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German Pages [326] Year 2021
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EICHSTÄTTER philosophische Beiträge
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Nian He
»Sein« und »Sinn von Sein«
Untersuchung zum Kernproblem der Philosophie Martin Heideggers
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495824030
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VERLAG KARL ALBER
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Heideggers Philosophie stellt die Frage nach dem Sein. Einerseits betrifft das Sein das Seiende im Ganzen, es ist in allem Seienden das durchgängig allem Gemeine und so das Gemeinste. Andererseits ist das Sein zugleich aber auch das Leerste, das Nichts, weil es nirgendwo als Seiendes zu finden ist, dessen tiefste positive Bedeutung Heidegger als »Lassen« bezeichnet. Was ist dann der Sinn von Sein? Heidegger versteht ihn als einen transzendentalen Horizont, von dem her das Sein im Da des menschlichen Daseins verstehbar wird. Dasein bedeutet »Offen-sein für das Ganze«, dessen Eigentlichkeit nicht nur im Sein zum Tode im zeitlichen Sinne, sondern auch im Mitsein mit dem Anderen im räumlichen Sinne, z.B. durch »vorausspringend-befreiende Fürsorge« und insbesondere durch »Liebe« zu gewinnen ist. Demnach ist nicht nur Zeit der Sinn von Sein, was Heidegger aufgestellt hat, sondern Raum kann und muss auch als Sinn von Sein betrachtet werden, was man als Ungesagte im Heideggers Gesagten neu entdecken kann.
Der Autor: Nian He, Jahrgang 1985, von 2011 bis 2016 promovierte er an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Von 2017 bis Juli 2019 lehrt er Philosophie an der Sichuan Universität. Seit August 2019 lehrt er Philosophie und Ästhetik an der Wuhan Universität.
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Nian He »Sein« und »Sinn von Sein«
https://doi.org/10.5771/9783495824030 .
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EICHSTÄTTER philosophische Beiträge
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Herausgegeben von Walter Schweidler
https://doi.org/10.5771/9783495824030 .
Nian He
»Sein« und »Sinn von Sein« Untersuchung zum Kernproblem der Philosophie Martin Heideggers
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495824030 .
Gefördert von der Hermann und Marianne Straniak Stiftung
Für meine Mutter und meine Frau
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2020 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48922-2 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82403-0
https://doi.org/10.5771/9783495824030 .
»Das Sein ist das Leerste und zugleich der Überfluss. Das Sein ist das Gemeinste und zugleich das Einzige.« – Heidegger, Grundbegriffe, GA 51, 1941, S. 50
»Sein ist das uns innig Vertraute und zugleich uns maßlos Befremdende. Wir leben in der dämmerhaften Ahnung des Seins: es ist uns nie unbekannt und ist uns nie völlig einsichtig. Es ist uns nah und fern zugleich. Wir kennen es soweit, um es in der höchsten Leidenschaft des Geistes suchen zu können.« – Eugen Fink, Sein, Wahrheit, Welt, Den Haag, 1958, S. 68
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Inhalt
Vorwort
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Erster Teil: Zu Heideggers »Sein« 1. Seinsproblem im Ausgang von Aristoteles . . . . . . . . 1.1. Die mannigfache Bedeutung des Seienden bei Aristoteles 1.2. Kategorien und ουσια . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterwegs zum Sein-lassen: Heideggers eigentümliche Fragstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. ουσια als ein vortheoretischer Gegenstand und die Philosophie als Urwissenschaft . . . . . . . . . . . . 2.2. ουσια als der formale Gehalts-Sinn des Ur-etwas und die phänomenologische Methode »formale Anzeige« . 2.3. Sein-lassen: Heideggers eigentümliche Fragstellung des Seins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Sein als das Ganze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Das Ganze und die Welt: Metaphysik und Phänomenologie . . . . . . . . . . . . 3.1.1. Das Problem des Ganzen in der Metaphysik und seine Verwandlung in der Phänomenologie . . . . 3.1.2. Der Weltbegriff bei Husserl . . . . . . . . . . . . 3.2. Heideggers Weltbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1. Welt als »die Offenbarkeit des Seienden als solchen im Ganzen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
3.2.2. Die Welt in Sein und Zeit: ontische und ontologische . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3. Weltbegriff in den Jahren 1927–29: Welt als »das Woraufhin der vorgängigen Transzendenz« 3.2.4. Die Welt nach der Kehre . . . . . . . . . . . . 3.3. Die Welt und das Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1. Die scheinbare Identität von Welt und Sein . . . 3.3.2. Die Un-Deckungsgleichheit von Welt und Sein . 3.3.3. Finks Entwicklung des Weltbegriffs: Welt als »das Feld des Seins« . . . . . . . . . . . . . . .
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. 85 . 93 . 96 . 96 . 104 . 108
4. Sein als das Nichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Nichts und Verneinung . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1. Geteilte Wege: der Streit um »das Nichts« . . . . 4.1.2. Heideggers Denken über »Nicht« vor und in Sein und Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2. Das Nichts vor der Kehre: Die »helle Nacht« des Nichts im Entgleiten des Ganzen . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1. Das »uneigentliche« und »eigentliche« Nichts . . 4.2.2. »Die helle Nacht des Nichts der Angst« . . . . . . 4.2.3. Das Nichts und »das Gelten vom Nichtgelten«: der Unterschied von »Nichts« und »Nicht« als die Rückseite der ontologischen Differenz . . . . . . 4.2.4. Die Offenbarung der Welt durch andere Stimmungen und das Problem der Metaphysik . . 4.3. Das Nichts nach der Kehre: Nichts als Schleier des Seins . 4.3.1. Die Selbigkeit von Nichts und Sein: das Spiel von Verschleierung und Entschleierung . . . . . . . . 4.3.2. Schleier des Seins und Sein als »das Uneinholbare«
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Zweiter Teil: Zu Heideggers »Sinn von Sein« 5. »Sinn von Sein« und das Da-sein . . . . . . . . . . . . . 5.1. »Sinn« im philosophischen Sinne: Lask, Frege und Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2. Phänomenologie des »Sinnes von Sein« und die Fragwürdigkeit des Vorrangs des Daseins . . . . . . 10 https://doi.org/10.5771/9783495824030 .
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Inhalt
5.3. Vertiefte Definition des Daseins: Da-sein als Offen-sein für das Ganze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die These »Zeit als der Sinn von Sein« und deren Probleme 6.1. Zeitlichkeit als der Sinn des existenzialen Strukturganzen des Daseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2. Schematismus der Temporalität und der Sinn von Sein . 6.3. Die These »Zeit als der Sinn von Sein« und deren Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Mitsein und Eigentlichkeit . . . . . . . . . . . . . 7.1. Mitsein und Transzendenz . . . . . . . . . . . . 7.1.1. Mitsein als Wesensbestimmung des Daseins: ein fensterloses Gehäuse . . . . . . . . . . 7.1.2. Transzendenz und ihre reflexive Struktur: Welt und Selbst . . . . . . . . . . . . . . . 7.2. Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit . . . . . . . . 7.2.1. Das »Un« in »Uneigentlichkeit«: Uneigentlichkeit und formale Anzeige . . . 7.2.2. Eigentlichkeit, vorausspringend-befreiende Fürsorge und Vorrang der Vereinzelung . .
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8. Raum, Liebe und »Sinn von Sein« . . . . . . . . . . . 8.1. Liebe und Eigentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.1. Liebe als Seinlassen . . . . . . . . . . . . . . 8.1.2. Liebe als Zusammengehören der Differenz . . 8.1.3. Liebe und Eigentlichkeit . . . . . . . . . . . 8.2. Raum, Liebe und »Sinn von Sein« . . . . . . . . . . 8.2.1. Die Räumlichkeit des Daseins und ihre »Gleichursprünglichkeit« mit der Zeitlichkeit . 8.2.2. Räumlichkeit des liebenden Miteinanderseins: Binswangers »Wirheit im Lieben« . . . . . . 8.2.3. »Eigentliche Räumlichkeit« und Raum als der »Sinn von Sein« . . . . . . . . . . . . . . .
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274 274 274 279 283 289
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Inhalt
Literaturverzeichnis: . . . . . . . . . . . 1. Schriften von Martin Heidegger . . 2. Briefe und andere Texte Heideggers 3. Philosophische Primär-Literatur . . 4. Sekundärliteratur . . . . . . . . .
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Personen- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort
Das vorliegende Buch ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Wintersemster 2016 von der Philosophisch-Pädagogischen Fakultät Eichstätt-Ingolstadt angenommen wurde. Zuallererst möchte ich mich herzlich bei meinem Doktorvater Professor Walter Schweidler bedanken, der dieses Projekt mit denkerischem Interesse, erkenntnisreichen Bemerkungen, Großzügigkeit, Vertrauen und Wohlwollen begleitet hat. Durch seine allseitige Unterstützung in bester sokratischer Art, den Anderen seinen Weg gehen zu lassen, konnte das Vorhaben verwirklicht werden. Mein Lehrer an der Wuhan Universität Prof. Dr. Fuchun Peng führte mich vor 10 Jahren zuerst auf den Weg, mich mit Heideggers Kerngedankenprinzipien auseinanderzusetzen. Dieses Buch ist ihm gewidmet. Mein Dank gilt auch Prof. Dr. Markus Rothhaar, Dr. Annika Schlitte, Dr. Daniel-Pascal Zorn, Dr. Tobias Holischka, Dr. Lasma Pirktina, Neil O’Donnell sowie besonders Tsutomu Ben Yagi für die zahlreichen anregenden Diskussionen und lebendige philosophische Freundschaft. Für letzte sprachliche Korrekturen sowie auch für wichtige Anregungen und freundschaftliches Zusammendenken danke ich Moritz Bensch, Lucas Knorr, Sarah Eichner, Annika Meyer, Christine Rebecca und Marion Stahl. Ohne ihre Hilfe klänge diese Arbeit nicht so wie das Vorliegende. Ich danke auch allen anderen lieben Freundinnen und Freunden, z. B. Helena Fuxova, Csaba Szentgyörgyi, Simon Artinger, Miriam Elisabeth Forgarty usw. für die wunderschönen Jahre in Deutschland. Der größte Dank gilt meiner Frau und meiner Familie. Nian He
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Einleitung
Dass Heidegger einer derjenigen Philosophen ist, die sich ihr ganzes Leben lang mit einer philosophischen Frage beschäftigen, und dass Heideggers Frage die Seinsfrage ist, ist heute kaum zu bestreiten. 1 Ein bester Beleg dafür findet sich dort, wo Heidegger vor seinem Tod eine Aufzeichnung für das Vorwort seiner Gesamtausgabe verfasst hat, in der seine eigene Zusammenfassung von seinem Denken, das sich auf einem langen Weg entfaltet, und dort wie folgt ausgedrückt wird: »die Gesamtausgabe soll auf verschiedene Weisen zeigen: Ein Unterwegs im Wegfeld des sich wandelnden Fragens der mehrdeutigen Seinsfrage.« 2 Heideggers Denkweg geht hin zur Seinsfrage, die inzwischen je nach den verschiedenen philosophischen Problemen in verschiedenen Denkstadien auf verschiedene Weisen gestellt wurde. Durch wie viele verschiedene Denkstadien Heideggers Philosophie durchgedrungen ist, lässt sich am besten durch Heideggers eigene Zusammenfassung erklären: Heidegger sagte im Jahr 1969 auf einem Seminar in Le Es gibt dennoch Ausnahmen: Thomas Sheehan findet es beispielsweise falsch zu sagen, dass das Sein das Hauptthema Heideggers Denkens ist. Er hat zwei Begründungen: 1. Sheehan insistiert, dass das Sein des Seienden nicht das Ziel von Heidegger ist, und wenn er von Sein selbst spricht, das sich west, dann ist es das Ereignis, nicht das Sein. 2. Sheehan besteht weiterhin darauf, dass in Heideggers phänomenologischem Gedanken das zentrale Thema eigentlich der Sinn ist, anstatt des Seins. Er hat diesbezüglich auch vorgeschlagen, das Da-sein ins Da-sinn zu übersetzen, weil es nur in Zusammenhang mit dem menschlichen Verständnis Sinn ergibt. Ohne menschliches Verstehen ist das Sein des Seienden aber hingegen noch da. Der Mensch ist deshalb nicht dort, wo das Sein des Seienden als solches liegt, sondern nur an dem Ort, wo der Sinn des Seienden als solches liegt. In diesem Sinne sind wir »Da-sinn«. Diese Interpretation von Sheehan ist schon bemerkenswert, aber das Problem besteht darin, dass Da-sinn die ganze Struktur der Existenz des Daseins (außer Verstehen, noch Befindlichkeit und Verfallen) natürlich nicht umfassen kann. Siehe Thomas Sheehan, Facticity and Ereignis, »Being and Meaning«, in: Interpreting Heidegger: Critical Essays, edited by Daniel Dahlstrom, Cambridge University Press 2011, S. 43–48. 2 Heidegger, GA 1, S. 437. 1
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Einleitung
Thor: »Drei Worte, die, indem sie einander ablösen, gleichzeitig drei Schritte auf dem Weg des Denkens bezeichnen: Sinn – Wahrheit – Ort« 3. Dies besagt, dass die Seinsfrage auf einem Denkweg in drei Schritten auf die drei folgenden verschiedenen Weisen gestellt wird: die Frage nach dem Sinn des Seins, die Frage nach der Wahrheit des Seins und die Frage nach dem Ort des Seins. Die drei Arten des Fragens vollziehen sich deswegen auf einem Weg, weil sie einander ablösen, sich auseinander entwickeln und ineinander übergehen. Ein renommierter Heidegger-Forscher – Otto Pöggeler – hat diesen »einen Weg in drei Schritten« schon in seinen Werken herausgearbeitet. 4 Mit diesem Umriss der Seinsfrage Heideggers lässt sich die nun folgende Untersuchung durchführen, in der sowohl auf das gesamte Verständnis des Seins Heideggers im ersten Teil, als auch auf das besonders in Sein und Zeit und Die Grundprobleme der Phänomenologie (1927) diskutierte Thema »Sinn von Sein« 5 im zweiten Teil eingegangen wird. Im ersten Teil der vorliegenden Arbeit wird zuerst die mannigfache Bedeutung des Seienden bzw. deren Analogie als der Ausgangspunkt von Heideggers Seinsfrage dargelegt. Anschließend wird aufgezeigt, wie Heidegger durch seine Interpretation des Begriffes der ουσια bei Aristoteles seinen eigenen Denkweg gefunden hat, und wie er durch die neue Interpretation zu der Analogie der vierfachen Bedeutung des Seienden zu seinem eigentümlichen Verständnis des Seins als »Sein-lassen« gekommen ist. Heidegger, GA 15, S. 344. Zu »einem Weg von Heideggers Denken« siehe Otto Pöggeler: »[…] ein Weg, einst wie ein Stern am Himmel der Welt stehen bleibt. […] Der Weg, den Heidegger zu gehen versucht, ist ein Weg in die Nachbarschaft der Seins«, Der Denkweg Martin Heideggers,Verlag Günter Neske Pfullingen 1963, S. 9. Zu den drei Denkensstadien formuliert Otto Pöggeler noch genauer, »Heidegger selber hat schließlich von drei entscheidenden Phasen seines Denkens gesprochen: der Frage nach dem Sinn von Sein, nach der Wahrheit als Geschichte oder der Seinsgeschichte, nach der Lichtung«, Neue Wege mit Heidegger, Verlag Karl Alber Freiburg/München 1992, S. 139. 5 Der »Sinn von Sein« kann auch im allgemeinen Sinne als eine Bezeichnung für das Gefragte von »Was ist das Sein?« verwendet werden. Z. B. Taylor Carman führt an, dass die fundamentale Frage von Heideggers Denken von Anfang bis Ende, immer der Sinn von Sein ist. Siehe Taylor Carman, »The Question of Being«, in: The Canbridge Companion to Heidegger’s Being and Time, edited by Mark A. Wrathall, Cambridge University Press 2013, S. 84. In diesem Fall wird »der Sinn von Sein« die ganze Seinsfrage bei Heidegger umfassen. Wir verwenden diesen Ausdruck speziell als »der Horizont, aus dem her Sein überhaupt verständlich wird«, siehe Kapitel 5.2 dieser Arbeit. 3 4
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Einleitung
Indem Aristoteles’ Metaphysik nach dem Seienden als solches fragt, befragt er eigentlich das Seiende sowohl im Allgemeinen als auch im Ganzen. Im Anschluss daran wird die Arbeit auch zeigen, wie das Problem des Ganzen in der Metaphysik sich in das Problem der Welt verwandelt. Nach einer ausführlichen Herausarbeitung des phänomenologischen Weltbegriffs bei Husserl, Heidegger und auch Fink wird dem Verhältnis von Welt zum Sein bei Heidegger nachgegangen. Das Sein betrifft das Seiende im Ganzen, es ist in allem Seienden das durchgängig allem Gemeine und so das Gemeinste, aber es ist zugleich auch das Leerste. Wenn Heidegger das Ganze bedenkt, bedenkt er zugleich auch das Nichts. Im vierten Kapitel der Arbeit wird das Denken des Nichts innerhalb Heideggers Seinsfrage in Hinsicht auf den Unterschied und den Zusammenhang von »Nicht«, »nichts« und »das Nichts« demonstriert. Sowohl das Nichts vor der Kehre, das sich auf die Offenbarung der Welt in der Erfahrung des Daseins richtet, als auch das Nichts nach der Kehre, das als der Schleier des Seins zu verstehen ist, werden expliziert. Der Diskurs über Heideggers »Nichts« in der sprachanalytischen Philosophie wird dabei auch untersucht. Es wird am Ende die eigentümliche Charakteristik des Seins zur Aufweisung gebracht werden: Das Sein ist sowohl Alles als auch Nichts, sowohl Sich-Entbergen als auch Sich-Verbergen, und diese zwei Seiten sind nicht nur untrennbar, sondern sie müssen gleichzeitig im Spiel bleiben. Wir können uns einerseits an das Sein annähern, aber andererseits bleibt es uns auch immer »fremd«. Das Sein ist in diesem Sinne das »Uneinholbare«, dessen Unmöglichkeit geschichtlich ist. Nach der Gewinnung eines Gesamtbilds des Seins bei Heidegger können wir uns speziell im zweiten Teil auf das Thema »Sinn von Sein« konzentrieren. Die Ausführungen im zweiten Teil sind durchgängig geleitet von der Absicht, über die grundsätzliche These von Heidegger, dass über die Zeit als der Horizont eines jeden Seinsverständnisses überhaupt der Sinn von Sein ist, sowohl durch ein Mitgehen als auch durch eine neue Entdeckung und Kritik nachzudenken ist. Die Überlegungen verfolgen dann das Ziel, den Sinn von Sein in Heideggers Philosophie in Bezug auf den Raum herauszuarbeiten, wozu gehört, die These »Zeit als der Sinn von Sein« bzw. deren Probleme zu untersuchen und zu reflektieren. Es wird zuerst eine Untersuchung des Begriffs des Sinnes bei 17 https://doi.org/10.5771/9783495824030 .
Einleitung
Heidegger in Verbindung mit Lask und Frege unterzogen. Anschließend wird aufgezeigt, dass der »Sinn von Sein« sowohl ontologisch als auch phänomenologisch gesucht werden muss, was den wesentlichen Unterschied zwischen Heideggers und Husserls Phänomenologie ausmacht. Sofern eine fundamentalontologische Analytik des Daseins für den Sinn von Sein Heidegger zufolge »notwendig« ist, sollen der Vorrang des Daseins bzw. die von Heidegger vertiefte Definition des Daseins als »Offen-sein für das Ganze« nachgefragt werden. Durch die Herausarbeitung dessen, dass und inwiefern das Mitsein die Wesensbestimmung des Daseins ist, können wir sehen, dass »das Ganzseinkönnen zu suchen« bedeutet, nicht nur mein Selbstsein zu gewinnen, sondern zugleich auch ein Sein-lassen, den Anderen in seine Eigentlichkeit gehen lassen. Es wird aufgezeigt werden, dass das Dasein nach Heideggers ursprünglicher Interpretation zum Mitsein, seine Selbstheit und die Ganzheit als solche nicht nur durch Sein zum Tod im zeitlichen Sinne, sondern auch durch die Liebe zu den Anderen in einem räumlichen Sinne gewinnen kann. Heidegger hat in seiner Interpretation zum Mitsein schon die Liebe als »Vorausspringend-befreiende Fürsorge« angedeutet und dann die Liebe in der frühen und der späten Zeit jeweils als »Seinlassen« und »Zusammengehören der Differenz« charakterisiert. Das Zusammengehören der Differenz in der Liebe macht die Ganzheit meines Seins noch reicher als im Tode. Im Tode geht es nur um das Sichverhalten zum Dasein selbst. Im Gegensatz dazu geht es in der Liebe um das Zusammengehören des Daseins mit einem Anderen, das die Eigentlichkeit des Daseins weder negiert noch reduziert, sondern vielmehr bereichert, weil Deine Du-heit in der Liebe auch zur Ganzheit meines Selbstseins gehört. Wenn wir in der Eigentlichkeit des Daseins auch die Entfaltung des Anderen mitzeigen möchten, muss das Sichzeigen dieses Phänomens in einem räumlichen Horizont betrachtet werden. In diesem Sinne ist der Raum bzw. die Räumlichkeit des Daseins für die eigentliche Liebe notwendig. Es gibt bei Heidegger zwar keine Liebesvergessenheit, aber eine Vergessenheit der Möglichkeit, dass das eigentliche Mitsein, nämlich das liebende Miteinandersein, auch räumlich erschlossen werden kann, und daher ferner die Vergessenheit einer mit der Zeit gleichursprünglichen Herausarbeitung dessen, dass der Raum auch als Sinn von Sein betrachtet werden kann. 18 https://doi.org/10.5771/9783495824030 .
Einleitung
Heidegger versucht, in der Fundamentalontologie die Räumlichkeit auf die Zeitlichkeit zurückzuführen, und analysiert in seiner Interpretation der Räumlichkeit dennoch nur das Verhältnis von Dasein zu Zuhandenem – daher hat er die Räumlichkeit des eigenen Miteinander als Liebe wieder versäumt. Heidegger hat den Sinn von Sein nur der Zeitlichkeit verdankt und schließlich geht die Möglichkeit, sich die Räumlichkeit auch als den Sinn von Sein bezeichnen zu lassen, verloren. Die Argumentation für die neue These, die ich in der vorliegenden Arbeit aufstellen möchte und welche besagt, dass der Raum auch als Sinn von Sein angesehen werden kann und muss, lässt sich hauptsächlich in folgende vier Schritte gliedern: 1) Die von Heidegger vertiefte Definition des Daseins lautet: das Offen-sein für das Ganze; 2) Das Da im »eigentlichen« Da-sein ist eine offene Ortschaft, wo Sein im Ganzen und Menschen zusammengehören. Im Da des eigentlichen Da-seins vollzieht sich nicht nur die Erschlossenheit des Daseins selbst, sondern auch die Erschlossenheit von Sein-überhaupt; 3) Das Da-sein kann seine Eigentlichkeit nicht nur durch Sein zum Tode im zeitlichen Sinne, sondern auch durch die Liebe zum Sein des Anderen in einem räumlichen Sinne gewinnen; 4) Die Räumlichkeit der Liebe als die Räumlichkeit des Zusammengehörens der Differenz macht den Sinn des Seins des eigentlichen Da-seins (besser gesagt: den Sinn des Seins im Da-sein) aus, und ferner: Der Raum kann und muss auch als Sinn von Sein verstanden werden.
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Erster Teil: Zu Heideggers »Sein«
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1. Seinsproblem im Ausgang von Aristoteles
1.1. Die mannigfache Bedeutung des Seienden bei Aristoteles Was ist das Sein? Das ist einerseits eine uralte Frage, insofern als sie in Parmenides’ Spruch: »Denken und Sein sind dasselbe«, in Platons Sophistes: »was ihr eigentlich meint, wenn ihr den Ausdruck ›seiend‹ (ον) gebraucht« 1 und in Aristoteles’ Metaphysik: »es gibt eine Wissenschaft, die das Seiende als Seiendes betrachtet und das, was diesem an sich zukommt« 2 schon aufgetaucht ist, aber andererseits noch eine neue eigentümliche Fragestellung von Heidegger erhält, insofern als Heidegger damit nicht nach dem Seienden, sondern nach dem Sein des Seienden als solchem, ferner nach dem Sein überhaupt fragt. Es ist offensichtlich, dass Heideggers Seinsfrage im Ausgang von Aristoteles war. Als Heidegger noch in der Schule war, hat er im Sommer 1907 zum ersten Mal die Dissertation Brentanos Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles (1862) gelesen und seitdem ist das Feuer seiner Liebe zu Philosophie entzündet worden, das sich dann durch seine ganze Beschäftigung des Denkens in der Moderne hindurch immer mit brennender Flamme bewegt. Gemäß dem allgemeinen Verständnis von Aristoteles’ Seinsfrage hat das Wort »Sein« zwei Hauptverwendungsweisen: 1.) als Existenz, Wirklichkeit oder eine Gegebenheit, z. B. »Sokrates ist«, »Gott ist«. 3 Platon, Sophistes 244 a. Aristoteles, Metaphysik, Buch IV 1, 1003a 21, Griechisch-Deutsch, hrsg. von Horst Seidl, Hamburg: Meiner, dritte, verbesserte Auflage 1991, Band 1, S. 123. 3 Ob der Satz »Etwas ist« die Existenz dessen impliziert, oder ob »ist« überhaupt ein Prädikat ist bzw. welche Art von Prädikat es sein könnte, ist vielleicht eines der umstrittensten Probleme in der Philosophiegeschichte. Z. B. Kant setzt »Gott ist« mit »Es ist ein Gott«, ferner »Dasein Gottes«, gleich(KrV B627). Dennoch ist Sein für Frege kein Prädikat der ersten Stufe, sondern es muss verstanden werden als Prädikat der 1 2
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Seinsproblem im Ausgang von Aristoteles
2.) als Kopula, die das Subjekt und das Prädikat in eine Relation verbindet. Dem sind hier vier Möglichkeiten untergeordnet: 2.1.) eine Relation der Identität, die als mathematische, logische Gleichheit sein kann, z. B. »Eins plus eins ist zwei«, »A ist A«; die weiterhin noch als Kennzeichnung sein kann, z. B. »Sokrates ist der Lehrer von Aristoteles«, die außerdem auch noch als eine Erklärung oder Interpretation sein kann, z. B. »Ontologie ist die Lehre vom Seienden«. 2.2.) eine Relation der Prädikation von Eigenschaften, z. B. »Sokrates ist sterblich« (Attribut) und »der Baum ist grün« (Akzidens). 2.3.) eine Relation der Klassifizierung, z. B. »Sokrates ist Mensch«; »Mensch ist Lebewesen«. Was für Aristoteles sehr wichtig ist: Eine Definition besteht aus einer Zusammenstellung von 2.2 und 2.3, d. h. aus einer Art mit einer obereren Gattung, z. B. »Mensch ist ein vernünftiges Lebewesen.« Wittgenstein hat auch einmal im 3.323 vom Tractatus über die vielfältige Verwendungsweisen und Bedeutungen des Seins gesprochen: »In der Umgangssprache kommt es ungemein häufig vor, dass dasselbe Wort auf verschiedene Art und Weise bezeichnet – also verschiedenen Symbolen angehört –, oder, dass zwei Wörter, die auf verschiedene Art und Weise bezeichnen, äußerlich in der gleichen Weise im Satze angewandt werden. So erscheint das Wort »ist« als Kopula, als Gleichheitszeichen und als Ausdruck der Existenz; »existieren« als intransitives Zeitwort wie »gehen«; »identisch« als Eigenschaftswort; wir reden von Etwas, aber auch davon, dass etwa s geschieht. (Im Satze »Grün ist grün« – wo das erste Wort ein Personenname, das letzte ein Eigenschaftswort ist – haben diese Worte nicht einfach verschiedene Bedeutung, sondern es sind verschiedene Symbole.)« 4
Er hat drei verschiedene Bedeutungen des Seins auseinandergehalten: als Kopula, als Identität und dann als Existenz. Er betont dann vornehmlich die Verschiedenheit von den allen, indem er sagt, dass das Sein obwohl ein Zeichen ist, das aber als verschiedene Symbole funktioniert. Damit ist gemeint, dass das erwähnte ›Ist‹ eigentlich drei verschiedene Worte sind, weil sie hinsichtlich seiner verschiedenen
zweiten Stufen, nämlich als eine Situation oder Eigenschaft eines Begriffes, anstatt eines Gegenstands. Dem wird in Bezug auf Heideggers Seinsfrage teilweise noch in dieser Arbeit nachgegangen werden. 4 Wittgenstein, Tractatus, 3.323
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Die mannigfache Bedeutung des Seienden bei Aristoteles
Verwendungsweisen auch ganz anderen grammatischen und logischen Regelungen folgen sollen. Ob aber das Sein in der Form »S ist« bei Aristoteles auch Existenz bedeutet, ist eine sehr umstrittene Frage. 5 Ich möchte das hier vorübergehend auslassen, später hinsichtlich Heideggers Interpretation zu Aristoteles’ ousia wird darauf ausführlich eingegangen. Vor allem sollen wir auf jedem Fall im Auge behalten, dass Heidegger, ganz im Gegenteil zu Wittgenstein, denkt, dass jedes »Sein« und »Ist« in jeder Form von möglichen Ausdrücken mit »sein«, wie »A ist«, »A ist A«, »A ist B«, ein Wort, d.h. von der ursprünglichen Bedeutung her, identisch sind. In der Analyse von Kants These »Sein ist kein reales Prädikat« hat Heidegger deutlich behauptet: »›Sein‹ und ›ist‹ gehören mit all ihren Bedeutungen und Abwandlungen in einen eigenen Bereich«. 6 Er geht davon aus, dass Seiendes alles ist, was »ist«. »Seiendes ist« ist deswegen gleichbedeutend wie »Seiendes hat sein Sein«. Um dem Sinne des Seins nachzugehen, sollen wir dann Heidegger zufolge die verschiedenen Verwendungen und Bedeutungen von »sein« als ein Ganzes begreifen. Als bloße Kopula ist das Sein »Ist« nur ein Funktionswort, das eine Verbindung von Subjekt zu Prädikat aufstellt. Indem diese Verbindung mit der Tatsache übereinstimmt oder nicht, kann ein Satz als ein Urteil wahr oder nicht wahr sein. Insofern ist das Sein auch eine Voraussetzung für die Wahrheit und Unwahrheit. Aber das Sein als Kopula an sich hat keine Bedeutung, es muss in einer Verbindung verstanden werden, wie Aristoteles gesagt hat: »Auch das Sein oder Laut Heideggers Interpretation ist »etwas ist« oder »das ist etwas« gar nicht eine Existenzaussage, sondern nur schlicht eine formale Bestimmung, »sofern im λεγειν ein was gefaßt wird als ein Seiendes, als etwas, das ist (nicht existiert)«, siehe Heideggers Aristoteles-Seminare von Sommersemester 1921 und vom Wintersemester 1922/23 (Nachschriften von Oskar Becker), in: Heidegger und Aristoteles, Heideggers- Jahrbuch 3, Verlag Karl Alber, 2007, S. 15. In Bezug auf die Interpretation zu Aristoteles möchte ich hier noch darauf hinweisen, dass einige fachliche Forschungen auch zeigen, dass Existenz im modernen Sinne nicht bei Aristotles aufgetaucht ist. Siehe Charles Kahn, »Why Existence Does Not Emergy as a Distinct Concept in Greek Philosophy«, in: Essays on Being, Oxford University Press, 2009, Kap. 3, pp. 62–74. Im Gegensatz dazu besteht Ernst Tugendhat darauf, dass »Things and events can be identified only as being at a place and a time« und es schon das »Sein« im Sinne von Existenz, nämlich in Raum und Zeit vorzukommen, bei Aristoteles gibt. Siehe: Ernst Tugendhat, »Existence in Space and Time«, »Die Seinsfrage und ihre sprachliche Grundlage«, in: Philosophische Aufsätze, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1992, S. 82; S. 94–98. 6 Heidegger,Kants These über das Sein, in GA9, S. 452. 5
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Seinsproblem im Ausgang von Aristoteles
Nichtsein ist kein bedeutungshaltiges Zeichen der Sache [von der es gesagt wird], auch dann nicht, wenn man das »seiend« an sich selbst nackt sagen würde, denn es selbst ist gar nichts, sondern bezeichnet eine gewisse Verbindung [zu etwas] hinzu, welche ohne das Verbundene nicht zu denken ist.« 7 Heidegger hat später diese leere Bedeutung des Seins als Kopula in seiner Vorlesung »Grundbegriffe« im Jahr 1941 betont aber zugleich auch die Idee von Aristoteles abgelehnt, dass »seiend« oder Sein an sich ohne die Verbundenen gar nichts und gar nicht zu denken seien. Heidegger hat dabei Aristoteles, ohne seinen Namen erwähnt zu haben, kritisiert, dass er sich mit dem Seienden begnügt und so entschieden auf das Sein verzichtet, indem seine Beschäftigung mit dem Seienden nicht durch »das Abstrakte«, nämlich durch das Sein weitergeführt wird. 8 Für Heidegger hingegen ist das Sein gar nicht überflüssig, es ist zwar das Leerste aber zugleich der Überfluss und schließlich hat er das in den Zusammenhang mit seiner zentralen These »das Sein und das Nichts« gesetzt. 9 Insofern hat Heidegger eigentlich dort wieder angefangen, wo Aristoteles aufgehört hat, nämlich nach dem Sein zu fragen. Dies lässt sich noch genauer aufzeigen. Als der Begründer der Metaphysik hat Aristoteles außer der berühmten Definition der Metaphysik als »eine Wissenschaft, die das Seiende als Seiendes (ον η ον) untersucht« eigentlich an derselben Stelle gleich auch noch andere genauere Bestimmungen dieser Wissenschaft gegeben, nämlich nach den Prinzipien und den ersten Ursachen des Seienden zu fragen: »Indem wir nun die Prinzipien und die höchsten Ursache suchen, ist offenbar, dass diese notwendige Ursache einer gewissen Natur an sich sein müssen. Wenn also auch diejenigen, welche die Elemente des Seienden suchten, diese Prinzipien suchten, so müssen dies auch die Elemente des Seienden sein, nicht in akzidentiellem Sinne, sondern insofern es ist. Daher müssen auch wir die ersten Ursachen des Seienden als Seienden erfassen.« 10 Die ontologische-strukturelle Unterscheidung von oυσια (Subjekt) und Akzidens (Prädikat) bei Aristoteles ist so bedeutend, dass die Suche nach dem Seienden als solchem sich dann auf das erste Seiende, insofern es ist, und nicht auf das akzidentielle Seiende, konzentrieren soll.
Aristoteles, Peri hermeneias 3. 16 b, 20–25 Vgl. Heidegger, GA 51, Grundbegriffe, S. 39–41. 9 Vgl. Heidegger, GA 51, Grundbegriffe, S. 49–50, S. 69–76. 10 Aristoteles, Metaphysik, Buch IV. 2. 1003a, 20–31. Griechisch-Deutsch, hrsg. von Horst Seidl, Hamburg: Meiner, dritte, verbesserte Auflage 1991, Band 1, S. 123 7 8
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Die mannigfache Bedeutung des Seienden bei Aristoteles
Ein Satz »der Baum ist grün« kann zwar durch die Kopula »Ist« zwei Arten von Kategorien (Subjekt als ουσια und Prädikat als ein Art von Qualität) in eine Verbindung setzen, d. h. zwei »Was-sein (ti esti)« als zwei Seienden ausdrücken, aber die zwei Was-sein, nämlich Baum-sein und Grün-sein, sind von ganz verschiedenen Ebenen: Es gibt laut Aristoteles kein selbständiges Grün-sein an sich, es kann nicht selbst als sein Prinzip und seine Ursache sein, sondern vielmehr ist es nicht abtrennbar von dem Subjekt, es muss als Akzidens von Etwas sein. Es ist leicht zu bemerken, dass der Baum vielleicht im Winter noch grau war und jetzt wenn der Frühling kommt der Baum grün wird. Dieser Vorgang bedeutet für Aristoteles nicht: Ein Grünsein ist aus einem Nicht-Grünsein entstanden, oder sogar noch weniger: Ein Seiendes ist aus einem Nicht-Seienden entstanden. Es wäre für Aristoteles überhaupt keine akzeptable Paradoxie, weil »[d]ass nämlich nichts aus Nicht-Seiendem entstehe, sondern alles aus Seiendem, ist eine gemeinsame Lehre.« 11 Wenn das Grüne auch ein Seiendes ist, impliziert aber das Nicht-Grüne nicht direkt Nicht-Seiendes. Denn es gibt kein Grün-sein an sich, und die Vernichtung des Grün-seins bedeutet daher gar keine Vernichtung des Seienden, sondern nur eine Vernichtung eines Akzidens als »Grünseins« von einem Subjekt. Daher lässt sich zeigen, dass der Satz »der Baum ändert im Frühling die Farbe von grau (als Nicht-Grünsein) zu grün« nichts anderes besagt als das Folgende: Das Akzidens des Baums verändert sich und der Baum hat sein potenzielles Grün-sein im Frühling in seiner Bewegung verwirklicht. Der Baum ist jetzt nicht mehr grau, aber er ist doch immer noch! 12 Daraus haben wir deutlich erkannt, wie wichtig es für Aristoteles ist, die Vieldeutigkeit von Seiendem zu unterscheiden, insbesondere vom Subjekt zum Akzidens. Dass das Seiende (ον) in mehrfacher Bedeutung ausgesagt wird, ist für Aristoteles ein zentrales Thema. Hier setzt auch Heidegger sein Denken an. Das Seiende (ον) hat Aristoteles zufolge vierfache Bedeutungen: Kategorien, Akzidens, Wahr oder Unwahr, Vermögen und Verwirklichung. 13 Jeweilige Beispiele: Aristoteles, Metaphysik, 1062b, Buch XI, Griechisch-Deutsch, hrsg. von Horst Seidl, Hamburg: Meiner, dritte, verbesserte Auflage 1991, Band 2, S. 197. 12 Dazu siehe Aristoteles, Metaphysik, 1065a, Buch XI, Griechisch-Deutsch, hrsg. von Horst Seidl, Hamburg: Meiner, dritte, verbesserte Auflage 1991, Band 2, S. 209– 210. 13 Dazu siehe Aristoteles, Metaphysik, Buch V Kapitel 7 und Buch VI Kapitel 2, Buch IX Kapitel 9–10, insbesondere: »Da aber das Seiende schlechthin ausgesprochen, 11
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Seinsproblem im Ausgang von Aristoteles
»Das ist ein Deutscher, der 170 cm groß ist.«, »Der Baum ist grün.«, »Etwas, was gleichzeitig sowohl weiß als auch nicht-weiß ist, ist nicht.« und »Das Erz wird eine Bildsäule sein.«. Es gibt laut Aristoteles insgesamt gerade zehn Kategorien: ουσια, Quantität, Relation, Qualität, Wo, Wann, Lage, Haben, Wirken, Leiden. Kant hat in seinem Werk Kritik der reinen Vernunft die Kritik an Aristoteles’ Theorie der zehn Kategorien geübt, dass er sie nicht streng nach einem apriorischen Prinzip aufgestellt habe. 14 Allerdings hat Brentano im vorher schon erwähnten Werk Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles durch eine Deduktion mit überzeugender Erklärung bewiesen, dass die zehn Kategorien vollkommen und jeweils eigenständig sind, aus der deren Aufteilung auch nämlich vollkommen abzuleiten ist. 15 Außerdem soll man nicht übersehen, dass die Kategorien bei Aristoteles die Kategorien oder höchsten Gattungen des Seienden, anstatt einer a priori Fähigkeit des Verstandes des Menschen wie bei Kant sind. Laut Aristoteles sind die zehn Kategorien die zehn verschiedenen Seinsweisen des Seienden selbst. Jedes Mal wenn wir über Seiendes sprechen, sprechen wir über sie auf die zehn vorliegenden Seinsweisen. Wie Aristoteles sagt: »So viel die Kategorien ausgesagt werden, so viele Bedeutungen des
in vielfachen Bedeutungen gebracht wird, von denen das eine das Akzidentelle war, ein anderes das als Wahres(bezeichnete),und das Nichtseiende als Falsches, außerdem die verschiedenen Arten der Kategorien«. (1026 a 33-b2) und »Indem das Seiende und das Nichtseiende teils nach den Formen der Kategorien ausgesagt wird, teils nach Vermögen und Wirklichkeit derselben oder deren Gegenteil, teils als das im eigentlichsten Sinne seiende Wahre oder Falsche« (1051b), siehe: Aristoteles, Metaphysik, Griechisch-Deutsch, herausgegeben von Horst Seidl, Felix Meiner Verlag, Hamburg, 1991, Band 1, S. 255 und Band 2, S. 133. 14 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B107. 15 Vgl. Franz Brentano, Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles, 1984, Georg Olms Verlag, S. 177. Brentano bezeichnet die Kategorien als »reale Begriffe«, mit denen das Denken die Aspekte und Bestimmungen von den Dingen selbst erfasst. Und die mannigfache Bedeutung des Seienden ist auch nicht nur eine sprachlogische, sondern eine ontologische, weil »Weisen des Seins […] naturgemäß den Weisen der Prädikation« entsprechen. Vgl. Franz Brentano, Werner Sauer (Herausgeber), 4. Sämtliche veröffentlichte Schriften, Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles, 2014 Walter de Gruyter, Berlin/Boston, Einleitung, S. xi–xcii. Das ist auch ein sehr entscheidendes Gegenargument zur Kritik Tugendhats an Heideggers Seinsfrage, die er durch eine sprachlogische Interpretation zu Heideggers Seinsfrage und seine These »Sein und Nichts« ausgeübt hat.
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Die mannigfache Bedeutung des Seienden bei Aristoteles
Seins (ον, des Seienden) bezeichnen sie.« 16 Solange das Seiende als Kategorie auf zehn verschiedene Weisen ausgesagt wird, werden sich auch zehn verschiedene Bedeutungen des ον als Kategorien ergeben. Der Satz »das ist ein Deutscher, der 170 cm groß ist« enthält schon zwei verschiedene Bedeutungen vom Sein, nämlich ein Menschsein als ουσια, und ein Wie-groß-sein als eine Quantität. Indem dieser Deutsche auch Qualitäten (z. B. Farbe, Charakter), eine Relation zu Anderen und Wann oder Wo aufzutauchen usw., haben kann, kann er auch von den anderen neun Bedeutungen des ον als Kategorien ausgesagt werden. Die zweite Bedeutung des ον kommt dem Akzidens zu. Akzidens besagt eine zufällige Seinsweise eines Seienden, die nicht ewig und notwendig bleibt, sondern sich wandelt. Im Satz »der Baum ist grün« ist ein Grün-sein ausgesagt. Dieses Grün-sein ist deswegen grün, nicht weil es ein Grün-an-sich gibt, sondern weil es einige anderen Seienden gibt, die grün sind. Ein Grünes ist dem Begriff nach früher als ein grüner Baum, aber nicht dem Wesen nach. Denn ein Grünes besteht nicht abtrennbar und selbstständig für sich, sondern es muss von etwas Wahrem ausgesagt werden und ist immer schon nur in einer Relation und einem Unterschied zu anderen Farben zu verstehen. Aber wie das Grüne entsteht und warum es grün ist, ist zufällig und bleibt unbestimmt und lässt sich nicht begründen. Akzidens ist dann etwas, »was weder immer noch in der Regel stattfindet« 17. Im Gegensatz dazu hat die Bewegung der ουσια und ihrer anderen notwendigen Eigenschaften notwendige und klärbare Ursachen. 18 Die dritte Bedeutung des ον bekundet sich im Wahr- oder Nichtwahr-sein. Z. B. sprechen wir auch über das Seiende (Sein) als eine Bejahung oder eine Negation von etwas: »Es ist der Fall, dass der Mensch weiß ist.« und »Etwas, was gleichzeitig sowohl weiß als auch nicht-weiß ist, ist nicht«. Der erste Satz kann wahr sein, wenn er im Einklang mit der Tatsache steht, aber der zweite Satz hat etwas Falsches ausgesagt, »etwas, was gleichzeitig sowohl weiß als auch Aristoteles, Metaphysik, 1017a, 22, Griechisch-Deutsch, hrsg. von Horst Seidl, Hamburg: Meiner, dritte, verbesserte Auflage 1991, Band 1,S. 207. 17 Aristoteles, Metaphysik, 1026b, 30–35. Griechisch-Deutsch, hrsg. von Horst Seidl, Hamburg: Meiner, dritte, verbesserte Auflage 1991, Band 1, S. 257. 18 Wie Aristoteles sagt: »das andere Seiende aber, das akzidentelle ist nicht notwendig, sondern unbestimmt; darum sind seine Ursachen ohne Ordnung und Grenze«, (Metaphysik, 1065a 25, Griechisch-Deutsch, hrsg. von Horst Seidl, Hamburg: Meiner, dritte, verbesserte Auflage 1991, Band 2., S. 211.). 16
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Seinsproblem im Ausgang von Aristoteles
nicht-weiß« ist, ist nicht wahr, weil es tatsächlich unmöglich ist. Ein Mensch kann von weiß zu schwarz werden, aber nicht gleichzeitig beides sein, es ist deshalb ein Nicht-Seiendes. Die vierte und letzte Bedeutung des ον besteht in Vermögen und Verwirklichung. Z. B. sagen wir: »Das Erz wird eine Bildsäule sein«. Dieser Satz behauptet nur, dass es möglich ist für das Erz, irgendwann eine Bildsäule zu sein, obwohl es in der Wirklichkeit nur ein Erz-Sein ist. D. h. das Erz ist dem Vermögen nach eine Bildsäule, obwohl es noch nicht so ist, wird es in der Möglichkeit so sein. Es kann sich verändern, um eine Bildsäule zu werden. Doch ist die Wirklichkeit des Erzes, insofern es Erz ist, nicht Bewegung, weil Erz-sein als Wirklich-Sein und ein Bildsäule-Sein als ein Vermögen-Sein nicht identisch sind. 19 Es ist wichtig zu beachten, dass die oben so beschriebene Vielfältigkeit des Seienden nicht nur die vier Hauptbedeutungen betrifft, sondern innerhalb dieser vierfachen Gliederung wiederum auch die Kategorien selbst. »So viel die Kategorien ausgesagt werden, so viele Bedeutungen des Seins (ον, des Seienden) bezeichnen sie.« Heidegger nimmt Brentanos ontologische Interpretation zu Aristoteles’ Kategorienlehre an, dass die verschiedenen und nicht aufeinander zurückführbaren Kategorien die höchsten Gattungen des Seienden darstellen und »Weisen des Seins […] naturgemäß den Weisen der Prädikation entsprechen« 20 und denkt daher: »Kategorien sind Weisen des Seienden hinsichtlich seines Seins, nicht subjektive Denkformen.« 21 Kategorien sind die realen Gattungen der Seienden selbst, in denen die verschiedenen Seinsweisen des Seienden sich unterscheiden. Weil diese Unterscheidung der Seinsweisen oder Aufteilung der Kategorien ontologisch, d. h. weder sprachlogisch noch subjektiv konstruiert ist, ist sie eine Aufweisung des Seienden an ihm selbst.
19 Vgl. Aristoteles, Metaphysik, Buch V Kapitel 2.4, insbesondere 1013b, 5–10. Band 1, S. 181. 20 Franz Brentano, Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles, 1984, Georg Olms Verlag, S. 174. 21 Heidegger, Die Grundbegriffe der Antiken Philosophie, Marburger Vorlesung Sommersemester 1926, GA 22, S. 156.
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Kategorien und ουσια
1.2. Kategorien und ουσια Ein wichtiges Anliegen vom frühen Heidegger ist es als eine Gegenbewegung zum damaligen beliebten Psychologismus-Trend die Logik wieder im philosophischen Sinne zu verstehen und damit die Kategorien als die ontologischen Bestimmungen des Seienden auf einer neuen phänomenologischen Weise zu rekonstruieren. 22 In seinem ersten Aufsatz »Realitätsproblem in der modernen Philosophie« (1912) hat Heidegger schon sein Interesse am Realismus gezeigt. In diesem Aufsatz legt er den »kritischen Realismus« von Oswald Külpe dar, welcher zur damaligen Zeit als eine der gewichtigsten Gegenpositionen zum transzendentalen Idealismus der Neukantianer angesehen wurde. Heidegger verweist darauf, dass die subjektive Erfahrung auch die Existenz transsubjektiver Bedingung braucht und damit ein kritischer Realismus mit dem Erkenntnisanspruch verbunden ist. 23 Danach ist ein ontologisches Interesse an der Kategorienlehre von seiner Dissertation (Die Lehre vom Urteil im Psychologismus. Ein kritischpositiver Beitrag zur Logik, 1913) bis zu seiner Habilitation (Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Dun Scotus, 1915) immer stärker durchgedrungen. In der Ersteren setzt er sich mit einer anti-psychologischen Interpretation zum Sinn des Urteiles auseinander, dass die Logik des Urteils nicht auf die psychischen Vorgänge zu reduzieren ist, sondern seinen realen Sinn hat. 24 In der Letzteren hat Heidegger den neo-kantischen »kritischen Idealismus« (transzendentale Logik) und Husserls phänomenologische Theorie der Intentionalität teilweise angenommen und versucht zu begründen, dass die Kategorien nicht der Natur an sich, sondern der von uns verstandenen Natur zukommen, weil es viele verschiedene Wirklichkeitsweisen (Logik, Physik, Psychologie und Metaphysik usw.) und dementspreZum Denkweg des frühen Heideggers, insbesondere von 1912 bis 1916 siehe einen hervorragenden Aufsatz von Steven Crowell, »Making the Logic Philosophical Again«, in: Husserl, Heidegger, and the Space of Meaning. Paths toward Transcendental Phenomenology. Northwestern University Press, 2001 S. 93–114. 23 Heidegger, Realitätsproblem in der modernen Philosophie, in: GA 1, S. 1–15. Vgl. Alfred Denker, Hans-Helmut Gander, Holger Zaborowski (Hg.), Heidegger und die Anfänge seines Denkens. Heidegger- Jahrbuch 1, Freiburg/München 2004. Diesbezügliche Studien siehe: Michael Steinmann, »1.1 Heideggers Interesse am Realismus«. In: Die Offenheit des Sinns, Untersuchung zu Sprache und Logik bei Martin Heidegger, 2008 Mohr Siebeck Tübingen, S. 13–22. 24 Heidegger, Die Lehre vom Urteil im Psychologismus. Ein kritischpositiver Beitrag zur Logik, 1913, GA 1, S. 110. 22
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Seinsproblem im Ausgang von Aristoteles
chend es auch für jeden Seinsbereich eigene Kategorienlehren gibt. Kategorien sind demnach »Elemente und Mittel der Sinndeutung des Erlebbaren – des Gegenständlichen überhaupt« 25, d. h. die Weisen, wie wir die Seienden erleben und verstehen. Das ist eigentlich hinsichtlich der Seinsfrage ein sehr entscheidender gedanklicher Fortschritt Heideggers, weil die Kategorien zwar immer noch die Seinsweisen des Seienden sind, aber nun denkt Heidegger seine Seinsfrage bzw. die Seinsweisen des Seienden von dem Aspekt des Seinsverständnisses her, d. h. von dem Dasein her, welches sich zum Sein des Seienden verhält und den Sinn des Seins versteht. Sofern die Kategorien nicht mehr wie bei Aristoteles als metaphysische reale Begriffe oder Gattungen verstanden werden, wird die Seinsfrage Heideggers nach seiner Habilitation nicht mehr metaphysisch, sondern vielmehr »fundamentalontologisch« gesucht. Das gilt mindestens bis zur Kehre Anfang der 30er Jahre. Das ist eben eine sehr wichtige gedankliche Vorbereitung für sein Hauptwerk Sein und Zeit. 26 Wenn Aristoteles’ philosophisches Projekt ein »metaphysischer Realismus« 27 ist, könnte man mit Recht behaupten, dass Heideggers Projekt ein »phänomenologischer Realismus« 28 ist. Obgleich Heidegger in Sein und Zeit einmal gesagt hat: »Allerdings nur solange Dasein ist, das heißt die ontische Möglichkeit von Seinsverständnis, ›gibt es‹ Sein. Wenn Dasein nicht existiert, dann ›ist‹ auch nicht ›UnHeidegger, Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Dun Scotus, 1915, GA 1, S. 400. 26 Diese ganz entscheidende gedankliche Entwicklung, nämlich von der metaphysischen Suche »was ist das Seiende als solches« bis zu »wie die Seinsweisen des Seienden als solchen verstanden sind« siehe: Dorothea Frede, »The question of Being:Heidegger’s Project«, in: The Cambridge Companion to Heidegger, 2nd Edition, edited by Charles B. Guignon, Cambridge University Press, 2006 S. 49–50. 27 Dorothea Frede, »The question of Being: Heidegger’s Project«, in The Cambridge Companion to Heidegger, 2nd Edition, edited by Charles B. Guignon, Cambridge University Press, 2006. S. 45. 28 »Phänomenologischer Realismus« ist schon ein diskutierter Begriff, siehe Josef Seifert, Back to »Things in Themselves«: A phenomenological Foundation for classical Realism, Routledge and Kegan Paul Press, New York and London, 1987. Und noch Günter Figal, »Phenomenological Realism. Programmatic Considerations«, und Markus Gabriel, »Is Heidegger’s »Turn« a Realist Project?«, in: NEW REALISM AND PHENOMENOLOGY, Edited by Diego D’Angelo & Nikola Mirković, Special Issue / 2014, Al. I. Cuza University Press, p. 15–20; p. 44–73. Außerdem ist das neulich erschienene diesbezügliche Buch von Tobias Keiling auch zu empfehlen: Seinsgeschichte und phänomenologischer Realismus. Eine Interpretation und Kritik der Spätphilosophie Heideggers. Tübingen: Siebeck 2015. 25
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Kategorien und ουσια
abhängigkeit‹ und ist auch nicht ›An-sich‹« 29. Das lässt sich durchaus nicht so verstehen, als ob das Sein und das Sein des anderen Seienden abhängig von dem Dasein wären, sondern nur: hinsichtlich dessen, dass nur Dasein in seiner Existenz das Sein versteht, setzt jedes Seinsverständnis schon das Sein des Daseins, Sein im Da, voraus. Dadurch, dass Heidegger die Grundverfasssung des Daseins als In-der-Weltsein, bzw. das Wesen des Daseins als Mitsein charakterisiert, ist er eigentlich distanziert von jeder Art Idealismus. 30 Mitsein besagt, dass anderes Dasein und Zuhandene oder Vorhandene dem Dasein schon mitgegeben ist und eben nicht von mir als einem Ego konstruiert (wie bei Kant) oder konstituiert (wie bei Husserl) wird. Das kann eindeutig gesehen werden in der Freiburger Vorlesung im Wintersemester 1928/29 Einleitung in die Philosophie, wenn Heidegger sich in diesem Band systematisch mit dem Begriff »Mitsein« beschäftigt. Dort sagt Heidegger: »Es liegt im Charakter dieses Aufmerkens auf das Ding, dass das Ding selbst uns gewissermaßen sagt: ich war schon da, bevor du mich auffaßtest. In diesem Aufmerken auf die Dinge tragen wir ihnen nichts zu, wir reden ihnen gewissermaßen nichts auf, sondern sie, die Dinge selbst, begegnen uns so.« 31 Für Heidegger sind die Seienden auch schon da, bevor wir als Subjekt sie auffassen. Und ein phänomenologisches Auffassen von etwas, was uns schon gegeben ist, bedeutet dann ein Begegnen-lassen, oder genauer: sich zeigen lassen, wie es an ihm selbst ist. Durch eine genaue Unter-
Heidegger, SuZ, S. 212. Vgl. Heideggers Brief über den »Humanismus«, in: GA 9, Wegmarken, S. 336. 31 Heidegger, Einleitung in die Philosophie, Freiburger Vorlesung Wintersemester 1928/29, GA 27, S. 74–75. Wenn Heidegger da auch den Bezug auf Kant und Husserl nimmt, ist eine deutliche und entscheidende Differenz zu deren sogenannter Subjektivitätsphilosophie leicht einzusehen, da ein intentionales Auffaßen für Heidegger deswegen eine eigentümliche rezeptive Spontaneität bedeutet, weil Auffaßen von etwas schon voraussetzt, dass etwas schon da ist und auffassen eigentlich ein Begegnen-lassen ist, d. h. eine Spontaneität mit dem Charakter des Hinnehmens, nämlich der Rezeptivität. Dazu siehe: »Wo Spontaneität ist, ist nicht notwendig ausgeschlossen, dass da nicht gerade noch eine eigentümliche Rezeptivität ist. Gerade im Aufmerken auf etwas, das in uns wach wird, ist ein Sich-freigeben für die Dinge, damit sie sich zeigen können, wie sie sind.«, GA 27, S. 75. Ich gehe davon aus, dass Heidegger, weil sein Ausgangspunkt Aristoteles ist, die Phänomenologie von Anfang an schon denkt als ein Realist. Diese Stelle ist nämlich eine gute Verkörperung dessen. Vgl. Taylor Carman, »Heidegger’s Realism« in: Heidegger’s Analytic. Interpretation, Discourse, and Authenticity in Being and Time, Cambridge University Press 2003, S. 155–203. 29 30
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Seinsproblem im Ausgang von Aristoteles
suchung über den Begriff des Mitseins von Heidegger kann man mit Erfolg rechtfertigen, dass Heideggers Projekt als ein »phänomenologischer Realismus« zu bezeichnen ist. Darauf kann hier aber nicht mehr eingegangen werden und wir sollen uns nun auf die These beschränken, wie Heidegger mit Aristoteles’ Theorie der mannigfachen Bedeutung des Seienden in seiner eigentümliche Seinsfrage einsteigt und inwiefern man behaupten kann, dass Heidegger genau dort neu angefangen hat, wo Aristoteles aufgehört hat: Laut Aristoteles ist die erste Bedeutung des Seienden als die Kategorien innerhalb der vierfachlichen die wichtigste, weil alle Aussagen notwendigerweise auf die Kategorien und ferner auf die erste Kategorie zurückführen. Denn die ουσια ist die tragende und leitende Grundbedeutung des Seienden. Er schreibt in Metaphysik, Buch IX, Kapitel 1: »Über das nun, was im eigentlichen Sinne seiend ist und worauf alle anderen Aussageweisen (Kategorien) des Seienden zurückgeführt werden, ist gehandelt worden, nämlich über die ουσια. Nach dem Begriff des Wesens nämlich wird alles übrige als seiend bezeichnet, das Quantitative, das Qualitative und das übrige in dieser Weise ausgesagte; denn dies alles muss, wie wir in den obigen Erörterung gesagt haben, den Begriff des Wesens enthalten.« 32
Der erste Satz stellt fest, dass die anderen Kategorien auf der ersten Kategorie, und zwar der ουσια basieren, indem die anderen auf sie zurückführen müssen. Der zweite Satz charakterisiert die Art der Hin- und Rückbeziehung aller der anderen Kategorien auf die erste, nämlich entweder die anderen sind von ουσια ausgesagt oder ουσια ist immer schon zuvor mitgesagt oder enthalten und demnach zuvor seiend. Ουσια ist die erste Kategorie und das heißt zugleich: das erste Seiende. Die Metaphysik als eine Wissenschaft, die die Seienden als solche untersucht, bedeutet aber für Aristoteles ursprünglich nicht, nach einer Allgemeinheit der Vieldeutigkeit von Seienden wie nach einer Idee bei Platon zu suchen, sondern nach »den Prinzipien und den ersten Ursachen der Seienden als Seienden, insofern sie sind«, nämlich nach ουσια als den ersten Seienden zu suchen. Aristoteles sagt genau daher in Buch VII Kapitel 7 in Metaphysik, »die Frage,
Aristoteles, Metaphysik, 1045b, 27–32, Griechisch-Deutsch, hrsg. von Horst Seidl, Hamburg: Meiner, dritte, verbesserte Auflage 1991, Band 2, S. 101.
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Kategorien und ουσια
was das Seiende ist, bedeutet nichts anderes als was die ουσια ist.« 33 Ουσια ist demnach einerseits die leitende Bedeutung des Seienden, andererseits auch das erste Seiende, das Prinzip und die erste Ursache der Seienden als Seienden, insofern sie sind, ferner das eigentliche Zentralthema der Metaphysik. Ουσια (Wesen, Seiendheit) hat bei Aristoteles hauptsächlich zwei Bedeutungen, nämlich eine als »zugrundeliegendes Einzelding« in Kategorien und eine andere als »Sosein« (το τι ην ειναι, Wesenheit, the being of ›what it was‹) und »Dieses Etwas« (τοδε τι) im Buch VII in Metaphysik. In Kategorien denkt Aristoteles, dass die erste ουσια als die erste Kategorie diejenige ist, »die weder von einem Subjekt ausgesagt wird, noch in einem Subjekt ist, wie z. B. ein bestimmter Mensch oder ein bestimmtes Pferd.« 34 Ein bestimmtes Einzelding ist abtrennbar und daher selbständig, und alle anderen Seienden in allen anderen neun Kategorien sind hingegen nicht abtrennbar und unselbständig, denn sie alle müssen von dem Einzelding ausgesagt werden, eingeschlossen des Begriffes und der Gattungen als die zweite ουσια. Wie in dem Beispiel »der Baum ist grün« findet sich das Grüne nur an oder in dem Baum als einem bestimmten Einzelding anstatt eines Begriffs, und daher wird das Grüne als Prädikat von dem Baum als Subjekt ausgesagt. Von dieser logischen Struktur her gewinnen wir zugleich auch eine ontologische Struktur, nämlich die erste ουσια als Subjekt und alle anderen neun Kategorien als Prädikat. Die erste ουσια als das erste Seiende ist das Wesen oder das Prinzip alles anderen Seienden, wie Aristoteles sagt: »Alles andere wird mithin entweder von den ersten ουσια als dem Subjekt ausgesagt, oder ist in ihnen als dem Subjekt. Wenn somit die ersten ουσια nicht sind, so ist es unmöglich, dass sonst etwas ist.« 35 In diesem Sinne ist die Metaphysik als die Suche nach ουσια bei Aristoteles zugleich auch »erste Philosophie«. Das als »Zugrundeliegendes« und »Subjekt« oder »Substrat« verstandene »υποκειμενον« ist später dann als »Substanz« ins Latein übersetzt und derart interpretiert worden. Aristoteles, Metaphysik, 1028b, 3–4., Griechisch-Deutsch, hrsg. von Horst Seidl, Hamburg: Meiner, dritte, verbesserte Auflage 1991, Buch 2, S. 7. 34 Aristoteles, Kategorien, 2a, siehe: übersetzt, mit einer Einleitung und erklärenden Anmerkungen versehen von Eugen Rolfes, Verlag von Felix Meiner, Hamburg, 1962, S. 45. 35 Aristoteles, Kategorien, 2b, siehe: übersetzt, mit einer Einleitung und erklärenden Anmerkungen versehen von Eugen Rolfes, Verlag von Felix Meiner, Hamburg, 1962, S. 46. 33
35 https://doi.org/10.5771/9783495824030 .
Seinsproblem im Ausgang von Aristoteles
Aber diese Definition stimmt in der Metaphysik teilweise nicht mehr. Wenn die neue wichtige Bestimmung zur ουσια als einer Zusammenstellung von Materie und Form ins Spiel kommt, ergibt sich daraus ein Problem, nämlich ob die zugrundeliegende Materie auch ουσια ist. Insofern Materie schlechthin immer weiter unendlich unterteilt werden kann, ist es problematisch, wie eine bloße Materie als Einzelding genannt werden kann, denn ein Einzelding ist immer ein bestimmtes »Dieses Etwas«, es ist nämlich immer schon ausgeformt. Gerade in Rücksicht auf dieses Problem hat Aristoteles selbst den Begriff der οὐσία, den er in der Kategorien-Schrift erarbeitet hatte, radikal in Frage gestellt: »was etwas die ουσια ist, dass es nämlich das ist, was selbst nicht von einem Zugrundeliegenden (Substanz), sondern wovon vielmehr das andere ausgesagt wird; indes darf man nicht hierbei allein stehenbleiben, weil es noch nicht genügt. Denn diese Bestimmung selbst ist unklar, und überdies würde die Materie ουσια werden.« 36. Weil Aristoteles nun den Vorrang der Form vor Materie hervorheben möchte, muss er auf eine neue und »noch wesentlichere« Bestimmung zu ουσια als »zugrundeliegende Substanz« (»υποκειμενον«) kommen: »Denn selbständige Abtrennbarkeit und Bestimmtheit (das Dies-da) wird am meisten der ουσια zugeschrieben. Demnach dürfte man der Ansicht sein, dass die Form und das aus beiden (Zusammengesetzte) mehr ουσια als die Materie« 37 ist. D. h. es ist gerade die Form (ειδοσ), die das Wesen der ουσια ausmacht, weil sie eben nicht die Materie, das erste Seiende, selbständig abtrennbar und zum bestimmten Individuum macht. Insofern sagt Aristoteles auch, dass die Form das Sosein (το τι ην ειναι, Wesenheit, the being of ›what it was‹, das Sein von ›was es war‹) und die erste ουσια sei. 38 Wenn man ganz wörtlich »το τι ην ειναι« übersetzt, bedeutet es »was das Sein oder Sein des Seienden war«, das besagt das ständig bestehende Wesen des Seienden. Im Unterschied zu τι εστι (Wassein), das allen zehn Kategorien zukommt und nur teils Definition eines Dinges ist, kann το τι ην ειναι (Sosein, Wesenheit)
Aristoteles, Metaphysik, 1029a, 5–10, Buch VII, Griechisch-Deutsch, hrsg. von Horst Seidl, Hamburg: Meiner, dritte, verbesserte Auflage 1991, Band 2, S. 9 37 Aristoteles, Metaphysik, 1029a, 28–29, Buch VII, Griechisch-Deutsch, hrsg. von Horst Seidl, Hamburg: Meiner, dritte, verbesserte Auflage 1991, Band 2, S. 11 38 Vgl. Aristoteles, Metaphysik, 1032b, 1–2, Buch VII, Griechisch-Deutsch, hrsg. von Horst Seidl, Hamburg: Meiner, dritte, verbesserte Auflage 1991, Band 2, S. 27: »Form nenne ich das Sosein (το τι ην ειναι) eines jeden Dinges und seine erste ousia.« 36
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Kategorien und ουσια
aber nur der ουσια zukommen, und το τι ην ειναι drückt immer das vollkommene Wesen des Dinges aus. 39 Solange Aristoteles nun dem το τι ην ειναι das Wesen der ουσια verdankt und auch zugleich ablehnt, dass die Materie auch το τι ην ειναι bedeuten kann, ergibt sich daraus eine wichtige Gegenthese zu den Kategorien, dass die ουσια nicht notwendigerweise die Substanz ist. Die logische Folge dieses Satzes ist wie folgt: 1.) Wenn ουσια gleich mit Substanz ist, dann würde Materie auch ουσια sein; (Wenn A, dann B) 2.) Nun ist es eigentlich der Fall, dass die Materie nicht ουσια sein kann; (Nicht B) 3.) Schluss: ουσια ist nicht gleich mit Substanz. (dann: Nicht A) D. h. Substanz ist nun nicht mehr notwendigerweise die ουσια. Sie ist nicht mehr die hinreichende Bedingung für ουσια. Ουσια ist die Form oder das Zusammengesetzte von Form und Materie. Hier ist aber zu beachten, dass sich das durchaus nicht so verstehen lässt, als ob die Substanz als eine Materie früher als die Form wäre, und noch darauf warten würde irgendwie mit einem Eidos ausgeformt werden zu können, damit sie eine ουσια sein könnte. Ganz im Gegenteil! Für Aristoteles ist die Metaphysik nicht identisch mit der Physik, sondern sie geht der Physik vorher, in dem ontologischen Sinne, dass Form früher als die Materie ist. Das können wir noch genauer nachvollziehen in der anderen wichtigen Bestimmung zu ουσια. Eine andere parallele wichtigste Bestimmung zu ουσια von Aristotles ist τοδε τι (»Dieses-Etwas« oder »Dies-da«). 40 »Dieses« (τοδε) ist eine bestimmte Anzeige und auch eine Weise der Individualisierung. Das besagt mindestens, dass dieses gemeinte Ding schon eines ist, und zwar ein selbständiges Einzelding, es irgendwie als ein Gegenstand schon von den anderen zu unterscheiden ist. Andererseits ist aber »Etwas« (τι) ein unbestimmtes Pronomen, d. h. es ist nur als ein Gegenstand überhaupt gemeint, aber inhaltlich noch gar nicht bestimmt. »Dieses-Etwas« (τοδε τι) zusammen heißt dann ein schon ausgeformtes, aber vom Gehalt her noch leer und daher offen bleibendes Ursprüngliches-Einzelding. Eine bloße Materie, ohne Form, ist ein Stoff und kann nicht individualisiert werden, deswegen kann Vgl. W. D. Ross, Aristotle’s Metaphysics: A Revised Text with Introduction and Commentary, Clarendon Press 1924, Band 1, S. 171. 40 Vgl. Aristoteles, Metaphysik, 1028a, 1–2; 1029a, 28–29; 1038b, 24; 1069b, 11; 1089a, 11; 1089b, 32 39
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Seinsproblem im Ausgang von Aristoteles
sie nicht als »dieses etwas« aufgefasst werden. Man kann sagen, dass das Holz Materie von Baum, Tisch und Haus ist, aber durchaus unausgeformtes Holz als bloßer Stoff nicht zum Denken ist. Jedes Auffassen ist zugleich schon ein Form-geben, oder genauer: Jedes Auffassen setzt ein ausgeformtes Etwas voraus. Daher lässt sich sagen, dass Dieses-Etwas (τοδε τι) erst die ουσια und Anfang des Denkens ist.
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2. Unterwegs zum Sein-lassen: Heideggers eigentümliche Fragestellung
2.1. ουσια als ein vortheoretischer Gegenstand und die Philosophie als Urwissenschaft Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, wie Heidegger durch seine Interpretation zum Begriff der ουσια bei Aristoteles seinen eigenen Denkweg gefunden hat und wie er durch die neue Interpretation zu der Analogie der vierfachen Bedeutung des Seienden seine eigentümliche Seinsfrage aufgestellt hat. Heidegger lehnt zuerst ganz entschieden die Übersetzung der ›Substanz‹ zu ουσια ab. Er sagt: »Die übliche Gedankenlosigkeit übersetzt das Wort (ουσια) mit »Substanz« und verfehlt damit allen Sinn«. 1 Seine erste Begründung liegt darin, dass die Substanz die wörtliche und gedankliche Verbindung zu Sein total verloren hat, weil ουσια eigentlich das singuläre feminine Partizip von einai (Sein) ist. Wenn man wörtlich die ουσια übersetzt, ist sie dann »Seiendheit«, die Heidegger auch häufig verwendet. Seine zweite Begründung dafür geht dann die oben schon angedeutete inkonsistente Bestimmung zu ουσια in Kategorien und Metaphysik an. Heidegger versteht die ουσια sowohl im Sinne »το τι ην ειναι« als auch »τοδε τι«, aber nicht im gewöhnlichen Sinne des »υποκειμενον« als »unterliegende Substanz«. Was er in der Tat neu zum Denken gebracht hat, ist eigentlich der Versuch, »υποκειμενον« in Bezug auf »το τι ην ειναι« und »τοδε τι« neu zu verstehen, nämlich nicht als unterliegendes oder zugrundeliegendes im Sinne der Existenz, sondern als »Vorliegendes«, das in jedem Auffassen schon mitgesagt ist. In den neu erschienenen Dokumenten, die Nachschriften von Oskar Becker zu Heideggers Aristoteles-Seminar vom Sommersemester 1921 und vom Wintersemester 1922/23 2, sieht man das deutlich: 1 2
Heidegger, Einleitung in die Metaphysik, GA 40, S. 65. Heideggers Aristoteles-Seminare von Sommersemester 1921 und vom Winter-
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Unterwegs zum Sein-lassen: Heideggers eigentümliche Fragestellung
»Jedes Erfaßte ist ein Was. Dieses ursprüngliche Was ist aber auch ein τοδε τι. Das τοδε τι ist nicht zeitlich-räumlich oder historisch bestimmtes Individuum, sondern es ist einfach ein hDies-dai, ein mir vorliegendes hEtwasi. Genauer: Es ist das hEti im hEt-wasi, es ist das hEtlichei; sofern im λεγειν (erfassen) ein Was gefaßt wird als ein Seiendes, als etwas, das histi (nicht existiert!)« 3 »Die ουσια kommt vor der »Existenz«. Der »ist-Sinn« (Kopula) ist ursprünglicher als die Existenz. Der formale Sinn des λεγειν (erfassen) ist ein »ist etwas«, etwas = τοδε τι.« 4
Für Heidegger ist die ουσια als »υποκειμενον« nur ein vorliegendes hEtwasi, das ursprünglich ist. Jedes Erfassen ist von ihm ausgesagt, d. h. es ist das, wovon ausgesagt ist, und daher ein Vor-liegendes, weil es eine ursprüngliche Voraussetzung für das Erfassen ist. Der größte und wichtigste Unterschied zwischen Unterliegendem als Substanz und Vor-liegendem als »Dies-da« besteht darin: Unterliegendes ist mehr von der Materie her zu bestimmen, hingegen ist Vor-liegendes von der Form her schon immer bestimmt. Unterliegendes existiert und Vorliegendes hingegen »ist«. Wie Heidegger sagt, dass »die ουσια ist« vor »die ουσια existiert« kommt. Dies lässt sich im Kreis der ουσια-Theorie von Aristoteles so begründen, dass die Form vor der Materie kommt. Aber dies hat bei Heideggers Hinsehen nun eine ganz andere neue Bedeutung: Ein existierendes Unterliegendes ist als ein ständig vorhandener Gegenstand zu verstehen, der für theoretische Befassung geeignet ist. Im Gegensatz dazu ist das als ein »Dies-da« seiende vorliegende hEtwasi als einem vortheoretischen Gegenstand nur im ursprünglichen Erleben oder im Sich-verhaltenZu des Daseins zu begegnen. Insofern Philosophie als Ontologie eigentlich eine Suche nach der ουσια ist, und jetzt ουσια sich nur im ursprünglichen Erleben des Daseins finden lässt, ist die Philosophie eine Urwissenschaft, oder eine Ontologie, die mit dem Erleben des Daseins mitgeht und mit einer phänomenologischen Methode die Faktizität des Daseins dann expliziert. 5 Dieser Gedanke ist sozusagen das Leitmotiv für Heidegger semester 1922/23 (Nachschriften von Oskar Becker), in: Heidegger und Aristoteles, Heideggers Jahrbuch 3, Verlag Karl Alber, 2007, S. 7–48. 3 Ibid, S. 15. 4 Ibid, S. 17. 5 Zu dem Text, in dem Heidegger die Einheitlichkeit der Philosophie, Ontologie und Phänomenologie klar thematisiert hat, siehe: »Philosophie ist ›Ontologie‹, und zwar radikale, und zwar als solche phänomenologische (existenziell, historisch-geistes-
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ουσια als ein vortheoretischer Gegenstand und die Philosophie
gewesen, sodass er sich in vielen frühen Bänden damit auseinandergesetzt und letztendlich in seinem Hauptwerk Sein und Zeit systematisch zum Ausdruck gebracht hat. In der Freiburger Vorlesung im Kriegnotsemester 1919 Phänomenologie als vortheoretische Urwissenschaft sagt er: »Das hEtwasi als das Vor-weltliche überhaupt darf nicht theoretisch, im Sinne einer physiologisch-genetischen Betrachtung gedacht werden. Es ist Grundphänomen, das verstehend erlebt werden kann, z. B. in der Erlebnissituation des Gleitens von einer Erlebniswelt in eine genuin andere, oder in Momenten besonders intensiven Lebens.« 6 Und dieses Uretwas besagt »Erlebbares überhaupt«, es findet sich in der ursprünglichen Sphäre des Lebens, in der noch nichts differenziert ist, noch nichts welthaft oder objektartig zu finden ist. 7 Im Anschluss daran geht er im Natorp-Bericht, nämlich der »Anzeige der hermeneutischen Situation« (1922), noch in der tieferen Untersuchung über das faktische Leben des Daseins weiter: »Das faktische Dasein ist, was es ist, immer nur als das voll eigene, nicht das Überhauptdasein irgendwelcher allgemeiner Menschheit, für die zu sorgen lediglich ein erträumter Auftrag ist.« 8 Da die vortheoretisch vorliegende ουσια nur im ursprünglichen faktischen Vollzug des Erlebens gezeigt werden kann und weil jedes Leben jeweilig ist, geht es in der Urwissenschaft als einer phänomenologischen Explikation der vortheoretischen Erlebnisse nur um die Jemeinigkeit, anstatt einer allgemeinen Menschheit, wobei Heideggers phänomenologischer Gesichtspunkt sich von Kants und Husserls Zugang zur menschlichen Subjektivität unterscheidet. 9 Die faktische Jemeinigkeit hat Heideggeschichtlich) bzw. ontologische Phänomenologie«, in: Phänomenologische Interpretation zu Aristoteles, GA 61, S. 60. 6 Heidegger, GA 56/57, S. 115. 7 Vgl. Heidegger, GA 56/57, S. 115. oder auch: Theodore Kisiel, »Die formale Anzeige: Die methodische Geheimwaffe des frühen Heideggers«. In: Heidegger – neu gelesen, hrsg. von Markus Happel, Verlag Königshausen und Neumann GmbH, Würzburg 1997, S. 26–30. 8 Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation, in: GA 62, S. 350. 9 In diesem Zusammenhang gibt es eine wichtige Kritik von Heidegger an Husserls phänomenologischer Reduktion: »Was leistet die Reduktion weiter? Sie sieht nicht nur von der Realität ab, sondern auch von der jeweiligen Vereinzelung der Erlebnisse. Sie sieht davon ab, dass die Akte meine oder die jenigen eines anderen individuellen Menschen sind, und betrachtet sie nur nach ihrem Was […], aber nicht nach dem Wesen ihres Seins.« Siehe, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, GA 20, S. 151.
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Unterwegs zum Sein-lassen: Heideggers eigentümliche Fragestellung
ger ein Jahr später dann in der Freiburger Vorlesung im Sommersemester 1923 Ontologie: Hermeneutik der Faktizität herausgearbeitet, dergemäß nämlich die Jemeinigkeit ein Wie des Seins, Anzeige des Weges des möglichen Wachseins ist. 10 Und weil Ontologie die Lehre vom Sein ist, ferner das Sein des Daseins nun in der faktischen Jemeinigkeit im Sinne des »Vorliegenden« als Dies-da besteht, bedeutet zu philosophieren dann sich ständig innerhalb der Grundbewegtheit des faktischen Lebens zu halten, sich zu zeitigen im Vollzug des Lebens an ihm selbst und nicht erst in nachträglicher Anwendung, 11 genau wie Heidegger sagt: »die phänomenologische Problematik ist dem Leben an sich nicht vorgegeben, sondern erst zu geben in einem aus dem Leben selbst irgendwie motivierten Prozess«. 12 Damit kann man sagen, dass Ontologie zu suchen zugleich innerhalb des Vollzugs der Auslegung des Lebens eine »Hermeneutik der Faktizität« zu suchen ist.
2.2. ουσια als der formale Gehalts-Sinn des Ur-etwas und die phänomenologische Methode der »formalen Anzeige« Sofern das Ur-etwas vortheoretisch ist, wie ουσια im Sinne »Diesda«, ist es nur ein ausgeformter Einzelgegenstand, der dem Gehalt nach »noch nicht« bestimmt ist. Um mit diesem Ur-etwas recht umgehen zu können, brauchen wir deshalb auch eine eigentümliche Logik, die sich sachlich nach dem Ur-etwas richten aber zugleich auch die Allgemeinheit des Ur-etwas als solches anzeigen kann, und diese Logik von Heidegger ist dann »die formale Anzeige«. Zum Verhältnis zwischen der »formalen Anzeige« bei Heidegger und seiner Interpretation zu ousia als »Vorliegendem« hat Gadamer schon folgendes angedeutet: »Hier sieht man am Beispiel, was das (Heideggers Ziel als formale Anzeige) bedeutet. ›Ousia‹ ist nicht mehr ›Substanz‹. Das war die lateinische Übersetzung von ›Hypokeimenon‹ als formalem Ausdruck für das Zugrundeliegende. Dieser Ausdruck konnte den Sinn von Sein bezeichnen. ›Sein‹ ist das ›Vor-
Heidegger, Ontologie: Hermeneutik der Faktizität, GA 63, S. 7. Vgl. Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation, in: GA 62, S. 351. 12 Heidegger, Grundproblem der Phänomenologie, Frühe Freiburger Vorlesung Wintersemester 1919/20, GA 58, S. 27. 10 11
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ουσια als der formale Gehalts-Sinn des Ur-etwas
liegende‹.« 13 Warum dann »formal«, was bedeutet das hier? »Formal« unterscheidet sich zuerst von Generalisierung und Formalisierung. Die letzteren zwei sind beide Arten der Verallgemeinerung, die dennoch nur für das theoretische Etwas geeignet sind. Generalisierung besagt gattungsmäßige Verallgemeinerung, wie z. B. Rot ist eine Farbe, Farbe ist eine sinnliche Qualität. Ferner ist die Generalisierung in ihrem Vollzug an ein bestimmtes Sachgebiet (Sachhaltiges) gebunden, weil Gattungen und Arten sachhaltig bestimmt sind. Im Gegensatz dazu ist die Formalisierung sachhaltig frei. Z. B. »Der Stein ist ein Gegenstand« und dann »etwas ist ein Gegenstand«. Dieses formalisierte Etwas kann von Allem und Jedem ausgesagt werden, und es ist nicht an die Sachhaltigkeit gebunden wie bei der Mathematik die Zahl Eins nicht aus dem »Wasgehalt« überhaupt generiert ist. Die Generalisierung ist eine bestimmte Stufenordnung, in der eine Einordnung bestimmter individueller Vereinzelungen in einen übergreifenden Sachzusammenhang erfolgt. Der formalisierte Gegenstand als Gegebenes und Erfasstes ist nicht an das bestimmte Was des zu bestimmenden Gegenstands gebunden und der ist insofern nicht sachhaltig. D. h. durch eine Formalisierung, z. B. Mathematisierung, hat ein Gegenstand (z. B. bloße Zahl) die Verbindung zur Sache selbst verloren. Heidegger geht davon aus, dass Generalisierung und Formalisierung beide also einstellungsmäßig sind und sie insofern nicht das ursprünglich vortheoretische Ur-etwas erfassen können, so dass sie nicht als die Grundmethode auf die Philosophie anzuwenden sind. Hingegen ist die formale Anzeige Heideggers phänomenologischer Ansatz, »das persönliche Er-leben in seinen vortheoretischen Vorgriffen und Rückgriffen anzuzeigen, ohne das Leben als lebendiges durch objektivierende Begriffe stillzustellen« 14. Die formale Struktur eines Phänomens kann Heidegger zufolge in den drei folgenden Sinnesrichtungen angezeigt werden: »Was ist Phänomenologie? Was ist Phänomen? Dies kann hier nur selbst formal angezeigt werden. – Jede Erfahrung – als Erfahren wie
Gadamer, Gesammelte Werke, Band 10, Hermeneutik im Rückblick, Heidegger im Rückblick, 1995 J. C. B. Mohr Siebeck, Tübingen. S. 17, S. 20. 14 Theodore Kisiel, »Die formale Anzeige: Die methodische Geheimwaffe des frühen Heideggers«. In: Heidegger – neu gelesen, hrsg. von Markus Happel, Verlag Königshausen und Neumann GmbH, Würzburg 1997, S. 25. 13
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Unterwegs zum Sein-lassen: Heideggers eigentümliche Fragestellung
als Erfahrenes kann »ins Phänomen genommen werden«, d. h. es kann gefragt werden: 1. nach dem ursprünglichen »Was«, das in ihm erfahren wird (Gehalt), 2. nach dem ursprünglichen »Wie«, in dem es erfahren wird (Bezug), 3. nach dem ursprünglichen »Wie«, in dem der Bezugssinn vollzogen wird (Vollzug).« 15
Diese drei Sinnesrichtungen (Gehalts-, Bezugs-, Vollzugssinn) 16 kann man aber nicht als drei nebeneinander-stehende Ebenen verstehen, sondern sie sind gleichzeitig ineinander hineingezogen. Das Phänomen entfaltet sich immer gleichzeitig als die Ganzheit dieser drei Sinnesrichtungen, wie Heidegger festgestellt hat: »›Phänomen‹ ist Sinnganzheit nach diesen drei Richtungen. ›Phänomenologie‹ ist Explikation dieser Sinnganzheit.« 17 Ur-etwas des Lebens ist ουσια als ein »Dies-da«, die einen formalen Gehalts-Sinn hat, und weil Leben immer Leben auf-etwas-hin, Sich-verhalten zu etwas oder besorgen um etwas ist, hat es auch einen Bezugs-Sinn; außerdem bedeutet Leben, immer weiter zu leben, sich im Lebensfluss zu halten, damit hat es auch einen VollzugsSinn. Aber sowohl Gehalts-Sinn als auch Bezugs-Sinn sind nicht in einem festgestellten Sinne des Vorhandenen, sondern er muss leer und damit offen sein können, 18 genauer gesagt: sein Vollzugs-Sinn muss dem Gehalts-Sinn vorausgehen. Das heißt dann »formal«, weil es inhaltlich unbestimmt ist und immer die Vollzugsrichtung bestimmt. 19
Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, Frühe Freiburger Vorlesung Wintersemester 1920/21, GA 60, S. 63. 16 Husserl hat dagegen nur den Vollzugssinn(Noesis) und den Gehaltssinn (Noema). Vgl. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Teil 1,Verlag von Max Niemeyer, Tübingen, 1913, S. 194 ff. 17 Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, Frühe Freiburger Vorlesung Wintersemester 1920/21, GA 60, S. 63. 18 Vgl: »Ein Phänomen muss so vorgegeben sein, dass sein Bezugssinn in der Schwebe gehalten wird. Man muss sich davor hüten, anzunehmen, sein Bezugssinn sei ursprünglich der theoretische. Der Bezug und Vollzug des Phänomens wird nicht im Voraus bestimmt, er wird in der Schwebe gehalten.«, Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, Frühe Freiburger Vorlesung Wintersemester 1920/21, GA 60, S. 63–64. 19 Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, S. 429: »Weil sie (die formale Anzeige) bei dieser Anzeige zwar ihrem Wesen nach je in eine Konkreti15
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ουσια als der formale Gehalts-Sinn des Ur-etwas
Warum dann noch »Anzeige«? Denn der formale-anzeigende Begriff »sagt nicht direkt aus, worauf er sich bezieht, er gibt nur eine Anzeige, einen Hinweis darauf, dass der Verstehende von diesem Begriffszusammenhang aufgefordert ist, eine Verwandlung seiner selbst in das Da-sein in ihm zu vollziehen.« 20 Anzeige ist im Unterschied zu wissenschaftlichem Begreifen, Erklären oder Definieren nur ein Hinweis oder »nur die Anweisung zu einer eigentümlichen Aufgabe« 21. Wenn die formale Anzeige als eine Logik eine Allgemeinheit, die Universalien befassen können muss, beinhaltet, dann geht sie nicht auf das »Alles«, sondern das »jedes«, wie Heidegger immer die Jemeinigkeit des Lebens betont. Aber der konkrete Inhalt des jeweiligen Lebens ist nicht das Anliegen seiner Phänomenologie. Etwas Allgemeines, dass die formale Anzeige ausgemacht hat, ist dann nämlich die ganze zeitliche Struktur der Existenz von Dasein, die in Sein und Zeit vornehmlich ausgezeichnet expliziert worden ist. Es ist gut, dies zu beachten, denn damit wird man das Projekt Heideggers in Sein und Zeit erheblich klarer verstehen. Hier möchte ich nur noch darauf hinweisen, dass durch neu erschienene Dokumente der Nachschriften von Oskar Becker zu Heideggers Aristoteles-Seminar vom Sommersemester 1921 und vom Wintersemester 1922/23 und auch andere Nachschriften zum Kriegsnotsemester 1919 (GA 56/57) von F. J. Brecht, Gerda Walther und Oskar Becker 22 deutlich gesehen werden kann, dass die phänomenologische Methode der »formalen Anzeige« sachlich von ihrem Thema, nämlich dem Ur-etwas oder der ουσια als »Dies-da« beansprucht und aufgefordert ist. »Ουσια: Der formale Gehalts-Sinn des λεγειν ist ein hDies- dai«, τοδε τι. Dieses τοδε τι ist χωριστον. d. h. es bedarf in der Aussage keiner on des einzelnen Daseins im Menschen hineinzeigen, diese aber nie in ihrem Gehalt schon mitbringen, sind sie formal anzeigend«. 20 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, S. 430. Vgl. auch Theodore Kisiel, »Die formale Anzeige als Schlüssel zu Heideggers Logik der philosophischen Begriffsbildung«, in: Heidegger und die Logik, herausgegeben von Alfred Denker und Holger Zaborowski, Editions Rodopi B.V., Amsterdam – New York, NY 2006, S. 58. 21 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, S. 425. 22 Diese Nachschriften zu GA 56/57 zeigen uns, dass die formale Anzeige daraus entstanden ist, dass vor-theoretische Ur-etwas, das weltet und sich er-eignet, beschreiben zu können, siehe: Theodore Kisiel, »Die formale Anzeige: Die methodische Geheimwaffe des frühen Heideggers«, in: Heidegger – neu gelesen, hrsg. von Markus Happel, Verlag Königshausen und Neumann GmbH, Würzburg 1997, S. 24–25.
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Unterwegs zum Sein-lassen: Heideggers eigentümliche Fragestellung
Stütze, wie das, was von einem anderen ausgesagt wird. In diesem Sinne ist es πρωτως (erstes) und απλως (einfaches).« 23 »Aber auch die formale Betrachtung können wir nur als »formal angezeigt« übernehmen. Vielleicht ist schon das »Etwas ist Etwas« nicht ursprünglich, sondern es liegt schon hier eine ganz bestimmte Auffassung (Vorgriff) vor.« 24
Daraus gewinnt man die Erkenntnis zu der ursprünglichen Entfaltung des Denkens Heideggers: Weil ουσια als vor-theoretisches Ur-etwas nur einen formalen Gehalts-Sinn hat, ist es möglich, es mit der phänomenologischen Methode der »formalen Anzeige« zu beschreiben. Darüber hinaus ist es schon bekannt, dass Heidegger ουσια sehr oft in »Anwesenheit« übersetzt. Dass dieses Verständnis zu ουσια auch eine sehr wichtige Rolle in der Entwicklung seines Denkens gespielt hat, indem es eine Verknüpfung von Sein zu Zeit hergestellt hat, ist auch durch Heideggers Brief an Richardson offenkundig geworden. Da schreibt er: »Mit dem Einblick in die αληθεια als Unverborgenheit wurde der Grundzug der ουσια, des Seins des Seienden erkannt: die Anwesenheit. […] Die beunruhigende, ständige wache Frage nach dem Sein als Anwesenheit (Gegenwart) entfaltete sich zur Frage nach dem Sein hinsichtlich seines Zeitcharakters.« 25 Das weist darauf hin, warum Heidegger auf der ersten Seite von Sein und Zeit behauptet, »die Interpretation der Zeit als des möglichen Horizontes eines jeden Seinsverständnis überhaupt sei ihr vorläufiges Ziel« 26. Das kann sich wohl dem verdanken, dass sich in der Übersetzung der »Anwesenheit« für ουσια eine ontologische Verknüpfung von Sein zu Zeit vor seinen Augen angedeutet hat. Der Anlass, aus dem Heidegger die Übersetzung der Anwesenheit für ουσια eingeführt hat, besteht in der oben gezeigten ersten Bestimmung zu ουσια bei Aristoteles, nämlich: »το τι ην ειναι«. Wenn man es wörtlich übersetzt, dann bedeutet es: das Sein von ›was es war‹, (The being of ›what it was‹) Heidegger hat diese wörtliche Heideggers Aristoteles-Seminare vom Sommersemester 1921 und vom Wintersemester 1922/23 (Nachschriften von Oskar Becker), in: Heidegger und Aristoteles, Heideggers Jahrbuch 3, Verlag Karl Alber, 2007, S. 17. 24 Ibid. S. 16. 25 Heideggers Brief an Richardson, in: William Richardson, Heidegger: Through Phenomenology to Thought. 4. edition, Fordham University Press, New York 2003, Vorwort, S. XIII. 26 Heidegger, SuZ, S. 1. 23
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ουσια als der formale Gehalts-Sinn des Ur-etwas
Bedeutung in Grundfragen der Philosophie. Ausgewählte »Probleme« der »Logik« (Freiburger Vorlesung Wintersemester 1937/38) deutlich hervorgehoben: »Das Wesen ist jenes, von woher das einzelne Ding, und zwar in dem, was es ist, seine Herkunft hat, wovon es abstammt. Deshalb kann das Wesen eines Dinges, d. h. des jeweiligen Einzelnen, auch als jenes gefaßt werden, ›was‹ das jeweilige Einzelne schon in gewissem Sinne ›war‹ (τί ή"ν), bevor es das Einzelne wurde, das es ›ist‹. Der Ausdruck für das Wesen lautet demgemäß: το τί ήν είναι.« 27
Das Wesen, nämlich die ουσια, ist dasjenige, das so ist, genau wie es schon war. Sie identifiziert sich mit seiner Herkunft, wovon sie abstammt. D. h. als sie noch in seiner Herkunft war, wird sie im Voraus stets gesichtet, aber im Sinne des Anblicks, des ειδος und nicht der gedachten Idee, die dem Allgemeinen und nicht dem Einzelding zukommt. 28 Damit ist der Zeitcharakter der ουσια zum Ausdruck gekommen: Sie ist das ständig Anwesende, das im Voraus Gesichtete. Ουσια ist dann einerseits das ständig Bleibende, auch andererseits das In-sich-stehen als Ent-stehendes. Ουσια ist, indem sie wird. Das Werden von ουσια ist nur ein Sich-Darstellen ihres Seins. Von daher sagt Heidegger mit Überzeugung in Einführung in die Metaphysik: »Wir haben für παρουσία den gemäßen deutschen Ausdruck in dem Wort An-wesen. Etwas west an. Es steht in sich und stellt sich so dar. Es ist. ›Sein‹ besagt im Grunde für die Griechen Anwesenheit«. 29 Die Anwesenheit der Ουσια weist darauf hin, dass Sein (der Ουσια) eine zeitliche Bewegung von Werden und In-sich-stehen impliziert. Aber ob Heideggers These, dass die Zeit der Horizont eines jeden Seinsverständnisses überhaupt sein kann, haltbar ist, oder ob die Zeit der einzige und hinreichende Horizont des Seinsverständnis überhaupt ist, wird als ein zentrales Thema im zweiten Teil dieser Arbeit weiter diskutiert werden.
Heidegger, Grundfragen der Philosophie. Ausgewählte »Probleme« der »Logik« (Freiburger Vorlesung Wintersemester 1937/38), GA 45, S. 58–59. 28 Vgl. Heidegger, Grundfragen der Philosophie. Ausgewählte »Probleme« der »Logik« (Freiburger Vorlesung Wintersemester 1937/38), GA 45, S. 60–62. 29 Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, S. 65; Ähliches wie auch: »Sein besagt für Griechen: die Ständigkeit in dem Doppelsinne: 1. das In-Sich-stehen als Ent-stehendes (φυσις); 2. als solches aber ständig, d. h. bleibend, Verweilen (ουσια)«, S. 68. 27
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Unterwegs zum Sein-lassen: Heideggers eigentümliche Fragestellung
2.3. Sein-lassen: Heideggers eigentümliche Fragstellung des Seins Oben haben wir gezeigt, wie Heidegger durch das Mitdenken mit Aristoteles seinen eigenen neuen Zugang zur Philosophie gefunden hat, einschließlich seines Verständnisses zu Philosophie überhaupt, seiner philosophischen Methode und seiner ersten wichtigsten philosophischen These. Nun möchten wir uns darauf konzentrieren, warum es gelten kann, dass Heidegger dort wieder neu angefängt, wo Aristoteles aufgehört hat. Damit lässt sich zeigen, inwiefern Heideggers Seinsfrage eigentümlich ist. Zur Aristoteles’ These, dass Sein oder Seiendes in mehrfacher Bedeutung ausgesagt wird, haben wir bislang seinen ganzen Umriss noch nicht in den Griff bekommen. Es ist noch sehr wichtig zu verstehen, was die Analogie der mannigfachen Bedeutung des Seienden bei Aristotles bedeutet. Aristoteles sagt im Buch IV der Metaphysik: »Das Seiende wird in mehrfacher Bedeutung ausgesagt, aber immer in Beziehung auf Eines und auf eine einzige Natur und nicht nach bloßer Namensgleichheit (Homonym), sondern wie alles, was gesund genannt wird, auf Gesundheit hin ausgesagt wird, indem es dieselbe erhält oder hervorbringt, oder ein Anzeichen derselben, oder sie aufzunehmen fähig ist.« 30
Daraus erkennen wir, dass Aristoteles letztlich die vierfache Bedeutung des Seienden in irgendeine Einheit zu bringen versucht. Gleichwohl diese vierfache Bedeutung des Seienden nicht aufeinander zurückzuführen oder ineinander überzugehen ist und innerhalb der Kategorien auch ontologische verschiedene Seinsweisen ausdrücken, deren Verschiedenheiten nicht zu verneinen sind, sind die verschiedenen Bedeutungen des Seienden auch einheitlich in dem Sinne, dass alle anderen Bedeutungen sich auf ουσια beziehen. Sehen wir uns diese Sachlage durch das von Aristoteles erwähnte Beispiel der Gesundheit etwas näher an. Wir sagen: Jemand hat ein gesundes Herz. Gesund meint hier den Charakter eines bestimmten Zustands des Leibes. Wir sagen ferner: Ein Heilkraut ist gesund, wobei wir nicht meinen, der Zustand der betreffenden Pflanze sei nicht krank, sondern das Heilkraut ist gesund, weil es in gewissen Fällen gesund macht. Wir sagen aber auch: Er hat eine gesunde GesichtsAristoteles, Metaphysik, 1003a33, Buch IV, Griechisch-Deutsch, hrsg. von Horst Seidl, Hamburg: Meiner, dritte, verbesserte Auflage 1991, Band 1, S. 123
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farbe. Hier ist nicht gemeint, dass die Gesichtsfarbe gesund und nicht krank sei – eine Farbe kann weder gesund noch krank sein – sondern gemeint ist, die Gesichtsfarbe ist Anzeichen des Gesundseins im ersten Sinne, als Leibzustand verstanden. Ferner sagen wir auch: Ein Spaziergang ist ganz gesund; hier ist wieder nicht gemeint, der Spaziergang sei ein Anzeichen von Gesundheit, und auch nicht, er mache gesund, sondern er ist gesund, sofern er zur Erholung und Förderung des Gesundseins beiträgt. Das Gesundsein wird in verschiedener Weise von Herz, Heilkraut, Gesichtsfarbe und Spaziergang ausgesagt, die in zweiter, dritter und vierter Stelle genannten Bedeutungen von Gesundheit je verschieden auf das Gesundsein im ersten Sinne bezogen sind. 31 D. h. diese vier verschiedenen Bedeutungen sind keine Homonyme, sie sind nicht zufälligerweise bloß namensgleich, sondern sie sind alle geleitet durch eine Natur der Gesundheit. Ähnlich ist die Mannigfachkeit der Bedeutung des Seienden auch durch die ουσια getragen und geleitet. Insofern sind sie einheitlich. Wie kann man dann diese Einheit charakterisieren? »Verschieden nennt man alles, was ein anderes ist, während es in einer Beziehung dasselbe ist, nur nicht der Zahl nach, sondern der Art oder der Gattung oder der Analogie nach.« 32
Zwar hat Aristoteles nicht unmittelbar auf die Frage geantwortet, aber aus dem vorliegenden Zitat können wir durch die Methode der Beseitigung schlussfolgern, dass diese Einheit analog ist. Zuerst ist es offenbar, dass diese vierfache Bedeutung nicht von der Zahl her bestimmt ist. Zweitens kann ουσια oder ον nicht als Gattung gelten. Grund: Gattung ist wesenhaft auf Arten bezogen und damit auf artbildende Unterschiede, es gibt keine Gattung an sich. Z. B. Lebewesen ist gedacht als eine Gattung und die Arten dieser Gattung sind Pflanze, Tier, Mensch. »Die verschiedenen Weisen des Seins, z. B. das Wahrsein und Möglichsein, können nicht als Arten oder Begriffe gefasst werden« 33
Vgl. Heidegger, Aristoteles, Metaphysik Theta 1–3, von Wesen und Wirklichkeit der Kraft. Freiburger Vorlesung Sommersemester 1931, GA 33, S. 39. 32 Aristoteles, Metaphysik, 1018 a 12f, Buch V, Griechisch-Deutsch, hrsg. von Horst Seidl, Hamburg: Meiner, dritte, verbesserte Auflage 1991, Band 1, S. 209. 33 Heidegger, Aristoteles. Metaphysik Theta 1–3, von Wesen und Wirklichkeit der Kraft. Freiburger Vorlesung Sommersemester 1931, GA 33, S. 37. 31
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In der Tat ist die Analogie für Aristoteles ein gewichtiges philosophisches Schema. Indem er sich auf sie beruft, bringt er eine entscheidende Kritik an der Idee des Guten an sich zustande. »Nicht also ist das Gute ein irgendwie Gemeinsames (gemäß einer) im Hinblick auf eine Idee. Doch in welcher Weise wird es denn also gesagt? Es gleicht nämlich nicht demjenigen, was nur zufällig namensgleich ist. Geschieht es vielleicht darum, weil sie von einem einzigen Gut stammen oder alle zu einem einzigen Guten beisteuern, oder müssen wir es vielmehr im Sinne der Analogie verstehen? Also etwa so: wie die Funktion des Auges im Leibe – so die des Geistes in der Seele und was dergleichen Analogien mehr sind.« 34
Aristoteles gewinnt mit seiner Frage nach der Einheit der Bedeutung des Seienden oder des Seins gegenüber Plato einen anderen Boden. Aristoteles hat in der Nikomachischen Ethik ganz klar eine Kritik an Platons Lehre von den Ideen ausgeübt: Es gibt keine Idee des Guten, besser: Das Gute ist nicht die höchste Idee, sondern »es kann über den genannten Erscheinungsformen von gut keine gemeinsame Idee geben. Das Gute wird genauso mannigfaltig verstanden werden wie das Sein« 35; es gilt laut Aristoteles von »Gut« im doppelten Sinn zu sprechen: »Gut an sich« und »Gut als Mittel zu diesem«. Der Begriff »Gut an sich« tritt bei allem Guten als ein und derselbe in Erscheinung, wie z. B. beim Schnee und bei der weißen Wand der Begriff des Weißsein. Allerdings ist »Gut an sich« nicht eine Idee, die von den Dingen unterteilt werden kann, sondern die Beziehung zwischen »Gut an sich« und »Gut als Mittel zu diesem« ist auf der analogen Weise. Damit ist es klar: Aristoteles besteht einerseits darauf, dass die verschiedenen Bedeutungen des Seienden verschieden bleiben sollen, und sich dahinter keine höchste Idee versteckt, die ihre Verschiedenheit verallgemeinern kann; andererseits hat er wieder ins Gedächtnis gerufen, dass seine Metaphysik letztendlich auf die ουσια abzielt, sowie die Lösung der analogen Einheit der verschiedenen Bedeutungen des Seienden in der ουσια als der leitenden Grundbedeutung davon (oder: die erste Bedeutung des Seins) besteht, nämlich insofern sie einheitlich sind, dass die anderen Bedeutungen sich auf die ουσια beziehen und von ουσια getragen und geleitet werden. Genau aus diesem Grund hat Aristoteles in Buch VII Kapitel 7 in Metaphysik über die Seinsfrage bei seiner Metaphysik-Untersuchung so deutlich 34 35
Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1096b, 25 ff. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1096a, 23 ff.
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behauptet: »die Frage, welche von alters her so gut wie jetzt und immer aufgeworfen und Gegenstand des Zweifels ist, die Frage, was das Seiende (Sein) ist, bedeutet nichts anderes als was die ουσια ist.« 36 Für Aristoteles ist ουσια nicht nur der einzig leitende Zugang zur Seinsfrage, sondern die Frage der ουσια an sich ist nichts anderes als die Seinsfrage selbst. Mit anderem Wort, ουσια ist schon die hinreichende Lösung für das Ganze der Seinsfrage. Aber Heidegger ist mit dieser Lösung gar nicht zufrieden. Er sagt: »Die Analogie des Seins – diese Bestimmung ist keine Lösung der Seinsfrage, ja nicht einmal eine wirkliche Ausarbeitung der Fragestellung, sondern der Teil für die härteste Aporie, Ausweglosigkeit, in der das antike Philosophieren und damit alles nachfolgende bis heute eingemauert ist« 37. Der Hauptgrund dafür liegt eventuell daran, dass Heidegger hier heimlich seine eigene ontologische Differenz (Sein überhaupt ist kein Seiendes) ins Spiel bringt, was aber bei Aristoteles original nicht der Fall ist. 38 Und er ist enttäuscht davon, dass Aristoteles an der Schwelle zum Sein angekommen, sie aber letztlich wieder verlassen hat und dann auch nur nach dem Seienden gefragt hat. Wie oben schon angezeigt wurde, verwirklicht Aristoteles die Frage nach »Seienden als solchen« eigentlich durch die Frage nach dem ersten Seienden, nämlich nach ουσια, und gar nicht durch eine häufig missverstandene Frage nach der Allgemeinheit des Seienden oder der Ganzheit aller Seienden. 39 Ansonsten wäre unerklärbar, warum Aristoteles später in Metaphysik nur noch die vier Arten Aristoteles, Metaphysik, 1028b, 1–4., Griechisch-Deutsch, hrsg. von Horst Seidl, Hamburg: Meiner, dritte, verbesserte Auflage 1991, Buch 2, S. 7. 37 Heidegger, Aristoteles. Metaphysik Theta 1–3, von Wesen und Wirklichkeit der Kraft. Freiburger Vorlesung Sommersemester 1931, GA 33, S. 46. 38 Horst Seidl hat in seinem Aufsatz Zur Seinsfrage bei Aristoteles und Heidegger gemeint, dass es bei Aristoteles auch ontologische Differenz gibt, sogar als eine zweifache: 1.) zwischen dem Seiendem und seinem immanenten Seinsakt; 2.) zwischen dem immanenten Sein des Seienden und dem transzendenten Sein selbst, dem erfragten Prinzip. Siehe: Horst Seidl, »Zur Seinsfrage bei Aristoteles und Heidegger«, in: Zeitschrift für Philosophische Forschung, Apr 1, 1976; 30, 2; S. 213. 39 Horst Seidl hat in seinem Aufsatz Zur Seinsfrage bei Aristoteles und Heidegger zu diesem Problem auf eine ganz neue und bemerkenswerte Lesung verwiesen: »Vom hSeienden als solcheni ausgehend fragt die aristotelische Metaphysik auf »die ersten Ursachen des Seienden als solchen« zurück, nach denen schon die Früheren gesucht haben. Das Seiende als solches ist hiernach nicht das Gefragte, worauf sich die metaphysische Frage richtet, sondern der Ausgangspunkt, von dem aus sie erst in Gang kommt. Die Metaphysik fragt nach dem Sein im Sinne von Ursache, Prinzip. Das 36
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von Ursachen untersucht und nach der höchsten ουσια, dem Unbewegten Beweger, nämlich dem Gott gefragt hat. In der Tat hat Aristoteles am Anfang des Buches VI in Metaphysik ganz klar gesagt, dass sein Thema die Prinzipien und Ursachen des Seienden sind: »Die Prinzipien und Ursachen des Seienden, und zwar insofern es Seiendes ist, sind der Gegenstand der Untersuchung.« 40 Aber Heidegger denkt nicht wirklich so, er ist vielmehr der Ansicht, dass das »Seiende als solches« eine Andeutung des Seins Selbst sei und die analoge Einheit die Frage nach Sein sei. »ον η ον, das Sein selbst schon angedeutet. Dieses ist in einer Mehrfältigkeit von Seinsweisen. Einheit: τροσ εν, Analogie. Das analoge Bedeuten von Sein = Frage nach Sein überhaupt. Das Problem dieser Analogie ist das Zentralproblem, um zum Sein überhaupt vorzudringen.« 41 Man kann davon ausgehen, dass Heidegger die These Parmenides’ »Sein ist das Eine« (to on to hen) in die analoge Einheit des Seienden bei Aristoteles eingeführt hat, was sich aber eigentlich widersprechen würde. Heidegger schreibt in Kapitel 4 »Vielfältigkeit und Einheit des Seins« in der Freiburger Vorlesung Sommersemester 1931 über Aristoteles’ Metaphysik: »Nach dem Gesagten verkennt und verleugnet also Aristoteles die erste entscheidende Wahrheit der Philosophie, wie Parmenides sie ausgesprochen hat (Sein ist das Eine)? Nein -: er gibt sie nicht auf, sondern ergreift sie erst eigentlich.« 42 Heidegger versucht hier den Widerspruch zwischen Aristoteles zu überwinden und die analoge Einheit auf parmenidesche Weise neu zu verstehen. Aber Aristoteles hat tatsächlich in Physik bezüglich der Vielfältigkeit und Einheit des Seins Parmenides kritisiert, dass »es unmöglich ist, dass das Seiende der Art nach eines sei« 43. Warum Heidegger hier ursächliche Fragen nach Prinzipien hat sie mit den übrigen Wissenschaften gemein.«, in: Zeitschrift für Philosophische Forschung, Apr 1, 1976; 30, 2; S. 211. 40 Aristoteles, Metaphysik, 1025b1, Buch VI, Griechisch-Deutsch, hrsg. von Horst Seidl, Hamburg: Meiner, dritte, verbesserte Auflage 1991, Band 1, S. 249 41 Heidegger, Die Grundbegriffe der Antiken Philosophie, Marburger Vorlesung Sommersemester 1926, GA 22, S. 154. 42 Heidegger, Aristoteles. Metaphysik Theta 1–3, von Wesen und Wirklichkeit der Kraft. Freiburger Vorlesung Sommersemester 1931, GA 33, S. 27. 43 Aristoteles, Physikvorlesung, 186a 22–34, Aristoteles Werke in deutsche Übersetzung, Band 11, übersetzt von Hans Wagner, Akademie Verlag, Berlin, 1967, S. 10: »Und schließlich ist auch dies unmöglich, dass das Seiende der Art nach eines sei; möglich ist höchstens eine Einheit alles Seienden hinsichtlich des Grundstoffs, aus dem es besteht, – diese letztere Einheit hat tatsächlich auch unter den Naturphilosophen Vertreter gefunden, jene (Einheit alles Seienden der Art nach) jedoch nicht –.
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erstaunlicherweise gar keinen Widerspruch gesehen hat 44, beglückt sich daher, dass er genau nach dem Einen suchen möchte, das sich im Vielfältigen geltend macht. Und dieses Eine ist dann genau das Sein, wonach er im Denken immer unterwegs ist. Wenn Heidegger sagt: »Mein Brentano ist der des Aristoteles!« 45, kann man hier ferner sagen, »Heideggers Aristoteles ist der des Parmenides!« Sehen wir uns die Dinge noch einmal näher an. Erstens: Heidegger geht über Aristoteles hinaus und sucht nach einem Einen, das eigentlich die verschiedenen Bedeutungen des Seienden leitet und auch verallgemeinert. Zweitens: Dieses Eins ist dann Sein, und »Sein ist das allgemeinste« 46, aber gar nicht im Sinne der Gattung. Es ist allgemeinstes, weil es sich im allen Vielfältigen geltend macht. Drittens: Das Sein ist kein Seiendes, es ist zwar seiend, aber nicht Seiendes. Viertes: »Was Seiendes zu Seiendem macht, ist das Sein.« 47 Und Sein macht dann jedes Seiende jeweilig. Um die vorliegenden Punkte zu verstehen, müssen wir zuerst die Verwendung des Seins bei Heidegger verstehen: »Wir sagen: ›Gott ist‹. ›Die Erde ist‹. ›Der Vortrag ist im Hörsaal‹. ›Dieser Mann ist aus dem Schwäbischen‹. ›Der Becher ist aus Silber‹. ›Der Bauer ist aufs Feld‹. ›Das Buch ist mir‹. ›Er ist des Todes‹. ›Rot ist backbord‹. ›In Russland ist Hungersnot‹. ›Der Feind ist auf dem Rückzug‹. ›In den Wein-bergen ist die Reblaus‹. ›Der Hund ist im Garten‹. ›Über allen Gipfeln / ist Ruh‹.« 48
Alle solche Sätze haben ihren eigenen Sinn, weil sie verständlich sind. Und es ist bei Heidegger ganz wichtig zu beachten, dass jedes »ist« in Ausdruck »A ist« oder als Kopula in Ausdruck »A ist B« oder »A ist so und so …« mit dem Sein identisch ist, oder genauer gesagt, dass das Mensch und Pferd sowie die Glied aller Gegensätze sind gegeneinander artverschieden. Für Parmenides, die Falschheit (des Ansatzes) liegt in seiner Annahme, der Terminus »seiend« sei eindeutig, während er in Wahrheit doch vieldeutig ist.« 44 Das hat Jean-Francois Conrtine auch angedeutet, siehe: Zwischen Wiederholung und Destruktion- die Frage nach der analogia entis, in: Heidegger und Aristoteles, Heideggers- Jahrbuch 3, Verlag Karl Alber, 2007, S. 128. 45 Vgl. Heidegger, Seminare, GA 15, S. 385–386. 46 Heidegger, SuZ, S. 3. 47 Heidegger, Aristoteles. Metaphysik Theta 1–3, von Wesen und Wirklichkeit der Kraft. Freiburger Vorlesung Sommersemester 1931, GA 33, S. 14. 48 Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, S. 95.
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in all diesen Ausdrücken sich verkörpernde »sein« mit dem Sein identisch ist. Wie Heidegger in der Analyse von Kants These »Sein ist kein reales Prädikat« behauptet hat: »›Sein‹ und ›ist‹ gehören mit all ihren Bedeutungen und Abwandlungen in einen eigenen Bereich«. 49 Er geht davon aus, dass Seiendes alles ist, was »ist«. Das »ist« hat in jedem obigen verschiedenen Satz einen verschiedenen Sinn, aber sie alle deuten auf das »Einfache des Mannigfachen im Sein« hin. Das Sein als das Einfache in jedem Satz ist kein Vorhandenes, also es ist nichts Dinghaftes oder Gegenständliches zu finden. Eigentlich ist es leer, es hat keine Bedeutung an sich, und es muss verstanden werden mit dem Bezug zum Seienden. »Nur weil das ›Ist‹ an sich unbestimmt und in seiner Bedeutung leer bleibt, kann es zu so vielfältiger Verwendung bereitliegen und sich ›je nach dem‹ erfüllen und bestimmen.« 50 Diese Leere ist so positiv, dass sie alles in sich schließen kann und jedes Einzelne zum jemeinigen Einzelnen machen kann. Genau in diesem Sinne sagt Heidegger: »Das Sein ist das Leerste und zugleich der Überfluss« 51 und »Das Sein ist das Gemeinste und zugleich das Einzige« 52. Was hält Aristoteles aber von dem Sein überhaupt? In Peri hermeneias hat Aristoteles ausdrücklich seinen Gedanken darüber geäußert: »Auch das Sein oder Nichtsein ist kein bedeutungshaltiges Zeichen der Sache [von der es gesagt wird], auch dann nicht, wenn man das »seiend« an sich selbst nackt sagen würde, denn es selbst ist gar nichts, sondern bezeichnet eine gewisse Verbindung [zu etwas] hinzu, welche ohne das Verbundene nicht zu denken ist.« 53
Ähliche wie Heidegger denkt Aristoteles, dass das Sein kein »seiendes« an sich selbst hat. Aber ganz anderes als Heidegger denkt Aristoteles, dass das Sein nur als die bloße Kopula, also ein Funktionswort, das eine Verbindung von Subjekt zu Prädikat aufstellt, zu verstehen ist. Das Sein für Aristoteles hat nur eine Verbindungsfunktion im Urteil. Indem diese Verbindung mit der Tatsache übereinHeidegger, Kants These über das Sein, in: GA 9, S. 452. Heideggers dieses Auffasung der Identität von dem Sein und all »ist« im Ausdruck »A ist« oder »A ist B« ist völlig anderes wie bei Wittgenstein, siehe Kapitel 1.1 50 Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, S. 97. 51 Heidegger, Grundbegriffe, GA 51, S. 49. 52 Heidegger, Grundbegriffe, GA 51, S. 50. 53 Aristoteles, Peri hermeneias 3. 16 b, 20–25 49
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Sein-lassen: Heideggers eigentümliche Fragstellung des Seins
stimmt oder nicht, kann ein ein Urteil wahr oder nicht wahr sein. Das Sein ist zwar eine Voraussetzung für die Wahrheit und Unwahrheit. Aber das Sein als Kopula, ein »Verhältniselement« oder »Strukturmoment« an sich hat keine Bedeutung und ist daher ohne Bezug auf das Verbundene »gar nicht zu denken«. Kann das Sein überhaupt nur als eine bloße Kopula im Urteil verstanden werden? Die Antwort von Heidegger ist sicherlich: »nein«. Dazu hat Heidegger eine wesentliche Inspiration von seinem phänomenologischen Lehrer Husserl erhalten. Husserl hat in der sechsten »Logischen Untersuchung« das Sein in zwei verschiedene Sinne auseinandergehalten: das Sein als »objektiver erster Sinn von Wahrheit« und das Sein als »Kopula der affirmativen kategorischen Aussage«. Husserl analysiert in der Untersuchung »Evidenz und Wahrheit« vier Bedetungen des phänomenologischen Begriffs der Wahrheit: 1) Wahrheit als das Korrelat der adäquaten Wahrnehmung, nämlich der vollen in der Evidenz erlebten Übereinstimmung zwischen Gemeintem und Gegebenem; 2) Wahrheit als die Aktstruktur der Evidenz selbst, also diese deckende Identifizieung, mit Husserls Wort, die Idee der absoluten Adäquation; 3) Wahrheit als das Wahre, nämlich der gegebene Gegenstand, den wir in der Evidenz erleben; 4) Wahrheit als Richtigkeit der Intention, insbesondere z. B. Urteilsrichtigkeit. Husserl definiert beim dritten Wahrheitsbegriff den wahren Gegenstand als »das Sein«: »Auch dieser [Gegenstand] kann als das Sein, die Wahrheit, das Wahre bezeichnet werden, und zwar insofern, als er hier nicht so wie in der bloßen adäquaten Wahrnehmung, sondern als ideale Fülle für eine Intention, als wahr-machender erlebt ist.« 54 Das Wahre hier kann auch verstanden werden im Sinne des seienden Gegenstandes, der als originär Angeschautes der Identifikation Boden und Recht gibt. Er ist nicht nur in der originären Anschauung gegeben, d. h. er ist an sich wahr, sondern auch wahr-machend, er macht den Wahrheitsbegriff der Identifizierung möglich. Das Sein im Sinne eines evidenten und wahren Gegenstandes ist nicht mit dem »ist« im Sinne der bloßen Kopula zu verwechseln. Wir können uns das an einer Wahrnehmung der vollzogenen Dingaussage veranschaulichen: »Der Stuhl ist gelb«. Der ausgesagte Gehalt dieser Aussage ist das Gelbsein des Stuhls. Wenn wir das Sein im Husserl, Logische Untersuchungen, VI. Evidenz und Wahrheit, in: Hua 19/2, S. 652.
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Sinne der Wahrheit herausholen wollen, sollen wir das Sein im GelbSein unterstreichen, und damit meinen wir: der Stuhl ist wirklich gelb, er ist wahrhaft, das Gelb-Sein besteht in der Identität zwischen Vermeintem und Angeschautem. Sein bedeutet hier soviel wie Bestand des Wahrverhaltens. Wir können aber auch den Akzent auf Gelb im Gelb-Sein legen, und damit meinen wir: Dass Gelb-Sein als ein Prädikat zum Subjekt Stuhl zukommt. Der Ausdruck »der Stuhl ist gelb« nun ist ein Exemplar für die Urteilsform: S ist P. Gelb-Sein bedeutet hier eine Eigenschaft von der Materie des intentionalen Gegenstandes Stuhl. Mit diesem zweiten Begriff des Seins von Kopula ist nur ein Strukturmoment oder »Verhältnisfaktor des Sachverhaltes als solchen« 55 gemeint. Falls das Zukommen des Gelb-Seins zum Subjekt Stuhl misslingt, dann kann diese von Sein als Kopula hergestellte Verbindung nicht gelten, d. h. der Stuhl ist nicht gelb. Es geht um im zweiten Begriff des Seins von Kopula »zumeist partielle Identifizierungen«, hingegen im ersten Begriff des Sein von Wahrheit immer um »totale Deckung« 56, denn der evidente Gegenstand in seiner Selbstgegebenheit ist immer wahr, d. h. er hat nur sein Sein, und Nicht-Sein hat nichts zu tun mit ihm. Außerdem betont Husserl durch die Unterscheidung von sinnlicher und kategorialer Anschauungen auch, dass man zwar nur die Farbe Gelb in der Wahrnehmung sehen kann, und nicht das Gelb-Sein. Aber nicht nur der Bedeutungsteil Geld im Urteil »der Stuhl ist gelb« ist in der Erfüllung gegeben, sondern das Ganze: der Stuhl ist gelb. D. h. der Ursprung des Seins liegt auch »in den Urteilserfüllungen selbst«, statt in der Reflexion auf Urteil. 57 Das Sein ist »direkt« erfahrbar in dem gestuften Akt, nämlich der kategorialen Anschauung. Die Herausarbeitung dieser zweifältigen Begriffe von Sein bei Husserl hat uns aufgezeigt, dass sich tatsächlich ein grundlegendes ontologisches Seinsproblem im phänomenologischen Sinne im Urteil »S ist P« versteckt. Es ist verschlungen mit dem Sein als Kopula. Im Ausdruck »Heidegger ist ein Philosoph« geht es nicht nur um eine Verbindung von Subjekt und Prädikat, sondern vielmehr auch um eine Unverborgenheit des Seins Heideggers; es wird nämlich Heideg-
Vgl. Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, GA 20, S. 71 f. Husserl, Logische Untersuchungen, VI. Evidenz und Wahrheit, in: Hua 19/2, S. 653. 57 Husserl, Logische Untersuchungen, VI. Sinnliche und Kategoriale Anschauung, in: Hua 19/2, S. 669 f. 55 56
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gers Philosoph-Sein aufgedeckt. Diese neue Entdeckung ist so bedeutend für Heidegger, dass er die Seinsfrage durch diese phänomenlogische Haltung auf eine neue und eigentümliche Weise in seine eigene ontologische Phänomenologie weiterführen darf. Diese wesentliche Wende bekundet sich in Heideggers Selbstbeschreibung seines Denkwegs in Mein Weg in die Phänomenologie (1963): »So wurde ich auf den Weg der Seinsfrage gebracht, erleuchtet durch die phänomenologische Haltung, erneut und anders als zuvor durch die Fragen beunruhigt, die von Brentanos Dissertation ausgingen. […] Der hier [in den Logischen Untersuchungen] herausgearbeitete Unterschied zwischen sinnlicher und kategorialer Anschauung enthüllte sich mir in seiner Tragweite für die Bestimmung der ›mannigfachen Bedeutung des Seienden‹« 58.
Das Sein als die leere Kopula zu denken ist bei Aristoteles durchaus negativ. Ihre positive Seite oder sozusagen ihre notwendige Hindeutung aufs Sein selbst im ontologischen Sinne, die Heidegger durch Husserl entdeckt hat, ist bei Aristoteles total verborgen. Mittels Husserl ist Heidegger überzeugt, dass man die Seinsfrage nicht nur als eine bloße Kopula, also ein von dem Bezug zu dem Verbundenen abhängiges Funktionswort, sondern auch als ein ontologisches zentrales Thema im Sinne der einfachen Bestimmung der »mannigfachen Bedeutung des Seienden« über Aristoteles hinaus weiter untersuchen kann. Husserl ist zwar sehr nah an diese eigentliche Seinsfrage gekommen, aber er »konnte in der damaligen philosophischen Atmosphäre nicht durchhalten« 59. Denn er kehrt nach den Logischen Untersuchungen, insbesondere in Ideen 1, in eine kantische »transzendentale Phänomenologie« zurück, deren Grundprinzipien auf der transzendentalen Subjektivität basieren, und daher verpasst und versäumt er wieder die echte Seinsfrage. Heidegger versucht hingegen, die Verschlungenheit von dem Sein als Wahrheitsbegriff und Sein als Kopula »ist« auf Aristoteles’ ontologische Frage nach der Einheit der mannigfachen Bedeutung des Seienden anzuwenden. Er hat nun geHeidegger, Mein Weg in die Phänomenologie, in: GA 14, S. 98 ff. Heidegger beurteilt Husserls neue Entdeckung der Seinsfrage einmal in Protokoll zu einem Seminar über »Zeit und Sein« wie folgt: »Husserl selbst, der in den ›Logischen Untersuchung‹ – vor allem in der VI. – nah an die eigentliche Seinsfrage kam, konnte es in der damaligen philosophischen Atmosphäre nicht durchhalten.«, in: GA 14, S. 53. In Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs behauptet Heidegger sogar, dass Husserls Phänomenologie sogar die Seinsfrage versäumt hat, siehe Kapitel 5.2.
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nug Grund dafür, nicht mehr nach dem ersten Seienden (ουσια) wie bei Aristoteles zu fragen, sondern nach dem einfachen und allgemeinen »Sein« überhaupt, welches sich selbst in jedem »Ist«-Satz verkörpert. Das Sein überhaupt ist nun für jedes Seiende und die Identifikation der Seienden: das ursprünglich »Wahr-machende«. Damit konnte Heidegger seinen Denkweg so zusammenfassen, dass Aristoteles zwar sein Vorbild sei, aber erst Husserl ihm Augen eingesetzt habe. 60 Mit dieser Rechtsquelle der Gewinnung des neuen ontologischen Seinsbegriffs von Husserl können wir jetzt versuchen, die oberen vier Punkte, die das Verhältnis von Sein überhaupt zum Seienden betreffen, zu erklären: Erstens und Zweitens: Weil jedes Seiende irgendwie »ist« (sein), aber nicht unterteilt oder unterordnet von einer höchsten Gattung ist, sondern einfach »ist« oder sozusagen, weil jedes Seiende »dasSein-haben« kann, ist das Sein das allgemeinste. Und dadurch, dass jedes Seiende ist, das das Sein als »das Eine« in sich hat, ist die Bedeutung jedes Seienden von Sein geleitet. Drittens: Weil Sein an sich leer ist und nirgendwo als konkretes Vorhandenes zu finden ist, ist das Sein nicht, sondern es gibt Sein. Viertens: Es muss das Sein geben, damit Seiendes »ist« (sein) kann, nämlich als Seiendes sein kann. So im Ganzen verstandenes Sein ist aber nur als Lassen zu verstehen möglich. Es findet sich an jedem Seienden und lässt alles Seiende in sein jeweiliges Sein eintreten. Es ist an sich nur ein bloßes Lassen, am leersten aber zugleich der Überfluss, indem es selbst nicht ist, aber jedes Seiende sein lassen kann; auch am gemeinsten aber zugleich das Einzige, indem es jedes Seiende sein lässt und sich als Eines bleibt. Das Sein ist jedes Mal in allem Seienden das durchgängig allem Gemeine und so das Gemeinste. Zugleich aber ist es und ist nur es als Nicht-Seiendes, also als Lassen, das Einzige. In den folgenden zwei Zitaten wird Lassen als die tiefste Bestimmung im Sinne von Heideggers Sein zum Ausdruck gebracht: »Es kommt hierbei darauf an, zu verstehen, dass der tiefste Sinn von Sein das Lassen ist. Das Seiende sein-lassen. Das ist der nicht-kausale Sinn von ›Lassen‹ in ›Zeit und Sein‹. Dies ›Lassen‹ ist etwas von Heidegger, »Begleiter im Suchen war der junge Luther und Vorbild Aristoteles, den jener haßte. Stöße gab Kierkegaard, und die Augen hat mir Husserl eingesetzt.«, Vorwort von Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), GA 63, S. 5.
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Sein-lassen: Heideggers eigentümliche Fragstellung des Seins
›Machen‹ grundlegend Verschiedenes. Der Text ›Zeit und Sein‹ unternimmt den Versuch, dies ›Lassen‹ noch ursprünglicher als ›Geben‹ zu denken.« 61 »Lassen bedeutet dabei, freigeben ins Offene. […] Lassen bedeutet dann: zulassen, geben, reichen, schicken, gehören-lassen. Das Anwesen wird in diesem und durch dieses Lassen in das zugelassen, wohin es gehört.« 62
Das Sein ist das Gemeinste und zugleich das Einzige. Es ist kein Seiendes, aber es ist das ursprünglich seiend-Machende, wahr-Machende. Es macht das Sein von jedem Seienden möglich. Es gibt dem Seienden sein Wesen, dadurch, dass es das Seiende ins Offene freigibt. Mit einem Wort, das Sein lässt das Seiende und das Anwesen in das Zu, wohin es gehört. Lassen ist deswegen die letztendliche Beschreibung von Heidegger über die Bestimmung des Seins überhaupt hinsichtlich der Einheit der mannigfachen Bedeutung des Seienden. Es ist auch zu beachten, dass das Lassen weder eine Konstitutionsleistung der menschlichen Subjektivität, noch einen Akt des transzendent Seienden, z. B. Gott bedeutet. Das Lassen ist vielmehr das Sichereignen des Seins selbst. 63 Es ist kein Akt von einem anderen Subjekt, welches dem Lassen selbst vorgeht und dieses Lassen als einen Vorgang vollzieht. Es ist eigentlich das ursprüngliche unpersonale »Subjekt« als Seiend-Machende und dessen Kraft selbst, welche alle Verbindung zwischen Subjekten und Prädikaten ermöglicht. Wenn man nun zusammenfassend auf Heideggers Ausgangspunkt von Aristoteles zurückblickt, findet man, dass Heideggers Seinsfrage im Vergleich zu Aristoteles vornehmlich bei zwei Aspekten eigentümlich ist: 1.) Aristoteles zielt auf ein leitendes Seiendes (ουσια) ab, und ferner hat er durch die Bezugnahme auf dieses leitende Seiende die Analogie der mannigfachen Bedeutung des Seienden herausgearbeitet; Heidegger zielt hingegen auf das allgemeinste Eine ab, das das Seiende als solches befassen kann, und das Eine ist gedacht als das Sein, das ontologisch absolut differenziert von dem Seienden ist.
Heidegger, Seminare, Seminar in Le Thor 1969, GA 15, S. 363. Heidegger, »Protokoll zu einem Senimar über ›Zeit und Sein‹«, in: GA 14, S. 46. 63 Siehe Heidegger, »Der Satz der Identität«, in: Identität und Differenz, GA 11, S. 48: »Sein gehört mit dem Denken in eine Identität, deren Wesen aus jenem Zusammengehörenlassen stammt, das wir das Ereignis nennen«. 61 62
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Unterwegs zum Sein-lassen: Heideggers eigentümliche Fragestellung
2.) Aristoteles denkt über die Seienden hinsichtlich der Kategorien nach und hat aufgehört von einer möglichen ontologischen Bedeutung des Seins überhaupt zu sprechen, weil das Sein als Kopula an sich nicht zu denken ist; Heidegger dagegen fängt genau da an und denkt das Sein und das in der Kopula sich verkörpernde »ist« (sein) als identisch; letztlich hat er Lassen als den tiefsten Sinn von Sein herausgefunden. Darüber, von welcher Bedeutung für die Philosophie Heideggers neue Entdeckung ist, lässt sich noch nachdenken.
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3. Sein als das Ganze
3.1. Das Ganze und die Welt: Metaphysik und Phänomenologie 3.1.1. Das Problem des Ganzen in der Metaphysik und seine Verwandlung in der Phänomenologie Indem Aristoteles durch das leitende Seiende (ουσια) nach den Ursachen von Seiendem fragt, führen seine metaphysischen Untersuchungen zunächst zu vier immanenten Prinzipien in den Dingen, nämlich Stoff-, Form-, Bewegungs- und Zweckursache, die das potentiale und aktuelle Sein des Seienden (genauer: sein Sosein) konstituieren; und letztendlich zu der höchsten ουσια führen, der in sich vollkommen verwirklichten reinen Form, nämlich Gott. Gott ist bei Aristoteles die erste Ursache aller Dinge, aber eben nicht der Schöpfer aller Dinge wie im Kreationismus. Es ist insbesondere nicht der Fall, dass Gott bei Aristoteles wie im Judentum und Christentum alle Dinge aus dem Nichts erschafft. Denn es würde für ihn einen Widerspruch darstellen, wenn etwas aus Nichts entstehen würde. Dass nämlich »nichts aus Nicht-Seiendem entstehe, sondern alles aus Seiendem«, ist laut Aristoteles eine gemeinsame Lehre aller Naturphilosophen. 1 Es gibt laut Aristoteles insgesamt drei Arten der ουσια: Erstens das sinnlich Wahrnehmbare; von diesem ist das eine vergänglich, z. B. die Pflanzen und die Lebenswesen, das andere ewig, z. B. der Himmel und die Sterne. Zweitens das Unbewegliche. 2 Die ersten zwei Arten der ουσια sind natürlich und sinnlich, sie bleiben beide in ewiger Bewegung (die Pflanzen und Lebewesen sind zwar vergänglich, aber sie können durch Fortpflanzung ihre Formen in die nächste Generation 1 Aristoteles, Metaphysik, 1062b, Buch XI, Griechisch-Deutsch, hrsg. von Horst Seidl, Hamburg: Meiner, dritte, verbesserte Auflage 1991, Band 2, S. 197. 2 Siehe ebd., 1069a30–1069b2, 1071b2–5, Buch XII, Band 2, S. 235, S. 249.
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Sein als das Ganze
weitergeben. Damit können sie auch im Sinne der Art in ewiger Bewegung bleiben.). Die dritte Art der ουσια ist dann die erste Ursache der ewigen Bewegung und ihr Wesen muss nur Wirklichkeit sein können. Diese höchste ουσια ist das Unbewegliche und Bewegungmachende. Sie ist Gott. Gott bedeutet bei Aristoteles die Einheit der ewigen Wirklichkeit, der reinen Form und des unbeweglichen Bewegenden. Sein Argument dafür, dass es eine solche höchste ουσια Gott ontologisch geben muss, ist folgendes: 1.) Notwendigkeit der ewigen Wirklichkeit: a.) Weil es die ewige Bewegung gibt, muss es etwas in Wirklichkeit geben. b.) Wenn dieses Etwas in Wirklichkeit sich befände, aber sein Wesen bloßes Vermögen wäre, würde auch keine ewige Bewegung stattfinden. Denn was dem Vermögen nach ist, kann möglicherweise auch nicht sein. Also muss das Wesen von diesem Etwas Wirklichkeit sein. 3 2.) Notwendigkeit der reinen Form: a.) Der Stoff kann sich selbst nicht in Bewegung setzen, nur die Form eines Dinges kann die Bewegung hervorbringen und bestimmen. Eine Zygote als Stoff kann sich selbst nicht bewegen, sondern es muss immer dessen Form als Mensch zugrunde liegen. Etwas kann nur bewegen, wenn eine Ursache schon in wirklicher Tätigkeit vorhanden war. Deswegen geht Wirklichkeit als Form dem Stoff als dem Vermögen vorher. b.) Wenn dieses Wesen die ewige Wirklichkeit ist, kann es dann nur reine Form ohne Stoff sein. Und es muss dieses Wesen geben, weil es eine höchste Form-Ursache als immer-schon-vorhandene Wirklichkeit geben muss. 4 3.) Notwendigkeit des ersten unbeweglichen Bewegenden: a.) Unter den Veränderungen ist zuerst die Ortsbewegung und unter ihr die Kreisbewegung; diese Kreisbewegung aber wird von jenem ersten Bewegenden hervorgebracht. b.) Wenn dieses Bewegende dem Wesen nach in der ewigen Wirklichkeit existiert, dann muss es, ohne bewegt zu werden, selbst bewegen. 5 Es hat sich erwiesen, dass Gott als die Einheit der ewigen Wirklichkeit, der reinen Form und des unbeweglichen Bewegenden in Aristoteles’ Metaphysik notwendig vorkommen muss. Gott ist nicht nur 3 4 5
Siehe ebd., 1071b, Buch XII, Band 2, S. 249. Siehe ebd., 1071b-1072b, Band 2, S. 249–255. Siehe ebd., 1072b-1073a35, Band 2, S. 255–259.
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Das Ganze und die Welt: Metaphysik und Phänomenologie
eine spezifische ουσια, sondern als die erste und höchste ουσια notwendigerweise das ontologische Ende. Er bringt die Metaphysik zustande. Wenn Aristoteles’ Metaphysik nach dem Seienden als solchem sucht, und zwar nach den Prinzipien und Ursachen der Seienden, dann heißt das, dass sie zugleich auch nach Gott fragt. Deswegen hat Aristoteles behauptet: »[G]ibt es aber ein unbewegliches Wesen, so ist dieses das frühere und die es behandelnde Philosophie die erste und eine allgemeine, insofern sie die erste ist, und ihr würde es zukommen, das Seiende, insofern es Seiendes ist, zu betrachten, sowohl sein Was als auch das ihm als Seiendem Zukommende.« 6 In dieser Behauptung, dass Theologie (die Philosophie, die Gott behandelt) die erste Philosophie ist, und ferner, dass sie eine allgemeine Philosophie ist, insofern sie die erste ist, geht es um eine ganz zentrale Problematik in der Philosophiegeschichte, nämlich den Widerspruch oder die Einheit von metaphysica generalis und metaphysica specialis. Um diesen anscheinenden Widerspruch zwischen metaphysica generalis (Seiendes als solches) und metaphysica specialis (das erste Seiende) aufzulösen, haben Paul Natorp und Werner Jaeger eigene Interpretationen zu Aristoteles’ Metaphysik ins Spiel gebracht, die einander widersprechen. Natorp sieht die »theologisierende Tendenz« von Buch VI.1 als ein Ergebnis späterer Interpolationen in den Aristoteles-Text durch einen Fremden und er versucht dann durch Schnitte im Text die vermeintliche theologisierende Tendenz zu beseitigen. 7 Hingegen vertritt Jaeger die Auffassung, dass die Theologie als die erste Philosophie werkgeschichtlich gesehen die Überreste einer frühen, theologisierenden Entwicklungsstufe des Aristoteles selbst darstellt. 8 Anderes als die Versuche der atheistischen Lesart von Natorp und der Schichtenanalyse von Jaeger, stellt Günter Patzig in seinem einflussreichen Aufsatz »Theologie und Ontologie in der Metaphysik des Aristoteles« die originelle These auf, dass der vermeintliche Widerspruch neutralisiert werden müsse und die erste zugleich die allgemeine Philosophie sei. 9 Patzigs Argument dafür ist, dass Gott Ebd., 1026a30f, Buch VI, Band 1, S. 254 ff. Paul Natorp, »Thema und Disposition der aristotelischen Metaphysik«, in: Philosophische Monatshefte XXIV (1887), S. 37–65; 540–574. 8 W. Jaeger, Aristoteles. Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung, 1923, S. 222–230. 9 Günter Patzig, »Theologie und Ontologie in der Metaphysik des Aristoteles«, in: 6 7
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Sein als das Ganze
»so sehr ein Erstes [ist], dass der Substanzcharakter aller anderen Substanzen auf jenes als seinen Grund und sein Prinzip zurückweist« 10, und daher Ontologie als Suche nach dem Prinzip des Seienden wesentlich und vornehmlich Theologie sei. Der renommierte Aristoteles-Experte Michael Frede übernimmt diese These von Patzig, aber er modifiziert das Argument. In dem Aufsatz »The Unity of General and Special Metaphysics: Aristotle’s Conception of Metaphysics« beschreibt Frede das Argument von Patzig als eine »quasikausale Verteidigung« und schlägt sein eigenes Argument vor: Theologie als metaphysica specialis erforscht nicht nur Gott als Seiendes, sondern auch dessen eigentümliche Seinsweise. Dass die anderen ουσια auf Gott angewiesen seien, habe darin seinen Grund, dass die Seinsweisen der anderen ουσια nur in Bezug auf die Seinsweise Gottes zu erklären seien. 11 Die Einheit von metaphysica generalis und metaphysica specialis, die Patzig und Frede erläutert haben, entspricht dem, was Heidegger mit dem Ausdruck »Onto-Theo-Logie« meint. Heidegger versucht in seinem berühmten Text »Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik« (1956/57) durch die Interpretation die Einheit der Suche nach dem Seienden als solchen und nach dem Ganzen die Metaphysik in ihrem Ursprung bei Aristoteles als Onto-Theo-Logie zu benennen. Er schreibt dort: »In der Antrittsvorlesung ›Was ist Metaphysik?‹ (1929) wird daher Metaphysik als die Frage nach dem Seienden als solchem und im Ganzen bestimmt. Die Ganzheit (Allheit) dieses Ganzen ist die Einheit des Seienden, die als der hervorbringende Grund einigt. Für den, der lesen kann, heißt dies: Die Metaphysik ist Onto-Theo-Logie.« 12 Kant-Studien 52 (1–4), 1961, S. 185–205, hier S. 191: »Aristoteles konzipiert hier eine philosophische Disziplin, die als erste zugleich allgemeine Philosophie ist. Aristoteles scheint, so sahen wir eben, ein höchst eigentümliches Verhältnis eines Teils zum Ganzen zu kennen derart, dass der Teil in gewissem Sinne Inbegriff und Prinzip dieses Ganzen ist.« 10 Ebd. S. 196. 11 Michael Frede, »The Unity of General and Special Metaphysics: Aristotle’s Conception of Metaphysics«, in: Essays in Ancient Philosophy, University of Minnesota Press 1987. S. 88. 12 Heidegger, »Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik« (1956/57), in: Identität und Differenz, GA 11, S. 63. Über das onto-theologische Wesen der Metaphysik siehe auch Heidegger, »Einleitung zu: ›Was ist Metaphysik?‹« (1949), in: Wegmarken, GA 9, S. 378 f.; Heidegger, »Kants These über das Sein« (1961), in: Wegmarken, GA 9, S. 449.
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Das Ganze und die Welt: Metaphysik und Phänomenologie
Heidegger zufolge denkt die Metaphysik das Seiende als solches, d. h. im Allgemeinen und zugleich im Ganzen. Dass die Metaphysik das Seiende als solches im Allgemeinen denkt, bedeutet, dass sie das Sein des Seienden in der ergründenden Einheit des Allgemeinsten, d. h. des überall Gleich-Gültigen denkt. Dass die Metaphysik das Seiende als solches im Ganzen denkt, bedeutet, dass sie das Sein des Seienden in der begründenden Einheit der Allheit, d. h. des Höchsten über allem denkt. 13 Heidegger formuliert dies anschließend noch klarer: »Denkt die Metaphysik das Seiende im Hinblick auf seinen jedem Seienden als solchem gemeinsamen Grund, dann ist sie Logik als Onto-Logik. Denkt die Metaphysik das Seiende als solches im Ganzen, d. h. im Hinblick auf das höchste, alles begründende Seiende, dann ist sie Logik als Theo-Logik.« 14 Weil Metaphysik in ihrem Ursprung das Seiende als solches im Allgemeinen und zugleich auch im Ganzen denkt, d. h. nach dem überall Gleich-Gültigen sucht, nach dem jedem Seienden als solchem gemeinsamen Grund im Sinne der ergründenden Einheit des Allgemeinsten, nämlich nach der allgemeinen Lehre der ουσια, und zugleich auch nach der höchsten ουσια, die Gott ist, und als dies alles begründende Seiende das Ganze im Sinne der begründenden Einheit der Allheit ausmacht 15, ist Metaphysik als OntoTheo-Logie zutreffend bezeichnet. Die ursprüngliche metaphysische Frage »Was ist das Seiende?« ist deswegen zweigliedrig. Sie lautet einmal: Was ist (überhaupt) das Seiende? Die Frage lautet zum anderen: Was (welches) ist das (schlechthin) Seiende? 16 Hier kommt das Problem des Ganzen ins Spiel, welches für unsere Betrachtung sehr wichtig ist. Heideggers Auffassung nach lässt Ich möchte hier im Voraus andeuten, dass Heideggers Seinsfrage zwar mit dieser metaphysischen Problematik ansetzt, aber letztendlich über sie hinausgeht, oder besser gesagt, Heidegger mit dem Sein noch nach dem Grund der Metaphysik sucht, weil in der ergründenden Einheit des Allgemeinsten und der begründenden Einheit der Allheit zuerst das Sein als Grund stehen muss. Er sagt hier: »So wird das Sein des Seienden als der gründende Grund vorausgedacht. Daher ist alle Metaphysik im Grunde vom Grund aus das Gründen, das vom Grund die Rechenschaft gibt, ihm Rede steht und ihn schließlich zur Rede stellt.« Heidegger, »Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik« (1956/57), in: Identität und Differenz, GA 11, S. 65 f. 14 Ebd., S. 76. 15 Es ist hier erforderlich darauf hinzuweisen, dass Heidegger sich in diesem Beitrag eigentlich mit Hegel statt mit Aristoteles ins Gespräch setzt. Gott ist bei Hegel nicht ein Seiendes als Individuum innerhalb dem Allen wie bei Aristoteles, sondern die vollste Realität, die ganze Struktur alles Seienden. Darin ist er zugleich unendlich. 16 Siehe: Heidegger, Kants These über das Sein, S. 449. 13
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Sein als das Ganze
sich folgendes zeigen: Erstens ist die Suche nach dem Ganzen eine konstitutive Bestimmung der Metaphysik in ihrem Ursprung; zweitens ist das höchste Seiende, welches alles andere Seiende begründet, dasjenige, was das Ganze im Ursprung der Metaphysik ausmacht. Es ergeben sich dann zwei Fragen, denen wir hier weiter nachgehen müssen. Erstens: Welche Rolle spielt die Frage nach dem Ganzen und wie kommt das Ganze zur Sprache in Heideggers eigenem Denken? Zweitens: In welchem Verhältnis steht bei Heidegger das Ganze zum Sein? In seiner Freiburger Vorlesung aus dem Wintersemester 1929/30 (Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit) zeigt Heidegger besonders klar, dass das Ganze für ihn in der Tat Welt bedeutet. Er führt dort zuerst mit Verweis auf einen Satz von Novalis (»Die Philosophie ist eigentlich Heimweh, ein Trieb überall zu Hause zu sein«) 17 die Grundstimmung der Philosophie ein, und erklärt dann: »überall zu Hause sein heißt: jederzeit und zumal im Ganzen sein. Dieses ›im Ganzen‹ und seine Gänze nennen wir die Welt. Wir sind, und sofern wir sind, warten wir immer auf etwas. Wir sind immer von Etwas als Ganzem angerufen. Dieses ›im Ganzen‹ ist die Welt.« 18
Es zeigt sich hierin, dass die traditionelle metaphysische Frage des Seienden im Ganzen oder des Ganzen des Seienden sich bei Heidegger in die Frage nach der Welt verwandelt. Und in dieser Vorlesung denkt Heidegger die Welt letztendlich als »die Offenbarkeit des Seienden als solchen im Ganzen«. 19 Das Problem der Welt, in Parallele mit dem des Seins, ob deutlich thematisiert oder nicht, steht eigentlich immer im Zentrum von Heideggers philosophischen Überlegungen. Nicht nur für Heidegger ist dieses Problem zentral, sondern für die ganze Phänomenologie von Husserl mindestens bis zu Eugen Fink. Der wichtige zeitgenössische Phänomenologe Klaus Held, der als »Vater der Wuppertaler Philosophie« gilt, vertritt sogar die Auffassung, dass »die Welt die eigentliche Sache der Phänomenologie ist«. 20 Diese Auffassung übernimmt er von seinem Lehrer Eugen Novalis, Schriften, hrsg. von J. Minor, Jena 1923. Bd. 2, S. 179, Fragment 21. Heidegger, GA 29/30, S. 8; siehe auch S. 11 f. 19 Ebd., S. 412. 20 Klaus Held, »Die Endlichkeit der Welt – Phänomenologie im Übergang von Husserl zu Heidegger«, in: Beate Niemeyer und Dirk Schütze (Hrsg.), Philosophie der Endlichkeit, Würzburg, 1992, S. 130. 17 18
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Das Ganze und die Welt: Metaphysik und Phänomenologie
Fink, der formulierte: »Die Grundfrage der Phänomenologie, zu der sie von vielen, an traditionelle Probleme anknüpfenden Einsätzen her unterwegs ist und in der sich ihr radikaler Gegensatz zum Kritizismus offenbart, lässt sich formulieren als die Frage nach dem Ursprung der Welt.« 21 Bevor wir der Eigenart von Heideggers Charakterisierung der Welt nachgehen, könnte daher ein Blick auf das phänomenologische Denken der Welt in seinem Ursprung bei Husserl erhellend sein, dessen Ansatz Heidegger und auch Fink übernommen und weitergeführt haben. 22
3.1.2. Der Weltbegriff bei Husserl Im vorphilosophischen Leben, nämlich in der natürlichen Einstellung wie sie Husserl am Anfang in Ideen 1 beschrieben hat, ist unsere Erfahrung zwar auf die Welt als Korrelat bezogen, aber gerade so kann die Welt nicht zum Thema werden. Nur die Phänomenologie kann die Welt erstmals zum Vorschein bringen, nämlich dadurch, dass sie alle ihre Bestimmungen konsequent daraufhin betrachtet, wie sie dem Menschen begegnen. Wer sich die Mühe macht, schärfer hinzusehen, wird bemerken, dass sich die phänomenologische Philosophie in dieser Hinsicht von anderen Strömungen unterscheidet. Das Problem der Welt kommt in Husserls Schriften sehr häufig vor und er beschreibt sie tatsächlich auch auf recht verschiedene Weisen. Zusammenfassend kann man drei voneinander abweichende Begriffe der »Welt« bei ihm hervorheben und vergleichen. 23 1. Husserl meint mit dem Ausdruck »Welt« zunächst die Allheit des konkreten Seienden. Er formuliert dies in Formale und Transzendentale Logik so: »Ist alles Seiende, konkret sachhaltig bestimmt und Eugen Fink, Studien zur Phänomenologie. 1930–1939, Den Haag, 1966, S. 101. Klaus Held meint dazu: »Ich werde zu dem Ergebnis kommen, dass Heideggers Weltanalyse die Grundproblematik der Husserlschen Phänomenologie weiterführt und radikalisiert. […] Die Grundbestimmung der Welt bei Husserl ist ihre Unendlichkeit, bei Heidegger ihre Endlichkeit. Die beiden Bestimmungen schließen einander aber nicht aus: Die im Sinne Heideggers verstandene Endlichkeit der Welt ermöglicht ihre Unendlichkeit im Sinne Husserls«. Klaus Held, »Die Endlichkeit der Welt – Phänomenologie im Übergang von Husserl zu Heidegger« S. 130 f. Das könnte für eine geschichtliche phänomenologische Forschung sehr aufschlussreich sein. 23 Vgl. Stephan Strasser, »Der Begriff der Welt in der Phänomenologie«, in: Phänomenologie und Praxis, Freiburg/München, 1976, S. 154–157. 21 22
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Sein als das Ganze
bestimmbar gedacht, nicht wesensmäßig Seiendes in einem Seinsuniversum, einer Welt?« 24. Damit stimmt überein, dass Husserl in Erfahrung und Urteil die Welt mit dem Ausdruck »All-seiende« und »All-etwas« als die Gesamtheit der Urteilssubstrate betrachtet: »Die Welt aber ist in dieser Hinsicht absolutes Substrat, nämlich in ihr ist alles, sie selbst aber ist nicht ein In-etwas, sie ist nicht mehr relative Einheit in einer umfassenderen Mehrheit. Sie ist das All-seiende, nicht »in etwas«, sondern All-etwas.« 25 Man muss im Auge behalten, dass die Welt von Husserl als das All-seiende in den zwei folgenden Hinsichten von der physischen Welt der Naturwissenschaften unterschieden wird: a.) Die Welt ist nicht nur eine raum-zeitlich-kausale physische Natur, sondern ebenso eine Wertewelt, Güterwelt, praktische Welt, d. h. immer »eine als Kultur vergeistigte Umwelt« 26 – mit Häusern, Brücken, Werkzeugen, Kunstwerken usw. b.) Die phänomenologische Welt, die in Wahrheit ein Gesamtbestand von intentionalen Polen, von konstituierten Objekten ist, soll man nach dem Vollzug der Reduktion einsehen. Das heißt: Die Welt ist für Husserl niemals die »summa rerum« oder »das Universum an sich«. Sie hat immer den Sinn einer »Welt für mich« 27, oder »für eine Gemeinschaft von Monaden«. Die Welt ist als absolutes Substrat im phänomenologischen Sinne »subjektiv«, und sie ist nicht ein Absolutes an sich, an dem nur die mathematisch-physische Methode anwendbar wäre. 2. Welt ist bei Husserl an manchen Stellen auch als eine strukturierte Ganzheit gemeint. Husserl deutet einmal an, dass die Welt einerseits ein Titel für den Gesamtbestand der durch Einstimmigkeit vereinheitlichten positiven Geltungen sei, und andererseits solle man auch »die Struktur der als seiend geltenden Welt selbst, die […] doch immer als seiende Welt in ihrer allgemeinen Strukturgestalt
Husserl, Formale und Transzendentale Logik, Hua 17, S. 158. Husserl, Erfahrung und Urteil, Prag, 1939, S. 157. 26 Husserl, Erste Philosophie, Zweiter Teil, Hua 8, S. 151. Siehe auch Husserl, Ideen 1, Hua 3, S. 58; Und Husserl, Erfahrung und Urteil, S. 318: »Die Welt ist das Universum von Dingen. Aber physische Dinge sind davon nur ein Spezialfall; Kunstwerke, Bücher, Städte usw., sind auch reale Gegenstände und Dinge in diesem weitesten Sinne.« 27 Siehe z. B. Husserl, Ideen 1, Hua 3, S. 59. 24 25
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Das Ganze und die Welt: Metaphysik und Phänomenologie
verharrt« 28 studieren. In einem wichtigen ergänzenden Text zum Weltbegriff, in dem er den Versuch unternimmt, einen Bezug zwischen Welt und dem »offenen Horizont der Endlosigkeit« herzustellen, sagt er außerdem: »Weltbegriff als für alle Menschen geltende Identitätsstruktur ihrer verschiedenen Umwelten. Eine Welt ist uns vorgegeben, jedermann lebt in sie hinein, jedermann hat von ihr in seiner Erfahrung seine beschränkte Umwelt erfahren mit dem offenen Horizont der Endlosigkeit«. 29 Außerdem heißt es dort: »die durch alle Umwelten aller vergemeinschafteten und in sich geschlossenen konstituierten Lebensgemeinschaften hindurchgehende absolut objektive Weltstruktur als diejenige Objektivität, die jedermann in unbedingter Allgemeinheit erfassen kann und muss erfassen können.« 30 Welt als die objektive Struktur der Ganzheit, in die alle Menschen hinein leben und die deswegen in unbedingter Allgemeinheit erfasst werden kann, kann man als einen formalen Begriff der Welt bezeichnen. Im Vergleich dazu kann man den vorherigen Begriff der Welt als einen materialen benennen. 31 Welt ist hier nicht als Allheit der Seienden zu verstehen, sondern als die Struktur des Ganzen der Seienden, d. h. auch als die vereinheitlichende Struktur der verschiedenen Umwelten, worin wir im Alltag leben, handeln und den Objekten begegnen. 3. Es gibt bei Husserl noch eine dritte, völlig abweichende Weise, in der er die Welt als den universalen Horizont aller erfahrenen Intentionen überhaupt beschreibt, dem wir nun mit Nachdruck nachgehen möchten. Die Auffassung, dass die Welt in der Phänomenologie als Horizont oder Boden zu verstehen ist, hat Ludwig Landgrebe in seinem Werk Der Weg der Phänomenologie mit den folgenden Worten erläutert: »Welt ist kein Gegenstand unter anderen Gegenständen, sondern das alle Gegenständen der Erfahrung Umschließende, der Boden jeder Einzelerfahrung«. 32 Robert Sokolowski, der Autor des Buches Introduction to Phenomenology, hat außerdem angedeutet: »The world is not a large »thing«, nor is it the sum of the things that have been or can be experienced. […] The world is more like a context, a Husserl, Erste Philosophie, Zweiter Teil, Hua 8, S. 151. Husserl, Phänomenologische Psychologie, Hua 9, S. 496. 30 Ebd., S. 498 f. 31 Diese Unterscheidung übernehme ich von Stephan Strasser. Siehe Stephan Strasser, Der Begriff der Welt in der Phänomenologie, S. 156. 32 Ludwig Landgrebe, Der Weg der Phänomenologie, Gütersloh 1963, S. 54. 28 29
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Sein als das Ganze
setting, a background, or a horizon for all the things there are, all the things that can be intended and given to us; the world is not another thing competing with them. It is the whole for them all, not the sum of them all.« 33 Welt ist ein Horizont oder ein Hintergrund, ein Kontext für alle erscheinenden Seiende, sie ist das Ganze der Seienden, aber nicht die Summe der Seienden, und in diesem Sinne ist sie der »Universalhorizont« im Husserl’schen Sinn. Sehen wir uns Husserls Erläuterung noch näher an. Es gibt zahlreiche Texte, in denen Husserl diesen Horizontbegriff entwickelt. Denken wir etwa an eine erfahrende Intention. Wir können hier erneut das Beispiel des Tisch-Wahrnehmens in Ideen 1 ins Spiel bringen. Der Tisch ist notwendig in bloßen Erscheinungsweisen gegeben, notwendig ist dabei ein Kern von »wirklich Dargestelltem« auffassungsmäßig umgeben von einem Horizont uneigentlicher »Mitgegebenheit« und mehr oder minder vager Unbestimmtheit. Der kontinuierlich dauernde Tisch zeigt in immer neuen Abschattungsreihen immer wieder neue (oder rückkehrend die alten) »Seiten«. Die Unbestimmtheiten bestimmen sich näher, um sich dann selbst in klare Gegebenheiten zu verwandeln. Jede Dingwahrnehmung hat einen »Hof« von Hintergrundanschauungen. Um den Kern des tatsächlich Gegebenen bildet sich ein Umkreis möglicher neuer Erfahrungen. Aus dieser Klärung ist es möglich, allgemein zu charakterisieren, dass das »cogito« oder »ich habe Bewusstsein von etwas«, »ich vollziehe einen Bewusstseinsakt« wegen der Horizontanschauungen zugleich zwei Modi hat, nämlich die Aktualität und die Potentialität. Einmal ist das Erlebnis sozusagen »explizites« Bewußtsein von seinen Gegenständlichkeiten, das andere Mal implizites, bloß potentielles. Das »Gerichtetsein auf«, das »Zugewendetsein zu« ist als die Aktualität auszuzeichnen. Auch von allen solchen Erlebnissen gilt, dass die aktuellen von einem »Hof« von inaktuellen umgeben sind. Der Erlebnisstrom kann nie lediglich aus Aktualitäten bestehen. Das Gegenständliche kann uns wie in der Wahrnehmung, so in der Erinnerung oder Phantasie bereits erscheinen, wir sind aber mit dem geistigen Blick auf dasselbe noch nicht »gerichtet« oder »beschäftigt«. In dieser Weise in infinitum unvollkommen zu sein, gehört zum unaufhebbaren Wesen der Korrelation Ding und Dingwahrnehmung. Prinzipiell bleibt immer ein Horizont bestimmbarer Unbestimmtheit. Eine 33
Robert Sokolowski, Introduction to Phenomenology, Cambridge 2000, S. 43.
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Das Ganze und die Welt: Metaphysik und Phänomenologie
andere Seite, Rückseite des Tisches ist immer da, sie ist unbestimmt, aber wird in der Abschattungsreihe bestimmt. Insofern gehört die unvollkommene Unbestimmtheit (Husserl sagt auch »Uneigentlichkeit«) wesentlich zu unserer Welterfahrung. 34 Diesen so aufgezeigten »Hof« antizipierender Intentionen, die denselben Gegenstand betreffen, nennt Husserl als einen Innenhorizont. Dieser Hof ist sowohl zeitlich als auch räumlich. Darüber hinaus ist nicht nur eine andere Seite des Tischs (als wahrgenommene), eine potenzielle Wahrnehmung dazu im Hof mitintendiert und in gewißer Weise mitgegeben, sondern auch die anderen Objekte neben oder um den Tisch, z. B. die Wand oder das Fenster, welche außerhalb des Tisches sind. Jedes erfahrene Ding hat nicht nur einen Innenhorizont, sondern auch einen offen endlosen Außenhorizont von Mitobjekten. 35 Es bleibt aber ferner noch weiter zu bedenken, dass einerseits die Innen- und Außenhorizonte einheitlich sind, nämlich zu einem Universalhorizont gehören, und andererseits dieser Universalhorizont unendlich ist. Zuerst zur Einheitlichkeit der Welt: Husserls direkte Erläuterung zum Universalhorizont lautet in seinem späten Werk Die Krisis der Europäischen Wissenschaft und die Transzendentale Phänomenologie: »Die Lebenswelt ist für uns, die in ihr wach lebenden, immer schon da, im Voraus für uns seiend, ›Boden‹ für alle, ob theoretische oder außertheoretische Praxis. Die Welt ist uns, den wachen, den immerzu irgendwie praktisch interessierten Subjekten, nicht gelegentlich einmal, sondern immer und notwendig als Universalfeld aller wirklichen und möglichen Praxis, als Horizont vorgegeben.« 36
Weiter heißt es dort: »Jedes ist etwas, ›etwas aus‹ der Welt, der uns ständig als Horizont bewußten […] Welt ist seiend in einer Einzigkeit, für die der Plural sinnlos ist. Jeder Plural und aus ihm herausgehobene Singular setzt den Welthorizont voraus.« 37 Das besagt: Die Welt als das Universalfeld ist der Boden für alles Seiende, damit auch alle Akte, ob theoretische oder praktische, ob denkende oder machenVgl. Husserl, Ideen 1, Hua 3, S. 91. Husserl, Erfahrung und Urteil, S. 157. 36 Husserl, Die Krisis der Europäischen Wissenschaft und die Transzendentale Phänomenologie, Hua 6, S. 145; siehe auch S. 147, »Welt ist das Universalfeld, in das alle unsere Akte, erfahrende, erkennende, handelnde, hineingerichtet sind.« 37 Ebd., S. 146. 34 35
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Sein als das Ganze
de. Sie ist selbst dennoch kein Seiendes, sie ist, aber nur als ein Horizont und nicht als ein Ding. Sie ist immer schon vorgegeben, und es ist sinnlos zu denken, dass etwas ohne die Welt oder außerhalb der Welt ist. Da alle Vergleiche innerweltlich Seiendes zum Gegenstand haben, ist die Welt selbst unvergleichbar. Sie ist der Horizont aller Horizonte. In diesem Sinne ist sie der absolute Horizont schlechthin. Und ferner ist sie einzig, weil nur sie das Umfassende und das Absolute ist. Jeder Plural oder aus ihm herausgenommene Singular hat die einzige Welt als den Universalhorizont schon vorausgesetzt. Aus diesem Grund ist die Einheitlichkeit der Horizonte auch in der Einzigkeit der Welt begründet. Zur Unendlichkeit der Welt 38: In Ideen 1 deutet Husserl darauf hin: »Das aktuell Wahrgenommene […] ist teils durchsetzt, teils umgeben von einem dunkel bewußten Horizont unbestimmter Wirklichkeit […] [D]er Kreis der Bestimmtheit erweitert sich immer mehr und ev. soweit, dass der Zusammenhang mit dem aktuellen Wahrnehmungsfelde, als der zentralen Umgebung, hergestellt ist. Im Allgemeinen ist der Erfolg aber ein anderer: ein leerer Nebel der dunklen Unbestimmtheit bevölkert sich mit anschaulichen Möglichkeiten oder Vermutlichkeiten, und nur die ›Form‹ der Welt, eben als ›Welt‹, ist vorgezeichnet. Die unbestimmte Umgebung ist im Übrigen unendlich. Der nebelhafte und nie voll zu bestimmende Horizont ist notwendig da.« 39
Das besagt: Weil der Horizont unbestimmter Bestimmbarkeit sich immer mehr und weiter erweitert, erfüllt sich diese Vorzeichnung der Welt im Verlauf der Explikation immer mehr und ist der Horizont, der noch über die Folge der aktuell konstituierten Bestimmungen hinaus für zu erwartende neue Bestimmbarkeiten ständig bleibt, folglich »ein offener Horizont«. Gerade indem das Bewusstsein von einer faktischen Gegebenheit dieses Faktische immer weiter transzendiert, ist das Bewusstsein immer das eines Hier und vage Vermutung eines Dort. Da das Bewusstsein auch dazu fähig ist, die Reihe des »Und so weiter« ins »Unendliche« fortzusetzen 40, kann man daraus folgern, dass die Welt als Universalhorizont unendlich ist. Aber das bedeutet nicht, dass die Welt am Ende des Unendlichen erst geUm über dieses Thema noch weiter und tiefer nachzudenken, ist das Buch von Laszolo Tengelyi, Welt und Unendlichkeit, Zum Problem phänomenologischer Metaphysik, Freiburg/München 2014, empfehlenswert. 39 Husserl, Ideen 1, Hua 3 S. 57 40 Vgl. Husserl, Erfahrung und Urteil, S. 257–259. 38
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Das Ganze und die Welt: Metaphysik und Phänomenologie
geben sein kann, sondern gerade im Gegenteil: Sie ist als der Horizont, der selbst nicht transzendiert werden kann, schon immer vorgezeichnet und uns bei jedem Denken und Handeln vorgegeben. Es ist für uns hier schließlich noch nötig, auf die richtige Bedeutung der Husserl’schen Epoche, der phänomenologischen Reduktion in Hinblick auf das Problem der Welt einzugehen. In Ideen 1 gleich nach dem § 30 Die Generalthesis der natürlichen Einstellung, nämlich dass die Welt als Wirklichkeit immer da ist, kommt § 31: Radikale Änderung der natürlichen Thesis. Die »Ausschaltung«, »Einklammerung«, nämlich diese Generalthesis »außer Aktion zu setzen«, »sie auszuschalten«. Und was nach dieser Epoche übrig bleibt – oder in Husserls Worten im § 33. »das phänomenologische Residuum«, wenn die ganze Welt ausgeschaltet und eingeklammert ist – ist gerade das reine oder »transzendentale Bewußtsein«. Auf den ersten Blick scheint es so, als ob, wohin Husserls phänomenologische Reduktion gelangen will, einfach ein »reines und weltloses Ich« wäre. Der Titel des berüchtigten § 49 Das absolute Bewußtsein als Residuum der Weltvernichtung scheint auch diese Auffassung belegen zu können. Es ist dennoch offenkundig ein Missverständnis, dass das Resultat, das Husserls phänomenologische Reduktion für die Phänomenologie erreicht hat, ein reines Bewusstsein ohne Welt ist. Denn wenn Husserl im § 49 zwar sogar sagt, dass es denkbar sei, dass »es die Welt nicht mehr gibt«, so ist damit aber nur gemeint, es sei denkbar, »dass es keine einstimmig setzbare, also seiende Welt mehr gibt«. Mit »Welt« ist hier die »seiende«, d. h. »einstimmig setzbare«, »objektive« Welt gemeint, und nur diese wird in der Epoche eingeklammert. Wir müssen Husserls Text noch sorgfältiger und genauer lesen. Im § 50 sagt er: »trotzdem wir die ganze Welt mit allen Dingen, Lebewesen, Menschen, und uns selbst inbegriffen, ›ausgeschaltet‹ haben. Wir haben eigentlich nichts verloren, aber das gesamte absolute Sein gewonnen, das, recht verstanden, alle weltlichen Transzendenzen in sich birgt, sie in sich ›konstituiert‹.« 41 Mit dem Ausdruck, »nichts verloren, aber das gesamte absolute Sein gewonnen« macht er ganz klar, dass die phänomenologische Reduktion nicht nur Subtraktion, sondern zugleich auch Addition bedeutet. Die Welt ist zuerst ausgeschaltet, aber sogleich wird sie auch wieder konstituiert, da der Konstitutionsakt des Bewusstseins sich notwendigerweise im Horizont vollziehen muss. Sie ist niemals verschwunden. 41
Husserl, Ideen 1, Hua 3 S. 107.
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Sein als das Ganze
Was die phänomenologische Reduktion der Welt eigentlich macht, ist sozusagen nur einen anderen Blick auf sie zu gewähren, d. h. sie nicht mehr als eine einstimmig setzbare objektive Welt an sich zu sehen, sondern als ein Sein des Bewusstseins, ein Korrelat des Prinzips der »Intentionalität«. Andererseits müssen wir ferner darauf achten, dass Husserl in seinem späten Werk Die Krisis der Europäischen Wissenschaft und die Transzendentale Phänomenologie über das Verständnis der Epoche aufgeklärt und damit dieses mögliche Missverständnis beseitigt hat. Er erläutert eindeutig: »Jede Auffassung von […], jede Meinung über »die« Welt hat ihren Boden in der vorgegebenen Welt. Gerade dieses Bodens habe ich mich durch die Epoche enthoben, ich stehe über der Welt, die nun für mich in einem ganz eigenartigen Sinne zum Phänomen geworden ist.« 42
Es handelt sich hier um einen ganz wichtigen Punkt für das Verständnis der Phänomenologie Husserls im Ganzen: Husserl geht in der transzendentalen Reduktion nicht auf ein »weltloses Subjekt« zurück, mit dem Zweck, die Welt durch eine Subtraktion vom Subjekt zu beseitigen, sondern gerade auf die Welt als »Phänomen« zu, nicht um die Welt abzuschaffen, sondern um das transzendentale Phänomen »Welt« aufzuzeigen. Womit Husserl diese phänomenologische Aufgabe geleistet hat, die Welt als ein Phänomen aufzuzeigen, ist der Begriff: Lebenswelt. Die Lebenswelt, mit der die Phänomenologie sich beschäftigen soll, enthält in diesem Sinne auch einen Vorrang vor einer »objektiv wahren Welt«, weil die Gegenständlichkeit der Welt nicht mehr der Grad ihrer Objektivität, sondern die »Ursprünglichkeit« ihrer Gegebenheitsweise ist. Die Phänomenologie sucht nach dem Ursprung der Welt, d. h. wie sie sich als Phänomen zeigt. Der Husserl-Forscher Ludwig Landgrebe und der bekannte Philosoph Ernst Tugendhat haben dies beides eingesehen. Landgrebe schreibt zu dem Problem der Welt: »Für jeden Beginn ist Welt als Ganzes vorausgesetzt. […] Diese vorgegebene Welt darf nicht so zum Leitfaden werden, wie sie schon von der Naturwissenschaft bestimmt ist, sondern als die Welt der unmittelbaren sinnlichen Erfahrung in allen den berührten Grundstrukturen, also die Welt als Lebenswelt hinsichtlich ihrer naturalen Struktur.« 43 Husserl, Die Krisis, S. 155. Ludwig Landgrebe, Der Weg der Phänomenologie, Gütersloh 1963, Kapitel 2, »Welt als phänomenologisches Problem«, S. 57.
42 43
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Und Tugendhat schreibt in seinem Werk Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger noch klarer: »Was eingeklammert wird, ist die naiv gesetzte, vom Setzen scheinbar unabhängige Welt, und dabei erschließt sich nun gerade die Welt als »Phänomen«, die wesensmäßig Korrelat der Subjektivität ist, und zugleich die Subjektivität, die – als ego-cogito-cogitatum – wesensmäßig auf diese Welt als Phänomen bezogen ist.« 44
Außerdem, wollen wir – um die Entwicklung dieser Einsicht in der Phänomenologie besser zu verstehen – hier auch die Auffassung des Welt-Philosophen, des wichtigsten deutschen Phänomenologen nach Husserl und Heidegger, Eugen Fink, andeuten. Fink geht davon aus, dass die Welt für jedes Erscheinen eines Seienden die Bedingung bildet und es daher unmöglich ist, die Welt schlechthin zu transzendieren. Zuerst formuliert Fink eine eindeutige Kritik des Verständnisses, dass die Welt auf den Menschen als Subjekt zurückgeführt werden kann. Er problematisiert »eine Rückführung der Welt auf ein innerweltlich Seiendes: den Menschen. Das Rückfallen der transzendentalen Aussage in die mundan-ontische Begrifflichkeit ist die ständige Verführung der Phänomenologie«. 45 Er hält es für eine Gefahr für der Phänomenologie, die Welt so zu verstehen, als ob sie als Ganze auf ein in ihr wohnendes Seiendes zurückgeführt werden könne. Der Grund dafür ist auch klar: Von der Einklammerung der seienden Welt wird der Einklammernde, der jeweilige philosophierende Mensch, auch mitbetroffen, sofern er sich als Mensch selbst apperzipiert und in dieser Apperzeption sich vorgehalten ist als ein Seiendes in der Welt. Fink bietet ein direktes Verständnis der phänomenologischen Reduktion in der Hinsicht auf das korrekte Verhältnis zwischen Welt und Menschen an: »[D]as Welt-Transzendieren, das im Vollzug der phänomenologischen Reduktion geschieht, führt nicht aus der Welt heraus, von der Welt weg und zu einem von ihr getrennten (nur durch eine Relation verbundenen) Ursprung als zu einem anderen hin, sondern das phänomenologische Transzendieren der Welt ist als die Eröffnung der transzendentalen Subjektivität zugleich die Einbehaltung der Welt in das freigelegte Universum des absoluten »Seins«. Die Welt bleibt dem Ernst Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, Berlin 1970, S. 263. 45 Eugen Fink, Studien zur Phänomenologie 1930–1939, S. 13. 44
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Sein als das Ganze
»Absoluten« immanent, vielmehr sie wird als im Absoluten liegende entdeckt. Transzendiert wird also in der phänomenologischen Reduction nicht die Welt schlechthin, sondern nur die Beschränktheit jener »Natürlichen Einstellung«. 46
Damit macht Fink in seiner Entwicklung des phänomenologischen Denkens der Welt die drei folgenden Punkte deutlich: 1.) Weil das Sein des Menschen selbst in der Einklammerung der seienden Welt auch mitbetroffen ist, ist es falsch, zu sagen, dass die phänomenologische Reduktion bedeuten würde, die Welt auf ein innerweltliches Seiendes, nämlich den Menschen zurückzuführen. 2.) Die phänomenologische Reduktion kann zwar die Welt einklammern, aber sie nicht schlechthin transzendieren, nicht ganz aus der Welt herausführen, sondern nur die natürliche Einstellung zur Welt beschränken. Die Welt liegt im »Absoluten« immanent, sie ist als Vorgegebenes bei jedem Auffassen von ihr immer schon vorausgesetzt. 3.) Das in der phänomenologischen Reduktion geschehene Welt-Transzendieren bedeutet vielmehr die Eröffnung der transzendentalen Subjektivität und zugleich die Einbehaltung der Welt in das freigelegte Universum des absoluten »Seins«. Nur wenn die Welt als der liebende Streit zwischen Himmel und Erde, nämlich als Spiel zwischen Licht und Dunkel, Eröffnung und Verbergen sich selbst bewegt, gibt es Zeit, Raum und Möglichkeit der Erscheinung. Die Auszeichnung des Menschen, der das Seiende als solches denken kann, besteht deswegen nicht darin, dass er »Mitte des Seienden« ist, sondern er ist wesentlich ein »Mittler« 47, er steht im Zwischen von Licht und Dunkel und ist zugleich offen für das Licht des Himmels und vertraut mit der dunklen Erde.
3.2. Heideggers Weltbegriff Nun müssen wir uns Heideggers Untersuchung des Problems der Welt zuwenden. Zuerst werden wir die zwei Fragen, die am Anfang dieses Kapitels als unsere Hauptaufgabe gestellt worden sind, wieder Ebd., S. 105. »Der Mensch als der Denker des Seins hat seine Auszeichnung nicht darin, die Mitte des Seienden zu sein, aber seinen Rang und seine Würde in der Mittlerschaft. Der Mensch ist ›Mittler‹ : er ist ein endliches Seiendes inmitten der endlichen Dinge.« Eugen Fink, Nähe und Distanz, Freiburg/ München, 2004, S. 137.
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Heideggers Weltbegriff
vergegenwärtigen, nämlich erstens: Welche Rolle spielt die Frage nach dem Ganzen und wie kommt das Ganze in Heideggers Denken zur Sprache? Zweitens: In welchem Verhältnis steht das Ganze zum Sein? Diese zwei Fragen sind so wichtig, dass sie einen Schlüssel für den Übergang von der traditionellen Metaphysik zu Heideggers Seinsdenken darstellen. Indem Heidegger eingesehen hat, dass die Frage nach dem Seienden als solchem in ihrem Ursprung die Frage nach dem Seienden im Allgemeinen und zugleich im Ganzen bedeutet, wird für ihn dann das Ganze oder das Seiende im Ganzen ein zentrales philosophisches Thema. Die Frage nach dem Ganzen bedeutet in der Neuzeit nicht mehr dasselbe wie bei Aristoteles, nämlich nach dem höchsten ουσια, dem alles begründenden Seienden zu fragen, sondern nach der Welt als dem Universalhorizont. Ein entscheidender Unterschied zwischen den beiden Denkweisen des Ganzen besteht darin, dass die »Welt« als die Neuformulierung des Problems des Ganzen in der Phänomenologie nicht mehr ein Seiendes ist, sondern der universale Horizont, der sich immer erweitert aber nie schlechthin zu transzendieren ist. Damit können wir uns auch darüber klar werden, welche Rolle die Phänomenologie in Heideggers Übergang von Aristoteles’ metaphysischer Frage zu seinem Seinsdenken gespielt hat.
3.2.1. Welt als »die Offenbarkeit des Seienden als solchen im Ganzen« In der Freiburger Vorlesung aus dem Wintersemester 1929/30 Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, in der Heidegger die Welt als das Ganze charakterisiert, beschreibt er die Welt noch genauer als »die Offenbarkeit des Seienden als solchen im Ganzen«. Erstens: Welt bedeutet dabei nicht die Gesamtheit des Seienden, nicht die Summe des Seienden an sich, was Heidegger als natürlichen Weltbegriff bezeichnet. Zweitens: Welt bedeutet darüber hinaus nicht nur Zugänglichkeit des Seienden, sondern die Zugänglichkeit des Seienden als solchen. Der Mensch hat eine Welt, er ist weltlich und »weltbildend«, nämlich dadurch, dass er sich zum Seienden als solchen verhält, und in der Welt als in dem Ganzen frei handeln und sie verstehen kann. Demgegenüber zeigt sich aber, dass das Tier zwar Zugänglichkeit zu etwas hat, aber nicht zu Seiendem als solchem. Daher ist das Tier »weltarm«. Der 77 https://doi.org/10.5771/9783495824030 .
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Stein kann sich demnach überhaupt nicht zu etwas verhalten und ist deswegen »weltlos«. 48 Drittens: Die Zugänglichkeit gründet in der möglichen Offenbarkeit. Für Heidegger ist ganz wichtig: Weil die Welt nicht die Summe des Seienden bedeutet, ist das Teil-Ganze-Verhältnis von Seiendem und Welt nicht ein nummerisches, sondern ein spezifisches. Das Seiende gehört nur insofern zur Welt, als es zugänglich ist, insofern es selbst dergleichen zulässt und ermöglicht. Das trifft nur dann zu, »wenn Seiendes als solches offenbar werden kann«. 49 Dazu gehört: Ohne die Welt wäre das Seiende zuvor verschlossen und verborgen. Welt ist die Ermöglichung der Zugänglichkeit des Seienden. Damit kann man wohl sagen, dass dieses Teil-Ganze-Verhältnis von Seiendem und Welt ein Teil-Ganze-Verhältnis der Ermöglichten-Ermöglichung ist. Viertens: Die Welt als die Offenbarkeit des Seienden bedeutet weder ein offenbares Seiendes, noch vor allem eine inhaltliche Eigenschaft des Seienden. Welt macht das Seiende überhaupt zugänglich, und sie ist dann die Offenbarkeit des Seienden, aber damit ist nicht gemeint, dass Welt die Offenbarkeit an einem Seienden, oder eine bestimmte Eigenschaft des Seienden ist, so wie Härte zum Stein gehört, Wachstum zum Lebendigen oder der rechte Winkel zum Viereck. Vielmehr: Die Welt bedeutet die Offenbarkeit schlechthin des je faktisch offenbaren Seienden, die Offenbarkeit des Seienden als solchen im Ganzen. Fünftes: Die These »der Mensch ist weltbildend« besagt nicht, wie sie im gängigen Verständnis erscheint, dass die Welt nichts an sich, und damit subjektiv ist. Nach der These ist Welt der Weltbildung zugehörig, sie bildet sich und sie ist nur, was sie ist, in einer solchen Bildung. Wer bildet die Welt? Nach dieser These »der Mensch«. So ist aber nicht gemeint, dass der Mensch in sich existiert und dann ansetzt, eine Welt zu bilden. Vielmehr ganz im Gegenteil: Weltbildung geschieht, und auf ihrem Grund kann erst der Mensch existieren. »Der Mensch qua Mensch ist weltbildend, das heißt nicht: der Mensch, so, wie er auf der Straße herumläuft, sondern das Dasein im Menschen ist weltbildend.« 50 Der Mensch ist weltbildend, nur der Mensch »hat« eine Welt – Heidegger verleiht dieser These eine ganz 48 49 50
Vgl. Heidegger, GA 29/30, S. 263; S. 412. Vgl. ebd., S. 263; S. 405. Ebd., S. 414.
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andere Bedeutung als Kant, wo die Welt ein Gebilde des Menschen ist. Laut Heidegger kann der Mensch nur als Dasein die Welt bilden, sofern dessen Grundbestimmung In-der-Welt-Sein ist und er als Dasein ontologisch sich zum Sein verhält. Es gibt zahlreiche Texte von Heidegger, in denen die Welt als zentrales Thema analysiert wird. Außer Sein und Zeit (1926–27), der oben erwähnten Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit (1929/30, GA29/30), gibt es noch den 3. Teil der frühen Freiburger Vorlesung Phänomenologische Interpretation zu Aristoteles: Einführung in die phänomenologische Forschung (1921/22, GA61), § 11 »Das Phänomen der Welt« aus der Marburger Vorlesung Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz (1928, GA26), der ganze zweite Abschnitt »Philosophie und Weltanschauung« aus der Freiburger Vorlesung Einleitung in die Philosophie (1928/29, GA27), Vom Wesen des Grundes (1929, in GA9), Der Ursprung des Kunstwerkes (1935/36, in GA5), Überwindung der Metaphysik (1936, in GA7), Beiträge zur Philosophie (1936–1938, GA65), Brief über den Humanismus (1946, in GA9), Das Ding (1950, in GA7), Unterwegs zur Sprache (1950–1959, GA12). Dadurch können wir offensichtlich erkennen, dass sich die Überlegung zur Welt durch den ganzen Denkweg von Anfang der zwanziger Jahre bis zum Ende der fünfziger Jahre durchzieht. Man kann mit vollem Recht sagen, dass Heidegger ein Welt-Philosoph ist. Im Ansatz dieser Arbeit wurde angedeutet, dass Heideggers leitende Frage nach dem Sein drei Stadien hat, und sie trotzdem innerhalb von Heideggers Denken einen Weg bildet, dadurch, dass die drei verschiedenen Frageweisen einander ablösen und sich auseinanderentwickeln und ineinander übergehen. Dementsprechend können wir auch Heideggers so ergiebigen und komplexen Überlegungen zur Welt als »ein Weg in drei Stadien« zusammenfassen: 51 In dem ersten Stadium in den 20er Jahren denkt Heidegger die Welt hauptsächlich als »Worin das Dasein lebt« und »die Offenbarkeit des Seienden im Ganzen«. In dem zweiten Stadium in den 30er und 40er Jahren ist die Welt als »das ontologische Geschehen der Entbergung-Verbergung des Seins« und als »ein sich-öffnender Gegenspieler mit der Erde im Geschehen der Wahrheit als ein inniger Streit« zu verstehen. In dem dritten Über die Entwicklung des Welt-Begriffs bei Heidegger siehe: Friedrich von Herrmann, Die Selbstinterpretation Martin Heideggers, Meisenheim am Glan 1964, S. 47–68.
51
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Stadium in den 50er Jahren charakterisiert Heidegger die Welt als »Lichtung des Seins« und »das ereignende Spiegel-Spiel der Einfalt von Geviert, Erde und Himmel, Göttlichen und Sterblichen«. 52 Weil unsere Untersuchung hauptsächlich auf das Problem des Sinns von Sein abzielt, möchten wir uns Heideggers Verständnis der Welt in dem ersten Stadium als Hauptaufgabe stellen und ausführlicher als in den anderen Stadien erläutern.
3.2.2. Die Welt in Sein und Zeit: ontische und ontologische Zuerst muss darauf aufmerksam gemacht werden, dass Heidegger im Ansatz von Sein und Zeit einen zweifachen Weltbegriff in sein phänomenologisches Denken eingeführt hat, nämlich ontischen und ontologischen Weltbegriff. »Ontisch« meint eine Interpretation oder Untersuchung, die von einem spezifischen Seienden ausgeht und dem zukommt, »ontologisch« meint hingegen eine Interpretation oder Untersuchung, die von dem Sein oder dem Seienden als solchen ausgeht und nur dem zukommt. Diese leitende Differenzierung ist von so entscheidender Bedeutung für Heidegger, dass sie fast alle seine philosophischen Begriffe in Sein und Zeit geprägt hat. Der Übergang zwischen »ontisch« und »ontologisch« besteht dann im Sein des Daseins, weil »es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst geht«, 53 d. h. weil das Dasein sich in seinem Sein sowohl zu seinem Selbst als auch zu dem Sein verhält. Dies ist was Heidegger mit dem »ontischen Vorrang des Daseins« meint: »Die ontische Auszeichnung des Daseins liegt darin, dass es ontologisch ist«. 54 Angesichts dessen, dass Heidegger das Wesen des Daseins als Existenz bezeichnet, muss die Analytik der Existenz des Daseins auch zweifach sein. Wenn sie auf das Dasein und seine Begegnung mit den anderen Seienden geht, dann heißt sie »existenziell«; wenn sie hingegen ontologisch auf das Sein oder die ganze Struktur des Verhaltens des Daseins geht, dann heißt diese Analytik »existenzial«. Die zweifache Dimension des Weltbegriffs in Sein und Zeit sieht man ganz deutlich an den folgenden Erläuterungen:
52 53 54
Heidegger, Das Ding (1950), in: GA 7, S. 181. Heidegger, Sein und Zeit, S. 12. Ebd., S. 12.
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Heideggers Weltbegriff
»Welt kann wiederum in einem ontischen Sinne verstanden werden, jetzt aber nicht als das Seiende, das das Dasein wesenhaft nicht ist und das innerweltlich begegnen kann, sondern als das, worin ein faktisches Dasein als dieses lebt. Welt hat hier eine vorontologisch existenzielle Bedeutung. […] Welt bezeichnet schließlich den ontologisch-existenzialen Begriff der Weltlichkeit. Die Weltlichkeit selbst ist modifikabel zu dem jeweiligen Strukturganzen besonderer ›Welten‹.« 55 »Das Worin des sichverweisenden Verstehens als Woraufhin des Begegnenlassens von Seiendem in der Seinsart der Bewandtnis ist das Phänomen der Welt. Und die Struktur dessen, woraufhin das Dasein sich verweist, ist das, was die Weltlichkeit der Welt ausmacht.« 56
Die ontisch verstandene Welt bedeutet das Worin, in dem das faktische Dasein lebt und Woraufhin das faktische Dasein in der Bewandtnis begegnen lässt. Welt bedeutet dann nicht wie bei Descartes res extensa, Substanz, wo Sein nur als »ständige Vorhandenheit« verstanden ist, und dazu führt, »das Phänomen der Welt sowohl wie das Sein des zunächst zuhandenen innerweltlichen Seienden zu überspringen«. 57 Welt ist ein Phänomen; genauso wie sie beim späten Husserl verstanden worden ist, aber dennoch ist sie etwas eigentümliches, da sie selbst kein Seiendes ist und nicht zum Gegenstand werden kann. Insofern kann nach der ontischen Welt nicht mit »Was« gefragt werden, sondern nur mit Wie, Worin, Woraufhin, d. h. nur innerhalb einer Beziehung und in der Hinsicht auf »Worauf es sich richtet« und »wie es sich vollzieht«. Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass dieses Verständnis der Welt eine Weiterentwicklung von demjenigen aus dem 3. Teil der frühen Freiburger Vorlesung Phänomenologische Interpretation zu Aristoteles: Einführung in die Phänomenologische Forschung (1921/22) darstellt. Dort charakterisiert Heidegger die Welt ausdrücklich als »Gehaltssinn des Lebens«: »Die intransitiv-verbale Bedeutung ›leben‹ expliziert sich, konkret vergegenwärtigt, selbst immer als ›in‹ etwas leben, ›aus‹ etwas leben, ›für‹ etwas leben, ›mit‹ etwas leben, ›gegen‹ etwas, ›auf‹ etwas ›hin‹ leben, ›von‹ etwas leben. Das ›etwas‹ was seine Beziehungsmannigfaltigkeit zu ›leben‹ anzeigt in diesen scheinbar nur gelegenheitlich aufgerafften
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Ebd., S. 65. Ebd., S. 86. Ebd., S. 95.
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und aufgezahlten präpositionalen Ausdrücken, fixieren wir mit dem Terminus ›Welt‹.« 58
Als ein Phänomen artikuliert sich Leben immer in, aus, für, mit und gegen eine Welt. Leben ist immer ein faktisches Leben in einer Welt, ohne die Welt kann das Leben nicht zur Aufweisung gebracht werden. Leben und Welt sind nicht zwei für sich bestehende Objekte, sie können nicht getrennt werden, vielmehr ist das Leben in sich selbst weltbezogen. Ferner ist diese Bezogenheit vom Leben zur Welt nicht so, wie ein Tisch auf einen vor ihm stehenden Stuhl räumlich bezogen ist. Diese Bezogenheit ist eine innerliche; die Welt ist wie eine notwendige Seite des Gehaltssinnlichen im Phänomen des Lebens. Welt ist das, »was« gelebt wird, wovon Leben gehalten ist, woran es sich hält und woraufhin es durch Begegnung oder Erlebnis angezeigt wird. Dieses »Was« als »Gehaltssinn des Lebens« 59 muss aber formal anzeigend verstanden werden. Das besagt, dass Welt als der Gehaltssinn des Lebens nicht ein Vorhandenes ist, wie ein fertiggestelltes Ding, oder wie eine Substanz von res extensa bei Descartes, sondern sie und ihre Bedeutungsfunktion muss in der Bewegtheit und dem Sichvollziehen formal, strukturell anzeigbar bleiben. Welt ist strukturell ein Notwendiges im Phänomen des Lebens. Sie gehört zum Leben des Daseins. Weil das Dasein immer jemeinig ist, gibt es im ontischen Sinne viele »Welten«. Die Welten, die durch die Existenz des Daseins erst lichtend gemacht worden sind, sind die »Umwelten«. Die Umwelt ist grundsätzlich etwas Ganzheitliches, das selbst kein Seiendes ist, sondern sie ermöglicht Seiendes als innerweltlich Offenbares. Sie ist als Bedingung der Möglichkeit seines Erscheinens »früher« als das innerweltlich offenbare Seiende. 60 Das ist nur das ontische Verständnis von Welt, und Heidegger fragt in einem Heidegger, Phänomenologische Interpretation zu Aristoteles: Einführung in die Phänomenologische Forschung (1921/22), GA 61, S. 85. 59 »Gehaltssinn« gehört zu den drei Sinn-Richtungen der formalen Anzeige, welche die phänomenologische Methode Heideggers ist, was ich im 1. Kapitel schon erörtert habe. Die anderen zwei Sinnrichtungen des Lebens, nämlich der Bezugssinn und Vollzugssinn, sind jeweilig Sorge (GA 65, S. 89) und Ruinanz (GA 61, S. 131). Diese phänomenologische Explikation am Beispiel des Lebens ist auch ein guter Beweis dafür, dass die formale Anzeige im Grund Heideggers ganze Phänomenologie leitet und beherrscht. 60 Heidegger, Sein und Zeit, S. 72. »Welt ist selbst nicht ein innerweltlich Seiendes, und doch bestimmt sie dieses Seiende so sehr, dass es nur begegnen und entdecktes Seiendes in seinem Sein sich zeigen kann, sofern es Welt ›gibt‹.« Vgl. auch, Friedrich von Herrmann, Die Selbstinterpretation Martin Heideggers, S. 48. 58
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zweiten Schritt noch weiter nach dem Strukturganzen der besonderen Umwelten, nämlich nach dem ontologischen Verständnis von Welt, um das, was die Welt als Welt ausmacht, und zwar die Weltlichkeit der Welt, aufleuchten lassen zu können. Das innerweltliche Seiende, dem wir in der Umwelt zunächst begegnen, ist Zuhandenes. Das Zuhandene, mit dem wir im Alltag besorgend und gebrauchend umgehen, ist Zeug. Das Zeug fällt in einer Vertrautheit mit Welt nicht auf, und dabei wird es im Gebrauchen noch nicht lediglich als Vorhandenes betrachtet. Als ein Zeug hat das Zuhandene den Charakter des Um-zu, seine bestimmte Dienlichkeit. Das Sein des Zuhandenen hat deswegen die Struktur der Verweisung, d. h. das Zuhandene ist in der Art und Weise entdeckt, dass es von ihm selbst her auf anderes Seiendes verweist. Sein Entdecktsein ist ein Verwiesensein. Ein Hammer ist z. B. in seinem Gebrauch daraufhin entdeckt, dass er auf einen Nagel verwiesen ist und dadurch seine Dienlichkeit zeigen kann. Die seinsmäßige Verwiesenheit kommt darin zum Vorschein, dass es mit dem Hammer bei dem Hämmern sein Bewenden hat. Damit kommt Heidegger zu seinem Schluss dieser schönen phänomenologischen Beschreibung des Verhaltens zum Zeugen, dass die Bewandtnis des Seins des innerweltlichen Seienden ist. Wir sollten im Auge behalten, dass das Ziel, zu dem Heidegger durch diese Analyse des in der Umwelt begegnenden Seienden gelangen möchte, eigentlich die Weltlichkeit der Welt ist. Das heißt, dass Heidegger nicht mehr seine Analyse des innerweltlichen Seienden und der Existenz des Daseins nur ontisch denkt, sondern auch ontologisch. Heidegger drückt sein grundsätzliches phänomenologisches Anliegen mit dem folgenden Satz aus: »Bewandtnis ist das Sein des innerweltlichen Seienden, […] sie ist ontologische Bestimmung des Seins dieses Seienden, nicht eine ontische Aussage über das Seiende.« 61 Ob und inwiefern Heidegger diese Auffassung rechtfertigen kann, dass die Bewandtnis nicht eine ontische, sondern eine ontologische Bestimmung des innerweltlichen Seienden ist, lässt sich noch nachfragen und erläutern. Wenn es um ein ontologisches Verständnis geht, dann muss das Ganze in der Hinsicht auf das Sein überhaupt in irgendeiner Weise ins Spiel kommen. Wie verhält sich dann die Bewandtnis zum Ganzen? Zuerst kann man einen Bezug zwischen der Bewandtnis und 61
Heidegger, Sein und Zeit, S. 84.
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dem Nicht-bloß-ontischen dadurch herstellen, dass man die Bewandtnis von dem Substanz-Eigenschaft-Schema unterscheidet. Die Bewandtnis ist derart weit entfernt von der Eigenschaft des Seienden, dass die Bewandtnis immer eine Struktur des »mit … und bei …« hat. Mit dem Stift hat es sein Bewenden bei dem Schreiben. Was wichtig ist, ist dass dieses Wobei aber selbst sein Bewenden hat und ein Womit ist, das auf ein Wozu und Wobei verweist: Es hat mit dem Schreiben bei dem Denken-ausdrücken sein Bewenden; und wiederum: Es hat mit dem Denken-ausdrücken bei dem Selbst- und Weltverstehen sein Bewenden usw. Mit der Bewandtnis ist nämlich immer eine Verweisung auf ein anderes Seiendes mitgemeint. Das SubstanzEigenschaft-Schema bedeutet hingegen nur, dass eine bestimmte Kontingenz an (in) einem grundlegenden Seienden liegt, in dem es nicht um das Sichverhalten zu den anderen geht, sondern um ein bloßes An-sich. Zweitens kann man aus diesem Beispiel 62 erkennen, dass die Seienden in der Welt untereinander ursprünglich und seinsmäßig verzahnt und verklammert sind. Ferner sind die Verzahnung und Verklammerung, die durch die Verweisung aufgrund der Bewandtnis angezeigt worden sind, auch nicht nachträglich hinzugefügt zu einer Summe, sondern sie sind die apriorische Phänomenalität des Phänomens des Verweisens, und daher immer schon eine Ganzheit. 63 Insofern kann Heidegger mit Recht sagen, dass Bewandtnis »je aus der Bewandtnisganzheit vorgezeichnet ist.« 64 Außerdem: Diese Bewandtnisganzheit geht dem sich zeigenden Seienden so voraus, dass es nur innerhalb der Ganzheit erscheint. Nur vermittels des Ganzen: Stift – Schreiben – Denken-ausdrücken – Selbst- und Welt-verstehen, kann das Seiende, der Stift, sich in seinem Sein zeigen. Die Welt als Phänomen bedeutet das Woraufhin des Begegnenlassens von Seiendem in der Seinsart der Bewandtnis. Was noch zu betonen ist, ist dass das Dasein im Verstehen des genannten Bezugszusammenhangs, oder im Begegnenlassen sich aus einem ausdrücklich oder unausdrücklich ergriffenen, eigentlichen oder uneigentlichen Seinkönnen, d. h. aus
Heideggers diesbezügliches Beispiel ist: »(Mit dem Hammer) hat es seine Bewandtnis bei Befestigung, mit dieser bei Schutz gegen Unwetter; dieser ›ist‹ um-willen des Unterkommens des Daseins, das heißt, um einer Möglichkeit seines Seins willen.«, Sein und Zeit, S. 84. 63 Vgl. Friedrich von Herrmann, Die Selbstinterpretation Martin Heideggers, S. 49. 64 Heidegger, Sein und Zeit, S. 84. 62
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einem Worum-willen an das Womit der Bewandtnis verwiesen hat. 65 Im Ganzen: Stift – Schreiben – Denken-ausdrücken – Selbst- und Welt-verstehen, habe ich den Stift als Zuhandenes begegnen lassen, aber auch zugleich je schon mich aus meinem eigenen Seinkönnen verwiesen. Dieses strukturmäßige Ganze, woraufhin das Dasein sich verweist, nennt Heidegger die Weltlichkeit der Welt, nämlich die ontologische und existenziale Welt. Der eigentliche Denkweg Heideggers, den wir nun angezeigt haben, sollte von Umwelt zu Welt schlechthin laufen. Er sollte, wie bei Husserl, die phänomenologische Untersuchung der Welt von den Horizonten der besonderen Bewusstseinsakte zu dem Universalhorizont als dem absoluten Horizont vollziehen. Diese ontologische und existenziale Welt ist von Heidegger in Sein und Zeit aber nicht klar genug, nicht hinreichend thematisiert und erörtert worden.
3.2.3. Weltbegriff in den Jahren 1927–29: Welt als »das Woraufhin der vorgängigen Transzendenz« In Vom Wesen des Grundes (1929) wird der existenziale Weltbegriff erweitert und vertieft. Das, was Heidegger in Sein und Zeit durch die Explikation des besorgenden Umgangs mit dem Zuhandenen zur Aufweisung gebracht hat, ist das Phänomen der Umwelt. »Sie erschöpft aber noch nicht das volle Phänomen der Welt, sondern ist gewissermaßen nur ein Ausschnitt aus dem Ganzen, in dem das Dasein existiert« 66. Dieses über die Umwelt hinausgehende Ganze denkt Heidegger in dem Begriff des »Seienden im Ganzen«. Wie wir früher betonten, bedeutet »das Seiende im Ganzen« nicht die numerische Ganzheit des Seienden, nicht die Summe alles dessen, was ein Seiendes ist; es ist aber andererseits auch nicht identisch mit dem, was in den Titeln »Verweisungsganzheit« und »Bewandtnisganzheit« zum Ausdruck kommt. Das bedeutende Erschließen der Welt in Sein und Zeit fasst Heidegger in Vom Wesen des Grundes nun als das Übersteigen in Ganzheit, nämlich als die Transzendenz, d. h. nicht nur des zu besorgenden Zeugs, sondern des Seienden im Ganzen in der Hinsicht auf die Ganzheit, so dass durch diesen Überstieg das Seiende in seiner gegliederten Ganzheit offenbar wird. Dies führt dazu, dass 65 66
Vgl. ebd., S. 86. Friedrich von Herrmann, Die Selbstinterpretation Martin Heideggers, S. 53.
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Sein als das Ganze
Heidegger in Vom Wesen des Grundes die Welt als das »Woraufhin des vorgängigen Überstiegs des Seienden im Ganzen« 67 bezeichnet, und nicht mehr wie in Sein und Zeit als das »Woraufhin des Begegnenlassens von Seiendem in der Seinsart der Bewandtnis«, was von einer bestimmten Seinsart anstatt des Ganzen ausgegangen war. An dieser Stelle lohnt es sich, darauf hinzuweisen, dass gleich nach Sein und Zeit in der Marburger Vorlesung Die Grundprobleme der Phänomenologie (1927), der Marburger Vorlesung Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz (1928), der Freiburger Vorlesung Einleitung in die Philosophie (1928/29) und der Abhandlung Vom Wesen des Grundes (1929) der Begriff der Transzendenz ins Zentrum von Heideggers Denken gerückt ist. Während dieser Jahre 1927–29 hat Heidegger das Problem der Welt hinsichtlich der Transzendenz so tief wie möglich durchdacht. Ausgehend von dem zentralen phänomenologischen Thema der Intentionalität, welche die prinzipielle Fähigkeit des Menschen bezeichnet, sich auf etwas zu beziehen, genauer (bei Husserl), dass das Bewusstsein immer ein Bewusstsein von etwas ist, wollte Heidegger auf seinem Denkweg noch näher auf das Phänomen zurückgehen. Er erhob dabei zuerst einen Vorwurf gegen Husserls Konzept der Intentionalität, nämlich dass die Intentionalität im Sinne des Bewusstseins nur »in ihrer eingeschränkten Geltung für das Seiende im Sinne des Vorhandenen« 68 Bestand habe. Im ursprünglichen besorgenden Umgang mit dem Zeug als einem Zuhandenen ist mein Bewusstsein vom ihm noch nicht intendiert; es ist aber immer schon innerhalb des Verweisungszusammenhangs, obzwar unthematisch, verstanden; nur wenn seine Zuhandenheit unterbrochen ist, und zwar wenn es in eine Unverwendbarkeit geraten ist, fällt es auf und kommt in Betrachtung. Und genau in dem Augenblick verabschiedet die Zuhandenheit sich zugleich, das Zeug wird sich in ein Vorhandenes verwandeln. Ferner sucht Heidegger noch tiefgreifender als Husserl nach der Bedingung der Möglichkeit des Phänomens bezüglich des Sichverhaltens des Menschen. Heidegger fragt nicht nur, wie und warum das Dasein sich zu einem Zuhandenen verhalten kann, sondern er denkt ontologisch, dass das Dasein jedes einzelne Objekt immer in Bezug auf das Ganze versteht, nämlich dass das Dasein immer schon die Welt im Ganzen auslegen bzw. immer schon Sein überhaupt verste67 68
Vgl. Heidegger, Vom Wesen des Grundes, in: GA 9, S. 139, S. 141. Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie (1927), GA 24, S. 157.
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Heideggers Weltbegriff
hen können muss. Diesen »Überstieg in Ganzheit« nennt Heidegger »Transzendenz«, und sie ist die Bedingung des Sichverhaltens des Daseins überhaupt: »Das menschliche Dasein ist ein solches Seiendes, zu dessen Seinsart selbst es wesenhaft gehört, dergleichen wie Sein zu verstehen. Das nennen wir die Transzendenz des Daseins, die Urtranszendenz. Auf ihrem Grund verhält sich das Dasein zu Seiendem, ist es je schon an Seiendes im Ganzen geworfen.« 69 »Das Dasein ist das Transzendente. Gegenstände und Dinge sind nie transzendent. In der Grundverfassung des in-der-Welt-seins bekundet sich das ursprüngliche Wesen der Transzendenz. Die Transzendenz, das Über-hinaus des Daseins, ermöglicht es, dass es sich zu Seiendem, sei es zu Vorhandenem, zu Anderen und zu sich selbst, als Seiendem verhält.« 70
Transzendenz besagt übersteigen, aber woraufhin oder woraufzu übersteigt das Dasein? Es übersteigt Seiendes nicht gelegentlich, nicht dieses und jenes, mit Auswahl, sondern als Dasein übersteigt es Seiendes im Ganzen. Von daher können wir sagen, dass »im Ganzen« zur ontologischen Transzendenz gehört. »Dieses, woraufzu das wesenhaft transzendierende Dasein transzendiert, nennen wir Welt. Das Woraufzu des Übersteigs ist das, worin das Dasein als solches sich hält. Transzendieren heißt In-der-Welt-sein.« 71 Das Dasein transzendiert sich, es geht über sich hinaus, es kann sich dadurch erst zu etwas überhaupt verhalten, und zwar zu Vorhandenem, zu Zuhandenem, zu Anderen und zu sich selbst. Daraus ergibt sich: wenn alles Verhalten des Daseins zu Seiendem intentional ist, dann »ist die Intentionalität nur möglich auf dem Grunde der Transzendenz« 72. Das ist eine sehr wichtige Erweiterung und Entwicklung der Husserl’schen Phänomenologie, dass sie nicht nur die Divergenz zwischen Husserl und Heidegger zum ersten Mal deutlich macht, sondern auch die Phänomenologie in zwei verschiedene Richtungen auftrennt. Dies lässt sich in einer offenen und direkten Auseinandersetzung zwischen den Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz (1928), GA 26, S. 20. 70 Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie (1927), GA 24, S. 426. 71 Heidegger, Einleitung in die Philosophie (1928/29), GA 27, S. 307. 72 Heidegger, Vom Wesen des Grundes, in: GA 9, S. 139, S. 141. Der Gedanke, dass die Transzendenz der Intentionalität bzw. der objektivierenden Thematisierung vorausgeht, ist eigentlich in Sein und Zeit schon entfaltet. Siehe, Heidegger, Sein und Zeit, S. 363. 69
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Sein als das Ganze
beiden großen Phänomenologen über den phänomenologischen Zugang zur Problematik der Welt im Jahr 1927 zeigen. Es ging dabei um die Verfassung des Artikels »Phänomenologie« in der Encyclopedia Britannica. Husserl erhielt die Einladung von der Redaktion, dieses Stichwort zu verfassen und er schlug dafür eine Zusammenarbeit mit Heidegger vor. Nachdem sie in Hinblick auf die fundamentalen Probleme der Phänomenologie, bezüglich dessen, was für eine Hauptaufgabe sich die Phänomenologie stellen soll, nicht übereinstimmen konnten, schrieb Heidegger einen Brief an seinen Lehrer mit der Anrede »lieber väterlicher Freund«, um seine Bemerkungen zum Inhalt von Husserls Manuskript für dieses Projekt noch deutlicher zu fixieren. Zuerst gab Heidegger zu, dass die Problematik der Welt ganz wichtig für die Phänomenologie sei, ferner sie beide die Übereinstimmung teilen, dass die Welt »in seiner transzendentalen Konstitution nicht aufgeklärt werden kann durch einen Rückgang auf Seiendes von ebensolcher Seinsart« 73. Dennoch vertritt Heidegger bereits im Jahr 1927 die Auffassung, dass ein Seiendes, nämlich das Dasein, den Ort des Transzendentalen ausmacht, und das zentrale Problem von Sein und Zeit daher war: Welches ist die Seinsart des Seienden, in dem sich Welt konstituiert? Außerdem übte er eine Kritik daran, dass »die »einseitigen« Betrachtungen der Somatologie und reinen Psychologie nur möglich auf dem Grunde der konkreten Ganzheit des Menschen sind, die als solche primär die Seinsart des Menschen bestimmt.« 74 Daraus können wir ablesen, dass Heidegger die Phänomenologie bezüglich der zentralen Problematik der Welt zur Ontologie weiterentwickeln wollte, und nicht zur »reinen oder transzendentalen Psychologie« wie Husserl. Anstatt dass man durch die Struktur »Noema-Noesis« der Intentionalität die Bewusstseinsakte bzw. die Welt als deren Horizont beschreibt, besteht Heideggers phänomenologisches Anliegen darin, die Welt als woraufhin des Transzendierens des Daseins in Ganzen aufleuchten zu lassen. Für Heidegger ist die Konzentration auf die Intentionalität des Bewusstseins »einseitig«. Wonach er mit Hilfe der Phänomenologie suchen möchte, ist stattdessen das Ganze. Nun gewinnen wir die Erkenntnis noch deutlicher, was für eine wichtige Rolle die Suche nach dem Ganzen bei Heidegger gespielt hat. Und genau dies führt erst dazu, dass
73 74
Heideggers Brief an Husserl, 22. 10. 1927, in: Hua 9, S. 601. Ebd., S. 602.
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Heideggers Weltbegriff
Phänomenologie für ihn keine »deskriptive Psychologie« oder »transzendentale Psychologie«, sondern Ontologie ist. 75 Aus dieser Klärung wird deutlich, dass Heidegger sich immer »dem Ganzen« annähern möchte. Von ontischer Welt zu ontologischer Welt, von dem Strukturganzen in der Hinsicht auf die Seinsart der Bewandtnis des Zuhandenen und das Sichverweisen des Umwillens zu der Transzendenz in das Seiende im Ganzen. Dies ist z. B. in Einleitung in die Philosophie (1928/29) und Vom Wesen des Grundes (1929) zu beobachten. Die Annäherung an das Ganze ist sozusagen der tiefste Antrieb in Heideggers Denken – dies wird später noch deutlicher werden. Wenn Heidegger die Welt in Vom Wesen des Grundes als »Woraufhin des vorgängigen Überstiegs des Seienden im Ganzen« charakterisiert, führt er noch eine neue Erklärung der vierfachen Bedeutung des Weltbegriffes ein. Er erläutert: »Aus diesen knappen Hinweisen wird schon ein Mehrfaches sichtbar: 1. Welt meint eher ein Wie des Seins des Seienden als dieses selbst. 2. Dieses Wie bestimmt das Seiende im Ganzen. Es ist im Grunde die Möglichkeit eines jeden Wie überhaupt als Grenze und Maß. 3. Dieses Wie im Ganzen ist in gewisser Weise vorgängig. 4. Dieses vorgängige Wie im Ganzen ist selbst relativ auf das menschliche Dasein. Die Welt gehört mithin gerade dem menschlichen Dasein zu, obzwar sie alles Seiende, auch das Dasein mit in Ganzheit umgreift.« 76
Die Klarheit dieser vierfachen Bedeutung des Weltbegriffes schafft eine gute Zusammenfassung der transzendentalen Bestimmungen der Welt beim frühen Heidegger. Zuerst: Die Welt ist weder ein riesengroßes Seiendes wie ein leeres umfassendes Gefäß noch die Summe aller Seienden wie die Menge, die alle Elemente enthält, und deshalb die größte Mächtigkeit hat; sie ist kein Seiendes, kein Was, sondern sie ist ein Wie des Seins des Seienden. Die Welt konstituiert sich nicht als Seiendes, sondern am Seienden, welches die Welt bilden kann, also dem Dasein. In dem Sein des Daseins konstituiert sich die Welt. In diesem Sinne ist die Welt kein Was, sondern das Wie des Seins des Seienden. Dieses Wie als ein Mitspieler ist im Spiel des Heidegger schrieb in dem Brief an Husserl sogar: »Ontologie als Wissenschaft von der Welt und einer möglichen Welt überhaupt. Seinsverfassung der Welt.«, siehe Hua 9, S. 603; Siehe auch: »Philosophie ist ›Ontologie‹, und zwar radikale, und zwar als solche phänomenologische (existenziell, historisch-geistesgeschichtlich), bzw. ontologische Phänomenologie«, GA 61, S. 60. 76 Heidegger, Vom Wesen des Grundes, in: GA 9, S. 143. 75
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Sein als das Ganze
Lebens des Daseins immer dabei, immer miterschlossen. Dieser Mitspieler ist aber kein Seiendes, nicht direkt sichtbar, er ist vielmehr nur das Woraufhin der Transzendenz des Daseins. Zweitens, Dieses Wie geht auf das Seiende im Ganzen hin. Das Dasein übersteigt das Seiende nicht gelegentlich, nicht nur das Zuhandene, sondern immer das Seiende als solches, das Seiende überhaupt, und das Seiende im Ganzen. Dieses Wie im Ganzen ist außerdem deswegen vorgängig, weil die Welt die Ermöglichung des Sichverhaltens des Daseins zu etwas ist. Diese Vorgängigkeit darf nicht im Sinne der physikalischen Zeit von einem vorgängigen Jetzt-Punkt vor dem jenen bzw. auch nicht im Sinne der traditionellen Kausalität verstanden werden, sondern sie bedeutet einseitig »transzendental«, sie macht die Bedingung des Sichverhaltens des Daseins möglich. 77 Auf der anderen Seite ist diese Vorgängigkeit auch »faktisch«. Das besagt, dass die Welt als das Ganze immer schon so und so entdeckt sein muss, die Existenz des Daseins immer schon die Welt voraussetzt. Das Dasein, sofern es existiert, muss so etwas wie Sein schon verstehen. Dieses Seinsverständnis kann auch neutral sein, und zwar wenn Zuhandenheit und Vorhandenheit noch nicht unterschieden sind. Dieses Verstehen des Daseins kann unthematisch sein, kann auch noch nicht ontologisch begriffen werden, aber »es muss ihm eine Welt erschlossen sein.« 78 Das Dasein ist immer schon gegeben oder geworfen in eine Welt, und sie ist ihm auch irgendwie schon so und so erschloßen. Welt als Worin des Daseins gehört wesenhaft zur Faktizität des Daseins. Die faktische Vorgängigkeit der Welt, die sich im »immer schon erschlossen sein« offenbart, bedeutet nichts anderes als diese Vorausgesetztheit oder Zugehörigkeit. Damit ist negativ gemeint, dass die Welt bzw. In-der-Welt-sein nicht nachträglich als eine Eigenschaft oder ein Gewinn zum Dasein hinzugefügt ist. Diese oben genannte Doppeldeutigkeit der Vorgängigkeit der Welt ist – wenn man Heideggers philosophisches Projekt in Sein und Zeit richtig und tief genug verstanden hat – schon impliziert in Heideggers Ausdruck, dass In-derWelt-sein die Grundverfassung des Daseins ist. Die Bedeutung des »transzendentalen« z. B. in dem Ausdruck »transzendentale Philosophie« stammt von Kant. Er sagt: »Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht so wohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, sofern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt«, Siehe Kant, KrV, B25. 78 Heidegger, Sein und Zeit, S. 364. 77
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Heideggers Weltbegriff
Darüber hinaus müssen wir auch auf den folgenden Punkt aufmerken: Wenn In-der-Welt-sein die Grundverfassung des Daseins ist und die Welt in dem Maße auch das Ganze bezeichnet, dass Welt das Woraufhin des vorgängigen Überstiegs des Seienden im Ganzen bedeutet, dann ist das Dasein-Welt-Verhältnis jedenfalls auch ein TeilGanze-Verhältnis. Eine mögliche Schwierigkeit würde daraus entstehen, wie man erklären kann, dass das Ganze schon erschlossen ist, ohne dass gewisse Teile dieses Ganzen erschlossen sind. Wie kann Heidegger behaupten, dass das Dasein immer schon Sein als Ganzes versteht, während Zuhandenheit und Vorhandenheit des Seienden noch nicht unterschieden sind, mit anderen Worten, während noch nicht alle Teile dieses Ganzen des Seins erschlossen sind? Wir können eine Antwort auf diese Frage in dem folgenden Zitat aus Vom Wesen des Grundes finden: »Das menschliche Dasein – Seiendes inmitten von Seiendem befindlich, zu Seiendem sich verhaltend – existiert dabei so, dass das Seiende immer im Ganzen offenbar ist. Die Ganzheit muss dabei nicht eigens begriffen, ihre Zugehörigkeit zum Dasein kann verhüllt sein, die Weite dieses Ganzen ist veränderlich. Die Ganzheit ist verstanden, ohne dass auch das Ganze des offenbaren Seienden in seinen spezifischen Zusammenhängen, Bezirken und Schichten eigens erfasst oder gar »vollständig« durchforscht wäre. Das je vorgreifend-umgreifende Verstehen dieser Ganzheit aber ist Überstieg zur Welt.« 79
Laut Heidegger ist in der Existenz des Daseins das Seiende immer im Ganzen offenbar, ohne dass die spezifischen Zusammenhänge zwischen den Seienden »vollständig« offenbart sein müssen. Dies besagt, dass das Verhalten des Daseins zu dem Seienden immer ein umgreifendes Vor-greifen ist. Die Ganzheit, die im Verhalten des Daseins offenbart ist, ist nicht identisch mit der »Vollständigkeit«. Die Ganzheit ist kein nummerisches Ganzes, für welches die Summe nur eine Konsequenz aller Teile ist und daher die Teile dem Ganzen vorausgehen müssen. Wie in einer Linie: Nur wenn alle Punkte schon gegeben sind, gibt es erst die Linie als das Ganze; oder die Menge aller natürlichen Zahlen: nur wenn 1, 2, 3, 4, 5 … usw. alle Zahlen vorkommen, kann diese Menge als das Ganze vollständig sein. Im Gegensatz dazu ist das Ganze im Sinne der Welt im Verhalten des Daseins immer im Voraus schon mit-dabei, schon auf es hingedeutet. Unser Umgang mit dem Seienden ist – phänomenologisch betrachtet 79
Heidegger, Vom Wesen des Grundes, in: GA 9, S. 156.
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Sein als das Ganze
– immer ein Vor-greifen, was Heidegger mit der »Vor-sicht« bezeichnet. Wir sehen nicht nur ein sichtbares Seiendes, was sich gegenwärtig vor uns befindet, sondern wir sehen zugleich noch weiter etwas, was außerhalb und vor diesem Seienden ist. Was wir mehr gesehen haben, ist aber nicht ein anderes Seiendes, sondern der Horizont, innerhalb dessen wir und dieses Seiende sich befinden. Es geht nicht darum, ein weiteres Seiendes zu sehen, sondern darum, auf eine andere Weise dieses Seiende zu sehen. »Phänomenologisches Sehen ist Sehen auf die Weise: es sieht das Seiende in der Hinsicht auf seinen Horizont, im kurzen, mit der Hinsicht auf Sein.« 80 Für Heidegger ist diese Hindeutung der Vor-sicht auch von Seiendem auf Sein. »[D]ie Hinsicht; woraufhin es gesehen wird und gesehen werden soll, ist das Sein. Das Sein am Seienden soll abgelesen werden, d. h. was phänomenologische Interpretation in die Vor-sicht stellt, ist das Sein.« 81 Die Vor-sicht im Verhalten des Daseins zu Seiendem deutet auf das Sein hin, und das Sein als die Ganzheit des Seienden als solchem ist immer vorgängig miterschlossen. Innerhalb des Dasein-Welt-Verhältnisses besteht noch eine andere Paradoxie, nämlich: Die Welt als die Ganzheit des Wie ist einerseits relativ auf das Dasein, d. h. die Welt als das Ganze gehört wesentlich dem Dasein zu, aber auf der anderen Seite gehört das Dasein auch der Welt an, es ist in der Welt, die Welt als das Ganze umgreift alles Seiende. Dieses Paradox kann man so deutlicher umformulieren: Wie kann das Ganze einem Teil dieses Ganzen zugehören? Auf dieses Paradox werden wir im nächsten Kapitel noch eingehen. Hier können wir nur andeuten, dass der Schlüssel zu diesem Paradox in einem wesentlichen Verständnis von »Dasein« bei Heidegger besteht, dass nämlich das Dasein eigentlich nicht den jeweiligen Menschen, ein bloßes Teil des Ganzen des Seins, sondern wesentlich einen Ort bedeutet, an dem das Seiende als Teil und das Sein als das Ganze in Interaktion treten. Da-sein bedeutet: als Da für das Ganze und dessen Interaktion mit dem Teil offen-sein.
Jean-Luc Marion hat die Bedeutung der Vor-sicht bei Heidegger, nämlich das Seiende in der Hinsicht auf das Ganze, auf das Sein vorzusehen, eingesehen und interpretiert. Siehe: Jean-Luc Marion, Reduction and Givenness, Investigation of Husserl, Heidegger and Phenomenology, Northwestern University Press 1998, S. 63. 81 Heidegger, GA 20, S. 423. 80
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Heideggers Weltbegriff
3.2.4. Die Welt nach der Kehre Nach Einleitung in die Philosophie (1928/29) und Vom Wesen des Grundes (1929) erfährt Heideggers Weltbegriff noch weitere Wandlungen. In Überwindung der Metaphysik (1936) sagt Heidegger: »Denn ›Welt‹ im seynsgeschichtlichen Sinne (vgl. bereits ›Sein und Zeit‹) bedeutet die ungegenständliche Wesung der Wahrheit des Seyns für den Menschen, sofern dieser dem Seyn wesenhaft übereignet ist.« 82
Im Unterschied zu dem Weltbegriff beim frühen Heidegger, wo Welt ausdrücklich der Frage nach dem Dasein zugewiesen ist, hat die Welt nun einen »seynsgeschichtlichen Sinn«. Sie bedeutet nun die Wesung der Wahrheit des Seyns, und zwar das ontologische Geschehen der Entbergung-Verbergung des Seins. Die Welt ist nicht mehr statisch, sondern dynamisch und geschichtlich. Sie ist außerdem auch nicht mehr der Frage nach dem Dasein zugewiesen, sondern vielmehr dem Sein selbst. Wir können daraus deutlich erkennen, dass das Verständnis der Welt als die Wesung der Wahrheit des Seins zu Heideggers zweitem Denkstadium (»die Wahrheit des Seins«) gehört. In den Werken der 30er Jahre (Der Ursprung des Kunstwerkes (1935/36, in GA5) und Beiträge zur Philosophie (1936–1938, GA65)) charakterisiert Heidegger die Welt noch als »ein sich-öffnender Gegenspieler mit der Erde im Geschehen der Wahrheit als ein inniger Streit« 83. Die Welt duldet als das Sich-öffnende kein Verbergen. Die Erde aber neigt dahin, als das Bergende die Welt in sich einzubehalten. Der Streit zwischen Welt und Erde ist ein inniges Spiel, und sie sind durchaus nicht als zwei getrennte, vorhandene Dinge zu verstehen, sondern sie sind nur zwei Momente des Geschehens der Wahrheit des Seins selbst. Daher erzeugt dieses Gegeneinander keinen Riß. Sie umarmen einander. In Heideggers Worten ist dieses Spiel ein »liebender Streit«. Diese Konzeption der Welt gehört zu dem zweiten Stadium des Weltdenkens Heideggers. Daraus haben wir gelernt, dass die Welt zwar das ontologische Geschehen der Entbergung-Verbergung des Seins bezeichnet, aber nur als eine Seite oder ein Moment des Spiels des Seins, nämlich die Seite des Sich-Öffnens. Die andere Seite des Spiels des Seins kommt der Erde als dem Sichverbergen zu.
Heidegger, Überwindung der Metaphysik (1936), in: GA 7, S. 91. Vgl. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes (1935/36), in: GA 5, S. 35; Beiträge zur Philosophie (1936–1938), GA 65, S. 29, 264.
82 83
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Sein als das Ganze
Dementsprechend setzt Heidegger im Brief über Humanismus (1946) die Welt mit der »Offenheit des Seins« bzw. »Lichtung des Seins« gleich. Er behauptet dort: »›Welt‹ bedeutet in jener Bestimmung überhaupt nicht ein Seiendes und keinen Bereich von Seiendem, sondern die Offenheit des Seins. […] Dergestalt geworfen steht der Mensch ›in‹ der Offenheit des Seins. ›Welt‹ ist die Lichtung des Seins, in die der Mensch aus seinem geworfenen Wesen her heraussteht.« 84
Die Welt ist die Offenheit des Seins oder Lichtung des Seins. Damit ist mitgesagt, dass das Weltgeschehen und das Geschehen des Seins dasselbe sind. Die Welt weltet, indem und solange das Sein als Ereignis ereignet. Von der Welt als dem Geschehen der Wahrheit des Seins wird dabei gesagt, sie waltet für den Menschen. Sein eignet sich dem Menschen zu, und solange die Lichtung des Seins sich ereignet, übereignet sich Sein dem Menschen. Die Erschließung der Welt besteht nicht darin, dass das Dasein die Welt bildet, sondern darin, dass die Welt sich im Geschehen des Seins erscheint. Welt als die Lichtung des Seins zu verstehen, das ist ein Beleg dafür, dass Heidegger in seinem dritten Denkstadium die Welt in Hinsicht auf den »Ort des Seins« denkt. Lichtung ist das freie Offene, oder die Ortschaft, an der die Entbergung und die Verbergung, das Anwesende und das Abwesende zusammenspielen. Während Heideggers Seinsdenken in das dritte Stadium eintritt, nämlich wenn er die Sprache als »das Haus des Seins« 85 versteht, wird das Sprechen der dichterischen Sprache als die Versammlung des Logos zum Zentrum seines Denkens. Dementsprechend charakterisiert er in Das Ding (1950, in GA7), Unterwegs zur Sprache (1950–1959, GA12) die Welt als das Geviert, nämlich als das Spiegel-Spiel von Erde und Himmel, Göttlichen und Sterblichen: »Wir nennen das ereignende Spiegel-Spiel der Einfalt von Erde und Himmel, Göttlichen und Sterblichen die Welt. Welt west, indem sie weltet. Dies sagt: das Welten von Welt ist weder durch anderes erklärbar noch aus anderem ergründbar.« 86
Das Ding versammelt das Geviert und bringt es zum freien Spiel. Dieses Spiel ist in der Art und Weise ein Spiegel-Spiel, dass Erde 84 85 86
Heidegger, Brief über den Humanismus (1946), in: GA 9, S. 350. Ebd., S. 361. Heidegger, Das Ding (1950), in: GA 7, S. 181.
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Heideggers Weltbegriff
und Himmel, Göttliche und Sterbliche sich ineinander spiegeln und sich damit auseinander schmiegen. Indem das Ding derart das Geviert verweilt, ereignet sich das Dingen des Dinges und zugleich weltet die Welt. Dieses Welten der Welt gehört zum Geschick des Seins und daher kann menschliches Erkennen nicht an es gelangen. Der Grund dafür besteht nicht darin, dass man unfähig zu solchem Erklären und Begründen ist, sondern dass Ursachen und Gründe dem Welten der Welt ungemäß bleiben. Zusammenfassend lässt sich sagen: Das Problem der Welt ist in der Phänomenologie daher relevant, da es ursprünglich der Suche nach dem Ganzen entstammt, welche zu der Suche nach dem Seienden als solchen in der traditionellen Metaphysik Aristoteles’ gehört. Aber dennoch wird dadurch ein neuer, phänomenologischer Zugang gefunden. Das Denken der Welt durchdringt als ein zentrales Thema bei Heidegger seine philosophische Forschung seit der frühen Freiburger Vorlesung Phänomenologische Interpretation zu Aristoteles: Einführung in die Phänomenologische Forschung (1921/22) bis zum Ende seines Denkweges. Trotz der Vieldeutigkeit und Komplexität des Weltbegriffs bei Heidegger können wir sehen, dass die verschiedenen Weltbegriffe, der frühe (im ersten Denkstadium) und der späte (in den zweiten und dritten Denkstadien) ihr Gemeinsames darin haben, dass sie kein Seiendes, weder Substanz als res extensa wie bei Descartes, noch die Totalität der Seienden bedeutet, sondern Heidegger immer den Versuch unternimmt, die Welt als Phänomen zur Aufweisung zu bringen. Als ein Phänomen gilt es bei den beiden Weltbegriffen: »Welt ist nie, sondern weltet« 87. Beide Weltbegriffe sind auf das Dasein bezogen. Doch in der Art der Daseinsbezogenheit unterscheiden sie sich gerade. »Der frühe Weltbegriff ist ausschließlich existenzial und transzendental, der späte Weltbegriff dagegen so bestimmt, dass die Bewegung des Weltgeschehnisses in der Welt selbst ihren Ursprung hat.« 88 Das Welten der Welt, oder die Erschließung der Welt im frühen Weltbegriff besteht darin, dass das Dasein die Welt bildet, beim späten hingegen darin, dass die Welt sich im Geschehen des Seins erscheint. Der frühe ist existenzial und transzendental, der späte ist seinsgeschichtlich. Damit haben wir die erste Heidegger, Vom Wesen des Grundes, in: GA 9, S. 164. Auch: Heidegger, Das Ding (1950), in: GA 7, S. 181. 88 Friedrich von Herrmann, Die Selbstinterpretation Martin Heideggers, S. 62. 87
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Sein als das Ganze
Hauptfrage unserer Aufgabe beantwortet. Nun erst vermögen wir dem Anspruch gerecht zu werden, zu der zweiten Hauptfrage vorzudringen, nämlich wie die Welt sich zum Sein verhält.
3.3. Die Welt und das Sein 3.3.1. Die scheinbare Identität von Welt und Sein Die Welt ist die Offenbarkeit des Seienden als solchen im Ganzen. Die Welt macht das Seiende überhaupt zugänglich. Die Welt ist kein Seiendes und sie bedeutet auch nicht die Offenbarkeit an einem Seienden, ebensowenig die Eigenschaft eines Seienden, vielmehr bedeutet sie die Offenbarkeit schlechthin des je faktisch offenbar Seienden. Auf der anderen Seite hat Welt die Vorgängigkeit vor dem Seienden im zweifachen Sinne: transzendental und faktisch. Transzendentale Vorgängigkeit der Welt bedeutet, dass die Welt die Offenbarkeit des Seienden ermöglicht und sie die Bedingung der Möglichkeit der Offenbarkeit des Seienden ist; faktische Vorgängigkeit der Welt bedeutet, dass die Welt dem Dasein immer schon so und so erschlossen ist. Im Vergleich dazu können wir erstaunlicherweise herausfinden, dass das Sein fast genau die gleichen Bedeutungen und Funktionen wie die Welt hat, und sie beide nahezu die gleiche Rolle in Heideggers Denken spielen. Dies können wir sofort einsehen in Heideggers Erläuterung zum »Sein« am Anfang von Sein und Zeit: »Das Sein ist das, was Seiendes als Seiendes bestimmt, das, woraufhin Seiendes, mag es wie immer erörtert werden, je schon verstanden ist. Das Sein des Seienden ist nicht selbst ein Seiendes.« 89
Daraus ist ersichtlich: 1.) Sein, genauso wie die Welt, ist kein Seiendes; 2.) Sein bestimmt Seiendes als Seiendes; Wenn man auf das Ergebnis unserer Analyse im letzten Kapitel 1.3.4 rückblickt, dass der tiefste Sinn von Sein bei Heidegger letztendlich das Seinlassen ist, nämlich dass das Sein alles Seiende in sein jeweiliges Sein eintreten lässt, alles Seiende sein-lässt, dann bemerkt man sofort das Gemeinsame zwischen Sein und Welt, dass sie nämlich beide die Ermöglichung des Seienden im Ganzen sind; 3.) Sein, genauso wie die Welt, ist immer schon verstanden und dem Dasein erschlossen. 89
Heidegger, Sein und Zeit, S. 6.
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Die Welt und das Sein
Wenn wir wieder an den Begriff der Transzendenz denken bzw. die Erläuterung der Welt als »Woraufhin des vorgängigen Überstiegs des Seienden im Ganzen«, können wir darüber hinaus auch den Eindruck gewinnen, dass man Parallelen zwischen Welt und Sein bei Heidegger finden kann, da Heidegger an manchen Stellen auch behauptet: Woraufhin die Transzendenz übersteigt ist gerade das Sein. In Sein und Zeit heißt es z. B.: »Sein ist das transcendens schlechthin.« 90; in Die Grundprobleme der Phänomenologie (1927): »Wir übersteigen das Seiende, um zum Sein zu gelangen.« 91, und: »Das Dasein selbst ist in seinem Sein übersteigend und somit gerade nicht das Immanente. Das Transzendierende sind nicht die Objekte – Dinge können nie transzendieren und transzendent sein. […] Nur Seiendes von der Seinsart des Daseins transzendiert, so zwar, dass gerade die Transzendenz das Sein wesenhaft charakterisiert.« 92 Daraus erkennen wir, dass das Woraufhin das Dasein transzendiert zugleich auch das Sein ist. Damit ist es dann naheliegend zu meinen, dass Heidegger Sein in der Hinsicht auf Transzendenz die gleiche Bedeutung wie Welt verliehen hat. Es scheint so, dass wir daher mit Recht behaupten könnten, dass das Sein bei Heidegger eigentlich mit der Welt gleichgesetzt werden kann. Stimmt das so? Es gibt in der Tat Forschungsbeiträge, die dafür plädieren, Sein mit der Welt zu identifizieren. Friedrich-Wilhelm von Herrmann hat in seinem Buch Die Selbstinterpretation Martin Heideggers angedeutet, dass Welt und Sein dasselbe sind: »Wie verhalten sich das Seinsgeschehen und das Geschehen der Welt zueinander? Offenbar ist das Seinsgeschehen dasselbe wie das Weltgeschehen. Sind dann Sein und Welt zwei Begriffe für ein und dieselbe ontologische »Sache«? Denn wenn Welt die Wesung der Wahrheit des Seins ist, so sind offenbar Sein, Wahrheit und Welt dasselbe.« 93
Da Heidegger in Überwindung der Metaphysik (1936) sagt: »Denn ›Welt‹ im seynsgeschichtlichen Sinne (vgl. bereits ›Sein und Zeit‹) bedeutet die ungegenständliche Wesung der Wahrheit des Seyns für den Menschen, sofern dieser dem Seyn wesenhaft übereignet ist.« 94, 90 91 92 93 94
Ebd., S. 38. Heidegger, GA 24, S. 23. Ebd., S. 425. Friedrich von Herrmann, Die Selbstinterpretation Martin Heideggers, S. 60. Heidegger, Überwindung der Metaphysik (1936), in: GA 7, S. 91.
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Sein als das Ganze
kann die Welt, die einen »seynsgeschichtlichen Sinn« hat, so viel wie das ontologische Geschehen der Entbergung-Verbergung des Seins bedeuten. Die Auffassung, dass das Seinsgeschehen dasselbe wie das Weltgeschehen ist, veranlasst von Herrmann dazu, anzunehmen, dass bei Heidegger die Welt dasselbe wie das Sein ist. Ernst Tugendhat, der sich an Husserl und Heidegger anschließt und zugleich auch als einer der wichtigsten Vertreter der analytischen Philosophie in Deutschland gilt, versuchte Heideggers Seinsfrage mit sprachanalytischer Methode kritisch zu rekonstruieren. Er ging dabei davon aus, dass »Sein« bei Heidegger nur dasjenige meint, was der Existenzquantor in dem besonderen Fall des Satzes »Es gibt überhaupt etwas« ausdrückt; deswegen gelangt er auch zur Auffassung, dass Sein nichts anderes als die Welt im Sinne des »das Seiende im ganzen« bedeutet: »›Sein‹ ist jetzt das Wort für die Welt. Das heißt dann aber, sprachlich interpretiert, dass ›das Sein‹ überhaupt nicht mehr für das ›ist‹ überhaupt steht, sondern für dieses besondere ›ist‹, das im ›es gibt‹ zum Ausdruck kommt, das sich auf ›das Seiende im ganzen‹, auf die Welt bezieht.« 95
Tugendhat hat zuerst richtig gesehen, dass Sein kein Seiendes ist, d. h. nicht alles, was »ist«. Da wir nicht sagen können, dass Sein ist, sondern nur: Es gibt Sein, steht »das Sein« überhaupt nicht mehr für »ist«, sondern für »es gibt«. Angesichts dessen, dass Tugendhat den Satz »Es gibt Sein« mit einem »positiven umfassenden Existenzsatz (›es gibt etwas‹, ›Dass es überhaupt Seiendes gibt‹)« 96, was die Grundfrage der Metaphysik »Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr nichts« betrifft, identifiziert, steht das Wort »das Sein« demnach für »das Seiende im ganzen«, nämlich die Welt. Tobias Rosefeldt hat in seinem wegweisenden und sehr anregenden Aufsatz »Sein, Seiendes, Seiendheit: Eine These Heideggers aus Sicht der analytischen Ontologie« die Kritik an Tugendhat formuliert, dass das Sein, das schlechthin sich von Seiendem unterscheidet, überhaupt nicht als Seiendheit (als die Eigenschaft zu sein), nämlich die Eigenschaft des Seienden, die das Seiende zu diesem Seienden macht, zu verstehen sei. 97 Wenn Tugendhat das »Sein« bei Heidegger 95 Ernst Tugendhat, »Heideggers Seinsfrage«, in: Philosophische Aufsätze, Frankfurt am Main 1992, S. 124. 96 Ebd., S. 124. 97 Tobias Rosefeldt, »Sein, Seiendes, Seiendheit: Eine These Heideggers aus Sicht der
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Die Welt und das Sein
nur als dasjenige versteht, was der Existenzquantor in dem besonderen Fall des Satzes »Es gibt überhaupt etwas« ausdrückt, verwechselt er eben auch noch das Sein mit der Seiendheit. Außerdem weist Rosefeldt mit Nachdruck darauf hin, dass Heidegger im Text Einleitung zu »Was ist Metaphysik?«, auf den Tugendhat sich auch bezieht, deutlich behauptet, dass die Metaphysik nur nach »dem Seienden im ganzen«, und nie nach dem Sein selbst gefragt hat. Dort schreibt Heidegger: »Allein, die Metaphysik antwortet nirgends auf die Frage nach der Wahrheit des Seins, weil sie diese Frage nie fragt. Sie fragt nicht, weil sie das Sein nur denkt, indem sie das Seiende als das Seiende vorstellt. Sie meint das Seiende im Ganzen und spricht vom Sein. Sie nennt das Sein und meint das Seiende als das Seiende.« 98
Die Metaphysik denkt das Seiende als solches, sie sucht nach dem Seienden in doppelter Hinsicht: nach dem Seienden im Allgemeinen und im Ganzen. Selbst wenn sie das Sein nennt, meint sie in der Tat auch nur das Seiende im Ganzen. Aus dieser Behauptung ist es naheliegend zu meinen, dass Heideggers Seinsfrage nicht identisch mit der Grundfrage der Metaphysik »Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr nichts« ist. Die Seinsfrage geht über die Frage nach dem Seienden im Ganzen hinaus. Damit ist impliziert, dass es eine Fehldeutung Tugendhats ist, das Sein bei Heidegger mit »dem Seienden im ganzen« oder der Welt gleichzusetzen. Trotzdem hat Rosefeldt selber auch etwas missverstanden, wenn er versucht, Freges Dualismus von Begriff (als Funktion) und Gegenstand mit der ontologischen Differenz gleichzusetzen. Rosefeldt erläutert zuerst Freges Dualismus folgendermaßen: »Laut Frege lässt sich der Bereich all dessen, was es gibt, aufteilen in den der Gegenstände und den der Funktionen, und die beiden Bereiche überlappen sich nicht, d. h. nichts ist zugleich ein Gegenstand und eine Funktion. Frege entwickelt diese These anhand einer Grundunterscheidung zwischen zwei verschiedenen Typen mathematischer sowie sprachlicher Ausdrücke. Diese teilt er ein in solche Ausdrücke, die vollständig sind, – er nennt sie »Eigennamen« – und solche, die das nicht sind, weil sie – wie er es nennt – »eine leere Stelle enthalten«. […] Dass Frege den Existenzquantor als Prädikat zweiter Stufe behandelt, d. h. analytischen Ontologie«, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 2 (2003), S. 99–121, hier S. 103, 110 f. 98 Heidegger, Einleitung zu »Was ist Metaphysik?«, in: GA 9, S. 370.
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Sein als das Ganze
als Prädikat, das nicht die Eigenschaft eines Gegenstandes bezeichnet, könnte einen auf die Idee bringen, dass hier die wesentliche Gemeinsamkeit zwischen Heidegger und Frege zu finden ist. Sein nicht als Seiendheit zu verstehen, hieße Fregeanisch gewendet dann einfach, Existenz nicht als Eigenschaft von Gegenstand zu verstehen.« 99
Diese wesentliche Gemeinsamkeit zwischen Frege und Heidegger besteht laut Rosefeldt darin, dass der Ausdruck »Es gibt« (Existenz) z. B. in dem Satz »Es gibt etwas, das leuchtet« nicht die Seiendheit von etwas Seiendem bezeichnet. Der Satz besteht aus zwei Prädikaten, und enthält keinen Eigennamen, und um den Sinn dieses Satzes zu verstehen, nämlich ob er wahr oder falsch ist, kommt es darauf an, ob das Ergebnis der Quantifikation dieses »Etwas« Null oder mehr als Null ist. Frege meint daher, dass »es gibt« als Prädikat zweiter Stufe, d. h. als Äquivalent zu »Existenzquantor«, zu verstehen ist. Prädikat zweiter Stufe unterscheidet sich vom Prädikat erster Stufe, welches die Eigenschaft des Gegenstands bezeichnet; damit ist gesagt, dass der Satz »es gibt etwas« keine Aussage über etwas Seiendes ist. Dies entspricht bei Heidegger, dass Sein nicht als die Seiendheit zu verstehen ist. Wenn Rosefeldt das »es gibt« in Freges System einführt und seinen Dualismus so erläutert: der Bereich all dessen, was es gibt, lässt sich aufteilen in den der Gegenstände und den der Funktionen, und die beiden Bereiche überlappen sich nicht, dann ist dadurch zugleich ein neues Problem entstanden. Das Problem besteht darin, dass Frege die Existenz als eine höherstufige Eigenschaft von Begriff versteht. Konkret deutet Frege Existenz als den Umstand, dass etwas unter einen Begriff fällt, und meint »die Bejahung der Existenz ist nichts anderes als Verneinung der Nullzahl« bzw. »Existenz ist Eigenschaft eines Begriffs« 100. Einerseits bedeutet die Existenz (»es gibt«), dass etwas unter einen Begriff fällt, andererseits gehört der Begriff auch als ein Teil dem Bereich all dessen an, was es gibt. Daraus würde unvermeidlich ein logischer Zirkel entstehen. Es wird außerdem noch ein schwerwiegenderes Problem entstehen, wenn Rosefeldt Heideggers ontologische Differenz (Sein ist von dem Seienden zu unterscheiden) als einen Dualismus verstehen 99 Tobias Rosefeldt, Sein, Seiendes, Seiendheit: Eine These Heideggers aus Sicht der analytischen Ontologie, S. 107, 110. 100 Gottlob Frege, Die Grundlagen der Arithmetik. Eine logisch mathematische Untersuchung über den Begriff der Zahl, Breslau 1884, § 53, S. 65.
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Die Welt und das Sein
würde. 101 Es ist zwar wahr, zu sagen: Es gibt Seiendes; und es gibt auch Sein; und dies sind zwei verschiedene Ebenen. Aber es ist falsch, damit zu behaupten, dass sie zwei getrennte Bereiche wie bei Frege der Gegenstände und der Funktionen, die sich nicht überlappen, sind. Der Grund dafür besteht darin, dass das Sein überhaupt nicht ein anderer Bereich als der des Seienden ist, und ferner, dass »Es« und »sein Geben« im »es gibt Sein« bzw. »Es gibt Seiendes« in der Tat nichts anderes als Sein selbst bedeutet. Heidegger erläutert dies in seinem wichtigen späten Vortrag »Zeit und Sein« (1962): »Im ›Es‹ des ›Es gibt Sein‹ spricht ein Anwesen von solchem, was abwest, also in gewisser Weise ein Sein. Setzen wir dies an Stelle des Es, dann sagt der Satz: ›Es gibt Sein‹ soviel wie: Sein gibt Sein […] Wir behalten jedoch im Blick: Das Es nennt, jedenfalls in der zunächst verfügbaren Auslegung, ein Anwesen von Abwesen […] Demnach bezeugt sich das Es, das gibt, im ›Es gibt Sein‹, ›Es gibt Zeit‹, als das Ereignis.« 102
Das Denken kann nicht mit einem »Dualismus« wie »Es gibt Sein« und nebenbei auch »Es gibt Seiendes« zufrieden sein und dort aufhören, wo Frege zwei verschiedene Bereiche der Gegenstände und der Funktionen auseinanderhält, sondern es muss noch in das »Es« weitergehen und nach dem Ursprung des »Bereiches all dessen, was es gibt« suchen. Laut Heidegger muss das Denken nach dem Sein überhaupt, mit Heideggers Formulierung aus dem Vorwort zur ersten Ausgabe des ersten Bandes seiner Gesamtausgabe, nach »dem Einfachen des Mannigfachen im Sein« 103 suchen. Heidegger versteht dieses »Es« letztendlich als Sein selbst, und zwar als das Anwesen von Abwesen. »Es gibt Sein« bedeutet gerade »Sein gibt Sein«, und das »Sein«, das das Sein geben kann, muss als Ereignis verstanden werden. Das Ereignis ist dadurch von einem Geschehnis zu unter101 Diesen möglichen Fehler hat Markus Gabriel auch gesehen. Siehe Markus Gabriel, »Existenz, realistisch gedacht«, in: Der neue Realismus, Markus Gabriel (Hrsg.), Berlin 2014. S. 171–199, hier S. 178. »Obwohl Rosefeldt überzeugende Parallelen zwischen Freges Dualismus und Überlegungen Heideggers anstellt, liegt er falsch, wenn er den Dualismus von Begriff und Gegenstand mit der ontologischen Differenz identifiziert. Diese kommt bei Heidegger erst ins Spiel, wenn man die Frage nach dem Status des Bereiches (all dessen, was es gibt) stellt, in dem Freges Distinktion verortet werden soll. Heidegger beginnt deswegen dort, wo Frege aufhört.« 102 Heidegger, Zeit und Sein, in: GA 14, S. 23 f. 103 Heidegger, Vorwort zur ersten Ausgabe der »Frühen Schriften« (1972), in: GA 1, S. 56.
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Sein als das Ganze
scheiden, dass es das Schicken und Reichen eines Anwesens von Abwesen ist. Diese vertiefte Überlegung zum »Es gibt« ist eine notwendige Weiterentwicklung seines frühen Denkens; sie ist gewissermaßen auch schon impliziert in der These der ontologischen Differenz bzw. des Seinlassens. Jean-Luc Marion hat in seiner Studie Reduktion und Gegebenheit deutlich gezeigt, dass Heideggers phänomenologisches Projekt von Anfang an zweifach ist: Einerseits das Noch-nicht-sichtbare sichtbar machen, nämlich ein Seiendes zum Phänomen machen, andererseits aber das Sein, welches unsichtbar ist und nie zu einem gegenwärtigen Sichtbaren werden kann, auch als Phänomen sich zeigen zu lassen. 104 Um dieses zweifache phänomenologische Projekt zustande zu bringen, unternimmt Heidegger zwei Versuche: 1.) Im frühen Denken, insbesondere Sein und Zeit und Die Grundprobleme der Phänomenologie meint Heidegger, dass »das Sein am Seienden abgelesen werden soll« 105 und zum Sinn von Sein nur durch einen Umweg, nämlich durch die Analytik des Daseins zu gelangen ist. 2.) Im späten Denken, insbesondere Zeit und Sein, meint Heidegger, dass zum Sein durch die Erläuterung des »Es gibt Sein« »ohne das Seiende« 106, d. h. direkt als Phänomen zu gelangen ist. Es wird im nächsten Kapitel dieser Arbeit noch ausführlicher auf dieses Thema eingegangen. Hier ist nur anzudeuten, dass das Sein als ein Unsichtbares und Nie-zum-Sichtbaren-werdendes als Phänomen ans Licht zu bringen immer zu Heideggers phänomenologischen Grundaufgaben gehört hat. Sein ist nie wahrnehmbar und kann nie vorhanden sein. Wie kann man es dann als Phänomen, d. h. als Selbstgeben und Selbstgegebenheit zur Aufweisung bringen? Die Antwort: Das Sein ist das Anwesen von Abwesen und »Es gibt Sein« bedeutet »Sein gibt Sein«, Sein selbst gibt. Wie kann dann ein Anwesen von Abwesen selbst geben? Die Antwort: Sein entzieht sich im lichtenden Schicken und Reichen des Ereignisses. Heidegger dazu:
104 Vgl. Jean-Luc Marion, Reduction and Givenness, Investigation of Husserl, Heidegger and Phenomenology, Northwestern University Press 1998, S. 60–61. 105 Heidegger, Sein und Zeit, S. 7; GA 20, S. 423. 106 »Es gilt, einiges von dem Versuch zu sagen, der das Sein ohne die Rücksicht auf eine Begründung des Seins aus dem Seienden denkt. Der Versuch, Sein ohne das Seiende zu denken, wird notwendig.«, Heidegger, Zeit und Sein, in: GA 14, S. 5.
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Die Welt und das Sein
»Der Entzug gehört zum Eigentümlichen des Ereignisses. Das Schicken im Geschick des Seins wurde gekennzeichnet als ein Geben, wobei das Schickende selbst an sich hält und im Ansichhalten sich der Entbergung entzieht.« 107
Sein ist einerseits die transzendentale Ermöglichung des Seienden, dadurch dass Sein sich ereignet und das Seiende im Ganzen offenbart. Andererseits entzieht Sein sich der Entbergung, damit es als Unsichtbares, als nichtendes Nichts bleibt. Der Entzug ist der wesentliche Charakter des Seins selbst, was die Phänomenalität des Seins ausmacht. »Es gibt Sein« und »Es gibt Seiendes« sind daher Phänomene auf ganz verschiedener Ebene. Sie sind nicht zwei trennbare dualistische Bereiche, wie Rosefeldt vorschlagen würde, die sich nicht überlappen, sondern sie sind vielmehr ineinander geschlungen und machen zusammen die Tiefe eines Phänomens aus. Das »Es« im »Es gibt« ist weder die erste Ursache oder der unbewegte Bewegende im aristotelischen, metaphysischen Sinne noch Gott als ein Schöpfer im christlichen Sinne, sondern das sich-entziehende Sein selbst. Genau gesagt: Sein und Seiendes sind unterschiedlich nicht deswegen, weil sie in verschiedenen Bereichen liegen, sondern weil sie verschiedene Ebenen von einem Phänomen in einer einzigen Welt ausmachen. Damit gewinnen wir das Verständnis, wie Jean-Luc Marion mit einem schönen Wort formuliert, dass das Phänomen nicht flach ist, sondern eine Tiefe hat: »Diese Tiefe bedeutet nicht: Hinter dem Phänomen gibt es noch etwas, was noch zu erscheinen ist, sondern es bringt die Erscheinung des Phänomens selbst – in der Art und Weise von Sein, nämlich Nichts-Seiendem – die Tiefe von seiner Phänomenalität ans Licht … Die Tiefe des Phänomens treibt nicht nur zur Erkenntnis des Phänomens an, sondern radikaler, auch der Phänomenalität.« 108
Der Grund für die Entstehung dieser Tiefe besteht wesentlich darin, dass Sein zwar in der Erscheinung des Seienden auch miterschlossen ist, aber sich zugleich entzieht, d. h. das Anwesen von Abwesen ist.
107 108
Ebd., S. 27. Jean-Luc Marion, Reduction and Givenness, S. 63.
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Sein als das Ganze
3.3.2. Die Un-Deckungsgleichheit von Welt und Sein Heidegger besteht darauf, dass Sein nicht wie »das Seiende im Ganzen« zu verstehen ist, und die traditionelle Metaphysik zwar Sein nennt, aber eigentlich nur das Seiende im Ganzen meint. Wie oben schon angezeigt ist, dass das Problem des Ganzen in der Metaphysik sich in das Problem der Welt verwandelt, stellt sich weiterhin die Frage: Was macht den Unterschied von Sein und Welt aus? Wäre es vielleicht genau das, dass Sein im lichtenden Schicken und Reichen des Ereignisses sich entzieht? Hat Heidegger einmal deutlich das Verhältnis von Sein zur Welt thematisiert? Sehen wir uns die Dinge noch näher an. In der Freiburger Vorlesung aus dem Wintersemester 1928/29 Einleitung in die Philosophie versuchte er auf zwei Wege das Verhältnis von Philosophie zur Wissenschaft und zur Weltanschauung ans Licht zu bringen. Der erste Weg betrifft das Problem der Wahrheit und des Seins, der zweite betrifft das Weltproblem. Heidegger schafft letztlich eine klare Thematisierung des Verhältnisses von Sein zur Welt. »Das Seinsproblem – in seiner Ursprünglichkeit genommen – entrollt sich notwendig zu dem, was wir das Weltproblem nennen. Seinsproblem entrollt sich zum Weltproblem, Weltproblem bohrt sich zurück in das Seinsproblem, – das sagt, beide machen die in sich einheitliche Problematik der Philosophie aus. Was da als einheitliche Problematik des Seins- und Weltproblems aufbricht, ist das Problem der Transzendenz.« 109
Daraus wird klar: 1.) Seinsproblem und Weltproblem entrollen sich notwendigerweise zueinander; 2.) Seinsproblem und Weltproblem machen zusammen das einheitliche Ganze der Philosophie aus. Im Philosophieren fragt man einerseits nach der Wahrheit, nach der Unverborgenheit des Seienden und grundlegend nach dem Seinsverständnis und seiner Vorgängigkeit; andererseits auch nach dem Selbst, der Beziehung zur Welt und grundlegend nach der Bestimmung der Natur des Menschen, dass wir uns nämlich im Verhalten zur Welt auch zu uns selbst verhalten. In diesem Sinne machen Seinsproblem und Weltproblem das Ganze der Philosophie einheitlich aus; 3.) Die einheitliche Problematik des Seins- und Weltproblems besteht im Problem der Transzendenz. 109
Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, S. 391, 394, 395.
104 https://doi.org/10.5771/9783495824030 .
Die Welt und das Sein
Bedeutet die Transzendenz zur Welt und zum Sein das gleiche? Dazu erläutert Heidegger: »Am Ende des ersten Weges ergab sich uns: Seinsverständnis ist Transzendieren; nunmehr sagen wir: Transzendieren heißt In-der-Welt-sein. Wir betonten aber früher ausdrücklich, dass mit dem Seinsverständnis das Wesen der Transzendenz nicht erschöpft sei. Das können wir jetzt auch so ausdrücken: Zum In-der-Welt-sein gehört Seinsverständnis; dieses deckt sich aber nicht mit jenem, sondern ist nur ein Wesensmoment des In-der-Welt-seins. Darin liegt: Das Sein, seine mögliche Mannigfaltigkeit, das wir im Seinsverstehen, ob ausdrücklich oder nicht, verstehen, deckt sich keineswegs mit dem, was der Titel »Welt« besagt, wenngleich das Sein und alles, was dieser Ausdruck meint, zum Gehalt des Weltbegriffes gehört. In-der-Welt-sein ist primär mitbestimmt durch Seinsverständnis; aber dieses Sein als In-der-Welt-sein ist nicht nur ein vorgängiges Verstehen des Seins. Dieses Verstehen hat einen eigenen Charakter, kein theoretisches Kennen und Wissen.« 110
Das ist die Textstelle, an der Heidegger meiner Kenntnis nach am klarsten das Verhältnis des Seinsproblems zum Weltproblem unmittelbar charakterisiert hat. Er gibt einerseits zu: Die zwei Wege, auf denen er jeweils das Verhältnis von Philosophie zur Wissenschaft bzw. Wahrheit und Weltanschauung zu erhellen versuchte, überschneiden sich im Problem der Transzendenz. Transzendenz erschöpft sich nicht im Seinsverständnis, sondern Transzendieren heißt auch In-der-Welt-sein. Somit darf man sagen, dass In-der-Welt-sein primär durch Seinsverständnis mitbestimmt ist. Wenn es um den »Gehalt« geht, dann überlappen sich der Weltbegriff und das Sein. Aber anderseits besteht Heidegger darauf, dass Sein und Welt nicht deckungsgleich sind, sondern Sein nur ein »Wesensmoment des Inder-Welt-seins« ist. Es ist bedauerlich, dass Heidegger bis zum Ende dieser Vorlesung nicht mehr deutlicher auf dieses Verhältnis eingegangen ist. Da diese Vorlesung kurz vor der Kehre gehalten wurde, können wir auch nicht ganz sicher sein, ob Heidegger selber nach der Kehre weiterhin auf den zwei Behauptungen beharren würde. Eine mögliche Antwort können wir uns nur selbst geben. Heidegger sagte in Die Grundprobleme der Phänomenologie (1927): »Das Ganze dieser Bezüge, d. h. all dessen, was zur Struktur der Gesamtheit gehört, damit sich Dasein überhaupt etwas zu verstehen geben, d. h. sein Seinkönnen sich zu bedeuten geben kann, 110
Ebd., S. 307.
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Sein als das Ganze
nennen wir die Bedeutsamkeit. Diese ist die Struktur dessen, was wir als Welt in streng ontologischen Sinne bezeichnen.« 111 und in Metphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz (1928): »die Welt […] ist die ursprüngliche Ganzheit dessen, was sich das Dasein als freies zu verstehen gibt.« 112 Man kann dies so zusammenfassen: Welt bezeichnet die Ganzheit des im Dasein verstanden Seins. Welt als das Ganze bedeutet auch nicht die Gesamtheit der Seienden, sondern die Gesamtheit des Seins der Seienden, d. h. in diesem Kontext das Ganze der durch die Existenz des Daseins gelichteten Bezüge, in dem Dasein etwas überhaupt erst verstehen kann. In diesem Sinne ist die Welt ein lichtendes Struktur-Ganzes. Dieses »Lichtend« bedeutet nicht unbedingt ausdrücklich, ebensowenig theoretisch. Ob ausdrücklich oder unausdrücklich, praktisch zum Zuhandenen oder theoretisch zum Vorhandenen – Dasein hat immer schon die Welt als Ganzes verstanden. Die Welt ist immer lichtend und eröffnend, damit Dasein überhaupt verstehen kann. In den Werken der 30er Jahre (Der Ursprung des Kunstwerkes (1935/36, in GA5)), in denen Heidegger die Welt als »ein Gegenspieler mit der Erde im Geschehen der Wahrheit als ein inniger Streit« charakterisiert, sagte er: »Die Welt ist die sich öffnende Offenheit der weiten Bahnen der einfachen und wesentlichen Entscheidungen im Geschick eines geschichtlichen Volks […] Die Welt trachtet in ihrem Aufruhen auf der Erde, diese zu überhöhen. Sie duldet als das Sich-öffnende kein Verschlossen. Die Erde aber neigt dahin, als die Bergende jeweils die Welt in sich einzubeziehen und einzubehalten.« 113
Es ist kein Zufall, dass Heidegger die Welt als das Sich-öffnende im Streit mit der Erde charakterisiert hat. Dass die Welt wesentlich lichtend und sich-öffnend ist, gehört zu Heideggers Grundgedanken von In-der-Welt-sein, und eben auch zum Seinsproblem. Der Streit zwischen Welt und Erde ist ein »liebender Streit«, ein inniges Spiel und sie dürfen überhaupt nicht als zwei getrennt vorhandene Dinge verstanden werden, sondern sie sind zwei Momente des Geschehens der Wahrheit des Seins selbst. Hier ist damit der wesentliche Unterschied zwischen Welt und Sein aufgetaucht: Die Welt bezeichnet zwar das ontologische Geschehen der Entbergung-Verbergung des Seins, aber 111 112 113
Heidegger, GA 24, S. 419. Heidegger, GA 26, S. 247. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes (1935/36), in: GA 5, S. 35
106 https://doi.org/10.5771/9783495824030 .
Die Welt und das Sein
sie ist nur als eine Seite oder ein Moment des Spieles des Seins zu verstehen, nämlich die Seite des Sich-Öffnens. Die andere Seite oder das andere Moment des Spiels des Seins kommt der Erde, als dem Sichverbergen zu. Wie oben schon angezeigt ist, hat die Phänomenalität des Seins eine Tiefe. Sein kann nie evident sein, kann nie vergegenständlicht sein, weil es kein Seiendes ist. Sein ist dennoch in der Erscheinung des Seienden auch miterschlossen. Um das Sein als ein Phänomen sich zeigen zu lassen, muss diese Tiefe der Phänomenalität ans Licht gebracht werden. Die Tiefe besteht darin, dass Sein in seinem Sichzeigen auch zugleich sich entzieht. Sein ist wesentlich ein Anwesen von Abwesen, d. h. die Einheit als das Spiel zwischen Welt und Erde, Sich-öffnendem und Sich-verbergendem. Damit können wir nun letztendlich das Rätsel des Verhältnisses von Sein und Welt bei Heidegger entschlüsseln. Einerseits, wenn es um den »Gehalt« geht, überlappen sich der Weltbegriff und das Sein. Aber andererseits besteht Heidegger darauf, dass Sein und Welt nicht deckungsgleich sein können. Wenn es um den »Gehalt« geht, wenn wir von den Seienden und der Struktur oder Bezügen zwischen denen, an denen das Sein ablesbar ist und die Welt sich offenbart, sprechen, dann können Welt und Sein in diesem Fall sich natürlich überlappen. Dafür ergeben sich zwei Gründe: 1.) Sein und Welt betreffen beide das Seiende im Ganzen. Sie beide bedeuten nicht die Totalität oder die Summe aller Seienden, sondern die Offenbarkeit des Seienden als solchen im Ganzen. 2.) Die Phänomenalität des Seins hat zwar eine Tiefe, aber diese Tiefe bedeutet nicht: Hinter dem Phänomen gibt noch etwas, was noch erscheinen kann. Welt und Sein haben den gleichen Gehalt. Die ontologische Differenz, nämlich, dass das Sein von dem Seienden bzw. auch von dem Seienden im Ganzen zu unterscheiden ist, besteht nicht darin, dass sie in verschiedenen Bereichen liegen, oder dass Sein mehr »Gehalt« als das Seiende hat. In diesem Sinne können wir behaupten, dass solche Ausdrücke wie »Sein als solches«, »Sein überhaupt«, »Sein im Ganzen« im Sinne von »Extention« der Worte gleichbedeutend mit »Welt« sind. Wenn es nur um den »betreffenden Gehalt« geht, ist »Sein selbst« auch identisch mit »Welt«, aber nicht im Fall der Phänomenalität des Seins, weil es dann um die »Intention«, nämlich den Sinn der Wörte geht. Auf eine vereinfachte Weise könnte man wohl zusammenfassen, dass »Sein« und »Welt« bei Heidegger die gleiche »Extention« haben, aber verschiedene »Intentionen«. 107 https://doi.org/10.5771/9783495824030 .
Sein als das Ganze
Warum gilt aber auf der anderen Seite auch, dass das Sein und Welt nicht identisch, nicht deckungsgleich sind? Dies ist klar der Fall, wenn es um die Tiefe der Phänomenalität des Seins geht. Das Sein ist derart mehr als die Welt, dass die Welt nur eine Seite, ein Moment oder ein Gesichtspunkt des Spieles des Seins ist. Die Phänomenalität des Seins besagt, dass das Sein im Geschehen des Spiels der Entbergung-Verbergung nicht nur sich öffnet, sondern zugleich auch sich entzieht. Sein muss zwar als Phänomen sich zeigen, aber es ist nach seinem Wesen Nie-zum-Sichtbaren-werdendes. Damit scheint alles darauf hinzudeuten, dass Sein zwei Seiten hat, dass es einmal auf einer Seite das Ganze als die Welt, auf der anderen Seite aber das Nichts ist. Das Sein ist in gewisser Weise eine Synthesis von Allem und Nichts. In diesem Sinne müssen wir auch feststellen: Wenn Heidegger den Ausdruck »Sein selbst« verwendet, also wenn er die Seite des »nichtenden« Seins betont, ist es falsch, zu sagen, dass Sein und Welt deckungsgleich sind. Es bleibt unsere nächste Aufgabe, zu erklären, wie genau Heidegger das Sein im Hinblick auf das Nichts enthüllt und mit welchem Recht man sagen kann, dass das Sein die Einheit von dem Ganzen und dem Nichts ist.
3.3.3. Finks Entwicklung des Weltbegriffs: Welt als »das Feld des Seins« Bevor wir der Problematik des Nichts nachgehen, könnte der Blick auf einen Denker erhellend sein, dessen Ansatz mit dem Welt- und Seinsproblem in der Entwicklung der Phänomenologie auf’s Engste verbunden ist, nämlich Eugen Fink. Finks zentrales Anliegen und der wichtigste Beitrag zur Phänomenologie war es, das ursprüngliche Phänomen der Welt zur Sprache zu bringen und damit zugleich die ontologische Differenz (Sein ist von dem Seienden zu unterscheiden) bei Heidegger zu der »kosmologischen Differenz« 114, nämlich dem Unterschied zwischen Welt und innerweltlich Seiendem, ins Verhältnis zu setzen. Fink denkt das 114 Fink denkt weiterhin noch: »Der Unterschied von Sein und Seienden entspricht dem Unterschied von Welt und binnenweltlich Seiendem. Die ontologische Differenz hat ihren Widerschein in der kosmologischen.«, siehe Eugen Fink, Welt und Endlichkeit, Würzburg 1990. S. 166.
108 https://doi.org/10.5771/9783495824030 .
Die Welt und das Sein
Weltganze als Streit von Licht und Dunkel, als die »Liebesumarmung von Ouranus und Gaiia«, von lichtendem »Himmel« und bergendverbergender »Erde«. Dieser liebende Weltstreit ist der Ursprung, der alles, was ist, entspringen, erscheinen lässt. Welt ist einerseits das Offene, der Himmel, dessen jedes Erscheinen bedarf; andererseits ist Welt auch das Bergende, die Erde, in der jedwedes Seiende sich hält und aufhält, um zu erscheinen. »Es gibt die Welt nicht, wie es Tag und Nacht gibt. Sondern Welt ist das, was alles ›gibt‹, was alles schenkt, von dem wir dann sagen: ›es gibt es‹« 115. Welt ist gerade dieses »Es«, und dieses Es kann genauso wie bei Heidegger nicht ein Ding sein, auch nicht die Totalität aller Dinge, sondern »Welt ist der in der spielenden Weltbewegung eröffnete Spielraum, in dem alle Dinge erscheinen und in der Weltzeit und im Weltraum ihr Auskommen haben.« 116 Zeit und Raum sind die Grunddimensionen, die Weltmomente, in denen Welt waltet. Zeit muss gefasst werden als zeitlassende Zeit und Raum als raumgebender Raum im Walten der Welt. 117 Dass Welt vor allem als Spiel, d. h. spielerisch, also nicht zielgerichtet zu verstehen ist, hat schon impliziert, dass die Welt bei Fink dynamisch ist. Die Welt »steht nicht«, sondern ist vielmehr das Werden selbst. Das heißt, Welt ist nicht nur der Mutterboden all dessen, was überhaupt existiert, sondern zugleich auch das Spielfeld aller Abläufe und Zusammenhänge zwischen den Dingen. Anders als Heidegger, der insbesondere in den 20er Jahren betont, dass der Mensch die Welt bildet und im praktischen »Besorgen« und »Begegnen« mit den Dingen den Verweisungszusammenhang »entdeckt« oder erschließt, legt Fink seinen phänomenologischen Nachdruck auf das Sicherscheinen des Dinges selbst. Dazu erläutert er: »[W]ir kommen sozusagen nie dazu, das Ding ohne sein Erscheinen zu erfassen, – wir können das Ding nicht abgelöst von seiner Äußerung und Darbietung packen. Zum Ding können wir uns nur so verhalten, dass wir uns auf die Weise einlassen, wie es uns entgegenkommt. Alles Seiende kennen wir einzig aus seinem Entgegenkommen.« 118 Ebd., S. 207. Katharina Schenk-Mair, Die Kosmologie Eugen Finks: Einführung in das Denken Finks, Würzburg 1997, S. 48. 117 Eugen Fink, Existenz und Coexistenz: Grundprobleme der menschlichen Gemeinschaft, Würzburg 1987, S. 211. 118 Eugen Fink, Sein, Wahrheit, Welt, Vor-Fragen zum Problem des Phänomen-Begriffs, Den Haag 1958, S. 131. 115 116
109 https://doi.org/10.5771/9783495824030 .
Sein als das Ganze
Fink zufolge liegt unserem Begegnen mit den Dingen schon das Sicherscheinen der Dinge selbst zugrunde. Wir können nur die Dinge besorgen und erkennen, sofern die Dinge von sich her darauf hin angelegt sein müssen, in den Lichtkreis eines erkennenden Wesens eintreten zu können; sie müssen belichtbar, müssen »intelligibel« von Hause aus sein. Das Verhalten des Menschen zu den Dingen ist auch nie eine Herstellung oder Schöpfung, sondern ein Einlassen, wie es uns entgegenkommt. Damit ist gesagt, dass jedes Verhalten des Menschen zu den Dingen nicht nur eine aktive Spontaneität, sondern immer eine spontane Rezeptivität ist. 119 Dazu gehört auch Finks eigentümliches Verständnis des Menschen. Er meint, dass der Mensch nicht deswegen ein ausgezeichnetes Seiendes ist, weil er die Mitte des Seienden ist, sondern weil er »wesentlich ein Mittler« 120 ist. Er steht im Zwischen von Licht und Dunkel und ist zugleich offen für das Licht des Himmels und vertraut mit der dunklen Erde. Da die Dinge selbst erscheinen, die Bewegung des Erscheinens vollziehen, sie ins Offene aufgehen bzw. in den Lichtkegel eines mit Vorstellungskraft begabten Seienden, vornehmlich des Menschen, geraten, ist dann der Erhellende und Sinn-gebende nicht mehr das entdeckende Verhalten des Menschen, sondern die dynamische Welt selbst, der der Mensch als ein Teil mit den Dingen innewohnt. Fink erläutert dazu: »Das Seiende ist im Erscheinen vermittelt, – vermittelt sind die Dinge einander und auch uns, den vorstellenden Wesen. Wir nannten die Vermittlung das absolute Medium. In ihm leben und bewegen wir uns, in ihm spielt auch das Sein alles Seienden. Das absolute Medium, das vorgängig alles Seiende umgreift und einbegreift, ist die Welt. Sie ist der Spielraum und die Spielzeit aller Dinge. In ihr ist alles versammelt, geeinigt und geschieden, was überhaupt ist, – sie ist das Feld des Anwesens, wo die Dinge zum Vorschein kommen und wo der Mensch das Seiende teilweise erfährt und gänzlich apriori weiß. Sie ist die universale Gegend aller Lichtung und Erkenntnis. Sie ist das Feld des Seins.« 121
Die Welt ist der Mutterboden all dessen, was überhaupt existiert und all der Strukturen und Zusammenhänge der Dinge, aber sie ist kein 119 Heidegger hat an einigen Stellen in der Tat auch ähnliche Überlegungen entfaltet, Siehe Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, S. 75. 120 Eugen Fink, Natur, Freiheit, Welt, Würzburg 1992, S. 59. Siehe auch Eugen Fink, Nähe und Distanz, Freiburg/ München 2004, S. 137. 121 Eugen Fink, Sein, Wahrheit, Welt, S. 141.
110 https://doi.org/10.5771/9783495824030 .
Die Welt und das Sein
Ding, sondern »das absolute Medium«, durch das die Dinge, eingenommen den Menschen, einander vermittelt sind. Dieses absolute Medium umgreift und einbegreift alles Seiende und als das Ganze ist sie nicht ein nachträglich zusammengestücktes Ganzes, sondern sie hat eine eigentümliche Vorgängigkeit, weil sie als der Gesamthorizont immer und überall die tragende Grundstimmung aller Dinge, aller Zeit und Räume ist. Der Mensch ist zwar ein endliches Lebewesen, d. h. er kann immer nur das Seiende teilweise erfahren, aber er transzendiert zugleich auch. Die Transzendenz bedeutet nicht eine reale Vorgangsbewegung, wie z. B. außerhalb der Erde zu fliegen, sondern eine Bewegung des Verstehens. Das besagt, dass der Mensch teilweise erfährt, aber gänzlich die Welt versteht. Die Vorgängigkeit des Welt-Ganzen bedeutet: Sie ist auch vor aller Erfahrung und vor allem Verstehen des Menschen vorläufig. Die menschliche Aktivität gehört auch zum Geschehen der Welt. Das Geschehen der Welt ist das Urereignis, das die wirbelnden Bewegungen des Erscheinens und Verbergens des Dinges überhaupt vollziehen lässt, einander vermitteln lässt und dann den Sinn und die Zusammenhänge erhellt. Mit dem Ausdruck »Welt ist das Feld des Seins« hat Fink eigentlich die Unvereinbarkeit zwischen Welt und Sein bei Heidegger aufgehoben. Es ist entscheidend, dass Fink das Spiel als zwischen lichtendem Himmel und verbergender Erde bezeichnet, anstatt zwischen Welt und Erde wie bei Heidegger. So ist die Welt nicht mehr nur eine Seite des Seins, nämlich des Sich-öffnens, sondern das Ganze all dessen, was sich lichtet und sich verbirgt. Welt bedeutet nicht mehr wie bei Heidegger nur einen Teilnehmer des Spiels des Seins, vielmehr ist sie laut Fink genau das, was dieses Spiel des Seins vollziehen lässt, und zugleich das Dort, wo dieses Spiel selbst geschieht. Somit besitzt die Welt nun in sich die Tiefe oder den »Spielraum«, damit das Erscheinen und Verbergen, Entstehen und Vergehen des Dinges miteinander spielen können. Die Vereinbarkeit und Einheit von Welt und Sein lässt sich in folgenden Formulierungen Finks nachweisen: »[D]as Sein durchmachtet alle seienden Dinge und ist doch selbst kein Seiendes; es umfängt uns und doch können wir es nicht fassen. Es ist überall und nirgends. Es durchzieht die Dinge und ist doch kein fixierbares Moment an den Dingen.« 122
122
Ebd., S. 67.
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Sein als das Ganze
»Das Sein ist kein vorhandener Block, keine Ansammlung, kein Vorgang: es ist als der urspringende Aufgang für alle Dinge und Vorgänge; Sein ist, indem es als Welt waltet. Welt ist das Aufgehen des Seins.« 123
Die Welt ist das Feld des Seins, sie ist dort, wo das Sein aufgeht. Noch genauer: Sein kann auch nur als die Welt aufgehen. Sein ist nicht Aufgang von etwas, es kann nie vollkommen vorhanden sein, es ist vielmehr der Aufgang als solcher im Ganzen. Diese in philosophischer Nähe zu Heidegger entfalteten Überlegungen sind eine wesentliche Entwicklung der Phänomenologie. Am 26. Juli 1975, einen Tag nachdem Fink gestorben war, schrieb Heidegger auf dem Deckblatt von Band 29/30 seiner Gesamtausgabe Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, in dem er das Problem der Welt zentral thematisiert: »Eugen Fink zum Gedächtnis. Er hat diese Vorlesung mit nachdenksamer Zurückhaltung gehört und dabei schon eigenes Ungedachtes erfahren, das seinen Weg bestimmte.« 124 Es gehörte immer zur Hauptstrategie von Heideggers Philosophieren, das Ungedachte im Gedachten weiterzudenken. Dementsprechend können wir annehmen, dass diese Bemerkung von Heidegger zu Finks Forschung über die Welt eine große Anerkennung ist. Mit dieser Entwicklung der Welt-Forschung in der Phänomenologie hat Fink mindestens die folgenden zwei Beiträge geleistet: 1.) Er hat den existenziellen und existenzialen Weltbegriff bei Heidegger zu einem kosmologischen entwickelt, damit gelangt er zu der Auffassung, dass die ontologische Differenz bei Heidegger, nämlich der Unterschied von Sein und Seiendem, der kosmologischen Differenz, nämlich dem Unterschied von Welt und innenweltlich Seiendem, entspringt. 125 2) Er hat einen ambitionierten Versuch unternommen, die Grundfrage der Metaphysik »Warum ist überhaupt Seiendes – und nicht nichts?« auf eigene Weise erneut zu beantworten: »Seiendes ist, weil Welt waltet. Mit diesem Satze antworteten wir auf die vielberufene Frage: Warum ist überhaupt Seiendes – und nicht nichts? […] Die Frage, warum überhaupt Seiendes ist, bekommt die Form: warum Binnenweltliches ist. Darauf kann gar nicht mehr im Stil der Metaphysik geantwortet werden, etwa mit der Angabe irgendeines, 123 124 125
Eugen Fink, Welt und Endlichkeit, S. 205. Heidegger, GA 29/30, S. VI. Vgl. Eugen Fink, Welt und Endlichkeit, S. 166.
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Die Welt und das Sein
und sei es des großmächtigsten Dinges, dass dieses der ontische Grund der anderen Dinge sei. Denn es geht nunmehr nicht mehr um ein ontisches, d. h. prinzipiell binnenweltliches Gründungsverhältnis, sondern um die Weise, wie das erscheinende Seiende im Zeitraum der Welt zum Aufschein gelangt, wie es darin ausgesetzt und auseinandergesetzt wird. Die Universal-Frage nach dem Warum aller Dinge führt zum Individuationsproblem. Die Welt waltet, indem sie Raum gibt und Zeit lässt. Sie ist das Raumgebende und Zeitlassende für alle Dinge.« 126
Das ist eine so profunde Antwort, dass wir in der gegenwärtigen Debatte über das Weltproblem und die Varianten dieser Endfrage der Philosophie 127 auch immer wieder auf sie zurückkommen und wesentliche Hinweise aus ihr ziehen können. Warum ist überhaupt Seiendes? Finks Antwort ist ganz klar und deutlich: Weil die Welt waltet. Und wie waltet die Welt? Dadurch, dass sie Raum gibt und Zeit lässt, d. h. alle Dinge zum Erscheinen und Verbergen, zum Entstehen und Vergehen bewegen lässt. Diese Antwort ist nicht mehr metaphysisch, weil sie nicht nach einem ontischen Grund aller anderen Dingen, d. h. nach einem größten Seienden fragt, sondern nach der Weise, wie jedes Ding innerweltlich ist, wie es erscheint, sich verbirgt, dem Menschen entgegenkommt und den anderen Dingen vermittelt. Warum ist dann nicht Nichts? Finks Antwort ist wiederum ganz klar und deutlich: Weil Welt ist, ist das Nichts nicht. Die Welt als der Erscheinungs-Zeit-Raum ist universal, sie ist überall und allezeit; es gibt daher keinen Ort und keine Weile, welche vom Nichts eingenommen werden könnte. Könnten wir aber nicht mit einem Gedankenexperiment alle binnenweltlichen Dinge wegdenken und so das Raumfeld und Zeitfeld entleeren, sodass am Ende die ganze Welt vernichten würde? Finks Antwort: Solche »Leere« ist selber innerhalb von Raum und Zeit – und setzt den Zeit-Raum selbst als den »Boden« für alle Einzeldinge, nämlich die Welt als das Ganze, voraus. 128 Eugen Fink, Alles und Nichts, Den Haag 1959, S. 237, 242. In letzter Zeit gab es viele Diskussion sowohl an der Universität als auch in der Öffentlichkeit über das Welt-Problem und die Varianten der Grundfrage der Metaphysik. Dies kann auf zwei populäre philosophische Publikationen zurückgeführt werden: Markus Gabriel, Warum es die Welt nicht gibt, Berlin 2013, und Jim Holt, Why Does the World Exist?, New York 2012. Es ist auffallend und interessant, dass die Titel der nahezu gleichzeitig veröffentlichen populären Bücher einander so scharf widersprechen. Eine mögliche Antwort auf diesen »Widerspruch« kann man in vorliegender Arbeit finden, wenn man das Weltdenken im Bereich der von Husserl, Heidegger und Fink vertretenen Phänomenologie ernst nimmt und sorgfältig liest. 128 Vgl. Eugen Fink, Alles und Nichts, S. 2. 47. 126 127
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Sein als das Ganze
Es ist hier erforderlich, im Auge zu behalten, dass Fink das Nichts in drei verschiedenen Bedeutungen unterscheidet. Das Nichts, das nichts ist, nennt er »das Nichts schlechthin«. Wenn das Nichts schlechthin wäre, so wären weder Dinge noch Welt. Weil die Welt ist, ist dieses schlechthinnige Nichts nicht. Das Nichts bekundet sich in den zahllosen Gestalten der »Negativität«, die den Gang und die Übergänglichkeit der Einzeldinge in Unruhe und Bewegung hält. Dazu gehört Hegels Begriff des Nichts. Darüber hinaus gibt es dennoch letztendlich »das absolute Nichts«, das »nicht mit der Weltallheit des zeit-räumlichen Erscheinens wetteifert, sondern nur als die schweigsame Nacht des Hades alles oberweltlich Erscheinende, Scheinende und Leuchtende in eine letzte Fragwürdigkeit reißt« 129. Fink nennt den Spielraum dieses absoluten Nichts »das Totenland«, um das wir als sterbliche Menschen wissen, da aus ihm alles aufgeht und darein alles vergeht. Die Welt ist in diesem Sinne nach Fink zugleich Alles und Nichts, d. h. zugleich der Zeit-Raum und Totenland. Damit können wir nun zum Thema des Nichts bei Heidegger kommen.
129
Ebd., S. 249.
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4. Sein als das Nichts
»Wie der Mond, so hat gewiß das Leben eine uns dauernd abgewendete Seite, die nicht sein Gegenteil ist, sondern seine Ergänzung zur Vollkommenheit, zur Vollzähligkeit, zu der wirklichen heilen und vollen Sphäre und Kugel des Seins.« – Rilke, Brief vom Dreikönigstag 1923.
4.1. Nichts und Verneinung 4.1.1. Geteilte Wege: Der Streit um »das Nichts« Wenn Heidegger das Ganze denkt, denkt er zugleich auch das Nichts. Bekannt als ein Denker des Nichts innerhalb der Geschichte westlicher Philosophie, stellt Heidegger in seiner Freiburger Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? (1929) die umstrittene Formel »das Nichts selbst nichtet« 1 als die zentrale Denkfigur auf. Damit ist er einen weiteren wichtigen Schritt auf dem Weg der Suche nach dem Sein gegangen. Dieser Ausdruck ist so ungewöhnlich, dass er vom Logischen Empirismus scharfer Kritik unterzogen wurde, der sich zuerst im Wiener Kreis verbreitete und dann die analytische Philosophie in Amerika geprägt hat. Dieser Logische Empirismus vertritt die Haltung, eine logisch korrekt aufgebaute Sprache zu entwickeln, in der die Metaphysik gar nicht ausgedrückt werden kann. Rudolf Carnap, der radikalste Vertreter dieser Strömung, hat in seinem Aufsatz »Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache« Heideggers Nichts-Formel zum Objekt logisch-metaphysikkritischer Übungen gemacht. Carnap argumentiert, dass die metaphysische 1
Heidegger, Was ist Metaphysik? (1929), in: GA 9, S. 114.
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Sein als das Nichts
Sprache, vornehmlich Heideggers Nichts-Formel, zwar die Anforderungen einer historisch-grammatischen Syntax erfüllt, aber die logische Syntax verletzt und daher keine kognitive Bedeutung hat, d. h. sinnlos ist. 2 Wie wir wissen, wird das Sein im Rahmen der nach-fregeschen Logik in der Regel nicht als die erststufige Prädikation, d. h. als Aussage über einen Gegenstand, sondern als Quantifikation verstanden, womit das »Nichts« in der mathematischen Logik nur als Existenzquantor und Negation betrachtet werden kann. Das heißt, wie auch Carnap kritisiert, dass »das Nichts« kein Gegenstandsname ist, es nie als Nomen und Verb verwendet werden kann. Anders als Carnap, der das Nichts-Problem bei Heidegger als ein logisch unsinniges Sprechen aus der Philosophie verbannen und damit die Metaphysik überwinden will und dann auch nicht mehr mit Heidegger über die Problematik in Auseinandersetzung treten möchte, versucht Ernst Tugendhat in seinem Aufsatz »Das Sein und das Nichts« dem Heidegger’schen »Nichts« durch eine sprachliche Analyse eine akzeptable Bedeutung zuzuweisen, die jedoch nicht mehr mit dem Namen des großgeschriebenen »Nichts«, sondern nur als »nichts« bezeichnet werden sollte. 3 Gemäß der Untersuchungen Michael Friedmans in seinem Buch A Parting of the Ways: Carnap. Cassirer and Heidegger hat die von dieser Nichts-Formel verursachte Debatte zwischen Heidegger und Carnap eine ganz entscheidende geschichtliche Rolle in der Teilung von analytischer und kontinentaler Philosophie gespielt. 4 Diese 2 Rudolf Carnap, Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache, in: Erkenntnis 2, 1932, 219–241, hier S. 229–231. 3 Ernst Tugendhat, Das Sein und das Nichts, S. 36–66. Wir werden später noch Tugendhats These nachgehen. Günter Figal scheint auch für diesen Vorschlag von Tugendhat zu plädieren. Siehe: G. Figal, Martin Heidegger: Phänomenologie der Freiheit, Frankfurt am Main 1991, S. 198. 4 Michael Friedman charakterisiert diese Teilung als Streit zwischen naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Kulturen. Er weist darauf hin, dass es vor 1933 in der Tat gar keine Spaltung zwischen der sogenannten analytischen und kontinentalen Philosophie im deutschsprachigen Raum gab, weil die Kommunikationen zwischen den damaligen philosophischen Strömungen (Logischer Positivismus, Neukantianismus, Phänomenologie und Lebensphilosophie) ganz häufig und eingehend war, und dann nur wegen der Machtergreifung der Nationalsozialisten unterbrochen wurde. Er macht auch darauf aufmerksam, dass Cassirers Arbeit und Bemühungen in dem Maße ganz wichtig sind, als dieser immer versucht hat, zwischen den verschiedenen Positionen zu vermitteln. Siehe: Michael Friedman, A Parting of the Ways: Carnap. Cassirer and Heidegger, S. 156–159.
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Nichts und Verneinung
Nichts-Formel ist einerseits das wichtigste Kennzeichen dafür, dass Heidegger sich einen entscheidenden Schritt weiter vom Neukantianismus und Husserl zu distanzieren versucht und damit eine originelle Richtung in der Suche nach dem Sein einschlägt, andererseits ist sie eine Veranlassung für Carnap, die harsche Kritik an der metaphysischen Sprache auszuüben und zu versuchen, die Welt durch eine ideale logisch korrekte Sprache aufzubauen, welche allgemein und universal ist, damit unsere Erkenntnis von der Welt auf einer festen und verlässlichen Basis stehen kann. 5 Heidegger hat auf den Angriff von Carnap reagiert. Er ging davon aus, dass Carnaps mathematisch-logische Methode das Sein nur als Copula »ist« verstanden hat: »Alles dies sind nur die letzten Folgen der scheinbar nur grammatischen Angelegenheit, dass das Seyn aus dem ›ist‹ begriffen und das ›ist‹ je nach der Auffassung vom Satz und vom Denken ausgelegt wird«. 6 Das Sein ausgehend von der Logik auszulegen, gehört laut Heidegger aus den folgenden zwei Gründen zur Seinsvergessenheit: Sein ist unterschieden sowohl von Vorhandensein, als auch von Copula; die gegenständlich ganz leere Form der Logik setzt schon die Gegenstandsbeziehung voraus, d. h. Sein geht der Logik vorher und nicht umgekehrt, behauptet Heidegger ganz entschieden: »so dass mit der mathematischen Methode nie und nimmer das Denken als solches und das erfüllte und ursprüngliche Denken des Seyns erfasst oder gar begriffen werden kann.« 7 Wir können nun daraus die Erkenntnis gewinnen, dass sich hinter dieser Debatte noch etwas grundlegendes versteckt, nämlich dass Heidegger und Carnap nicht nur das Wesen der Logik, sondern vornehmlich auch das Wesen der Philosophie ganz unterschiedlich verstehen. Das ist die intrinsische Motivation, welche die beiden Philosophen in der Philosophie des 20. Jahrhundert in getrennte Richtungen gebracht hat. Gottfried Gabriel macht darauf aufmerksam, dass Heidegger und Carnap zuerst beide zur neukantianischen Strömung gehört haben bis die Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? (1929) die beiden Positionen wesentlich trennt. »Die Differenz ergibt sich erst dadurch, dass die beiden Neukantianer die Herausforderung der Lebensphilosophie unterschiedlich verarbeiten. Die Weichen werden für Heidegger durch Husserl und für Carnap durch Wittgenstein gestellt. Die Wege trennen sich endgültig mit Heideggers Freiburger Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? (1929)«, Siehe: »Gottfried Gabriel, Carnap und Heidegger, Zum Verhältnis von analytischer und kontinentaler Philosophie«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 48 (2000) 3, S. 487–497, hier S. 488 f. 6 Heidegger, GA 40, S. 228. 7 Ebd., S. 229. 5
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Sein als das Nichts
Um Heideggers ergiebigen und komplexen Überlegungen zum Nichts in den Griff bekommen zu können, wird diese Problematik in den folgenden Analysen anhand der Nichts-Thematik in den verschiedenen Denkstadien aufgegriffen und spezifiziert, wie wir es im letzten Kapitel bereits getan haben. Es soll gezeigt werden, dass die unterschiedlichen philosophischen Ausgangspunkte der logischen Negation in den Frühjahren, der Existenzialanalyse vor der Kehre von Sein und Zeit bis zu Was ist Metaphysik? in den 1920er Jahren und der seinsgeschichtlichen Metaphysik-Kritik nach der Kehre elementar mit dem Nichts verbunden sind. Es wird auch enthüllt werden, dass die spezifischen Bestimmungen des Nichts zwar die Entwicklung von Heideggers Denken dokumentieren, sie aber dabei dennoch untrennbar voneinander sind und sich in Heideggers Kernsuche, der Seinsfrage, in verschiedenen Hinsichten spiegeln.
4.1.2. Heideggers Denken über »Nicht« vor und in Sein und Zeit Zunächst ist es erforderlich, sich Klarheit darüber zu verschaffen, wie die Thematik des Nichts und die mit ihr verwandten Probleme des »Nicht« und der Verneinung überhaupt in der Suche nach dem Sein eingeführt werden. Diese Thematik ist zum ersten Mal bereits in Heideggers noch in neukantianischen Fragestellungen befangener Dissertation Die Lehre vom Urteil im Psychologismus (1913) aufgetreten. Zwar wird immer wieder behauptet, dass die Seinsfrage Heideggers ganzen Denkweg bestimmt und diese Geschichte bereits begonnen hatte als Heidegger nach dem Gymnasium im Jahr 1907 Brentanos Werk Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles gelesen hat. Aber die philosophische Strömung, in der Heidegger an der Universität Freiburg Philosophie studiert hat, war die von Heinrich Rickert geleitete Südwestdeutsche Schule des Neukantianismus. Niemand kann außerhalb seines Zeitalters oder unabhängig von seiner Prägung denken, daher war das zentrale philosophische Thema, das Heidegger am Anfang seines philosophischen Lebens interessierte, in der Tat die Problematik der reinen Logik, des Urteils und der Kategorien, was in Heideggers Frühen Schriften (in der Gesamtausgabe Band 1) entfaltet ist. 8 Dort war es Heideggers Steven Crowell hat genau das betont und mit seiner außergewöhnlichen Forschung gezeigt: »What brought Heidegger onto this metaphilosophical path? It was not (as
8
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Nichts und Verneinung
zentrales Anliegen, gegen den damals gängigen Psychologismus den Sinn des Urteils nicht als psychischen, sondern als logischen zu verstehen, d. h. dass die Geltung des Urteils seine eigene Wirklichkeit hat, die anderes ist als das wirkliche Ding. Heidegger übernimmt die wichtige Unterscheidung zwischen wirklichem Existieren und faktischem Gelten von Lotze und Lask, was bedeutet: Das, was ist, ist anderes als das, was gilt. Was gilt, ohne sein zu müssen. 9 Was Heidegger in seiner Dissertation mit einem Schritt weiter durch die Untersuchung des »negativen Urteils« zeigen möchte, ist folgendes: »Wenn etwas nicht existiert, kann ich nicht sagen: es existiert; nur ist dieses Existieren ein Nichtexistieren. Das, was dagegen nicht gilt, gilt trotzdem, nur ist dieses Gelten ein Nichtgelten. Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Negation ruht primär in der Kopula. Die Art der Differenz zwischen dem positiven und negativen Urteil fordert notwendig die logische Gleichstellung und Nebenordnung der beiden Urteile.« 10
Etwas, das nicht existiert, existiert nicht. Hingegen ist das Nichtgelten eines Urteils gleichwohl ein Gelten. Das lässt sich an einem Beispiel zeigen: Wenn es das Buch X nicht gibt, dann existiert das Buch X nicht; aber wenn ich sage, »Das Buch X ist nicht gelb«, d. h. vom Buch X gilt nicht Gelbsein, ist damit nicht gemeint, dass dabei auch das Gelten verneint wird, vielmehr ist dieses Nichtgelten (von Gelbsein) auch ein Gelten (von Nichtgelbsein). Dies bedeutet, dass der einzige verständliche Zugang zum negativen Urteil »das Buch X ist nicht gelb« in der Umformulierung besteht: »Es ist der Fall, dass das Buch X Nicht-gelb ist«. Die Funktion dieses Nicht, das im negativen Urteil auftritt, ist keine Verneinung des Geltens, sondern vielmehr ein Hinweis auf ein anderes Gelten, nämlich auf das Sein des Seienthe familiar story goes) his fascination with Brentano’s book On the Several Senses of Being in Aristotle and the question of the unity of these senses, though the importance of the book cannot be denied. It was rather a reflection on logic and, specifically, on the homelessness of logic in the geography of the sciences Heidegger inherited from his neo-Kantian and neo-Scholastic teachers.«, Siehe Steven Crowell, Lask, Heidegger, and the Homelessness of Logic, in: Husserl, Heidegger, and the Space of Meaning, Paths toward Transcendental Phenomenology, Evanston, Illinois 2001, S. 77. 9 Ich habe in einem Aufsatz gezeigt, dass Heideggers ontologische Differenz eigentlich ursprünglich aus dieser Unterscheidung zwischen Sein und Gelten entstanden ist, insbesondere durch den Einfluss von Emil Lask. Siehe: Nian He, »Heidegger and Lask: On the Genesis of Heidegger’s Ontologische Differenz and Lichtung«, in: The Phenomenological and Philosophical Research in China, Band 19, 12. 2016, S. 95–131. 10 Heidegger, GA 1, S. 184 f.
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Sein als das Nichts
den. »Wo verneint wird, da ist doch stets ein anderes Daseiendes.« 11 Das besagt, dass das Nicht nicht das Sein überhaupt verneint, das Nichtsein selbst gehört wieder zum Sein. Aus diesem Grund sagt Heidegger, dass die Negation primär in der Kopula beruht und das positive Urteil und das negative logisch gleichgestellt und nebengeordnet werden sollen: »ist nicht« bedeutet nicht: »nicht ist«, vielmehr: Es gehört auch zum »ist«. Dieser erhellende Gedanke steht so sehr im Vordergrund, dass die Gleichursprünglichkeit von Unwahrheit und Wahrheit damit explizit vor das Auge gebracht wird und ferner auch bereits die Gleichursprünglichkeit von Entbergung und Verbergung in der Lichtung des Seins aus dem Spätwerk leise anklingt. Eine ausführlichere Interpretation dieser Problematik in der Hinsicht auf das Sein wird von Heidegger in Die Grundprobleme der Phänomenologie (1927) wiederaufgenommen. Dort erläutert er die Lehre vom Doppelurteil bei Lotze: »Eine Negative Kopula ist unmöglich, denn eine Trennung (Negation) ist keine Verbindungsweise … Die Negation ist im negativen Urteil nur ein neues, zweites Urteil über die Wahrheit des ersten, welches eigentlich immer positiv zu denken ist … Jedes Urteil ist gleichsam ein Doppelurteil. S gleich P besagt: S ist P, ja das ist wahr. S nicht gleich P besagt: nein es ist nicht, nämlich das S gleich P, das immer als positives Urteil zugrunde liegt.« 12
Diese Interpretation zu Loztes Lehre der Logik macht deutlich, dass ein positives Urteil immer einem negativen zugrunde liegt, d. h. Sein immer dem Nichtsein zugrunde liegt. Das Urteil »S ist nicht P« kann nur dadurch verstanden werden: Nein, es ist nicht wahr, nämlich S ist P. Das »ist« als Kopula in dem Urteil bedeutet ein Verbindungswort (dies ist der Fall sowohl bei Aristoteles, als auch bei Kant), und »ist nicht« nach Lotze bedeutet nicht eine Trennung von S und P, sondern vielmehr eine eigentümliche Verbindungsweise zwischen S und P. Mit Lotzes Wort ein neues, zweites Urteil über die Wahrheit des ersten, positiven Urteils. In diesem Sinne behauptet Lotze, dass eine negative Kopula unmöglich ist. Das Nicht beruht primär auf dem »ist«, Heidegger, GA 1, S. 181. Vgl. Driesch, Die Logik als Aufgabe. Tübingen 1913, S. 44. Husserl hat ähnliche Gedanken geäußert: »[D]ie Negation, die zudem, wie wir sahen, im Negat ihre positive Leistung hat, ein Nichtsein, das selbst wieder Sein ist.«, Siehe Husserl, Ideen 1, Hua 3, S. 247. 12 Heidegger, GA 24, S. 283. 11
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Nichts und Verneinung
nämlich dem Sein der Kopula. Damit ist mitgesagt, dass das Sein ontologisch gesehen offenbar einen Vorrang vor dem Nicht oder Nichtsein hat. An einer wichtigen Stelle in Sein und Zeit, wo Heidegger den Logos (Rede, Aussage) im Wort »Phänomenologie« erläutert, vertieft er erneut diesen Gedanken und bringt den Horizont des Verständnisses des Nicht vom Logischen zum Existenzialen: »Und wiederum, weil der λογοσ ein Sehenlassen ist, deshalb kann er wahr oder falsch sein. Auch liegt alles daran, sich von einem konstruierten Wahrheitsbegriff im Sinne einer ›Übereinstimmung‹ freizuhalten. Diese Idee ist keinesfalls die primäre im Begriff der αληθεια. Das ›Wahrsein‹ des λογοσ als αληθευειν besagt: das Seiende, wovon die Rede ist, im λεγειν als αποφαινεσθαι aus seiner Verborgenheit herausnehmen und es als Unverborgenes (αληθες) sehen lassen, entdecken. Im gleichen besagt das ›Falschsein‹ ψευδεσθαι soviel wie Täuschen im Sinne von verdecken: etwas vor etwas stellen (in der Weise des Sehenlassens) und es damit ausgeben als etwas, was es nicht ist.« 13
Logos besagt Sehenlassen, nämlich das offenbar machen, wovon die Rede ist. Logos macht das Gesagte dem anderen zugänglich. Eine Aussage kann nur dadurch wahr oder falsch sein, dass der Logos das Seiende, wovon oder worüber die Rede ist, überhaupt sehen lässt. Damit ist impliziert, dass die Wahrheit einer Aussage, die im Sinne eines Erkenntnis-Urteils als »Übereinstimmung« mit dem Gegenstand oder der Tatsache, die ursprüngliche Wahrheit als αληθεια (Unverborgenheit) schon voraussetzt. Wahrsein des Logos besagt: Das Seiende, wovon oder worüber die Rede ist, als Unverborgenes sehen lassen und entdecken. Die Wahrheit einer Aussage beruht auf dem Wahrsein des Logos, aber nicht im epistemologischen, sondern existenzialen Sinne. Was Heidegger in Sein und Zeit entdeckt hat, ist dass die theoretische Aussage immer ihre existenzialen Fundamente hat. Das Urteil »der Hammer ist schwer« ist immer schon logisch verstanden und es ist immer schon übersehen: Die Möglichkeit des Urteils, ob der Hammer schwer ist oder nicht, setzt schon voraus, dass wir im umsichtig-besorgenden Umgang mit dem Hammer in der Umwelt ihn schon überhaupt entdeckt haben, unabhängig davon, ob diese Entdeckung ausdrücklich oder unausdrücklich ist. Im Aussagen gibt es immer einen mitliegenden und unauffälligen Vorgriff des Seienden. 13
Heidegger, Sein und Zeit, S. 33.
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Sein als das Nichts
Diese Entdeckung der Welt, die vorgängig ist (das Verstehen hat die Welt immer im Ganzen je schon erschloßen) und auch im Verstehen des Daseins immer weiter vollzogen wird, nennt Heidegger die Auslegung. Und damit kann Heidegger zu Recht behaupten, dass »die Aussage ein abkünftiger Modus der Auslegung ist« 14 und dementsprechend »das Erkennen nur eine Seinsart des In-der-Welt-seins« 15. Dieser Fortschritt, dass Heidegger das Urteil »der Hammer ist schwer« nicht mehr logisch, sondern existenzial versteht, führt zugleich auch dazu, dass »ist« und »ist nicht« im Urteil nicht mehr nur logisch als »Verbinden« und »Trennen« von Vorstellungen und Begriffen, sondern existenzial als eine »Als-Struktur« 16 zu interpretieren ist. Das Urteil »der Hammer ist schwer« kann auch ein Trennen bedeuten, weil es impliziert: Der Hammer sei nicht leicht. 17 »Der Hammer ist schwer« in der Auslegung des Daseins ist nun vielmehr ein Phänomen des »etwas als etwas«, nämlich »den Hammer als ein Schwer-seindes« zu verstehen, was primär im praktischen Umgang mit dem Hammer, d. h. in einem vertrauten Erfahrungszusammenhang (in der Bewandtnisganzheit) ausgelegt ist. Diese neue hermeneutische Umformulierung »der Hammer als schwerer« hat nun einen ontologischen Vorrang vor der logischen Prädikation, und Heidegger sagt: »man muss dabei verstehen, dass dieses ›Als‹ nicht der Prädikation qua Prädikation primär eigentlich ist, sondern vor ihr liegt, so, dass es die Prädikationsstruktur erst ermöglicht«. 18 Diese ursprüngliche Auslegung kann weder sich noch Andere täuschen, sie ist vielmehr die Unverborgenheit, vermöge derer die theoretische Aussage erst wahr oder falsch sein kann. Falschsein als »ist nicht« oder als eine Trennung ist daher jedoch nicht der Gegensatz zum Sehenlassen oder zum Verbinden, weil »ist nicht« auch eine Entdecktheit des Seienden in dem Sinne ist, dass es als etwas ist, was es nicht ist. Zum Beispiel in dem Satz: »Er ist nicht Vgl. Ebd., S. 153. Ebd., S. 61. 16 Ebd., S. 158 f. 17 Vgl. Aristoteles: »Der Irrtum liegt nämlich immer in der Zusammensetzung (Verbindung); denn wenn z. B. das Weiße nicht weiß ist, so hat die Vernunft das NichtWeiße hinzugesetzt. Man kann aber auch alles Trennung nennen.«, Über die Seele, 430b3, Griechisch – Deutsch, hrsg. von Horst Seidl, Hamburg 1995, S. 175. 18 Heidegger, Logik: die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 145. Eine eingehende und kritische Untersuchung zu dieser Behauptung bei: G. Figal, Martin Heidegger: Phänomenologie der Freiheit, S. 54–67. 14 15
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Nichts und Verneinung
derjenige, der sehr einfach von Schwierigkeit besiegt wird« wird nicht sein Sein negiert, sondern vielmehr sein Sein auf eine negative Weise entdeckt, nämlich, dass er nicht einfach von Schwierigkeit zu besiegen ist. D. h. »Ist nicht« gehört zum »Ist«. Nicht-sein bedeutet nicht ein völliges Verschwinden, sondern nur »eine Art des Seins« 19 (als Anwesen von Abwesendem). Sein hat immer einen ontologischen Vorrang vor dem Nicht-sein bzw. das Nicht-sein ist immer sekundär gegenüber dem Sein. 20 In Sein und Zeit hat Heidegger auch die Positivität und Relevanz dieses Nicht für die Freiheit des Daseins und die Gewinnung der Eigentlichkeit thematisiert: »Die gemeinte Nichtigkeit gehört zum Freisein des Daseins für seine existenziellen Möglichkeiten. Die Freiheit aber ist nur in der Wahl der einen, das heißt im Tragen des Nichtgewählthabens und Nichtauchwählenkönnens der anderen. In der Struktur der Geworfenheit sowohl wie in der des Entwurfs liegt wesenhaft eine Nichtigkeit. Und sie ist der Grund für die Möglichkeit der Nichtigkeit des uneigentlichen Daseins im Verfallen, als welches es je schon immer faktisch ist. Die Sorge selbst ist in ihrem Wesen durch und durch von Nichtigkeit durchsetzt.« 21
Heideggers These, dass der Entwurf des Daseins selbst wesenhaft nichtig ist, lässt sich so erläutern, dass das Dasein dadurch seine existenziellen Möglichkeiten frei auswählen wird, dass es ständig diese Möglichkeit ausgewählt hat und dabei eine andere nicht zu verwirklichen vermag. Nur wenn es die Negation gibt, gibt es die Auswahl. Eine Möglichkeit zu verwirklichen, zu bejahen, bedeutet zugleich die anderen zu verneinen. Diese Nichtigkeit des Entwurfs ist gar nichts negatives wie erfolglos oder unwertig, sie hat nicht den Charakter der Privation, eines Mangels gegenüber einem Ideal, sondern ist viel-
Heidegger, GA 65, S. 101, »Denn ›Sein‹ meint hier nicht an sich Vorhandensein, und Nichtsein meint hier nicht: völliges Verschwinden, sondern Nichtsein als eine Art des Seins: seiend und doch nicht; und ebenso Sein: nichthaft und doch gerade Seiend.« 20 Bernard Delfgaauw hat Ähnliches betont: »Nicht-Seiendes, das stets in der Verneinung eines Seienden entdeckt wird […] Dies Nicht-Sein ist aber immer sekundär gegenüber dem Sein. Es gibt nur die Abwesenheit des Ganzen auf dem Hintergrund seiner Anwesenheit als solcher. So ist auch eine Vernichtung erst möglich, wenn vorher etwas ist.«, siehe: Bernard Delfgaauw, Das Nichts, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 4, H. 3 (1950), S. 393–401, hier S. 399. 21 Heidegger, Sein und Zeit, S. 285. 19
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Sein als das Nichts
mehr die existenziale Struktur des Entwurfs selbst. Nur diese nichtige Struktur macht den vorlaufenden Entwurf des Daseins möglich. 22 Außerdem verleiht Heidegger dem Nicht und seiner Nichtigkeit auch eine ontologische Bedeutung bezüglich der Gewinnung der Eigentlichkeit des Daseins. Eigentlich zu sein bedeutet so viel wie eine Negation des uneigentlichen Daseins im Verfallen, als welches es je schon immer faktisch ist. Michael Steinmann beschreibt dies so: »Das Selbst ist, was es ist – eine in sich bleibende, d. h. sich in sich haltende und verfestigende Einheitsform – durch die Negation seiner Verlorenheit in das Man; es gewinnt und erhält seine Identität, indem es ablehnt und überwindet, was es in seiner individuellen Selbstheit verneint. Die Selbstidentität des Ichs entsteht aus der Negativität, mit der es von sich weghält, was es nicht ist.« 23
Die vorlaufende Entschlossenheit macht die Eigentlichkeit möglich und dieselbe ist nur möglich, sofern sie die existenziale Schuld übernimmt, d. h. als Grund von Nichtigkeit zu existieren vermag. 24 Die Entschlossenheit setzt die Freiheit dafür voraus, dass das Dasein möglicherweise situationsmäßig einen bestimmten Entschluss aufgeben kann. Indem ich weiß und mich entschließe, was ich nicht mag, wohin ich nicht gehen möchte, kann ich wissen, was ich eigentlich mag und wohin ich eigentlich gehen möchte. Diese Nichtigkeit durchsetzt ständig meine Existenz und damit kann ich zwar viele Möglichkeiten verlieren, aber genau dadurch meine eigentliche gewinnen. Nur wenn man Nein sagt, kann man Eigentliches gewinnen. Jede vorlaufende Entschlossenheit ist zukünftig und dieses Vorlaufen zeigt an, dass das Dasein, eigentlich existierend, als eigenstes Seinkönnen auf sich zukommen lässt, dass sich die Zukunft erst selbst gewinnen muss, nicht aus einer Gegenwart, sondern aus der unFigal vertritt die Auffassung, dass die Trennung, nämlich »ist nicht«, die Verneinung, einen Vorrang vor dem Verbinden (Zusammensetzung), nämlich »Ist« hat. Siehe G. Figal, Martin Heidegger: Phänomenologie der Freiheit, S. 67. Dies hat zwar die Positivität des »Nicht« bei Heidegger betont, aber übersehen, dass »ist nicht« zum »Ist« gehört und nicht umgekehrt. Man darf, ohne Heideggers Intentionen zu verfehlen, sagen, dass das Nicht als eine Verneinung einen existenziellen (ontischen) Vorrang in der Hinsicht auf den Entwurf des Daseins hat, aber Sein als »Ist« natürlich immer den Vorrang vor Nicht im existenzialen (ontologischen) Sinne hat. 23 Michael Steinmann, Martin Heideggers »Sein und Zeit«, Darmstadt 2010, S. 149. 24 Heidegger, Sein und Zeit, S. 325, »Die vorlaufende Entschlossenheit versteht das Dasein in seinem wesenhaften Schuldigsein. Dieses Verstehen besagt, das Schuldigsein existierend übernehmen, als geworfener Grund der Nichtigkeit sein.« 22
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Das Nichts vor der Kehre
eigentlichen Zukunft. Das heißt, das Vorlaufen ist, von der Zeitlichkeit her gesehen, auch strukturell nichtig. Dies kommt zum Ausdruck in der These, die Heidegger im § 65 von Sein und Zeit (»Die Zeitlichkeit als der ontologische Sinn der Sorge«) aufgestellt hat: »Das ursprüngliche und eigentliche Auf-sich-zukommen ist der Sinn des Existierens in der eigensten Nichtigkeit.« 25 Die eigenste Nichtigkeit bedeutet aber nicht, dass »die Zeit weiter geht«, oder der Platz dieses Jetzt-Punkts in der Abfolge von dem nächsten ersetzt werden wird. Die eigentliche Zukunft entsteht nicht aus der Negation der Gegenwart, sondern der Negation der uneigentlichen Zukunft. Die Zeit geht und vergeht ständig immer weiter, d. h. das Dasein existiert notwendigerweise ständig sich-vorweg, aber unständig, der eigentlichen Möglichkeit nach, vorlaufend. Das Nicht und seine Nichtigkeit wiederum erweisen sich in der Analyse der Zeitlichkeitsstruktur des Daseins als der Grund, der die Ekstase der ursprünglichen Zukunft, des »Sich-aufsich-zukommenlassen« der eigentlichen Möglichkeit bestimmt. Rückblickend fassen wir unsere Überlegung hier einmal kurz zusammen: Wir haben die Debatte über das Nichts zwischen Carnap, sowie der analytischen Philosophie und Heidegger vorgestellt und haben dann eine Untersuchung darüber durchgeführt, was für eine relevante Rolle das Nicht im »ist nicht« in Heideggers Frühwerk spielt und wie es sich von einer logischen Bedeutung in eine existenziale verwandelt. Den entscheidenden Fragen, wie Heidegger sein Nichts-Denken von diesem Nicht entwickelt, wie genau das Nichts zu verstehen ist, und wie das Nichts sich zum Sein verhält, werden sich die folgenden zwei Unterkapitel widmen.
4.2. Das Nichts vor der Kehre: Die »helle Nacht« des Nichts im Entgleiten des Ganzen 4.2.1. Das »uneigentliche« und »eigentliche« Nichts Es lohnt sich, bevor wir zum Nichts-Denken Heideggers kommen, eine sprachliche Erklärung zu den Implikationen der Ausdrücke »nicht«, »nichts« und »das Nichts« zu geben, 26 um das Verständnis klarer werden zu lassen. 25 26
Heidegger, Sein und Zeit, S. 330. Zur sprachlichen und (onto)logischen Implikationen dieser Ausdrücke, siehe: Mar-
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Sein als das Nichts
Zuerst ist der Ausdruck »nicht« relativ leicht zu begreifen. Es dürfte evident sein, dass das Adverb »nicht« als elementarer Negationspartikel zu gelten hat. Mit »nicht« kann das positive Aussagen in das negative überführt werden. Z. B. »Ich habe das Geld nicht« bedeutet eine Verneinung davon, dass »ich das Geld habe«. In diesem Fall ist es gleichbedeutend wie »Ich habe kein Geld«. Wir sagen auch »Es gibt Dinosaurier nicht mehr«, »mein Großvater lebt nicht mehr«, dies bedeutet eine Vernichtung der Existenz von etwas oder jemandem. Außerdem bezeichnet »nicht« auch als Operator die Unterlassung von Handlungen. Z. B. »hör nicht auf!«, »sprich nicht so schnell!«. In diesem Fall ist »nicht« als ein Verbot zu verstehen. Das kleingeschriebene »nichts« kann als eine Ableitung des »nicht« betrachtet werden, sowohl auf der Bedeutungsebene, als auch vom etymologischen Ursprung. Es hat ähnliche syntaktische und semantische Funktionen wie die Adverbien bzw. Indefinitpronomina »niemals«, »niemand«, »nirgends« bzw. wie sein Gegenbegriff »alles«. Das kleingeschriebene »nichts« bedeutet »nicht alles von etwas«, also eine Verneinung von »alles von etwas«, während die Negationen »niemals«, »niemand«, »nirgends« sich auf die partikulären Bereiche zeitlicher, personeller und räumlicher Anwesenheit (als nicht-jemals, nicht-jemand und nicht-irgendwo) beziehen. Man sagt z. B.: »Ich habe nichts gesehen« (»nichts« als Adverb), »er kann mit nichts zufrieden sein«, »nichts ist ohne Grund« (»nichts« als Indefinitpronomen). In all diesen Fällen kann das »nichts« ohne semantische Einbußen durch »nicht etwas« im Sinne von »kein etwas« ersetzt werden. Im Alltag sagen wir außerdem auch »Was du sagtest, ist nichts«. In solchen Redewendungen kommt ein pejorativ wertendes Element zum Ausdruck, das sich auf Unsinn oder Bedeutungslosigkeit bezieht. »Das Nichts« ist dann die Substantivierung des »nichts«. Wenn das Nichts ein Substantiv sein könnte, wäre es schon etwas, ein Gegenstand. »Nichts« selbst ist aber Gegenbegriff und Negation des Etwas überhaupt. Hier begegnen wir einer Paradoxie: Wenn es nichts gibt, dann gibt es überhaupt nicht etwas; aber wenn das Nichts nun selbst ein etwas ist, d. h. es das Nichts gibt, dann gibt es mindestens ein etwas als das Nichts. »Das Nichts«, diese Substantivierung an sich, ist schon eine Paradoxie, die sich so formulieren lässt: Das Nichts kus Wirtz, Geschichten des Nichts: Hegel, Nietzsche, Heidegger und das Problem der philosophischen Pluralität, Freiburg/München, 2006, S. 90–102.
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Das Nichts vor der Kehre
bezeichnet einen Gegenstand, den es nicht gibt. Dies ist gleich: Es gibt einen Gegenstand, den es nicht gibt. Das ist offenkundig ein Verstoß gegen den Satz vom Widerspruch. Genau diese dem Nichts-Begriff inhärente Paradoxie hat gelegentlich dazu geführt, dass Carnap die Berechtigung seiner Verwendung bestritt und ihn als sinnlosen Ausdruck zu entlarven versuchte. 27 Hat Heidegger diese logische Paradoxie nicht gesehen? Macht er gerade einen so simplen logischen Fehler, wenn er das Nichts mit Absicht großschreibt und darauf besteht: »Die Wissenschaft will vom Nichts nichts wissen« und »selbst lächerlich, wenn sie das Nichts nicht ernst nimmt.« 28 Sicherlich nicht. 29 Zunächst gilt es deshalb, einsichtig zu machen, wie sich genau das Nichts bei Heidegger von dem gängigen Verständnis dieses Begriffs unterscheidet. Dann können wir uns der Bedeutung und Heideggers phänomenologischen Analysen des Nichts zuwenden. Als Reaktion auf einen möglichen Vorwurf, dass Heidegger mit dem großgeschriebenen »Nichts« dasjenige bezeichnet, was es nicht gibt und was alles überhaupt verneint, und dass dieser Ausdruck damit in einen Unsinn geraten müsste, stellt er in Nachwort zu »Was ist Metaphysik?« (1943) klar, dass das Verständnis »das Nichts als das schlechthin Nichtige« zu »Irrmeinungen zu dieser Vorlesung« 30 gehört. Er bringt Licht in die Sache: »Dieses Nichts, das nicht das Seiende ist und es gleichwohl gibt, ist nichts Nichtiges. Es gehört zum Anwesen.« 31 »Sein ›ist‹ nichts Seiendes. Wir deuteten auch schon an: Wenn Sein nichts Sei-endes ist, ist es dann am Ende das Nichts? In gewisser Weise ja, wenn ›Nichts‹ nicht das nihil absolutum, das schlechthinnige Nichts besagt, sondern soviel heißt wie Nicht-Seiendes.« 32
Das Nichts, nach dem Heidegger sucht, bedeutet gar nicht »das schlechthin Nichtige« (»das schlechthinnige Nichts«) oder »das nihil absolutum«. Heidegger verweigert nie die metaphysische Grundfrage Vgl. Markus Wirtz, Geschichten des Nichts: Hegel, Nietzsche, Heidegger und das Problem der philosophischen Pluralität, Freiburg/München 2006, S. 94. 28 Heidegger, Was ist Metaphysik?, in: GA 9, S. 106, 121. 29 Heidegger hat dies offensichtlich gesehen: »Das Reden vom Nichts ist unlogisch.« Vgl. Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, S. 25 f. 30 Heidegger, Nachwort zu »Was ist Metaphysik?« (1943), in: GA 9, S. 305. 31 Heidegger, Zur Seinsfrage (Über »die Linie«, 1955), in: GA 9, S. 419. 32 Heidegger, Einleitung in die Philosophie (1928/29), GA 27, S. 392. 27
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Sein als das Nichts
»warum überhaupt etwas ist, und nicht vielmehr nichts?« in dem Sinne, dass er dafür plädiert, dass alles nichts sei, selbst wenn er diese Grundfrage am Ende seiner Antrittsvorlesung mit großgeschriebenem Nichts umformuliert: »warum es überhaupt etwas ist, und nicht vielmehr Nichts?« 33 und damit den Vorrang des Seienden bzw. die Nichts-Vergessenheit in der Metaphysik kritisiert. Es wäre durchaus ein Missverständnis, wenn man von Heideggers Nichts aus schlussfolgern würde, dass dieses Denken zur Meinung führt, alles sei nichts, oder am Anfang war eigentlich nichts, so dass es sich nicht lohne, weder zu leben noch zu sterben, und damit diese Philosophie des Nichts ein vollendeter Nihilismus ist. Heidegger leugnet nicht, dass es am Anfang etwas geben muss, aber er übt trotzdem Kritik an der Nichts-Vergessenheit der antiken Metaphysik. Der metaphysische Satz: ex nihilo nihil fit, aus Nichts wird Nichts, nämlich der Satz »Dass nämlich nichts aus Nicht-Seiendem entstehe, sondern alles aus Seiendem«, den Aristoteles in der Metaphysik als »eine gemeinsame Lehre so gut wie aller Naturphilosophen« 34 kennzeichnet, fasst das Nichts in der Bedeutung des Nicht-seienden, d. h. »des ungestalteten Stoffes, der sich selbst nicht zum gestalthaften und demgemäß ein Aussehen (Eidos) bietenden Seienden gestalten kann«. In der Erläuterung des Satzes wird »das Nichts selbst nie eigentlich zum Problem« 35. Heidegger zufolge gilt diese Behauptung auch für Platon. Charakteristisch für die gegen Parmenides’ These der absoluten Einheit des Seins und der absoluten Undenkbarkeit des Nichts gerichtete Rehabilitierung des Nichtseienden im Sophistes ist es, dass dieses von Platon ontologisch als das Verschiedene bzw. Anderersein (heteron) begriffen wird. Nichtseiendes ist in dem Sinne, dass es auch nicht ist wie z. B. falsche Aussagen, sinnliche Täuschungen. Dem Nichtseienden wird damit mindestens eine logische Gleichberechtigung gegenüber dem Seienden zugesprochen. Aber ontologisch darf es nur als das Andere und das Falsche verstanden werden, d. h. es ist freilich nicht mit dem absoluten Nichtseienden (Nichtsein, Nichts) zu verwechseln, das sich der Denkbarkeit entzieht. 36
Heidegger, Was ist Metaphysik?, in: GA 9, S. 122; auch GA 40, S. 3–26. Aristoteles, Metaphysik, 1062b, Buch ¢û, Band 2, S. 197. Vgl. Kapitel 1.1 und 3.1 in dieser Arbeit. 35 Heidegger, Was ist Metaphysik?, in: GA 9, S. 119. 36 Vgl. Platon, Sophistes, 238a-c 33 34
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Das Nichts vor der Kehre
Es wäre ein anderes Missverständnis, wenn man Heideggers Nichts-Denken so verstehen würde, als ob er ein Stück weit für einen Kreationismus in der christlichen Tradition plädieren würde. Heidegger macht eine ausdrückliche Unterscheidung zwischen seinem Nichts-Denken und sowohl dem der griechischen Metaphysik als auch der christlichen Dogmatik. Im Gegensatz zu der antiken Metaphysik leugnet die christliche Dogmatik den Satz ex nihilo nihil fit, und führt einen anderen neuen Satz ein: ex nihilo fit – ens creatum. Gott schafft aus dem Nichts. Heidegger zufolge bedeutet das Nichts nun »die völlige Abwesenheit des außergöttlichen Seienden, … und wird der Gegenbegriff zum eigentlich Seienden, zum summum ens, zu Gott als ens increatum.« 37 Das Nichts ist also hier, genauso wie in der Antike als Gegenbegriff des Seienden in dem Sinne der Verneinung zu verstehen. Wenn man zugibt, dass Gott aus dem Nichts schaffe, dann wird man daraus folgern: Am Anfang sei nichts gewesen und erst durch Gottes Wort seien das Licht, der Himmel und die Erde entstanden. Es wäre ein Missverständnis, dass Heidegger mit Nichts so etwas wie diese Folgerung meinen würde, dass Nichts in dem Sinne den Vorrang vor dem Seienden hat, dass es am Anfang gar nichts gegeben habe. Im Gegenteil: Heidegger vertritt in der Tat eine realistische Einstellung, die wir in Kapitel 1.2 schon als »phänomenologischer Realismus« bezeichnet haben und was wir in der Vorgängigkeit und der Unhintergehbarkeit der Welt in Kapitel 3.2 deutlich einsehen können: dass am Anfang die Welt ist, nicht nichts. Die Bejahung des Seins des Seienden überhaupt geht immer vor dessen Verneinung. Heidegger sagt dazu: »Die Allheit des Seienden muss zuvor gegeben sein, um als solche schlechthin der Verneinung verfallen zu können, in der sich dann das Nichts selbst zu bekunden hätte.« 38 Das Nichts besagt bei Heidegger nicht, dass es nichts gibt oder alles vernichtet ist. »Das Nichts ist ursprünglicher als das Nicht und die Verneinung« 39 und es kann daher nicht von Verneinung aus verstanden werden. Genau aus diesem Grund lässt sich geltend machen: Das Nichts, nach dem Heidegger sucht, war vorher nie eigentlich zum Problem geworden, weder in der antiken noch in der mittelalterlichen Metaphysik.
37 38 39
Heidegger, Was ist Metaphysik?, in: GA 9, S. 119. Ebd., S. 109. Ebd., S. 108.
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Heideggers Fragestellung des Nichts ist nicht nur so eigentümlich wie die des Seins, sondern sie ist eine ganz originale. Die Originalität besteht darin: Für Heidegger gibt es sowohl die Welt, als auch das Nichts. Das Nichts bleibt nicht das unbestimmte Gegenüber für das Seiende, sondern es enthüllt sich als zugehörig zum Sein des Seienden. Nichts ist nicht mehr von der Verneinung (nicht, nichts) her, sondern von dem Sein des Seienden zu verstehen. Es ist durchaus falsch, wenn man von der Bedeutung her Heideggers Nichts (großgeschrieben) mit dem nichts (kleingeschrieben) gleichsetzt. Das Nichts bekommt hier eine originäre Bedeutung, die in der Geschichte nicht bedacht worden ist. 40 Es gilt deshalb zunächst, die Bedeutungen des Nichts, die uneigentliche und eigentliche, zu unterscheiden, damit wir klarer bedenken und die unnötigen Verwechslungen und Missverständnisse vermeiden können. Heidegger nennt die uneigentliche Bedeutung des Nichts »das schlechthin Nichtige«, »das schlechthinnige Nichts«, »das nihil absolutum« und »das nihil negativum« 41. Alle Bezeichnungen beziehen sich auf »das nichts« im Sinne von »nicht alles überhaupt«, d. h. die einfache, schlechthinnige leere Negation von etwas. Das uneigentliche Nichts bedeutet dann die logische Verneinung vom
Sehr aufschlussreich hat Charles Sherover darauf hingewiesen, dass ein wesentlicher Bezug zwischen Kants transzendentalem Objekt und Heideggers Nichts besteht. »We are reminded that this object is not a specific thing—it is a ›non-thing‹, a Nichts. It is what Kant had called an ›X‹ which is not-a-thing, yet not ›nothing-at-all‹—but a ›something in general‹, an Etwas. But this unknown ›X‹ is not a mere lack, not a mere negativity; it is not merely absence of being … [but] belongs essentially to Being as such«, siehe Charles Sherover, »Kant’s Transcendental Object and Heidegger’s Nichts«, in: The Journal of the History of Philosophy, 7, 1969, S. 413–423, hier S. 419; dafür könnte man auch in Heideggers Kant-Buch eine Spur finden. Heidegger sagt: »Und was ist es, was wir da von uns aus entgegenstehen lassen? Seiendes kann es nicht sein. Wenn aber nicht Seiendes, dann eben ein Nichts … Allerdings ist dieses Nichts nicht das nihil absolutum«, siehe Heidegger, GA 3, S. 72. 41 Heidegger verwendet die Bezeichnung »das nihil negativum« zuerst im Jahr 1928 in der Vorlesung Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz. Dort sagt er: »Wenn sie (die Welt) also ein nihil ist, dann kein nihil negativum, d. h. nicht die einfache, schlechthinnige leere Negation von etwas. Die Welt ist nichts in dem Sinne, dass sie nichts Seiendes ist. Nichts Seiendes und gleichwohl etwas, was es gibt«, siehe: Heidegger, GA 26, S. 271; Heidegger sagt später im Jahr 1949 im Vorwort zur dritten Auflage von Vom Wesen des Grundes, »Das Nichts ist das Nicht des Seienden und so das vom Seienden her erfahrene Sein. Die ontologische Differenz ist das Nicht zwischen Seiendem und Sein. Aber so wenig Sein als das Nicht zum Seiendem ein Nichts ist im Sinne des nihil negativum«, siehe Heidegger, GA 9, S. 123. 40
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Seienden. Im Gegensatz dazu enthüllt sich das eigentliche Nichts im Sein des Seienden. Und Heidegger nennt dies »das nichtende Nichts«. Er führt Überlegungen über das Nichts aus, das nicht als Vernichtung, sondern als Nichtung verstanden wird. Das uneigentliche Nichts, das als Vernichtung verstanden wird, kann man nur im Denken vorstellig machen. Wir können uns allenfalls das Ganze des Seienden in der »Idee« denken und das so Eingebildete in Gedanken verneinen und verneint »denken«. Wir, als Subjektivität des ego cogito z. B. bei Descartes und Kant, vollziehen die Nichtung im Sinne der Abweisung des Ganzen des Seienden. Das Nichts, das wir auf diesem Wege gewinnen, ist nur »ein formaler Begriff des eingebildeten Nichts, aber nie das Nichts selbst.« 42 Das eigentliche Nichts, das sich nichtet und dadurch offenbart, kann das Dasein nur in bestimmten Erfahrungen, in extremen Stimmungen vergegenwärtigen, und nicht bedenklich einbilden.
4.2.2. »Die helle Nacht des Nichts der Angst« Die Hauptstimmung, die ihrem eigensten Enthüllungssinne nach das Nichts offenbaren kann, ist Heidegger zufolge die Angst. Heidegger macht schon in Sein und Zeit eine phänomenologische Analyse der Angst. Dort stellt er eine ontologische Unterscheidung zwischen Angst und Furcht heraus: Die in der Furcht entdeckte Bedrohung bezieht sich immer nur auf ein bestimmtes innerweltlich Seiendes, während »das Wovor der Angst das In-der-Welt-sein als solches ist«. 43 Das Nichts-Problem kommt in der Angst in dem Maße vor: »Wenn die Angst sich gelegt hat, dann pflegt die alltägliche Rede zu sagen: ›es war eigentlich nichts‹« 44. Heidegger führt ferner aus, dass dieses Nichts eigentlich als »die völlige Unbedeutsamkeit« zu verstehen ist. Alles dem Dasein zugängliche Seiende, d. h. die Gesamtheit des Welthaften, rückt durch die Angst in den Modus absoluter Irrelevanz. In der Angst kann ich die Bedeutsamkeit der Welt im »Nichts« und Nirgends finden, als ob das Ganze des Innerweltlichen völlig belanglos wäre. Dieses Nichts hier ist aber »kein totales Nichts«, d. h. nicht im Sinne von »nihil absolutum« oder »nihil negativum«, es 42 43 44
Heidegger, Was ist Metaphysik?, in: GA 9, S. 109. Heidegger, Sein und Zeit, S. 186. Ebd., S. 187.
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bedeutet »nicht Weltabwesenheit, […] sondern die Angst erschließt als Modus der Befindlichkeit allererst die Welt als Welt.« 45 Zwar hat Dasein die Angst vor dem In-der-Welt-sein als solches, aber Dasein ist in der Angst nicht weltlos, denn das Verhalten und damit auch die Bestimmung des vorgängigen Seins ist unumgänglich. Zwar ist in der Angst das alltägliche Verhalten unterbrochen, aber in ihr ist doch das Verhalten als solches nicht bedroht. 46 Genau so wird die Welt in dieser radikalen Verhaltensweise der Unbedeutsamkeit, die anders als die alltägliche ist, einen neuen Anblick erhalten, um sich offenbaren zu können. Dieser Gedanke, insbesondere der Zusammenhang zwischen der Angst und dem Nichts, wird in der Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? streckenweise fortgesetzt. Was Heidegger hier wesentlich hinzufügt, ist das Entgleiten des Seienden im Ganzen. Zwar ist die Angst immer Angst vor etwas, aber nicht vor diesem oder jenem. Die Unbestimmtheit dessen, wovor und worum wir uns ängstigen, ist kein bloßes Fehlen, sondern eine wesenhafte Unmöglichkeit der Bestimmtheit. Sie führt dazu, mir alles unheimlich und ängstlich zu machen. »Alle Dinge und wir selbst versinken in eine Gleichgültigkeit. Das Seiende [im Ganzen] spricht nicht mehr an.« 47 Alle Dinge versinken, sie gehen zurück und erscheinen mir nicht mehr, aber genau dadurch umdrängt mich eine Angst vor dem Ganzen des Seienden, das anonyme und versinkende Ganze des Seienden kommt hervor, kommt auf mich zu, und ich bin umfasst von ihm, aber ich weiß nicht, was es bedeutet. Oder negativ formuliert: Die Bedeutung und Macht aller Dinge werden hinfällig und außer Kraft gesetzt. Nicht etwas, sondern alles ist mir fremd, bedrohlich und ich kann dessen Bedrohung gar nicht loswerden. Damit bringt die Angst »das Seiende im Ganzen zum Entgleiten« 48 und daher lässt sie uns schweben. Das Seiende im Ganzen zum Entgleiten zu bringen, bedeutet nicht eine Vernichtung oder Verneinung des Seienden im Ganzen, sondern ein zweifaches Verhalten zum Seienden im Ganzen: das Seiende im Ganzen abweisen (es spricht nicht mehr an, und wird gleichgültig und unbedeutsam) und zugleich auch auf das Seiende im Gan-
45 46 47 48
Ebd., S. 187. Vgl. G. Figal, Martin Heidegger: Phänomenologie der Freiheit, S. 202. Heidegger, Was ist Metaphysik?, in: GA 9, S. 111. Ebd., S. 112.
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zen verweisen mit einem neuen Anblick, nämlich »eine abweisende Verweisung auf das entgleitende Seiende im Ganzen«: »Diese im Ganzen abweisende Verweisung auf das entgleitende Seiende im Ganzen, als welche das Nichts in der Angst das Dasein umdrängt, ist das Wesen des Nichts: die Nichtung. Sie ist weder eine Vernichtung des Seienden, noch entspringt sie einer Verneinung. Die Nichtung läßt sich auch nicht in Vernichtung und Verneinung aufrechnen. Das Nichts selbst nichtet.« 49
Die Angst offenbart das Nichts, dadurch, dass »die abweisende Verweisung auf das entgleitende Seiende im Ganzen« offenbart ist. Heidegger nennt dieses Entgleiten des Seienden im Ganzen »das Nichten des Nichts«, und das Nichten oder die Nichtung des Nichts ist durchaus von der Vernichtung oder Verneinung zu unterscheiden. Wie man dies verstehen kann, müssen wir nunmehr verdeutlichen. Es kommt vor allem darauf an, »das Entgleiten des Seienden im Ganzen« bei Heidegger besser zu verstehen. Heidegger erläutert weiter: »In der Angst wird das Seiende im Ganzen hinfällig. In welchem Sinne geschieht das? Das Seiende wird doch durch die Angst nicht vernichtet, um so das Nichts übrigzulassen. Wie soll es das auch, wo sich doch die Angst gerade in der völligen Ohnmacht gegenüber dem Seienden im Ganzen befindet. Vielmehr bekundet sich das Nichts eigens mit und an dem Seienden als einem entgleitenden im Ganzen.« 50
Das Entgleiten des Seienden im Ganzen bedeutet dann »Hinfälligwerden«, d. h. außer Kraft treten, oder »nicht mehr ansprechen«. Das Dasein begegnet in der Angst dem Nichts. Nicht in dem Sinne, dass alles Seiende vernichtet ist und letztlich nur das Nichts zum Begegnen übrig bleibt, sondern in dem Sinne, dass das Dasein dem Nichts begegnet »›in eins mit‹ dem entgleitenden Seienden im Ganzen« 51. »In eins mit« besagt: »das Nichts ist hier weder ein anderes eigentümliches Seiendes, noch die Vernichtung des Seienden, sondern es bekundet sich mit und an der Oberfläche des Seienden im Ganzen.« 52 Das Nichts ist kein Seiendes, kein Ergebnis einer Vernichtungsbewegung, sondern vielmehr der Vorgang des Hinfälligwerdens und Entgleitens des Ganzen alles Seienden selbst, der zugleich die Präsenz des Nichts konstituiert. Indem das Nichts alles Seiende für 49 50 51 52
Ebd., S. 114. Ebd., S. 113. Ebd., S. 114. Jean-Luc Marion, Reduction and Givenness, S. 176.
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sich abweist und gerade so auch auf das entgleitende Ganze des Seienden hinweist, geschieht etwas, das Heidegger mit der umstrittenen Formel einer Aktivität des Nichts beschreibt: das Nichten des Nichts. Und dieser Vorgang ist eigentlich ein zweifaches Spiel: es weist ab und verweist zugleich auch. Das Nichten des Nichts bedeutet nicht ins nichts gehen, sondern gerade durch die Nichtung zum Sein des Seienden gehen. Genau aus diesem Grund sagt Heidegger: »Das Nichts gibt nicht erst den Gegenbegriff zum Seienden her, sondern gehört ursprünglich zum Wesen (des Seins) selbst. Im Sein des Seienden geschieht das Nichten des Nichts«, und: »Das Nichts bleibt nicht das unbestimmte Gegenüber für das Seiende, sondern es enthüllt sich als zugehörig zum Sein des Seienden.« 53 Die Funktion oder das Ziel des Nichts ist nicht, in Nihilismus zu verfallen, sondern gerade umgekehrt, den Nihilismus zu überwinden. Denn gerade im Hinfälligwerden der Bedeutsamkeit des Seienden im Ganzen ist das Seiende im Ganzen erst offenbart und dem Dasein erfahrbar. Das Nichten des Nichts offenbart das Seiende als solches. Heidegger gibt diesem zweifachen Spiel des Nichts eine sehr interessante Charakterisierung: »die helle Nacht des Nichts der Angst«. 54 Als Negation (hier genauer: Abweisung im Sinne von Hinfälligwerden, und nicht die Negation der Existenz) des Seienden, Versinken in das Nicht-Seiende, ist das Nichts eine Nacht, die das Dasein in die Angst stürzt. Als Wesen des Seins ist die Nacht des Nichts in der Angst eine Offenbarkeit des Seins und deswegen ist sie »hell«. 55 Die helle Nacht ist dort, wo das Licht aus dem Dunkel und durch es hindurch auftaucht, und in diesem Sinne ist das Licht dann noch heller als am Tag. Es lässt sich festhalten: Der Gedankengang der Vorlesung Was ist Metaphysik? entfaltet sich nach zwei entscheidenden Grundlinien, die miteinander verknüpft sind: 1.) Eine klare Unterscheidung von dem Nichts und der logischen Negation und nicht die logische Negation konstituiert das Nichts, sondern umgekehrt, die logische Negation entspringt dem Nichts; 2.) Das Nichts als Resultat einer Aktivität (des Nichtens des Nichts), nicht einer bloßen Abwesenheit oder PriHeidegger, Was ist Metaphysik?, in: GA 9, S. 115, 120. Siehe auch Heideggers Fußnote 1949, »ab-weisen: das Seiende für sich; ver-weisen: in das Sein des Seienden.«, S. 114. 54 Heidegger, Was ist Metaphysik?, in: GA 9, S. 114. 55 Vgl. Christophe Bouton, »Die Helle Nacht des Nichts, Zeit und Negativität bei Hegel und Heidegger«, in: Hegel-Studien 45 (2010), S. 105–126, hier S. 124. 53
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vation. 56 Die Aktivität des Nichts ist ein zweifaches Spiel, nämlich eine abweisende Verweisung auf das entgleitende Seiende im Ganzen. Darin geschieht das Nichten des Nichts, aber das Nichten ist nicht Vernichten, sondern ein Offenbaren. Im Gegensatz zu Carnap, der diese phänomenologische Analyse des Nichts in der Angst als ein metaphysisches Sprechen aus der Philosophie beseitigen möchte, versucht Ernst Tugendhat als ein sprachanalytischer Philosoph immerhin Heideggers phänomenologischen Analysebefund der Angst zu retten. Zugleich beruht aber andererseits seine Arbeit auf einem prinzipiellen Unverständnis der obigen zwei Grundlinien von Heideggers Denken. Nach Tugendhat entspricht die Erfahrung des Nichts dem universalen negativen Existenzsatz »es gibt nichts (woran ich mich halten kann).« Er interpretiert Heideggers Nichts als eine »ausgezeichnete Negation«: »Das ›Nichtsein‹ steht für das ›… ist nicht …‹ im allgemeinen, Heidegger[s Nichts] aber ging es um jene ausgezeichnete Negation, den universalen negativen Existenzsatz. Das Nichts erweist sich als eine vergegenständlichende Bezeichnung für das, was der universale Negative Existenzsatz besagt.« 57
Das heißt, Tugendhat versteht das Nichts als die vergegenständlichende Bezeichnung für den Satz »dass es gar nichts gibt.«, und dementsprechend das Sein dann als die vergegenständlichende Bezeichnung für den Satz »dass überhaupt etwas ist.« 58 Das Nichts, das in der Angst sich offenbart, ist dann Tugendhats Verständnis nach nur auf »kein«, also »nichts« zu reduzieren. Er behauptet damit: »Die Einführung von dem Nichts ist also unberechtigt und wird von Heidegger kaum ganz ernst gemeint gewesen sein«, und: »Sich an nichts halten zu können, ist eine echte Erfahrungsmöglichkeit, sich an das Nichts halten zu können, hingegen kaum« 59. Es ist erstens zu bemerken, dass Tugendhat Heideggers originelle Fragstellung des Nichts übersieht, nämlich dass das Nichts nicht aus der Negation oder Verneinung der Existenz von Seiendem zu verstehen ist, was wir oben mit Nachdruck hervorgehoben haben. Die Angst enthüllt das Nichts Vgl. Markus Wirtz, Geschichten des Nichts: Hegel, Nietzsche, Heidegger und das Problem der philosophischen Pluralität, S. 345. 57 Ernst Tugendhat, Das Sein und das Nichts, S. 64. 58 Zur Kritik an diesem Verständnis von Sein bei Heidegger von Tugendhat siehe Kapitel 3.3.1 dieser Arbeit. 59 Ernst Tugendhat, Das Sein und das Nichts, S. 58 f. 56
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nicht im Modus eines leeren Objekts neben oder hinter der Totalität des Seienden. Zweitens hat Tugendhat auch nicht verstehen können, dass die Offenbarung des Nichts in der Angst zugleich die Offenbarung des Seienden im Ganzen ist. Würde Tugendhats Interpretation stimmen, dann würden sich die Offenbarung des Nichts und des Seienden im Ganzen genau als Gegensätze ganz widersprechen. Der Grund dafür, dass die Offenbarung des Nichts nicht im Gegensatz zur Offenbarung des Seienden im Ganzen steht, sondern dasselbe ist, besteht darin: Nichts bedeutet nicht das nichtige Nichts (»das nihil absolutum« und »das nihil negativum«), nicht eine ontische Leere, sondern einen ontologischen Vorgang: in der abweisenden Verweisung das Seiende im Ganzen in einem neuen Hinblick eigentlich offenbaren zu lassen. Das Nichten des Nichts gehört zum Sein.
4.2.3. Das Nichts und »das Gelten vom Nichtgelten«: der Unterschied von »Nichts« und »nicht« als die Rückseite der ontologischen Differenz Um die zwei obigen Grundlinien von Heideggers Nichts-Denkens noch weiter zu verdeutlichen, müssen wir unseren Blick auf die ontologische Differenz zurückwenden. Wir behaupten: Der Unterschied von Nichts und der Vernichtung oder Negation des Seienden ist nur die Rückseite des Unterschiedes von Sein und Seiendem. Sehen wir uns diese Sachlage näher an. Ich habe in meinem Aufsatz Heidegger and Lask: On the Genesis of Heidegger’s Ontological Difference and Lichtung 60 die These vertreten, dass der Ursprung der ontologischen Differenz vor allem aus der neukantianischen Unterscheidung zwischen dem wirklichen Existieren und faktischen Gelten von Lotze und Lask zu erklären ist, welche bedeutet: Das, was ist, ist anders als das, was gilt; was gilt, ohne sein zu müssen. 61 Heidegger übernimmt sie und verwendet sie als ein
Nian He, »Heidegger and Lask: On the Genesis of Heidegger’s Ontologische Differenz and Lichtung«, in: The Phenomenological and Philosophical Research in China, Band 19, 12. 2016, S. 95–131. 61 Emil Lask, Die Logik der Philosophie und Kategorienlehre, GS II, S. 14, 99. Vgl. Hermann Lotze, Logik. Drei Bücher. Vom Denken, vom Untersuchen und vom Erkennen. Leipzig 1928. S. 511. 60
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grundlegendes Prinzip seines Frühwerks. 62 Ganz wesentlich beeinflusst war Heidegger von Lasks Denken des Urverhältnisses von Form (als Gelten) und Material (als Seiendes), was sich kurz so formulieren lässt: Die logische Form als Gelten ist immer eine Hingeltung von einem seienden Material (das ist ein logischer Umbau der phänomenologischen Intentionalität), alles Geltende ist ein die inhaltliche Erfüllung erwartendes Hingeltendes, und Form weist hingeltend auf Material hin. Die Einheit, das Ineinander von Form und Material, ist der Gegenstand der Logik, der als Sinn bezeichnet werden soll. Auf der anderen Seite bleiben Form und Material innerhalb der Einheit oder des Ineinanders noch unaufhebbar ontologisch unterschiedlich: »Auf dem Seinsgebiet ist alles seiend, der kategoriale Seinsgehalt selbst dagegen ein Geltendes. Das Sein des Seienden gehört schon zum Geltenden, somit zum Nicht-Seienden, die Wirklichkeit des Wirklichen schon zum Nichtwirklichen. Das Sein ist geltend, und nichtgeltend erst das Material, hinsichtlich dessen die kategoriale Hingeltungsform ›Sein‹ lautet … Man darf jenes Material nur mit Rücksicht darauf das »Seiende« nennen, dass es in der Kategorie ›Sein‹ steht.« 63
Daraus wird ersichtlich: Nur der materiale Gegenstand ist das Seiende, z. B. ein gelber Einband (sinnliches), die geltende Form erhellt den Einband als Material und lässt es verständlich werden, nämlich das Gelb-sein des Einbandes (logisches) im Urteil »der Einband ist gelb«. Das Geltende bestimmt das Material. Dieses Gelbsein ist das Sein des Seienden, gehört zum Gebiet des Geltens und nicht mehr des Seienden. Somit ist das Sein des Seienden durchaus vom Seienden zu unterscheiden. Heidegger sagt in seiner Dissertation: »Die Wirklichkeitsform des im Urteilsvorgang aufgedeckten identischen Faktors kann nur das Gelten sein. Das Gelbsein des Einbandes gilt allenfalls, existiert aber nie.« 64 Es ist leicht einzusehen, dass fast alle Aspekte der ontologischen Differenz von Sein und Seiendem bei Heidegger schon darin angelegt ist: Form bestimmt das Material; Form ist immer Form von einem Material; Form und Material sind ontologisch unterschiedlich. Dies wird dann so in die Heidegger’sche Sprache übersetzt: Sein bestimmt das Seiende; Sein ist immer Sein von Seiendem; Sein ist kein Seiendes. 62 63 64
Vgl. Heidegger, GA 1, S. 170. Emil Lask, Die Logik der Philosophie und Kategorienlehre, S. 46 f. Heidegger, GA 1, S. 170.
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Dementsprechend möchte ich darauf hinweisen, dass das Nichts nun auf der Ebene des Geltens, nämlich des Seins des Seienden, die Vernichtung oder Verneinung hingegen auf der Ebene des Seienden läuft. Wenn Heidegger durch die Analyse der Angst das Nichts als das Entgleiten des Ganzen des Seienden bezeichnet und das Entgleiten nur das Hinfälligwerden, d. h. außer Kraft treten bedeutet, dann hat Heidegger völlig Recht festzustellen, dass das Nichts hier von der Vernichtung und Negation des Seienden zu unterscheiden ist. Denn in dem Hinfälligwerden geschieht nur ein Ungültig-werden des Geltens, statt einer Negation der Existenz des Seienden. Heidegger macht in Sein und Zeit schon darauf aufmerksam, dass das Nichts, das in der Angst erschlossen ist, »kein totales Nichts« ist. Mit diesem Ausdruck möchte er feststellen, dass das alltägliche Verhalten des Daseins zur Welt zwar in der Angst unterbrochen ist, aber das Verhalten schlechthin eben nicht. Das Nichts in der Angst besagt nicht Weltabwesenheit, sondern die Angst erschließt vielmehr allererst die Welt als Welt. Dies soll nun noch einmal deutlicher verstanden werden hinsichtlich dessen, dass es beim Nichts um das Gelten, anstatt das Existieren geht. Weil mir in der Angst alles fremd und bedrohlich ist, habe ich Angst vor der Welt in dem Sinne, dass die gängige Bedeutsamkeit der Welt nicht mehr gilt oder überhaupt nicht mehr gelten kann. Das Erstaunliche und Wunderbare besteht aber darin: Die Negation des Existierens ist nicht mehr existierend, die Negation des Geltens dagegen immer noch ein Gelten. Heidegger hat dies auch durchaus gesehen. Er sagt in seiner Dissertation: »Wenn etwas nicht existiert, kann ich nicht sagen: es existiert; nur ist dieses Existieren ein Nichtexistieren. Das, was dagegen nicht gilt, gilt trotzdem, nur ist dieses Gelten ein Nichtgelten.« 65 Das Sein des Seienden im Ganzen, das in der Angst nicht mehr gilt, gilt gleichwohl, nur in dem Sinne, dass es ein Gelten von dem Entgleiten des Ganzen ist. Es gibt keine Existenz der Nicht-Existenz, dagegen ist das Nichtgelten immer noch ein Gelten. Dem Nicht geht es um die Ebene des Seienden oder der Existenz, dem Nichts dagegen um die Ebene des Geltens. Das Nichts ist deswegen als ein Gelten vom Nichtgelten zu verstehen. Der Streit um »das Nichts« oder »nichts«, der dann die Philosophie auf die entgegengesetzten Wege gebracht hat, ist eigentlich nur deswegen ent-
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Heidegger, GA 1, S. 184 f.
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standen, weil die Problematik des Nichts diese zwei verschiedenen Ebenen hat und man sie aber nicht auseinandergehalten hat. Dieses Gelten des Entgleiten des Ganzen ist gerade eine Offenbarung des Ganzen, in die das Dasein hineingehalten ist. Genau durch diese Hineingehaltenheit verhält sich das Dasein nunmehr nicht zum bestimmten Seienden, sondern zum Seienden im Ganzen, damit kann es überschreiten und transzendieren. Heidegger sagt: »Die Hineingehaltenheit des Daseins in das Nichts auf dem Grunde der verborgenen Angst ist das Übersteigen des Seienden im Ganzen: die Transzendenz.« 66 Die Hineingehaltenheit des Dasein in das Nichts macht das Seiende im Ganzen sichtbar und erfahrbar, damit macht sie auch die Transzendenz aus, da Transzendenz genau eine Vor-sicht oder einen Vor-griff auf das Sein, oder die Offenbarkeit des Seienden als solches im Ganzen bedeutet. Es bleibt noch eine Frage zu den zwei oben formulierten Thesen zu erörtern: Wie kann Heidegger Folgendes rechtfertigen: Das Nichts und die Vernichtung sind zwar auf zwei verschiedenen Ebenen, aber warum entspringt die Verneinung dem Nichts und nicht umgekehrt? Sofern das Nichts in traditioneller Manier als »die Verneinung der Allheit des Seienden« 67 (»das nihil absolutum« und »das nihil negativum«) bestimmt wird, scheint das Nichts ein bloßes Derivat der logischen Negation darzustellen, deren Funktion auf die Gesamtheit aller Gegenstandsbereiche, also das Seiende überhaupt, bezogen wird. D. h. das Nichts kommt aus dem kleingeschriebenen »nichts«, und »nichts« kommt aus dem »Nicht«. Wäre dies so, dann würde man daraus folgern: Das Nichts gründet sich auf der Verneinung und die Verneinung wiederum auf das logische Nicht. Heidegger vertritt in der Tat die exakte Gegenposition zu dieser Auffassung: Nicht die logische Negation konstituiert das Nichts, sondern dieses ermöglicht umgekehrt erst jegliche logische Verneinung, jedes Nein und jedes Nicht. 68 Heidegger macht oftmals diese Feststellung, 69 aber meines Erachtens rechtfertigt er sie nicht genügend. Das heißt aber nicht, dass Heidegger, Was ist Metaphysik?, in: GA 9, S. 118. Ebd., S. 107; GA 51, S. 52. 68 Vgl. Markus Wirtz, Geschichten des Nichts: S. 343. 69 Heidegger: »Wir behaupten: das Nichts ist ursprünglicher als das Nicht und die Verneinung«, GA 9, S. 108; »Das Nicht kann aber nur offenbar werden, wenn sein Ursprung, das Nichten des Nichts überhaupt und damit das Nichts selbst, der Verborgenheit entnommen ist. Das Nicht entsteht nicht durch die Verneinung, sondern 66 67
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etwas in dieser Feststellung nicht konsistent ist, sondern nur, dass wir uns bemühen sollten, noch sorgfältiger nachzudenken, was Heidegger in seinem Denken vorausgesetzt oder unterstellt aber nicht expliziert hat. Wie oben schon angezeigt ist, ist die Bewegung des Nichtens des Nichts eigentlich eine Offenbarung des Seienden im Ganzen, anstatt eine Negation der Existenz des Seienden. Das Nichten des Nichts gehört zum Sein des Seienden. Wir haben im Kapitel 4.1 auch schon erläutert, dass das Sein der Verneinung »ist nicht« auch zugrunde liegt, weil jedem negativen Urteil immer ein positives Urteil zugrunde liegt. Das Urteil »S ist nicht P« kann z. B. nur dadurch verstanden werden: Nein, es ist nicht wahr, nämlich S ist P. Darüber hinaus, weil der Unterschied von Nichts und der logischen Verneinung nur die Rückseite der ontologischen Differenz ist, hängt der Vorrang des Nichts vor dem Nicht auch mit dem Vorrang des Seins vor dem Seienden zusammen. Sein ist das Allgemeinste und auch »das Einfache des Mannigfachen im Sein des Seienden«. 70 Wie im Kapitel 2.3 schon gezeigt wurde, kann das Sein endgültig nur als das Sein-lassen verstanden werden. Sein macht jedes Seiendes jeweilig und zugleich lässt es auch die mannigfachen Bedeutungen des jeweiligen Seienden analog einigen. Sein ist zwar nicht die Gesamtheit des Seienden, aber es bezieht sich immer auf das Ganze des Seienden in dem Sinne, dass das Sein das Ganze des Seienden offenbaren lässt. Sein geht dem Seienden voraus bedeutet bei Heidegger auch: Das Ganze geht dem Teil voraus. Aber ganz wichtig zu beachten ist dabei, dass das Ganze-Teil-Verhältnis von Sein und Seienden weder ein nummerisches ist noch wie eine Zusammenfügung von verschiedenen trennbaren Stücken (z. B. der ganze Körper besteht aus vielen Körperteilen, die bedenklich von dem Ganzen trennbar sind) oder untrennbaren Momenten (z. B. ein Farbe-Ganze, das notwendigerweise im Raum seine Ausdehnung hat. Diese Ausdehnung ist dann ein absolut, auch bedenklich untrennbares Moment des Ganzen) 71, sondern es ist vielmehr ein Verhältnis der Offenbarkeit schlechthin die Verneinung gründet sich auf das Nicht, das dem Nichten des Nichts entspringt«, GA 9, S. 116; »Weil das Nichten im Sein selbst west, deshalb können wir es nie als etwas Seiendes am Seienden gewahren. Vollends beweist der Hinweis auf diese Unmöglichkeit niemals die Herkunft des Nicht aus dem Nein-Sagen«, GA 9, S. 359. 70 Heidegger, Vorwort zur ersten Ausgabe der »Frühen Schriften« (1972), GA 1, S. 56. 71 Vgl. Husserl, Logische Untersuchungen, III. Zur Lehre von den Ganzen und Teilen, Erstes Kapitel, in: Hua 19/1, S. 229–266.
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und dem Offenbarten, von dem Einfachen und Mannigfachen. Dem ist noch hinzuzufügen, dass dieses Einfache aber nicht Eines von dem Mannigfachen ist, d. h. das Sein als das Einfache nicht als eins verstanden werden darf, sondern vielmehr als Null in dem Sinne, dass es kein Seiendes ist aber alles Seiende betrifft und sein lässt.
4.2.4. Die Offenbarung der Welt durch andere Stimmungen und das Problem der Metaphysik Bevor wir weitergehen, sollen die folgenden zwei Punkte bezüglich Heideggers Nichts-Denken vor der Kehre noch geklärt werden: 1) Heidegger war niemals der Meinung, dass die Angst die einzige Erfahrung oder Stimmung des Daseins ist, die das Nichts offenbaren kann. Heidegger schreibt in einem Brief an Rickert: »Ich habe nie behauptet, dass das Nichts nur in der Angst offenbar werde.« 72
Zwar ist die phänomenologische Analyse der Angst in Sein und Zeit der einzige Weg zum Seienden im Ganzen und dem Nichts zu gelangen, aber er wurde niemals als der einzige »behauptet«. Und Heidegger weist in Was ist Metaphysik? noch deutlicher darauf hin, dass es außer der Angst noch die Langweile und die Freude der Liebe gibt, die das Seiende im Ganzen offenbaren: »Diese Langeweile offenbart das Seiende im Ganzen. Eine andere Möglichkeit solcher Offenbarung birgt die Freude an der Gegenwart des Daseins – nicht der bloßen Person – eines geliebten Menschen.« 73
Heideggers Analyse zur Langeweile findet man nicht nur in der Vorlesung 1929, sondern auch vornehmlich in seiner Freiburger Vorlesung Wintersemester 1929/30 »Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit«, wo die Langeweile als zentrales Thema in drei verschiedenen Formen untersucht wird, nämlich als das Gelangweiligtwerden von etwas, als das Sichlangweilen bei etwas und letztlich als die tiefe Langeweile. In der ersten Form wird man gelangweilt von einem bestimmten etwas, in der zweiten dann von sich selbst. Nur in der dritten Form der tiefen Langeweile verweilt Heidegger, Martin Heidegger / Heinrich Rickert: Briefe 1912 bis 1933, Frankfurt am Main 2002, S. 70. 73 Heidegger, Was ist Metaphysik?, S. 110. 72
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die Langeweile nicht mehr bei irgendetwas, sondern langweilt sich in sich selbst, und deswegen ist »das Seiende im Ganzen gleichgültig geworden« 74. Wenn »es einem langweilig ist«, dann bricht die tiefe (Heidegger sagt auch »eigentliche« 75) Langeweile alle Beschäftigung aller Dinge, eben auch den Müßiggang, auf, damit rückt sie alle Dinge und Menschen in den Abgrund des Daseins in eine merkwürdige Gleichgültigkeit zusammen. Durch diese Gleichgültigkeit verliert alles in der tiefen Langeweile seine Bedeutsamkeit, alles wird indifferent und gleichgültig sowohl von der Quantität als auch von der Qualität her, und ferner: Das Verhalten zu allen Dingen ist aufgebrochen. Gerade so taucht aber eine Verweisung auf das Seiende im Ganzen auf, die Heidegger als »Welt« bezeichnet: »Wir nennen diese Weite dieses ›im Ganzen‹, das sich in der tiefen Langeweile offenbart, Welt.« 76
Laut Heidegger ist die Welt in der tiefen Langeweile offenbar, aber dasjenige, was in der Angst offenbar ist, ist das Nichts. Es ist leicht zu bemerken, dass in den Analysen zu diesen zwei Stimmungen eine Unvereinbarkeit besteht. Warum ist das so? Wir müssen hierbei noch eine andere Frage stellen: Wie Heidegger behauptet hat, gibt es noch eine andere Möglichkeit das Seiende im Ganzen zu offenbaren, nämlich durch die Freude der Liebe. Warum fehlt dann bei Heidegger, wenn er diese Möglichkeit zugibt, eine entsprechende phänomenologische Analyse zur Liebe? 77 Da die Liebe ein zentrales Thema des zweiten Teils dieser Arbeit ist, wird auf sie, sowie auf den Zusammenhang zwischen der Liebe und dem Sinn von Sein, noch später eingegangen werden. Unter der Berücksichtigung der Behauptung von Heidegger, dass das Nichts nicht nur in der Angst offenbart werde, ist anzunehmen, dass Heidegger eventuell die Offenbarung der Welt (in der Langeweile) mit der Offenbarung des Nichts (in der Angst) gleichgesetzt hat. Ist dem tatsächlich so?
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, S. 212. 75 Siehe Heidegger, Was ist Metaphysik?, S. 110. 76 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, S. 251. 77 Jean-Luc Marion hat diese Frage auch gestellt und auf einige Textstellen über die Liebe bei Heidegger hingewiesen. Siehe Jean-Luc Marion, Reduction and Givenness, S. 174, 242. 74
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Jean-Luc Marion hat diese Unvereinbarkeit auch gesehen und er neigt dazu, diese Unvereinbarkeit innerhalb der Analyse zu verorten, anstatt zwischen Langeweile und Angst. Er geht davon aus, dass die Angst eine höhere Priorität gegenüber der Langeweile hat und daher »die Leistung der Langeweile in sich übernimmt« 78. Die tiefe Langeweile kann das Seiende im Ganzen dadurch zugänglich machen, dass sie jedes Ding in die einfache leere Gleichgültigkeit reduziert. Aber sobald das Seiende im Ganzen ein Phänomen geworden ist, soll eine noch wichtigere phänomenologische Leistung vollbracht werden: hinsichtlich des Seinsphänomens das Nichts phänomenologisch sich zeigen zu lassen. Marion vertritt die Meinung, dass diese Leistung nur der Angst als »Grundstimmung« oder »Grundbefindlichkeit des Dasein« 79 zukommt. Der Grund dafür, dass die Langeweile dazu nicht fähig ist, besteht darin: In der Langeweile blendet sich das Seiende im Ganzen in einen Nebel der Gleichgültigkeit aus und lässt mich als Zuschauer absolut frei von mir selbst allein, während ich in der Angst ergriffen, festgehalten und erstickt bin von der Unbestimmtheit des Seienden im Ganzen, welche mich als Nichts bedroht (und sich nicht ausblendet). 80 Innerhalb der Analyse der Angst können wir jedoch auch die Unvereinbarkeit von Welt und Nichts finden. Heidegger behauptet in Sein und Zeit, dass das Wovor der Angst das In-der-Welt-sein als solches ist und in Was ist Metaphysik? behauptet er: »wovor und worum wir uns ängsteten, war ›eigentlich‹ – nichts. In der Tat: das Nichts selbst – als solches – war da« 81. Wenn man die Thematisierung der Angst bei Heidegger auf die Marburger Vorlesung Sommersemester 1925 Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs zurückführt, findet man dort eine wesentliche Erläuterung zu dieser Unvereinbarkeit: »Wenn die Angst sich gelöst hat, dann sagen wir: ›es war eigentlich nichts‹, und diese Rede trifft völlig den Tatbestand. Es war nichts; das Wovor der Angst ist das Nichts, d. h. nichts in der Welt Vorkommendes, Bestimmtes, nichts Weltliches, sondern … die Welt in ihrer Weltlichkeit selbst. Die Un-bestimmtheit des Wovor, d. h. dieses Nichts als nichts Weltliches, ist phänomenal völlig bestimmt. Es ist die Welt in ihrer Weltlichkeit, die sich freilich nicht wie ein Weltding gibt. Dieses 78 79 80 81
Ebd., S. 175. Heidegger, Sein und Zeit, S. 182; GA 9, S. 111. Vgl. Jean-Luc Marion, Reduction and Givenness, S. 175. Heidegger, Was ist Metaphysik?, S. 112.
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Nichts als das Drohende ist ganz nahe, so dass sich gewisser-maßen dieses Drohende (die Weltlichkeit der Welt oder die Welt als solche) um einen legt und den Atem verschlägt, ohne dass es etwas wäre, von dem man sagen könnte: dieses da.« 82
Heidegger gibt hier eine Interpretation zu dem, was das Wovor der Angst, das Nichts, ist, nämlich: Da dieses Nichts nichts-Weltliches, nichts in der Welt Vorkommendes, also kein Weltding ist, ist es daher die Welt in ihrer Weltlichkeit oder die Welt als solche. Dass das Wovor der Angst das Nichts ist, bedeutet eigentlich zugleich, dass dieses Wovor auch die Welt als das Ganze ist. Diese Interpretation entspricht in der Tat auch Heideggers Gedanken in Sein und Zeit und Was ist Metaphysik?. Heidegger meint in Sein und Zeit, dass das in Angst offenbarte Nichts und Nirgends keine Weltabwesenheit bedeutet, sondern das Dasein eben auf »die Welt als Welt« gestoßen ist und das Verstehen dadurch auf das In-der-Welt-sein als solches gebracht hat. 83 An manchen Stellen können wir solche Ausdrücke finden: »Das Nichts der Welt, davor die Angst sich ängstet, besagt nicht, es sei in der Angst etwa eine Abwesenheit des innerweltlichen Vorhandenen erfahren« 84, »Die Welt: ein Nichts, kein Seiendes« 85. Das Nichts der Welt bringt die Welt nicht zum Verschwinden, sondern es gehört auch zur Welt, um auf die Welt zurückkommen und damit die Welt als Phänomen sichtbar zu machen. Zwar fehlt in Was ist Metaphysik? eine direkte Gleichsetzung von dem Wovor der Angst als Nichts und als Welt, aber wir können auch deren Spur dort finden. Nachdem Heidegger sowohl den Nichts-Satz in der traditionellen Metaphysik »ex nihilo nihil fit« als auch in der christlichen Dogmatik »ex nihilo fit – ens creatum« als unangemessen in dem Sinne charakterisiert, dass sie beide das Nichts als die Verneinung des Seienden, daher das eigentliche Nichts nie gedacht haben, stellt er einen neuen Nichts-Satz auf: »ex nihilo omne ens qua ens fit. Im Nichts des Daseins kommt erst das Seiende im Ganzen (seiner eigensten Möglichkeit nach)« 86. Dies besagt genau die Transzendenz des Daseins. Dadurch, dass das Dasein in der Angst in das Nichts hineingehalten ist, Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, GA 20, S. 401. Heidegger, Sein und Zeit, S. 187; auch S. 343: »es greift ins Nichts der Welt; auf die Welt gestoßen, ist aber das Verstehen durch die Angst auf das In-der-Welt-sein als solches gebracht.« 84 Ebd., S. 343. 85 Heidegger, GA 26, S. 252, 271. 86 Heidegger, Was ist Metaphysik?, S. 120. 82 83
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geschieht auch zugleich »die Offenbarung des Seienden als eines solchen: dass es Seiende ist.« 87 Das Nichts hängt sich dem Seienden an, und es gehört zum Sein des Seienden. Durch die Hineingehaltenheit in das Nichts transzendiert das Dasein aber nicht nur dieses oder jenes Seiende, sondern »über das Seiende im Ganzen hinaus« 88, d. h. auf die Welt als solche oder die Weltlichkeit der Welt hin. Alle obigen Darstellungen haben bewiesen: Heideggers NichtsDenken vor der Kehre zielt darauf ab, die Offenbarung der Welt (bzw. auch des eignen Selbst, der Eigentlichkeit des Daseins) ans Licht zu bringen. 89 Die Offenbarung des Nichts ist zugleich auch die Offenbarung der Welt, noch genauer: Sie ist Heidegger zufolge die Ermöglichung der Offenbarung der Welt. Damit stehen wir schon an der Schwelle zu dem zweiten Punkt, den wir klären wollten. 2) Charakteristisch für die Vorlesung Was ist Metaphysik? ist, dass sie mit der Problematisierung des Nichts selber ein metaphysisches Fragen in Gang zu setzen versucht. Was Heidegger in der Vorlesung als Neues in die metaphysische Tradition bringen möchte, bleibt noch metaphysisch. Am Ende der Vorlesung sagt er: »Das menschliche Dasein kann sich nur zu Seiendem verhalten, wenn es sich in das Nichts hineinhält. Das Hinausgehen über das Seiende geschieht im Wesen des Daseins. Dieses Hinausgehen aber ist die Metaphysik selbst. Darin liegt: Die Metaphysik gehört zur »Natur des Menschen«. Philosophie – was wir so nennen – ist das In-Gang-bringen der Metaphysik, in der sie zu sich selbst und zu ihren ausdrücklichen Aufgaben kommt. Die Philosophie kommt nur in Gang durch einen eigentümlichen Einsprung der eigenen Existenz in die Grundmöglichkeit des Daseins im Ganzen.« 90
Ebd., S. 114; siehe auch S. 115: »Das Nichts kommt weder für sich vor noch neben dem Seienden, dem es sich gleichsam anhängt. Das Nichts ist die Ermöglichung der Offenbarkeit des Seienden als eines solchen für (nicht: durch) das menschliche Dasein.« 88 Ebd., S. 115. 89 Jean-Luc Marion hat behauptet, dass in Sein und Zeit nie das Nicht auf das Phänomen des Seins reduziert werde, sondern nur auf die Welt und Dasein, und ferner in Was ist Metaphysik? auch die Zurückführung von dem Nichts auf das Sein nicht erfolge. Siehe Jean-Luc Marion, Reduction and Givenness, S. 178 f. 90 Heidegger, Was ist Metaphysik?, S. 121 f. 87
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Sein als das Nichts
Zwar gibt es laut Heidegger in der metaphysischen Tradition eine Nichtsvergessenheit, sie hat also nie das eigentliche Nichts ernsthaft zum Problem gemacht, aber die Frage nach dem Nichts selbst ist auch noch eine metaphysische. Wie kann man dies verständlich werden lassen? Inwiefern ist die Frage nach dem Nichts auch eine metaphysische, wenn sie in der traditionellen Metaphysik doch gar nicht gedacht wurde? Der Schlüssel dazu besteht darin: Die Metaphysik fragt nach dem Seienden im Ganzen, was zu unserer Natur gehört. Sie ist weder falsch noch ein Feld willkürlicher Einfälle. Aber die Metaphysik in der Geschichte denkt nur das Seiende im Ganzen in der Weise, dass sie das Seiende in der begründenden Einheit der Allheit, d. h. nach dem höchsten Seienden über allem, denkt. Heideggers origineller Beitrag zur Metaphysik besteht darin, dass er durch die phänomenologische Analyse die Offenbarung des Nichts gezeigt hat: Die Offenbarung des Nichts macht die Offenbarung des Seienden im Ganzen, nämlich der Welt, erst möglich. Nur wenn sich das Dasein in das Nichts hineinhält, kann es transzendieren und sich damit zum Seienden als solchen verhalten. Indem das Nichts nicht einfach als das Gegenteil des Seienden gedacht wird, sondern in den Enthüllungsvorgang des Seienden im Ganzen gehört, bleibt die Frage nach dem Nichts auch immer innerhalb der Suche nach dem Seienden im Ganzen. Mit einem Wort: Weil das Nichts vor der Kehre immer in Hinsicht auf die Offenbarung der Welt, anstatt wie nach der Kehre auf die Lichtung des Seins gedacht wird, ist die Frage nach dem Nichts vor der Kehre metaphysisch. 91 Diese Frage ist aber dennoch keine normale metaphysische Frage. Denn erst in der ausdrücklichen Problematisierung des »Nichts« könnte die Metaphysik zu sich selbst kommen und auf ihren bislang unbedachten Grund stoßen. Das Nichts-Denken ist ein Denken über die Metaphysik selbst, es fragt nach dem Wesen der Metaphysik, anstatt nur nach einem metaphysischen Problem, wie ja auch der Titel der Vorlesung schon impliziert: »Was ist Metaphysik?«. Und die Antwort ist: »Metaphysik ist das Hinausfragen über das Seiende, um es als ein solches und im Ganzen für das Begreifen zurückzuerhalten.« 92 Siehe auch Markus Wirtz, Geschichten des Nichts, S. 347, »Die Vorlesung Was ist Metaphysik? versuchte noch, ihren Diskurs mit einer Neufundierung der Frage nach dem Nichts selber als einen metaphysischen zu konstituieren.« 92 Heidegger, Was ist Metaphysik?, S. 118. 91
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Das Nichts nach der Kehre: Nichts als Schleier des Seins
Die Metaphysik geht über das Seiende hinaus, um auf das Seiende im Ganzen zurückzukehren. In der abweisenden Verweisung auf das entgleitende Ganze ist die Welt selbst offenbart. Ganz entscheidend für Heidegger: In der Zurückführung auf das entgleitende Ganze ist nicht nur das Nichts und die Welt offenbart, sondern das fragende Dasein selbst ist auch hineingenommen. Sofern das Dasein auch hineingehalten ist in das Nichts, ist nach dem Nichts zu fragen, aber zugleich auch nach dem Menschen selbst. 93 In der Offenbarung der Welt ist das Selbst des Daseins auch miterschloßen. In der existenzialontologischen Phase von Heideggers NichtsDenkens vor der Kehre ist die Welt ein großes philosophisches Anliegen, und die Angst spielt darin deswegen eine tragende Rolle, weil durch die Analyse der Angst Heidegger erst zeigen kann, wie Dasein in der Hineingehaltenheit in das Nichts die Weltlichkeit der Welt und die Offenbarkeit des Seienden im Ganzen erfährt. In der seinsgeschichtlichen Ereignis-Philosophie nach der Kehre, der auch das Nachwort dieser Vorlesung (1943) entstammt, ist hingegen das Entbergung-Verbergung-Spiel der Lichtung des Seins sein zentrales Anliegen geworden. Dementsprechend fällt der Angst nicht mehr die tragende Rolle zu. Im Nachwort der Vorlesung bemüht Heidegger sich darum, die Erfahrung der Angst als eine Erfahrung »der lautlosen Stimme des Seins« 94 zu beschwören, die uns in den Schrecken des Abgrundes stimmt. Und dort denkt Heidegger das Nichts in Hinsicht auf den Entzug des Seins.
4.3. Das Nichts nach der Kehre: Nichts als Schleier des Seins 4.3.1. Die Selbigkeit von Nichts und Sein: das Spiel von Verschleierung und Entschleierung Zwar hat Heidegger in der Vorlesung Was ist Metaphysik? schon mit Hegels Wort behauptet: »Das reine Sein und das reine Nichts ist dasselbe« 95, aber wie oben schon angedeutet wurde, hat Heidegger vor
Ebd., S. 121. »Die Frage nach dem Nichts stellt uns – die Fragenden – selbst in Frage. Sie ist eine metaphysische.« Sie ist »metaphysisch« bedeutet, sie sucht nach dem Ganzen, natürlich soll daher das fragende Dasein auch einbezogen werden. 94 Heidegger, Nachwort zu »Was ist Metaphysik?«, in: GA 9, S. 306. 95 Heidegger, Was ist Metaphysik?, S. 120. 93
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Sein als das Nichts
der Kehre das Nichts nur in Hinsicht auf die Offenbarung des Seienden im Ganzen bzw. die Transzendenz des Daseins und nicht genug in Hinblick auf das Sein selbst gedacht. Die Selbigkeit von Sein und Nichts stellt Heidegger frühestens in Einführung in die Metaphysik (1935) als eine These auf, allerdings noch nicht ganz deutlich. Er sagt: »Damit weist man aber die Frage nach dem Sein zurück und behandelt das Sein wie ein Nichts (nihil), was es auch in gewisser Weise ›ist‹, sofern es west.« 96 Und in der Vorlesung Grundbegriffe (1941) Heidegger bestätigt dieses Verständnis, dass das Nicht und das Sein vielleicht das Selbe seien: »ja, vielleicht ist sogar das Nichts das Selbe wie das Sein. Dann kann aber die Einzigkeit des Seins durch das Nichts niemals gefährdet werden, weil das Nichts nicht ein anderes zum Sein ist, sondern dieses selbst. Gilt nicht gerade auch vom Nichts, was wir vom Sein sagten, dass es einzig und unvergleichlich sei? Die unbestreitbare Unvergleichlichkeit des Nichts bezeugt in der Tat seine Wesenszugehörigkeit zum Sein und bestätigt dessen Einzigkeit.« 97
Dass das Nichts nichts anderes als das Sein ist und genau die Unvergleichlichkeit des Nichts die Einzigkeit des Seins ausmacht, ist Heideggers erste Behauptung der Selbigkeit von Nichts und Sein. Danach wird diese Selbigkeit im Nachwort zu »Was ist Metaphysik?« (1943) festgestellt und vertieft. Charakteristisch für dieses Nachwort ist, dass es nicht nur eine Fortsetzung, sondern vielmehr auch eine Umwandlung des Wegs in der Vorlesung von 1929 ist. Es bringt hauptsächlich die drei folgenden neuen Gedanken ins Spiel:
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, S. 212, auch GA 27, S. 392: »In der Frage nach dem Sein ausdrücklich bis an die Grenze des Nichts gehen und dieses in die Seinsfrage einbeziehen, ist dagegen der erste und einzig fruchtende Schritt zur wahrhaften Überwindung des Nihilismus.«; und Heidegger erwähnt in der Tat in Einleitung in die Philosophie in 1928–29 schon mal, dass das Sein als das Nichts im Sinne von »Nicht-Seindem« verstanden werden kann, aber dies ist dort noch nicht als eine These betrachtet: »Sein ›ist‹ nichts Seiendes. Wir deuteten auch schon an: Wenn Sein nichts Sei-endes ist, ist es dann am Ende das Nichts? In gewisser Weise ja, wenn ›Nichts‹ nicht das nihil absolutum, das schlechthinnige Nichts besagt, sondern so viel heißt wie Nicht-Seiendes.« 97 Heidegger, Grundbegriffe (1941), GA 51, S. 54. Und dazwischen, 1936–38, behauptet Heidegger auch: »Das Nichts ist weder negativ, noch ist es ›Ziel‹, sondern die wesentliche Erzitterung des Seyns selbst und deshalb seiender als jegliches Seiende«, GA 65, S. 266. 96
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Das Nichts nach der Kehre: Nichts als Schleier des Seins
1.) Die Frage nach dem Grund der Metaphysik geht über die Metaphysik schon hinaus, und deswegen ist sie schon in die »Überwindung der Metaphysik« 98 eingegangen. 2.) Die Denkperspektive des Verhältnisses vom Menschen zum Sein hat sich verändert. Mensch und Sein gehören sowohl in der Existenzialontologie als auch im Ereignisdenken jedenfalls zusammen, sie gehören zueinander. Während aber in Sein und Zeit die Perspektive des Daseins, seine Entwurfsstruktur und Aktivität, im Vordergrund steht, rückt mit der Kehre das Sich-Ereignen des Seins selbst in den Vordergrund und bildet gewissermaßen dann selbst den Ausgangspunkt ontologischer Reflexion. Es ist zwar in eins: das Sein, das in sein Da kommt, im Menschen sich ereignet und eröffnet und das Sein, das so und dann vom Dasein verstanden und erschloßen wird. Aber die Denkperspektive hat sich umgekehrt: Vor der Kehre ist die Erschließung der Welt »durch« das menschliche Dasein gegeben; nach der Kehre hingegen ist das Entbergung-Verbergungs-Spiel bzw. das Denken nur das geschichtliche Ereignis des Seins selbst, es ist »für, und nicht durch« 99 das menschliche Dasein. In dem Nachwort ist diese Charakteristik sehr deutlich zu sehen. Heidegger spricht dort nicht mehr von der Angst und seiner Offenbarung des Seienden im Ganzen, sondern dem Anspruch der lautlosen Stimme des Seins selbst. Er erläutert: »Diese [Vorlesung] denkt aus der Achtsamkeit auf die Stimme des Seins in das aus dieser Stimme kommende Stimmen hinaus, das den Menschen in seinem Wesen in den Anspruch nimmt, damit er das Sein im Nichts erfahren lerne. Die Bereitschaft zur Angst ist das Ja zur Inständigkeit, den höchsten Anspruch zu erfüllen, von dem allein das Wesen des Menschen getroffen ist. Einzig der Mensch unter allem Seienden erfährt, angerufen von der Stimme des Seins, das Wunder aller Wunder: dass Seiendes ist.« 100
Das Nichts zu erfahren ist nun laut Heidegger nur dadurch möglich, dass die Stimme des Seins den Menschen in Anspruch nimmt. Nur wenn der Mensch von der Stimme des Seins angerufen wird, kann er »das Wunder aller Wunder, dass Seiendes ist« 101, erfahren. Das WunVgl. Heidegger, GA 9, S. 303 f. Heidegger, GA 9, S. 115. 100 Heidegger, Nachwort zu »Was ist Metaphysik?«, in: GA 9, S. 307. 101 Siehe auch Heidegger, GA 65, S. 246 f.; Marion zieht einen wertvollen Vergleich 98 99
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Sein als das Nichts
der aller Wunder führt zuerst das Erstaunen herbei und ferner dann die Philosophie selbst. Es ist für die Phänomenologie ein so entscheidendes Phänomen, dass die Evidenz der anderen Phänomene von ihm geöffnet wird. Das Wunder aller Wunder ist die Ermöglichung aller sichtbaren Phänomene, aber es selbst ist unsichtbar oder mindestens nicht durchsichtig. Für Husserl ist es das reine Bewusstsein und seine Intentionalität, für Heidegger ist es das Sein des Seienden, welches aber nicht im alltäglichen Verhalten zu bestimmten Seienden offenbart werden kann, sondern nur im Nichts-Erfahren, dadurch, dass der Mensch der Stimme des Seins zuhört. In diesem Sinne ist das Denken, das von dem Wunder aller Wunder angezogen ist, nicht mehr vor allem eine subjektive Aktivität des Produzierens, sondern vielmehr eine Antwort auf den Anspruch des Seins. 102 3.) In dem Nachwort wird die Selbigkeit von Nichts und Sein auch von Heidegger in eigentümlicher Weise thematisiert und erörtert. Heidegger behauptet: »Es mag prüfen, ob das Nichts, das die Angst in ihr Wesen stimmt, sich bei einer leeren Verneinung alles Seienden erschöpft, oder ob, was nie und nirgends ein Seiendes ist, sich entschleiert als das von allem Seienden Sichunterscheidende, das wir das Sein nennen. Das Sein jedoch ist keine seiende Beschaffenheit an Seiendem. Das Sein lässt sich nicht gleich dem Seienden gegenständlich vor- und herstellen. Dies schlechthin Andere zu allem Seienden ist das Nicht-Seiende. Aber dieses Nichts west als das Sein. Eine der Wesensstätten der Sprachlosigkeit ist die Angst im Sinne des Schreckens, in den der Abgrund des Nichts den Menschen stimmt. Das Nichts als das Andere zum Seienden ist der Schleier des Seins. Im Sein hat sich anfänglich jedes Geschick des Seienden schon vollendet.« 103
»Das Nichts entschleiert sich als Sein«, »das Nichts west als das Sein« und »das Nichts als das Andere zum Seienden ist der Schleier des Seins«. Solche klaren Behauptungen sollen mit einer anderen Behauptung in dem an das Nichts-Denken anschließenden Text Zur zwischen »Wunder aller Wunder« bei Heidegger und bei Husserl. Für Husserl: »Das Wunder aller Wunder ist reines Ich und reines Bewusstsein: und eben dieses Wunder verschwindet, sowie das Licht der Phanomenologie darauf fällt und es der Wesensanalyse unterwirft« (in Ideen 3. Hua 5, S. 75). Siehe Jean-Luc Marion, Reduction and Givenness, S. 163–166. 102 Vgl. Heidegger, Nachwort zu »Was ist Metaphysik?«, in: GA 9, S. 308 f. 103 Heidegger, Nachwort zu »Was ist Metaphysik?«, S. 305, 306, 312.
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Das Nichts nach der Kehre: Nichts als Schleier des Seins
Seinsfrage (über »die Linie«, 1955) zusammengelesen und erläutert werden: »[D]as Nichts, das als die Absenz der Präsenz Abbruch tut (»nichtet«), ohne sie jemals zu vernichten. Insofern das Nichts nichtet, bestätigt es sich vielmehr als eine ausgezeichnete Präsenz, verschleiert es sich als diese selbst«. 104
Das Nichts als Absenz bricht die Präsenz des Seienden im Ganzen ab, aber dieser Abbruch ist kein Vernichten oder Verneinen des Existierens, sondern durch ein Hinfällig-machen des Gelten des Seienden im Ganzen entgleitet dies oder wird ge-nichtet. Wie oben schon angezeigt, dass das Nichten des Geltens immer noch ein anderes Gelten ist, ist das nichtende Nichts deswegen eine ausgezeichnete Präsenz, d. h. eine Offenbarung des Seins. 105 Das Nichten des Nichts ist völlig anderes als das Vernichten. Das Erstere vernichtet eigentlich nichts, es gehört vielmehr zur Offenbarung des Seins selbst. In diesem Sinne sagt Heidegger, dass das Nichts als das Sein selbst sich verschleiert bzw. entschleiert. Das Nichts ist der Schleier des Seins und es scheint so zu sein, dass es mit dem Sein ein zweifaches Spiel unternimmt: Das Nichts entschleiert und verschleiert zugleich auch. Wie ist diese Doppelheit des Spiels zu verstehen? Wir behaupten: Das Entschleierungs-Verschleierungs-Spiel von Nichts und Sein gründet sich auf das Entbergungs-Verbergungs-Spiel der Lichtung des Seins selbst, 106 welches Heideggers zentrales Anliegen nach der Kehre ist. Nach der Kehre hat Heidegger immer deutlicher eingesehen, dass das Sein selbst in der Entbergung des Seienden zugleich sich entzieht. 107 Sein kann nie evident sein, kann nie vergegenständlicht sein, weil es kein Seiendes ist. Sein ist dennoch in der Erscheinung des Seienden auch miterschlossen. Die Phänomenalität des Seins hat eine Tiefe. Um das Sein als ein Phänomen sich zeigen zu lassen, muss diese Heidegger, Zur Seinsfrage (über »die Linie«), in: GA 9, S. 402 f. Wie das Problem »das Nichten des Nichts« als die Kernfrage von Heideggers Denken zu verstehen ist, siehe: Fuchun Peng, Das Nichten des Nichts. Zur Kernfrage des Denkwegs Martin Heideggers, Frankfurt 1998. 106 Markus Wirtz scheint, unausdrücklich, auch diese Auffassung zu vertreten. Siehe: Markus Wirtz, Geschichten des Nichts, S. 409. 107 Siehe Heidegger, Zeit und Sein, in: GA 14, S. 27: »Der Entzug gehört zum Eigentümlichen des Ereignisses. Das Schicken im Geschick des Seins wurde gekennzeichnet als ein Geben, wobei das Schickende selbst an sich hält und im Ansichhalten sich der Entbergung entzieht.« Siehe auch Kapitel 3.3.1 dieser Arbeit. 104 105
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Sein als das Nichts
Tiefe seiner Phänomenalität ans Licht gebracht werden. Die Tiefe besteht darin, dass Sein sich in seinem Sichzeigen auch zugleich entzieht. Sein ist wesentlich ein Anwesen von Abwesen, d. h. die Einheit als das Zusammenspiel von Sich-Entbergen und Sich-Verbergen. Es ist zu beachten: Sich-Verbergen und Sich-Entbergen sind auch nicht zwei Geschehnisse nacheinander, sondern nur innerhalb eines Geschehnisses. Wenn das Sein sich entbirgt (ein Seiendes zum Sichzeigen wird), dann verbirgt es sich zugleich. (Denn Sein selbst kann nie als ein Seiendes oder die Beschaffenheit an dem Seienden sichtbar werden, also muss es sich zugleich verbergen.) Sein gründet das Seiende und dann kehrt es aber zugleich zurück, verlässt es das Seiende: »dass das Sein das Seiende verlässt, besagt: das Seyn verbirgt sich in der Offenbarkeit des Seienden.« 108 Und dieses Zurückkehren bedeutet auch nicht Verschwinden oder Vernichten, sondern nur als Nichts nichten und dann dafür bereit sein, sich nochmal zu entbergen. In dem Entbergen aber verbirgt es sich auch nochmal und immer so weiter und sofort. Dieses Zusammenspiel vollzieht sich ständig, weil das Sein nie als ein Vorhandenes sein kann. Genau dieses sich-vollziehende Zusammenspiel macht die Geschichtlichkeit des Seins aus. Das Sich-Verbergen oder die Verweigerung des Entbergens bedeutet ferner auch gar nicht eine Un-mächtigkeit oder einen Mangel an Fähigkeit, also kein Negatives, sondern es bringt gerade erst das Sich-Entbergen in Gang. Wie Heidegger sagt: »Zum Ereignis als solchem gehört die Enteignis. Durch sie gibt das Ereignis sich nicht auf, sondern bewahrt sein Eigentum.« 109 Das Enteignis des Ereignisses lässt sein Ereignen nicht aufhören, sondern es bewahrt gerade dadurch sein Eigentum und lässt es weiter geschehen. Wir können damit zu Recht sagen: Das Sein entbirgt sich (Das Ereignis ereignet sich), indem es sich verbirgt (das Ereignis sich enteignet). Heidegger versteht nach der Kehre das Sein selbst, oder genauer: dieses Entbergungs-Verbergungs-Spiel des Seins als die Lichtung, welche als »das Offene für alles An- und Abwesende« 110 zu bezeichnen ist. Heidegger schreibt:
108 Heidegger, GA 65, S. 111. »Und das Seyn wird selbst wesentlich als dieses Sichentziehende Verbergen bestimmt.« 109 Heidegger, Zeit und Sein, S. 28. 110 Heidegger, Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens, in: GA 14, S. 80.
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Das Nichts nach der Kehre: Nichts als Schleier des Seins
»So wie die Offenheit der räumlichen Nähe jedes nahe und ferne Ding, von diesen her gesehen, übersteigt, so ist das Sein wesenhaft weiter als alles Seiende, weil es die Lichtung selbst ist.« 111 »Das Wesen der Wahrheit ist die Lichtung für das Sichverbergen. Dieses innig-strittige Wesen der Wahrheit zeigt, dass die Wahrheit ursprünglich und wesentlich die Wahrheit des Seyns (Ereignis) ist.« 112
Das Sein ist die Lichtung für das Sichverbergen, und dies hat nun gewißermaßen sogar einen Vorrang vor dem Sichentbergen. 113 Zum Nichts heißt es jetzt: »Der seynsgeschichtliche Begriff des Nichts – der Ab-grund als Wesen des Seyns.«; »Das seynsgeschichtliche Fragen erfährt das Nichts nicht nur nicht als Nichtiges, sondern, indem es das Seyn selbst in der Fülle seiner Wesung fragt, als Er-eignung«. 114 Das Nichts gehört zum Sein, und im seinsgeschichlichen Denken muss es auch als die eigentümliche Ereignung in dem Sinne verstanden werden, dass das Sein in der Lichtung die Anwesenheit (von Seiendem) verweigert. Sein Anwesen besteht eben darin, die Anwesenheit (von Seiendem) abzuwesen. Diese Verweigerung des Entbergens selbst, nämlich Sich-Verbergen, gehört offensichtlich konstitutiv zur Entbergung von Seiendem und der Ereignung des Anwesens an den Menschen. Sofern das Nichts als die Ereignung des Seins und dementsprechend das Anwesen von Sein als die Verweigerung des Anwesens (von Seiendem), d. h. als die Ereignung des Nichts zu verstehen ist, entschleiert das Nichts sich als Sein. Eben weil das Sich-Entbergen zugleich auch ein Sich-Verbergen impliziert, ist diese Entschleierung des Nichts zugleich auch eine Verschleierung. Und das »freie Offene«, das zwei Seiten oder zwei Momente der Lichtung – Verbergung und Entbergung – in sich enthält, macht dieses Spiel möglich. 115
Heidegger, GA 9, S. 337. Heidegger, GA 65, S. 348. 113 Siehe auch Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, S. 193: »Verborgenheit ist damit ursprünglicher als Entborgenheit, sie ist die ›eigentliche Un-wahrheit‹, weil sie das Eigenste bewahrt.« 114 Heidegger, GA 66, S. 312 f. 115 Siehe auch Ernst Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, Berlin 1970, S. 275: »Das Offene wird dann durch das Zusammenspiel von Welt und Erde bestimmt, wobei diese beiden Seiten nun zugleich – als Entbergung und Verbergung – die zwei Momente des als Un-Verborgenheit verstandenen Wesen der Lichtung selbst repräsentieren.« 111 112
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Sein als das Nichts
Dies ist die Beschreibung des Entschleierungs-VerschleierungsSpiels von Nichts und Sein. Und Nichts als der Schleier des Seins bedeutet nicht, dass Nichts »nur« ein Schleier außerhalb oder an der Oberfläche des Seins ist. Dieser Schleier ist nicht außerhalb des Seins, nicht eine nachträgliche Hinzufügung zum Sein, sondern er gehört in der Tat zum Sein selbst, er ist dem Sein inhärent. Der Schleier des Nichts ist das wesentliche Moment des Seins an sich. In diesem Sinne können wir schreiben: Sein/Nichts, damit ist gesagt: Sein ist einerseits Sein, andererseits auch Nichts. 116 Aber dies darf nicht als zwei Seiten von einem Ding verstanden werden, weil sie beide sich von allem Seienden absolut unterscheiden. Letztendlich ist die Selbigkeit von Nichts und Sein am klarsten und einfachsten im Seminar in Le Thor (1969) wie folgt formuliert: »Das Nichts ist nicht bloße Negation des Seienden. Im Gegenteil, das Nichts verweist uns in seinem Nichten an das Seiende in seiner Offenbarkeit. Das Nichten des Nichts ›ist‹ das Sein … Sein: Nichts: Selbes.« 117
4.3.2. Schleier des Seins und Sein als »das Uneinholbare« Wir haben behauptet und gezeigt, dass der Schleier das wesentliche Moment des Seins selbst ist. Das Nichten des Nichts gehört wesentlich zum Sein und als sein Schleier entschleiert sich zwar das Nichts, aber es ist nie vollständig wegzunehmen. Innerhalb der Entschleierung des Nichts geschieht zugleich auch seine Verschleierung. Hierbei stellen sich dann die zwei folgenden Fragen: 1.) Warum gibt es diesen Schleier des Seins überhaupt, warum kann das Gesicht des Seins nicht vollständig sichtbar werden? 2.) Wie kann man diese eigentümliche Charakteristik des Seins beschreiben und zur Sprache bringen? Die Antwort auf die erste Frage ist: Weil das Sein nur »Nähe« selbst ist und gar nicht die Absolutheit. Heidegger zufolge bezeichnen die Lichtung des Seins und die Nähe denselben Sachverhalt. Er sagt: 116 In diesem Sinne ist eventuell Lütkehaus’ Kritik an Heideggers Nichts-Denken haltbar, dass das Nichts in Heideggers Denken am Ende dem Sein einverleibt werde, und daher der Nihilismus zu jener anderen Geschichte, die mit der Seinsgeschichte bricht, sich nicht entfalten könne. Siehe Ludger Lütkehaus, Nichts: Abschied vom Sein, Ende der Angst, Zürich 2010, S. 427 f. 117 Heidegger, GA 15, S. 361, 363.
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Das Nichts nach der Kehre: Nichts als Schleier des Seins
»Dieses Geschick [das Sein selbst als das Werfende im Entwerfen die den Menschen in die Ek-sistenz als sein Wesen schickt] ereignet sich als die Lichtung des Seins, als welche es ist. Sie gewährt die Nähe zum Sein. In dieser Nähe, in der Lichtung des ›Da‹, wohnt der Mensch als der Ek-sistierende.« 118
Der Mensch wohnt in der Nähe zum Sein, in der Lichtung des »Da«, welche die »Nähe des Seins« gewährt. Er ist nicht der Herr des Seienden, sondern nur »der Nachbar des Seins«. 119 Diese Nachbarschaft bedeutet zweierlei: Erstens versteht der Mensch das Sein, mit einem anderen Wort: Indem der Mensch in der Lichtung des Da wohnt, gehört der Mensch dem Sein zu. Zweitens kann der Mensch aber das Sein nicht völlig einholen, weil die Lichtung selbst nur eine Nähe des Seins ist. Dies hat Friedrich von Herrmann sehr schön interpretiert: »Die Lichtung des Seins (das Da des Daseins) ist kein absolutes Sein, sondern die ›Nähe des Seins‹. ›Nähe‹ besagt hier also: entbergende Ankunft und verbergenden Entzug zumal. Die Nähe ist nicht neben dem Sein, sondern das Sein lichtet sich als die Nähe […] Wenn der Mensch, stehend in der Lichtung des Seins, sich zu ihr verhält, indem er sie geschehen lässt, dann verhält er sich immer nur zur ›Nähe des Seins‹, weil das Sein in der lichtenden Ankunft seiner niemals den Schleier der Verborgenheit abreißen lässt.« 120
Das Sein von Heidegger ist niemals ein absolutes Sein. Denn Absolutheit ist die vollständige Versammlung bei sich selbst, totale Wahrheit und Gelichtetheit, die alles Dunkel und alle Verborgenheit hinter sich gelassen hat. Das Sein ist hingegen die »Nähe« selbst in Bezug auf das Dasein, das sich zum Sein als solchem verhält. Das Sein ist nicht das Licht, die bloße Helle, sondern vielmehr das Spiel von Licht und Dunkel, und zwar die Lichtung, die für sich verbirgt, die als das freie Offene für alles An- und Abwesende bzw. für alles Spiel von Entbergung und Verbergung zu bezeichnen ist. Es gibt immer eine Annäherung an das Sein, weil es das Seiende anwesen lässt und den Menschen in seinem Wesen in den Anspruch nimmt, aber es bleibt auch immer eine »Fremdheit«, weil das Sein
Heidegger, Brief über den »Humanismus«, S. 337. Über das Verhältnis von Lichtung zu »Nähe« bei Heidegger siehe auch: Emil Kettering, Nähe: Das Denken Martin Heideggers, Pfullingen 1987, S. 312–316. 119 Vgl. Heidegger, Brief über den »Humanismus«, S. 342. 120 Friedrich von Herrmann, Die Selbstinterpretation Martin Heideggers, S. 38. 118
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Sein als das Nichts
sich entzieht, d. h. es notwendigerweise einen Schleier des Nichts hat, der niemals vollständig wegzunehmen oder abzureißen ist. 121 Wir wenden uns nun unserer zweiten Frage zu: Wie kann man diese eigentümliche Charakteristik der lichtenden Annährung und zugleich unüberwindbaren Fremdheit des Seins mit Sprache beschreiben? Ich würde vorschlagen, diese Inhärenz des Seins als die »Uneinholbarkeit« 122 zu charakterisieren. Das soll noch näher erläutert werden. Vor der Kehre handelt es sich beim Nichts noch um die Offenbarung des Seienden im Ganzen und die Transzendenz des Daseins, also ein offenbartes einheitliches Weltganzes, in dem das Dasein sich zum Selbst und zum Seienden verhalten kann. Im Ereignisdenken hingegen wird die Offenbarkeit des Seienden als das Geschenk oder Geschick einer unnennbaren Instanz gedacht, die sich als das Gebende des Seienden von allem Seienden absolut unterscheidet. Diese absolute Andersheit gegenüber dem Seienden, die sich im Nichts oder der Verweigerung des Entbergens verkörpert, rückt Markus Wirtz zufolge »zwangsläufig in die Nähe einer negativistischen Theologie, welche die Anwesenheit des Heiligen gerade als Verweigerung und Entzug der Parusie begreift.« 123 In diesem Zusammenhang müssen wir aber auch die folgenden zwei wesentlichen Unterschiede zwischen Heideggers Ereignis-Denken und einer negativistischen Theologie vor Augen behalten, nämlich: 1.) Das Sein beim späten Heidegger bedeutet nur das Geschehen des Anwesens von Seiendem, das für und nicht durch das geschichtliche menschliche Dasein an-west. Sein ist zwar absolut anders als Seiendes, Sein ist deswegen nicht weltlich, nicht ein Weltding, aber es ist nie total außerhalb dieser Welt, also ganz weg von dem Seienden überhaupt. Es wäre auch durchaus ein Missverständnis, dass das 121 In diesem Sinne ist der Vergleich von Charles Sherover zwischen Heideggers Sein/Nichts und Kants transzendentalem Objekt sehr spannend. Siehe: Charles Sherover, »Kant’s Transcendental Object and Heidegger’s Nichts«, in: The Journal of the History of Philosophy, 7, 1969, S. 413–423. 122 Ich übernehme diesen Begriff von Walter Schweidler. Zwar hat Schweidler nicht einen ausdrücklichen Bezug des »Uneinholbaren« zu Heideggers Sein hergestellt, aber man könnte sehr viel Aufschlussreiches in seinem Buch für diese Problematik finden. Siehe: Walter Schweilder, Das Uneinholbare: Beiträge zu einer indirekten Metaphysik, Freiburg 2008. 123 Markus Wirtz, Geschichten des Nichts, S. 413.
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Das Nichts nach der Kehre: Nichts als Schleier des Seins
Sein ein höchstes Seiendes ist, wie Gott in einer anderen Welt, der deswegen nicht in unserer Welt als Seiendes wahrzunehmen wäre. 2.) Wenn man die absolute Andersheit des Seins beim späten Heidegger in Bezug auf die negativistische Theologie richtig verstehen will, dann ist eine Bemerkung von G. Figal eventuell hilfreich: Wir brauchen sozusagen ein umgekehrtes Verständnis der Bedeutung von »negativistisch«: Nicht dass eine Sache in ihrem bloß negativen Bestimmungen umrissen werden würde, sondern dass es um die Rede von negativen Erfahrungen gehe, deren Benennung in negativen Begriffen wiederum Positives zu verstehen gebe. 124 Das Sein als das Uneinholbare ist also so zu verstehen: Erstens ist es unmöglich, das Sein als ein Seiendes sichtbar zu machen, weil es kein Seiendes ist. Zweitens muss es aber auch das Sein, und zwar als das Sein des Seienden geben, damit wir überhaupt so etwas wie Seiendes erfahren und verstehen können. Sein zeigt sich in der Enthüllung des Seienden als solchem, obzwar es sich zugleich entzieht. Dies besagt: Ganz im Unterschied zu einer negativistischen Theologie ist das uneinholbare Sein zuerst kein absolutes höchstes Seiendes, und ferner ist es zwar uneinholbar, aber es begleitet immer das Dasein, und es ist deswegen kein Ziel oder das Transzendente schlechthin im Jenseits. Drittens: Wenn das Sein sich entzieht, also einen Schleier des Nichts hat, bedeutet dieses Nichts aber keine Negation des Seins, noch weniger Vernichtung des Seins, sondern das Nichten des Nichts gehört zum Sein. Nicht-sein ist nur eine Art des Seins bzw. das NichtGelten des Seienden im Ganzen ist auch nur eine andere Art des Geltens. Jede Benennung in negativen Begriffen von negativen Erfahrungen oder Urteilen (das Sein als das Uneinholbare ist nicht so und so) gibt wiederum Positives zu verstehen. Sie verhelfen uns dazu, mehr von dem Sein zu verstehen, dass das uneinholbare Sein nicht so und so »ist«. Für das Sein ist jede Negation eigentlich eine Bejahung, oder noch genauer: Jede Negation des Seins setzt seine Bejahung schon voraus. Viertens: Die Unmöglichkeit des Seins ist keine logische, sondern nur eine geschichtliche, weil »das Sein selbst im Wesen endlich ist« 125. Walter Schweidler hat dies wie folgt erläutert: 124 G. Figal, »Gottesvergessenheit«, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 2000, S. 176–189, hier S. 178. 125 Heidegger, GA 9, S. 120.
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Sein als das Nichts
»[D]ie Unmöglichkeit, zu der wir uns verhalten, wenn wir als Menschen das Wort ›sein‹ gebrauchen, ist keine logische, sondern sie ist geschichtliche Unmöglichkeit. Das heißt, diese Unmöglichkeit gibt es nicht ohne den Menschen, nicht vor dem Menschen und auch für kein anderes Wesen als den Menschen; und sie ist das Prinzip der Koinzidenz des spezifisch Menschlichen mit dem spezifisch Geschichtlichen. Die Unmöglichkeit, zu der wir uns als Menschen notwendig verhalten, besteht für eine bestimmte Zeitspanne.« 126
In der Seinsgeschichte gibt es verschiedene Menschentümer, die einander ablösen und deren Sein für jeden anderen uneinholbar bleibt. Wir wissen nicht, warum sie einander so ablösen, ebensowenig, welches Menschentum entstehen wird. All solches ereignet sich geschichtlich.
126 Walter Schweidler, »Das Menschenunmögliche. Zur Abgrenzung von Phänomenologie und Metaphysik im Ausgang von Heidegger«, in: L’impossibile. Archivo di Filosofia / Archives of Philosophy, hrsg. von Stefano Semplici, Bd. 78, Heft 1, 2001, S. 315–326, hier S. 324 ff.
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Zweiter Teil: Zu Heideggers »Sinn von Sein«
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5. »Sinn von Sein« und das Da-sein
5.1. »Sinn« im philosophischen Sinne: Lask, Frege und Heidegger Nach der Gewinnung eines Gesamtbildes des Seins bei Heidegger im ersten Teil der Arbeit, können wir uns nun im zweiten Teil dem Thema »Sinn von Sein« widmen. Die folgenden Ausführungen sind durchgängig geleitet von der Absicht, die grundsätzliche These von Heideggers Seinsfrage, dass die Zeit als der Horizont eines jeden Seinsverständnisses überhaupt der Sinn von Sein ist, sowohl durch ein Mitgehen als auch durch eine neue Entdeckung und Kritik nachzuvollziehen. Möchten wir Heideggers These vom »Sinn von Sein« einer Analyse unterziehen, müssen wir uns zuerst darüber klarwerden, was »Sinn« in der Sprache der Philosophie bedeutet. Es lohnt sich, bevor wir zum Sinn-Denken Heideggers kommen, eine Bedeutungsklärung des Ausdrucks des »Sinnes« in der Sprache und Philosophie zu geben, um die Bedeutung des Wortes klarer werden zu lassen. Johannes Erich Heyde hat in seinem Aufsatz Vom Sinn des Wortes Sinn eine umfassende Untersuchung über die Bedeutung des Wortes »Sinn« durchgeführt. Es liegt zuerst nahe, dass die germanische Wurzel »SINÞA« dem Wort »Sinn« zugrunde liegt. Jene Wurzel entspricht dann dem althochdeutschen »Sinnan« (= reisen, gehen, streben) und ferner dem neuhochdeutschen »Sinnen«. Daraus erklärt sich dann die Bedeutung des Verbs »sinnen«: Geistig oder gedanklich einer Sache nachgehen, auf sie ausgehen, ihr zustreben. Dies ist sozusagen die sprachliche Geschichte des substantivischen Wortes »Sinn«. Laut Heyde ergeben sich dann aus dieser Grundbedeutung »einer Sache nachgehen« im Laufe der sprachlichen Entwicklung je nach dem ver-
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»Sinn von Sein« und das Da-sein
schiedenen Ziel des »Nachgehens« zwei letztlich weit voneinander abweichende Sonderbedeutungen: 1 1.) In der Form der geistigen Zuwendung des Subjekts zur Umwelt. Die Umwelt kann wiederum in zwei Dimensionen interpretiert werden, als die dingliche Außenwelt und die menschliche Mitwelt. Wenn es um die subjektive Zuwendung zur dinglichen Außenwelt geht, dann bedeutet der Sinn die bestimmte physiologisch bedingte Fähigkeit des Subjekts, z. B. der Gesichts-Sinn, der Gehör-Sinn, der Geschmacks-Sinn, der Temperatur-Sinn usw. Wenn es um die subjektive Zuwendung zur menschlichen Mitwelt geht, dann bedeutet der Sinn einmal – in ethischer Sicht – soviel wie »Gesinnung«, »Sinnesart«; und zum anderen – in epistemologischer Sicht – soviel wie »Verständnis« oder »Neigung« für menschliches Tun und Leisten. 2.) In der Form der menschlichen Willenshandlung selbst. Eine menschliche Tat-handlung bezieht sich immer auf ein Objekt. Sinn, genauer der Sinn einer Handlung, bedeutet dann das Erstrebte, das Gewollte. Von Wirklichkeit ist die Sonderbedeutung in der Verwendung, wie »der Sinn eines Wortes« auch dieser menschlichen Willenshandlung zuzuordnen ist. Der Wort-Sinn lässt sich derart auch von »einer Sache nachgehen« ableiten, dass jedes Wort bzw. jeder Satz aus einem sprachlichen Geschehen entsteht: In der SprechHandlung will der Sprecher durch das Wort dem Hörer einen »Sinn« mitteilen. In diesem Sinn ist der Wort-Sinn auch ein Gewolltes einer menschlichen Willenshandlung. Diese zwei, durch sprachgeschichtliche Analysen beleuchteten besonderen Bedeutungen des »Sinnes« müssen dann unter dem philosophischen Gesichtspunkt nachdrücklich betont werden. Die beachtliche Verschiedenheit der Bedeutungen des »Sinnes« lässt sich folgendermaßen hervorheben: In der ersten Form handelt es sich in jedem Fall um den »Sinn für (zu) etwas«; in der zweiten Form hingegen um den »Sinn von etwas«. Das Erstere richtet sich gleichzeitig auf die Fähigkeit des Subjekts und das Letztere hingegen vielmehr auf das Objekt der Handlung. Heyde betont hier: Der Sinn ist ein Beziehungsbegriff, aber wenn es um eine Tat-Handlung geht, sei im Falle von Sinn nicht bloß zweierlei, sondern dreierlei gegeben, nämlich: 1.) Dasjenige Besondere, das Sinn hat (z. B. Lohnstreik), also ein Vgl. Johannes Erich Heyde, Vom Sinn des Wortes Sinn, Prolegomena zu einer Philosophie des Sinnes, in Sinn und Sein. Ein Philosophisches Symposion, hrsg. Richard Wisser, Tübingen 1960, S. 69–94, hier S. 70–75.
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»Sinn« im philosophischen Sinne: Lask, Frege und Heidegger
Sinn-habendes, »das Sinnvolle«; 2.) dasjenige Besondere, das Sinn ist (z. B. die wirtschaftliche Beeinflussung eines Unternehmens), also ein Sinn-seiendes, »das Sinnhafte«; 3.) und schließlich der Sinn selbst, die »Sinnhaftigkeit« selbst. Die »Sinnhaftigkeit« bedeutet die Bestimmung einer »Veränderung«. 2 Der Sinn ist ein Beziehungsbegriff und seine Grundlage bildet beiderseits ein Wollen. Nur ein Subjekt kann wollen, das Gewollte ist dabei stets eine Veränderung. Wenn es um die Sprech-Handlung geht, ist im Falle von Sinn laut Heyde jedoch nur zweierlei gegeben: 1.) ein Wort; 2.) eine Sache (ein Gegenstand), und zwar eine Sache als Sinn. 3 Wie oben schon aufgezeigt, ist der Sinn im Hinblick auf den Beziehungsbegriff als ein Gewolltes zu verstehen. Aber wie kann man den Sinn einer Handlung und den Zweck einer Handlung auseinanderhalten? Sind sie nicht eigentlich gleichzusetzen? Sicher nicht. Wenn wir beispielsweise sagen, dass jede Forschung ihren Sinn hat, können wir trotzdem noch »zweckfreie Forschung« machen. Heyde unternimmt den Versuch, eine haltbare philosophische Antwort auf diese Frage zu geben. »Sinn der Forschung« ist »die Wahrheit, d. h. die Erarbeitung von Erkenntnis in Form reiner Theorie«, »Zweck der Forschung« ist »die Verwertung im Rahmen technischer Praxis, d. h. die Anwendung der gewonnenen Einsicht«. Was macht diesen Unterschied aus? Der Zweck einer Handlung muss im Rahmen von Mittel-Zweck, also durch Hereinnahme einer mittel-zwecklichen Veränderung in eine Wirkens-Einheit verstanden werden. Der Zweck ist mittelbar und impliziert ein zeitliches Verhältnis, nämlich dass die kommende end-zweckliche Veränderung im Nacheinander erfolgt. Der Sinn einer Handlung ist unmittelbar zu verwirklichen. »Es wäre falsch anzunehmen, dass der Sinn der Forschung – Ermittlung neuer Einsichten – erst durch vorangegangene Forschung einsetze« 4. Insofern lässt sich geltend machen, dass der Sinn einer Handlung stets mit ihr in Zugehörigkeits-Beziehung steht und mit ihr deswegen gleichzeitig ist. Diese allgemeine, sprachlich-analytische Untersuchung hilft uns, den Ursprung der mannigfachen Bedeutung des Sinnes eingehend in den Vgl. ebd., S. 77. Dies lässt sich nicht mit Freges Denken von »Sinn und Bedeutung« vereinbaren. Es wird später mit Frege noch verglichen werden. 4 Ebd., S. 90. 2 3
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»Sinn von Sein« und das Da-sein
Griff zu bekommen, aber für das Verständnis der Genese von Heideggers Sinn-Begriff ist sie noch nicht genug. Denn Heidegger verwendet das Wort »Sinn« in einem ganz spezifischen philosophischen Sinne, welcher sich zu dem Wort-Sinn, dem Tathandlungs-Sinn, dem Zweck und dem Umwelt-Sinn als subjektiver Fähigkeit deutlich unterscheidet. Wir können nun andeuten, dass es bei Heidegger zwei ganz verschiedene Sinn-Begriffe gibt. Zuerst in den Frühren Schriften versteht Heidegger den »Sinn« als »Gegenstand der reinen Logik«, dessen Wirklichkeitsform das Gelten ist; in Sein und Zeit dann versteht er den »Sinn« als »das durch Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff strukturierte Woraufhin des Entwurfs, aus dem her etwas als etwas verständlich wird«. Der erste Sinn-Begriff ist grundsätzlich von Lask geprägt, der zweite Sinn-Begriff ist von Frege beeinflusst. Daher muss zunächst der Sinn-Begriff bei Lask und Frege erörtert werden. Lask ist derjenige Philosoph, der unter sehr verschiedenen Gesichtspunkten Heidegers Philosophie, insbesondere in der Frühzeit, geprägt hat. 5 Heidegger macht Lask in der Vorlesung 1919 ein großes Kompliment: »Emil Lask, dessen Untersuchungen ich persönlich sehr viel verdanke […] Er war eine der stärksten philosophischen Persönlichkeiten der Gegenwart, ein schwerwiegender Mann, der nach meiner Überzeugung auf dem Weg zur Phänomenologie war, dessen Schriften überreich sind an Anregungen – allerdings keine Lektüre, die man nur so liest.« 6
Ein solches Kompliment hat nichts mit der persönlichen Beziehung zu tun, es geht vielmehr um die Sache des Denkens selbst. Lasks Philosophie hat den frühen Heidegger so entscheidend bestimmt, dass Heidegger seinen ersten Sinn-Begriff quasi völlig von Lask übernommen hat. Lask entwickelt seine eigene Theorie des Urverhältnisses von Form und Material. Er führt zuerst den Unterschied von Seiendem und Gelten von Lotze in der Logik ein und dann charakterisiert
Zum entscheidenden Einfluss von Lask auf Heidegger siehe: Theodore Kisiel, »Why Students of Heidegger Will have to Read Emil Lask«, in: Man and Worm 28: 1995, S. 197–240; Steven Crowell, »Lask, Heidegger, and the Homelessness of Logic«, in: Husserl, Heidegger, and the Space of Meaning, Evanston, Illinois 2001; Nian He, »Heidegger and Lask: On the Genesis of Heidegger’s Ontological Difference and Lichtung«, in: The Phenomenological and Philosophical Research in China, Band 19, 12. 2016, S. 95–131. 6 Heidegger, GA 56/57, S. 180. 5
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»Sinn« im philosophischen Sinne: Lask, Frege und Heidegger
er das Gebiet der reinen Logik als das Geltungsgebiet, welches ganz von dem Seinsgebiet zu unterscheiden ist: »Was gilt, ohne sein zu müssen« 7. Das Geltungsgebiet ist weder ein sinnliches Gebiet noch ein übersinnliches oder metaphysisches Gebiet wie bei Platon, sondern ein notwendiges Wertgebiet, in dem es sich um »Sollen« dreht. Dieses Gebiet ist tatsächlich, aber nicht im Sinne von Seiend oder Existieren, sondern im Sinne der objektiven Gültigkeit der reinen Logik zu verstehen. Es liegt weder im Subjekt, noch im Ding, es ist vielmehr ein Drittes. Eine solche theoretische Position wendet sich in erster Linie gegen den damaligen Psychologismus, der die Haltung vertritt, dass die transzendentale Logik bei Kant durch die psychologischen Vorgänge erklärbar ist und dementsprechend die Kategorienlehre nur als einen Repräsentationalismus zu verstehen ist. Lask unternimmt den Versuch, die reine Logik wieder in eine Welt der transzendentalen Realität zurückzubringen. Zweitens führt Lask eine Intentionalitätstheorie ein, um das Urverhältnis zwischen dem Geltungsgebiet und dem Seinsgebiet herzustellen: »Geltungsgehalt ist bloße leere, der Erfüllung mit ›Material‹ oder ›Inhalt‹ harrende Form. Alles Geltende ist eine inhaltliche Erfüllung erwartendes Hingeltendes, ein etwas anderes Betreffendes und bedarf eines Materials als des Betroffenen. Wie man den Hingeltungscharakter des Geltens bildlich als ›Form‹ bezeichnen darf, so die Situation dessen, worauf das Gelten hingilt, wessen es zu seiner Erfüllung bedarf, als ›Inhalt‹ oder ›Material‹ […] Identität ist unverständlich ohne ein Etwas, einen Inhalt, der da identisch, von der geltenden Form Identität umkleidet ist, Identität weist über sich hinaus auf ein identisches Etwas.« 8
Die logische Form als Geltungsgehalt ist immer eine Hingeltung, sie gilt auf einen sinnlichen Inhalt hin, sie bedarf der Erfüllung mit Material. Die Form kann nicht bloß an sich sein, sondern sie betrifft immer ein Material als ein Anderes. Erst insofern kann die Form identisch sein. Identisch-sein bedeutet für Lask immer: mit etwas anderem identisch sein. Mit phänomenologischen Worten: Die logische Form ist immer eine Form vom etwas Wirklichem, sie richtet sich auf 7 Emil Lask, Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre, GS II, S. 14, 99. Vgl. Hermann Lotze, Logik. Drei Bücher. Vom Denken, vom Untersuchen und vom Erkennen. Leipzig 1928. S. 511; Heidegger, GA 1, S. 170. 8 Emil Lask, Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre, S. 33.
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»Sinn von Sein« und das Da-sein
ein Material. Form und Material sind notwendigerweise zusammengefügt. Wie ist dies genauer zu verstehen? Einerseits muss die Form über sich hinaus auf das Material gehen, ansonsten wäre sie bloß leer und könnte sich nicht halten. In diesem Sinne darf man sagen, dass die Form von dem Material bestimmt wird. Es ist zu beachten, dass die Intentionalität, das Sich-aufetwas-anderes-richten von der logischen Form betrieben ist. Dieser intentionale Akt ist also gar nicht menschliches Verhalten, ebensowenig der Bewußtseinsakt, sondern er ist eine logische Bewegung, und zwar auf das Material hin. Die Form verdankt sich nicht dem Erkenntnis- oder Vorstellungsakt des Subjekts, sondern sie gilt als die reine objektive Logik. Daher wird das Material »nicht etwa vom Erkennen geformt und hineingestellt, sondern an sich ist es betroffen von logischer Form, so wahr logischer Gehalt an sich Hingeltungsgehalt ist« 9. Andererseits hat die Zusammenfügung mit der Form dem Material nichts Neues gebracht, sie hat das Material nicht verändert, sondern es ist durch die Form nur »umkleidet« und »gelichtet«. Insofern ist die Form gegenüber dem Material das »Klarheitsmoment« und »Besiegelungsmoment«. Aufgrund dessen führt Lask an, dass die Form dem Material gegenüber als ein »Bewandtnis mit« 10 zu bezeichnen ist. Steven Crowell hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass Heideggers Begriff »Bewandtnis« in Sein und Zeit von Lask übernommen ist. Die Umwandlung der Bedeutung sieht wie folgt aus: das Zuhandene (als Material) ist durch das Besorgen des Daseins (als die logische Form) gelichtet 11. In diesem Falle meint Heidegger: Es hat seine Bewandtnis mit diesem Zuhandenen bei einem Verhalten (Wozu). Bewandtnis muss dann sowohl als eine »Klarheit über« (womit) als auch eine »Besieglung mit logischer Etikettierung« (wobei) verstanden werden. Denn die Bewandtnis hat mit seiner Struktur »Womit«, »Wobei« und »Wozu« schon zugleich das Material und die Form betroffen. 12
Ebd., S. 69. Ebd., S. 75. 11 Vgl. Steven Crowell, Husserl, Heidegger, and the Space of Meaning, Paths toward Transcendental Phenomenology, Evanston, Illinois 2001, S. 275. 12 Tugendhat geht davon aus, dass das Wort »Bewandtnis« genau aufgrund dieser beiden Bedeutungen unübersetzbar in andere Sprachen ist. Siehe Ernst Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, S. 290. 9
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»Sinn« im philosophischen Sinne: Lask, Frege und Heidegger
Was ist dann der »Sinn« für Lask? Die Antwort ist schon offensichtlich. Lask sagt: »Das Ineinander, die Verklammerung von Form und Material, das Ganze, in dem die für sich leere und ergänzungsbedürftige Form mitsamt ihrer inhaltlichen Erfüllung auftritt, soll als Sinn bezeichnet werden. Sinn ist hier in einem absoluten Sinne und nicht im Sinne von ›Sinn von‹ gebraucht. Bei diesem Sprachgebrauch wird wahrer oder theoretischer Sinn im absoluten Sinne erst zum Sinn des Urteils oder Satzes.« 13
Der Sinn ist dann das Ganze der Zusammenfügung von Form und Material. In diesem Ganzen ist die Form nicht mehr nur ein Geltungsgehalt, sondern ist inhaltlich durch das Material erfüllt. Der Sinn ist nicht eine leere logische Form, sondern eine erfüllte Form, eine inhaltliche und wahre Form. Dieser Sinn ist nicht mehr ein Sinn von einem Gegenstand, sondern er selbst ist der Gegenstand der reinen Logik. Es ist ganz wichtig zu beachten, dass der Sinn, nämlich der Gegenstand der Logik, nicht ein Gegenüber-dem-Subjekt-stehendes, noch weniger ein Von-dem-Subjekt-konstituiertes, sondern ein ganz Transzendentales ist. Für Lask bedeutet dies: durchaus vor der Berührung des Subjekts. Jeder Sinn, jeder Gegenstand ist daher wahr. Das Reich des Sinnes als »das dritte Reich« des logischen Gegenstands ist dann zugleich das Reich der Wahrheit. »Soviel Etwas, soviel Wahrheit darüber. Die Wahrheit an sich ist der in Form und Material gegliederte Sinn«. 14 Der Sinn an sich ist die ursprüngliche Wahrheit, und er kann nicht falsch sein. Vielmehr ist er evident, sodass er für jedes Erkennen des Subjekts das Maß sein muss. Der wahre Sinn in dem dritten Reich ist also die Voraussetzung für alle konkreten Wahrheiten in den verschiedenen Wirklichkeitsbereichen, z. B. die Wahrheit über den physischen und psychischen Gegenstand usw. Heideggers erster Sinn-Begriff in der Frühen Schriften ist völlig von Lasks Denken bestimmt. Heidegger erläutert ihn in seiner Dissertation Die Lehre vom Urteil im Psychologismus: »Jedem Urteilen ist also ein Sinn immanent mitgegeben. Die Wirklichkeitsform des Sinnes ist das Gelten; die Wirklichkeitsform des Urteilsvorgangs, an dem, in dem – oder wie man sich ausdrücken will – der Sinn vorfindbar ist, ist das zeitlich bestimmbare Existieren. Das Gelten erkannten wir als die Wirklichkeitsform des Logischen; der Sinn ist es, der gilt. Also ›verkörpert‹ er das Logische; und als das dem Urteilsvor13 14
Emil Lask, Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre, S. 34. Ebd., S. 126.
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»Sinn von Sein« und das Da-sein
gang Immanente kann er, der Inhalt, die logische Seite des Urteilens genannt werden. Das Urteil der Logik ist Sinn.« 15
Laut Heidegger ist der Sinn in jedem Urteil mitgegeben, aber inwiefern und in welcher Weise? Was ist »der Sinn« z. B. im Urteil »der Einband ist gelb«? Er ist Heidegger zufolge das im Urteil Mitgeteilte, nämlich »das Gelbsein« des Einbands. Wie ist ferner dieses »Gelbsein« zu verstehen? »Die Wirklichkeitsform des im Urteilsvorgang aufgedeckten identischen Faktors kann nur das Gelten sein. Das Gelbsein des Einbandes gilt allenfalls, existiert aber nie.« 16 Es leuchtet unmittelbar ein, dass das »Gelbsein« ein logisch Geltendes ist aber nicht mehr Wirkliches. Der Sinn als »Gelbsein« gilt, aber existiert nicht. Ein Urteil kann auch als ein psychischer Vorgang betrachtet werden, z. B. das Sehen des Einbands und danach die Bearbeitung der Information des Gesehenen im Gehirn; und jedes Urteil betrifft bestimmt auch ein physisches Ding, z. B. ein gelber Einband als ein sinnlicher Gegenstand. Jedes Urteil ist weiterhin auch sprachlich bedingt, es muss dem sprachlichen Prinzip folgen, z. B. der Grammatik und der Syntax. Im Gegensatz dazu versteht Heidegger den Sinn als »die logische Seite des Urteilens«. Was macht dann genau den Unterschied zwischen dem logischen Sinn und dem psychischen, physischen und sprachlichen aus? Der Schlüssel besteht darin: Denken. Das Urteilen wird vom Denken durchgeführt, und es ist nicht ein bloß subjektiver Vorstellungsprozess im psychischen Sinne, weil Denken durch Logik und Begriffe, welche transzendental und objektiv sind, nach dem statischen Moment im Urteilen sucht. Der psychische Vorgang ist zeitlich, der logische Sinn ist hingegen unzeitlich. Mit solchen Begründungen gelangt Heidegger zu der Überzeugung: »Die Logik hat einen völlig eigenen und eigenartigen Gegenstand, der aus der Sphäre der psychischen Vorgänge, der Vorstellungsverläufe usf. ganz und gar herausfällt.« 17 Das heißt: Der Sinn als der Gegenstand des Urteils ist nicht mit dem Vorgang des Urteilens zu verwechseln. 18 Dadurch kann Heidegger davon ausgehen, dass der logische Sinn nicht durch die Heidegger, GA 1, S. 172. Ebd., S. 170. 17 Ebd., S. 110. 18 Vgl. Dorothea Frede, The question of Being: Heidegger’s Project, The Cambridge Companion to Heidegger, Cambridge 2006. S. 42–69, hier S. 46. 15 16
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»Sinn« im philosophischen Sinne: Lask, Frege und Heidegger
psychologische Analyse erklärbar ist, mithin die Philosophie auch nicht auf den Psychologismus reduziert werden darf. Das »Gelbsein« als der Inhalt des Urteils ist auch weder ein wirkliches, physisches Ding, weil es nicht mehr ein Material, sondern eine erfüllte, geltende Form ist, und es gilt daher auch nur, aber existiert nicht; noch ist es nur ein Wort, weil es vielmehr der wahre Gegenstand der reinen Logik selbst ist. Daraus wird ersichtlich: Bei Heideggers erstem Sinn-Begriff, dem logischen Sinn des Urteils, handelt es sich grundsätzlich um die philosophische Kritik an dem damals populären Psychologismus. Er übernimmt dieses Denken von Lask und setzt es als eine wichtige Waffe ein, um die von Husserl und ihm vertretene phänomenologische Strömung zu verteidigen. Bislang hat die Seinsfrage in seinem Denken noch keine tragende Rolle gespielt. Während Heidegger später ein zunehmendes Interesse am Seinsproblem hatte und versuchte, in die Ontologie mit der phänomenologischen Methode neu und tiefer einzudringen, wurde er sich immer klarer darüber, dass es zwischen ihm und Husserl einen wesentlichen Unterschied in dem Verständnis dessen gibt, was die Phänomenologie überhaupt sei. Heidegger übt in der Marburger Vorlesung von 1925 Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs eine wesentliche Kritik daran, dass Husserls Phänomenologie die Seinsfrage versäumt hat: »Zwei fundamentale Versäumnisse hinsichtlich der Seins-frage können festgestellt werden: Einmal ist die Frage nach dem Sein dieses spezifisch Seienden [des Intentionalen], der Akte, versäumt; zum anderen haben wir das Versäumnis der Frage nach dem Sinn von Sein selbst.« 19
Heidegger denkt die Phänomenologie ontologisch. Für ihn besteht die Phänomenalität des Phänomens gerade im Sein des Seienden. Der Grundunterschied zwischen dem Bewusstsein und den Dingen in Husserls Phänomenologie muss auch in der Hinsicht auf die ontologische Differenz von Sein und Seiendem vertieft werden. Die phänomenologische Beschreibung der intentionalen Bewusstseinsakte mit der Beachtung des Unterschieds von Noesis und Noema kann für die eigentliche Aufgabe der Phänomenologie nicht hinreichend sein, weil sie gerade die Seinsart des Bewusstseins selbst vergessen hat. Das Ego denkt das Denkbare, und es selbst als ein regionales Heidegger, GA 20, S. 159; siehe auch S. 185, »Das Versäumnis der Frage nach dem Sein des Intentionalen offenbarte in sich ein noch ursprünglicheres – das nach dem Sein als solchem.«
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»Sinn von Sein« und das Da-sein
Seiendes hat zwar den epistemologischen Vorrang, aber die Seinsart des Egos selbst ist in diesem Rahmen noch nicht bedacht. Wo ist das Ego und wie existiert es oder wie ist seine Seinsart? Heidegger kritisiert daher, dass es bei Husserl ein erstes fundamentales Versäumnis der Frage nach dem Sein des Intentionalen gibt. Für Heidegger ist dieses Versäumnis dann nämlich das Versäumnis des Seins des Daseins. Heidegger zufolge offenbart jedoch dieses Versäumnis ferner ein zweites, noch ursprünglicheres Versäumnis, nämlich das Versäumnis »der Frage nach dem Sinn von Sein selbst«. Wie ist dann dieser zweite Sinn-Begriff hier zu verstehen? Er ist offenbar von anderer Bedeutung als der erste, der als »der logische Gegenstand eines Urteils« im Rahmen eines phänomenologischen Neukantianismus im Frühwerk verstanden wurde. Was Heidegger nun sucht, ist eine phänomenologische Ontologie. Er erläutert seinen zweiten Sinn-Begriff in Sein und Zeit: »Der Begriff des Sinnes umfasst das formale Gerüst dessen, was notwendig zu dem gehört, was verstehende Auslegung artikuliert. Sinn ist das durch Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff strukturierte Woraufhin des Entwurfs, aus dem her etwas als etwas verständlich wird.« 20
Der Sinn ist das strukturierte Woraufhin, aus dem her etwas als etwas verständlich wird. Das heißt, Sinn ist weder die subjektive Fähigkeit für die Zuwendung auf etwas, wie z. B. der Gesichts-Sinn, der Gehör-Sinn, der Geschmacks-Sinn in Bezug auf die Umwelt oder die »Gesinnung«, die »Sinnesart« im mitweltlichen Sinne, noch ein Gewolltes einer Willenshandlung, noch das Ziel von etwas (z. B. Leben, Arbeit), noch der Prozess, durch Mittel dieses Ziel zu erreichen, noch der gemeinte Gegenstand eines Wortes. Also mit einem Wort: Heideggers zweiter Sinn-Begriff kann nicht durch die alltagssprachliche Verwendung dieses Wortes erklärt werden, er bedeutet vielmehr die Art und Weise, wie etwas als etwas gegeben oder verständlich wird. Womit diese eigentümliche Charakterisierung des Sinnes bei Heidegger in der Philosophiegeschichte vergleichbar ist, ist Freges SinnBegriff. Wir müssen nun einen Blick auf Freges ursprüngliche Erläuterung werfen: »Es liegt nun nahe, mit einem Zeichen (Namen, Wortverbindung, Schriftzeichen) außer dem Bezeichneten, was die Bedeutung des Zei20
Heidegger, Sein und Zeit, S. 151.
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»Sinn« im philosophischen Sinne: Lask, Frege und Heidegger
chens heißen möge, noch das verbunden zu denken, was ich den Sinn des Zeichens nennen möchte, worin die Art des Gegebenseins enthalten ist. Es würde danach in unserem Beispiel zwar die Bedeutung der Ausdrücke »der Schnittpunkt von a und b« und ›der Schnittpunkt von b und c‹ dieselbe sein, aber nicht ihr Sinn. Es würde die Bedeutung von ›Abendstern‹ und ›Morgenstern‹ dieselbe sein, aber nicht der Sinn.« 21
Ein Zeichen bzw. ein Wort hat Frege zufolge nicht nur eine Bedeutung, nämlich den Gegenstand, den es bezeichnet, sondern auch einen Sinn, nämlich die Art, wie es gegeben ist. »Der Schnittpunkt von a und b« ist zwar überschnitten mit dem »Schnittpunkt von b und c«, d. h. sie beide bezeichnen in der Tat einen gleichen Punkt, und haben deswegen dieselbe Bedeutung. Aber dennoch haben sie verschiedene Sinne, weil sie auf verschiedene Weise gegeben sind: Der Sinn des Ersteren ist hinsichtlich der Beziehung von a und b; der Sinn des Letzteren ist hingegen hinsichtlich der Beziehung von b und c. Selbiges ist der Fall beim Verhältnis von »Abendstern« und »Morgenstern«. Der »Abendstern« und der »Morgenstern« beziehen sich zugleich auf denselben Gegenstand Venus, jedoch haben sie verschiedene Sinne: der Abendstern ist derjenige Stern, der abends leuchtet, der Morgenstern ist hingegen der Stern, der morgens leuchtet. Sie dürfen in verschiedenen Kontexten nicht verwechselt werden. Es wäre verwirrend zu sagen: »Der ›Abendstern‹ geht morgens auf«. Man kann Freges Unterscheidung von Bedeutung und Sinn eines Zeichens, Wortes bzw. Ausdrucks wie folgt zusammenfassen: Bedeutung ist das, auf welchen oder auf was für einen Gegenstand das Zeichen oder das Wort sich bezieht; Sinn ist das, wie das Zeichen oder das Wort im Kontext des Zeichens oder in dem Ganzen von Bezeichnungen gegeben wird, und deswegen wie das Bezeichnete verstanden wird. Zeichen und Wort drücken ihren Sinn aus, aber bezeichnen ihre Bedeutung. Oben im Text wurde gezeigt, dass zu einer Bedeutung (einem Gegenstand) mehrere Zeichen zugehören können. Frege zufolge ist es außerdem auch möglich, dass derselbe Sinn verschiedenen Ausdrücken entspricht. Ein Sinn kann z. B. in verschiedene Sprachen übersetzt werden und daher verschiedene Ausdrücke haben. 22 Der
Frege: »Über Sinn und Bedeutung«, in: Funktion, Begriff, Bedeutung, S. 24; (Hervorhebung von mir.) 22 Ebd., S. 25. 21
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»Sinn von Sein« und das Da-sein
deutsche Ausdruck »die morgens aufgehende Venus« kann auch auf Chinesisch und English ausgedrückt werden. Sofern der Sinn die Art ist, wie ein Zeichen, Wort bzw. Ausdruck verstanden wird, stellen sich zwei Fragen. Erstens: Wodurch ist etwas überhaupt verständlich? Zweitens: In welchem Verhältnis steht der Sinn zur Bedeutung? Zu der ersten Frage sagt Frege: »Der Sinn eines Eigennamens wird von jedem erfasst, der die Sprache oder das Ganze von Bezeichnungen hinreichend kennt, der er angehört […] Vielleicht kann man zugeben, dass ein grammatisch richtig gebildeter Ausdruck, der für einen Eigennamen steht, immer einen Sinn habe.« 23
Als der Begründer der analytischen Philosophie denkt Frege, dass der Sinn in die Sprache fällt. Wenn man der Sprache angehöre, verstehe man auch den Sinn eines Zeichens, eines Wortes bzw. eines Ausdrucks. Jeder grammatisch richtig gebildete Ausdruck hat einen Sinn, der jedem verständlich ist, der die Sprache spricht. Selbst wenn ein Ausdruck keinen Gegenstand bezeichnet, hat er auch einen Sinn. Der Ausdruck »die am wenigsten konvergente Reihe« z. B.; er ist verständlich, jedoch ist es bewiesen, dass er keinen Gegenstand bezeichnet, und deswegen keine Bedeutung hat. Insofern ein Ausdruck grammatisch korrekt ist, hat er Frege zufolge immer einen Sinn, aber ob er auch eine Bedeutung hat, ist nicht gesagt. Ein sinnvoller Ausdruck kann auch keine Bedeutung haben. Wenn der Sinn nur eine Art des Gegebenseins, also ein Wie und nicht ein Was ist, muss er dann in verschiedenen Kontexten änderbar sein. Frege führt dafür ein gutes Beispiel an. Man könnte über den Sinn von »Aristoteles« auseindergehen. Zum einen kann man annehmen: der Schüler Platos und der Lehrer Alexanders des Großen. Zum anderen: »Aristoteles war aus Stagira gebürtig«, also der Sinn dieses Namens in dem Fall dann »der aus Stagira gebürtige Lehrer Alexanders des Großen«. In diesen zwei Kontexten ist der Name »Aristoteles« auf zwei verschiedenen Weisen gegeben, deswegen hat es zwei Sinne, obwohl er immer dieselbe Person bezeichnet. »Solange nur die Bedeutung dieselbe bleibt, lassen sich diese Schwankungen des Sinnes ertragen« 24. Tyler Burge fasst dies zusammen: »[D]er Sinn ändert
23 24
Ebd., S. 24 f. Ebd., S. 24.
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»Sinn« im philosophischen Sinne: Lask, Frege und Heidegger
sich mit dem Kontext; die Bedeutung hingegen nicht« 25. Solange aber der Sinn festgehalten ist, ist die Bedeutung auch festgehalten. Das heißt: Die Eigennamen mit demselben Sinn müssen auch dieselbe Bedeutung haben, umgekehrt aber nicht. Kripke und Burge fügten weiterhin hinzu: Es gibt auch die Fälle, in denen sowohl der Sinn als auch die Bedeutung mit dem Kontext sich ändern. Bedenken wir z. B. diesen Satz »Heute regnet es in London«. Der Sinn des Wortes »heute« ändert sich offenbar an verschiedenen Tagen, zugleich ändert sich auch seine Bedeutung, weil »heute« mit der Zeit verschiedene konkrete Tage bezeichnet. Alle Indexe, so wie »ich«, »du«, »er« und »gestern«, »heute«, »morgen« gehören zu diesem Fall. 26 Der Sinn ist in der Sprache verständlich, und er ist auch absolut von der Bedeutung zu unterscheiden. Welches Verhältnis besteht dann zwischen den beiden? Frege ist der Vertreter von »indirect reference« und er meint, dass der Sinn die Vermittlung zwischen der Sprache und der Bedeutung (Welt) ist. Das bekannte FernrohrGleichnis drückt dies aus: Wir beobachten den Mond dadurch, dass wir »das reele Bild, welches vom Objetivglase im Innern des Fernrohrs entworfen wird« 27 sehen. Der Mond selbst ist die Bedeutung, sie muss vermittelt werden durch dieses reele Bild, welches der Sinn ist. Sofern die Sprache für die Art und Weise, wie der Gegenstand uns erscheint, verantwortlich ist, geht der Sinn der Bedeutung voraus. Der Sinn bestimmt die Bedeutung. Die Art der Verständlichkeit eines Eigennamens bestimmt das, auf was für einen Gegenstand er sich bezieht. Dies gilt auch in dem Fall des Satzes. Die Logik betrifft nicht nur den Wahrheitswert (die Bedeutung eines Satzes), sondern zuerst den Gedanken (der Sinn eines Satzes), nämlich seine Bestimmungskonditionen, die artikulierbar sind. Wo es keinen Sinn gibt, kann es keine Logik geben. Sofern Sinn als Vermittlung zwischen Sprache und Welt notwendig sein muss und er nur in der Sprache artikulierbar werden kann, wird die Sprache nicht mehr nur ein Thema der Philosophie, sondern das Prinzip der Philosophie schlechthin.
25 Tyler Burge, »Sinning against Frege«, in: The Philosophical Review, Vol. 88, No. 3 (Jul., 1979), S. 398–432, hier S. 405. 26 Saul Kripke, »Frege’s Theory of Sense and Reference: Some Exegetical Notes«, in: THEORIA, 2008, 74, S. 181–218, Zitat S. 200. Vgl auch, Tyler Burge, Sinning against Frege, S. 401. 27 Frege: Über Sinn und Bedeutung, in Funktion, Begriff, Bedeutung, S. 27.
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»Sinn von Sein« und das Da-sein
Obwohl es der Fall ist, dass Heidegger sehr wahrscheinlich Freges Originalwerk nicht direkt gelesen hat, 28 ist der inhaltliche Zusammenhang zwischen Heideggers zweitem Sinn-Begriff und dem Sinn bei Frege leicht zu bemerken. Dieser Zusammenhang ist so eng, dass Cristina Lafont in ihrem Buch The Linguistic Turn in Hermeneutic Philosophy behauptet, dass Heidegger die Unterscheidung von Sinn und Bedeutung unter denselben Bedingungen wie Husserl und Frege vor ihm aufgestellt hat. 29 Lafont vertritt ferner die Meinung, dass Heidegger und Frege dieselbe Ansicht teilen, dass der Sinn (wie etwas verständlich wird) die Bedeutung (welcher oder was für ein Gegenstand bezeichnet wird) bestimmt. 30 Ist diese Behauptung stichhaltig? Mit dieser Frage kommen wir auf Heideggers Erläuterung des Sinnes zurück. Heidegger zufolge ist der Sinn »das durch Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff strukturierte Woraufhin des Entwurfs, aus dem her etwas als etwas verständlich wird«. Darin sind die drei folgenden Charakteristika des Sinnes mitgesagt und aufgehellt. Erstens ist der Sinn die Art und Weise, wie oder woraufhin das Seiende als Seiendes verständlich wird. Wie Lafont behauptet hat, ist dies mit Freges Verständnis vereinbar. Freges ursprüngliche Formulierung: »die Art des Gegebenseins« ist von der Seite des Eigennamens ausgesagt, und Heideggers hingegen: von der Seite des Seienden, nämlich des Bezeichneten. Sofern der Eigenname von einem Gegenstand in einem Kontext »gegeben« ist, ist der Gegenstand mithin verständlich geworden. Die zwei Weisen des Gegebenseins von »Aristoteles« als »der Schüler Platos und Lehrer Alexanders des Großen« und als »der aus Stagira gebürtige Lehrer Alexanders des Großen« bedeuten zugleich, dass Aristoteles, die Person, in diesen zwei verschiedenen Weisen verständlich wird. Zweitens ist der Sinn als »das Artikulierbare« (wie etwas verständlich wird) von der Bedeutung als »dem Artikulierten« (etwas,
Vgl. John Haugeland, »Reading Brandom Reading Heidegger«, in: European Journal of Philosophy 13 (2005), S. 427. 29 Cristina Lafont, The Linguistic Turn in Hermeneutic Philosophy, S. 64. 30 Cristina Lafont, »Heidegger on Meaning and Reference«, in: Philosophy Social Criticism 2005, 31: 1, S. 9–20. Zitate S. 9–11. »Thus Heidegger’s hermeneutic turn seems to be based on this combination of theses or, more exactly, on the presupposition that, although meaning is holistic (i. e. contingent, relative, etc.), it nonetheless determines reference.« 28
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»Sinn« im philosophischen Sinne: Lask, Frege und Heidegger
das verstanden worden ist) zu unterscheiden. Wie Lafont auch angeführt hat, ist dies vereinbar mit Freges Verständnis. Heidegger sagt: »Das in der Auslegung, ursprünglicher mithin schon in der Rede Artikulierbare nannten wir den Sinn. Das in der redenden Artikulation Gegliederte als solches nennen wir das Bedeutungsganze. Dieses kann in Bedeutungen aufgelöst werden. Bedeutungen sind als das Artikulierte des Artikulierbaren immer sinnhaft.« 31
Der Sinn ist in der Auslegung schon mithin als »das Artikulierbare« mitgezeigt, die Bedeutung ist hingegen »das Artikulierte«, d. h. das Bezeichnete. Sofern der Sinn immer artikulierbar ist, d. h. nie zu einem vorhanden Artikuliert-Worden werden kann, muss er nur mitgezeigt werden können. Was eigentlich verstanden ist, ist streng genommen nicht der Sinn, sondern das Seiende bzw. dessen Sein. »Sinn ist das, worin sich Verständlichkeit von etwas hält. Was im verstehenden Erschließen artikulierbar ist, nennen wir Sinn« 32. Sinn ist das Worin oder Woraufhin etwas überhaupt verständlich wird, er ist in diesem Sinne nur »das Artikulierbare«. Man sieht etwas Artikulierbares nur durch die Artikulierung und mit dem Artikulierten. Andererseits sind Bedeutungen als das Artikulierte immer sinnhaft, weil nur das Artikulierbare die Artikulierung des Artikulierten möglich macht. Ähnlich sieht das Verhältnis von Sinn und Bedeutung bei Frege auch aus: Jede Bedeutung entspricht mindestens einem Sinn, eine Bedeutung ist immer sinnhaft, aber umgekehrt nicht unbedingt. Drittens: Sofern der Sinn »das durch Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff strukturierte Woraufhin des Entwurfs« ist, ist der Sinn immer schon vorgezeichnet. Heidegger sagt dazu: »Alle Auslegung gründet im Verstehen. Das in der Auslegung Gegliederte als solches und im Verstehen überhaupt als Gliederbares Vorgezeichnete ist der Sinn.« 33
Laut Heidegger ist die Auslegung nie ein voraussetzungsloses Erfassen eines Vorgegebenen. Solange das Dasein lebt, ist die Auslegung immer schon vollzogen. In dem umsichtigen Umgang mit dem umweltlichen Zuhandenen, z. B. wenn man dieses als Tisch, Tür, Wagen, Brücke »sieht«, ist die Auslegung »etwas als etwas« schon erschlossen, ohne das umsichtig Ausgelegte in einer bestimmenden Aussage 31 32 33
Heidegger, Sein und Zeit, S. 161. Ebd., S. 151. Ebd., S. 153.
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»Sinn von Sein« und das Da-sein
notwendigerweise auseinanderlegen zu müssen. Alles vorprädikative schlichte Sehen des Zuhandenen ist an ihm selbst schon verstehendauslegend. Jedes Verständnis basiert auf einem Vorverständnis und die Auslegung von »etwas als etwas« wird wesenhaft durch Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff fundiert. Dies besagt, dass die Vor-Struktur und Als-Struktur wesentlich zum Verstehen gehören. Innerhalb dessen gibt es jedoch auch das dem Verstehen notwendig zugehörige Gerüst der Erschlossenheit, nämlich den Sinn. »Der Begriff des Sinnes umfasst das formale Gerüst dessen, was notwendig zu dem gehört, was verstehende Auslegung artikuliert«. 34 Der Sinn ist das formale Gerüst des Gliederbaren oder Artikulierbaren. Er gehört notwendig zum Artikulieren und dem Artikulierten. Der Sinn ist »das, worin sich die Verstehbarkeit von etwas hält, ohne dass es selbst ausdrücklich und thematisch in den Blick kommt«. 35 Er ist immer schon vorgezeichnet, weil er vorgängig ist und er die Artikulierung und die Verständlichkeit überhaupt möglich macht. Lafont hat hier auch eingesehen, dass der Sinn bei Heidegger vor der Bedeutung vorausgeht und sie möglich macht, was ähnlich wie bei Frege ist. Sie macht diese Vorgängigkeit des Sinnes im Zusammenhang mit der ontologischen Differenz in der folgenden Erläuterung deutlich: »The ontological difference (the distinction between being and beings) is established by Heidegger in such a way that it follows that there can be no access to entities without a prior understanding of their being. It is for this reason that entities appear to us as always already understood in one way or another, or, as Heidegger puts it, this is why ›we always already move about in an understanding of being‹.« 36
Laut Lafont gehören die Unterscheidung von Sinn und Bedeutung bei Heidegger und die ontologische Differenz zusammen: Ohne Sein gibt es keinen Zugang zum Seienden; dies in die Unterscheidung von Sinn und Bedeutung zu übersetzen, bedeutet: Ohne Sinn, nämlich die Weise, wie Seiendes verständlich wird, oder anderes gesagt, das formale Gerüst dessen, was in der Auslegung artikuliert und verstanden wird, gibt es auch keine Bedeutung.
Ebd., S. 151. Ebd., S. 324. 36 Cristina Lafont, Heidegger on Meaning and Reference, S. 10; (Hervorhebung von mir.) 34 35
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»Sinn« im philosophischen Sinne: Lask, Frege und Heidegger
Was wir oben gezeigt haben, sind die Gemeinsamkeiten zwischen Heideggers zweitem Sinn-Begriff und Freges Sinn-Denken hinsichtlich seines Verhältnisses von Bedeutung, was auch Lafonts Forschung zu Heidegger unterstützt. Nun wollen wir noch die Unterschiede zwischen den zwei Philosophen aufhellen, was Lafont nicht tiefgründig ausgeführt hat. Erstens interpretiert Lafont Heidegger in Sein und Zeit auch als einen Sprach-Philosophen, d. h. sie ist der Überzeugung, dass für Heidegger, genauso wie für Frege, die Sprache »das Berufungsgericht« ist, welches entscheidet, was uns in der Welt erscheint. Die Welt ist nur durch die Sprache zu erschließen, und die Welterschließung ist völlig abhängig von der spezifischen Sprache einer geschichtlichen Gemeinschaft. 37 Sofern Lafonts die Gedanken der Sprache vom späten Heidegger in Sein und Zeit zu bringen versucht, setzt sie sich der scharfen Kritik von Taylor Carmen aus, dass »ihr Versuch, die ontologische Differenz zum Prokrustesbett der Frege’schen Semantik zu zwingen, ein wild verzerrtes Bild von Heideggers Denken ist«. 38 Carman geht davon aus, dass der Sinn-Begriff bei Heidegger viel umfassender als der Begriff der Sprache ist, und außerdem die Sprache nicht mit der Rede identisch, sondern in der Rede fundiert ist. 39 Die Rede ist in Sein und Zeit das Existenziale des Daseins, welches nicht ein System des Zeichens als die Sprache sein kann. Wobei der Ruf des Gewissens, welcher in der Tat sprachlos ist, auch zur eigentlichen Rede gehört, jedoch nicht zur Sprache. Diese Kritik von Carman ist so treffend und überzeugend, dass wir nur noch einen Punkt hinzufügen wollen, nämlich: die Rede muss auch durch das In-der-Welt-sein konstituiert werden. Rede ist nur eine Seinsdimension von dem In-der-Welt-sein, sowie die Befindlichkeit und das Verstehen, daher ist die Rede weltlich, und nicht umgekehrt die Welt sprachlich. 40 »He (Heidegger) will declare language to be the court of appeal that (as the »house of being«) judges beforehand what can be encountered within the world. With this reification of the world-disclosing function of language, what things are becomes thoroughly dependent on what is contingently »disclosed« for a historical linguistic community through a specific language«, Siehe: Cristina Lafont, Heidegger, Language, and World-Disclosure, S. 7. 38 Taylor Carman, »The Question of Being«, in: The Cambridge Companion to Heidegger’s Being and Time, edited by Mark A. Wrathall, Cambridge 2013, S. 87. 39 Vgl. Taylor Carman, »Was Heidegger a Linguistic Idealist?«, in: Inquiry: An Interdisciplinary Journal of Philosophy, 45:2, S. 205–215. 40 »Wenn die Rede, die Artikulation der Verständlichkeit des Da, ursprüngliches Exis37
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»Sinn von Sein« und das Da-sein
Zweitens richtet sich die Frage nach dem Sinn bei Heidegger auf das Sein des Daseins, bei Frege hingegen auf die Sprache und die Logik. Freges Sinn kommt entweder dem Eigennamen oder dem Satz zu, daher fordert die weitere Untersuchung des Sinnes bzw. der Bedeutung die symbolische Logik, die ganz allgemein auf sprachliche Urteile angewendet werden kann. So viele Worte und Sätze es gibt, so viel Sinn gibt es für Frege. Sinn bei Heidegger kommt dem Seienden bzw. dem Sein zu. Streng genommen gibt es für Heidegger eigentlich nur den einzigen Sinn oder bestimmte einige, welcher/welche als das formale Gerüst dessen, was in der Auslegung artikuliert und verstanden wird, bezeichnet werden kann/können. Heideggers weitere Untersuchung des Sinnes fordert eine existenziale Ontologie, deren Logik nicht bloß formal, d. h. ungeachtet des Inhalts ist, sondern sie muss auf die Sache selbst gehen, d. h. auf die verschiedene Seinsart des Seienden und schließlich auf das Sein selbst, wozu eine symbolische Logik nicht mehr in der Lage sein kann. 41 Die Tatsache, dass diese zwei bedeutenden Philosophen die verschiedenen philosophischen Richtungen, (analytische und existenzial-phänomenologische) vertreten, gründet sich auch in diesem wesentlichen Unterschied ihres Denkens des Sinns. Um Sinn weiter aufhellen zu können, bleibt Heideggers nächste Aufgabe die existenziale Analyse des Daseins, weil nur das Dasein das Seiende und dessen Sein verstehen kann: »Sinn ›hat‹ nur das Dasein, sofern die Erschlossenheit des In-der-Welt-seins durch das in ihr enttenzial der Erschlossenheit ist, diese aber primär konstituiert wird durch das In-derWelt-sein, muss auch die Rede wesenhaft eine spezifisch weltliche Seinsart haben.«, siehe: Heidegger: Sein und Zeit, S. 161. 41 Heidegger hat Freges mathematische Logik in seinem Werk zwei Mal erwähnt. Zum ersten Mal hat Heidegger in seinem frühen philosophischen Aufsatz »Neuere Forschungen über Logik« Frege dahingehend gelobt, dass seine Arbeit einen großen Beitrag zum Anti-Psychologismus geleistet habe: »G. Freges logisch-mathematische Forschungen sind meines Erachtens in ihrer wahren Bedeutung noch nicht gewürdigt, geschweige denn ausgeschöpft. Was er in seinen Arbeiten über ›Sinn und Bedeutung‹, über ›Begriff und Gegenstand‹ niedergelegt hat, darf keine Philosophie der Mathematik übersehen; es ist aber auch im gleichen Maße wertvoll für eine allgemeine Theorie des Begriffs.«, Siehe GA 1, S. 20. Beim zweiten Mal hat er die mathematische Logik so kritisiert, dass sie sich nur als ein Mittel eigne, da sie nicht nach der Urteilstheorie frage, also sich nicht mehr als die Philosophie selbst verstehe: »Die Schranke sehe ich in der Anwendung der mathematischen Symbole und Begriffe […] Die Mathematik und die mathematische Behandlung logischer Probleme gelangen an Grenzen. Wo ihre Begriffe und Methoden versagen, das ist genau dort, wo die Bedingungen ihrer Möglichkeit liegen.«, Siehe: GA 1, S. 42 f.
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Phänomenologie des »Sinnes von Sein«
deckbare Seiende ›erfüllbar‹ ist«. 42 Sofern nur das Dasein den Sinn »hat«, braucht Heidegger dafür eine Fundamentalontologie. Der entscheidenden Frage, wie Heidegger durch die Fundamentalontologie den Sinn von Sein überhaupt gewinnt und ob dieser Versuch gelingen kann, werden sich die folgenden Kapitel widmen.
5.2. Phänomenologie des »Sinnes von Sein« und die Fragwürdigkeit des Vorrangs des Daseins »Das Seiende« bezeichnet »alles, was ist«. Dieser Ausdruck wird aus dem Partizip »seiend« gebildet und diesem Partizip wiederum liegt die Infinitivform »sein« zugrunde. Der Ausdruck »das Sein« ist ein Verbalsubstantiv, das durch die Substantivierung des Infinitivs »sein« entstanden ist. 43 Über das Verhältnis von Seiendem zu Sein gibt es aus Heideggers philosophischem Gesichtspunkt die folgenden vier Grundcharakterisierungen, die für ein umfassendes Verständnis der ontologischen Differenz von großer Bedeutung sind und die wir immer im Auge behalten müssen: 1.) »Sein ist jeweils das Sein eines Seienden«. 44 Sein ist immer das Sein von Seiendem. Alles Seiende ist immer von Sein ausgesagt und das Sein offenbart sich an dem Seienden. Um auf die Freilegung des Seins abzusehen, brauchen wir zuvor eine rechte Beibringung des Seienden selbst. 2.) »Seiendes ist und hat ein Sein, aber Sein ist doch nicht Seiendes. Aber schon in dem Satz ›Sein ist nicht Seiendes‹ sagen wir das ›ist‹ vom Sein aus.« 45 Obwohl alles Seiende immer von Sein ausgesagt wird und das Sein sich an dem Seienden offenbart, ist das Sein nicht Seiendes. Sein meint hier »keine seiende Beschaffenheit an Seiendem«, 46 d. h. Sein kann sich zwar am Seienden offenbaren, aber nicht als ein anderes Seiendes, sondern als eine nichthaftige Leere. Diese Heidegger, Sein und Zeit, S. 151. Zu der Grammatik des Wortes »Sein« siehe Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, S. 58–60. 44 Heidegger, Sein und Zeit, S. 9, siehe auch S. 37, »Sein aber je Sein von Seiendem ist.« 45 Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, S. 317; siehe auch Sein und Zeit, S. 4, 6: »Sein ist nicht so etwas wie Seiendes« 46 Heidegger, Nachwort zu: »Was ist Metaphysik«, S. 306. Auch vgl. Heidegger, Einführung in die Metaphysik, S. 73–74. 42 43
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»Sinn von Sein« und das Da-sein
Leere ist überall, wo es Seiendes gibt und sie ist zugleich nirgendwo als ein Vorhandenes zu finden. Dazu gehört auch, dass »Sein nie durch Seiendes erklärbar ist«. 47 Sein oder Sein des Seienden kann nicht auf das Seiende zurückgeführt werden, sondern umgekehrt: Wir verstehen das Seiende immer auf das Sein hin. 3.) Der Unterschied von »das Sein des Seienden« und »das Seiende« besteht darin: Das Erstere bedeutet das, wie das Seiende ist, und zwar die Seinsart des Seienden, das Letztere nur was das Seiende ist. Das Sein des Daseins ist die Existenz, das Sein des zunächst begegnenden innerweltlichen Seienden ist die Zuhandenheit und das Sein des theoretisch-orientierten Seienden ist die Vorhandenheit. Dies sind die drei grundsätzlichen Seinsarten des Seienden. 48 4.) »Was Seiendes zu Seiendem macht, ist das Sein.« 49 Sein macht jedes Seiendes jeweilig und es lässt zugleich auch die mannigfachen Bedeutungen des jeweiligen Seienden analog einig. Wie im Kapitel 2.3 bereits erläutert, ist diese Ermöglichung des Seienden nur als Sein-Lassen zu verstehen. Da das Sein auch gar kein Seiendes ist, d. h. auch nicht das höchste Seiende oder ein Schöpfer, kann die Vorgängigkeit des Seins als die Ermöglichung nicht dergestalt sein, dass es alles Seiende schöpft und dann dessen Existenz ermöglicht oder als eine Substanz ist, die hinter oder unter allem Seienden steht und dann dessen Existenz gewährleistet, sondern in einem ontologischen Sinne der Offenbarkeit. Wie Heidegger sagt: »Enthülltsein des Seins ermöglicht erst Offenbarkeit des Seienden« 50 und »Seiendes kann nur entdeckt werden, sei es auf dem Wege der Wahrnehmung oder sonst einer Zugangsart, wenn das Sein des Seienden schon erschlossen ist«. 51 Die Enthüllung des Seins und die Entdeckung des Seienden sind absolut voneinander zu unterscheiden. Das Erstere befindet sich auf der ontologische Ebene, das Heidegger, Sein und Zeit, S. 207, 208, siehe auch S. 196:« »Die ontologisch elementare Ganzheit der Sorgestruktur kann nicht auf ein ontisches Urelement zurückgeführt werden, so gewiß das Sein nicht aus Seiendem erklärt werden kann.« 48 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 44, 88. 49 Heidegger, Aristoteles. Metaphysik Theta 1–3, von Wesen und Wirklichkeit der Kraft. Freiburger Vorlesung Sommersemester 1931, GA 33, S. 14; Siehe auch Sein und Zeit, S. 6: »Das Sein, was Seiendes als Seiendes bestimmt, das, woraufhin Seiendes, mag es wie immer erörtert werden, je schon verstanden ist.« 50 Heidegger, Vom Wesen des Grundes, GA 9, S. 131. 51 Heidegger, GA 24, S. 102. 47
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Phänomenologie des »Sinnes von Sein«
Letztere hingegen auf der ontischen Ebene, was die sogenannte ontologische Differenz von Sein und Seienden ausmacht. Sein macht das Seiende zum Seienden möglich, dergestalt, dass das Sein das Seiende zum Sichzeigen bringt, dass das Sein es so sein lässt, wie es ist. Die Seinsfrage ist nämlich die Frage »was besagt das Sein?«. Diese Frage hat folgende formale Struktur: die Einheit von Gefragtem, Befragtem und Erfragtem. Das Gefragte ist das Wonach gefragt ist, nämlich das Sein. Diese Frage ist auch immer ein Anfragen bei …, also ein Befragtes. Es ist dann nämlich Wobei oder Bei wem die Frage gestellt ist, das ist das Seiende und innerhalb des Seienden ein ausgezeichnetes Seiendes, das Dasein, weil nur das Dasein diese Frage stellen und verstehen kann. Schließlich hat diese Frage auch immer ein intendiertes Ziel, das Erfragte, wobei das Fragen ins Ziel kommt. Das ist nämlich der Sinn von Sein. Die Struktur der Seinsfrage ist demnach ein Dreifaches und ganz formal: 1. Das Gefragte: Das Sein (von Seiendem); 2. Das Befragte: Dasein als das Seiende selbst; 3. Das Erfragte: Der Sinn von Sein. 52 Sofern wir oben schon gezeigt haben, dass der Sinn »das [ist] worin sich die Verstehbarkeit von etwas hält«, 53 bedeutet »der Sinn von Sein« dann: der »transzendentale Horizont«, 54 in dem Sein zum Verständnis kommt; oder die Weise, wie Sein im Sein des Seienden offenbar wird. 55 Die Frage nach dem Sinn von Sein ist dann die Frage nach dem transzendentalen Horizont, in dem Sein im Sein des Seienden offenbar wird: »Was ist es, was dieses Verstehen von Sein überhaupt möglich macht? Von wo aus, das heißt: aus welchem vorgegebenen Horizont her verstehen wir dergleichen wie Sein?« 56
Dies ist offensichtlich eine ontologische Frage, die nach der Ansicht des frühen Heidegger schon in der traditionellen Metaphysik als FunVgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 5–7; auch GA 20, S. 195. Heidegger, Sein und Zeit, S. 324. 54 Ebd., S. 39. 55 »Sinn von Sein meint den Verstehenshorizont, in dem Sein offen ist.«, Otto Pöggeler, Sein als Ereignis, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 13, 1959, S. 616. 56 Heidegger, GA 24, S. 21; Siehe auch GA 49, S. 56. »Sofern es sich um das Verstehen im Sinne des Seinsverständnis handelt, ist mit dem ›Sinn von Sein‹ gefragt nach dem Offenen, aus dem her dergleichen wie Sein überhaupt verständlich ist, dergestalt, dass die Worte ›Sein‹ und ›ist‹ und ihre Abwandlungen keine bloßen Laute und Geräusche sind, sondern jederzeit etwas nennen, was wir geradehin verstehen, ohne es eigens zu bedenken oder gar ausdrücklich zu begreifen.« 52 53
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»Sinn von Sein« und das Da-sein
damentalfrage thematisiert ist und nun »erneut« gestellt werden soll, 57 und es ist ganz entscheidend, dass dies Heidegger zufolge zugleich auch eine phänomenologische Frage ist. Wie kann dies erhellt werden? In der Marburger Vorlesung Sommersemester 1925, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, charakterisierte Heidegger die Frage »Was besagt Sein?« als »die phänomenologische Grundfrage« und behauptete dann zugleich: »Phänomenologische Forschung ist Interpretation des Seienden auf sein Sein hin. Dieses Seiende ist befragt auf sein Sein, d. h. auf das, woraufhin das in die Vorhabe Gestellte befragt ist – die Hinsicht: woraufhin es gesehen wird und gesehen werden soll, ist das Sein. Das Sein am Seienden soll abgelesen werden, d. h. was phänomenologische Interpretation in die Vor-sicht stellt, ist das Sein. In die Vorhabe hat sie jeweilig Seiendes gestellt. Gefragt ist nach dem Sein des Seienden.« 58
Es ist zu beachten, dass hierbei eine wesentliche Transformation des Gegenstands der Phänomenologie in Hinblick auf das bekannte phänomenologische Diktum »Zu den Sachen selbst!« ans Licht gebracht wird. Für Husserl ist die Sache selbst »das anschaulich Gegebene«, nämlich das intentionale Objekt des Bewusstseins; Für Heidegger ist die Sache selbst aber nicht mehr das Seiende im Sinne des Korrelats des Bewusstseins, sondern das Sein des Seienden; also eine »Interpretation des Seienden auf sein Sein hin«. Phänomenologie sucht natürlich noch nach der Evidenz des Seienden, sie hört jedoch nicht bloß beim Seienden auf, sondern sie sieht das Seiende mit der »Hinsicht« auf das Sein. Die Phänomenologie stellt das jeweilige Seiende immer schon in die Vor-sicht auf das Sein hin. Sie geht über das Seiende hinaus und weiter ins Sein. Daher ist das Gefragte der Phänomenologie eigentlich das Sein des Seienden. 59 Bedenkt man, dass Heidegger das Phänomen als »das Sich-anihm-selbst-zeigende« 60 versteht, kommt auch bald ein wesentlicher Fortschritt in Betracht. Das Phänomen ist nicht mehr das intentionale Nach der Kehre ist Heidegger allmählich zu der Überzeugung gekommen, dass die Frage nach dem Sein selbst ganz neu und in der traditionellen Metaphysik auch nie gestellt worden ist, insbesondere in der Hinsicht auf die Selbigkeit von Sein und Nichts. Siehe Kapitel 4.3 dieser Arbeit. 58 Heidegger, GA 20, S. 423 59 »Sachhaltig genommen ist die Phänomenologie die Wissenschaft vom Sein des Seienden – Ontologie.«, Heidegger, Sein und Zeit, S. 37. 60 Ebd., S. 31. 57
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Phänomenologie des »Sinnes von Sein«
Objekt für das Bewusstsein, das als Korrelat des Bewusstseins von dem intentionalen Akt konstituiert ist, sondern das Sichzeigende an ihm selbst. Deshalb hat das Phänomen in sich seine Aktivität. Nur wenn das Seiende auf das Sein hin enthüllt ist, kann das Seiende als sichzeigendes Phänomen bezeichnet werden und kann uns erscheinen. Das Seiende ist für uns nur dadurch offenbar, dass uns schon ein Bewandtniszusammenhang auf das Sein als das Ganze hin enthüllt ist. Bevor wir unser Augenmerk auf das Seiende richten, ist es zuvor schon da. In diesem Aufmerken auf das Seiende tragen wir ihm nichts zu, sondern das Seiende begegnet uns so. Das Aufmerken auf das Seiende, scheinbar eine Tätigkeit von unserer Seite oder eine Spontaneität der Subjektivität, ist aber dem phänomenologischen Wesen nach gerade ein Begegnen-lassen, eine eigentümliche Passivität und Rezeptivität. Jedes intentionale Aufmerken auf das Seiende hat den Charakter des »Hinnehmens«. »Gerade im Aufmerken auf etwas, das in uns wach wird, ist ein Sichfreigeben für die Dinge, damit sie sich zeigen können, wie sie sind.« 61 Deswegen ist die Phänomenologie eine Freilegung für das Sichzeigen des Phänomens. Phänomenologie wendet sich zuerst grundsätzlich gegen die Auffassung, dass das Phänomen nur eine bloße verweisende Erscheinung sei, die immer Erscheinung von Etwas, was hinter ihm liegt und nicht erscheint, also nicht unmittelbar gegeben ist, sei. Die Phänomenologie sei deshalb ungeeignet, die Grundwissenschaft der Philosophie zu sein, weil das Unmittelbare nicht erfasst werden könne, sondern man es dabei schon immer mit einem Vermitteln zu tun habe. Ganz im Gegenteil: Die Phänomenologie fasst das Sichzeigen des Phänomens, auf das jede Erscheinung angewiesen ist, weil »Erscheinen nur möglich auf dem Grunde eines Sichzeigens von etwas ist«. 62 Das Phänomen ist für Husserl die Offenbarung der Präsenz. Wie Husserl immer sagt: »das reine Phänomen, das reduzierte«, 63 ist das Phänomen, die auf das reine Bewusstsein reduzierte Selbstgegebenheit, die immer evident ist. 64 Das Phänomen bedeutet nicht zuerst den erscheinenden Gegenstand, sondern das Erlebnis, durch das der GeHeidegger, Einleitung in die Philosophie, S., 75. Heidegger, Sein und Zeit, S. 29. 63 Husserl, Die Idee der Phänomenologie, Hua 2, S. 7, 50, 56. 64 Vgl. Husserl, »Das Fundamentale ist, dass man nicht übersieht, dass Evidenz dann dieses in der Tat schauende, direkt und adäquat selbst fassende Bewußtsein ist, dass es nichts anderes als adäquate Selbstgegebenheit besagt«, Idee der Phänomenologie, Hua 2, S. 59. 61 62
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»Sinn von Sein« und das Da-sein
genstand erst in diesem erscheinen kann. »Das Raumding, das wir sehen, ist bei all seiner Transzendenz Wahrgenommenes, in seiner Leibhaftigkeit bewußtseinsmäßig Gegebenes«. 65 Es ist unerlässlich, festzuhalten, dass die Gewinnung des Phänomens für Husserl nicht von dem Erscheinen des Gegenstandes an sich selbst ausgegangen ist, sondern von der Immanenz des Erlebnisses. Das Phänomen kann nur durch das Erlebnis erscheinen und das Erlebnis macht die Phänomenalität des Phänomens aus. Deswegen nennt Husserl die Phänomenologie »die Lehre von den Erlebnissen überhaupt«. 66 Und ferner: »jedes Erlebnis ist überhaupt gegenwärtig seiendes Erlebnis« 67, das Erlebnis, insbesondere die Dingwahrnehmung gegenwärtigt ein Selbst in seiner leibhaftigen Gegenwart. Die Präsenz hat dann für Husserl einen deutlichen Vorrang, 68 weil die Selbstgegebenheit, welche die Evidenz des Phänomens ausmacht, gleichbedeutend mit der »leibhaften Gegebenheit« ist. Jean-Luc Marion hat dies so zusammengefasst: »Mit einem Wort, weil die Phänomenalität des ›reduzierten Phänomens‹ auf die objektive und permanente Präsenz reduziert ist, ist dann jedes nicht auf Präsenz reduzierte Phänomen von der Phänomenalität ausgeschlossen […] Husserls Phänomen, als die perfekte Offenbarung der Präsenz, kann als ein flaches Phänomen bezeichnet werden«. 69 Im Gegensatz zu Husserl ist das Phänomen für Heidegger nicht flach, folglich ist es nicht nur etwas bloß Evidentes, sondern es hat eine Tiefe, es ist vielmehr ein Spiel von Evidentem und Un-Evidentem. Sofern das Phänomen sich zeigt, geht es bei Heidegger im Phänomen nicht um die evidente Präsenz des Bewusstseins, sondern um die Aktivität des Phänomens an sich. Die Aufgabe der Phänomenologie besteht dann darin: »Das was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen lassen.« 70 Aber gerade das,
Husserl, Ideen 1, Hua 3, S. 90. Husserl, Logische Untersuchung VI Beilage, Hua 19, S. 765: »Phänomenologie besagt demgemäß die Lehre von den Erlebnissen überhaupt« 67 Husserl, Ideen 1, Hua 3, S. 251, vgl auch: S. 96: »es wäre ein Widersinn, es für möglich zu halten, dass ein so gegebenes Erlebnis in Wahrheit nicht sei.« 68 Tobias Keilling macht darauf aufmerksam, dass dieser Vorrang der Präsenz weder ontologisch noch epistemologisch, sondern nur phänomenologisch sei. Siehe Tobias Keiling, Seinsgeschichte und phänomenologischer Realismus. Eine Interpretation und Kritik der Spätphilosophie Heideggers. Tübingen 2015, S. 237. 69 Jean-Luc Marion, Reduction and Givenness, S. 56. 70 Heidegger, Sein und Zeit, S. 34. 65 66
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Phänomenologie des »Sinnes von Sein«
was phänomenologisch zu sehen ist, ist solches, was sich zunächst und zumeist nicht zeigt: »Was Phänomen sein kann, ist zunächst und zumeist verdeckt, bzw. in vorläufiger Bestimmung bekannt. Die Verdeckung kann eine verschiedene sein: Einmal kann ein Phänomen verdeckt sein in dem Sinne, dass es überhaupt noch unentdeckt ist, über seinen Bestand gibt es keine Kenntnis und Orientierung. Ein Phänomen kann ferner verschüttet sein. Darin liegt: Es war zuvor einmal entdeckt, verfiel aber wiederum einer Verdeckung.« 71
Heidegger unterscheidet hier eindeutig zwischen zwei Verdeckungsarten des Phänomens: zum einen die zufällige, d. h. die noch unentdeckt ist, aber entdeckt werden wird; zum anderen die notwendige, d. h. dieses Phänomen war zuvor einmal entdeckt, aber verfiel wiederum der Verdeckung, und es kann und muss auch so verschüttet sein. Die erste Art des Phänomens können wir als Zum-Sichtbaren-werdendes bezeichnen und die zweite als Nie-zum-Sichtbaren-werdendes. Genau diese zwei Arten der Verdeckung, die die Phänomenologie zur Aufweisung zu bringen versuchen soll, macht die Tiefe des Phänomens bei Heidegger aus. Phänomenologie macht das Zum-Sichtbaren-werdende sichtbar, weist zugleich aber auch auf das Nie-zumSichtbaren-werdende als Unsichtbares hin. Weil jedes Phänomen eigentlich zweifach ist, also nicht flach ist, sondern eine Tiefe hat, ist das phänomenologische Schauen nicht einfach ein unmittelbares Schauen. 72 Vielmehr: Wir müssen sowohl das Sichtbare am Phänomen ansehen als auch zugleich absehen, um auf das Unsichtbare im Phänomen hinsehen zu können. Wenn das Phänomen ein sichzeigendes Seiendes ist, was ist dann dieses »Nie-zum-Sichtbaren-werdende«? Wie lässt es sich charakterisieren? Heidegger erläutert es in Sein und Zeit: »[W]as sich zunächst und zumeist gerade nicht zeigt, was gegenüber dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, verborgen ist, aber zugleich etwas ist, was wesenhaft zu dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, gehört. Was aber in einem ausnehmenden Sinne verborgen bleibt oder
Heidegger, GA 20, S. 119. Heidegger: »Weil das Phänomen erst gewonnen werden soll, fordern Ausgangsbetrachtungen und freilegender Durchgang durch die Verdeckungen schon ein großes Maß methodischer Veranstaltung. […] In der Forderung einer letzten direkten Gegebenheit der Phänomene liegt nichts von einer Bequemlichkeit unmittelbaren Schauens.«, GA 20, S. 120
71 72
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»Sinn von Sein« und das Da-sein
wieder in die Verdeckung zurückfällt oder nur »verstellt« sich zeigt, ist nicht dieses oder jenes Seiende, sondern, wie die voranstehenden Betrachtungen gezeigt haben, das Sein des Seienden. Es kann so weitgehend verdeckt sein, dass es vergessen wird und die Frage nach ihm und seinem Sinn ausbleibt.« 73
Es ist zu beachten, dass »das Sein des Seienden«, das Heidegger zufolge das »Nie-zum-Sichtbaren-werdende« ist, zwei Hauptcharakteristika hat: 1.) Es zeigt sich zunächst und zumeist nicht, es bleibt verborgen, oder anders formuliert: Es zeigt sich nur »verstellt«, d. h. das Sein des Seienden ist absolut von dem Seienden zu unterscheiden; 2.) zugleich gehört das Sein des Seienden aber wesenhaft zum Seienden. Dies kann anders formuliert werden: Sein ist zwar kein Seiendes, aber Sein ist jeweils immer Sein eines Seienden. Wir müssen aber weiter fragen: Warum kann das Sein in der Hinsicht auf das Seiende als ein sichzeigendes Phänomen zur Aufweisung gebracht werden, und warum ist Sein für die Phänomenologie wichtig? Heidegger erläutert weiter: »Das Sein des Seienden kann am wenigsten je so etwas sein, ›dahinter‹ noch etwas steht, ›was nicht erscheint‹. ›Hinter‹ den Phänomenen der Phänomenologie steht wesenhaft nichts anderes, wohl aber kann das, was Phänomen werden soll, verborgen sein. Und gerade deshalb, weil die Phänomene zunächst und zumeist nicht gegeben sind, bedarf es der Phänomenologie.« 74
Wäre das Sein des Seienden etwas, das hinter dem Seienden als Phänomen steht, würde sich dies prinzipiell gegen das phänomenologische Prinzip wenden, dass sich das Phänomen an sich selbst zeigt. Hinter dem Phänomen gibt es gar nichts mehr, weil es das Seiende selbst ist anstatt einer bloßen verweisenden Erscheinung von einem Un-Erscheinenden. Das Sein des Seienden ist zwar verborgen, aber es ist gerade das, was ein Phänomen zum Phänomen macht. Das Sein (des Seienden) ist für Heidegger gerade die Phänomenalität des Phänomens, was ganz im Gegensatz zu Husserl steht, bei dem die Phänomenalität des Phänomens eben die Präsenz des Bewusstseins ist. Das Sein des Seienden macht ein Seiendes zum Seienden – phänomenologisch ausgedrückt: Das Sein als die Phänomenalität macht ein Phänomen zum Phänomen. Wir brauchen Phänomenologie, gerade weil sich das Sein zunächst und zumeist nicht zeigt, weil nämlich die 73 74
Heidegger, Sein und Zeit, S. 35. Heidegger, Sein und Zeit, S. 36.
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Phänomenologie des »Sinnes von Sein«
Phänomenalität des Phänomens selbst nicht ein gegebenes Phänomen ist. »›Phänomenal‹ wird genannt, was in der Begegnisart des Phänomens gegeben und explizierbar ist; daher die Rede von phänomenalen Strukturen. ›Phänomenologisch‹ heißt all das, was zur Art der Aufweisung und Explikation gehört und was die in dieser Forschung geforderte Begrifflichkeit ausmacht. Weil Phänomen im phänomenologischen Verstande immer nur das ist, was Sein ausmacht, Sein aber je Sein von Seiendem ist, bedarf es für das Absehen auf eine Freilegung des Seins zuvor einer rechten Beibringung des Seienden selbst.« 75
Das Phänomenale ist in der Begegnungsart des Phänomens gegeben und explizierbar, und es muss und kann nur innerhalb der Explikation des Phänomens zur Aufweisung gebracht werden. Dies ist genauso wie das Verhältnis von Sein zum Seienden: Sein bedarf des Seienden und Sein kann nur innerhalb der Entdeckung des Seienden miterschlossen werden. Damit gewinnen wir das Verständnis dafür, dass die Tiefe des Phänomens bei Heidegger wesentlich mit der ontologischen Differenz zusammenhängt. Wie Jean-Luc Marion mit einem schönen Wort formuliert: »Diese Tiefe bedeutet nicht: Hinter dem Phänomen gibt es noch etwas, was noch zu erscheinen ist, sondern es bringt die Erscheinung des Phänomens selbst – in der Art und Weise von Sein, nämlich Nichts-Seiendem – die Tiefe von seiner Phänomenalität ans Licht […] Die Tiefe des Phänomens treibt nicht nur zur Erkenntnis des Phänomens an, sondern radikaler, auch der Phänomenalität.« 76 Der Grund für die Entstehung dieser Tiefe besteht wesentlich darin, dass Sein zwar in der Erscheinung des Seienden auch miterschlossen ist, aber sich zugleich auch entzieht, d. h. das Sein das Anwesen von Abwesen ist. Sein ist nie wahrnehmbar und kann nie vorhanden sein. Die Offenbarung des Seins ist anders als die Entbergung des Seienden, sie geht nie in die evidente Präsenz. Aber es ist auch deutlich für Heidegger, dass die Offenbarung des Seins vor der Entbergung des Seienden vorausgeht und die Entbergung des Seienden möglich macht. So gesehen sucht Phänomenologie dann nicht nur das Phänomen, sondern vor allem auch dessen unscheinbare Phänomenalität. Das Erstere war unsichtbar, aber kann sichtbar werden, d. h. zum Seienden als einem Phänomen werden; das Letztere ist unsichtbar, aber 75 76
Ebd., S. 37; siehe auch GA 20, S. 117 f. Jean-Luc Marion, Reduction and Givenness, S. 63.
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»Sinn von Sein« und das Da-sein
kann auch nie im Sinne eines Seienden sichtbar werden. Die Sache der Phänomenologie ist nun aber das Sein des Seienden, nämlich die Phänomenalität des Seins. Sofern »die Sache der Phänomenologie« nicht mehr das intentionale Objekt als das Korrelat des Bewusstseins wie bei Husserl ist und dessen Gewinnung immer der phänomenologischen Methode bedarf, muss Heidegger auch die phänomenologische Reduktion anders als Husserl verstehen. Und diese Umwandlung lautet: »Für uns bedeutet die phänomenologische Reduktion die Rückführung des phänomenologischen Blicks von der wie immer bestimmten Erfassung des Seienden auf das Verstehen des Seins (Entwerfen auf die Weise seiner Unverborgenheit) dieses Seienden […] Die phänomenologische Reduktion als die Rückführung des Blicks vom Seienden zum Sein ist aber nicht das Einzige, ja nicht einmal das zentrale Grundstück der phänomenologischen Methode. Denn diese Zurückführung des Blicks vom Seienden auf das Sein bedarf zugleich des positiven Sichhinbringen zum Sein selbst.« 77
Die phänomenologische Reduktion bedeutet für Husserl ein Rückgang von dem Ding in der natürlichen Einstellung auf das Bewusstseinskorrelat in der transzendentalen Einstellung, für Heidegger aber von Seienden zum Sein des Seienden und ferner zum Sein selbst. Das ist ein so wesentlicher Unterschied zwischen Husserl und Heidegger, dass man ganz deutlich einsehen kann, dass Heidegger die Phänomenologie zu einem realistischen und ontologischen Boden zu bringen versucht. Das gilt auch als der größte Beitrag zur Phänomenologie, den Heidegger Husserl gegenüber als »Lernender« 78 geleistet hat. Das Sein des Seienden und ferner das Sein selbst, was Heidegger durch die phänomenologische Reduktion gewinnen wollte, sind gerade das, was in Husserls Phänomenologie laut Heideggers grundsätzlicher Kritik an Husserl versäumt wurde, nämlich das Versäumnis des Seins des Daseins und das Versäumnis des Sinnes von Sein selbst. 79 Für Heidegger ist einerseits »Ontologie nur als Phänomenologie möglich«, 80 Heidegger, GA 24, S. 29. Heidegger sagt im Jahr 1925 in der Marburger Vorlesung Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs nachdem er eine wichtige Kritik an Husserl geübt hat: »Aber es handelt sich ja nicht um Kritik als Kritisieren, sondern um Kritik als Freilegung der Sachen und des Verständnisses. Es bedarf wohl kaum des Geständnisses, dass ich mich auch heute noch Husserl gegenüber als Lernender nehme.«, GA 20, S. 168. 79 Vgl. Heidegger, GA 20, S. 159, 185. 80 Heidegger, Sein und Zeit, S. 35. 77 78
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Phänomenologie des »Sinnes von Sein«
weil Phänomenologie Zugangsart zum Sein und die ausweisende Bestimmungsart dessen ist. Andererseits muss die Phänomenologie auch Ontologie sein, weil nur die Seinsfrage die Frage nach der Phänomenalität des Phänomens zum Ende bringen kann. Dazu erläutert Heidegger: »Die Frage nach dem Sein als solchem ist aber nur zu gewinnen, wenn das Fragen geleitet ist von einem Zu-Ende-fragen, bzw. in den Anfang Hineinfragen, d. h. wenn es bestimmt ist von dem radikal ergriffenen Sinn des phänomenologischen Prinzips – der Sache selbst – Seiendes als Seiendes selbst in seinem Sein sehen zu lassen.« 81
Die Seinsfrage und die Phänomenologie gehen bei Heidegger letztendlich in eins. Wenn Heidegger die Sache selbst der Phänomenologie als »Seiendes selbst in seinem Sein sehen zu lassen« bezeichnet, hat diese Transzendenz auf das Sein hin weder das Seiende aberkannt, noch das Phänomen bezweifelt, sie macht vielmehr gerade das Sichzeigen des Seienden sichtbar. Für Heidegger behält das Sein immer die Vorgängigkeit vor dem Seienden: Nur wenn das Sein überhaupt schon verstanden ist, kann das Seiende erschlossen sein. Daher ist das Zu-Ende-fragen nach dem Sein zugleich auch das »Hineinfragen in den Anfang«. Nur Sein ist der Anfang, es macht die Phänomenalität des Phänomens aus, dadurch dass es jedes Seiende so sein lässt, wie es ist. »Phänomenologisch« heißt dann Heidegger zufolge all das, was zur Art der Aufweisung und Explikation gehört, nämlich nicht mehr was die Ursache des Seienden ist, sondern vielmehr wie (die Art) oder wodurch das Sichzeigen des Seienden als des Phänomens zugänglich und explizierbar wird. Während der Begriff der Erscheinung eine Verweisung auf ein anderes hinter-stehendes Seiende, das nicht erscheint, bedeutet und ein ontisches Verhältnis bezeichnet, meint der Begriff des Phänomens als »ausgezeichnete Begegnisart von etwas« 82 eine ontologische Struktur. In phänomenologischer Betrachtungsweise ist die Begegnisart des Seienden nicht hinsichtlich seiner ontischen Beziehung zu anderem Seienden zu suchen, sondern in Rücksicht auf seine Möglichkeit des Begegnen-könnens oder des Sichzeigens derart, dass es an ihm selbst zugänglich wird. 83 Marion Heinz hat diese Unterscheidung durch einen Vergleich von zwei Bei81 82 83
Heidegger, GA 20, S. 186. Heidegger, Sein und Zeit, S. 31. Vgl. »Die Frage nach der inneren Möglichkeit einer solchen Erkenntnis sieht sich
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»Sinn von Sein« und das Da-sein
spielen zum Ausdruck gebracht, nämlich Licht – Seiendes und Röte der Wangen – Krankheit: »Das Licht ist nicht ein Seiendes, das auf ein bestimmtes anderes Seiendes verweist, sondern das Medium, in dem etwas an ihm selbst, unverstellt begegnen kann. Dagegen verweist die Röte der Wangen als ein Seiendes auf ein anderes Seiendes, die Krankheit.« 84 Es muss betont werden, dass Sein bei Heidegger durchaus nicht als Licht verstanden werden darf, sondern nur als die Lichtung, wo das Helle und Dunkel zusammenspielen. Davon abgesehen rückt dieser Vergleich den Kern von Heideggers Phänomenologie des »Sinnes von Sein« in den Vordergrund: »Phänomenologisch« heißt ontologisch nach der Möglichkeit der Offenbarkeit des Seienden an ihm selbst bzw. nach dem Grund seiner Verstehbarkeit, d. h. genau nach dem Sinn zu fragen, und nicht ontisch nach einem anderen Seienden oder der Ursache des Seienden. Damit gelangen wir nun zu unserem Ziel: Phänomenologisch nach der Phänomenalität des Phänomens zu fragen, bedeutet zugleich: Ontologisch nach dem Sinn von Sein zu fragen. Dazu schreibt Heidegger in Sein und Zeit: »Und wenn wir nach dem Sinn von Sein fragen, dann wird die Untersuchung nicht tiefsinnig und ergrübelt nichts, was hinter dem Sein steht, sondern fragt nach ihm selbst, sofern es in die Verständlichkeit des Daseins hereinsteht. Der Sinn von Sein kann nie in Gegensatz gebracht werden zum Seienden oder zum Sein als tragenden ›Grund‹ des Seienden, weil ›Grund‹ nur als Sinn zugänglich wird, und sei er selbst der Abgrund der Sinnlosigkeit.« 85
Nach dem Sinn von Sein fragen, bedeutet nicht nach Ursache oder Zweck oder einem verwiesenen Gegenstand des Seins fragen, sondern »nach ihm selbst, sofern es in die Verständlichkeit des Daseins hereinsteht«. Sein als die Phänomenalität des Seienden bedeutet auch nicht Ursache oder hinter-stehender Grund des Seienden, sondern nur die Ermöglichung des Sichzeigens des Seienden, die im Seinsverständnis des Daseins hereinsteht. »Das Sein in seinem Sinn aufklären bedeutet, nach dem Grund (genauer wäre: transzendentalen Horizont) seiner Verstehbarkeit fragen.« 86 Sofern es sich bei dem Sinn aber zurückgeworfen auf die allgemeinere Frage nach der inneren Möglichkeit eines Offenbarmachens überhaupt von Seiendem als solchem.«, Heidegger, GA 3, S. 10. 84 Marion Heinz, Zeitlichkeit und Temporalität, Würzburg 1982, S. 11. 85 Heidegger, Sein und Zeit, S. 152. 86 Marion Heinz, Zeitlichkeit und Temporalität, S. 42.
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Phänomenologie des »Sinnes von Sein«
von Sein immer um das Seinsverständnis des Daseins handelt, müssen wir uns im nächsten Schritt dem Problem des Vorrangs des Daseins für die Seinsfrage zuwenden. Wie oben schon angedeutet wurde, hat die Seinsfrage ihre einheitliche formale Struktur, die ein Dreifaches ist: 1. Das Gefragte: das Sein (von Seiendem); 2. Das Befragte: das Seiende selbst; 3. Das Erfragte: der Sinn von Sein. Nach der obigen Erörterung des Gefragten und des Erfragten, soll nun das Befragte erläutert werden. Seiendes ist alles, was ist. Aber an welchem Seienden soll der Sinn von Sein abgelesen werden, von welchem Seienden soll die Erschließung des Seins ihren Ausgang nehmen? Die Antwort lautet für Heidegger: das Dasein. »Das Dasein ist ein Seiendes, das nicht nur unter anderem Seienden vorkommt. Es ist vielmehr dadurch ontisch ausgezeichnet, dass es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst geht. Zu dieser Seinsverfassung des Daseins gehört aber dann, dass es in seinem Sein zu diesem Sein ein Seinsverhältnis hat. Und dies wiederum besagt: Dasein versteht sich in irgendeiner Weise und Ausdrücklichkeit in seinem Sein. Diesem Seienden eignet, dass mit und durch sein Sein dieses ihm selbst erschlossen ist. Seinsverständnis ist selbst eine Seinsbestimmtheit des Daseins. Die ontische Auszeichnung des Daseins liegt darin, dass es ontologisch ist.« 87
Aus dieser Hauptcharakterisierung des Daseins in § 4, »Der ontische Vorrang der Seinsfrage«, von Sein und Zeit kann ausdrücklich oder unausdrücklich ein dreifacher Vorrang des Daseins in Betracht gezogen werden 88: 1.) Das Dasein hat einen »ontischen Vorrang« vor anderem Seienden, weil nur das Dasein ein Seinsverständnis hat, und dies bedeutet, dass es ihm in seinem Sein (seiner Existenz) um dieses Sein selbst geht; 2.) Das Dasein hat einen »ontologischen Vorrang«, weil Seinsverständnis selbst eine Seinsbestimmtheit des Daseins ist. Mit anderen Worten: Dasein versteht immer schon, selbst wenn auch nur unausdrücklich, weil unthematisch, Sein. Seinsverständnis gehört wesentlich zur Existenz, d. h. Seinsverfassung des Daseins. Das Dasein ist in seiner ontischen Existenz immer schon so und so ontologisch 89; 3.) Das Dasein hat außerdem auch einen »onHeidegger, Sein und Zeit, S. 12. Zur dem Dreifachen des Vorrangs des Daseins siehe: Heidegger, Sein und Zeit, S. 13; Vgl auch: Ralf Becker, Sinn und Zeitlichkeit, Würzburg 2003, S. 148. 89 Vgl. Heidegger, »Dasein ist auf dem Grunde seiner Existenzbestimmtheit an ihm 87 88
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»Sinn von Sein« und das Da-sein
tisch-ontologischen« Vorrang, weil es in seinem Sein (seiner Existenz) nicht nur um das Sein selbst, sondern auch zugleich um das Sein des Daseins selbst und das Sein alles anderen Seienden geht. Das »Auszeichnende des Daseins liegt darin, dass es Sein-verstehend zu Seiendem sich verhält«. 90 Das Seinsverständnis und das Sichverhalten zum anderen Seienden sind gleichursprünglich. Und ganz wichtig: Das Seinsverständnis bedeutet zunächst auch das Verstehen des eigenen Seins des Daseins selbst: »Das Seinsverständnis begreifen heißt aber, das Seiende zunächst verstehen, zu dessen Seinsverfassung das Seinsverständnis gehört, das Dasein.« 91 In dem Seinsverständnis und im Sichverhalten zum anderen Seienden ist die Selbstheit des Daseins auch miterschloßen. Sofern das Dasein als das grundsätzlich vorgängig auf sein Sein zu befragende Seiende solchen dreifachen Vorrang hat, muss eine Fundamentalontologie, die in der existenzialen Analytik des Daseins gesucht wird, notwendig entspringen können. Die Fundamentalontologie bringt sich vor das Kardinalproblem, die Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt. Um den Sinn von Sein zu erreichen, müssen wir einen Umweg nehmen, nämlich nicht direkt zum Sein selbst, sondern indirekt durch die existenziale Analytik des Daseins, weil das Sein nur an dem Dasein als einem ausgezeichneten, exemplarischen Seienden abzulesen ist. Im Hinblick auf die Fundamentalontologie und den dreifachen Vorrang des Daseins gelangt Heidegger auch zu der Auffassung, dass es Sein nur deswegen gibt, weil das Dasein ist. Wir können solche Formulierungen häufig in Sein und Zeit und Die Grundprobleme der Phänomenologie finden: »Allerdings nur solange Dasein ist, das heißt die ontische Möglichkeit von Seinsverständnis, ›gibt es‹ Sein. Wenn Dasein nicht existiert, dann ›ist‹ auch nicht ›Unabhängigkeit‹ und ist auch nicht ›An-sich‹.« 92 »Sein – nicht Seiendes – ›gibt es‹ nur, sofern Wahrheit ist. Und sie ist nur, sofern und solange Dasein ist.« 93
selbst ›ontologisch‹«, Sein und Zeit, S. 13; »Das Dasein ist das Seiende, zu dessen Existenz Seinsverständnis gehört«, GA 24, S. 444. 90 Heidegger, Vom Wesen des Grundes, S. 134. 91 Heidegger, GA 24, S. 322. 92 Heidegger, Sein und Zeit, S. 212. 93 Ebd., S. 230.
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Phänomenologie des »Sinnes von Sein«
»Sein gibt es nur, wenn Erschloßenheit ist, d. h. wenn Wahrheit ist. Wahrheit ist nur, wenn ein Seiendes existiert, das aufschließt.«. 94
Solche Formulierungen lassen sich durchaus nicht so verstehen, als ob das Sein und das Sein des anderen Seienden abhängig von dem Dasein wären, sondern nur: Hinsichtlich dessen, dass nur Dasein in seiner Existenz das Sein versteht, setzt jedes Seinsverständnis schon das Sein des Daseins, Sein im Da, voraus. Weil Sein immer Sein eines Seienden ist, kann vom Sein nur gesprochen werden, wenn Seiendes erschlossen ist. Ferner: Nur wenn das erschließende Dasein ist, kann etwas erst entdeckt werden. Es ist bei Heidegger ganz deutlich, dass das Dasein kein reines Ich ist, weil In-der-Welt-sein und Mitsein die Wesensbestimmung des Daseins sind. Eine konstruktivistische Ansicht ist dies demnach nicht. Dennoch scheint es so zu sein, dass das Dasein einen gewißen Vorrang vor dem Sein hat, zumindest in der Hinsicht auf die Erschließung der Wahrheit. Die Auffassung, dass das Dasein den Vorrang vor dem Sein haben könnte, wird aber kaum mit dem Denkprinzip Heideggers vereinbar sein, dass das Sein dasjenige ist, was alles Seiende zum Seienden macht und dass das Sein nie durch das Seiende erklärt werden kann. Wir können daraus erkennen, dass in Sein und Zeit eine schwebende Unklarheit darüber besteht, ob Dasein auch einen Vorrang vor dem Sein hat. Das Dasein hat offenbar ontisch und ontisch-ontologisch einen Vorrang gegenüber dem anderen Seienden, aber es ist nun fragwürdig geworden, wo die Grenze des Vorrangs des Daseins besteht und ob es auch einen ontologischen Vorrang gegenüber dem Sein selbst hat. Nach der Kehre ist Heidegger sich darüber klargeworden, dass es ganz falsch sei, zu sagen, dass das Dasein gegenüber dem Sein den Vorrang habe. Die Tatsache ist nun, dass das Sein gegenüber dem Dasein den Vorrang hat. Dementsprechend ist die Notwendigkeit der Fundamentalontologie auch nach der Kehre selbst in Frage gestellt. Da Heideggers Ziel es ist, nach dem Sein selbst zu fragen (»die Ausarbeitung der Seinsfrage überhaupt« 95), ist er allmählich der Überzeugung immer nähergekommen, dass das Denken direkt seinen Ausgang vom Sein selbst nehmen muss und kann, anstatt durch einen Umweg über das Dasein. Ein Umweg wäre selbst auch ein Versäumnis des Seins selbst. 94 95
Heidegger, GA 24, S. 25. Heidegger, Sein und Zeit, S. 436.
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»Sinn von Sein« und das Da-sein
Es ist zu beachten, dass Heideggers Zweifel an dem Vorrang des Daseins in der Tat schon in Sein und Zeit angedeutet ist. In der Privatausgabe des Buches fügt Heidegger eine Bemerkung zur »Exemplarität« des Daseins in § 2 hinzu: »Mißverständlich. Exemplarisch ist das Dasein, weil es das Bei-spiel, das überhaupt in seinem Wesen als Da-sein (Wahrheit des Seins wahrend) das Sein als solches zu- und bei-spielt – ins Spiel des Anklangs bringt.« 96
Diese Interpretation über die Exemplarität des Daseins hängt eng mit der obigen Erklärung der Wurzel des Vorrangs des Daseins zusammen. Nur weil das Dasein in seinem Wesen das Sein als solches zuund bei-spielt, d. h. es ins Spiel bringt, kann das Dasein als ein Beispiel, ein ausgezeichnetes exemplarisches Seiendes sein. Die Exemplarität kommt in der Tat ursprünglich aus dem Sein selbst und nicht aus dem Dasein. Auch zu dem Satz:»um damit der auf dieses Seiende gerichteten Ontologie die angemessene Basis zu versagen« in § 63 ist eine ganz wichtige hinzufügte Bemerkung überliefert: »Schief! Als könnte aus der echten Ontik die Ontologie abgelesen werden. Was ist denn echte Ontik, wenn nicht echt aus vor-ontologischem Entwurf – wenn schon das Ganze in dieser Unterscheidung bleiben soll.« 97
Heidegger verneint nun deutlich, dass das Sein selbst an einem Seienden, sogar auch an dem »eigentlichen« Dasein (echter Ontik) abgelesen werden kann. Diese neue Auffassung steht ganz im Gegensatz zu dem Ausgangspunkt in § 2 von Sein und Zeit »An welchem Seienden soll der Sinn von Sein abgelesen werden, von welchem Seienden soll die Erschließung des Seins ihren Ausgang nehmen?« 98. Das Sein ist schlechthin anders als das Seiende und die ontologische Differenz ist eine absolute, es gibt dazwischen keine Möglichkeit der Überbrückung. In diesem Sinne ist das Sein nie an einem Seienden abzulesen, seine radikale Andersheit gegenüber dem Seienden ist nie zu überbrücken. Sein soll nicht abgelesen werden aus der echten Ontik, d. h. aus der Eigentlichkeit des Daseins, sondern umgekehrt, das 96 97 98
Heidegger, GA 2, S. 9. Heidegger, GA 2, S. 412. Heidegger, Sein und Zeit, S. 7.
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Phänomenologie des »Sinnes von Sein«
Dasein kann nur deswegen eigentlich sein, weil es auf das Sein als solches entwirft. Jean-Luc Marion geht davon aus, dass aus dieser hinzugefügten Bemerkung noch eine andere Schlussfolgerung gezogen werden kann, nämlich: Heidegger meint damit auch, dass die Ontologie (das Sein) im radikalsten Sinne von gar keiner Ontik (das Seiende) abhängt, aber alles Seiende von dem Sein selbst abhängen muss. 99 Damit will Marion betonen, dass nur ein »unsymmetrisches« Verhältnis von Sein zu Seiendem uns dazu verhilft, das Phänomen des Seins selbst zur Aufweisung bringen zu können. Es ist schon offensichtlich, dass das Seiende ohne das Sein gar nicht wesen kann. Aber dazu, ob auch das Umgekehrte gilt, ob es auch Seiende geben muss, damit wir Sein als Sein verstehen können, äußert sich Heidegger im Nachwort zu: »Was ist Metaphysik?« zu verschiedenen Zeiten seines Schaffens unterschiedlich: »wenn anders zur Wahrheit des Seins gehört, dass das Sein nie (wohl) west ohne das Seiende, dass niemals ein Seiendes ist ohne das Sein.« 100
Heidegger hat im Jahr 1943, in der vierten Auflage von diesem Nachwort, diesen wichtigen Satz so modifiziert: »wenn anders zur Wahrheit des Seins gehört, dass das Sein wohl west ohne das Seiende, dass niemals ein Seiendes ist ohne das Sein«. Das ist ein Beweis dafür, dass Heidegger nach Sein und Zeit zu der Auffassung gekommen ist, dass Sein ohne das Seiende auch wesen kann, d. h. dass eine ontologische Phänomenologie ohne die Rücksicht auf eine Ontik auch möglich ist. Marion hält diese neue Auffassung Heideggers für »einen entscheidenden Fortschritt und ein neuer Ehrgeiz« 101. Das ist eigentlich eine Umkehrung von dem Denkprinzip in Sein und Zeit, dass »Sein immer jeweils das Sein eines Seienden ist«. 102 Marion glaubt daran, dass diese Umkehrung der mutigste Versuch sei, den Heidegger nach Sein und Zeit je unternommen habe, um das Phänomen des Seins selbst ans Licht zu bringen. Es scheint so, dass Heideggers Vortrag Zeit und Sein (1962) diese Einstellung teilen würde:
Jean-Luc Marion, Reduction and Givenness, S. 140. Heidegger, Nachwort zu: »Was ist Metaphysik?«, S. 306. 101 Jean-Luc Marion, Reduction and Givenness, S. 168. 102 Heidegger, Sein und Zeit, S. 9, siehe auch S. 37; siehe auch den Anfang dieses Unterkapitels 99
100
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»Sinn von Sein« und das Da-sein
»Es gilt, einiges von dem Versuch zu sagen, der das Sein ohne die Rücksicht auf eine Begründung des Seins aus dem Seienden denkt. Der Versuch, Sein ohne das Seiende zu denken, wird notwendig.« 103
Trotzdem müssen wir im Auge behalten, dass Heidegger im Jahr 1949 in der fünften Auflage vom Nachwort zu: »Was ist Metaphysik?« dieses unsymmetrische Verhältnis von Sein zu Seienden wieder negiert und auf die ursprüngliche Einstellung von dem symmetrischen Zusammengehören von Sein und Seienden zurückgekommen ist: dass das Sein nie ohne das Seiende west. Wir können zusammenfassend sagen, dass dies Heideggers endgültige Interpretation des Verhältnisses von Sein und Seiendem ist. Denn wenn Heidegger später über die Identität und Differenz denkt, ist seine Auffassung, dass »die Differenz dem Wesen der Identität entstammt« 104 und die Identität bedeutet ein Zusammengehören des Verschiedenen. Später versucht Heidegger zwar, »das Sein ohne das Seiende zu denken«, aber dies ist nicht identisch mit dem, dass das Sein sachlich ohne das Seiende wesen kann. Tatsache ist, dass Heidegger zwar nach der Kehre das Sichereignen des Seins selbst als sein leitendes Denkprinzip charakterisiert, aber das Zusammengehören von Sein und Dasein zugleich auch immer hervorhebt. Was im Vordergrund steht, ist eigentlich nicht mehr, ob Sein oder Dasein einen Vorrang hat, sondern das Zusammengehören von Sein und Menschen. Damit wurde ein neues Verständnis des Daseins bereits angedeutet.
5.3. Vertiefte Definition des Daseins: Da-sein als Offen-sein für das Ganze Wie oben gezeigt wurde, lautet Heideggers grundsätzliche Kritik an Husserls Phänomenologie, dass es bei Husserl sowohl das Versäumnis des Seins des Daseins als auch des Sinnes von Sein als solchen gibt. Indem Heidegger durch seine eigene phänomenologische Reduktion das Sein des Seienden und ferner das Sein selbst (als solches) wiedergewinnt, geht seine neue Phänomenologie mit der Ontologie in eins. Weil die Leitfrage der Ontologie: »was besagt das Sein?« auch ein fragendes Seiendes, nämlich das Dasein betreffen muss und das Erfragte »Sinn von Sein« an diesem fragenden Seienden abgelesen 103 104
Heidegger, Zeit und Sein, S. 5. Heidegger, Der Satz der Identität, in: GA 11, S. 29.
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Vertiefte Definition des Daseins: Da-sein als Offen-sein für das Ganze
werden soll und kann, wird zuerst eine Fundamentalontologie als die ontologische Analytik des Daseins »notwendig«. 105 Mit anderen Worten: Die Fragestellung nach dem Sinn von Sein verlangt zuerst eine vorgängige angemessene Explikation des Daseins hinsichtlich seines Seins. Das ist sozusagen das Programm des Werks Sein und Zeit. Heideggers Hauptcharakterisierungen des Daseins in diesem Werk lassen sich so darstellen: 1.) Das Dasein ist das Seiende, »das wir, die Fragenden, selbst je sind.« 106 2.) »Das Dasein […] ist dadurch ontisch ausgezeichnet, dass es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst geht. Zu dieser Seinsverfassung des Daseins gehört aber dann, dass es in seinem Sein zu diesem Sein ein Seinsverhältnis hat […] Seinsverständnis ist selbst eine Seinsbestimmtheit des Daseins. Die ontische Auszeichnung des Daseins liegt darin, dass es ontologisch ist.« 107 3.) »Das Sein selbst, zu dem das Dasein sich so oder so verhalten kann und immer irgendwie verhält, nennen wir Existenz.« 108 4.) »Das ›Wesen‹ dieses Seienden [des Daseins] liegt in seinem Zusein. Das Was-sein (essentia) dieses Seienden muss, sofern überhaupt davon gesprochen werden kann, aus seinem Sein (existentia) begriffen werden.« 109 5.) »Das Sein, darum es diesem Seienden in seinem Sein geht, ist je meines.« 110 6.) »Das In-der-Welt-sein überhaupt als Grundverfassung des Daseins«. 111 7.) »Worumwillen und Bedeutsamkeit sind im Dasein erschlossen, besagt: Dasein ist Seiendes, dem es als In-der-Welt-sein um es selbst geht.«; bzw. »Es ist Seiendes, dem es in seinem Sein um das eigenste Seinkönnen geht.« 112
105 106 107 108 109 110 111 112
Ebd., S. 37. Ebd., S. 7. Ebd., S. 12. Ebd., S. 12. Ebd., S. 42. Ebd., S. 42. Ebd., S. 52. Ebd., S. 143, S. 228.
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»Sinn von Sein« und das Da-sein
Liest man sorgfältig genug, kann man darin eine wesentliche Unvereinbarkeit herausfinden: Einerseits betont Heidegger, dass es in der Existenz (das Wie, und nicht Was-sein) des Daseins immer um sein eigenes Sein, d. h. seine Eigentlichkeit geht. Das Dasein ist dadurch vor allem von dem Vorhandenen darin zu unterscheiden, dass es sich verstehen und in seinen Möglichkeiten sich selbst »wählen« kann, während dem Vorhandenen sein Sein »gleichgültig« ist, oder genauer gesagt: Ob »gleichgültig« oder »ungleichgültig« stellt sich ihm niemals als eine Frage, weil es sich überhaupt nicht verstehen kann. Dennoch betont Heidegger andererseits zugleich, dass das Dasein in seinem Sein ein Seins-Verständnis hat. Dieses Seins-Verständnis bezieht sich nicht nur auf das eigene Sein des Daseins, sondern auch vor allem das Sein als solches. Dabei ist mitgesagt, dass das Dasein auch das Sein des anderen Seienden, d. h. des anderen Daseins und des undaseinsmäßigen Seienden verstehen kann. Wenn Heidegger in § 4 über den dreifachen Vorrang des Daseins nachdenkt, hat er schon auf dieses dreifache Seinsverständnis hingewiesen, nämlich Verständnis des Seins des Daseins selbst (ontischer Vorrang), Verständnis des Seins als solchen (Sein selbst) (ontologischer Vorrang), Verständnis des Seins des anderen Seienden (ontisch-ontologischer Vorrang). Diese Unvereinbarkeit von Sich-selbst-verstehen und Seinsverstehen hängt eng mit der oben erörterten Fragwürdigkeit des Vorrangs des Daseins zusammen. Sie ist der eigentliche Grund dafür, warum Heidegger in Sein und Zeit eine schwebende Einstellung davon hat, ob Dasein oder Sein den Vorrang hat. Heidegger geht zuerst davon aus, dass Sein an dem fragenden Dasein »abzulesen« ist und behauptet dann: »Nur solange Dasein ist, gibt es Sein«. 113 In dieser Hinsicht hat das Dasein einen deutlichen Vorrang gegenüber Sein. Aber am Ende von Sein und Zeit behauptet er den Vorrang des Seins, statt des Daseins: »Die vorgängige, obzwar unbegriffliche Erschlossenheit von Sein ermöglicht, dass sich das Dasein als existierendes In-der-Welt-sein zu Seiendem, dem innerweltlich begegnenden sowohl wie zu ihm selbst als existierendem verhalten kann.« 114
113 114
Vgl. Ebd., S. 7, 212. Ebd., S. 437.
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Vertiefte Definition des Daseins: Da-sein als Offen-sein für das Ganze
Diese Behauptung macht deutlich, dass das Seinsverstehen vor dem Sich-selbst-verstehen und Anderes-Seiendes-verstehen vorausgeht. Das vorgängige, obzwar unbegriffliche Verständnis des Seins selbst ermöglicht das Sichverhalten des Daseins sowohl zu sich selbst als auch zu anderen Seienden. Und wenn Heidegger in seiner Privatausgabe des Buches die Bemerkung »Schief! Als könnte aus der echten Ontik die Ontologie abgelesen werden.« 115zu § 63 hinzugefügt verweigert er sogar die Möglichkeit, dass das Sein selbst an dem Dasein bzw. an der Eigentlichkeit des Daseins abgelesen werden kann, was in dem Ausgangspunkt ein grundsätzliches Denkmotiv war. Zu dieser Unklarheit des Verhältnisses von Sein zu Dasein gibt Heidegger nach der Kehre im Brief über den »Humanismus« eine endgültige Erklärung: »Aber ist nicht in ›S. u. Z.‹ (S. 212), wo das ›es gibt‹ zur Sprache kommt, gesagt: ›Nur solange Dasein ist, gibt es Sein‹ ? Allerdings. Das bedeutet: nur solange die Lichtung des Seins sich ereignet, übereignet sich Sein dem Menschen. Dass aber das Da, die Lichtung als Wahrheit des Seins selbst, sich ereignet, ist die Schickung des Seins selbst.« 116
Die endgültige Lösung zu diesem Problem lässt sich so auffassen: Heidegger schafft einen Boden für diesen Vorrang des Da-seins (»Nur solange Dasein ist, gibt es Sein«), nämlich das Sichereignen des Seins selbst. »Nur solange die Lichtung des Seins sich ereignet, übereignet sich Sein dem Menschen«, d. h. der Mensch hat sein Wesen dadurch dass er von dem Sein selbst übereignet ist. Dass Da-sein »ist«, hat schon impliziert, dass der Mensch im Da steht. Was ist aber dieses »Da«? Es ist »die Lichtung als Wahrheit des Seins selbst, die Schickung des Seins selbst«, anstatt des Seins des Menschen. Der Mensch kann also nur Da-sein sein, sofern er in dem Sichereignen des Seins übereignet ist. Der Vorrang des Menschen oder Daseins ist eigentlich fundiert im Sichereignen des Seins selbst. »Dabei ist das reflexive Verb ›sich ereignen‹ nicht nur intransitiv, sondern auch transitiv zu verstehen, das heißt: es bedeutet ebenso, ›etwas ereignet sich‹ wie ›etwas ereignet sich ein anderes‹ (macht es sich zueignen). Allein aufgrund dieser grammatikalischen Ambiguität von ›Ereignis‹ sind also zwei Aspekte zu diskutieren: wer oder was macht sich wen oder was zueignen.« 117 Daraus ist ersichtlich, dass das Sichereignen 115 116 117
Heidegger, GA 2, S. 412. Heidegger, Brief über den »Humanismus«, S. 336. Ralf Becker, Sinn und Zeitlichkeit, S. 175.
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»Sinn von Sein« und das Da-sein
des Seins selbst und sein Übereignen des Menschen nicht Geschehnisse nacheinander sind, sondern nur ein Geschehnis. Damit ist die Unvereinbarkeit von dem Sich-selbst-verstehen des Daseins und dem Seinsverstehen in Sein und Zeit im Grunde überwunden. Sich-selbstverstehen und Seinsverstehen sind nun in dieser neuen Hinsicht nicht zwei verschiedene Verstehensvollzüge, sondern sie fallen in eins. Heidegger hat genau dies nach Sein und Zeit durch eine folgende Selbstinterpretation zum Ausdruck gebracht: »Die Bestimmung ›je meines‹ besagt: Das Dasein ist mir zugeworfen, damit mein Selbst das Dasein sei. Dasein aber heißt: Sorge des in ihr ekstatisch erschlossenen Seins des Seienden als solchen, nicht nur des menschlichen Seins. Dasein ist ›je meines‹ ; dies bedeutet weder: durch mich gesetzt, noch: auf ein vereinzeltes Ich abgesondert. Das Dasein ist es selbst aus seinem wesenhaften Bezug zum Sein überhaupt. Dies meint der in »Sein und Zeit« oft gesagte Satz: Zum Dasein gehört Seinsverständnis.« 118
Das Dasein wirft mir zu, und ich bin dadurch mein Selbst, dass ich in dem Da-sein einen Bezug zum Sein nehme. Da-sein ist »je meines« besagt gar nicht: Dasein ist durch mich gesetzt, oder es ist das Produkt meines Denkens, ebensowenig ich bin da allein als ein isoliertes Subjekt. Da-sein meint nun eigentlich das Zusammengehören von Menschen und Sein bzw. eine untrennbare Zusammengehörigkeit von Sich-selbst-verstehen und Seinsverstehen. Der Mensch kann sich nur verstehen, wenn er zugleich auch das Ganze des Seienden als solches versteht. 119 Die Frage, ob Dasein oder Sein Vorrang hat, steht deswegen gar nicht mehr im Vordergrund. Was neu in den Vordergrund kommt, ist das Zusammengehören von Sein und Menschen. Mensch und Sein gehören sowohl in der Existenzialontologie als auch im Ereignisdenken zusammen. In der Marburger Vorlesung 1928 Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz behauptet Heidegger:
Heidegger, GA 40, S. 31. Fink hat dies auch durchaus gesehen. Eugen Fink: »Weltbezug und Seinsverständnis«, in: Nähe und Distanz, Phänomenologische Vorträge und Aufsätze, Freiburg/ München, 2004, S. 269: »Der Mensch kann ›sich‹ nur fassen, wenn er zugleich ›alles, was ist‹ in den Blick nimmt, er ist das Lebewesen, das die Welt verstehend bewohnt. Es wäre absurd, einen ›Humanismus‹ ohne die Weltoffenheit des Menschentums formulieren zu wollen.« 118 119
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Vertiefte Definition des Daseins: Da-sein als Offen-sein für das Ganze
»Das Verstehen von Sein ist nicht eine Ausstattung unter anderen, sondern die Grundbedingung der Möglichkeit des Daseins als solchen. Weil zur Wesensverfassung des Menschen gehört, Sein zu verstehen, ist die Frage nach dem Sein in der genannten Weise eine, ja die Frage nach dem Menschen selbst … Die Grundfrage der Philosophie, die Frage nach dem Sein, ist in sich selbst die rechtverstandene Frage nach dem Menschen.« 120
Während in der Existenzialontologie die Perspektive des Daseins als Seins des Menschen, seine Entwurfsstruktur und Aktivität, im Vordergrund steht, rückt mit der Kehre das Sich-ereignen des Seins selbst in den Vordergrund und bildet gewissermaßen dann selbst den Ausgangspunkt ontologischer Reflexion. Während in der Existenzialontologie das Wesen des Menschen in der Existenz, das heißt eigentlich in dem durch sein existenziales Verstehen hergestellten Bezug zum Sein liegt, bezeichnet Heidegger im Ereignisdenken das Wesen des Menschen als Denken. Das Denken ist nicht ein vorstellendes Verhalten, und dass das Denken sich zu dem Ding verhalten kann, hat schon vorausgesetzt, dass »es im Offenen steht« 121, oder mit Finks Wort, dass »das Ding auch uns entgegenkommt« 122. Das Denken hat das Sein nicht erzeugt oder gesetzt, sondern es nur gesehen oder möchte es sehen. In diesem Sinne ist das Denken nicht mehr vor allem eine subjektive Aktivität des Produzierens, sondern vielmehr eine Antwort auf den Anspruch des Seins, wie Heidegger sagt: »Aber das Sein ist kein Erzeugnis des Denkens. Wohl dagegen ist das wesentliche Denken ein Ereignis des Seins. Dieses Denken antwortet dem Anspruch des Seins, indem der Mensch sein geschichtliches Wesen dem Einfachen der einzigen Notwendigkeit überantwortet, die nicht nötigt, indem sie zwingt, sondern die Not schafft, die sich in der Freiheit des Opfers erfüllt.« 123
Denken ist ein Sich-Einlassen auf das Ereignis des Seins. Denken ist wesentlich ein Antworten. Das Sein selbst ruft und spricht das Dasein 120 Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz (1928), S. 20. 121 Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, S. 184. »Alles Verhalten aber hat seine Auszeichnung darin, dass es, im Offenen stehend, je an ein Offenbares als ein solches sich hält.« 122 Eugen Fink, Sein, Wahrheit, Welt, S. 131. »Zum Ding können wir uns nur so verhalten, dass wir uns auf die Weise einlassen, wie es uns entgegenkommt. Alles Seiende kennen wir einzig aus seinem Entgegenkommen.« 123 Heidegger, Nachwort zu »Was ist Metaphysik?«, in: GA 9, S. 308 f.
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»Sinn von Sein« und das Da-sein
an, d.h das Ereignis als das Sein übereignet dem Menschen das Denken und dieses Denken antwortet dem Anspruch des Seins. Laut dem späten Heidegger hat das Denken eine wesentliche Passivität, was sich deutlich von Kants idealistischer Theorie unterscheidet, dass das Denken ein Actus der »Spontaneität« ist, weil die vernünftigen Menschen mit den Begriffen aktiv die Gegenstände zu erkennen vermögen, im Gegensatz zu der Sinnlichkeit und der sinnlichen Anschauung, welche ein Actus der Rezeptivität ist. Wonach und worüber man denkt, ist nicht mehr ein Gegenstand zum Erkennen, also nicht mehr ein Seiendes, sondern das Sein selbst. 124 Denken bedeutet nicht mehr ein Wissenwollen, eine Suche nach der apriori Bedingung des Gegenstandes der Erfahrung, sondern vielmehr ist das Denken ein Antworten von dem Dasein auf das Sein. Daraus wird deutlich: Zwischen Mensch und Sein gibt es immer eine Interaktion, ein ZusammenSpiel, und genau diese Interaktion und dieses Zusammen-Spiel baut das Offene für alle Anwesenheit und Abwesenheit auf. Heidegger charakterisiert dieses Verhältnis von Menschen und Sein nach der Kehre sehr klar in dem Vortrag Der Satz der Identität (1957): »Sein west und währt nur, indem es durch seinen Anspruch den Menschen an-geht. Denn erst der Mensch, offen für das Sein, lässt dieses als Anwesen ankommen. Solches An-wesen braucht das Offene einer Lichtung und bleibt so durch dieses Brauchen dem Menschenwesen übereignet. Dies besagt keineswegs, das Sein werde erst und nur durch den Menschen gesetzt. Dagegen wird deutlich: Mensch und Sein sind einander übereignet. Sie gehören einander.« 125
Wenn Denken immer ein Denken über oder von etwas ist, was außerhalb von mir ist, dann bedeutet das Denken immer eine ursprüngliche Transzendenz. Wenn man denkt, hat man, laut Heidegger, immer schon das Sein verstanden und die Welt im Ganzen erschloßen. Hier gibt es aber noch eine tiefgehende Reflexion: Warum kann das Dasein überhaupt transzendieren? Heideggers Antwort ist: »Sein ist das transcendens schlechthin« 126, und es geht den Menschen durch den Anspruch an. Das Sein ruft den Menschen an, offen für sein Anwesen 124 Über dieses Thema ist ein schöner Satz von Heidegger am Ende des Texts von Brief über den Humanismus von großer Bedeutung, »Das Denken ist auf dem Abstieg in die Armut seines vorläufigen Wesens. Das Denken sammelt die Sprache in das einfache Sagen. Die Sprache ist so die Sprache des Seins, wie die Wolken die Wolken des Himmels sind«, in: GA 9, S. 364. 125 Heidegger, Der Satz der Identität, S. 39 f.; (Hervorhebung von mir.) 126 Heidegger, Brief über den »Humanismus«, S. 337.
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Vertiefte Definition des Daseins: Da-sein als Offen-sein für das Ganze
und Abwesen (sowie für die Offenbarung des Seienden im Ganzen) zu sein, damit der Mensch überhaupt transzendieren kann. Das Sein ist die Lichtung selbst, es lichtet sich dem Menschen im ekstatischen Hinausgehen. Der Werfende im Entwurf ist nicht der Mensch, sondern das Sein selbst, das den Menschen in die Ek-sistenz des Da-seins als sein Wesen schickt. Somit übereignet Sein sich dem Menschen und Menschen und Sein gehören zueinander. Die Bedeutung des Da-seins muss damit nun vertieft verstanden werden: Es heißt nicht mehr bloß dasjenige Seiende wie wir Menschen, das existiert, sondern vielmehr das Offene, wo die Interaktion und das ZusammenSpiel zwischen Mensch und Sein sich vollzieht, mit einem Wort, wo Mensch und Sein ins Zusammengehören gehen können. Und dieses Zusammen-Spiel lässt sich so beschreiben: Das Sein geht einerseits den Menschen durch seinen Anspruch an, es übereignet sich dem Menschen in dem Offenen (Da) der Lichtung; der Mensch ist andererseits »offen für das Sein«, damit lässt er das Sein als Anwesen ankommen. Diese vertiefte Definition des Da-seins, nämlich als in einem Offenen sein, wo der Menschen und Sein zusammengehören, müssen wir nun noch an Heideggers Texten verdeutlichen. Heidegger hat dies am deutlichsten in der Einleitung zu: »Was ist Metaphysik?« (1949) zum Ausdruck gebracht: »Um sowohl den Bezug des Seins zum Wesen des Menschen als auch das Wesensverhältnis des Menschen zur Offenheit (›Da‹) des Seins als solchen zugleich und in einem Wort zu treffen, wurde für den Wesensbereich, in dem der Mensch als Mensch steht, der Name ›Dasein‹ gewählt.« 127
Das Wort »Dasein« soll nun in der vertieften Definition zwei Verhältnisse in sich vereinigen. Es ist der »Wesensbereich«, der sowohl das »Wesensverhältnis des Menschen zur Offenheit (Da) des Sein als solchen« als auch »den Bezug des Seins zum Wesen des Menschen« zusammenbringt. 128 Mit anderen Worten: Das Da-sein ist eine offene Ortschaft, wo der gegenseitige Bezug zwischen Sein und Menschen sich erhellt, wo Mensch und Sein sich aufeinander beziehen. Die Charakterisierung, dass Da-sein als »eine offene Ortschaft« zu verstehen ist, findet man bei Heidegger an folgenden Stellen:
127 128
Heidegger, Einleitung zu: »Was ist Metaphysik?« S. 372. Vgl. Friedrich von Herrmann, Die Selbstinterpretation Martin Heideggers, S. 26.
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»Sinn von Sein« und das Da-sein
»Vielmehr ist mit ›Dasein‹ solches genannt, was erst einmal als Stelle, nämlich als die Ortschaft der Wahrheit des Seins erfahren und dann entsprechend gedacht werden soll.« 129 »Das Wesen des Menschen ist innerhalb der Seinsfrage gemäß der verborgenen Anweisung des Anfangs als die Stätte zu begreifen und zu begründen, die sich das Sein zur Eröffnung ernötigt. Der Mensch ist das in sich offene Da. In dieses steht das Seiende herein und kommt zum Werk. Wir sagen daher: Das Sein des Menschen ist, im strengen Sinn des Wortes, das ›Da-sein‹.« 130
Der Mensch ist dadurch das Da-sein, dass er in sich »die offene Ortschaft« (Da) ist und damit das Sein zur Eröffnung benötigt. Das ist einerseits aus der Perspektive des Menschen. Und andrerseits aus der Perspektive des Seins: Das Sein ereignet sich im Da-sein, und es übereignet sich zugleich auch dem Menschen. Da-sein bedeutet nicht mehr nur: Ich bin da, du bist da, sondern auch das Sein selbst ereignet sich da. Jedoch ist dieses Verständnis auch noch nicht genug, weil es nicht gut erklären kann, wie das aufeinander beziehende Verhältnis von Sein und Menschen sich vollzieht. Sein und Mensch sind nicht bloß zwei Dinge, die an einer Stelle einander gegenüber stehen, sondern sie müssen vielmehr noch offen für einander sein. Da-sein kann nur dadurch als eine offene Ortschaft sein, dass der Mensch offen für das Sein als solches ist, damit das Sein dem Menschen auch in Offenheit bleibt. Aber wie kann der Mensch in seinem Da-sein für das Sein als solches offen sein? Dafür benötigen wir einen Rückblick auf Heideggers existenziale Analytik des Daseins in Sein und Zeit. »Sein als solches« oder »Sein überhaupt« heißt Sein im Ganzen, nicht nur Sein als Existenz, sondern darüber hinaus Sein alles Seienden, Sein des anderen Daseins, Sein alles nicht-existierenden, nicht-daseinsmäßigen Seienden. Die Erschlossenheit von Sein als solchem besagt: Erschlossenheit von Existenz und Mitexistenz bzw. Mitdasein und ferner Erschlossenheit aller nichtdaseinsmäßigen Seinsweisen. Im Kapitel 3.3 dieser Arbeit haben wir ausführlich gezeigt, dass »Welt« mit »Sein selbst«, »Sein als solches«, oder »Sein überhaupt«, »Sein im Ganzen« gleichbedeutend ist, wenn es um den »betreffenden Gehalt« geht, d. h. abgesehen von der Phänomenalität des Seins. (Die Welt ist immer lichtend und eröffnend, während das Sein in seinem 129 130
Heidegger, Einleitung zu: »Was ist Metaphysik?« (1949), S. 373. Heidegger, Einführung in die Metaphysik, S. 214; (Hervorhebung von mir).
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Vertiefte Definition des Daseins: Da-sein als Offen-sein für das Ganze
Sich-lichten sich zugleich auch entzieht.) Damit wird deutlich: »für das Sein als solches offen sein« besagt offen sein für sein eigenes Sein, und ganz wichtig: darüber hinaus auch für Sein alles anderen Daseins und Sein alles nicht-daseinsmäßigen Seienden. Mit einem Wort: Das Da-sein bedeutet nun für das Ganze offen sein. Es ist noch wichtig zu beachten: »Offen sein für sein eigenes Sein« und »offen sein für Sein alles anderen Daseins, Sein alles nicht-daseinsmäßigen Seienden« sind nicht zwei voneinander trennbare Dinge, sie gehören vielmehr wesentlich zusammen. Das heißt: Nur wenn das Dasein auch für Sein alles anderen Daseins, Sein alles nicht-daseinsmäßigen Seienden offen ist, kann es auch für sein eigenes Sein offen sein. 131 Genau dieses »Offen-sein für das Ganze« macht das Wesen der Transzendenz aus. Heidegger drückt dies im folgenden Text ganz deutlich aus, »Das Dasein ist das Transzendente. […] Die Transzendenz, das Überhinaus des Daseins, ermöglicht es, dass es sich zu Seiendem, sei es zu Vorhandenem, zu Anderen und zu sich selbst, als Seiendem verhält. […] Das Seiende, das wir Dasein nennen, ist als solche offen für… Die Offenheit gehört zu seinem Sein. Es ist sein Da, in welchem es für sich da ist, in welchem Andere mit-da sind und auf welches Da zu da Zuhandene und Vorhandene begegnet.« 132
Das besagt, dass das Da in sich eine zweifach-einige Struktur zeigt: die selbsthaft-ekstatische Erschlossenheit und die horizontale Erschlossenheit des Seins als solchen. Dies hat nicht nur die scheinbare Unvereinbarkeit von Sich-selbst-verstehen und Seinsverstehen in Sein und Zeit überwunden, sondern auch deutlich das Wesen der »Transzendenz« des Menschen zur Erhellung gebracht. Der Mensch, Seiendes entdeckend, verhält sich zu seinem eigenen Sein, und zwar
131 Friedrich von Herrmann hat in seiner Heidegger-Interpretation dies in ähnlicher Weise mit Nachdruck betont: »›Mein‹ Da ist die Erschlossenheit meiner selbsthaftekstatischen Existenz und die Erschlossenheit dessen, wohinein ich mit meiner Existenz entrückt bin. Dieses erschlossene Wohinein ist das Offene der Welt und alles Seins des nichtdaseinsmäßigen Seienden, aus dem des Seiende als Ganzes und als dieses und jenes für mich begegnet. Das existierende Selbst heißt nicht deshalb ›Dasein‹, weil das Da nur das seiner Existenz ist, sondern deshalb, weil es in seiner Existenz die volle, also nicht nur selbsthaft-ekstatische, sondern mit dieser die horizontale Erschlossenheit für Welt und Sein des ganzen Seienden offen hält.« Siehe: Friedrich von Herrmann, »Sein und Zeit und das Dasein«, in: Enrahonar 34, 2002, S. 47–57, Zitate S. 50. 132 Heidegger, GA 24, S. 426; (Hervorhebung von mir.)
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»Sinn von Sein« und das Da-sein
dergestalt, dass der Mensch sich immer schon auf die Ganzheit bezieht, d. h. sich transzendiert. Das Sichbeziehen auf die Ganzheit ist der Bezug des Daseins zur Welt. Das Dasein ist an ihm selbst für es selbst derart gelichtet, dass es sich zugleich zur Welterschlossenheit verhält. In Kapitel 3.2.3 sind wir einer Paradoxie zum Verhältnis von Welt und Dasein begegnet, nämlich: Die Welt als die Ganzheit des Wie ist einerseits relativ auf das Dasein, d. h. die Welt als das Ganze gehört wesentlich dem Dasein zu; aber auf der anderen Seite gehört das Dasein auch der Welt an, es ist in der Welt, die Welt als das Ganze umgreift alles Seiende. Dieses Paradox kann man wie folgt deutlicher umformulieren: Wie kann das Ganze einem Teil dieses Ganzen zugehören? Nun können wir dieses Paradox entschlüsseln. Das Da-sein darf wesentlich nicht bloß als der jeweilige Mensch im Sinne eines vorhandenen Teils von einem Ganzen verstanden werden, sondern es ist vielmehr eine offene Ortschaft, an der die Welt als das Ganze und der Mensch zusammengehören. Dass die Welt als das Ganze dem Da-sein gehört, darf gar nicht bloß ontisch verstanden werden, als ob die Welt ein Eigentum als ein Ding von dem Da-sein wäre. Das ist vielmehr ontologisch gemeint, und zwar, dass die Welt im Ganzen (nur) im Da-sein in Erscheinung bzw. Eröffnung tritt. Zugleich kann die Welt im Ganzen nur deshalb in Erscheinung bzw. Eröffnung treten, weil das Da-sein für das Ganze offen ist. Das Dasein und die Welt gehören in dieser Weise zusammen. Was bedeutet aber »offen sein«? Wenn man vorliegende Arbeit zu Ende liest, wird man das Verständnis gewinnen können, dass »offen sein« als Liebe im ontologischen Sinne des »Sein-lassens« zu verstehen ist, für die einerseits ein »Sich-einlassen auf«, andererseits auch »ein langer und gewaltloser Blick auf« notwendig sind. Liebe ist die ontologische Kraft, die die Differenz in Zusammengehören bringen kann.
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6. Die These »Zeit als der Sinn von Sein« und deren Probleme
6.1. Zeitlichkeit als der Sinn des existenzialen Strukturganzen des Daseins Das Ziel von Sein und Zeit ist »die Ausarbeitung der Seinsfrage überhaupt«. 1 Das Erfragte der Seinsfrage ist der Sinn von Sein. Dazu gehört auch immer das Befragte, nämlich das Seiende selbst. Die Seinsfrage fragt nach dem Gefragten, indem sie etwas oder jemanden befragt. Das Seiende ist alles, was ist. Dennoch geht Heidegger davon aus, dass an einem ausgezeichneten Seienden der Sinn von Sein abgelesen werden sollte. Es ist das Dasein, weil nur es die Seinsfrage stellt und zugleich das Sein als solches und sich selbst verstehen kann. Daher ist die Fundamentalontologie als eine existenziale Analytik des Daseins für das Ziel des Erfragten der Seinsfrage, den Sinn von Sein, notwendig. Sofern die Aufgabe des Werks »die Interpretation der Zeit als des möglichen Horizontes eines jeden Seinsverständnis überhaupt« 2 ist, muss sich das Resultat dieser Interpretation, die Zeit sei der Sinn von Sein, auf zweifache Weise bewähren. Zum einen müssen konstitutive Daseinsstrukturen aus der Zeitlichkeit reinterpretiert werden, wodurch ausgewiesen wird, dass die Zeitlichkeit der Sinn des Seins des Daseins ist. Zum anderen muss gezeigt werden, dass die Zeit der »transzendentale Horizont« der Frage nach dem Sein als solchem ist. 3 Die Grundverfassung des Daseins ist In-der-Welt-sein. Das Inder-Welt-sein als ein Phänomen hat die phänomenale Vielfältigkeit der Verfassung des Strukturganzen: Erstens ist das Dasein immer »schon in« einer Welt, d. h. es ist immer faktisch in eine kulturell überlieferte Umgebung geworfen. 1 2 3
Heidegger, Sein und Zeit, S. 436. Siehe auch S. 1. Ebd., S. 1. Ebd., S. 17–19.
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Die These »Zeit als der Sinn von Sein« und deren Probleme
Diese Geworfenheit macht die Faktizität des Daseins aus, welche zur Priorität und Passivität des Daseins gehört, was es nicht herstellen kann. Wenn das Dasein sich in einer Umgebung befindet, ist es immer schon gestimmt. Das Sein dieser Gestimmtheit nennt Heidegger die »Befindlichkeit«. Zweitens ist das Dasein immer »sich vorweg«. Indem das Dasein immer die Welt in Vor-sicht, Vor-habe und Vor-griff versteht und die existenziellen Möglichkeiten ergreift, geht das Dasein immer über sich hinaus, geht es sich vorweg. Dieses Sich-vorweg-sein bedeutet aber nicht bloß ein Sich-auf-etwas-richten wie bei Husserl, es ist nicht bloß Verhalten zu anderem Seienden, das das Dasein nicht ist, sondern ein Sein zum Seinkönnen, das es selbst ist. Denn es geht dem Dasein in seinem Sein immer um sein selbst, indem das Dasein im Verhalten zu anderem Seienden auch sich selbst versteht. 4 Heidegger nennt das Sein dieses entwerfenden Seinkönnens das »Verstehen«. Drittens ist das Dasein »bei« allem innerweltlichen Seienden. Das Dasein ist in der Alltäglichkeit bei den Dingen, Menschen, an denen es sich unmittelbar orientiert. Es ist in diesem Sinne an die Welt verfallen. Heidegger nennt das Sein dieses »sein-bei« das »Verfallen«. Diese Vielfältigkeit des Strukturganzen von In-der-Welt-sein muss im nächsten Schritt vereinheitlicht werden. Zunächst gilt es deshalb, einsichtig zu machen, was die einheitliche Ganzheit des Strukturganzen von In-der-Welt-sein ausmacht und wie diese Einheit selbst zu charakterisieren ist. Diese einheitliche Ganzheit zu erreichen, ist phänomenal gar nicht »durch ein Zusammenbauen der Elemente« 5 möglich. Wie Husserl in »Zur Lehre von den Ganzen und Teilen« in Logischen Untersuchungen schon den Unterschied zwischen Ganzem und Summe klargemacht hat, ist dieses Ganze-TeilVerhältnis nicht wie eine Zusammenfügung von verschiedenen trennbaren Stücken (z. B. der ganze Körper besteht aus vielen Körperteilen, die bedenklich von dem Ganzen trennbar sind) 6. Die existenzialen Bestimmungen Befindlichkeit, Verstehen und Verfallen gehören zusammen nicht wie »Stücke zu einem Kompositum, daran Vgl. Ebd., S. 192. Ebd., S. 181. 6 Das andere Ganze-Teil-Verhältnis ist wie z. B. ein Farbe-Ganzes, das notwendigerweise im Raum seine Ausdehnung hat. Diese Ausdehnung ist dann ein absolutes, auch bedenklich untrennbares Moment des Ganzen. Vgl. Husserl, Logische Untersuchungen, III. Zur Lehre von den Ganzen und Teilen, Erstes Kapitel, in: Hua 19/1, S. 229–266; Siehe auch Heidegger, Sein und Zeit, S. 244. 4 5
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Zeitlichkeit als der Sinn des existenzialen Strukturganzen des Daseins
zuweilen eines fehlen könnte, sondern in ihnen webt ein ursprünglicher Zusammenhang, der die gesuchte Ganzheit des Strukturganzen ausmacht.« 7 Heidegger nennt die Ganzheit des Strukturganzen des Daseins die Sorge. Deren Ganzheit lässt sich an der Angst als der ausgezeichneten Erschlossenheit des Daseins zeigen. Das Sichängsten ist als Befindlichkeit eine Weise des In-der-Welt-seins; das Wovor der Angst ist das geworfene In-der-Welt-sein, das Worum der Angst ist das Inder-Welt-sein-können. Das volle Phänomen der Angst macht demnach die einheitliche Ganzheit von Faktizität, Existenzialität (entwerfendes Seinkönnen) und Verfallensein aus. »Die formal existenziale Ganzheit des ontologischen Strukturganzen des Daseins muss daher in folgender Struktur gefaßt werden: Das Sein des Daseins besagt: Sich-vorweg-schon-sein-in-(der-Welt-) als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seienden). Dieses Sein erfüllt die Bedeutung des Titels Sorge.« 8 Die existenziale Vielfältigkeit des Strukturganzen des Daseins ist demnach einheitlich und dessen Ganzheit ist die Sorge. Heidegger fragt weiter nach dem Sinn der Sorge. Sinn ist »das, worin sich die Verstehbarkeit von etwas hält, ohne dass es selbst ausdrücklich und thematisch in den Blick kommt«. 9 Sinn bedeutet das Woraufhin oder der Horizont, von dem her etwas als etwas verständlich wird. »Mit der Frage nach dem Sinn der Sorge ist gefragt: was ermöglicht die Ganzheit des gegliederten Strukturganzen der Sorge in der Einheit ihrer ausgefalteten Gliederung?« 10 Das heißt, nach dem Sinn der Sorge fragen besagt demnach: fragen nach der Ermöglichung der Ganzheit des existenzialen Strukturganzen des Daseins. Heidegger zufolge ist diese Ermöglichung die Zeitlichkeit. Was ist aber die Zeit? Wenn wir nach der Zeit fragen, stellen wir uns normalerweise Fragen wie, »wie viel Uhr ist es?«, »wann ist es?«, »wie lange dauert es?«. Die Antworten könnten sein: »es ist 12 Uhr«, »es dauert 2 Stunden« et cetera. Wir betrachten die Zeit als Zahl auf der Uhr. Wir gehen auch davon aus, dass 12 Uhr später als 11 Uhr sei und auf der Uhr eine Folge von verschiedenen aber homogenen Jetztpunkten dauernd vergeht. Aufgrund dieser Homogenität kann die Uhr die Zeit messen und das Früher und das Später zeigen. Heidegger, Sein und Zeit, S. 191. Ebd., S. 192. 9 Ebd., S. 324, S. 151. 10 Ebd., S. 324. 7 8
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Die These »Zeit als der Sinn von Sein« und deren Probleme
Das ist ungefähr die vulgär verstandene Zeit. Heidegger hat ernsthaft über diese Frage nachgedacht. Er hat darüber reflektiert: »die Uhr zeigt uns das Jetzt, aber keine Uhr zeigt je die Zukunft und hat je Vergangenheit gezeigt […] Die Zahlen sind nicht früher oder später, weil sie überhaupt nicht in der Zeit sind.« 11 Das heißt: 12 Uhr ist später als 11 Uhr, nicht weil 12 selbst später als 11 selbst kommt. Die Zahl ist kein Ursprung der Zeit, die Zeitlichkeit wie Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart ist nicht aus der Zahl. Woraus ist dann die Zeitlichkeit überhaupt entstanden? Laut Heidegger: dem Dasein. »Das Dasein, begriffen in seiner äußersten Seinsmöglichkeit, ist die Zeit selbst, nicht in der Zeit. Das so charakterisierte Zukünftigsein ist als das eigentliche wie des Zeitlichseins die Seinsart des Daseins, in der und aus der es sich seine Zeit gibt.« 12
Das besagt: Nicht in der Uhr, sondern in der Möglichkeit des Daseins zeigt sich die Zeit selbst. Die Zeit ist weder stetiger Zug oder reale Abfolge des »Jetztpunkts« noch die »Dauer« des Bewussten bei Bergson, sondern wesenhaft das Wie, das in des Daseins Möglichkeiten gezeitigte Wie. Die Zeit ist kein Ding, kein Objekt, »sie ist nicht, sondern zeitigt sich.« 13 Sie zeitigt sich nicht in dem Was, sondern nur in dem Wie. Die Zeit ist das Wie, in dem das Dasein seine Möglichkeit aufdeckt. Es ist demnach widersinnig zu meinen, dass das Dasein in der Zeit sei, wie in einem Haus. Die Zeit ist kein Vorhandenes, in dem oder an dem ich bin. Sie ist vielmehr das Wie des Daseins selbst, oder eine Bestimmung des Seins des Daseins. Wenn wir uns nochmal die Frage »Wer bin ich?« stellen würden, dann könnten wir antworten: »Ich bin meine Zeit«. Ich war schon meine Vergangenheit, ich bin jetzt meine Gegenwart und ich werde dann meine Zukunft sein. Diese Zeitlichkeit macht mein Sein aus. Zeitlichkeit ist die Einheit der Ekstasen der Zukunft, Gewesenheit, Gegenwart. Die existenzialen Strukturganzen (Befindlichkeit, Verstehen und Verfallen) des Daseins gründen jeweilig in diesen Ekstasen, und die zeitliche Einheit macht die Ganzheit des Strukturganzen des Daseins ontologisch möglich. Heidegger erläutert:
11 12 13
Heidegger, Der Begriff der Zeit, GA 64, S. 121 f. Ebd., S. 118. Heidegger, Sein und Zeit, S. 328
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Zeitlichkeit als der Sinn des existenzialen Strukturganzen des Daseins
»Das Sich-vorweg gründet in der Zukunft. Das Schon-sein-in … bekundet in sich die Gewesenheit. Das Sein-bei … wird ermöglicht im Gegenwärtigen.« »Die Zeitlichkeit ermöglicht die Einheit von Existenz, Faktizität und Verfallen und konstituiert so ursprünglich die Ganzheit der Sorgestruktur.« »Zeitlichkeit enthüllt sich als der Sinn der eigentlichen Sorge.« 14
Diese drei Ekstasen bedeuten keine Abfolge, also kein »Nacheinander«. Die Gewesenheit ist nicht vor der Gegenwart, der sich die Zukunft anschließt, allen drei kommt »Gleichursprünglichkeit« 15 zu: »Die Zeitlichkeit zeitigt sich in jeder Ekstase ganz«. 16 Die Zukunft ist nicht später als die Gewesenheit und diese nicht früher als die Gegenwart. Die drei Ekstasen sind sozusagen »gleichzeitige« Strukturmomente einer einheitlichen Ganzheit: Die Zeitlichkeit zeitigt sich als gewesene-gegenwärtigende Zukunft. Aber wenn Heidegger argumentiert, dass die Zeitlichkeit überhaupt die Ganzheit des Strukturganzen der Sorge ermöglicht, hat die Zukunft einen deutlichen Vorrang. Wie lässt sich dies erklären? Heidegger beschreibt den Vorrang der Zukunft folgendermaßen: »Was ermöglicht dieses eigentliche Ganzsein des Daseins hinsichtlich der Einheit seines gegliederten Strukturganzen? Formal existenzial gefaßt, ohne jetzt ständig den vollen Strukturgehalt zu nennen, ist die vorlaufende Entschlossenheit das Sein zum eigensten ausgezeichneten Seinkönnen. Dergleichen ist nur so möglich, dass das Dasein überhaupt in seiner eigensten Möglichkeit auf sich zukommen kann und die Möglichkeit in diesem Sich-auf-sichzukommenlassen als Möglichkeit aushält, das heißt existiert. Das die ausgezeichnete Möglichkeit aushaltende, in ihr sich auf sich Zukommen-lassen ist das ursprüngliche Phänomen der Zukunft.« 17
Diese Argumentation lässt sich in drei Schritte gliedern: 1.) Formal existenzial gefasst ist die vorlaufende Entschlossenheit die Ermöglichung eines eigentlichen Ganzseins des Daseins; 2.) Diese vorlaufende Entschlossenheit in das eigenste Seinkönnen ist ermöglicht von einem Sich-auf-sichzukommenlassen; 3.) Dieses Sich-auf-sich-
14 15 16 17
Ebd., S. 327, 328, 326. Ebd., S. 329. Ebd., S. 350. Ebd., S. 325.
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Die These »Zeit als der Sinn von Sein« und deren Probleme
zukommenlassen und in dem (zukommenden) eigensten Seinkönnen auszuhalten, heißt das Phänomen der Zukunft. Kurz gesagt: Die Zukunft als auf-sich-zukommend ermöglicht die vorlaufende Entschlossenheit, weshalb »die Zukunft in der ekstatischen Einheit der ursprünglichen und eigentlichen Zeitlichkeit einen Vorrang hat«. 18 Weil jedes Auf-sich-zukommen zugleich auch ein Auf-sich-zurückkommen ist, bringt sich die Entschlossenheit gegenwärtigend in die Situation. Wenn das Dasein zukünftig auch auf sich selbst zurückkommt, ist gerade die Gegenwart auch entlassen. Aus diesem Vorrang der Zukunft ist die Ganzheit der »ursprünglichen und eigentlichen Zeitlichkeit« als die »gewesende-gegenwärtigende Zukunft« zur Aufweisung gebracht worden. Es ist wichtig zu beachten, dass dieser Vorrang nur in der Hinsicht auf die »eigentliche Zeit« gilt. Das heißt, dieser Vorrang ist gar nicht ontologisch gemeint. Denn die Zeitlichkeit zeitigt sich in jeder Ekstase ganz und die drei Ekstasen sind in der Tat gleichzeitige Strukturmomente. In diesem Sinne ist der Vorrang der Zukunft auch nicht temporal gemeint. Vielmehr können wir sagen: Der Vorrang der Zukunft ist phänomenologisch in der Hinsicht auf die Eigentlichkeit des Daseins. Es muss noch weiter gefragt werden, warum Heidegger die »ursprüngliche und eigentliche Zeitlichkeit« als Hauptthema interpretiert hat. 19 Um diese Frage gut beantworten zu können, müssen wir die vertiefte Definition des Daseins als »offen-sein für das Ganze« wieder ins Spiel bringen. Das Da im »eigentlichen« Dasein ist eine offene Ortschaft, wo Sein und Menschen zusammengehören. Das heißt, das Da ist nur das Da des Daseins, sofern es als die Erschlossenheit von Sein-überhaupt in der Existenz existenzial aufgeschlossen ist. Im Vollzug der eigentlichen Zeitlichkeit des Daseins zeitigt sich nicht nur das Dasein als selbsthafte Zeitlichkeit, ist das Dasein nicht nur für sich selbst als vorlaufendes Auf-sich-zukommen, sich-wiederholendes Auf-sich-zurückkommen und als augenblickhaftes Gegenwärtigen erschlossen, sondern hält darin auch die Erschlossenheit von Sein-überhaupt.
Ebd., S. 329. Heidegger differenziert für jede Zeitekstase (Zukunft, Gegenwart und Gewesenheit) die Modi der Eigentlichkeit und der Uneigentlichkeit. Eigentlich: Vorlaufen (Zukunft), Augenblick (Gegenwart), Wiederholung (Gewesenheit), entsprechend uneigentlich: Gewärtigen, Gegenwärtigen, Vergessenheit. Siehe Heidegger, Sein und Zeit, S. 336–339.
18 19
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Zeitlichkeit als der Sinn des existenzialen Strukturganzen des Daseins
Hingegen zeitigt sich das Dasein in der uneigentlichen Zeitlichkeit als einem gewärtigend-vergessend-Gegenwärtigen nur gegenwärtig aus dem von ihm zu besorgenden Seienden her, ohne auf sich selbst zuzukommen oder zurückzukommen, und auch ohne die Erschlossenheit von Sein-überhaupt ursprünglich aufzuschließen. Das nicht vorlaufende, sondern nur gewärtigende (im Sinne des Man) Sichentwerfen geht zusammen mit einem nicht wiederholenden, sondern vergessenen Geworfensein. 20 Da Heidegger die Interpretation der Zeitlichkeit als des Sinnes des Seins des Daseins als »eine Vorbereitung für die Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt« 21 charakterisiert, kann nur die eigentliche Zeitlichkeit des Daseins der Übergang zum Sinn von Sein überhaupt sein. »In der Eigentlichkeit hält das Dasein die Erschlossenheit von Sein-überhaupt ursprünglich-aufschließend offen; dagegen hält es sie in der Uneigentlichkeit in gewisser Weise verschlossen, aber so, dass diese Verschlossenheit ein defizienter Modus der Erschlossenheit ist.« 22 Verschlossenhalten der Seins-Aufgeschlossenheit heißt nicht, sie zum Verschwinden zu bringen, weil sie keine Setzung des Daseins ist, sondern sie ist jene Offenheit des Seins, in der das Dasein für sich selbst und auch das Sein überhaupt offen ist. In diesem Sinne ist die uneigentliche Zeit gar nicht mit der vulgär verstandenen Zeit gleichzusetzen, sie ist nur eine Modifikation, ein Sichentfernen, und nicht Abwerfen des Ursprungs der eigentlichen Zeitlichkeit. Die eigentliche und uneigentliche Zeitlichkeit sind beide die existenziale Zeitlichkeit, statt der existenziellen, 23 weil sie beide der ekstatische Horizont für das entweder eigentliche oder uneigentliche (nur als ein defizienter Modus von Eigentlichkeit) »Da zu sein« sind.
Vgl. Friedrich von Herrmann, Zeitlichkeit des Daseins und Zeit des Seins, in Subjekt und Dasein, Frankfurt am Main 1974, S. 87–91. 21 Heidegger, Sein und Zeit, S. 183. 22 Friedrich von Herrmann, »Zeitlichkeit des Daseins und Zeit des Seins«, in: Subjekt und Dasein, S. 84. 23 Vgl. Daniel Dahlstrom, »Heidegger’s Concept of Temporality«, in: Review of Metaphysics; Sep 1, 1995; 49, 1, S. 115: »Authentic existence and inauthentic existence are, in addition to being existential, always existentiell, but the temporalizing of authentic temporality and that of inauthentic temporality are existential, that is to say, they are the respective ecstatic horizons, implicit yet constitutive of what it means, authentically or inauthentically da zu sein.«. 20
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Die These »Zeit als der Sinn von Sein« und deren Probleme
6.2. Schematismus der Temporalität und der Sinn von Sein Wie Heidegger anfangs geplant hatte, wollte er nach dem zweiten Abschnitt »Dasein und Zeitlichkeit« noch den dritten Abschnitt »Zeit und Sein« für den ersten Teil von Sein und Zeit verfassen, in dem im Zusammenhang mit der Zeitlichkeit des Sein des Daseins gezeigt werden sollte, »dass das, von wo aus Dasein überhaupt so etwas wie Sein unausdrücklich versteht und auslegt, die Zeit ist.« 24 Die Zeit muss demnach als der Horizont alles Seinsverständnisses und jeder Seinsauslegung ans Licht gebracht werden. Mit einem Wort: Die Zeit muss als Sinn von Sein als solchem genuin begriffen werden. Vor dem Hintergrund der oben formulierten Feststellung, dass das Dasein selbst zeitlich ist und die Zeitlichkeit die existenzialen Strukturganzen des Daseins ermöglicht, muss im nächsten Schritt zur Einsicht gelangt werden, dass das Sein als solches sich temporal enthüllt, d. h. die ursprüngliche Sinnbestimmtheit des Seins als solches muss aus der Zeit als die temporale Bestimmtheit expliziert werden. Heidegger nennt diese ontologische Aufgabe »die Herausarbeitung der Temporalität des Seins«. 25 Das Werk Sein und Zeit ist aber unfertig, es hat sein Ziel nicht zustande gebracht. Was es geschafft hat, ist nur die Herausarbeitung der Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit des Daseins, also nur bis zur Frage nach dem Befragten. 26 Es kann deswegen nur als eine »Vorbereitung« für die Herausarbeitung des Erfragten, nämlich der Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt, betrachtet werden. Heidegger setzt diese zweite ontologische Aufgabe in der Marburger Vorlesung Sommersemester 1927 Die Grundprobleme der Phänomenologie als »zweite Hälfte von Sein und Zeit« 27 fort. Heidegger versucht dort zu zeigen, dass nicht nur das Sein des MenSiehe Heidegger, Sein und Zeit, S. 39, 17. Ebd., S. 19. 26 Vgl. Otto Pöggeler, »Sein als Ereignis«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 13, 1959, S. 597–632, Zitate S. 616: »Doch kommt die Untersuchung nicht bis zum Erfragten (nicht bis zum Sinn von Sein). Damit kommt die Untersuchung nicht ins Ziel, sie bricht vorzeitig ab«. 27 Friedrich von Herrmann nennt diese Vorlesung die »zweite Hälfte von Sein und Zeit« und bestätigt, sie sei eine »Neue Ausarbeitung des 3. Abschnitts des 1. Teils von Sein und Zeit«. Siehe Friedrich von Herrmann, Heideggers »Grundprobleme der Phänomenologie«, Frankfurt am Main, 1991, S. 9; Heidegger, GA 24, S. 1. Er hat in seinem Nachwort zu Sein und Zeit auch verraten, dass Heidegger 1926 eine Niederschrift für den 3. Abschnitt »Zeit und Sein« verfasst hat, aber sie bald verbrannte, weil er nicht damit zufrieden war. Siehe Heidegger, GA 2, S. 582. 24 25
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schen, sondern auch das Sein überhaupt seinen Sinn durch die Zeit »erhält« – die Zeitlichkeit heißt in dieser Funktion nun »Temporalität«. Die Zeitlichkeit des Daseins wird so festgehalten, dass sie das Seinsverständnis von seinem eigenen Sein ermöglicht. In dieser Funktion kann sie aber nun auch eine neue Bezeichnung erhalten: »Wir nennen die Zeitlichkeit, sofern sie als Bedingung der Möglichkeit des vor-ontologischen wie des ontologischen Seinsverständnisses fungiert, die Temporalität«. 28
Eine Philosophie als die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit des Seienden bzw. des Seins kann auch als »Transzendentalphilosophie« oder »Transzendentalismus« im kantischen Sinne verstanden werden. 29 Diese Philosophie fragt nun aber nicht nach der apriori subjektiven Bedingung, sie ist also kein transzendentaler Idealismus, sondern sie fragt nach dem ontologischen Horizont des Seinsverständnis. In diesem Sinne kann diese Philosophie als »transzendentale Ontologie« bezeichnet werden. Es muss darin gezeigt werden, dass und auf welche Weise die verschiedenen Seinsarten des Seienden (wie Dasein, Vorhandenes, Zuhandenes usw.) ekstatisch in jeweiliger Zeitlichkeit erschlossen werden können, und ganz wichtig: dass und auf welche Weise die jeweiligen Ekstasen der Zeitlichkeit im entsprechenden temporalen Horizont (als Bedingung der Möglichkeit) gründen. Dieser entsprechende Konnex zwischen Seinsart (bzw. seiner zeitlichen Ekstase) und Horizont der Zeitigung führt auf den Begriff des Schemas. Heidegger versteht demnach die Temporalität als »die Zeitlichkeit mit Rücksicht auf die Einheit der ihr zugehörigen horizontalen Schemata« 30. Um die Temporalität des Seins aus der Zeitlichkeit herauszuarbeiten, führt Heidegger nun einen Schematismus der Temporalität in seine »transzendentale Ontologie« ein. »Jede Ekstase als Entrückung zu … hat in sich zugleich und ihr zugehörig eine Vorzeichnung der formalen Struktur des Wozu [Worin] der Entrückung. Wir bezeichnen dieses Worin der Ekstase als den Horizont oder genauer das horizontale Schema der Ekstase. Jede Ekstase hat in sich ein ganz bestimmtes Schema, das sich mit der Art, wie sich die
Heidegger, GA 24, S. 388. Vgl. Daniel Dahlstrom, »Heidegger’s Transcendentalism«, in: Research in Phenomenology, 35, 2005: S. 29–54. 30 Heidegger, GA 24, S. 436. 28 29
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Zeitlichkeit zeitigt, d. h. wie sich die Ekstase modifiziert, selbst modifiziert.« 31
Ekstase als Entrückung zu … besagt beispielsweise Sich-auf-zu des Daseins, dass das Dasein immer zukünftig auf sich selbst zukommt. Laut Heidegger gibt es in der Ekstase mit Entrückung zu … auch noch ein Wohin der Ekstase, welches als »das horizontale Schema« zu bezeichnen ist. Da die Zeitlichkeit des Daseins die Einheit der drei Ekstasen Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart ist, gibt es dann auch entsprechend in der Zeitlichkeit des Daseins drei horizontale Schemata. Weil es beispielsweise in dem Sein des Daseins immer ekstatisch um sein Selbst geht, hat die zukünftige Ekstase des Daseins auch noch ein horizontales Schema »das Umwillen sein eigenes Sein«. Heidegger charakterisiert die Schemata der ekstatischen Existenz des Daseins schon in § 69 von Sein und Zeit als Folgende: »Das Schema, in dem das Dasein zukünftig, ob eigentlich oder uneigentlich, auf sich zukommt, ist das Umwillen seiner [selbst]. Das Schema, in dem das Dasein ihm selbst als geworfenes in der Befindlichkeit erschlossen ist, fassen wir als das Wovor der Geworfenheit bzw. als Woran der Überlassenheit. Es kennzeichnet die horizontale Struktur der Gewesenheit. Umwillen seiner existierend in der Überlassenheit an es selbst als geworfenes, ist das Dasein als Sein bei … zugleich gegenwärtigend. Das horizontale Schema der Gegenwart wird bestimmt durch das Um-zu.« 32
Nicht direkt aus den Ekstasen der Zeitlichkeit selbst, sondern erst vermittels dieser Schemata versteht das Dasein sein eigenes Sein im vorgängigen Entwurf auf die horizontalen Schemata. So wird beispielsweise durch das Schema des Umwillens der Entwurf des Seins des Daseins vorwiegend auf das Seinkönnen hin orientiert. Da wie die Ekstase auch die zugehörigen Schemata in einer unauflöslichen Einheit zueinanderstehen, wird auch der Horizont des Entwurfs von jedem Schema vorgezeichnet. Genau von diesem Horizont aus kann das Dasein in seinem Worumwillen des Entwurfs auch zugleich auf Heidegger, GA 24, S. 429; Ähnliche Ausdrücke zum Schema der Ekstase findet man schon in Sein und Zeit, S. 365: »Die existenzial-zeitliche Bedingung der Möglichkeit der Welt liegt darin, dass die Zeitlichkeit als ekstatische Einheit so etwas wie einen Horizont hat. Die Ekstasen sind nicht einfach Entrückungen zu … Vielmehr gehört zur Ekstase ein »Wohin« der Entrückung. Dieses Wohin der Ekstase nennen wir das horizontale Schema. Der ekstatische Horizont ist in jeder der drei Ekstasen verschieden.« 32 Heidegger, Sein und Zeit, S. 365; Vgl. GA 24, S. 418. 31
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sich zurückkommen. Das heißt: Obzwar das Schema des Umwillens für das Seinsverständnis den Vorrang hat, sind im Entwurf des Daseins auf sein Seinkönnen die Schemas des »Wovor bzw. Woran der Überlassenheit« und des »Um-zu« nicht gänzlich auszuschalten. Daraus wird ein Doppelcharakter des Schemas ersichtlich: Das Schema hat einerseits seine Verfahrensrichtung des »Wohin«, andererseits noch einen Horizont, wo die Einheit der Ekstase bzw. der zugehörigen Schemata sich zeigt. 33 Es könnte hier gefragt werden, warum ein Schematismus für die Herausarbeitung der Temporalität des Seins überhaupt notwendig ist. Um dies beantworten zu können, muss der Begriff des Schemas uns verständlich sein. Heidegger übernimmt diesen Begriff von Kant. Der Begriff Schema bezeichnet grundsätzlich das Aussehen von etwas im Allgemeinen, eine Versinnlichung oder Darstellung des unanschaubaren Begriffs. Für Kant ist das transzendentale Schema die »formale und reine Bedingung der Sinnlichkeit, auf welche der Verstandsbegriff in seinem Gebrauch restringiert ist«. 34 Da die reinen Verstandesbegriffe für sich genommen keine anschaulichen Komponenten enthalten, ist als Vermittlung ein transzendentaler Schematismus nötig, der eine Anwendung der Kategorien auf die sinnliche Anschauung leistet. Das Schema wird durch produktive Einbildungskraft als Synthesis der reinen Mannigfaltigkeit der Zeit (als formale Bedingung a priori aller Erscheinung überhaupt) gemäß den Kategorien als Regeln der Einheit (Form der notwendigen Einheit unseres Denkens) zustande gebracht. Nach Heideggers Darstellung des Begriffs des Schemas bei Kant ist das Schema als »Verfahren der Veranschaulichung von Begriffen« 35 notwendig auf das »Vorstellen der Darstellungsregel« angewiesen. Schema ist etwas anderes als ein Bild, welches nur eine Darstellung des Anschaubaren ist. Das Schema hat seinen Anblickcharakter nicht zuerst aus seinem erblickbaren Bildgehalt, sondern daraus, dass und wie »es aus der in ihrer Regelung vorgestellten möglichen Darstellung herausspringt und so gleichsam die Regel in die Sphäre der möglichen Anschaulichkeit hineinhält«. 36 Bei dem transzendentalen
Vgl. Dietmar Köhler, Martin Heidegger: Die Schematisierung des Seinssinnes als Thematik des dritten Abschnitts von »Sein und Zeit«, Bonn 1993, S. 117. 34 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B179. 35 Heidegger, Logik: Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 369. 36 Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3, S. 99. 33
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Die These »Zeit als der Sinn von Sein« und deren Probleme
Schema handelt es sich also demnach nicht um ein spezifisches einzelnes Bild, sondern um eine Art »Horizont« möglicher Bilder, der in der strukturalen schematisierten Regelung gründet. Durch die schematische Regelung wird der Begriff sichtbar gemacht, nicht aber abgebildet. Daraus wird ersichtlich, dass das Schema einerseits die Regelung der Veranschaulichung als solche bedeutet, andererseits auch den Horizont möglicher Anblicke. 37 Diese Doppelstruktur des Schemas entspricht genau dem Zusammenhalt und dem Einhalt von Entrückung zu … der Ekstase und seinem Horizont. Kants These, die Schemata seien »nichts als Zeitbestimmungen a priori nach Regeln«, oder kurz: »transzendentale Zeitbestimmungen« bzw. gemäß den vier Einleitungsmomenten der Kategorien (Quantität, Qualität, Relation, Modalität) zeige der reine Zeitanblick vier Möglichkeiten der Bildbarkeit entsprechend als »Zeitreihe, Zeitinhalt, Zeitordnung und Zeitinbegriff«, 38 ist sehr aufschlussreich für Heideggers Zeitdenken. In Heideggers Kant-Deutung stellt der Schematismus die Wesenseinheit der Transzendenz dar, die auf der ursprünglichsten Ebene als Selbstaffektion (Zeit) gefasst wird. 39 Die Transzendenz ist als Schematismus ein Geschehen im Sinne des gedoppelten Bildens qua Verschaffen des Anblicks von Gegenständlichkeit überhaupt (Gegenstehenlassen als solches). 40 Die transzendentalen Zeitbestimmungen, d. h. die transzendentalen Schemata sind Heidegger zufolge die nicht-seienden Vorbilder für jegliches Seiende, die als die apriorische maßgebende Regel des Begegnenkönnens des Seienden fungieren. Die transzendentalen Zeitbestimmungen sind der Horizont der Transzendenz, und er ist kein Seiendes (kein Gegenstand), sondern macht »Seiendes überhaupt« möglich. Der Horizont der Transzendenz ist demnach die in der Transzendenz gebildete, alle Offenheit von Seiendem ermöglichende »Offenbarkeit des Seins von Seiendem«. 41 Mit dieser Darstellung der Kant-Deutung von Heidegger können wir uns darüber klar werden, dass nur der transzendentale Schematismus sowohl das Geschehen der Transzendenz als auch den Horizont der Transzendenz ausmacht. Die Schemata sind »transzendentaVgl. Dietmar Köhler, Martin Heidegger: Die Schematisierung des Seinssinnes als Thematik des dritten Abschnitts von »Sein und Zeit«, S. 115. 38 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A145, B184; A138, B177 f. 39 Vgl. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3, S. 88, 105. 40 Vgl. Ebd., S. 90. 41 Ebd., S. 87. Vgl. Marion Heinz, Zeitlichkeit und Temporalität, S. 184. 37
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le Zeitbestimmung«, und die Zeit macht den Horizont der Transzendenz als die Ermöglichung der Offenheit des Seienden als solchen »vernehmbar«, 42 d. h. für die endlichen Menschen sinnlich und anschaubar. Damit wird man, ohne Heideggers Intentionen zu verfehlen, sagen dürfen, dass ein Schematismus der Temporalität für den Sinn von Sein deswegen notwendig ist, weil er den Horizont der Transzendenz und damit des Seinsverständnisses des Menschen als solches ausmacht. 43 Es geht nun nicht nur um die Zeitlichkeit des Daseins, sondern um die Temporalität des Seins. Sofern Heidegger behauptet, dass »Jede Ekstase« außer der Entrückung zu … immer auch noch ein Wohin der Entrückung, nämlich das horizontale Schema hat, muss eine Analytik des horizontalen Schemas von dem ekstatischen Strukturganzen auch dem anderen Seienden wie Vorhandenem, Zuhandenem usw. unterzogen werden. Heidegger unternimmt diesen Versuch in Die Grundprobleme der Phänomenologie. Diese Untersuchung ist zwar nicht so deutlich und systematisch verfasst und in Ordnung gebracht worden, aber man findet doch im Text schon Heideggers klare Gedanken. 44 Was er ausführlicher charakterisiert, ist die temporale Interpretation des Seins der Zuhandenheit. Zuhandenes Zeug ist durch seine »Bewandtnis« ausgezeichnet. Im Umgang mit dem Werkzeug gibt es zwei Aspekte von Bedeutung: 1.) der instrumental eingesetzte Gegenstand als solcher, mit dem es Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, S. 108: »Die Zeit also ist es, die als a priori gebende von vornherein dem Horizont der Transzendenz den Charakter des vernehmbaren Angebotes verleiht. Aber nicht nur das. Als das einzige reine universale Bild gibt sie dem Horizont der Transzendenz eine vorgängige Umschlossenheit.« 43 Dietmar Köhler glaubt, dass Heidegger erlaubt, den Schematismus als Prinzip einer Strukturierung des Sinnes von Sein zu verwenden, und er bezeichnet ihn als »Grammatik des Sinnes von Sein«, Siehe: Dietmar Köhler, Martin Heidegger: Die Schematisierung des Seinssinnes als Thematik des dritten Abschnitts von »Sein und Zeit«, S. 117, 95. 44 Heidegger sagt: »Wir versuchen eine temporale Interpretation des Seins des zunächst Vorhandenen, der Zuhandenen, und zeigen exemplarisch mit Rücksicht auf die Transzendenz, wie das Seinsverständnis temporal möglich ist.«, GA 24, S. 431. Dennoch geht Ralf Becker davon aus, dass es Heidegger nur gelinge den Schematismus für eine bestimmte Seinsweise der Zuhandenheit zu erläutern. Siehe: Ralf Becker, Sinn und Zeitlichkeit, S. 126. Auch Marion Heinz hat in ihrem Buch erstaunlicherweise nur den Schematismus für das Vorhandene interpretiert, Siehe: Marion Heinz, Zeitlichkeit und Temporalität, S. 180. 42
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eine bestimmte Bewandtnis hat, d. h. Womit; 2.) seine spezifische Dienlichkeit, die Möglichkeiten seiner Verwendbarkeit, d. h. Wozu oder das Wobei der Bewandtnis. »Das Verstehen des Wozu, das heißt des Wobei der Bewandtnis, hat die zeitliche Struktur des Gewärtigens«. 45 Entscheidend ist dabei, dass das Zeug weder als ein Gegenstand »betrachtet« wird, noch als ein bevorstehendes Fertigwerden des herzustellenden Werks erwartet wird. Es ist vielmehr unthematisch und unauffällig erfasst. Außerdem: Wenn das Wozu gewärtig ist, also wenn wir dieses Zeug zum Einsatz bringen, kann das Besorgen zugleich auf so etwas zurückkommen, womit es die Bewandtnis hat. Wir müssen es gleichsam nicht neu erfinden, sondern finden es in seiner Zweckmäßigkeit bereits vor. Heidegger nennt dieses Zurückgreifen gemäß seiner Verwendbarkeit »Behalten«: »Das Gewärtigen des Wobei in eins mit dem Behalten des Womit der Bewandtnis ermöglicht in seiner ekstatischen Einheit das spezifisch hantierende Gegenwärtigen des Zeugs«; »Er [der Umgang mit dem Zuhandenen] konstituiert sich hinsichtlich seiner Zeitlichkeit in einem behaltend-gewärtigenden Gegenwärtigen des Zeugzusammenhangs als solchen.«. 46
Diese Zeitlichkeit ist auch die Einheit der jeweiligen drei Ekstasen, und in der Zukunft ist auch ein Auf-sich-zurückkommen impliziert. Vergleichen wir damit die Analyse der Zeitlichkeit des Daseins, so fällt auf, dass anstatt die Zukunft nun die Gegenwart den Vorrang hat. Die Gegenwart ist in diesem Fall diejenige »führende« Ekstase, »die primär die Zeitigung der Zeitlichkeit des Umgangs mit dem Zuhandenen bestimmt« und deren horizontales Schema nennt Heidegger »Praesenz«. 47 Praesenz als das horizontale Schema der Gegenwart des Zuhandenen macht auch das Sein dieses Seienden, nämlich die Zuhandenheit des Zuhandenen aus. 48 Praesenz ist nicht identisch mit Gegenwart, ebensowenig wie Umwillen und Zukunft in der temporalen Interpretation der Existenz Heidegger, Sein und Zeit, S. 353 Ebd., S. 353, 354; vgl. GA 24, 416, 432. 47 Heidegger, GA 24, S. 438. 48 Dietmar Köhler weist darauf hin, dass das Schema der Praesenz eine Ergänzung zu dem Als-Schema (Siehe Sein und Zeit, S. 359 f.), also dem hermeneutischen Als sei. Gegenüber dem Als-Schema sei das der Prasenz deshalb allgemeiner, weil das begegnende Seiende nicht als etwas, sondern nur als Anwesendes verstanden werde. Siehe Dietmar Köhler, Martin Heidegger: Die Schematisierung des Seinssinnes als Thematik des dritten Abschnitts von »Sein und Zeit«, S. 120. 45 46
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des Daseins. Die Gegenwart ist eine der Ekstasen der Zeitlichkeit, die Praesenz ist hingegen der Horizont dieser Ekstase, auf den die Gegenwart sich entwirft. Die Ekstase der Gegenwart ist die Bedingung der Möglichkeit eines bestimmten »über sich hinaus« der Transzendenz, aber sie hat in sich selbst eine schematische Vorzeichnung dessen, worin dieses »über sich hinaus« als solches besteht. Diese schematische Vorzeichnung ist dann die Praesenz als Horizont. In der Ekstase der Gegenwart wird das Begegnende »als Anwesendes, d. h. auf Anwesenheit hin« 49 verstanden. Heidegger sagt dazu: »Gegenwart entwirft sich in sich selbst ekstatisch auf Praesenz. Praesenz ist nicht identisch mit Gegenwart, sondern als Grundbestimmung des horizontalen Schemas dieser Ekstase macht sie die volle Zeitstruktur der Gegenwart mit aus.« 50
Die Gegenwart als Ekstase ist das Offensein dafür, dass das Begegnende in Erscheinung tritt, aber die Praesenz ist der Horizont, auf den diese Erscheinung selbst als solche sich entwirft. Die Zeitlichkeit ist in sich ein Selbstentwerfen, und ferner: Dieses Selbstentwerfen ist immer auf einen Horizont hin ausgerichtet. Das heißt, der Zusammenhang und Unterschied von Gegenwart und Praesenz lässt sich so beschreiben: Das begegnende Seiende ist gegenwärtig, aber das Sein des begegnenden Seienden ist praesential. Es geht in der Gegenwart um die Erscheinung des Seienden in der Zeit, in der Praesenz hingegen um die Zeitigung der Zeitlichkeit selbst, nämlich das Sein des Seienden als solches, welches streng genommen nicht mehr zeitlich ist. Sofern Zuhandenheit und Abhandenheit so etwas wie Anwesenheit und Abwesenheit, d. h. so und so modifizierte und modifikable Praesenz bedeuten, ist das Sein des innerweltlich begegnenden Seienden praesential, und das heißt grundsätzlich temporal entworfen. Damit kommt Heidegger zu der Schlussfolgerung: »Sein verstehen wir demnach aus dem ursprünglichen horizontalen Schema der Ekstasen der Zeitlichkeit.« 51 Das Zuhandene kann auch zum Vorhandenen werden, z. B. wenn ein Hammer nicht zum Gebrauch steht oder kaputtgeht und damit seine Vertrautheit verloren geht. Heidegger macht auch eine kurze temporale Interpretation zur Vorhandenheit des Vorhandenen. Ohne
49 50 51
Heidegger, GA 24, S. 436. Ebd., S. 435. Ebd., S. 436.
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die volle Zeitstruktur der Wahrnehmung des Vorhandenen herauszuarbeiten, bestimmt er nur die führende Ekstase, und zwar die Gegenwart. In der intentionalen Wahrnehmung gibt es immer einen Richtungssinn, d. h. ein Sich-richten-auf, und dadurch macht die Wahrnehmung das Wahrgenommene »gegenwärtig«. 52 Woher kommt aber diese Gegenwärtigung? Nicht aus dem subjektiven Verhalten, sondern aus dem Horizont der Praesenz. Heidegger erläutert dazu: »Die Ekstase der Gegenwart ist das Fundament für die spezifisch intentionale Transzendenz der Wahrnehmung von Vorhandenem. Zur Ekstase als solcher, zur Entrückung, gehört ein horizontales Schema, zur Gegenwart die Praesenz.« 53
Laut Heidegger muss in der intentionalen Wahrnehmung schon ein Seinsverständnis liegen, kann erst die Wahrnehmung sich in ihr auf ein transzendentes Vorhandenes richten und ferner sich das Ausgerichtetsein des Wahrnehmens verstehen. Denn die Zeitigung der Ekstase als solcher, die Gegenwärtigung als solche versteht das, was sie gegenwärtigt, in ihrem Horizont, d. h. aus der Praesenz her, als Anwesendes. Das Selbstentwerfen der Ekstase der Gegenwart auf das horizontale Schema der Praesenz hin bestimmt in eins den spezifischen Modus des Ausgerichtetseins des Daseins und das Verständnis des in Gegenwart begegnenden Seienden. Mit einem Wort: Die Praesenz als Horizont ermöglicht das gegenwärtigende Wahrnehmen des Vorhandenen. Phänomenologisch gesehen: Die Praesenz, die Anwesenheit macht erst das Anwesende möglich. Dies bedeutet dementsprechend ontologisch gesehen: Sein macht das Seiende zum Seienden. 54 In jedem Offenbaren gibt es eine Doppelstruktur hinsichtlich der Zeit: das offenbar-werdende Seiende und seine Offenbarung, die Offenbarkeit als solche. Das Erstere bezieht sich auf die Ekstase der Zeitlichkeit des Seienden, das Letztere hingegen auf den Horizont oder das horizontale Schema des Seins, wonach Heideggers Schematismus der Temporalität sucht.
Siehe auch Husserl, Ideen 1, Hua 3, S. 251: »jedes Erlebnis ist überhaupt gegenwärtig seiendes Erlebnis«. 53 Heidegger, GA 24, S. 448. 54 »Sein gleich Wahrnehmung heißt phänomenologisch ursprünglich interpretiert: Sein gleich Anwesenheit, Praesenz.«, Heidegger, GA 24, S. 448. 52
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Zusammenfassend lässt sich sagen: Der Sinn des Seins des Daseins ist die ekstatische Zeitlichkeit. Dagegen ist der Sinn des Seins alles nichtdaseinsmäßigen Seienden die zur existenzialen Zeitlichkeit gehörende horizontale Zeit, aus der die Seinsweisen des nicht-daseinsmäßigen Seienden (sowohl des Zuhandenen, als auch des Vorhandenen) ihren zeithaften, temporalen Sinn als »Anwesenheit« empfangen. »Die existenziale Zeitlichkeit ist die zeitliche Verfassung der selbsthaft-ekstatischen Erschlossenheit, während die horizontale Zeit die zeithafte Verständlichkeit oder Verfaßtheit der horizontalen Erschlossenheit bildet.« 55 Zeitlichkeit als ekstatisch-horizontale Einheit der Zeitigung ist die Bedingung der Möglichkeit der Transzendenz des Daseins und somit auch die Bedingung der Möglichkeit der in der Transzendenz fundierten Intentionalität. Die ekstatische Struktur begründet das Verstehen als Verhaltung des Daseins; die zu den Ekstasen gehörigen Horizonte bilden das zur Struktur des Verstehens als solchem gehörige Woraufhin überhaupt aus, aus dem sich das Sein als solches als Verstandenes bestimmt. 56 Was der Schematismus der Temporalität leisten sollte, ist zusammenfassend Folgendes: Das Schema bestimmt »den Hinblick«, 57 in dem Seiendes in Erscheinung tritt (wie es erschlossen ist) und korreliert gleichzeitig mit einem Horizont, in dem sich Zeitlichkeit zeitigt. Das horizontale Schema verknüpft damit die Ekstase der Zeitlichkeit und den Horizont des Seinsverständnisses. Damit ist strukturell die Lösung der leitenden Frage, nämlich wie das Sein überhaupt aus der Zeit begriffen werden könne, gefunden. Die Zeit (als Temporalität) und die Zeitlichkeit sind nicht zwei trennbare verschiedene Dinge, sondern sie gehören zusammen. Denn Temporalität ist nur »die Zeitlichkeit mit Rücksicht auf die Einheit der ihr zugehörigen horizontalen Schemata« und daher »die ursprünglichste Zeitigung der Zeitlichkeit als solcher«. 58 Die Zeit (als Temporalität) ermöglicht daher aufgrund der Zusammengehörigkeit der Ekstase und horizontalen Schemata das Verstehen von Sein, indem die spezifische Zeitigung ihrer Ekstase (Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart) jeweils den Vgl. Friedrich von Herrmann, Sein und Zeit und das Dasein, S. 53. Vgl. Heidegger, GA 24, S. 452 f.; Marion Heinz, Zeitlichkeit und Temporalität, S. 177. 57 »Weil das Sein je nur aus dem Hinblick auf Zeit faßbar wird«, Heidegger, Sein und Zeit, S. 19; Vgl auch, »Zeit ist der Blickbahn für die Auslegung des Seins«, GA 40, S. 214. 58 Heidegger, GA 24, S. 436, 429. 55 56
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Die These »Zeit als der Sinn von Sein« und deren Probleme
Hinblick dieses Verstehens vorgibt. Der jeweilige Hinblick ist der Horizont, aus dem das Sein als solches verstanden wird. 59
6.3. Die These »Zeit als der Sinn von Sein« und deren Probleme Es wurde oben angezeigt, wie Heidegger mit zwei Denkschritten, nämlich der existenzialen Analyse der Zeitlichkeit des Daseins und dem Schematismus der Temporalität, die Lösung für die leitende Frage, wie das Sein überhaupt aus der Zeit genuin begriffen werden könne, gefunden hat. Die These, dass die Zeit der Sinn von Sein überhaupt ist, könnte sich somit als geltend erweisen. Es muss aber noch gefragt werden, ob Heidegger diese These vollkommen gerechtfertigt hat und welche Probleme sie enthält. Es gibt in Heideggers Rechtfertigung zuerst viele Unklarheiten. Dieter Thomä hat z. B. darauf hingewiesen, dass nicht das Sein von der Zeitlichkeit des Daseins her zugänglich werden sollte, sondern umgekehrt dessen Zeitlichkeit vom Sein her. Damit macht er auf eine Unklarheit aufmerksam: »Es ist unklar, wie der Temporalität des Seins neben der Zeitlichkeit des Daseins eine eigenständige Behandlung zuteilwerden soll. Stattdessen läuft man Gefahr, mit dieser Temporalität letztlich nur eine Doublette der Zeitlichkeit des Daseins zu produzieren. Oder aber man meint etwas, von dem nichts mehr zu sagen ist. Diese Schwierigkeit muss als Grund dafür angesehen werden, warum die Kehre gemäß der Anlage von Sein und Zeit scheitert.« 60 Außerdem hat Otto Pöggeler auch eine Kritik an einer Unklarheit des Schematismus der Temporalität geübt: »Vor allem wird eines nicht deutlich: ist das Gefüge der Schemata der Zeitekstasen ein (überzeitliches) Prinzip zur Unterscheidung von Seinsweisen, oder ist die Zeit das Medium, das als ontologische Geschichte erst solche Prinzipien erbringt?« 61 Das heißt, es ist bei Heidegger unklar, ob das Gefüge der Schemata der Zeitekstase als überzeitliches Prinzip die Vgl auch, Ralf Becker, Sinn und Zeitlichkeit, S. 165. Dieter Thomä (Hrsg.): Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, 2. Auflage, J. B. Metzler 2013 S. 104 f. 61 Otto Pöggeler, »Zeit und Sein bei Heidegger«, in: Heidegger in seiner Zeit, München 1999, S. 55; Vgl. auch: Otto Pöggeler, »Heidegger und das Problem der Zeit«. In: L’héritage de Kant. Mélanges philosophiques offerts au P. Marcel Régnier, Paris 1982, S. 287–307, Zitate S. 293. 59 60
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Seinsweisen bzw. deren Zeitlichkeit unterscheidet oder dieses Gefüge der Schemata selbst ein geschichtliches Produkt ist. Wir können außerdem noch andere Unklarheiten finden. Vergleichen wir die Analyse des Schemas der Zeitlichkeit des Daseins mit der des Umgangs mit Zuhandenem, fällt uns eine Asymmetrie auf: Die Schemata der drei Ekstasen des Daseins (Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart) sind jeweilig das Umwillen, Wovor bzw. als Woran der Überlassenheit und Um-zu. 62 Es geht in der Analyse des Schemas der Zeitlichkeit des Umgangs mit Zuhandenen hingegen weniger darum, jeder Ekstase ein entsprechendes Schema zuzuordnen, sondern nur um ein horizontales Schema der Gegenwart, nämlich die Praesenz. Warum es diese Asymmetrie gibt, hat Heidegger nicht erklären können. Für die Analyse des Schemas der Zeitlichkeit des Umgangs mit Zuhandenem soll den »inneren temporalen Zusammenhängen der horizontalen Schemata« nachgegangen werden, und zwar »je nach der Zeitigungsart der Zeitlichkeit, die sich immer in der Einheit ihrer Ekstase zeitigt«. 63 Aber Heidegger entzieht sich dieser Aufgabe mit einem »didaktischen Argument«: 64 »Um den Blick auf die ohnehin schwer zu fassenden Phänomene der Zeitlichkeit nicht zu sehr zu verwirren, beschränken wir uns auf die Explikation der Gegenwart und ihres ekstatischen Horizontes, der Praesenz.« 65
Marion Heinz hat auf die Schwierigkeit aufmerksam gemacht, ob die Ekstasen und die horizontalen Schemata konkurrierende Gründe des In-Seins sind. Es handelt sich in der Lösung dieser Schwierigkeit eigentlich um das vertiefte Verständnis des Verhältnisses von Sein und Da-sein, dem im Kapitel 5.3. dieser Arbeit nachgegangen wurde. Heinz hat diese Lösung auch durchaus eingesehen: »Das Sein des Daseins wird wie das Sein jedes Seienden aus den horizontalen Schemata offenkundig, jedoch so, dass das In-Sein sich selbst als Grund der Verstandenheit seiner selbst und des Seins überhaupt begreift, d. h. es versteht, dass sich die Offenbarkeit von Sein seinem eigenen Seinsvollzug, dem Erschließen verdankt. Damit ist die Charakterisierung, Dasein sei an ihm selbst gelichtet, temporal zu Begriff gebracht«. Siehe Marion Heinz, Zeitlichkeit und Temporalität, S. 178 f. 63 Heidegger, GA 24, S. 436. 64 Figal, Martin Heidegger: Phänomenologie der Freiheit, S. 341. 65 Heidegger, GA 24, S. 435. Christophe Bouton hat hierbei auch Kritik an dieser Beschränkung geübt. »Für einen Denker, der den ontologischen Vorrang der Gegenwart kritisiert, kommt eine derartige methodische Einschränkung überraschend! Der zeitliche Weg der Ontologie führt zur Unvollendung, wennnicht zum Scheitern.«, siehe: Christophe Bouton, Die Helle Nacht des Nichts, Zeit und Negativität bei Hegel und Heidegger, S. 123. 62
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Aus diesem »didaktischen Argument« können wir zu Recht schließen, dass das horizontale Schema der Praesenz nur eine Beschränkung des Horizontes ist, und zwar auf nur einen Horizont. Und die Andeutung »Das Entsprechende [zum Horizont der Praesenz] gilt von den beiden anderen Ekstasen, Zukunft und Gewesenheit« 66 kann wohl besagen, dass den Ekstasen Zukunft und Gewesenheit im Umgang des Zuhandenen auch horizontale Schemata zukommen, deren Beschaffenheit sich analog zu dem der Praesenz verhält. 67 Die Ausführung der wohl bestehenden horizontalen Schemata der Zukunft (Gewärtigen) und Gewesenheit (Behalten) hat Heidegger nicht gemacht. Es fehlt des Weiteren noch eine andere Ausführung, nämlich was die Einheit der horizontalen Schemata ausmacht, sofern sie »in der ekstatischen Einheit der Zeitlichkeit gründet«. 68 Heidegger hat dieses Problem der Einheit der Horizonte selbst gesehen, aber nur indirekt kenntlich gemacht. Er sagt: »Verstehen von Seiendem, Entwurf auf Sein, Verstehen von Sein, Entwurf auf die Zeit, hat ihr Ende am Horizont der ekstatischen Einheit der Zeitlichkeit.« 69 Wenn die Einheit der Zeitlichkeit des Umgangs mit Zuhandenem das »behaltend-gewärtigende Gegenwärtigen« ist, muss es dafür auch einen einheitlichen Horizont geben, der aber nicht durch die Praesenz erklärt werden kann. Bei der Analyse der Zeitlichkeit des Wahrnehmens des Vorhandenen gibt es ebenfalls Unklarheit. Heidegger behauptet, dass die Ekstase der Gegenwart das Fundament für die spezifisch intentionale Transzendenz der Wahrnehmung von Vorhandenem und deren horizontales Schema auch die Praesenz ist. Es wurde nicht diskutiert, ob und welche anderen Ekstasen und entsprechenden horizontalen Schemata die Zeitlichkeit des Wahrnehmens des Vorhandenen hat. Wenn es im Vorhandenen um eine Phänomenologie der Wahrnehmung geht, dann braucht Heidegger eine phänomenologische Analyse zum phänomenalen Horizont der Zeitlichkeit, nämlich den Hof der primären Impression (Retention bzw. Protention) wie bei Husserl oder Merleau-Ponty. Die Gegenwart hat darin deswegen den Vorrang, weil jede Wahrnehmung immer eine Gegenwärtigung des Heidegger, GA 24, S. 435. Dietmar Köhler vertritt auch diese Auffassung. Siehe Dietmar Köhler: Martin Heidegger: Die Schematisierung des Seinssinnes als Thematik des dritten Abschnitts von »Sein und Zeit«, S. 121. 68 Heidegger, Sein und Zeit, S. 365. 69 Heidegger, GA 24, S. 437. 66 67
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Die These »Zeit als der Sinn von Sein« und deren Probleme
Wahrgenommenen ist, wie Husserl sagt: »jedes Erlebnis ist überhaupt gegenwärtig seiendes Erlebnis«. 70 Wenn es aber im Vorhandenen um das theoretische Erkennen geht, das sich durch begriffliche Aussagen auf den Gegenstand richtet, wie z. B. »Der Stein ist festes, hartes, schweres Mineral«, dann ist die Zeitlichkeit des Vorhandenen anders geworden. Denn Erkenntnis eines Gegenstandes besteht immer aus den Urteilen, die vom »Ist« ausgesprochen sind. Es wäre widersinnig zu beurteilen: »Der Stein war festes, hartes, schweres Mineral« oder »Der Stein wird festes, hartes, schweres Mineral sein«. Das heißt, die Erkenntnis eines Gegenstandes kann sich nur in Praesenz, Anwesenheit zeitigen, anstatt dass die Gegenwart oder Praesenz den Vorrang hat. Unser erkennendes Richten auf den Gegenstand hat nur eine Ekstase, und es geht in diesem Fall daher nicht mehr darum, welche Ekstase gegenüber den anderen den Vorrang hat. In diesem Sinne kann man vielleicht besser sagen, dass die Erkenntnis eines vorhandenen Gegenstandes unzeitlich ist. Es ist bei Heidegger unklar, wie er mit diesem Problem umgehen würde, wenn er Kenntnis von ihm genommen hätte. Heideggers Rechtfertigung der These »Zeit als Sinn von Sein« enthält weiterhin einen Mangel an der Untersuchung zur Zeitlichkeit aller Seinsarten. Sofern die Temporalität »als Bedingung der Möglichkeit des vorontologischen wie des ontologischen Seinsverständnisses fungiert« 71, sofern es in der »Herausarbeitung der Temporalität« um das Sein als solches geht, muss gezeigt werden, dass und auf welche Weise die verschiedenen Arten, wie die verschiedenen Seienden zeitlich erschlossen werden können, in entsprechend verschiedenen Zeitigungsformen der Zeitlichkeit gründen. Wie Ralf Becker auch in seinem Werk Sinn und Zeitlichkeit betont hat, 72 unterscheidet Heidegger tatsächlich in dieser Phase seines Denkens fünf Seinsarten, nämlich Existenz, Zuhandenheit, Vorhandenheit, Leben (z. B. Tier) und Bestand (z. B. Zahl) 73, und in den 30er Jahren kommt noch die Seinsart des Kunstwerkes hinzu. 74 Er muss daher, um seinem Vorhaben der Temporalität des Seins als solches vollkommen gerecht zu werden, für jeden Modus der Erschlossenheit genau eine FunktionsSiehe auch Husserl, Ideen 1, Hua 3, S. 251: »jedes Erlebnis ist überhaupt gegenwärtig seiendes Erlebnis« 71 Heidegger, GA 24, S. 388, 324. 72 Vgl. Ralf Becker, Sinn und Zeitlichkeit, S. 163. 73 Heidegger, Einleitung in die Philosophie, S. 71 f.; GA 24, S. 14. 74 Vgl. Heidegger, GA 5, S. 17, 21, 25, 56. 70
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Die These »Zeit als der Sinn von Sein« und deren Probleme
weise der Zeitlichkeit und das entsprechende horizontale Schema finden. Es gibt streng genommen sechs verschiedene Seinsarten, und Heidegger schafft nur teilweise die Analyse der Zeitlichkeit der drei Seinsarten. Was im nächsten Schritt wichtig ist, ist dann die Einheit der Horizonte der Zeitlichkeiten der verschiedenen Seinsarten aufzuhellen. 75 Heidegger glaubt einerseits, »der ekstatische Horizont ist in jeder der drei Ekstasen verschieden« 76, und andererseits charakterisiert er seine Aufgabe als den Sinn von Sein überhaupt aus der Zeit, d. h. aus »dem Horizont«: »Der Horizont, aus dem her dergleichen wie Sein überhaupt verständlich wird, ist die Zeit. Wir interpretieren das Sein aus der Zeit. Die Interpretation ist eine temporale. Die Grundproblematik der Ontologie als der Bestimmung des Sinnes des Seins aus der Zeit als die der Temporalität.« 77
Hinsichtlich des Seins überhaupt muss Heidegger außer der Analyse der Zeitlichkeit und des horizontalen Schemas der verschiedenen Seinsarten noch die Einheit all der Horizonte in Betracht nehmen. Sofern es so verschiedene Horizonte der Zeitlichkeit der Seinsarten gibt, wie werden sie vereinheitlicht? Ist »der Horizont (überhaupt)« (die Zeit), aus dem Sein überhaupt verständlich wird, als ein universaler Horizont zu verstehen? Wie ist die Zeit selbst als »der eine Horizont (überhaupt)« zu denken? Dieses Problem wurde in Sein und Zeit und Grundprobleme der Phänomenologie nicht erörtert. Die diesbezügliche Interpretation findet man erst in Heideggers Vortrag über Zeit und Sein (1962). Was nun ganz neu ist, ist, dass Gegenwart, Gewesen und Zukunft gleichermaßen durch das Anwesen charakterisiert sind. Heidegger Sowohl William Blattner als auch Charles Guignon vertreten die Auffassung, dass die Schwierigkeit, die Zeit als einen einheitlichen Horizont für jedes Seinsverständnis zu bezeichnen, unüberwindbar ist. Siehe: William Blattner, »Laying the Ground for Metaphysics: Heidegger’s Appropriation of Kant«, in: C. Guignon (Hrsg.), The Cambridge Companion to Heidegger, 2nd ed., Cambridge 2006, S. 170: »pure form of time is not rich enough, it would seem, to generate much of anything!«; Guignon, Charles, »Authenticity and the question of Being«, in: Denis McManus (Hrsg.), Heidegger, Authenticity and the Self, London and New York, 2015, S. 8–20, hier S. 18: »But we can see why the goal of identifying the horizon for any understanding of Being, and even the assumption that there can be such a horizon, turns out to be untenable«. 76 Heidegger, Sein und Zeit, S. 365. 77 Heidegger, GA 24, S. 22. 75
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Die These »Zeit als der Sinn von Sein« und deren Probleme
versucht nun, den Gedanken der die Anwesenheit und Abwesenheit umfassenden Praesenz (die Abwesenheit im Satz »Es ist nicht da« ist auch nur eine Weise der Praesenz) aufnehmend, einen einheitlichen Horizont all der Zeitlichkeit als »Anwesen« zu charakterisieren. 78 Anwesen bedeutet jedoch keine Charakteristik eines bestimmten Anwesenden, sondern Charakteristik der Zeit selbst, die nun aus dem Zusammenspiel von Zukunft, Gewesen und Gegenwart verständlich werden können, wie Heidegger sagt, »Sowohl im Ankommen des noch-nicht-Gegenwärtigen als auch im Gewesen des nicht-mehr-Gegenwärtigen und sogar in der Gegenwart selbst spielt jeweils eine Art von Angang und Anbringen, d. h. Anwesen. Dieses so zu denkende Anwesen können wir nicht der einen der drei Dimensionen der Zeit zuweisen nämlich, was nahe liegt, der Gegenwart.« 79
Anwesen bedeutet jede Art von Angang und Anbringen im Zusammenspiel von Zukunft, Gewesen und Gegenwart. Anwesen ist deswegen gar nicht mit der Ekstase der Gegenwart gleichzusetzen, weil Anwesen das Anbringen (eine Zeitigung) der Zeit selbst bedeutet, die Gegenwart hingegen nur ein Anbringen (eine Zeitigung) eines bestimmten Seienden. Anwesen bedeutet auch nicht das horizontale Schema der Gegenwart, sondern vielmehr ist es der Horizont für die Zeitigung der Zeit überhaupt. Anwesen ist für Heidegger die Lösung für das Problem des »einen einheitlichen Horizonts überhaupt«, weil jede Art des Zusammenspiels von Zeit selbst, d. h. des Angangs und Anbringens von Zukunft, Gewesen und Gegenwart sich zeitigt als Anwesen. Heidegger beschreibt dieses Zusammenspiel folgendermaßen: »Ankommen, als noch nicht Gegenwart, reicht und erbringt zugleich nicht mehr Gegenwart, das Gewesen, und umgekehrt reicht dieses, das Gewesen, sich Zukunft zu. Der Wechselbezug beider reicht und erbringt zugleich Gegenwart. ›Zugleich‹ sagen wir und sprechen damit dem Sich-einander-Reichen von Zukunft, Gewesen und Gegenwart, d. h. ihrer eigenen Einheit einen Zeitcharakter zu.« 80
Dieses Sich-einander-Reichen von Zukunft, Gewesen und Gegenwart macht die einheitliche Struktur der Zeit selbst aus. Alle drei Dimen-
78 79 80
Vgl. Figal, Martin Heidegger: Phänomenologie der Freiheit, S. 344. Heidegger, Zeit und Sein, S. 19. Ebd., S. 18.
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Die These »Zeit als der Sinn von Sein« und deren Probleme
sionen (sie sind nicht mehr Ekstasen, weil es um den Horizont der Zeit selbst, und nicht um ekstatische Zeitlichkeit des Seienden geht) sind immer zugleich, weil es wesentlich zur Struktur des Zusammenspiels der Zeit selbst gehört. Es ist zu beachten, dass das »immer« hier nicht zeitlich verstanden werden darf, sondern nur formal-strukturell. Denn die Zeit selbst ist kein Zeitliches, so wenig wie sie etwas Seiendes ist. Es ist falsch zu sagen, dass Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart als zusammengehörige dreidimensionale 81 Struktur der Zeit selbst »zugleich« vorhanden seien. Nach diesem Mitgehen mit Heidegger bis zu seiner endgültigen Überlegung zur Zeit selbst im Vortrag Zeit und Sein können wir zusammenfassend sagen: Heidegger hat tatsächlich mit großer Mühe die These »Zeit als Sinn von Sein überhaupt« zu Ende entwickelt. Er versucht, zuerst die Zeitlichkeit als Sinn des existenzialen Strukturganzen des Daseins herauszuarbeiten, und dann den Schematismus der Temporalität des Seins als solchen. In diesem zweiten Schritt misslingt ihm, abgesehen von den Unklarheiten bezüglich der Analyse der horizontalen Schemata der Zeitlichkeit des Zuhandenen und Vorhandenen, einerseits eine vollständige Analyse der horizontalen Schemata der Zeitlichkeit all der verschiedenen sechs Seinsarten (Existenz, Zuhandenheit, Vorhandenheit, Leben, Bestand und Kunstwerk), andererseits eine Herausarbeitung des einen einheitlichen Horizonts überhaupt für all diese verschiedenen Horizonte der Zeitlichkeiten. Die Lösung für den einheitlichen Horizont überhaupt hat er aber letztendlich in Zeit und Sein gefunden: Es ist das Anwesen. Das Anwesen ist jede Art der Zeitigung der Zeit selbst, und es zeigt sich in jedem Sich-einander-Reichen im Zusammenspiel von Zukunft, Gewesen und Gegenwart, z. B. sowohl im Ankommen des noch-nichtGegenwärtigen als auch im Gewesen des nicht-mehr-Gegenwärtigen. Es ist der einheitliche Horizont überhaupt, daher der Sinn von Sein überhaupt. Das Denken des Seins in dieser Phase, dass das Sein als Ereignis sich ereignet und zugleich auch sich entzieht, entspricht auch der Tatsache, dass im Anwesen als Zeitigung der Zeit selbst sich auch ein Sichentziehen zeigt. Heidegger erläutert:
Heidegger sagt auch »Die eigentliche Zeit ist vierdimensional«, er nennt das Zuspiel jeder für jede, oder das Sich-einander-Reichen, in dem die Einheit der drei Zeitdimensionen beruht, auch die vierte Dimension. Siehe Ebd., S. 20.
81
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Die These »Zeit als der Sinn von Sein« und deren Probleme
»Zum Geben als Schicken das Ansichhalten gehört, nämlich dieses, dass im Reichen von Gewesen und Ankommen Verweigerung von Gegenwart und Vorenthalten von Gegenwart spielen. Ansichhalten, Verweigerung, Vorenthalt, zeigt dergleichen wie ein Sichentziehen, kurz gesagt: den Entzug.« 82
Im Zusammenspiel der Zeit selbst zeigt sich das Reichen des Gewesen, also von nicht-mehr-Gegenwart, die Verweigerung von Gegenwart. Es zeigt sich im Reichen von Zukunft, also von noch-nicht-Gegenwart, der Vorenthalt dieser Gegenwart. Diese Verweigerung und dieser Vorenthalt bekunden gerade das Sich-entziehen. Das ist eine Beschreibung der Notwendigkeit, dass es ein Sich-entziehen in der Zeitigung der Zeit selbst, d. h. im Anwesen geben muss. Vom Ereignis her gedacht heißt dies: Zum Ereignis als solchem gehört die Enteignis. Durch dieses hört das Ereignis nicht auf, sondern gewinnt vielmehr erst sein Wesen. Genau diese Verschlungenheit von Zeit selbst als Anwesen und Sein als Ereignis macht die Seinsgeschichte aus. Nur wenn der Horizont der Erschließung des Seins als solcher die Zeit ist, ist das Sichereignen des Ereignisses die Seinsgeschichte selbst. Was ich hier noch herausarbeiten möchte, ist jedoch noch ein entscheidendes Versäumnis in der These »Zeit als Sinn von Sein überhaupt«, nämlich das Versäumnis des Raums. Die Überlegungen in den nächsten Kapiteln verfolgen entsprechend das Ziel, die Bedeutung des Raumes in Heideggers Philosophie in Bezug auf den Sinn von Sein herauszuarbeiten. Otto Pöggeler hat sehr früh in seinem Werk Der Denkweg Martin Heideggers schon dieses Problem berührt, als er das Scheitern der Fundamentalontologie bei Heidegger zur Erhellung gebracht hat: »Heideggers Versuch, durch eine Fundamentalontologie die Seinslehre der Metaphysik auf ihren Grund zurückzubringen, scheiterte. Bei der Ausarbeitung des dritten Abschnittes versuchte Heidegger, die Zeitlichkeit des Daseins in der Einheit ihrer Ekstasen (Zukunft, Gewesenheit, Gegenwart) zu fassen, um so die Zeitlichkeit des Daseins als Zeitlichkeit des Verstehens von Sein interpretieren zu können. Aber mit diesem Versuch kam er nicht zu Rande. Es meldete sich auch das Raumproblem von neuem: kann die Räumlichkeit des Daseins, das Einräumen von Raum, in der Zeitlichkeit, ja in der uneigentlichen Zeitlichkeit des Gegenwärtigens, gegründet werden?« 83 82 83
Ebd., S. 27. Otto Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, Pfullingen 1963, S. 64 f.
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Die These »Zeit als der Sinn von Sein« und deren Probleme
Pöggeler hat hier zwar das Raumsproblem gesehen, aber er hat keine neue Herausarbeitung des Raums in Bezug auf den Sinn von Sein geleistet. Ich möchte im Folgenden zeigen, warum der Raum hinsichtlich des Sinnes von Sein ins Spiel kommen muss, und wie man rechtfertigen kann, dass der Raum ebenfalls ein notwendiger Aspekt des Sinnes von Sein ist. Rückblickend gehen wir zuvor Heideggers Zusammenfassung der Zeitlichkeit und des Seinsverständnisses in Grundprobleme der Phänomenologie kurz nach. Heidegger behauptet dort: »Die Zeitlichkeit ermöglicht aufgrund ihres ekstatischen Charakters das Sein eines Seienden, das als ein Selbst mit Anderen existierend und als so existierendes mit Seiendem als Zuhandenem bzw. Vorhandenem umgeht. Sie ermöglicht das Verhalten des Daseins als Verhalten zu Seiendem, sei es zu sich selbst, zu Anderen und zum Zuhandenen bzw. Vorhandenen. Die Zeitlichkeit ermöglicht aufgrund der zu ihrer ekstatischen Einheit gehörigen Einheit der horizontalen Schemata das Verständnis von Sein, so dass es sich erst im Lichte dieses Verständnisses von Sein zu sich selbst, zu Anderen als Seienden und zu Vorhandenem als Seiendem verhalten kann.« 84
Heidegger hat hier zwei Mal betont, dass die Zeitlichkeit bzw. Temporalität mit Rücksicht auf die horizontalen Schemata das Verhalten des Daseins zu allem Seienden ermöglichen, d. h. zu sich selbst, zu Anderen und zum Zuhandenen bzw. Vorhandenen. Wir haben oben die eigentliche bzw. uneigentliche Zeitlichkeit des Daseins, d. h. Verhalten zu sich selbst, und die Zeitlichkeit des Umgangs mit Zuhandenem und der Wahrnehmung bzw. des Erkennens des Vorhandenen analysiert, aber die Zeitlichkeit des Mitseins, insbesondere des Miteinanderseins (Verhalten zu Anderen) wurde ausgespart. Wenn Heideggers zeitliche Analyse das Miteinandersein betrifft, handelt es sich nur um das Verfallen und seine entsprechende Zeitlichkeit als »vulgäre Zeit«, nämlich die Jetzt-Zeit. Er sagt: »Das jetzt und jede ausgesprochene Zeitbestimmung ist öffentlich zugänglich im Miteinandersein für das Verständnis eines jeden.« 85 Da Mitsein bzw. Miteinandersein überhaupt nicht mit Verfallen gleichgesetzt werden darf, muss die ontologische Bedingung der Möglichkeit der Erschließung des Mitseins bzw. Miteinanderseins ganz neu untersucht werden. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass es auch eigentliches Mit84 85
Heidegger, GA 24, S. 452 f.; (Hervorhebung von mir.) Heidegger, GA 24, S. 382.
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Die These »Zeit als der Sinn von Sein« und deren Probleme
sein bei Heidegger gibt, d. h. die Eigentlichkeit des Daseins nicht nur durch ein zeitliches Verhältnis zu sich selbst, sondern auch durch ein räumliches Verhältnis zu Anderen zu gewinnen ist. Da die Eigentlichkeit des Daseins immer ein Ganzseinkönnen bedeutet (die eigentliche Definition des Da-seins ist offen-sein für das Ganze), kann die Eigentlichkeit des Daseins als der Übergang vom Sinn des Seins des Daseins zum Sinn von Sein überhaupt angesehen werden. Wenn der Raum ein notwendiger Horizont für das eigentliche Sein des Daseins ist, kann er sich ferner auch als der Horizont des Sinnes von Sein überhaupt erweisen.
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7. Mitsein und Eigentlichkeit
7.1. Mitsein und Transzendenz 7.1.1. Mitsein als Wesensbestimmung des Daseins: ein fensterloses Gehäuse Das Dasein ist weder ein Subjekt ohne die Welt noch ein isoliertes Subjekt in der Welt. Die Aufdeckung des In-der-Welt-seins als Grundverfassung des Daseins bedeutet zugleich eine Ablehnung solcher idealistischen Ansätze. Wir haben oben im Kapitel 5 angezeigt, dass Heidegger an Husserls Phänomenologie kritisiert, dass er zuerst das Sein des Daseins versäumt. Das reine Bewusstsein bei Husserl, auf das und dessen intentionales Korrelat die phänomenologische Reduktion gehen soll, führt wieder in die cartesianische Tradition zurück. Das Ego denkt das Denkbare, und es selbst als ein regionales Seiendes hat zwar den epistemologischen Vorrang, aber die Seinsart des Egos selbst ist in diesem Rahmen noch nicht bedacht, nämlich: Wo ist das Ego, und wie existiert es oder wie ist seine Seinsart? Heidegger nimmt diese neue Frage auf und denkt das Dasein dergestalt, dass es im Grunde genommen in der Welt, d. h. als Mitsein mit Anderen existiert. Insbesondere wenn Heidegger das Mitsein als die Gleichursprünglichkeit von dem In-der-Welt-sein charakterisiert und damit versucht, die wesensmäßige Aufeinanderbezogenheit der Menschen phänomenologisch herauszuarbeiten, setzt er sich radikal von einer Bewußtseinsphilosophie der cartesianischen Traditionslinie ab. Er behauptet: »Das Mitsein bedeutet einen mit dem In-der-Welt-sein gleichursprünglichen Seinscharakter des Daseins als solchen, und das ist die formale Bedingung der Möglichkeit der Mit-erschlossenheit des Daseins Anderer für das je eigene Dasein. Dieser Charakter des Mitseins bestimmt das Dasein auch dann, wenn ein anderes Dasein faktisch
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Mitsein und Transzendenz
nicht angesprochen und als vorhanden wahrnehmbar ist. Auch das Alleinsein des Daseins ist Mitsein in der Welt.« 1
Das Mitsein ist die Wesensbestimmung des Daseins. Damit ist negativ gesagt: Es ist nicht der Fall, dass das Dasein mal ein Mitsein mit Anderen und mal nicht ist. Selbst wenn das andere Dasein mir ganz weit entfernt ist, mir nicht wahrnehmbar ist, oder wenn es sich nicht um mich kümmert, ist es auch und mit »da«. 2 Wenn ich allein zu Hause bin, oder wenn ich mich von den Massen distanziere, existiere ich auch mit »den Anderen« als ein Mitsein. Alleinsein ist nur eine Weise des Mitseins in der Welt. »Die Anderen« besagt nicht den ganzen Rest der Übrigen außer mir, aus dem sich das Ich heraushebt, sondern die Anderen sind vielmehr die, von denen man sich selbst zumeist nicht unterscheidet, unter denen man selbst auch ist. Um das »Auch-mit-da-sein« des Anderen zu verdeutlichen, ist es wichtig, das »Zusammenvorhandensein« vom »Miteinandersein« zu unterscheiden. Es ist nicht der Fall, dass das andere Dasein oder Dasein Anderer einfach neben uns vorhanden ist und es dazwischen vielleicht noch andere Dinge gibt. Sondern anderes Dasein ist mit uns da, Mit-da-sein. Vergegenwärtigen wir uns einen exemplarischen, leichter zugänglichen Fall eines ontologischen Mitseins: Ein Chinese und ein Deutscher haben sich nicht getroffen und nicht kennengelernt, sie sind weit entfernt voneinander, aber jederzeit besteht die Möglichkeit, dass sie aufeinander zukommen. Das Miteinandersein hat nichts zu tun mit dem physikalischen Abstand, wie das Buch neben einem Stein liegt, sondern es ist eine ontologische Bestimmung des Wesens des Daseins. Wir selbst sind bestimmt durch Mitsein mit den Anderen. Dasein und Dasein sind ein Mit-einander. Warum nennen wir das vorhandene Sein eines Steins und eines nebenstehenden Buches kein Miteinandersein? Weil sie zwar räumlich nah beieinander sind, aber sie sind nie »mit-einander«. Sie verhalten sich nicht zueinander. Die charakteristische Bestimmung des Mitseins ist: »in gleicher Weise verhalten zu …« 3. Das Miteinandersein besagt soviel wie das existenziale »Sich-zueinander-Verhalten« 1 Heidegger, GA 20, S. 328. Siehe auch: Sein und Zeit, S. 114: »Die Nachforschung in der Richtung auf das Phänomen, durch das sich die Frage nach dem Wer beantworten läßt, führt auf Strukturen des Daseins, die mit dem In-der-Weltsein gleich ursprünglich sind: das Mitsein und Mitdasein.« 2 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 118. 3 Heidegger, GA 27, S. 89.
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Mitsein und Eigentlichkeit
oder die Aufeinanderbezogenheit. Im Wesen eines Da-seins liegt das Mit-sein, auch wenn faktisch ein anderes Seiendes nicht existiert. Dasein bringt schon die Sphäre möglicher Nachbarschaft mit sich; es ist von Hause aus schon Nachbar zu …, während z. B. Stein und Buch nicht benachbart sein können. Mitsein bedeutet auch nicht: »wir beide zusammen, ohne die übrigen Anderen«, ebensowenig: »es gibt nur Wir, kein Selbst«. Es gilt deswegen zu beachten, dass Heidegger weiterhin die Gleichursprünglichkeit von Sein-bei, Mitsein und Selbstsein betont: »Das Seiende qua Mensch ist solches, das sein ›Da‹ mit sich bringt, die Offenbarkeit, innerhalb deren zuerst das Dasein ausdrücklich zu sich selbst sich verhalten und in den verschiedenen Weisen es selbst sein kann. Selbst und Ich sind nicht das Gleiche. Dieses Selbstsein des Daseins aber kommt wiederum nicht erst zustande durch Reflexion auf sich, auch das reflexionslose Auf-gehen bei etwas ist ein Selbstsein. Daraus wird schon deutlich, dass Dasein gleichursprünglich immer schon Sein bei …, Mit-sein und Selbstsein ist. Es bleibt die Frage nach der Einheit dieser und noch anderer Wesensbestimmungen.« 4
Mitsein ist gleichursprünglich mit Sein-bei … und Selbstsein. Dies lässt sich zuerst daran zeigen, dass die Begegnung mit den Anderen auch in der Welt ist, d. h. dass Mitsein zugleich Sein-bei begegnenden Seienden ist, sowohl bei Zuhandenen als auch Vorhandenen. Die Welt des Daseins ist Mitwelt und »weil zur Grundverfassung des Daseins das In-der-Welt-sein gehört, ist das existierende Dasein wesenhaft Mitsein mit Anderen als Sein bei innerweltlichem Seienden«. 5 Das heißt, das Mitsein mit Anderen wird auch miterschlossen in dem besorgenden Umgang mit dem Zuhandenen. In der Verweisungsganzheit verweist das Zuhandene auch auf einen möglichen Träger oder Hersteller, nämlich die Anderen: »Im umweltlich Besorgten begegnen die Anderen als das, was sie sind; sie sind das, was sie betreiben.« 6 Beim Zeuggebrauch ist ein möglicher Anderer auch mit da, abgesehen davon, ob er faktisch anwesend ist oder nicht. Auch beim Verhalten zu Vorhandenen offenbart sich das Mitsein mit Anderen.
Ebd., S. 148. Heidegger, GA 24, S. 394. 6 Heidegger, Sein und Zeit, S. 126. Vgl. auch Heidegger, GA 24, S. 414: »Im Zeuggebrauch aber ist das Dasein je schon auf das Mitdasein Anderer eingespielt. Das Dasein ist auch im Gebrauch eines Zeugs je schon Mitsein mit Anderen, wobei völlig gleichgültig ist, ob ein Anderer faktisch anwesend ist oder nicht.« 4 5
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Mitsein und Transzendenz
In jeder Wahrnehmung eines Gegenstandes ist auch darauf mit-intendiert, dass ein Anderer von einer anderen Perspektive eine andere Seite desselben Gegenstands wahrnimmt. In diesem Fall ist das Mitsein dann Sichverhalten mehrerer zu Selbigem. Der Andere ist nicht nur seiend, sondern mit Da-seiend. Das »Mit« ist nur dort, wo ein »Da« ist. Sofern das Da-sein ist, »bringt es ein Da mit sich, tritt als ein Da Mitbringendes notwendig so in den Umkreis des anderen, dass sie diesen mit sich teilen.« 7 Die Wahrheit qua der Unverborgenheit des Vorhandenen ist konstitutiv für das Dasein als Miteinandersein. Da-sein bedeutet schon selbst als eine Offenheit für die Anderen, und deswegen nennt Heidegger Mitsein auch »Sichteilen in Wahrheit.« 8 Die Gleichursprünglichkeit von Mitsein und Selbstsein lässt sich dann daran zeigen, dass Sichselbstwählen des Daseins zugleich ein Wählen des Mitseins mit Anderen ist. Heidegger erläutert: »Im Transzendieren transzendiert das Dasein jedes Seiende: sich selbst wie jedes Seiende seiner Art (Mitdasein) und solches von nicht daseinsmäßigem Charakter. Im Sichselbstwählen des Daseins wählt das Dasein eigentlich gerade sein Mitsein mit Anderen und gerade sein Sein bei nicht daseinsmäßigem Seienden.« 9
Mitsein negiert gar nicht die Möglichkeit, dass das Dasein sich selbst wählen, d. h. uneigentlich bzw. eigentlich sein kann. Das Dasein als Mitsein ist zunächst und zumeist das Man. Das Man ist der alltägliche Modus des Selbstseins des Daseins als Mitsein. Wenn das Dasein in der Weise des Man ist, dann ist es nicht im eigenen Selbst, es ist uneigentlich. Jean-Luc Nancy hat darauf aufmerksam gemacht, dass es zwei Seinsmodi des Mitseins gibt, nämlich der uneigentliche als »Man« und der eigentliche als »Volk« 10. Er hat überzeugend klargemacht, dass bei Heidegger eine positive Bestimmung der GemeinHeidegger, GA 27, S. 137. Ebd., S. 107. 9 Heidegger, GA 26, S. 245. 10 Heidegger, Sein und Zeit, S. 384: »Wenn aber das schicksalhafte Dasein als In-derWelt-sein wesenhaft im Mitsein mit Anderen existiert, ist sein Geschehen ein Mitgeschehen und bestimmt als Geschick. Damit bezeichnen wir das Geschehen der Gemeinschaft, des Volkes«. Das Volk bedeutet dann schicksalhaft und geschichtlich als eine Gemeinschaft zu existieren. Das Geschick offenbart sich aber nicht im Alltag wie das Man-selbst, sondern im »Augenblick«: »Das in der Entschlossenheit liegende vorlaufende Sichüberliefern an das Da des Augenblicks nennen wir Schicksal. In ihm gründet mit das Geschick, worunter wir das Geschehen des Daseins im Mitsein mit Anderen verstehen«, S. 386. 7 8
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Mitsein und Eigentlichkeit
schaft als »das eigentliche Volk« zu bemerken ist. 11 In dieser Arbeit werden wir uns auf das eigene Selbst des Daseins in der Hinsicht auf die Fürsorge des Anderen konzentrieren. Es wird im nächsten Kapitel gezeigt werden, dass die vorausspringende-befreiende Fürsorge das eigentliche Mitsein mit dem Anderen ermöglicht. Auf der anderen Seite negiert die Eigentlichkeit des Daseins auch nicht das Mitsein, selbst wenn das Dasein vorlaufend auf den Tod entwirft. Mitsein und Selbstsein sind gleichursprünglich. Wenn es stimmt, dass Mitsein die Wesensbestimmung des Dasein ist, und dass Mitsein und Selbstsein gleichursprünglich sind, wie kann sich dann diese Feststellung mit der Vereinzelung und Jemeinigkeit des Daseins, insbesondere mit der Unbezüglichkeit des eigentlichen Selbst-seins im Entwurf auf den Tod vereinbaren? Im Folgenden wird diesen Problemen nachgegangen. Heidegger stellt fest: »Das Ansprechen muss von Dasein gemäß dem Charakter der Jemeinigkeit dieses Seienden stets das Personalpronomen mitsagen: ›ich bin‹, ›du bist‹« 12; und: »Der Tod ›gehört‹ nicht indifferent nur dem eigenen Dasein zu, sondern er beansprucht dieses als einzelnes.« 13 Wie kann die Tatsache, dass das Dasein vereinzelt und immer jemeinig ist mit dem Mitsein als Wesensbestimmung übereinstimmen? Führt die Vereinzelung des eigentlichen Daseins im Tod nicht zum »Atomismus« 14 oder »Atomic Individualism«? Dies erfordert ein exaktes Verständnis des Verhältnisses von Vereinzelung und Mitsein. Das lässt sich am besten an Heideggers Interpretation von Leibniz’ Satz von der »Fensterlosigkeit der Monaden« zeigen. Laut Leibniz’ Monadenlehre vereinzelt jede Monade als solche sich selbst; jede Monade ist je für sich das Ganze »bildend«. Die beseelte Monade stellt aus einem bestimmten Augenpunkt von sich aus das Ganze vor, und sie ist daher in gewisser Weise in sich das Universum. Leibniz bezeichnet in diesem Sinne die Monade als »mundes concentratus«. Die Monade bedarf wesenhaft nicht des Empfangens und es liegt in ihrem Wesen keine Rezeptivität von außen. Jede Jean-Luc Nancy, »Das Mit-sein des Daseins«, in: Singulär plural sein, Berlin 2004, S. 163 f.: »Das Volk ist eigentlich, denn in ihm oder als es läuft sich das Mit als das Gemeinsame einer Gemeinschaft voraus«. 12 Heidegger, Sein und Zeit, S. 42. 13 Ebd., S. 263. 14 Vgl. Charles Taylor, The Ethics of Authenticity, Cambridge, Massachusetts and London, 1991, S. 73 11
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Mitsein und Transzendenz
Monade hat deswegen kein Fenster, weil sie in sich verschlossen und verkapselt ist und daher kein Fenster braucht. 15 Hingegen braucht das Dasein als Monade kein Fenster: »[N]icht, weil sie nicht hinaus zu gehen brauchen, sondern weil sie wesenhaft schon draußen sind.« 16 Das Dasein ist vereinzelt, nicht weil es in sich das Ganze ist, sondern weil es offen für das Ganze ist, d. h. weil es die Welt spiegelt. Fensterlosigkeit des Daseins bedeutet gar nicht Verschlossenheit wie bei Leibniz, sondern gerade das schlichte Offensein. Sofern das Dasein immer offen für das Ganze ist, ist es gar nicht in einem Gehäuse, sondern immer Zu-sich, Mitsein mit Anderen und Sein- bei Zuhandenen bzw. Vorhandenen. Diese Fensterlosigkeit im Sinne des Offen-seins macht die Transzendenz des Daseins überhaupt aus: »Das Dasein ist gar nicht in einem Gehäuse. Aufgrund der ursprünglichen Transzendenz erübrigt sich ein Fenster für das Dasein … Dasein als solches ist Zu-sich-sein, Mitsein mit Anderen und Sein bei Zuhandenem und Vorhandenem. In den Strukturmomenten des Zu-sich, des Mit-Anderen und des Bei-Vorhandenem liegt durchgängig der Charakter des Überschritts, der Transzendenz.« 17
Daraus ist ersichtlich, dass das Dasein ein solches Einzelnes ist, das für das Ganze offen ist, dadurch, dass es sich transzendiert. Es ist ein fensterloses Gehäuse. In Rücksicht auf den Ausdruck, dass das Dasein als Monade »eine Welt spiegelnd« 18 Transzendenz sei, können wir
Renato Cristin hat zu diesem Thema der Einheit und Gleichursprünglichkeit von Monade und Welt ganz wertvolle Bemerkungen gemacht: »Leibniz’ Subjekt schaut in sich selbst hinein und aus sich heraus. Damit entdeckt es sich selbst als denkendes Ich sowie die gedachten Dinge und die Möglichkeit, die Dinge zu denken. Das denkende Subjekt und die verschiedenen, vom Subjekt gedachten Dinge sind also gleichursprünglich. Der Begriff der Gleichursprünglichkeit zeigt an, auf welche Weise die Beziehungen von Ich und Welt aufgefaßt sind. Als konkretes Subjekt knüpft die Monade einen Bezug zur Welt und zu allen Monaden, indem sie die eigene Gleichursprünglichkeit mit dem Universum entdeckt […] Die große Neuheit der Leibnizschen Auffassung des Subjekts besteht gerade darin, dass Leibniz die Schwierigkeit intersubjektiver Kommunikation erkennt, indem er diese Schwierigkeit durch die theoretische Fiktion der geschlossenen Monade ausdrückt und ihre Auflösung in Form eines Paradoxons vorstellt«. Siehe: Renato Cristin, »Monadologische Phänomenologie – Wege zu einem neuen Paradigma?«, in: Phänomenologie und Leibniz, (Hrsg.) Renato Cristin und Kiyoshi Sakai, Freiburg/München 2000, S. 217. 16 Heidegger, GA 27, S. 145. 17 Heidegger, GA 24, S. 427. 18 Ebd. 15
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Mitsein und Eigentlichkeit
metaphorisch sagen, dass das Dasein ein vereinzelter Spiegel ist, in dem die ganze Welt sich widerspiegelt und offenbart. Mitsein und Vereinzelung des Daseins vereinbaren sich derart, dass das Dasein als einzelnes sich transzendiert, damit es sein eigenes Selbst bzw. eigenes Mitsein mit Anderen überhaupt wählen kann. Die Vereinzelung des Daseins darf durchaus »nicht monadisch als eine vollkommene Abkapselung« 19 verstanden werden, vielmehr ist das Dasein als das Vereinzelte ein offenes fensterloses Gehäuse. Wir kommen nun zum zweiten Problem, nämlich wie die Unbezüglichkeit des Todes mit dem Mitsein übereinstimmen kann. Heidegger charakterisiert »Unbezüglichkeit« folgendermaßen: »Der Tod ist eigenste Möglichkeit des Daseins … Die eigenste Möglichkeit ist unbezügliche […] Die im Vorlaufen verstandene Unbezüglichkeit des Todes vereinzelt das Dasein auf es selbst. Diese Vereinzelung ist eine Weise des Erschließens des ›Da‹ für die Existenz. Sie macht offenbar, dass alles Sein bei dem Besorgten und jedes Mitsein mit Anderen versagt, wenn es um das eigenste Seinkönnen geht […] Das Versagen des Besorgens und der Fürsorge bedeutet jedoch keineswegs eine Abschnürung dieser Weisen des Daseins vom eigentlichen Selbstsein.« 20
Zuerst ist der Tod radikal von dem empirischen und biologischen Ableben zu unterscheiden. Das Gestorbene ist dementsprechend auch von dem Verstorbenen zu unterscheiden. Das Letztere ist nur ein bloß vorhandener Körper und daher ein Gegenstand des Besorgens. Tod ist dem Dasein immer eine existenziale Möglichkeit, und er kommt bestimmt eines Tages, aber wann genau ist unbestimmt. Er ist daher eine unbestimmte und unüberholbare Möglichkeit. Da Tod immer nur die Möglichkeit ist, auf welche wir vorlaufend entwerfen können, ist es hinsichtlich der Unbezüglichkeit und Eigentlichkeit des Daseins durchaus widersinnig, ihn so zu verstehen, als ob wir eigentlich wären, wenn wir faktisch verstorben wären. Als ob auf der Erde zu leben die Hölle wäre und nur nach dem Tod das Paradies wäre; als ob Heidegger gar derjenige Philosoph wäre, der für den Selbstmord plädieren würde. Sein-zum-Tod spielt sicher eine positive und notwendige Rolle in Heideggers philomenologischer Analyse der EigentVgl. Holger Helting, »Vom Rätsel des Begriffs ›Mitsein‹«, in: Coriando, Paola-Ludovika (Hrsg.): Vom Rätsel des Begriffs: Festschrift für Friedrich-Wilhelm v. Herrmann zum 65. Geburtstag, 1999, S. 164. 20 Heidegger, Sein und Zeit, S. 263. 19
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Mitsein und Transzendenz
lichkeit des Daseins. Dennoch ist der Tod nicht eine »positive« Möglichkeit, als ob das Dasein sie je früher verwirklichen könnte, desto eigentlicher das Dasein würde. Vielmehr ist der Tod eine »unmögliche« Möglichkeit, die nicht als Wirkliches sein könnte: »Der Tod als Möglichkeit gibt dem Dasein nichts zu ›Verwirklichendes‹ und nichts, was es als Wirkliches selbst sein könnte. Er ist die Möglichkeit der Unmöglichkeit jeglichen Verhaltens zu …, jedes Existierens« 21
Der Tod ist »theoretisch« das Ende des »Verhaltens zu …«, das das Wesen des Mitseins ausmacht. Diese Unmöglichkeit, d. h. sich nicht mehr wirklich zu irgendwas verhalten zu können, bleibt selbst aber immer nur eine Möglichkeit. Der Tod ist zwar unvertretbar und beansprucht deswegen das Dasein als Einzelnes, was die Unbezüglichkeit des Todes ausmacht. Aber trotzdem ist das Dasein auch in diesem Augenblick ein Mitsein, weil es nur ein Selbstentwurf auf diese Möglichkeit, d. h. keine reine Wirklichkeit ist. Im Selbstentwurf auf den Tod lebt das Dasein noch, und zwar verhaltend zu den Anderen. Die Unbezüglichkeit des Selbstentwurfs auf den Tod macht zwar offenbar, dass alles Sein bei dem Besorgten und jedes Mitsein mit Anderen »versagen«, wenn es um das eigenste Seinkönnen geht. Aber das Versagen des Besorgens und der Fürsorge bedeutet »jedoch keineswegs eine Abschnürung dieser Weisen des Daseins vom eigentlichen Selbstsein« 22. Das Mitsein im Selbstentwurf auf den Tod »versagt«, aber nicht »abgeschnürt«. Um dieses Verhältnis besser zu verstehen, können wir uns auf die »phänomenologische Reduktion« berufen. Das Mitsein in der Unbezüglichkeit des Todes ist nur phänomenologisch reduziert, es ist um des eigenen Selbst willen außer Kraft gesetzt, nämlich »versagt«, ist aber nicht ontologisch ausgesetzt, nicht »abgeschnürt«. Dies lässt sich am folgenden Satz aus Sein und Zeit zeigen: »Dasein kann, zumal da es wesenhaft Mitsein mit Anderen ist, eine Erfahrung vom Tode gewinnen«. 23
21 22 23
Ebd., S. 262. Ebd., S. 263. Ebd., S. 237.
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Mitsein und Eigentlichkeit
7.1.2. Transzendenz und ihre reflexive Struktur: Welt und Selbst Oben wurde gezeigt, dass das Dasein dadurch ein fensterloses Gehäuse ist, dass es offen für das Ganze ist oder dass es die Welt spiegelt. Sofern das Dasein immer offen für das Ganze ist, ist es gar nicht in einem Gehäuse, sondern immer gleichursprünglich Zu-sich-sein, Mitsein mit Anderen und Sein- bei Zuhandenen bzw. Vorhandenen. Diese Fensterlosigkeit im Sinne des Offen-seins macht die Transzendenz des Daseins überhaupt aus. Nun möchten wir die Transzendenz und ihre reflexive Struktur weiter erörtern, um zeigen zu können: Nur wenn das Dasein sich transzendieren kann, d. h. über sich hinaus und zu Anderen gehen kann, kann das Dasein sich sein eigenes Selbst bzw. eigenes Mitsein mit Anderen überhaupt wählen. Die Transzendenz ist zuerst eine Fortsetzung des Begriffs der Intentionalität bei Husserl. Diese Fortsetzung kann sich auf die folgende dreifache Weise bewähren. Zum Ersten kann gezeigt werden, dass die »Immanenzphilosophie« bei Husserl durch die Fensterlosigkeit des Daseins überwunden werden kann. Der Immanenzbegriff bei Husserl ist zweifältig. Es gibt einerseits die »reelle Immanenz«, in der es um die sinnlichen Inhalte im Erlebnis und deren Auffassung geht; andererseits gibt es auch eine »absolute Immanenz« im »intentionalen Sinne«, in der es um die »absolute Selbstgegebenheit nach der phänomenologischen Reflexion« 24 geht. Das Immanente in diesem Sinne hat keine Seiten und Abschattungen, es ist daher die absolute Wirklichkeit, die »durch eine unbedingte, schlechthin unaufhebliche Setzung gegeben« 25 ist. Alle echten Erkenntnisquellen kommen deshalb aus der Immanenz des Bewusstseins. Bei Husserl bedeutet das: Das Bewusstsein ist in seine Immanenz eingeschlossen. Bei Heidegger hingegen: Das Dasein ist immer schon draußen: in der Welt, bei den Dingen. Die Fensterlosigkeit des Daseins steht genau der Immanenz des Bewusstseins entgegen. Was heißt hier aber »draußen«? Bin ich als Existenz außerhalb meines Leibes? Ist das Bewusstsein nicht ebenso »draußen«, nämlich bezogen auf Dinge? 26 Der wesentliche Unterschied zwischen Husserls IntenHusserl, Die Idee der Phänomenologie, Hua 2, S. 55 f. Husserl, Ideen 1, Hua 3, S. 98. 26 Frank Schlegel gibt dazu seine Deutung: »Das Dasein ist draußen bei den Dingen, ohne von sich selbst fortgehen zu müssen. Diese Möglichkeit unterscheidet die 24 25
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Mitsein und Transzendenz
tionalität und Heideggers Transzendenz besteht darin, dass das Transzendieren des Bewusstseins innerhalb der absoluten Immanenz des Bewusstseins selbst ist, während die Transzendenz des Daseins das Über-sich-hinaus-gehen bedeutet. Das Dasein transzendiert sich selbst, anstatt nur den Gegenstand. »Was aber ursprünglich transzendent ist, d. h. transzendiert, sind nicht die Dinge gegenüber dem Dasein, sondern das Transzendente im strengen Sinne ist das Dasein selbst. Die Transzendenz ist eine Grundbestimmung der ontologischen Struktur des Daseins.« 27 Das Dasein ist In-der-Welt-sein, gleichursprünglich auch Mitsein mit Anderen und Sein-bei den Dingen. Dies gehört zu seinem Wesen. Das Dasein ist immer schon draußen, immer schon transzendiert, und es geht immer schon über sich hinaus, weil es von Anfang an kein Fenster hat. Zum Zweiten lässt sich zeigen, dass Heidegger dem Konzept der Intentionalität eine Grundstimmung des Daseins, nämlich die Tatsache, dass der Mensch immer schon stimmungsmäßig auf die Welt als Ganzes bezogen ist, entgegenstellt. Nur weil wir der Welt gegenüber immer schon irgendwie gestimmt sind, gehen uns dann auch die intentional erfassten einzelnen Sachen etwas an. Nur aus dem Ganzen bekommt ein einzelner »Vorfall« seine Bedeutung. Nur wenn das Dasein immer auf das Ganze transzendiert, kann es sich intentional zum Seienden verhalten. 28 Heidegger sucht noch weiter als Husserl nach der Bedingung der Möglichkeit des Phänomens bezüglich des Sichverhaltens des Menschen. Heidegger fragt nicht nur, wie die Intentionalität sein Objekt konstituiert oder wie das Dasein sich zu einem Zuhandenen verhalten kann, sondern er denkt ontologisch, dass das Dasein ein einzelnes Objekt immer in Bezug auf das Ganze versteht, nämlich das Dasein immer schon die Welt im Ganzen ausgelegt hat bzw. immer schon Sein überhaupt verstehen können muss. Die Transzendenz des Daseins übersteigt Seiendes »nicht gelegentlich, nicht dieses und jenes, mit Auswahl, sondern als Dasein, […] übersteigt [es] Seiendes im Ganzen.« 29 Von daher können wir sagen, dass »Im Ganzen« zur onmenschliche Existenz von allen bloß vorhandenen Dingen, die in ihrer Körperlichkeit tatsächlich allein dort sein können, wo sie real vorliegen«. Siehe: Frank Schlegel, Phänomenologie des Zwischen, Die Beziehung im Denken Martin Heideggers, Frankfurt am Main 2011, S. 63. 27 Heidegger, GA 24, S. 230. 28 Siehe auch das Kapitel 3.2.3 dieser Arbeit 29 Heidegger, Einleitung in die Philosophie (1928/29), GA 27, S. 306.
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Mitsein und Eigentlichkeit
tologischen Transzendenz gehört. Das, woraufzu das wesenhaft transzendierende Dasein transzendiert, ist gerade die Welt. Transzendieren heißt In-der-Welt-sein. Das Dasein transzendiert sich, es geht über sich hinaus und auf die Welt als das Ganze hin. Es kann sich dadurch überhaupt erst zu etwas verhalten, und zwar zu Vorhandenem, zu Zuhandenem, zu Anderen und zu sich selbst. Daraus ergibt sich: Wenn alles Verhalten des Daseins zu Seienden intentional ist, dann »ist die Intentionalität nur möglich auf dem Grunde der Transzendenz«. 30 Zum Dritten soll erläutert werden, dass Heidegger durch die Erweiterung der Intentionalität auch eine ganz wichtige neue Charakteristik des Sichverhaltens ins Spiel bringt, und zwar: das Mitenthülltsein des Selbst. Heidegger legt dar: »Zur Intentionalität gehört nicht nur ein Sichrichten-auf und nicht nur Seinsverständnis des Seienden, worauf es sich richtet, sondern auch das Mitenthülltsein des Selbst, das sich verhält. Das intentionale Sichrichten-auf ist nicht einfach ein aus einem Ich-Zentrum entfliehender Aktstrahl, der erst nachträglich auf das Ich bezogen werden müsste in der Weise, dass dieses Ich in einem zweiten Akt auf den ersten (das erst Sichrichten-auf) sich zurückrichtete, vielmehr gehört zur Intentionalität die Miterschlossenheit des Selbst.« 31
Diese Darstellung bringt die reflexive Struktur der Transzendenz deutlich ans Licht. Es soll zuerst klar gemacht werden, dass jedes Sichverhalten immer ein seinsverstehendes Sichrichten auf Seiendes ist. In diesem Seinsverstehen gibt es nicht nur Verständnis des Seienden, worauf das Dasein sich richtet, sondern auch Verständnis des Daseins selbst, nämlich das Mitenthülltsein des Selbst, das sich verhält. Ich hämmere z. B. Nägel, um Bretter zu sichern; eine solche Aktion hat zugleich immer eine selbstbezügliche Dimension: Ich versuche, als ein Zimmermann zu sein; als wer zu sein, ist immer miterschlossen in dem, was ich tue. 32 Das Verstehen besagt immer ein Sichentwerfen auf eine Möglichkeit (auf ein Seinkönnen), und dann immer ein Sichhalten in dieser Möglichkeit. Im Phänomen des Entwurfs liegt eine doppelte Struktur. Erstens: Das, woraufhin sich 30 Heidegger, Vom Wesen des Grundes, S. 139, 141. Der Gedanke, dass die Transzendenz der Intentionalität bzw. der objektivierenden Thematisierung vorausgeht, ist eigentlich in Sein und Zeit schon entfaltet. Siehe: Heidegger, Sein und Zeit, S. 363. 31 Heidegger, GA 24, S. 225. 32 Vgl. Steven Crowell, Normativity and Phenomenology in Husserl and Heidegger, Cambridge 2013, S. 244.
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Mitsein und Transzendenz
das Dasein entwirft, ist ein Seinkönnen seiner selbst; zweitens: Dieser Entwurf auf etwas ist immer ein Entwurf von … Sofern das Dasein sich auf die Möglichkeit entwirft, enthüllt er sich auch als dieses Seinkönnen. 33 Sich-entwerfen auf die Möglichkeit ist zugleich ein Sich-offenbarwerden. Es soll des Weiteren beachtet werden, dass das Mitenthülltsein des Selbst von einer (Selbst-)Reflexion zu unterscheiden ist. Reflexion bedeutet: sich an etwas brechen, von da zurückstrahlen, d. h. von etwas her im Widerschein sich zeigen. Das Dasein bedarf aber nicht erst einer Rückwendung zu sich selbst. Es ist primär und ständig in den Dingen. 34 »Das Selbst ist dem Dasein ihm selbst da, ohne Reflexion und ohne innere Wahrnehmung, vor aller Reflexion. Die Reflexion im Sinne der Rückwendung ist nur ein Modus der Selbsterfassung, aber nicht die Weise der primären Selbst-Erschließung.« 35 Die Reflexivität oder die Selbstbezüglichkeit der Transzendenz betrifft keine Bewusstseinsphilosophie, sie ist vielmehr existenzial und ontologisch. Es geht nicht um eine Selbsterfassung, oder die Erkenntnis von Sich-selbst, sondern um die ontologische Selbsterschließung. Es gibt in jedem Sichverhalten zu den Anderen eine Selbsterschließung. Selbsterschließung bedeutet eine ursprüngliche Struktur des Phänomens selbst und nicht ein nachträgliches Erfassen. Es ist nicht der Fall, dass das Sichrichten-auf etwas der erste Akt ist und dann die Selbsterschließung der zweite. Vielmehr gehört sie zur Transzendenz des Daseins selbst, sie macht die reflexive Struktur der Transzendenz aus. Die ontologische Begründung der Selbsterschließung, nämlich der Reflexivität der Transzendenz, besteht darin, dass es »diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst geht«. 36 Dieses Worumwillen ist dem Dasein nicht ein zuverwirklichendes Ziel, das nur in der Zukunft steht und noch nicht zu erreichen ist, sondern es ist eine
Vgl. Heidegger, GA 24, S. 392. Vgl. Steven Crowell, Normativity and Phenomenology in Husserl and Heidegger, S. 247: »I am constantly self-aware because I discover myself in what I do: I am aware of myself as a carpenter, father, or teacher because the things that surround me show me the face that they show to one who acts as a carpenter, father, or teacher does. And because I am never without some practical identity, I am always self-aware in one way or another.« 35 Heidegger, GA 24, S. 226. 36 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 12. 33 34
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Mitsein und Eigentlichkeit
wesentliche strukturelle Bestimmung des Seins des Daseins selbst. Emil Angehrn hat dies als ein »Wesenszug menschlicher Existenz« herausgearbeitet: »Wenn Heidegger in Sein und Zeit den Menschen als jenes Wesen beschreibt, dem es »in seinem Sein um dieses Sein selbst geht«, so bringt er ein bestimmtes Sich-zu-sich-selbst-Verhalten, eine bestimmte Reflexivität als Wesenszug menschlicher Existenz zum Tragen. Es ist ein Wesenszug, den der Mensch mit keinem anderen Lebewesen teilt und der sich der externen Betrachtungsweise der Wissenschaft entzieht. In dieser Selbstbezüglichkeit liegt, dass der Mensch sich fragend auf sich selbst bezieht.« 37
In dem Sichverhalten zu Anderen vollzieht sich zugleich auch ein Sich-zu-sich-selbst-Verhalten. Wenn das Dasein sich transzendiert, d. h. auf das Andere als solches zukommt, begegnet es auch sich selbst. Damit können wir sagen: »everything you have done to me, already done to you!«. Was du mir getan hast, hast du schon dir getan. Der Kern dieser Weisheit liegt an dem Wort »already«. Es macht die reflexive Struktur der menschlichen Transzendenz aus. Die Transzendenz auf das Andere hin geht zugleich auch auf sich selbst. Der Mensch versteht sich im seinem Tun zu den Anderen, er lässt sich auch in seinem Tun zu den Anderen verstehen. Jede Verhaltung zu Anderen ist zugleich eine Selbsterschließung. Es ist sogar falsch zu sagen, dass diese Selbsterschließung eine Rück-bewegung von der Hin-bewegung der Verhaltung ist. Vielmehr: Es ist eine Bewegung, die eine Doppel-Struktur hat. Die Selbsterschließung und die Transzendenz gehören zusammen im eigentümlichen Wesen des menschlichen Daseins, was den Menschen von allem Vorhandenen und anderen Lebewesen unterscheidet. Sofern einerseits die Transzendenz des Daseins auf die Welt als das Ganze hin ist, sie andererseits auch mit der Selbsterschließung des Daseins zusammengehört, müssen Selbst und Welt auch zusammengehören. Heidegger erläutert: »Selbst und Welt gehören in dem einen Seienden, dem Dasein, zusammen. Selbst und Welt sind nicht zwei Seiende, wie Subjekt und Objekt, auch nicht wie Ich und Du, sondern Selbst und Welt sind in der Einheit der Struktur des In-der-Welt-seins die Grundbestimmung des Daseins
Emil Angehrn, Sinn und Nicht-Sinn: Das Verstehen der Menschen, Tübingen 2010, S. 347.
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Mitsein und Transzendenz
selbst. Nur weil ich ein existierendes Selbst bin, bin ich ein mögliches Du für einen Anderen als Selbst.« 38
Selbst und Welt gehören in der Einheit der Grundverfassung des Daseins, des In-der-Welt-seins, zusammen. Da die Erschlossenheit des Menschen im erschließenden Vollzug aufgeschlossen ist, ist auch die Welt nur im daseinsmäßigen Sichverhalten zur Weltaufgeschlossenheit als Ganzheit entworfen. Der Weltentwurf ist zugleich der Entwurf der Daseinsmöglichkeiten, d. h. der Möglichkeiten des Sichverhaltens zum Seienden. Selbst und Mitsein schließen sich nicht aus, sondern bilden eine innere Einheit. Die Zusammengehörigkeit von Selbst und Welt ist genau die Einheit der Struktur des In-der-Weltseins. Das Selbst des Daseins als solchen, nämlich die Selbstheit, ist für Heidegger ganz »neutral« (weil ontologisch) 39, es ist ursprünglicher als Ich-selbst und Du-selbst. Selbstheit ist die Voraussetzung für die Möglichkeit der Ichheit, die immer nur im Du sich erschließt, also die Möglichkeit eines Verhältnis von Ich-Du. Sofern Selbst und Welt im Dasein zusammengehören, hat Heidegger die häufig vorkommende Entgegensetzung von »egoistisch« und »altruistisch« überwunden. Er erläutert: »Der Satz: Das Dasein existiert umwillen seiner, enthält keine egoistisch-ontische Zwecksetzung für eine blinde Eigenliebe des jeweils faktischen Menschen. Er kann daher nicht etwa durch den Hinweis darauf ›widerlegt‹ werden, dass viele Menschen sich für die Andern opfern und dass überhaupt die Menschen nicht nur sich allein, sondern in Gemeinschaft existieren. In dem genannten Satz liegt weder eine solipsistische Isolierung des Daseins noch eine egoistische Aufsteigerung desselben.« 40
Diese deutliche Feststellung ist so entschieden, dass alle Vorwürfe der möglichen egoistischen, asozialen oder atomistisch-individualistischen Interpretation des Daseins durchaus nicht zutreffend sein können. Sofern Heidegger das Mitsein als Wesensbestimmung des Daseins bzw. die Zusammengehörigkeit von Selbst und Welt mit Nachdruck zum Ausdruck gebracht hat, gibt es keinen Interpretationsspielraum mehr für solche Vorwürfe. Heidegger ist auch nicht Heidegger, GA 24, S. 422. Heidegger, GA 9, S. 157 f.: »Nie aber ist Selbstheit auf Du bezogen, sondern – weil all das erst ermöglichend – gegen das Ichsein und Dusein und erst recht etwa gegen die ›Geschlechtlichkeit‹ neutral.« 40 Heidegger, GA 9, S. 157. 38 39
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Mitsein und Eigentlichkeit
zur Gegenseite des Altruismus gegangen. Mitsein bedeutet nicht, dass die Menschen sich für die Gemeinschaft opfern, in der es kein jemeiniges Selbst, sondern nur das Kollektive gibt. Die genuine Interpretation von Heideggers Mitsein lässt sich so beschreiben: miteinander in eigene Eigentlichkeit zu gehen. Dazu gehört einerseits, dass das Dasein sich durch die Anderen erst für sich selbst entscheiden kann, wer und wie es »selbst« ist bzw. wie nicht, und anderseits dass das Dasein durch den Einsatz für die Anderen sein eigenes Selbst gewinnen kann. Diese Interpretation kann mit Heideggers Texten folgendermaßen andeutungsweise untermauert werden. Zuerst soll gezeigt werden: Innerhalb der Zusammengehörigkeit von der Transzendenz auf die Welt hin und dem Selbst des Daseins erhält die Transzendenz einen Vorrang vor der Gewinnung des eigentlichen Selbst. Heidegger gibt zu, dass das Selbst, das mit der Welt zusammengehört, und das im Umgang mit dem Zuhandenen erschlossene Selbst (z. B. der im Hämmern der Nägel erschlossene »Zimmermann«) »uneigentlich« sind: »Wir verstehen uns alltäglich nicht eigentlich im strengen Wortsinne, nicht ständig aus den eigensten und äußersten Möglichkeiten unserer eigenen Existenz […] Das durchschnittliche Sich-selbstverstehen des Daseins nimmt das Selbst als uneigentliches«. 41 Obzwar in jedem Transzendieren das Selbst des Daseins schon immer da ist, – nur insofern kann das Transzendieren als Sich-Transzendieren bezeichnet werden, kann das Dasein sich zu Seiendem verhalten – ist dieses Selbst zunächst und zumeist nur das uneigentliche. Wenn es um das eigentliche Selbst geht, muss eine Entscheidung für … (in Sein und Zeit: Entschlossenheit) mitvollzogen werden. In dieser Hinsicht haben die Transzendenz und damit auch das Sein der Anderen einen Vorrang: »Im Überstieg kommt das Dasein allererst auf solches Seiendes zu, das es ist, auf es als es ›selbst‹. Die Transzendenz konstituiert die Selbstheit. Aber wiederum nie zunächst nur diese, sondern der Überstieg betrifft je in eins auch Seiendes, das das Dasein ›selbst‹ nicht ist; genauer: im Überstieg und durch ihn kann sich erst innerhalb des Seienden unterscheiden und entscheiden, wer und wie ein ›selbst‹ ist und was nicht.« 42
Es kann damit festgestellt werden, dass das Sein des Anderen für die Gewinnung des eigentlichen Selbst des Daseins gar nicht überflüssig
41 42
Heidegger, GA 24, S. 228. Heidegger, GA 9, S. 138.
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Mitsein und Transzendenz
ist, sondern vielmehr notwendig. Denn der Überstieg geht über das Dasein hinaus und betrifft das Seiende, das das Dasein »selbst« nicht ist, das dem Dasein etwas anders ist. Nur durch solches Andere kann das Dasein sich erst unterscheiden und entscheiden, wer und wie sein »selbst« ist bzw. wie nicht. Jedes Selbst-auswählen impliziert eine »Nichtigkeit« in sich. 43 Um »Nicht-etwas-anderes« überhaupt wissen zu können, brauchen wir notwendigerweise das Andere. Sich-aufdas-Andere-zukommen besagt schon die Transzendenz. Genau aus diesem Grund sagt Heidegger: »Die Transzendenz konstituiert die Selbstheit.« Die Angewiesenheit des Daseins auf Andere für die Gewinnung des eigentlichen Selbst charakterisiert Heidegger im folgenden Text: »Vor sich selbst und die volle Selbstheit gebracht heißt aber nicht: individualistisch-egoistisch auf sich selbst zurückgezogen. Abgesehen davon, dass ›Mitsein‹ das wesenhaft betont, ist diese Auslegung die gröbste Verkennung des Problems. Dasein muss wesenhaft es selbst sein können und im eigentlichen es selbst sein, wenn es sich getragen und geführt wissen will durch ein anderes, wenn es sich soll öffnen können für Mitdasein der Anderen, wenn es sich soll einsetzen für Andere.« 44
Mitdasein der Anderen ist nicht die Negierung oder Versagung des eigentlichen Selbst des Daseins. Es ist vielmehr ein notwendiges Medium, durch das das Dasein seine Eigentlichkeit gewinnt, wenn es sich für das Mitdasein der Anderen öffnet und sich für Andere einsetzt. Wie dies zu bestimmen ist, wird als die Thematik der eigentlichen vorspringenden-befreienden Fürsorge des Anderen in Sein und Zeit behandelt. Der entscheidenden Frage, wie die Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit genau zu charakterisieren sind und wie sie sich verhalten, wird sich das folgende Unterkapitel widmen.
43 44
Siehe auch Kapitel 4.2.1 dieser Arbeit. Heidegger, GA 27, S. 324 f.
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Mitsein und Eigentlichkeit
7.2. Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit 7.2.1. Das »Un« in »Uneigentlichkeit«: Uneigentlichkeit und formale Anzeige Heidegger hat seine Absicht in Sein und Zeit bekanntlich als »konkrete Ausarbeitung der Frage nach dem Sinn von Sein« bestimmt. Um diesen »erfragten« Sinn von dem »gefragten« Sein deutlich herauszuarbeiten, muss aber ein »exemplarisches« Seiendes als das »Befragte« gewählt werden, an dem der Sinn von Sein abgelesen werden kann. Dieses Seiende ist Heidegger zufolge das Dasein, das wir je selbst sind. Vom Dasein unterscheidet er Seiendes, das wir nicht selbst sind, nämlich entweder »Zuhandenes« oder »Vorhandenes«. Vorhandenes versteht Heidegger als begrifflich intendiertes Seiendes, d. h. als Seiendes, dessen Sein (oder Vorhandenheit) sein Begriff oder seine Kategorie ist. Zuhandenem wird praktisch in der Bewandtnisganzheit begegnet. Vorhandenes ist hingegen etwas, das zum Gegenstand von theoretischen Gedanken werden kann, die in Aussagen zum Ausdruck kommen. Die Unterscheidung in Zuhandenes und Vorhandenes erfolgt einzig aus der Art des Zugangs des Daseins zu diesem Seienden. Zuhandenes meint umsichtiges Besorgen, Vorhandenes hingegen hinsehendes Vernehmen. Das Dasein ist durch zwei Grundcharakteristika bestimmt: 1.) »Das Wesen« des Daseins liegt in seinem Zu-sein und seiner Existenz; 2.) »Das Sein, darum es diesem Seienden in seinem Sein geht, ist je meines.« 45 Die Jemeinigkeit ist das Worumwillen des Daseins. Das Dasein ist vor allem dadurch von dem Vorhandenen zu unterscheiden, dass es sich verstehen und in seinen Möglichkeiten sich selbst »wählen« kann, während dem Vorhandenen sein Sein »gleichgültig« ist, oder genauer gesagt: Ob es »gleichgültig« oder »ungleichgültig« ist, stellt sich ihm nie als eine Frage, weil es sich überhaupt nicht verstehen kann. Sofern das Dasein in seinem Sein sich selbst wählen und gewinnen bzw. verlieren kann, kann das Dasein entweder »uneigentlich« oder »eigentlich« sein. »Die beiden Seinsmodi der Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit gründen darin, dass das Dasein überhaupt durch Jemeinigkeit bestimmt ist« 46 Dass die Jemeinigkeit die beiden Seins45 46
Heidegger, Sein und Zeit, S. 42. Ebd., S. 42 f.
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Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit
modi möglich macht, lässt sich so erklären: Die Jemeinigkeit als das Worumwillen des Daseins ist nicht ein zuverwirklichendes Ziel, das nur in der Zukunft steht und noch nicht zu erreichen ist, sondern es ist eine strukturelle Bestimmung des Seins des Daseins selbst. Die Tatsache, dass das Dasein sich wählen kann, hat schon ein Selbst (als »Sich«) vorausgesetzt, abgesehen davon, ob es eigentlich oder uneigentlich ist. Wenn das Dasein sich verloren und noch nicht gewonnen hat, spricht Heidegger von »Uneigentlichkeit« in Bezug auf das Dasein. Wenn das Dasein zueigen ist, sich also selbst gewonnen hat, spricht Heidegger von »Eigentlichkeit«. Heidegger behauptet am Ende seiner Betrachtungen in Sein und Zeit in § 83: »Die Aufgabe der bisherigen Betrachtungen war, das ursprüngliche Ganze des faktischen Daseins hinsichtlich der Möglichkeiten des eigentlichen und uneigentlichen Existierens existenzialontologisch aus seinem Grunde zu interpretieren.« 47
Dieser Satz hat die Relevanz der Thematik der Uneigentlichkeit bzw. Eigentlichkeit für die ganzen Gedanken in Sein und Zeit zum Ausdruck gebracht. Es leuchtet unmittelbar ein, dass die zentralen Themen, wie Sorge als die Einheit von Existenzialität des Daseins und Zeitlichkeit als der »ursprüngliche ontologische Grund der Existenzialität« am Ende nur mit Rücksicht auf diese zwei möglichen Seinsmodi hinreichend bestimmt werden können. 48 Die Bedeutungen dieser zwei Seinsmodi und ihr Verhältnis zueinander werden im Folgenden näher erläutert. Es ist zuerst zu beachten, dass Heidegger die beide Seinsmodi als zwei Möglichkeiten des Seins des Daseins versteht. Das existenziale Möglichsein unterscheidet sich von den »leeren, logischen Möglichkeiten wie der Kontingenz eines Vorhandenen«. Das Letztere bedeutet, »das noch nicht Wirkliche und das nicht jemals Notwendige« im Sinne der modalen Kategorie der Vorhandenheit. 49 Bestimmt wird
Ebd., S. 436. Jiro Watanabe hat die bedeutende Relevanz dieser Seinmodi herausgestellt: »Es ginge nicht zu weit, wenn man sagte, das Ganze der in Sein und Zeit vollzogenen Analytik laufe einzig darauf hinaus, die Seinsstruktur und den Seinssinn des Daseins in Hinblick auf diese zwei Möglichkeiten zu verfolgen und klar herauszustellen«. Siehe: Jiro Watanabe, »Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit bei Heidegger«, in: Journal of Faculty of Letters, The University of Tokyo, Aesthetics, Vol. 11 (1986), S. 67. 49 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 143. 47 48
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Mitsein und Eigentlichkeit
das Dasein nicht ausgehend von seinem »Was«, wie Tisch, Baum, Haus, deren Was schon begrifflich definiert werden kann, sondern ausgehend von seinem Wie-sein. Dasein ist kein Gegenstand der Anschauung, sondern »Dasein ist ihm selbst da im Wie seines eigensten Seins. Das Wie des Seins öffnet und umgrenzt das jeweils mögliche »da««. 50 Dasein ist in seiner Existenz nicht vom Was bestimmt, sondern es verhält sich existenzial zu seinem Sein auf die Weise des Wie, d. h. des Möglichseins. Insofern ist diese Möglichkeit als Existenziale weder niedriger als Wirklichkeit noch als Notwendigkeit. Vielmehr ist sie die ursprünglichste und letzte positive ontologische Bestimmtheit des Daseins. Außerdem ist die jemeinige existenziale Möglichkeit des Daseins nicht gleichgültige Willkür, sondern es geht in ihr um das eigenste Seinkönnen. »Die Möglichkeit als Existenzial bedeutet nicht das freischwebende Seinkönnen im Sinne der ›Gleichgültigkeit der Willkür‹ (libertas indifferentiae). Das Dasein ist ihm selbst überantwortetes Möglichsein, durch und durch geworfene Möglichkeit. Das Dasein ist die Möglichkeit des Freiseins für das eigenste Seinkönnen.« 51 Dies besagt, dass das »Haben« der Möglichkeit von dem Dasein nicht im Sinne des Besitzes eines Eigentums oder einer Eigenschaft zu verstehen ist, sondern vielmehr verwirklicht sich dieses »Haben« durch das Verhalten zu seinem Sein. Das Dasein überantwortet ihm selbst die Möglichkeit, um sich auf sich selbst zu entwerfen. Die jemeinige Möglichkeit ist daher nicht bloß leere, gleichgültige Willkür, sondern sie ist auf das eigenste Seinkönnen gerichtet. Heidegger zufolge befindet sich das Dasein jedoch zunächst und zumeist im Zustand der Alltäglichkeit des Man, was eine gewöhnliche und uneigentliche Seinsweise (Verfallen) bezeichnet. Da Mitsein gleich ursprünglich mit dem In-der-Welt-sein ist, ist die Welt, in der das Dasein existiert, eine Mitwelt. Das Dasein teilt die Mitwelt mit den Anderen. Selbst wenn das Dasein allein zu Hause und nicht faktisch vorhanden mit einem Anderen zusammen ist, wird es dennoch auch existenzial durch das Mitsein bestimmt. Alleinsein ist nur eine Modifikation des Mitseins auf defiziente Weise. Als solch alltägliches Miteinandersein steht das Dasein zunächst und zumeist in der Abständigkeit und zugleich auch »in der Botmäßigkeit der Anderen«. »Es ist nicht es selbst, die Anderen haben 50 51
Heidegger, GA 63, S. 7. Heidegger, Sein und Zeit, S. 143.
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Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit
ihm das Sein abgenommen«. 52 Um wen handelt es sich bei den Anderen? Das Wer ist Heidegger zufolge hier nicht ein bestimmter Anderer, es ist »das Niemand« und jeder Andere kann es vertreten. Es existiert in der alltäglichen Indifferenz, die Heidegger Durchschnittlichkeit nennt. 53 Die Durchschnittlichkeit dieses Wer enthüllt noch zwei wesenhafte Tendenzen des Daseins: Die Abständigkeit und die Einebnung aller Seinsmöglichkeit. Dieses Wer ist dann als Neutrum, als das Man bezeichnet. Das Man ist weder ein »allgemeines Subjekt«, das über mehreren schwebt, noch Gattung des jeweiligen Daseins, noch bleibende Beschaffenheit an diesem Seienden, sondern es ist ein existenziales ursprüngliches Phänomen des Daseins. Wenn das Dasein in der Weise des Man ist, ist es nicht im eigenen Selbst, d. h. uneigentlich. »Zunächst ›bin‹ nicht ›ich‹ im Sinne des eigenen Selbst, sondern die Anderen in der Weise des Man.« 54 Das Selbst des alltäglichen Daseins ist das Man-selbst. Aber die Bezeichnung »Uneigentlichkeit« ist weder »moralisierende Kritik« noch als negative Bewertung aufzufassen, keineswegs bezeichnet sie etwa »ein weniges Sein« oder »einen niedrigen Seinsgrad«. Uneigentlichkeit bedeutet nicht, dass das Dasein sich nicht zu seinem Sein verhält. Vielmehr liegt im Modus der Uneigentlichkeit apriori die Struktur der Existenzialität und verhält sich »das Dasein in bestimmter Weise im Modus der durchschnittlichen Alltäglichkeit zu seinem Sein«. 55 Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit haben insofern die gleiche strukturelle ontologische Bestimmung. Wenn auch das uneigentliche Dasein sich zu seinem Sein verhält, dann muss irgendeine Verknüpfung zwischen dem Man-selbst und dem Ich-selbst vorliegen. Dies hat Heidegger vornehmlich in der Vorlesung Phänomenologische Interpretation zu Aristoteles: Einführung in die Phänomenologische Forschung (1921/22) erläutert. Heidegger bezeichnet dort die Welt als das Korrelat des Lebens und behauptet, dass das Sorgen als der Bezugssinn des Lebens in den drei Grundwelten, der Um-, Mit- und Selbstwelt stattfindet. Zur Selbstwelt schreibt Heidegger: »Die Selbstwelt zunächst darf nicht identifiziert werden mit dem ›Ich‹. Das ›Ich‹, eine Kategorie komplizierter Ausformung, braucht mir in 52 53 54 55
Ebd., S. 126. Ebd., S. 128 f. Ebd., S. 129. Ebd., S. 44.
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Mitsein und Eigentlichkeit
meiner Sorge um meine Selbstwelt, um ›mich‹ im faktischen konkreten Sinne gar nicht als solches zu begegnen. Als Selbstwelt ist das ›mich‹, für das ich in Sorge bin, in bestimmten Bedeutsamkeiten erfahren, die in der vollen Lebenswelt aufgehen, in der mit der Selbstwelt immer auch die Mit- und Umwelt da ist.« 56
Zunächst ist die Selbstwelt nicht identisch mit dem »Ich-selbst«, sondern nur in der Weise des Sorgens als »mich«. 57 »Mich« steht zugleich immer in einem Sorgensbezug auf das faktische Leben in Mitund Umwelt. Ich bin in der Selbstwelt zunächst nicht Ich-selbst, sondern ich begegne nur meinem »Mich« als Akkusativ des Subjekts. Mein Selbst als Casus rectus (Nominativ) ist zunächst geteilt mit den Anderen in der Alltäglichkeit und daher bin ich nicht Ich-selbst, sondern ich »befinde Mich« bei und mit den Anderen. Diese Andeutung von dem »Mich« ist später dann in Sein und Zeit als das Man interpretiert, aber das apriorische Korrelat zwischen diesem »Mich« und »Ich-selbst« weist darauf hin, dass »Mich« immer als eine »positive Möglichkeit« in der Uneigentlichkeit des Daseins als das Manselbst vorkommt, und dass das Dasein seine Eigentlichkeit als Ichselbst gewinnen kann, aber nur noch nicht gewonnen hat. Denn »Mich« ist zwar nicht »Ich«, aber das existenziale Verständnis des Ich-selbst kann durch »Mich« zugängig werden. Die Uneigentlichkeit des Daseins ist damit kein geringeres oder niedriges Sein, sie ist vielmehr ursprünglich und notwendig. Die Uneigentlichkeit kann nie vollkommen beseitigt werden und nur weil es zunächst ein uneigentliches Leben gibt, ist es möglich, die Eigentlichkeit als »existenzielle Modifikation des Man« 58 zu erlangen. Insofern ist die Uneigentlichkeit gewissermaßen eine »positive« Möglichkeit. Um die Ursprünglichkeit und die »positive« Bedeutung des »Un« in der Uneigentlichkeit zu verdeutlichen, möchte ich sie zunächst auf Heideggers grundsätzliche phänomenologische Methode der »formalen Anzeige« beziehen. Die »formale Anzeige« wurde bereits im Heidegger, GA 61, S. 94. Reto L. Fetz hat hierin das Man auch auf das soziale »Mich« bei Mead bezogen. Er schreibt: »Nun hat aber bereits Tugendhat die frappante Ähnlichkeit von Heidegger ›Man‹ mit Meads ›Mich‹ festgestellt. Er führt als Beleg folgende Textpassage bei Mead (MSS 197) an: »Das Mich ist ein konventionelles, gewohnheitsmäßiges Individuum. Es ist immer da. Es hat diejenigen Gewohnheiten und Reaktionen zu haben, die jeder hat«. Siehe: Reto L. Fetz, »Zweideutige Uneigentlichkeit. Martin Heidegger als Identitätstheoretiker«, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, Jahrgang 17–1992, S. 7. 58 Heidegger, Sein und Zeit, S. 267. 56 57
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Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit
Wintersemester 1920/21 in der Vorlesung Phänomenologie des religiösen Lebens von Heidegger als seine »›Theorie‹ der phänomenologischen Methode selbst« 59 bezeichnet. Die formale Struktur eines Phänomens kann Heidegger zufolge in den drei folgenden Sinnesrichtungen angezeigt werden: »Was ist Phänomenologie? Was ist Phänomen? Dies kann hier nur selbst formal angezeigt werden. – Jede Erfahrung – als Erfahren wie als Erfahrenes kann ›ins Phänomen genommen werden‹, d. h. es kann gefragt werden: 1. nach dem ursprünglichen ›Was‹, das in ihm erfahren wird (Gehalt); 2. nach dem ursprünglichen ›Wie‹, in dem es erfahren wird (Bezug); 3. nach dem ursprünglichen ›Wie‹, in dem der Bezugssinn vollzogen wird (Vollzug).« 60
Diese drei Sinnesrichtungen (Gehalts-, Bezugs-, Vollzugssinn) 61 kann man aber nicht als drei nebeneinanderstehende Ebenen verstehen, sondern sie sind gleichzeitig ineinander hineingezogen. Das Phänomen entfaltet sich immer gleichzeitig als Ganzheit dieser drei Sinnesrichtungen, wie Heidegger bemerkt: »›Phänomen‹ ist Sinnganzheit nach diesen drei Richtungen. ›Phänomenologie‹ ist Explikation dieser Sinnganzheit.« 62 Was heißt hier das »formale« in »formale Anzeige«? Das Formale ist weder als Generalisierung noch als Formalisierung aufzufassen. Heidegger geht hier von Husserl aus. Husserl hat in seinem Buch Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Teil 1(1913) die Formalisierung und die Generalisierung als zwei grundsätzliche Weisen der Verallgemeinerung voneinander unterschieden. 63 »Generalisierung« besagt laut Husserl gattungsmäßige Verallgemeinerung, wie z. B. Rot ist eine Farbe, Farbe ist sinnliche Qualität. Ferner ist die Generalisierung in ihrem Vollzug Heidegger, GA 60, S. 55. Heidegger, GA 60, S. 63. 61 Husserl hat dagegen nur den Vollzugssinn (Noesis) und den Gehaltssinn (Noema) unterschieden.Vgl. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Teil 1, Tübingen 1913, S. 194 ff. 62 Heidegger, GA 60, S. 63. 63 Vgl. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, § 13, S. 26–27, Vgl. auch Husserl, Logische Untersuchungen. Erster Band; umgearb. Auflage, Tübingen 1913, 11. Kapitel, »Die Idee der reinen Logik«. 59 60
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Mitsein und Eigentlichkeit
an ein bestimmtes Sachgebiet gebunden, weil Gattungen und Arten sachhaltig bestimmt sind. Im Gegensatz dazu ist die Formalisierung sachhaltig frei. Z. B.: »Der Stein ist ein Gegenstand« und dann »etwas ist ein Gegenstand«. Dieses formalisierte Etwas kann von allem und jedem ausgesagt werden, und es ist nicht an die Sachhaltigkeit gebunden wie in der Mathematik – die reine Zahl eins ist nicht an einen »Wasgehalt« überhaupt gebunden. Heidegger hat diese Unterscheidung Husserls weitergeführt und den Sinn der formalen Anzeige erläutert. Er bezeichnet zuerst die Generalisierung als »Weise des Ordnens«. Die Generalisierung ist eine bestimmte Stufenordnung, in der eine Einordnung bestimmter individueller Vereinzelungen in einen übergreifenden Sachzusammenhang erfolgt. Die Weise des Generalisierens ist immer die Einordnung eines Gegenstands nach seiner Sachhaltigkeit von einem anderen her, so dass die allgemeinste Bestimmung auf die allerletzte, unterste hinweist. Heidegger betont: »Generalisieren ist also Einordnen in den Sachzusammenhang eines anderen.« 64 Die Formalisierung sieht hingen so aus: »Ich sehe nicht die Wasbestimmtheit aus dem Gegenstand heraus, sondern ich sehe ihm seine Bestimmtheit gewissermaßen ›an‹. Ich muss vom Wasgehalt wegsehen und nur darauf sehen, dass der Gegenstand ein gegebener, einstellungsmäßig erfassbar ist.« 65 Der formalisierte Gegenstand als Gegebenes und Erfasstes ist nicht an das bestimmte Was des zubestimmenden Gegenstands gebunden, und er ist insofern nicht sachhaltig, d. h er hat kein Sachgebiet. Vielmehr ist er nur »Gegenstand überhaupt«, der lediglich einen Einstellungsbezug auf die formale allgemeine Gegenstandskategorie hat. »Der Sinn von ›Gegenstand überhaupt‹ besagt lediglich: das ›Worauf‹ des theoretischen Einstellungsbezugs. […] Der Bezugssinn ist keine Ordnung, keine Region; oder nur indirekt, sofern er ausgeformt wird zu einer formalen Gegenstandskategorie, der einer ›Region‹ entspricht. Primär ist die Formalisierung nur Ordnung durch diese Ausformung.« 66 Die Formalisierung ist also auch als eine Ordnung zu verstehen, wenn auch auf indirekte Weise. Heidegger geht davon aus, dass Generalisierung und Formalisierung beide einstellungsmäßig und nicht ursprünglich sind, so dass sie 64 65 66
Heidegger, GA 60, S. 61. Ebd., S. 58. Ebd., S. 61.
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Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit
nicht als Grundmethode der Philosophie angewendet werden können. Das Formale in »formaler Anzeige« ist ursprünglicher als die Formalisierung, indem das Formale etwas Bezugsmäßiges, jedoch keine Ordnung, d. h. nicht theoretisch motiviert ist. Das Formale ist daher nicht einstellungsmäßig und ohne Präjudiz und Vorurteil. Die formale Anzeige muss zuerst eine Abwehr, eine vorhergehende Sicherung gegen vorgefasstes theoretisches Präjudiz sein, damit der Vollzug des Phänomens frei sein kann. Heidegger äußert schließlich: »Ein Phänomen muss so vorgegeben sein, dass sein Bezugssinn in der Schwebe gehalten wird. Man muss sich davor hüten, anzunehmen, sein Bezugssinn sei ursprünglich der theoretische. Der Bezug und Vollzug des Phänomens wird nicht im Voraus bestimmt, er wird in der Schwebe gehalten.« 67
Sofern der Bezugs-Sinn und der Vollzugs-Sinn eines Phänomens in der formalen Anzeige in der Schwebe freigehalten werden, schafft die formale Anzeige einen Freiraum für das Sichzeigen des Phänomens. Eine genuine phänomenologische Betrachtung muss deswegen formal anzeigend sein; und die formale Anzeige als die phänomenologische Methode hat »die Bedeutung des Ansetzens der phänomenologische Explikation«. 68 Was entscheidend für unsere Untersuchung ist, ist dass die formale Anzeige später in der Vorlesung Phänomenologische Interpretation zu Aristoteles im Wintersemester 1921/22 auffällig an das Konzept der Uneigentlichkeit angeknüpft ist. In dieser Vorlesung versucht Heidegger, die urprinzipielle Definition der Philosophie als formale Anzeige ans Licht zu bringen. Er behauptet, dass die Begrifflichkeit des Gegenstandes geschöpft sein muss, in der Weise, »wie der Gegenstand ursprünglich zugänglich wird.« 69 Entscheidend ist es, dass der Gegenstand zuerst in der faktischen Erfahrung vorkommen muss, um überhaupt zugänglich sein zu können. Die Aufgabe der Philosophie besteht darin, nicht den Gegenstand begrifflich zu fassen, sondern ursprünglich formal anzeigend zu erleben und verstehen. Insofern unterscheidet sich die Philosophie von den Wissenschaften, ist sie dadurch die Urwissenschaft. Heidegger bemerkt: »Philosophie ist ein Grundwie des Lebens selbst, so dass sie es eigentlich je wieder-
67 68 69
Ebd., S. 63 f. Ebd., S. 64. Heidegger, GA 61, S. 20.
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Mitsein und Eigentlichkeit
holt, aus dem Abfall zurücknimmt, welche Zurücknahme selbst, als radikales Forschen, Leben ist«. 70 Es muss dann gefragt werden, worin die Verknüpfung zwischen der formalen Anzeige und der Uneigentlichkeit besteht. Heidegger schreibt hierzu: »›Formal angezeigt‹ heißt nicht, irgendwie nur vorgestellt, vermeint, angedeutet, dass es nun freistände, den Gegenstand selbst irgendwo und -wie ins Haben zu bekommen, sondern angezeigt so, dass das, was gesagt ist, vom Charakter des ›Formalen‹ ist, uneigentlich, aber gerade in diesem ›un‹ zugleich positiv die Anweisung. Das leer Gehaltliche in seiner Sinnstruktur ist zugleich das, was die Vollzugsrichtung gibt.« 71 (Hervorhebung von mir.)
Es geht in diesem Satz um die prinzipiell anzeigende Definition der Philosophie. Heideggers Erläuterung des »formal anzeigenden« Charakters des Gegenstandes der Philosophie und dessen Zusammenhang mit der Uneigentlichkeit ist für unsere Betrachtung von großer Bedeutung. Die Definition ist in der Bestimmung des Was-Wie des Gegenstandes deswegen eine anzeigende, weil der definitorische Gehalt die notwendig anzueignende Konkretion ist, die einen freischwebenden Vollzug eigener Verfassung darstellen muss. Die Definition als Anzeige ist nur Ansatzrichtungsbestimmung, und sie ist demnach die »formale« Anzeige. Formal meint hier nicht formell, formelhaft, sondern »leer« in dem Sinne, dass der leere Gehalt nicht die Konkretion des »Habens« eines Gegenstandes selbst ist, sondern eine Vollzugsrichtung vorgibt. 72 Was formal angezeigt wird, ist nicht als gehaltlich bestimmtes Vorhandenes ins »Haben« zu bekommen, und insofern ist es uneigentlich. »Uneigentlich« bedeutet hier: nicht die anzueignende Konkretion als einen vorhandenen Gehalt des Gegenstandes festzuhalten. Die gehaltliche Bestimmung der anzueignenden Konkretion muss immer freigelegt sein, sie lehnt die Erfüllung nicht ab, aber sie ist nie vollkommen zu erfüllen – sie ist uneigentlich. Nur wenn ihre gehaltliche Bestimmung insofern »formal« und »uneigentlich« ist, kann sie sich immer noch vollziehen. Uneigentlichkeit gehört demnach wesentlich zur Struktur der formal anzeigenden Konkretion des Gegenstandes Ebd., S. 80. Ebd., S. 33. 72 Vgl.Michael Schmidt, Die »Formale Anzeige« am Beispiel der »Todesanalyse« aus Heideggers »Sein und Zeit«, Norderstedt 2008, S. 36. 70 71
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Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit
der Philosophie. Der Grund dafür besteht darin, dass die formal anzeigende Konkretion des Gegenstandes zunächst gehaltlich unbestimmt, d. h. »leer« ist. Das lässt sich an Heideggers Texten folgendermaßen zeigen: »Sie [die philosophische Definition] ist ›formal‹ anzeigend, der ›Weg‹, im ›Ansatz‹. Es ist eine gehaltlich unbestimmte, vollzugshaft bestimmte Bindung vorgegeben.« »Gegenstand ›leer‹ bedeutet: und doch entscheidend! Nicht beliebig und ohne Ansatz, sondern gerade ›leer‹ und Richtung bestimmend, anzeigend, bindend.« 73
Die formale Anzeige ist einerseits zunächst gehaltlich unbestimmt und andererseits zugleich der Möglichkeit nach vollzugshaft bestimmt, d. h. Ansatz, Richtung, Weg bestimmend, anzeigend und bindend. Der erstere Modus bezieht sich auf die Uneigentlichkeit und es handelt sich um den unbestimmten Gehaltssinn des Phänomens. Der letztere Modus bezieht sich auf die Eigentlichkeit und es handelt sich um den bestimmten Vollzugssinn des Phänomens. Es kann hier gefragt werden, welche Rolle dann der Bezugssinn des Phänomens des formalen Anzeigenden in diesem Horizont spielt. Heidegger hat ihn im dritten Teil dieser Vorlesung unter dem Titel »Das faktische Leben« untersucht. Er bezeichnet zuerst die Welt als den Gehaltssinn des Lebens und das Sorgen (die Sorge) anschließend als den Bezugssinn des Lebens. Sorgen, formal angezeigt, ist immer sorgen-um und daher ein Verhalten zu etwas. Das Sorgen, nicht als allgemein formalisiertes Theoretisches, sondern in seinem formal angezeigten Bezugssinn, ist »voller Sinn der Intentionalität im Ursprünglichen«. 74 Der Vollzugssinn des faktischen Lebens ist Heidegger zufolge schließlich die Bewegtheit, die »reluzent-praestruktiv zu den anderen«. Der Grundsinn der Bewegtheit faktischen Lebens ist Ruinanz (ruina – Sturz). Die Ruinanz als die Bewegtheitsstruktur lässt sich, formal angezeigt, so bestimmen: »Die Bewegtheit des faktischen Lebens, die das faktische Leben in ihm selbst als es selbst für sich selbst aus sich hinaus und in all dem gegen sich selbst ›vollzieht‹« 75. Die Bewegtheit vollzieht das faktische Leben in der Weise der formalen Anzeige, wie das faktische Leben sich zeigt. 73 74 75
Heidegger, GA 61, S. 20, 33. Ebd., S. 98. Ebd., S. 131.
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Mitsein und Eigentlichkeit
Innerhalb dieser phänomenologischen Explikation durch die phänomenologische Methode der formalen Anzeige kann man sehen, dass die Verknüpfung von formaler Anzeige mit den Seinsmodi Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit darin liegt, dass einerseits das Dasein ursprünglich zunächst in der Uneigentlichkeit des Habens des gehaltlichen Gegenstandes lebt, weil der Gegenstand selbst am Ansatz der Bewegung der formalen Anzeige leer ist; andererseits dass das Dasein jedoch durch die Richtungsnahme in der vollzughaften Eigentlichkeit leben kann, denn: »das leer Gehaltliche in seiner Sinnstruktur ist zugleich das, was die Vollzugsrichtung gibt« und »ihre Leere ist ihre Bewegungsmöglichkeit«. 76 Dies entspricht der Auffassung in Sein und Zeit, dass das Dasein zunächst und zumeist im Verhalten zu Seienden (als Mitsein und Sein-bei …) uneigentlich ist, jedoch zugleich immer die Möglichkeit hat, eigentlich zu sein. Zur Modifikation von Uneigentlichkeit zu Eigentlichkeit schreibt Heidegger: »Der Gegenstand selbst, im Wie des Prinzipseins bestimmt, ist uneigentlich da, ›formal angezeigt‹ ; man lebt im uneigentlichen Haben, das seine spezifische Vollzugsrichtung auf die Zeitigung des eigentlichen Habens nimmt, ein Haben, das durch diese Richtungsnahme gerade als eigentliches bestimmt ist.« 77
Bezüglich des Verhältnisses von Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit ist damit deutlich geworden, dass diese zwei anzeigenden Seinsmodi nicht voneinander trennbar und auch nicht zwei entgegengesetzte Seinsmodi sind, sondern beide zum faktischen Leben gehören. Das »Nicht-Ich« in der Uneigentlichkeit bedeutet keineswegs so viel wie ein Seiendes, das der »Ichheit« total entbehrt, sondern meint vielmehr eine bestimmte Seinsart des »Ich« selbst, eine Selbstverlorenheit oder Noch-nicht-Gewinnung des Selbst. 78 Die Uneigentlichkeit ist ursprünglich und auch notwendig, da der Gegenstand für den Gehaltssinn der formalen Anzeige selbst leer sein muss. Dieses »Un« wie »das Leere« ist dennoch formal positiv und auch notwendig, es lässt den Vollzug des faktischen Lebens frei sein. Durch unsere Herausarbeitung dieses Zusammenhangs zwischen Heideggers phänomenologischer Methode der »formalen Anzeige« und der Eigentlichkeit kann die fundamentale Ursprünglichkeit des »Un« in der 76 77 78
Ebd., S. 131. Ebd., S. 34; (Hervorhebung von mir.) Vgl. Heidegger,Sein und Zeit, S. 116.
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Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit
Uneigentlichkeit so aufgehellt werden: Dieses »Un« ist eher eine Sicherung gegen die vorgefasste Festhaltung, dass das (eigentliche) Wesen des Daseins mit »dem Man« deckungsgleich ist. Damit wird ein phänomenologischer Freiraum angedeutet, in dem das faktische Leben des Daseins als von jemandem sich zeigen kann, der über das Man hinausgehen kann.
7.2.2. Eigentlichkeit, vorausspringend-befreiende Fürsorge und Vorrang der Vereinzelung Nun begegnen wir der Frage: Wie verhält sich die Uneigentlichkeit zur Eigentlichkeit? Wodurch kann das Dasein die Eigentlichkeit gewinnen? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zuerst noch die Grenze zwischen Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit verdeutlichen. Nach Heidegger ist das Dasein »zunächst in der Alltäglichkeit die Anderen [in] der Weise des Man« und »[z]unächst und zumeist an seine ›Welt‹ verloren.«. 79 Die Uneigentlichkeit des Daseins bedeutet dann seine selbstvergessene Verlorenheit im Verfallensein an das Man. Die Rettung für die Selbstverlorenheit ist, dass das Dasein seine Eigentlichkeit zu rufen imstande ist. Heidegger nennt das, was dergestalt rufend zu verstehen gibt, das Gewissen. Zur Explikation des Rufs des Gewissens gehört, dass das Dasein sowohl der Rufer als auch der Angerufene ist: »Der Rufer ist das Dasein, sich ängstigend in der Geworfenheit um sein Seinkönnen. Der Angerufene ist eben dieses Dasein, aufgerufen zu seinem eigensten Seinkönnen« 80. Es leuchtet so unmittelbar ein, dass das Dasein sich aus der Uneigentlichkeit zu seiner Eigentlichkeit aufruft, um sein jeweiliges Gewissen als »eine im Dasein selbst liegende Bezeugung seines eigensten Seinkönnen« 81 zu haben und verständlich zu machen. Diese existenziale Modifikation aus Uneigentlichkeit zu seiner Eigentlichkeit besteht Heidegger zufolge in der »Entschlossenheit«: »Das Anrufverstehen enthüllt sich als Gewissenhabenwollen. In diesem Phänomen aber liegt das gesuchte existenzielle Wählen der Wahl eines Selbstseins, das wir, seiner existenzialen Struktur entsprechend, die Entschlossenheit nennen.« 79 80 81
Heidegger, Sein und Zeit, S. 129, 221. Ebd., S. 277. Ebd., S. 279.
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Mitsein und Eigentlichkeit
»Die Frage nach dem Ganzseinkönnen ist eine faktisch-existenzielle. Das Dasein beantwortet sie als entschlossenes.« 82
Die Entschlossenheit ist ursprünglich ein vorlaufender Entwurf auf die Zukunft, d. h. sie sucht immer nach dem, was sie als verstehendes Sein zum Ende sein kann. Die Suche nach dem Selbstsein enthüllt sich letztlich in der Suche nach Ganzseinkönnen, welches durch die Entschlossenheit als Entwurf auf das eigentliche Sein zum Tode zu verwirklichen ist. Nach Heidegger besteht im Sein-zum-Tode die »eigenste Eigentlichkeit«. Die Entschlossenheit zum Tode ist immer vorlaufend; um sich zu entschließen, geht das Dasein sich immer schon vorweg. Die eigentliche Entschlossenheit zeitigt sich immer aus der Zukunft. Wenn die Eigentlichkeit sich immer nur aus der Zukunft zeitigt, dann leuchtet es unmittelbar ein, dass sich Eigentlichkeit nie in einem gegenwärtigen Moment verwirklicht. Die Eigentlichkeit bleibt immer eine faktische Möglichkeit, aber sie ist keine Wirklichkeit. Wenn die Eigentlichkeit eine Suche nach dem Ganzseinkönnen ist, dann scheint sie eine Unmöglichkeit zu sein, weil das Dasein als das in einer »ständigen Unabgeschlossenheit« liegende Seiende die Ganzheit nie wirklich erreichen kann. Dazu schreibt Heidegger: »Der Entschluss entzieht sich nicht der ›Wirklichkeit‹, sondern entdeckt erst das faktisch Mögliche, so zwar, dass er es dergestalt, wie es als eigenstes Seinkönnen im Man möglich ist, ergreift.« »Solange das Dasein als Seiendes ist, hat es seine ›Gänze‹ nie erreicht. Gewinnt es sie aber, dann wird der Gewinn zum Verlust des In-derWelt-seins schlechthin.« 83
Wie ist diese scheinbare »Unmöglichkeit« zu verstehen? Sie ist kein Gegensatz zur Möglichkeit, sie ist nicht logisch, sondern geschichtlich. 84 Z. B. der Ausdruck »Der Tod ist die Möglichkeit der schlechtEbd., S. 270, 309, 305. Ebd., S. 299, 236. 84 Vgl. Walter Schweidler, »Das Menschenunmögliche. Zur Abgrenzung von Phänomenologie und Metaphysik im Ausgang von Heidegger«, in: L’impossibile. Archivo di Filosofia / Archives of Philosophy, hg. Stefano Semplici, Bd. 78, Heft 1, 2001, S. 315– 326, Zitate S. 324 ff.: »die Unmöglichkeit, zu der wir uns verhalten, wenn wir als Menschen das Wort ›sein‹ gebrauchen, ist keine logische, sondern sie ist geschichtliche Unmöglichkeit. Das heißt, diese Unmöglichkeit gibt es nicht ohne den Menschen, nicht vor dem Menschen und auch für kein anderes Wesen als den Menschen. 82 83
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Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit
hinnigen Daseinsunmöglichkeit.« 85 Dieser Satz hat einen Sinn und ist auch wahr, nur insofern dieses »Un« in der oben gezeigten Weise der formalen Anzeige als das gehaltliche Leere verstanden wird. Zeitlich verstanden bedeutet dieses »Un« dann schlicht »noch nicht«. Die Möglichkeit der Eigentlichkeit muss immer im Modus des »noch nicht« bleiben, d. h. dem Gehaltssinn nach unbestimmt (»nicht«), aber der Ansatzsrichtung nach bestimmend (»noch«), damit ihr Vollzug als Bewegtheit immer im Prozess frei sein kann. Gerade weil die Möglichkeit der Eigentlichkeit unmöglich vollständig zu verwirklichen ist, sagt Heidegger ganz am Anfang seiner Analytik des Daseins: »Das Dasein kann sich verlieren bzw. nie und nur ›scheinbar‹ gewinnen.« 86 Könnten wir also in grober Weise feststellen, dass die Uneigentlichkeit des Daseins bloß als Mitsein zu charakterisieren ist, die Eigentlichkeit des Daseins aber als Sein zum Tode? Wäre es richtig, dass die Grenze zwischen Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit einfach darin besteht, ob das Dasein mit den Anderen zusammen alltäglich lebt? Es drängt sich an dieser Stelle folgende Frage auf: Kann das Dasein überhaupt ohne die Anderen in der Welt sein, selbst wenn es sich auf den Tod hin entwirft und sich vorlaufend zu seinem eigenen Seinkönnen entschließt? Was meint Heidegger zu dieser Frage? Um unser Thema fortzusetzen, müssen wir uns nun mit Nachdruck dem Verhältnis von Eigentlichkeit zu Mitsein bzw. der Verhaltensweise des Daseins zum Mitsein zuwenden. Wir haben im Kapitel 7.1 schon gezeigt, dass das Mitsein mit In-der-Welt-sein gleichursprünglich ist. Es ist für Heidegger völlig klar, dass Dasein als In-der-Welt-sein immer Mitsein ist. Mitsein ist die ursprüngliche Grundseinsart, egal ob das Dasein allein, eigentlich oder uneigentlich ist. Der Andere ist vom Dasein her wesentlich unablösbar. Wenn Heidegger Mitsein so auffasst, dann kann man es überhaupt nicht mit der Uneigentlichkeit als dem Man-selbst gleichsetzen. Ebenso deutlich hat Heidegger zwei Seinsweisen des Mitseins unterschieden: »In den herausgestellten Seinscharakteren des alltäglichen Untereinanderseins, […] liegt die nächste »Ständigkeit« des Daseins. Diese Ständigkeit betrifft nicht das fortwährende Vorhandensein von etwas, Die Unmöglichkeit, zu der wir uns als Menschen notwendig verhalten, besteht für eine bestimmte Zeitspanne.« 85 Heidegger, Sein und Zeit, S. 250. 86 Ebd., S. 42.
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Mitsein und Eigentlichkeit
sondern die Seinsart des Daseins als Mitsein. In den genannten Modi seiend hat das Selbst des eigenen Daseins und das Selbst des Andern sich noch nicht gefunden bzw. verloren. Man ist in der Weise der Unselbständigkeit und Uneigentlichkeit.« 87
Hieran kann man sehen, dass es innerhalb des Mitseins außer der Uneigentlichkeit als Unselbständigkeit noch eine andere »nächste« Möglichkeit für das »Selbst des eigenen Daseins« als Selbständigkeit gibt. 88 Es wurde darauf aufmerksam gemacht, dass das Mitsein des Daseins auch eigentlich sein kann, wenn es so »selbständig« ist, dass »es in seiner Realisierung existenzieller Möglichkeiten nicht auf anderes Dasein angewiesen ist, das ihm diese Realisierung beigebracht hat.« 89 Folglich ist das uneigentliche Mitsein des Daseins unselbständig, sodass es seine Realisierung existenzieller Möglichkeiten von anderem Dasein erlernt hat. Und nur das uneigentliche und unselbständige Mitsein des Daseins ist das durchschnittliche und indifferente Man-selbst. Somit können wir mit Recht feststellen, dass die entscheidende Differenz zwischen Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit Heidegger zufolge nicht darin besteht, ob Dasein überhaupt mit den Anderen ist. Sondern darin, auf welche Weise das Dasein sich zu den Anderen verhält, ob selbstständig oder nicht, wozu eben auch gehört, welche Art der Fürsorge zwischen Dasein und den Anderen besteht. 90 Es soll dann gefragt werden, wie die Eigentlichkeit als Selbständigkeit im Mitsein fungiert und wie sich Dasein im Mitsein durch die Fürsorge für die Anderen seine Eigentlichkeit gewinnen kann. Wenn unser Umgang mit dem umweltlich begegnenden Seienden Besorgen heißt, so ist das Mitsein durch die Fürsorge charakterisiert. Entsprechend der Alltäglichkeit des Man ist die Dringlichkeit der faktisch existierenden Fürsorge laut Heidegger darin motiviert, »dass das Dasein sich zunächst und zumeist in den defizienten Modi
Ebd., S. 120. Tobias Henschen hat diese These herausgearbeitet. Vgl. Tobias Henschen, Gebrauch oder Herstellung, Heidegger über Eigentlichkeit, Wahrheit und phänomenologische Methode, 2010, Kapitel 6, »Selbständigkeit und Unselbständigkeit«, S. 226– 237. 89 Ebd., S. 215. 90 K. M. Stroh hat auch betont, dass die Eigentlichkeit bei Heidegger eine Rückkehr in die Gemeinschaft bedeutet und sie daher intersubjektiv gemeint ist. Siehe: K. M. Stroh, »Intersubjectivity of Dasein in Heidegger’s Being and Time: How Authenticity is a Return to Community«, In: Human Studies, 38(2), 2015, S. 243–259. 87 88
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Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit
der Fürsorge hält.« 91 Die privativen, defizienten bzw. indifferenten Modi charakterisieren das alltägliche und durchschnittliche Miteinandersein. Der Modus des »Einander-nichts-angehens« ist eine Kennzeichnung davon. Es gibt andererseits noch die positiven Modi, hinsichtlich deren die Fürsorge zwei extreme Möglichkeiten hat: »Einspringen« und »Vorausspringen«. Im ersteren Fall geht es um das Übernehmen dessen, »was zu besorgen ist für den Anderen«. Der Andere wird in der einspringenden Fürsorge zurücktreten und sich ganz von der Sorge entlasten, da er das fertiggestellte Besorgte nachträglich einfach übernehmen kann; im letzteren handelt es sich darum, dem Anderen die Sorge nicht abzunehmen, sondern sie »eigentlich erst als solche zurückzugeben«. 92 Die Differenz rührt auch daher, dass der Gegenstand der Sorge jeweils verschieden ist. Die einspringende Fürsorge betrifft zumeist das Besorgen eines innerweltlich Zuhandenen, während das Vorausspringen »nicht ein (besorgendes) Was«, sondern ein Wie, »die Existenz des Anderen (schlechthin)« betrifft. Das Vorausspringen macht zwar nicht vertretungsweise konkrete Sachen, aber es »verhilft dem Anderen dazu, in seiner Sorge sich durchsichtig und für sie frei zu werden.« 93 Die vorausspringende Fürsorge geht das Seinkönnen des Anderen an, d. h. seine mögliche künftige Existenz schlechthin. Im Seinkönnen geht es um den zukünftigen Sich-Entwurf auf die eigene Möglichkeit, daher springt diese Fürsorge dem Anderem nicht ein, was auf die Gegenwart bezogen ist, sondern nur voraus, d. h. in Richtung der Zukunft 94 und damit für den Anderen frei zu werden und den Anderen selbst frei sein zu lassen. Heidegger bemerkt, in der einspringenden Fürsorge könne »der Andere zum Abhängigen und Beherrschten werden, mag diese Herrschaft auch eine stillschweigende sein und dem Beherrschten verborgen bleiben«. 95 Dafür lassen sich sicherlich sehr viele Beispiele nennen. Ihre Charakteristik kann man mit den Ausdrücken wie »sanfter Heidegger, Sein und Zeit, S. 121. Ebd., S. 122. 93 Ebd., S. 122. 94 Vgl. Istvan M. Fehér, »Vorausspringende Fürsorge – Daseinsanalytik und Daseinsanalyse: Beziehungen zwischen Heideggers hermeneutischer Phänomenologie und der Psychotherapie«, in: Riedel, Manfred (Hg.): Zwischen Philosophie, Medizin und Psychologie: Heidegger im Dialog mit Medard Boss. Köln (Collegium Hermeneuticum; 9) 2003, S. 183–204, Zitate S. 188 f. 95 Heidegger, Sein und Zeit, S. 122. 91 92
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Mitsein und Eigentlichkeit
Zwang«, »stillschweigende Intervention« beschreiben. Diese Fürsorge ist zwar »positiv«, d. h. nicht im Modus des »Einander-nichts-angehens«, aber dergestalt uneigentlich, dass die Fürsorge sich in die Freiheit des Anderen mischt. Hingegen bedeutet die vorausspringende Fürsorge »den Anderen verhelfen zum Freisein«, sie hat also nichts zu tun mit »Eingreifen«. »Sicheinsetzen« ist ein charakteristischer Modus für diese Fürsorge. Deswegen ist sie die Kennzeichnung für das eigentliche Mitsein. Heidegger sagt: »Diese eigentliche Verbundenheit [das gemeinsame Sicheinsetzen für dieselbe Sache aus dem je eigens ergriffenen Dasein] ermöglicht erst die rechte Sachlichkeit, die den anderen in seiner Freiheit für ihn selbst freigibt«. 96 Die vorausspringende Fürsorge verhilft durch ihr Sicheinsetzen dem Anderen dazu, ihn in seinem Eigenwesen (auch in seiner Andersheit) frei hervorscheinen zu lassen. Sie ist in diesem Sinne auch zugleich eine befreiende Fürsorge: Sie, »aus dem je eigens ergriffenen Dasein«, lässt den Anderen frei. In dem Frei-lassen der vorausspringend-befreienden Fürsorge ist das Phänomen aufgehellt: »Als Mitsein ist daher das Dasein wesenhaft umwillen Anderer«. 97 Die vorausspringend-befreiende Fürsorge hängt eng zusammen mit der Eigentlichkeit sowohl des Daseins als auch des Miteinanderseins. Heidegger erläutert dazu: »Die Entschlossenheit löst als eigentliches Selbstsein das Dasein nicht von seiner Welt ab, isoliert es nicht auf ein freischwebendes Ich. Wie sollte sie das auch – wo sie doch als eigentliche Erschlossenheit nichts anders als das In-der-Welt-sein eigentlich ist. Die Entschlossenheit bringt das Selbst gerade in das jeweilige besorgende Sein bei Zuhandenem und stößt es in das fürsorgende Mitsein mit den Anderen. Die Entschlossenheit zu sich selbst bringt das Dasein erst in die Möglichkeit, die mitseienden Anderen ›sein‹ zu lassen in ihrem eigensten Seinkönnen und dieses in der vorspringend-befreienden Fürsorge mitzuerschließen. Das entschlossene Dasein kann zum ›Gewissen‹ der Anderen werden. Aus dem eigentlichen Selbstsein der Entschlossenheit entspringt allererst das eigentliche Miteinander.« 98
Die Entschlossenheit kann nie als eigentliches Selbstsein das Dasein von seiner Welt ablösen und sie verhält sich zugleich auch zu den Anderen, indem sie die mitseienden Anderen in ihrem eigensten
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Ebd., S. 122. Ebd., S. 123. Ebd., S. 298.
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Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit
Seinkönnen sein lässt. Das heißt, die Entschlossenheit ist einerseits zuerst selbständig, sich auf das eigene Seinkönnen hin zu entwerfen, und andererseits auch nicht solipsistisch oder egoistisch, sondern sie verhilft dem Anderen dazu, »in seiner Sorge sich durchsichtig und für sie frei zu werden«. 99 Das Erschließen der Möglichkeiten des Daseins ist immer zugleich ein Miterschließen der Anderen. Die Anderen in ihren Eigentlichkeiten frei sein zu lassen, ist aber keine zusätzliche oder nachträgliche Aufgabe der eigentlichen Entschlossenheit, sondern es gehört wesentlich zum Vollzug der Entschlossenheit. Die Erschlossenheit des eigentlichen Daseins ist deswegen gleichursprünglich mit der Erschlossenheit des fürsorgenden Miteinanderseins. Es muss jedoch betont werden, dass der Andere hier keineswegs das Man oder Niemand ist, sondern schlechthin das andere individuelle Dasein in der vorspringend-befreienden Mitwelt. Die vor(aus) springend-befreiende Fürsorge macht das eigentliche Miteinandersein aus, dadurch, dass sie »die mitseienden Anderen in ihrem eigensten Seinkönnen ›sein‹ lässt«. Mit der Erläuterung im nächsten Kapitel können wir uns klar werden, dass dieses »Sein-lassen« hier eigentlich die Liebe bedeutet. 100 Damit ist gesagt, dass das eigentliche Miteinandersein durch Liebe im Sinne des »Sein-lassens« erreichbar ist. Nun stellt sich noch die Frage, was gemeint ist, wenn Heidegger in dem zitierten Text behauptet: »Die Entschlossenheit zu sich selbst bringt das Dasein erst in die Möglichkeit, die mitseienden Anderen ›sein‹ zu lassen in ihrem eigensten Seinkönnen […] Aus dem eigentlichen Selbstsein der Entschlossenheit entspringt allererst das eigentliche Miteinander«. Und eine ähnliche Formulierung: »Dasein kann nur dann eigentlich es selbst sein, wenn es sich von ihm selbst her dazu ermöglicht«. 101 Es ist klar, dass Heidegger hier der Eigentlichkeit des jeweiligen Daseins einen Vorrang vor der Eigentlichkeit des Mit-
Ebd., S. 122. Diana Aurenque vertritt die Meinung, dass die vorausspringende-befreiende Fürsorge für den anderen Menschen zu Recht als eine Form der Liebe zu interpretieren sei. Siehe: Diana Aurenque, Ethosdenken: Auf der Spur einer ethischen Fragestellung in der Philosophie Martin Heideggers, Freiburg/München 2011, S. 297; Wolfgang Schirmacher geht außerdem davon aus, dass die vorausspringende-befreiende Fürsorge deswegen die Liebe bedeutet, weil sie auf die Gelassenheit hinweist. Siehe: Wolfgang Schirmacher, Technik und Gelassenheit. Zeitkritik nach Heidegger, Freiburg/ München 1983, S. 198–204. 101 Heidegger, Sein und Zeit, S. 263. 99
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Mitsein und Eigentlichkeit
einanderseins verleiht, obzwar sie zusammengehören können. Heidegger äußert an einer anderen Stelle noch klarer: »Nur weil das Dasein aufgrund seiner Selbstheit sich selbst eigens wählen kann, kann es sich einsetzen für den Anderen, und nur weil das Dasein im Sein zu sich selbst überhaupt so etwas wie ›selbst‹ verstehen kann, kann es wiederum schlechthin auf ein Du-selbst hören. Nur weil das Dasein, durch das Umwillen konstituiert, in Selbstheit existiert, nur deshalb ist so etwas wie menschliche Gemeinschaft möglich.« 102
Die eigene Selbstheit hat Vorrang vor dem eigentlichen Miteinandersein und diese wiederum vor der menschlichen Gemeinschaft. Wie ist dann dieser Vorrang zu verstehen? Dieser Vorrang ist keineswegs ein ethischer. Wir haben in Kapitel 7.1.1 gezeigt, dass Selbstsein, Mitsein und Sein-bei … gleichursprünglich sind. Mit obigen Erläuterungen ist es uns auch klar geworden, dass die Erschlossenheit des eigentlichen Daseins gleichursprünglich mit der Erschlossenheit des fürsorgenden Miteinanderseins ist. 103 Es ist deswegen falsch, festzustellen, dass die eigene Selbstheit ethisch wichtiger oder höher als das eigentliche Miteinander ist und damit bei Heidegger letztendlich noch eine Variante des Egoismus bleibt. Vielmehr ist dieser Vorrang nur phänomenologisch, d. h. das Sichzeigen des Phänomens des eigentlichen Mitanderseins hat immer schon die Offenbarung des Phänomens der eigenen Selbstheit vorausgesetzt. Das lässt sich daran zeigen, dass die Vereinzelung, die Jemeinigkeit des Daseins, phänomenologisch gesehen vorgängig vor der Gewinnung des eigentlichen Miteinanderseins ist. Wir haben im Kapitel 7.1.1. durch die Fensterlosigkeit des vereinzelten Daseins erklärt, dass die Vereinzelung des Daseins mit dem Mitsein als Wesensbestimmung vereinbar ist. Nun müssen wir weiter erklären, warum die Vereinzelung des Daseins einen phänomenologischen Vorrang innerhalb seiner Zusammengehörigkeit mit dem Miteinandersein hat. Was ist eigentlich das Ziel des Begriffs der Vereinzelung bei Heidegger? Heidegger erläutert dazu: »Erst aus der entschlossenen Vereinzelung her und in ihr ist das Dasein eigentlich frei und offen für das Du. Das Miteinander ist kein klebriges Heidegger, GA 26, S. 245. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 297: »Diese eigentliche Erschlossenheit modifiziert aber dann gleichursprünglich die in ihr fundierte Entdecktheit der ›Welt‹ und die Erschlossenheit des Mitdaseins der Anderen.«
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Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit
Anbiedern des Ich an das Du, entsprungen aus der gemeinsamen verstreckten Hilflosigkeit, sondern das existente Zusammen und Miteinander gründet in der echten, durch das Gegenwärtigen im Sinne des Augenblicks bestimmten Vereinzelung des Einzelnen. Vereinzelung besagt nicht, sich auf seine Privatwünsche versteifen, sondern frei sein für die faktischen Möglichkeit der jeweiligen Existenz.« 104
Dieses Zitat ist so bedeutend, dass es viele Probleme erhellen kann. Das Verständnis der Vereinzelung, dass das Dasein erst aus ihr und in ihr »frei und offen sein« könne, lässt sich folgendermaßen zweifach erläutern. Zum einen ist das »Frei-sein« hier zunächst negativ, d. h. Vereinzelung entspricht zunächst einer »negativen Freiheit« des Daseins. Durch die Vereinzelung ist die negative Freiheit von dem alltäglichen Man-selbst erst offenbart. Holger Helting hat in seinem Aufsatz Vom Rätsel des Begriffs »Mitsein« diesen Punkt zum Ausdruck gebracht: »Vielmehr zielt die Phase der Vereinzelung zunächst einmal negativ gesprochen, auf die existenzielle Ablösung des Selbst von Man-haften Seinsweisen«. 105 Die in der Existenz hineingehaltene Offenbarung der Vereinzelung des Daseins, d. h. die Offenbarung der existenzialen Struktur des Worumwillens des Daseins, dass es in seinem Sein um sein Sein selbst geht, bringt eine Ablösung des Daseins von dem Man-selbst zu Tage. Es fällt dem Dasein augenblicklich ein, dass es eigentlich nicht so und so ist wie die Anderen, wie das Man. Steven Crowell hat weiter diese negative Freiheit der »Ablösung« genauer als »Unterbrechung« (breakdown) des Man-selbst charakterisiert. Er weist darauf hin, dass die wesentliche Freiheit hinsichtlich der Unterbrechung des Man-selbst dasjenige Vermögen ist, »die dritte Person« und »die erste Person« als solche zu unterscheiden und dann zu wählen: »Freedom is not essentially the ability to choose between possibilities, but the difference between the third-person and the first-person as such. Animals, one might say, can choose whether to run and hide or stay and fight, but freedom consists in the gap that opens up between any such goal-directed action in the world and the breakdown of all practical identities in Angst/death, which reveals my having to take over being-a-ground.« 106
Heidegger, GA 24, S. 408; (Hervorhebung von mir.) Holger Helting, Vom Rätsel des Begriffs »Mitsein«, S. 164. 106 Steven Crowell, Normativity and Phenomenology in Husserl and Heidegger, S. 189; (Hervorhebung von mir.) 104 105
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Mitsein und Eigentlichkeit
In der dritten Person, d. h. als das Man, macht das Dasein alles nach sozialen Maximen oder kulturellen Gewohnheit, d. h. »in accord with the norms«. Als Vater tue ich so und so genau wie alle anderen; ich mache also alles, was nach der Norm, in Übereinstimmung mit der Norm ein Vater tun soll. Wenn es aber um das Worumwillen meiner geht, d. h. um die vereinzelte Jemeinigkeit, ist diese praktische Identität dadurch unterbrochen, dass der Ruf meines Gewissens mich angeht. Mein Sein nun als »das Grundsein zu übernehmen« 107 (take over being-a-ground) ist offenbart. Ich handle nun nicht nur nach der Norm, sondern ich gebe auch aus dem Worumwillen mir und den Anderen den Grund für meine Selbstheit (in light of reason, giving reason). Der Grund ist nun nicht mehr die dritte Person, sondern die erste, der Grund wird »mei[n] Grund«. 108 Zum anderen meint »frei und offen sein für Du bzw. die faktische Möglichkeit der jeweiligen Existenz« in dem zitierten Text auch eine »positive Freiheit«. Das Dasein entwirft sich auf der Basis der Vereinzelung aktiv auf die eigene Selbstheit und das eigentliche Miteinandersein. Steven Crowell charakterisiert diese vereinzelte positive Freiheit bzw. die Eigentlichkeit als »Verantwortlich-sein« 109 (being answerable). Die Verantwortung gegenüber den Anderen bezieht sich aber nur auf Grund-Geben (giving reason) meines und all anderen Seins, anstatt der Existenz des Grundes. Ich bin nicht verantwortlich für die Existenz des Grundes einer Handlung oder der Norm einer sozialen Identität, ich kann und muss aber dafür verantwortlich sein, dass ich autonom und selbständig den Grund einer Handlung oder die Norm meiner praktischen Identität überprüfe und dann gutheiße. Ich habe also die positive Freiheit, zu entscheiden, ob ich den Grund oder die Norm als »mein« annehme und damit unterzeichne. 110 Dadurch gelingt es Crowell, der Normativität eine grundlegende existenziale Basis zu schaffen.
Heidegger, Sein und Zeit, S. 285. Vgl. Steven Crowell, Normativity and Phenomenology in Husserl and Heidegger, S. 205–209. 109 Vgl. Ebd., S. 222–236. 110 Vgl. Ebd., S. 300: »To be authentic is to have a certain stance toward the reasons provided me by my practical identity. It is rather my taking responsibility for those reasons. I am not responsible for their existence; their existence derives from das Man. But in being authentic I make them my reasons by taking responsibility for endorsing them«. 107 108
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Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit
Holger Helting versteht diese vereinzelte positive Freiheit auch als »Verantwortung«. Er interpretiert sie folgendermaßen: »Insofern kann dem Wort ›Vereinzelung‹ auch ein positiver Sinn seiner gewöhnlichen Bedeutung abgerungen werden: Der Mensch kann seine ureigene Verantwortung für sein selbst nicht einem anderen Menschen einfach zur Gänze übertragen, sondern er muss sich, wenn er sein Selbst auf eigentliche Weise vollziehen will, auf die ihm überantwortete einzigartige Austragsmöglichkeit seiner (bezugverbundenen) Existenz besinnen […] [Die Vereinzelung] besagt nur, dass letztlich die Entscheidung zur Annahme des Eigenwesens nicht Sache eines anderen ist, sondern eine ureigen zu verantwortende.« 111
Die Positivität der Vereinzelung besteht darin, dass es mir klar wird, dass das Sein »mich« angeht. Darin ist impliziert, dass ich meine Verantwortung für mein Selbst übernehmen muss, die nicht mehr einem anderen oder allen anderen Menschen zur Gänze übertragen werden darf. Ich übernehme mein Sein als ein Grund-sein, der meiner sein muss. Es ist jedoch auch zu beachten: Dieser Grund ist zwar meiner, von mir überprüft und als meine Verantwortung von mir übernommen, aber als ein Grund muss er auch den Anderen überprüfbar sein. Eine Verantwortung ist immer Verantwortung gegenüber Anderen. Die Sicht der Anderen darf nicht in der Übernahme meiner Verantwortung für mein eigenes Selbst abgenommen werden. Vielmehr bedeutet die vereinzelte Verantwortung nur: Erst dadurch, dass ich mich vorübergehend auf mich selbst hin vereinzele, werde ich verantwortlich und zu den Anderen beziehungsfähig. 112 Es ist hier vielleicht auch wertvoll, die aufschlussreiche Untersuchung zu dieser Thematik von Günter Figal anzudeuten. Figal versteht den Vorrang der Vereinzelung auf folgende Weise: »[D]ie Angst vereinzelt: [neu] Anfangen [nach Brüchen] kann man immer nur als einzelner; sofern man ein Bestimmter im Vergleich mit Anderen und im Sichabsetzen von ihnen ist, fängt man nicht an.« 113 Die oben erläuterte existenziale Bewegung, dass das Man-selbst durch den Gewissensruf vereinzelt ist und dann in der Vereinzelung sowohl die Unterbrechung des Man-selbst als auch zugleich die Verantwortung für das eigene Selbst und eigentliche Miteinander offenbart sind, verHolger Helting, Vom Rätsel des Begriffs »Mitsein«, S. 169. Vgl. Frank Schlegel, Phänomenologie des Zwischen, Die Beziehung im Denken Martin Heideggers, Frankfurt am Main 2011. S. 81. 113 Günter Figal, Martin Heidegger: Phänomenologie der Freiheit, S. 204. 111 112
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Mitsein und Eigentlichkeit
steht Figal als die »Epoche«, die phänomenologische Reduktion. Heideggers Epoche in solchen konkreten Erfahrungen funktioniert so: Sie unterbricht das Aufgehen in der Welt und lässt dann die einheitliche Zusammengehörigkeit von Dasein und Welt offenbar werden. 114 Ich möchte hier nur hinzufügen: Was diese »Epoche« schafft, ist gehaltlich nichts Neues, sie hat die Wirklichkeit der Welt nicht negiert, auch nichts gehaltlich verändert. Was sie verändert hat, sind nur die Seinsmodi der Welt, meiner Existenz und mitweltlichen Seienden. Sie hat den Seinsmodus von uneigentlich zu eigentlich gebracht, und durch diese Modifikation bringt sie dem Dasein eine neue faktische Möglichkeit des eigensten Seinkönnens. Dies lässt sich an Heideggers Worten zeigen: »Die Unentschlossenheit des Man [in der Entschlossenheit] bleibt gleichwohl in Herrschaft, nur vermag sie die entschlossene Existenz nicht anzufechten […] Der Entschluß entzieht sich nicht der ›Wirklichkeit‹, sondern entdeckt erst das faktisch Mögliche, so zwar, dass er es dergestalt, wie es als eigenstes Seinkönnen im Man möglich ist, ergreift.« 115 Wenn Agamben behauptet: »Einziger Inhalt der authentischen Existenz ist das Uneigentliche, das Eigene nichts als das Ergreifen des Uneigentlichen«, 116 hat er Ähnliches gemeint. Was wir oben angezeigt haben, lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die Eigentlichkeit des Daseins besteht in seinem Ganzseinkönnen, das durch die Entschlossenheit als Entwurf auf das eigentliche Sein zum Tode zu erschließen ist. Es ist aber falsch festzustellen, dass die Uneigentlichkeit des Daseins bloß als Mitsein zu charakterisieren ist, die Eigentlichkeit des Daseins aber als Sein zum Tode. Die wesentliche Differenz zwischen Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit besteht nicht darin, ob Dasein überhaupt mit den Anderen ist. Sondern darin, auf welche Weise das Dasein sich zu den Anderen verhält, ob selbstständig oder nicht, wozu eben auch gehört, welche Art der Fürsorge zwischen Dasein und den Anderen besteht. Die Eigentlichkeit ist deswegen gleichursprünglich mit dem eigentlichen Miteinandersein, das Vgl. Ebd., S. 266 f.; auch Figal, Unscheinbarkeit, Der Raum der Phänomenologie, Tübingen, 2015, S. 64; auch Heidegger, GA 20, S. 137: »Wenn ich […] den konkreten Erlebniszusammenhang meines Lebens selbst reduziere, habe ich nach der Reduktion immer noch denselben konkreten Erlebniszusammenhang, der der meine ist, aber nicht so, dass ich nun in der Welt aufgehe, der natürlichen Richtung der Akte selbst folge, sondern die Akte in ihrer vollen Struktur präsent habe«. 115 Heidegger, Sein und Zeit, S. 299. 116 Giorgio Agamben, Passion der Faktizität, in: Nymphae, Berlin 2005, S. 71. 114
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Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit
durch die vorausspringend-befreiende Fürsorge zu erschließen ist. Innerhalb der Gleichursprünglichkeit von Eigentlichkeit des Daseins und des Miteinanderseins gibt es aber einen Vorrang der Vereinzelung. Dieser Vorrang besteht darin, dass die Vereinzelung sowohl die negative Freiheit des Daseins als Unterbrechung des Man-selbst, als auch die positive Freiheit des Daseins als Verantwortung für mein Selbst und das eigentliche Miteinandersein ermöglicht. Dieser Vorrang der Vereinzelung besagt aber nicht, dass die Vereinzelung bzw. seine Suche nach dem Ganzseinkönnen nur im Entwurf auf den Tod zu offenbaren ist – es ist dies auch in der Liebe möglich. Im folgenden Kapitel wird der Thematik der Liebe bzw. ihrer Räumlichkeit nachgegangen, um zeigen zu können, dass der Raum, in Rücksicht auf die Räumlichkeit der eigentlichen Liebe, als Sinn von Sein angesehen werden kann.
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8. Raum, Liebe und »Sinn von Sein«
8.1. Liebe und Eigentlichkeit 8.1.1. Liebe als Seinlassen Es ist lange Zeit darauf hingewiesen worden, dass in Heideggers Philosophie eine Liebesvergessenheit besteht. Ludwig Binswanger vertrat diese Auffassung und versuchte, in seinem Werk Grundformen und Erkenntnis des menschlichen Daseins (1942) »eine Phänomenologie der Liebe« 1 der existenzialen Analytik des In-der-Welt-seins als Sorge hinzufügen. Karl Jaspers machte den schwereren Vorwurf, dass Heideggers Philosophie »ohne Liebe. Daher auch im Stil unliebenswürdig« 2 sei. Das ist jedoch eigentlich nicht der Fall. In seiner Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? (1929) hat Heidegger schon in einem Satz angedeutet, dass sich in der Liebe, genauso wie in der Langeweile und Angst, »das Seiende im Ganzen« offenbart: »Diese Langeweile offenbart das Seiende im Ganzen. Eine andere Möglichkeit solcher Offenbarung birgt die Freude an der Gegenwart des Daseins – nicht der bloßen Person – eines geliebten Menschen.« 3 Diese Andeutung hat die ontologische Relevanz der Liebe schon festgestellt, obwohl sowohl in Sein und Zeit als auch in Was ist Metaphysik eine Analyse der Liebe fehlt. In den Zollikoner Seminaren 1965 hat Heidegger wiederum deutlich gemacht, dass die Liebe nicht höher als die Sorge sei, sondern entschieden in der fundamentalontologischen Bestimmung des Daseins bzw. im Seinsverständnis gründe:
1 Ludwig Binswanger, Grundformen und Erkenntnis des Menschlichen Daseins, Berlin/Basel, 4. Auflage, 1964, S. 17: »Das Ziel der ›Grundformen‹ war nicht, eine Gegenschrift zu ›Sein und Zeit‹ sein zu wollen, sondern eine Phänomenologie der Liebe«. 2 Karl Jaspers, Notizen zu Heidegger, München 1978, S. 34. 3 Heidegger, Was ist Metaphysik?, S. 110.
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Liebe und Eigentlichkeit
»Und weil man die Sorge lediglich als Grundverfassung des zum Subjekt isolierten Daseins sieht und sie als eine lediglich anthropologische Bestimmung des Daseins auffasst, erweist sie sich mit guten Gründen als eine einseitige, weil trübsinnige Auslegung des Daseins, die eine Ergänzung durch die ›Liebe‹ bedarf. Aber Sorge ist recht, d. h. fundamentalontologisch verstanden, niemals unterscheidbar gegen die Liebe, sondern ist der Name für die ekstatisch-zeitliche Verfassung des Grundzuges des Daseins nämlich als Seinsverständnis. Die Liebe gründet ebenso entschieden im Seinsverständnis wie die anthropologisch gemeinte Sorge. Es steht sogar zu erwarten, dass die Wesensbestimmung der Liebe, die in der fundamentalontologischen Bestimmung des Daseins einen Leitfaden sucht, eine wesentlich tiefere und weittragendere wird als jene Kennzeichnung der Liebe, die in ihr lediglich das Höhere im Vergleich zu Sorge sieht.« 4
Aus dieser Reaktion auf Binswanger können wir schließen: Da das Dasein durchaus nicht als ein isoliertes Subjekt zu verstehen ist, bedarf die Auslegung des Daseins keiner Ergänzung als Liebe. Denn die Liebe ist eigentlich schon darin enthalten. 5 Wir wollen hier nicht vermuten und erklären, warum die Liebe jedoch in der Daseinsanalytik, insbesondere in Sein und Zeit und Was ist Metaphysik? nicht ausgeführt worden ist. 6 Mit Heideggers vorhandenen Erläuterungen zur Liebe in seinen anderen Werken 7 können wir auch ein Verständnis der Charakteristik seines Liebebegriffs bzw. seiner ontologische Bedeutung gewinnen. Heidegger versteht die Liebe grundsätzlich ausgehend von Augustinus’ Satz »amo, volo ut sis«. In der Freiburger Vorlesung Heidegger, Zollikoner Seminare, GA 89, S. 237 f. Außerdem ist in persönlichen Erinnerungen an Heidegger oft angeführt worden, dass Heidegger nicht ein Mensch sei, der »ohne Liebe« oder fürsorge-unfähig ist. Z. B. erinnerte sich der Veranstalter der Zollikoner Seminaren Medard Boss folgendermaßen an Heidegger: Mit seinem [Heidegger] Verhalten [in der unermüdlichen, nie erlahmenden Geduld und Langmut] unserem Zollikoner Kreis gegenüber belegt er, dass er von der höchsten Form der Mitmenschlichkeit, der selbstlos liebenden, den anderen für sich freigebenden vorausspringenden Fürsorge nicht nur zu sagen und zu schreiben wusste, sie vielmehr auch in exemplarischer Weise zu leben bereit war.« Siehe Medard Boss, »Zollikoner Seminare«, in: Erinnerung an Martin Heidegger, Pfullingen 1977, S. 35; Vgl. auch: Heidegger, GA 89, Zollikoner Seminar, Vorwort. 6 Agamben hat darauf hingewiesen, dass Arendts stark von Heidegger beeinflusste Dissertation Der Liebesbegriff bei Augustin eventuell der Grund dafür sein könne. Vgl. Giorgio Agamben, Passion der Faktizität, S. 50 7 Über die Geschichte des Liebesbegriffs bei Heidegger siehe: Tatjana Noemi Tömmel, Wille und Passion: Der Liebesbegriff bei Heidegger und Arendt, Berlin 2013. 4 5
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Raum, Liebe und »Sinn von Sein«
Augustinus und Neuplatonismus vom Sommersemester 1921 hat Heidegger versucht, die Liebe so zu definieren: »Die eigentliche Liebe hat die Grundtendenz auf das dilectum, ut sit. Liebe ist also Wille zum Sein des Geliebten«. 8 Heideggers auf dieser Basis weitergeführte und bekannte »Liebesformel« findet sich in einem Brief an Hannah Arendt aus dem Jahr 1925: »in der Liebe sein = in die eigenste Existenz gedrängt sein. Amo heißt volo, ut sis, sagt einmal Augustinus: ich liebe dich – ich will, dass Du seiest, was Du bist.« 9 Noch über dreißig Jahre später fasst Heidegger das Wesen der Liebe in ähnliche und vertiefte Worte: »Wohl die tiefste Deutung dessen, was Liebe ist, steht bei Augustinus, in dem Wort, das lautet: ›amo volo ut sis‹, ich liebe, das heißt, ich will, dass das Geliebte sei, was es ist. Liebe ist das Sein-Lassen in einem tieferen Sinn, demgemäß es das Wesen hervorruft.« 10 Heideggers Liebesformel »ich will, dass Du seiest, wie Du bist« enthält zwei Bedeutungen, die einander anscheinend sogar entgegenstehen: Erstens ist die Liebe ein Wille, Wille zum Sein des Anderen; zweitens ist dieser Wille in seinem tiefsten Sinne das »Sein-lassen«. Liebe ist sozusagen der Schnittpunkt von »Wollen« und »Lassen«. Dies kann man wohl mit dem Ausdruck »ein nicht-wollender Wille« umformulieren. In welchem Sinne ist sie »nicht-wollend«? In der Liebe ist doch etwas gewollt, und zwar: das So-sein und Dass-sein des Anderen. Dieses »nicht-wollend« im Sinne des »Lassens« muss hinsichtlich seiner Negativität noch erläutert werden. Heideggers folgende Andeutung mit dem Vergleich zur »Liebe zu Krammetsvögel« in der Augustinus-Vorlesung ist für unsere Thematik wichtig: »Jede Liebe schließt in sich ein gewisses Wohlwollen (benevolentia) für den ein, welcher geliebt wird. Wir lieben nicht so den Menschen, wie der Herr Petrus frug: Liebst du mich? Aber auch so sollen wir den Menschen nicht lieben, wie die Schlemmer reden, wenn sie sagen: ich liebe Krammetsvögel. Der Schlemmer liebt sie nur, um sie umzubringen. Er liebt sie also, damit sie nicht sind (non esse). So darf man nicht Menschen lieben, dass man sie in den eigenen Zweck hineinstellt.« 11 Heidegger, Augustinus und Neuplatonismus, in: GA 60, S. 291 f. Heidegger an Arendt am 13. 5. 1925, in: Hannah Arendt / Martin Heidegger Briefe 1925 bis 1975, Frankfurt am Main, 2002, S. 31. 10 Heidegger, Ludwig von Ficker zum Gedächtnis seines achtzigsten Geburtstages, Nürnberg 1960, S. 20. 11 Heidegger, Augustinus und Neuplatonismus, S. 291. 8 9
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Liebe und Eigentlichkeit
Diese Liebe zu Krammetsvögeln stellt den eigenen Zweck hinein, nämlich um sie umzubringen, und dann zu essen. Sie ist eine besitzergreifende Liebe oder konsumierende Liebe, wie z. B. auch ein Handwerker den Baum »liebt«, weil er aus ihm Holz machen will. Die echte Liebe schließt hingegen in sich ein gewisses Wohlwollen (benevolentia) für den Geliebten ein. Der Geliebte ist nicht Mittel zum Zweck, sondern Selbstzweck: zu lieben, den Anderem um seiner selbst willen zu begehren. 12 Damit ist die Bedeutung des »nicht-wollenden« ins Licht gekommen: Der Liebende will den Geliebten nicht beherrschen oder besitzen, er verfolgt nicht sein eigenes Interesse, sondern dasjenige des Geliebten. Das Wollen des Liebenden ist zwar seines, aber nicht aus ihm selbst, sondern eines, das den Geliebten frei sein lässt. Er lässt den Geliebten frei sein; und er will, dass nichts, auch einschließlich seines Wollens, die Freiheit des Geliebten verletzt oder ihr schadet. Diese Freiheit bedeutet nicht von zwei Handlungsmöglichkeiten zu wählen, sondern überhaupt eigentlich sein zu können. Den Geliebten als Selbstzweck anzusehen bedeutet, ihn in Freiheit sein zu lassen. 13 Die Liebesformel als Sein-lassen äußert sich vielleicht am klarsten in dem folgenden Satz aus dem Brief über den »Humanismus«. Es geht nun nach der Kehre aber nicht mehr um die Liebe des Menschen zum Sein des Anderen bzw. zum Sein überhaupt, sondern um die Liebe des Seins zum Menschen: »Das Denken ist – dies sagt: das Sein hat sich je geschicklich seines Wesens angenommen. Sich einer ›Sache‹ oder einer ›Person‹ in ihrem Wesen annehmen, das heißt: sie lieben; sie mögen. Dieses Mögen bedeutet, ursprünglicher gedacht: das Wesen schenken. Solches Mögen ist das eigentliche Wesen des Vermögens, das nicht nur dieses oder jenes leisten, sondern etwas in seiner Herkunft ›wesen‹, das heißt sein lassen kann. Das Vermögen des Mögens ist es, ›kraft‹ dessen etwas eigentlich zu sein vermag.« 14
Vgl. Tatjana Noemi Tömmel, Wille und Passion, S. 123; Vgl. auch Otto Pöggeler, Bild und Technik, Heidegger, Klee und die moderne Kunst, München 2002, S. 84. 13 Vgl. Heidegger, GA 6/1, Nietzsche, S. 470: »Amor, die Liebe ist als Wille zu verstehen, als der Wille, der will, dass das Geliebte in seinem Wesen sei, was es ist. Der höchste und weiteste und entscheidendste Wille dieser Art ist der Wille als Verklärung, der das in seinem Wesen Gewollte in die höchsten Moerglichkeit seines Seins hinaus- und hinauf-stellt.« 14 Heidegger, GA 9, S. 316. 12
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Raum, Liebe und »Sinn von Sein«
Hier wird der letzte Sinn des Sein-lassens angesprochen: Anwesendem den Wesensraum zur Entfaltung schenken und es zumal in seiner Herkunft, d. h. in seinem eigenen Selbst wahren. In Bezug auf das konkrete liebende Miteinandersein heißt das: Den Anderen als Geliebten in seinem leibhaftigen Wesensvollzug von Grund auf bejahen, mögen, lieben. Es ist aber kein Zufall, dass Heidegger hier die echte Liebe als »Sein-lassen« versteht, denn in der Freiburger Vorlesung Einleitung in die Philosophie (1928/29) wird sogar das »Seinlassen« als die Urhandlung des Daseins bezeichnet und gedacht. Was bedeutet »sein lassen«? Formal gesprochen ist es eine Seinsweise, in der wir »gerade zurücktreten, damit es, das Seiende, von ihm selbst her sich offenbaren kann. Gerade jetzt kommt es einzig darauf an, dass wir das Seiende so lassen, wie es ist, und es so nehmen, wie es sich gibt«. 15 Diese Urhandlung als Seinlassen hat impliziert, dass das Seiende sich zeigt, es uns entgegen kommt und wir ihm damit erst begegnen können. Um es als ein Phänomen, d. h. als das Sichzeigende an ihm selbst zur Aufweisung zu bringen, müssen wir zurücktreten und es so lassen, wie es ist, wie es sich zeigt. Heidegger beschreibt diese Haltung als »nur Hinsehen«. 16 Durch solches Zurücktreten wird es erst möglich, dass sich etwas ganz von sich selbst her zeigen, offenbaren kann. Das Sichzeigende wird nicht mehr von irgendwelchen vorgefassten, starren Vorstellungen her betrachtet, sondern in seiner Eigenheit (und in seiner Andersheit) gewahrt. 17 Um dieses »Seinlassen« nun in Bezug auf das Liebesverhältnis zu konkretisieren: Das Ablassen, das »Zurücktreten« spricht die Haltung an, nicht in die Freiheit des Geliebten einzuspringen, ihn nicht zu beherrschen, sondern ihm dazu zu verhelfen, in seiner Sorge durchsichtig und frei zu werden. Damit können wir behaupten, dass mit der vorausspringend-befreienden Fürsorge, die von der einspringenden Fürsorge unterschieden ist, eigentlich Liebe im Sinne des »Seinlassens« gemeint ist. Daraus erkennen wir, dass die Liebe im Sinne des »Seinlassens« mit Heideggers Phänomenologie zweifach zusammenhängt. Sie entHeidegger, GA 27, S. 183. Ute Guzzoni beschreibt diese Haltung mit ihrem schönen Wort: »der lange und gewaltlose Blick auf den Gegenstand«, Siehe: »Der lange und gewaltlose Blick auf den Gegenstand«, in: Überlegung zum Denken bei Heidegger und Adorno, in: Martin Heidegger weiterdenken, Albert Raffelt (Hrsg.), München; Zürich 1990, S. 65–88. 17 Vgl. Holger Helting, Vom Rätsel des Begriffs »Mitsein«, S. 166. 15 16
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Liebe und Eigentlichkeit
spricht zum einen Heideggers »phänomenologischem Realismus«, 18 der besagt, dass das Phänomen sich an sich selbst zeigt und es nicht von dem Bewusstsein oder allgemeiner menschlicher Erfassung konstituiert wird, sondern vor unserer Erfassung überhaupt schon da ist. Zum anderen entspricht die Liebe auch Heideggers phänomenologischer Methode, nämlich »jede[r] Aufweisung von Seiendem, so wie es sich an ihm selbst zeigt«. 19 Dieser Satz sagt so viel wie die Liebesformel: Ich will, dass Du seiest, was Du bist.
8.1.2. Liebe als Zusammengehören der Differenz Heideggers Liebesbegriff erhält in seinen späten Schriften eine andere Bestimmung: das Zusammengehören der Differenz. Die Erläuterung dieser neuen Bestimmung der Liebe findet man in der Schelling-Vorlesung Vom Wesen der menschlichen Freiheit (1946). Er versucht dort die Identität nicht als eine tautologische Einheit im Sinne der Verschmelzung zu einem Eins, sondern als einen liebenden Streit von Verschiedenen zu verstehen. Diese Charakterisierung der »Identität« ist dann wesentlich auf die metaphysische Bedeutung der Liebe angewiesen, weil die Liebe gerade das ist, was die Gegensätze zu einer Einheit verbindet, ohne die Gegensätzlichkeit selbst aufzulösen. Heidegger erläutert: »Die Liebe ist die ursprüngliche Identität, die als solche das Verschiedene und für sich sein Könnende auseinanderhaltend verbindet … Sie wolle, dass die Verschiedenen, die für sich sein könnten, verschieden sind und auseinanderweichen; denn ohne dieses hätte die Liebe nicht, was sie einigte, und ohne solche Einigung wäre sie nicht selbst. Der Wille der Liebe will also nicht irgendeine blinde Einigung, damit nur eben Einheit sei, sondern will zuerst und eigentlich immer die Scheidung; nicht, dass es bei dieser immer nur bleibe, sondern damit der Grund bleibe zur je höheren Einigung.« 20
Der Wille der Liebe ist also keine blinde Einigung, sondern eine Verbindung von Zwei, eine Innigkeit der Auseinandergesetzten, ein Einklang der Verschiedenen. Damit ist gesagt, dass innerhalb der liebenSiehe Kapitel 1.2 dieser Arbeit. Heidegger, Sein und Zeit, S. 35; Vgl. auch Tatjana Noemi Tömmel, Wille und Passion, S. 159. 20 Heidegger, Schelling. Vom Wesen der menschlichen Freiheit, GA 42, S. 222 f. 18 19
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Raum, Liebe und »Sinn von Sein«
den Verbindung zugleich noch eine Scheidung besteht. Heidegger nennt dies eine paradoxe Formulierung: Die Liebe schreibt den Liebenden zugleich Unabhängigkeit und Abhängigkeit zu. Und diese paradoxe Konzeption der Liebe beruft sich auf das berühmte »Geheimnis der Liebe« von Schelling: »Denn Liebe ist weder in der Indifferenz, noch wo Entgegengesetzte verbunden sind, die der Verbindung zum Sein bedürfen, sondern (um ein schon gesagtes Wort zu wiederholen) dies ist das Geheimnis der Liebe, dass sie solche verbindet, deren jedes für sich sein könnte und doch nicht ist, und nicht sein kann ohne das andere.« 21
Das Geheimnis der Liebe besteht darin, dass die Liebenden einerseits frei sind, d. h. dass jeder für sich eigenständig sein kann; aber dass andererseits die Liebenden auch aufeinander angewiesen sind und jeder von ihnen ohne den Anderen nicht das sein kann, was er ist. 22 Die Liebe ist also eine abhängige Unabhängigkeit und unabhängige Abhängigkeit. Die Liebe ist eine Synthesis von Abhängigkeit und Autonomie, in der es ein Gleichgewicht von Hingabe und Selbstständigkeit gibt. Die Liebe ist notwendigerweise in sich widerstrebend: Sie ist sowohl Verbindung als auch Trennung, denn die reine eins-werdende Verschmelzung würde nicht nur die Liebe als vereinigende Kraft vernichten, sondern auch die Individualität der Liebenden. Den Anderen selbst kann nur anerkennen und genießen, wer den Anderen als Anderen in einer verbindenden Andersheit wahrnimmt und ihn frei lässt. 23 Hierdurch können wir mit Recht sagen, dass das streitende Spiel zwischen Erde und Welt bei Heidegger eine Konkretisierung dieses Modells der Liebe ist. Erde und Welt sind dabei die Bezeichnungen für die gegenläufigen Prinzipien der Wahrheit, nämlich Verbergung und Entbergung. In ihrem innigen und liebenden Streit gönnen sich Erde und Welt gegenseitig zu sein, was sie sind – gerade dadurch, dass sie sich nicht angleichen und nicht ineinander verschmelzen, sind sie Schelling, Vom Wesen der menschlichen Freiheit, Hamburg 1997, S. 79. Der Gedanke, dass der Liebende im Geliebten, also außerhalb seiner selbst, sich selbst finden kann, hängt auch eng zusammen mit Hegels Liebesinterpretation. Siehe Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke 7, Frankfurt am Main, 1970, S. 307: »Liebe heißt überhaupt das Bewusstsein meiner Einheit mit einem anderen, so dass ich für mich nicht isoliert bin, sondern mein Selbstbewusstsein nur als Aufgebung meines Fürsichseins gewinne und durch das Mich-Wissen, als der Einheit meiner mit dem anderen und des anderen mit mir.« 23 Vgl. Tatjana Noemi Tömmel, Wille und Passion, S. 166. 21 22
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Liebe und Eigentlichkeit
miteinander verbunden. Die Liebe ist ein liebender Streit, eine verbindende Unabhängigkeit. Sie ist Einheit der Zwei, kein Eins und keine Tautologie. Denn die Differenz innerhalb der Liebe ist unüberwindbar, besser gesagt, sie muss unüberwindbar bleiben, damit eine Verbindung, ein Zusammengehören überhaupt möglich ist. 24 Heidegger hat letztendlich sein Liebesverständnis folgendermaßen zusammengefasst und einen Bezug zum Sein überhaupt hergestellt: »Die Liebe im metaphysischen Sinne begreift Schelling als das innerste Wesen der Identität als der Zusammengehörigkeit des Verschiedenen. ›… dies ist das Geheimnis der Liebe, dass sie solche verbindet, deren jedes für sich sein könnte und doch nicht ist, und nicht sein kann ohne das andre‹. Die so begriffene Liebe ist das Wesen des Bandes, der Copula, des ist und des Seyns.« 25
Die metaphysische Liebe als die Zusammengehörigkeit des Verschiedenen, die das Wesen der Identität ausmacht, ist nun nicht mehr vom menschlichen Miteinandersein ausgesprochen, sondern vom Sein überhaupt bzw. auch der Copula als solcher. Sein ist nicht bloß das Eine an sich, sondern das »Band«, das Zusammengehören der Differenz. Ein Wesen als bloßes Eins kann sich nicht offenbaren, wenn es nicht in ihm selbst ein Anderes ist. Das Sein kann deswegen nur als das lebendige Band von sich selbst und einem Anderen verstanden werden. 26 Die von Schelling interpretierte Dualität in der absoluten Identität hat Heidegger als die metaphysische Bedeutung der Liebe in seinem späten Verständnis vom Sein überhaupt übernommen. Identität besteht also nicht im statischen Verhältnis »A = A«, sondern in der schöpferischen Handlung »A ist A«, also »A bringt A hervor« oder »A läßt A sein«. Das so verstandene Seyn, das mit der metaphysischen Liebe gleichbedeutend ist, ist zugleich Verbindung und Trennung seiner Elemente, es hält die Liebenden im Innersten zusammen,
Alain Badiou hat dies auch betont: »Die Wahrheit [der Liebe] ist ganz einfach die Wahrheit über die Zwei. Die Wahrheit des Unterschieds als solchen. Die Liebe, ich nenne sie ›die Bühne der Zwei‹.«, Alain Badiou, Lob der Liebe, Wien 2015, S. 39. 25 Heidegger, GA 42, S. 154. 26 Schelling erläutert den internen Dualismus in Gott folgendermaßen: »Soll es als Eins sein, so muss es sich offenbaren in ihm selbst; es offenbart sich aber nicht, wenn es bloß es selbst, wenn es nicht in ihm selbst ein Anderes, und in diesem Anderen sich selbst das Eine, also wenn es nicht überhaupt das lebendige Band von sich selbst und einem Anderen ist.« (SW VII, S. 54.) 24
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Raum, Liebe und »Sinn von Sein«
weil sie einzelne Existenzen bewahrend hervorbringt. Heidegger behauptet: »Das Sein […] ist nicht solches, was über allem schwebt und keinen faßt, sondern die ursprünglich einigende Einheit des Auseinanderstrebenden […] Das Sein west als die vis primitiva actica. Dies ist das anfangende, jegliches zu sich versammelnde Mögen, das dergestalt jedes Seiendes zu ihm selbst entläßt.« 27
Das Sein ist die einigende Einheit des Auseinanderstrebenden, dadurch, dass es als das versammelnde Mögen jedes Seiende zu sich selbst entlässt. Das so verstandene Sein überhaupt meint genau das »Zusammengehörenlassen« in Identität und Differenz: »Sein gehört mit dem Denken in eine Identität, deren Wesen aus jenem Zusammengehörenlassen stammt, das wir das Ereignis nennen.« 28 Wenn wir eine Identität der Differenz wie »A = B« behaupten, müssen wir vom Sein aus sprechen, nämlich »A ist identisch mit B«. Der Satz »A ist identisch mit B« hat laut Heideggers Seinsdenkens schon vorausgesetzt, dass das Sein überhaupt A und B zusammengehören lässt. Der tiefste Sinn des Seins besteht in dem »Lassen«. 29 Dies führt auf unsere Untersuchung zum Sein-lassen im Kapitel 2.3 dieser Arbeit zurück. Das Sein lässt das jeweilige Seiende zu ihm selbst sein, d. h. das sein, was es ist. Aber sich-selbst sein bedeutet zugleich schon, in der Identität der Differenz mit einem Anderen zusammenzugehören. Das Zusammengehören der Differenz ist eine verbindende Trennung und zugleich eine trennende Verbindung. Das ist das Wesen der Identität, welche die echte Liebe beansprucht. Daraus folgt, dass die neue Bestimmung der Liebe als »Zusammengehören der Differenz« nicht lediglich eine Hinzufügung zur Bestimmung als »Sein-lassen« ist. Vielmehr ist sie eine ontologische Vertiefung, die verdeutlicht, dass die Liebe als das Sein-lassen, wenn es nicht mehr um die menschliche Liebe zum Anderen, sondern um die Identität überhaupt wie »A = A« oder »A = B« auf der metaphy-
Heidegger, GA 40, S. 140. Heidegger, »Der Satz der Identität«, in: Identität und Differenz, GA 11, S. 48. 29 Vgl. Heidegger, Seminare, Seminar in Le Thor 1969, GA 15, S. 363: »Es kommt hierbei darauf an, zu verstehen, dass der tiefste Sinn von Sein das Lassen ist. Das Seiende sein-lassen. Das ist der nicht-kausale Sinn von ›Lassen‹ in ›Zeit und Sein‹. Dies ›Lassen‹ ist etwas von ›Machen‹ grundlegend Verschiedenes. Der Text ›Zeit und Sein‹ unternimmt den Versuch, dies ›Lassen‹ noch ursprünglicher als ›Geben‹ zu denken.«; siehe auch Kapitel 2.3 dieser Arbeit. 27 28
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Liebe und Eigentlichkeit
sischen Ebene geht, erst das Zusammengehören der Differenz ermöglicht.
8.1.3. Liebe und Eigentlichkeit Es wurde im Kapitel 7.2.2. ansatzweise gezeigt, dass es bei Heidegger nicht nur eigentlichen Tod, sondern auch eigentliches Miteinandersein gibt. Nach der obigen Darstellung des Denkens der Liebe können wir nun auf die These eingehen, ob Liebe, außer dem Tod, auch dasjenige sein kann, was das Dasein zum eigentlichen Seinkönnen bringt. Es ist zuerst sinnvoll, darauf aufmerksam zu machen, dass Heidegger niemals behauptet, die Angst bzw. der Tod sei die einzige ausgezeichnete Grundbefindlichkeit für die Erschlossenheit des Daseins. In einer Selbstkritik setzt er sich mit dem Vorwurf, Sein und Zeit sei einseitig auf die Angst konzentriert, auseinander und bestätigt: »›Die Grundbefindlichkeit der Angst ist eine ausgezeichnete Erschloßenheit des Daseins‹. Hier steht weder, die Angst sei ›die‹ ausgezeichnete Erschlossenheit, noch wird gar behauptet, sie sei die einzige.« 30 Es ist weiterhin zu beachten, dass Heidegger in den letzten Kapiteln von Sein und Zeit selbst Zweifel daran äußert, ob »der Tod die höchste Instanz des Seinkönnens ist«. Er erklärt, dass der Tod als das Ziel des Vorlaufens zwar nicht beliebig, aber auch »nicht unbedingt notwendig und verbindlich« gewählt worden sei. 31 Was könnte außer dem Tod noch eine Instanz des Seinkönnens des Daseins sein? Wir können eine wesentliche Spur für diese Thematik in der Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? (1929) finden. Heidegger weist in einem Satz darauf hin, dass in der Liebe genauso wie in der Langeweile und Angst, »das Seiende im Ganzen« sich offenbart: »Diese Langeweile offenbart das Seiende im Ganzen. Eine andere Möglichkeit solcher Offenbarung birgt die Freude an der Gegenwart des Daseins – nicht der bloßen Person – eines geliebten Menschen.« 32 Im Folgenden wird diese Spur verfolgt werden und es wird sich zeigen, dass die Exposi-
Heidegger, GA 49, S. 32. Vgl. auch Heidegger, Martin / Heinrich Rickert: Briefe 1912 bis 1933, Vittorio Klostermann GmbH, Frankfurt am Main 2002, S. 70: »Ich habe nie behauptet, dass das Nichts nur in der Angst offenbar werde.« 31 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 313, 445. 32 Heidegger, Was ist Metaphysik?, S. 110. 30
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Raum, Liebe und »Sinn von Sein«
tion des Seins zum Tode in Sein und Zeit nicht der einzige Weg zur Eigentlichkeit ist. Ein anderer wichtiger ist die Liebe. Jean-Luc Nancy war meines Wissens der erste, der darauf hingewiesen hat, dass die Liebe im Vergleich zum Tode auch eine Möglichkeit für die Gewinnung der Eigentlichkeit sei. Am Ende seines Aufsatzes Das Mit-sein des Daseins sagt er: »Im Briefwechsel mit Hannah Arendt findet man die sehr genauen, wenig entwickelten, aber sehr explizierten Elemente eines Denkens der Liebe, die sich genau zwischen dem Uneigentlichen und dem Eigentlichen des ›Mit‹ in Sein und Zeit einfügen könnten. Die Liebe ist dort in der Tat als der wahrhafte Ort eines Uns und einer unseren Welt bezeichnet, und gleichzeitig verkörpert sie das wahrhafte Sorgen um den Anderen, denn die Formel für sie ist Augustinus entlehnt und lautet, Volo ut sis, ich will, dass du seiest, was du bist […] Demnach die Liebe zwar nicht an die Stelle des Todes setzt, jedoch mit ihm zusammentrifft.« 33 Kann die Liebe mit dem Tod hinsichtlich der Eigentlichkeit des Daseins, wie Nancy andeutet, »zusammentreffen«? Heidegger behauptet, der Tod sei »die eigenste, unbezügliche, unüberholbare Möglichkeit« 34 des Daseins, daher ermöglicht er das Dasein zum Ganzseinkönnen – besitzt die Liebe vergleichbare Charakteristika, damit das Dasein in der Liebe auch zum Selbstsein werden kann? Es bedarf hier eine noch ausführlichere Erläuterung der Liebe. In einem Brief schreibt Heidegger an Arendt im Jahr 1925: »Weißt Du, dass das das Schwerste ist, was einem Menschen zu tragen gegeben wird? Für alles sonst gibt es Wege, Hilfe, Grenze und Verstehen – hier nur bedeutet alles: in der liebe sein = in die eigenste Existenz gedrängt sein.« 35
Die Bedeutung dieser Aussage lässt sich zweifach zeigen: 1.) Heidegger bekräftigt den Anspruch der Liebe auf dasjenige Primat, das in Sein und Zeit und Was ist Metaphysik? der Angst bzw. dem Tod zukommt. 2.) Dieses Primat der Liebe besteht darin, dass sie das Dasein zur Eigentlichkeit drängt. Inwiefern meint Heidegger hier, dass der Zwang der Liebe das Schwerste ist? Worum geht es in diesem Zwang? Die Liebe ist anders als alles sonst, für das es noch konventionelle Jean-Luc Nancy, Das Mit-sein des Daseins, S. 171: »Das Volk ist eigentlich, denn in ihm oder als es läuft sich das Mit als das Gemeinsame einer Gemeinschaft voraus«. 34 Heidegger, Sein und Zeit, S. 250, 258. 35 Heidegger an Arendt am 13. 5. 1925, in: Hannah Arendt / Martin Heidegger Briefe 1925 bis 1975, S. 31; (Hervorhebung von mir.) 33
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Liebe und Eigentlichkeit
Formen, Hilfen und Grenzen gibt, um den Weg gangbar zu machen, d. h. dem Einzelnen Wahl und Entscheidung abzunehmen. Dahingegen geht es in der Liebe um die eigentliche Existenz, d. h. der Mensch muss den eigenen Weg finden. Tatjana Noemi Tömmel hat hierin zu Recht die »Unvertretbarkeit des Daseins« in der Liebe herausgehoben: »Die eigene Liebe ist schlechthin unvertretbar, und das in offenbar noch höherem Maße als der Tod.« 36 Die Liebe ist deswegen das Schwerste, weil sie unvertretbar ist und mich in meine Eigentlichkeit drängt. Um die Unvertretbarkeit der Liebe vollständig klar zu machen, muss andererseits auch betont werden, dass nicht nur der Liebende, sondern auch der Geliebte für Heidegger unvertretbar bzw. unersetzbar ist. Er schreibt: »Beides sagt mir, dass ich noch nicht stark genug bin für Deine Liebe. Die Liebe gibt es ja nicht.« 37 Einerseits geht die Liebe mich als ein Einzelnes an, und durch diese Vereinzelung ist mein alltägliches Selbstsein als Verfallensein in das Man unterbrochen. Ich muss also in der Liebe meine eigene Last tragen; andererseits ist das Du, der Geliebte auch zugleich vereinzelt. Durch diese Vereinzelung ist der Geliebte unersetzbar geworden. 38 Egal wie ähnlich der Ersatz sein mag, gehört der ersetzte Geliebte zur anderen Liebe, weil es »die Liebe« nicht gibt. Ein vereinzelter Geliebter ist immer eine Person. »›Eine Person lieben‹ heißt nicht, etwas lieben, sondern jemanden in dieser numerischen Identität«. 39 Heideggers Betonung der Singularität der Liebe macht die Eigentlichkeit in der Liebe besonders offenbar. Es gibt in der singulären Liebe immer Liebenden und Geliebten. Wie ist das Verhältnis zwischen ihnen zu charakterisieren? Wieso gehe ich in meine Eigentlichkeit, gerade wenn ich mich in der Liebe zu einem Anderen verhalte? Heidegger erklärt dies weiter in einem anderen Brief an Arendt aus demselben Jahr: Vgl. Tatjana Noemi Tömmel, Wille und Passion, S. 105. Hannah Arendt / Martin Heidegger Briefe 1925 bis 1975, S. 38. 38 Harry Frankfurt hat die Unersetzbarkeit der Liebe betont: »Es gibt keinen gleichwertigen Ersatz für das geliebte Wesen. Dem Liebenden aber kann es nicht gleichgültig sein, ob er sich interessefrei diesem geliebten Wesen zuwendet oder – egal wie ähnlich es sein mag – einem anderen.«, diese Unersetzbarkeit kann aber nur aus der Vereinzelung und Eigentlichkeit erklärt werden. Siehe: Harry Frankfurt, Gründe der Liebe, Berlin 2014, S. 49. 39 Robert Spaemann, Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns, Stuttgart 2001, S. 107. 36 37
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Raum, Liebe und »Sinn von Sein«
»Warum ist die Liebe über alle Ausmaße anderer menschlicher Möglichkeiten reich und den Betroffenen eine süße Last? Weil wir uns in das wandeln, was wir lieben und doch wir selbst bleiben. Dem Geliebten möchten wir dann danken und finden nicht, was dem genügte. Wir können nur mit uns selbst danken. Liebe wandelt in Dankbarkeit in die Treue zu uns selbst und in den unbedingten Glauben an den Anderen. So steigert die Liebe ständig ihr eigenstes Geheimnis.« 40
Die Liebe ist zwar das Schwerste aber andererseits auch süß, eine süße Last. Heideggers Begründung lautet: Weil wir uns in das wandeln, was wir lieben und doch wir selbst bleiben. Es lohnt sich, bei dieser Passage einen Moment zu verweilen. Wir wandeln in die Geliebten, doch zugleich bleiben wir wir selbst. Wie lässt sich dies erklären? Wir haben im Kapitel 7.1.2 schon gezeigt, dass die Transzendenz eine reflexive Struktur hat, das heißt das Selbstsein im Sichverhalten zu etwas immer auch mitenthüllt ist. Z. B. hämmere ich Nägel, um Bretter zu sichern und eine solche Aktion hat zugleich immer eine selbstbezügliche Dimension: Ich versuche, ein Zimmermann zu sein. Aber das Selbst, das in diesem besorgenden Verhalten mitenthüllt ist, ist zunächst und zumeist das Man-selbst. Wie kann das Selbst, das nun im liebenden Verhalten mitenthüllt ist, eigentlich sein? Was macht den Unterschied zwischen den beiden aus? Alles liegt daran, dass die Liebe Sein-lassen ist. Die Liebe ist vor allem eine interessefreie Sorge um die Existenz dessen, der geliebt wird, um das, was gut und frei für ihn ist. Der Geliebte darf nicht angesehen werden als ein Mittel zum Zweck, sondern er muss als ein Zweck an sich sein. Hingegen ist der Hammer nur ein Werkzeug, er wird benutzt als ein Mittel zum Zweck des Nagel-Hämmerns. Die Liebe ist deswegen »süß«, weil sie derart reich ist, dass ich im geliebten Du wandle und zugleich Ich-selbst bleibe. Heidegger drückt dieses Verhältnis ein Stück weit klarer aus in seinem Brief an seine Frau Elfride: »Man wird selbst stark in der Liebe – ein Geben, das kein Weggeben ist, in dessen Vollzug man erst zu sich selbst kommt.« 41 Liebe ist also keine Selbstverleugnung, sondern ein Zu-sich-kommen in der Begegnung mit dem anderen. Die Liebe, die Bindung an einen anderen Menschen, ist zugleich die Bestätigung der eigenen Existenz. Es ist aber zu beachten, dass dieses Zu-sich-kommen keine »RückHeidegger an Arendt am 21. 2. 1925, in: Hannah Arendt / Martin Heidegger Briefe 1925 bis 1975, S. 12 f. 41 Heidegger an Elfride am 23. 08. 1920, in: Mein liebes Seelchen! Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfride, 2005, S. 112. 40
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Liebe und Eigentlichkeit
kehr« 42 ist, weil das Geben zugleich schon das Bekommen ist, und zwar nicht erst nach der Rückkehr. Heideggers Erläuterung, dass Geben zugleich ein Zu-sich-kommen ist, macht seine Bestimmung der Liebe als »Zusammengehören der Differenz« offensichtlich. Genau weil Ich in der Liebe auch als Wir, also ein Zusammengehören von Ich und Du, offenbar werde, ist das Geben an sich, also ohne Rückwendung, schon Zu-Mir-selbst-kommen. Das Zusammengehören der Differenz in der Liebe macht die Ganzheit meines Seins noch reicher als im Tode. Es wurde im obigen Kapitel schon gezeigt, dass das Wesen der Identität sich nicht offenbaren kann, wenn es nicht in seiner selbst ein Anderes ist, oder wenn es sich nicht zu einem Anderen verhält. Im Tod geht es nur um das Sichverhalten zum Dasein selbst. Im Gegensatz dazu geht es in der Liebe um das Zusammengehören des Daseins mit einem Anderen, das die Eigentlichkeit des Daseins weder negiert noch reduziert, sondern vielmehr bereichert, weil deine Du-heit in der Liebe auch zur Ganzheit meines Selbstseins gehört. Heidegger sagt in dem zitierten Text außerdem noch »Dem Geliebten möchten wir dann danken […] wir können nur mit uns selbst danken«. Wie ist das »Danken« an Liebe und das »Geheimnis« der Liebe zu verstehen? Zur Liebe gehört es notwendigerweise, dass sie nicht unserer direkten oder unmittelbaren willentlichen Kontrolle untersteht. Man kann die Liebe nicht völlig wählen. »Man hat die Sache nicht in der Hand«. 43 Liebe ist deswegen schließlich nur als ein Geschenk (besser gesagt: als Gabe) eines Ereignisses zu verstehen. Ich kann die Liebe nicht als Eigentum besitzen, sondern nur in meinem sehnsüchtigen Lieben zu einem Anderen als Geschenk bekommen. Ich bin eigentlich, wenn die Liebe hereinbricht, auf mich zukommt, 44 Tömmel interpretiert dies als »Rückkehr«. Dem stimme ich nicht zu. Ihre Interpretation ist zu sehr von Hegel her gedacht und hat Heideggers reflexive Struktur der Transzendenz übersehen. Siehe: Tatjana Noemi Tömmel, Wille und Passion, S. 110: »Die Begegnung mit dem anderen führt also nicht zur Vernichtung der eigenen Identität, sondern zu ihrer Aufhebung – durch Negation und Bewahrung wird das Sein auf eine höhere, eigentlichere Stufe gebracht. Aufgrund dieser Rückkehr zu sich bezeichnet Heidegger die Liebe als – wenn auch süße – ›Last‹.« 43 Harry Frankfurt, Gründe der Liebe, S. 50. 44 Thomas A. Carlson hat dies auch betont, Siehe: Thomas A. Carlson, Note on Love and Death in Augustine and Heidegger, in: MMT 21.1 (2012): S. 9–33, Zitate S. 24: »My authenticity [Eigentlichkeit], that which is most or distinctively my own in the sense of the inescapable and non-transferrable, proves here to be not, in fact, a pos42
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Raum, Liebe und »Sinn von Sein«
d. h. wenn ein Du mit mir zum Zusammengehören kommt, daher kann ich nur dem Geliebten danken. Da ich in der Liebe immer schon »wir« bin, muss man besser sagen: Wir danken mit uns selbst. Die Liebe entstammt dem Ereignis, in dem sich der Grund zurückzieht. 45 Im Antlitz des geliebten Menschen, der in seiner einmaligen, unverwechselbaren, unvertauschbaren Daseinsweise erfahren wird, blitzt der Gabe-Charakter seines Seins auf. Liebende erfahren sich einander geschenkt und verweisen einander in das Geheimnis ihrer Herkunft. 46 Genau weil der Ursprung der Gabe sich entzieht, ist die Liebe den Liebenden geheimnisvoll. Wir wissen zwar ganz genau, dass wir eine Person lieben, aber wir können auf die Frage, warum wir diese Person lieben oder was wir an dieser Person lieben, gar nicht wirklich antworten. Es drängt sich an dieser Stelle eine letzte Bemerkung zu der Eigentlichkeit der Liebe auf: Liebe ist schwer, auch weil der Ursprung der Gabe sich entzieht. Die Eigentlichkeit der Liebe bleibt deswegen immer nur als eine Möglichkeit und kann nicht vollständig das Entbergung-Verbergung-Spiel mit der Uneigentlichkeit loswerden. 47 Die Liebe bzw. ihre Eigentlichkeit ist den Liebenden zwar erfahrbar aber nie vollständig erreichbar.
session, and still less a self-possession, but a gift given in or as relation with the other; my existence is most my own when I find it – which is to say when I receive it -« 45 Robert Spaemann macht die Bedingungslosigkeit der Liebe besonders deutlich. Er weist zuerst darauf hin, dass wir zwar nicht beginnen würden, einen Menschen zu lieben, ohne dass er bestimmte Qualitäten besäße, aber wir liebten ihn nicht »wegen« dieser Qualitäten. Er stellt fest: »›Eine Person lieben‹ heißt nicht, etwas lieben, sondern jemanden in dieser numerischen Identität. Dieser Jemand, dieses bestimmte, einmalige und unwiederholbare Leben, ist uns, wenn wir lieben, wirklich geworden und damit Gegenstand einer bedingunglosen Zustimmung zu seinem Dasein … Lieben heißt, erfahren, dass das Leben selbst der Grund des Glückes ist und dass es keines weiteren Grundes bedarf.«, Siehe: Robert Spaemann, Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns, S. 107. 46 Vgl. Holger Helting, Vom Rätsel des Begriffs »Mitsein«, S. 177. 47 Giorgio Agamben hat in diesem Sinne behauptet: »In der Liebe tritt – verhüllt in ewiger Faktizität und jenseits des Seins – der/die Geliebte im selben Moment wie die/ der Liebende ans Licht […] Liebende erdulden noch die äußerste Uneigentlichkeit der Liebe, damit das Eigentliche in der Aneignung jenes freien Unvermögens entstehen kann, das die Leidenschaft zum Höhepunkt gebracht hat.« Siehe: ßb___DdeLink__15779_521020117_bßGiorgio Agamben, Passion der Faktizität, S. 82 f.
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Raum, Liebe und »Sinn von Sein«
8.2. Raum, Liebe und »Sinn von Sein« 8.2.1. Die Räumlichkeit des Daseins und ihre »Gleichursprünglichkeit« mit der Zeitlichkeit Obwohl Heidegger im Vorwort von Sein und Zeit behauptet, dass die Zeit der mögliche Horizont eines jeden Seinsverständnisses überhaupt sei, betont er zugleich auch, dass Dasein räumlich sei. Heideggers Analyse der Räumlichkeit des Daseins konzentriert sich in erster Linie auf den Umgang mit dem umweltlichen Zuhandenen. Die Räumlichkeit des Daseins wird charakterisiert durch »Ent-fernung« und »Ausrichtung«. Ent-fernung als Existenzial des Daseins muss unterschieden werden von den kategorialen Bestimmungen »Entfernheit« des Zuhandenen und »Abstand« des Vorhandenen. Heidegger zufolge ist Abstand in Entfernheit fundiert und diese wiederum in der Entfernung des Daseins. Er sagt: »Das Zuhandene des alltäglichen Umgangs hat den Charakter der Nähe […] Im Dasein liegt eine wesenhafte Tendenz auf Nähe«. 48 Diese Nähe ist jedoch nicht durch Ausmessen von Abständen festzulegen. »Nächste« bedeutet nicht »kleinste Abstande«. Ich trage z. B. eine Brille, die so nahe ist, dass sie auf der Nase sitzt. Dieses gebrauchte Zeug ist dennoch deswegen umweltlich entfernter als das Bild an der gegenüber befindlichen Wand, weil ich jetzt das Bild anstatt der Brille ansehe und bemerke. Die wahre Bedeutung von »Nähe« ist: in dem Umkreis des zunächst umsichtigen Zuhandenen. 49 Deshalb entscheidet das umsichtige Besorgen anstatt des Abstandes über Nähe und Ferne des umweltlich zunächst Zuhandenen. Auf der anderen Seite hat das Dasein zugleich den Charakter der Ausrichtung, die auch durch die Umsicht des Besorgens geführt wird, die vorgängig je schon eine Gegend entdeckt hat. Gegend ist dem Dasein als mögliches Wohin des Hingehörens, Hingehens oder HinHeidegger, Sein und Zeit, S. 102, 105. David R. Cerbone weist darauf hin, dass Entfernung des Daseins nicht nur dem Umgang mit Zuhandenem, sondern auch dem Verhalten zu den Anderen zukommt. Die Räumlichkeit des Daseins, nah und fern, ist relativ auf des Daseins Interesse und Orientierung, aber sie unterminiert auch nicht das öffentliche Verständnis der alltäglichen Räumlichkeit. Siehe: David R. Cerbone, »Heidegger on Space and Spatiality«, in: Mark A. Wrathall (Hrsg.), The Cambridge Companion to Heidegger’s Being and Time, Cambridge 2013, S. 129–144. hier S. 140 f.
48 49
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Raum, Liebe und »Sinn von Sein«
bringens zu verstehen. Jede Näherung hat vorher schon eine Richtung in eine Gegend aufgenommen. »Das umsichtige Besorgen ist ausrichtendes Ent-fernen«. 50 Genau dieser existenzialen Ausrichtung entspringen erst die fernsten Richtungen links und rechts im alltäglichen Leben. Zum Beispiel: In unserem Klassenraum sagen wir: »Das Oben ist das an der Decke, das Unten das am Boden, das Hinten das bei der Tür; alle Wo sind durch die Gänge und Wege des alltäglichen Umgangs entdeckt und umsichtig ausgelegt, nicht in betrachtender Raumausmessung festgestellt und verzeichnet« 51. Dass wir uns überhaupt orientieren können, besteht wesentlich darin, dass die Räumlichkeit des Daseins den Charakter der Ausrichtung hat. Raum ist daher weder im Subjekt wie bei Kant, der den Raum als reine Anschauungsform des Subjekts behauptet, noch ist die Welt im Raum wie bei Descartes, der von der Räumlichkeit ausgehend die Welt als Ausgedehntes, »res extensa« versteht. Bei Kant wird der Ort durch unseren Körper orientiert, aber diese Orientierung bezieht sich auf ein »subjektives Prinzip«, was Heidegger kritisiert hat. Wir nehmen das Beispiel von Kant: Falls ich in ein bekanntes aber dunkles Zimmer trete, in dem in meiner Abwesenheit alles, was links stand, nach rechts umgeräumt wurde und umgekehrt, so hilft mir nach Kant das »bloße Gefühl des Unterschieds« meiner zwei Seiten gar nicht. Ich kann mich erst orientieren, wenn ich einen bestimmten Gegenstand erfasse, »dessen Stelle ich im Gedächtnis habe«. Das heißt für Heidegger dennoch nichts anders als: Die Welt muss mir je schon bekannt sein, damit ich mich überhaupt orientieren kann; Kants psychologische Interpretation von dem, »dessen Stelle ich im Gedächtnis habe«, meint die existenziale Verfassung des In-der-Welt-seins. In diesem Zusammenhang kritisiert Heidegger: »Weil Kant diese Struktur nicht sieht und von einem weltlosen Subjekt ausgeht, verkennt er den vollen Zusammenhang der Orientierung. Sein »subjektives Prinzip« der Ausgerichtetheit, das er hier zu erkennen glaubt, gründet in dem »subjektiven« Apriori des in-der-Welt-seins«. 52 Das besagt, das »subjektive Prinzip« der Ausgerichtetheit oder der Ausrichtung bedeutet zwar apriori aber nicht im Kantischen Sinne »sinnliche Formen« und »Verstand«, sondern vielmehr das Apriori des In-der-
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Heidegger, Sein und Zeit, S. 108. Ebd., S. 103. Ebd., S. 109.
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Welt-seins, hier genauer gesagt: das Apriori der Räumlichkeit des Daseins. Die Beziehung zwischen Raum und Welt ist auch nicht wie bei Descartes, dass die Welt als Ausgedehntes »res extensa« im Raum ist. Denn in einer so verstandenen Welt gibt es kein »Wohin«, keine umsichtige Beziehung mit dem Dasein, die nichts anderes ist als eine physische Welt. Edward Casey hat diesen Punkt bei Descartes’ kritisiert: »Heidegger claimed that the Cartesian conception of the world as res extensa fails to account for any such Worin, including its pragmatic structures. Why is this so? Not because Descartes has no notion of place or space, but because place and space, like everything else in the Cartesian world-picture, are posited exclusively as present-athand (Vorhandenes)«. 53 Der Gedanke des Zuhandenen fehlt bei Descartes, und deswegen hat er es nicht erreicht, die Weltlichkeit, und damit auch die Räumlichkeit des Daseins zu entdecken. »Der Raum ist weder im Subjekt, noch ist die Welt im Raum«. Sondern der Raum ist in der Welt: »der Raum zeigt sich wesenhaft in einer Welt«. 54 Der Raum ist weder subjektiv noch objektiv, sondern er ist zunächst und ursprünglich in dem existentiellen »Raum-Geben« und »Einräumen«. Das Dasein ist nie im Raum vorhanden. Es ist keineswegs nur in dem Raumstück als ein Körper-Ding vorhanden. Es füllt nicht wie ein reales Ding oder Zeug ein Raumstück aus, sodass seine Grenze gegen den es umgebenden Raum selbst nur eine räumliche Bestimmung des Raumes ist. Vielmehr nimmt das Dasein Raum ein. »Das für das in-der-Welt-sein konstitutive Begegnenlassen des innerweltlich Seienden ist ein »Raum-geben«, das wir auch Einräumen nennen, ist das Freigeben des Zuhandenen auf seine Räumlichkeit«. 55 Das faktische »Einräumen« ist nicht identisch mit dem bedenklichen »Vorstellen« von Räumlichem, und das Erstere ist die Grundlage des Letzteren. Das Dasein selbst ist räumlich, und dadurch bleibt sein umsichtiges Begegnenlassen von Zuhandenem in seinem umweltlichen Raum und somit erhält das Zuhandene erst den Charakter der Nähe. Damit kommt Heidegger zu dem Schluss, dass die Räumlichkeit des Daseins in der Grundverfassung des In-der-Welt-seins gründet Edward Casey, The Fate of Place, A Philosophical History, Berkeley/ Los Angeles / London, 1998, S. 247. 54 Heidegger, Sein und Zeit, S. 111, 112. 55 Ebd., S. 111. 53
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und Raum sich aus Welt bestimmt und nicht umgekehrt. Er behauptet: »Raum kann erst im Rückgang auf die Welt begriffen werden. Der Raum wird nicht allein erst durch die Entweltlichung der Umwelt zugänglich, Räumlichkeit ist überhaupt nur auf dem Grunde von Welt entdeckbar, so zwar, dass der Raum die Welt doch mitkonstituiert, entsprechend der wesenhaften Räumlichkeit des Daseins selbst hinsichtlich seiner Grundverfassung des In-der-Welt-seins.« 56
Die Räumlichkeit des Daseins besteht in seinem »Einräumen«. Aber Heidegger zufolge kann das Dasein nur deswegen als umsichtiges Besorgen die Welt um-, weg- und einräumen, weil dieses Einräumen zum In-der-Welt-sein gehört. Mit anderen Worten: Nur wenn Dasein in der Welt existiert, ist es selbst räumlich und kann es die Räumlichkeit des Zuhandenen entdecken. Die Räumlichkeit ist ontologisch bestimmt durch das In-der-Welt-sein. Nun wenden wir uns der Frage zu, in welchem Verhältnis die Räumlichkeit des Daseins zu der Zeitlichkeit steht. Heidegger äußert sich dazu im § 70 von Sein und Zeit folgendermaßen: »Zeitlichkeit ist der Seinssinn der Sorge. Die Verfassung des Daseins und seine Weisen zu sein sind ontologisch nur möglich auf dem Grunde der Zeitlichkeit, abgesehen davon, ob dieses Seiende ›in der Zeit‹ vorkommt oder nicht. Dann muss aber auch die spezifische Räumlichkeit des Daseins in der Zeitlichkeit gründen.« 57
Heideggers Haltung ist deutlich. Es sagt, die Zeitlichkeit habe den Vorrang vor der Räumlichkeit, und die Räumlichkeit gründe demnach in der Zeitlichkeit, weil die Zeitlichkeit der Sinn der Sorge sei, d. h. weil die Zeitlichkeit das Strukturganze des Seins des Daseins als Sorge verständlich mache. Dies ist aber eher eine »Behauptung« als eine Begründung. Man kann an dieser Stelle jedenfalls die berechtigte Frage stellen, warum nur die Zeitlichkeit der einzige Sinn des Seins des Daseins ist, die Räumlichkeit hingegen nicht, insbesondere angesichts dessen, dass Mitsein als Wesensbestimmung mit dem In-derWelt-sein gleichursprünglich ist. Sehen wir uns Heideggers Begründung in diesem Kapitel noch genauer an:
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Ebd., S. 113. Ebd., S. 367.
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Raum, Liebe und »Sinn von Sein«
»Die Bewandtnisbezüge sind nur im Horizont einer erschlossenen Welt verständlich. Deren Horizontcharakter ermöglicht auch erst den spezifischen Horizont des Wohin der gegendhaften Hingehörigkeit. Das sichausrichtende Entdecken von Gegend gründet in einem ekstatisch behaltenden Gewärtigen des möglichen Dorthin und Hierher … Näherung und imgleichen Schätzung und Messung der Abstände innerhalb des ent-fernten innerweltlich Vorhandenen gründen in einem Gegenwärtigen, das zur Einheit der Zeitlichkeit gehört, in der auch Ausrichtung möglich wird.« 58
Heidegger bringt hierin zwei Gründe vor: 1.) Der Charakter der »Ausrichtung« der Räumlichkeit des Daseins gründet in dem zeitlichen horizontalen Schema des »behaltenden-Gewärtigens«. Das Argument dafür lautet so: Zur Einräumung des Daseins gehört das sich ausrichtende Entdecken von so etwas wie Gegend. Gegend bedeutet das Wohin der möglichen Hingehörigkeit des umweltlich zuhandenen, platzierbaren Zeugs. Das Wohin der möglichen Hingehörigkeit erschließt sich nur im Horizont, und der Horizontcharakter des Entdeckens von Gegend besteht schließlich in dem ekstatischen-horizontalen Behaltenden-Gewärtigen (das horizontale Schema für die zurück-kommende Zukunft); 2.) Der Charakter der »Entfernung« der Räumlichkeit des Daseins gründet in dem zeitlichen horizontalen Schema des »Gegenwärtigens«. Das Argument dafür lautet: Aus der vorentdeckten Gegend kommt das Besorgen ent-fernend auf das Nächste zurück. Entfernung des Zuhandenen bzw. die Messung der Abstände der Vorhandenen gründen in dem horizontalen Gegenwärtigen (die zurück-kommende Zukunft entlässt aus sich die Gegenwart). Daraus ergibt sich, dass diese Begründung in sich schon unterstellt, dass die Zeit der einzige Horizont des Seinsverständnisses ist und daher der Raum bzw. die Räumlichkeit des Daseins auf das horizontale Schema der Temporalität zurückgeführt werden muss. Wenn wir nun aber an dieser Unterstellung selbst zweifeln, muss diese Begründung von Heidegger außer Kraft gesetzt werden. Kann der Raum auch als Sinn von Sein angesehen werden? Ist die Räumlichkeit vielleicht gleichursprünglich mit der Zeitlichkeit und daher eine andere Grunddimension der Bestimmung des Seins des Daseins? Diese Gleichursprünglichkeit von Räumlichkeit und Zeitlichkeit wird vom späten Heidegger eigentlich selbst bestätigt. In dem späten 58
Ebd., S. 368 f.
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Raum, Liebe und »Sinn von Sein«
Vortrag Zeit und Sein setzt Heidegger sich mit einer Selbstkritik auseinander: »Der Versuch in ›Sein und Zeit‹, Abschnitt 70, die Räumlichkeit des Daseins auf die Zeitlichkeit zurückzuführen, lässt sich nicht halten« und zugleich bestätigt er: »Dies kann freilich erst glücken, wenn wir zuvor die Herkunft des Raumes aus dem zureichend gedachten Eigentümlichen des Ortes eingesehen haben.« 59 Diese Selbstkritik hat eine zweifache Bedeutung: Erstens ist die Räumlichkeit genauso ursprünglich wie die Zeitlichkeit, und sie beide sind nicht voneinander lösbar; zweitens besteht die Herkunft der Zusammengehörigkeit von Raum und Zeit in Heideggers Spätdenken im Ort, besser gesagt: in der Ortschaft aller Orte, d. h. der Lichtung des Seins. Die Heidegger-Forscher, die sich mit dem Raumproblem auseinandersetzen, haben entweder die erste Bedeutung der Gleichursprünglichkeit von Raum und Zeit bzw. den Ausdruck »ZeitRaum«, 60 oder die zweite Bedeutung der Ursprünglichkeit des Ortes im Sinne der »Topologie« in Heideggers Spätwerk 61 betont. Wir wollen uns hier auf die Gleichursprünglichkeit von Räumlichkeit und Zeitlichkeit konzentrieren, jedoch ohne uns auf den nach der Kehre im Ereignisdenken auftauchenden Ausdruck »Zeit-Raum« zu berufen. 62 Das heißt, wir bleiben hier innerhalb des fundamen-
Heidegger, Zeit und Sein, S. 28 f. Siehe z. B.: Roxana Baiasu, »Being and Time and the Problem of Space«, in: Research in Phenomenology 37 (2007), S. 324–356; Alejandro A. Vallega, Heidegger and the Issue of Space. Thinking on Exilic Grounds, University Park, PA 2003; Yoko Arisaka, »Spatiality, Temporality, and the Problem of Foundation in Being and Time,« in: Philosophy Today 40 (1996), S. 36–46; Robert Frodeman, »Being and Space: A Rereading of Existential Spatiality in Being and Time«, in: Journal of the British Society for Phenomenology 23 (1992), S. 33–41; George F. Sefler, »Heidegger’s Philosophy of Space«, in: Philosophy Today 17 (1973), S. 246–254. 61 Siehe hierfür z. B.: Otto Pöggeler, »Heideggers Topologie des Seins«, in: Man and Word, M2, 3 (1969), S. 331–357; Jeff Malpas, »From the Transcendental to the Topological: Heidegger on Ground, Unity and Limit«, in: From Kant to Davidson: Philosophy and the Idea of the Transcendental, ed. Jeff Malpas, London 2002); ders., Heidegger’s Topology: Being, Place, World, 2006; Edward Casey, The Fate of Place; Frank Schlegel, Phänomenologie des Zwischen, Die Beziehung im Denken Martin Heideggers, Frankfurt am Main 2011. 62 Es gibt mehrere Methoden, die Gleichursprünglichkeit von Zeitlichkeit und Räumlichkeit zu beweisen. Agamben hat darauf hingewiesen, dass die Unreduzierbarkeit der Räumlichkeit auf die Zeitlchkeit in der Tatsache bestehen könnte, dass Heidegger mit dem Wort »Zerstreuung« die Räumlichkeit mit der Urfaktizität des Daseins in Verbindung setzt. Siehe: Giorgio Agamben, Passion der Faktizität, S. 88; Roxana Baiasu hat in ihrem Aufsatz Being and Time and the Problem of Space diese Idee 59 60
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talontologischen Projekts und versuchen, Heideggers Denken des »Sinnes von Sein« nicht nur auf die Zeit hin, sondern auch auf den Raum hin rekonstruierbar zu interpretieren. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, muss erklärt werden, warum und inwiefern die Räumlichkeit bzw. der Raum eine gleichursprüngliche Grunddimension für das Sein des Daseins bzw. das Sein im Ganzen ist. Das Problem der Eigentlichkeit ist für diese Thematik von großer Bedeutung. Sofern das Dasein, wie im Kapitel 5.3 schon gezeigt wurde, das Offen-sein für das Ganze (genauer: das Sein im Ganzen) bedeutet, kann das Sein im Ganzen daher nur in der Eigentlichkeit des Daseins offenbart werden. Denn in der Uneigentlichkeit des Daseins wurde das Selbstsein vergessen, und Selbstvergessen impliziert ferner auch das Vergessen des Seins im Ganzen. 63 Wenn wir beweisen können, dass die Eigentlichkeit des Daseins auch räumlich gewinnbar ist, schaffen wir einen großen Schritt zum Ziel der Herausarbeitung des Sinnes von Sein im Ganzen. Der Hauptgrund dafür, warum Heidegger nicht zu dem Gedanken, dass der Raum auch als Sinn von Sein angesehen werden kann, gekommen ist, besteht darin, dass Heidegger hier nur die Räumlichkeit des Besorgens, nämlich das räumliche Sichverhalten zu Zuhandenen charakterisiert hat, d. h. er hat die Räumlichkeit des Mitseins, insbesondere des eigentlichen Miteinanderseins, vergessen. Durch die obige Herausarbeitung der Konzeption der Liebe bei ihm können wir uns der Aufgabe stellen, die Räumlichkeit der Liebe zur Aufweisung zu bringen, um daraus den Schluss zu ziehen, dass auch Raum als der Sinn von Sein betrachtet werden kann.
8.2.2. Räumlichkeit des liebenden Miteinanderseins: Binswangers »Wirheit im Lieben« Es ist belegt, dass es bei Heidegger keine Liebesvergessenheit gibt. Was es gibt, ist die Vergessenheit der Möglichkeit, dass das eigentliche Mitsein, nämlich das liebende Miteinandersein, auch räumlich erschlossen werden kann und damit ferner die Vergessenheit einer von Agamben verwirklicht. Siehe: Roxana Baiasu, Being and Time and the Problem of Space, S. 324–356. 63 Walter Schweidler hat dies betont: »Metaphysisches Seinsvergessen expliziert Selbstvergessen des Daseins«, Überwindung der Metaphysik, Stuttgart 1987, S. 148
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mit der Zeit gleichursprünglichen Herausarbeitung der Tatsache, dass der Raum auch als Sinn von Sein verstanden werden kann. Für Heidegger ist die Räumlichkeit des Daseins durch »die Charaktere der Ent-fernung und Ausrichtung« bestimmt. Dies ist eigentlich nur die Räumlichkeit des Besorgens, nämlich das räumliche Sichverhalten zu Zuhandenen. Hierin offenbart sich, dass Heidegger die Räumlichkeit des Miteinanderseins versäumt, was sich eigentlich aus seiner ursprünglichen Interpretation des Mitseins ergeben sollte. Dieses Versäumnis, die Räumlichkeit des liebenden Miteinanderseins, hat Ludwig Binswanger in seinem Werk Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins herausgestellt. Ausgangspunkt für Binswangers Phänomenologie der Liebe bildet die Analyse »der Wirheit im Lieben«. Die Exposition des Themas führt unmittelbar zur Räumlichkeit des liebenden Miteinanderseins bzw. zur Abgrenzung zu Heideggers Räumlichkeit des innerweltlichen Zuhandenen. Er kritisiert daran: »Die Räumlichkeit des menschlichen Daseins als Liebe ist nicht zu verstehen aus dem innerweltlich Seienden als einem Zuhandenen; denn Ihre Ausrichtung und Entfernung bestimmt sich, wie wir gesehen haben, nicht aus dem Umgang mit zuhandenem Zeug, sondern aus der Sehnsucht des Daseins nach Einsein und Ganzsein. Das dieser Räumlichkeit eigene Einräumen ist kein Freigeben des Zuhandenen auf seine Räumlichkeit, sondern ein Freigeben Deiner und Meiner auf ›Unsere‹ Räumlichkeit.« 64
Binswanger übernimmt zuerst Heideggers phänomenologische These, dass die Räumlichkeit des Daseins nicht als Ausdehnung (extensio) im cartesianischen Sinne, sondern nur als »Einräumen« zu verstehen ist. Dann übt er eine wesentliche Kritik daran, dass es bei diesem Einräumen nicht mehr um das Freigeben des innerweltlichen Zuhandenen auf seine Räumlichkeit, sondern um ein Freigeben Deiner und Meiner auf »Unsere« Räumlichkeit geht. Diese Räumlichkeit des liebenden Miteinanderseins bestimmt sich nicht mehr aus dem Umgang mit zuhandenem Zeug, vielmehr nur aus der »Sehnsucht des Daseins nach Einsein und Ganzsein«. Binswanger stellt fest, dass das Da der Liebe und die Selbstheit des Daseins als Liebe nicht Erschlossenheit des Da für mich selbst bedeutet, sondern Erschlossenheit des Da für uns-selbst, wodurch die Selbstheit der Liebe nicht auf Ludwig Binswanger, Grundformen und Erkenntnis des Menschlichen Daseins, S. 33.
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eine ichhafte Selbstheit hinausläuft, sondern auf eine wirhafte. Diese Wirheit im Lieben ist durch eine spezifische Charakteristik ausgezeichnet, die nicht aus der Zusammensetzung gesonderter Einzelindividuen ableitbar ist. Binswanger versteht diese Wirheit vielmehr als eine Einheit, in der das Zusammengehören des Miteinander von Ich und Du eine Ganzheit bildet. Diese Charakteristik der Wirheit ist so fundamental, dass sie als der Kern der Seinsstruktur des liebenden Miteinanderseins einen paradigmatischen »Perspektivwechsel« verlangt, der das existenzialistische Paradigma des Daseins als individuelle Einzelexistenz aufbricht. 65 Er erläutert: »›This I say of me, but think of you, love!!‹ […] Wir müssen uns immer klar machen, dass ›das Ich der Liebe‹, richtiger gesprochen, dass Ich als Liebender nur Ich bin als Gegenpol Deiner, des Du bist. Wenn ich daher sage: ›je mehr ich dir gebe, umso mehr habe ich‹, so spreche ich in Tat und Wahrheit gar nicht ›nur von Mir‹, sondern spricht Dasein von sich als Wir; denn in dem Geben ist zugleich das Empfangen ausgesprochen, in dem Haben zugleich das Bekommen. Dasselbe gilt von allen unseren Beispielen: ›Ich gehe zu Dir, aber ich komme immer mit einer größeren Fähigkeit, Liebe zu umfassen, zurück‹ heißt nicht nur, dass ich als Monade zu Dir als einer zweiten Monade gehe und von dir zurückkomme, sondern dass Dasein hier als liebendes Wir ist und sich mehrt.« 66
Durch die Charakterisierung der Selbstmehrung des Daseins in der Liebe hat Binswanger geleistet, das Da des erschlossenen Daseins als »Wir« zu verstehen. Jedes Mal wenn ich in der Liebe von »Mir« spreche, ist immer ein »Wir« ausgesprochen. Das Dasein mehrt sich in der Liebe als »wir«. Das ist auch der fundamentale Grund dafür, dass jedes Geben in der Liebe zugleich ein Bekommen ist. Auch das Worumwillen in der Seinsstruktur ist weder mein Selbst noch ein Anderer oder dieser bestimmte einzelne Andere. Insofern Ich das Ich als Liebender bin, ist das Worumwillen des liebenden Miteinanderseins nie »Du-allein«, sondern bin ich es auch, sind es Wir-beide. Das als Wir erschlossene Da des Da-seins wird hier als Gegenentwurf dem jemeinigen Dasein Heideggers entgegengesetzt. Dieser Gegensatz Vgl. auch Michael Schmidt, Ekstatische Transzendenz, Ludwig Binswangers Phänomenologie der Liebe und die Aufdeckung der sozialontologischen Defizite in Heidegers »Sein und Zeit«, Würzburg 2004, S. 142. 66 Ludwig Binswanger, Grundformen und Erkenntnis des Menschlichen Daseins, S. 78. 65
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Raum, Liebe und »Sinn von Sein«
gilt auch hinsichtlich der vorausspringenden Fürsorge, weil Dasein als Liebe durchaus nicht in der Fürsorge für einen Anderen, sondern im Miteinandersein aufgeht. Wie ist dann die Räumlichkeit dieser Wirheit im Lieben zu charakterisieren? Binswanger führt das Einräumen des liebenden Miteinanderseins folgendermaßen aus: »Hier enthüllt sich die Raumstruktur des liebenden Miteinanderseins erst deutlich: ihr Ordnungsprinzip, ihr oberstes Sinnprinzip bist Du; und da Du nicht bist, ohne dass Ich bin, sind das oberste, Raumprinzip Wir. Nur weil im Wir Ich und Du schon – als einander zugehörende – sind, gehöre Ich dort hin, wo Du bist, vermag ich da zu sein, wo du bist, vermag da, wo du bist, ein Ort ›für mich‹ zu entstehen, vermag dein Dort-sein-werden, dein Dortsein (und Dort-gewesen-sein) über mein Hier zu entscheiden. Die ›faktische Orientierung‹ im Sinne von Hier und Dort ist hier nur möglich auf Grund der liebenden Einräumung überhaupt, der Einräumung des Einander oder der liebenden Wirheit. Das soll aber nicht besagen, dass hier zwei Existenzen in je einseitig konstituierender Intentionalität je eine – je ihre – Welt entwerfen und an ihren beidseitigen Welten teilhaben, sondern dass Dasein ursprünglich, d. h. ohne den ›Umweg‹ über Welt und Selbst, das Da des Miteinander einräumt.« 67
Die Einräumung der liebenden Wirheit besteht in erster Linie in dem Zugehörig-sein von Ich und Du. Binswanger beruft sich auf Rilkes Wort: »die Liebenden erzeugen sich gegenseitig unaufhörlich Raum und Weite und Freiheit«, und: »Nur wo du bist, entsteht ein Ort« 68 und radikalisiert dann die Fundamentalität des Mit-einanders. Sofern Ich und Du in der Liebe zusammengehören, geben wir einander auch Raum frei. Nur Aufgrund dieser erzeugenden Einräumung der Liebenden kann Ich Hier sein bzw. zugleich auch Dort, wo du bist, hingehören. Die Wirheit in der Liebe hat einen absoluten Vorrang vor Ich und Du als Einzelnem. Dementsprechend gründen das »Hier« und »Dort« auch in der Einräumung des liebenden Miteinanderseins. Es ist daher entscheidend zu verstehen, dass das Dasein ohne »Umweg« über Welt und Selbst, sondern unmittelbar das Da des »Wir« einräumt, weil es in dem Dasein in der Liebe wesentlich um die Wirheit geht. Da die Selbstmehrung von Ich zu Wir in der Liebe unaufhörlich ist, ist die Einräumung der liebenden Wirheit nicht statisch, sondern 67 68
Ebd., S. 29. Ebd., S. 27, 29.
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dynamisch und nur als dauernde Erweiterung, Vertiefung und Erhöhung zu verstehen. Diese Räumlichkeit des liebenden Miteinanderseins ist daher nicht durch Bewandtnis bzw. durch die Plätze und die Gegend bestimmt, sondern durch »Fülle des Einander«. 69 Die Fülle des Einander ist nicht einseitig, sondern allseitig, sie ist unausschöpfbar: je mehr ich gebe, je mehr habe ich. Daher ist der Raum des Einander uneingeschränkt, grenzenlos und unendlich. 70 Er ist auch unbedingt, weil das liebende Miteinander an keinen bestimmten Ort (in der Welt des Besorgens) gebunden ist. Der Raum, den die Liebenden sich gegenseitig erzeugen, ist ihre »Heimat«. Diese Heimat ist die Bedingung der Möglichkeit von »Wo du bist, da bin ich auch«. Es drängt sich an dieser Stelle folgende Frage auf: Wie ist die Liebe überhaupt möglich? Was macht das Zusammengehören von Ich und Du möglich? Binswangers Antwort: die Begegnung. Diese Begegnung darf aber nicht mit dem umsichtigen Besorgen des Zuhandenen verwechselt werden. Sie ist vielmehr eine Erschließung des Wir-Raums, also der Räumlichkeit des Einander. Entscheidend dabei: Diese Begegnung ist nicht als »wirklich« oder »vorhanden« gemeint, sondern ontologisch. Binswanger stellt fest, dass das Dasein an sich schon den Charakter der Begegnung hat, d. h. »Ich und Du« schon zu seiner Seinsverfassung gehört: »Dass das Dasein an sich schon liebende Begegnung ist, will sagen, dass liebende Begegnung nicht erst im um-mitweltlichen Zusammentreffen und in der liebenden Begegnung mit dem bestimmten, einzelnen Du der Liebe ist, sondern dass sie schon ist als ›Vorwärts gehen‹ auf das ›erwartete‹, noch unbestimmte Du hin, als Gelockt-werden von ›Dir‹ und als Suchen ›Deiner‹. 71
Das geliebte Du in der Wirheit der Liebe kann auch unbestimmt sein. Damit ist das Dasein charakterisiert als ein Gelockt-werden von »Dir« und als Suchen »Deiner«. Diese Aussage ist insofern von großer Bedeutung, als die Grundverfassung des Daseins nun als In-der-Liebesein bezeichnet werden muss, anstatt als In-der-Welt-sein. Die Liebe gehört dann zum Wesen des Daseins. Dementsprechend erhält die Räumlichkeit des liebenden Miteinanderseins auch ein Primat vor
Ebd., S. 82. Vgl. auch Michael Schmidt, Ekstatische Transzendenz, S. 142. 71 Ludwig Binswanger, Grundformen und Erkenntnis des Menschlichen Daseins, S. 85. 69 70
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Raum, Liebe und »Sinn von Sein«
dem umweltlichen Raum. Es ist falsch, zu sagen, dass die Räumlichkeit der Liebe völlig »unabhängig« von der innerweltlichen Nähe und Ferne nur dem »Gesetz« ihrer eigenen Fülle gehorchend ist. Das Primat der Räumlichkeit der Liebe besteht vielmehr in dem Satz »Nur wo du bist, entsteht ein Ort, ein Hier und Dort«. Das heißt, die »Räumlichkeit« der Liebe ist für den umweltlichen Raum dergestalt »maßgebend«, dass die Welt des Besorgens sich nach der Wahl der Liebe »richtet«, d. h. ausrichtet und ent-fernt. Genauso jedoch wie Heidegger denkt Binswanger auch, dass die Zeitlichkeit der Liebe wiederum einen Vorrang vor ihrer Räumlichkeit hat. 72 Und er folgt darin Heidegger, zu versuchen, die Räumlichkeit der Liebe auf ihre Zeitlichkeit zurückzuführen. Wenn Binswanger behauptet, dass das Primat der Räumlichkeit der Liebe vor dem umweltlichen Raum auch Primat der Liebe vor der Sorge ist, 73 wird aber deutlich, dass Binswanger Heideggers Begriff der Sorge völlig missverstanden hat. Er setzt die Sorge mit dem Besorgen gleich und damit die Gleichursprünglichkeit des Mitseins mit dem In-der-Welt-sein und hat somit den oben angezeigten Liebesbegriff bei Heidegger völlig übersehen. Heidegger versteht die Liebe als eine eigentliche Möglichkeit, die aber von der »Wirklichkeit« des Man-selbst durchdrungen ist, weil die Faktizität des Geworfenseins, also das Verfallen-sein, mit dem entwerfenden Seinkönnen zusammen zum Strukturganzen des Daseins gehört. Hingegen radikalisiert Binswanger die Liebe als die Grundverfassung des Daseins und verleiht der Liebe bzw. ihrer Räumlichkeit demnach das Primat vor der umweltlichen Bestimmung des Daseins.
8.2.3. »Eigentliche Räumlichkeit« und Raum als der »Sinn von Sein« Zuerst möchte ich hier andeuten, dass in Sein und Zeit bei der Analyse der Angst und Entschlossenheit auch das Problem der »eigentlichen Räumlichkeit« auftaucht. Dieses Problem ist nur an einigen Stellen kurz berührt, ohne genügend Aufmerksamkeit zu bekommen. Jedoch ist das schlichte Vorkommen dieses Problems schon ein Ebd., S. 35. Ebd., S. 87, »Schon hieraus geht das phänomenologische Primat der Liebe vor der Sorge hervor.«
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Raum, Liebe und »Sinn von Sein«
Beleg dafür, dass die Räumlichkeit eine fundamentale Grunddimension des Seins des Daseins ist, genauso wie die Zeitlichkeit. 74 Wenn Heidegger das Wovor der Angst als die Welt als solche bezeichnet, kommt die eigentliche Räumlichkeit wie folgt ins Spiel: »Daher ›sieht‹ die Angst auch nicht ein bestimmtes ›Hier‹ und ›Dort‹, aus dem her sich das Bedrohliche nähert. Dass das Bedrohende nirgends ist, charakterisiert das Wovor der Angst. ›Nirgends‹ aber bedeutet nicht nichts, sondern darin liegt Gegend überhaupt, Erschlossenheit von Welt überhaupt für das wesenhaft räumliche In-Sein. Das Drohende kann sich deshalb auch nicht aus einer bestimmten Richtung her innerhalb der Nähe nähern, es ist schon ›da‹ – und doch nirgends, es ist so nah, dass es beengt und einem den Atem verschlägt – und doch nirgends.« 75
Dies ist eigentlich eine phänomenologische Beschreibung der Grundbefindlichkeit der Angst in Hinsicht auf das »wesenhaft räumliche InSein«, die aber nicht genug beachtet wurde. 76 Das Nichts, oder genauer gesagt, das Entgleiten des Seienden im Ganzen in Was ist Metaphysik?, das sich in der Angst offenbart, wird hier als »Nirgends« charakterisiert. Das Bedrohende ist nirgends aber nicht bloß Nichtiges, sondern mögliches Unbestimmtes. Es ist unbestimmt, nirgends, es kann deswegen auch nicht aus einer bestimmten Richtung auf mich zukommen, sondern es ist schon ganz nah von mir »da«, es verschlägt mir den Atem und ich bin in es hineingehalten, obwohl es »nirgends« ist. Genau in dieser Räumlichkeit, in der die Entfernung und Ausrichtung augenblicklich außer Kraft gesetzt sind, offenbart sich die Welt als solche. Dies ist die eigentliche Räumlichkeit, in der das Dasein sein eigentliches Ganzseinkönnen gewinnen kann. Sie ist deutlich von den Charakteren der Entfernung und Ausrichtung zu unterscheiden, aber ihr fehlt eine ausführlichere phänomenologische Explikation. Alejandro A. Vallega z. B. denkt, dass Heideggers Bestimmung des Daseins von Anfang an auch räumlich ist. Siehe: Alejandro A. Vallega, Heidegger and the Issue of Space. Thinking on Exilic Grounds, University Park, PA 2003, S. 63: »Dasein always occurs spatially. In order to think Dasein’s being-in-the-world, as well as engage the question of being, it will be necessary not only to take up dasein’s temporality but also to engage the issue of spatiality. This is because spatiality is not less an issue for Dasein than is temporality.« 75 Heidegger, Sein und Zeit, S. 186. 76 Für die Charakterisierung der Angst bzw. Eigentlichkeit in Bezug auf die Räumlichkeit siehe: Edward Casey, The Fate of Place, S. 254 ff.; Roxana Baiasu, Being and Time and the Problem of Space, S. 347 f. 74
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Raum, Liebe und »Sinn von Sein«
Diese eigentliche Räumlichkeit kommt außerdem wiederum ins Spiel, wenn Heidegger die »Situation« in der Entschlossenheit einmal räumlich beschreibt: »Die existenziale Bestimmtheit des je möglichen entschlossenen Daseins umfaßt die konstitutiven Momente des bisher übergangenen existenzialen Phänomens, das wir Situation nennen. In dem Terminus Situation (Lage – ›in der Lage sein‹) schwingt eine räumliche Bedeutung mit.« 77
In der Situation entzieht sich der Entschluss nicht der »Wirklichkeit«, sondern entdeckt eine faktische Möglichkeit, in der ich mein eigenstes Seinkönnen ergreifen kann. Das ist ein konstitutiver Moment, ein Augenblick, zugleich aber auch eine Situation, in der die Räumlichkeit mitschwingt. Dies ist ein sehr wichtiger Hinweis darauf, dass die Entschlossenheit des Daseins in sein eigenes Seinkönnen sowohl eine zeitliche als auch eine räumliche Bedingung hat, nämlich als eine Synthesis von Situation und Augenblick. 78 Das könnte auch ein guter Hinweis darauf sein, dass die Zeitlichkeit und Räumlichkeit nicht nur gleichursprünglich sind, sondern auch zusammen in einem Phänomen expliziert werden können. Dies ist wiederum leider nur einmalig erwähnt und wird von Heidegger nicht mehr ausführlicher phänomenologisch untersucht. Das Problem der eigentlichen Räumlichkeit ist für unsere Betrachtung von großer Bedeutung. Da Heidegger die Interpretation der Zeitlichkeit als des Sinnes des Seins des Daseins als »eine Vorbereitung für die Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt« 79 charakterisiert, kann nur die eigentliche Zeitlichkeit des Daseins als der Übergang zum Sinn von Sein überhaupt verstanden werden. »In der Eigentlichkeit hält das Dasein die Erschlossenheit von Sein-überhaupt ursprünglich-aufschließend offen; dagegen hält es sie in der Uneigentlichkeit in gewisser Weise verschlossen, aber so, dass diese Verschlossenheit ein defizienter Modus der Erschlossenheit ist.« 80 Heidegger, Sein und Zeit, S. 299. Jeff Malpas hat hier die topologische Bedeutung der Situation betont; siehe: Heidegger’s Topology: Being, Place, World, S. 103; Roxana Baiasu betont die räumliche Bedeutung der Situation und behauptet: »just as the disclosedness of Being-in-theworld is made possible by the spatiality of there (Da), the authentic disclosedness is constituted by Situating spatiality«. Siehe: Being and Time and the Problem of Space, S. 353. 79 Heidegger, Sein und Zeit, S. 183. 80 Friedrich von Herrmann, »Zeitlichkeit des Daseins und Zeit des Seins«, in: Subjekt 77 78
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Sofern das Dasein, wie in Kapitel 5.3 schon gezeigt wurde, das Offensein für das Ganze (genauer: das Sein im Ganzen) bedeutet, kann das Sein im Ganzen daher nur in der Eigentlichkeit des Daseins offenbart werden. Denn in der Uneigentlichkeit des Daseins wurde das Selbstsein vergessen, und Selbstvergessen expliziert ferner auch das Vergessen des Seins im Ganzen. 81 Das Da im »eigentlichen« Dasein ist hingegen eine offene Ortschaft, wo Sein und Menschen zusammengehören. Das heißt, das Da ist nur das Da des Daseins, sofern es als die Erschlossenheit von Sein-überhaupt in der Existenz existenzial aufgeschlossen ist. Im Vollzug der eigentlichen Zeitlichkeit des Daseins zeitigt sich nicht nur das Dasein als selbsthafte Zeitlichkeit, ist das Dasein nicht nur für sich selbst als vorlaufendes Auf-sich-zukommen, sich-wiederholendes Auf-sich-zurückkommen und als augenblickhaftes Gegenwärtigen erschlossen, sondern hält darin auch die Erschlossenheit von Sein-überhaupt. Wir haben bislang schon gezeigt, dass die eigentliche Räumlichkeit nicht nur in der Angst bzw. in der Entschlossenheit als Entwurf auf das eigentliche Sein zum Tode, sondern insbesondere auch in der Liebe erschlossen werden kann. Das heißt, das Dasein kann in der Liebe, in der Angst und in der Entschlossenheit räumlich seine Eigentlichkeit gewinnen. Damit ist ferner gesagt, dass das Sein im Ganzen in der Eigentlichkeit des Daseins sich auch räumlich offenbaren kann, weil das Dasein in der Eigentlichkeit die Erschlossenheit von Sein-überhaupt ursprünglich-aufschließend räumlich offen hält. Daraus folgt, dass die Räumlichkeit der Sinn des Seins des Daseins ist, weil sie das Sein des Daseins im Ganzen verständlich macht bzw. mit anderem Wort, ermöglicht. Im Vergleich zur Zeitlichkeit der Angst und des Todes hat die Räumlichkeit der Liebe in Bezug auf die Offenheit des Seins im Ganzen in der Eigentlichkeit sogar einen Vorrang. Wie John Sallis einmal betont: »Doch die Daseinsanalyse ist nicht bloß auf das Sein des Daseins ausgerichtet, sondern auch auf das Sein als solches. Es ist deshalb zumindest notwendig, dass sich vom Verhalten des Daseins zu seinem eigenen Sein aus ebenso ein Verhalten zum Sein des anderen
und Dasein, Frankfurt am Main 1974, S. 84; Vgl. auch Guignon, Charles, Authenticity and the question of Being, in: Denis McManus (Hrsg.), Heidegger, Authenticity and the Self, Routledge: London and New York, 2015, S. 8–20, hier bes. S. 13. 81 Vgl. Waltet Schweidler, Überwindung der Metaphysik, S. 148
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Seienden entfalten lässt«. 82 Es muss also in Bezug auf die Eigentlichkeit sowohl das Verhalten des Daseins zu seinem eigenen Sein als auch das Verhalten zum Sein des anderen Seienden gezeigt werden. Nur die Zeit alleine kann diese zweifache Aufgabe nicht leisten, weil wir, wenn es sich um das Verhältnis des Daseins zu den Anderen handelt, die Räumlichkeit mitdenken müssen. Dies macht Jeff Malpas deutlich, wenn er von »Selbstheit und dem Raum des Anderen« spricht: Die Verbindung von Räumlichkeit und der Subjektivität des Anderen ist insofern wichtig, »because of the need to locate the other outside of oneself and so in a space that is external to oneself – the connection between spatiality and the subjectivity of others is, in this respect, analogous to the connection that obtains between spatiality and the existence of objects«. 83 Wenn wir also in der Eigentlichkeit des Daseins auch die Entfaltung des Anderen mitzeigen möchten, muss das Sichzeigen dieses Phänomens in einem räumlichen Horizont geschehen. In diesem Sinne ist der Raum bzw. die Räumlichkeit des Daseins notwendigerweise die Bedingung der Möglichkeit der eigentlichen Liebe. Raum ist die Ermöglichung des Phänomens der Liebe. Das Zusammengehören der Differenz in der Liebe macht die Ganzheit meines Seins noch reicher als im Tode. Das Wesen einer Identität kann sich eigentlich nicht offenbaren, wenn es nicht in ihm selbst ein Anderes ist, oder wenn es sich nicht zu einem Anderen verhält. Im Tode geht es nur um das Sichverhalten zum Dasein selbst. Im Gegensatz dazu geht es in der Liebe um das Zusammengehören des Daseins mit einem Anderen, das die Eigentlichkeit des Daseins weder negiert noch reduziert, sondern vielmehr bereichert, weil deine Du-heit in der Liebe auch zur Ganzheit meines Selbstseins gehört. Mit unserer Herausarbeitung von Heideggers Liebes-Begriff sehen wir, dass es bei Heidegger keine Liebesvergessenheit gibt. Was es gibt, ist die Vergessenheit der Möglichkeit, dass das eigentliche Mitsein, nämlich das liebende Miteinandersein, auch räumlich erschlossen werden kann und daher die Vergessenheit einer mit der Zeit gleichursprünglichen Herausarbeitung dessen, dass der Raum auch als Sinn von Sein betrachtet werden muss. Um zu dem Schluss kommen zu können, dass der Raum auch als John Sallis, Heidegger und der Sinn von Wahrheit, Frankfurt am Main, 2012, S. 17. Jeff Malpas, Place and Experience: A Philosophical Topography, Cambridge 1999, S. 139.
82 83
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Sinn von Sein angesehen werden kann, fehlt vorher noch ein anderer Schritt: zu zeigen, dass nicht nur die Räumlichkeit des Daseins der fundamentale Sinn des Seins des Daseins ist, sondern dass auch der innerweltliche Raum nicht auf die Zeit reduziert werden darf und er auch die Bedingung der Möglichkeit des Begegnens des Zuhandenen und Vorhandenen ist. 84 Diese Aufgabe hat Roxana Baiasu in ihrem Aufsatz »Being and Time and the Problem of Space« mit überzeugenden Argumenten geleistet. 85 Wir wollen hier ihre Arbeit nicht wiederholen, sondern aufbauend auf der Grundlage ihres Beitrags mit Nachdruck betonen, dass die Räumlichkeit der Liebe für die Eigentlichkeit des Daseins und ferner die Offenheit des Seins im Ganzen fundamental ist. Die vorliegende Arbeit kann zusammenfassend als ein Versuch angesehen werden, das Ungedachte im Gedachten weiter zu denken. Die Möglichkeit, dass Raum auch als Sinn von Sein zu verstehen ist, ist zwar nicht von Heidegger thematisiert, aber schon in seinem Gedachten enthalten. Denn er hat in seinen Werken bereits die Möglichkeit angedeutet, dass das Dasein als wesentliches Miteinandersein durch Liebe auch eigentlich sein kann. Falls er demnach den Sinn von Sein in Gänze hätte untersuchen wollen, hätte er außerdem ein Werk mit dem Titel »Sein und Raum« verfassen müssen, in dem es nicht mehr in erster Linie um den Tod, sondern um die Liebe gehen müsste. Wenn die Aufgabe in diesem Werk immer noch eine phänomenologische ist, dann ist sie nicht nur eine Phänomenologie des Raums, sondern vielmehr auch eine Charakterisierung des Raums der Phänomenologie selbst. Raum soll in ihm nicht nur als Hauptthema der phänomenologischen Analytik untersucht werden, sondern vor allem als die Ermöglichung der Phänomene bzw. der Phänomenologie charakterisiert werden. 86 Eine allgemeine Untersuchung darüber, dass und inwiefern der Raum eine »transzendentale Verfassung« des menschlichen Lebens bzw. Denkens überhaupt ist, leistet: Otto Friedrich Bollnow, Mensch und Raum, Stuttgart 11. Auflage 2010. 85 Siehe: Roxana Baiasu, Being and Time and the Problem of Space. 86 Günter Figal erfüllt in seinem Werk Unscheinbarkeit diese Aufgabe der Untersuchung des »Raums der Phänomenologie«, Siehe: Figal, Unscheinbarkeit. Der Raum der Phänomenologie, Tübingen, 2015, insbesondere S. 4: »Erst mit dem Thema des Raums gewinnt eine Phänomenologie, die die Phänomene von der Äußerlichkeit her versteht, ihre Sache, die Phänomene in ihrer Phänomenalität, sodass sie sich mit diesem Thema in ihrer Möglichkeit reflektiert. So muss im doppelten Sinne vom ›Raum der Phänomenologie‹ die Rede sein; gemeint ist der Raum, sofern er phänomeno84
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Mit Rücksicht darauf, dass Zeitlichkeit und Räumlichkeit für die Gewinnung der Eigentlichkeit gleichursprünglich sind, soll die Transzendenz des Menschen nicht nur als zeitliches Überschreiten-zusich-selbst, sondern auch als räumliches Überschreiten-zum-Anderen interpretiert werden. Darin gewinnen wir erst das Verständnis dafür, wie wichtig es ist, aus der Ferne den Anderen hören zu können, um uns selbst in der Nähe zu ihm gewinnen zu können. Dies ist eine deutliche Darstellung des grundsätzlichen Gedankens von Heidegger, dass wir uns selbst gerade im Anderssein erkennen, was sich in Hinsicht auf das ontologische Verhältnis von Identität (»Ist«) und Differenz (»Ist-nicht«) beim Spätdenken weiterentwickelt, wo Heidegger mit Nachdruck die zentrale Idee der ganzen Geschichte der abendländischen Philosophie so charakterisiert, dass die Identität ursprünglich Zusammengehören vom beiden Verschiedenen meine. Die potenzielle Bedeutung von diesem großen Gedanken ist noch weiter zu erforschen. Hören wir uns schließlich noch einmal Heideggers Wort an: »Und so ist der Mensch, als existierende Transzendenz überschwingend in Möglichkeiten, ein Wesen der Ferne. Nur durch ursprüngliche Fernen, die er sich in seiner Transzendenz zu allem Seienden bildet, kommt in ihm die wahre Nähe zu den Dingen ins Steigen. Und nur das Hörenkönnen in die Ferne zeitigt dem Dasein als Selbst das Erwachen der Antwort des Mitdaseins, im Mitsein mit dem es die Ichheit darangeben kann, um sich als eigentliches Selbst zu gewinnen.« 87
logisch zum Thema wird und sofern er die Phänomenologie als solche ermöglicht. Den Raum betrachtend und bedenkend, gehört die Phänomenologie in den Raum«. Figal geht weiterhin davon aus, dass der Raum als die Ermöglichung der Phänomenologie kein Phänomen ist, d. h. er ist zwar mit den Dingen mitzuerfahren, aber er selbst erscheint nicht. Figal erläutert dazu: »Als das die Phänomene und die Phänomenologie gleichermaßen ermöglichende ist der Raum kein Phänomen […] Raum, erscheint nicht, sondern ist unscheinbar, sodass eine Phänomenologie der Äußerlichkeit, eine realistische Phänomenologie, als solche eine Phänomenologie der Unscheinbarkeit ist.« 87 Heidegger, GA 9, S. 175; Vgl. auch GA 26, S. 285.
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Personen- und Sachregister
Agamben, Giorgio 272, 275, 288, 294 Analogie 16, 39, 48–52, 59 Angst 131–144, 147, 149 f., 209, 271, 274, 283, 284, 300–303 Arendt, Hannah 275, 276, 284, 286, Aristoteles 16, 23–41, 45–65, 95, 120, 122, 128, 172, 174 Badiou, Alain 281 Baiasu, Roxana 294 f., 301 f., 305 Becker, Ralf 191, 199, 219, 224, 227 Besorgen 85 f., 109, 121, 166, 213, 236, 240, 250, 264 ff., 286, 289, 290, 293, 295 f., 299 f. Bewandtnis 81, 83–86, 89, 122, 166, 183, 219 f., 293, 299 Binswanger, Ludwig 274 f., 295–300 Blattner, William D. 228 Boss, Medard 275 Bouton, Christophe 134, 225 Carman, Taylor 16, 33, 177 Carnap, Rudolf 115–117, 125, 127, 135 Crowell, Steven 31, 118 f., 164, 166, 244 f., 269 f. Dahlstrom, Daniel 213, 215 Dasein/Da-sein 18, 23, 32 f., 41, 45, 78 ff., 82, 84, 86–91, 94–97, 105 f., 123 ff., 131–134, 139, 143–149, 155 ff., 175, 178–181, 191–216, 225, 234–254, 260–272, 275, 283 f., 287– 292, 295, 297–306 Descartes, Rene 81 f., 131, 290 f.
Eigentlichkeit 18, 124, 145, 194, 198 f., 212 f., 233, 238, 240, 248– 254, 259–267, 270, 272 f., 283–288, 295, 302–306 Ereignis 15, 59, 101, 147, 149, 152 f., 156, 199, 201 f., 230, 282, 288 Fehér, Istvan M. 265 Fetz, Reto L. 254 Figal, Günter 32, 116, 122, 124, 132, 157, 225, 229, 271 f., 305 f. Fink, Eugen 17, 66 f., 75 f., 108–114, 200 f. formale Anzeige 42–46, 82, 250–260 Frankfurt, Harry 285, 287 Frede, Dorothea 32, 168 Frege, Gottlob 18, 23, 99–101, 161, 163 f., 170–178 Friedman, Michael 116 Fürsorge 18, 238, 240 f., 249, 261, 264–267, 272–275, 278, 298 Gadamer, Hans-Georg 42 f. Gabriel, Markus 32, 101, 113, 117 Ganze 17 ff., 61, 65 f., 70, 77 f., 83, 85– 92, 104 ff., 108, 111, 113, 115, 131 f., 134, 140, 144, 147, 167, 172, 183, 194, 196, 200, 205 f., 208, 212, 233, 238, 242 ff., 246, 251, 295, 303 Guignon, Charles 32, 228, 303 Haugeland, J. 174 He, Nian 119, 136, 164 Helting, Holger 240, 269, 271, 278, 288 Heinrich Rickert 118, 141, 283
323 https://doi.org/10.5771/9783495824030 .
Personen- und Sachregister Heinz, Marion 189 f., 218 f., 223, 225 Held, Klaus 66 f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 65, 114, 147, 225, 280, 287 Herrmann, Friedrich von 82, 84 f., 95, 97, 98, 155, 203, 205, 213 f., 223, 302 Horizont 16, 18, 46, 69–73, 77, 85, 88, 92, 121, 161, 181, 205, 207, 209, 213–233, 259, 289, 293 Husserl, Edmund 17 f., 31, 33, 41, 44, 55–58, 66–75, 81, 85–89, 92, 98, 102, 113, 117, 120, 140, 150, 169, 170, 174, 182–188, 196, 208, 222, 226 f., 234, 242 ff., 255 f. In-der-Welt-sein 79, 87, 90, 105 f., 131 f., 143 f., 177, 193, 197 f., 207 f., 234, 236, 243, 244, 252, 263, 266, 291 f., 299 f. Jaspers, Karl 274 Kant, Immanuel 23, 25, 28, 33, 41, 54, 57, 79, 90, 120, 130 f., 156, 165, 202, 215, 217 ff., 228, 290, 294 Kategorie 29, 35, 137, 251, 253 Kisiel, Theodore 41, 43, 45, 164 Köhler, Dietmar 217–220, 226 Lafont, Cristina 174–177 Landgrebe, Ludwig 69, 74 Lask, Emil 18, 119, 136 f., 161, 164– 169 Lassen 16, 18, 58 ff., 83, 85, 140, 180, 267, 277 f., 282, 286 Leibniz, Gottfried Wilhelm 238 f. Lichtung 16, 80, 94, 110, 120, 136, 146, 151–154, 199, 202, 294, Liebe 18 f., 141 f., 206, 267, 273–288, 295–305 Lotze, Hermann 119 f., 136, 164 f. Malpas, Jeff 294, 302, 304 Marion, Jean-Luc 92, 102 f., 133, 142– 145, 149 f., 184, 187, 189, 195
McManus, Denis 228, 303 Mitsein 18, 33, 193, 132, 234–243, 247 ff., 252, 260, 263–266, 268, 272, 292, 295, 306 Nancy, Jean-Luc 237 f., 284 Natorp, Paul 41, 63 Neukantianismus, neukantianisch 31, 116–119, 136, 170 Nichts 17, 26, 28, 61, 103, 108, 113– 118, 125–157, 283, 301 Novalis 66 Offene(s) 59, 94, 109 f., 152, 155, 202 ff., Offen-sein 18 f., 92, 205, 212, 233, 295 ontisch 32, 75, 80–84, 89, 113, 124, 136, 180, 189–193, 197 f., 206, 247 ontologisch 18, 28, 30, 32, 35, 37, 41, 46, 48, 51, 56–63, 79, 80–83, 85 ff., 90, 93, 97–102, 106 ff., 112, 119, 122–125, 128–131, 136 f., 140, 147, 149, 169, 176, 179 ff., 184, 188–198, 201, 206, 209 f., 212, 214 f., 222, 224 f., 227, 232, 235, 241, 243, 245, 247, 251 ff., 274 f., 282, 292, 299, 306 Ort/Ortschaft 16, 88, 92, 94, 113, 204, 284, 290, 294, 298, 300, 303 ousia 16, 27–31, 34–52, 58–65, 77 Peng, Fuchun 151 Phänomenalität/phänomenal 84, 103, 107 f., 143, 151 f., 169, 184, 186 ff., 190, 204, 207 f., 226, 305 Phänomenologie 33, 40, 43 ff., 57, 61, 66–69, 71, 73–77, 82, 87 ff., 95, 108, 112 f., 121, 150, 164, 169, 179, 182– 190, 195 f., 226, 234, 255, 274, 278, 296, 305 f. Platon 23, 34, 50, 128, 165, 276, Pöggeler, Otto 16, 214, 224, 231 f., 277, 294 Raum 17 ff., 25, 76, 109, 113 f., 140, 231 ff., 273, 289–300, 304 ff.
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Personen- und Sachregister Räumlichkeit 18 f., 231, 273, 289–306 Reduktion 41, 68, 73–76, 102, 188, 241, 272 Rosefeldt, Tobias 98–103 Ross, W. D. 37 Sallis, John 303, 304 Schelling, F. W. J. 279–281 Schema/Schematismus 214–232, 293 Sein 15–19, 23–33, 42, 46–61, 64 f., 73 f., 79–83, 90–108, 110–112, 115– 127, 130, 135–142, 145, 147–158, 161, 169, 176–183, 186–216, 219, 221–233, 272 f., 281 f., 293–296, 302–305 Sein des Seienden 15, 23, 32, 36, 51, 61, 65, 96, 130, 134, 137 f., 140, 145, 150, 157, 169, 180, 182, 186, 188, 196, 221 Schweidler, Walter 156–158, 262, 295, 303 Sheehan, Thomas 15 Sinn 15–19, 31 f., 40, 42–47, 50, 53– 55, 58–60, 82, 93, 96, 102, 107, 110, 119, 125, 137, 142, 161–181, 190, 192, 194, 196 f., 207 ff., 211, 213– 215, 219, 223 ff., 227–233, 250, 255–260, 273, 282, 292–296, 300– 305 Sinn von Sein, 16–19, 42, 102, 142, 161, 169 f., 179, 181, 190–197, 207, 213 f., 219, 224, 227–233, 250, 273, 293, 295 f., 302, 304 f. Situation 212, 302 Spaemann, Robert 285, 288 Sorge 82, 123, 125, 200, 209, 211, 252, 254, 259, 265, 267, 274 f., 278, 286, 292, 300 Taylor, Charles 238 Temporalität 214–219, 222–227, 230, 293
Tömmel, Tatjana Noemi 275, 277, 279 f., 285, 287 Tod 18, 238, 240 f., 262 f., 273, 283 f., 287, 305 Topologie 294, 302 Transzendenz 85–90, 97, 104, 111, 139, 144, 148, 156, 184, 189, 202, 205, 218 f., 221 ff., 226, 234, 239, 242–249, 286 f., 306 Tugendhat, Ernst 25, 28, 74 f., 98 f., 116, 135 f., 153, 166, 254 Uneigentlichkeit 212, 249–264, 272, 288, 295, 302 Ur-etwas 42–47 Urwissenschaft 39 ff., 257 Vereinzelung 41, 238 ff., 268–271, 273, 285 Verneinung 100, 115, 118 f., 124, 126, 129 f., 132 f., 138 ff., 144, 130 Welt 17, 33, 61, 66–114, 117, 122, 129–132, 138, 141–146, 149, 153, 156 f., 173, 177 f., 193, 200, 202– 209, 234–248, 252–254, 259–263, 266 ff., 272, 280, 284, 290 ff., 298– 301 Wirtz, Markus 126 f., 135, 139, 146, 151, 156 Wittgenstein, Ludwig 24 f., 54, 117 Worumwillen 197, 216, 250 f., 269 f., 297 Wrathall, Mark A. 16, 177, 289 Zeit 18, 25, 46, 76, 90, 109, 111, 113 f., 161, 173, 207, 209–232, 292–296, 304 f. Zeitlichkeit 19, 125, 207, 209–216, 219–232, 251, 289, 292 ff., 300–306 Zeug 83, 86, 219 f., 236, 289, 291, 296
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