlossenheit des Da des Daseins gekennzeichneten Offenheit siehe auch im Kontext der Erörterung der Wahrnehmungsproblematik, GA 24–25 die Diskussion um die Zeitlichkeit, sprich um den ontologischen Sinn der »Präsenz«.
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IV. Das Leiben von »Ich« und »Leib«: »mitbestimmt durch mein Menschsein …« Die Vollzugsphäre dieser Bewegung ist die existentiale Ebene. Das »Leiben« ist, fundamentalontologisch betrachtet, in Bezug auf den Leib oder auf das Ich das primäre Phänomen: »Genauer müsste es heißen: der Leib ist je mein Leib. Das gehört zum Leibphänomen. Das ›mein‹ ist bezogen auf mich selbst. Mit dem ›mein‹ meine ich mich. Ist der Leib im ›Ich‹ oder ist das ›Ich‹ im Leib? Der Leib ist jedenfalls kein Ding, kein Körper, sondern jeder Leib, das heißt der Leib als Leib ist je mein Leib. Das Leiben des Leibes bestimmt sich aus der Weise meines Seins. Das Leiben des Leibes ist somit eine Weise des Da-seins. Aber welche? Wenn der Leib als Leib je mein Leib ist, dann ist diese Seinsweise die meinige, so ist das Leiben mitbestimmt durch mein Menschsein, im Sinne des ekstatischen Aufenthaltes inmitten des gelichteten Seienden. Grenze des Leibens (der Leib ist nur insofern er leibt: Leib) ist der Seinshorizont, in dem ich mich aufhalte. Deshalb wandelt sich die Grenze des Leibens ständig durch die Wandlung der Reichweite meines Aufenthaltes. Die Körpergrenze dagegen ändert sich für gewöhnlich nicht, höchstens etwa beim Dickwerden oder beim Abmagern.« (ebd. 783)
Versuchen wir, ausgehend von dieser Passage, einige Punkte festzuhalten. Der »Leib« ist von dem (»wahrnehmenden«, etwas »vermeinenden«, sich irgendwo »intentional« aufhaltenden) »Dasein« untrennbar: Jeder Leib ist »je mein Leib«. Der Leib ist kein von einer »denkenden« Substanz, einem Subjekt oder Substrat zu unterscheidender körperlicher Träger, »Stoff« oder Ding: Der Leib ist jeweils das Individuum, das Ich als Ganzheit Betreffende. Als Begleiter und unter Umständen als Stellvertreter für ein sich nur als Eigenname ausdrücklich verstehendes Ich-Selbst, mit anderen Worten als »Pronomen«, als Für-wort, »spricht« der Leib sich als Akkusativ (»mich«) oder aber als Genitiv (»meiner«, »mein«) aus. Erst in der NominativForm ergeben sich die Schwierigkeiten – das als solches sich vernehmende Selbst, anders gesagt: das entdeckte (und im Sprechen sich individuierende) »Ich«, scheint sich von seiner »festen« Materie trennen zu wollen: Das Ich meint, sich auf sich selbst besinnend, ein Verhältnis zu seinem Körper zu haben, während das Selbst – ohne dies groß zu hinterfragen – jeweils sein Leib »ist«. Die zwischen dem »offenen«, denkend agierenden »Ich« und dem an sich »verschlossenen« Leib-Körper sich ergebende – erst morphologische und dann syntak-
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»Sein und Zeit« und »Die Zollikoner Seminare«
tische – Trennung 26 ermöglicht die von Heidegger durch Umkehrung ad absurdum geführte (im Grunde uralte und noch immer herrschende) Container-Vorstellung: Das Ich wäre »im« Leib, oder aber der Leib (qua »psychologisches« Analogon zum »physiologischen« Körper) wäre »im« Ich, als eine wie auch immer zu fassende Vorstellung. 27 Wie ist das Verhältnis von Ich und Leib anders zu denken? Innerhalb dieser Polarität von geistig-psychisch bzw. körperlich-leiblich ist das Problem offenbar nicht zu lösen 28. Um die Ich-Leib/Körper-Spaltung zu überwinden und trotzdem nicht reduktionistisch zu verfahren, bedarf es eines anderen Blickwinkels. Diesen findet Heidegger in einer durchaus klassisch phänomenologischen Vorgehensweise über die Beschreibung des daseinsmäßigen Vollzugs, über das Leiben des Leibes. Das Leiben ist kein somatisches, kein körperliches Phänomen, selbst wenn das Leiben sich am Leib zeigt. Die Relation ist vielmehr umgekehrt: Nicht der Leib ist dadurch ausgezeichnet, dass er dann und wann zu »leiben« pflegt, sondern das Leiben erlaubt einem Körper-Ding (»soma«), beständig zum lebendigen Leib zu werden. Anders gesagt: Während das
Vgl. das Problem des (denkenden) Subjekts und des (räumlichen) Objekts. Zum Ich-Subjekt, 23. Nov. 1965, GA 89, 821 ff. 27 Hierzu die Bemerkung, unter Verzicht auf eine Weiterführung: das Problem der Trennung zwischen Seele und Körper, Psyche und Soma, wäre, was das antike Denken betrifft, viel differenzierter zu betrachten. Heidegger sieht da vor allem ein sprachliches Problem und erwähnt in dem Zusammenhang nur die »Uminterpretierung« des Griechischen durch das Lateinische und dass der Begriff »Soma« »eine viel weitere Bedeutung als unser heutiges ›somatisch‹« gehabt habe (ZS 14 Mai 1965, GA 89, 772 ff.). 28 Interessant ist vielleicht, außerhalb des bewusst Heidegger-immanenten Fortgangs des Textes, zu beobachten, dass es mittlerweile in der psychoanalytischen Forschung Versuche genau in diese Richtung gibt. Eine forcierte Identifizierung des Ich mit dem Körper-Leib kann, je nach Lage, das »Ich« materiell auffassen wollen (beispielsweise neurophysiologisch als Hirn-Phänomen) oder aber den Leib oder Körper »vergeistigen«, ihn als Teil eines mehr oder minder mechanistisch aufgefassten »psychischen Apparates« betrachten. Dass man in Richtung eines »nichtreduktionistischen Monismus« arbeiten müsste, ist die Schlussfolgerung, zu der beispielsweise Luigi Solano in seinem Beitrag »Gedanken zwischen Körper und Psyche im Lichte Wilma Buccis Theorie der multiplen Codierung« kommt. In: A. Mauss-Hanke (Hrsg.), Internationale Psychoanalyse 2011 (Ausgewählte Beiträge des Jahres 2010 aus The International Journal of Psychoanalysis, gegr.von Ernest Jones und Sigmund Freud), Psychosozial-Verlag, 2011, 77–101. 26
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Alina Noveanu
Leiben den Leib hin zum gelichteten Seienden (»Welt«) öffnet, auf das der Leib leiben kann, kann ein Körper allein nie »körpern«. Das Leiben ist daher weder eine rein »somatische« noch eine rein »psychische« Angelegenheit: Es umfasst auf nicht reduzierbarer Weise das Ganze des Menschseins. Das Leiben geht in ausgezeichneter Weise mit den Bewegungen des »Leibes« einher. Diese sind Bewegungen einer bestimmten Art und zwar »jeweils meine«, welche Heidegger unter der Bezeichnung »Gebärde« 29 erörtert. Diese reichen von weitgehend unkontrollierbaren Phänomenen wie Erröten bis zu viel »bewussteren« Gesten oder Handlungen: Bewegungen der Hand, Schulter, alles etwas vermeinende Bewegungen 30, die als »meine Bewegungen« identifiziert werden können. An der sich ständig in Bewegung befindlichen Grenze zwischen Mich und Ich (die nur unzutreffend mit Begriffen von Aktivität und Passivität, Bewusstheit und Unbewusstheit zu umschreiben wäre), zeigt das Leiben des Leibes über sein »Betragen«, das Sichverhalten in der Gebärde, die Art und Weise an, wie sich für ein Selbst »Seiendes« gelichtet hat. Das Leiben zeugt als »Seinsweise meines Seins« auch immer von einem Berührt-worden-sein inmitten des gelichteten Seienden, das heißt, das Sichlichten von Sein für den Menschen innerhalb einer »Welt«. Als »Seinsbezug« im »Weltbezug«, als eigenständige Weise des Daseins, ist das Leiben Teil der Antwort auf das Gelichtete: seine Grenze ist bestimmt von dem »Seinshorizont« des jeweiligen Aufenthaltes. Fassen wir zusammen. Das Eigentümliche des Leibens besteht in seiner doppelten Bezüglichkeit. Das Leiben öffnet sich hin zum Seins»Horizont«, von woher sich etwas überhaupt lichtet, und richtet sich zugleich auf den jeweiligen Aufenthalt: das »Menschsein« inmitten des gelichteten Seienden. Diese Mittelstellung des Leibens lässt sich als solche nicht auflösen. Vor jeder Spaltung in Soma und Psyche, Objekt und Subjekt ist das ek-statische oder transzendierende »Offenstehen« des »Leibens« die spezifische Seinsweise des geworfenentwerfenden Lebewesens, das in seinem »Erleiden« und »Gestalten«
GA 89, 786 und ff.: »Der Name Gebärde kennzeichnet die Bewegung als meine Leibesbewegung«. Die im Folgenden zitierten Ausdrücke stammen ebenfalls aus dem Umfeld des Seminars vom 14. Mai 1965. 30 Ob als mehr oder minder explizite Intention oder »unwillkürliche«, vegetative Antwort, die Gebärden sind immer präsent und Teil (nicht nur Ausdruck) eines Bezugs. 29
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»Sein und Zeit« und »Die Zollikoner Seminare«
der Welt sich als ein Selbst erfahren und benennen kann. Ein zweigleisiges – in sich gegenläufiges – und trotzdem einheitliches Vernehmen der »Welt«, ein Verhältnis (logos), welches sich noch nicht als Erkennen eines Subjekts seinem Gegenstand gegenübersieht. Anders gesagt: keine cogitatio eines »ego«, sondern das Erfahren und das »Sagen«-können eines »sum«: »Vorläufig wollen wir nur festhalten, daß das ›mein‹ in der Rede von ›mein Leib‹ sich auf mich selbst bezieht. Das Leiben hat diesen merkwürdigen Bezug auf das Selbst. Kant sagt einmal, der Mensch unterscheidet sich vom Tier dadurch, daß er ›ich‹ 31 sagen kann. Diese Aussage kann man noch radikaler fassen. Der Mensch unterscheidet sich vom Tier, weil er überhaupt ›sagen‹ kann; das heißt, eine Sprache hat.« (GA 89, 783)
V.
Leibliches Gestimmtsein und Sprache
Nun gilt es in einem letzten Schritt, diesem spezifisch daseinsmäßigen, dem menschlichen, leiblich-existierenden Offensein im Verhältnis zur Sprache nachzugehen. Dazu eine Bemerkung Heideggers in den »Zollikoner Seminaren«, die sowohl den Bezug auf »Sein und Zeit« wie auch die Erweiterung und Vertiefung des Problemkomplexes Leib – Sprache wiedergibt. Heidegger erörtert das Phänomen Stress und fragt in diesem Zusammenhang nach der Bedeutung von Befinden (vgl. ZS, 182 ff.). Als faktische Situation des Anderen im Ganzen (und nicht auf das Körperliche reduzierbar) will Heidegger das Befinden grundsätzlich von der in »Sein und Zeit« erörterten Befindlichkeit unterscheiden 32. Während das Befinden ein abgeschlossenes Geschäft bezüglich des Aufenthaltes des Daseins in der Welt und bei den Sachen darstellt, ist die Befindlichkeit (hier die Beschreibung in »Sein und Zeit« wieder aufnehmend und weiterführend) der Name eines auf ontologischer Ebene stattfindenden Wechselverhältnisses. Entscheidend ist Heideggers Präzisierung, es handele sich um ein Sinn- oder Sprachgeschehen: »Sie [die Befindlichkeit] ist die das Da-sein be-stimmende Gestimmtheit seines jeweiligen Bezugs zur Welt, zum Mitdasein der Mitmenschen und zu sich selbst. Die Befindlichkeit fundiert das jeweilige Wohl- und MißAnmerkung des Herausgebers P. Trawny: Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, A. a. O., 127. 32 GA 89, 859. 31
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befinden, ist jedoch ihrerseits wiederum fundiert in der Ausgesetztheit des Menschen an das Seiende im Ganzen. Damit ist schon gesagt, daß zu dieser Ausgesetztheit (Geworfenheit) das Verstehen des Seienden als eines Seienden gehört; ihresgleichen gibt es aber auch kein Verstehen, das nicht schon ein geworfenes ist. Geworfenheit und Verstehen gehören wechselweise zusammen in einer Zusammengehörigkeit, deren Einheit durch die Sprache bestimmt ist. Sprache ist hier zu denken als Sagen, in dem Seiendes als Seiendes, das heißt aus dem Hinblick auf das Sein sich zeigt. Erst auf dem Grunde dieser Zusammengehörigkeit von Geworfenheit und Verstehen durch die Sprache als Sage ist der Mensch vom Seienden ansprechbar. 33 Ansprechbarkeit aber ist die Bedingung der Möglichkeit von Beanspruchung, sei dies eine Belastung oder eine Entlastung«. (GA 89, 859, Herv. MH)
Wir hatten schon auf die spezifische Zirkelstruktur verwiesen, welche innerhalb der grundsätzlichen Offenheit des Daseins zu den unterschiedlichen Schattierungen führt angesichts der Durchsichtigkeit von Existieren und »in sich selbst« Leiben des Gestimmtseins: Die Offenständigkeit des letzteren ist ohne das gelichtete Offenständigsein des anderen nicht zu denken. Doch was heißt hier »das eine« und das »andere«? Leiben und Existieren, das prinzipiell Dunkle, sich Verschließende und das prinzipiell Offene gehören zusammen in einer einzigen 34 in sich gegenläufigen Bewegung des Überschreitens: einer erleidenden Bewegung, wobei der Mensch ausgesetzt ist, »geworfen« – in einer gestaltenden, »verstehend«-entwerfenden Bewegung. Beides geschieht zugleich als ein einziges Ereignis einer ek-statischen Originärzündung, deren »Mitte« – sollte sich diese finden lassen – das Wort darstellt. In diesem das Menschsein oder Dasein kennzeichnenden Spannungsfeld zwischen Sein und Denken ist die Sprache angesiedelt (mit allem, was sie vor und nach dem ausgesprochenen Wort darstellt): der Logos, das Verhältnis, aus dem heraus das Denken denken 35 und somit das Sein sein lassen kann.
Trawny vergleicht hier SZ, GA 2, 213 ff. Über die Verknüpfung von Existenz und leiblichem Dasein in den »vorgegenständlichen Stimmungen«, vgl. Nielsen, a. a. O., 158–159. 35 Denken: »Er-denken«, nach wie vor, keine logische Auslegung, vgl. beispielsweise GA 65, 460 ff. 33 34
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»Sein und Zeit« und »Die Zollikoner Seminare«
VI. Schlusswort. Das Sprechen über den Leib und über »die Leiblichkeit« »Das Reden vom Leiblichen als Bedingung ist keine phänomenologische Interpretation, sondern ist eher von außen her gesprochen. Wenn ich von Bedingung spreche, vergegenständliche ich beides, das Leibliche und das Existieren. Wenn ich von Bedingung spreche, bin ich schon draußen, aus dem Existieren eigentlich herausgefallen.« (Boss, ZS, 23. Nov. 1965 Zollikon, 258)
Eine der Hauptschwierigkeiten des Sprechens über den »Leib« (die bereits Husserl konstatiert hatte, als er seine vielzitierte Rede vom »unvollkommen konstituierten« Gegenstand prägte) ist eine ähnliche wie das Problem des Überschreitens der Bewusstseinsgrenzen aus dem Bewusstsein heraus: Es scheint unmöglich zu sein, das »je meine« (meines »Leibes«, genauso wie meines »Denkens«) von außen her zu betrachten, ohne, je nach Blicklage, ein Opfer vollbringen zu müssen. Entweder wird »mein« Leib immer wieder zum Fremden erklärt – im Vergleich zum »ich« – oder zum Mechanismus (zumindest diejenigen Teile, die dem »rationalen« Denken des Ich unterworfen werden können). Es gibt, gerade was die Phänomenologie des Leibes betrifft, ein methodologisches Problem, das auf die spezifischen Widerstände des lebendigen (»meines«) »Leibes« zurückzuführen sind. Dieses lässt sich zwar von einem Selbst her als ein noch dunkles »mein-mich« »empfinden« oder »erfahren«, weigert sich aber, von einem Ich restlos durchdacht zu werden. Wie kann es dann möglich sein, über den Leib zu sprechen? Im Augenblick, wo das Wort gefallen ist (das Seiende »gelichtet« und die Menschwerdung – je und je – vollbracht wurde), liegt der reine Leib schon weit zurück. Das mag auch mit zum Grund gehören, warum Heidegger zunächst keine direkten Definitionsversuche des Leibes (als Ankunftsstelle aller Leiblichkeitsphänomene) unternimmt. Jede begriffliche Fixierung würde schon – rein logisch betrachtet – den Leib als solchen verfehlt haben, denn das Wesen, das (definitionsgemäß) erst sprechend wird und draußen ist, hat keine Aussicht mehr auf eine Innenperspektive auf den eigenen Leib. Es gibt keinen Zugang zur animalitas. Und dennoch: Aus der Unmittelbarkeit des Leibens fällt der Mensch als Sprachwesen von Anfang an und immer schon heraus. Es gibt keinen reinen Leib mehr für den Menschen, wenn das Existieren und so das Verstanden-haben-Können und die »Welt« ihm vorausgehen sollen. Dahingehend, wenn die Sprache für das Leiben des Leibes mit ver237 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
Alina Noveanu
antwortet, muss es die Möglichkeiten geben, dem Leib von seiner »gelichteten« Verankerung ausgehend, dem Leiblich-sein, nachzugehen. Es gibt das Sprechen über den Leib für Heidegger jedoch nur über das Denken der »Leiblichkeit«: »Alles, was wir Leiblichkeit nennen … ist ein Bereich jenes nicht zu vergegenständlichenden, optisch nicht sichtbaren Vernehmen-könnens von Bedeutsamkeiten des Begegnenden, aus dem das ganze Da-sein besteht.« (Boss, ZS, 292. 3. März 1972, Freiburg-Zähringen)
So weit zur »Leerstelle« im heideggerschen Werk und, mit Blick auf »Sein und Zeit«, ein nicht zu unterschätzender Ertrag der Zollikoner Gespräche. Letztlich bieten diese, wenn noch ein Zweifel hätte bestehen können, den Nachweis der existentialen Verankerung aller menschlichen Leiblichkeit. Die Wesenscharakteristik der Leiblichkeit ist, wir halten fest, das »Vernehmen-können« von Bedeutsamkeiten des Begegnenden, Möglichkeiten des Ansprechens (nicht die »Bedingungen«, sondern den »Wesensgrund« des Sprechens). Dabei mag der Leib nach wie vor das Schwierigste bleiben, aber er gehört hinein in das, was im Gelingen und Misslingen des Sprach- und Sinn-geschehens das Denkwürdige ergibt. »Das Entscheidende in unserem Zusammenhang aber bleibt unsere Einsicht in das unmittelbare Entwachsen von allem unserem sogenannten materiellen Leiblichen aus den an sich nicht materiell faßbaren Vernehmens- und Verhaltensmöglichkeiten, aus denen unser Da-sein wesensmäßig besteht. Diese Einsicht erlaubt, leicht zu begreifen, wie unmittelbar und grenzenlos alles Leibliche dem Existieren zugehört und von dessen Seinsart ist und bleibt. Deshalb darf diese Einsicht auch die grundlegende Philosophie aller psychosomatischen Medizin geheißen werden.« (Boss, ZS, 296)
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Günther Neumann
Heideggers Freiheitsbegriff in Sein und Zeit unter Berücksichtigung der neueren Diskussion in den Neurowissenschaften und der Rechtsphilosophie Der vorliegende Beitrag gliedert sich entsprechend dem Titel in vier Schritte: 1. Der heutige universale Deutungsanspruch der Neurowissenschaften – eine kritische Analyse. 2. Die aus den neurobiologischen Erkenntnissen resultierende Herausforderung für die Rechtsphilosophie. 3. Der methodische Leitfaden und die Aufgabe der Auslegung des Freiheitsbegriffes in Sein und Zeit in der Abgrenzung von anderen Interpretationen. 4. Der Rückgang zur Rechtsphilosophie und die Frage nach der Aktualität von Sein und Zeit.
I.
Der heutige universale Deutungsanspruch der Neurowissenschaften – eine kritische Analyse
Die Frage nach der Vereinbarkeit von Determinismus und menschlicher Freiheit (in der heutigen Diskussion der sogenannte »Kompatibilismus« oder »Inkompatibilismus« 1), die den Ausgangspunkt der Die wichtigsten in der heutigen Debatte vertretenen Positionen hat z. B. Geert Keil zusammengestellt (Geert Keil, Willensfreiheit, 2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage Berlin/Boston 2013, 8; vgl. auch Thomas Buchheim, »Libertarischer Kompatibilismus. Drei alternative Thesen auf dem Weg zu einem qualitativen Verständnis der menschlichen Freiheit«, in: Der freie und der unfreie Wille. Philosophische und theologische Perspektiven, hrsg. von Friedrich Hermanni und Peter Koslowski, München 2004, 33–78; Thomas Buchheim, Unser Verlangen nach Freiheit. Kein Traum, sondern Drama mit Zukunft, Hamburg 2006, 104–119; ferner Art. »Freiheit« und Art. »Wille«, in: Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, begründet von Hermann Krings, Hans Michael Baumgartner und Christoph Wild, neu hrsg. von Petra Kolmer und Armin G. Wildfeuer in Verbindung mit Wolfram Hogrebe [u. a.], Freiburg/München 2011, Bd. 1, 801–817 und Bd. 3, 2516–2528; Art. »Frei-
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Untersuchung bilden soll, führte schon in der griechischen Philosophie zur Auseinandersetzung mit den Atomisten (Leukipp, Demokrit) und den Stoikern (Zenon, Chrysipp, Epiktet), die einen konsequenten Determinismus vertraten. In ihrem Buch Die hellenistischen Philosophen kommentieren Anthony Arthur Long und David Neil Sedley die »Ethik« des Epikureismus (Epikur, Lukrez) auszugsweise mit folgenden Worten: »In den erhaltenen Papyrusfragmenten von Epikurs Buch zum Thema der Verantwortung, aus denen die Texte B und C entnommen sind, wird die Bahnabweichung noch nicht einmal erwähnt. Dennoch wirft das Buch noch ein grelles Licht auf die Frage. […] Demokrit selbst, so hören wir, versäumte es einfach, die Implikationen seines Determinismus für das menschliche Handeln zu sehen (C13–14). Andererseits hat Epikur in C2–12 als Hauptgegner jemanden, der ganz bewußt einen mechanistischen Determinismus auf alles menschliche Verhalten anwendet, einschließlich seines eigenen Verhaltens. Dabei hat Epikur wahrscheinlich solche Demokriteer des vierten Jahrhunderts im Sinn wie seinen eigenen verunglimpften Lehrer Nausiphanes […].« 2
Die Problemstellung ist also keinesfalls neu. Das sogenannte »LibetExperiment« (1983 und 1985 erstmals publiziert) und die nachfolgenden Experimente von Patrick Haggard und Martin Eimer sind heute nur die in der Öffentlichkeit bekanntesten Beispiele für den universalen Deutungsanspruch der empirisch-experimentell verfahrenden Neurowissenschaften. Aber auch die Geschichtswissenschaft, wie beispielsweise repräsentiert durch den renommierten Frankfurter Mediävisten Johannes Fried, spricht für ihr Fachgebiet von einem »neuronal turn«, der auf den »linguistic turn« folgte. 3 Auf das LibetExperiment kann nur kurz eingegangen werden. Der US-amerikaheit« und Art. »Willensfreiheit«, in: Enzyklopädie Philosophie, in drei Bänden mit einer CD-ROM, unter Mitwirkung von Dagmar Borchers [u. a.] hrsg. von Hans Jörg Sandkühler, Hamburg 2010, Bd. 1, 739–745 und Bd. 3, 2997–3003). 2 A. A. Long / D. N. Sedley, Die hellenistischen Philosophen. Texte und Kommentare, übersetzt von Karlheinz Hülser, Stuttgart/Weimar 2000, 126 (Texte B und C, Epikur, De natura 34.21–22 und 34.26–30, deutsche Übersetzung ebd., 119–121); vgl. auch Malte Hossenfelder, »Epikur: Freiheit als Atomabweichung«, in: Hat der Mensch einen freien Willen? Die Antworten der großen Philosophen, hrsg. von Uwe an der Heiden und Helmut Schneider, Stuttgart 2007, 49–59. 3 Vgl. Christian Geyer, »Frieds Brainstorming. Jetzt ist auch die Geschichte aufs Gehirn gekommen«, in: Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente, hrsg. von Christian Geyer, Frankfurt am Main 2004, 134–139; vgl. im gleichen Band: Johannes Fried, »Geschichte und Gehirn. Irritationen der Geschichts-
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Heideggers Freiheitsbegriff in Sein und Zeit
nische Physiologe Benjamin Libet (1916–2007) schreibt selbst in einer Stellungnahme aus dem Jahr 1999 mit dem Titel »Haben wir einen freien Willen?«: »Ich habe mich dieser Frage auf experimentelle Weise genähert. Freien Willenshandlungen geht eine spezifische elektrische Veränderung im Gehirn voraus (das ›Bereitschaftspotential‹, BP), das 550 ms vor der Handlung einsetzt. Menschliche Versuchspersonen wurden sich der Handlungsintention 350–400 ms nach Beginn von BP bewußt, aber 200 ms vor der motorischen Handlung. Der Willensprozeß wird daher unbewußt eingeleitet. Aber die Bewußtseinsfunktion kann den Ausgang immer noch steuern; sie kann die Handlung durch ein Veto verbieten. Willensfreiheit ist daher nicht ausgeschlossen. Diese Befunde stellen Beschränkungen für mögliche Ansichten darüber dar, wie der freie Wille funktionieren könnte; er würde eine Willenshandlung nicht einleiten, würde aber den Vollzug der Handlung steuern. Die Befunde haben auch Implikationen für Ansichten über Schuld und Verantwortung.« 4
Es stellt sich jedoch die Frage, ob die Versuchsanordnung des LibetExperiments und seiner Nachfolger überhaupt das zu zeigen vermag, was daraus gefolgert wird. Die eigentliche bewusste Entscheidung ging den Experimenten längst voraus, nämlich in der Zustimmung der Versuchspersonen, den Aufforderungen des Laborleiters Folge zu leisten. So bemerkt der Philosoph Lutz Wingert, der heute an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich lehrt: »So betrachtet gleichen die im Labor ausgeführten willkürmotorischen Bewegungen dem Sprung des Tormanns beim Elfmeter, der schon vor dem bewußten Registrieren des Torschusses zu reagieren beginnt. Sie sind nicht weniger freiwillig als die habitualisierte Parade eines geübten und warmgeschossenen Torwarts.« 5 wissenschaft durch Gedächtniskritik« (111–133) und Markus Völkel, »Wohin führt der ›neuronal turn‹ die Geschichtswissenschaft?« (140–142). 4 Benjamin Libet, »Haben wir einen freien Willen?«, in: Hirnforschung und Willensfreiheit, 268–289, hier 268 (Abstract) (Deutsche Erstveröffentlichung, zuerst erschienen unter dem Titel: »Do we have a free will?«, in: Journal of Consciousness Studies 6, No. 8–9 (1999), 47–57). (Libets Beurteilung hinsichtlich der Möglichkeit eines »Vetos« wird in Fachkreisen aber kontrovers diskutiert.) 5 Lutz Wingert, »Gründe zählen. Über einige Schwierigkeiten des Bionaturalismus«, in: Hirnforschung und Willensfreiheit, 194–204, hier 197; vgl. auch im gleichen Band: Herbert Helmrich, »Wir können auch anders: Kritik der Libet-Experimente« (92–97); ferner Agnes Wulff, Die Existenziale Schuld. Der fundamentalontologische Schuldbegriff Martin Heideggers und seine Bedeutung für das Strafrecht, Berlin 2008, 80–84 (mit weiteren Literaturhinweisen).
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Allerdings beziehen sich Neurowissenschaftler wie beispielsweise Wolfgang Prinz vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig, Gerhard Roth vom Zentrum für Kognitionswissenschaften an der Universität Bremen und Wolf Singer vom Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main auf das Gesamtfeld ihrer Forschungen und nicht nur auf einige ausgewählte Experimente. Ihre Folgerungen sind weitreichend. So meint Roth im Zusammenhang der Selbstzuschreibung einer Handlung: »Entsprechend müsse in der Tat die korrekte Formulierung lauten: ›Nicht mein bewußter Willensakt, sondern mein Gehirn hat entschieden!‹« 6 Für Singer lassen sich im Prinzip alle Verhaltensmanifestationen wie Wahrnehmen, Vorstellen, Erinnern, Bewerten, Planen und Entscheiden letztlich aus der Dritte-Person-Perspektive heraus objektivieren und im Sinne kausaler Verursachung auf neuronale Prozesse zurückführen. Christian Geyer, der Herausgeber des Sammelbandes Hirnforschung und Willensfreiheit, schreibt dazu: »In dieser Radikalreduktion des Psychischen aufs Physische liegt der Determinismus beschlossen.« 7 Freiheit ist für Singer daher nur ein »soziales Konstrukt«, das (in Anknüpfung an Thomas Metzinger 8) auf der »Entwicklung eines Selbstmodells« interaktiver und dialogfähiger Gehirne beruht. 9 Zur Widerlegung des Materialismus, auf dem die angesprochenen Folgerungen der Neurowissenschaftler notwendig beruhen, soll zunächst kurz auf die Argumente eingegangen werden, die der deutGerhard Roth, »Worüber dürfen Hirnforscher reden – und in welcher Weise?«, in: Hirnforschung und Willensfreiheit, 66–85, hier 73; vgl. im gleichen Band die Kritik von Thomas Buchheim, »Wer kann, der kann auch anders« (158–165); ferner Thomas Buchheim, »Die Grundlagen der Freiheit. Eine Einführung in das Leib-Seele-Problem«, in: Philosophisches Jahrbuch 111 (2004), 1–16. Auf die weitere Aus- und Umformung von Roths Thesen kann hier nicht eingegangen werden (vgl. u. a. Michael Pauen / Gerhard Roth, Freiheit, Schuld und Verantwortung. Grundzüge einer naturalistischen Theorie der Willensfreiheit, Frankfurt am Main 2008). 7 Christian Geyer, »Hirn als Paralleluniversum. Wolf Singer und Gerhard Roth verteidigen ihre Neuro-Thesen«, in: Hirnforschung und Willensfreiheit, 86–91, hier 88. 8 Vgl. u. a. Thomas Metzinger, Subjekt und Selbstmodell. Die Perspektivität phänomenalen Bewußtseins vor dem Hintergrund einer naturalistischen Theorie mentaler Repräsentation, Paderborn 1993; Thomas Metzinger, Being No One. The Self-Model Theory of Subjectivity, Cambridge, MA/London 2003. 9 Wolf Singer, »Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen«, in: Hirnforschung und Willensfreiheit, 30–65, hier 46–49; vgl. auch im gleichen Band: Wolfgang Prinz, »Der Mensch ist nicht frei. Ein Gespräch« (20–26, bes. 23). 6
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Heideggers Freiheitsbegriff in Sein und Zeit
sche Philosoph und Logiker Franz von Kutschera am 13. September 2011 in seinem Abendvortrag »Fünf Gründe, kein Materialist zu sein« auf dem XXII. Deutschen Kongress für Philosophie mit dem Thema »Welt der Gründe« in München dargelegt hat, da er sich vor allem auf logische Überlegungen stützt, die allgemein akzeptiert werden. Gegenüber dem »logischen Physikalismus« der 1930er Jahre wird heute keine analytische, sondern nur noch eine nomologische Supervenienz psychischer und physikalischer Eigenschaften vertreten: »Nimmt man hingegen statt der analytischen nur eine naturgesetzliche oder, wie man auch sagt, nomologische Notwendigkeit an, so ergibt sich eine Position, die der generischen Identitätsthese entspricht und z. B. besagt, dass im Geltungsbereich der Naturgesetze bei jedem Menschen eine Schmerzempfindung immer mit dem Feuern bestimmter Neuronen in seinem Gehirn koinzidiert.« 10 Es kann an dieser Stelle nur auf den fünften Einwand, das »Dimensionsargument«, hingewiesen werden, da sich dieser abschließende Einwand auf »intentionale Einstellungen und Akte« bezieht und so schon in gewisser Weise zur Phänomenologie überleitet: »Geistiges besteht aus Haltungen, Einstellungen und Auffassungen von Gegenständlichem. Dafür sind die propositionalen Einstellungen charakteristisch. Das sind Relationen zwischen Subjekten und Sachverhalten wie ›glauben, dass …‹, ›erwarten, dass …‹, ›hoffen, dass …‹, ›zweifeln, ob …‹ usf.« 11 Nach dem Dimensionsargument gibt es aber aufgrund der Intentionalität des Geistigen weitaus mehr doxastische Sachverhalte als physikalische. Damit ergibt sich für die nomologische globale Supervenienz: »Die Beziehung zwischen doxastischen Sachverhalten und ihren physikalischen Korrelaten ist also mehr-eindeutig, so dass man aus dem physikalischen Zustand der Welt nicht eindeutig auf ihren psychologischen Zustand schließen kann. Das will der Materialismus aber ausschließen.« 12 Die Kontroverse um den Materialismus ist aber nicht nur eine theoretische Frage, sondern hat praktische Bedeutung: Franz von Kutschera, »Fünf Gründe, kein Materialist zu sein«, in: Welt der Gründe, hrsg. von Julian Nida-Rümelin und Elif Özmen, Hamburg 2012, 1364–1377, hier 1367. 11 Franz von Kutschera, »Fünf Gründe, kein Materialist zu sein«, 1372; zur »Intentionalität« und zur Erörterung weiterer »Argumente gegen den Materialismus« vgl. Franz von Kutschera, Philosophie des Geistes, Paderborn 2009, 29–31 und 162–170. 12 Franz von Kutschera, »Fünf Gründe, kein Materialist zu sein«, 1374. 10
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Günther Neumann
»Der Materialismus zeichnet ein völlig falsches Bild der seelisch-geistigen Wirklichkeit. So gibt es zur Freiheit, sich in seinen Ansichten und Handlungen an Gründen zu orientieren, in der physischen Welt keine Parallele. Daher gibt es für Materialisten auch keine Gründe für Überzeugungen oder Handlungen, sondern nur Ursachen. […] Wird der Materialismus ernst genommen, so hat sein falsches Bild des Geistigen gravierende Folgen für unser Selbstverständnis. […] Gibt es keine Freiheit, so auch weder Schuld noch Verantwortung. Es gibt auch keine besondere Würde des Menschen, die sich nach Kant ja aus seiner Freiheit ergibt. Materialisten von Burrhus Skinner bis Peter Singer und Gerhard Roth lassen keinen Zweifel daran, dass die alten Ideale von Würde und Freiheit heute obsolet sind und entsorgt werden müssen.« 13
Ein weitere Folgerung, die sich aus einem naturalistischen Reduktionismus ziehen lässt, liegt darin, dass dann auch die Sätze und Begriffe, mit denen die Messergebnisse beschrieben und die Theorien formuliert werden, selbst auf neuronale Prozesse zurückgeführt werden müssten. So schreibt der bereits genannte Philosoph Lutz Wingert: »Die Unvermeidlichkeit des Rückgriffs auf ein lebensweltlich-kognitives Vokabular ist aber nicht bloß der nötige Griff nach einer Leiter, mit deren Hilfe man die neurobiologische Beschreibungsebene erreicht.« 14 Franz von Kutschera, »Fünf Gründe, kein Materialist zu sein«, 1375. Lutz Wingert, »Gründe zählen« (wie Anm. 5), 200. Eberhard Schockenhoff spricht von einer »Petitio principii«: »Das zu Erklärende (das menschliche Bewußtsein) wird im Vollzug des Erklärens (durch das Aufstellen einer reduktionistischen Theorie) als Bedingung seiner Möglichkeit bereits vorausgesetzt. Das Bewußtsein ist der Ausgangspunkt, nicht das Ergebnis des Erklärens; es kann daher auch nicht ›wegerklärt‹ oder auf noch ursprünglichere Phänomene zurückgeführt werden.« (Eberhard Schockenhoff, »Wir Phantomwesen. Über zerebrale Kategorienfehler«, in: Hirnforschung und Willensfreiheit, 166–170, hier 169) Wingerts Rede von einer »Leiter« ist natürlich eine Anspielung auf Ludwig Wittgenstein (Ludwig Wittgenstein, Logisch-philosophische Abhandlung. Tractatus logico-philosophicus, Kritische Edition hrsg. von Brian McGuinness und Joachim Schulte, Frankfurt am Main 1989, Satz Nr. 6.54). Im Anschluss u. a. auch an die Phänomenologie hat sich vor allem die »konstruktive Wissenschaftstheorie« der Erlanger (Konstanzer, Marburger) Schule der Frage nach der lebensweltlichen (»prototheoretischen«) Fundierung der positiven Wissenschaften angenommen (vgl. Art. »Wissenschaftstheorie, konstruktive«, in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, unter ständiger Mitwirkung von Siegfried Blasche [u. a.] in Verbindung mit Martin Carrier und Gereon Wolters hrsg. von Jürgen Mittelstraß, Sonderausgabe Stuttgart/Weimar 2004, Bd. 4, 746–758; zu Edmund Husserls Kritik an der mathematischen Naturwissenschaft der Neuzeit im Ausgang von der vorwissenschaftlichen Lebenswelt vgl. Günther Neumann, »Galilei und der Geist der Neuzeit: Husserls Rekonstruktion der Galileischen Naturwissenschaft in
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Heideggers Freiheitsbegriff in Sein und Zeit
In einem Interview, an dem Gerhard Roth im Jahr 2000 gemeinsam mit dem Wissenschaftsphilosophen Gerhard Vollmer teilnahm, traf er folgende Vorhersage: »Ich glaube, spätestens in zehn Jahren hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass es Freiheit etwa im Sinne einer subjektiven Schuldfähigkeit nicht gibt.« 15 Roths Aussage steht im Gegensatz zum immer noch geltenden deutschen Strafrecht, das auf dem Schuld- und Verantwortlichkeitsprinzip beruht (»nulla poena sine culpa«). Nach einer viel zitierten Grundsatzentscheidung des Großen Senats für Strafsachen des Bundesgerichtshofs vom 18. März 1952 liegt der »innere Grund des Schuldvorwurfes« darin, »daß der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt und deshalb befähigt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden, sein Verhalten nach den Normen des rechtlichen Sollens einzurichten und das rechtlich Verbotene zu vermeiden«. 16
II.
Die aus den neurobiologischen Erkenntnissen resultierende Herausforderung für die Rechtsphilosophie
Aus den hier dargelegten Gründen ergibt sich eine Herausforderung für die Rechtsphilosophie, insbesondere auf dem Gebiet des Strafrechts. Es wird hier entsprechend unserem Thema insbesondere auf
der Krisis-Schrift«, in: Phänomenologische Forschungen, Jg. 2001, 259–279, bes. 278 f.; ferner Günther Neumann, Die phänomenologische Frage nach dem Ursprung der mathematisch-naturwissenschaftlichen Raumauffassung bei Husserl und Heidegger, Berlin 1999, § 9, bes. 103–105; zu Peter Janichs (Erlanger/Marburger Schule) Kritik an einer Naturalisierung des Geistes vgl. Günther Neumann, Der Anfang der abendländischen Philosophie. Eine vergleichende Untersuchung zu den ParmenidesAuslegungen von Emil Angehrn, Günter Dux, Klaus Held und dem frühen Martin Heidegger, Berlin 2006, § 12 b). 15 »Interview: Hirn und KI-Forschung: ›Es geht ans Eingemachte‹«, in: Spektrum der Wissenschaft 10/Oktober 2000, 72–75, hier 75. 16 BGHSt 2, 194 (200) (Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen, hrsg. von den Mitgliedern des Bundesgerichtshofes und der Bundesanwaltschaft, Bd. 2, Köln/Berlin 1952. Die erste Seitenzahl bezieht sich auf den Beginn der betreffenden Entscheidung, die folgende Seitenzahl in Klammern auf den genannten Auszug.) Vgl. auch Michael Köhler, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Berlin/Heidelberg 1997, 348; Johannes Wessels / Werner Beulke / Helmut Satzger, Strafrecht. Allgemeiner Teil. Die Straftat und ihr Aufbau, mit ebook: Lehrbuch, Entscheidungen, Gesetzestexte, 47., neu bearbeitete Auflage Heidelberg 2017, § 13 I 4, 204–206 (Rn 613–616).
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Günther Neumann
die im Jahr 2008 an der Universität Hamburg abgeschlossene juristische Dissertation von Agnes Wulff mit dem Titel Die Existenziale Schuld. Der fundamentalontologische Schuldbegriff Martin Heideggers und seine Bedeutung für das Strafrecht eingegangen, ohne dass die strafrechtlichen und juristischen Probleme im Detail behandelt werden können. Zum Ziel ihrer Arbeit schreibt Wulff: »Die vorliegende Arbeit beabsichtigt, den strafrechtlichen Schuldbegriff mit Hilfe der von Martin Heidegger entwickelten Existenzialen Schuld präziser zu bestimmen, um die strafrechtliche Schuld auch gegenüber neuen, naturwissenschaftlichen Erkenntnissen begründen zu können. Thematisch geht es dabei vorrangig um die Frage nach der Freiheit des menschlichen Willens, die aufgrund neuester neurobiologischer Erkenntnisse von Naturwissenschaftlern zumeist ablehnend beantwortet wird.« 17
Die Mehrheit der deutschen Strafrechtslehrbücher und -kommentare nimmt in jüngster Zeit eine agnostische Position zur Willensfreiheit ein. 18 Sie sei wissenschaftlich weder beweisbar noch widerlegbar. Daher muss für Wulff die Frage nach der Freiheit und Willensfreiheit philosophisch grundlegend bestimmt werden. 19 Sie bezieht sich dabei vor allem auf die Daseinsanalyse in Sein und Zeit. Bevor sie sich Heideggers Daseinsanalyse zuwendet, behandelt Wulff verschiedene Freiheitsbegriffe und Freiheitstheorien von Kant über den Deutschen Idealismus bis zur Frage nach der »Freiheit aus neurobiologischer Sicht«, wobei eher implizit vorausgesetzt als explizit erläutert wird, weshalb sie sich für ihre Fragestellung schließlich Heideggers Fundamentalontologie zuwendet. Ein wichtiger Punkt ist sicherlich, dass sich Heidegger mit der Frage nach dem »Wer« des Daseins in radikaler Weise von jeder verdinglichenden Vorhandenheitsontologie abgrenzt, auf der die Stellungnahmen der Neurobiologen notwendig beruhen, und damit einen ursprünglichen Begriff der Freiheit des je einzelnen Daseins in seiner »Jemeinigkeit« zu gewinnen sucht. 20 In Agnes Wulff, Die Existenziale Schuld. Der fundamentalontologische Schuldbegriff Martin Heideggers und seine Bedeutung für das Strafrecht, Berlin 2008 (Rechtsphilosophie, Bd. 2) (Zugl.: Hamburg, Univ., Diss., 2008), 1. 18 Geert Keil, Willensfreiheit (wie Anm. 1), 160; vgl. z. B. § 13 I 4 »Die Willensfreiheit als Problem des normativen Schuldbegriffs« der von Werner Beulke und Helmut Satzger neu bearbeiteten Auflage des von Johannes Wessels begründeten Lehrbuchs zum Strafrecht (wie Anm. 16). 19 Vgl. Agnes Wulff, Die Existenziale Schuld, 277. 20 Vgl. Agnes Wulff, Die Existenziale Schuld, 133. Man vergleiche diesen Abschnitt mit der Überschrift »Das ›Wer‹ des Daseins: Die ›Jemeinigkeit‹« (ebd., 133) mit einer 17
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der gegenwärtigen Diskussion wird immer wieder das Problem aufgeworfen, wie die Freiheit des Menschen vom Verhalten der Tiere (und von anderen Ereignissen) abgegrenzt werden kann. 21 Man unterscheidet dann die Willensfreiheit von der bloßen Handlungsfreiheit. Beispielsweise beruft sich Geert Keil für seinen »fähigkeitsbasierten Freiheitsbegriff«, wie er in seinem Buch Willensfreiheit ausführt, ausdrücklich auf die Bestimmung des Menschen als »animal rationale«. 22 Aber ist dann die Differenz eines solchen »vernünftigen Lebewesens« zumindest zu den höheren Primaten nicht letztlich nur eine graduelle? Des Weiteren kommen für eine rechtsphilosophische Fragestellung keine fremdbestimmten Freiheits- und Schuldbegriffe oder moralische Prinzipien und Werte mehr in Betracht, die auf theologischen oder anderen vorgegebenen metaphysischen Grundannahmen beruhen, die nicht aus der Sache selbst, der aufzuweisenden Freiheit und Verantwortlichkeit des Menschen, geschöpft sind. Vorweg kann auf die Worte verwiesen werden, mit denen Friedrich-Wilhelm von Herrmann seinen Beitrag »Heidegger: Freiheit und Dasein« für den Sammelband Hat der Mensch einen freien Willen? Die Antworten der großen Philosophen einleitet: »Das Wesen der Freiheit wird ursprünglicher angesetzt: nicht im menschlichen Willensvermögen, sondern als Freisein in der Seinsverfassung des Menschen, in der Existenz und deren Bezug zum Wesen des Seins überhaupt, zum Wesen der Wahrheit, zum Wesen der Geschichte.« 23
früheren Stelle (ebd., 79), an der Wulff auf den Hirnforscher Wolf Singer eingeht, für den sich das menschliche Gehirn nicht vom tierischen unterscheide und aus diesem Grund bewusste, freigewollte Entscheidungen nicht möglich seien. 21 Vgl. u. a. Ernst Tugendhat, »Willensfreiheit und Determinismus«, in: Die Freiheit des Denkens, hrsg. von Konrad Paul Liessmann, Wien 2007, 45–67, bes. 47; Thomas Buchheim, »Libertarischer Kompatibilismus« (wie Anm. 1), bes. 44. 22 Geert Keil, Willensfreiheit, 165. 23 Friedrich-Wilhelm von Herrmann, »Heidegger: Freiheit und Dasein«, in: Hat der Mensch einen freien Willen? Die Antworten der großen Philosophen, hrsg. von Uwe an der Heiden und Helmut Schneider, Stuttgart 2007, 267–280, hier 267.
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III. Der methodische Leitfaden und die Aufgabe der Auslegung des Freiheitsbegriffes in Sein und Zeit in der Abgrenzung von anderen Interpretationen Es wird nun eigenständig Heideggers Begriff der Freiheit in den Blick gebracht und erörtert, um von da aus wieder auf die rechtsphilosophischen Fragen zurückzukommen. Es kann hier nur ein Leitfaden der Interpretation gegeben werden, ohne dass die existenziale Struktur der Freiheit im Einzelnen analysiert werden kann. Da Heidegger, wie sogleich dargelegt wird, den Begriff der Freiheit in Sein und Zeit nicht ausdrücklich bestimmt und umgrenzt und in den späteren Texten, die sich ausdrücklich mit der Freiheit befassen, die Besinnungsebene schon in gewisser Weise gewandelt ist, soll sich dem Phänomen der menschlichen Freiheit in aller Vorsicht genähert werden. Der Begriff der »Freiheit« (oder das »Freisein« des Daseins) wird in Sein und Zeit als solcher, z. B. in einem eigenen Abschnitt oder Absatz, nicht eigens eingeführt und erläutert und tritt in keiner einzigen Überschrift als Terminus auf. Dennoch durchzieht der Begriff vor allem die Analyse der eigentlichen Existenzweise (das eigenste Seinkönnen, die vorspringend-befreiende Fürsorge des eigentlichen Mitseins, das vorlaufende Sein zum Tode, das Gewissen-haben-wollen und das eigenste Schuldigsein, die eigentliche Geschichtlichkeit). Aber auch andere Begriffe und begriffliche Unterscheidungen wie die »ontologische Differenz« und die »Grundartikulation des Seins«, ohne die der veröffentlichte Teil von Sein und Zeit unverständlich bleiben würde, werden erst später als solche explizit erörtert – die erwähnten Begriffe dann in der wichtigen Marburger Vorlesung Die Grundprobleme der Phänomenologie vom Sommersemester 1927. 24 Heidegger gibt in Sein und Zeit immer wieder Zusammenfassungen seiner vorangehenden Ausführungen, die in ihrer Prägnanz besonders aufschlussreich sein können. In § 74, also gegen Ende (des veröffentlichten Teils) der Abhandlung, heißt es im Zusammenhang der Erörterung der »eigentlichen Geschichtlichkeit« des Daseins: »Nur wenn im Sein eines Seienden Tod, Schuld, Gewissen, Freiheit und Endlichkeit Martin Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, hrsg. von FriedrichWilhelm von Herrmann (GA 24), Frankfurt am Main 31997, bes. §§ 4, 10–12 und 22. (Heideggers Texte werden nach der Martin Heidegger Gesamtausgabe (GA mit Bandangabe in arabischen Ziffern) zitiert. Eine Zusammenstellung (einschließlich Übersetzungen) findet sich in: Heidegger Studies 33 (2017), 347–364 (»Update on the Gesamtausgabe«).)
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dergestalt gleichursprünglich zusammenwohnen wie in der Sorge, kann es im Modus des Schicksals existieren, das heißt im Grunde seiner Existenz geschichtlich sein.« 25 Die existenziale Grundstruktur der Sorge mit den beiden fundamentalen Existenzialien der Geworfenheit und des Entwurfs wird mitkonstituiert durch die Freiheit. Die grundsätzliche Erörterung des Wesens der Freiheit zu Beginn der Freiburger Vorlesung Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung in die Philosophie vom Sommersemester 1930 ist auch hilfreich, einige Hinweise zum Freiheitsbegriff in Sein und Zeit zu geben. Hier heißt es: »Wir haben dabei [d. h. bei der negativen Freiheit] übersehen, daß, sofern wir überhaupt rechtmäßig von einer negativen Freiheit sprechen, auch eine positive gedacht werden kann und muß, daß mithin diese als positive in erster Linie den Bereich des Freiheitsproblems vorzeichnet; daß jedenfalls erst die negative Freiheit in eins mit der positiven Freiheit vorgestellt werden muß, wenn wir im Hinblick auf das Freiheitsproblem entscheiden wollen, ob es nur eine Sonderfrage der Philosophie ist unter anderen oder ob am Ende doch das Ganze der Philosophie in ihm begriffen ist.« 26
Das Freiheitsproblem kann für Heidegger freilich keine Sonderfrage sein, die in einer philosophischen Teildisziplin, z. B. in der Ethik, abgehandelt wird. Er hält fest: »Das Freiheitsproblem ist keine gebietsmäßig beschränkte Spezialfrage.« 27 Wie die zuvor zitierte Textstelle aus § 74 verdeutlicht, trifft die zuletzt genannte Feststellung auch auf Sein und Zeit zu. Die in der Vorlesung weiter erörterte Frage, ob im Wesen der menschlichen Freiheit nicht nur »das Ganze der Philosophie« begriffen, sondern auch zentriert und ontologisch verwurzelt ist, trifft für Sein und Zeit aber noch nicht zu. Wie Friedrich-Wilhelm von Herrmann zu Heideggers Frage nach dem Wesen der Freiheit ausführt, erreicht »die Betonung der Stellung der Freiheit in der Ausarbeitung der Grundfrage nach dem Sein überhaupt« in der Vor-
25 Martin Heidegger, Sein und Zeit, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann (GA 2), Frankfurt am Main 1977, 509 (385). (Die entsprechenden Seiten der Einzelausgabe von Sein und Zeit (Tübingen 151979; unveränderter Nachdruck: Tübingen 192006), die als Marginalien auch in die Gesamtausgabe (Bd. 2) aufgenommen sind, werden in Klammern angegeben.) 26 Martin Heidegger, Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung in die Philosophie, hrsg. von Hartmut Tietjen (GA 31), 2., durchgesehene Auflage Frankfurt am Main 1994, § 1, 10. 27 Martin Heidegger, Vom Wesen der menschlichen Freiheit (GA 31), 8.
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lesung Vom Wesen der menschlichen Freiheit ihren »Höhepunkt«. 28 Die Durchsicht und Einsichtnahme bisher unveröffentlichter Texte und Aufzeichnungen Heideggers vermag nun auch eine genauere Einsicht hinsichtlich des Übergangs zum seinsgeschichtlichen oder Ereignis-Denken, der viel berufenen »Kehre«, zu geben. In einem Gespräch mit der italienischen Journalistin Claudia Gualdana gibt von Herrmann die folgende Auskunft im Zusammenhang mit dem nicht mehr aufgefundenen Heft I (1931–32) von Heideggers »Notizbüchern« (»Schwarzen Heften«), das dieser wohl »selbst ausgeschieden hat«: »Dahinter steht vermutlich die Entscheidung Heideggers, seine ›Notizbücher‹ nur dem zweiten Ausarbeitungsweg der Seinsfrage, also dem seinsgeschichtlichen Weg, zu widmen. Für das Jahr 1931 plante Heidegger noch eine Umarbeitung von ›Sein und Zeit‹, in der er den Sachverhalt von ›Sein und Zeit‹ zurückgründen wollte in den ursprünglicheren Sachverhalt von ›Sein und Freiheit‹. Dieses Vorhaben könnte von Heidegger in Heft I eingetragen worden sein. Der ursprünglichere Sachverhalt von ›Sein und Freiheit‹ sollte aber den transzendentalen Ansatz von ›Sein und Zeit‹ beibehalten. Doch ganz kurz darauf, noch im Verlauf desselben Jahres 1931, stößt Heidegger zum seinsgeschichtlichen Ansatz der Seinsfrage vor, mit dem er den vorangegangenen Gedankenschritt von ›Sein und Freiheit‹ und damit die Überarbeitung von ›Sein und Zeit‹ in diesem Sinne für die dritte Auflage aufgegeben hat.« 29
Es ist daher auch Stefan W. Schmidt zuzustimmen, wenn er in seiner Monographie mit dem Titel Grund und Freiheit. Eine phänomenologische Untersuchung des Freiheitsbegriffs Heideggers zu Günter Figals Habilitationsschrift Martin Heidegger. Phänomenologie der Freiheit 30 schreibt: »Im selben Moment aber, in dem Figal darum bemüht ist, zu zeigen, dass sich das Denken Heideggers im Ganzen als eine Philosophie der Freiheit darstellen lässt, rückt das Spezifische des ontologischen Freiheitskonzeptes Heideggers aus seinem Fokus.« 31 Friedrich-Wilhelm von Herrmann, »Heidegger: Freiheit und Dasein« (wie Anm. 23), 272. 29 Friedrich-Wilhelm von Herrmann / Francesco Alfieri, Martin Heidegger. Die Wahrheit über die »Schwarzen Hefte«, Berlin 2017, 281–328 (Anhang), hier 286. 30 Günter Figal, Martin Heidegger. Phänomenologie der Freiheit, Neuausgabe Tübingen 2013 (1. Auflage Frankfurt am Main 1988). 31 Stefan W. Schmidt, Grund und Freiheit. Eine phänomenologische Untersuchung des Freiheitsbegriffs Heideggers, Cham 2015, 41 f., vgl. 46, Anm. 16; vgl. auch Stefan W. Schmidt, »Das Geschehen der Freiheit: Heideggers ontologischer Freiheits28
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An der bereits genannten Textstelle zu Beginn der Vorlesung Vom Wesen der menschlichen Freiheit bemerkt Heidegger ergänzend, »daß jedenfalls erst die negative Freiheit in eins mit der positiven Freiheit vorgestellt werden muß«, um das philosophische Freiheitsproblem entfalten zu können. 32 Die wesensmäßige Zusammengehörigkeit von positiver und negativer Freiheit, von Freiheit für … und Freiheit (bzw. Be-freiung) von …, kommt in Sein und Zeit mehrfach zum Ausdruck, z. B. wenn Heidegger in der »Charakteristik des existenzial entworfenen eigentlichen Seins zum Tode« von der »leidenschaftlichen, von den Illusionen des Man gelösten, faktischen, ihrer selbst gewissen und sich ängstenden Freiheit zum Tode« spricht. 33 Aber erst die positive Freiheit vermag vor den Blick zu bringen, worin die Befreiung im Sinne der negativen Freiheit besteht und woraufhin sie zielt. Eine bloße Be-freiung ohne eine positive Vorzeichnung wäre nur eine »libertas indifferentiae« 34. Ausdrücklich heißt es an einer anderen Stelle: »Das vorlaufende Freiwerden für den eigenen Tod befreit von der Verlorenheit in die zufällig sich andrängenden Möglichkeiten, so zwar, daß es die faktischen Möglichkeiten, die der unüberholbaren vorgelagert sind, allererst eigentlich verstehen und wählen läßt.« 35 Die Freiheit als positive Freiheit gehört zur eigentlichen Existenzweise, sie ist jedoch immer auf die uneigentliche Existenzweise bezogen, insofern sie die mögliche Be-freiung von der Unfreiheit ist und die je gewonnene Freiheit immer wieder in die Unfreiheit zurückfallen kann. In § 63 von Sein und Zeit gibt Heidegger gemäß der Überschrift »Die für eine Interpretation des Seinssinnes der Sorge gewonnene hermeneutische Situation und der methodische Charakter der existenzialen Analytik überhaupt« eine Rekapitulation des begriff«, in: Diego D’Angelo [u. a.] (Hrsg.), Frei sein, frei handeln. Freiheit zwischen theoretischer und praktischer Philosophie, Freiburg/München 2013, 76–93, hier 76; Hans Ruin, »The destiny of freedom: in Heidegger«, in: Continental Philosophy Review 41 (2008), 277–299, hier 280 f. 32 Martin Heidegger, Vom Wesen der menschlichen Freiheit (GA 31), 10. 33 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), § 53, 353 (266) (Weglassung der anderen Hervorhebungen G. N.). Heidegger spricht an einer späterer Stelle auch vom »Freisein für den Tod« (ebd., 507 (384)). 34 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 191 (144). 35 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 350 (264). In § 61 spricht Heidegger von der »Befreiung des Daseins für seine äußerste Existenzmöglichkeit« (ebd., 401 (303)). Und in § 68 b) heißt es zur Angst: »Sie befreit von ›nichtigen‹ Möglichkeiten und läßt freiwerden für eigentliche.« (Ebd., 456 (344))
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bisher durchlaufenen Weges der Analytik des Daseins. Hier heißt es nun ausdrücklich, dass das Dasein, das in seinem Sein »wesenhaft Seinkönnen ist« und damit mögliches »Freisein für seine eigensten Möglichkeiten«, als solches »je nur in der Freiheit für sie bzw. in der Unfreiheit gegen sie existiert«. 36 An einer anderen Stelle spricht Heidegger auch von der »vermeintlichen Freiheit des Man-selbst«. 37 Die »freien Möglichkeiten, die im Verstehen selbst liegen«, kennzeichnet Heidegger dagegen in seiner Vorlesung vom Sommersemester 1927 als solche, die sich »primär aus der Freiheit des eigensten Daseins und in diese zurück als eigentliches Verstehen vollziehen«. 38 In der bereits genannten Studie zu Grund und Freiheit bei Heidegger nennt Stefan W. Schmidt zwei Aspekte des existenzialen Freiheitsbegriffs als Leitfaden seiner Untersuchung: »1. Selbstbestimmung der Existenz aus Möglichkeit heraus, d. h. Freisein besteht im existierenden Sichbestimmen. 2. Freisein als Möglichkeit im Selbstsein oder Nichtselbstsein dieses Sichbestimmens. Der erste Aspekt bezeichnet also das ›daß‹, der zweite das ›Wie‹ der existenzialen Selbstbestimmung.« 39 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 414 (312). Freiheit und Unfreiheit sind jedoch, wie Günter Figal feststellt, nicht als »strikte Alternativen« zu begreifen: »Bisher blieb freilich noch ungeklärt, wieso Heideggers Konzeption des ›Man‹ als die Grundbestimmung von Unfreiheit zu begreifen ist. […] Unterstellt man, daß das ›eigentliche Selbstsein‹ ein ›Freisein‹ ist, so wären, wenn man das ›Man‹ mit ›Unfreiheit‹ identifiziert, ›eigentliches Selbstsein‹ und ›Man‹ strikte Alternativen. Daß Heidegger dies nicht behauptet, wird deutlich, wenn er sagt: ›Das eigentliche Selbstsein beruht nicht auf einem vom Man abgelösten Ausnahmezustand des Subjekts, sondern ist eine existenzielle Modifikation des Man als eines wesenhaften Existenzials.‹ (SZ, 130 [GA 2, 173]) Auch im eigentlichen Selbstsein ist man demnach durch die Struktur des ›Man‹ bestimmt, und wäre das nicht so, müßte man als ›eigentliches Selbst‹ aufgehört haben, dieser Bestimmte unter Anderen zu sein.« (Günter Figal, Martin Heidegger. Phänomenologie der Freiheit, Neuausgabe Tübingen 2013, § 5, 129 (152 f. nach der 3. Auflage, Weinheim 2000, die in der Neuausgabe von 2013 in der Marginalienspalte angegeben ist); vgl. auch Günther Neumann, »Sein des Menschen, Ethos und Freiheit in Martin Heideggers ›Brief über den ›Humanismus‹‹ und Sein und Zeit«, in: Heidegger und der Humanismus, hrsg. von Alfred Denker und Holger Zaborowski (Heidegger-Jahrbuch 10), Freiburg/München 2017, 102–118, bes. 107 f.) 37 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 367 (276). 38 Martin Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie (GA 24), 395 (Hervorhebung G. N.). 39 Stefan W. Schmidt, Grund und Freiheit (wie Anm. 31), 43; fast wortgleich in: Stefan W. Schmidt, »Das Geschehen der Freiheit« (wie Anm. 31), 79. Aber auch Schmidt bemerkt an einer späteren Stelle: »Wenn Heidegger das Wort ›Freiheit‹ oder ›Freisein‹ 36
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Das »Wie« der existenzialen Selbstbestimmung (Freisein) verweist auf die Existenzmodi der Eigentlichkeit und der Uneigentlichkeit. Es stellt sich aber die Frage, ob die existenziale Selbstbestimmung als solche schon mit dem (positiven) Begriff der Freiheit bzw. des Freiseins in Sein und Zeit gleichgesetzt werden darf. 40 In seinem Aufsatz »Das Geschehen der Freiheit: Heideggers ontologischer Freiheitsbegriff«, der eine prägnante Zusammenfassung seines Buches Grund und Freiheit darstellt, wiederholt Schmidt seine Erläuterung zu Heideggers Freiheitsbegriff: »Man könnte auch von einem ontologisch verstandenen ›Autonomiebegriff‹ sprechen, von einer ›existenzialen Selbstbestimmung‹.« 41 Es wird von Schmidt schon vorgegeben, was unter Freisein bzw. Freiheit zu verstehen ist. Zudem sind die Termini »Freisein« und »Freiheit« zwar eng aufeinander bezogen, dürfen aber in der Regel in SuZ verwendet, so (fast) ausschließlich im Sinne dieses zweiten Aspektes.« (Stefan W. Schmidt, Grund und Freiheit, 50) Und an einer weiteren Stelle ergänzt er, »dass Heidegger ›Freiheit‹ in SuZ vorrangig im Kontext der Eigentlichkeit diskutiert« (ebd., 57, vgl. auch 48). Diese Einschränkung deutet aber darauf hin, dass die Interpretation und Abgrenzung der existenzial-ontologischen Begriffe »Freisein für« und »Freisein von« bzw. »Freiheit« und »Unfreiheit« von Schmidt noch nicht ursprünglich genug angesetzt ist. 40 Auch das »Man-selbst«, das Dasein im (primären) Modus der Unfreiheit (vgl. dazu oben Anm. 36), darf nach Heideggers daseinsanalytischem Ansatz nicht mit dem Modus der Fremdbestimmtheit gleichgesetzt werden. Daher spricht Heidegger auch mehrfach im Superlativ vom Freisein für das »eigenste« Seinkönnen (Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 191, 254, vgl. u. a. auch 236, 249, 256, 264, 381 f. (144, 191, vgl. 178, 188, 193, 199, 287 f.)), da auch das Man-selbst (als ein Modus der Sorge) noch als ein dem Dasein »eigene[s] Seinkönnen« (Martin Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie (GA 24), 391) zu verstehen ist. Auch das »Selbst im Sinne des Man-selbst« zeigt »noch die Seinsverfassung […], daß es diesem Seienden um sein Sein geht.« (Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), § 41, 257 (193)) In diesem Sinne schreibt Günter Figal: »Aber auch da, wo der philosophische, genauer: daseinsanalytische Anspruch der Erörterung des ›Man‹ ernst genommen wird, ist diese Erörterung häufig mißverstanden worden. Ein solches Mißverständnis besteht darin, das ›Man‹ als den Modus der Fremdbestimmtheit zu interpretieren und ihm den Modus der Selbstbestimmung entgegenzusetzen.« (Günter Figal, Martin Heidegger. Phänomenologie der Freiheit, Neuausgabe Tübingen 2013, § 5, 127 (151 nach der 3. Auflage)) Die Selbstbestimmung als eine Grundbedingung von Freiheit, die hier nicht grundsätzlich in Abrede gestellt werden soll, gehört für Michael Pauen auf jeden Fall zur »Minimalkonzeption« personaler Freiheit (Michael Pauen, Illusion Freiheit? Mögliche und unmögliche Konsequenzen der Hirnforschung, Frankfurt am Main 2004, 63–65). 41 Stefan W. Schmidt, »Das Geschehen der Freiheit«, 79; vgl. Stefan W. Schmidt, Grund und Freiheit, 44 und 47.
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nicht miteinander identifiziert werden. So spricht Heidegger beispielsweise vom »Freisein für die Freiheit des Sich-selbst-wählens und -ergreifens«. 42 In einer gewissen Anlehnung an die Freiburger Dissertation von Martin Michael Thomé mit dem Titel Existenz und Verantwortung. Untersuchungen zur existenzialontologischen Fundierung von Verantwortung auf der Grundlage der Philosophie Martin Heideggers wird eine andere Vorgehensweise gewählt. Thomé stellt seinen Analysen des existenzialen Begriffs der Verantwortung auf der Grundlage von Sein und Zeit den Abschnitt »Die existenziale Lokalisierung der Verantwortung« voran. 43 Auszugsweise sollen die folgenden Leitlinien auch für die Interpretation des Freiheitsbegriffs herausgestellt werden, wobei die von Thomé noch genannten Kriterien gleichfalls berücksichtigt werden müssen: 1. In der durchzuführenden Analyse darf die Freiheit nicht in einer »Überschätzung ihrer Bedeutung« als die eigentliche oder übergeordnete Struktur der Existenzialien interpretiert werden. 2. Sie darf aber auch nicht in einer »Unterschätzung ihrer Bedeutung« auf der rein phänomenalen Ebene der Beschreibung der alltäglichen Vollzüge des Daseins angesiedelt werden oder gar kategorial als eine bloße Fähigkeit oder Eigenschaft des Menschen als eines vorhandenen Seienden bestimmt werden. Mit Nachdruck wird auf die folgenden methodischen Anweisungen Thomés verwiesen, die entsprechend auch für den Begriff der Freiheit übernommen werden können: »Die Verantwortung gehört in den Kontext der Auslegung des Seins des Daseins, also dorthin, wo auch die anderen Existenzialien in ihrer jeweiligen Analyse aufgewiesen werden. […] Verantwortung gehört also in die Reihe der Existenzialien, neben Insein in Welt, Mitsein, Geworfensein, Entwerfen, Reden, Besorgen, Sorge, in denen allen – wie in der Verantwortung auch – die Erschlossenheit von Sein-überhaupt existenzial-selbsthaft aufgeschlossen ist. Dabei ist sie jedoch nicht zu den Grundexistenzialien zu zählen, die in ihrer Dreiheit das Gesamt der Sorgestruktur ausmachen, sie Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 249 f. (188). Martin Michael Thomé, Existenz und Verantwortung. Untersuchungen zur existenzialontologischen Fundierung von Verantwortung auf der Grundlage der Philosophie Martin Heideggers, Würzburg 1998 (Zugl.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 1996), 69–71. Der Frage, ob der »Leitbegriff der Prekarietät« (ebd., 230, vgl. 16, 46, 74; heute üblicherweise in der Schreibweise »Prekarität«, vgl. französisch précarité) in der theologischen Dissertation Thomés nicht doch zu sehr betont und herausgestellt wird, kann hier nicht nachgegangen werden.
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ist aber auch nicht einfachhin gleichzusetzen mit einem der genannten Existenzialien, etwa mit dem Mitsein oder der Fürsorge, da sie durch diese phänomenal nicht vollständig gefaßt, existenziell nicht vollständig wie eine dieser vollzogen und existenzial-ontologisch nicht genau so wie eine dieser ausgelegt werden kann. Dabei muß die Verantwortung 1. anhand ihres Phänomencharakters als Weise des Sichverhaltens des Menschen zu Seiendem gezeigt werden. 2. in der spezifischen Weise, in der sie das Sein des Daseins als Existenz aufschließt, d. h. als Element der Sorgestruktur gezeigt werden. 3. in der spezifischen Weise gezeigt werden, in der sie einen Zugang zur Frage nach dem Sein-überhaupt bietet/eröffnet, also in ihrer Zeitlichkeit ausgelegt werden. 4. in beiden Zusammenhängen hinsichtlich ihrer Ausprägung in Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit ausgewiesen werden.« 44
Beispielsweise steht der Begriff der Freiheit zwar in einem engen Zusammenhang mit dem Existenzial des Möglichseins, darf mit diesem aber nicht identifiziert werden. Da die Freilegung der existenzial-ontologischen Strukturmomente des Daseins in Heideggers Grundwerk Sein und Zeit hier auch nicht annähernd nachvollzogen werden kann, wird auf die folgende Zusammenfassung verwiesen. Nach Friedrich-Wilhelm von Herrmann müssen wir Dreierlei unterscheiden: »1. das formal-existenzial-ontologische Strukturgefüge der Existenz als Sorge, deren Strukturmomente sowohl die uneigentliche als [auch] die eigentliche Existenz konstituieren; 2. die existenzial-ontologische Struktur der Modifikation der Ganzheitsstruktur der uneigentlichen Existenz, das Verfallen, das alle Strukturmomente der Existenz modifiziert; 3. die existenzial-ontologische Struktur der Modifikation der existenzialen Ganzheit der eigentlichen Existenz, die vorlaufende Entschlossenheit, die ebenfalls alle Strukturmomente der Existenz bestimmt.« 45
Auf dem Wege der existenzial-ontologischen Analysen der Existenzphänomene des Todes, des Gewissens und der Schuld werden im zweiten Abschnitt »Dasein und Zeitlichkeit« die ontologischen Bedingungen der Eigentlichkeit der Existenz aufgesucht. Das Phänomen der Angst (§ 40) kennzeichnet dagegen die Spannung zwischen möglichem Selbstsein und Verfallen. »Auf der einen Seite treibt sie das Martin Michael Thomé, Existenz und Verantwortung, 71. F.-W. von Herrmann, Subjekt und Dasein. Grundbegriffe von »Sein und Zeit«, 3., erweiterte Auflage Frankfurt am Main 2004, 37 f.
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Dasein in das Verfallen, zugleich aber auch zu sich selbst.« 46 Die Freilegung des formalen Strukturgefüges der Existenz als Sorge in ihrer »modalen Indifferenz« 47 nach von Herrmann entspricht dem 1. Aspekt nach Schmidt. Entsprechend der bereits genannten Aussage Heideggers, dass mithin die Freiheit »als positive in erster Linie den Bereich des Freiheitsproblems vorzeichnet« 48, wird das Freisein bzw. die Freiheit in Sein und Zeit erst bei der Freilegung der existenzial-ontologischen Strukturen der eigentlichen Existenz grundlegend mit enthüllt. Das Freisein bzw. die Freiheit des Daseins setzt zwar »das formal-existenzial-ontologische Strukturgefüge der Existenz als Sorge« voraus und ist darin verwurzelt, doch ist es damit noch nicht ursprünglich freigelegt. Es ist aber zu sehen, dass bei der Freilegung des formalen Strukturgefüges der Existenz als Sorge schon in gewisser Weise die Existenzmodi der Eigentlichkeit und der Uneigentlichkeit formal angezeigt oder auch vorgreifend mit erörtert werden, weshalb Schmidt feststellen kann, dass »diese beiden Aspekte von Heidegger selbst nicht so scharf getrennt werden« 49. Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit sind immer schon mitthematisch, nur so kann verhindert werden, dass die Daseinsanalyse gleichsam zu kurz greift und hermeneutisch unangemessen ist. Die positive Freiheit als »Freisein für« wird nicht zufällig erstmals in § 31 von Sein und Zeit mit dem Titel »Das Da-sein als Verstehen« eingeführt. 50 Mit der Aufweisung der »Möglichkeit als Existenzial« ist für Heidegger »die ursprünglichste und letzte positive ontologische Bestimmtheit des Daseins« erreicht. 51 Weil der Entwurf als die existenziale Struktur des Verstehens »immer die volle ErStefan W. Schmidt, Grund und Freiheit, 51. Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 71 und 309 (53 und 232). 48 Martin Heidegger, Vom Wesen der menschlichen Freiheit (GA 31), 10. 49 Stefan W. Schmidt, Grund und Freiheit, 43. 50 Von der vorangehenden, in gewisser Weise vorgreifenden Analyse der »vorspringend-befreienden« Fürsorge, die dem Anderen dazu verhilft, »in seiner Sorge sich durchsichtig und für sie frei zu werden« (Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), § 26, 163 (122)), wird hier abgesehen. 51 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 191 (143 f.); vgl. Stefan W. Schmidt, Grund und Freiheit, 43; zu Heideggers Möglichkeitsbegriff(en) in Sein und Zeit vgl. Stichwort »Möglichkeit«, in: Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe, unter Mitarbeit von Klaus Ebner [u. a.] hrsg. von Helmuth Vetter, Hamburg 2004, 362–370, hier 367–369; ferner Wolfgang Müller-Lauter, Möglichkeit und Wirklichkeit bei Martin Heidegger, Berlin 1960. 46 47
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Heideggers Freiheitsbegriff in Sein und Zeit
schlossenheit des In-der-Welt-seins« betrifft, kann sich das Verstehen »primär in die Erschlossenheit der Welt legen, das heißt das Dasein kann sich zunächst und zumeist aus seiner Welt her verstehen«, oder aber »das Verstehen wirft sich primär in das Worumwillen, das heißt das Dasein existiert als es selbst«. 52 Damit ergibt sich: »Das Verstehen ist entweder eigentliches, aus dem eigenen Selbst als solchem entspringendes, oder uneigentliches.« 53 Weil sich das Dasein primär aus dem Worumwillen der Existenz verstehen kann, ist das eigentliche Verstehen der Grund für das Freisein im positiven Sinne: »Das Dasein ist die Möglichkeit des Freiseins für das eigenste Seinkönnen.« 54 Ein solches eigentliches Verstehen bezeichnet Heidegger in seiner Vorlesung vom Sommersemester 1927 auch als den »ursprünglichen existenzialen Begriff des Verstehens«: »Das eigenste Seinkönnen selbst sein, es übernehmen und sich in der Möglichkeit halten, sich selbst in der faktischen Freiheit seiner selbst verstehen, d. h. das sich selbst Verstehen im Sein des eigensten Seinkönnens, ist der ursprüngliche existenziale Begriff des Verstehens.« 55 Das »Freisein für das eigenste Seinkönnen« verweist somit auf das Phänomen der Entschlossenheit als der eigentlichen Erschlossenheit des Daseins: »Die Entschlossenheit ist ein ausgezeichneter Modus der Erschlossenheit des Daseins. Die Erschlossenheit aber wurde früher [vgl. § 44] existenzial interpretiert als die ursprüngliche Wahrheit.« 56 Damit ergibt sich: »Nunmehr ist mit der Entschlossenheit die ursprünglichste, weil eigentliche Wahrheit des Daseins gewonnen.« 57 In dieser Richtung der Frage nach der (ursprünglichen) Wahrheit wird das Phänomen des Freiseins dann in Heideggers späterem Denken verfolgt und entfaltet. 58 Hartmut Tietjen gibt in seinem Aufsatz »Wahrheit und Freiheit« eine »Zwischenbemerkung zu Wahrheit und Freiheit in ›Sein und Zeit‹« und bemerkt: »In ›Sein und Zeit‹ ist die Freiheitsfrage, die im § 31 ›Das Da-sein als Verstehen‹ mit erörtert wird, noch nicht Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 194 (146). Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 194 (146). 54 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 191 (144). 55 Martin Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie (GA 24), § 20 a, 391, vgl. auch 395. 56 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 393 (297). 57 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 394 (297). 58 Vgl. Günther Neumann, »Sein des Menschen, Ethos und Freiheit in Martin Heideggers ›Brief über den ›Humanismus‹‹ und Sein und Zeit« (wie Anm. 36). 52 53
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ausdrücklich und thematisch in den Fragezusammenhang mit der Wahrheitsfrage gebracht, die im § 44 ›Dasein, Erschlossenheit und Wahrheit‹ thematisiert wird.« 59 Nachdem das Freisein bei der Analyse des Verstehens in § 31 überhaupt erstmals grundlegend in den Blick gebracht wurde, wird es in § 40 hinsichtlich des anderen fundamentalen Existenzials, der Befindlichkeit, und zwar der »Grundbefindlichkeit der Angst«, thematisiert. Es ist zu beachten, dass das Phänomen der Freiheit nicht schon bei der Analyse der Befindlichkeit in § 29 angesprochen wird, sondern erst in § 40. In der Angst liegt ein ausgezeichneter Modus des Erschließens: »Die Angst vereinzelt das Dasein auf sein eigenstes Inder-Welt-sein, das als verstehendes wesenhaft auf Möglichkeiten sich entwirft. Mit dem Worum des Sichängstens erschließt daher die Angst das Dasein als Möglichsein und zwar als das, das es einzig von ihm selbst her als vereinzeltes in der Vereinzelung sein kann.« 60 In der durchschnittlichen Alltäglichkeit flieht das Dasein »vor dem Unzuhause, das heißt der Unheimlichkeit«, und zwar »in das Zuhause der Öffentlichkeit«. 61 »Die alltägliche Art, in der das Dasein 59 Hartmut Tietjen, »Wahrheit und Freiheit«, in: Die Frage nach der Wahrheit, hrsg. von Ewald Richter, Frankfurt am Main 1997 (Martin-Heidegger-Gesellschaft, Schriftenreihe Bd. 4), 209–241, hier 218 (Im Text steht versehentlich »§ 33 ›Dasein und Verstehen‹«.); vgl. auch Enrico Berti, »Heideggers Auseinandersetzung mit dem Platonisch-Aristotelischen Wahrheitsverständnis«, in: Die Frage nach der Wahrheit, 89– 105; Friedrich-Wilhelm v. Herrmann, Wahrheit – Freiheit – Geschichte. Eine systematische Untersuchung zu Heideggers Schrift »Vom Wesen der Wahrheit«, Frankfurt am Main 2002, bes. §§ 4–16. Die Entstehungsgeschichte des (von Heidegger selbst erstmals 1943 veröffentlichten) Vortragstextes »Vom Wesen der Wahrheit« ist komplex. Die verschiedenen (Vor-) Versionen vom Juli 1930 bis Pfingsten 1940 wurden vom Verfasser rekonstruiert und sind nun aufgenommen in: Martin Heidegger, Vorträge, Teil 1: 1915 bis 1932, hrsg. von Günther Neumann (GA 80.1), Frankfurt am Main 2016, 327–428. Es können insgesamt acht Aus- bzw. Umarbeitungsstufen unterschieden werden, von denen erst die umfangreiche vorletzte Umarbeitung an Pfingsten 1940 als weitgehend identisch mit dem endgültig veröffentlichten Text von 1943 angesehen werden kann (vgl. die »Nachweise und Erläuterungen« zu diesem Vortrag, in: Martin Heidegger, Vorträge, Teil 1: 1915 bis 1932 (GA 80.1), 544–549; endgültiger Text »Vom Wesen der Wahrheit« in: Martin Heidegger, Wegmarken, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann (GA 9), 3. Auflage Frankfurt am Main 2004, 177–202). 60 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 249 (187 f.); vgl. dazu Joachim Ringleben, »Freiheit und Angst. Heidegger zwischen Schelling und Kierkegaard«, in: Norbert Fischer / Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hrsg.), Heidegger und die christliche Tradition. Annäherungen an ein schwieriges Thema, Hamburg 2007, 219–244. 61 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 251 (189).
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Heideggers Freiheitsbegriff in Sein und Zeit
die Unheimlichkeit versteht, ist die verfallende, das Un-zuhause ›abblendende‹ Abkehr.« 62 In diesem Zusammenhang heißt es zum Phänomen der Freiheit: »Die Angst offenbart im Dasein das Sein zum eigensten Seinkönnen, das heißt das Freisein für die Freiheit des Sich-selbst-wählens und -ergreifens. Die Angst bringt das Dasein vor sein Freisein für … (propensio in …) die Eigentlichkeit seines Seins als Möglichkeit, die es immer schon ist.« 63 Die Angst erschließt dem Dasein sein Freisein für das eigenste Seinkönnen. An einer späteren Stelle, nämlich in § 41 mit dem Titel »Das Sein des Daseins als Sorge«, kommt Heidegger darauf zurück: »Das Freisein für das eigenste Seinkönnen und damit für die Möglichkeit von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit zeigt sich in einer ursprünglichen, elementaren Konkretion in der Angst.« 64 Es kommt hier deutlicher der bereits angesprochene ambivalente Charakter der Angst zum Ausdruck. Die Angst erschließt zwar das Freisein für das eigenste Seinkönnen und damit für die Möglichkeit von Eigentlichkeit, aber die Freiheit kann nur vom Dasein in einem existenziell zu vollziehenden Sich-selbst-wählen ergriffen und übernommen werden. Wie es schon vorgreifend in § 9 heißt, kann das Dasein als Möglichsein »sich selbst ›wählen‹, gewinnen, es kann sich verlieren, bzw. nie und nur ›scheinbar‹ gewinnen«. 65 Die Angst offenbart (öffnet, lichtet) im Dasein erst, wie man nun sagen könnte, das Freisein für die Freiheit des Sich-selbst-wählens und -ergreifens oder des Ausweichens und Sich-verlierens. Zur weiteren Erläuterung wird auf § 54 mit dem Titel »Das Problem der Bezeugung einer eigentlichen existenziellen Möglichkeit« vorgegriffen, auch wenn sich diese Analyse nicht auf das existenziale Phänomen der Angst, sondern bereits auf das existenziale Phänomen des Gewissens bezieht. Der entscheidende Satz für unsere Interpretation lautet hier: »Das eigentliche Selbstsein bestimmt sich als eine existenzielle Modifikation des Man, die existenzial zu umgrenzen ist.« 66 In der Uneigentlichkeit (oder in der modalen Indifferenz), in der das Dasein in seiner faktischen Geworfenheit »zunächst und zumeist« immer schon existiert, hat es sein eigenstes Seinkönnen geMartin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 251 f. (189). Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 249 f., vgl. 173 und 420 (188, vgl. 130 und 317). 64 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 254 (191). 65 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 57 (42). 66 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 355 (267). 62 63
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rade nicht gewählt. Es hat aber auch nicht das Verfallen als das Verlorensein in die Öffentlichkeit des Man gewählt. 67 Dieses »Versäumnis« zeigt sich auch daran, dass Heidegger vom »Nachholen der Wahl« spricht: »Das Sichzurückholen aus dem Man, das heißt die existenzielle Modifikation des Man-selbst zum eigentlichen Selbstsein muß sich als Nachholen einer Wahl vollziehen. Nachholen der Wahl bedeutet aber Wählen dieser Wahl, Sichentscheiden für ein Seinkönnen aus dem eigenen Selbst. Im Wählen der Wahl ermöglicht sich das Dasein allererst sein eigentliches Seinkönnen.« 68 Man kann also sagen, dass das Dasein in seinem Sein als Seinkönnen zwar immer schon ontologisch mögliches Freiwerden ist, dass es aber erst im existenziell zu vollziehenden »Wählen dieser Wahl« die Freiheit als solche ergreift und sich aus dem »Man-selbst« zu seinem »Seinkönnen aus dem eigenen Selbst« befreit. In welchem Sinne hier von einer »Wahl« die Rede ist, sagt eine spätere Stelle: »Das verstehende Sichvorrufenlassen auf diese Möglichkeit [des eigensten Seinkönnens] schließt in sich das Freiwerden des Daseins für den Ruf: die Bereitschaft für das Angerufenwerdenkönnen. Das Dasein ist rufverstehend hörig seiner eigensten Existenzmöglichkeit. Es hat sich selbst gewählt.« 69 Unter einer solchen »Wahl des eigenen Selbst« ist hier aber keine gewöhnliche »Wahl zwischen Optionen« zu verstehen. 70 Heidegger versteht unter Selbstwahl ein höriges »Ergreifen« seiner eigensten Existenzmöglichkeit. Bereits in § 4 heißt es: »Die Existenz wird in der Weise des Ergreifens oder Versäumens nur vom jeweiligen Dasein selbst entschieden. Die Frage der Existenz ist immer nur durch das Existieren selbst ins Reine zu bringen. Das hierbei führende Verständnis seiner selbst nennen wir das existenzielle.« 71 Das Versäumen ist ein Ausweichen vor der ausdrücklichen Wahl. Die Uneigentlichkeit kann als solche nicht gewählt werden, weil sie gerade die vom Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), § 38. Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 356 (268). 69 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), § 58, 381 f. (287). Zu Heideggers begrifflicher Anlehnung an Søren Kierkegaards Begriff der »Selbstwahl« vgl. Günter Figal, Martin Heidegger. Phänomenologie der Freiheit, Neuausgabe Tübingen 2013, § 8, 217 ff. (251 ff. nach der 3. Auflage). 70 Andreas Luckner, »Wie es ist, selbst zu sein. Zum Begriff der Eigentlichkeit (§§ 54– 60)«, in: Martin Heidegger: Sein und Zeit, hrsg. von Thomas Rentsch, 3., bearbeitete Auflage Berlin/München/Boston 2015 (Klassiker Auslegen, Bd. 25), 141–159, hier 149. 71 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 17 (12). 67 68
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Man vollzogene »stillschweigende Entlastung von der ausdrücklichen Wahl« 72 ist. In der Uneigentlichkeit verbleibt das Dasein in einer gewissen Unentschiedenheit oder Verlorenheit. Von hier aus wird nun eine wichtige Textstelle in § 41 verständlich: »Im Sich-vorweg-sein als Sein zum eigensten Seinkönnen liegt die existenzial-ontologische Bedingung der Möglichkeit des Freiseins für eigentliche existenzielle Möglichkeiten. Das Seinkönnen ist es, worumwillen das Dasein je ist, wie es faktisch ist. Sofern nun aber dieses Sein zum Seinkönnen selbst durch die Freiheit bestimmt wird, kann sich das Dasein zu seinen Möglichkeiten auch unwillentlich verhalten, es kann uneigentlich sein und ist faktisch zunächst und zumeist in dieser Weise.« 73
Das im entwerfenden Sich-vorweg-sein erschlossene »Freisein für eigentliche existenzielle Möglichkeiten« ist das Freisein für gehaltliche (faktische) Möglichkeiten des In-der-Welt-seins des Daseins (im Unterschied zum bereits genannten ursprünglicheren »Freisein für die Freiheit des Sich-selbst-wählens und -ergreifens« 74), die im Modus der Eigentlichkeit existenziell modifiziert ergriffen werden. Ausdrücklich heißt es hier aber noch, dass das entwerfende »Sein zum Seinkönnen selbst durch die Freiheit bestimmt wird«, insofern das eigenste (eigentliche) Seinkönnen selbst in einem existenziellen Vollzug gewählt werden kann, oder aber ein solches Wählen der Wahl in einem unentschiedenen Ausweichen zunächst und zumeist versäumt wird. Freisein und Freiheit sind in sich gestufte existenziale Phänomene, die – wie andere Existenzialien auch – in einem Ursprungsgefälle stehen. Die Textstelle verdeutlicht unmissverständlich, dass das existenziale Phänomen der Freiheit zwar auf das Möglichsein bezogen ist, aber mit diesem Existenzial nicht gleichgesetzt werden darf. 75 Für die weitere Interpretation kann als Leitfaden festgehalten werden: Freiheit ist die existenzial-ontologische Umgrenzung der existenziellen Modifikation des Man-Selbst zum eigentlichen Selbstsein, die im Sich-selbst-wählen ergriffen und vollzogen oder aber
Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 356 (268). Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 256, vgl. 378 (193, vgl. 285). 74 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 249 f. (188). 75 Dagegen bemerkt Schmidt: »Das heißt, in Sein und Zeit versteht Heidegger Freiheit vornehmlich als Möglichsein des Daseins – Dasein ist Seinkönnen.« (Stefan W. Schmidt, »Das Geschehen der Freiheit« (wie Anm. 31), 78; vgl. auch Stefan W. Schmidt, Grund und Freiheit (wie Anm. 31), 45). 72 73
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nicht ergriffen und versäumt werden kann. Die Freiheit als solche, die existenziell gewählt und ergriffen werden kann, wird allererst im erschließenden Freisein für eröffnet, was zunächst am Phänomen der Angst, dann an den Phänomenen des Gewissens, der Schuld und des Todes freigelegt wird. Wie vor allem die existenziale Analyse des Gewissens zeigt, liegen die ermöglichenden Bedingungen einer solchen Befreiung aber nicht in einer willentlichen Verfügung des Daseins. 76 Der existenziale Begriff der Freiheit ist gewissermaßen das Bindeglied zwischen der existenzial-ontologischen Struktur des eigentlichen Seinkönnens und der je nur im existenziellen Vollzug wähl- und ergreifbaren Modifikation des Man-selbst zum eigentlichen Selbstsein. Mit diesen Vorbemerkungen ist nun aber erst der phänomenologisch-hermeneutische Leitfaden gewonnen, dem »in der Existenz verwurzelte[n] Freisein […] nun eigens an den verschiedenen Stationen der Existenzialanalytik« nachzugehen. 77 Das kann hier nur in Auszügen geschehen, die einen Bezug zu rechtsphilosophischen Problemstellungen haben.
IV. Der Rückgang zur Rechtsphilosophie und die Frage nach der Aktualität von Sein und Zeit Für rechtsphilosophische Fragen auf dem Gebiet des Strafrechts (Schuldvorwurf) wäre es sicherlich problematisch, wenn das Dasein im Existenzmodus der Uneigentlichkeit schlechthin unfrei wäre. Für Agnes Wulff ist daher zu zeigen, dass das Dasein »durch sein Verweilen oder die Flucht in das Man nicht unfrei« wird. 78 Wenn – wie Eine besondere Nähe des im Gewissensruf sich zeigenden Wahrheitsgeschehens zum späteren Ereignis-Denken ist oft bemerkt worden (vgl. z. B. Ingeborg Schüßler, »Gewissen und Wahrheit. Heideggers existenziale Analytik des Gewissens (Sein und Zeit §§ 54–62)«, in: Kategorien der Existenz. Festschrift für Wolfgang Janke, hrsg. von Klaus Held und Jochem Hennigfeld, Würzburg 1993, 327–349, bes. 348). In § 58 von Sein und Zeit heißt es zum im »Gewissen-haben-wollen« sich bekundenden »Anrufverstehen«, dass damit nicht »eine willentliche Pflege des ›Rufes‹« gemeint ist, »sondern einzig Bereitschaft für das Angerufenwerden« (Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 382 (288) (Hervorhebungen G. N.)). 77 Friedrich-Wilhelm von Herrmann, »Heidegger: Freiheit und Dasein« (wie Anm. 23), 268. 78 Agnes Wulff, Die Existenziale Schuld (wie Anm. 17), 235. (Wulff bezieht sich dabei zum Teil auf spätere Texte Heideggers wie die Vorlesung Vom Wesen der mensch76
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Heideggers Freiheitsbegriff in Sein und Zeit
oben dargelegt wurde – die Freiheit in Sein und Zeit primär zur Eigentlichkeit gehört, dann bezieht sich dieser existenzial-ontologische Freiheitsbegriff auf die »Grundmöglichkeit« 79 der eigentlichen Existenz. Aber auch in der Uneigentlichkeit ist dem Dasein sein eigenes Möglichsein nicht völlig verschlossen, sondern »ihm selbst in verschiedenen möglichen Weisen und Graden durchsichtig« 80. Nur vollzieht es in der uneigentlichen Existenzweise die existenziellen oder gehaltlichen Möglichkeiten seines In-der-Welt-seins in einer gegenüber der Eigentlichkeit modifizierten Weise. Ebenso bilden Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit keinen einander ausschließenden Gegensatz, sondern sind in der Weise wechselseitiger Modifikation aufeinander bezogen. 81 In diesem Sinne schreibt auch Schmidt: »Die Existenzformen ›Eigentlichkeit‹ und ›Uneigentlichkeit‹ stellen die beiden elementaren und grundlegenden Modi der Seinsmöglichkeiten des Daseins dar. Sie sind so etwas wie die beiden Pole eines Spannungsfeldes, in dem sich die existenziale Selbstbestimmung abspielt.« 82 Für den Modus der Eigentlichkeit des Daseins könnte man zunächst meinen, dass ein solcher Existenzvollzug einer »Botmäßigkeit der Anderen« 83, die sich zum Teil auch in »›öffentlichen‹ Gesetze[n]« 84 manifestiert, grundsätzlich entgegensteht. Das ist jedoch ein immer wieder gegen Heidegger vorgebrachtes Missverständnis. 85 Wulff verweist insbesondere auf eine Textstelle in § 60 von Sein und Zeit zur »existenzial verstandenen Entschlossenheit«, die hier in voller Länge angeführt werden soll: »Auch der Entschluß bleibt auf das Man und seine Welt angewiesen. Das zu verstehen, gehört mit zu dem, was er erschließt, sofern die Entschlossenheit erst dem Dasein die eigentliche Durchsichtigkeit gibt. In der Entschlossenheit geht es dem Dasein um sein eigenstes Seinkönnen, das als geworfenes
lichen Freiheit (GA 31), die aber schon zu einer gegenüber Sein und Zeit gewandelten Besinnungsebene gehört.) 79 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 435 (328). 80 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 191 (144). 81 Vgl. Günther Neumann, »Sein des Menschen, Ethos und Freiheit in Martin Heideggers ›Brief über den ›Humanismus‹‹ und Sein und Zeit« (wie Anm. 36), bes. 107 f.; vgl. auch die Hinweise oben in Anm. 36. 82 Stefan W. Schmidt, Grund und Freiheit, 58. 83 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), § 27, 168 (126). 84 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 375 (282). 85 Vgl. auch Andreas Luckner, »Wie es ist, selbst zu sein« (wie Anm. 70), 148.
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nur auf bestimmte faktische Möglichkeiten sich entwerfen kann. Der Entschluß entzieht sich nicht der ›Wirklichkeit‹, sondern entdeckt erst das faktisch Mögliche, so zwar, daß er es dergestalt, wie es als eigenstes Seinkönnen im Man möglich ist, ergreift.« 86
Für die einer solchen Entschlossenheit in der jeweiligen Situation zugehörige Gewissheit bedeutet das: »Sie soll sich in dem durch den Entschluß Erschlossenen halten. Dies besagt aber: sie kann sich gerade nicht auf die Situation versteifen, sondern muß verstehen, daß der Entschluß seinem eigenen Erschließungssinn nach frei und offen gehalten werden muß für die jeweilige faktische Möglichkeit. Die Gewißheit des Entschlusses bedeutet: Sichfreihalten für seine mögliche und je faktisch notwendige Zurücknahme.« 87 Dazu bemerkt Wulff, dass das Dasein Heidegger zufolge auch »die Erfordernisse seiner Umwelt, der Welt des Man, als maßgeblichen Indikator für die gesellschaftliche Umgebung des Daseins berücksichtigen« muss. 88 Es geht nach Wulff für das Dasein um einen Ausgleich, der darin liegt, dass »es sowohl die [jeweilige faktische] Situation, in der es sich befindet, als auch die eigenen Entwürfe seines Seinkönnens gleichwertig berücksichtigt«. 89 Die Grundmöglichkeiten des eigentlichen und des uneigentlichen Existierens werden von Heidegger noch durch eine weitere Unterscheidung konkretisiert: »Das eigentliche ebensowohl wie das uneigentliche Verstehen können wiederum echt oder unecht sein.« 90
Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 396 (299); zitiert in: Agnes Wulff, Die Existenziale Schuld (wie Anm. 17), 214. Das genannte Zitat widerspricht eindeutig der Begründung, die Schmidt dafür gibt, »warum Dasein niemals andauernd im Modus der Eigentlichkeit existieren kann« (was sicherlich der Fall ist). Ein solches eigentliches Existieren würde nach Schmidt nämlich »bedeuten, im Zustand reiner Möglichkeit zu verharren, d. h. keine Möglichkeit zu verwirklichen – Dasein würde der Wirklichkeit entbehren.« (Stefan W. Schmidt, »Das Geschehen der Freiheit« (wie Anm. 31), 78, Anm. 7) 87 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), § 62, 407 f. (307 f.). 88 Agnes Wulff, Die Existenziale Schuld, 214. 89 Agnes Wulff, Die Existenziale Schuld, 215. 90 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), § 31, 194 (146); vgl. auch Martin Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, hrsg. von Walter Biemel (GA 21), 2., durchgesehene Auflage Frankfurt am Main 1995, 226 f.; Martin Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie (GA 24), 228 und 243. Was den Terminus »echt« betrifft, schließen wir uns der Deutung von Jiro Watanabe an: »›Echt‹ meint unserer Ansicht nach, daß das betreffende Phänomen sich unverstellt zeigt; Heidegger will die eigentliche wie uneigentliche Seinsweise in ihren ›echten‹ Strukturen aufweisen.« 86
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Heideggers Freiheitsbegriff in Sein und Zeit
Als Beispiele für unechte Eigentlichkeit können Formen des Selbstentwurfs genannt werden, in denen sich das Dasein aus der Welt und von den Anderen zurückzieht. Heidegger nennt als Beispiel »alles extravagante Wühlen in der Seele«, das »sogar verstiegen-pathologisch sein kann«. 91 Den in dem Zitat aus § 60 von Sein und Zeit genannten »Entschluß« könnte man als einen solchen echten Modus der Eigentlichkeit bezeichnen. In seiner berühmten Schrift »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« (1784) stellt Kant die folgende Forderung an die Vernunft: »Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen.« 92 Es stellt sich somit die Frage, ob es nicht eine eigentliche Weise der Öffentlichkeit geben kann. Hannah Arendt hat sich dieser »Leerstelle« in Heideggers existenzialer Analyse zugewandt. Eine explizite Auseinandersetzung mit Heidegger findet sich nicht nur in ihrem Werk Vita activa oder Vom tätigen Leben (englisch 1958; deutsch 1960), sondern auch an verschiedenen Stellen ihres Denktagebuchs aus den Jahren 1950 bis 1973. 93
(Jiro Watanabe, »Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit bei Heidegger«, in: Jiro Watanabe, Zwischen Phänomenologie und Deutschem Idealismus. Ausgewählte Aufsätze, hrsg. von Yoshiteru Chida [u. a.], Berlin 2012, 15–31, hier 22) 91 Martin Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie (GA 24), 228. 92 Immanuel Kant, »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«, in: Immanuel Kant, Werke in sechs Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. VI: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Sonderausgabe Darmstadt 1998, 51–61, hier 55. 93 Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, 9. Auflage München/Zürich 1997, bes. §§ 7, 24 und 25; Hannah Arendt, Denktagebuch 1950 bis 1973, hrsg. von Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann in Zusammenarbeit mit dem Hannah-ArendtInstitut, Dresden (2 Bände), München/Zürich 2002; vgl. dazu Ole Meinefeld, »Politisches Denken im Ausgang von der ›Man-Analyse‹ in Sein und Zeit?«, in: Paul Sörensen / Nikolai Münch (Hrsg.), Politische Theorie und das Denken Heideggers, Bielefeld 2013, 133–152. Der Verfasser ist dieser Frage in einem (unveröffentlichten) Vortrag unter dem Titel »›Wann schreiben Sie eine Ethik?‹ Martin Heideggers Grundlegung von Sozialphilosophie und Ethik« auf der Internationalen Tagung des Husserl-Archivs Köln in Zusammenarbeit mit der Deutschen Gesellschaft für phänomenologische Forschung zum Thema »Soziale Erfahrung« (Universität zu Köln, 25.–28. September 2013) und nochmals auf der V. Meßkircher Heidegger-Konferenz zum Thema »Freiheit und Geschick – Denkwege mit und nach Heidegger« (Schloss Meßkirch, 22.–25. Mai 2014, durchgeführt von der Meßkircher Martin-Heidegger-Stiftung) nachgegangen.
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Der Schuldvorwurf des deutschen Strafrechts beruht auf einer Zurechenbarkeit und Verantwortlichkeit des Einzelnen. Wulff grenzt die Verantwortung von Individuen von einer kollektiven Verantwortung oder einer kollektiven Schuld ab.94 Auch hier bezieht sie sich auf Heidegger: »Verantwortung liegt für ihn in dem individuellen Sein des Menschen als Dasein und nicht etwa dem Sein als Mitglied einer Gesellschaft.« 95 Der Terminus »verantwortlich sein« tritt in einer positiven Bezugnahme nur an einer einzigen Stelle in Sein und Zeit auf, und zwar nicht zufällig in § 58 mit dem Titel »Anrufverstehen und Schuld«. 96 Es soll hier aber eine entsprechende Stelle aus Heideggers Kasseler Vorträgen »Wilhelm Diltheys Forschungsarbeit und der gegenwärtige Kampf um eine historische Weltanschauung« vom April 1925, die eine Vorstufe der entsprechenden Ausführungen in § 58 von Sein und Zeit darstellt, genannt werden. Den Zusammenhang der Textstellen zeigt schon das auch in Sein und Zeit auftretende, aber nicht mehr wörtlich genannte Goethe-Zitat. 97 Im VIII. Vortrag mit dem Titel »Die Zeit als Grundbestimmung des Menschen« (Fortsetzung) heißt es: »Die Möglichkeit des Daseins, zu wählen, ist die Möglichkeit, sich aus der Verlorenheit in die Welt, d. h. in die Öffentlichkeit, zurückzuholen. Wenn Dasein sich selbst gewählt hat, so hat es damit sich und die Wahl gewählt. Die Wahl gewählt haben, besagt aber, entschlossen sein. […] Dieses Wählen und dieses Entschlossensein ist die Wahl der Verantwortung, die das Dasein für sich selbst übernimmt, daß jedes Handeln so ist, daß ich mit der Handlung mich selbst verantwortlich mache. Die Verantwortung für sich selbst wählen heißt, das Gewissen wählen, als die Möglichkeit, die der Mensch eigentlich ist. […] Das Gewissen wählen heißt aber zugleich schuldig werden. ›Der Handelnde ist immer gewissenlos‹ (Goethe). 98 Jede Handlung ist Agnes Wulff, Die Existenziale Schuld, 260–271. Ein wichtiger Vertreten einer kollektiven Schuld ist Karl Jaspers, der sich auf die Verbrechen des Dritten Reiches bezog (Karl Jaspers, Die Schuldfrage, Heidelberg 1946). Am 8. April 1950 schrieb Heidegger dann an Jaspers: »Die Schuld des einzelnen bleibt und ist bleibender, je einzelner er ist.« (Martin Heidegger / Karl Jaspers, Briefwechsel 1920–1963, hrsg. von Walter Biemel und Hans Saner, Frankfurt am Main und München/Zürich 1990, 200–203, hier 202) 95 Agnes Wulff, Die Existenziale Schuld, 264. 96 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 382 (288). 97 »Jedes Handeln aber ist faktisch notwendig ›gewissenlos‹ […].« (Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), § 58, 382 (288)) 98 Goethe, Maximen und Reflexionen, nach den Handschriften des Goethe- und Schiller-Archivs hrsg. von Max Hecker, Weimar 1907, Nr. 241; Neuausgabe: Johann 94
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zugleich Schuld. Denn die Möglichkeiten der Handlung sind begrenzt gegenüber den Forderungen des Gewissens. So ergibt jede sich durchsetzende Handlung Konflikte. Wählen der Selbstverantwortung ist also Schuldig-werden in einem absoluten Sinne. Ich werde schuldig, sofern ich überhaupt bin, wenn ich überhaupt handle.« 99
Der existenzial-ontologische Begriff der Verantwortung tritt hier deutlicher hervor als in Sein und Zeit. Die Textstelle bestätigt die oben gegebene Darlegung, nach der das »Wählen der Wahl« als »Selbstwahl« zu verstehen ist. Diese Wahl ist zugleich »die Wahl der Verantwortung«, die auch als »Selbstverantwortung« bezeichnet wird. Es handelt sich um Verantwortung im Existenzmodus der eigentlichen Erschlossenheit, der Entschlossenheit. Dagegen nimmt, wie es in § 27 von Sein und Zeit nur kurz angesprochen wird, das Man »dem jeweiligen Dasein die Verantwortlichkeit ab«. 100 Nach der zitierten Textstelle aus Heideggers Kasseler Vortrag wählt das Dasein in der Wahl der »Verantwortung für sich selbst« sein Gewissen, das heißt aber »zugleich schuldig werden«. Das existenziale Phänomen der Verantwortung kann hier nicht weiter verfolgt werden. Es wird auf die bereits genannte Dissertation von Martin Michael Thomé Existenz und Verantwortung verwiesen. Weshalb in Sein und Zeit der Begriff der Verantwortung gegenüber dem Kasseler Vortrag fast völlig in den Hintergrund tritt, ist schwer zu sagen. Vielleicht wollte Heidegger eine Interpretation seines Grundwerks im Sinne einer Verantwortungsethik vermeiden. 101 Das eigentliche Thema von Wulffs Dissertation ist die »Existenziale Schuld«. Auch hier ist für Wulff wichtig, dass Heidegger in Sein
Wolfgang Goethe, Maximen und Reflexionen, Text der Ausgabe von 1907, mit der Einleitung und den Erläuterungen Max Heckers, Frankfurt am Main/Leipzig 2003. 99 Martin Heidegger, »Wilhelm Diltheys Forschungsarbeit und der gegenwärtige Kampf um eine historische Weltanschauung (16.–21. April 1925)«, in: Martin Heidegger, Vorträge, Teil 1: 1915 bis 1932 (GA 80.1), 103–157, hier 144 f. 100 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 170 (127). 101 Eine solche Ethik hat beispielsweise Heideggers Marburger Schüler Hans Jonas ausgearbeitet (vgl. Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt am Main 1979). Gegenüber Jonas’ »Ethik der Fernverantwortung« entwarf Werner Marx eine »nichtmetaphysische Nächstenethik«, deren »Neubestimmung des Wesens eines Maßes wie des Maßes selbst« er als »ein kritisches Weiterdenken der Bestimmungen des späten Heideggers« verstand (Werner Marx, Gibt es auf Erden ein Maß? Grundbestimmungen einer nichtmetaphysischen Ethik, Hamburg 1983, XIX, vgl. XIV).
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und Zeit das Schuldigsein »frei von jeder Grundlage, wie sie etwa der Moral, Religion oder Ethik entsprechen könnte«, beschreibt. 102 Heidegger wendet sich in seiner ontologisch angesetzten Analyse des Gewissens (und damit auch des existenzialen Schuldigseins) aber ebenso gegen eine psychologische Deskription oder eine biologische (empirisch-wissenschaftliche) Erklärung von »Gewissenserlebnissen«. 103 Auf die Gesamtthematik der Schuld kann hier nicht eingegangen werden. Ein grundlegendes Problem, mit dem sich Wulff am Schluss ihrer Untersuchung auseinandersetzt, ist der Vorwurf, dass Heidegger mit dem Begriff des existenzialen Schuldigseins eine »Schuld ohne Schuld«, d. h. einen Schuldbegriff ohne eine mögliche Verbindung zum »faktischen Verschulden« entwickelt habe. 104 Wulff bezieht sich insbesondere auf die Wuppertaler Dissertation Der Ingrimm des Aufruhrs. Heidegger und das Problem des Bösen von Bernd Irlenborn. 105 Den für die Schuldfrage entscheidenden Abschnitt »Gibt es eine Schuld ohne Schuld?« 106 hat Irlenborn für eine spätere Veröffentlichung etwas überarbeitet. Dieser Aufsatz mit dem Titel »Das Problem der Schuld in Heideggers Sein und Zeit. Kritische Anmerkungen« wird für die weiteren Ausführungen zugrunde gelegt. Wie Irlenborn hier erläutert, ist der Abschnitt, »in der die Idee von ›schuldig‹ formalisiert werden soll, […] einer der schwierigsten in Sein und Zeit überhaupt«. 107 Es ist daher nicht verwunderlich, dass eine grundlegende und philosophisch einsichtige Widerlegung der von Irlenborn dargelegten Kritik in Wulffs Dissertation nicht gegeben wird und insofern noch aussteht. Die leitende These seiner Kritik formuliert er in der vorangestellten Zusammenfassung: »Heideggers Versuch in Sein und Zeit, den Begriff der Schuld zu formalisieren, um eine im Vergleich zum traditionellen Verständnis ursprünglichere Schuld freizulegen, konstruiert eine Schuld ohne
Agnes Wulff, Die Existenziale Schuld, 190, vgl. 273. Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 357 (269). 104 Agnes Wulff, Die Existenziale Schuld, 272 f. 105 Bernd Irlenborn, Der Ingrimm des Aufruhrs. Heidegger und das Problem des Bösen, Wien 2000 (Zugl.: Wuppertal, Univ., Diss., 1998/99), 55–97. 106 Bernd Irlenborn, Der Ingrimm des Aufruhrs, 88–97. 107 Bernd Irlenborn, »Das Problem der Schuld in Heideggers Sein und Zeit. Kritische Anmerkungen«, in: Perspektiven der Philosophie. Neues Jahrbuch 30 (2004), 189– 207, hier 198; vgl. auch Bernd Irlenborn, »Die Uneigentlichkeit als Privation der Eigentlichkeit? Ein offenes Problem in Heideggers Sein und Zeit«, in: Philosophisches Jahrbuch 106 (1999), 455–464. 102 103
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Verschuldung. Heideggers Formalisierung entfernt sich damit vom alltäglichen Phänomen der Schuld und behauptet ein Fundierungsverhältnis, das sich phänomenologisch nicht aufweisen läßt.« 108 Ohne auf Irlenborns Argumentation insgesamt einzugehen zu können, sollen hier nur die zentralen Thesen seiner Kritik auf ihre sachliche Stichhaltigkeit hin untersucht werden. Die Textstelle in § 58 von Sein und Zeit, auf die sich Irlenborn vor allem bezieht, lautet: »Die formal existenziale Idee des ›schuldig‹ bestimmen wir daher also: Grundsein für ein durch ein Nicht bestimmtes Sein – das heißt Grundsein einer Nichtigkeit.« 109 Irlenborn geht von zwei formalisierten »Nicht«-Charakteren in § 58 von Sein und Zeit aus: »einem, dem gewöhnlichen Schuldbegriff zuzuordnenden privativen ›Nicht‹, und einem für Heideggers existenziales Schuldigsein verantwortlichen ›Nicht‹, das ich [Irlenborn] als strukturelles oder existenziales ›Nicht‹ bezeichne.« 110 Das »zweite Nicht« bezeichnet er auch als »ein unprivatives, strukturelles Nicht«. 111 Das privative »Nicht« wird für ihn durch Heideggers (erste) Formel (der oben angeführten Textstelle aus § 58) »Grundsein für ein durch ein Nicht bestimmtes Sein« gefasst, das existenziale (unprivative, strukturelle) »Nicht« durch die (zweite) Formel »Grundsein einer Nichtigkeit«. 112 Vereinfacht gesprochen, möchte Irlenborn zeigen, dass Heideggers »Identifizierung der beiden Formalisierungsformeln« 113 nicht zulässig ist. Wegen dieser für ihn nicht möglichen Gleichsetzung der beiden Formeln (bzw. Ableitung der ersten von der zweiten) lässt sich Heideggers These (nach der Formulierung Irlenborns), »daß das existenziale Schuldigsein das Fundament für die existenzielle Verschuldung darstelle und letztere nur aus dieser Verwurzelung zu verstehen sei«, phänomenologisch nicht aufweisen. 114
Bernd Irlenborn, »Das Problem der Schuld in Heideggers Sein und Zeit«, 189. Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 376 (284). 110 Bernd Irlenborn, »Das Problem der Schuld in Heideggers Sein und Zeit«, 196. 111 Bernd Irlenborn, »Das Problem der Schuld in Heideggers Sein und Zeit«, 199, vgl. 196 und 198. 112 Bernd Irlenborn, »Das Problem der Schuld in Heideggers Sein und Zeit«, 195. 113 Bernd Irlenborn, »Das Problem der Schuld in Heideggers Sein und Zeit«, 198, vgl. 195 und 203. 114 Bernd Irlenborn, »Das Problem der Schuld in Heideggers Sein und Zeit«, 196, vgl. 197 und 202; vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 377 (284) (Der entscheidende Satz ist insgesamt kursiv gesetzt.). 108 109
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Heidegger geht es, wie er in § 58 von Sein und Zeit ausführt, um ein »Verständnis des Wesens der Schuld«: »Wenn aber überhaupt ein Verständnis des Wesens der Schuld möglich ist, dann muß diese Möglichkeit im Dasein vorgezeichnet sein. Wie sollen wir die Spur finden, die zur Enthüllung des Phänomens führen kann?« 115 Die ontologische Untersuchung muss, wie er fortfährt, bei dem ansetzen, wie die »alltägliche Daseinsauslegung« das Phänomen der Schuld versteht. Es kann hier nur darauf hingewiesen werden, dass Heidegger in diesem Zusammenhang auch das Problem der »Rechtsverletzung« erwähnt, wobei das »Schuldigwerden an Anderen« auch möglich ist »ohne Verletzung des ›öffentlichen‹ Gesetzes«. 116 Gegenüber den aufgezeigten Auslegungen der Schuldphänomene, die alle noch durch das kategorial bestimmte Vorhandensein eines Mangels, also privativ bestimmt sind, »muß die Idee von ›schuldig‹ soweit formalisiert werden, daß die auf das besorgende Mitsein mit Anderen bezogenen vulgären Schuldphänomene ausfallen«. 117 Rückblickend bemerkt Heidegger in seinen Aufzeichnungen »Zur Erläuterung von ›Sein und Zeit‹« (1941): »Daß ›Sein und Zeit‹ ›die Schuld‹, ›den Tod‹, ›die Angst‹, ›das Nichts‹ in die ›Analytik das Daseins‹ einbezieht, entspringt weder überhaupt einer ›Anthropologie‹, noch einer besonderen ›standpunktlich beschränkten‹ ›Lebens- und Existenzphilosophie‹, sondern der Frage nach dem Sinn des Seins selbst. […] Sobald man freilich die Erörterungen über die Schuld und über den Tod für sich nimmt und inzwischen die einzige Frage der Abhandlung nicht mehr bedenkt, gesetzt daß man sie je bedacht hat, dann erscheint freilich alles, was über Schuld und Tod, über die Angst und das Nichts gesagt wird, als willkürlich und einseitig. Man tut so, als werde in ›Sein und Zeit‹ der Anspruch erhoben, eine wissenschaftliche Monographie über das Wesen der Schuld und das Wesen des Todes zu liefern.« 118
Das ontologische Problem des Schuldigseins liegt für Heidegger darin, worauf sich Irlenborn bezieht, »den Nicht-Charakter dieses Nicht existenzial aufzuklären«. 119 Das von Irlenborn als »erste Formel« bezeichnete »Grundsein für ein durch ein Nicht bestimmtes Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 373 (281). Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 374 f. (282). 117 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 376 (283). 118 Martin Heidegger, »Zur Erläuterung von ›Sein und Zeit‹«, in: Martin Heidegger, Zu eigenen Veröffentlichungen, hrsg. von Friedrich-Wilhelm v. Herrmann (GA 82), Frankfurt am Main 2018, 267–338, hier 314. 119 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 376 (283). 115 116
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Sein« wird allerdings von Heidegger – wie auch die »zweite Formel« – ausdrücklich »als formal existenziale Idee des ›schuldig‹« betrachtet. 120 Dagegen wird von Irlenborn die Formalisierung, auf der die erste Formel beruht, als eine Formalisierung des gewöhnlichen Schuldbegriffs, also als ein privatives »Nicht« aufgefasst. Das ist jedoch keineswegs der Fall, auch wenn der Text eine solche Auslegung vielleicht nahezulegen scheint. Man könnte hier von zwei für ein besseres Verständnis erforderlichen Schritten sprechen, die aber von Heidegger gleichsam in einem Schritt zusammengefasst sind. Welche Richtung die von Heidegger angesprochene Formalisierung der vulgären Schuldphänomene in einem Zwischenschritt zunächst einschlagen müsste, verdeutlicht die oben genannte Textstelle aus Heideggers VIII. Kasseler Vortrag: »Jede Handlung ist zugleich Schuld. Denn die Möglichkeiten der Handlung sind begrenzt gegenüber den Forderungen des Gewissens. So ergibt jede sich durchsetzende Handlung Konflikte.« 121 Alle Handlungen, nicht nur solche, die auf einen Mangel bezogen werden, zeichnen sich dadurch aus, dass mit dem Vollzug des Handelns stets eine bestimmte Möglichkeit ausgewählt und ergriffen wird, womit aber alle alternativen Möglichkeiten nicht auch in die Tat umgesetzt und verwirklicht werden können. Als ein zur Zeit kontrovers diskutiertes Beispiel kann auf das Theaterstück Terror von Ferdinand von Schirach verwiesen werden. 122 Heideggers Denken ist also äußerst aktuell. Ursprüngliches Philosophieren veraltet nicht. Die Aufweisung der formalen existenzialen Ermöglichung überhaupt solcher Konflikte wird von Heidegger aber erst an einer späteren Stelle von § 58 nachgeholt. Hier heißt es: »Der Entwurf ist nicht nur als je geworfener durch die Nichtigkeit des Grundseins bestimmt, sondern als Entwurf selbst wesenhaft nichtig.« 123 Nun folgt aber die Bestimmung gerade nicht der in der Geworfenheit des Daseins überhaupt liegenden »Nichtigkeit des Grundseins« (!), sondern der Nichtigkeit des geworfenen Entwurfs, die Heidegger auch als »Grundsein Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 376 (283) (Hervorhebung G. N.). Martin Heidegger, »Wilhelm Diltheys Forschungsarbeit …«, in: Martin Heidegger, Vorträge, Teil 1: 1915 bis 1932 (GA 80.1), 103–157, hier 145. 122 Ferdinand von Schirach, Terror. Ein Theaterstück und eine Rede, München/Berlin/Zürich 2015; zu der von juristischer Seite geäußerten Kritik vgl. z. B. Wolfgang Schild, Verwirrende Rechtsbelehrung. Zu Ferdinand von Schirachs »Terror«, Münster 2016. 123 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 378 (285). 120 121
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einer Nichtigkeit« (!) bezeichnet: 124 »Die gemeinte Nichtigkeit gehört zum Freisein des Daseins für seine existenziellen Möglichkeiten. Die Freiheit aber ist nur in der Wahl der einen, das heißt im Tragen des Nichtgewählthabens und Nichtauchwählenkönnens der anderen.« 125 Dass die zum Freisein gehörende Nichtigkeit auf den Entwurf (und nicht auf die Geworfenheit) bezogen ist, zeigt noch eine Textstelle in § 42, wo Heidegger vom Menschen »in seinem Freisein für seine eigensten Möglichkeiten (dem Entwurf)« spricht. 126 Die von Irlenborn benannten »Formeln« beziehen sich vielmehr beide auf eine existenziale Bestimmung. Warum werden dann aber zwei Bestimmungen genannt? Das »Grundsein für ein durch ein Nicht bestimmtes Sein« bezieht sich auf die Freiheit als existenziales Grundsein für das Nicht-gewählthaben und Nicht-auchwählenkönnen 124 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 377–379, vgl. auch § 62, 404–406 (284 f., vgl. auch 305 f.). Es ist zu betonen, dass hier ganz bewusst vom »Grundsein einer Nichtigkeit« und nicht vom »Grundsein der Nichtigkeit« die Rede ist, weil es auf jeden Fall mit dem existenzialen Phänomen des vorlaufenden Seins zum Tode auch noch eine andere Nichtigkeit des geworfenen Entwurfs gibt. Irlenborn verweist zwar kurz auf das, »was Heidegger ›Nichtigkeit‹ des Entwurfs nennt« (Bernd Irlenborn, »Das Problem der Schuld in Heideggers Sein und Zeit«, 196), verfehlt dann aber eine angemessene Auslegung gerade dieser »Nichtigkeit« des geworfenen Entwurfs in der »zweiten Formel« (vgl. auch Andreas Luckner, Martin Heidegger: »Sein und Zeit«. Ein einführender Kommentar, 2., korrigierte Auflage, unveränderter Nachdruck Paderborn [u. a.] 2007, 117–121 (zu § 58)). Irlenborn thematisiert ausschließlich die zur Geworfenheit gehörende Nichtigkeit. Mit dem »eher generellen Schuldigsein« im zweiten Schritt der »Formalisierung« meine Heidegger »eine in der Endlichkeit des Daseins verwurzelte Unfähigkeit, der eigenen unvordenklichen Existenz vollständig mächtig zu sein« (Bernd Irlenborn, »Das Problem der Schuld in Heideggers Sein und Zeit«, 195). Ähnlich heißt es an einer späteren Stelle zur »strukturelle[n] Nichtigkeit« der »angeblich gleichlautenden zweiten Formel, ›Grundsein einer Nichtigkeit‹«, dass sie »aus dem Faktum der Geworfenheit, der Unbegründbarkeit und Unvordenklichkeit des eigenen Daseins erwächst« (ebd., 199, vgl. auch 197, 200 f., 203). Der Terminus »Nichtigkeit« wird von Heidegger in § 58 explizit auf die beiden fundamentalen existenzialen Strukturen der Geworfenheit und des Entwurfs und damit auf die existenziale Grundstruktur der Sorge bezogen: »In der Struktur der Geworfenheit sowohl wie in der des Entwurfs liegt wesenhaft eine Nichtigkeit. […] Die Sorge selbst ist in ihrem Wesen durch und durch von Nichtigkeit durchsetzt.« (Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 378 (285)) 125 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 378 (285). Diese entscheidende Textstelle wird von Irlenborn noch nicht einmal erwähnt. Die zunächst eingeführten und durch einen Gedankenstrich getrennten beiden »Formeln« nach Irlenborn (Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 376 (283)) lassen sich aber erst dann angemessen verstehen, wenn sie auf diese spätere Textstelle bezogen werden. 126 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 264 (199).
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anderer existenzieller (gehaltlicher) Möglichkeiten (Grundsein existenzieller »Konflikte«). Das von Heidegger hervorgehobene »Grundsein einer Nichtigkeit« bezieht sich dagegen auf die zum ursprünglichen Freisein (Entwurf) des Daseins gehörende Nichtigkeit der wesenhaft von Nichtigkeit durchsetzten Sorge. Das Dasein ist existierend dem Grund seines verstehend-entwerfenden Seinkönnens immer schon »überantwortet«: »Als dieses Seiende, dem überantwortet es einzig als das Seiende, das es ist, existieren kann, ist es existierend der Grund seines Seinkönnens.« 127 Als Grund seines Seinkönnens (Freiseins) existierend, ist es zugleich der Grund einer Nichtigkeit. Der Schuldvorwurf im Sinne des Verschuldens ist deshalb möglich, weil die Wahl des Daseins auf seiner Freiheit beruht, wenngleich einer geworfenen (überantworteten) und endlichen Freiheit. László Tengelyi gibt folgende Erläuterung: »Daraus folgt aber unmißverständlich, daß das Dasein, in seinem Sein als ›(nichtiges) Grundsein einer Nichtigkeit‹ bestimmt, für dieses sein Schuldig-sein nicht Verantwortung trägt, ihm vielmehr immer schon überantwortet ist und ständig überantwortet bleibt als ›dem Sein‹, wie Heidegger dafür einmal einen Ausdruck prägt, ›das es existierend zu sein hat‹. Die Idee einer ethischen Verantwortlichkeit wird jedoch hier nicht einfach fallengelassen. Sie wird vielmehr […] an den Begriff eines Überantwortetseins nur zurückgebunden und dadurch sozusagen auf einen möglichst tragfähigen ontologischen Unterbau umgesetzt.« 128
Wie István M. Fehér am Beispiel von Kants Ethik ausführt, liegt für ein freies, aber doch sinnliches und endliches Wesen ein Tatbestand vor, »der auch dergestalt zur Sprache gebracht werden kann, daß die Erfüllung des kategorischen Imperativs für Tiere unmöglich, für Götter aber unnötig ist«. 129 Die bewusst vorsichtige Formulierung des Bundesgerichtshofs (1952), »daß der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche SelbstMartin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 377 (284). László Tengelyi, »Verantwortlichkeitsethische und fundamentalontologische Schuldauslegung«, in: Wege und Irrwege des neueren Umganges mit Heideggers Werk. Ein deutsch-ungarisches Symposium, hrsg. von István M. Fehér, Berlin 1991, 151–174, hier 169 f.; vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 378 und 179 (285 und 134). 129 István M. Fehér, »Eigentlichkeit, Gewissen und Schuld in Heideggers ›Sein und Zeit‹ : Eine Interpretation mit Ausblicken auf seinen späteren Denkweg«, in: Man and World 23 (1990), 35–62, hier 43. 127 128
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bestimmung angelegt« ist, die oben bereits angesprochen wurde und auch von Agnes Wulff in ihrer rechtsphilosophisch ausgerichteten Dissertation genannt wird, kann in Heideggers existenzialer Analytik des Daseins eine ontologische Begründung und Rechtfertigung finden. 130
BGHSt 2 (wie Anm. 16), 194 (200); vgl. Agnes Wulff, Die Existenziale Schuld (wie Anm. 17), 5. Wulff verweist auch auf die §§ 20, 21 und 35 (ferner §§ 17 und 46) des Strafgesetzbuchs (StGB), in denen u. a. die Schuldunfähigkeit bzw. die verminderte Schuldfähigkeit geregelt ist, »etwa infolge einer Bewusstseins- oder seelischen Störung« (ebd., 10). Ebenso handelt derjenige »ohne Schuld« (im juristischen Sinne), der aufgrund äußerer Umstände »eine rechtswidrige Tat begeht, um eine gegenwärtige, nicht anders abwendbare Gefahr von sich oder einer nahe stehenden Person abzuwenden« (ebd., 10). 130
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Heideggers Weg zur Antwort auf die Seinsfrage und wie ihn Kant dabei begleiten kann In memoriam Claudia Bickmann
I Die Gesamtausgabe von Heideggers Schriften umfasst bis heute fast einhundert Bände. Heidegger selbst hat dieser Gesamtausgabe die Maxime Wege, nicht Werke vorangestellt. Wer Heideggers Schriften in seiner eigenen Arbeit regelmäßig zu Rate zieht, kann einen tiefen Eindruck von der einzigartigen Eindringlichkeit der Wege gewinnen, auf denen Heidegger die Überlieferung des philosophischen Denkens interpretiert und analysiert hat. Als Heidegger im Jahr 1950 sechs »Stücke«, 1 wie er sie selbst nannte, unter dem Titel Holzwege veröffentlichte, wusste er selbst nur zu gut, wo und wie er sich während der vorangegangenen Jahrzehnte auf dem einen oder anderen solcher Holzwege verlaufen hatte, die, wie er sie beschreibt, »meist verwachsen jäh im Unbegangenen aufhören«. Die Umstände haben es gefügt, dass der fünfzig Jahre überspannende Briefwechsel Heideggers mit Karl Löwith im vergangenen Jahr veröffentlicht worden ist. Karl Löwith war unter Heideggers ersten Schülern nicht nur derjenige, der die politischen Entgleisungen von Heideggers abgründig ungebildeter politischer Urteilskraft am frühesten und am schärfsten kritisiert hat. 2 Er war vor allem als Jude auch derjenige, der von Heideggers gleichzeitigen menschlichen Entgleisungen am unmittelbarsten betroffen war. 3 Trotz alledem hat Löwith bis zu seinem Tod im Jahre 1973, wie seine Nachkriegs-Briefe an Heidegger zeigen, seinem ehemaligen philosophischen Lehrer eine unverbrüchliche Treue gehalten.
Martin Heidegger, Holzwege, Frankfurt/Main 1950, S. 345. Vgl. Karl Löwith, Heidegger. Denker in dürftiger Zeit (11953), Göttingen 1965, bes. 49–56. 3 Vgl. Karl Löwith, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933, Frankfurt am Main 1989, bes. 27–59. 1 2
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Diese über die Maßen beeindruckende Haltung Löwiths kann Anlass zu einem auf den ersten Blick gewagten Brückenschlag geben. Denn zwischen Heideggers Denken und Bertolt Brechts literarischer Autorschaft klaffen nahezu unüberbrückbare Klüfte. Doch die letzte Strophe von Brechts Gedicht An die Nachgeborenen enthält eine Mahnung, die zwar Löwith nicht nötig hatte, wohl aber nicht wenige unserer Zeitgenossen – »eine … pharisäische Generation« 4 – in der Auseinandersetzung mit Heideggers Denken nötig zu haben scheinen – eine Mahnung, die als einzige geeignet ist, dieser Auseinandersetzung die gebührende Richtung zu weisen. Die letzten Verse dieses Gedichts lauten – und nicht wenige werden sie kennen: »Ihr aber, wenn es soweit sein wird Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist Gedenkt unsrer Mit Nachsicht.«
Dieser Mahnung werden wir Nachgeborenen uns im Rückblick auf Heideggers Wege – und sei einer von ihnen als persönlicher Holzweg auch noch so skandalös – jedenfalls nicht auf Dauer entziehen können. Indessen geht es auf einer philosophischen Tagung anlässlich des neunzigsten Jahrestags der Veröffentlichung des Buchs Sein und Zeit nicht in erster Linie um Humanität im Umgang mit einem Menschen. Es geht vielmehr um die hermeneutische Redlichkeit und Billigkeit im Umgang mit Heideggers Anspruch, sich mit Sein und Zeit auf einen Weg des Denkens begeben zu haben, an dessen Anfang die zum ersten Mal von ihm formulierte Seinsfrage steht. Doch hermeneutische Redlichkeit und Billigkeit in der Aufarbeitung und Beurteilung der Wege eines Denkers sind methodische Tugenden, die vielleicht doch nicht allzu ferne Abkömmlinge der Humanität sind. In einer kleinen Schrift unter dem Titel Wissenschaft und Besinnung aus dem Jahr 1953 hat Heidegger mit einer vielfach Befremden auslösenden Formulierung zu verstehen gegeben: »Das Fragen ist die Frömmigkeit des Denkens«. 5 Das Thema der Frömmigkeit ist in der von Heidegger interpretierten und analysierten philosophischen Hans-Georg Gadamer in seinem Brief an Friedrich-Wilhelm von Herrmann vom 11. April 1988, zitiert nach: Friedrich-Wilhelm von Herrmann und Francesco Alfieri, Martin Heidegger. Die Wahrheit über die Schwarzen Hefte, Berlin 2017, 258 und 259. 5 Martin Heidegger, Die Frage nach der Technik, in: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 15–44, hier: 44. 4
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Heideggers Weg zur Antwort auf die Seinsfrage
Überlieferung zum ersten Mal in vorbildlicher Form von Platon in seinem frühen religionsphilosophischen Dialog Euthyphron behandelt worden. Die Charakterisierung der Frömmigkeit – in Platons Griechisch ἡ ὁσιότης – wird Sokrates im Konsens mit seinem Gesprächspartner Euthyphron von Platon abschließend in den Mund gelegt: Das Fromme bzw. die Frömmigkeit besteht darin, dass die Menschen den Göttern dadurch gerecht werden, dass sie etwas für die Götter Gutes und Nützliches tun, 6 also offenkundig etwas, was die Götter nicht selbst tun können. 7 Es darf hier offen bleiben, was für Götter es sein mögen, denen der Denker durch seine Fragen etwas Gutes und Nützliches tun kann. 8 Heidegger ist auf den Wegen seines Denkens immer skeptischer und schließlich sogar abweisend gegen die Auffassung geworden, dass einem Denker durch sein Denken etwas unter den Menschen Nützliches gelingen könne. Doch es bleibt immer noch die Frage, ob ihm etwas unter den Menschen Gutes gelingen kann. Auch zur Beantwortung dieser Frage kann man beitragen, indem man fragt, ob Heideggers Weg zur Antwort auf die Seinsfrage zu etwas unter den Menschen Gutem beitragen kann oder nicht.
II Heidegger stellt die Seinsfrage, also die Frage nach dem Sinn von Sein bekanntlich zum ersten Mal auf der ersten Seite von Sein und Zeit. 9 Durch Zitate aus drei Schriften Heideggers kann man die wichtigsten Schritte markieren, die Heidegger während sechzehn Jahren bis zur Antwort auf die Seinsfrage getan hat. Diese Schritte beginnen mit der Exposition dieser Frage in Sein und Zeit, sie werden in den Beiträgen zur Philosophie bis an die unmittelbare Grenze zu dieser Antwort Vgl. Platon, Euthyphr. 12e-14a. Vgl. vom Verf., Brauchen die Götter die Menschen oder brauchen die Menschen den Gott? Religion durch Aufklärung im Anschluss an Platon und Kant, in: Geschichte – Gesellschaft – Geltung. Dokumenten-Band des XXIII. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Philosophie 2014 in Münster, Hamburg 2016, 1017–1035, bes. 2020– 2026. 8 Schon früh hat Heidegger festgehalten, dass für ein strikt philosophisches Denken ein Rekurs auf Gott untunlich ist. Zur Ortsbestimmung Gottes im spätesten Denken Heideggers nach der von ihm apostrophierten Kehre, vgl. unten 296, Anm. 41. 9 Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit (11927), Tübingen 1960, 2. Die Seitenangaben im laufenden Text dieses Abschnitts II und der folgenden Abschnitte III–V beziehen sich auf diese Ausgabe. 6 7
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fortgesetzt und sie enden in der Hauptsache mit der Antwort, die Heidegger im Nachwort formuliert hat, das er 1943 seiner Freiburger Antrittsvorlesung von 1929 zur Frage Was ist Metaphysik? angefügt hat. Eine modifizierte, aber im Hauptpunkt festgehaltene Auffassung hat Heidegger in der letzten von ihm noch autorisierten Publikation zur Sprache gebracht, in dem 1976 zum zweiten Mal veröffentlichten Freiburger Vortrags-Text Zeit und Sein von 1962. In Sein und Zeit unternimmt Heidegger es bekanntlich zum ersten Mal in der Geschichte der Philosophie, eine von ihm so apostrophierte Existenzial-Ontologie auszuarbeiten. Eine Ontologie wird in Heideggers Ausarbeitung der Existenzial-Ontologie entworfen, weil sie im nominellen Sinne der traditionellen Ontologie alle dem Menschen zugänglichen Gestalten des Seienden erörtert – einschließlich die des Seienden namens Mensch. Eine von aller traditionellen Ontologie radikal verschiedene Ontologie entwirft diese Existenzial-Ontologie, weil sie sich im Mittelpunkt aller ihrer Thematisierungen von Seiendem auf dasjenige Seiende konzentriert, das sie als Dasein apostrophiert und mit dem Seienden identifiziert, das traditionell in unterschiedlichen Bedeutungen als der Mensch, als homo bzw. als ὁ ἄνθροπος aufgefasst wird. Dieses Seiende ist von allem anderen Seienden durch einen formalen Charakter unterschieden: »Da-sein ist … dadurch charakterisiert, daß es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein geht« (12). Das Sein, um das es dem Dasein geht, charakterisiert Heidegger terminologisch als »Existenz« (12). Auf den wichtigsten Modus, in dem es dem Dasein um sein Sein, also um seine Existenz geht, konzentriert Heidegger seine Untersuchungen, »weil das Sein des Daseins selbst als Sorge sichtbar gemacht werden soll« (57). Der Begriff der Sorge »ist wiederum als ontologischer Strukturbegriff zu fassen« (57). Dieser ontologische Strukturbegriff und alle anderen entsprechenden Strukturbegriffe tauft Heidegger auf den Terminus »Existenzial« (44 ff.). Dieser Terminus ist Heideggers spezifisch existenzial-ontologischer Nachfolger-Begriff des seit Aristoteles nicht nur in der Ontologie gebräuchlichen Terminus Kategorie. Die existenzial-ontologische Auszeichnung der Sorge als Existenzial ist bei Heidegger mit einem wichtigen methodischen Kunstgriff verbunden. Die Methode seiner existenzial-ontologischen Untersuchungen wird von ihm im § 63 auf rund sechs Druckseiten durch eine wichtige Methodenreflexion skizziert. Durch sie wird »der methodische Charakter der existenzialen Analytik überhaupt« (310) 278 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
Heideggers Weg zur Antwort auf die Seinsfrage
erörtert. Für diese Methode ist es charakteristisch, dass »[j]ede ontologisch ausdrückliche Frage nach dem Sein des Daseins […] durch die Seinsart des Da-seins vorbereitet [ist]« (312), also vor allem die Frage, die durch die Thematisierung der Sorge beantwortet wird. Die Vorbereitung solcher Fragen durch die Seinsart des Daseins ist deswegen möglich, weil »[z]um Sein des Daseins […] Selbstauslegung [gehört]« (312). Diese Selbstauslegung nimmt Heidegger im unmittelbaren Blick auf das Existenzial der Sorge methodisch so ernst, dass er im § 42 »Die Bewährung der existenzialen Interpretation des Daseins als Sorge aus der vorontologischen Selbstauslegung des Daseins« (196) erörtert. Diese Bewährung gelingt durch den Rückgriff auf die in der Alltagssprache eingebürgerten Weisen des Sprechens vom »Besorgen« (57), von der »Fürsorge« (121–22, 193), von der »Sorgfalt« (199), von den »(sorgenvoll[en]) (Verhaltungen des Menschen)« (199), aber auch von den privativen Modi der Sorge, z. B. der »Sorglosigkeit« (192) u. ä. Ohne die Möglichkeit des Rekurses auf die vielfältigen Formen der Selbstauslegung des Daseins »bleibt doch alle Analyse der Existenzialität bodenlos« (312). Den Boden für die Einführung und die Analyse des Existenzials der Sorge bildet also die Selbstauslegung des Daseins bzw. des Menschen in den diversen Modi der Sorge – also z. B. auch die Modi der Vorsorge oder auch der Nachsorge, wie wir sie inzwischen aus der Tätigkeit des Arztes im unmittelbaren Anschluss an die klinische Behandlung einer Erkrankung seines Patienten kennen.
III Von hier aus lassen sich die Knotenpunkte markieren, an denen man auf Schritte Heideggers achten kann, die wichtig sind, wenn man seinen Weg zur Antwort auf die Seinsfrage nachvollziehen können möchte. Mit dem ersten Schritt knüpfe ich an die methodische Wichtigkeit an, die Heidegger der Selbstauslegung des Daseins für die Ausarbeitung der Existenzialontologie beimisst. Von Anfang an hat Heidegger diesen Punkt im Auge, wenn er betont: »Das Dasein versteht sich in irgendeiner Weise und Ausdrücklichkeit in seinem Sein« (12). Er kommentiert dieses ausdrückliche Sich-irgendwie-selbst-verstehen des Daseins durch eine abstrakte Formulierung, die beim ersten Hören fast wie ein Wortspiel klingen mag: »Die ontische Auszeichnung des Daseins liegt darin, daß es ontologisch ist« (12). 279 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
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Wenn Heidegger von einer ontischen Auszeichnung des Seins des Da-seins spricht, dann meint er regelmäßig eine Auszeichnung, die dem Dasein unabhängig davon zukommt, was irgendeine beliebige philosophische Ontologie – und sei es die Existenzial-Ontologie – über das Dasein denkt und sagt. Das Irritierende an der zitierten Formulierung rührt selbstverständlich daher, dass mit ihr zu verstehen gegeben wird, dass das Dasein eben auch unabängig von allen Gedanken und Sätzen irgendeiner philosophischen Ontologie schon von sich aus ontologisch ist, also von sich aus eine ontologische Seinsweise ausbildet, indem es sein Sein und seine Seinsweise durch entsprechende Selbstauslegungen charakterisiert und somit die eine oder andere Ontologie schon von sich aus hat und mitbringt, bevor irgendein Philosoph auch nur anfängt, eine Ontologie auszuarbeiten. Zum Verständnis seiner zunächst irritierenden Bemerkung über das Ontologisch-sein des Daseins hat Heidegger eine unscheinbare, aber in mehr als einer Hinsicht außerordentlich wichtige Verständnishilfe gegeben. Sie knüpft wieder an die für den methodischen Zuschnitt von Heideggers Existenzialontologie wichtige Rolle der Selbstauslegung und zwar der ausdrücklichen Selbstauslegung des Daseins an: »Das Ansprechen von Dasein muß … stets das Personalpronomen mitsagen: ›ich bin‹, ›du bist‹.« (42) Die Wichtigkeit dieser Bemerkung kann kaum überschätzt werden. Durch die sprachlichgrammatische Form vor allem des Ich bin legt Heidegger nicht mehr und nicht weniger fest als eine sprachliche Standardform für die von aller philosophischen Ontologie unabhängige Form der ontologischen Selbstauslegung des Da-seins. Jedes Dasein hat demnach eine mehr oder weniger komplexe Ontologie. Und der Grad der Komplexität einer solchen Ontologie hängt offensichtlich von der Anzahl der Ich bin-Sätze ab, durch die ein individuelles Dasein über sein Dass-sein, über sein Was-sein und über sein Wie-sein sprechen kann, also z. B. Ich bin traurig, 10 Ich bin in Meßkirch, Ich bin Vater von zwei Kindern, Ich bin gerade mitten in einem Vortrag, Ich bin ADAC-Mitglied und vieles andere mehr. Doch im Licht von Heideggers existenzialontologischer Auszeichnung der Sorge liegt es auf der Hand, dass die wichtigsten Selbstauslegungen dieser Form Inhalte haben wie z. B. Zur Bedeutsamkeit der Befindlichkeiten, Stimmungen und Emotionen in Heideggers Existenzial-Ontologie vgl. in diesem Band den vorzüglichen Beitrag von Paola L. Coriando, Da-sein als Befindlichkeit: Von ›Sein und Zeit‹ zum seinsgeschichtlichen Denken, dieser Band S. 107–119.
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Heideggers Weg zur Antwort auf die Seinsfrage
Ich bin besorgt um …, Ich bin besorgt wegen …, Ich bin umsorgt, Ich bin fürsorglich tätig, Ich bin unbesorgt u. ä.
IV Heidegger spitzt also die Bewährungsproben der existenzial-ontologischen Untersuchungen der Sorge auf diese unscheinbare sprachlich-grammatische Form der ausdrücklichen ontologischen Selbstauslegung des Daseins zu, vor allem auf die sorge-thematischen Selbstauslegungen. Wie man nun Schritt für Schritt zeigen kann, bildet diese Zuspitzung einen Knotenpunkt, von dem aus man innerhalb der Existenzialontologie auf etwas aufmerksam werden kann, was man wohl nicht direkt als eine echte Inkohärenz oder gar Inkonsistenz charakterisieren kann, wohl aber als eine innere sachliche Verspannung. Es ist vorzuziehen, von einer inneren sachlichen Verspannung im Unterschied zu einer Inkohärenz oder gar Inkonsistenz zu sprechen, weil sich diese Verspannung mit den innerhalb von Sein und Zeit dargebotenen Mitteln auflösen lässt. Den Preis für diese Auflösung bildet allerdings eine doppelte Revision: 1. Die sprachlich-grammatische Standardform der Selbstauslegung des Daseins Ich bin muss revidiert werden; 2. die Auffassung von der Sorge als dem ausgezeichneten Seinscharakter des Da-seins muss und kann zugunsten eines anderen von Heidegger ausführlich und prominent erörterten Seinscharakters des Da-seins revidiert werden. Um diesen noch fundamentaleren, von Heidegger selbst herausgestrichenen Seinscharakter des Da-seins in Erinnerung zu rufen, gebe ich einige einschlägige Zitate. Heidegger führt diesen Seinscharakter bereits auf 42 ff. ein, also sogar noch vor der thematischen Einführung des Existenzials der Sorge: »Die [am Da-sein] herausstellbaren Charaktere sind […] je ihm mögliche Weisen zu sein und nur das« (42); »Das Dasein bestimmt sich als Seiendes je aus einer Möglichkeit, die es ist und d. h. zugleich in seinem Sein irgendwie versteht« (43); »Das Seinkönnen ist es, worumwillen das Dasein je ist, wie es faktisch ist« (193); das Sein des Daseins ist »wesenhaft Seinkönnen« (312). Das letzte Zitat lenkt die Aufmerksamkeit am stärksten auf die Verspannung, auf die ich aufmerksam zu machen suche. Sie lässt sich vorläufig am angemessensten durch eine skeptische Alternative anvisieren: Ist das Sein des Daseins wesenhaft Sorge oder wesenhaft Sein-können? 281 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
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Heidegger hat der Beantwortung dieser skeptischen Frage am meisten an einem Punkt seiner Untersuchung vorgearbeitet, der auch jenseits der Philosophie mancherlei Aufmerksamkeiten auf sich gezogen hat – bei seiner Erörterung des Themas des Todes. Entgegen den eher erlebnisorientierten Aufmerksamkeiten, die dieses Thema jenseits der Philosophie gefunden hat, hat Heidegger seine Thematisierung des Todes auch auf eine methodische Funktion konzentriert: … am Tod lässt sich »der Möglichkeitscharakter des Daseins am schärfsten enthüllen« (248–49). Den Grad der Schärfe dieser Enthüllung macht Heidgger in zwei Schritten deutlich. Zunächst charakterisiert Heidegger die Zeit bis zum Tod des Daseins: »… bis zu seinem Ende verhält [sich das Da-sein] zu seinem Sein-können« (236). Abschließend gibt er eine rein formale, rein modale Charakterisierung des Todes selbst: Der »Tod ist die Möglichkeit des Nicht-mehrdasein-könnens« (250). Diese Zitate machen schon durch die schlichte Häufung ihres gemeinsamen modalspezifischen Inhalts deutlich, was ein einziges dieser Zitate auf den springenden Punkt bringt: »Die Möglichkeit als Existenzial … ist die ursprünglichste und letzte positive ontologische Bestimmung des Daseins« (143 f.). Das Sein des Daseins ist wesenhaft Sein-können, aber eben nicht wesenhaft Sorge. Die Sorge ist vielmehr unter allen Formen des Sein-könnens des Daseins die in der existenzial-ontologischen Konzeption zentral charakteristische Form des Sein-könnens. Damit liegt auch auf der Hand, wie die von Heidegger festgelegte sprachlich-grammatische Standardform der ontologischen Selbstauslegung des Daseins revidiert werden kann und muss. Sie kann nicht lauten Ich bin, sie muss vielmehr lauten Ich kann. Erst an die zweite systematische Stelle dieser Selbstauslegungsformeln des Daseins gehört dann die Formel Ich kann besorgt sein, und erst an die dritte Stelle die Formel Ich bin besorgt. Die Sorge ist daher lediglich – aber immerhin – der wichtigste Modus des Seinkönnens des Daseins.
V An diesem Punkt wird es nötig, einen Blick von außen auf Heideggers offensichtliche modale Zuspitzung des Seinscharakters des Daseins auf dessen Möglichkeiten bzw. Sein-können zu werfen. Denn Heidegger hat seiner Theorie – und seinen Lesern – auch durch die 282 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
Heideggers Weg zur Antwort auf die Seinsfrage
durchgängigen Redeweisen von Möglichkeiten und vom Sein-können einen blinden Fleck eingehandelt. Man kann den Typ dieses blinden Flecks leicht verständlich machen, indem man sich an einfachen alltäglichen Fällen orientiert, in denen wir davon sprechen, dass jemand eine Möglichkeit hat oder etwas kann. Nehmen wir den Fall, dass eine Person, die in einer Mietswohnung eines Hauses im vierten Stock wohnt und durch einen Unfall querschnittsgelähmt geworden ist. Sie hat aber offensichtlich nach wie vor die objektive Möglichkeit, aus dem Haus zu kommen und in das Haus und ihre Wohnung zurückzukehren, wenn ihr alle Wege offenstehen, die Treppen intakt sind, ein Rollstuhl und ein Fahrstuhl zur Verfügung stehen und ihr auch alle anderen objektiven Möglichkeiten nach wie vor offenstehen. Aber sie hat ebenso offensichtlich nicht mehr die subjektive Möglichkeit, dies zu tun – also nicht mehr die Fähigkeit, dies selbst und aus eigener Kraft zu tun. Umgekehrt kann z. B. ein musikalisch hochbegabtes Kind in einer ganz und gar unmusikalischen Umgebung aufwachsen und auch in seiner weiteren Lebenswelt ohne alle objektiven Möglichkeiten sein, seinen subjektiven musikalischen Möglichkeiten, also seinen musikalischen Fähigkeiten auch nur auf die Spur zu kommen. Kurz: Heidegger blendet durch seine neutralen Redeweisen von Möglichkeiten und vom Seinkönnen die gesamte hochkomplexe Dimension der Fähigkeiten, Fertigkeiten, Vermögen und Kompetenzen aus, ohne die dem Dasein noch so viele und noch so günstige objektive Möglichkeiten für sein Seinkönnen offenstehen mögen, ohne dass es mangels entsprechender Fähigkeiten davon auch nur den geringsten Gebrauch machen könnte. Die Fähigkeit, sich um etwas oder wegen etwas oder für jemand zu sorgen, ist davon selbstverständlich nicht ausgenommen. Es ist um der hermeneutischen Billigkeit willen wichtig festzuhalten, dass eine Kritik an Heideggers Ausblendung der gesamten subjektiven Dimension der Fähigkeiten des Daseins gerade nicht den Vorwurf einer Blindheit impliziert. In seiner Marburger SophistesVorlesung vom Wintersemester 1924–25, die auch einen wichtigen Abschnitt zu Aristoteles’ Nikomachischer Ethik enthält, erörtert Heidegger ausführlich die Formen und die Funktionen, die die verschiedenen δυνάμεις, also die Fähigkeiten spielen, die den Menschen von Platon und von Aristoteles mit Blick auf das Denken, das Erkennen und die Praxis zugeschrieben werden, z. B. vor allem die φρόνησις, die Klugheit. Und in seiner Vorlesung vom Wintersemester 1927–28 Phänomenologische Interpretationen von Kants Kritik der reinen 283 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
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Vernunft ist Heidegger geradezu auf Schritt mit den Vermögen, also den radikal subjektiven Möglichkeiten befasst, von denen Kant im Licht seiner Philosophie buchstäblich alles und jedes bedingt sein lässt, was Menschen faktisch können und tun. Eben diese von Platon nicht nur bis Kant unter den Namen der δυνάμεις, der facultates bzw. der Vermögen, der Fähigkeiten oder der Kompetenzen unablässig erörterten subjektiven Möglichkeiten darf man im Auge haben, wenn man an Heideggers existenzial-ontologischen Untersuchungen wegen der Ausblendung dieser Dimension Kritik übt. Doch diese Kritik enthält nicht etwa so etwas wie einen Vorwurf, sondern lediglich einen Hinweis auf eine innere Grenze dieser Untersuchungen, also auf eine Grenze, jenseits von der aber implizite Voraussetzungen aller von Heidegger erörterten Existenzialien akut sind – eben die Fähigkeiten, ohne die das Dasein kein einziges seiner anderen Existenzialien, vor allem die Sorge auch nur minimal ausüben oder wahrnehmen könnte, auch wenn ihm noch so viele und noch so günstige objektive Möglichkeiten offenstehen. Ich fasse vorläufig zusammen: Unter allem Seienden ist das Dasein das einzige Seiende, das Möglichkeiten hat und dem ein entsprechend vielfältiges Sein-können offensteht. Um den Weg zu Heideggers Antwort auf die Seinsfrage nachvollziehen zu können, reicht diese existenzial-ontologische Auszeichnung des Daseins schon aus. Der kritische Hinweis auf die in Sein und Zeit gleichsam in einem toten Winkel bleibende subjektive Dimension der Fähigkeiten und der Vermögen des Da-seins, vor allem der Fähigkeit und des Vermögens der Sorge, kommt am Ende noch einmal zur Sprache.
VI 1989 hat Friedrich-Wilhelm von Herrmann im Rahmen von Heideggers Gesamtausgabe die lange Zeit geheimnisumwitterten Beiträge zur Philosophie unter dem inhaltlichen Untertitel Vom Ereignis publiziert, Aufzeichnungen Heideggers aus den Jahren 1936–38. 11 Heidegger beginnt hier im Ersten Abschnitt, der Vorblick überschrieben ist, u. a. mit Rückblicken auf Sein und Zeit und auf die da Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), Gesamtausgabe Bd. 65, Frankfurt/M. 1989. Die Seitenangaben im laufenden Text dieses Abschnitts VI beziehen sich auf diese Ausgabe.
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Heideggers Weg zur Antwort auf die Seinsfrage
exponierte Seinsfrage: »Die Frage nach dem ›Sinn‹, … nach der Wahrheit des Seyns, ist und bleibt meine Frage und sie ist meine einzige Frage, denn sie gilt ja dem Einzigsten« (10), und weiter: »Die Frage nach dem ›Sinn des Seyns‹ ist die Frage aller Fragen« (11). Sodann: »Der schon oft wiederholte Hinweis, daß die ›Sorge‹ nur zu denken ist im anfänglichen Bezirk der Seinsfrage« (16). Sie ist also – und dies bildet offensichtlich ein erstes wichtiges Moment der »Kehre« von Heideggers Denken – nicht mehr zu denken am Leitfaden der alltäglichen Selbstauslegung des Daseins. Und schließlich: »Sucher, Wahrer, Wächter – das meint die Sorge als Grundzug des Daseins« (17). Offensichtlich erfährt die in Sein und Zeit thematisierte und charakterisierte Sorge damit eine radikale Neuorientierung. Denn sie kann in dem apostrophierten ›anfänglichen Bezirk der Seinsfrage‹ nur noch in der Haltung eines Suchers, Wahrers und Wächters wahrgenommen werden – doch Sucher nach was, Wahrer von was und Wächter von was? Diese Sucher, Wahrer und Wächter werden charakterisiert als »… die Seltenen, die den höchsten Mut zur Einsamkeit aufbringen, um den Adel des Seyns zu denken und zu sagen von seiner Einzigkeit« (11). Heidegger sagt hier noch nicht, worin der Adel des Seyns besteht, und auch nicht, worin dessen Einzigkeit besteht. Doch die Sucher suchen offensichtlich nach demjenigen, worin der Adel und die Einzigkeit des Seyns besteht, während die Wahrer beides wahren oder bewahren, wenn sie es gefunden haben, so wie die Wächter es bewachen. Durch den Titel Der Sprung des Vierten Abschnitts gibt Heidegger zu verstehen, wie man in den von ihm am Anfang apostrophierten »anfänglichen Bezirk der Seinsfrage« (16) gelangen kann. Dies gelingt gerade nicht durch einen oder mehr als einen Schritt, der sich nach irgendwelchen angebbaren Regeln als eine so zu apostrophierende Konsequenz aus bestimmten vorangegangenen Schritten mittelbar und mit argumentativer Notwendigkeit ergeben könnte. Man gelangt in ihn trotz aller Vorbereitungen, um die sich Heidegger bis in die Zeit dieser Aufzeichnungen schon bemüht hat, nur dadurch, dass er, wie Heidegger noch im Ersten Abschnitt formuliert, »im Sprung ersprungen wird« (79). Was jemand unter dieser Voraussetzung überhaupt über das Seyn sagen kann, spricht daher schon unmittelbar »aus der Wahrheit des Seyns« (79), also aus der ersprungenen Wahrheit des Seyns. Man sollte sich durch Heideggers Sprachstil nicht voreilig irritieren lassen. Wer sich z. B. mit Hilfe des Internets darüber informiert 285 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
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hat, dass Friedrich-Wilhelm von Herrmann emeritierter Professor für Philosophie an der Universität Freiburg ist, unterhält zu dieser Tatsache eine ganz andere Art von Beziehung als jemand, der z. B. wie ich mehrere Jahre demselben Seminar dieser Universität angehört hat wie Herr von Herrmann. In dieser Situation ist man im Gegensatz zum Internet-Leser ein unmittelbarer Zeuge dieser Tatsache. Und zum Zeugen einer Tatsache kann man auch nur dadurch werden, dass man unmittelbar in die Situation ›springt‹, in der man sich diese Tatsache auch unmittelbar als ein Zeuge erschließen kann, der bei unmittelbaren Begegnungen mit Friedrich-Wilhelm von Herrmann die Erfahrung macht, wie Friedrich-Wilhelm von Herrmann ist. Man könnte daher von einer solchen Person mit einer gewissen Berechtigung sagen, dass sie aus der Wahrheit der von ihr erfahrenen und bezeugbaren Tatsache sprechen kann. Gewiss wäre dies immer noch ein übertriebener Sprachstil. Doch vielleicht passt Heideggers Sprachstil besser zu dem Rang der Wahrheit, von der er spricht, als zu dem Rang der Wahrheit, die in den Augen eines unmittelbaren Zeugen z. B. Herrn von Herrmanns Professorenschaft an der Universität Freiburg betrifft. Es wird sich zeigen. Die meisten jetzt noch folgenden Zitate aus dem Abschnitt Der Sprung bieten daher gemäß Heideggers eigenem Anspruch offensichtlich Formulierungen, mit denen Heidegger ›aus‹ der von ihm ›ersprungenen Wahrheit des Seyns‹ spricht. Zunächst: »Das Seyn braucht den Menschen, damit es wese, und der Mensch gehört dem Seyn, daß er seine äußerste Bestimmung als Da-sein vollbringe« (251). Es ist offensichtlich diese äußerste Bestimmung, der die Tätigkeiten gewidmet sind, denen das Da-sein in der Position des Suchers, des Wahrers und des Wächters nachgeht. Und es sind diese Tätigkeiten, in denen es seine ganz neu orientierte Sorge wahrnimmt. Die 135. Nummer des Abschnitts Der Sprung hat eine Überschrift, die den Anfang eines Satzes bildet, der im eigentlichen Text fortgesetzt wird. Im Zusammenhang lauten Überschrift und Text so: »Die Wesung des Seyns als Ereignis … schließt in sich die Ereignung des Dasein« (254). Zur Abwehr von Missverständnissen fährt Heidegger fort: »[…] die Rede vom Bezug des Da-Seins zum Seyn [ist] irreführend, sofern die Meinung nahegelegt wird, als wese das Seyn ›für sich‹ und das Da-sein nehme die Beziehung zum Seyn auf« (254). Und weiter: »Sagen wir vom Bezug des Menschen zum Seyn und umgekehrt des Seyns zum Menschen, dann klingt dies leicht so, als wese das Seyn für den Menschen wie ein Gegenüber und Gegenstand. 286 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
Heideggers Weg zur Antwort auf die Seinsfrage
Aber der Mensch wird als Da-sein vom Seyn als dem Ereignis ereignet und so zugehörig zum Seyn selbst. […] das Sei/yn [ereignet] das Dasein und west so erst als Ereignis« (256). Und schließlich: »Seine Wahrheit […] west nur in der Bergung als Kunst, Denken, Dichten und Tat« (ebd.). Unter diesen vier Modi der Bergung der Wahrheit des Seyns sind Heideggers eigene authentische Bemühungen um diese Bergung ihr selbstverständlich ausschließlich im Modus des Denkens gewidmet. Doch wie charakterisiert Heidegger die Wahrheit des Seyns, nachdem sie sich seiner Sorge nach langem Suchen so erschlossen hat, dass er sie, wie er anfangs formuliert hat, wahren und bewachen, also bergen konnte?
VII Heideggers Antwort findet sich in dem 1943 verfassten Nachwort zu der im selben Jahr publizierten vierten Auflage seiner Freiburger Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? von 1929. 12 Die Einleitung zur 5. Auflage des Textes von 1949 berücksichtige ich in diesem Rahmen nicht direkt. Ich unterstelle, dass diese Einleitung von 1949 die Antwort von 1943 voraussetzt; und ich unterstelle, dass Heidegger die Frage nach der »unbeachteten Offenbarkeit des Seins« 13 und »nach der Wahrheit des Seins« 14 in dieser späteren Einleitung gerade deswegen so eindringlich stellt und die Voraussetzungen des langen Ausbleibens einer Antwort so ausführlich erörtert, weil er sich im Licht seiner sechs Jahre früheren Antwort auf die Seinsfrage umso klarer darüber geworden ist, wie wichtig es ist, diese Fragen weiterhin immer wieder so eindringlich wie möglich zu erörtern. Denn erst im Licht dieser Antwort – also im Rückblick – kann Heidegger die Form der Frage so genau wie nur irgendmöglich entwerfen, auf die die Antwort auf die Seinsfrage eine sowohl formal wie inhaltlich angemessene Antwort bildet – auf die Frage, »ob das Sein selber aus seiner ihm eigenen Wahrheit seinen Bezug zum Wesen des Menschen ereignen kann«. 15 Martin Heidegger, Was Ist Metaphysik? (11929), Frankfurt/M. 81960, 49. Vgl. Was ist Metaphysik?, in: Wegmarken (1919–1961), in: Gesamtausgabe. Bd. 9, Frankfurt/M. 2004, 366. 14 368. 15 369. 12 13
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Es ist angesichts eines so umsichtig seine Denkwege hütenden Denkers wie Heidegger selbstverständlich alles andere als ein Zufall, dass die Antwort von 1943 auch das Potential zur Beantwortung der Frage Leibnizens enthält, die Heidegger im Vorwort zur ersten Druckfassung dieser vierzehn Jahre früheren Freiburger Antrittsvorlesung zitiert und am Ende der Vorlesung als vorläufig offen bleibende Frage formuliert: »Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr nichts?« (21–23 bzw. 42). 16 Am Ende des Vorworts zur 1929 erstmals publizierten Vorlesung bemerkt Heidegger zur Antwort auf diese Leibniz-Frage: »Wie immer auch die Antwort lauten mag, die Zeit dürfte inzwischen reif geworden sein, die vielfach bekämpfte Vorlesung ›Was ist Metaphysik?‹ einmal von ihrem Ende her zu durchdenken, von ihrem Ende, nicht von einem eingebildeten«. 17 Die am Ende dieser Vorlesung noch einmal aufgenommene LeibnizFrage hat Heidegger im vierzehn Jahre später formulierten Nachwort mit der definitiven Antwort auf die Frage nach der Wahrheit des Seyns verbunden: »Das anfängliche Denken ist der Widerhall der Gunst des Seins … : daß Seiendes ist«. 18 Dass Seiendes ist und nicht vielmehr nichts, verdankt sich der Gunst des Seins. Diese Gunst findet erst im anfänglichen Denken ihren Widerhall. Doch schon im vorletzten, im 280. Abschnitt des letzten Teils der sieben bis fünf Jahre früheren Beiträge zur Philosophie kennzeichnet Heidegger die Leibniz-Frage in der Überschrift dieses Abschnitts als Die Übergangsfrage, 19 also als die Frage, durch die das die Metaphysik hinter sich lassende Denken den ersten Schritt auf dem Weg des anfänglichen Denkens tut. Indem sich dieses anfängliche Denken innerhalb der Grenzen des Widerhalls des Seyns aufhält, so schreibt Heidegger im späteren Nachwort von 1949 zur Antrittsvorlesung, »… verschwendet es sich im Sein für die Wahrheit des Sei/yns«, 20 also für die Gunst des Sei/yns. Indem es sich in dieser Weise verschwendet, »… hilft [es], daß [die Wahrheit des Sei/yns] [also die Gunst des Sei/yns, R. E.] im geschichtlichen Menschentum seine Stätte findet«. 21 Denn die Gunst des Seyns ist der ausgezeichnete Grundzug des Seins alles Seienden und vor allem des Seins des Da-seins, also 16 17 18 19 20 21
Was Ist Metaphysik? (11929), Frankfurt/M. 81960, 21–23 bzw. 42. 23. 49. Ereignis, 509. Was Ist Metaphysik? (11929), Frankfurt/M. 81960, 49. 50.
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Heideggers Weg zur Antwort auf die Seinsfrage
des Menschen, und zwar auch dann schon, wenn noch kein einziger Mensch in den Bezirk des anfänglichen Denkens gelangt ist. Erst durch die Selbstverschwendung des anfänglichen Denkens an die Gunst des Sei/yns wird ihr im Menschentum eine Stätte vorbereitet. Und erst durch das Denken und das Bedenken des Gedankens, dass sich das Sein des Seienden und insbesondere das des Daseins der Gunst des Seyns verdankt, findet sie, also die Gunst des Seyns zum ersten Mal diese Stätte.
VIII An diesem Punkt wird es nötig, möglich und zweckmäßig zu klären, wodurch die letzten Schritte Heideggers auf dem Weg zur definitiven Antwort auf die Seinsfrage mit Schritten verflochten sind, wie sie in Sein und Zeit vorbereitet worden sind. Der eine Schritt ist selbstverständlich durch den Gedanken vorbereitet, dass es dem Dasein in seinem Sein um sein Sein geht, und zwar in den diversen Modi der Sorge. Dieser Gedanke wird zwar radikalisiert durch den Schritt, der zu dem Gedanken führt, dass die Sorge ›nur zu denken ist im anfänglichen Bezirk der Seinsfrage‹ (vgl. oben 285). Indessen betont Heidegger nach wie vor, dass ›die Sorge den Grundzug des Daseins‹ bildet (vgl. oben 285). Doch dieser Grundzug zeigt sich im unmittelbaren Bezirk des anfänglichen Denkens nicht mehr darin, dass es dem Dasein in seinem Sein um sein vielfältiges innerweltliches Sein in den Modi von Sorge-um, Sorge-für, Vorsorge, Sorglosigkeit und anderen Modi der Sorge geht. Dieser Grundzug zeigt sich ausschließlich darin, dass das Dasein ›seine äußerste Bestimmung als Da-sein vollbringe‹. Selbstverständlich ist sich Heidgger, wenn er von der ›äußersten Bestimmung des Da-seins‹ spricht, dessen bewusst, dass die Frage nach der Bestimmung des Menschen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zum ersten Mal formuliert worden ist. 22 Doch wenn er das zentrale Element dieser Frage in offensichtlicher radikaler Zuspitzung als die ›äußerste Bestimmung des Da-seins‹ thematisiert, sollten zwei kritische Rückfragen erörtert werden. Mit der einen dieser beiden Rückfragen erkundigt man sich zweckmäßgerweise danach, ob das, was Heidegger als die ›äußerste Vgl. Johann Joachim Spalding, Betrachtung über die Bestimmung des Menschen (11748), Dritte und vermehrte Auflage, Greifswald 1749.
22
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Bestimmung des Da-seins‹ auffasst, denn auch eine Bestimmung ist, die dem Da-sein in einer ihm angemessenen Weise zugemutet und zugetraut werden kann, also so, dass es dadurch nicht maßlos überfordert wird. Immerhin gibt Heidegger zu verstehen, dass sich dieser ›äußersten Bestimmung des Da-seins‹ nur diejenigen annehmen können, die ›den höchsten Mut zur Einsamkeit‹ aufbringen (vgl. oben 285). Doch damit ist die Frage nach dem Sein-können des Da-seins (vgl. oben 281–285) angeschnitten, das in Sein und Zeit so prominent thematisiert wird, und damit, wie ich in meiner kritischen Revision dieses Themas zu zeigen gesucht habe, die Frage nach den Vermögen und den Fähigkeiten, nach den facultates und den δυνάμεις, die das Da-sein befähigen, dieser äußersten Bestimmung durch die Wahrnehmung des dafür angemessenen Modus der Sorge gerecht zu werden. Durch seine Auffassung von der ›äußersten Bestimmung des Da-seins‹ ist Heidegger daher genötigt zu unterstellen, dass das Dasein mit den dieser äußersten Bestimmung angemessenen Vermögen und Fähigkeiten bzw. facultates und δυνάμεις begabt ist und daher ›den höchsten Mut zur Einsamkeit‹ auch aufbringen, aushalten und mit seiner Hilfe auch ans Ziel seiner ›äußersten Bestimmung‹ gelangen kann.
IX Wenn man die Schritte Heideggers auf dem Weg von Sein und Zeit zur definitiven Antwort auf die Seinsfrage so weit durchsichtig gemacht hat, dann ergibt sich unmittelbar eine Frage, die zurück zum status quaestionis von Sein und Zeit führt. Denn wenn es die äußerste Bestimmung des Daseins ist, die Gunst des Seins alles Seienden nicht nur zu denken, sondern diesen Gedanken auch zu wahren und zu bewachen, dann darf gefragt werden, ob Heidegger selbst, bevor er diese äußerste Bestimmung des Daseins ins Auge fassen konnte, eine ihr vorausliegende, noch nicht ins äußerste gehende Bestimmung zur Sprache gebracht hat. In diesem Punkt hilft eine der Überlegungen weiter, mit deren Hilfe Heidegger gleich im ersten Abschnitt der Beiträge zur Philosophie einen der wichtigsten Schritte markiert hat, mit denen er sich auf dem Weg der von ihm so prominent apostrophierten Kehre bewegt. Es handelt sich um die schon zitierte Bemerkung: »Der schon oft wiederholte Hinweis, daß die ›Sorge‹ nur zu denken ist im anfäng290 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
Heideggers Weg zur Antwort auf die Seinsfrage
lichen Bezirk der Seinsfrage«. 23 Die Sorge ist also nicht mehr zu denken am Leitfaden der alltäglichen Selbstauslegung des Daseins. Die so aufgefasste Sorge wird daher auch in ganz anderen Vollzugsmodi tätig als diesseits des Bezirks des anfänglichen Denkens: »Sucher, Wahrer, Wächter – das meint die Sorge als Grundzug des Daseins«. 24 Diese Gestalt der Sorge gewinnt daher auch erst im anfänglichen Bezirk der Seinsfrage die Orientierung an der äußersten Bestimmung des Daseins. Doch wenn der hier skizzierte Weg Heideggers zur Antwort auf die Seinsfrage ein kohärenter Weg sein soll, also ein Weg, den Heidegger in einem bruchlosen Zusammenhang mit seinem Anfang in Sein und Zeit gegangen ist – wenngleich mit einer Kehre, also mit einer aufsteigenden Wendung von ca. 180º –, dann sollte es im Rückblick auch möglich sein zu klären, wie Heidegger von der in Sein und Zeit charakterisierten Bestimmung des Daseins in kohärenter Form zum Gedanken der äußersten Bestimmung des Da-seins gelangen kann, Sucher, Wahrer und Wächter der Gunst des Seins zu sein. Die wichtigste Orientierungshilfe, die Heidegger für eine Klärung dieser Kohärenz bietet, bildet in den Beiträgen zur Philosophie die Verortung der Sorge im Bezirk des anfänglichen Denkens im Gegensatz zu ihrer Verortung in der alltäglichen Selbstauslegung des Daseins. Wie lässt sich diese Orientierungshilfe fruchtbar machen, wenn man die Bruchlosigkeit des Weges von Sein und Zeit zur Antwort auf die Seinsfrage durchsichtig zu machen sucht?
X Ein solches Unterfangen ist, wenn man erst einmal auf die aufgezeigten Wegmarken dieses Wegs aufmerksam geworden ist, viel leichter, als es zunächst scheinen mag. Zu diesem Zweck kommt es lediglich darauf an, ein wenig sorgfältiger, als es sonst angezeigt sein mag, auf die Bedingungen zu achten, von denen im Licht von Sein und Zeit abhängt, dass es der Sorge des Daseins um sein Sein, um seine Existenz gelingen kann, diese Sorge so wahrzunehmen, dass dieser Existenz Dauerhaftigkeit, Auskömmlichkeit und alle anderen elementaren Modi beschieden sind, die im Unterschied zu seiner äußersten
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Ereignis, 16. 17.
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Bestimmung zur Bestimmung seiner alltäglichen Selbstauslegung gehören. Zu diesen Bedingungen gehört vor allem der Umstand, dass es inmitten alles Seienden eine unerschöpfliche Fülle von vorfindlichem Seienden gibt, die der Sorge des Da-seins um sein Sein zuhanden, dienlich, brauchbar sowie behandelbar sind und in mancherlei anderen Seinsmodi der Sorge des Daseins um sein Sein zuträglich sind. Das Seiende dieses Typs des Zuhandenen, des Dienlichen, Brauchbaren, Behandelbaren, also des ihm Zuträglichen ist vom Dasein weder hervorgebracht noch gestaltet worden, es wird von ihm in Gestalt der so genannten natürlichen Dinge vorgefunden. Das Dasein findet sich inmitten einer Fülle von Seiendem vor, das seiner Sorge um seine Existenz dienlich ist, obwohl es von ihm weder überhaupt noch mit dem Ziel dieser Dienlichkeit hervorgebracht worden ist. Mit Hilfe seiner elementaren leibhaftigen Handlungen kann das Dasein Seiendes dieser Sorte teilweise unmittelbar gebrauchen und nutzen, teilweise kann es anderes Seiendes dieser Art so gestalten, dass es erst durch diese Gestaltung brauchbar wird. Vor allem aber benennt Heidegger auch die wichtigste kognitive Haltung, in der das Dasein dieses vorfindliche Seiende seiner Brauchbarkeit zugänglich macht – die Umsicht. Die Umsicht ist die zentrale kognitive Fähigkeit und Tätigkeit, mit deren Hilfe sich das Dasein in den ständig wechselnden Umständen seiner Existenz um eben seine Existenz sorgt, weil sie »das ›praktische‹ Besorgen führt« (358). 25 Welche außerordentliche Wichtigkeit dieser kognitiven Fähigkeit und Tätigkeit in Sein und Zeit beigemessen wird, kann man Heideggers Skizze einer existenzial-ontologischen Wissenschaftstheorie entnehmen. Er skizziert sie auf den Seiten 356–364 unter dem Stichwort »der existenzialen Genesis der Wissenschaft« (358). 26 Von ihr sagt er geradezu im programmatischen Sinne, dass sie »bei der Umsicht einsetzen müsse […], die das ›praktische‹ Besorgen führt« (ebd.). 27 Ein Jahr, bevor das für die nächsten Jahre richtungweisende logisch-ontologische Werk Der logische Aubau der Welt des nur zwei Jahre jüngeren Rudolf Carnap erscheint, lenkt Heidegger die Aufmerksamkeit auf das in allen Wissenschaften allgegenwärtige »Han-
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Sein und Zeit, 358. Ebd. Ebd.
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tieren«. 28 Denn das Hantieren in den Wissenschaften führt zu »einer verschärften Umsicht«, 29 also zu einer verschärften Berücksichtigung der Umstände, unter denen das Hantieren der wissenschaftlichen Arbeit zu den intendierten – oder auch nicht intendierten – Entdeckungen beitragen kann. Heidegger weist auf den »verwickelten »technischen« Aufbau eines Experiments« 30 hin, auf die entsprechende »Herstellung von »Präparaten«« 31 in den Naturwissenschaften und auf die »archäologische Ausgrabung, die der Interpretation des »Fundes« vorhergeht« und »[…] die gröbsten Hantierungen [erheischt]«. 32 Er gibt zu bedenken, dass »auch die »abstrakteste« Ausarbeitung von Problemen und Fixierung des Gewonnenen […] zum Beispiel mit Schreibzeug [hantiert]«, 33 in paradigmatischen Formen also in den Formalwissenschaften Mathematik und Logik. Und in seinem Vortrag Die Zeit des Weltbildes 34 von 1938 bezieht er die Geisteswissenschaften in solche Überlegungen ein und macht auf die unerlässlichen Hantierungen aufmerksam, die für das »Herausbringen von Büchern und Schriften« 35 sowie zur Sicherung der Quellenbestände für die Quellenkritik sowie für die Interpretation und die historische Erklärung nötig sind. 36 Heidegger macht im Rahmen seiner existenzial-ontologischen Konzeption der Wissenschaft also darauf aufmerksam, dass das Dasein wissenschaftlich weder tätig werden könnte noch mit Erfolg tätig sein könnte, wenn es nicht schon längst vor allem wissenschaftlichen Beginnen während durchschnittlich zweier Lebensjahrzehnte gelernt hätte, auf wachsenden kognitiven, technischen und praktischen Komplexitätsstufen die Umsicht zu erproben, zu bewähren und zu verbessern. Denn es benötigt unter den ständig wechselnden Umständen seiner Existenz schon vor aller wissenschaftlichen Tätigkeit eine unablässig ›verschärfte‹ Umsicht, um in den unüberschaubar diversen Gestalten des vorhandenen Seienden jeweils dasjenige zuhandene
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358–361. 358. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Die Zeit des Weltbildes, in: Holzwege, 69–104. 90–91. Vgl. 76–77.
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Seiende zu entdecken, mit dem es in einer gegebenen Situation zugunsten der Sorge um seine Existenz hantieren können muss.
XI Hier wird nun der Schritt möglich, der auf die früheste Herkunft von Heideggers Antwort auf die Seinsfrage aufmerksam machen kann. Denn das Sein von jedem und allem vorhandenen Seienden ist nicht vom Dasein hervorgebracht. Doch obwohl es vom Dasein nicht hervorgebracht ist, lässt sich inmitten dieses vorhandenen Seienden offensichtlich, wie die Geschichte zeigt, mit Hilfe der Umsicht unablässig immer wieder von neuem neues Zuhandenes entdecken, das sich in den Dienst seiner Sorge um seine Existenz stellen lässt. Diese geschichtliche Erfahrung sowohl des praktischen wie des wissenschaftlichen Alltagslebens, dass das vom Menschen nicht gemachte vorfindliche Seiende in unerschöpflich diversen Gestalten von Zuhandenheit der Sorge um seine Existenz dienlich ist, bildet auf Heideggers dokumentiertem Denkweg das elementarste und daher auch jedem anderen Menschen zugängliche Medium, in dem der Gedanke der Gunst des Seins gefasst werden kann. Denn es ist die Gunst des Seins, dem das Dasein ein doppeltes Geschick verdankt – zum einen das Geschick, inmitten eines solchen seiner Existenz dienlichen Seienden zu existieren, zum anderen aber und vor allem das Geschick, mit Fähigkeiten, facultates und δυνάμεις begabt zu sein, die es befähigen, diese vielfältige Dienlichkeit zu entdecken und sie vermöge der Umsicht und der Sorge um seine Existenz technisch und praktisch fruchtbar zu machen. 37 Unter diesen Fähigkeiten, facultates und δυνάμεις des Daseins findet sich, wie Heidegger auf seinem Weg zur Antwort auf die Seinsfrage gezeigt hat, eine, die dazu befähigt, dem Gedanken auf die Spur zu kommen, dass das Da-sein es einer unvordenklichen Gunst des Seins verdankt, mit allen seinen Fähigkeiten, facultates und δυνάμεις inmitten eines Seienden zu existieren, das zu ihm und
Inwiefern diese Dienlichkeit eine günstige Schickung des Seins ist, die sogar unter die stillschweigenden Voraussetzungen der formalen Semantik gehört, habe ich in meiner Rezension: Von der formalen Semantik zur Seinsfrage, Ernst Tugendhat, Philosophische Aufsätze, Frankfurt am Main 1992, in: Philosophische Rundschau Band 41, Heft 2 (1994), 101–115, bes. 112–114, gezeigt.
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diesen facultates und δυνάμεις so günstig passt bzw. zu denen umgekehrt es und seine Fähigkeiten, facultates und δυνάμεις so günstig passen. Das Dasein und das Seiende, inmitten von dem es existiert, verdanken einer unvordenklichen Gunst des Seins eine einzigartig günstige wechselseitige Passform. Es ist vielleicht nicht müßig, daran zu erinnern, dass es Kant ist, der wie vielleicht kein zweiter Denker Heidegger bei dieser Antwort in zwei Hinsichten begleiten kann. In den frühen 70er Jahren hat Kant eine Reflexion notiert, die er erst fast zwanzig Jahre später in seiner Kritik der ästhetischen Urteilskraft zu einer Theorie ausgearbeitet hat. Die Reflexion lautet: »Die schöne Dinge zeigen an, daß der Mensch in die Welt paßt«. 38 Ich kenne keinen anderen vergleichbar streng und tief denkenden Philosophen, der den Gedanken der wechselseitigen Passform von Mensch und Welt mit dieser aphoristischen Lakonie gefasst hätte und damit – wenngleich aus ganz andersartigen Gründen – zum unmittelbaren Begleiter von Heideggers Weg zur Antwort auf die Seinsfrage geworden wäre. Doch Kants Philosophie stellt darüber hinaus begriffliche Mittel zur Verfügung, mit deren Hilfe man auch die Gunst des Seins in einer formalen Hinsicht durchleuchten kann. Denn die Gunst des Seins hat mit Blick auf alles Seiende, sofern dessen Sein sich dieser Gunst verdankt, einen formalen Status, der dadurch charakterisiert ist, dass sich diese Gunst ihrerseits nicht einer noch höheren Gunst verdankt. Insofern hat die Gunst des Seins den formalen Status eines Unbedingten, also eines von keiner übergeordneten Gunst Bedingten oder Abhängigen. Es ist insofern das Unvordenkliche alles Seins des Seienden oder das Äußerste, was das Dasein jenseits alles Seins des Seienden im Modus des Denken zu fassen vermag. Die Gunst des Seins kommt also, in Platons Sprache formuliert, aus dem Bezirk ἐπέκεινα τῆς οὐσίας. Dieses Äußerste im Modus des Denkens zu fassen, bildet daher auch die äußerste von Heidegger ins Auge gefasste Bestimmung des Daseins.
Kant’s Gesammelte Schriften (sog. Akademie-Ausgabe), Berlin 1900 ff., Bd. XVI, Reflexion 1820a.
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XII Heidegger hat die Antwort auf die Seinsfrage in späteren Veröffentlichungen anscheinend niemals wieder ausdrücklich und mit demselben Inhalt wiederholt. Dieser Umstand kann die skeptische Frage hervorrufen, ob die zitierte Formulierung von 1943 möglicherweise nicht Heideggers letztes Wort zu diesem Thema war und später vielleicht in unauffälliger Form vertieft oder vielleicht sogar verworfen worden ist. Doch es spricht nicht wenig dafür, dass Heidegger in diesem Punkt eine Haltung bewahrt hat, wie er sie in einem späteren Vortrag und Text in einer fast sprichwörtlichen Version mitgeteilt hat: »Man muß die Leute nicht am Ärmel ziehen«. 39 Man kann jedoch einen Test machen und ihn mit der wichtigsten Stichprobe verbinden, indem man die letzte von Heidegger noch autorisierte Veröffentlichung sorgfältig ansieht – die zweite, unveränderte Auflage des aus einem Freiburger Vortrag von 1962 hervorgegangenen Texts mit dem Titel Zeit und Sein in dem Sammelbändchen Zur Sache des Denkens 40 von 1976, also dem Todesjahr Heideggers. Heidegger geht hier einem Gedanken nach, der einer alltäglichen Redewendung einen Hinweis entnimmt, der zu einer erneuten Ausarbeitung des Gedankens von der Gunst des Seins führt. Die alltägliche Redewendung zeigt sich, wenn wir z. B. sagen, es gibt Menschen, aber auch, wenn wir sagen, es gibt Zeit. Die entscheidende Wendung in Richtung auf den Gedanken der Gunst des Seins, ohne ihn wörtlich zu wiederholen, nimmt Heidegger, indem er das es des alltäglichen es gibt … mit einem großen E schreibt. 41 Dadurch gibt V. Vortrag, in: Grundsätze des Denkens, in: Bremer und Freiburger Vorträge, in: Gesamtausgabe, Band 79 (11994), Frankfurt/M. 2005, hier: 176. 40 Vgl. Martin Heidegger, Zeit und Sein, in: ders., Zur Sache des Denkens (11969), Tübingen 1976, 1–25. 41 5 ff. Wenn Heidegger in der letzten von ihm noch autorisierten Publikation zur Fassung eines Es gelangt, dem alles, was Es gibt, die Gunst seines Dass- und seines So-Gegebenseins verdankt, dann wird es klärungsbedürftig, ob der Gott innerhalb des Ereignisses noch einen Ort hat. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Wege ins Ereignis. Zu Heideggers »Beiträgen zur Philosophie«, Frankfurt/M. 1994, gibt im Vierten Kapitel unter der Überschrift »Mensch – Gott und Ereignis«, 325–386, vor allem durch seine eindringliche Auseinandersetzung mit dem auf Meister Eckhart zurückgehenden Gedanken Heideggers von der Gelassenheit, vgl. 371–386, zu bedenken, dass »[i]m Ereignis als dem Gelassenheits-Denken […] die Gotteserfahrung im Wesensraum des Ereignisses [geschieht]«, 386, Hervorhebung R. E. 39
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Heidegger unmissverständlich zu verstehen, dass sich das hier thematisierte Geben einem Es verdankt, und zwar, wenn man den Gedanken von 1943 zu Hilfe nimmt, einer Gunst des Es. War diese Gunst in der Sprache von 1943 der Grundzug des Seins, so bildet sie jetzt, ohne dass Heidegger sie noch einmal direkt zur Sprache bringen würde, den Grundcharakter des Es. Heidegger fragt jedoch genauer nach, »wie jenes Geben zu bestimmen sei«. 42 Er antwortet, indem er den Unterschied zwischen den alltäglichen Gebrauchsbedeutungen von Geben und Schicken fruchtbar macht: Indem jemand einem anderen etwas gibt, ist er selbst anwesend; indem jemand einem anderen etwas schickt, übermittelt er ihm zwar seine Gabe, hält sich selbst aber in einem mehr oder weniger entfernten Hintergrund. In diesem Sinne beantwortet Heidegger seine Frage, wie jenes Geben zu bestimmen sei: »Ein Geben, das nur seine Gabe gibt, sich selbst jedoch dabei zurückhält, nennen wir das Schicken«. 43 In dem so erläuterten Sinn von Geben ist alles, was Es gibt, »das Ge-schickte«; 44 hingegen hält sich das Es dieses Schickens in der Form zurück, wie es für jedes Schickende charakteristisch ist. An diesem Punkt ist eine Ergänzung nötig, durch die Heidegger bei seiner Thematisierung des Es nicht nur formuliert Es gibt Zeit, sondern auch »Es gibt Sein«. 45 Also nicht nur die Zeit, sondern auch das Sein verdankt sich einer Schickung des Es. Damit scheint Heidegger eine wichtige Korrektur an der Antwort von 1943 vorzunehmen. Denn in der Rede von der Gunst des Seins hat das Sein offenkundig noch den Status inne, den nun das Es innehat. Während also in der Sprache von 1943 die Gunst einen Grundzug des Seins bildet, verdankt sich in der jüngeren Auffassung nicht nur die Zeit, sondern auch das Sein selbst der Schickung eines namenlosen Es. Das substantivierte Pronomen Es ist also im emphatischen Sinne das Pro-nomen des namen-losen Unbedingten einer nicht nur die Zeit und das Sein, sondern alles Seiende und vor allem das Da-sein schickenden Gunst. Damit hat Heidegger nicht nur dem thematischen Schwerpunkt des Textes Rechnung getragen, dessen Titel ja eine Erörterung von Zeit und Sein in Aussicht stellt. Vor allem hat Heidegger damit eine Charakterisierung des Seins gefunden, die nicht mehr seiner jahrzehnte42 43 44 45
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langen Kritik der Metaphysik ausgesetzt ist, dass sie das Sein stets nur vom Seienden her denke. Das Sein wird in diesem jüngsten Ansatz vielmehr von den Schickungen des Es, von der Gunst bzw. von den günstigen Schickungen des Es her gedacht.
XIII Nun fällt allerdings auf, dass Heidegger den Gedanken der Gunst, die er 1943 noch dem Sein als dessen Grundzug zugeschrieben hat, im Vortrags-Text von 1962 zwar nicht ausdrücklich verwirft, aber auch nicht ausdrücklich wiederholt. 46 Doch alles Geschickte – vor allem die Zeit – wird wie zuvor alles von der Gunst des Seins Ereignete ausschließlich dem Menschen zuteil. Aus einer vertieften Auseinandersetzung mit Augustinus’ Antwort auf die Frage, was Zeit ist, gelangt Heidegger zu einer modifizierten Auffassung von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft als der internen Struktur der Zeit. 47 Den Vorrang der Zeit vor allem anderen Geschickten sieht Heidegger allerdings durch einen Grundzug der Zeit gegeben, durch den sie – und nur sie – für den Menschen – und nur für ihn – ein Geschicktes ist, das ihm einen einzigartigen Vorzug gewährt. Dieser Vorzug kann in keinem anderen Charakter des Es seinen Ursprung haben als in einer Gunst: Die Zeit – und nur die Zeit – gewährt dem Menschen, wie Heidegger formuliert, einen lichtenden Zugang zu allem anderen Geschickten, vor allem zum Sein. 48 Vielleicht kann man diesen Gedanken Heideggers mit Hilfe einer Metapher aus unserer alltäglichen Gebrauchssprache und einer Analogie aus der Physik auch so paraphrasieren: Die Zeit ist unter allem Geschickten dasjenige Geschickte, das auf alles andere Geschickte ein Licht wirft, und zwar ein Licht, das alles andere Geschickte gleichsam in die drei Spektralfarben der Gegenwart, der Vergangenheit und der Zukunft taucht.
In dem Vortrag Die Gefahr aus der Bremer Vortragsreihe Einblick in das was ist von 1949, vgl. Martin Heidegger, Bremer und Freiburger Vorträge, GA Band 79, erörtert Heidegger »verhülltes Gehen der Gunst in eine ungebrauchte Ankunft der Huld«, 57, Hervorhebung R. E. 47 Vgl. hierzu vom Verf., Zeit, Bewegung, Handlung und Bewußtsein im XI. Buch der ›Confessiones‹ des hl. Augustinus, in: Zeit, Bewegung, Handlung. Studien zur Zeitabhandlung des Aristoteles (Hg. E. Rudolph), Stuttgart 1988, 193–221. 48 Vgl. Zeit und Sein, 17 ff. 46
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Heideggers voraussetzungsreiche Charakterisierung der Zeit kann hier nicht ausführlich erörtert werden. 49 Es kam hier ausschließlich darauf an, in der letzten zu seinen Lebzeiten veröffentlichten Schrift auf so viele Spuren wie möglich aufmerksam zu machen, die auf seine bis zuletzt festgehaltene Antwort auf die Seinsfrage von 1943 verweisen.
XIV Nimmt man Heideggers Charakterisierung des Fragens als der Frömmigkeit des Denkens ernst, 50 dann ist es zumindest konsequent, wenn man fragt, welche Tragfähigkeit und Tragweite der Gedanke der Gunst des Es und der Gedanke des lichtenden Charakters der Zeit mit sich bringt, wenn man beide Gedanken zugunsten der Grundbestimmungen von Sein und Zeit fruchtbar macht. Vielleicht sollte man diese Frage zunächst nur unter Zuhilfenahme der hypothetischen Form durch eine weitere Frage fortsetzen: Wenn sich das Sein alles Seienden und insbesondere die Existenz des Da-seins sowie alles Sein-können des Daseins und vor allem das Können seiner Sorge einer Gunst des Es verdankt – inwiefern ist es für den Menschen wichtig, dass sich seine Sorge ein für alle Mal dessen eingedenk wird und bleibt, dass sich alles Sein des Seienden und dass sich insbesondere seine Existenz sowie alles sein Sein-können und vor allem das Können seiner Sorge einer unvordenklichen Gunst des Es verdankt? Der Vorrang, durch den Heidegger in dem Vortrag Zeit und Sein die Zeit in ihren Gestalten von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft charakterisiert, zeigt eine Richtung für eine Antwort an. Im Licht dieses Vorrangs der Zeit ist der Mensch Wächter und Wahrer einer unvordenklichen Gunst des Es, die alles und jedes, was ihm zugänglich ist, seiner Sorge um das Gegenwärtige, das Vergangene und das Zukünftige anheimstellt. In Sein und Zeit ist die Sorge aus-
Zu beachten ist, dass in Augustinus’ Meditationen über die Zeit Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft nicht direkt die letzten Strukturkomponenten der Zeit bilden, sondern drei für diese Zeit-Modi spezifische, jeweils gegenwärtige kognitive Einstellungen zu dem Vergangenen, dem Zukünftigen und dem Gegenwärtigen: »praesens de praeteritis memoria«, XI, 20, 26, »praesens de praesentibus intuitus«, ebd. und »praesens de futuris expectatio«, ebd., Hervorhebungen R. E. 50 Vgl. oben 241–242. 49
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drücklich mit zwei kognitiven Tugenden ausdrücklich verbunden – mit der Umsicht 51 und der Rücksicht. 52 Es handelt sich lediglich um ein leicht auszugleichendes Versehen Heideggers, dass er nicht ausdrücklich auch die dritte dieser kognitiven Tugenden – die Vorsicht – berücksichtigt hat. Denn die Umsicht ist die kognitive Tugend, mit deren Hilfe der Mensch alles ihm zugängliche Gegenwärtige auf dessen Bedeutsamkeit für seine Existenz mustern kann; die Rücksicht ist die kognitive Tugend, mit deren Hilfe der Mensch alles ihm zugängliche Vergangene auf dessen Bedeutsamkeit für seine Existenz mustern kann; und die Vorsicht ist im Unterschied hierzu die kognitive Tugend, mit deren Hilfe der Mensch alles ihm zugängliche Zukünftige auf dessen Bedeutsamkeit für seine Existenz mustern kann. 53 Sind Umsicht, Rücksicht und Vorsicht im Licht des Vorrangs der Zeit vielleicht die kognitiven Tugenden, kraft deren die Sorge den Menschen befähigt, in ausgezeichneter Form Wächter und Wahrer der Gunst des Es zu sein? Was gibt Heidegger unter dieser Voraussetzung im Licht des weitgespannten Zusammenhangs zwischen dem Buch Sein und Zeit und dem Vortrag Zeit und Sein zu verstehen? Gibt er zu verstehen, dass der Mensch sich der Gunst des Es nur und erst dann gewachsen zeigt, wenn er alles ihm zugängliche Gegenwärtige, alles ihm zugängliche Zukünftige und alles ihm zugängliche Vergangene mit der gebührenden Umsicht, Rücksicht und Vorsicht unter die Obhut seiner Sorge um seine Existenz stellt? Falls Heidegger dies zu verstehen gibt, sind die Fähigkeiten des Menschen zur umsichtigen, rücksichtlichen und vorsichtigen Sorge um seine Existenz damit auf lange Frist überfordert oder nicht? Falls Heidegger bis zuletzt die Auseinandersetzung mit Kants Philosophie gesucht hat, dann ist zu berücksichtigen, dass dieser schon fast zweihundert Jahre früher zu dem Urteil gelangt war, dass der Mensch, »[…] soviel an ihm ist, [selbst] an der Zerstörung seiner eigenen Gattung arbeitet«, 54 also der Gunst des Es nicht gewachsen zu sein scheint. Doch gerade in seiner Erörterung der Gefahr, die von dem als Wesen der Technik verstandenen Gestell ausgeht, gibt Heidegger auch eine »Größe, die zu groß ist für den Sein und Zeit, 69 f. u. a. 123. 53 Zu Umsicht, Vorsicht und Rücksicht vgl. auch vom Verf., Aufklärung trotz Wissenschaft, in: ders., Bedingungen der Aufklärung. Philosophische Untersuchungen zu einer Aufgabe der Urteilskraft, Weilerswist 2008, 131–211. 54 Kritik der Urteilskraft, Ak. V, 430. 51 52
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Menschen«, 55 zu bedenken. Ist es vielleicht die Größe der Gunst des Seyns, des Es, die zu groß für den Menschen ist, zu groß nämlich, um ihrer Größe durch den Gebrauch der Fähigkeiten, facultates und δυνάμεις gerecht zu werden, die er gleichwohl derselben Gunst verdankt – und zwar auch die Fähigkeit, den Gedanken der Gunst des Seins bzw. des Es durch eine äußerste Anstrengung des Denkens, eine äußerste ›Erfahrung des Denkens‹ zu fassen?
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Die Gefahr, in: Bremer und Freiburger Vorträge, 46–67, hier: 57.
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Arnulf Heidegger
Zur Lage der Gesamtausgabe
Am 9. August 1922 hat die Familie Heidegger erstmals die Hütte in Todtnauberg bezogen. Dabei waren damals der dreijährige Jörg Heidegger und der knapp zweijährige Hermann Heidegger. 95 Jahre später (und was für ein Jahrhundert liegt dazwischen!) haben beide Söhne von Elfride und Martin Heidegger im Sommer 2017, wenn auch leider nicht gleichzeitig, die Hütte noch einmal besucht. Ich kann darüber nur staunen. In Kürze wird Band 82 der Gesamtausgabe »Zu eigenen Veröffentlichungen« erscheinen. Dieser Band enthält scharfe Selbstkritiken zu »Sein und Zeit«, die Martin Heidegger neun Jahre nach dem ersten Erscheinen des Buches verfasst hat. Zugleich setzt er sich kraftvoll mit den Rezensenten seines Buches auseinander. Es handelt sich um eine aufschlussreiche, zuweilen spannende Lektüre. Mit der Herausgabe dieses Bandes endet eine editionsgeschichtlich wohl einmalige Herausgebertätigkeit. Nach Vollendung wird die Gesamtausgabe der Zählweise nach 102 Bände, körperlich 106 Bände umfassen. Herr Prof. Dr. Friedrich-Wilhelm von Herrmann hat hiervon 19 Bände herausgegeben. Mein Großvater hatte ihn in einer persönlichen Buchwidmung als »Hauptmitarbeiter der Gesamtausgabe« bezeichnet und vom damaligen baden-württembergischen Wissenschaftsminister Prof. Dr. Helmut Engler ist er als »Heideggers Eckermann« gewürdigt worden. Neben seiner sorgfältigen und zuverlässigen Editionsarbeit an den 19 Einzelbänden hat er zusammen mit meinem Vater Hermann Heidegger die III. und IV. Abteilung der Gesamtausgabe in einer mühseligen Arbeit im Deutschen Literaturarchiv in Marbach zusammengestellt und alle Herausgeberinnen und Herausgeber der Gesamtausgabe fördernd und fordernd unterstützt. Durch diese Arbeit wurde für eine sehr hohe Verlässlichkeit der edierten Texte Martin Heideggers gesorgt. Er hat viele Jahrzehnte seines langen Forscherlebens in den Dienst der Gesamtausgabe mei-
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Zur Lage der Gesamtausgabe
nes Großvaters gesteckt. Der Dank, der ihm gebührt, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. An dieser Stelle gilt auch ein Gruß ins Glottertal bei Freiburg. Aus gesundheitlichen Gründen hat sich Herr Dr. Hartmut Tietjen aus der Arbeit an der Gesamtausgabe zurückziehen müssen. In den letzten zehn Jahren habe ich einige Wochen in Marbach verbracht, um mir den umfangreichen handschriftlichen Nachlass meines Großvaters anzusehen. Dabei fielen mir auch die Vorlesungsmanuskripte in die Hände, deren Entzifferung unendlich schwer ist und die Fritz Heidegger treffend als »Martins Verschiebebahnhöfe« bezeichnet hat. Für mich grenzt es an ein Wunder, wie es Herr Dr. Tietjen geschafft hat, mit großer Disziplin und Leidenschaft zur Genauigkeit aus diesen fast unleserlich anmutenden Manuskripten verlässliche Typoskripte herzustellen. Für Band 72 »Stege des Anfangs« war als Herausgeber Herr Prof. von Herrmann vorgesehen. Aus Altersgründen wird er diesen Band nicht mehr selbst herausgeben. Die Nachlassverwaltung dankt Herrn Dr. Dr. Günther Neumann für seine Bereitschaft, die Herausgabe auch dieses Bandes neben der des 2. Vortragsbandes »HGA 80.2« und des 2. Seminarbandes »HGA 84.2« zu übernehmen. In Kürze wird mit Band 89 der Gesamtausgabe ein sehr umfangreicher Quellenband erscheinen, nämlich die sogenannten »Zollikoner Seminare«. Die Konzeption dieses Bandes geht auf eine zusammengerechnet etwa dreiwöchige Arbeit zurück, die Herr Prof. von Herrmann im Deutschen Literaturarchiv geleistet hat. Als ich die Satzvorlage zu lesen bekam, konnte ich rasch feststellen, dass gegen die Vorgabe meines Großvaters, wonach nur satzfertige Manuskripte in der Gesamtausgabe erscheinen und »im Zweifel nicht« veröffentlicht werden soll, in diesem Fall verstoßen wird. Nach reiflicher Überlegung habe ich dennoch in diese Konzeption nicht mehr eingegriffen. Zum einem handelt es sich bei den »Zollikoner Seminaren« um das Gründungsdokument der »Daseinsanalyse« und entfaltet bis auf den heutigen Tag eine große Wirkung über den Kreis des philosophischen Denkens hinaus. Zum anderen ist aus meiner Sicht zu Recht kritisiert worden, dass Medard Boss als Herausgeber der bisherigen Einzelausgabe besonders in den Briefteil eingegriffen hat. Der Briefwechsel zwischen dem Denker und dem Arzt bleibt einer gesonderten Edition vorbehalten und wurde daher nicht Gegenstand dieser Quellendokumentation, die alle greifbaren schriftlichen Dokumente vereint, die 303 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
Arnulf Heidegger
von Martin Heidegger zu den »Zollikoner Seminaren« verfasst worden sind. Schließlich entschied ich mich für die umfangreiche Quellendokumentation, da auch mein eigener Vater bei der wichtigen Quellenedition im Band 16 der Gesamtausgabe von den strengen Vorgaben meines Großvaters abwich. Mehrfach ist die Nachlassverwaltung durch Herrn Prof. von Herrmann, zuletzt durch seinen Assistenten Prof. Alfieri an diesem Abend, aufgefordert worden, Herrn Prof. Dr. Peter Trawny als Mitherausgeber der Gesamtausgabe zu entlassen. Die Nachlassverwaltung wird diesem Vorschlag jedoch keine Folge leisten. Die Zusammenarbeit mit Herrn Trawny bei der nun anstehenden Veröffentlichung von Band 89 war ausgezeichnet. Herr Trawny ist ein zuverlässiger, sorgfältiger und zügig arbeitender Editor. Ich kenne an der Herausgabe seiner Bände im Rahmen der Gesamtausgabe und insbesondere bei der Herausgabe der Bände 94 bis 97, den ersten vier Bänden »Schwarze Hefte«, keine stichhaltige Kritik. Als Editor arbeitet er hervorragend. Dies ist auch das Ergebnis einer 20-jährigen, höchst erfolgreichen editorischen Zusammenarbeit mit Herrn von Herrmann. Ich bin sicher, dass Herr Trawny auch die verbliebenen Bände, für die er 2012 wirksame Herausgeberverträge abgeschlossen hat, zuverlässig und zügig erfüllen wird. Die Wertschätzung für den Editor ist bei der Nachlassverwaltung für den Interpreten Trawny leider verlorengegangen. Sein Büchlein »Heidegger und der Mythos von der jüdischen Weltverschwörung« hat meinen Vater und mich enttäuscht, wir halten es inhaltlich für verfehlt. Anstatt der Frage nach den Titeln der »Schwarzen Hefte« nachzugehen, warum diese »Überlegungen« und »Anmerkungen« heißen und bewusst am Ende der Gesamtausgabe erscheinen sollten, anstatt auf den Kontext sowohl innerhalb der »Schwarzen Hefte« und vor allem auf den zeitlichen und inhaltlichen Bezug mit dem zweiten Hauptwerk »Beiträge zur Philosophie« und der sonstigen seinsgeschichtlichen Abhandlungen einzugehen, hat er den zweifellos griffigen Begriff des »seinsgeschichtlichen Antisemitismus« erfunden. Seit Jahrzehnten liegen die Vorlesungen meines Großvaters aus der NS-Zeit gedruckt vor. Ich habe bis heute nicht vernommen, dass es in ihnen Spuren antisemitischen Denkens gäbe. Auch die Vorträge in der NS-Zeit und die zeitgleich entstandenen seinsgeschichtlichen Abhandlungen lassen Antisemitismus als Element seines Denkens nicht erkennen. Anstatt eine sachliche Einführung der zweifellos problematischen und bedrückenden Stellen im 304 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
Zur Lage der Gesamtausgabe
Kontext seiner Schriften vorzunehmen, ist eine Auslegung entstanden, die der zu Recht erwarteten Empörungswelle vorneweg reiten wollte. Ich hatte es an verschiedenen Stellen schon bislang versucht, deutlich zu machen und wiederhole ein weiteres Mal: Herr Trawny wird von der Nachlassverwaltung als Editor geschätzt, aber er vertritt in der Auslegung nicht die Meinung der Familie. Es kann nicht die Aufgabe der dazu noch fachfremden Nachlassverwaltung sein, die inhaltliche Auseinandersetzung zu führen. Daran mögen sich gerne die kundigen Mitglieder der Martin-Heidegger-Gesellschaft beteiligen. Ich denke, dass das »Ja« zum Editor und das »Nein« zum Interpreten Peter Trawny verstanden, zumindest nachvollzogen werden kann. Die aktuelle aufgeregte Debatte wird vergehen, die Gesamtausgabe wird bleiben. Die nach Kräften zuverlässige, aber nach Möglichkeit auch zügige Vollendung der Gesamtausgabe ist das oberste Ziel der Nachlassverwaltung. Wir blicken auf eine über 40-jährige, insgesamt sehr erfolgreiche Zusammenarbeit mit dem Verlag Klostermann zurück. Dieser hatte sich nicht nur hinter den Editor, sondern auch hinter den Interpreten Trawny gestellt. Dies führte zu nicht unerheblichen Spannungen auch zwischen Verlag und Nachlassverwaltung. Beide sind jedoch übereingekommen, die jahrzehntelange gute Zusammenarbeit nicht an der unterschiedlichen Bewertung des Inhalts der »Schwarzen Hefte« scheitern zu lassen. Der Generalvertrag von 1975 ist zu 9/10 erfüllt. Wir wollen auch das letzte 1/10 des Weges gemeinsam zum Abschluss bringen. Es ist daher unser Ziel, auch in den kommenden Jahren möglichst zwei Bände pro Jahr zu veröffentlichen, damit der Leserschaft die Möglichkeit eröffnet wird, sich anhand aller satzfertig vorliegenden und dann gedruckten Manuskripte ein eigenes Urteil über das Denken Martin Heideggers zu bilden.
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Die Autorinnen und Autoren
Norbert Bolz, geb. 1953 in Ludwigshafen am Rhein, ist Universitätsprofessor für Medienwissenschaft an der Technischen Universität Berlin. Jüngste Veröffentlichungen: Das richtige Leben; Zurück zu Luther (beide im Fink Verlag) Paola L. Coriando, geb. 1969 in Genua, hat Philosophie und Germanistik in Genua und Freiburg i. Br. studiert, wo sie 1997 bei FriedrichWilhelm v. Herrmann promovierte und sich 2001 habilitierte. Sie beschäftigt sich mit Themen der klassischen Metaphysik und Ontologie (besonders Aristoteles, Descartes, Leibniz), der Phänomenologie und Hermeneutik (Husserl, Heidegger) sowie mit dem Verhältnis von Philosophie und Literatur. Seit 2009 ist sie an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck tätig. Rainer Enskat, geb.1943. Studium an den Universitäten Hamburg, Marburg und Göttingen; Promotion an der Universität Göttingen; Habilitation an der Universität Freiburg i. Br.; seit 1984 Professor an der Universität Heidelberg; seit 1992 Professor an der Universität Halle; seit 2008 entpflichtet. Schwerpunkte seiner Arbeit bilden Erkenntnistheorie, Philosophie der Aufklärung, Praktische Philosophie, Philosophie der Neuzeit, insbesondere Kants Philosophie. Zu seinen wichtigsten Publikationen gehören zahlreiche Artikel und Abhandlungen zu diesen Themen sowie die Monographien: Kants Theorie des geometrischen Gegenstandes (1976); Wahrheit und Entdeckung. Logische und erkenntnistheoretische Untersuchungen über Aussagen und Aussagenkontexte (1986); Die Hegelsche Theorie des praktischen Bewußtseins (1986); Authentisches Wissen. Prolegomena zur Erkenntnistheorie in praktischer Hinsicht (2005); Bedingungen der Aufklärung. Philosophische Untersuchungen zu einer Aufgabe der Urteilskraft (2008); Urteil und Erfahrung. Kants Theorie der
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Die Autorinnen und Autoren
Erfahrung. Erster Teil (2015); Vernunft und Urteilskraft. Kant und die kognitiven Voraussetzungen vernünftiger Praxis (2018) Reinhard Knodt, geb. 1951, ist Schüler Gadamers und Manfred Riedels. Er lehrte Philosophie in Dublin, Penn-State und Bamberg, sowie Kunstphilosophie in Nürnberg, an der Kunsthochschule Kassel und an der Universität der Künste Berlin. Er ist mehrfacher Kulturpreisträger sowie Träger des Literaturpreises der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Der Reclam Verlag nahm ihn 1994 in die Reihe »Deutsche Gegenwartsphilosophie« auf. Der Beitrag in diesem Band bezieht sich auf den bei Alber 2017 publizierten Titel »Der Atemkreis der Dinge – Einübungen in die Korrespondenzphilosophie«. Knodt lebt in Berlin und betreut zugleich ein von ihm gegründetes Zentrum für interkulturelle Philosophie in Süddeutschland, den »Schnackenhof«. Dietmar Koch. Studium der Philosophie, Germanistik und Altphilologie in Tübingen; seit 1990 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Philosophischen Seminar der Universität Tübingen; dort seit 1990 Lehrtätigkeit als Dozent (Lehr- und Verwaltungstätigkeit dort seit 1993); seit 1990 Vorsitzender der »Tübinger Gesellschaft für Phänomenologische Philosophie«; seit 2006 Wissenschaftliches Mitglied im Vorstand der »Martin-Heidegger-Gesellschaft«; Herausgeber der Publikationsreihen »Phainomena«, »Tübinger Phänomenologische Bibliothek« und anderer Reihen im Attempto Verlag Tübingen; Arbeitsgebiete: Antike Philosophie, Deutscher Idealismus, Hermeneutik, Phänomenologie, Geschichte der Philosophie, Philosophie der Kunst. Reinhard Mehring, geb. 1959, Prof. Dr., Studium der Philosophie, Germanistik, Politikwissenschaft; Diss. 1988 Politikwissenschaft (Freiburg); Habilitation 2000 Philosophie (HU-Berlin); seit 2007 Prof. für Politikwissenschaft PH-Heidelberg; zahlreiche Publikationen: u. a.: Heideggers Überlieferungsgeschick. Eine dionysische Selbstinszenierung, Würzburg 1992; Carl Schmitt zur Einführung, 1992, Hamburg 5. Aufl. 2017; Thomas Mann. Künstler und Philosoph, München 2001; Carl Schmitt. Aufstieg und Fall, München 2009; Kriegstechniker des Begriffs. Biographische Studien zu Carl Schmitt, Tübingen 2014; (Hg.) Ethik nach Theresienstadt. Späte Texte des Prager Philosophen Emil Utitz (1883–1956), Würzburg 2015; Heideggers ›große Politik‹. Die semantische Revolution der Gesamtausgabe, 308 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
Die Autorinnen und Autoren
Tübingen 2016; Carl Schmitt: Denker im Widerstreit. Werk – Wirkung – Aktualität, Freiburg 2017; Martin Heidegger und die »konservative Revolution«, Freiburg 2018. Igor Mikecin, Prof. Dr., geboren in Zagreb 1968. Studium der Philosophie und Germanistik an der Universität Zagreb, sowie der Altphilologie an der Universität Zadar (Kroatien). 2003 Promotion über den Religionsbegriff beim frühen Hegel und Hölderlin. Seit 2008 Dozent und seit 2013 Professor für Philosophiegeschichte an der Philosophischen Fakultät der Universität Zagreb. Gastprofessor und -forscher am Philosophischen Seminar der Universität Tübingen. Veröffentlichungen u. a.: »Sage und Laut. Zur Wesensbestimmung der Sprache im Spätwerk Heideggers«, in: Barbarić, D. (Hg.), Das Spätwerk Heideggers. Ereignis – Sage – Geviert, Würzburg 2007; »Hölderlinovo shvaćanje povijesti I–II« [»Hölderlins Geschichtsauffassung I–II«], Filozofska istraživanja 104, 4/2006, 923–940; 105, 1/2007, 95–111; Povijesnost [Geschichtlichkeit], in: Barbarić, D. (Hg.), Bitak i vrijeme. Interpretacije [Sein und Zeit. Interpretationen], Zagreb 2013, 181–200; Heraklit. Tekst, hrvatski prijevod i komentar [Heraklit. Text, kroatische Übersetzung und Kommentar], Zagreb 2013; »Sprache und Bewegung bei Platon«, in: Koch, D. / Männlein-Robert, I. / Weidtmann, N. (Hg.), Platon und die Sprache, Tübingen 2016, 93–112; »Die Dunkelheit der Sprache Heraklits«, in: Noveanu, A. / Pfefferkorn, J. / Spinelli, A. (Hg.), Seefahrten des Denkens, Tübingen 2017. Klaus Neugebauer, Dr. phil., studierte Philosophie und Germanistik in Köln, Freiburg im Breisgau und Münster. Seine philosophischen Lehrer waren (in zeitlicher Reihenfolge) Ingeborg Schüßler, KarlHeinz Volkmann-Schluck, Fr.-W. von Herrmann und überhaupt die Freiburger Phänomenologie. Nach der Promotion über Adalbert Stifter 30 Jahre Tätigkeit in der eigenen Agentur für Öffentlichkeitsarbeit. Danach Bücher über den Wahrheitsbegriff bei Heidegger und Husserl, über Pablo Picasso, über die Medialität der Medien. Mitglied in der Martin-Heidegger-Gesellschaft seit 1992, seit 2015 deren 2. Vorsitzender. Lehrbeauftragter an den Universitäten Dresden, Köln, Stuttgart. [email protected] Günther Neumann, Prof. phil. h. c., studierte zunächst Physik an der Universität Erlangen-Nürnberg (Diss. in Mathematik 1986), später 309 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
Die Autorinnen und Autoren
Philosophie, Germanistik, Soziologie und Theologie an der Universität Freiburg i. Br. (Diss. über Husserl und Heidegger 1998). Er war Stipendiat in Mathematik am Massachusetts Institute of Technology (USA), arbeitete mehrere Jahre als Physiker bei der Fraunhofer-Gesellschaft und war Lehrbeauftragter am Institut für Philosophie der TU Dresden. Er ist Mitglied des Editorial Advisory Board der »Heidegger Studies« und des Wissenschaftlichen Beirates des »HeideggerJahrbuchs«. Ein Schwerpunkt seiner Tätigkeit ist die Mitarbeit an der Herausgabe des Heidegger-Nachlasses (u. a. der umfangreichen Bände 62, 80 und 84 der Martin Heidegger Gesamtausgabe). Zahlreiche Buch- und Aufsatzveröffentlichungen erfolgten auf den Gebieten der Phänomenologie (u. a. Husserl, Heidegger, Merleau-Ponty), der Naturphilosophie (Natur-, Raum- und Zeitbegriff; Begriff des Lebendigen), der antiken und neuzeitlichen Philosophie (insbes. Leibniz), der Metaphysik und Ethik, aber auch auf einem weiten Feld der Physik, Technologie und Mathematik. Alina Noveanu, geb. 1978, ist seit 2004 Dozentin für Philosophie an der Babes-Bolyai Universität in Cluj. Seit 2011 Gastdozenturen an der Eberhard Karls-Universität Tübingen. Promotion 2003 über die Philosophie Hans-Georg Gadamers. Forschungsschwerpunkte: Hermeneutik, Phänomenologie, Antike Philosophie. Bücher: »Platon, Triumful intrebârii« (2008) und »Acta interpretâri« (2010). Übersetzungen vom Deutschen ins Rumänische (Julius Stenzel, Werner Jaeger). Mitherausgeberin (zusammen mit Dietmar Koch) der Reihe »Poiesis. Philosophie, Dichtung, Bild«. Ingeborg Schüßler, Prof. Dr., Studium der Romanistik, Germanistik und Philosophie an der Universität zu Köln und Sorbonne/Paris. 1964/5 Staatsexamen in Romanistik, Germanistik und Philosophie, 1969 Doktorat und 1978 Habilitation in Philosophie an der Universität zu Köln. Seit 1981 ord. Prof. an der Universität Lausanne (Schweiz) und daselbst seit 2004 »prof. honoraire«. Gastprofessuren (Schweiz, Deutschland, Mexiko). Internationale Vortragstätigkeit. Mitarbeit an der Martin-Heidegger-Gesamtausgabe. »Vice-présidente« der »Société d’études kantiennes de langue française«. Schwerpunkte: griech.-antike und neuzeitl. Philosophie (Kant, Dt. Idealismus, Postidealismus), Gegenwartsphilosophie (Phänomenologie, Heidegger). Zahlreiche Veröffentlichungen. Internationale Vortragstätigkeit. 310 https://doi.org/10.5771/9783495820858 .
Die Autorinnen und Autoren
Harald Seubert, Prof. Dr., geboren 1967, Promotion über Heidegger 1997 bei Manfred Riedel, Habilitation über Platons Rechtslehre 2003. Heute Ordentlicher Professor für Philosophie und Religionswissenschaft und Fachbereichsleiter an der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel, nebenamtlicher Professor für Politische Theorie an der Hochschule für Politik München, seit 2016 Vorsitzender des Vorstands der Martin Heidegger-Gesellschaft. Jüngste Publikation: Platon. Anfang, Mitte und Ziel der Philosophie, Freiburg 2018; in Vorbereitung: Heidegger: Ende der Philosophie oder Anfang des Denkens. Zahlreiche Buch- und Aufsatzveröffentlichungen u. a. zu Platon, Cusanus, Kant, Deutschem Idealismus, Heidegger und Nietzsche, sowie allen systematischen Feldern der Philosophie. Stekeler-Weithofer, Pirmin, Prof. Dr., geb. 1952, Gründungsprofessor für Theoretische Philosophie an der Universität Leipzig seit 1992, 2008–2015 Präsident der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, dort seit 2016 Sprecher der Kommission für Wissenschaftsgeschichte. Arbeitsschwerpunkte: Logik und Philosophie der Sprache und der mathematischen Wissenschaften, systematische Wissensphilosophie bei Heraklit, Platon, Leibniz, Kant, Hegel, Wittgenstein und Heidegger. [email protected] Niels Weidtmann hat Philosophie, Politik und Biologie in Würzburg und an der Duke-University in den USA studiert. Promotion zur Philosophie der Interkulturalität bei Heinrich Rombach. Seit 2006 ist er Wissenschaftlicher Leiter des Forum Scientiarum der Universität Tübingen. Forschungsschwerpunkte: Interkulturelle Philosophie, Phänomenologie und Hermeneutik, Strukturphilosophie und Wissenschaftsphilosophie. Autor des Buches Interkulturelle Philosophie. Aufgaben – Wege – Dimensionen (Tübingen 2016). Zahlreiche Publikationen in den Gebieten der Interkulturellen Philosophie und der Phänomenologie. Herausgeber dreier Publikationsreihen (Tübinger Zeitdiagnosen, Antike Studien und Interdisziplinäre Forschungsarbeiten am Forum Scientiarum).
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