Berechnung oder Besinnung?: Zum Verhältnis von Maß und Sein im Denkweg Martin Heideggers 9783495999172, 9783495999165


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Einleitung
Thema und Thesen der Untersuchung
Etymologisch orientierte Hermeneutik der Begriffe Besinnung, Berechnung, Maß und Sein
Heideggers Denken von Maß und Sein im Aufriss von Besinnung und Berechnung
Aufbau der Untersuchung in sieben Etappen
Methodik und Zugangsweise
Forschungslage und mögliche Alternativen
Ziele der Untersuchung
I. Die Suche nach einem Maß – Initialzündungen beim jungen Heidegger
1. Vier Fäden zu Heideggers Suche nach einem Maß des Seins
a) Franz Brentano und Carl Braig
b) Emil Lask und Edmund Husserl
2. Heideggers erste Schritte zu einem Maß des Seins
a) Vorblick auf ein Maßverständnis des Seins in Neuere Forschungen über Logik
b) Maßstab und Maßgabe in Heideggers Dissertation
c) Heideggers Habilitation: Das Maß in der Wahrheit, der Mathematik, der Logik, und in der haeccitas
d) Wider das Maßverständnis von Naturalismus und Historismus
II. Heideggers Suche nach einem Maßstab in der Auslegung der Faktizität des Lebens
1. Rejektion und Projektion als Maßstabsfindung
a) Das strukturanalytische Verfahren als Maßstabsfindung
b) Die Anwendung der Maßstabsfindung auf die Wertelehre des badischen Neukantianismus
2. Die Rejektion des Theoretischen und die Projektion des Vortheoretischen
3. Das »Gibt es etwas?« als destruktives Herausschälen des Maßstabes
4. Das vortheoretische Projekt des lebensweltlichen Messens
a) Rejektion der Umweltzerstörung durch die vermessende theoretische Einstellung
b) Projektive Grenzabsteckung: Das vortheoretische Ermessen der Faktizität der erlebten Welt qua Phänomenologie
c) Grenze und Maß als Rhythmik und Relief des Lebens
d) Formale Anzeige und Destruktion als Kriterien für die Aneignung von Maß und Grenze des faktischen Lebens
5. Die Zuspitzung der lebensweltlichen Maßstabsaneignung
a) Rejektion des neukantianischen Wertedenkens und der Husserlschen Adäquation als Maßstäbe
α) Die vertiefende Rejektion der Zumessung als Wert und Werten bei den Neukantianern
β) Die vertiefende Rejektion des Maßes der Adäquation in Edmund Husserls Phänomenologie
b) Projektion des performativen Messens als Bekümmerung und Sorge
α) Bekümmernis als lebensweltliche Erfahrung im Frühchristentum
β) Bekümmernis als besinnliches Ermessen des Augenblicks
c) Vermessen und Messen als Appropriation der Besinnung auf das Sein der Faktizität zwischen einem Zuviel und Zuwenig
α) Hyperbolischer Abstand
β) Elliptische Abriegelung
γ) Umgangserhellung der Besinnung (Phronesis) als eigentlich fragendes Messen
6. Zusammenfassung und Ausblick des Kapitels
III. Heideggers Auseinandersetzung mit dem Maßstab der Wahrheit des Seins
1. Heideggers Abweisung des bisherigen Maßstabs der Wahrheit im Ausgang vom Aussagesatz
a) Sorge um erkannte Erkenntnis als Verfängnis in der Absicherungstendenz
b) Das Problem der Satz- und Aussagewahrheit als Folge der Absicherungstendenz bei Aristoteles und Platon
c) Die Absicherungs- und Täuschungstendenz im homogenisierenden Maßstab bei den Griechen
d) Die Anmessung als Adäquation bei Thomas von Aquin
e) Der Maßstab der Homogenisierung als Ordnung und Gewissheit bei Descartes
f) Heideggers Ablehnung der Absicherungstendenz der Metaphysik der Neuzeit als Homogenisierung, Abstraktion, Quantifizierung und Mathematisierung im Blickfeld der Kritik Hans Blumenbergs
2. Heideggers Ausarbeitung der Als-Struktur als performativer Maßstab der Wahrheit im Ausgang von Aristoteles
a) Die Als-Struktur als Grundfigur des Aussagesatzes
b) Wahrheit als Zusprechen und Absprechen
c) Wahrheit als Richtigkeit und Falschheit
d) Entdeckung und Verdeckung
e) Die Konstellation der Als-Struktur als ύnς und ίς
f) Der performative Maßstab der Sorge als temporales Anwesen in der Logik der Als-Struktur
3. Der Übergang vom Maßstab der Definition zum aneignenden Ermessen des Horizonts des Seins
a) Die Aussage (ὁς) als vermessendes Feststellen und Umgrenzen
b) Der ὁn als Möglichkeit des gegenwärtigenden Ermessens der Weltgrenzen
c) Die Zeit als der maßgebliche anzueignende Horizont des Seins
IV. Die Genesis eines ekstatischen Maßes der Zeit in Sein und Zeit
1. Zwei Ansätze zu einem Maß der Zeit
a) Kants Schematismus und die Zeit des Daseins
b) Diltheys und Graf Yorcks Dialog über die Zeit als Geschichte
2. Das ontische Messen als Bewandtnis und Nähe zur Zeit
a) Verweisung als Maßstab
b) Vertrautheit als Bewandtnis und Bedeutung
c) »Eine Pfeife lang« – konkrete Nähe und Entfernung
d) »Ich habe keine Zeit« – die exakte Uhrzeitmessung
3. Das ontologische Maß der Zeit
a) Sein zum Tode als Zumessung von Sein und Nichts am Beispiel Hamlets
b) Angst, Maßlosigkeit und Augenblick
c) Die Dimension der Ekstatik als Dehnung der Zeit
4. Die ontologische Differenz als Maß
5. Rückblick und Vorblick einer Maßorientierung – Sein und Zeit und der Übergang zur Kehre
V. Zumessung und Vermessung am Mittelmäßigen als Gang in die Irre
1. Freiheit und Geschichte als maßgebliche Leitfäden für die Kehre
a) Die Maßgabe der Freiheit
b) Die Maßgabe der Geschichte
c) Sein und Nichts als Zumessung
d) Der Aufriss als vierfache Dimension
2. Platonische Träume, das Rektorat und die »Schwarzen Hefte« – »Vermessung« und Einsicht
3. Heidegger vermisst sich am Rektorat
VI. Dichterische Maßnahmen des Maßvollen als Verwindung und Heilung im Spätwerk Heideggers
1. Heideggers Weg zur Neuaneignung der Maßgabe des Seins qua Verwindung
2. Die Mittelmäßigkeit als Grund der Weltverdüsterung
3. Die Maßlosigkeit, das Bösartige der Mittelmäßigkeit und der Umschlag zur eigentlichen Zumessung des Wortes
4. Die Zumessung des Wortes »Sein« selbst
5. Die andere Maßnahme in der Verdichtung und Dichtung des Wortes
a) Das maßvolle Poröse und das maßlose Aporetische
b) Maß und Grenze im verdichteten Versmaß des Wortes
6. Das Maß von Kunst und Dichtung als Aufriss und Umriss
7. Hölderlin als Dichter des Übermaßes für das Maßvolle
8. Das dichterische Messen zwischen Übermaß und Mäßigung
9. Der Apex der Durchmessung als »Einblick in das was ist«
a) Berechnung oder Besinnung des Denkens?
b) Machenschaft und Gelassenheit
c) Das Ge-stell und die Konfiguration des homogenen Maßes
d) Das andere Maß in der Nähe des Gevierts
Schluss
1. Besinnung oder Berechnung? Zusammenfassung unserer Untersuchung
2. Denkansätze zur Besinnung einiger Maßgaben für ein Denken des Gewebes nach Heidegger
a) Maurice Merleau-Ponty und das Gewebe der Sprache
b) Julia Kristeva und Roland Barthes und das Gewebe des Textes
c) Michel Serres und das indirekte Gewebe
d) Derrida und die Trasse als Text
e) Bruno Latour und das Parlament des weltweiten Gewebes
f) Ausblick auf das Inkommensurable des Gewebes
Literaturverzeichnis
A. Werke Heideggers
Gesamtausgabe
Siglenverzeichnis zu Veröffentlichungen Heideggers außerhalb der Gesamtausgabe
Weitere Ausgaben und Briefwechsel Heideggers
B. Sonstige Literatur
1. Siglenverzeichnis zu Veröffentlichungen anderer Autoren
2. Sekundärliteratur
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Berechnung oder Besinnung?: Zum Verhältnis von Maß und Sein im Denkweg Martin Heideggers
 9783495999172, 9783495999165

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Alber Thesen Philosophie

ϑ Michael Medzech

Berechnung oder Besinnung? Zum Verhältnis von Maß und Sein im Denkweg Martin Heideggers

https://doi.org/10.5771/9783495999172 .

https://doi.org/10.5771/9783495999172 .

Alber Thesen Philosophie Band 86

https://doi.org/10.5771/9783495999172 .

Michael Medzech

Berechnung oder Besinnung? Zum Verhältnis von Maß und Sein im Denkweg Martin Heideggers

https://doi.org/10.5771/9783495999172 .

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl.: Vallendar, Univ., Diss., 2020 ISBN 978-3-495-99916-5 (Print) ISBN 978-3-495-99917-2 (ePDF)

1. Auflage 2022 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2022. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495999172 .

»Wenn sich die kulturell und strukturell verfestigte Haltung, die Welt als Aggressionspunkt für Wissenschaft und Technik, Wirtschaft und Politik zu begreifen und auch individuell in Reichweite bringen zu wollen, als Ursache für eine immer weiter voranschreitende Entfremdung von der Welt, für Weltzerstörung und Weltverstummen entpuppt, dann lautet die Frage […]: Welche andere Welthaltung ist überhaupt denkbar und möglich?« Hartmut Rosa, Unverfügbarkeit, 4. Aufl. Wien: Residenz 2019, S. 34. »Daß wieder ein Anfang der Philosophie sei, indem sie selbst dieser Anfang sei dadurch, daß das Seyn selbst als der Ur-sprung wese, daran liegt Alles. Nur so wird die Macht des Seienden und seiner Betreibung und in einem damit jedes Rechnen mit Zwecken gebrochen. Nur so entspringt wieder die Ahnung von Jenem, was keiner Wirkung bedarf, sondern alles durchragt, indem es ist.« Martin Heidegger, Besinnung, GA 66, S. 53. »Das Maß Weil sie allein sind, im Selben sie selber, die Singenden, Denkenden; bleibt Wiederholung des Wortes ins Selbe das Einzige Maß der reinen Begegnung im Eigenen.« Martin Heidegger, Gedachtes, GA 81, S. 188.

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»Wege Wege, Wege des Denkens, selber gehende, öffnend den Gang dem Wegfeld entgegen […]« Martin Heidegger, Gedachtes, GA 81, S. 353.

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Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde 2020 als Dissertation an der Philoso­ phisch-Theologischen Hochschule Vallendar (jetzt Vinzenz Pallotti University) eingereicht. Während meiner jahrelangen Auseinander­ setzung mit Martin Heideggers Gesamtwerk, die in dieser schriftli­ chen Ausarbeitung mündete, habe ich vielerlei Unterstützung erhal­ ten, ohne die dieses Buch nicht möglich gewesen wäre. In ganz besonderer Weise danke ich meinem Betreuer Prof. Dr. Dr. oxon. Holger Zaborowski für die intensive und professionelle Begleitung meiner Arbeit in den vergangenen Jahren, für seinen stets hilfrei­ chen Rat und für die umfassende Förderung meines philosophischen Weges. Ebenso möchte ich Prof. Dr. von Heereman danken, der sich bereit erklärt hat, die Zweitbegutachtung vorzunehmen. Seine kritischen Hinweise haben wichtige Impulse für die Arbeit gegeben. Auch möchte ich meiner lieben Lebensgefährtin Monique Junkereit danken, die über Jahre bis zur Fertigstellung dieser Arbeit in engem Austausch mit mir stand. Ihre Begeisterung und ihr Verständnis für mein Anliegen, ihre Ermutigungen in schwierigen arbeitsintensiven Phasen durchzuhalten und nicht zuletzt ihre geduldige Unterstützung beim Redigieren dieses Buches sowie der mentale Beistand bei der Anfertigung und der Verteidigung dieser Arbeit können gar nicht in angemessene Worte gefasst werden. Mein weiterer Dank gilt meinen beiden Töchtern Ida und Minerva, die diese Arbeit mit Geduld mittrugen. Ihnen ist dieses Buch zugeeignet. Ebenso danke ich Frau Dr. Monika Mühlpfordt, Herrn Dr. Martin Hähnel und Herrn Fabian Wahl vom Karl Alber/Nomos Verlag, die den letzten Schliff dieser Arbeit mit großer Freundlichkeit, mit Professionalität sowie Rat und Tat unterstützt und ermöglicht haben. Ich danke Prof. Dr. Dr. Claus-Artur Scheier, dessen einzigartige Seminare und Vorlesungen in mir erst das Feuer für ein anhaltendes Nachdenken mit dem dafür notwendig langen Atem entfacht haben. Er war es, der mir zuerst die philosophische Herangehensweise lehrte und die dafür notwendige Haltung vorlebte. Er regte die Arbeit an und begleitete die Anfänge. Ich danke auch Prof. Dr. Nicole Karafyllis

7 https://doi.org/10.5771/9783495999172 .

Vorwort

und Prof. Dr. Hans-Christoph Schmidt am Busch für Hinweise, für die Einübung in die methodische Forschung sowie in die akademische Wissenschaft. Weiterhin Dank gebührt den Mitarbeitern der Vinzenz Pallotti University, insbesondere Frau Corinna Henz, Frau Schnor­ pfeil-Becker und Frau Prof. Dr. Margareta Gruber, die stets unbü­ rokratisch und freundlich wichtige formale Fragen klärten. Ebenso möchte ich den philosophischen Wegbegleitern danken, die Impulse für diese Arbeit gaben. Dies sind Franz R. Rau, André Affenzeller, Dr. Alfred Denker, Anna Hirschfelder, Dr. Joris Raven, Gerhard Lütke, Michael Ebers, Prof. Dr. Ubaldo Pérez-Paoli, Dr. Marie-Luise Heuser, Dr. Jakob Meier, Isabel Iginia von Wilcke, Prof. Dr. Alexander Krämer, Leeann Ryan und Bernhard Meiners. Auch möchte ich meinem Cousin Heiko Hagemans meinen tiefsten Dank aussprechen, der mir auf Tagungsreisen immer Unterkunft bot und immer für mich da war. Ebenso möchte ich meinen Geschwistern sowie meinen Eltern Sigrid Medzech und dem Künstler Peter Paul Medzech danken, die mir stets mit ihrem Rat während des Fortschritts der Arbeit zur Seite standen. Ebenso gilt mein Dank all den Nichtgenannten, die auch zum Gelingen dieser Arbeit beitrugen. Minden, im Mai 2022

Michael Medzech

8 https://doi.org/10.5771/9783495999172 .

Inhaltsverzeichnis

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

Thema und Thesen der Untersuchung . . . . . . . . . .

22

Etymologisch orientierte Hermeneutik der Begriffe Besinnung, Berechnung, Maß und Sein . . . . . . . . .

24

Heideggers Denken von Maß und Sein im Aufriss von Besinnung und Berechnung . . . . . . . . . . . . . . .

35

Aufbau der Untersuchung in sieben Etappen . . . . . . .

38

Methodik und Zugangsweise . . . . . . . . . . . . . .

40

Forschungslage und mögliche Alternativen . . . . . . .

43

Ziele der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

Die Suche nach einem Maß – Initialzündungen beim jungen Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

1. Vier Fäden zu Heideggers Suche nach einem Maß des Seins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Franz Brentano und Carl Braig . . . . . . . . . . b) Emil Lask und Edmund Husserl . . . . . . . . .

51 53 57

I.

2. Heideggers erste Schritte zu einem Maß des Seins . . a) Vorblick auf ein Maßverständnis des Seins in Neuere Forschungen über Logik . . . . . . . . . b) Maßstab und Maßgabe in Heideggers Dissertation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Heideggers Habilitation: Das Maß in der Wahrheit, der Mathematik, der Logik, und in der haeccitas d) Wider das Maßverständnis von Naturalismus und Historismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62 63 69 72 81

9 https://doi.org/10.5771/9783495999172 .

Inhaltsverzeichnis

II. Heideggers Suche nach einem Maßstab in der Auslegung der Faktizität des Lebens . . . . . . . . .

87

1. Rejektion und Projektion als Maßstabsfindung . . . a) Das strukturanalytische Verfahren als Maßstabsfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Anwendung der Maßstabsfindung auf die Wertelehre des badischen Neukantianismus . . .

104

2. Die Rejektion des Theoretischen und die Projektion des Vortheoretischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

105

3. Das »Gibt es etwas?« als destruktives Herausschälen des Maßstabes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

107

4. Das vortheoretische Projekt des lebensweltlichen Messens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rejektion der Umweltzerstörung durch die vermessende theoretische Einstellung . . . . . . b) Projektive Grenzabsteckung: Das vortheoretische Ermessen der Faktizität der erlebten Welt qua Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Grenze und Maß als Rhythmik und Relief des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Formale Anzeige und Destruktion als Kriterien für die Aneignung von Maß und Grenze des faktischen Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Zuspitzung der lebensweltlichen Maßstabsaneignung . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rejektion des neukantianischen Wertedenkens und der Husserlschen Adäquation als Maßstäbe . . . α) Die vertiefende Rejektion der Zumessung als Wert und Werten bei den Neukantianern . . . β) Die vertiefende Rejektion des Maßes der Adäquation in Edmund Husserls Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . b) Projektion des performativen Messens als Bekümmerung und Sorge . . . . . . . . . . . . . α) Bekümmernis als lebensweltliche Erfahrung im Frühchristentum . . . . . . . . . . . . . . . .

10 https://doi.org/10.5771/9783495999172 .

94 101

110 112 121 127 132 139 139 140 148 158 158

Inhaltsverzeichnis

β) Bekümmernis als besinnliches Ermessen des Augenblicks . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Vermessen und Messen als Appropriation der Besinnung auf das Sein der Faktizität zwischen einem Zuviel und Zuwenig . . . . . . . . . . . . α) Hyperbolischer Abstand . . . . . . . . . . . . β) Elliptische Abriegelung . . . . . . . . . . . . γ) Umgangserhellung der Besinnung (Phronesis) als eigentlich fragendes Messen . . . . . . . .

163 165 168 171 173

6. Zusammenfassung und Ausblick des Kapitels . . . .

177

III. Heideggers Auseinandersetzung mit dem Maßstab der Wahrheit des Seins . . . . . . . . . . . . . . . .

183

1. Heideggers Abweisung des bisherigen Maßstabs der Wahrheit im Ausgang vom Aussagesatz . . . . . . . a) Sorge um erkannte Erkenntnis als Verfängnis in der Absicherungstendenz . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Problem der Satz- und Aussagewahrheit als Folge der Absicherungstendenz bei Aristoteles und Platon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Absicherungs- und Täuschungstendenz im homogenisierenden Maßstab bei den Griechen . . d) Die Anmessung als Adäquation bei Thomas von Aquin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Der Maßstab der Homogenisierung als Ordnung und Gewissheit bei Descartes . . . . . . . . . . . f) Heideggers Ablehnung der Absicherungstendenz der Metaphysik der Neuzeit als Homogenisierung, Abstraktion, Quantifizierung und Mathematisierung im Blickfeld der Kritik Hans Blumenbergs . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

216

2. Heideggers Ausarbeitung der Als-Struktur als performativer Maßstab der Wahrheit im Ausgang von Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Als-Struktur als Grundfigur des Aussagesatzes b) Wahrheit als Zusprechen und Absprechen . . . . c) Wahrheit als Richtigkeit und Falschheit . . . . . . d) Entdeckung und Verdeckung . . . . . . . . . . .

223 224 232 233 234

185 185 192 195 200 209

11 https://doi.org/10.5771/9783495999172 .

Inhaltsverzeichnis

e) Die Konstellation der Als-Struktur als ύniς und iίiς . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Der performative Maßstab der Sorge als temporales Anwesen in der Logik der Als-Struktur . . . . . .

235 239

3. Der Übergang vom Maßstab der Definition zum aneignenden Ermessen des Horizonts des Seins . . . a) Die Aussage (ὁiς) als vermessendes Feststellen und Umgrenzen . . . . . . . . . . . . b) Der ὁin als Möglichkeit des gegenwärtigenden Ermessens der Weltgrenzen . . . . . . . . . . . c) Die Zeit als der maßgebliche anzueignende Horizont des Seins . . . . . . . . . . . . . . . .

243

IV. Die Genesis eines ekstatischen Maßes der Zeit in Sein und Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

245

239 240 241

1. Zwei Ansätze zu einem Maß der Zeit . . . . . . . . a) Kants Schematismus und die Zeit des Daseins . . b) Diltheys und Graf Yorcks Dialog über die Zeit als Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

248 248 259

2. Das ontische Messen als Bewandtnis und Nähe zur Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verweisung als Maßstab . . . . . . . . . . . . . b) Vertrautheit als Bewandtnis und Bedeutung . . . c) »Eine Pfeife lang« – konkrete Nähe und Entfernung d) »Ich habe keine Zeit« – die exakte Uhrzeitmessung

270 270 279 283 292

3. Das ontologische Maß der Zeit . . . . . . . . . . . a) Sein zum Tode als Zumessung von Sein und Nichts am Beispiel Hamlets . . . . . . . . . . . . . . . b) Angst, Maßlosigkeit und Augenblick . . . . . . . c) Die Dimension der Ekstatik als Dehnung der Zeit

299 302 304

4. Die ontologische Differenz als Maß . . . . . . . . .

319

5. Rückblick und Vorblick einer Maßorientierung – Sein und Zeit und der Übergang zur Kehre . . . . . . . .

320

12 https://doi.org/10.5771/9783495999172 .

299

Inhaltsverzeichnis

V. Zumessung und Vermessung am Mittelmäßigen als Gang in die Irre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

325

1. Freiheit und Geschichte als maßgebliche Leitfäden für die Kehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Maßgabe der Freiheit . . . . . . . . . . . . . b) Die Maßgabe der Geschichte . . . . . . . . . . . c) Sein und Nichts als Zumessung . . . . . . . . . d) Der Aufriss als vierfache Dimension . . . . . . .

333 336 339 343 346

2. Platonische Träume, das Rektorat und die »Schwarzen Hefte« – »Vermessung« und Einsicht . . . . . . . .

351

3. Heidegger vermisst sich am Rektorat

360

. . . . . . . .

VI. Dichterische Maßnahmen des Maßvollen als Verwindung und Heilung im Spätwerk Heideggers

375

1. Heideggers Weg zur Neuaneignung der Maßgabe des Seins qua Verwindung . . . . . . . . . . . . . . . .

376

2. Die Mittelmäßigkeit als Grund der Weltverdüsterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

383

3. Die Maßlosigkeit, das Bösartige der Mittelmäßigkeit und der Umschlag zur eigentlichen Zumessung des Wortes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

388

4. Die Zumessung des Wortes »Sein« selbst . . . . . .

393

5. Die andere Maßnahme in der Verdichtung und Dichtung des Wortes . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das maßvolle Poröse und das maßlose Aporetische b) Maß und Grenze im verdichteten Versmaß des Wortes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

402

6. Das Maß von Kunst und Dichtung als Aufriss und Umriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

405

7. Hölderlin als Dichter des Übermaßes für das Maßvolle

409

8. Das dichterische Messen zwischen Übermaß und Mäßigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

415

9. Der Apex der Durchmessung als »Einblick in das was ist« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Berechnung oder Besinnung des Denkens? . . . .

419 421

400 400

13 https://doi.org/10.5771/9783495999172 .

Inhaltsverzeichnis

b) Machenschaft und Gelassenheit . . . . . . . . . c) Das Ge-stell und die Konfiguration des homogenen Maßes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Das andere Maß in der Nähe des Gevierts . . . .

423 427 445

Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

457

1. Besinnung oder Berechnung? Zusammenfassung unserer Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . .

457

2. Denkansätze zur Besinnung einiger Maßgaben für ein Denken des Gewebes nach Heidegger . . . . . . . . a) Maurice Merleau-Ponty und das Gewebe der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Julia Kristeva und Roland Barthes und das Gewebe des Textes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Michel Serres und das indirekte Gewebe . . . . . d) Derrida und die Trasse als Text . . . . . . . . . . e) Bruno Latour und das Parlament des weltweiten Gewebes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Ausblick auf das Inkommensurable des Gewebes

482 485

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

489

A. Werke Heideggers . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesamtausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Siglenverzeichnis zu Veröffentlichungen Heideggers außerhalb der Gesamtausgabe . . . . . . . . . . . Weitere Ausgaben und Briefwechsel Heideggers . .

470 471 472 474 477

. .

489 489

. .

492 493

B. Sonstige Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Siglenverzeichnis zu Veröffentlichungen anderer Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . .

493

14 https://doi.org/10.5771/9783495999172 .

493 495

Einleitung

Was gibt uns in unserem menschlichen Dasein ein Maß für unser eigentliches Sein? Diese Frage ist so alt wie das Philosophieren selbst, auch wenn sie in jeder Epoche in anderen Begriffen und Ausformungen, bald verhüllt, bald unverhüllt, gestellt wird. Diese Frage wird immer dann an einem geschichtlichen Ort wichtig, wenn das Sein des Menschen selbst fraglich wird oder ein Wandel in der menschlichen Geschichte unmittelbar bevorzustehen scheint. Sobald der Mensch einer anderen Bestimmung gegenübersteht und sich ihm eine ungewisse Zukunft ankündigt, denkt er vermehrt über das Sein und dessen Grenzen, Reichweiten, Kontraste, Schärfen und Tiefen und damit über dessen Maß nach. Maßgeblich scheint dem Menschen dabei die Aussicht auf die Zukunft zu sein. Daraus eröffnet sich folgende Frage: Gibt uns die Zukunft selbst ein Maß für unser Denken und unseren Weltzugang? Und weiter: Wie ist ein solches Maß für das fraglich gewordene Sein des Menschen auf dem Weg in eine sich wandelnde Zukunft zu bestimmen? Diese Fragen können sowohl sehr spezifische Überlegungen als auch den großen Wurf eines Denkens in den Blick bringen. Doch bevor wir nach einer solchen maßgeblichen Zukunft fragen, die heute die Existenz des Menschen als solchen und alles Leben auf unserem ganzen Planeten betrifft, müssen wir erst einmal wissen, wo wir uns bezüglich der Frage nach einem Maß gedanklich aufhalten und aus welcher Geschichte des Denkens ein solcher Aufenthalt erwachsen ist. Wir müssen uns selbst fragen, in welcher Zeit und an welchem geschichtlichen Ort wir eigentlich leben. Eine sehr vorläufige Antwort auf diesen Fragenhorizont könnte zunächst folgendermaßen lauten: Derzeit befinden wir uns in der digi­ talen Moderne; einem Zeitalter der umfassenden Standardisierungen der Lebens- und Arbeitswelt, der autonomen Algorithmen, der smar­ ten Geräte und miniaturisierten Computer, der künstlichen Intelli­ genz unter dem Verdikt eines totalen Überwachungskapitalismus, der die seit 1789 von den Griechen wiederentdeckte und mühsam erkämpfte Demokratie in Europa und in den westlichen Staaten vor

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Einleitung

einer ihrer größten Herausforderungen stellt.1 Überdies leben wir in einer Zeit, in der sich die vom Menschen vielfach ausgebeutete und vernutzte natürliche Umwelt und Lebenswelt in einer globalisierten Zivilisation zurückmeldet. Dies zeigt sich an einem beschleunigten Klimawandel, aber auch anhand der Entwicklung von riskanten Pan­ demien. Die rasche Verbreitung des Corona-Virus in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts macht dies auf bedrückende Weise deutlich. Dabei versuchen die Menschen den Problemen, die sie vielerorts selbst geschaffen oder zu verantworten haben, mit ihrer technischen Errungenschaft der Digitalisierung Herr zu werden. Mit möglichst vielen Daten, präzisen Algorithmen und einer exakten Berechnung der bekannten Variablen suchen sie derzeit die Lösung für Krisen jeglicher Art. Die Menschheit der späten Moderne begegnet den Problemen unserer Welt also hauptsächlich kalkulierend und obser­ vierend. Von all diesen Phänomenen können wir nur sagen, dass sie ohne Beispiel sind.2 Aber diese Beispiellosigkeit fußt dennoch auf einer geschichtlich gewachsenen Tradition, die die totale Datenkontrolle erst möglich macht, die jeder beklagt, die aber stillschweigend von der Mehrheit hingenommen wird. Aus diesem geschichtlichen Ver­ lauf erwächst die allmähliche Homogenisierung sämtlicher Lebens­ Wir belassen es zunächst bei einer groben Einschätzung. Sie muss uns anfangs als Aufriss des in dieser Arbeit zu diskutierenden Problems genügen. Wir verweisen stattdessen nur exemplarisch auf einen detaillierten, vielschichtigen und diskutie­ renswerten »[…] Versuchsballon zur Diagnose der gegenwärtigen Lage der Gesell­ schaft […]«, den Dirk Baecker zu diesem Fragehorizont vor nicht allzu langer Zeit ausgearbeitet hat. Vgl. Dirk Baecker, 4.0. oder Die Lücke die der Rechner lässt, Leipzig: Merve 2018, S. 11; S. 14ff. Alternativ dazu legt Harald Welzer eine noch drastischere Einschätzung des digitalen Zeitalters vor, die er sogar unausweichlich mit einer Ent­ demokratisierung unserer Gesellschaft verknüpft. Er begründet dies mit dem Umstand, dass die digitale Logik und ihre weltweit vernetzte observierende Techno­ logie zur systematischen Selbstentmündigung der sie affirmierenden oder sich zu ihr indifferent bzw. besinnungslos verhaltenden Bürger führten. Den Grund sieht Welzer in der sukzessiven Zersetzung der Privatheit als Grundsäule der Demokratie durch die alles berechnende panoptische Tendenz der smarten Technologie. Vgl. Harald Welzer, Die smarte Diktatur. Der Angriff auf unsere Freiheit, 3. Aufl., Frankfurt am Main: Fischer, 2016, S. 114f. Vgl. dazu Colin Crouch, Postdemokratie, übers. Nikolaus Gramm, 13. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp 2017 (orig. 2003). 2 Auf genau diesen Umstand hat Shoshana Zuboff in ihrer Deskription der Gegen­ wart der digitalen Moderne hingewiesen, die sie als Zeitalter des »Überwachungska­ pitalismus« deutet. Vgl. Shoshana Zuboff, Das Zeitalter des Überwachungskapitalis­ mus, übers. v. Bernhard Schmid, Frankfurt: Campus 2018, S. 27ff. 1

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bereiche und die daraus folgende Reduktion dieser auf quantitative, berechenbare und damit speicherbare und austauschbare Einheiten.3 Zeitgleich sorgt diese Einebnung in das Gleichförmige und Einheitli­ che dafür, dass unser Planet, der im Zuge dieser Homogenisierung als brutal ausgebeuteter Rohstoffproduzent immer deutlichere Rück­ meldungen evoziert, buchstäblich nicht mehr lange vermag, uns ein angenehmes Klima zum Leben zu schenken.4 Hier handelt es sich um eine Situation, die ebenso ohne Beispiel in der Geschichte der Menschheit ist, da sie nicht lokal, sondern global auftritt. Obwohl auch diese Situation aus einer geschichtlichen Genese in eine Zukunft hinausweist, gibt es nun allerdings einen Umschlag, der es uns nicht mehr ohne Einschränkung erlaubt, Analogien und Exempel aus der Vergangenheit für die Planung der Zukunft nach alten Maßstäben anzuwenden. Die alten Kategorien, die wir aus der sogenannten geschichtlich überlieferten metaphysischen Tradition nach der post­ modernen Wende noch beibehielten, versagen. Trotz aller Optionen der Kalkulation, der Kontrolle über präzise Informationen, exakte Daten und Algorithmen, die sogar die menschliche Intelligenz simu­ lieren können, bleiben die geschichtlich notwendigen Entscheidungen in der Ausführung im Wesentlichen chaotisch und aktionistisch. Alles scheint darauf hinauszulaufen, dass der Mensch paradoxerweise die metaphysisch konnotierten Kategorien der Abstraktion und Kalkula­ tion deswegen nicht mehr zur Bewältigung der Probleme anwenden kann, weil sich die Rationalität dieser Metaphysik in Form modernster Technologien selbst als Betäubung und Unterminierung der mensch­ lichen Denk- und Entscheidungskraft enthüllt. Dies lässt sich an einigen Beispielen in unserem frühen 21. Jahr­ hundert aufzeigen. In der gegenwärtigen Corona-Pandemie verfügen wir über eine exakte Datenerhebung durch die Gesundheitsämter und über eine präzise Virologie und Biotechnologie. Wir verfügen über autonome Algorithmen, die die Gesundheit der Bevölkerung per 3 Günter Seubold hat diesen Zustand der überall um sich greifenden homogenisie­ renden Vereinheitlichung mit dem Begriff Uniformierung als blinden Fleck des neu­ zeitlichen Denkens und seines bis heute ausgreifenden Technikverständnisses gefasst. Vgl. Günter Seubold, Heideggers Analyse der neuzeitlichen Technik, Freiburg: Alber 1986, S. 63. 4 Vgl. Joachim Schnellhuber u. Stefan Rahmstorf, Der Klimawandel: Diagnose, Pro­ gnose, Therapie, 8. Aufl., München: Beck 2018; vgl. Gerhard Berz, Wie aus heiterem Himmel? Naturkatastrophen und Klimawandel; was uns erwartet und wie wir uns darauf einstellen sollten, München: DTV 2010.

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Mobilfunk-Applikation überwachen und messen können. Dennoch wirken das Denken und Handeln des einzelnen Bürgers, der Wirt­ schaft und der Politik, trotz aller Statistiken, Geräte, Gadgets und hochauflösender Kalkulation und digitaler Berichterstattung in Echt­ zeit, diffus und hilflos. Seit Jahren liefern uns die Naturwissenschaften mit modernster Messtechnik, Datenerhebungen und Computersimu­ lationen umfassende Informationen zum Klimawandel, die durch das weltweite Internet in alle Winkel der Erde vermittelt werden. Aber das lokale und globale Handeln bleibt sehenden Auges kon­ trafaktisch, ohnmächtig, widersprüchlich und besinnungslos. Statt einer Besserung des Klimas erleben wir heute das Gegenteil. Trotz einer genau bemessenen Datenlage durch die Wissenschaft und der entsprechenden Bildung an den Schulen und Universitäten, sehen wir sogar noch eine immer weiter zunehmende Vernichtung von Regenwald, eine überbordende Versiegelung von Landstrichen und das massive Aussterben von Arten. Die Bildung wird heute durch einen gewaltigen bürokratischen Apparat, durch quantitativ messbare, kompetenzorientierte Opera­ toren, einem ebenso kompetenzorientierten Schulunterricht, engste Schulcurricula und Bewertungsbögen von mathematisch-diskreter Natur in Leistungsmessungen vorangetrieben, um Standards der Bildung mit Hilfe digitaler Technik maximal abzusichern. Dennoch nimmt die Lesefähigkeit der Schülerinnen und Schüler von Jahr zu Jahr ab, schwinden das Allgemeinwissen und die kognitiven Fähig­ keiten der Studierenden in den Bereichen Mathematik, Natur- und Geisteswissenschaften. Junge Menschen scheitern zunehmend an den Anforderungen des Alltags, in der Ausbildung und im Berufsleben. Noch bedenklicher scheint es, dass wir zwar mit digitalen eduka­ tiven Plattformen das erste Mal in der Weltgeschichte ein globales Wissen generieren, zeitgleich aber die größte Verbreitung von Falsch­ nachrichten durch kriminelle Vereinigungen, extremistische Grup­ pierungen, unseriöse Berichterstattung in gewissen Medien, aber auch durch die etablierte Investitionswirtschaft und durch gewisse Strömungen in der Politik erleben. Das Resultat ist, dass die wohl größte Errungenschaft der Aufklärung, nämlich die Wiedereinfüh­ rung demokratischer Verhältnisse in die Gesellschaft seit 1789, heute durch Trolle und Nachrichtenbots, die antiwissenschaftliche, antise­ mitische, rassistische, hetzende und verleumderische Falschnachrich­ ten aller Art in Bruchteilen von Sekunden verteilen und verbreiten, massiv erodiert wird.

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Auch können wir weltweit sämtliche Wirtschaftsdaten einsehen, messen und kalkulieren. Dennoch wird an der Börse durch Algorith­ men ein Handel betrieben, der die meisten Menschen ärmer werden lässt und die Wenigen immer reicher – bar jeglicher Gesetze langfris­ tiger wirtschaftlicher Rationalität, zu deren Zweck Philosophen und Ökonomen eine weltweit kalkulierende Ökonomie doch ursprünglich vorantrieben und vordachten. Noch problematischer wird es, wenn wir mit Hilfe der überall verwendeten digitalen Technik erfahren, dass diese Technologie selbst riesige Mengen an Ressourcen verschlingt, die ihr gewaltiger globaler Rechenapparat, der durch unzählige Server auf dieser Welt Daten akkumuliert, transportiert und verteilt, sich ein­ verleibt. Diese kurze Skizzierung der Problembeispiele der globalen Überwachung, der Ausbreitung von Pandemien, des weltweit bedroh­ lichen menschengemachten Klimawandels, der Bildungskrise, der weltweiten Falschnachrichten, der Schere zwischen Armen und Rei­ chen in einem Datenkapitalismus sowie der Digitalisierung inne­ wohnenden ökologischen und ökonomischen Schwierigkeiten, zeigt bereits den Problembezirk an, um den es geht. Das Extrem einer Rationalität der Abstraktion, der Quantifizierung und Berechnung erscheint immer weniger als Lösung der Probleme der Menschheit. Vielmehr enthüllt sich dieses Extrem als einer der Hauptgründe für eine zunehmende Problemanreicherung, die zu den besagten Umschlägen und Zerwürfnissen in einer globalisierten Welt führt. Dabei drängt sich schon an den obigen Beispielen der Verdacht auf, dass eine extreme Rationalität den weltweiten Problem- und Krisen­ horizont, an dem wir Menschen und die Lebensformen auf unserem Planeten zunehmend leiden, noch weiter vertieft. Dies geschieht in der zirkulären Anwendung ihrer eigenen Kategorien auf sich selbst. Entsprechend wird die Frage virulent, inwiefern eine bis ins Extrem quantitativ messende und abstrakt rechnende Weltgesellschaft mit ihren dazugehörigen Technologien droht sich selbst – und damit auch viele ihrer kulturellen und sozialen Errungenschaften sowie ihren Wohlstand – durch einen in sich konsequenten logischen Kurzschluss zu zerlegen. Diese totale Rationalität, wie Silvio Vietta sie genannt hat, lässt sich in ihren Wurzeln bis in die Zeit der Ägypter, Phönizier und Pytha­

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goreer zurückverfolgen.5 Schon in ihren griechischen Anfängen waren diese Rationalität und ihre Auspizien durch eine Tendenz zum Homo­ genen und quantitativen Messen geprägt, auch wenn die geistigen Errungenschaften dieser Zeit in ihren quantitativen Einordnungen noch durch eine qualitative Rangordnung überlagert wurden.6 Knapp zweitausendachthundert Jahre hat sich diese Rationalität verfestigt und die qualitative Ordnung hat deutlich an Einfluss verloren. Die Tendenz zum Homogenen, Abstrakten und Quantitativen herrscht seit der Neuzeit zunehmend vor. Wir wollen dieses Extrem der maximalen Berechnung und quantitativen Bemessung, aufgrund sei­ ner kontrafaktischen und paradoxen Auswirkungen auf die heutige Lebenswelt, mit dem Begriff der Maßlosigkeit bezeichnen. Verdeut­ lichen wir diese Maßlosigkeit noch einmal kontextuell mit unseren oben genannten Beispielen. Eine so maßlos gewordene Gesellschaft ist heute durch die bereits benannten intelligenten Algorithmen imstande, fast alles unter ihr berechnendes Diktat des allgegenwärti­ gen quantitativen Bemessens zu bringen. Dabei sieht es danach aus, als ginge die Mehrheit der Menschheit und ihre Lebenszeit in der Berechnung einiger Weniger auf, die davon einen Vorteil haben – ja sogar scheinbar von ihr maßlos profitieren, so dass diese Maßlosigkeit des allgegenwärtigen Vermessens schließlich »[…] zur Normalität

Vgl. Silvio Vietta, Rationalität – Eine Weltgeschichte. Europäische Kulturgeschichte und Globalisierung, München: Fink 2018; vgl. ders., »Etwas rast um den Erdball«. Martin Heidegger: Ambivalente Existenz und Globalisierungskritik, München: Fink 2015, S. 16. 6 Auf diesen Unterschied macht Seubold aufmerksam, der darauf hinweist, dass im Mittelalter ein Fluss noch eine respektvolle Partnerschaft zwischen dem Menschen und der Natur bedeuten konnte, wohingegen der Fluss heute zumeist nur noch auf seine Wasserdruckleistung reduziert werde. Vgl. Seubold, S. 74ff. Es ist hinzuzufügen, dass im theologisch geprägten Mittelalter in allen drei großen monotheistischen Reli­ gionen der eine Gott die metaphysische Instanz bildete, die dafür sorgte, dass die Welt nicht nur als Ressourcenlager, sondern auch als Schöpfung Gottes angesehen wurde, an der nicht zu freveln war. Jede Maßlosigkeit hätte hier eine Versündigung an Gott selbst bedeutet. Es ist daher kein Zufall, dass auch noch heute in der digitalen Moderne, in der diese metaphysische Instanz in einer multitraditionellen und wirtschaftsorien­ tierten Weltgesellschaft in den Hintergrund zu treten droht, die Vertreter der drei monotheistischen Religionen unermüdlich auf die Wahrung der Schöpfung aufmerk­ sam machen. Es wäre zu fragen, ob nicht gerade hier eine andere Weise des Denkens in der Lage wäre, diese Forderung wieder auf gewandelte Weise fraglich werden zu lassen. 5

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erhoben […]« wird.7 Die Berechnung der Welt hat ein Extrem erreicht, das kaum noch überbietbar zu sein scheint. Paradoxerweise droht bei dieser totalen Berechnung jedes Maß verloren zu gehen und der tatsächliche geschichtliche Ort der Welt wird trotz der besagten bedenklichen Rückmeldungen, die uns die Wissenschaftler jeden Tag mit Statistiken versuchen vorzurechnen, nicht in Achtung genom­ men, weil die Kosten-Nutzen-Rechnung in Politik und Wirtschaft die nivellierende Gegenrechnung dazu bildet. Das Ganze wird noch von radikalen Gruppierungen und zwielichtigen Interessengruppen flankiert, die mit gezielten Falschinformationen im pseudo-rationalen Gewand ihre Blasen von Anhängern generieren und ebenso mit einem Kosten-Nutzen-Kalkül auf die Irrationalität der Menschen spekulieren. Colin Crouch definiert diese hyperbolische Rationalität der Massenmanipulation, mit einem Begriff aus dem Merkantilismus, als asymmetrische Information.8 Wir könnten daher auch maßlose oder unmäßige Information dazu sagen, die mit rationalen Mitteln auto­ destruktiv gegen die Rationalität arbeitet. Ontologisch scheint also die Rationalität in ihrer überall quantitativ messenden Maßlosigkeit vor sich selbst zu versagen, weil sie sich in ihrer wechselseitigen gegenrechnenden Verrechnung noch an sich selbst verrechnet. Silvio Vietta hat dies an der einseitigen ontologischen Ausrichtung der metaphysischen Tradition der Rationalität und ihrer geschichtlichen Genese festgemacht und ihr einen »seinsgeschichtliche[n] ›Sünden­ fall‹“ attestiert.9 Es herrscht in der Tat eine Maßlosigkeit in der Berechnung und Berechenbarkeit vor, die Warnende wie Gewarnte, Produzierende wie Konsumenten gleichsam blind vor diesem Sündenfall der totalen Standardisierung und Homogenisierung bleiben lässt, die sie ermög­ licht hat. Eine Art von Besinnungslosigkeit, die sich als blanker Aktionismus geriert, dominiert augenscheinlich unser Denken. Die­ ser Aktionismus wiederum erweckt den Anschein, als sei er in voller Beherrschung sämtlicher homogener Standards und quantitativer Maße, jedoch am Ende in vielfacher Hinsicht ohne Maß.10 Eine solche Frank Engster, Das Geld als Maß, Mittel und Methode. Das Rechnen mit der Identität der Zeit, Berlin: Neofelis 2014, S. 730–731. 8 Vgl. Colin Crouch, Die bezifferte Welt. Wie die Logik der Finanzmärkte das Wissen bedroht, übers. v. Frank Jakubzik, Berlin: Suhrkamp 2017, (orig. 2015), S. 11ff. 9 Vgl. Vietta, S. 33. 10 Eine solche Maßlosigkeit impliziert keineswegs nur ethische, soziale, religiöse, ökologische oder öknomische Komponenten. Vielmehr greift eine derartige Maßlosig­ 7

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Einleitung

Einschätzung der Weltsituation, die von den Maßen der Berechnung in die Maßlosigkeit umzukippen droht, scheint nicht gerade viel Anlass zur Hoffnung zu bereiten. Man mag diese Darstellung einer überbordenden und maßlos gewordenen Rechengesellschaft für überspitzt, für völlig übertrieben oder für Schwarzmalerei halten; man kann sie bejahen, sie mit tref­ fenden Gründen vehement zurückweisen oder eine moderatere Sicht einnehmen, als es hier geschehen ist. Wie auch immer man sich hier selbst gegenüber dieser bewusst provokant formulierten Einlas­ sung positioniert, so sprechen einige der genannten Probleme und Umstände doch für sich selbst und entbinden zumindest nicht vom Nachdenken über sie. Diese und andere Umstände in der digitalen Moderne lassen einmal mehr die entscheidenden Fragen aufwerfen: Wie wollen wir eigentlich in unserer Lebenswelt diesem Leben und dieser Welt gemäß sein? Gibt es noch einmal eine Besinnung, die der augenscheinlichen Maßlosigkeit unserer Zeit eine Grenze setzt und die Frage nach dem Maß selbst noch einmal grundsätzlich besinnt, so dass wir Menschen gemäß unseres eigenen Seins und dieser Welt leben können?

Thema und Thesen der Untersuchung Tatsächlich ist diese Problematik des Maßes im Aufriss zwischen Berechnung und Besinnung gar nicht so neu, wie sie zunächst scheint. Auch wenn sich seit den letzten einhundert Jahren viel verändert hat und der Klimawandel, die Corona-Pandemie und eine zuneh­ mend invasiver und ambivalenter werdende Digitalisierung diesen Problemhorizont zugespitzt haben, so können wir dennoch sehen, dass bereits Martin Heidegger in seiner Zeit von einem derartigen Fragenkonnex bewegt wurde – freilich in der Konstellation seines eigenen geschichtlichen Ortes in der ersten und frühen zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der u. a. von zwei Weltkriegen geprägt wurde. Auch Heidegger hat sich Zeit seines Lebens aus diesem Horizont heraus schon die Frage gestellt, ob die Besinnung oder die keit in vielerlei Hinsicht ineinander, so dass all diese attributiven Einteilungen immer schon zu kurz greifen und damit zu spät kommen. Ich enthalte mich daher an dieser Stelle eines vorschnellen Definitionsversuchs und weise auf die noch ausstehende Bedenklichkeit dieser Maßlosigkeit hin. Diese Bedenken und dieses Bedenken nehmen in dieser Untersuchung ihren Ausgang und ihren Durchgang.

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Thema und Thesen der Untersuchung

Berechnung den Menschen in seinem Sein bestimmen werde. Diese ersten Gedanken geben einen Anlass, noch einmal nach dem Maß und seinen Grenzen zu fragen. Gibt es vielleicht ein Maß, das ein anderes sein kann als das der Homogenisierung und Quantifizierung? Das Bedenken und damit das Besinnen des Maßes fordern dabei die Festlegung und Voreingenommenheit eines homogenisierenden Maßes der Berechnung heraus. Die Frage Heideggers, ob die Möglichkeit bestehe, noch einmal ein Maß für das Sein zu besinnen, ohne sich mit dem althergebrach­ ten homogenen Maß der Berechnung bequem zu machen, bleibt schon aus den oben genannten Gründen virulent. Wir behaupten zumindest, dass Martin Heidegger diesen Problemhorizont für seinen eigenen geschichtlichen Ort bedacht hat und dass dieser Problem­ bezirk ihn gewissermaßen subkutan, d.h. zwischen den Zeilen und im Hintergrund seines Denkens, bald direkt, bald indirekt, begleitet hat, als er sein Denken Zeit seines Lebens der Frage nach dem Sein unterordnete. Daher lässt sich folgende These vertreten: Heideggers Frage nach dem Sein geht mit einer erneuten Besinnung von dessen Maß einher. Dieses Maß ist in der hereinbrechenden Moderne, die Heideggers geschichtlichen Ort konstituiert, in der allmählichen Sta­ bilisierung und Erstarrung in den Maßstäben der Homogenisierung und in einer Maßlosigkeit der Berechnung aufgegangen. Diese Behauptungen bringen uns zu einer vorläufigen Hypo­ these: Wir glauben, dass Heidegger sich fast ein Leben lang mit dem Problem der Homogenisierung und mit dem rechnenden Denken sowie seinem konstitutiven Maßverständnis beschäftigt hat – und zwar seit seiner Dissertation bis zur seiner späten Technikkritik, die zugleich eine Kritik Heideggers am sogenannten »rechnenden Denken« ist. Mit dem Begriff »rechnendes Denken« meinte er das an Kalkulation und Kombinatorik orientierte weltweit gewordene Planen und Organisieren von nahezu allen Lebensbereichen. Die­ ses kalkulatorische Extrem erkennt Heidegger im Zuge einer ganz bestimmten Nuancierung und Verfestigung innerhalb der metaphysi­ schen Tradition. Überdies sind wir der Auffassung, dass die Frage nach dem Sinn und der Besinnung sich ebenso vom Anfang bis zum Ende seines Denkens durchhält. Dabei wird vermutet, dass diese Frage ein anderes Maß der Offenheit und der Begrenzung der Seinsfrage freigibt, als dies bisher unter einem homogenen und kalkulatorischen Maß und dessen Maßstab möglich war. Dieses Maß habe, laut Heidegger, in der

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Einleitung

Geschichte der Metaphysik bisher dem Seienden den Vorschub vor dem Sein selbst gegeben. Wir wollen aber nicht nur das Gewicht auf Heideggers Kritik eines Maßes der Berechnung legen. Auch wollen wir weder gegen noch für Heideggers Denken Partei ergreifen. Jeder Heideggerianismus oder Anti-Heideggerianismus verbietet sich, wenn ernsthaft etwas an Heideggers Denken aufgezeigt werden soll. Ebenso ist uns nicht daran gelegen, eine rein systematische Betrachtung des Maß-Begriffs anhand Heideggers Texte durchzuführen. Vielmehr wollen wir untersuchen, wie sich Heideggers Zugang zur Frage nach dem Sein in Bezug zu einem Maß in der Durchdringung des Horizonts von Besinnung und Berechnung im Laufe seines Werkes entwickelt. Unter Berücksichtigung unseres spätmodernen Problem­ horizonts, den wir oben mit Hilfe des Begriffs der Maßlosigkeit innerhalb der maximalen quantitativen Bemessung und Vermessung sämtlicher Lebensbereiche in unserer Zeit erläutert haben, ist in den Blick zu nehmen, wie sich die Relation von Maß und Sein bezüglich der Möglichkeiten von Besinnung bzw. Berechnung im Durchgang seines Werkes entfaltet. Es handelt sich also vornehmlich um eine werkim­ manente Untersuchung, die mit einer hermeneutischen Methodik die Grenzen und Reichweiten dieser Konfiguration und dieser Transfor­ mation selbst beleuchten soll.11 Daher ist es entscheidend, wie sich diese Konfiguration zunächst verstehen lässt, um zumindest eine grobe Ahnung zu haben, wel­ che Zusammenhänge überhaupt für diese Untersuchung eingegrenzt werden können. Wir applizieren dazu eine etymologisch orientierte Hermeneutik der vorher immer wieder genannten vier Begriffe Besin­ nung, Berechnung, Maß und Sein, wobei wir uns auf einschlägige, schon geleistete Forschungsergebnisse berufen werden.

Etymologisch orientierte Hermeneutik der Begriffe Besinnung, Berechnung, Maß und Sein Wenden wir uns zunächst dem Begriff der Besinnung zu. Unter Besinnung verstehen wir umgangssprachlich und im religiösen Kon­ 11 Vgl. die Bemerkungen zur Methodik und Zugangsweise weiter unten in dieser Ein­ leitung.

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Etymologisch orientierte Hermeneutik der Begriffe Besinnung, Berechnung, Maß und Sein

text sowohl die Erinnerung und das Durchdenken des Heiligen als auch die stille Bezugnahme zum Wort und Auftrag Gottes bzw. unseren kontemplativen Versuch zur Einsicht in den Kosmos und die Schöpfung. In abgeleiteter Hinsicht besinnen wir uns auf unsere Handlungen, was wir gut und richtig gemacht haben, was Harmonie herbeiführte, was nicht schön, was schlecht oder falsch gewesen war. Philosophisch gesehen ist der Begriff dem Alltagsverständnis nicht völlig entfremdet, aber er ist durchaus anspruchsvoller. Besinnung ist die Aktivität einer Haltung: die Besonnenheit, die bei den Griechen ύn, wörtlich »gesunder Sinn«, heißt und die den seiner Sinne befähigten Menschen der Selbstbeherrschung und der Vernunft meint.12 Im Historischen Wörterbuch der Philosophie wird außerdem die damit verbundene »[…] maßbewusste Selbstbeschränkung gegen Götter […]« hervorgehoben.13 Bei den Griechen, vor allem bei Platon, sind die Besinnung und die Besonnenheit keine trennscharfen Begriffe; sie stehen mit der Erkenntnis und der Selbsterkenntnis der Tugendordnung und dem Gesamtkosmos in Verflochtenheit. Der Begriff zählt bei Platon über­ dies zu den vier Kardinaltugenden und wird später in der Scholastik vor allem als Weise der Selbstbeherrschung (temperantia) und in der deutschen Schulphilosophie als Mäßigkeit gedeutet.14 Bei Aristoteles wird die Besonnenheit bzw. die Besinnung auf die persönliche Haltung zurückbezogen; hier ist die Besonnenheit vorwiegend ethisch konno­ tiert und als das rechte Ermessen des Maßes zwischen den Extremen zu verstehen.15 Herder sieht im Rückblick auf Aristoteles überdies in der Besonnenheit die Haltung des Besinnens, die zur Abstandnahme befähigt und damit die Grundlage und Bedingung der Möglichkeit der Sprache bildet.16 Arnim Regenbogen notiert in seinem Wörterbuch der philosophi­ schen Begriffe aus diesem Grund zur Besinnung und zu ihrer Haltungs­ weise, der Besonnenheit, die auf Griechisch ύn heißt: »Über die zweite Bedeutung von sôphron, nämlich ›maßvoll‹, ›enthaltsam‹,

Vgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. Joachim Ritter, Bd. 1., A-C, Basel: Schwabe 1971, S. 848. 13 Vgl. ebd. 14 Vgl. ebd., S. 849. 15 Vgl. ebd., S. 848. 16 Vgl. Franz-Peter Burkhard, »Besonnenheit« in: Metzler Lexikon Philosophie, hrsg. v. Peter Prechtl u. Ders., 3. Aufl., Stuttgart: Metzler 2008, S. 74. 12

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Einleitung

behandelt die gesamte Tradition B. als Tugend der Mäßigung.«17 Besinnung und Besonnenheit sind somit Begriffe, die sich von einem Denken des Maßes nicht trennen lassen. Vielmehr beruhen diese Worte auf einer alternativen Tradition des Maßverständnisses, das sich nicht einfach auf die Qualität im Unterschied und in gleichzeitiger Relation zur Quantität reduzieren lässt. Das ist deshalb schon nicht der Fall, weil die Besinnung als Aktivität der Besonnenheit ganz andere Fragen und Antworten, andere Begriffe und philosophische Disziplinen konnotiert, als die schlichte Dichotomie von Qualität und Quantität erlaubt. Die Reduktion auf eine solche Dichotomie würde einen Umschlag von der Qualität zur Quantität und umgekehrt implizieren und damit das Vorurteil einer Abhängigkeit, als auch einer Gebundenheit in der Weise des reflexiven Verhältnisses verfestigen. Da die Besonnenheit als Besinnung, sowohl umgangssprachlich als auch philosophisch betrachtet, in ihrer geschichtlichen Herkunft eine transitive, eine interrogative als auch zugleich eine ausbalancierende Konnotation involviert, verbietet sich hier die unreflektierte Gleich­ setzung der Besinnung und Besonnenheit mit einem qualitativen Attribut eines quantitativen Verhältnisses. Es scheint sich bei der Besinnung vielmehr um eine Performance des Maßhaltens und bei der Besonnenheit um ein performatives Maß zu handeln, das zu halten ist. Wir werden in dieser Arbeit zeigen, dass auch Heidegger von ähnlichen Voraussetzungen in seiner Frage nach einem Maß bezüglich des Seins ausgeht und daher die Besinnung und Besonnenheit in einer ähnlichen Hinsicht deutet. Unter Berechnung verstehen wir im Alltag die Kalkulation von quantitativen Einheiten oder das mathematische Denken als Reduk­ tion und Abstraktion komplexer Zusammenhänge auf arithmetische Betrachtungsweisen, z.B. zugunsten ökonomischer Gesichtspunkte. Heute verwenden wir Rechner, d.h. Computer, um diese Aufgaben für uns durch geeignete und vorgeschriebene, d.h. programmierte, Algorithmen zu übernehmen. Einen Menschen nennen wir berech­ nend, wenn er vorwiegend kombinatorisch und kalkulierend Vorteile und Nachteile nach dem Prinzip der vornehmlich für ihn eigenen Nützlichkeit abwägt. Philosophisch und etymologisch betrachtet wird das Verständnis von Berechnung und Rechnung aus dem Wortfeld der lateinischen Begriffe rationem und reddere, calculare und computare 17 Arnim Regenbogen, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Hamburg: Meiner 2013, S. 103.

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Etymologisch orientierte Hermeneutik der Begriffe Besinnung, Berechnung, Maß und Sein

hergeleitet. Diese sind wiederum geschichtlich mit dem griechischen Wort ίϑi konnotiert. Das deutsche Wort bedeutet ursprüng­ lich »Sammlung« und »Ordnung«. Es wird nur am Rande mit »Den­ ken«, »Überlegen« und »Schließen« assoziiert und steht in seiner Semantik damit dem Griechischen näher als dem Lateinischen.18 Rechenverfahren und -methoden sind bereits seit den Sumerern, Babyloniern und Ägyptern hinlänglich bekannt. Eine erste Rechentheorie bzw. eine Philosophie des Rechnens entwickelt, soweit wir wissen, erst Pythagoras, der glaubt, durch die Ordnung der Zahlen auch eine Ordnung der Dinge einsehen zu können. Bereits hier werden konkrete Dinge mit abstrakten Zahlen zumindest verknüpft, wenn nicht gleichgesetzt.19 Euklid entwickelt in seinen Elementen schließlich eine Art Algorithmus-Lehre. Hier werden das Rechnen und Berechnen als Aufweisung von Zahleigen­ schaften interpretiert. Aristoteles hingegen sieht in der Berechnung lediglich eine nützliche Technik, in der man aus pragmatischen Gründen geübt sein sollte.20 Aus dem Rechnen entwickelt sich im Hellenismus die logisch-mathematische Technik der Logistik; erst im Spätmittelalter und seit der Renaissance etabliert sich die Lehre vom Kalkül unter dem Einfluss arabischer Mathematik und wieder aufgefundener griechischer Texte. Raimundus Lullus, Nicolaus Cusa­ nus und Giordano Bruno werden diese Wandlung des Rechnens zum Kalkül für das Zeitalter der Aufklärung vorbereiten. Es wird jetzt nicht mehr nur schlicht mit quantitativen Größen gerechnet; die Rechnung wird nun systematisch ökonomisiert und geht in die, bei den Griechen schon vorangelegte, Symbolmanipulation über, in der das noch an Konkretion gebundene quantitative Maß nun zu einem symbolischen Maß und zu einer messbaren Größe abstrahiert wird. Dies geschieht vornehmlich durch F. Vietas Konzept der »logistica speciosa« und durch Descartes’ Umdeutung logischer und mathematischer Termini in dessen Regula.21 Leibniz wird überdies, wie die antiken Pythagoreer vor ihm, soweit gehen, dass er die reale Welt mathematisch, d.h. als gigantische Rechenoperation qua Kalkül, interpretiert.

Vgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. Joachim Ritter, Bd. 8., R-Sc, Basel: Schwabe 1992, S. 214. 19 Vgl. ebd., S. 215. 20 Vgl. ebd. 21 Vgl. ebd. 18

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Einleitung

Diese metaphysische Begründung des Kalküls wird von George Boole und Gottlob Frege als mathematische Logik weiterentwickelt. Ersterer formuliert eine Logik, die auf binärer Berechnung von Ope­ ratoren aufbaut, die im Vorfeld auf quantitative eindeutige Maße reduziert wurden. Frege wird hingegen eine Logik der Funktion begründen.22 Während Leibniz noch im Wettstreit mit Newton eine mechanische Rechenmaschine konstruiert, geht Charles Babbage soweit, dass er sogar die Operationen der Rechenmaschine auf gespei­ cherten Daten aufbauen will. Der Schritt von der Rechenmaschine zum Computer ist vorgezeichnet. Bei dieser Entwicklung des Rech­ nens und Berechnens und ihrer Fundamentierung in die Operationen und Handlungen der Gesellschaft durch die geschaffenen Fakten der Rechenmaschinen und der ökonomischen Ansprüche einer Maschi­ nenindustrie, gibt es auch zeitgleich wirkmächtige philosophische Positionen gegen das überhandnehmende Rechnen und die dafür definierten Maßeinheiten. Schopenhauer etwa gehört zu diesem Kreis der Skeptiker. Er sieht beispielsweise in der repetitiven Operation des Rechnens eine der niedrigsten Aktivitäten des Geistes.23 Im Ausgang von Alan M. Turings Überlegungen zur universa­ len Rechenmaschine wird der erste Computer von Konrad Suse in den 1920er Jahren entwickelt. 1956 werden erste Überlegungen zur künstlichen Intelligenz (K.I.) und sie steuernde Algorithmen formu­ liert. Letztere bilden heute das Leitmuster einer mit dem Internet verknüpften und mit smarten Geräten weltweit operierenden sowie einer auf Rechenleistung fußenden Kommunikationsgesellschaft. In der ersten und zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt Heidegger unabhängig von Schopenhauer seine eigene Kritik des letztlich auf quantitativen Maßen fundierten Rechnens bis ins Extrem der Informatik als Leitdisziplin einer Informationsgesellschaft. Diese Kritik werden wir in ihrer Genese herausarbeiten. Wir sahen an den Begriffen der Besinnung und der Berechnung, dass diese nicht unabhängig vom Maßbegriff zu betrachten sind. Was verstehen wir im Kontext unserer Untersuchung zu Heidegger unter dem Begriff Maß? Wir sprechen in der herkömmlichen Spra­ che vom Maß, wenn wir eine Entität meinen, die mit homogenen und vereinheitlichten Attributen versehen wird. Somit kann dann diese Entität in ein Kategoriensystem eingepflegt und vereinheitlicht 22 23

Vgl. ebd., S. 217. Vgl. ebd., S. 218.

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werden. Die Aktivität, die gemeinhin für diese Vereinheitlichung und Homogenisierung benötigt wird, ist das abstrahierende Messen einer konkreten Entität, wofür wir standardisierte Messwerkzeuge verwenden. Wir messen mit dem Lineal, wir trinken die Maß Bier, wir nehmen die Wasserwaage als Maß. Zugleich ist das Maß kraft seiner quantitativ bestimmten Homogenität eine Norm, ein Standard, ein Maßstab. Hier greift das Rechnen mit dem Maßstab des Quanti­ tativen, Abstrakten, Erkenntnistheoretischen und Pragmatischen ins Qualitative, Konkrete, Ethische und Praktische über. Dies zeigt sich prominent an der Zuweisung eines Wertes auf einen Gegenstand. Das Maß einer Entität wird zunächst auf den Wert reduziert und diese Interpretation bestimmt dann die Weise, wie wir die Welt überhaupt deuten. Wir sprechen bald vom richtigen Messwert, bald vom rechten Maß des jeweiligen Wertekanons – etwa gemäß den »Werten Euro­ pas« oder gemäß den demokratischen Werten.24 Dem Geldschatz, den wir in homogenen quantitativen Einheiten der Geldmünzen bzw. einer Geldwährung messen können, schreiben wir einen qualitativen Wert zu. Dies ist die Kaufkraft als Mehrwert oder als Gewinn. Ab dem 16. Jahrhundert etwa wird das quantitative Maß des normativen Werts allmählich und schleichend von der Ökonomie auf die Ethik übertragen. Plötzlich gibt es statt guter Sitten Normen und statt einer Haltung Werte, die wir vertreten, ohne dass diese ursprünglich quantitativen Begriffe mit ihrer dichotomischen Gegenseite – der Qualität – die alten Begriffe der Ethik völlig ablösen. Diese sich heimlich durchsetzende Abstraktion, Homogenisie­ rung, Quantifizierung, Normierung und Standardisierung genuin lebensweltlicher Bereiche durch den Wertmaßstab hat Heidegger von Anfang an stark irritiert. Wir werden uns in dieser Arbeit ansehen, wie er versucht, aus diesem Korsett, das im frühen 20. Jahrhundert bereits sehr wirkmächtig ist, denkerisch auszubrechen. 24 Franziskus von Heereman hat die Gefahr der einfallenden homogenisierten Mess­ werte in ethische und politische Kontexte am Beispiel der »Werte« Europas unter Rückgriff auf den kantischen Zweck- und Würdebegriff entlarvt und daran erinnert, dass alle Menschen Zwecke an sich sind und nicht mit dem »[…] Treibsand aus Wer­ tigkeiten, die gegeneinander verrechnet werden können und deren Hierarchie ins Belieben gestellt ist […]«, verwechselt werden dürfen, sondern durch »Menschen­ würde« in ihrer Freiheit ausgezeichnet sind. Franziskus von Heereman, »Menschen­ würde. Warum Werte nicht das Fundament Europas sein können« in: Heimat Europa? Hrsg. v. Martin W. Ramb u. Holger Zaborowski, Göttingen: Wallstein 2019, S. 145– 146.

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Einleitung

Doch wie steht es auf philosophischer Ebene mit dem Maßbegriff selbst? Der Maßbegriff hat seine Wurzeln ebenso im Griechischen wie die Besinnung, die Besonnenheit, die Berechnung und das Rechnen: έn, ές und ός assoziieren dort das Maß mit der Mitte. Im Lateinischen (mensura modus, moderatio, modestia, temperantia, discretio) und Französischen (mesure, modération, tempérance), im Englischen (measure, moderation) und im Alt- und Mittelhochdeut­ schen (mâzu und mâze) sehen wir die Verflochtenheit und Analogie mit der griechischen Wurzel und zugleich die Mannigfaltigkeit der Bedeutung des Maßbegriffs, der sich offensichtlich schon aus etymo­ logischer und aus semantischer Hinsicht nicht auf das Quantitative reduzieren lässt. In Joachim Ritters Historischem Wörterbuch der Philosophie wird deutlich, dass der Maßbegriff früh ethisch konnotiert und zugleich mit erkenntnistheoretischen und kosmologischen Einsichten verwoben wird: »Das M. ist Ausdruck der griechischen Auffassung von Tugend par excellence, in der sich die Sicht des schönen wohlgeordneten Alls mit der Lehre von der rechten Ordnung der Seele und der Polis zur harmonischen Einheit verbindet.«25 Das Maß als Mitte wird dabei als das Beste verstanden, wobei dies nicht mit einer faden, angepassten Mittelmäßigkeit zu verwechseln ist, sondern mit autarker Entschei­ dungskraft, die seit Heraklit mit der Besonnenheit assoziiert wird. Die Besonnenheit ist bei Heraklit dabei die höchste aller Tugenden, die es dann Aristoteles später erlaubt, ein Maß zwischen einem Zuviel (ὑή) und einem Zuwenig (ἔiiς) zu denken.26 Wir können dabei auch maßlos handeln, indem wir das Besinnen unterlassen und uns dadurch vermessen. Das Maß steht dabei der Hybris, der aus ihr resultierenden Scham (ἰώς) und Schuld bzw. Sünde (ἁί), gegenüber, die auch den Verlust des kosmischen Gefüges mit sich zieht, das noch über die Stellung in der Polis hinausgeht. Dies manifestiert sich in den Aussprüchen berühmter griechischer Denker dieser Zeit: »Nichts im Übermaß«, »Die Mitte ist das Beste«, »Das Maß ist das Beste«.27 Mit den Sophisten kommt es zu einer Transformation dieser Verflechtung. Das Maß wird nun einer Art proto-konstruktivistischen Auffassung beigeordnet. Protagoras Vgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. Joachim Ritter, Bd. 5., L-Mn, Basel: Schwabe 1980, S. 807. 26 Vgl. ebd. Vgl. DK [11], 64–65; 94. 27 Vgl. ebd.

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Etymologisch orientierte Hermeneutik der Begriffe Besinnung, Berechnung, Maß und Sein

bestimmt nämlich den Menschen als Maß der Dinge (Homo-men­ sura-Satz). Kallikles und Thrasymachos opponieren gegen die früh­ griechische Tradition, indem sie Nietzsches Haltung vorwegnehmen und propagieren, dass das Maß sowie das Gesetz nur Erfindungen der Schwachen seien, um die Starken an der Ausführung und Durchset­ zung ihrer Begehrlichkeiten und Ansprüche zu hindern. Nach Kallik­ les und Thrasymachos sind der starke Hedonist und der dominante Tyrann in ihrem Großwerden die Glücklichen und Tugendhaften. Diese Pervertierung des Maßes kann als eine Art Rebellion gegenüber einer wichtigen Komponente des Maßes verstanden werden: der Grenze. Deren Durchbrechen kann nach Jaspers entweder eine Rück­ kehr zur Existenz oder ein Zerbrechen der Existenz bedeuten. Auch bei Platon und Aristoteles wird die Grenze als Umschlag gedeutet, deren Überschreiten mit einem gewissen Risiko verbunden ist und ehedem selbst im Bereich des Kosmologischen die Strafe der Götter durch die Erinnyen nach sich zieht.28 Erneut meldet sich das Maß zurück, das beim Durchbrechen der Grenze im Zweifelsfall eine Anmaßung werden kann.29 Das Maßverständnis hat sich seit den Griechen gewandelt. Bezüglich des ehemals stark ethisch und kosmologisch konnotierten Maßverständnisses beobachten wir im Laufe der Jahrhunderte eine Verwandlung, von der wir bis heute eine zunehmende Reduktion des Maßes auf das Homogene, Quantitative und Normative verzeich­ nen können, das sich im Begriff des »Standards« widerspiegelt. Im Historischen Wörterbuch der Philosophie ist noch von einer »[…] folgenreiche[n] Aufwertung des M[aßes]« bei Platon und Aristote­ les die Rede.30 Hier ist das Maßvolle noch die Besinnung auf das Tugendhafte im Einklang mit dem Schönen, Guten und Wahren bzw. mit der Physis und der Polis. Im eben erwähnten Handbuch werden drei Ausfaltungen des Maßes differenziert, die sich seit der griechischen Philosophie abzeichnen: das ethische, ästhetische und erkenntnistheoretische Maß. Wir werden an dieser Stelle darauf ver­ zichten, den umfangreichen und gut recherchierten Artikel aus diesem

Vgl. Heraklit, 78, DK 22, B94. Vgl. Arnim Regenbogen, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Hamburg: Mei­ ner 2013, S. 272–273. 30 Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. Joachim Ritter, Bd. 5., L-Mn, Basel: Schwabe 1980, S. 807. 28

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Einleitung

Lexikon wiederzugeben.31 Entscheidend ist für uns, dass sich über den Hellenismus und über das Christentum hinweg bis zur Neuzeit in allen drei Ausprägungen eine Tendenz zur Angleichung abzeichnet. Es lässt sich eine zunehmende, wenn auch allmähliche, Homo­ genisierung des Maßverständnisses aufzeigen, die ihren ersten Höhe­ punkt in der Renaissance erreicht. Die Ästhetik der antiken Maßvor­ stellung wird in der Renaissance stark mathematisiert, ist aber, vom Hellenismus, dem Frühchristentum und dem Mittelalter beeinflusst, noch weitgehend von der Angleichung an Gott bestimmt. Diese Angleichungslehren dieser Zeit sind vor allem durch den Neuplato­ nismus von Plotin und Pseudo Dionysios Areopagita geprägt, die wie­ derum durch Platon und die Pythagoreer beeinflusst wurden.32 Die Symmetrie bzw. das Ebenmaß ist für diese Entwicklung entscheidend. Über Dürers Kunst, die Poetik des Barocks und durch die deutsche Schulphilosophie eines Wolffs und Baumgartens wird der Symme­ trie-Begriff auch noch Herders Entwicklungslehre und Sprachphiloso­ phie mitbestimmen.33 Es ist nicht schwer sich vorzustellen, wie sehr das platonische Symmetrie-Verständnis die Naturphilosophie formen wird und schließlich über das Spätmittelalter und die Renaissance zunächst das Maßverständnis des Cusanus, Brunos und Descartes beeinflussen wird. War das Maß bei Cusanus und Bruno noch als unendliche Angleichung an Gott im Sinne einer belehrten Unwissen­ heit (docta ignorantia) bzw. im Sinne einer mathematischen Kombi­ natorik verstanden worden, so homogenisiert Descartes das Maß zum normativen Punktabstand. Bei Newton und Leibniz wird das Maß bereits als Standardeinheit vorausgesetzt und als Operator in einer analysis situs bzw. in eine mechanistische Physik eingebettet.34 Kants apriorischer Raum- und Zeitbegriff treibt diese Tendenz zur Homogenisierung auf die Spitze, insofern das Maß nun als eine je schon vorliegende Konstante verstanden wird, in der alle Werte empirischen Raums und empirischer Zeit gewissermaßen nur als Data dieser Maßstäbe eingetragen werden. Die Folge ist diese: »In der neuzeitlichen Geometrie-, Physik- und Philosophiegeschichte wird

Zur Lektüre sei daher der ganze Artikel für den geneigten Leser empfohlen. Vgl. ebd., S. 807–822. 32 Vgl. ebd., S. 814. 33 Vgl. ebd., S. 815. 34 Vgl. ebd., S. 823. 31

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Etymologisch orientierte Hermeneutik der Begriffe Besinnung, Berechnung, Maß und Sein

Meßbarkeit zur kategorialen Voraussetzung eines jeden naturwissen­ schaftlichen Forschungsgegenstandes überhaupt erhoben.«35 Insbesondere Frank Engster hat in seiner Dissertation gezeigt, dass seit Locke, Smith, Hegel, Marx und Ricardo das Maß nicht nur zunehmend als abstrakter Geldwert verstanden wird, d.h. dass nunmehr Homogenisierung und Ökonomisierung des Maßverständ­ nisses konvergieren, sondern auch, dass diese Abstraktion des Maßes in Form des Geldwert-Begriffs das Rechnen mit der Identität der Zeit kategorial ermöglicht hat: »Der kapitalistische Selbstbezug des Geldes und der durch Arbeit und Kapital verwertete Wert lassen sich letztlich nur adäquat bestimmen, wenn beides zugleich gefasst wird, nämlich als Verzeitlichung der Zeit durch die im Geld realisierte Qualität quantitativer Verhältnisse.«36 Mit der Ökonomisierung und der Verfügung über die Zeitlichkeit der Arbeit des Menschen in der anbrechenden Moderne, u.a. durch die Maschinentechnik, gerät die Zeitlichkeit in den Blick. Entsprechend spielen das Maß und die Begrenzung der Zeit schließlich auch in der Philosophie dieser Epoche eine wichtige Rolle. Dies sehen wir zuerst bei Kierkegaard, dann bei Husserl und Bergson und eben prominent bei Heidegger. Die Frage, die diese Denker, allen voran Heidegger, hinter den Kulissen bewegt hat, ist nicht, inwiefern die ökonomische Rechnung mit dem Geld bzw. dessen Wert durch die Normierung der Maschinentechnik das funktionale Maß geben kann, sondern die Genese des Maßes aus der existenziellen Zeitlichkeit selbst. Wir werden in dieser Arbeit unter­ suchen, in welcher Hinsicht ein solcher Zugang zum Zeit-Verständnis insbesondere Heideggers Anliegen ist. Dazu ist zu fragen, was der Zeitlichkeit das Maß gibt? Diese Frage inmitten des Rechnens mit den Werten und des Berechnens der Maße zu besinnen, wird Heideggers Anliegen sein. Es muss ein genuin eigenes Maß geben, das in der Zeitlichkeit selbst oszilliert: Das Sein. Unter Sein verstehen wir, wie Heidegger in seinem wichtigen Werk Sein und Zeit angeben wird, entweder traditionell das Allge­ meinste und Leerste, d.h. wir deuten es herkömmlich als einen verdinglichten oder verwerteten Platzhalterbegriff, oder als Seiendes, d.h. als Gegenstand.37 Heidegger will entgegen dieser konventionel­ len Auffassungsart das Sein selbst sichtbar machen. Er will zunächst Ebd., S. 824. Frank Engster, Das Geld als Maß, Mittel und Methode. Das Rechnen mit der Identität der Zeit, Berlin: Neofelis 2014, S. 646. 37 Vgl. SuZ, § 1, S. 2–3.

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Einleitung

zeigen, dass es ein Maß des Seins aufgrund der begrenzten Zeitlichkeit gibt – und zwar aus dem Horizont einer Kritik eines Maßstabs der Homogenisierung und der abstrakten, d.h. berechenbaren Werte. Die Frage, die sich ihm stellt, ist, ob es bei dieser Berechnung des Maßes aus dem Wirkhorizont der Neuzeit bleiben kann oder ob es nicht vielmehr eine Besinnung einer Maßgabe oder Zumessung des Seins im Blickfeld einer endlichen Zeitlichkeit geben muss. Heidegger hinterfragt aus diesem Grund die herkömmliche Auffassung des Seins, die vor allem durch Hegel und später von Heideggers Lehrer Carl Braig vertreten wurde.38 Für Heidegger ist das Sein mit dem Verweis auf das Allgemeine homogenisiert worden. Durch diese Homogenisierung des Seins wird aber gerade dessen Vielfalt, die sich in den verschiedenen Facetten der Lebenswelt zeigt, verdeckt. Diese Mannigfaltigkeit, die das Sein für das Seiende ermöglicht, ist für Heidegger aber von Anfang an gerade rätselhaft und unerklärlich. Für ihn stellt sich die Frage: Gibt es etwas, was das Sein eher mit der Vielfältigkeit und dem Heterogenen als mit dem Homogenen und Gleichartigen assoziiert? Oder anders gefragt: Gibt es für das Sein ein anderes Maß, das man in der klassischen Philosophie und in einer auf Berechnung ausgerichteten Perspektive der Metaphysik der Neuzeit nicht kennt, verschweigt oder aufgrund geschichtlicher Voraussetzungen nicht artikulieren kann? Heidegger stellt die Frage nach dem Sinn von Sein – das ist in jedem Philosophie-Lexikon nachzulesen. Allein die Frage nach dem Maß des Seins in seinem Denken aufzuspüren, erfordert eine genaue Kenntnis seines Gesamtwerks. Oft findet sich nur eine punktuelle und oft versteckte Referenz zum Maß in Heideggers Werk. Doch dieser Umstand entbindet nicht von der Prüfung, ob die Frage nach dem Sinn von Sein auch eine Besinnung des Maßes in sich birgt oder nicht. Was wäre, wenn mit einem solchen Maß der Schlüssel gegeben wäre, die Bedingung der Möglichkeit der Berechnung und des rechnenden Denkens aufzuschließen und die Struktur des homogenen Maßes im Verhältnis zum Sein selbst offenbar zu machen, um Letzteres so erneut zu besinnen? Aus obigen Erläuterungen und diesem Fragekonnex dürfte nun zumindest im Ansatz deutlich geworden sein, dass der Titel dieser Untersuchung nicht zufällig gewählt wurde. Mit der These, dass Braig vertrat explizit die Ansicht, dass das Sein ein leerer und allgemeiner Begriff sei. Vgl. Carl Braig, Vom Sein. Abriß der Ontologie, Freiburg: Herder 1896, S. 5–6.

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Heideggers Denken von Maß und Sein im Aufriss von Besinnung und Berechnung

Heidegger in seinem Werk unterschwellig die Frage nach dem Ver­ hältnis von Maß und Sein im Zuge einer Besinnung gegenüber der allgegenwärtig umgreifenden Berechnung in der anbrechenden Moderne aufwirft, versuchen wir ein zentrales, aber bis dato nur sehr unzureichend freigelegtes Motiv in Heideggers Denken zu enthüllen. Dies ist die Auseinandersetzung mit der durch die Metaphysik der Neuzeit dominant gewordenen Homogenisierung und zunehmenden Destabilisierung des Heterogenen, Vielfältigen und Vielschichtigen zugunsten einer sich ausbreitenden Monotonie in der Lebenswelt durch die massive Kalkulation, Kombinatorik und Arithmetisierung einer global agierenden Weltgemeinschaft. Heideggers Problemhorizont ist für eine, nunmehr auch bis in fast alle Fasern, digitale und globale Gesellschaft bedeutsam, weil er im Laufe seines Denkweges ein so ganz anderes dynami­ sches Maß als das starre und kalkulatorische hervortreten lässt, welches die globalisierte Digitalgesellschaft derzeit auf die Spitze treibt. Heideggers eigener Zugang zum Maß könnte also einen anderen Anreiz für einen alternativen Zugang zur digitalen Zukunft geben, als die Maßstäbe eines Zeitalters, das die Monotonie des kalkulierbaren Standardmaßes nur durch die surrogativen bzw. supp­ lementären algorithmischen Blendwerke und Illusionen der Simula­ tion verdeckt, die sich in Form von hypnotisch-addiktiven Games, Bild- und Filmmanipulationen, sogenannten künstlich-intelligenten Börsenprogrammen, Massenüberwachung, Privatdatenhandel oder Falschnachrichten, aber auch mit scheinbar nützlichen Applikationen in die überall durch Geräte vernetzte Lebenswelt einschreibt.

Heideggers Denken von Maß und Sein im Aufriss von Besinnung und Berechnung Wie könnte ein solcher andersgearteter Zugang zur Welt aussehen, der sich aus der Interpretation von Heideggers Denken zum Verhältnis von Maß und Sein im Aufriss von Besinnung und Berechnung ergeben mag? Handelt es sich um ein dynamisches Maß, das im Gegensatz zum homogenen, quantitativen und damit festlegenden Maß, hete­ rogen und performativ fundiert ist? Mit einem homogenen Maß kann ich abstrakt ein Urteil fällen und eine kategoriale Bestimmung unter der Kondition dieses gleichförmigen Maßes immer wieder

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Einleitung

vornehmen. Das Glas ist fünfzehn Zentimeter groß und hat ein Fassungsvermögen von einem halben Liter. Es handelt sich um ein Trinkglas. Dabei ist es gleich, welches Glas ich wähle, wichtig ist nur, dass es dem Standard des homogenen Maßes entspricht, d.h. dass für alle möglichen Gläser diese Umgrenzungen und dieses Fassungsvermögen gelten, um die Kategorie »mittelgroßes Trinkglas« zu erfüllen. Die Einzigartigkeit und Spezifität des Glases werden also nivelliert und durch die Homogenisierung standardisiert. Es können so ganze Serien von Gläsern mit diesen homogenen Maßstäben in Produktion gehen. Alle diese Gläser sehen genauso gleich aus wie Andy Warhols Campbells Suppendosen sich gleichen. Sie lassen sich in ein funktionales Schema pressen, so dass durch die gleichen Maße gleichförmige Gläser in exakter Angleichung zu einem Muster in Massenproduktion gehen können.39 Diese bis gen unendlich laufende Iteration eingehende Produktion als Serie ist symptomatisch für das Denken, die Agitation und die Aktivität der Moderne, die als fernes zukünftiges Zeitalter in den Gussformen der antiken Schmieden der Römer und Kelten schon erahnbar wird, in denen damals schon bron­ zene Schwerter und Speerspitzen in Serie produziert wurden.40 Diese Vorboten der Homogenisierung der Lebenswelt, ihre Quantifizierung und die gedankliche Formulierung des Konzepts des Homogenen bei den Griechen haben im Grunde ihre Wurzeln in der Abstraktionsleis­ tung der Erfindung des ersten gleichförmigen Münzgeldes um 700 v. Chr. durch die Lyder.41 Wie im Grunde schon beim ersten geprägten Münzgeld und bei den gegossenen römischen Waffen werden alle spezifischen Verwei­ sungszusammenhänge und jede bedeutsame Bewandtnis, die dieses Glas für mich oder etwa für eine Freundin, für einen Freund oder für die Familie ausmachen, unterbrochen. Das Konkrete wird nivelliert. Was aber wäre, wenn eine erneute Besinnung dieses Konkreten, Spezifischen und Heterogenen jenseits der Berechnung des homoge­ nen, standardisierten, quantifizierten und seriell verfügbaren Maßes möglich wäre? Dann wäre das Maß für das Glas anders zu bestimmen. Es wäre mein Glas, das ich etwa vom Nachlass meines verstorbenen Großva­ 39 Heidegger beschreibt dieses Phänomen in Sein und Zeit als die Dutzendware, die auf den Durchschnitt zeigt. Vgl. SuZ, § 15, S. 71. 40 Vgl. Felix Müller, Die Kunst der Kelten, München: Beck 2012, S. 14; S. 46ff. 41 Vgl. René Sédillot, Muscheln, Münzen und Papier: die Geschichte des Geldes, Frank­ furt am Main: Campus 1992, S. 65ff.

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Heideggers Denken von Maß und Sein im Aufriss von Besinnung und Berechnung

ters zum Andenken geerbt hätte. Ich erinnere mich, wie er daraus die Milch getrunken hat, die er noch in Milchkannen vom Bauer jeden Mittwochmorgen im benachbarten Bergdorf in der Nähe des Siegerländer Rothaarsteigs geholt hat. Für den Rückweg hat er oft bis zum Mittag gebraucht. Aus dieser Erinnerung an die Bewandtnis des Glases und dem damit verflochtenen Verweisungszusammenhang erscheint ein performatives Maß, eine maßgebliche Geschichte, in der Räumlichkeit, Zeit und Ort einer Heimat sichtbar werden und so die Zumessung des Konkreten, d.h. eine Verdichtung, ermöglicht wird. Die Dimension eines ganzen Gewebes von weiteren Verweisungen erscheint mit und gibt mir eine Maßgabe, in der meine Zeit und die gewesene Zeit des Großvaters durch dieses Glas in ein Verhältnis und eine eigene Rhythmik einrücken. Wir werden sehen, dass es eine derartige Besinnung einer kon­ kreten und mit dem Umfeld verflochtenen Maßgabe sein wird, die Heidegger im Auge hat, wenn er die Frage nach dem Sein neu aufwirft. Dies gilt es im Laufe dieser Arbeit sichtbar zu machen. Dabei wird am Ende dieser Abhandlung versucht aufzuzeigen, was für ein Denken für die Zukunft dadurch möglicherweise freigegeben werden kann. Während das Maß zunächst nur ein mögliches Interpretations­ spektrum von Grenzen und Reichweiten, d.h. von Schließung einer­ seits und Öffnung andererseits, ermöglicht, gibt diese Sicht auch einen Hiatus auf die Rhythmik dieser Dimensionen frei. In genau die­ sem Aufriss wird ein aktives, bewegtes Maßnehmen als Performance und eine darin eingelassene Maßgabe als Prägung einer temporal fundierten Ekstatik sichtbar, die Heidegger als Sein interpretiert hatte und die er noch einmal der Zeitlichkeit des Daseins selbst unterstellen sollte. Wir werden im Laufe dieser Arbeit zeigen, wie Heidegger von einem solchen heterogenen und konkreten Maßverständnis die Öffnung des Horizonts von Sein und Zeit und Zeit und Sein, das Maßnehmen und das Maßgeben ermöglicht und bedenkt. Bereits hier soll die Andeutung gewagt werden, dass diese Öffnung, diese Durchlässigkeit, d.h. das Poröse in Heideggers Denken, unter der Konfiguration des Maßes, vielleicht vermag, ein noch mit sieben Siegeln verborgenes Denken der Zukunft aufzuschließen. Dabei ist zu überlegen, ob gerade das Herz des konkreten Maßes, nämlich die Verweisung und die bedeutsame Bewandtnis, den Schlüssel lie­ fert, um den Zugang zu einem solchen noch möglichen Denken im Zeitalter der Digitalisierung und Algorithmisierung freizugeben. Es wäre dann zu fragen, ob ein solches dynamisches und vielschichtiges

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Einleitung

Maß in diesem problematischen und krisengeschüttelten Zeitalter der Homogenisierung das heterogene, vielfältige und pluralistische Denken und Handeln für eine noch kommende Zeit in gewandelter Form legitimieren, bewahren und ermöglichen kann. Um eine solche Anregung anzustoßen, folgen wir in diesem Buch sechs Etappen an Heideggers Denken entlang, die durch eine siebte Schlussetappe abgerundet werden.

Aufbau der Untersuchung in sieben Etappen In der ersten Etappe dieser Arbeit wollen wir Heideggers Verständnis des homogenen Maßes sichtbar machen und seine ersten Versuche bezüglich einer Alternative in seinen frühen Schriften beleuchten, die vor allem durch vier wichtige Lehrer Heideggers – Franz Brentano, Carl Braig, Emil Lask und Edmund Husserl – geprägt sind. In der zweiten Etappe werden wir versuchen zu zeigen, wie Heidegger beginnt, das Problem der extremen Homogenisierung und Berechnung in seiner geschichtlichen Entwicklung darzulegen, um es im selben Atemzug zurückzuweisen. Wir werden beleuchten, wie Heidegger mit einer solchen Rejektion schließlich den Umschlag in eine Projektion zu einer Besinnung als Suche nach einem per­ formativen Maßstab angeht, den er aus einem eigenwilligen, aber konsequenten Verständnis des aristotelischen und frühchristlichen Denkens her entfaltet. Wir werden drittens sehen, wie Heidegger diesen performativen Maßstab in seinem logischen, sprachlichen und hermeneutischen Bau untersucht und in ihm eine grundlegende Struktur aufdeckt, die seine Suche auf die Spur von Sein und Zeit und damit zur Seinsfrage selbst führt. In seiner Auseinandersetzung mit der Seinsfrage und dem Sinn von Sein kommt Heidegger zu einer Aneignung eines performativen Maßstabs bzw. einer Interpretation der Performance eines konkreten Maßnehmens des menschlichen Daseins, die ihn unversehens auch zu einer nicht-homogenisierenden Maßgabe für das Sein führt, welche er in seiner Dimensionalität im Hinblick auf das Sein des Daseins für fundamental halten wird. Es ist zu zeigen, wie Heidegger diese Gedan­ ken zunächst zugunsten einer Zuwendung von geschichtlichen und schließlich politischen Überlegungen ruhen lässt. Wir sehen dann, wie dies dazu führt, dass er zu dem schwerwiegenden Menetekel des

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Aufbau der Untersuchung in sieben Etappen

Engagements hinübergleitet, das ihn bis heute als ambivalenten Den­ ker kennzeichnet: Dies ist jenes gefährliche Vermessen am Freiburger Rektorat unter der Nazi-Diktatur am geschichtlichen Ort einer von zwei Weltkriegen bestimmten Lebenswelt. Wir versuchen dabei zu erläutern, wie Heidegger den Sprung in den Abgrund des Rektorats durch eine zunächst ziemlich harmlos wirkende Platon-Lektüre wagt, um so von einer nicht-homogenen, alternativen Zumessung eines kontingenten Wahrheitsverständnis­ ses in die Irre eines Vermessens zu gelangen, das ihn zu dem gefähr­ lichen performativen Widerspruch verleiten wird, ein Bürokrat in einem berechnenden Terrorregime zu werden. Wir werden zeigen, wie Heidegger sich schließlich denkerisch wie biographisch in das prekäre Fahrwasser der Anbiederung mit den Nationalsozialisten begibt. Den Nazis geht es aber in Wahrheit mit dem totalisierenden Homogenisierungsprojekt der Gleichschaltung von Bildung und Uni­ versität um das krasse Gegenteil dessen, was Heidegger seit den zwanziger Jahren eigentlich mit einer Universitätsreform im Sinn hat: die Befreiung des Seins- und des Wahrheitsverständnisses in einem Denken der Freiheit. Heidegger wird diesen fatalen Irrgang, der auch von einem biographisch fundierten widersprüchlichen Verhältnis zum Judentum und zu seinen jüdischen Schülern geprägt ist, bereuen – wenn auch nicht öffentlich.42 Wir werden in dieser letzten Etappe seines Denkens zu zeigen versuchen, wie Heidegger eine Verwindung und Verheilung seines Denkens durch die Zumessung des Rhythmus‘ des Dichteri­ schen entfaltet. Dabei ist zu schauen, ob es Heidegger gelingt, sein Denken und sich selbst wieder ins Redliche zurückzubringen, um seine besondere Art zu denken schließlich erneut zur Sprache kommen zu lassen. Dies zeigen wir an Heideggers Auseinandersetzung mit dem Maß bezüglich der Berechnung der Technik und der Besinnung 42 Dass Heidegger seinen jüdischen Lehrer Edmund Husserl in Sein und Zeit aus­ drücklich lobt, jüdische Schüler, wie z.B. Günter Stern (Anders), Karl Löwith, Elisabeth Blochmann und andere, fördert und ihnen während des Dritten Reichs hilft, ihnen aber andererseits, wie im Beispiel Löwiths, zynisch begegnet und antisemitische Bemerkungen im Briefwechsel mit seiner Frau und in den Gedankensplittern und Anmerkungen, den sogenannten »Schwarzen Heften«, hinterlässt, bleibt bis heute ein nicht aufgelöster Widerspruch in seiner Biographie. Wie wichtig diese Forschung an diesem tiefgreifenden Widerspruch bezüglich seiner Biographie und seines Denkens auch sein mag, in dieser vorliegenden Arbeit spielt er aufgrund unserer Fragestellung nur bedingt eine Rolle. Vielleicht vermag diese Untersuchung aber indirekt auch für diesen Bereich der Heidegger-Forschung hilfreich zu sein.

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Einleitung

des Gevierts sowie anhand des Motivs der Gelassenheit und an seinem Sprachdenken. Am Schluss dieser sechs Etappen werden wir den Übergang zu einem anderen Denken nach Heidegger anregen. Dazu werden wir unsere bisherige Lektüre und den Gang an Heidegger entlang in ein anderes Verhältnis bringen, so dass das Sinnvolle, was Heidegger gedacht hat, dem geschichtlichen Ort unserer digitalen und globa­ len Moderne im Modus seiner Krise anverwandelt werden kann. Alles, was dabei als problematisch oder gar menschenverachtend an Heideggers Gedankengängen zu sein scheint, wird dabei außen vor zu lassen sein. An Heidegger eigens entlangdenken heißt dann vor allem auch das Unmenschliche an dem geschichtlichen Ort dieses Denkers zurückzulassen, mit dem er sich und sein Denken eventu­ ell kontaminiert hat, und zu versuchen, ein menschliches Denken voranzubringen, das die positiven Errungenschaften einer offenen Weltgesellschaft affirmiert, wie beispielsweise die Menschenrechte und die Würde des Menschen unabhängig von Geschlecht, Bildungs­ grad und Ethnie. An Heidegger entlangdenken heißt also vor allem an seinem Denken in der Gegenwart selbst zu denken und sein Denken zugunsten eines eigenen Zugangs hinter sich zu lassen. Daraus ergibt sich die Herleitung der Methodik und der Zugangsweise, die wir in dieser Arbeit zugrunde legen. Ebenso zeigen sich mögliche Alternativen, die auch gangbar gewesen wären, gegen die wir uns aber aus bestimmten Gründen entschieden haben. Diese Einwände werden wir hier kurz erläutern. Wir werden uns auch Ziele für unsere Untersuchung setzen, wobei wir uns von weiteren Forschungsprojekten zu Heideggers Frage nach dem Maß abgrenzen.

Methodik und Zugangsweise Methodisch wäre ein rein systematischer oder rein geschichtlicher Zugang auf den ersten Blick der anscheinend exakte Weg. So lehren es doch schließlich die Handbücher zu den philosophischen Methoden. Bei einem komplexen Denken, bei dem Geschichte und Systematik untrennbar ineinander verflochten sind, insbesondere bei unserer Fragestellung, lässt sich eine solche schulbuchmäßige dichotomische Entscheidung mit ihrem vermeintlichen Reinheits- und Exaktheitsan­ spruch nicht anwenden.

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Methodik und Zugangsweise

Dies ist aus den folgenden Gründen der Fall: Erstens gibt es nur sehr selten ein ideales Gedankengebäude, das man allein von seiner strukturalen und begrifflichen Architektur beleuchten kann, ohne sich des Verdachts auszusetzen, den geschichtlichen Ort eines Denkens und seine Entstehungs- und Auswirkungsgeschichte zu ignorieren oder ungemäß zu vernachlässigen. Würde beispielsweise Platons Höhlengleichnis rein systematisch interpretiert werden, ohne etwas über dessen Prägung durch die griechische Kultur und Geschichte zu sagen, machte man sich des Anachronismus und der damit notwendig einhergehenden Verfälschung von Platons Denken verdächtig. Dies lässt sich durch eine geschichtliche Einordnung des systematischen Zugangs an neuralgischen Stellen zumindest recht gut abfedern. Zweitens kann nicht rein geschichtlich gearbeitet werden, denn auch bei einer sich wandelnden Systematik eines Denkens gibt es dennoch grundlegende Strukturen und Begriffe, die sich bei einem Denken durchhalten. Hier muss der geschichtlichen Bestimmung logischer­ weise immer auch eine jeweils transformierte Darlegung der Syste­ matik folgen. Da sich Heideggers Denken vielfach »kehrt«, wie er selbst sagt, scheint eine Kombination beider Zugänge unvermeidbar. Bei Heidegger kommt noch erschwerend hinzu, dass er selbst schon auf den Missstand einer, in den meisten Fällen zumindest, zu grobkörnigen und künstlichen Trennung zwischen einem syste­ matischen und geschichtlichen Ansatz hinweist, indem er auf die besagten Schwächen dieser Unterteilung immer wieder aufmerksam macht. Da Heidegger außerdem sein Denken explizit nicht statisch, sondern in seinen Grundbegriffen dynamisch, performativ denkt, bedarf es auch einer situativen Transformation der Methodik oder zumindest der Herangehensweise an sein Denken. In diesem Fall scheint eine trennscharfe Unterteilung zwischen geschichtlicher und systematischer Methode eher befremdlich und wenig hilfreich für eine differenzierte Untersuchung der Denkplateaus Heideggers zu sein. Wird an Heidegger entlang gedacht, bedarf es selbst einer flexi­ blen Neudefinition des Begriffskorpus‘ und zugleich muss geschaut werden, wie dieser ggf. in Bezug auf die Genese, die Biographie und den geschichtlichen Ort eines Denkens kritisch einzuordnen ist. Selbst eine tendenziell deskriptive Darstellung und Auswertung seines Werks als Objekt einer ansonsten klassischen Forschungsar­ beit, bedarf im Falle Heideggers zumindest partikulär einer Trans­ formation der eigenen Methodik. Dies liegt zudem auch an den wechselnden Stilen und Herangehensweisen von Heidegger selbst,

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Einleitung

die vom Vorlesungsmanuskript über fingierte Dialoge, Interviews oder Gedächtnisprotokolle und Gespräche bis zu Gedichten und Textfragmenten im Stil von Aphorismen reichen.43 Deshalb kann nicht von einem rein systematischen oder histori­ schen Ansatz ausgegangen werden, wenn das Maß als durchgehendes Thema Heideggers über die Jahre des Denkens von ihm selbst immer wieder aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet wird und sich mehrere Metamorphosen seiner Sichtweise an verschiedenen Statio­ nen seines geschichtlichen Ortes abzeichnen. Es erfordert vielmehr eine jeweils neu zu bestimmende Gewichtung und die Kombination eines systematischen und geschichtlichen Ansatzes sowie eine jeweils andere Methodik in der Herangehensweise, um den Sachverhalt des Gedachten in einer hauptsächlich werkimmanenten Darstellung hinreichend erschließen zu können. Aus diesen Gründen wird eine solche Kombination eines geschichtlichen und systematischen Ansatzes gezielt vorangetrieben. Deswegen wird zunächst klassisch-hermeneutisch an einem Begriffs­ korpus gearbeitet, der uns schließlich bei der Einordnung des Vorge­ hens hilft, die Begriffsfelder des einerseits homogenen, abstrakten und quantitativen Maßes und des andererseits heterogenen, konkre­ ten und lebensweltlichen Maßes aufzudecken. Von diesem Kontrast zwischen einem statischen und einem performativen Maß, können wir zunächst mit den Begriffen Rejektion, Projektion und Aneignung bzw. Appropriation arbeiten, um die Genese einer sich ständig in Ver­ wandlung begriffenen Konfiguration des Heideggerschen Denkens einordnen zu können. Dabei schälen sich allmählich weitere Motive und Begriffe heraus, die uns helfen, diese Genese seines Denkens von Maß und Sein innerhalb der Divergenz von Besinnung und Berechnung weiter auszuarbeiten. Diese Begriffe und Motive führen schließlich zu tiefer liegenden Konfigurationen, die sich in Heideggers Werk eröffnen und die Heidegger selbst oft unterschwellig immer wieder in seinem Werk auftauchen lässt, ohne dass er sie selbst explizit 43 Auf die Mannigfaltigkeit der verschiedenen Stilformen Heideggers und ihre Eigen­ heiten sowie auf die Schwierigkeit ihrer Interpretation, haben mehrere Autoren unlängst aufmerksam gemacht. Vgl. Patrick Baur, Bernd Bösel u. Dieter Mersch (Hrsg.), Die Stile Martin Heideggers, Freiburg: Alber 2013. Ich weise explizit daraufhin, dass eine solche Einteilung in Stile im Grunde zu kurz greift. Auch Heidegger selbst hätte sie vermutlich abgelehnt, da er ab den dreißiger Jahren bewusst nicht mehr in isolierten Textformen geschrieben hat. Diese Textkonglomerate hatte Heidegger selbst als Winke bezeichnet. Vgl. GA 81, S. 127ff.

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Forschungslage und mögliche Alternativen

zum Thema machen muss. Eine der wichtigsten Konfigurationen ist vor allem der Poren- und Gewebecharakter in einigen Denkmotiven, von dem wir behaupten, dass er einen Grundzug für Heideggers Überlegungen hinsichtlich des Verhältnisses von Maß und Sein inner­ halb des Aufrisses von Berechnung und Besinnung konstituiert, das insbesondere für ein Denken der Zukunft fruchtbar gemacht werden kann. Hier ist eine performativ geprägte hermeneutische Methodik sinnvoll, die sich zunächst noch als hermeneutischer Zirkel, dann aber im Verlauf der Interpretation als hermeneutische Spirale des Verstehens bezeichnen lassen kann. Von den Deskriptionen und Interpretationen der verschiedenen Ansätze Heideggers zum Verhält­ nis von Maß und Sein gelangen wir über die Motive des Porösen- und Gewebeartigen zu der eigentümlichen und eigensinnigen HeideggerRezeption im sogenannten Strukturalismus und Poststrukturalismus in Frankreich, die aufgrund unserer Lektüre vielleicht nicht mehr so merkwürdig erscheint, wie sie bisher gewirkt haben mag. Dabei die­ nen uns die Bezugsbegriffe von Maß, Sein, Besinnung und Berechnung als Koordinaten für einen performativ-hermeneutischen Zugang zu einem wenig erschlossenen, aber dennoch bedeutsamen Motiv in Heideggers Denken, das, vielleicht nur dem ersten Anschein nach, peripheren Charakter hat. Ob dieses Motiv vielleicht eine Hauptader im Bergmassiv des Heideggerschen Denkens freilegt oder ob es sich lediglich als eine bedeutsame Hintergrundtextur erweist, wird sich im Laufe der Untersuchung zeigen.

Forschungslage und mögliche Alternativen Damit sind der Inhalt und die Methodik unseres Vorgehens im weitesten Sinne dargelegt. Doch wie steht es um die Forschungslage hinsichtlich des Verhältnisses von Maß und Sein bei Heidegger und welche Alternativen wären für unser Vorgehen möglich gewesen? Für die Beantwortung dieser Fragen wollen wir zumindest eine Auswahl von alternativen Zugängen in der Heidegger-Forschung ansprechen, bevor wir die eigentliche Arbeit an diesem Problemkomplex begin­ nen. Es wäre beispielsweise durchaus möglich gewesen, wie Ernst Tugendhat es in Ansätzen versucht hat, die Frage nach dem Maß nicht mit dem Sein, sondern mit der Frage nach der Wahrheit zu

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Einleitung

verbinden.44 Allerdings handelt es sich aus meiner Sicht dabei um eine Reduktion des Heideggerschen Denkens auf die Frage nach der Wahrheit. Heidegger hielt tatsächlich die Frage nach der Wahrheit für sehr wichtig, allerdings hat er sie einem tieferen Bezirk zugeordnet: der Frage nach dem Sein. Ergo muss auch bei diesem anzusetzen sein. Überdies erscheint bei Tugendhat das Maß als logische Kategorie, die es aus seiner Sicht zu interpretieren gilt, um Heideggers Denken verständlich zu machen. Dabei wird jedoch der performative und geschichtlich-generative Charakter des Maßes mit seinen Unterbe­ griffen Maßnahme, Maßgabe, Zumessung, Dimension, das Maßvolle und das Verhältnis ausgeblendet, die Heidegger innerhalb seines Werkes immer wieder betonen wird. Es wäre auch möglich gewesen, Heideggers Maßverständnis lediglich zu beschreiben, um es schließlich in seiner Unvollständig­ keit und Inadäquatheit auszuweisen und es dann auf einen Bereich zu reduzieren, den Heidegger vermeintlich selbst als Grundlage annahm: nämlich das Maß der Ethik bei Aristoteles. Werner Marx ist diesen Weg bereits gegangen, indem er Heideggers Denken des Maßes als unvollendete Ethik auslegte und dabei versuchte, dieses Denken als Nächstenethik für eine mitmenschliche Welt auszuarbei­ ten und zu erweitern.45 Der Ansatz von Marx ist in seiner Intention durchaus beachtlich. Jedoch hat seine Zugangsart zu Heidegger den blinden Fleck, dass sie den aleithologischen Charakter des Maßes hinsichtlich seines performativen und generativen sowie seines onto­ logischen Charakters ebenso wenig befriedigend erhellt wie Tugend­ hats Ansatz. Sowohl Ernst Tugendhat als auch Werner Marx ermangelt die Gesamtschau auf Heideggers Werk hinsichtlich der Frage nach dem Maß in Bezug zum Sein. Tugendhat blickt vornehmlich auf Heidegger bis in die dreißiger Jahre, Marx fokussiert sich auf den Heidegger von Sein und Zeit und den späten Heidegger. Den ganz frühen und den ganz späten Heidegger blenden beide Autoren aus. Dies darf weder Tugendhat noch Marx als Defizit zur Zeit der Abfassung ihrer Arbeiten angelastet werden, denn bis dato war die Quellenlage im Vergleich zu heute doch noch sehr unvollständig. So sind deren Verengungen in der Darstellung und Interpretation im Rückblick 44 Vgl. Ernst Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, 2. Aufl., Berlin: De Gruyter 1970, S. 330ff. 45 Vgl. Werner Marx, Gibt es auf Erden ein Maß?, Hamburg: Meiner 1983.

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Forschungslage und mögliche Alternativen

durchaus nachvollziehbar. Für die aktuelle Quellen- und Forschungs­ lage können Tugendhats und Marx‘ens Ansätze Anreize bieten – genügen können sie aber allein schon aus eben genanntem Grund nicht mehr. Es wäre eine Alternative gewesen, den Leser selbst mit der Interpretation von Heideggers Denken von Maß und Sein alleine zu lassen und frischweg eine Deutung aktueller Probleme mit Heideggers Begriffen zu versuchen oder eine derartige Auslegung mit einigen kurzen Erläuterungen zum Verhältnis von Maß und Sein bei Heidegger zu wagen. Einen ähnlichen Weg ist meines Erachtens Rainer Marten gegangen.46 Martens Ansatz hat leider den Nachteil, dass Heideggers Begriffskorpus nur indirekt erläutert wird. So sind die Leser von Martens Buch, das sich als eine durchaus bestechende Kritik eines Beschleunigungskapitalismus sehen lassen kann, auf zweifache Weise alleine gelassen: erstens mit dem unbearbeiteten Text Heideggers und den dem Leser weitgehend vorenthaltenen Überlegungen zum Verhältnis von Maß und Sein. Zweitens sind die verwendeten Termini quellenmäßig nur unzureichend ausgewiesen. So können wir selbst als kundige Leser nur erahnen, ob Heidegger oder Marten für das Original des jeweiligen Gedankenganges zustän­ dig ist. Mir kam es im Gegenzug darauf an, den Leser an der Arbeit an Heidegger entlang zu leiten, um somit auch eine Abgrenzung zu ermöglichen, wie eigene Überlegungen an diesem Denken entwickelt werden könnten. Deswegen habe ich mich dafür entschieden, den Leser vielmehr auf eine lange Wanderung durch die Heideggersche Gedankenlandschaft mitzunehmen, so dass ihm selbst mitdenkend nicht nur der Nachvollzug, sondern auch das produktive Rüstzeug zum eigenen Nachdenken in Auseinandersetzung mit Heidegger an die Hand gegeben wird. Freilich wäre auch ein Vergleich verschiedener Autoren mit exemplarischen Ausführungen zum Maß und zum Sein bei Heidegger möglich gewesen, insofern diese untrennbar miteinander in Berüh­ rung und wechselseitiger Durchdringung zueinanderstehen. Dies hat Charles Bambach recht erfolgreich durchgeführt.47 Ihm gelingt in seiner Untersuchung auch die Aneignung eines Maßbegriffs, der auf 46 Rainer Marten, Maßlosigkeit. Zur Notwendigkeit des Unnötigen, München: Alber 2009. 47 Vgl. Charles Bambach, Thinking the Poetic Measure of Justice. Hölderlin-HeideggerCelan, New York: Suny Press 2013.

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komplexe Weise im Durchgang der Interpretation von Heidegger, Hölderlin und Celan entfaltet wurde und den er mit Referenz auf Derrida und den Poststrukturalismus zu einem Begriff der Gerech­ tigkeit weiterentwickelt. Es spricht viel für Bambachs Ansatz, da er über mehrere Autoren hinweg die Genese der Frage nach dem Maß fokussiert, ohne Gefahr zu laufen, sich auf eine von mehreren Positionen – sei es die Hölderlins, Heideggers oder Celans – zu versteifen. Allerdings gewährt er deshalb aber auch nicht den Einblick in die Wurzeln und in die Auswüchse eines Verhältnisses von Maß und Sein, im besonderen Fall Heideggers. Es wäre auch ein möglicher Ansatz gewesen, sofort auf den Grund von Heideggers Denken zu blicken und ein »Urmaß« für seine Ausdeutung der Seinsfrage auszumachen und von dort die Firniss von Heideggers Denken weiteraufzuweichen und es auf ungewohnte Weise sichtbar zu machen. In Ketterings Buch NÄHE wird dies versucht, indem Kettering den Begriff der Nähe als »Urmaß« zur Aufschlüsselung von Heideggers Werk zu Grunde legt.48 Ketterings Ansatz wirkt sehr attraktiv, da er direkt und ohne Umwege meint, Heideggers Verständnis des Maßes des Seins als Nähe herausstellen zu können. Doch wie überzeugend Ketterings Argumente und Erläu­ terungen auch sind, sein Ansatz hat die Schwäche, dass er die Genese und den Weg nicht beleuchtet, den Heidegger wählt, um zum Begriff der Nähe zu kommen. Dies liegt daran, dass sich Kettering von Anfang an auf den Nähe-Begriff versteift, obwohl dieser Terminus nur an ausgewählten Stellen in Heideggers Werk betont wird. Auf der Grundlage der antizipierten Alternativen in Bezug­ nahme auf ausschlaggebende Autoren hinsichtlich der Frage nach dem Verhältnis von Maß und Sein bei Heidegger, wurde sich für den werkimmanenten Charakter dieser Unternehmung entschieden, der weder gegen noch für, sondern an Heidegger entlang entwickelt wird, um so den eben genannten Fallstricken zu entgehen. Aus den obigen Ausführungen dürfte damit zumindest im Gro­ ben die Stoßrichtung bezüglich des zugrunde gelegten Materials, des gewählten Ansatzes und der Methodik klar geworden sein. Dabei ist in aller Deutlichkeit hervorzuheben, dass auch dieser vorliegende Versuch als Forschungsstrategie nicht alternativlos ist. Für das Vor­ haben, das neben dem Forschungsinteresse an Heidegger auch der Vgl. Emil Kettering, NÄHE. Das Denken Martin Heideggers, Pfullingen: Neske 1987.

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Ziele der Untersuchung

Unternehmung eines eigenen noch zu entfaltenden Denkansatzes jenseits von Heidegger verpflichtet ist, hat dieser Versuch allerdings noch den Vorteil, ein Anknüpfen an den möglichen Ergebnissen unserer Untersuchung mit oder ohne Heidegger zu erlauben.

Ziele der Untersuchung Dies führt uns schließlich zur eigentlichen Zielformulierung der vorliegenden Arbeit, die sich aus den Thesen, Hypothesen, der Moti­ vation, der Materialauswahl, der Methodik und der Quellengrund­ lage ergibt. Letztere fußt auf einer fast vollständig herausgegebenen Heidegger-Ausgabe letzter Hand und einer umfangreichen Sekun­ därliteratur, die aufgrund ihrer schieren Fülle nur in gezielter Auswahl von einschlägigen Arbeiten in dieser Untersuchung hinsichtlich unse­ rer Fragestellung Eingang gefunden hat. Auf der Basis der obigen Ausführungen, lassen sich die Zielformulierungen dieser Untersu­ chung folgendermaßen zusammenfassen: Erstens ist es unsere Direktive, einen Beitrag zur Heidegger-For­ schung hinzuzufügen, nämlich Heideggers noch weitgehend uner­ schlossene Begrifflichkeit des Maßes in der Genese seines Gesamt­ werkes in Zusammenhang mit seiner Hauptfrage nach dem Sein sichtbar zu machen. Zweitens geht es uns darum, Grundbegriffe für das eigene Wei­ terfragen in und aus diesem Kontext dieses Untersuchungsprozesses freizulegen, die sich aus dem Untersuchungshergang herausschälen. Drittens gilt es, den Zugang und das Plateau des Horizonts freizulegen, die es uns erlauben, an Heidegger entlang zu denken, um aus den konstitutiven Konfigurationen von Heideggers Überle­ gungen zur Frage nach dem Verhältnis von Maß und Sein im Aufriss von Berechnung oder Besinnung, den Ausblick des eigenen Fragens zu ermöglichen. So wären durch die Erweiterung der Forschungslage und durch den Versuch die Verankerung eines eigenen Nachdenkens zu etablie­ ren, zwei philosophische Ansprüche gestellt, auch wenn sie schon gewiss nicht in umfassender Form einlösbar sind und vielleicht auch unbescheiden und kritisierbar erscheinen mögen. Es soll hier jedoch zumindest versucht werden diese Ansprüche zu begründen. Dabei muss der Mut aufgebracht werden, nicht nur philosophiewis­ senschaftlich zu forschen, sondern auch philosophisch in einer Zeit

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Einleitung

zu denken, in der das Denken und die Denker aus verschiedenen Gründen nicht unbedingt eine Hochkonjunktur feiern können. Es gilt also einen Beitrag für die Heidegger-Forschung zu leisten, um Heideggers Denken für eine wissenschaftlich interessierte Öffentlich­ keit zu einem vertiefenden Verständnis zu führen und den philosophi­ schen Anspruch zu stellen, dass durch ein Entlang-Denken am Werk Heideggers Anregungen, Anlässe und Anstöße für weitere und andere Versuche des Denkens möglich werden. Mit diesen Erläuterungen ist zumindest im Groben ein einleitender Faden ausgeworfen, der den Zugang zu dem weiter oben dargestellten Problembezirk sichtbar macht und die Art der Durchführung der nun anstehenden Untersu­ chung legitimiert.

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I. Die Suche nach einem Maß – Initialzündungen beim jungen Heidegger

Wenn wir an eine philosophische Einordnung Heideggers denken, so erinnern wir uns sofort daran, was in jedem x-beliebigen PhilosophieHandbuch oder Lexikon über ihn steht: Heideggers Denken drehe sich um die Frage nach dem Sein. Diese Aussage ist zunächst richtig. Aber sie ist gleichsam so oberflächlich wie sie korrekt ist. Im Grunde besagt sie nichts über den tatsächlichen Problemhorizont seines Den­ kens. Auch Hegel fragte nach dem Sein oder Aristoteles oder schon Platon. Auch Parmenides tat dies. Liest man in solchen Handbüchern weiter, wird man oft schon schlauer und bekommt einen Einblick in Passagen folgender Art: Heidegger habe das ontologische Moment vor das Ontische gestellt und die Philosophie in die Werkwelt des Alltags geholt etc. Gehen wir all diesen und ähnlichen Aussagen über Heidegger nach, stellt sich für den Leser schnell ein Missverständnis nach dem anderen ein. Ist Heidegger etwa ein heimlicher Pragmatiker im Stil eines John Dewey oder eines William James? Macht er aus der professionellen Philosophie ein profanes Werkstatterlebnis? Wenn dann noch von einem späteren dichterischen Denken oder einer Einteilung der Welt in Himmel und Erde, Göttliche und Sterbliche die Rede ist, sperren sich die Ohren und Augen der zumeist durch eine analytische Philosophie geprägten oder durch die kritische Theorie bzw. Systemtheorie geprüften Leserschaft. Dann kommt noch hinzu: er hat antisemitische Bemerkungen in den »Schwarzen Heften«, sei­ nen Anmerkungen und Notizen, gemacht, die ab 2014 veröffentlicht wurden. Ist Heidegger also ein Nazi-Philosoph? Ist er überhaupt ein richtiger Philosoph? Und dann soll er noch gegen die moderne Technik sein. Daraus folgt dann das scheinbar unvermeidliche und zugleich sehr beliebte Vorurteil: Heidegger, der Schwarzwald-Hin­ terweltler, der ganz gewiss ein verkorkster Nazi, Reaktionär und technikfeindlicher Maschinenstürmer ist, hat nicht aus der Romantik herausgefunden. Spätestens dann endet jeder ernsthafte Versuch, wirklich etwas von seinem Denken zu lernen. Heidegger wird dann einfach in die Kategorie »obskur« und »irgendwie verdächtig« oder gar

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I. Die Suche nach einem Maß – Initialzündungen beim jungen Heidegger

»gefährlich« eingeordnet. Damit ist jede wissenschaftlich-kritische Auseinandersetzung mit ihm abgewürgt. Dieser Trend zur jener oberflächlichen, aber sich selbst oft sehr tiefgründig und selbstbewusst gerierenden Skepsis, hat sich im Zuge missverständlicher und teilweise plakativer Darstellungen von Heideggers Wirken und Biographie in den letzten Jahren im Feuilleton, in der kurzweiligen populärphilosophischen Bücherwelt und vor allem im digitalen Raum verfestigt. Es ist mittlerweile in der akademischen Welt alles andere als schick, sich mit Heidegger zu beschäftigen. Schnell wird sogar aus dem Heidegger-Interpret selbst ein zweiter Heidegger stilisiert, der ebenso fragwürdig sein muss, wie Heidegger selbst. Ganze Karrieren enden heutzutage damit, dass es sich jemand mit der akademischen Fachwelt verscherzt, weil er oder sie auf den Gedanken kommt, sich mit Heidegger zu beschäftigen. Mit profunder kritischer Wissenschaft haben solche oft inoffiziellen Interpretationssanktionen bzw. -verbote reichlich wenig zu tun. Stattdessen müsste eine kritisch-wissenschaftliche Haltung doch den Mut aufbringen, sich gerade mit den Ambivalenzen und Kontroversen eines Denkens sowie eines Denkers differenziert und detailliert auseinanderzusetzen. Genau diese letztere Auffassung wird hier vertreten. Deshalb wollen wir es wagen, noch einmal genauer hinzu­ schauen und versuchen, Heidegger abseits von allen Klischees und Vorurteilen zu lesen – und zwar weder für noch gegen ihn, sondern an seinem Denken entlang. Wenn Heidegger nach dem Sein fragt, wenn er sich anscheinend mit den Nazis einlässt, wenn er danach relativ plötzlich in ein dichterisches Denken hinübergleitet und er eine Kritik der modernen Technik damit einhergehen lässt; stellt sich die Frage, welche Motive Heidegger in seinen Überlegungen dafür hat. Inwie­ fern spielen diese Motive eine Rolle für die Metamorphosen seines Denkens? Was sind die Rahmenbedingungen und die Grenzen seines Denkprozesses und was gibt ihnen folglich ein Maß? Vielleicht ist diese Frage nach dem Maß in seinem Denkweg gerade der Schlüssel, um an seinem Denken entlang arbeitend tiefergehende Einsichten in eben dieses Denken zu gewinnen. Dass wir genau dies glauben, haben wir schon oben in unseren einleitenden Worten deutlich gemacht. Es wurde bereits gesagt, dass Heidegger selten von der Frage nach dem Maß her gelesen wurde. Wir wollen es dennoch versuchen. Dafür müssen wir wissen, ob es Indizien gibt, die zeigen, dass Heidegger auch ein Maßverständnis im Verhältnis zu seiner viel besprochenen

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1. Vier Fäden zu Heideggers Suche nach einem Maß des Seins

Seinsfrage entwickelt hat und ob dieses Verständnis eine perspekti­ vische Schärfentiefe für einen genauen Blick auf sein Denken erlaubt oder nicht. Aber wo ist nach diesen Indizien zu suchen? Versuchen wir zunächst beim Naheliegenden zu schauen: seinem frühen Denken, d.h. dem jungen Heidegger, der noch stark von seinen Lehrern geprägt ist; der Heidegger der Dissertation und Habilitation. Wir wollen sehen, ob es eine Initialzündung eines Maß- und Maß­ stabs-Denkens bei diesem jungen Heidegger gibt und ob er ein solches Maßverständnis, wenn es denn tatsächlich auffindbar ist, später neu austarieren wird. Wir wollen dabei erkunden, ob die Überlegungen seiner Lehrer schließlich in Heideggers erste Auseinandersetzung mit einem solchen Maß hineinreichen und zu einer frühen gedanklichen Bündelung der für ihn sehr wichtigen Seinsfrage führen. Heidegger hatte viele Lehrer, aber vier stechen besonders heraus: zunächst indirekt Franz Brentano, den Heidegger als Jugendlicher zwar nicht kennenlernte, aber doch intensiv las, nachdem sein frü­ herer Mentor, der Meßkircher Bischof Conrad Gröber, ihm dessen Dissertation geschenkt hatte. Dann gibt es noch die ihn persönlich unterrichtenden Lehrer Carl Braig, Emil Lask und sein späterer philo­ sophischer Ziehvater Edmund Husserl. Ihre Überlegungen laufen wie vier Fäden in Heideggers frühem Denken zusammen. Liefern sie einen Hinweis darauf, ob Heidegger – zumindest intuitiv – auf einer Suche nach einem Maß für das Sein und die Seinsfrage gewesen ist? Falls ja, dann ist es auch sinnvoll in seinen frühen Schriften, d.h. in seinen ersten Aufsätzen, Vorträgen, in seiner Dissertation und seiner Habilitation, nachzusehen, ob dies bestätigt werden kann. Genau dies haben wir in diesem ersten Kapitel vor.

1. Vier Fäden zu Heideggers Suche nach einem Maß des Seins Wenn davon ausgegangen wird, dass Heideggers Seinsfrage zugleich eine ständige Suche und ein fortwährendes Neuauspendeln eines Maßverständnisses impliziert, so ist zunächst zu fragen, wo das Prob­ lem eines Maßes bzw. Maßstabes bei Heidegger zu einem Knoten­ punkt zusammenläuft und was die Ausgangsfäden für diesen Zusam­

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I. Die Suche nach einem Maß – Initialzündungen beim jungen Heidegger

menlauf eines Nachdenkens sind, die, zunächst verdeckt, Heideggers offenes Fragen nach dem Sein initiieren und begleiten.49 Da sich Heidegger im Rückblick auf seine philosophischen Anfänge selbst an diese genannten vier wichtigen Lehrer erinnert, die ihm den Weg zur Seinsfrage geebnet haben, werden wir zunächst diesen naheliegenden Hinweis aufgreifen und ihm nachgehen.50 Was wir dort erfahren, wird uns hier und da explizit in der Lektüre von Heideggers mäandernden Gedankensträngen begleiten und uns hel­ fen, die Initiativen und Motive seiner Denkwege hinsichtlich unserer Fragestellung zu beleuchten. Franz Brentano, Carl Braig, Emil Lask und Edmund Husserl machen die neu-scholastische, neukantianische und phänomenologische Prägung des jungen Heideggers aus. Es sei nun grob skizziert, wie diese Autoren und deren jeweilige philoso­ phische Ausrichtung nicht nur als vier Leitfäden für die Seinsfrage, sondern auch für Heideggers Frage nach einem Maß bedeutsam gewesen sind. Wie Zaborowski, Capelle und Pöggeler in ihren Studien im ersten Heidegger-Jahrbuch zu Heideggers Verhältnis zur Theologie, im Besonderen zu Augustinus, zur christlichen Mystik, zu urchristli­ chen Motiven und schließlich zum jungen Luther, gezeigt haben, hat Heidegger vor allem den zwei neuscholastisch orientierten Autoren Brentano und Braig viel zu verdanken. Sie haben Heidegger schon zur Zeit seines Theologiestudiums stark geprägt.51 Franz Brentano hat, wie in der Heidegger-Forschung allgemein bekannt ist, mit seiner Aristoteles-Auslegung auf Heidegger gewirkt, während Carl Braigs Versuch einer dogmatisch-klassifizierenden Einordnung einer philosophischen sowie theologisch ausgerichteten Ontologie wichtig Aufgrund der Spezifität der Fragestellung müssen zwangsläufig umfassende Erläuterungen zu gewissen mit der Problematik zusammenhängenden Kontexten ausgespart und gewisse Grundkenntnisse zu Heidegger vorausgesetzt werden. Wo es dennoch eigentlich einer Erläuterung bedurft hätte und diese nicht geliefert wird, finden sich in der Regel Hinweise auf einschlägige Sekundärliteratur. 50 Vgl. Martin Heidegger, »Vorwort« in: FS, S. IX-XI. 51 Vgl. Holger Zaborowski, »Herkunft bleibt stets Zukunft«, in: Heidegger und die Anfänge seines Denkens. Heidegger Jahrbuch, Bd. 1, hrsg. v. Alfred Denker et al., Frei­ burg: Alber 2004, S. 154ff. Capelle verweist auch explizit auf Braig, sieht ihn aber nur als Anreger in Heideggers Lektüre der Klassiker und in der Entwicklung einer Her­ meneutik. Vgl. Philippe Capelle, „›Katholizismus‹, ›Protestantismus‹, ›Christentum‹ und ›Religion‹ im Denken Martin Heideggers«, in: Heidegger und die Anfänge seines Denkens, S. 349. Otto Pöggeler, »Heideggers Luther-Lektüre im Freiburger Theolo­ genkonvikt«, in: Heidegger und die Anfänge seines Denkens, S. 191. 49

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1. Vier Fäden zu Heideggers Suche nach einem Maß des Seins

für die ersten Überlegungen zur Problematik des Seins für Heidegger gewesen sein dürfte.

a) Franz Brentano und Carl Braig In den Texten der beiden Autoren, Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden bei Aristoteles von Franz Brentano und Die Grundzüge der Philosophie. Abriß der Ontologie von Carl Braig, gibt es, von der Sache einerseits und vom Begriff her andererseits, eine Auseinandersetzung mit dem Sein und auch mit dem Maß. Während dies bei Brentano von der Sache her der Fall ist, spricht Braig die Problematik des Maßstabs in mehrfacher Weise direkt an. Brentano beschäftigt sich in seiner Dissertation mit Aristoteles im Ausgang des Psychologismus. Hier orientiert er sich an der Erfah­ rung und dem konkreten Realen als Grundlage der Erkenntnis, wie es in schärferer Akzentuierung, als es hier möglich ist, von Franco Volpi in verschiedenen Untersuchungen gezeigt wurde.52 Volpi weist dabei ausdrücklich darauf hin, dass Brentano vier Weisen des Seienden gesondert hervorhebt. Diese heißen im Griechischen: ὂn ὰ uός das ὂn ὡς ἀές das ὂn unάi ὶ ἐnί sowie das ὂn ά ὰ ή ῆς ίς. Sie können folgendermaßen ins Deutsche übersetzt werden: das Seiende mit seinen zufälligen Attributen, das Seiende, insofern es wahr ist, das Seiende in seiner Möglichkeit und Werkkraft sowie das Seiende, insofern es in seiner Form dem Urteil unterliegt. Das Kriterium für die Einteilung, so Volpi, sei das Reale und so »[…] wird die Metaphysik als Wissenschaft vom Seienden als Seiendem oder auch als Wissenschaft vom Realen als Realem definiert.«53 Von diesen vier Deutungsweisen des Seienden ausgehend, entwickelt Brentano einen zentralen Beitrag der von Kant aufgeworfenen Kategorienfrage. Die Frage nach den Kategorien steht 52 Franco Volpi, »Brentanos Interpretation der aristotelischen Seinslehre und ihr Ein­ fluss auf Heidegger«, in: Alfred Denker et al. (Hrsg.), Heidegger und die Anfänge seines Denkens. Heidegger Jahrbuch, Bd. 1, Freiburg: Alber 2004, S. 226ff. Vgl. auch die detaillierte Ausarbeitung zu Heideggers Verhältnis zu Brentano: Franco Volpi, Heidegger e Brentano, Padova: Cedam 1976. 53 Ebd., Franco Volpi, »Brentanos Interpretation der aristotelischen Seinslehre und ihr Einfluss auf Heidegger«, S. 234–235.

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I. Die Suche nach einem Maß – Initialzündungen beim jungen Heidegger

etwa zeitgleich auch in der badischen Schule des Neukantianismus zur Debatte – vor allem in Freiburg bei Lask und Rickert, wo Heidegger schließlich studieren wird.54 Für den jungen Heidegger ist besonders ein Motiv interessant: das mannigfache Seiende. Inwiefern verweist dieses mannigfache Seiende auf ein erstes, ursprüngliches Sein, dem dieses Seiende erst zugrunde liegt?55 Hier ist ein Maßstab gefragt. Es muss ein Maß geben, das die Frage klärt, wie das Seiende auf das Sein verwiesen wird. Brentanos Schrift gibt Heidegger in dieser Hinsicht einen Wink, auch wenn Brentano den Begriff des Maßes selbst nicht ausdrücklich verwendet. Das zur Debatte stehende Maß ist die Wahrheit des Seien­ den selbst, insofern es sowohl wahr, als auch falsch sein kann. Nur so kann gesagt werden, ob das Seiende ist oder nicht, also extremer gesprochen: ob ihm ein Sein zukommen kann oder nicht, d.h. ob es als Verdecktes durch ein Fürwahrhalten entdeckt werden kann. Ein solches Maß der Wahrheit des Seienden, das ὂn ὡς ἀές, verweist damit also durch eine der vier Weisen des Seienden auf das Sein selbst. Dass Heidegger sich am Ende für diese Weise des Seienden als Grund und Maß des Seins entscheidet, kann Volpi einhellig mit dieser Sichtweise bestätigen, wenn er zeigt, dass Heidegger in den Vorlesungen der zwanziger Jahre »[…] diese Funktion in der Bedeutung des Seienden als wahres (ὂn ὡς ἀές) auszumachen zu können glaubt.«56 Doch für das Anliegen dieser Untersuchung ist entscheidend, dass es hier nicht nur die Wahrheit des Seienden ist, die auf das Sein verweist, sondern auch, dass diese Wahrheit im Wahrsein und Falschsein zugleich einen Maßstab für das Sein als solches abgibt. Ohne diesen Maßstab, der diese zwei Seiten der Medaille des Seien­ den ausmacht, wäre kein Fragen nach dessen Sein selbst möglich. In dieser Möglichkeit selbst, nämlich dem Wahr- und Falschsein, steckt also bereits eine Dynamik von Wahrheit. Bei Brentano findet 54 Vgl. ebd., S. 236–240. Aufgrund der Eingrenzung der Fragestellung dieser Unter­ suchung kann die Bedeutung des brentanoschen Kategorienproblems für Heidegger hier nicht weiterverfolgt werden. Ausgangspunkt für eine vertiefende Erforschung im Ausgang vom Neukantianismus liefert Kubalica. Vgl. Tomasz Kubalica, Wahrheit, Geltung und Wert: Die Wahrheitstheorie der badischen Schule des Neukantianismus, Würzburg: Königshausen & Neumann 2011. 55 Vgl. Franco Volpi, »Brentanos Interpretation der aristotelischen Seinslehre und ihr Einfluss auf Heidegger«, S. 241. 56 Ebd., S. 242.

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sich daher auch schon ein solches dynamisches Element des Wahr­ heitsverständnisses des Seienden am aristotelischen inήiς-Begriff ausgelegt, der bereits ein temporales Moment des Maßstabs der Wahrheit andeutet.57 Wir werden später noch sehen, dass sich für Heidegger hier einige Probleme eröffnen, die ihn erst die Frage nach dem Sein selbst zureichend stellen lassen, was wiederum bedeutet, dass die Frage nach einem Maßstab und einem Maß des Seins nicht unerheblich bleiben kann, da sie einer Eingrenzung bedarf. Es ist der Theologe und Philosoph Carl Braig, bei dem das Problem bezüglich des Seins und dessen Maß in seinem Abriß der Ontologie explizit ausgesprochen wird. Braig fasst das Sein als das Allgemeine.58 Soweit scheint er der Tradition von Aristoteles über Thomas bis zu Hegel zu folgen.59 Jedoch nähert sich Braig der Seins­ frage seiner Zeit gemäß an, nämlich mit einer psychologischen und zugleich antisubjektivistischen Interpretation der Zählbarkeit von Einheit und Vielheit. Damit bedenkt er einerseits die Grundfrage über den Ursprung des Kolligierens, wie sie ein anderer Lehrer Heideggers, nämlich Edmund Husserl, in seiner Philosophie der Arithmetik und in seinen Studien zur Arithmetik und Geometrie gestellt hat. Andererseits ergänzt er die Überlegungen der Dissertation von Brentano, insofern auch jener zwischen einer Einheit des Seins und einer mannigfaltigen Bedeutung des Seienden im Sein differenziert.60 Carl Braigs ontologi­ scher Coup liegt nun darin, dass er davon ausgeht, dass die Setzung eines Seienden als Sein im Sinne des ›ist‹, also der funktional-logisch gewendeten Kopula, ein Bejahen einer Einheit sei, während deren Negation die Nichtung dieser Einheit zulasse. Dies verhalte sich beim Zählen genauso. Die Bejahung der Eins und des Seins sei 57 Vgl. Franz Brentano, Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristote­ les, Freiburg: Herder 1862, S. 40–72. 58 Darauf hat Vetter aufmerksam gemacht. Vgl. Helmuth Vetter, Grundriss Heidegger. Ein Handbuch zu Leben und Werk, Hamburg: Meiner 2014, S. 31. Vgl. dazu auch Matthias Jung, »Die ersten akademischen Schritte (1912–1916). Zwischen Neuscho­ lastik, Neukantianismus und Phänomenologie«, in: Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart: Metzler 2003, S. 6. 59 Vgl. Aristoteles, Met. B4, 1001 a 21; Thomas von Aquin, STh. II, qu. 94 a 2. Hier wird das Sein als das Allgemeine, Allesbetreffende (ϑόu, omnibus) gefasst. Vgl. G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik I. Erstes Buch. Die Lehre vom Sein. Werke, Bd. 5, hrsg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986 (orig 1812), S. 68. Hegel nennt hier das »reine Sein« auch die »einfache Unmit­ telbarkeit«. 60 Vgl. Edmund Husserl, Hua XIX/2; vgl. Brentano.

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damit als erste Bejahung die Einräumung einer Unterscheidung und somit ein Messen der Einheit als logischer Maßstab. Dies fasst Braig so zusammen: Das erste Eins, der arithmetische Name für das erste Unterschei­ dungsja, ist der logische Maßstab für das ganze Verfahren. So ist alles ausgeführte Zählen ein Messen, und zwar reines Messen mittelst der Eins. Das angewandte Messen ist dann ein versinnlichtes Zählen, das Anlegen einer sinnfälligen Einheitsgröße an Vielheitsgrößen unter der Abzählung des Wievielmal. Das Messen kann ein Zumessen oder ein Abmessen sein, kann synthetisch oder analytisch verfahren; ersteres will das Ganze einer Größe entstehen lassen aus Theilen (Einheiten); letzteres hat das Ganze und sucht die Theile.61

Braig subsumiert dieses reziproke Verhältnis von Ganzen und Teilen sowie die besagte synthetische und analytische Zugangsweise unter Begriffe der Größe bzw. der Quantität. Die leere Quantität der Einheit, die Abstraktion der Eins also, vergleicht Braig nun mit der Abstraktion des Seins. Die mannigfachen konkreten Zahlen hingegen werden mit den konkreten mannigfachen Seienden als Etwas verglichen. Daraus zieht er folgenden Schluss: »Die leere Quantität ist wie das allgemeine Sein ein Abstractionsbegriff.«62 Demnach werden der »logische Maß­ stab« der Einheit und des allgemeinen Seins gleichgesetzt. Braig denkt aber noch einen Schritt weiter. Das Setzen von Einheit und Sein erlauben das Differenzieren, d.h. das Zählen der Einheiten und das Unterscheiden des Seienden in seinem Sein. Das Zählen wurde schon als Messen gefasst. Braig führt den Gedankengang folgerichtig zu Ende: »Das reingedachte Sein ist vergleichbar den Hilfslinien (trigonometrische Netzlegung), welche das messende Unterscheiden zieht, um Größe, Gestalt und Bewegung eines Gegenstandes zu fas­ sen.«63 Braigs Deutung des Seins als Allgemeines fußt also einerseits explizit auf einem Maßverständnis des Kalküls, insbesondere des Kol­ ligierens, andererseits auf einem Maß der Differenz zwischen Sein und Seiendem im Ausgang von einem bejahend gesetzten allgemeinen Sein, das Braig schließlich auch noch mit einer psychologistischen Zugangsweise auf den Raum- und den Zeitbegriff appliziert. Die letztere Deutung des Seins als Allgemeines wird durch den Maßstab 61 Carl Braig, Die Grundzüge der Philosophie. Abriß der Ontologie, Freiburg: Herder 1896, S. 34. 62 Ebd., S. 35. 63 Ebd., S. 43.

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der Einheit determiniert und durch die Differenz von quantitativen Grenzen geordnet, die andere Deutung analog durch ein »Zählen und Messen« von Bewegung.64 An diesem komplexen Deutungshorizont des Maßes des Seins, wie Braig ihn hier exemplarisch vorlegt, wird sich Heidegger zeit­ lebens bezüglich der Seinsfrage an dem Stichwort »rechnendes Denken« einerseits und hinsichtlich der Frage eines performativen Moments des Maßes bezüglich der ontologischen Differenz anderer­ seits abarbeiten. Braig ist also zentral für Heideggers Zugang zur Seinsfrage. Inwiefern dieser Lehrer in der einschlägigen Forschung hinsichtlich seines Einflusses auf Heidegger unterschätzt wurde, zeigt sich in der wenig beachteten Tatsache, dass Braig einem Maß des Seins als abstrakte bzw. allgemeine Einheit besondere Bedeutung einräumt und in konsequenter Weise auf eine logische Kategorienlehre pocht. Eine solche geforderte Kategorienlehre, die ebenso auf einem Maß der Einheit des Seins basiert, sucht und findet Heidegger dann bei Heinrich Rickerts Schüler Emil Lask.

b) Emil Lask und Edmund Husserl Auch bei Lask stellt sich die Frage: Wie ist die Einheit des Seins logisch zu fassen? Anders als der psychologistisch orientierte Neu­ scholastiker Braig, ist Lask, als Neukantianer der badischen Schule, an der Weiterentwicklung einer modernen Logik des Urteils und der Geltung interessiert. Diese hatten Lotze und Windelband entworfen und Heinrich Rickert hatte sie später als Wertelehre ausgebaut.65 Für Lask ist daher die Frage nach der Einheit für das Sein, auf der eine Urteils- und Kategorienlehre fußen kann, im Gegensatz zu Braig, nicht psychologistisch, sondern nur durch Sichtbarmachung der logischen Verhältnisse selbst beizukommen. Theodore Kisiel hat die Bedeutung von Emil Lasks Ansatz für Heideggers eigenem frühen Zugang zur Logik umfassend beleuchtet.66 Was allerdings Vgl. ebd., S. 35ff. Vgl. Uwe B. Glatz, Emil Lask. Philosophie im Verhältnis zu Weltanschauung, Leben und Erkenntnis, Würzburg: Königshausen & Neumann 2001, S. 54ff. 66 Vgl. Theodore Kisiel, »Why Students of Heidegger Will Have to Read Emil Lask«, in: Ders., Heideggers Way of Thought: Critical and Interpretative Signposts, New York: Continuum 2002, S. 101–136. 64

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noch wenig erforscht ist: Lasks Lehre vom Urteil und seine Katego­ rienlehre implizieren eine Deutung des Maßes und des Maßstabs. Darauf hat Jakob Meier in seiner umfangreichen Arbeit zu Heideggers Technikverständnis schon hingewiesen.67 Anders als bei Braig ist das Maß nicht die Einheit einer Bejahung eines Zählbaren, son­ dern die Wertsetzung als doppelte Gegensätzlichkeit von Bejahen und Verneinen, Wahrheit und Falschheit, dem Zusammengehören bzw. Nichtzusammengehören zwischen der logischen Form und dem Material bzw. dem Inhalt. Das Werturteil selbst macht das Maß aus, von der die Komplexionsstufen einer Urteils- und Kategorienlehre abgeleitet werden.68 Das Sein erhält sein Maß also über dessen funktional umge­ deutete Kopula, also das »ist«, hinsichtlich seiner grundlegenden Wahrheit. Die Frage nach dem Maß des Seins ist also somit bei Lask eine Frage nach dem Grund der Wahrheit des Seins geworden. Die Frage nach einem solchen Wesen der Wahrheit des Seins ist aber auch die Frage Heideggers, die sich durch sein gesamtes Werk zieht. Recht besehen findet sie ihre Wurzeln in Lasks Problemaufwurf der Maßstabsorientierung des Seins für eine Kategorienlehre. Ist für Lask die Wertgegensätzlichkeit selbst das Hinausweisen auf den Maßstab, so geschieht das Messen aber nur an dem konkreten Material, am Gegenstand. Dies sagt Lask in aller Deutlichkeit: »Das für die Struktur der Objektgefüge des Urteils charakteristische Zusammengehören und Nichtzusammengehören der Elemente bedarf eines außerhalb seiner selbst liegenden Maßes, einer Messung am Gegenstande.«69 Doch die Frage ergibt sich rasch, wie das Messen an einem Gegenstand überhaupt möglich ist, d.h. wie der Maßstab der Wert­ gegensätzlichkeit am konkreten Gegenstand sichtbar werden kann. Die Sichtbarkeit ist es dann selbst, die auch für Heidegger wichtig werden wird. Das Sein des Seienden, d.h. das Sein der Entität des Gegenstandes, zeigt sich nur von sich selbst her, ist Phänomen im tatsächlichen Erleben, in der Faktizität von dessen Erlebnis, wie Lask schon am Ende von Die Lehre vom Urteil andeutet:

67 Vgl. Jakob Meier, Synthetisches Zeug. Technikphilosophie nach Martin Heidegger, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012, S. 173–175. 68 Vgl. ebd., S. 174–175. 69 Emil Lask, Die Lehre vom Urteil. Werke, Bd. 2, Jena: Schleglmann 2003 (orig. 1912), S. 304.

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Für die Logik besteht jedenfalls das Geheimnis der Wertgegensätzlich­ keit darin, daß aus der Berührung der übergegensätzlichen transzen­ denten Wertregion und der für sich untergegensätzlich-wertfremden sinnlichen Tatsächlichkeit des Erlebens – denn das Erleben als solches ist zeitliches Faktum und damit der sinnlichen Realität zugehörig – das immanente Zwischenreich des Gegensatzes und so auch des Unwertes hervorgeht.70

Ein Zugang zum Phänomen, kombiniert mit einer auf die Ontologie applizierbaren Wahrheitslehre, liefert, aus Heideggers Sicht, Edmund Husserl in seinen Logischen Untersuchungen, die Heidegger nach eigenen Angaben ständig aus der hiesigen Bibliothek ausgeliehen hatte.71 1916 wird Husserl nach Freiburg berufen, um die Nachfolge des Lehrstuhls für Heinrich Rickert anzutreten. Für Heidegger ist dies ein entscheidendes Ereignis, denn er wird als Assistent Husserls, wie John van Buren zuspitzt, von einem Neuscholastiker zu einem überzeugten Phänomenologen werden.72 Auch Husserls Phänomenologie ist aus einer mathematischen Theorie des Kolligierens hervorgegangen. In seiner Philosophie der Arithmetik und in seinen Studien zur Arithmetik und Geometrie stellt Husserl schon im Vorlauf der Logischen Untersuchungen heraus, dass das Zählbare eigentlich nur ein Phänomencharakter einer erlebbaren Operabilität ist und erst qua Phänomen als Zählbares erkannt werden kann, indem das Bewusstsein auf dieses Phänomen der zählbaren Entität ausgerichtet ist. Dieser Umstand, so Husserl, mache in Konse­ quenz eine »allgemeine Operationslehre« erforderlich.73 Heidegger wird diese erlebbare Operabilität später in zugespitzter Weise als ein sorgendes Anmessen deuten. Dabei knüpft er direkt an Lask und Husserl an, freilich ohne dies offen mitzuteilen. Die Erkenntnis der Phänomenalität einer erlebaren Operabilität bringt Husserl schließ­ lich dazu, seine mathematischen Studien zu unterbrechen und sich ganz der Phänomenologie zuzuwenden. Das Produkt sind bekannt­ lich die Logischen Untersuchungen, die von 1900 bis 1901 erscheinen. In dieser Untersuchung wird Husserl Folgendes deutlich: Für die

Ebd., S. 384. Vgl. Martin Heidegger, »Mein Weg in die Phänomenologie«, in: GA 14, S. 93. 72 Vgl. John van Buren, »The Earliest Heidegger: A New Field of Research«, in: A Companion to Heidegger, hrsg. v. Hubert L. Dreyfus und Mark A. Wrathall. Oxford: Blackwell 2007, S. 21. 73 Hua XII, S. 282; vgl. Hua XIX/2, § 37. 70 71

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Wahrnehmung der Phänomene muss es auch ein Maß geben. Dies zeigt Husserl in der sechsten Logischen Untersuchung, die Heidegger mit seinen Studierenden mehrmals durchgearbeitet hat.74 Hier ist insbesondere das fünfte Kapitel relevant. Dieses fünfte Kapitel der sechsten logischen Untersuchung trägt den Titel: Das Ideal der Adäquation. Evidenz und Wahrheit. Allein der Titel verweist schon auf die Brisanz des Problembezirks für Heidegger – es geht um die phänomenologische Wahrheit selbst im Sinne einer operational-theoretischen Provenienz, wie Husserl sie dann unter der Überschrift einer universalen Vernunft bis zu den Cartesia­ nischen Meditationen und der Krisis-Schrift weiter vertreten wird.75 Die Adäquation des Vernehmens zu seinem Gegenstand ist dabei das zu erstrebende performative Maß.76 Diese Performance nennt Husserl den intentional fundierten Akt oder die Fundamentalstruktur des Aktes qua Intentionalität. Zunächst verweist Husserl darauf, dass die Wahrnehmung, im Unterschied zu den untergeordneten sogenannten intuitiven und signitiven, d.h. den schauenden und bezeichnenden Akten, den Gegenstand in verschiedenen Graden der Abschattung gibt. Gemeint ist damit, dass sich der Gegenstand in seinen verschiedenen sichtba­ ren räumlichen und zeitlichen Perspektiven für unsere Sinneswahr­ nehmung zeigt. Husserl stellt dabei auch heraus, was der Grenzbe­ reich des Ideals der Fülle dieser Abschattungen ist: »Die ideale Grenze, welche die Steigerung der Abschattungsfülle zuläßt, ist im Falle der Wahrnehmung das absolute Selbst (wie in der Imagination das absolut gleichende Bild), und zwar für jede Seite, für jedes präsentierte Element des Gegenstandes.«77 Dieses ist in anderen Worten das Ideal Vgl. Martin Heidegger, »Mein Weg in die Phänomenologie«, in: GA 14, S. 98. In den Cartesianischen Meditationen nennt Husserl seinen Denkansatz eine »uni­ versale apriorische Phänomenologie« und sagt über sie im Schlussteil: »Dieses System des universalen Apriori ist also auch zu bezeichnen als systematische Entfaltung des universalen, im Wesen einer transzendentalen Subjektivität, also auch Intersubjekti­ vität eingeborenen Apriori, oder des universalen Logos alles erdenklichen Seins«, Hua I, S. 181. Diese von Husserl lebenslang durchgehaltene Programmatik ist für Heidegger für viele Jahre sowohl eine Quelle der Inspiration als auch Reibungspunkt bezüglich seiner von ihm aufgeworfenen Seinsfrage. 76 Vgl. Thomas Rolf, »Von der Wahrnehmung zur Problemlösung. Repräsentation und Wahrheit bei Edmund Husserl und C. Dennet« in: Mensch – Leben – Technik. Aktuelle Beiträge zur phänomenologischen Anthropologie, hrsg. v. Julia Jonas u. KarlHeinz Lembeck, Würzburg: Königshausen & Neumann 2006, S. 134f. 77 Hua XIX/2, § 37, S. 647, [S. 117]. 74 75

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der Deckung zwischen erfasster Bedeutung und dem tatsächlich so gegebenen Gegenstand qua intentional-verstehenden und folglich sinnstiftenden Aktvollzug bezüglich der Phänomene. Die vollkom­ mene Deckung als Adäquation ist dabei das teleologische Motiv. So erweist die Erwägung der möglichen Erfüllungsverhältnisse auf ein abschließendes Ziel der Erfüllungssteigerung hin, in dem die volle und gesamte Intention ihre Erfüllung, und zwar nicht eine intermediäre und partielle, sondern eine endgültige und letzte Erfüllung erreicht hat. Der intuitive Gehalt dieser abschließenden Vorstellung ist die absolute Summe möglicher Fülle; der intuitive Repräsentant ist der Gegenstand selbst, so wie er an sich ist. Repräsentierender und repräsentierter Inhalt sind hier identisch eines. Und wo sich eine Vorstellungsintention durch diese ideal vollkommene Wahrnehmung letzte Erfüllung ver­ schafft hat, da hat sich die echte adaequatio rei et intellectus hergestellt: das Gegenständliche ist genau als das, als welches es intendiert ist, wirklich ›gegenwärtig‹ oder ›gegeben‹; keine Partialintention ist mehr impliziert, die ihre Erfüllung ermangelte.78

Die Adäquation ist damit also die gegenwärtige angemessene Gege­ benheit des Gegenstands selbst. Dabei bedient sich Husserl der mittelalterlichen Termini res und intellectus und deutet sie um. Der intellectus ist die »gedankliche Intention« als Bedeutung und die res ist der sich zeigende Gegenstand. »Und die adaequatio ist realisiert, wenn die bedeutete Gegenständlichkeit in der Anschauung im strengen Sinne gegeben und genau als das gegeben ist, als was sie gedacht und genannt ist.«79 Das bedeutet, dass es auch eine vollständige Anglei­ chung bzw. Anmessung der Zeichen- und Anschauungsvollzüge an den Wahrnehmungsvollzug selbst gibt. In Husserls Terminologie übersetzt: Es zeigt sich eine Adäquation der signitiven und intuitiven Akte an dem Akt der Wahrnehmung, den der Gegenstand in aller Fülle gibt. Die Anschauung produziert dabei die finale Erfüllung der Intention des Bewusstseins. Husserl hebt daher hervor: »Wir müssen also unterscheiden: die Vollkommenheit der Anpassung an die Anschauung (der Adäquation im natürlichen und weiteren Sinn) von der sie voraussetzenden Vollkommenheit der letzten Erfüllung (der Adäquation an die ›Sache selbst‹).«80 Diese Anmessung an die Sachen selbst ist Diktum der Phänomenologie. 78 79 80

Ebd. Ebd., S. 648. Ebd.

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Doch was sind die Sachen selbst? Handelt es sich hier nicht ein­ fach um ein Transformat der Angleichung oder Adäquation vom Ver­ stand an die Sache, wie bei Thomas im Mittelalter? Es ist jedoch frag­ lich, ob eine moderne Fassung der klassischen Adäquationstheorie, wie sie etwa von Thomas von Aquin in De veritate entfaltet wurde, tatsächlich hinreichend ist, um das Maß der begegnenden Sachen in ihrem tatsächlichen Sein selbst abzugeben? Wenn das Phänomen als Zugang zu diesen Sachen selbst aus dem Erlebbaren erschlossen wird, ist dann nicht eine ideale bzw. abstrakte Anmessung als Adäquation völlig unzureichend, da sie dem Erleben des Phänomens der Welt und ihrer Sachen bzw. Dinge und deren Sein selbst nicht gerecht wird? Denn hatte nicht schon Lask in Die Lehre vom Urteil für das Sein des Gegenständlichkeitsbereichs gesehen, dass das Maß in diesem Erleb­ baren selbst zu finden sein muss? Ergo muss die Maßstabssuche am Phänomen und an der Faktizität dieses Erlebens selbst ansetzen, um das Sein der Dinge und das Verhältnis des Menschen zu ihnen auf­ weisbar zu machen. Genau dies wird Heideggers Anliegen sein und zwar als Suche nach einem performativ fundierten Maß des Seins selbst. Ein solches performatives Maß – das werden wir in den nächsten Kapiteln suk­ zessive herausarbeiten – wird ein wesentliches Motiv der Seinsfrage Heideggers ausmachen. Wir haben nun gezeigt, dass Heidegger die Suche nach der rechten Stellung dieser Frage aus der Auseinander­ setzung mit den Gedankensträngen seiner vier Lehrer Brentano, Braig, Lask und Husserls erwachsen ist. Die vier Fäden ihres Denkens erlauben schließlich, das Gewebe des Heideggerschen Ansatzes in Auseinandersetzung mit der Tradition der Metaphysik und anderen Denkern aus einem anderen Blickwinkel her zu entwickeln, als die bisherige Heidegger-Forschung es tat.

2. Heideggers erste Schritte zu einem Maß des Seins Heideggers Auseinandersetzung mit Brentano, Lask, Braig und Hus­ serl bezüglich der Frage nach einem Maß des Seins ist zu Beginn ein produktives als auch kritisches Unterfangen, zumal Heidegger sich auch schon sehr früh mit anderen Autoren, wie etwa Kierkegaard,

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Dilthey oder Nietzsche beschäftigt hat.81 Tatsächlich sind aber die oben genannten Lehrer für ihn hinsichtlich der Frage nach seinem Zugang zu einem Maß des Seins die einflussreichsten. Dies zeigt der Blick auf das frühe Motiv der Heideggerschen Frage nach dem Sein in Hinsicht auf dessen Maßstabsdenken. Dieses Motiv findet sich in der modernen Logik. Sie war für Heidegger zu einer Zeit zentral, in der er noch sehr stark von Braig beeinflusst war. Wir erinnern uns, dass Carl Braig das Maß und eine Ontologie des Seienden des allgemeinen Seins im Sinne eines quantitativen bzw. quantifizierenden Denkens vorangestellt hatte.82 Für Braig, wie auch für Brentano und die badischen Neukantianer, liegen beide Aspekte wurzelhaft in der Logik gegründet. Demnach fragt auch Heidegger zunächst nach dem aktuellen Stand der Logik, jedoch nicht, um einen auf Kalkulation beruhenden Charakter eines allgemeinen Seins zu bestätigen, wie Braig es getan hatte, sondern im Gegenteil: es geht Heidegger schon hier um eine kritische Zurückweisung dieses abstrakten, kalkulierenden und quan­ titativen Motivs in der Logik. Bereits in seinem frühen Aufsatz Neuere Forschungen über Logik zeigt Heidegger eine solche Kritik. Diese sticht dann in seiner Dissertation und Habilitation zwischen den Zeilen immer schärfer heraus und wird bis in sein Spätwerk hinein zur Kritik am rechnenden Denken ausgeweitet.

a) Vorblick auf ein Maßverständnis des Seins in Neuere Forschungen über Logik Heideggers Suche nach einem Maß und Maßstab für die Seinsfrage hat seinen Horizont folglich nicht im Nirgendwo, sondern konsti­ tuiert selbst seine werkimmanente Geschichtlichkeit. Dies zeigt sich besonders in seiner Dissertation und Habilitation. In diesen Texten wird sich bereits die Abhebung von einem quantitativen 81 Mit diesem Hinweis ist das Missverständnis abzuwehren, dass Heidegger in seinem Denken zum Maß, geschweige denn in seinem Denkansatz überhaupt, nur von diesen vier Autoren bestimmt gewesen sei. Sie sind bezüglich der Frage nach Heideggers Gedanken zu einem Maß des Seins nur die prominenten. Es steht der weiteren Forschung noch bevor, Heideggers Verhältnis zu anderen Denkern zu untersuchen, in der die Frage nach dem Maß des Seins eine gesonderte Rolle spielt. 82 Vgl. Kapitel I.1 in dieser Untersuchung.

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Maßstab zugunsten eines lebensweltlichen und performativen Maß­ stabs abzeichnen. Bereits in Neuere Forschungen über Logik wird eine Orientierung eben dieser Stoßrichtung eines qualitativ ausgerichteten Maßver­ ständnisses an den logischen Zusammenhängen von Sinn, Bedeu­ tung, Bewandtnis und der geschichtlich fundierten Zeit sichtbar. Dabei macht hier die logische Komponente keinen Aspekt, sondern vielmehr das tragende Gerüst für Heideggers frühe Fragestellungen bezüglich eines ersten Ansatzes eines anderen Seinsverständnisses und dessen Maßstabs aus.83 Heidegger selbst beteuert auch später immer wieder, dass sein Denken logisch fundiert sei.84 Diese Behaup­ tung soll hier nicht nur erhärtet werden, sondern überdies ist zu zeigen, dass diese logische Fundierung auf einen nicht statischen, abstrakten oder quantitativen, sondern performativen, qualitativen und konkreten Maßstab abzielt. Dieser Maßstab steht in Zusammen­ hang mit der Auseinandersetzung mit dem Sein und eines dafür notwendigen Wahrheitsverständnisses. So gesehen sind auch Heideggers frühe Freiburger Vorlesungen und die Arbeiten um und nach Sein und Zeit hinsichtlich einer Maßst­ absfindung durch logische Verstrebungen dekliniert. Seinen Ausgang nimmt dieses Verhältnis bei der selten beachteten Schrift Neuere Forschungen über Logik, die Heidegger bereits vor der Veröffentli­ chung seiner Dissertation und seiner Habilitation vorgelegt hatte und die schon 1912 in der Literarischen Rundschau für das katholische Deutschland von Heideggers Hochschullehrer J. Sauer herausgegeben wurde. Um also zu verstehen, worin die logischen Beweggründe eines Maßverständnisses hinsichtlich der Seinsfrage liegen, die Heidegger in den frühen Freiburger Vorlesungen voraussetzt, ist ein Blick auf diesen frühen Text unabdingbar. Dahlstrom zeigt auf, dass eines der wesentlichen Grundmotive Heideggers die Auseinandersetzung mit der Logik war, um ihre Selbstverständlichkeit und fraglose Vorurteilshaftigkeit herauszustellen, aus der Heidegger selbst herauszuwachsen hatte. Vgl. Daniel O. Dahlstrom, Das logische Vorurteil. Untersuchungen zur Wahrheitstheo­ rie des frühen Heidegger, Wien: Passagen 1994, S. 23–34. 84 Die Bedeutung der Logik für Heideggers Denken zeigt sich in voller Deutlichkeit in seiner Vorlesung Logik. Die Frage nach der Wahrheit von 1926, in der er die Logik als »Wissenschaft von der Wahrheit« bestimmt. GA 21, § 2, S. 7. Auch hält er sie bezüglich der Frage nach dem »primären Sein von Wahrheit« für konstitutiv. Ebd., S. 12. Ebenso fordert Heidegger später etwa in seinen Notizen (Überlegungen III und IV) die Notwendigkeit einer erneuten Auseinandersetzung mit der Logik ein. Vgl. GA 94, S. 194, Nr. 206; ebd., S. 229, Nr. 72–73. 83

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In den Neueren Forschungen über Logik referiert der noch recht junge Heidegger scheinbar zuerst über den logischen Horizont seiner Zeit und beweist damit außergewöhnliche Kenntnisse über den dama­ ligen Forschungsstand der Logik. In diesem Zuge schließt er sich der laskschen und rickertschen Psychologismuskritik an.85 Eine solche Lektüre, die bei dieser Erkenntnis stehen bleibt, reicht aber nicht aus. Denn in den Neueren Forschungen über Logik stellt Heidegger nicht nur einige Ansätze zeitgenössischer Autoren zur Logik und zu ihrer Vorgeschichte heraus, sondern er zeigt überdies zwischen den Zeilen, dass er bereits einen eigenen Standpunkt zur Logik vertritt, der von Rickerts und Lasks Ansatz durchaus schon abweicht, wenn auch zunächst nur ex negativum. Dies ist wahrscheinlich auch der Grund, warum die eigene Ansicht des jungen Heideggers zur Logik von der Heidegger-Forschung lange oft nur beiläufig behandelt wurde. Dass der Text Neuere Forschungen über Logik neuerdings für beachtenswert und brisant befunden wird, ist Theodore Kisiel zu verdanken, der als einer der Ersten diesen Aufsatz des jungen Heideggers genauer unter die Lupe genommen hat. Kisiel sieht Heideggers frühe Bestrebungen vor allem unter dem Einfluss Lasks, jedoch auch darin, sich bereits von einer Fokussierung auf das Seiende, sei es physischer oder meta­ physischer Natur, zugunsten einer Fundierung der Philosophie auf die Logik als ός zu lösen.86 Kisiel geht sogar noch einen Schritt weiter, wenn er in den Neueren Forschungen über Logik Heideggers bereits vorhandene Eigenständigkeit hinsichtlich der Seinsfrage bemerken will: »Here we have the first appearance in Heidegger not only of the theme of the ontological difference but also that of its oblivion […].«87 Es ist an dieser Stelle nicht unsere Sache, diese These von Kisiel zu prüfen. Hinsichtlich der logischen Implikationen für eine Maßstabsorientierung des frühen Heideggers interessiert uns statt­ dessen die Eigenständigkeit des jungen Denkers. Besonders relevant ist die später in der Dissertation angedeutete und schließlich in der Habilitation und Antrittsvorlesung vorgenommene logisch fundierte Abhebung eines nicht-quantitativen Maßverständnisses. Vgl. Matthias Jung, »Die ersten akademischen Schritte (1912–1916). Zwischen Neuscholastik, Neukantianismus und Phänomenologie«, in: Heidegger Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart: Metzler 2003, S. 6. 86 Vgl. Theodore Kisiel, Heideggers Way of Thought. Critical and Interpretative Sign­ posts, ed. v. Alfred Denker u. Marion Heinz, New York: Continuum 2002, S. 105–106. 87 Ebd., S. 106. 85

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Beim Durchsprechen der Logiker seiner Zeit, hebt Heidegger Lotzes, Rickerts und Lasks Bevorzugung einer relationsorientierten Urteilstheorie gegenüber einer traditionellen grammatischen Urteils­ theorie hervor, um auch impersonale Urteile, wie etwa »es donnert«, logisch betrachten zu können.88 Das impersonale Urteil wird ab der Habilitation für Heidegger abermals wichtig und in seinem weiteren Denkweg hier und da immer wieder aufgegriffen und weiterentwi­ ckelt. Heidegger weist nun schon in Neuere Forschungen über Logik daraufhin, dass für impersonale Urteile eine funktionale Logik, wie sie etwa Frege entworfen hat, konstitutiv ist.89 Des Weiteren habe Husserl sie in einer Urteilstheorie gegen den Psychologismus wen­ den können, indem er gezeigt habe, dass psychische Vorgänge des Verstandes zwar gegeben sind, jedoch die Logik des Verstandes gelte, wobei Heidegger freilich auch Lasks Rezeption der Logischen Untersu­ chungen Husserls mitbedenkt.90 Mit Lask vertritt der junge Heidegger insbesondere die Überlegungen die Funktionsseite in der Syntax des modern verstandenen logischen Urteils als das »All des Denkbaren« oder als das »Etwas überhaupt« zu interpretieren. Heidegger steht hier

Vgl. GA 1, S. 31. Vgl. ebd., S. 20–21. Hier muss implizit auch Daniel O. Dahlstroms Auffassung vehement widersprochen werden, wenn er behauptet, Heidegger empfehle seinen Studenten nicht die Logik Freges, Russells und Whiteheads, weil er auf »[…] gewisse Grenzen […]« in seinem »[…] Verständnis der Lage der Logik und der Philosophie der Logik zu seiner Zeit […]« stoße. Und weiter: »Der Vorwurf besteht wohl nicht zur unrecht, daß Heidegger dasjenige Denken nicht einzuschätzen wußte, das Formali­ sierung oder Symbolisierung erfordert und das von solcher Formalisierung wiederum erfordert wird.« Dahlstrom, S. 34. Fakt ist, dass Heidegger schon in Neuere Forschun­ gen über Logik folgendes zu Freges Logik schreibt, was für sich selbst stehen dürfte: »G. Freges logisch-mathematische Forschungen sind meines Erachtens in ihrer wahren Bedeutung noch nicht gewürdigt, geschweige denn ausgeschöpft. Was er in seinen Arbeiten über ›Sinn und Bedeutung‹, über ›Begriff und Gegenstand‹ niedergelegt hat, darf keine Philosophie der Mathematik übersehen […].« GA 1, S. 20. Überhaupt dürften die Inhalte der Neueren Forschungen über Logik belegen, dass Heidegger die Formalisierung und die Symbolisierung der algebraischen Logik in ihrer philosophi­ schen Bedeutung sehr wohl einschätzen konnte. Der Grund der Auslassung dieser formalen Zugänge zur Logik in den späteren Logik-Vorlesungen Heideggers ist viel­ mehr bewusst von ihm gewählt, nämlich aufgrund seiner Ablehnung eines quantita­ tiv- und wertorientierten Maßstabs des Seins, was sich im weiteren Verlauf noch erhärten wird. 90 Vgl. ebd, S. 22–23. Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen I. Erster Band. Prolegomena zur reinen Logik, 5. Aufl., Tübingen: Niemeyer 1968 (orig. 1900), § 57 ff., insb. Kap. 11. Die Idee einer reinen Logik. 88

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freilich noch im Einfluss von Lasks Kategorienlehre.91 Entsprechend entwickelt Heidegger, zunächst noch in Anlehnung an Husserl und Lask, wie ein Urteil über einen Gegenstand gefällt wird und wie Sinn im Gelten des Urteils auf diesen Gegenstand übertragen wird.92 Dies führt Heidegger dann zu dem Problem, wie die Evidenz der Wahrheit des Urteils möglich ist. Bereits hier stellt sich Heidegger die entscheidende Frage, die sich für ihn aus Lasks Überlegungen aus der Lehre vom Urteil ergibt: Handelt es sich bei der Übertragung des Sinns und dessen Wahrheit auf den beurteilten Gegenstand um eine Tatsachen- oder Werteigenschaft?93 Es zeichnet sich schon an dieser Stelle die Maßstabsproblematik ab, die dann in den frühen Freiburger Vorlesungen akzentuierter hervortreten wird: Entweder ist die Wahrheit des Urteils aus den Tatsachen selbst oder aus einem idealen Wertesystem abzuleiten, d.h. sie ist entweder tendenziell qua­ litativ oder tendenziell quantitativ zu bemessen. Der junge Heidegger konstatiert, dass sich das logische Denken bis in seine Zeit hinein an der quantitativen Seite orientiert habe. Dies zeige die Zuspitzung der Logik auf eine Mengenlehre und nun auch auf die mathemati­ sche Gruppentheorie, die auf einer allgemeinen Logik der Relation abziele, wobei »[…] die algebraische Methode und deren Symbole zur Behandlung der logischen Probleme herangezogen wurden.«94 Heidegger wird dabei sicherlich vor allem Frege und Russell im Blick gehabt haben, die ihm in Neuere Forschung zur Logik schon bekannt waren.95 Bereits 1912, d.h. vor der Dissertation und der Habilitation, entscheidet sich Heidegger gegen die zeitgenössische Tendenz, eine mathematische Orientierung der Logik voranzutreiben. Dies ist zen­ tral, da die Logik für den jungen Heidegger durch Lotzes, Lasks und Rickerts Einfluss auch immer schon mit einem Maß- und Seinsver­ ständnis durch das Urteil einhergeht. So kommt Heidegger bereits in Neuere Forschung über Logik zu dem frühreifen Resümee, dass die Klassen- und Relationskalküle als funktionale Operationen für eine Identität von Logik und Mathematik konstitutiv seien. Dabei Vgl. GA 1, S. 24–25. Vgl. ebd., S. 36. 93 Vgl. ebd., S. 39; vgl. Kapitel I.1b, in dieser Untersuchung. 94 GA 1, S. 42. 95 Vgl. GA 1, S. 20; S. 42. Auch dieser Textverweis dürfte gegen Dahlstroms Behaup­ tung sprechen. 91

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sieht der junge Heidegger aber schon ein Problem: so komme die aus ihnen entstandene Logistik nicht aus dem Mathematischen heraus und könne so auch nicht zu den eigentlichen Problemen der Logik – nämlich einer Interpretation von Bewandtnis von Sinn- und Bedeu­ tungskomplexen – vordringen.96 So schreibt der junge Heidegger schließlich zum Schluss des Referats: Die Schranke sehe ich in der Anwendung der mathematischen Symbole und Begriffe (vor allem des Funktionsbegriffes), wodurch die Bedeu­ tungen und Bedeutungsverschiebungen der Urteile verdeckt werden. Der tiefere Sinn der Prinzipien bleibt im Dunkeln, das Urteilskalkül, z.B. ist ein Rechnen mit Urteilen, die Probleme der Urteilstheorie kennt die Logistik nicht. Die Mathematik und die mathematische Behandlung logischer Probleme gelangen an Grenzen, wo ihre Begriffe und Methoden versagen, das ist genau dort, wo die Bedingungen ihrer Möglichkeit liegen.97

Diese Bedingungen sind aber schon für den jungen Heidegger gerade der qualitative Maßstab einer Bewandtniskomplexion von Bedeut­ samkeiten zueinander und die Übertragung von Sinn auf einen konkreten Gegenstand. Selbst eine grundsätzlich logische Axiomatik der Mathematik etwa, kommt nicht ohne wenigstens konstitutive Elemente einer Sinnstiftung von Bedeutsamkeiten aus, wenn sie Wahrheitsgehalt beansprucht, was im Prinzip selbst noch für die sehr abstrakte und in sich schlüssige Axiomatik von Poincaré zutrifft.98 Vgl. GA 1, S. 42. GA 1, S. 42–43. Auch ist hier der Denkweg gegen ein hauptsächlich rechnendes Denken zugunsten eines sinn- und bedeutungsorientierten Denkens schon angezeigt. Heidegger ist sich wohl auch im Klaren darüber gewesen, dass er mit einem solchen Resümee anecken musste. So schreibt er einen Brief an Rickert bezüglich seines Auf­ satzes, der aufgrund der Sachlage apologetisch zu verstehen ist: »Ich versuchte letztes Jahr in der ›Literarischen Rundschau für das katholische Deutschland‹, herausgegeben von Sauer, eine Übersicht über neuere Forschungen in der Logik zu geben. Den ›Phi­ losophen‹ war das meiste eine terra incognita. Sie verstehen, hochverehrter Herr Geheimrat, daß ich das obige nicht geschrieben habe, um mich im jungen Eifer eines Besserwissens über altes hinwegzusetzen, sondern aus der klaren Erkenntnis heraus, daß bei dieser Methode unser Philosophieren auf dem toten Punkt bleibt.« Martin Heidegger/Heinrich Rickert, Briefe 1912–1933 und andere Dokumente. Hrsg. v. Alfred Denker, Frankfurt am Main: Klostermann 2002, S. 12. 98 Darauf macht Annette Garbe aufmerksam. Sie zeigt jedoch, dass das Problem der Bedeutung wenige Jahre später bei David Hilberts logischer Axiomatik nicht mehr auftrete, sobald dieser sie als rein formale Axiomatik entwickle. Hilbert muss dann aber auch auf Grund der Abtrennung von jeder Bedeutsamkeit in dieser Axiomatik 96 97

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Dieses Problem zeichnete sich auch besonders deutlich in Husserls Philosophie der Arithmetik ab, die Husserl zunächst von dem Versuch der Begründung einer allgemeinen Arithmetik durch eine Theorie des primären Kolligierens zur Begründung einer »allgemeinen Operati­ onslehre« abtrieb, die ihn schließlich zu den Logischen Untersuchun­ gen und zur Frage nach der Intentionalität umleiten musste.99 Diese Schwierigkeit hatte Heidegger vor Augen, der sich zu dieser Zeit ein­ gehend mit Husserls Logischen Untersuchungen und deren Beweg­ gründen auseinandersetzte. Diese Beschäftigung motivierte ihn schließlich schon früh dazu, ein mathematisch-algebraisches, mithin abstraktes, quantifizierendes Logikverständnis als lebensfremd und bedeutungsverdeckend auszuweisen.100

b) Maßstab und Maßgabe in Heideggers Dissertation Nun weitet Heidegger dieses Grundsatzproblem mit der Logik noch weiter auf die Maßstabsfrage aus. In der Dissertation fragt Heidegger nämlich in Auseinandersetzung mit den psychologistischen Urteils­ theorien, denen er zunächst die neukantianische Haltung einer funk­ tional orientierten Logik entgegenhält, wie ein Maßstab des Seins im urteilsbildenden Denkakt möglich sei: »[W]o liegt der Maßstab, an dem die Denkakte sich messen?«101 Mit Maier – und letztlich mit Lotze, Rickert und Lask – findet der frühe Heidegger noch im allgemeinen Wahrheitsanspruch der Logik und dem daraus folgenden Gelten des Urteils diesen Maßstab.102 Auch wenn Heidegger diese den Anspruch auf Wahrheit aufgeben und kann als Kriterium allein die Widerspruchs­ freiheit anführen. Vgl. Annette Garbe, Die partiell konventional, partiell empirisch bestimmte Realität physikalischer Raumzeiten, Würzburg: Königshausen & Neumann 2001, S. 103–104. 99 Vgl. Hua XII, S. 282. 100 Vgl. Martin Heidegger, »Mein Weg in die Phänomenologie«, in: GA 14, S. 93–95. 101 FS, S. 49. Grammatische Ergänzung M.M. 102 Vgl. Jakob Meier, Synthetisches Zeug. Technikphilosophie nach Martin Heidegger, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012, S. 173ff. Escudero weist außerdem auf den Umstand hin, dass sich Heideggers Position zu den Urteilstheorien von Lotze, Rickert und Lask – und damit auch zu einer Interpretation eines logisch fundierten Maßstabs –, an den Grenzen des Psychologismus als Auseinandersetzung mit dem idealen Gel­ ten eines spezifischen realen Inhalts abzeichnet. Vgl. Jesús Adrián Escudero, Heidegger and the Emergence of the Question of Being, übers. v. Juan Pablo Hernández Betancur, London: Bloomsbury 2015 (orig. 2010), S. 27.

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lineare bzw. algebraisch funktionalistische Auffassung aus den oben bereits angezeigten Motiven ablehnen wird, so ist ihm die Logik selbst als Zugang zur Wahrheit weiterhin ein Maßstab, der auch konstitutiv für Heideggers Seinsfrage bleiben wird. Das Bekenntnis zur Logik selbst gibt Heidegger also zu keinem Zeitpunkt auf. Die Frage, welches Maß für eine solche Logik notwendig ist, wurde in diesem Zusammenhang nicht erst von Heidegger in seiner Disserta­ tion aufgeworfen. Wir sahen bereits weiter oben, wie diese Frage zuvor von Lotze und Lask, aber auch in den Arbeiten des frühen Brentano vorgezeichnet wurde. Der Maßstab bestimmt sich allerdings nicht nur durch das logische Gelten; dieser wird vielmehr durch das Apriori des Sinns indiziert, indem das Urteil, seine Geltung und sein sinnbesetzter Gegenstand Wahrheit beanspruchen: etwas gilt als etwas. »Das Urteil der Logik ist Sinn. Sobald das Urteil als Gegenstand der Logik zum Problem gemacht wird, muß es etwas sein, das gilt.«103 Am positiven und negativen Urteil zeigt Heidegger dann die Irreduzibilität des Sinns im Urteil. »Für die Logik bleibt der Sinn ganz ausschließlich maßgeblich.«104 Damit ist bereits ein Weg vorgezeich­ net, der an Rickerts Implikation des Sinns einerseits und an Emil Lasks Verständnis des Verhältnisses von Maß und Sein andererseits anknüpft.105 Das logische Verhältnis zum Sein der Wahrheit, und reziprok zur Wahrheit des Seins, lässt sich demnach erst durch die Maßgabe des Sinns sichtbar machen.106 Daraus lässt sich bereits folgern, dass eine allgemeine und vom konkreten Sinn abstrahierende Lehre der Adäquation von Wert und Geltung als angemessenes Verhältnis eines spezifischen Subjekts an sein generelles Prädikat – oder im logischen Jargon Freges gespro­ chen, der sowohl auf Husserls als auch auf Lasks logische Termi­ nologie wirkte –, ein einzelnes Argument in Verklammerung zur seiner allgemeinen Funktion, auf Dauer nicht mehr von Heidegger als Interpretation zwischen einem erkennenden Menschen und der Auslegung seiner Welt hingenommen werden kann. Mit der Impli­ FS, S. 114. Ebd., S. 125. 105 Vgl. Kapitel I.1b dieser Untersuchung. Vgl. Ernst Wolfgang Orth, »Leben und Erlebnis bei Heinrich Rickert. Zur Frage der Kontingenz im Neukantianismus« in: Christian Krijnen und Ders., Sinn, Geltung, Wert. Neukantianische Motive in der modernen Kulturphilosophie. Würzburg: Königshausen & Neumann 1998, S. 89f. 106 Vgl. Alfred Denker, »Der frühe Heidegger und die Logik der Philosophie«, in: Ders. u. Holger Zaborowski, Heidegger und die Logik, Amsterdam: Rodopi 2006, S. 23. 103

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kation des Sinns, der eine gewisse Reichweite von Transzendenz – und sei es nur die der (geschichtlich) gegebenen Welt – nicht aus­ schließt, richtet sich Heidegger dann auch gegen das Braigsche quan­ titative Konzept des Maßstabs des Seienden und vor allem gegen das Rickertsche Motiv einer an abstrakter Allgemeinheit orientierten Logos-Immanenz.107 Dies zeigt sich für Heidegger noch deutlicher im zeitlich limitierten impersonalen Urteil, welches Heidegger, bereits von Lotze herkommend, seit den Neueren Forschungen über Logik bekannt ist. Das berühmte Beispiel Lotzes, das auch Heidegger in diesem Aufsatz aufnimmt, lautet: »Es blitzt.«108 Auch in diesem Urteil ist der Sinn maßgebend; und zwar wird dieser hier vom temporal bestimmten Ereignis selbst her dekliniert.109 Wir sehen an diesen Momenten der Dissertation Heideggers bereits die Stoßrichtung seines späteren Denkens durch eine Ein­ grenzung der logischen Sachverhalte vorgezeichnet. Damit wird die Reichweite für das Denken selbst sondiert: nämlich als eine intensive, implizite und z.T. auch explizite Maßstabssuche und -orientierung, die bereits hier die Frage nach einem Moment des temporalen und sinnfundierten Ereignisses evozieren.

107 Auf die Rolle des Sinns hinsichtlich des Immanenz- und des Transzendenzpro­ blems hat auch Enders schon im Zusammenhang mit der Habilitationsschrift Heideggers hingewiesen. Vgl. Markus Enders, Transzendenz und Welt, Frankfurt am Main: Lang 1999, S. 107. Ebenso hat Alfred Denker darauf besonders aufmerksam gemacht. Denker hat gezeigt, dass diese Haltung auch mit Heideggers neuscholasti­ scher Prägung, die entscheidend durch Braigs Ontologie bestimmt ist, konvergiert. Vgl. Denker, S. 20. 108 Vgl. Hermann Lotze, Logik. System der Philosophie. Erster Teil. Drei Bücher der Logik, Leipzig: Meiner 1912, S. 71f. Theodore Kisiel weist in seiner genealogischen Untersuchung bis zu Heideggers Sein und Zeit ebenso explizit auf die frühe Referenz Heideggers auf das impersonale Urteil und dessen zentrale Bedeutung für eine geschichtlich fundierte Faktizität des Lebens hin, wie Heidegger sie in den frühen Vorlesungen entwickelt. Vgl. Theodore Kisiel, The Genesis of Heidegger’s Being and Time, Berkeley: California University Press 1993, S. 25; S. 33. 109 Vgl. FS, S. 126–128; vgl. Jeffrey Andrew Barash, Heidegger und der Historismus. Sinn der Geschichte und der Geschichtlichkeit des Sinns, übers. v. Karin Spranzel, Würzburg: Königshausen & Neumann 1999, S. 95ff.

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c) Heideggers Habilitation: Das Maß in der Wahrheit, der Mathematik, der Logik, und in der haeccitas Kisiel weist zu Recht auf den Umstand hin, dass Heideggers eigent­ liches Denken schon in seiner Habilitation beginnt: »it all began in the habilitation work of 1915.«110 Dies gilt insbesondere auch für Heideggers Frage nach einem Maß des Seins.111 Denn in der Habilita­ tion konzentriert sich der junge Heidegger noch einmal erneut – dies­ mal aber weitgreifender und fokussierter – auf die Maßstabsorientie­ rung hinsichtlich des »Gesamtbereich[s] des ›Seins‹“, wie Heidegger es in der Dissertation schon ankündigt.112 In der Habilitation analysiert Heidegger die Logik des Duns Scotus (alias Thomas von Erfurt, wie die Forschung später herausstellen sollte)113 unter Einfluss von Lask hinsichtlich einer in ihr enthaltenen oder aus ihr deduzierbaren Kate­ gorienlehre. Unter Husserls Impetus der Logischen Untersuchungen und der Ideen einer reinen Phänomenologie entsteht der Zugang zu der sogenannten scotischen Bedeutungslehre.114 Insbesondere an Lask anknüpfend, entfaltet Heidegger hier noch expliziter einen Zugang zu

Vgl. Kisiel, S. 19. Wie entscheidend tatsächlich die Maßfrage hinsichtlich der Bedeutung der Diffe­ renz von Qualität und Quantität aus dem Horizont der Logik für Heidegger gewesen sein muss, wird schon allein daran deutlich, dass – wenn Heidegger nicht durch äußere Umstände zu Duns Scotus gebracht worden wäre – er seine Habilitation eigentlich zur Logik des Zahlbegriffs schreiben wollte, worauf Otto Pöggeler mehrfach aufmerk­ sam gemacht hat. Vgl. Otto Pöggeler, Heidegger in seiner Zeit, München: Fink 1999, S. 8; S. 25. Dies ist für die Leitgedanken der Habilitation zu Duns Scotus unbedingt im Auge zu behalten. 112 Vgl. FS, S. 128. 113 Vgl. Sean J. McGrath, »Die scotische Sprachphilosophie« in: Heidegger und die Anfänge seines Denkens. Heidegger Jahrbuch, Bd. 1., hrsg. v. Alfred Denker et al., Frei­ burg: Alber 2004, S. 244. 114 McGrath macht darauf aufmerksam, dass diese Bedeutungslehre bereits im Kon­ text von Heideggers Habilitationsschrift den Schwerpunkt auf ein performatives Moment, nämlich den Vollzugssinn, impliziert. Dies ist auch für die Frage nach dem Maß im Zusammenhang mit der Seinsfrage im Auge zu behalten. Vgl. Sean J. McGrath, The Early Heidegger and Medieval Philosophy. A Phenomenology for the Godforsaken, N.N.: Catholic University of America Press 2006, S. 74. Cimino widmet dem Moment des Performativen bei Heidegger eine ganze Schrift und macht explizit darauf aufmerksam, dass, worauf es Heidegger ankomme, sei »[…] sich zur Sache selbst als letzten Maßstab zu verhalten.« Antonio Cimino, Phänomenologie und Voll­ zug. Heideggers performative Philosophie des faktischen Lebens, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 2013, S. 47. 110

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einer Maßstabsorientierung, in der sich für ihn immer deutlicher die Frage nach dem Sein abzeichnet. Sehen wir uns die Habilitationsschrift zu Duns Scotus selbst an, so erfahren wir, dass Heidegger auch hier einen modernen Zugang zur Logik vertritt. Diesen verflechtet er mit den logischen Problemen der Scholastik, die er im Scotus-Text erkundet. Der Titel seiner Arbeit heißt: Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus. Diese beiden Lehren arbeitet Heidegger getrennt voneinander ab. Die Einflüsse der Denker Husserl und Lask, aber auch die Rickerts sind durch diese ganze Analyse Heideggers deutlich spürbar.115 Die sich aus der Kategorienproblematik ergebende Bedeutungslehre ist für Heidegger besonders relevant. Der Grund liegt, wie schon in der Dissertation, darin, die Frage nach der mannigfachen Bedeutung des Seienden im Verhältnis zum Sein selbst sichtbar zu machen, die sich Heidegger durch Brentanos Dissertation aufgedrängt hatte.116 Es sind die mannigfachen Wirklichkeitsweisen des bedeutsamen Seienden, die Heidegger zwar nicht beweisen, die er aber sehr wohl phänome­ nologisch aufweisen will. Von Anfang an ist ihm das Kategorienpro­ blem als systematische und logische Ordnungsaufgabe und damit als Maßstabsorientierung wichtig. Heidegger setzt auf den ersten Seiten seiner Schrift den Begriff »Ordnung« mit einem logischen »Ort« in Zusammenhang. Dieser Ort der Logik sei das Bezugssystem.117 Damit sieht Heidegger schon in frühen Jahren – wenn auch nicht in aller Klarheit –, dass eine Bewandtnisganzheit, ein intentionaler Nexus, und nicht ein linearer Vorgang, den logischen Ort fundiert, der ihn als Maß bestimmt und begrenzt.118 Dies soll für eine spätere Interpretation des Heideggerschen Denkens zum Verhältnis von Maß und Sein im Auge behalten werden, wobei sich die Problemlage im Malstrom einer endlichen Geschichte und limitierten Zeitlichkeit noch zuspitzen wird.

115 Darauf macht auch Kisiel zu Beginn seiner umfassenden Studie zur Genese von Sein und Zeit aufmerksam. Vgl. Theodore Kisiel, The Genesis of Heidegger‘s Being and Time, Berkeley: University of California Press 1993, S. 18; S. 21ff. 116 Rentsch weist zudem darauf hin, dass Heidegger bereits in der Habilitationsschrift »[…] die phänomenologische Analyse auf Texte […]« anwendet, d.h. einen Zugang zur Phänomenologie über Husserl hinaus erworben hat. Vgl. Thomas Rentsch, Martin Heidegger. Das Sein und der Tod. Eine kritische Einführung, München: Piper 1989, S. 39. 117 Vgl. FS, S. 154. 118 Vgl. Kisiel, S. 37.

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Doch zunächst ist das Maß in Heideggers Habilitationsschrift trotz aller vorausgegangenen Kritik an der auf Allgemeingültigkeit ausgerichteten Logik des Neukantianismus und vor allem an Lasks Terminologie und Methodik orientiert. Heidegger folgt zunächst noch der Geltungs- und Wertelehre von Lasks Logik- und Kategorienschrift und seinem Werk Die Lehre vom Urteil.119 So kann die logische Ordnung und Verortung zunächst von Heidegger noch nicht selbst, wie später in Sein und Zeit, als Bewandtnisganzheit gedacht werden. Stattdessen verbleibt er aufgrund mangelnder eigener logischer Vor­ überlegungen anfangs noch bei einer prinzipiell linear orientierten Kategorienlehre, die qua logischer Indizes zu einem »überschaubaren Ganzen« geordnet werden soll.120 Um das Problem von Maß und Sein hier ausmachen zu können, muss zunächst etwas ausgeholt werden. In der Tradition von Lotze, Windelband und Rickert, Lask und auch dem Husserl der Logischen Untersuchungen, beginnt Heidegger mit dem Etwas überhaupt als Einheit von Geltung und Gegenstand. Das Etwas überhaupt ist dabei als die logische Funktion zu verstehen, in der der logische Gegenstand als Argument Wahrheit beansprucht, insofern er gilt. Die Einheit von Etwas überhaupt (die Funktion) und den geltenden Gegenstand (das Argument) glaubt Heidegger bei Duns Scotus (alias Thomas von Erfurt) als Unum ableiten zu können.121 Das Unum stehe als Einheit des Gegenstandes als Etwas überhaupt in einer ontologischen Reziprozität mit dem Ens, d.h. dem Seienden: Das Seiende, welches wieder im Verhältnis zu anderen Entitäten steht, ist demnach die

Vgl. in dieser Untersuchung Kap. I.1b. Kisiel hebt außerdem hervor, dass nicht nur zentrale, sondern auch periphere Termini in Heideggers frühen Schriften den »Stempel von Lask« (the stamp of Lask) tragen. Vgl. Kisiel 1993, S. 25. 120 FS, S. 154. Man darf auch nicht vergessen, dass es sich hier um eine Zweckschrift handelt, die Heidegger zu einer Professur verhelfen sollte und in der zu scharfe Kritik und eine Neuausrichtung gegen die Ansätze der Vertreter der Prüfungskommission sicherlich auch in taktischer Hinsicht eher unklug gewesen wären. Heidegger war hier gewiss auch aus pragmatischen Gründen bei der Logik der Neukantianer verblieben, die er schon insgeheim für obsolet gehalten haben musste, wenn man die schon auf­ gezeigte Kritik zwischen den Zeilen beachtet. 121 Vgl. insb. Lasks Zuspitzung des »geltenden Etwas« auf das Kategorienproblem, das Heidegger sicher ein Sprungbrett für seinen eigenen Zugang gewesen sein muss: Emil Lask, Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre, Werke, Bd. 2, Jena: Schleglmann 2003 (orig. 1910), S. 20f. 119

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Einheit des Gegenstandes als Etwas überhaupt und umgekehrt.122 So geht es dem jungen Heidegger dann auch um den Gesamtsinn des Etwas überhaupt als Gegenstandssphäre. Das Unum sei dafür bedeutsam, insofern es das Urelement des Gegenständlichen und die Bedingung der Möglichkeit von Gegenstandserkenntnis überhaupt ausmache.123 Das Ens ist dabei nach Heideggers Lektüre des scoti­ schen Textes zugleich nicht nur Unum, sondern auch Verum (das Wahre) und Bonum (das Gute) Heidegger interessiert das Bonum für das sich auftuende logische Problem zunächst nicht, sondern stattdessen vielmehr das Verum und das Unum. Zuerst schaut Heidegger sich das Unum an. Als Quasieigenschaft des Seienden (ens) ist es als Einheit Katalysator eines Anderen, was es selbst von sich und anderem als Einheit (unum) überhaupt abgrenzt. Vorrang kann also weder das Unum noch dessen Heterothesis haben, d.h. das Viele (multum). Vielmehr sind beide gleichursprünglich, d.h. deren »Beziehung« zueinander ist entscheidend. Das Unum und das Multum sind für Heidegger aber zunächst weder Zahl noch Quantität; sie sind zuvor als zwei verschiedene Qualitäten zu denken, die erst als Zahl interpretiert werden müssen, bevor sie quantitativ deutbar werden.124 Diese Weise des Unum, die Heidegger mit Scotus‘ unum transcendens in Verbindung bringt, meine nichts anderes als »Identität« qua Formung. Als Zahl hätte diese Identität schon eine »Bewandtnis«, also eine Interpretation in bestimmter Hinsicht und in einem bestimmten Komplexionszusammenhang, hinter sich. Als Identität könne die Entität aber erst bestehen, wenn ihr – fichteanisch gesprochen – ihre Nichtung, d.h. ihre Nichtidentität entgegensteht. Seiendes und Nichtseiendes sind somit voneinander durchdrungen, oder anders gesprochen, miteinander verflochten. Denn allein so zeichne sich ein Maß ab, an der Verschiedenheit sichtbar werden kann und in der Verbindung und Trennung statthaben. »Nur dort, wo es einen Gesichtspunkt, eine höhere Einheit gibt, an der das zu Untersuchende gemessen werden kann, ist so etwas wie Verschieden­ So schreibt auch Husserl in den Logischen Untersuchungen in Zusammenhang der Wahrheit mit der Wissenschaft: »Den Grund von etwas erkennen, heißt die Notwen­ digkeit davon, daß es sich so und so verhält, einsehen. Die Notwendigkeit als objek­ tives Prädikat einer Wahrheit (die dann notwendige Wahrheit heißt) bedeutet soviel wie gesetzliche Gültigkeit des bezüglichen Sachverhaltes.« Vgl. Hua XVIII, § 63, S. 231. 123 Vgl. FS, S. 156. Vgl. Kisiel, S. 33. 124 Vgl. FS, S. 160. 122

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heit möglich.«125 Für Heidegger ist folglich die Bestimmtheit, d.h. die Unterschiedenheit qua Einheit (unum transcendens), das konstitutive Maß für die Mannigfaltigkeit des Seienden. Anders verhalte es sich bei dem Unum in der Deutung als Zahl. Hier liest Heidegger aus dem scotischen Text das Unum schon als quantitativ determinierte Einheit heraus. Das quantitative Maß, das Maß der Rechnung also, bestimme diese Interpretation des Unum. Heidegger hinterfragt aber diesen Primaten der Quantität, indem er mit Referenz zum Scotus-Text zu bedenken gibt, wie denn überhaupt gezählt und quantitativ gemessen werden könne, wenn jede Realität ihr Hier und Jetzt, wörtlich: eine »Hierheit« (haeccitas), d.h. ihre eigene konkrete Individualität habe. Die Lösung sei, dass die Zahl – anders als die mannigfaltigen Variationen des hier und jetzt Seienden – in ein homogenes Medium übertragen würden. Dieser Kunstgriff erlaube erst so etwas wie ein Maß der Quantität, nämlich das Wie­ viel von homogenisierten Einheiten zu denken. Solche quantitativen Einheiten gibt es demnach im strengen Sinne nicht ursprünglich in der Wirklichkeit; in Wahrheit können sie nur künstlich, d.h. mit einer gewissen Gewalt, eingeführt werden. Heidegger folgert: »In der realen Welt herrscht also nicht der Maßbegriff, der in der Mathematik die Quantitäten bestimmt. Soll er auch auf die Realität anwendbar sein, so muß deren Ordnungscharakter der Analogie, die Heteroge­ nität einschließt, zerstört und sie lediglich so betrachtet werden, daß Homogenität besteht.«126 Deswegen ist es für Heidegger nicht sinnvoll, das scotische Unum als Zahl auf die Realität zu übertragen. Das andere Problem, das Heidegger in diesem Zugriff auf die reale Welt sieht, ist die Einschränkung durch eine Logik der Linearität. Obschon Heidegger sich selbst zunächst noch mit einer linearen Logik behilft, ist es bemerkenswert, dass er, der später gegen ein nur noch rechnendes Denken argumentiert, schon in der Habilitation darauf hinweist, »[…] daß vor allem die reine Zahl außerstande ist, die empirische Wirklichkeit und weiterhin das Historische in seiner Indi­ vidualität zu erfassen; dazu reichen auch nicht Reihensysteme aus, deren gemeinsamer ›Schnittpunkt‹ die Individualität sein soll. Weil die Reihe und a fortiori Reihensysteme nur im homogenen Bereich Bestand haben, sind derartige Versuche der Darstellung des Individu­

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Vgl. ebd., S. 170. Ebd., S. 204.

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ellen von vorherein aussichtslos.«127 Der junge Heidegger schließt daraus schon, dass die Sicht der Naturwissenschaft, die das Konkrete, Vielfältige und Heterogene durch die Abstraktion lediglich homogen betrachtet, zwangsläufig einseitig sein muss. Ergo folgt für Heidegger daraus: »Mathematisch-naturwissenschaftliche Erkenntnis ist nicht die Erkenntnis.«128 Damit gibt es nicht nur Grund für die Annahme, dass es einer anderen Deutung des Unums bedarf, das das tatsächliche Hier und Jetzt (haeccitas) des Lebens, besser berücksichtigt, sondern er legt auf der Basis seiner vorgezeichneten Ausrichtung in den Neueren Forschungen über Logik auch den Grundstein für seine spätere Kritik am rechnenden Denken, das ein Maß weitgehend unkritisch und unhinterfragt quantitativ definiert. Das Unum und mithin das Maß als Bestimmung und Umgren­ zung der Einheit, dass sieht Heidegger sehr genau, erlaubt aber auch eine andere Interpretation als die schlichte Festlegung auf das Quantitative. Die Tatsache, dass selbst schon das Unum verschie­ denen Deutungen unterliegt, setze eine Ordnung und Einordnung für das Seiende voraus, denn »[…] so verschieden die Einheit, so verschieden die Art der Messung.«129 Diese Arten der Messung, so denkt Heidegger anscheinend noch im Anschluss an Lask und Rickert, müsse man daher in eine kategoriale Aufteilung bringen. Doch wie sieht es mit der Wahrheit oder dem Verum der sich gebenden Entität bzw. der messbaren Einheit eigentlich aus? Mit Lask behauptet Heidegger, dass ein Gegenstand durch seine Form bestimmt sei.130 Dazu muss diese aber erst einmal erkannt sein. Im Erkennen des Gegenstandes kann nämlich erst von Wahrheit gespro­ chen werden. Heidegger löst das Problem, indem er die Wahrheit des Gegenstandes zunächst nur als Möglichkeit für eine Relationsbildung bezüglich des erkennenden Subjekts denkt: »Das ›verum‹ bringt also zum Gegenstande sachlich nichts Neues hinzu; es verleiht ihm nur einen eigentümlichen Index und besagt, daß jeder Gegenstand Bezie­ hungsmöglichkeit zur Erkenntnis hat, in der allein erst eigentlich von Wahrheit gesprochen werden darf.«131 Heidegger operiert hier selbst noch funktional-linear, aber so, dass er mit dem Index des Ebd., S. 204–205. Ebd., S. 205. 129 Ebd., S. 200. 130 Vgl. ebd., S. 209, vgl. Emil Lask, Die Logik der Philosophie und die Kategorien­ lehre, S. 34. 131 FS, S. 209. 127

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Verums diese Linearität schon aufweicht. Versuchen wir hier einmal Heideggers Gedanken in einem Schema zu verdeutlichen, dann ließen sich diese Erläuterungen folgendermaßen darstellen: Erkennbare Einheit verum   erkenntnisfähiges Subjekt Heidegger schließt dabei in seiner Scotus-Lektüre an Husserl an, wenn er postuliert, dass das Vorstellen überhaupt erst die Bedingung der Möglichkeit von tatsächlicher Erkenntnis sei. Aber wie sieht es dann mit der Wahrheit (dem Verum) eines Gegenstandes, der durch das Vorstellen vernommen wird, aus? Inwiefern ist die Vorstellung notwendig, die Bestimmtheit und damit das Maß als Wahres zu differenzieren? Ganz ähnlich wie Husserl geht Heidegger vom phä­ nomenologisch schlechterdings Gegebenen aus: »Weil das Gegebene jederzeit als Gegebenes Gegenstand wird, ist das schlichte Vor-stellen auch immer wahr. Maß und Gemessenes fallen hier in Eins zusam­ men.«132 Damit lässt sich die obige schematische Veranschaulichung durch diesen Gedanken Heideggers erweitern: {Erkannter Gegenstand als Maß + Gemessenes  [Vorstellen  (erkennendes Subjekt)]} verum Soweit ist die mit Inhalt gefüllte funktionale Darstellung noch einigermaßen nachvollziehbar. Aber natürlich ist zu fragen, wie Heidegger nun den Index des Verum mit diesem Maß und diesem Gemessenen, d.h. mit den Einheiten Erkenntnissubjekt und Gegen­ stand, zusammenbringt. Die logische Problematik ist in der Tat komplexer. Um eine Lösung anzubieten, orientiert sich Heidegger erneut an Husserl und an der badischen Schule des Neukantianismus, insbesondere wieder an Emil Lask.133 Was zum schlichten Erkennen hinzukommen muss, ist ein Urteil, das das Gelten der Wahrheit des Gegenstandes für das Subjekt ermöglicht. Komplementär zum Vorstellen ist also eine Leistung notwendig, ein Messen, ein Akt des Urteils. Der junge Heidegger folgert: »Ohne Urteilsakt als Leistung könnte das erkennende Subjekt sich nie in den Besitz von Erkenntnis setzen.« Verdeutlichen wir dies erneut graphisch, so sehen wir, dass sich eine lineare funktionale Darstellung mittlerweile als sehr kompli­ ziert gestaltet, um dieses Verhältnis zu veranschaulichen: Ebd., S. 210. Vgl. Tomasz Kubalica, Wahrheit, Geltung und Wert: die Wahrheitstheorie der badischen Schule des Neukantianismus, Würzburg: Königshausen & Neumann 2011.

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{Erkannter Gegenstand als Maß + Gemessenes [ Vorstellen ( erkennendes Subjekt)]} verum {Verum Bedeutung [( Urteilsakt als Leistung) Messen] urteilendes Sub­ jekt} Geltung In dieser Leistung geht parallel eine dem Subjekt immanente Urteils­ sinnstiftung einher, die es ermöglicht, Bedeutung zu unterscheiden und damit zu einer Bestimmung, einem geltenden Maß zu gelangen. So kommt der junge Heidegger vorläufig zu einer bereits recht differenzierten Auffassung eines wechselseitigen Verhältnisses von einem Maß und einem Sein der gegebenen Gegenstände als Seiende. Er hält zunächst fest: Der Leistungssinn des Urteilsaktes orientiert und mißt sich demnach unmittelbar am Bedeutungsgehalt der in das Urteil eingehenden Glie­ der (extrema), die virtualiter die Urteilsbeziehung enthalten. Der Bedeutungsgehalt der Gegebenheiten, der schlechthin erschaute Sach­ verhalt, ist der Maßstab des Urteilssinnes; von ihm leitet dieser seine objektive Geltung her.134

Hinzu kommt also ein weiterer Operator zwischen dem bedeutsamen Verum und dem Urteilsakt: der Sinn. {Erkannter Gegenstand als Maß + Gemessenes [ Vorstellen ( erkennendes Subjekt)]} verum {Verum Bedeutungsgehalt [Sinn [ Urteilsakt als Leistung]] Messen] urtei­ lendes Subjekt} Geltung Das Gelten bzw. die Geltung ist demnach das Produkt des Vorgangs des Erkennens. Auch damit knüpft der junge Heidegger noch sehr stark an sein damaliges Vorbild in der Logik, Emil Lask, an, für den auch das Gelten der Maßstab für den Erkenntnisakt gewesen war. Wie für Lask, hat auch für Heidegger noch diese »[…] Messung den Charakter der Wertbeurteilung und Wertbestimmung […].«135 Ohne sich nun weiter auf die daraus folgenden Einzelheiten von Heideggers Ausführungen zur Herleitung einer Kategorien- und Bedeutungs­ lehre an Duns Scotus konzentrieren zu müssen, ist hiermit deutlich geworden, von welchen Grundlagen Heidegger sich einem Denken 134 135

FS, S. 215. Ebd., S. 200.

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des Maßes bezüglich des Seins nähert. Von Anfang an ist dieses Denken mit der konkreten Gegenstandsorientierung an der schlichten Gegebenheit und an der qualitativen, bedeutungsstiftenden Urteils­ leistung und Sinnstiftung orientiert. Es handelt sich also um ein Denken, das sich von jeder Voreingenommenheit eines quantitativ fundierten Maßes zu entheben versucht und die Maßstabsfrage an der mannigfachen Bedeutung des Seienden als Sein ausrichtet. Allerdings müssen wir dennoch eine Voreingenommenheit in den Blick bringen, die der junge Heidegger nicht sofort ausräumen kann. Das ist das Problem zwischen Sache und Methode. Denn wenn Heidegger mit einer konkreten Maßstabsorientierung, die er hin­ sichtlich einer bedeutungs- und sprachorientierten Kategorienlehre prüft, wirklich ernst machen will, dann muss er sich auf kurz oder lang zwangsläufig die Frage stellen, ob eine solche abstrakte, theore­ tische und formelhafte logische Fundierung eines Maßstabsdenkens hinreichen kann, um einem konkreten, lebensweltlichen Verhältnis von Maß und Sein gerecht zu werden – und dies ohne sich in diesen logischen Ausführungen in eine Art performativen Widerspruch zu verwickeln. Dies geschieht genau dann, wenn Herangehensweise und Sache, Methode und Inhalt, einander widersprechen. Beim jungen Heidegger ist dieses Problem recht deutlich sichtbar, wenn er ein konkretes, qualitatives Maß aufweist, dies aber durch eine abstrakte, logisch-formal fundierte Methode bewerkstelligt bzw. diese auch so zur Sprache bringt. Auf diese Schwierigkeit beim frühen Heidegger hat auch Dorothea Frede hingewiesen.136 Heidegger wird sich dieses Problem erst nach einer ausreichenden Reflexion auf die Auswirkun­ gen seines Buches Sein und Zeit im vollen Umfang bewusst. In der Habilitationsschrift mag der abstrakte und formale Zugang über die Kategorienlehre von Scotus angesichts der Probleme, die Heidegger doch eigentlich in der Abstraktion sieht, durchaus befremden. Allerdings muss man sehen, dass Heidegger noch das Handwerkszeug einer eigenen Terminologie und damit eine eigen­ ständige sowie gemäße Herangehensweise an das Problem eines abstrakten und konkreten Maßstabs als auch an die Differenz des vortheoretischen Lebens und der theoretischen Einstellung gefehlt hat. Er konnte in seiner Habilitation daher zunächst nur auf den Vgl. Dorothea Frede, »The question of being: Heidegger’s project« in: Charles Guignon (Hrsg.), The Cambridge Companion to Heidegger, Cambridge: Cambridge University Press 1993, S. 50.

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Notbehelf der neukantianischen Herangehensweisen und Methoden zurückgreifen. Es ging dem jungen Heidegger zunächst einmal um die Aufde­ ckung und Sichtbarmachung der Problemlage. Das Beste und Nächste ist ihm daher ein Zugang, der sowohl Husserls Intentionalität als auch eine an der Lebenswelt orientierte Logik mitbringt. Dies bietet nur Lasks formal-logische Lehre von Kategorie und Urteil in Heideggers geschichtlichem und biographischem Umfeld an. Daher ist es nur folgerichtig von Heidegger, das Problem der Maßstabssuche für eine Interpretation des Seins über die Kategorienlehre anzugehen. Diese bietet ihm zumindest den Vorteil die Formen und sprachlichen Ele­ mente der sinnbesetzten Bedeutung und Bewandtnis systematisch in den Blick zu bringen.

d) Wider das Maßverständnis von Naturalismus und Historismus Eine solche hergeleitete Kategorienlehre impliziert eigentlich eine Bedeutungslehre und auch eine sprachpragmatische Einteilung der Wortklassen. Bedeutung und Sprache sind aber in der Zeit wandelbar. Daraus ergibt sich für Heidegger folglich schon zum Ende seiner Habilitation, dass sich diese Implikationen nicht ohne eine konkrete, lebendige, sinn- und bedeutungsorientierte Geschichte denken lassen können. Konsequenterweise hebt Heidegger in seiner Antrittsvorle­ sung Der Zeitbegriff in der Geschichtswissenschaft einen geschichtli­ chen Zeitbegriff als qualitativen Maßstab in Abgrenzung von einem quantitativen Maß ab.137 Die Physik als Naturwissenschaft wird dem qualitativen Geschichtsbegriff entgegengesetzt. »Sie sucht über die Mannigfaltigkeiten der Erscheinungen Herr zu werden durch das Gesetz, und wie sie zum Gesetz gelangt […].«138 Dies geschehe durch eine vorausgeschaltete Vorannahme (Hypothese), die unbedingte All­ gemeingültigkeit verlange. An Galilei zeigt Heidegger, dass es bei der abstrahierenden Hypothese zunehmend nicht mehr um bedeutsame und sinnorientierte Qualitäten gehe; stattdessen enthalte sie »[…] mathematisch faßbare, d.h. meßbare Beziehungen zwischen den ideal gedachten Momenten der Erscheinung.«139 Überhaupt verschwinde 137 138 139

Vgl. FS, S. 359. Ebd., S. 361. Ebd., S. 362.

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I. Die Suche nach einem Maß – Initialzündungen beim jungen Heidegger

die Erscheinung hier nun fast vollends: »Die sinnlich-anschaulichen Qualitäten des definierten Phänomens sind ausgelöscht und ganz in das Mathematische gehoben […].«140 Heidegger sieht die innere Begründung in aller Deutlichkeit: »Die Messung als quantitative Bestimmung ist eine Angelegenheit der Mathematik.«141 Wenn die Zeit sich nun im Raum als Bewegung manifestiere, so sei aus physikalischer Sicht die »[…] Funktion der Zeit […] Messung zu ermöglichen.«142 Diese Messung, so Heidegger, geschehe durch Reihenschaltung und Fixierung der Zeit auf Punkte, d.h. durch ihre künstliche Homogenisierung auf diskrete Einheiten und folglich auf ihre unweigerliche Quantifizierung – dies entspricht den wesentlichen Folgerungen aus seiner Habilitation. Diese Überle­ gungen wendet Heidegger auf den Zeitbegriff an: »Sobald die Zeit gemessen wird – und nur als meßbare und zu messende Zeit hat sie eine sinnvolle Funktion in der Physik – bestimmen wir ein Soviel. […] Der Fluß gefriert, wird zur Fläche, und nur als Fläche ist er zu messen. Die Zeit ist zu einer homogenen Stellenordnung geworden, zur Skala, zum Parameter.«143 Klarer könnte eine Bestandsaufnahme einer auf Rechnung geeichten naturwissenschaftlich-technizistischen Weltanschauung wohl kaum formuliert werden.144 Heidegger schließt hier auch expli­ Ebd., S. 365. Ebd., S. 364. 142 Ebd., S. 365. 143 Ebd., S. 366. 144 Wie gefährlich ein solches Weltanschauungsparadigma des Rechnens mit sub­ jektiven und objektiven Werten und ihr »hermetischer Charakter« nicht nur bezüglich des Zeitverständnisses sein können, zeigt Arnulf Müller als Konsequenz seiner Ana­ lyse der Heideggerschen Texte. Die Bequemlichkeit, sich auf verbindliche Wertvor­ stellungen zu verlassen, mit ihnen zu rechnen und überhaupt die Berechnung zum Prinzip jeder Pragmatik zu machen und alles andere auszugrenzen, was sich dieser Weltanschauung nicht anpasst, könne demnach sowohl in liberalen wie in totalitären Systemen in verschiedener Hinsicht, aber von der Sache ähnlich, zur Einebnung und zur menschlichen Verarmung führen. Vgl. Arnulf Müller, Weltanschauung – eine Herausforderung für Martin Heideggers Philosophiebegriff, Stuttgart: Kohlhammer 2010, S. 386–387. Müller folgert aus seiner Heidegger-Rezeption daher: »[…] [D]iese zum Prinzip erhobene Unbedürftigkeit ist das Einlasstor des Nihilismus, heute, morgen und auch noch übermorgen. […] Auch unter vollkommen sittlichen Verhältnissen wird die Welt weiterschrumpfen, wird das Seiende eindimensionaler, seinsärmer, tonloser. Und dieser Fall in eine tonlose, weil immer weniger zum Men­ schen sprechende Welt, ist ein Verfall, der tiefgreifender und folgenreicher ist als jeder ›Sittenverfall‹.« Müller, S. 387. Eine ähnliche Gefahr, insbesondere die der Seinsar­ 140

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zit die gerade bekanntwerdende Einsteinsche Relativitätstheorie mit in diesen Horizont der Homogenisierung und der Quantifizierung der Zeit ein.145 Heidegger sieht dann auch sehr konsequent, wie der His­ torismus versucht – er erwähnt hier den Dilthey-Schüler FrischeisenKöhler als einen ihrer Vertreter –, diesen quantitativen Zeitbegriff mit Gewalt in die Geschichtswissenschaften einzuführen.146 An einigen Beispielen, die besonders den ereignishaften und verwobenen Charak­ ter von geschichtlichen Gegebenheiten hervorheben, zeigt Heidegger nun, dass diese Quantifizierung der Geschichte nach naturwissen­ schaftlichem Vorbild seiner Auffassung nach völlig in die Irre geht.147 Statt bloßer Zahlen und Einheiten von Fakten, gehe es in Wahrheit um ein unhintergehbares qualitatives Moment, also einem »Wie«, statt nur um ein nacktes »Was«. Ein solches qualitatives »Wie« hatte Lask am Ende seiner Lehre vom Urteil in Bezug auf das Leben schon einmal gesondert hervorgehoben. Er hatte es jedoch im Gegensatz zur rein logischen Wertorientierung nicht pejorativ, sondern nüchtern als »Unwert« der »Erlebenstatsächlichkeit« bezeichnet.148 Es zeigt sich hier also auch eine faszinierende Nähe zwischen Lask und dem jugendlichen Heidegger, wenn es um die Einschätzung der Wertorientierung geht. Anders als Lask rückt Heidegger mit seiner Habilitation und seiner Antrittsvorlesung das geschichtliche Moment ins Bild. So heißt es dann auch beim jungen Heidegger: »Das Qualitative des historischen Zeitbegriffes bedeutet nichts Anderes als die Verdichtung – Kristallisation – einer in der Geschichte gegebe­ mut, wird auch Heidegger selbst gesehen haben – und zwar, wie hier deutlich wird, schon in jungen Jahren. Dies sticht bereits in seinen frühen Freiburger Vorlesungen in aller Radikalität heraus. 145 Vgl. FS, S. 366. 146 Vgl. ebd., S. 367; Vgl. Max Frischeisen-Köhler, Wissenschaft und Wirklichkeit, Leipzig: Teubner 1912, S. 151ff. 147 Hier sind vor allem die naturalistischen Ansätze von Richard Avenarius und Ernst Mach um die Wende des 19. und 20. Jahrhunderts zu erwähnen. Durch ihre Ideen des »Prinzip des kleinsten Kraftmaßes« und der »Denkökonomie« versuchten sie, natur­ wissenschaftliche, d.h. auf Berechenbarkeit basierende Prinzipien, auf Bewusstsein, Intersubjektivität und geschichtliche Ereignisse zu übertragen. Auf diese problemati­ sche und folgenreiche Entwicklung dieser Vermengung von Physik, Biologie, Psycho­ logie – und letztlich auch Geschichte – machte Barash schon vor einigen Jahren auf­ merksam. Vgl. Jeffrey Andrew Barash, Heidegger und der Historismus. Sinn der Geschichte und Geschichtlichkeit des Sinns, übers. v. Karin Spranzel. Würzburg: Königshausen & Neumann 1999, S. 37ff. 148 Vgl. Emil Lask, Die Lehre vom Urteil. Werke, 2. Bd., Jena: Schleglmann 2003, (orig. 1912), S. 384.

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nen Lebensobjektiviation. Die Geschichtswissenschaft arbeitet also nicht mit Quantitäten.«149 Heidegger stellt dabei als Konsequenz seiner vorausgegangenen Scotus-Lektüre heraus, dass das Maß der Geschichte nicht auf Jahreszahlen, Quantitäten oder Werte zu redu­ zieren sei, sondern auf Sinn und Bedeutsamkeiten von Ereignissen.150 Damit greift Heidegger in der Maßstabsfrage schon weit voraus, was ihm später auch in anderen Facetten, so etwa im konkreten Kontext der Seinsfrage, und aus weiteren Denkerfahrungen deutlich werden wird: Die Geschichtlichkeit und die Zeitlichkeit, als Nährbo­ den von vielfachen Bedeutungen und Sinnstiftungen, lassen sich nicht auf Nummerierungen reduzieren und somit auch nicht auf einen vornehmlich rechnenden Historismus, der folglich das eigentlich Sinnhafte des Geschichtlichen verkennt. Damit ist im Rückblick durch die Analyse der Neueren For­ schungen über Logik, der Dissertation, der Habilitation sowie der Antrittsvorlesung Heideggers und durch den Vorblick auf die frühen Freiburger Vorlesungen, auf Sein und Zeit und seine späteren Schrif­ ten ersichtlich geworden, dass Heidegger von Anfang an eine rein formale, abstrakte und mathematische Logik als alleinige Maßstabs­ orientierung für ein Wahrheits- und mit ihm verstricktes Seinsver­ ständnis in aller Deutlichkeit ablehnt. Damit spricht er sich gewisser­ maßen ab ovo gegen eine rein quantitative Maßstabsorientierung aus. Zugleich wird aber sichtbar, dass die Logik nicht als solche ein Prob­ lem für Heidegger ist. Im Gegenteil: Logik und Wahrheitsverständnis, die von der Sache her ineinander verzahnt sind, machen für ihn ein gemeinsames Gefüge aus. Folglich ist der Grundstein für eine spätere Kritik am rechnenden Denken damit schon im Frühwerk angelegt, was das Hinterfragen des gängigen Maß- und Seinsverständnisses impliziert. Stattdessen bedenkt Heidegger nun eine alternative Möglichkeit eines Maßes, das konsequenterweise auch nicht auf einer berechneten Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit, und damit nicht auf einem Historismus beruhen kann. Aus diesen Bedenken entwickelt Heidegger ein alternatives Fragen nach einem Maß des Seins in den frühen Freiburger Vorle­ sungen. Die Beantwortung dieses Fragens abseits jeder Abstraktion FS., S. 373. Auch Alfred Denker sieht die Anzeige der Sinn-Frage als entscheidendes Produkt der Habilitationsarbeit Heideggers an. Vgl. Alfred Denker, Unterwegs in Sein und Zeit. Einführung in Leben und Denken von Martin Heidegger, Stuttgart: Klett-Cotta 2011, S. 40. 149

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2. Heideggers erste Schritte zu einem Maß des Seins

und Quantifizierung bedarf konsequenterweise einer Auslegung der Faktizität und Geschichtlichkeit des Lebens selbst.

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II. Heideggers Suche nach einem Maßstab in der Auslegung der Faktizität des Lebens

Wir sahen im letzten Kapitel, dass Heideggers Dissertation, seine Habilitation und seine Antrittsvorlesung ihm eine erste Loslösung von der Maß- und Maßstabsorientierung der zeitgenössischen Phi­ losophie ermöglichten. Die Philosophie im Umbruch zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert hatte ihren Zugang in der anbrechen­ den Moderne vermehrt an den Skalen und Einteilungsnormen der Naturwissenschaft gewonnen, ohne jedoch nach den Ursprüngen ihrer Maßstabsorientierung überhaupt zu fragen. Was hatte der junge Heidegger dieser Orientierung am Maß der Naturwissenschaft in sei­ nen frühen Studien nun entgegenzusetzen? In diesen Arbeiten haben wir gesehen, dass er mit einer herkömmlichen Maßstabsorientierung in mehrfacher Hinsicht nicht einverstanden war. Nicht eine quanti­ tativ bedingte und abstrakte Skalierung, die auf nackter Berechnung basiert, sondern der konkrete Sinn von Bedeutungskomplexionen sowie deren Wechselverhältnis und Bewandtnis zueinander, werden in den ersten Denkansätzen Heideggers für sein eigenes Maßver­ ständnis wichtig. Wir hatten gesehen: Im konkreten Hier und Jetzt, in der haeccitas, stiftet der Sinn in der Bewandtnis von Bedeutungen die Bestimmtheit und damit die Umgrenzung, aus der sich zuerst ein Maß ergeben kann. Wenn also das Maß erst als umgrenzende Bestimmtheit aus einer sinnbesetzten semantischen Konfiguration heraus sichtbar wird, so kann auch der mit dem Maß verklammerte Maßstab als dessen Formalisierung und Einheit nicht primär aus dem Quantitativen abgeleitet werden. Stattdessen muss er sich zuvor aus einem Plural qualitativer Sinnbesetzungen heraus zeigen. Ein solcher komplexer Bewandtniszusammenhang mit Sinnbezug erwächst aber nur aus dem konkreten Leben selbst, in dem dieser verortet ist. Ergo kann auch der von der bisherigen Philosophie stillschwei­ gend vorausgesetzte abstrakte Maßstab für Heidegger nicht mehr Ausgangsbereich für das Denken sein, da dieser aus dem ursprünglich sinnbesetzten und bedeutsamen Leben abgeleitet wird. Durch die Abstraktion brechen aber die konstitutiven Sinnbezüge ab, indem

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durch sie die vielfältigen lebensweltlichen Sinnbesetzungen homo­ genisiert und so der Bewandtnischarakter und die ineinander durch­ drungenen Verflechtungen des Lebens ausgeblendet werden. Folglich kann auch dann die Geschichte, als komplexe zeitliche Verwick­ lung dieses Lebens, ebenso wenig mit naturwissenschaftlichen und abstrakten Maßen und Maßstäben bemessen werden, weil auch für die Genesis des geschichtlichen Maßes selbst schon gilt, dass sie ihre Konstitution aus einer lebensweltlichen, sinnbesetzten Bedeutsam­ keitskomplexion empfängt. Aus diesem Zusammenhang heraus ist das Desiderat des jungen Heideggers zu verstehen, die Bedeutsamkeit des Lebens in den Fokus zu rücken. Dies wird hinreichend deutlich, wenn sein Fragen nach einem Maß und einem Maßstab beachtet wird. Wie wir eben sahen, gehören für Heidegger Maßstab, Maß, Bestim­ mung, Umgrenzung und sinnbesetzte Bedeutsamkeit von Anfang an zusammen. Wenn uns dies klar vor Augen steht, ist die Ausgangslage des jungen Heideggers um 1919 einigermaßen nachvollziehbar: Es geht ihm zuallererst um eine Suche als Frage nach dem Maß und dem Maßstab des Lebenszusammenhangs im konkreten Hier und Jetzt. Aus dieser Suche zeigt sich auch schon in Ansätzen Heideggers Stoßrichtung: Es muss ein subversives Fragen sein, dass die Kon­ stellation dieses Maßstabs und dieses Maßes anders verortet und versteht, als das herkömmliche Alltags- und Wissenschaftsverständ­ nis es suggeriert. Das Projekt des jungen Heideggers heißt demnach Maßstabssuche im Sinne einer formalen, aber eben nicht abstrak­ ten Umgrenzung, Bestimmung und somit Öffnung für die Genesis eines sinnbesetzten Bedeutsamen, das sich im konkreten Leben in seiner Geschichtlichkeit als auch in seiner zeitlichen Metamorphose und Dynamik zeigt. Eine solche Maßstabssuche als Projekt wird für Heidegger schließlich Anlass einer Projektion. Was ist damit gemeint? Projektion bedeutet »Hinauswerfen« oder »Entwerfen« im transitiven und performativen Sinne. Diese Maßstabssuche hat also Entwurfscharakter. Der gesuchte Maßstab Heideggers und dessen Entwurf sind somit im genitivus obiectivus und genitivus subiectivus performativ. Diese Annahme wollen wir im weiteren Verlauf dieser Untersuchung prüfen. Zugleich muss Heidegger, in diesem subversiven Fragen nach einem anderen Maßverständnis, dem Projekt bzw. dieser Projektion aber auch eine Rejektion, d.h. eine Zurückweisung des herkömmli­ chen abstrakten Maßverständnisses, vorausgehen lassen. Heidegger muss zeigen können, warum ein quantitatives und abstraktes Maß

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den Bedingungen der Möglichkeit des philosophischen Denkens als Grundlage von Wissenschaft nicht genügen kann. Er hat deutlich zu machen, welche Probleme der etablierte Ansatz des bisherigen allumfassenden Quantifizierens und Abstrahierens in der klassischen Maßstabsorientierung mit sich bringt, in der das Maß erkenntnis­ theoretisch, ethisch, ästhetisch und ontologisch hinsichtlich seines Grundes bisher weitgehend unhinterfragt ausgelegt wurde. Es ist indes bezeichnend, dass vor allem die Wissenschaften, nicht nur bis in das frühe 20. Jahrhundert Heideggers, sondern bis heute – aus vermeintlich pragmatischen Gründen – von dieser verfestigten homogenen und quantitativen Maßstabsorientierung dekliniert wer­ den. Die Auslegung des Maßes bestimmt dabei entscheidend die Art und Weise, Wissenschaft zu interpretieren und zu betreiben. Doch wie verhält es sich mit den ursprünglichen Motiven der Wissenschaft? Woher gewinnt sie ihre ureigenen Maßgaben? Es sind diese Fragen, die Heidegger die Maßstabssuche im Bezirk einer Urwissenschaft verorten lässt, wie sie schon Lask im Ausgang von Fichte gefor­ dert hatte.151 Einhergehend mit dem Desiderat einer Urwissenschaft in seinen frühen Vorlesungen, muss es Heidegger schließlich um die Aneignung bzw. Appropriation eines eigenen Maßstabs gehen, der die Bewandt­ nis einer sinnbesetzten konkreten und performativen Lebenswelt in eigener Tiefe durchdringt und sich auch noch selbst gewissermaßen performativ an dieser Komplexion abarbeitet. Wir behaupten, dass ein solcher performativer Maßstab, in Abgrenzung vom herkömmlichen, schon abstrakten und quantifi­ zierenden Maßstabsdenken, notwendig für Heideggers Auslegung des tatsächlichen, konkreten Lebens wird. Diese Auslegung, die an diesem performativen Maßstab ausgerichtet ist, wird er wenig später Hermeneutik der Faktizität nennen. Anders ausgedrückt: Ein vorerstes Ziel Heideggers ist es, die Dynamik der Lebensbewegtheit und -tatsächlichkeit mit einem dazu kompatiblen dynamischen Maß zusammenzudenken, um eine Orientierung innerhalb des Lebens für dessen Deutung zu gewinnen. Weiterhin ist zu zeigen, dass Heidegger, im Hinblick der Entfaltung eines solchen Maßgedankens Vgl. Emil Lask, Fichtes Idealismus und die Geschichte. Kleine Schriften, mit einem Begleitwort von Rainer Friedrich, Werke, Bd.1, Jena: Schleglmann 2002 (orig. 1902). Für Lask ist dies »[…] Wissenschaft ʼ ἐn: Die Philosophie die Urwissen­ schaft.« Emil Lask, Zum System der Wissenschaften, Gesammelte Schriften, Bd. 3, hrsg. von Eugen Herrigel, Tübingen: Mohr 1924, S. 240. 151

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aus dem Horizont der Hermeneutik der Faktizität des Lebens, auf entscheidende Weise die Frage nach dem Sein des Selbst, seiner Lebenswelt und damit des Seins seines Daseins in seiner Umwelt mit anderem Dasein, erst in vollem Umfang hat aufwerfen können. Aus diesem Grund ist also das Verhältnis zwischen der Heideggerschen Frage nach dem Sein und der Frage nach einem alternativen Maß und Maßstab schärfer in den Blick zu nehmen. Genau dies soll in diesem und dem nächsten Kapitel angegangen werden, um so die Grundlage für eine Erläuterung von Heideggers Überlegungen zum Maß und zum Sein in Sein und Zeit und in den darauffolgenden Vorlesungen gewinnen zu können. Methodisch bietet es sich von der Logik des Entwicklungsgangs an, von Heideggers frühen Vorlesungen von 1919 bis 1924 auszu­ gehen. Es gilt, den Weg zur Aneignung bzw. Appropriation seines Maßdenkens im Hinblick auf die Konstitution der Hermeneutik der Faktizität und den Aufwurf der Seinsfrage genetisch nachzuvollzie­ hen, um oben genannte Behauptungen untermauern zu können. Diese genetische Explikation lässt sich in drei Ebenen unterteilen, die Heideggers Weg zu einem performativen Maß und Maßstab hinsichtlich einer Hermeneutik der Faktizität bestimmen. Die drei Ebenen können anhand der oben getätigten Vorüberlegungen begriff­ lich folgendermaßen eingeordnet werden: als Projektion im Sinne einer Maßstabssuche, als Rejektion im Sinne eines Ablehnens bishe­ riger Maßstabsorientierung und als Appropriation der Konstellation eines alternativen Maßes und Maßstabs. Es wird sich im Verlaufe der Untersuchung zeigen, dass die Ebenen von Projektion und Rejektion ineinandergreifen und selbst noch einmal in ihrem jeweiligen inter­ pretativen Vertiefungsgrad in verschiedene Ordnungsstufen unter­ teilt werden können. Diese werden von Heidegger in einen Prozess der Aneignung eines eigenen Maßstabs überführt, der sich deutlich von der klassischen quantitativen und abstrakten Maßorientierung erkenntnistheoretischer, ethischer, ästhetischer Provenienz und von der Ontologie der bisherigen philosophischen Tradition unterschei­ det. Da Heidegger sich in den frühen Vorlesungen am konkreten Leben orientiert, wird neben den bereits erörterten konstitutiven vier Fäden der Denkansätze zur Maßstabsfrage seiner frühen Lehrer Husserl, Lask, Braig und Brentano, zunehmend die zeitgenössische Lebensphilosophie für Heidegger wichtig. Sie liefert ihm Anregun­ gen zur Frage, wie das Maß von der konkreten Lebenswelt her zu

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verstehen ist. Neben dem Husserl der sechsten Logischen Untersu­ chung, der dort insbesondere den intentionalen Bezug im direkten Verhältnis zur Lebenswelt hervorgehoben hatte, und einem von Heinrich Rickert stark beeinflussten Emil Lask, der sich von diesem konkreten, lebensweltlichen Impetus der Phänomenologie Husserls hat leiten lassen, wirken nun auch Autoren der Lebensphilosophie wie Dilthey, Simmel und Spengler immer stärker auf Heideggers Frage nach einer Bestimmung, Verortung bzw. Bemessung des konkreten Lebens ein. Hinzu kommen auf existenzphilosophischer Ebene vor allem Bergsons und Kierkegaards kairologische Ansätze, die nun Heideggers Interpretation der antiken und scholastischen Herkunft mitbestimmen. Hinsichtlich der Maßstabsfrage sind hier vor allem deren Einfluss auf Heideggers Interpretation von Aristoteles und Paulus zu nennen, die aber auch unter dem Gesichtskreis der ande­ ren oben genannten modernen Denker sowie Denktraditionen vom jungen Heidegger für sein Fragen nach einem Maß und Maßstab fruchtbar gemacht werden. Während Simmel ein Maß für das Leben vor allem in der Rhyth­ mik und Färbung des Alltags sieht, versucht Dilthey den Maßstab für das Leben in einer strukturellen und hermeneutischen Betrachtung des Selbst anzulegen: »Nur was wir am Maßstab unserer Selbst messen, erhält bestimmte Dimensionen und Abgrenzungen.«152 Dil­ they subsumiert dabei diesen Maßstab des Lebens unter gemeinsame »Werte und Zwecke« der Menschheit auf dem »Boden objektiver Geschichte.«153 Spengler hingegen sieht, ähnlich wie Heidegger, die bisherige Maß- und Maßstabsorientierung vor allem in kriti­ scher Hinsicht als ungerechtfertigte Voranstellung der Quantität zur Bemessung des Lebens, wobei er diese Kritik selbst in eine abstrakte morphologische Systematisierung der Weltgeschichte einbettet.154 Bergson wirkt weniger mit seiner Überlegung zum élan vital auf Heidegger, als durch seine Zeitanalysen, in denen er die innere Dynamik der Zeit in der Bewegtheit des Menschen kairologisch, d.h. hinsichtlich des Moments des Augenblicks, verortet.155 152 Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaf­ ten, in: Gesammelte Schriften, Bd. 7, Stuttgart: Teubner 1961, S. 225. 153 Ebd., S. 155. 154 Vgl. Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, 6. Aufl., München: DTV 1980 (orig. 1918), S. 1160ff. 155 Vgl. Henri Bergson, Zeit und Freiheit, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2012 (orig. 1889).

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Die antiken Autoren Aristoteles und Paulus sind auf der Folie der oben genannten zeitgenössischen Ansätze für Heideggers eigene Interpretation des Maßes wichtig, weil sie ihm Ansätze und begriffli­ che Einordnungen für eine alternative Maßstabsorientierung aus der Bewegtheit des Lebens liefern. Aristoteles‘ Denken ermöglicht sowohl in seiner Physik als auch in seiner Metaphysik eine Orientierung an einem Maß und Maßstab der Produktion und Bewegung. Diese werden wiederum von einem unbewegten Beweger formal und materiell in Entitäten emittiert. Von diesen Entitäten wiederum wird der vom unbewegten Beweger produzierte, in sie eingehauchte lebendige Geist als geistige Kraft (nῦς) zurückübersetzt. Der lebendige Geist erkennt nun den unbe­ wegten Beweger im Maß der Zirkulation um sich selbst aus der Beobachterrolle zweiter Ordnung. Somit wird eine zirkuläre Dynamik zwischen einem unbewegten Beweger und einem von ihm produzier­ ten denkenden Lebewesen, unter dem Titel »Mensch«, sichtbar. In den ethischen Schriften des Aristoteles zeigt sich das Maß dieses entgegnenden nῦς in den dianoetischen und ethischen Tugenden als messende Aktivität des mit Denkfähigkeit und mit charakterlicher Haltung ausgestatteten Menschen. Nur durch diese Tugenden ist der Mensch in der Lage, sich in der Bewegtheit des Lebens in Besonnen­ heit bzw. der performativen Besinnung (wύn) an der rechten Mitte (ὸ έn) an der Welt zu messen oder sich in Ermangelung dieser Besinnung mit zu viel oder zu wenig Intensität an ihr zu vermessen.156 Nicht nur das Messen, sondern auch das Vermessen als Aktivität müssen wir in Heideggers Deutung des Maßes im Ausgang von Aristoteles unbedingt im Auge behalten. In Paulus‘ Thessalonicherbrief erwächst die Frage nach dem Maß ebenso an der Bewegtheit des Menschen. Dieses fragliche Maß ist konkret und kairologisch auf die Handlung und auf den Glauben an die Parusie Christi bezogen. Die Art der Handlung und des Glaubens können beide treffend oder aber auch unzutreffend sein. Letzteres ist ein Vermessen. Wird sich dauerhaft unzutreffend verhalten oder agiert, kann auch von einer Vermessenheit des bewegten und betrof­

Vgl. Aristoteles, Ethica Nicomachea, recognovit brevique adnotatione critica instruxit I. Bywater, Oxonii e typographeo Clarendoninano 1890, 1103a, 25ff., II, S. 25ff. 156

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fenen Lebens gesprochen werden, die durchaus problematisch ist.157 Dies wird Heidegger in seiner Paulus-Rezeption sichtbar machen. Auf der Grundlage dieser Vorüberlegungen und der Nennung der vielfältigen Einflüsse, die auf den jungen Heidegger wirken, ist es möglich, eine grobe Übersicht über die folgende genetische Betrachtung in diesem Kapitel zu geben: Im ersten Unterkapitel wird zu zeigen sein, wie Heidegger die erste Stufe einer ineinan­ dergreifenden Rejektion zeitgenössischer Positionen zum Maß und die Projektion eigener Überlegungen als Maßstabssuche mit Hilfe einer Strukturanalyse entwickelt. Der Leitfaden dieses Verfahrens ist die intensive und kritische Prüfung der These, dass Philosophie als die Urwissenschaft zu verstehen sei. Dieses Prüfungsverfahren wird Heidegger auf die Wertelehre des badischen Neukantianismus applizieren. Im zweiten Unterkapitel wird deutlich, wie Heidegger den ersten projektiven Ansatz seiner Suche nach einem Maß auf dem Fundament eines vortheoretischen Projekts des Fragens nach einer Phänomenologie des Lebens in Abhebung von einer theoretischen Einstellung entfaltet. Es ist zu zeigen, wie Heidegger auf der Basis dieser herausgearbeiteten Maßstäbe eine vertiefende Untersuchungs­ methode der Maßstabsorientierung am konkreten Leben entwickelt, die er formale Anzeige und Destruktion nennen wird. Dies wird im dritten Unterkapitel untersucht werden. Nach dem dieses Plateau erklommen ist, sehen wir uns an, wie Heidegger beginnt, die formalen Bedingungen einer herkömmlichen abstrakten Maßstabsorientierung am Geltungs- und Wertbegriff, den die Neukantianer gefordert hatten, und den ebenso abstrakten Maß­ stab der Adäquation, wie Husserl ihn zwischen Vernehmenden und Vernommenen vorausgesetzt hatte, abzuweisen. Dies wird insbeson­ dere an Heideggers Entlarvung der abstrakten Herangehensweise als Grund der Umweltzerstörung deutlich. Diese Zusammenhänge werden wir uns im ersten Teil des vierten Unterkapitels anschauen. Im zweiten Teil dieses Unterkapitels, sehen wir uns an, wie Heidegger von dieser vertiefenden Stufe der Rejektion ausgehend, nun auch eine weitere Stufe der Projektion eines lebensweltlichen Maßstabs als vortheoretisches Messen unter Einbezug der Phänome­ nologie entwickelt. Mit den Zugangsweisen dieser vortheoretischen ὸς niῖς α´, in: Nestle-Aland. Novum testamentum Graece, hrsg. v. Barbara Aland et al., Septuaginta. Id est Vetus Testamentum graece iuxta LXX inter­ pretes edidit Alfred Rahlfs. Editio altera quam recognovit et emendavit Robert Han­ hart. Duo volumina in uno, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 2006, S. 622ff. 157

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Phänomenologie, die er formale Anzeige und Destruktion nennen wird, versucht er schließlich in das Geflecht der Lebensrhythmik selbst einzudringen. Die Untersuchung von Heideggers Aneignung der vortheoretischen Zugangsweise im Durchblick der Rhythmik des Lebens, erlaubt es uns eine vertiefende Überlegung zu entwickeln, warum Heidegger den Wertbegriff kritisch einordnet und stattdessen die konkrete Bekümmernis oder Sorge hervorhebt und in ihr ein neues Maßnehmen von Welt erkennt. Diese Neubestimmung des Maßnehmens aus dem Vortheoreti­ schen heraus, beachten wir im fünften Unterkapitel genauer, indem wir die Genese dieser Konfiguration der Bekümmernis in Heideggers Zugang zu Paulus und zu Aristoteles hinsichtlich seiner Hermeneutik eines Maßes der lebensweltlichen Faktizität beschreiben und interpre­ tieren werden. Es ist schließlich zu untersuchen, wie dies Heidegger tendenziell zu einer Appropriation bzw. Aneignung eines performati­ ven Maßstabs in der Lebensbewegtheit der Bekümmernis und Sorge führt, in der nicht nur die Besinnung eines gemäßen Messens, sondern auch die Spannungsreichweiten eines ungemäßen Messens als ein Vermessen in den Blick rücken. Durch die Beleuchtung dieser Zusam­ menhänge, lässt sich wiederum die brennende Frage aufwerfen, wie Heidegger durch einen solchen Ansatz eines performativen Maßver­ ständnisses überhaupt zur Seinsfrage kommt.

1. Rejektion und Projektion als Maßstabsfindung Die Ausgangslage der Erarbeitung eines performativen Maßver­ ständnisses in Heideggers Denken gestaltet sich für den aufmerk­ samen Leser in der Vorlesung Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem von 1919 als besonders interessant. Kei­ neswegs beginnt Heidegger im Kriegsnotsemester 1919 sofort, wie vielleicht die gängige Heidegger-Lektüre suggerieren mag, mit einem Aufwurf der Seinsfrage oder mit der Zielsetzung der Entwicklung einer Hermeneutik der Faktizität oder mit der Fokussierung einer wie auch immer gearteten Daseinsanalyse. Heidegger initiiert die Suche vielmehr sublim und subliminal nach einem Maß, mit dem Ziel einer Maßstabsfindung im Hinblick verschiedener zeitgenössischer philosophischer Positionen, die gerade Gefahr laufen, im frühen 20. Jahrhundert in die Beliebigkeit von Weltanschauungen aufgelöst zu werden. Der junge Privatdozent Heidegger verwehrt sich in dieser

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1. Rejektion und Projektion als Maßstabsfindung

frühen Vorlesung einer Gleichsetzung von Philosophie und Weltan­ schauung. Er weist stattdessen auf den völlig andersartigen Charakter der Philosophie hin. Wenn die Beliebigkeit der Weltanschauungen und die daraus folgende Indifferenz im Denken nicht zulässig seien, so Heidegger, dann müsse genau geschaut werden, was Philosophie ausmache und was sie selbst sei. Aus der Tradition des deutschen Idea­ lismus heraus, bestimmt Heidegger die Eingrenzung der Philosophie zunächst als Idee. Diese Idee der Philosophie sei die einer Urwissen­ schaft, die selbst wiederum nur philosophisch zu untersuchen sei. Heidegger geht es dabei um einen »Maßstab der Auswahl« für die »Idee der Philosophie« als »Urwissenschaft« im fichteschen und laskschen Sinne.158 Diese »Urwissenschaft« hat für Heidegger konsequenterweise »außerhalb jedes Weltanschauungskontextes« zu stehen.159 Wie ist dieser Maßstab auffindbar? Wie soll Heidegger hier vorgehen? Und vielmehr: Was ist Heideggers Motiv einer Maßstabs­ suche für »die Idee der Philosophie als Urwissenschaft«, die auf den ersten Blick platonisch anmuten muss?160 Behalten wir im Hinterkopf, dass Heidegger sich in seinen frühen Schriften mit einem qualitativen Maßstab der sinnbesetzten und bedeutsamen Bewandtnis im Hier und Jetzt vom konventionellen quantitativen Maßstab abgegrenzt hatte. Dieser quantitative Maßstab war für ihn Produkt der Abstraktionsleistung gewesen, heterogene, bedeutsame und komplexe Elemente in ein homogenes, bedeutungs­ loses und simples Medium zu überführen, um so einen skalierten und schließlich mathematisierten Maßstab zu ermöglichen. Aufgrund der Abgrenzung von diesem herkömmlichen abstrakten Maßstab können wir bereits antizipieren, dass sowohl Stoßrichtung, Methode und Inhalt von Heideggers Maßstabssuche nach einer »Idee der Philosophie als Urwissenschaft« keineswegs platonischen Charakter haben können.161 Es ist vielmehr zu vermuten, dass dieser Begriff von der »Idee der Philosophie als Urwissenschaft« von Anfang an nur GA 56/57, § 4, S. 22. Vgl. Arnulf Müller, Weltanschauung – eine Herausforderung für Martin Heideggers Philosophiebegriff, Stuttgart: Kohlhammer 2010, S. 149. 160 Vgl. GA 56/57, S. 22. 161 In Platons Denken wird die philosophische Ausformung der Umwandlung hete­ rogener Elemente in ein homogenes Medium entwickelt, das er als ursprünglich deklariert, nämlich als die Rückführung der Abbilder in die Idee des Urbilds. Der junge Heidegger fordert aber schon, wie gesehen, spätestens seit seiner Habilitation das Gegenteil. 158

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provisorischer Natur für Heidegger ist, um ihm als Sprungbrett zu einem neuen Denkhorizont zu dienen. Es geht Heidegger darum, sich von dieser »Idee« abzustoßen, sich aus ihr herauszudrehen. Dieses frühe Anliegen eines Herausdrehens aus den bisherigen Maßstäben des Denkens wird bereits auf der ersten Seite der Vorlesung von 1919 deutlich: »Es liegt im sinnmäßigen Zuge der zu verfolgenden wissen­ schaftlichen Idee, daß wir mit der Gewinnung der echtmethodischen Erkenntnisstellung über uns selbst hinaus- und hinwegschreiten und uns selbst methodisch zurücklassen müssen in der Sphäre, die der ureigensten Problematik der zu fundierenden Wissenschaft ewig fremd bleibt.«162 Diese »echtmethodische Erkenntnisstellung«, so sagt Heidegger, diene der »Überführung« in eine »eigene Form der Bewegtheit des Lebens.«163 Hier liegt also das Motiv der Maßstabs­ suche, die direkt an die Ergebnisse aus der Habilitation und an Heideggers Antrittsrede anknüpft. Methodisch folgt für diese Maßstabssuche, dass Heidegger zunächst einen gegen-hegelianischen Dreischritt im Blick hat, der das Zurücklassen, die Ablehnung und Abhebung des gegebenen Maßstabs vorsieht. Ausgehend von diesem Verfahren kristallisiert Heidegger allmählich das Vorhaben einer Maßstabsfindung heraus, um schließ­ lich die Aneignung als eben jene »eigene Form der Bewegtheit des Lebens« erst zu vollziehen. Ein genauer Blick in die Vorlesung Heideggers zeigt, dass sich, methodisch und inhaltsbezogen, bereits zu Beginn dieser Maßstabs­ suche diese drei Zugänge von Rejektion, Projektion und Appropriation differenzieren lassen. Sie werden uns helfen, Heideggers Frühwerk in seiner Systematik hinsichtlich der Maßstabsproblematik aufzuschlüs­ seln. Zunächst vollzieht Heidegger die Rejektion der Fundierungen des in der Dissertation und Habilitation aufgewiesenen quantitativen Denkens im Hoheitsgebiet des Abstrakten. Anschließend geht er in einen projektiven Modus über, der sich als Skizzierung eines konkreten Maßstabs außerhalb des gängigen quantitativen Maßstabs im Hier und Jetzt herausschält. Dieser wird von Heidegger schließlich zu einem vortheoretischen Gegenentwurf und zu einem bisher unhin­ terfragten theoretischen Hauptmotiv in der Philosophie entfaltet. Schließlich ermöglicht sich für Heidegger aus diesem herausschrau­ benden Verfahren die Appropriation, d.h. die vorläufige Aneignung, 162 163

Ebd., S. 3. Herv. M.M. Ebd.

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1. Rejektion und Projektion als Maßstabsfindung

eines anderen Maßstabs, mit dem es möglich wird, die Faktizität des Lebens und den Existenzcharakters des Lebens ins Licht zu rücken. Schon zu Beginn der Vorlesung arbeitet Heidegger methodisch mit dieser zirkulären Herangehensweise, die in ihrer Performance schon an den hermeneutischen Zirkel des Verstehens aus Sein und Zeit denken lässt. Diese Zugangsart muss für Heidegger die besag­ ten gesuchten Maßstäbe und Charakteristika der Urwissenschaft herauslösen. Eine solche Zugangsweise enthüllt Heidegger später in der Vorlesung als Strukturanalyse.164 Den Grund für die Wahl dieser Methode nennt er selbst: »Da uns sichere, echte Kriterien einer anderen Methode oder sonst prinzipielle Gesichtspunkte nicht zur Verfügung stehen, wird die Prüfung nur auf dem Wege einer Strukturanalyse möglich.«165 Zunächst ist dabei zu fragen, was der Terminus Strukturanalyse hier meint, den Heidegger in der ersten Vorlesung entwickelt. Das Wort Struktur kommt vom lateinischen Ausdruck struere, was mit »aufbauen« oder »bauen« übersetzt werden kann. Wilhelm Dilthey verwendet den Begriff der Analyse der Struktur als einer der ersten für die psychischen Leistungen und »Tatsachen« des erfahrbaren Lebens.166 In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben Ferdinand de Saussure und Roman Jakobson schließlich den Strukturbegriff für die Linguistik fruchtbar gemacht und eine Strukturanalyse entwickelt, nämlich als Methode, um »[…] ein System von Elementen und die endliche Menge ihrer Kombinationsmöglichkeiten nachzuweisen […].«167 Meyer-Sickendiek weist darauf hin, dass es sich bei diesem Terminus ursprünglich um ein quantitativ orientiertes Verfahren gehandelt hat, die Strukturanalyse jedoch von Heidegger – konse­ quenterweise – qualitativ verstanden und umgesetzt worden sei.168

Vgl. ebd., S. 52–53. Ebd., S. 53. 166 Vgl. Wörterbuch der philosophischen Begriffe, hrsg. v. Arnim Regenbogen u. Uwe Meyer, Hamburg: Meiner 2013, S. 635; vgl. Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, in: Gesammelte Schriften, Bd. VII, 3. Aufl., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1961, S. 237. 167 Vgl. Burkhard Meyer-Sickendiek, »Struktur und Ereignis. Zwei Kategorien zur Begründung poetischer Selbstreflexion«, in: Roman Jakobsons Gedichtsanalyse. Eine Herausforderung an die Philologien, hrsg. v. Hendrik-Birus et al., Göttingen: Wallen­ stein 2003, S. 75. 168 Vgl. GA 56/57, S. 75f. 164 165

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Im Wesentlichen handelt es sich bei Heideggers Zugang um eine »wegräumende Analyse«, d.h. um ein formales, allerdings nicht abstraktes, Ausschlussverfahren aller unzureichender Elemente einer sichtbar gemachten Struktur in seinem jeweiligen »axiomatischen Problem«, bis jeweils das gesuchte Anzuzeigende als Rest übrig bleibt.169 Die Methode ist somit rejektiv bis zu dem Bereich eines projektiven Rests, der den Ansatz für die Appropriation eines anderen Zugangs bietet. Entscheidend ist dabei, dass Heidegger den Begriff der Idee aus dem Horizont dieser zirkulären Interpretation von Phi­ losophie als Urwissenschaft qua Urwissenschaft versteht. Aus der Idee und ihrer »aphoristischen Erhellung« besteht die logische »[…] Möglichkeit des Heraustretens und Sich-Ansetzens neuer Wesensele­ mente […].«170 Wie Heidegger mit dieser Deutung des Ideenbegriffs die logische Figur des hermeneutischen Zirkels des Verstehens vorwegnimmt, so ist auch die Strukturanalyse ein Vorbote des wenige Monate später entwickelten Heideggerschen Destruktionsverfahrens, das er in der Vorlesung Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks skizziert und das später in Sein und Zeit ausgearbeitet vorliegt.171 In der Vorlesung von 1919 heißt es rückblickend zum strukturanaly­ tischen Verfahren: »Der methodische Sinn aller vorausgegangenen Bemühungen war der, an die Grenze von Voraussetzungslosigkeit zu kommen, d.h. zum Ur-sprung, alles wegzuräumen, was mit Vor­ aussetzungen belastet ist.«172 Entscheidend ist nun für uns, dass Heideggers Methode der Strukturanalyse als Gang an die Grenze der Voraussetzungslosigkeit hier somit sinngemäß zunächst als rejektive Maßstabsfindung zu verstehen ist. Als Ausgang dieses Findungsprozesses hat Heidegger das von Dilthey und zum Teil auch von Jaspers unabsichtlich geförderte Missverständnis, dass Weltanschauung und Philosophie synonym

Vgl. ebd., S. 6; S. 53. Ebd., S. 14. 171 Auf die frühe Verwendung des Destruktionsbegriffs geben Briefe an Löwith und Jaspers Aufschluss, aus denen hervorgeht, dass sich Heidegger schon zwischen 1918 und 1920 von der Sache nach an diesem Begriff abgearbeitet hatte, was Jeffrey A. Barash in einer Analyse dieser Dokumente zeigen konnte. Vgl. Jeffrey Andrew Barash, Heidegger und der Historismus. Sinn der Geschichte und Geschichtlichkeit des Sinns, übers. v. Karin Spranzel, Würzburg: Königshausen & Neumann 1999, S. 113 – 115. 172 GA 56/57, S. 95. 169

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1. Rejektion und Projektion als Maßstabsfindung

oder in Analogie zueinander zu verstehen seien, im Blick.173 Auch die Neukantianer, vor allem Rickert, vertraten die Position, dass Weltanschauung und Philosophie zwar nicht identisch seien, aber miteinander in einem Zusammenhang stünden. Rickert sieht die Verbindung von Weltanschauung und Philosophie darin, dass die Phi­ losophie als Wertelehre das Fundament von Weltanschauung über­ haupt begründe. So schreibt Rickert in Der Gegenstand der Erkenntnis: Erst mit einer Wertwissenschaft gelangen wir zu einem wahrhaft umfassenden theoretischen Weltbegriff, der die Möglichkeit bietet, ihn zur Grundlage einer allgemeinen ›Weltanschauung‹ zu machen, und der damit für das Ganze der Philosophie von Bedeutung wird.174

Dies weist Heidegger entschieden zurück: Weltanschauung sei das Gegenteil von Philosophie als »[…] Festsetzung eines Endgültigen von Welt und Leben.«175 Philosophieren ist daher für Heidegger kein Anschluss und auch keine wertwissenschaftliche Begründung von einem fertigen System, sondern ein aktives Suchen und Denken im Prozess. Wie schon angeführt, habe sich das Philosophieren zunächst auf das Motiv zu konzentrieren, das auch schon die badische Schule der Neukantianer verfolgt hatte: nämlich die Urwissenschaft. Heidegger sieht zunächst die eigentliche philosophische Proble­ matik der Weltanschauung und der statischen Festsetzung in Werte­ systemen im Aufriss der sokratisch-platonischen Sicht auf die Frage nach der Möglichkeit von Wissen überhaupt. Philosophie ist für Heidegger hingegen nur dann als echte Wissenschaft ursprünglich, d.h. eine Ursprungswissenschaft, wenn der geschichtliche Horizont des Fragens beleuchtet werde. Hier beginnt nun Heideggers Arbeit ex negativum beim platonisch fundierten Ideenbegriff, insofern dieser ein »[…] gewisses negatives Moment […]« einschließe.176 Dessen Besonderheit – und gleichzeitige Eignung für die Suche eines Maß­ stabs – sei, dass die Idee etwas nicht leisten könne: »[…] sie gibt etwas nicht, nämlich: nicht ihren Gegenstand in vollständiger Adäquatheit, in abgeschlossener Vollbestimmtheit seiner Wesenselemente.«177

Vgl. Karl Jaspers, Psychologie der Weltanschauung, Freiburg: Herder 1919. Heinrich Rickert, Gegenstand der Erkenntnis. Einführung in die Transzendental­ philosophie, 3. Aufl., Tübingen: Mohr 1915, S. XII. 175 GA 56/57, S. 8; vgl. ebd., S. 12. 176 Ebd., S. 13. 177 Ebd., S. 13–14. 173

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Die Idee als solche hat also den Vorzug, dass sie die Möglichkeit der Bestimmung ihres Gegenstandes offen lasse, aber zugleich selbst bestimmbar sei. Heidegger nennt sie folglich eine »bestimmbare Bestimmtheit.« »Die bestimmbare Bestimmtheit der Idee besagt sonach: ein eindeutig umgrenzbarer, als Einheit eines Sinnes sichtba­ rer Zusammenhang wesensgesetzlich geregelter Motivationen der Bestimmbarkeit des nie voll bestimmten Ideengegenstandes.«178 Damit ist die obige Behauptung belegt. Die Idee ist für Heidegger nicht mehr platonisch als ideale Einheit gedacht, sondern hat Aufga­ bencharakter und bleibt – im kantischen Sinne – daher nur regulativ. Heidegger schließt sich somit zunächst einem dynamischen Ideenver­ ständnis aus dem Umkreis der Neukantianer und dem Husserlschen transzendentalen Ideenverständnis an.179 Entscheidend für die Frage nach dem Maß ist aber nun, dass Heidegger über dieses neukantianische Motiv hinausgeht: Die »Idee« der Urwissenschaft zeige nämlich außerdem im wissenschaftlichen Suchen auf seinen Gegenstand zurück und gerate so in einen Zir­ kel. Das zu Suchende ist qua wissenschaftlicher Methodik schon vorausgesetzt. Folglich bedarf es nach Heidegger für die Idee der Urwissenschaft eines schon »verwertbaren Gefundenem«.180 Mit der Konstatierung des Zirkulären beginnt das eigentliche Verfahren der Abhebung, das Rejektion und Projektion ineinander auf eine bestimmte Richtung hin verzahnt und das sich im Wesentlichen als Maßstabsfindung verstehen lassen kann. Wir wollen an dieser Stelle das strukturanalytische Verfahren Heideggers anhand der Vorlesung nachzeichnen und erläutern.

Ebd., S. 14. Rickert etwa sieht die Idee gleichermaßen in ihrem Aufgabencharakter, wenn er zur kategorialen Bestimmung eines Gegenstandsgebietes durch das transzendentale Subjekt folgendes festhält: »[…] es darf auch der kategorial geformte Bewußtseinsin­ halt, wenn er als Totalität gedacht wird, vom erkenntnistheoretischen Standpunkt aus nicht als ein fertiges Weltganzes, sondern nur als eine,Idee‘, d.h. als die Aufgabe ange­ sehen werden, den Inbegriff alles Gegebenen durch die Formen der objektiven Wirk­ lichkeit zu einer einheitlichen, in sich geschlossenen Welt zusammenzufügen.« Vgl. Heinrich Rickert, Gegenstand der Erkenntnis, S. 103. Auch Husserl geht von einer »Idee der Philosophie« aus, wie ein gleichnamiger Vorlesungstitel von 1911 heißt. Vgl. Hua XXVII, S. 163ff. Husserl fasst dort die Idee von der Sache her als Bestimmung, nämlich als Annäherung an absolutes Wissen, als die Bestimmbarkeit von möglichen Objekten unter einer allgemeinen Idee oder Norm. Vgl. ebd., S. 198f. 180 GA 56/57, S. 17. 178

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1. Rejektion und Projektion als Maßstabsfindung

a) Das strukturanalytische Verfahren als Maßstabsfindung Heidegger selbst führt das eigentliche strukturanalytische Abhe­ bungsverfahren mit einem geschichtlichen Rückgang auf ein Maß­ stabsproblem ein, das qua Maßstabsfindung fraglich werden soll. Zugang und Inhalt des Zugangs überschneiden sich im Maßbegriff. Dieses Maßstabsproblem ist aber nicht irgendeines, sondern eben jenes besagte sokratisch-platonische Grundproblem, inwiefern Phi­ losophie Urwissenschaft vom Wissen sein kann oder nicht. Diese scheinbar epistemologisch motivierte Fragestellung bricht sich am Maß dessen, wie Wissen überhaupt einzuordnen ist. Gibt es nur bloße Meinung, ist der Mensch das Maß aller Dinge, wie es von Protagoras überliefert ist? Oder gibt es ein von den Menschen unabhängiges apriorisches Maß, durch das es festes Wissen in Form einer Letztbe­ gründung gültiger Ideen geben kann, wie Platon es behaupten würde? Entscheidend ist, dass in der Gegenüberstellung dieser zwei fragli­ chen Maßverständnisse selbst eine Maßstabsfrage zweiter Ordnung liegt, nämlich – worauf Heidegger ausdrücklich hinweist – die Frage nach dem »Maßstab der Auswahl«, genauer einer »geschichtlichen Auswahl«, welche über diese beiden Tendenzen der Maßstabsfrage entscheiden könne.181 Kritisch abhebend fragt Heidegger daher nun: »Wonach bemißt sich die Auswahl gerade dieser Epoche und in ihr Platos und nicht der von ihm bekämpften Sophistik?«182 Eine rein historische Hinnahme von vermeintlichen historischen Tatsachen, d.h. ein Historismus – wie Heidegger später sagen wird – kann nicht den Maßstab für eine Philosophie als Urwissenschaft bieten.183 Diese selbst müsse stattdessen in ihrer Geschichtlichkeit durchdrungen und verstanden sein. Doch welches Kriterium, welche Voraussetzungen erlauben die Entscheidung über den passenden Maßstab? Heidegger kommt zu folgendem projektiven Schluss: »Echte philosophische Einsichten, die sich in primitiven Formeln darbieten, kann ich als solche nur erken­ nen mit Hilfe eines Maßstabes, eines Kriteriums der Echtheit.«184 Weltanschauung und Historismus, dies lässt sich zusammenfassend sagen, scheiden für Heidegger aus, insofern sie nur einem verfestigten Amalgam fertiger Sichtweisen oder unhinterfragter und kanonisch 181 182 183 184

Ebd., § 4, S. 22. Ebd., S. 20. Zur Genese des Problems des Historismus vgl. Barash, S. 15–78. GA 56/57, S. 21.

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II. Suche nach einem Maßstab der Auslegung der Faktizität des Lebens

eingeschränkter Fakten anhängen und somit nur einen verkrusteten bzw. starren, aber keinen echten, ursprünglichen Maßstab zu bieten haben. Hier ist also bereits ein verfestigter Maßstab von Heidegger qua Strukturanalyse abgetragen, aus dem sich dennoch wieder etwas Maßgebliches herleiten lässt. Wenn die verhärteten, geronnenen Ansichten und Fakten dem gesuchten Maßstab nicht gerecht werden, muss das Problem verflüssigt werden. Es muss dynamisch behan­ delbar sein und im Metamorphischen seinen Maßstab haben. Dies sieht Heidegger, im Gegensatz zum Historismus, in einer lebendigen Geschichte, die im Kontext des je eigenen Lebens steht: Jede Geschichte und Geschichte der Philosophie in einem ausgezeich­ neten Sinne konstituiert sich im Leben an und für sich, das selbst historisch ist […]. Das ist freilich alles sehr wider den Sinn der ›erfahrungs‹-stolzen Tatsachenhistoriker, die sich für die allein Wis­ senschaftlichen halten und meinen, die Tatsachen zu finden wie Steine am Weg.185

Die scheinbar neutralen Fakten der Historiker werden hier bereits mit einer lebendigen Geschichte der Faktizität konfrontiert und diese lebendige Geschichte schließlich als fundierender Maßstab abgetra­ gen. Heidegger prüft nun in einer weiteren Etappe der Strukturana­ lyse gängige Ansätze bezüglich des gesuchten Maßstabs und fragt nun, ob nicht aufgrund der Vielzahl der Systeme und Ansätze in der Geschichte der besagte »Maßstab der Auswahl« notwendig sei.186 Anscheinend zuerst Georg Simmel beipflichtend, der statt Sys­ teme die typisch philosophische Geisteshaltung hervorhebt, schließt Heidegger: »In Konsequenz dieser Auffassung der Philosophie kann dann eine bedeutsame philosophische Gesamtleistung nicht am Maßstab des wissenschaftlichen Wahrheitsbegriffes gemessen und gefragt werden, inwieweit ihre Doktrin mit dem Gegenstand, dem Sein übereinstimme.«187 Doch Simmels Position wird dann doch zurückgewiesen, da auch diese des »[…] Maßstabes der Auswahl der Personalitäten […]« anhänge, von der auch der »wissenschaftliche Philosoph« ausgeschlossen bleiben müsse. Dies ist darin begründet, dass die Rekursion auf diesen Maßstab wieder das Problem der Übereinstimmung von explanans und explanandum, ergo die Koin­ 185 186 187

Ebd. Vgl. ebd., S. 22. Ebd., S. 22–23.

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1. Rejektion und Projektion als Maßstabsfindung

zidenz des wissenschaftlichen Philosophen auf der einen Seite und der Urwissenschaft auf der anderen Seite, voraussetze. Damit werde aber ein vitiöser Zirkel eingeführt. Es wird nämlich jeweils die eine Seite schon immer zum Grund der jeweils anderen und so fort. Eine Urwissenschaft als Grund wird somit nicht erreicht. Doch auch nach dieser negativen Einschätzung bzw. Rejektion, bleibt nach dem Abtragen als strukturanalytische Maßstabsfindung wieder ein projektives Element zurück: eine typische geistige Ver­ fassung, das explanans oder die denkende Person, zeige auch auf einen »typischen, einzigartigen Lebensbezug« und damit auf den »lebendigen Vollzug« von Philosophie. Den nächsten strukturanalytischen Ansatz vollzieht Heidegger in der Möglichkeit, induktiv vorzugehen. Es seien von einer Ein­ zelwissenschaft Herleitungen zu gewinnen, die zur Urwissenschaft führen. Wir erinnern uns: nur eine solche Urwissenschaft könne gegebenenfalls noch einen Anhalt für einen möglichen Maßstab der Echtheit abgeben. Aber auch ein Zugang zu einer solchen Urwissen­ schaft über die Methoden der Einzelwissenschaften bietet sich für Heidegger nicht an, da diese schon zu voraussetzungsreich seien. Eine spezifische wissenschaftliche Methode, wie beispielsweise die naturwissenschaftliche, setze nämlich wieder geschichtliche Grundla­ gen der Wissenschaft vorurteilsmäßig voraus, die doch gerade erst zu gewinnen seien. »[…] [U]nd vor allem entspräche diese Wissen­ schaft nicht im Entferntesten der Idee einer Urwissenschaft, denn sie wäre nicht Ursprung, sondern Resultat, methodisch selbst durch die Einzelwissenschaften fundiert.«188 Auch aus dieser Rejektion behält Heidegger mit dem performativen Charakter der Induktion einen projektiven Rest zurück. Man habe sich nicht auf den Maßstab als solchen zu konzentrieren, vielmehr liege der Schlüssel gerade im Performativen des Messens des Maßstabes selbst: »Statt auf den Gegenstand der Erkenntnis kann ich mich auf die Erkenntnis des Gegenstandes einstellen.«189 Hier kündigt sich schon ein weiteres Motiv Heideggers zur Präferenz eines lebendigen und konkreten Vollzugs des Bedenkens des Maßstabes an.

188 189

Ebd., S. 27. Ebd., S. 28.

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II. Suche nach einem Maßstab der Auslegung der Faktizität des Lebens

b) Die Anwendung der Maßstabsfindung auf die Wertelehre des badischen Neukantianismus Heidegger wendet die Strukturanalyse als Maßstabssuche und Maßst­ absfindung im Sinne des Auffindens eines »Kriteriums der Echtheit« auch auf die vom badischen Neukantianismus forcierte Wertelehre an. Es ist in dieser Arbeit nicht unsere Sache, Heideggers Abtragen der sogenannten kritisch-teleologischen Methode der Neukantianer vollständig nachzuzeichnen. Stattdessen sollen nur die für uns ent­ scheidenden Prämissen beachtet werden, die Heidegger in den Blick bringt. Heidegger zeigt im Verlauf seiner Untersuchung auf, dass die von den Neukantianern vertretene Position auf die geltende Norm eines Ideals bezüglich seiner Materialvorgebung fixiert bleibe – und zwar als logisch-funktionale Wertung, die gilt, d.h. als Gelten. In einer Formel verdeutlicht, sähe dies folgendermaßen aus: FIdeal [fNorm (Material) Gelten] Wertung Diese Wertung als Verklammerung des Materialarguments mit seiner Normfunktion unterliege – sowohl bei den Neukantianern als auch später bei Husserl – der fichteanischen Präferenz der praktischen Vernunft; nämlich so, dass die Wertenahme als Gelten einem Sollen entspreche. Indem etwas als Material sein soll, gelte es als Wert für ein Ideal als Norm. Heidegger sieht das Problem jetzt gerade darin, dass man im Falle des Ideals der zu geltenden Norm einer Idee der Urwissenschaft die weite Komplexität seiner Materialvorgebung, d.h. die Kriterien für diese Idee als solche, schon kennen müsse, obschon diese doch erst aufzufinden seien. Auch die Erfahrungswissenschaf­ ten, etwa die Psychologie bezüglich der Erkenntnisvorgänge, seien für die Auffindung nicht geeignet, da diese Disziplinen aufgrund einer nie wirklich endenden Materialfülle nie zu einem Abschluss kämen und damit immer nur im Relativen bzw. Hypothetischen verblieben. Hinzu käme, dass solche Erfahrungswissenschaften schon deswegen den Absolutheitsanspruch aufzugeben hätten, weil sie selbst in ihren Theorien und Vorannahmen, ihren Strömungen und Schulen nicht einig agierten. Heidegger kommt daher zu folgender Konklusion, womit er die Maßstabsfindung eines dem absoluten Geltungsanspruch geschuldeten Denkens, wie Husserl und Rickert es etwa vertreten hatten, aufgibt:

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2. Die Rejektion des Theoretischen und die Projektion des Vortheoretischen

Für die kritische Methode, besteht so, wenn sie ehrlich ist, eine gren­ zenlose Ratlosigkeit, die dadurch nicht überwunden ist, daß man eine nächstgelegene und für den Augenblick und den augenblicklichen Zweck plausible psychologische Erkenntnis aufgreift und – unbeküm­ mert über ihren wissenschaftlichen ›Wert‹ – darauflosphilosophiert und das System der Werte entwirft (zu illustrieren an ›psychologischen Urteilstheorien‹).190

2. Die Rejektion des Theoretischen und die Projektion des Vortheoretischen Heidegger geht aber mit seiner auflösenden, d.h. strukturanalytischen Methode noch weiter. Angenommen, der Allgemeingültigkeitscha­ rakter des Wertes sei noch am ehesten tragbar, so wirft Heidegger der Wertelehre doch vor, dass ihr Primat des Theoretischen noch zu voraussetzungsreich und zu unbegründet sei, obschon man allgemein meine, dieser theoretische Primat sei als Wert die »fundamentale Schicht« von Wahrheit. Dabei seien aber die Grundlage des Theoreti­ schen als solche sowie die Entscheidung für die Theorie als Kriterium des Wertes unzureichend fundiert. Heidegger weist damit das Theo­ retische als Fundament des Wertes scharf zurück und er hat einen triftigen Grund dafür: Das Theoretische, meint man, färbe auf alle übrigen Wertgebiete ab, und es kann das um so eher, als es eben selbst ja als Wert gefaßt ist. Diese Vorherrschaft des Theoretischen muß gebrochen werden, zwar nicht in der Weise, daß man einen Primat des Praktischen proklamiert, und nicht deshalb, um nun mal etwas anderes zu bringen, was die Probleme von einer neuen Seite zeigt, sondern weil das Theoretische selbst und als solches selbst in ein Vortheoretisches zurückweist.191

Hiermit wendet Heidegger sich implizit gegen seinen Lehrer Carl Braig. Dieser hatte in seinem dogmatisch formulierten Vom Sein. Abriß der Ontologie folgendes behauptet: Theorie ist die Metaphysik, weil sie auf die reine Erkenntnis des Wesens, des Grundes und Zieles von allem Sein, Geschehen und Wirken geht. Eben darum ist sie für alle […] Wissenschaften unent­ 190 191

GA 56/57, § 11, S. 58. Ebd., § 12, S. 59.

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II. Suche nach einem Maßstab der Auslegung der Faktizität des Lebens

behrlich; denn ohne vorhergehende Erkenntniß der Ausgangs- und der Richtpunkte, ohne Verständnis der Leitungsgrundsätze […] kann von einem Bewirken und Gestalten, von einem rechtmäßigen Wollen und zielbewußten Handeln des Menschen nicht die Rede sein.192

So spricht Braig vom theoretischen »allgemeinen Sein« als das »Mindestmaß von Einwirkung eines gänzlich Unbekannten auf seine Umgebung […].«193 Diesem Dogma von fixen »Ausgangs- und Richt­ punkte[n]«, d.h. einer Maßstabsorientierung, die am Theoretischen unbedingt festhält, widersetzt sich der junge Heidegger nun ganz radikal, insofern dieses Dogma die Problematik aus seiner Sicht verdrehe. Nicht die Theorie sorge für das praktische, d.h. vortheo­ retische Handeln, sondern umgekehrt schaffe die vortheoretische Welt aus Heideggers Perspektive erst die Bedingung der Möglichkeit von Theorie überhaupt. Das Theoretische könne auch deswegen als solches kein Maßstab sein. Der Grund liegt für Heidegger nicht allein darin, dass die Theorie eine künstliche Einteilung in Kategorien und Wertesysteme generiere und durch eine reduzierende Homogenisie­ rung und Schematisierung letztlich zu einer umfassenden Quantifi­ zierung führe. Das Problem, Sachzusammenhänge zu modifizieren, entstehe schon im abstrahierenden Charakter der Theorie selbst. Dies geschehe durch die vorher konstellierte und oktroyierte Sicht- und Herangehensweise der Theorie, die einem Sachverhalt im Vorfeld fremde Koordinaten zuspreche. Hier ist Heidegger noch radikaler als sein Lehrer Emil Lask, der auch schon die Tendenz zum Quantifizieren im Modus des abstrakten Theoretisierens gesehen hatte, jedoch noch meinte, »vortheoretische« oder »atheoretische« Philosophie sei selbst noch mit einer abstrak­ ten und theoretischen Besinnung zu erledigen: »Das ist ja gerade das Eigentümliche der Philosophie, das theoretische Wertverhalten auf atheoretischen Wertverhalten aufbaut. Theoretische Besinnung involviert deshalb eine Entscheidung hinsichtlich des atheoretischen Lebensgebietes.«194 Heidegger, der schon im Hang zur Theorie selbst das Problem sieht, kann darin nur einen Widerspruch oder bestenfalls eine Äquivokation erkennen. Er fordert daher radikal die Abkehr vom Theoretischen: »Alles Überstülpen der Sachsphäre durch unbewährte und freigewählte Theoreme und Vormeinungen 192 193 194

Carl Braig Vom Sein. Abriß der Ontologie, Freiburg: Herder 1896, S. 12. Ebd., S. 19. Emil Lask, Zum System der Wissenschaften, S. 251.

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3. Das »Gibt es etwas?« als destruktives Herausschälen des Maßstabes

ist zu vermeiden. Angemessen ist einer Sachsphäre nur Tatsachen aufweisende ›Beschreibung‹“.195 Das ist ein weiteres Mal eine scharfe Zurückweisung von Braigs Deutung der Theorie als Maßstab des All­ gemeinen, die von Braig per se mit Metaphysik gleichgesetzt wird, was Heidegger aber erst später hinterfragen wird. Was bleibt mit der Ablehnung des Theoretischen als Generator eines allgemeinen Maßstabs noch übrig? Anscheinend überdauert nur noch eine an der Phänomenologie orientierte Deskription. Doch wie steht es mit ihr? Auch sie, so Heidegger, sei nur die Darstellung eines Sachzusammenhangs durch einen Beschreibungszusammenhang, der wiederum selbst ein Sachzusammenhang sei, der dann wieder eine Art Metadeskription benötige, die wiederum ein Sachzusammenhang sei und so fort. So ergebe sich ein regressus infinitum. Dadurch, dass auch die Sphäre der Theorie selbst als unangemessen bestimmt sei und selbst eine vermeintlich neutrale Deskription hinfällig werde, stellt Heidegger ernsthaft die Frage, ob es überhaupt »etwas gibt«, was noch irgendwie als Maßstab gelten könne. Das Entscheidende der Strukturanalyse als Maßstabsfindung ist das Resultat, dass der her­ kömmliche, quantifizierende, abstrahierende und, zu guter Letzt, auch der theoretische und deskriptive Maßstab für Heidegger durch die Auflösung zurückgewiesen wird. Hier endet für Heidegger zunächst eine erste Ebene des rejektiven Verfahrens per Strukturanalyse. Übrig bleibt ironischerweise nur noch die Frage: »Gibt es etwas?« im Sinne, ob es überhaupt etwas gibt, d.h. ob es einen Maßstab gibt, von dem völlig neu anzusetzen ist, unabhängig von jeder Theorie. Da Heidegger nun seiner Auffassung nach mit der Strukturanalyse alles hinweggefegt hat, was eine theoretische Einstellung noch irgendwie legitimieren könnte, hat nun das projektive Motiv den vollen Platz für seine Eröffnung eingenommen und eine Stoßrichtung des Denkens kann beginnen.

3. Das »Gibt es etwas?« als destruktives Herausschälen des Maßstabes Mit dem Vollzug dieser neu ausgerichteten Frage »Gibt es etwas?« ist zunächst ein Umschlag, ein Bruch mit allen vorher diskutierten 195

GA 56/57, S. 61.

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möglichen Kriterien oder Maßstäben »der Echtheit« erfolgt. In die­ sem einfachen Fragehorizont ermöglicht sich für Heidegger eine projektive Neubesinnung, die an einem anderen Maßstab ansetzen kann. Diesem Umschlag in die projektive Zumessung folgt dann eine erste Appropriation: nämlich vor aller Theorie beim konkreten Leben zu beginnen, im Vortheoretischen den Zusammenhang der Welt selbst, frei von allen bisherigen Vormeinungen, eine lebensweltlich fundierte Maßstabsorientierung neu erkunden zu können.196 Selbst die Vormeinung, eine Urwissenschaft müsse begründet werden, wird von Heidegger in der Rückblende aufgegeben. Das Projekt »Philo­ sophie« erfährt aus Heideggers Sicht damit einen Neustart. Diese metabolische Entscheidungslage fasst Heidegger in sehr dramatische Worte: »Wir stehen an der methodischen Wegkreuzung, die über Leben oder Tod der Philosophie überhaupt entscheidet, an einem Abgrund: entweder ins Nichts, d.h. der absoluten Sachlichkeit, oder es gelingt der Sprung in eine andere Welt, oder genauer: überhaupt erst in die Welt.«197 Der hier geleistete Nachvollzug der Heideggerschen Struktur­ analyse hat gezeigt, dass von der Sache her die Maßstabssuche zugleich eine Maßstabsfindung ist, insofern jedem rejektiven Abtra­ gen eines angezeigten Ansatzfeldes auch jedes Mal ein projektives, zuträgliches Verständnis des gesuchten Maßes abzugewinnen ist. Die Strukturanalyse Heideggers wird wenig später in die Termini formale Anzeige und Destruktion aufgehen. Diese werden als herme­ neutisch-phänomenologische Zugangsweisen von Heidegger alsbald methodisch ausdifferenziert. Zentral ist, dass es sich sowohl bei der Strukturanalyse, als auch bei den von Heidegger später eingeführten analytischen Formaten, um ein Richtungsweisen handelt, das die dazugehörenden Abgrenzungen aus- und zumisst. Doch statt einer Aufzählung von Maßstäben, die dann widerlegt werden, um so durch den »richtigen«, d.h. korrigierten Maßstab ersetzt zu werden – wie etwa bei Aristoteles‘ Kritik der Vorsokratiker und des platonischen Denkens zu Beginn der Physik und Metaphysik –, ist Heideggers Methode während des negativen Abtrags im konkreten Durchdenken Tilo Eilebrecht hat in seiner Dissertation den Vollzugscharakter des Fragens als fundamental für das Heideggersche Selbstverständnis der menschlichen Selbstwelt herausgestellt und diesen auch in Heideggers Frage »Gibt es etwas?« zuerst verortet. Vgl. Tilo Eilebrecht, Durch Fragen ins Offene. Zur Charakterisierung von Heideggers Denkwegen, Freiburg: Alber 2008, S. 65ff. 197 GA 56/ 57, § 13, S. 63. 196

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3. Das »Gibt es etwas?« als destruktives Herausschälen des Maßstabes

des Problems zugleich um das positive Zuträgliche aus dem Abgetra­ genen bemüht. Damit wird Heideggers eigener Denkansatz zunehmend ver­ mehrt und zugespitzt. Dieses langsame Herausschlagen des Maßsta­ bes, gleichsam wie aus einem Granitblock des bisherigen, unzurei­ chend Bemessenen, zeichnet nicht nur den performativen Charakter eines denkenden Messens aus, sondern deutet bereits auch in die­ ser Performance auf Heideggers späteres Wahrheitsverständnis hin, indem jedes Enthüllte ein Unenthülltes bzw. jedes Verborgene ein Unverborgenes in sich birgt, das es jeweils freizulegen gilt.198 Statt also quantitativ das Maß für sein Projekt – hier das Auffin­ den der Urwissenschaft – herbei zu rechnen, indem einem vermeint­ lich »falschen« Konzept das angeblich »Richtige« entgegengehalten wird, liegt Heideggers Zugang im gegenseitigen sinnorientierten Zuspiel von rejektiven und projektiven Transformationen der Maß­ stäbe. Dieses Zuspiel geht in einem eigenen philosophischen Ansatz auf, dessen Charakter zunächst performativ oder transitiv ist. So lässt sich Antonio Ciminos Einschätzung zu den frühen Freiburger Vorle­ sungen Heideggers aufgreifen, wenn er zu folgendem Fazit kommt: Das Philosophieren als solches ist entscheidender als die philosophi­ schen Lehren und Philosopheme, in denen es jeweils zum Ausdruck kommt. Unter Verwendung von Heideggers terminologischen Diffe­ renzierungen der frühen Freiburger Periode kann man auch sagen, daß der Vollzugssinn der philosophischen Erfahrung (das Wie) entschei­ dender ist als ihr Gehaltssinn (das Was).199

Diese besondere Rolle des Vollzugscharakters in Heideggers Denken, wie Cimino sie herausgearbeitet hat, soll nun aus dem Blickwinkel des hier am Text sichtbar gewordenen gegenseitigen Zuspiels von Rejek­ tion, Projektion und Appropriation im Sinne eines lebensweltlichen Messens im vortheoretischen Modus in den Blick gebracht werden.

Vgl. Martin Heidegger, »Vom Wesen der Wahrheit«, in: GA 9, Nr. 6, S. 193f. Antonio Cimino, Phänomenologie und Vollzug. Heideggers performative Philoso­ phie des faktischen Lebens, Frankfurt am Main: Klostermann 2013, S. 28.

198

199

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II. Suche nach einem Maßstab der Auslegung der Faktizität des Lebens

4. Das vortheoretische Projekt des lebensweltlichen Messens Wenn Heidegger nun als Konsequenz aus dem Gesagten die Forde­ rung stellt, ins Vortheoretische zurückzugehen, um dort ein Maß bzw. die Performance des Messens der Maßstäbe des konkreten Lebens in der Welt aufzuweisen, dann geht damit, wie gesehen, nicht nur ein Wandel der Frage bezüglich von Leben, Welt und Sein einher; viel­ mehr beginnt parallel ein Bruch mit der bisherigen wissenschaftlich fundierten theoretischen Herangehensweise. Mit anderen Worten: Es geht nun um nichts weniger als um das Verlassen der seit Jahr­ hunderten gereiften intellektuellen Komfortzone, die ihre Blüte in der Neuzeit erreichte; nämlich der bisherigen Art, Wissen über die Welt betrachtend und setzend anzueignen und qua Abstraktion und Quantifizierung zu verwerten. Dies ist die Wissenschaft als Theorie. Mit der Neuaneignung bzw. Appropriation der Maßstäbe und des Messens am konkreten Leben, gerät der bisherige Umgang mit Wissen durch eine univoke Betrachtung und Inbesitznahme mit Mitteln und Termini der Außendarstellung, d.h. durch die Abstraktion und die Objektivation, in einen Modus der Krise. Es wird nun nämlich deutlich, dass die bisherige abstrakte Betrachtung und das dazugehörige Pendant der pragmatischen Objektivation zum Akquirieren von Wissen die Komplexität des konkreten Lebensvollzugs in der Welt ausblenden. Damit wird das Urteil aus Heideggers Habilitation über den Maßstab der abstrahie­ renden Quantifizierung qua Homogenisierung eigentlich heteroge­ ner Zusammenhänge insofern radikalisiert, als dass nun die Quelle dieser abstrahierenden Quantifizierung ausgemacht ist. Diese Quelle heißt »Theorie« und das Produkt ihrer Quantifizierung qua Abstrak­ tion heißt Objektivation. Sie ist für Heidegger die ungemäße, weil künstliche Verdinglichung und Stillstellung des Lebens- und Weltzu­ sammenhangs. Folglich muss für Heidegger die grundlegendere Frage nach einem gewandelten Maßverständnis und Bemessen von Sinn und Bedeutung der Lebensbewegtheit in diesem Weltzusammenhang vor aller Theorie in den Fokus gerückt und angeeignet, d.h. zum Maßstab erhoben werden. Demnach muss das Messen auch den Messenden konkret in den Blick bringen. Dies ist jener weltoffene, wechselseitige, insistierende und existierende Knotenpunkt, der schon vor einer vermeintlich allgemeingültig festgelegten theoretischen Haltung die

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4. Das vortheoretische Projekt des lebensweltlichen Messens

Grenzen immer schon absteckt. Das ist für Heidegger zunächst das menschliche Selbst und sein Verhältnis zur Welt, nämlich, wie das Selbst, das »es gibt«, seine Welt als bedeutsamen Sinn und damit als Maßgabe interpretiert. Kurzum leitet die Umdeutung des Maßstabs, der Maßgabe und des Maßnehmens zur Frage, was das Sein in einer Welt ausmacht und wie das Selbst faktisch in einer komplexen Welt ist und sich konkret zu ihr verhält. Somit lautet der Heideggersche Arbeitsauftrag im Aus­ gang vom Vortheoretischen, die bisherige Art, Grenzen zu erkunden, zu hinterfragen. Im Rahmen dieser lebensweltlichen Grenzen ist es möglich, Maße zu nehmen und sich mit und in der Welt zu messen und diese zu ermessen. Doch welchen Charakter hat dieses lebensweltliche grenzenab­ steckende Maßnehmen? Heidegger muss, um diese Frage klären zu können, das Theoretische und das Vortheoretische noch einmal von­ einander abheben, um über den vortheoretischen Charakter des Maß­ nehmens Klarheit zu bekommen. Diesen Gedankenvollzug können wir erneut als eine in sich gegenläufige Konversion von Rejektion und Projektion zweiter Ordnung interpretieren, dem eine Stufe der Appro­ priation zweiter Ordnung folgt. Dies ist die Rejektion der Zerstörung der konkreten lebensweltlichen Umwelt durch die abstrahierende, theoretische Einstellung, die die Welt in die Verdinglichung zerrt. Mit diesem weiteren rejektiven Verfahren geht erneut eine weitere projektive Grenzabsteckung des vortheoretischen Ermessens der Fakti­ zität der sich zeigenden Lebenswelt einher. Daraus ergibt sich schließ­ lich die Appropriation der Grenze und des Maßstabs des konkreten Lebens selbst. Heidegger nähert sich der Frage des vortheoretischen Maßstabs in den frühen Freiburger Vorlesungen mit verschiedenen Anläufen. Ein erster Versuch wird von ihm in den einleitenden Über­ legungen der Vorlesung Zur Bestimmung der Philosophie entwickelt. Methodischer und in schärferer begrifflicher Exaktheit als zuvor, baut er diese Gedanken in Grundprobleme der Phänomenologie und in Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks aus. Diese Texte ziehen wir daher auch für die Interpretation heran. Fassen wir das Gesagte noch einmal knapp zusammen, bevor wir uns diese weitere rejektive Ebene ansehen: Zuerst geht es Heidegger in diesen Vorlesungen darum, die formalen Grenzen zwischen dem Menschen, der formalen Existenzexklamation »es gibt« und der Welt aufzuzeigen und sie von einer voreingenommenen theoretischen Betrachtung und ihren Maßstäben freizulegen. Diese Grenzen sieht Heidegger

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in einem Entfremdungsprozess, der besagten Umweltzerstörung, die er auf eine vermessende und selbst unhinterfragte theoretische Ein­ stellung zurückführt und schließlich zurückweist.

a) Rejektion der Umweltzerstörung durch die vermessende theoretische Einstellung Heidegger versucht zunächst eine Transformation der Husserlschen Epoché und übt entsprechend methodisch eine phänomenologische Enthaltung gegenüber der theoretischen Voraussetzung der Objek­ tivierung und Subjektivierung der erlebten Welt. Er will sich auch von den gängigen Voraussetzungen idealistischer oder realistischer Standpunkte frei machen, die jede bemessende Deutung auf unsere Empfindungsdaten zurückführen.200 Heidegger vertritt dabei folgende Haltung: Nicht die abstrakte Vermessung der Welt als Empfindungsdaten oder sonst eine objektive Kategorisierung liefern ein Maß, sondern die Welt selbst in ihrer Faktizität, in ihrer schlichten bedeutsamen Gegebenheit. Er zeigt dies beispielhaft am Umwelterlebnis des Katheders: Unmittelbar ist mir im Kathedererlebnis das Katheder gegeben. Ich sehe dieses als solches und sehe nicht etwa Empfindungen und Empfin­ dungsdaten; ich habe überhaupt kein Bewußtsein von Empfindungen. Aber ich sehe doch das Braun, die braune Farbe. Aber ich sehe sie nicht als Braun-Empfindung, als ein Moment in meinen psychischen Vorgängen. Ich sehe Braunes, aber in einem einheitlichen Bedeutungs­ zusammenhang mit dem Katheder.201

Sicher, so Heidegger, kann ich das Braun nur als Empfindungsdatum betrachten und interpretieren. Aber dann schalte ich die Vielfältigkeit von konkreten, vielleicht wichtigen Bedeutsamkeiten innerhalb die­ ses komplexen Erlebnisses einfach ab. Ich tue dann so, als gäbe es den Gesamtzusammenhang des Ortes nicht mehr, in der das Katheder vor mir steht. Der verortete und in sich verwobene Gesamtzusammen­ hang wird für mich zudem in seinem geschichtlichen Kontext ausge­ blendet; es wird so getan, als spiele dieser nicht ineinander, als handele es sich nicht um ein Geflecht von Bedeutsamkeiten. Die theoretische Betrachtung überblendet die primäre konkrete Maßgabe des empfun­ 200 201

Vgl. GA 56/57, § 16, S. 77ff.; vgl. GA 58, § 2, S. 6ff. GA 56/57, § 17, S. 85.

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4. Das vortheoretische Projekt des lebensweltlichen Messens

denen »Braun« als abstraktes Empfindungsdatum, das nun künstlich homogenisiert und dann zum quantifizierbaren Objekt erhoben wer­ den kann. Das technische, weil verfahrungsmäßige Homogenisieren eines heterogenen Zusammenhangs von Bedeutungsverweisungen zugunsten eines quantifizierbaren und skalierbaren Maßes, eliminiert dabei potentiell wichtige Stränge von Sinnbezügen. Eine Eliminierung bedeutet im Kontext des Theoretischen ein gedankliches Auslöschen von bestimmten Bereichen unserer Welt um uns herum, die dann nicht mehr erfahrbar sind. Der Extremismus dieser theoretischen Haltung heißt dann einen Schritt weiter zu gehen: Ich ziehe nicht nur ab, sondern ordne auch dauerhaft das Erlebte als Abgezogenes ein, fasse es als Objekt, als Quantum oder Kategorie und nehme die theoretische Einstellung als primären Charakter des Denkens. Heideggers Verdacht der Verding­ lichung und Quantifizierung, der sich letztlich durch seine ganzen Arbeiten bis ins Spätwerk ziehen wird, sieht genau diese Gefahr in dieser extremen Form der theoretischen Haltung zur Welt, von der er später sagen wird, dass sie keineswegs natürlich dem Men­ schen angehöre, sondern geschichtlich entstanden und oktroyiert sei. Heidegger spricht eine solche Abstraktion als tendenzielle Eli­ mination der Umwelt hier ganz klar als »Zerstörung« aus: »Dieser primäre Charakter ist nur solcher, wenn ich schon Theorie treibe, wenn theoretische Einstellung da ist, die selbst ihrem Sinne nach nur möglich ist als Zerstörung des Umwelterlebnisses.«202 Diese Bemerkung Heideggers ist entscheidend, wenn das Vortheoretische mit einem weniger künstlichen und konkreten Maßverständnis in den Blick kommen soll, in dem von der tat­ sächlichen und faktischen Lebenswelt ausgegangen wird. Mit die­ ser Überlegung erscheint der Maßstabsgenerator des theoretischen Abstrahierens und Objektivierens als eine Vermessung im Sinne des Verabsäumens des Konkreten und wird als dessen »Zerstören« entlarvt. So hat Klaus Rosenthal schließlich darauf hingewiesen, dass Heideggers Ablehnung des Objektivierens auch eine Kritik an einer »anthropozentrischen aggressiven Aktivität« sei, der es um ein gewaltsames Erzwingen und Sicherstellen der Welt gehe. Dieses Objektivieren äußere sich letztlich auch als konkrete Umweltzerstö­

202

Ebd.

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rung, indem Tiere, Pflanzen und ganze Landschaften zugunsten abstrakter Ziele vernichtet werden.203 Heidegger selbst hat ebenso diesen Ausgangspunkt, der von ihm auch als »Umweltzerstörung« titulierten Aktivität durch das Theore­ tisieren und Objektivieren im abstrakten Maßstab, d.h. im Quantifi­ zieren, im Blick, was demgemäß nichts anderes als ein Auflösen der konkreten Faktizität des erlebten Ereignisses ist. Mit der Rückführung der »Umweltzerstörung« auf das Quantifizieren nimmt er – wie gesehen – die Position des späten Emil Lasks auf. Anders als der Voll­ bluttheoretiker Lask, gibt Heidegger dem Mitdenkenden ein Beispiel an der konkret erlebten Raumorientierung, das vor allem gegen den kritischen Realismus und dessen Quantifizierungstendenz gerichtet ist. Diesen kritischen Realismus kennt er seit seinen Jugendschriften von Lipps und Külpe, aber eben auch von der theoretisch-dogmatisch fundierten Ontologie Carl Braigs:204 Ich komme auf einer Wanderung zum erstenmal nach Freiburg und frage, in die Stadt eintretend: ›Wo führt der nächste Weg zum Müns­ ter?‹ Diese Raumorientierung hat mit einer geometrischen als solchen nichts zu tun. Die Entfernung bis zum Münster ist keine quantitative Strecke, Nähe und Weite sind nicht ein Wieviel; der nächste und kür­ zeste Weg besagt auch nicht etwas Quantitatives, bloß Ausgedehntes als solches. Analog das Zeitphänomen. Mit anderen Worten: Diese sinnhaften Phänomene der Umwelterlebnisse kann ich nicht in der Weise erklären, daß ich ihren wesentlichen Charakter zerstöre, sie Vgl. Klaus Rosenthal, Die Überwindung des Subjekt-Objekt-Denkens als philoso­ phisches und theologisches Problem, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1970, S. 25. 204 Wie stark mittlerweile Heideggers Aversion gegen den kritischen Realismus als reduktiver Standpunkt geworden ist, zeigt sich in der Vorlesung Grundprobleme der Phänomenologie von 1920, in der er ihn polemisch als »platte Unphilosophie« sowie als »Standpunkt des mißdeuteten Aristoteles« bezeichnet. So leiste der kritische Realismus die »Vorspanndienste« für eine »gänzlich verlotterte Theologie beider Kon­ fessionen«. Gemeint sind mit ziemlicher Sicherheit die Ontologie und die Theologie seines ehemaligen Lehrers Carl Braig, der den kritischen Realismus gewissermaßen als Verklammerung zwischen Theologie und modernem naturwissenschaftlichen Denken des Messens und Maßes in sein System integriert hatte. Vgl. Kapitel I.1. in diesem Buch. Die schroffe Ablehnung Heideggers ist insofern gerechtfertigt, als dass Heidegger nun mit seiner radikalen Kritik am unhinterfragten Theoretischen des kritischen Realismus genau das Gegenteil von Braig und dem kritischen Realis­ mus überhaupt vertritt, wenn er nun in aller Deutlichkeit das Quantifizieren und Abstrahieren als Maßstab, Maßgabe und Maßnahme der theoretischen Einstellung ablehnt. Braig hatte hingegen den Primat des Theoretischen, ein quantitatives und ein abstraktes Maßdenken, zur Grundvoraussetzung einer Ontologie erklärt. 203

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in ihrem Sinne aufhebe und eine Theorie entwerfe. Erklärung durch Zerstückelung, d.h. hier Zerstörung: Man will etwas erklären, das man gar nicht mehr als solches hat und als solches gelten lassen will und kann. Und was ist das für eine merkwürdige Realität, die erst auf dem Wege so gewagter Theorien erklärt werden soll? Versuche ich die Umwelt theoretisch zu erklären, dann fällt sie in sich zusammen.205

Die theoretische Analyse, d.h. das Auflösen der zusammenhängen­ den Umwelt, aus der Komfortzone des Betrachterstandpunkts, wird von Heidegger auch hier erneut als Abstrahieren und Quantifizieren identifiziert und in seiner Widersinnigkeit entlarvt. Dieser Widersinn steckt für Heidegger auch hier nicht im Detail der Betrachtung, son­ dern einfach darin, dass die Bedeutung des Umwelterlebnisses nicht mehr Thema wird und so nicht nur gestört, sondern eben aufgelöst, zerlegt, also »zerstört« wird. In der Ablehnung der theoretischen Ein­ stellung als einseitige Orientierung am abstrakten bzw. quantitativen Maß und Messen wird der kritisch-mahnende Grundtenor aus der Habilitation, der dort noch eher indirekt zwischen den Zeilen zu lesen war, nun ganz offen ausgesprochen. Vielleicht mag Heideggers Enthüllung der »Umweltzerstörung« durch die Abstraktion und Homogenisierung am Beispiel der räumli­ chen Metrik den einen oder anderen in diesem Kontext nachdenklich stimmen, denn die »Umweltzerstörung« ist, wie die heutige Gene­ ration nur zu gut weiß, nicht beim gedanklichen Abstrahieren von der Konkretion ihrer Bedeutsamkeit stehengeblieben, sondern hat die Interpretation forciert und verbreitet, dass unser Planet einer primär quantitativ verstandenen Metrik unterstehe, die ihn selbst zu einem quantifizierbaren Objekt, einem Träger von endlichen »Roh­ stoffen« degradiert. Mit dieser Sichtweise ist heutzutage einer schier grenzenlosen und rücksichtslosen Gier Tür und Tor geöffnet, was in Zeiten weltklimatischer Umbrüche zunehmend sichtbarer und auch konkret immer problematischer wird. Schon der frühe Heidegger weist auf die Ursachen hin: diese »Umweltzerstörung« beginnt bei einer homogenen Maßstabsorientierung des Theoretischen. Mit ihrer Ausprägung der Abstraktion als quantitatives Messen und Vermessen, dies ist heute für jeden offenbar, folgte in den letzten Jahrhunderten in unheimlicher Konsequenz die tatsächliche Abstraktion der Umwelt. Damit ging die existentielle Zerstörung diverser Arten von Lebewe­ sen einher, die allerdings im Geiste der quantitativen Abstraktion 205

GA 56/57, § 17, S. 86.

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lediglich euphemistisch als »Raubbau« von »Wertanlagen« und »Res­ sourcen« ausgelegt wird. Die Folgen und die Konsequenzen werden heute auf Weltklimagipfeln immer noch nur theoretisch und auf abstrakter Ebene diskutiert und – sicherlich folgerichtig – die Gier der jeweiligen Aktanten dieser Zerstörung thematisiert. Vielleicht blei­ ben diese Feststellungen zu oberflächlich. Würde einmal probehalber die Kritik Heideggers aufgenommen, wäre zu prüfen, ob in diesem brutalen Prozess der Umweltzerstörung die rechtens angeprangerte übermäßige Gier gewisser Menschen vielleicht nur ein Symptom jenes abstrahierenden Denkmusters darstellt, das Heidegger hier in der durch Abstraktion und Homogenisierung geprägten theoretischen Einstellung wiedererkennt.206 Spielen wir diesen Gedankengang einmal durch: Was geschieht mit der Umwelt durch eine theoretische Einstellung, die für einzig richtig befunden und für absolut gehalten wird? Das Bündel von Bedeutsamkeiten wird qua Abstraktion getilgt, die nur noch quanti­ tativ vermessenen Bedeutsamkeiten verschwinden ganz, werden zer­ rüttet. Komplexe Zusammenhänge werden voneinander abgetrennt und die verkrüppelten Stränge werden zu Kategorien und Unterkate­ gorien zurecht gestaucht. Die komplexen mit Leben durchdrungenen Verhältnisse werden in diesen künstlichen Einheiten festgestellt. Sie gefrieren zu leblosen Figuren. Sie werden somit aus unserer Nähe in eine Ferne gerückt. Sie werden abgezogen. »Abzug« ist eine mög­ liche Übersetzung für Abstraktion. Dies geschieht zunächst in den Köpfen der Aktanten und dann in ihren Handlungen. Denn durch die Abstraktion werden die Abstumpfung und die Unsensibilität erzeugt, die es ermöglichen, diese Zerrüttung und Verödung tatsächlich durch­ zuführen. Beispielsweise werden Pflanzen, Tiere und Menschen nur noch als Waren und Ressourcen, Gebiete, Regionen und Traditionen nur noch als Werte und Güter behandelt. Die einen werden so, ohne mit der Wimper zu zucken, abgetötet, die anderen ohne Scheu Es ist übrigens bezeichnend, dass gerade heute, in Zeiten des Klimawandels und der Rohstoffknappheit, die geschichtliche und systemische Auswirkung von theore­ tischer Abstraktion und ihrer Maßstäbe und die tatsächliche Umweltzerstörung auf­ fallend wenig direkt durchdacht und diskutiert werden. Eine der wenigen Ausnahmen findet sich in einem Essay von 1994, den Markus Waldvogel verfasst hat und der diesen eklatanten Forschungsmangel gleichsam hervorhebt. Vgl. Markus Waldvogel, »Politik der Demut. Zum Verhältnis von Sprache und Umwelt« in: Wolfgang Zierhofer und Dieter Steiner (hrsg.), Vernunft angesichts der Umweltzerstörung, Wiesbaden: Springer 1994, S. 33ff. 206

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verschmutzt, zerstört oder man lässt sie einfach absterben. Zu guter Letzt ist das reiche und dichte Gewebe der bedeutungsbesetzten Umwelt ganz einfach nicht mehr da! Es sterben konkrete Lebensfor­ men, aber auch Lebenskontexte aus. Deren verbliebene Transformate, ihre Metamorphosen, werden aber nicht notwendig in neue reiche, komplexe Bedeutsamkeitsspielräume übersetzt, wie gerne oftmals in einer idealisierenden Verblendung apologetisch behauptet wird. Vielmehr reproduzieren sich erfahrungsgemäß diese Transformate oft nur in einer Tendenz zur Verflachung, die durch die Injektion der Quantifizierung ermöglicht wird. Auch scheinen sie genau in diesen Maßstäben, d.h. im Modus der mühelos quantifizierbaren Verflachung, zu verbleiben und so wird die weitere Verwüstung unserer Lebensgrundlagen vorangetrieben. Man muss dieses zu Ende geführte Gedankenexperiment nicht mögen, das von einer flächen­ deckenden theoretischen Einstellung bis zur Verwüstung unseres Planeten führt. Angesichts der Geschichte der Umweltzerstörung und des Klimawandels, scheint diese Blickrichtung jedoch auf unheimliche und nicht zu leugnende Weise plausibel zu sein. Damit ist auch Heideggers Ansatz, eine Kritik dieser theoretischen Einstellung im Homogenisieren, Abstrahieren und Objektivieren zu entwickeln, ernst zu nehmen und kritisch zu beleuchten. Auch wenn man Heidegger wegen seiner biographischen Ver­ fehlungen gerne im philosophischen Giftschrank lassen möchte, an dieser Stelle führt kein Weg an der Auseinandersetzung mit seinem Denken vorbei. Meines Erachtens liegt im Heideggerschen Ansatz der Kritik der theoretischen Einstellung eine Brisanz, die in der gegenwär­ tigen Krisengemengelage und im Nachdenken darüber nicht länger ignoriert werden kann. Es bedarf einer erneuten kritischen Beschäf­ tigung mit der durchaus grundlegenden Frage, ob eine zu extrem theoretische Einstellung sowie die dazugehörigen Kulturtechniken und Messgeräte, z.B. Tabellen, Statistiken, Graphen, Datensätze und Modelle etc., als Geburtsbecken einer extrem quantifizierenden Ten­ denz vielleicht dazu führen, eine konkrete, vortheoretische Welt von Bedeutungskomplexionen reduktiv zu modifizieren und letztlich auf­ zulösen.207 Denn was keine oder kaum noch Bedeutung trägt, sondern fast nur noch im quantitativen Maßnehmen relevant erscheint, macht 207 Hier ist vor allem auf das an Heidegger anschließende Buch Rationalität. Eine Weltgeschichte. Europäische Kulturgeschichte und Globalisierung von Silvio Vietta hinzuweisen. Vgl. Silvio Vietta, Rationalität. Eine Weltgeschichte. Europäische Kultur­ geschichte und Globalisierung, München: Fink 2012.

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es leichter, mit noch mehr und härterer quantitativer Abstraktion gegen eine solche konkrete Umwelt vorzugehen, Maßnahmen gegen sie zu ergreifen, maßlos mit ihr umzugehen, womit Rosenthals Wen­ dung der »aggressiven Aktivität« noch einmal eine ganz andere Note erhält. Die Ursprünge derartiger problematischer Tendenzen sieht Heidegger sehr genau, u.a. auch im theoretischen Kern des kritischen Realismus. Er benennt sie in dieser Rejektion zweiter Ordnung auch in aller Klarheit. Doch gibt es sie für ihn nur in einem kritischen Realis­ mus? Beim kritischen Idealismus, d.h. im Neukantianismus, beobach­ tet Heidegger eine ähnliche Tendenz wie im kritischen Realismus, nur unter umgedrehten Vorzeichen; hier ist es nicht die erkannte, zum Objekt abstrahierte Welt als Umwelt, sondern die unhinterfragte Primarisierung der abstrakten bzw. abstrahierenden Objektivität als solche, die alles in ihren geltenden Bannkreis auf das »X der Glei­ chung« hinauslaufen lässt, d.h. auf eine Funktionslogik reduziert.208 Für beide theoretische Haltungen statuiert Heidegger: »Beide Rich­ tungen unterliegen dem beherrschenden Einfluß der Naturwissen­ schaft.«209 Aber liegt es jetzt etwa an der Naturwissenschaft, dass sich vom abstrahierenden Theoretisieren als Ausblenden des komplexen Bedeutungszusammenhangs an der Welt vermessen wird? Heideggers Antwort fällt negativ aus: die Naturwissenschaft selbst ist nicht das Problem. Es ist die reduktive Tendenz der in der Neuzeit ausgereiften Naturwissenschaft, Welt zu interpretieren und zu bearbeiten. Diese reduktive Tendenz ist für Heidegger selbst aber nur Produkt der theoretischen Einstellung, die als solche schon reduktiv angelegt ist. Diese Einstellung werde von Beginn an unhinterfragt immer wiederholt und trete in gewandelter Form stets neu auf. »Schon von Anfang an und immer ist man im Theoretischen. Man nimmt dieses als ein Selbstverständliches, zumal wenn man Wissenschaft und gar noch Erkenntnis-theorie treiben will.«210 Dem jungen Heidegger hätte es nun doch angesichts der Brisanz des von ihm als problematisch aufgewiesenen theoretischen Denkens gut zu Gesicht gestanden, die Genesis des Theoretischen selbst zu erforschen. Ein solches philosophiegeschichtliches Mammutprojekt ist dem jungen Privatdozenten aus guten Gründen aber noch zu 208 209 210

Vgl. GA 56/57, S. 87. Ebd. Ebd.

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umfangreich, zumal es für ihn bedeutet hätte, sich zu verzetteln und den zentralen Horizont aus den Augen zu verlieren, nämlich eine vortheoretische Einstellung konkreter Maßstäbe zunächst rejektiv sichtbar zu machen. Daher ist Heidegger der direkte, konkrete und konsequente Durchgang zum Vortheoretischen im Modus einer ande­ ren Kommensurabilität wichtig.211 Für Heidegger stellt sich vielmehr die Frage, worin das Problem der Auflösungstendenz des Theoretischen liegt. Ist denn nicht alles in bester Ordnung, wenn ich doch nur zentrale Bedingungen und Bausteine des konkreten Erlebens qua theoretischer Analyse heraus­ filtere? Komme ich damit nicht jederzeit zu neuen Erkenntnissen von weiteren Dingen, von einem Mehr an Realität, wenn ich diese gefundenen Bausteine bis auf den Nanometer genau berechne und vermesse und so für weitere Auflösungen, Analysen und Betrachtun­ gen und dann für pragmatische Lösungen von Problemen bereitstelle und so dem Maß der Dinge, dem Realen, auf der Spur bleibe? Gewinne ich nicht auch durch die theoretische Analyse »reiche« komplexe Bedeutsamkeiten, d.h. qualitatives Wissen, zurück? Die naive Bejahung dieser Frage ist für Heidegger auch hier genau das Fatale: das Produkt der theoretischen Herangehensweise sei keine neue Reichhaltigkeit der Welt, sondern nur eine neue Reichhaltigkeit der toten Objektivierung, d.h. der Verdinglichung. In dieser Verdinglichung liegt für ihn gerade das Hauptproblem der Reduktion durch ein abstrahierendes und quantifizierendes Messen und Vermessen. Mit dem Umschlag in das verdinglichende Theore­ tisieren beginne die Performance der Bedeutungskomplexion der erlebten Welt aufzuhören. Die Performance der erlebten Welt nennt Heidegger auch das »Welten«, die er als vielschichtige Dynamik begreift, in der die Umwelt mit konkretem Sinn und konkreter Bedeutung aufgeladen ist. Die Leerform des Dings hingegen als unbestimmtes Maß des sogenannten quantitativ kommensurablen »Realen« lasse das Dynamische des Erlebens erstarren und schließlich nur noch dessen erkaltete Konglomerate aufteilen. Die Dinghaftigkeit umschreibt eine ganz originäre Sphäre, die aus dem Umweltlichen herausdestilliert ist. Das ›es weltet‹ ist in ihr bereits ausgelöscht. Das Ding ist bloß noch da als solches, d.h. es ist real, 211 Wir werden in den folgenden Kapiteln sehen, dass Heidegger die Genese der theoretischen Einstellung und ihren Problemhorizont in späteren Schriften unter verschiedenen Blickwinkeln erneut beleuchtet.

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es existiert. Realität ist also keine umweltliche Charakterisierung, sondern eine im Wesen der Dinghaftigkeit liegende, eine spezifisch theoretische. Das Bedeutungshafte ist ent-deutet bis auf diesen Rest: Real-sein. Das Umwelt-erleben ist ent-lebt bis auf den Rest: ein Reales als solches erkennen. Das historische Ich ist ent-geschichtlicht bis auf einen Rest von spezifischer Ich-heit als Korrelat der Dingheit.212

Am Ende bleibt nur noch ein reduziertes Etwas mit dem Titel »real«, ein abstraktes Ding, res, ein einförmiges leeres Reales, dem aber – und das ist neu – nicht nur die Bedeutungskomplexion, sondern auch die Geschichte fehle oder sie irrelevant werden lasse. Das vermeintlich gewonnene Qualitative aus dem Quantitativen ist demnach also nur ein Scheinkonstrukt, ein hölzernes Eisen, weil es als Produkt immer noch genauso die Fäden zur Geschichte und zum konkreten Leben abgeschlagen lässt, wie sein auf Quantität reduzierter objekti­ vierter Produzent. Heidegger kommt daher zum Schluss, was die zum Extrem ausgeübte theoretische Einstellung eigentlich bedeutet: »der Prozeß sich steigernder Objektivierung als Prozeß der Ent-lebung.«213 Das »Ent-leben«, das »Verblassen« des Lebens selbst, insofern es ein Kom­ plex von Bedeutsamkeiten ist, ist also das problematische Produkt des Theoretisierens. Die angewandte Naturwissenschaft sei hingegen nur eine Ausformung und Aktivität des Entlebungsprozesses.214 Die theoretische Einstellung ist insofern gar nicht primär für das Denken und die Wissenschaften, weil sie offensichtlich einen »[…] wahren Knoten von Voraussetzungen […]« mit sich führt, nämlich eine reiche dynamische Bedeutungskomplexion des Umwelterlebnisses.215 Aus diesen Gründen steht für Heidegger das Problem nun klar vor Augen: Das Theoretische wird allgemein als primäre Sichtweise verabsolutiert, obwohl es von einigen unhinterfragten, problemati­ schen und teilweise unterkomplexen, weil reduktiven Vorannahmen, über die Welt ausgeht. Die Welt wird unter diesen unbedachten GA 56/57, S. 89. Ebd., S. 91. 214 Der Begriff des »Verblassens« ist übrigens ein Begriff Fichtes aus der Wissen­ schaftslehre von 1804, in der er fordert, das lebendige Licht des Erkennenden nicht verdunkeln zu lassen, das »[…] unser […] lebendiges Denken und Einsehen selber […]« sei. [Grammatische Anpassung, M.M.]. Heidegger ist dieser Begriff vermutlich durch die Fichte-Rezeption seines Lehrers Lasks bekannt. Vgl. Johann Gottlieb Fichte, Die Wissenschaftslehre. Zweiter Vortrag im Jahre 1804, hrsg. v. Reinhard Lauth und Joachim Widmann, Hamburg: Meiner 1975 (orig. 1804), VI, SW-138–139, S. 65. 215 GA 56/57, S. 91. 212

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Voraussetzungen primär abstrahierend und quantifizierend bemessen und vermessen. Heidegger fragt nun selbstkritisch: Setze ich aber mit der Kom­ plexion des Umwelterlebnisses nicht auch etwas voraus? In einem Atemzug zeigt er, dass dem »Voraussetzen« selbst schon eine quanti­ tative bzw. abstrahierende Ausmessung von Ordnungsverhältnissen zugrunde liegt. »In dem ›voraus‹ liegt jedenfalls etwas vom Sinn eines Ordnungshaften, ein ›voraus‹ innerhalb einer Ordnung von Stellen, von Gesetztheiten und Setzungen.«216 Kurz: das Voraussetzen ergibt nur innerhalb der erkenntnistheoretischen Sphäre Sinn. Wird sie ver­ lassen, ist auch noch das Voraussetzen, d.h. das Theoretische selbst, zu unterlassen, um nicht erneut in einem vitiösen Zirkel zu geraten und Erkenntnistheorie gegen das Theoretische zu betreiben.217 Hier stellt sich noch einmal ein besonderer Modus der Rejektion zweiter Ordnung ein, der in sich rekursiv ist: Heidegger sieht sich gezwungen, die Art der Sicht auf das Erleben noch einmal zu ändern und vor der Theorie zurückzutreten, d.h. so methodisch zu fragen, dass eine Ebene vor der Theorie erreicht wird, jederzeit in der Gewissheit der Gefahr, selbst doch wieder Theorie durch problematische Begriffe und Sichtweisen voreingenommen zu betreiben. Diese in sich rekursive Rejektion zweiter Ordnung ist für Heidegger insofern notwendig, da nur so der projektive Weg ins Vortheoretische selbst frei werden kann, ohne dem Widerspruch Lasks zu verfallen, einen vortheoretischen Maßstab erneut mit theoretischen Mitteln zu suchen.

b) Projektive Grenzabsteckung: Das vortheoretische Ermessen der Faktizität der erlebten Welt qua Phänomenologie Wir haben gesehen: Im Übergang vom Theoretischen als Wurzel abstrahierender und quantifizierender Maßnahmen im Rückgang auf die vortheoretische Ebene, hält Heidegger sich methodisch an Hus­ serls Phänomenologie. Wie auch er, verlangt Heidegger eine Epoché, eine Enthaltung; nicht aber als Ausschaltung von einer natürlichen Einstellung wie in den Ideen einer reinen Phänomenologie, sondern »[…] nur so daß, wir alle Relativitäten (die wesentlich theoretische 216 217

Ebd., S. 93. Vgl., ebd. S. 97.

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Vormeinungen sind) radikal ausschalten.«218 Heidegger deutet Hus­ serls Interpretation der Phänomenologie, als Prinzip aller Prinzipien, die »keine erdenkliche Theorie irre machen« könnte, als Abkehr vom Theoretischen überhaupt.219 Die Phänomenologie selbst hingegen versteht er in ihrem eigentlichen Wesen nicht als theoretische Wis­ senschaft: »Aber schon, daß Husserl von einem Prinzip der Prinzipien spricht, also von etwas, das allen Prinzipien vorausliege, woran keine Theorie irre machen kann, zeigt, daß es nicht theoretischer Natur ist, wenn auch Husserl sich darüber nicht ausspricht.«220 In dieser Deutung des phänomenologischen Zugangs geht Heidegger von einer Rejektion zweiter Ordnung zu einer Projektion zweiter Ordnung über. Denn mit dieser Haltung Heideggers ist auch die Phänomenolo­ gie zunächst die für ihn gesuchte Ursprungswissenschaft. Für eine positive Abgrenzung unterscheidet Heidegger zwischen drei Ebenen des Zugangs: dem Gehalt oder dem »Was«, dem Bezug oder dem relationsmäßigen »Wie«, und dem Vollzug, den wir hier als performa­ tives »Wie« einordnen können.221 Der Vollzug als Performance wird dabei für Heidegger der entscheidende Terminus für seinen phäno­ menologischen Zugang sein. Mit der Ausweisung des Vollzughaften als performativ, integrieren wir nun explizit die These von Antonio Cimino, der in seiner Ausarbeitung zu Heidegger sehr überzeugend gezeigt hat, dass die »Performativität« der »[…] methodologisch und inhaltlich entscheidende Grundzug der frühen Phänomenologie Heideggers […]« sei, insofern Heidegger sich mit seinem Zugang in die »Erfahrungszusammenhänge« des faktischen Lebens »hineinver­ setzt«.222 Die Phänomenologie hat, nach Heidegger, die Lebenswelt unter diesen drei Gesichtspunkten auch nicht mehr sezierend und abstrakt hinsichtlich ihrer Gehalte zu erkunden, sondern ihre konkreten Bezüge performativ und konkret, d.h. vollzugsmäßig, zu ergründen. Dies gilt selbst dann, wenn Probleme in sich abstrakt zu sein scheinen: Es gibt in der Phänomenologie als Ursprungswissenschaft keine Spezi­ alprobleme […], weil und solange es in ihr konkrete Probleme gibt. […] Ebd., S. 98. Vgl. Hua III. Vgl. Hua III, Ideen I, S. 43. 220 GA 56/57, § 20, S. 109–110. 221 Vgl. GA 60, § 13, S. 63. 222 Antonio Cimino, Phänomenologie und Vollzug. Heideggers performative Philoso­ phie des faktischen Lebens, Frankfurt am Main: Klostermann 2013, S. 16. 218

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Die Phänomenologie gibt erst zu sehen, daß anstelle des Nebulösen, indem sich die übliche Philosophie bewegt, das Konkrete, das letzte Konkrete phänomenologisch faßbar gemacht werden muß, daß aller­ dings diese Konkretisierung solcher ›abstrakter‹ Probleme erst in und durch die phänomenologische Methode sich vollzieht.223

Die Maßstabssuche Heideggers erreicht mit der Phänomenologie qua Transformation und Ausrichtung des Husserlschen Ansatzes auf das Vortheoretische und das konkrete Leben zunächst ein Plateau, das gerade wegen seines Möglichkeitscharakters neben dem Gehalt und dem Bezug auch den Vollzug, also ein performatives Moment, in den Blick nimmt. Der Phänomenologie wird von Heidegger als philo­ sophische Disziplin eine Präferenz eingeräumt. Die Maßstabssuche führt Heidegger mit Hilfe einer eigenen Phänomenologie des Lebens auch zum Problem der projektiven Eingrenzung des herauszustellen­ den Maßstabs. Hier ist nun zu sehen, wie Heidegger die Disziplin der Phänome­ nologie zunächst auf den Inhalt oder Gehalt einschränkt: nämlich auf das faktische, konkrete und bewegte Leben. Auch methodisch werden von Heidegger neue Grenzen für eine vortheoretische Inspektion der konkreten erlebten Welt abgesteckt. So werden in dem gewonne­ nen inhaltlichen und methodischen Maßstab Möglichkeiten anderer Maßgaben, Zumessungen und Maßnahmen als die der theoretischen Einstellung für Heidegger zulässig. Heideggers Suche nach einem Maßstab, den er nun mit und in der Phänomenologie gefunden zu haben glaubt, geht in eine Grenzabsteckung des Bezugs über. Durch diese Eingrenzung hofft Heidegger sauber zwischen dem Theo­ retischen und dem Grenzgebiet des Vortheoretischen differenzieren zu können. Vor aller Theorie sieht Heidegger in Anlehnung an Lasks (noch theoretisch fundiertem) Etwas überhaupt das Erlebbare überhaupt. Dies ist aber nach Heidegger nicht einfach mit dem Widerpart eines Entlebens des theoretischen Blicks zu verwechseln, sondern dieser Begriff stehe im »Zusammenhang […] mit dem Ereignischa­ rakter der Erlebnisse als solcher.«224 Ereignischarakter meint hier für Heidegger das konkrete Zueigenmachen des Erlebbaren hinsichtlich seiner Bedeutsamkeit und seines Kontextes für das Selbst. Gefordert wird von Heidegger hier schon eine hermeneutische Intuition, die 223 224

GA 58, § 5, S. 26. GA 56/57, § 20, S. 116.

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diesen Ereignischarakter in seiner Bedeutungsfunktion in den Blick bringen soll. Zentral ist für Heidegger, dass es entgegen dem Sezie­ renden der Theorie nicht um die Zerstücklung in Wesenselemente gehe. Er will nicht ein abstrahierendes und quantifizierendes Messen, sondern den »Zusammenhang« der erlebbaren und erlebten Welt, in der die Bedeutsamkeiten im Vollzug performativ in den Blick kommen. Auch dies nennt Heidegger hier erneut das »Welten« bzw. »Welthaftigkeit«.225 Heideggers Versuch, diesen Zusammenhang des Lebensvollzugs in einer konkreten Welt zu erörtern, geschieht nun mit weiteren Umdeutungen der Husserlschen Phänomenologie. Dies zeigt die Überschrift in Heideggers Vorlesung Grundprobleme der Phänomenologie bereits an: »Aufweis des Lebens als Problemsphäre der Phänomenologie«. Heidegger grenzt das Maßstabressort oder die »Problemsphäre« einer phänomenologischen Interpretation des Lebens nun klar projek­ tiv, inhaltlich und methodisch positiv ab: Erstens ist das Leben in seinem selbstweltlichen Dasein selbst als Maßstab der Untersuchung der Maßstab schlechthin, weil das Leben schlechterdings begrenzt ist und somit Grenzcharakter hat. Heidegger bezieht sich hier explizit auf einen großen zeitgenössischen Vertreter der Lebensphilosophie: Georg Simmel.226 Dieser Begrenzung des Lebens spricht Heidegger auch ein Attribut bezüglich des performativen Maßstabs und Hori­ zonts zu: diese Begrenzung ist das gelebte Leben selbst. Dieses ist selbstgenügsam, es bleibt immer nur bei sich, d.h. es kann immer nur das eigene Leben gelebt werden. »Selbstgenügsamkeit ist eine charakterisierte Motivationsrichtung des Lebens an sich und zwar die, daß es seine Motivation aus seinem faktischen Ablauf selbst hat.«227 Mit der Motivationsrichtung folgt für Heidegger zweitens, dass das Leben als Transzendenz in eine Welt eingespannt und ausge­ richtet ist. Es hat ergo eine »Tendenz«, eine Richtung.228 »Du, er, sie, wir leben immer in einer Richtung […].«229 Hier kommt das Husserlsche Motiv der Intentionalität für das vortheoretische Leben zur Geltung. Anders als bei Husserl hat die Formulierung »Tendenz« bei Heidegger noch die Bedeutung des eingespannten Gezogenseins Ebd., S. 117. Vgl. GA 58, § 7, S. 30; vgl. Georg Simmel, Lebensanschauung, Kap I, in: Gesamt­ ausgabe Bd. 16, Berlin: Suhrkamp 1999 (orig 1918). 227 Vgl. GA 58, § 7, S. 31. 228 Vgl. ebd., S. 32. 229 Ebd. 225

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oder des Bewegtseins durch die geschichtliche Welt, in der das Leben sich aufhält, und durch die Menschen, die es umgibt. Die Tendenz ist also, anders als bei Husserl, keine fixe lineare Intention, die auf einen Gegenstand oder ein Gegenstandsgebiet fokussiert ist. Vielmehr ist sie in sich konkret-dynamisch. Dies ist entscheidend für Heideggers frühes Maßverständnis. Die Rolle dieses Tendenzcharakters (als dynamisches Gerich­ tetsein) für den projektiven Zugang von Heideggers Maßstabsver­ ständnis lässt sich an einem weiteren Text Heideggers ausmachen, der, laut Angabe, von ihm 1920 verfasst worden ist. Er rezensiert hier Jaspers Hauptwerk Psychologie der Weltanschauung von 1919. Heidegger weigert sich gleich zu Beginn der Rezension, Jaspers Werk nach einer herkömmlichen Maßstab-Kritik der Typisierung und Kategorisierung abzuschildern. Vielmehr sei auf die Art und Weise und auf die besagte »Tendenz« dieses Werkes von Jaspers zu achten. Werden die Tendenz und Maßstabsorientierung zusammengedacht, dann kann der Maßstab nicht mehr als kategoriale Bestimmung oder feste Einordnung verstanden werden. So ist Heideggers konsequente Weigerung zu verstehen, Jaspers »Tendenz« zur Lebensphilosophie mit einer herkömmlichen Maßstab-Kritik zu rezensieren. Der Grund ist offensichtlich: Heidegger hätte mit einer herkömmlichen Rezen­ sion einen performativen Widerspruch begangen und Jaspers Buch mit abstrakten Kategorien versehen, von denen er sich gerade doch lösen will. So bleibt Heidegger hier konsequent. [Es] […] bleibt jede bestimmt orientierte Maßstab-Kritik außer Funk­ tion gesetzt. Jaspers‘ Betrachtungen werden also nicht konfrontiert mit einer ausgeformten, in ihrer Weise sicher fundierten Philosophie und auch nicht abgeschätzt auf ihren Abstand von einer durchgeführten sachlichen Systematik des philosophischen Problembezirks. Ebenso­ wenig sollen sie gemessen werden an einem fixierten Ideal methodi­ scher wissenschaftlich-philosophischer Strenge.230

Von einem kategorialen Maßstab wie Lask ihn noch gefordert hatte, kann hier nun keine Rede mehr sein. Wenn aber keine strenge Abgrenzung unter einem differenzierten wissenschaftlichen Begriff erfolgt, lehnt Heidegger dann nun jede Orientierung an einem Maß­ stab ab? Dies wäre ein großes Missverständnis, denn Heidegger zeigt in den unmittelbar darauf folgenden Überlegungen, dass die 230

Vgl. GA 9, S. 3.

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Suche nach eigenen Maßstäben prominent ist, es aber durchaus pro­ blematisch, sogar töricht sei, sich einer unhinterfragten theoretischund kategorial-fundierten Maßstabsorientierung blind zu unterwer­ fen. Da in den projektiven Bemerkungen Heideggers die Selbstwelt als Grenze artikuliert wird, sind eigene Maßstäbe und eine Kritik der bisherigen kategorialen, objektorientierten und typisierenden Maßstabs-Auslegung gefordert: »Wo solche Maßstäbe im eigenen Philosophieren verfügbar geworden sind, kann eine solche MaßstabKritik nicht nur berechtigt, sondern auch dringlich sein […].«231 Heidegger unterstreicht also an dieser Stelle, trotz seiner Enthal­ tung vor einer typisierenden Maßstab-Kritik, die Wichtigkeit einer kritischen Untersuchung, hier beispielsweise in einer Deutung der »Tendenz« von Jaspers Hauptwerk: So bestimmt also die Absicht zur Seite gestellt bleibt, mit fest ausge­ formten, radikaler Zueignung aber nachweislich entbehrenden Orien­ tierungen auszumessen, so stark ist der Verdacht gegen alle schwel­ gende, Unverbindlichkeit und Scheinursprünglichkeit präsumierende ›Lebensphilosophie‹. […] Der Verzicht auf eine Kritik im Sinne des Beibringens fester Orientierungsmaßstäbe bedeutet alles andere als Kritiklosigkeit und Befürwortung eines unentschiedenen, differenz­ blinden, alles zur Vermittlung bringenden Synkretismus.232

Die Lebenstendenz, die laut Heidegger in verschiedene Richtungen ausfallen kann, eröffnet die Maßstabsorientierung zwar nicht in einem fixen »Etwas«, sondern in seiner genuinen Art und Weise; d.h. statt jetzt nur nach dem »Was«, also dem Gehalt des Maßstabs zu fragen, fordert Heidegger nun nach dem Bezug, dem »Wie« zu fragen. »Eine feste Orientierung liegt auch in der hier zu vollziehenden Grund­ haltung, deren Wesentliches sich gerade im Wie des Durchhaltens bekundet. Dieses Wie der kritischen Tendenz untersteht jederzeit einer sich destruktiv erneuernden Aneignung. Die Kritik ist eine im eigentlichen Sinne phänomenologische.«233 Heideggers Maßstab ist also kein Etwas, kein System, keine philosophische Architektonik, sondern eine performative Zugangsweise. Diese ist, wie oben schon aufgezeigt wurde, projektiv und qua Phänomenologie schließlich appropriativ. Dass Heidegger diese Zugangsweise in Bezug und in Auseinandersetzung mit der Lebenswelt zunächst als Maß und Maß­ 231 232 233

Ebd., S. 3. Ebd., S. 4. Ebd.

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stab denkt, sagt er im Rückblick neun Jahre später ausdrücklich in der kleinen Schrift Vom Wesen des Grundes noch einmal in aller Deut­ lichkeit, indem er ihren Bezugscharakter vom relationalen und per­ formativen »Wie« her versteht: 1. Welt meint eher ein Wie des Seins des Seienden als dieses selbst. 2. Dieses Wie bestimmt das Seiende im Ganzen. Es ist im Grunde die Möglichkeit jedes Wie überhaupt als Grenze und Maß. 3. Dieses Wie im Ganzen ist in gewisser Weise vorgängig. 4. Dieses vorgängige Wie im Ganzen ist selbst relativ auf das menschliche Dasein.234

c) Grenze und Maß als Rhythmik und Relief des Lebens So lässt sich zusammenfassen, dass das Maß und der Maßstab als Art und Weise der Deutung in doppelter Hinsicht für Heidegger rich­ tungsweisend sind: erstens als methodische, bezugs- und vollzugs­ hafte Herangehensweise der Phänomenologie an die Lebenstendenz. Zugleich ist diese Tendenz des Lebens auch »Grenze und Maß« im Sinne des Gehalts. Zweitens hat der Maßstab des Lebens außer seiner selbst als Grenze und Tendenz auch qua Welt einen Horizont, auf den das Leben ausgerichtet ist und durch den es seinen Maßstab und seine Begrenzung erst erhält. Diesen Horizont artikuliert Heidegger nun als »personale Rhythmik«, die die Disposition der Maßgaben der Lebenswelt bestimmt. Dieser Horizont lässt sich laut Heidegger in Selbstwelt, Mitwelt und Umwelt unterteilen.235 Es kann hinsichtlich der Frage­ stellung der Arbeit hier nur eine kurze Umschreibung dieser Termini Heideggers geben. Eine detaillierte Analyse zu den drei Weltbegriffen beim frühen Heidegger liefert Enders.236 Die Selbstwelt bezeichnet für Heidegger die ausgerichtete Tendenz des agierenden lebenswelt­ lichen Selbst, das, aufgrund seiner Konkretion, von Heidegger nicht mehr im hegelschen oder kantischen Sinne als isoliertes abstraktes Subjekt betrachtet werden kann. Die Mitwelt meint für Heidegger die anderen Selbstwelten, d.h. andere Menschen, die in die eigene Selbstwelt mit ihren Handlungen hineinreichen. Die Umwelt hinge­ 234 Martin Heidegger, Vom Wesen des Grundes, Frankfurt am Main: Klostermann 1949 (orig. 1929), S. 22. 235 GA 58, § 7, S. 33. 236 Vgl. Markus Enders, Transzendenz und Welt, Frankfurt am Main: Lang 1999, S. 68ff.

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gen durchdringt die jeweilige geschichtliche Verortung des Selbst mit der Mitwelt. Dies wurde im Grunde schon in der obigen Deutung des Kathedererlebnis deutlich. Heidegger gibt in seinen frühen Schriften der Selbstwelt als Lokalisation der Lebenstendenzen und der Besinnung den Vorzug vor den anderen Bezugsmomenten des lebensweltlichen Daseins.237 Erst ab Sein und Zeit wird Heidegger auch hier die Vorrangstellung des Transzendentalen und damit das Verbleiben im Subjektiven selbstkri­ tisch verwerfen.238 Für unsere Fragestellung ist es nun wichtig, wie diese drei Unterteilungen der Welt als Selbst-, Mit- und Umwelt als Grenze und Maß verstanden werden. Für Heidegger ist schließlich zentral, dass diese drei Bereiche nicht theoretisch isoliert, sondern konkret, d.h. in ihrer Komplexion bzw. Verdichtung (lat. concretio) gefasst werden. Heidegger verwendet den für den Horizont angeführten Rhythmik-Begriff zwischen Selbst-, Mit- und Umwelt in diesem Zusammenhang nicht zufällig und eröffnet damit eine eigentümliche Durchdringung von Konkretion und Verdichtung der erlebten Welt: »In der Art und Weise, wie sich das Erleben gibt, drückt sich die Rhythmik unserer eigenen Existenz aus.«239 Besonders prominent wird dies beim späteren Heidegger zuge­ spitzt, wenn er die Verdichtung des Lebenszusammenhangs und die literarische Dichtung als Konkretion in der Sprache zusammen­ denkt. In den frühen Vorlesungen verwendet Heidegger den Begriff allerdings mit Orientierung an Simmels Verwendung des Rhyth­ musbegriffs in dessen Lebensphilosophie.240 Heidegger appliziert Vgl. GA 59, § 7, S. 54, S. 57, S. 58. Vgl. ebd., § 13 u. § 14. Heidegger schreibt beispielsweise in den Beiträgen zur Phi­ losophie im kritischen Rückblick über die Voranstellung und Transzendenz des Selbst und des Daseins bis zu Sein und Zeit folgendes: »Auch wenn ›Transzendenz‹ anders als bisher, nämlich als Überstieg begriffen wird und nicht als das Über-sinnliche als Seiendes, auch dann wird mit ihrer Bestimmung das Wesen des Da-seins allzu leicht verstellt. Denn Transzendenz setzt auch so voraus ein Unten und Diesseits und ist in der Gefahr doch mißdeutet zu werden als Handlung eines ›Ich‹ und Subjekts. Und schließlich bleibt auch dieser Transzendenzbegriff im Platonismus stecken […]«. GA 65, Nr. 199, S. 322. 239 GA 58, Anhang B, S. 250; vgl. GA 59, § 7, S. 53. 240 Simmel geht insbesondere in seiner berühmten Rembrandt-Studie von 1915, die Heidegger als Liebhaber der holländischen Künstler bekannt gewesen sein dürfte, mehrmals auf die Rhythmik des Lebens ein. Simmel hält fest, dass die künstlerische Interpretation des Lebens bei Rembrandt nicht als Hintereinander vorgestellt oder 237

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den Rhythmusbegriff im Zusammenhang mit dem Leben als Cha­ rakterisierung der geschichtlichen Zumessung der drei Weltbegriffe. So schreibt Heidegger, dass das Leben beispielsweise in den durch­ aus problematischen Weltanschauungen »[…] in einer bestimmten Rhythmik und Färbung« erscheine.241 Selbstwelt und Lebenswelt, d.h. Umwelt und Mitwelt – das ist sehr entscheidend – können bei Heidegger, der an Diltheys Lebensphilosophie anknüpft, als ein Gewebe verstanden werden.242 Sie spielen ineinander und bedingen einander und erhalten maßnehmend und maßgebend ihren Maßstab als Rhythmik: Selbstwelt und Lebenswelt – in der Lebenswelt der Widerhall der Rhythmik jener. In der Darstellung des Selbstlebens bekundet sich zugleich die Lebenswelt und deren spezifische, aus dem Selbst herkom­ mende und von da vorgezeichnete Rhythmik und umgekehrt.243

Heidegger schaut sich das Leben in den Grundproblemen in seinen verschiedenen Facetten an und betont, dass es zwei vorherrschende Weisen gibt, das Leben in den Blick zu bringen: autobiographisch, wie etwa Dilthey es gezeigt hat, oder wissenschaftlich, wie es bei der Lebensphilosophie Bergsons und Simmels angelegt ist. Auch hier ist Heidegger für seine projektive Skizzierung der Maßstabskonstellation interpretiert werden kann, sondern »[…] daß jedes Gebilde als ein in der flutenden Rhythmik von Leben, Schicksal, Entwicklung, gewordenes oder werdendes erschaut wird: es ist sozusagen nicht diese jetzt erreichte Form, die Rembrandt vorträgt, sondern das gerade bis zu diesem Augenblick gelebte, von ihm her gesehene Gesamtleben.« Georg Simmel, »Rembrandtstudie«, in: Gesamtausgabe 13, Aufsätze und Abhandlun­ gen 1909–1918, Bd. II., hrsg. v. Klaus Latzel, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S. 32. 241 GA 58, § 7, S. 37. 242 Es ist übrigens einer der Grundgedanken Wilhelm Diltheys, dass das Leben zwar auf verschiedenen Ebenen in Relation zu sich selbst steht, diese Ebenen jedoch inein­ ander verwoben sind und nicht isoliert betrachtet werden können, was er etwa am Beispiel Augustins, Rousseaus und Goethes veranschaulicht. Vgl. Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, in: Gesammelte Schriften, Bd. 19, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1961, S. 196ff. So heißt es bei ihm: »Der Lebensverlauf besteht aus Teilen, besteht aus Erlebnissen, die in einem inneren Zusammenhang miteinander stehen. Jedes einzelne Erlebnis ist auf ein Selbst bezogen, dessen Teil es ist; es ist durch die Struktur mit anderen Teilen zu einem Zusammenhang verbunden. In allem Geistigen finden wir Zusammenhang; so ist Zusammenhang eine Kategorie, die aus dem Leben entspringt. […] Nur weil das Leben selbst ein Strukturzusammenhang ist, in welchem die Erlebnisse in erlebaren Beziehungen stehen, ist uns Zusammenhang des Lebens gegeben.« Ebd., S. 195. 243 GA 58, § 14, S. 59.

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des faktischen Lebens wichtig, dass dessen eigene Rhythmik dabei nicht aus dem Zusammenhang gerissen wird. »Faktisches – in seiner eigenen Richtung und in seinem eigenen Stil, in seiner eigenen Rhythmik – lebensweltwärts verlaufendes Leben ist in die Tendenz wissenschaftlichen Erkanntwerdens genommen.«244 Aber weil Wis­ senschaft, insofern sie eben theoretisch ist, isolierend, abstrakt und analytisch vorgeht, kann sie für Heidegger den Anspruch, diese Rhythmik des Lebens nicht zu zerreißen, nicht erfüllen. Der Erhalt der Rhythmik, d.h. die Kommensurabilität des Lebens in seinem verwobe­ nen Zusammenhang, bleibt für Heidegger zunächst zentral.245 Die logische Konsequenz aus seinen Vorüberlegungen zur theo­ retischen Einstellung muss dann bezüglich des Lebenszusammen­ hangs als Rhythmus zu folgender Konklusion seinerseits führen: Faktische Lebenswelten und ihr Reichtum gehen in den wissenschaft­ lichen Bekundungszusammenhang ein, verlieren aber doch gerade das spezifisch Lebendige und treten aus den Möglichkeiten heraus, um- und selbstweltlich zugänglich zu werden. Lebenswelten werden durch die Wissenschaft in eine Tendenz der Entlebung genommen und damit das faktische Leben gerade der eigentlichen lebendigen Mög­ lichkeit seines faktisch lebendigen Vollzugs beraubt. Was uns als das Drängende, Spannende, Fragwürdige und sich immer doch Erfüllende und von einem Reichtum in den anderen Überströmende und der Selbstwelt in unvergleichbarer Weise entspringend und auf sie ein­ strömend ergab, all das ist ausgelöscht, nivelliert zu einem vielleicht noch vielgestaltigen Sachgebiet, aber ohne die Rhythmik und den Zusammenhangscharakter eines lebendigen Lebens.246

Der Begriff der Rhythmik ist also ein zentraler Begriff für den frühen Heidegger; er zeichnet nicht nur die wechselseitige Verteilung und Durchdringung der Maßgaben und Maßnahmen im Bereich des ver­ dichteten, d.h. des konkreten Lebens in den jeweiligen Lebenslagen der Selbst-, Mit- und Umwelt für Heidegger vor, sondern er ist letztlich ein wesentlich ausschließendes Kriterium für Heidegger, die Lebens­ welt wissenschaftlich im herkömmlichen Sinne zu betrachten. Es kann für Heidegger damit letztlich also auch keine Urwissenschaft vom Leben geben; das Leben muss aus sich selbst heraus verstanden wer­ den, wenn diese Komplexion des Lebens nicht auseinandergerissen 244 245 246

Ebd., § 15, S. 66. Vgl. ebd., Anhang A, S. 159; ebd., Lose Blätter, S. 191. GA 58, § 18, S. 77–78.

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werden soll. Ähnlich wie Simmel schon vor ihm, spricht Heidegger analog zur Rhythmik des Lebens auch vom »[…] selbst auf- und abschwankenden Reliefcharakter des vollen Lebens an sich.«247 Dieser ist »[…] was schwingungsmäßig gleichsam da ist und wieder schwin­ det (›Rhythmus‹).«248 Was aber ist entscheidend an dieser Rhythmik des Lebens, die sich für Heidegger in ihrer Komplexion als Reliefcharakter des Lebens entpuppt hat? Bietet diese Konfiguration die Möglichkeit, das Leben aus sich selbst heraus zu verstehen? Und was kann daraus verstanden werden? Die Sichtung von Selbst-, Mit- und Umwelt lässt Heidegger zu einem erstaunlichen Ergebnis kommen: Die bisher beachteten reliefartigen Ausformungen des Lebens an sich haben das Eigentümliche, daß diese Ausformungen im Fließen des Ablaufs nie recht zu ausdrücklichen Abgehobenheiten werden – eine neutrale Art des Mitgehens und Mitgenommenwerdens –, sondern dem Leben seine neutrale, graue, unauffällige Färbung geben und gerade die ›Alltäglichkeit‹ bestimmen.249

Hier folgt Heidegger also Simmel, der, ebenso wie er, von der Ver­ flüssigung dieses Reliefcharakters gesprochen hatte. Die Rhythmik des Lebens, verstanden als Reliefcharakter, ist in Selbst-, Mit- und Umwelt allerdings nicht immer das tobende Meer voller atemberau­ bender Erfahrungen, sondern in seinen wiederkehrenden Rhythmen eher »unauffällig«, »grau«, d.h. das Leben in seinem Zusammenhang ist in der Regel in seiner eigenen Verklammerung zuweilen monoton. Dies – so Heidegger – ist der Modus, in dem viele Menschen die meiste Zeit leben: jeder Tag scheint dem anderen in Arbeit, Freizeit Ebd., § 8, S. 38. Simmel greift Heidegger schon um 1909 folgendermaßen vor, freilich mit ganz anderen Motiven, Vorzeichen und Begriffen als Heidegger: »Die Kontinuität, mit der wir unser Dasein erleben, das lange Sich-Vorbereiten, weite Hin­ wirken, langsame Abklingen unsrer Lebensinhalte, die Erfülltheit der kontinuierli­ chen Zeit mit bewussten und gefühlten Momenten – dies gibt dem eignen Leben im Rückblick ein Gleiten und Fliessen, durch das seinem Bilde das eigentliche Relief vor­ enthalten wird.« Georg Simmel, »Beiträge zur Philosophie der Geschichte« in: Auf­ sätze und Abhandlungen 1909–1918. Bd. I, Gesamtausgabe Bd. 12, hrsg. v. Klaus Latzel, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, S. 63. Wichtig für Simmel ist also, dass das Leben in seinen Koordinaten so komplex disponiert ist, dass es in der Rhythmik seines Zusammenhangs wie ein Relief komponiert ist. Die Parallelen zu Heideggers späterer Deutung des Reliefcharakters des Lebens sind unverkennbar. 248 GA 58, Anhang B, S. 258. 249 Ebd., S. 39. 247

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und Schlafphasen, im Beisammensein mit der Familie zu gleichen. Das Leben ist zumeist »alltäglich«. Doch welche Maßgabe spricht sich aus dieser Rhythmik, diesem Reliefcharakter des Lebens aus? Wie lassen sich die Ausschläge des Lebens einschätzen, ermessen? Und vor allem: gibt es etwas, was sie sprengt, aufwühlt, die Rhythmik des Lebens ins Äußerste treibt? Diese Fragen sind es, die Heidegger zum Projekt des Vortheoretischen als Bereich von Grenze und Maß in der Lebenswelt antreiben. Wenn das konkrete Leben als Maßstab hinsichtlich der unauf­ fälligen Rhythmik in seinen Maßnahmen und -gaben tatsächlich verstanden werden soll, muss der junge Heidegger nach einem pas­ senden Zugang suchen, der aus obigen Gründen kein theoretischer, d.h. auch kein wissenschaftlicher, mehr im herkömmlichen Sinne sein kann. Stattdessen muss die Rhythmik des Lebens aus sich selbst heraus verstanden werden. Dazu bedarf es für Heidegger einer Methode, die weder nur betrachtend noch sezierend analysiert. Es muss eine Zugangsweise sein, die die Aufweisung des Lebens aus und an ihm selbst performiert. Oder anders gesprochen: »Nicht die reinen Sachverhalte sind Maßstäbe und Leitfäden der Einheiten von Kenntnisnahmen und ihres Ausdrucks, sondern die faktisch erfah­ renen Bedeutsamkeitsgehalte in ihrem durch ihren Faktizitätssinn gestifteten historischen Zusammenhang.«250 Die Strukturanalyse war in ihrem Charakter noch Analyse, d.h. Auflösung. Da sich das Leben für Heidegger im Anschluss an diese Analyse als ein Relief aus mehreren ineinander verwobenen Schichten zeigte, ist es für ihn naheliegend, nun ein anderes Verfahren zu wählen, das diese Schichten Stück für Stück abträgt, sie vortheoretisch qua Phänomenologie aufweist und als solche für sich stehen lässt. Heidegger entdeckt diese Methoden recht früh: Sie heißen formale Anzeige und Destruktion, im Sinne eines aufweisenden Lokalisierens und Fortschichtens von Ebenen.

d) Formale Anzeige und Destruktion als Kriterien für die Aneignung von Maß und Grenze des faktischen Lebens Da sich eine projektive Ausarbeitung der formalen Konfiguration des Maßstabs zweiter Ordnung an Heideggers Texten aufweisen lässt, 250

GA 58, § 25., S. 112.

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die zunächst in einer Skizzierung eines performativen Maßstabs und der Lebensrhythmik kulminiert, kann nun auch von einer daran anknüpfenden Aneignung des Maßstabs gesprochen werden. Die Zugangsweisen der formalen Anzeige und der Destruktion werden von Heidegger statt der Strukturanalyse nun auf das Relief des Lebens appliziert, um diese Aneignung zu vollziehen. Doch was macht ihre Methodik aus und wie nähert er sich der Lebenswelt mit diesen beiden Herangehensweisen? In der Vorlesung Phänomenologie der Anschauung und des Aus­ drucks arbeitet Heidegger die beiden Zugangsweisen formale Anzeige und Destruktion heraus. Da das Leben immer nur aus dem Zusam­ menhang und primär aus seinem »Wie«, d.h. seiner Art und Weise als Verhalten zur Welt, in seiner Performance, verstehbar wird, ist es für Heidegger sehr entscheidend zu verdeutlichen, dass das Leben wesenhaft Vollzugscharakter hat. Wieder hebt Heidegger sich ganz explizit von einem abstrakten, fixen und damit einhergehenden quantitativen Maßstab ab. In einer Beilage zu dieser Stelle in seiner Vorlesung schreibt er: »Maßstab nie ein absoluter, relativ vor allem, wenn man bedenkt, daß wir damit [nicht nur] auf Ursprung überhaupt als Idee, sondern das Konkrete, Einmalige zustreben.«251 Damit kann Heidegger auch keine Methode brauchen, die zu einem feststehenden Maßstab im Sinne einer »Standpunktphilosophie« kommt.252 Der methodische Zugang, den Heidegger wählt, muss also die Dynamik, die Bewegtheit des Lebens selbst in den Blick bringen: Diese Methodik muss selbst ein Vollzug sein, also ein performatives Maß. Heidegger warnt vor dessen Verallgemeinerung, sieht aber gleichwohl im Begriff des »Vollzugs« sowohl jenes inhaltliche als auch methodische Maß der Aneignung: »Als Maßstab dient das konkrete selbstweltliche Dasein. Man kann aber kein Schema bilden, mit dem man an jedes Problem herangeht. Trotzdem müssen wir uns über das, was Vollzug bedeu­ tet, klar werden. Vollzug und Vollziehen ist ein Geschehen.«253 Es wäre nun leicht, dazu überzugehen, dass Geschehen einer genauen Beobachtung zu unterziehen. Doch davor warnt Heidegger und wirft zunächst die Frage auf, »[…] ob überhaupt eine Betrachtung des Erlebens möglich ist, die es nicht sofort und notwendig theoretisch 251 252 253

GA 59, Beilagen, S. 190. Ebd. Ebd., § 15, S. 146.

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verunstaltet.«254 Ergo darf ein philosophischer Ansatz auf keinen Fall selbst wieder erkenntnistheoretisch vorbelastet sein, der den Maßstab des konkreten selbstweltlichen Daseins elaboriert, so wie es etwa von den Neukantianern, dem kritischen Realismus oder in der Phänomenologie Husserls verfolgt wird. Dann würde die oben schon befürchtete Stilllegung des Lebens als »Entleben« bereits im Ansatz selbst greifen, was Heidegger konsequenterweise vermeiden will. Die Lebensphilosophie eines Bergsons, Simmels oder Speng­ lers hält Heidegger daher für unzureichend, da seiner Auffassung nach diese methodischen Ansätze mit theoretischen Voraussetzungen konfundieren, wie sie je gerade gebraucht würden, was der junge Heidegger vor allem bei Spengler als »Unangemessenheit des Begriff­ lichen« kritisiert.255 Heidegger hält die Vermengung von Irrationa­ lismus, funktionaler Logik, Symbolik und einen dialektisch-platoni­ schen Zug in Spenglers Ansatz für problematisch, da so jede Methodik überhaupt verwischt werde. Heidegger macht darauf aufmerksam, dass der passende Zugang selbst keine Art dieser beobachtenden Beschreibung sein kann, sondern nur als Aktivität der phänomenolo­ gischen Arbeit die Probleme sichtbar macht, um sie dann Schicht für Schicht abtragen zu können. Dies dürfe aber nicht beliebig geschehen, sondern benötige eben dezidierter performativer Methoden. Heideggers Zugänge oder »Methoden« formale Anzeige und Destruktion sind schon weitgehend erforscht, so dass ich mich im Wesentlichen auf eine knappe Charakterisierung der beiden Zugangs­ weisen anhand seiner frühen Freiburger Vorlesungen beschränken will.256 Zentral ist vielmehr, inwiefern sie die von Heidegger gefor­ derte Art und Weise, d.h. das »Wie«, die Performance des Vollzugs als Messen, ausmachen, um den Maßstab des konkreten Lebens phäno­ menologisch aufweisen zu können. Heidegger legt den Schwerpunkt auf das performative Moment der Phänomenologie als Aufweisen der Phänomene selbst, anstatt diese als Theorie der objektiven Phäno­ mene zu deuten. Er widersetzt sich damit dem orthodoxen Ansatz der Phänomenologie Husserls oder der Münchener Schule, wie sie etwa Pfänder vertreten hat. Ebd., S. 25. Vgl. ebd., S. 27. 256 Vgl. exemplarisch Georg Imdahl, Das Leben verstehen. Heideggers formal anzei­ gende Hermeneutik in den frühen Freiburger Vorlesungen (1919–1923), Würzburg: Königshausen & Neumann 1997. 254

255

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Inwiefern sind die formale Anzeige und die Destruktion messende Vollzugstendenzen? Zunächst geht es Heidegger mit diesen an der Phänomenologie angelehnten Strategien darum, »Bedeutungen in Zusammenhängen« in der »Direktion« ihres Sinnkomplexes bezugsund vollzugsmäßig aufzuweisen und aufzuhellen.257 Aufweisen als formal anzeigen heißt im Klartext, dass es hier erstens nicht um einen Beweis geht, sondern um eine schlichte Darlegung von Phänomenen, Wortbedeutungen, Blickmöglichkeiten und Begrifflichkeiten, wie sie sich in ihrem Konnex zueinander von sich selbst her zeigen. Zweitens kommt es dann zu einer »Auflockerung der Sinnbezüge«, was dazu führt, dass neue Motive und Gedanken aus einer bisherigen Verde­ ckung sichtbar werden.258 Heidegger meint damit Sinnbezüge, die durch das »Verblassen der Bedeutsamkeit« nicht mehr ursprünglich gedacht werden, wieder ursprünglich anzueignen.259 Dazu ist für Heidegger ein methodisches Abschichten von Zusammenhängen, Begriffen und Wortbedeutungen auf verschiedenen Ebenen notwen­ dig. Hier kommt nun die Destruktion ins Spiel. Vergleichbar mit der Arbeit in einem Steinbruch, aber auch mit der sorgfältigen Ausgrabungstätigkeit eines Archäologen werden mit Hilfe dieses Destruierens, d.h. dem fokussierten Abheben der Schichten unterhalb eines angezeigten Motivs, neue bzw. uralte vergessene Motive wieder sichtbar und neu angeeignet, um so auf Grunderfahrungen zu stoßen. Heidegger fasst dies selbst so zusammen: Die phänomenologische Destruktion – als Grundstück phänomenolo­ gischen Philosophierens – ist also nicht richtungslos; sie greift nicht zufällig Wortbedeutungen auf, um sie mit anderen aufgegriffenen zu erklären. Sie ist auch kein bloßes Zertrümmern, sondern ›gerichteter‹ Abbau. Sie führt in die Situation des Verfolgs der Vorzeichnungen, des Vollzugs des Vorgriffs und damit der Grunderfahrung.260

Die Destruktion ist somit auch eine Art Filterverfahren für grundle­ gende, ursprüngliche Phänomene. Anders als die Strukturanalyse ist sie nun aber kohärent als richtungsorientierte abbauende phänome­ nologische Methode differenziert auf Heideggers performatives Den­ ken zugeschnitten. Heidegger geht es letztlich darum, eine so geartete

257 258 259 260

Vgl. GA 59, S. 34. Ebd., S. 35. Ebd., § 5, S. 37. Ebd., § 5, S. 35.

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Destruktion auf das »Leben als Urphänomen« zu beziehen.261 Er zeigt dabei selbst formal, aber eben nicht theoretisch, die Ausrichtung des Verfahrens der Destruktion auf, um das Leben als Urphänomen in den Blick zu bekommen: »Wir nehmen aus jeder Problemgruppe ein Phänomen sowie die mitgegebenen um es ›kursierenden‹ Vieldeu­ tigkeiten […]: 1. Vorgabe der Vieldeutigkeiten, 2. Erste Hebung, 3. Verfolg der Vorzeichnungen, 4. Vorgriffsverstehen.«262 Die erste Hebung der Bedeutungsnuancen eines Begriffs ist eine Art etymologische Einordnung, der dann eine Explikation der gewonnenen Sinnzusammenhänge aus selbiger Einordnung als Vor­ griffsverstehen folgt. Ihre Verweisungen untereinander werden nun in ihren einzelnen Strängen zusammengefasst und gebündelt. Das eigentliche performative Messen der Destruktion vollzieht sich dann nach dieser Bündelung in der Entscheidung, der von Heidegger so genannten Diiudication, bezüglich der Ursprünglichkeit oder Nicht­ ursprünglichkeit des durch die Destruktion herausgefilterten und abgetragenen Phänomens in seiner Vollzugscharakteristik.263 »Diese Diiudication ist die Entscheidung über die genealogische Stelle, die dem Sinnzusammenhang vom Ursprung her gesehen zukommt. […] Formal wird man sagen müssen, daß diese Entscheidung immer eines Kriteriums (Maßstab) bedarf.«264 Wichtig ist nun, das rekur­ sive Moment in diesem performativ zu bemessenden Maßstab zu beachten, denn dieses Kriterium ist für den jungen Heidegger nicht die Dingwelt der Umwelt oder die Mitwelt als Gesellschaft, sondern das Selbst in seinem Konnex von Mit- und Umwelt. »In unserer konkreten Frage der Vollzugscharakteristik muß ein Kriterium beige­ stellt werden, an dem gemessen der Vollzug als ursprünglich bzw. nichtursprünglich charakterisiert werden kann.«265 Diese Vollzüge – hier denkt Heidegger noch ganz transzendental wie Rickert und Lask und letztlich auch wie Husserl – gehen immer vom eigenen Selbst aus. Aus diesem Grund »[…] ist das Kriterium in dem bestimmt motiviert, was konkret als Ursprungssphäre verstanden wird, nun weltlich [?] gesprochen: das selbstweltliche Dasein.«266 Die Performance ist zirkulär. Das Messende ist die Selbstwelt, die qua 261 262 263 264 265 266

Vgl. ebd., S. 39. Ebd., S. 41. Vgl. ebd., S. 43ff.; S. 74. Ebd., S. 74. Ebd., § 10a, S. 74; vgl. ebd., S. 146. Ebd., S. 75.

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Performance der formalen Anzeige und Destruktion im Durchgang sich selbst ermisst – und zwar hier in Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks im Durchgang durch die Anzeige und Elaboration der Rolle der Geschichte für die Selbstwelt als Erfahrungsspielraum. Dies ist eine Aneignung zweiter Ordnung. Anders als das theoreti­ sche Bemessen, dessen Anspruch teleologisch auf ein fertiges und definierbares Ergebnis oder Produkt aus ist, das vom Ausgangspunkt verschieden ist, d.h. das Objekt eines Subjekts ist oder die Funktion eines Arguments verklammert, geht es Heidegger um das Aufweisen eines performativen Maßstabs, dessen Fokus nicht wieder das Erfassen eines fixen Maßstabs zum Ziel hat. Vielmehr ist Heidegger um die rechte Konfiguration des Weges, die Art des Vollzugs bemüht, deren »Ergebnis« immer der Ausgang sein muss. Er will hier nicht ein Pro­ dukt gewinnen, sondern die rechte Zugangsweise des Verstehens und Elaborierens. Diese Bewegung versteht er als performative Destruk­ tion und als performativen Maßstab zugleich. Sobald diese appliziert werden, können weitere Anzeigen freigeräumt werden, die zirkulär qua Diiudication als Entscheidung über die Ursprünglichkeit auf den Ausgang zurückweisen. Konkret geht es Heidegger darum, den per­ formativen Maßstab als Selbstwelt aus dem Horizont des angezeigten Reliefcharakters des Lebens in seiner Struktur aufzuweisen. Wichtig ist für Heidegger daher auch, dass die mit der Destruktion gesuchte Ursprünglichkeit mit der Geschichtlichkeit der Lebenssituation ver­ flochten ist, also mit dem geschichtlichen Ort. Er appliziert die Destruktion sowohl auf das Spannungsverhält­ nis zwischen einem apriorischen und einem lebensweltlichen Zugang, wie es sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowohl zwischen den Neukantianern und der Lebensphilosophie abzeichnete, als auch in den Ansätzen zum Leben bei Natorp und Dilthey. Heidegger weist jeweils ihre theoretischen Zugangsweisen als unzureichend aus, insofern der Mensch in diesen Ansätzen in seiner konkreten, individuellen Geschichtlichkeit und Faktizität zu kurz komme. Es liegt außerhalb unserer Fragestellung, die Details dieser Debatte zu beleuchten und so können wir hier nicht näher auf dieses Spannungs­ verhältnis eingehen.267 Zentral ist für uns nur, was Heidegger für das Leben und den Vollzugssinn in diesem Zusammenhang projektiv und positiv herleitet und wie dies wiederum auch den Vollzug der Vgl. Charles Bambach, Heidegger, Dilthey, and the Crisis of Historicism, New York: Cornell University Press 1995, S. 203–244.

267

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formalen Anzeige und der Destruktion als performativen Maßstab und gewissermaßen als Maßstabsdetektor betrifft. Es ist nun zu prüfen, wie diese Überlegungen obige Ausführungen bestätigen und zugleich erweitern: Das Selbst im aktuellen Vollzug der Lebenserfahrung, das Selbst im Erfahren seiner selbst ist die Urwirklichkeit. Erfahrung ist nicht Kennt­ nisnehmen, sondern das lebendige Beteiligtsein, das Bekümmertsein, so daß das Selbst ständig von dieser Bekümmerung mitbestimmt ist. […] Alle Wirklichkeit erhält ihren ursprünglichen Sinn durch die Bekümmerung des Selbst. […] Die Bekümmerung des Selbst ist eine ständige Sorge um das Abgleiten aus dem Ursprung.268

Die Destruktion als Ansatz des Denkens, dem es um diesen Ursprung geht, ist also mehr als nur ein Verfahren. Es ist nach Heidegger eine Art von Bekümmerung, eine Sorge. So ergänzt er in den Beilagen zur Vorlesung Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks: „›Bekümmerung‹ ist kein leerlaufendes Um-sich-selbst-drehen, son­ dern es macht gerade den Sinn der Konkretion mit aus, daß in ihr Destruktion ist.«269 Im Klartext: Sorge und Bekümmerung umfassen die Destruktion; alle beide sind für Heidegger Weisen und Motivation der Maßstabssuche und Maßstabsfindung als Aktivität. Sie sind als Anmessen an den Sachverhalt ein Vollzugsgeschehen. Sie umgreifen so den Ursprung des Lebens und des Daseins aus dem Horizont der Selbstwelt heraus und im Rückgang auf ihn. Die Destruktion und deren vertiefende Durchdringung, die Bekümmerung und Sorge, kön­ nen somit als grundlegende Motivation eines performativen Maßes verstanden werden. Damit erreicht Heidegger eine weitere Appropria­ tion seines Zugangs in zweiter Ordnung. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es für die vorliegende Fragestellung entscheidend ist, dass Heideggers formale Anzeige und Destruktion durch Sorge und Bekümmerung auf ein Ausschärfen der Ausrichtung auf den Grenzbereich des Lebens und auf das Ursprungs­ phänomen eines performativen Maßstabs abzielen. Es wurde bereits gezeigt, dass die Alltäglichkeit des Lebens diesen Maßstab bedingen muss. Nun ist für Heidegger zudem auch eine Methode – gewisser­ maßen als Maßstabsdetektor und Messwerkzeug im Sinne der Sorge und Bekümmerung um den Ursprung qua Destruktion – gewonnen. 268 269

GA 59, § 19, S. 173. GA 59, Beilagen, S. 184.

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5. Die Zuspitzung der lebensweltlichen Maßstabsaneignung

5. Die Zuspitzung der lebensweltlichen Maßstabsaneignung Bevor dieser performative Sorgecharakter in diesem Unterkapitel genauer beleuchtet werden kann, ist zunächst zu sehen, welche her­ kömmlichen Ansätze Heidegger strikt von diesem Sorgecharakter differenzieren muss. Dafür hat er nun das Rüstzeug. Inhalt und Zugang zum Lebensvollzug sind für Heidegger im performativen Maß und im Modus der Destruktion nämlich nun klar im Blick. Genauso ist für ihn nun deutlich, welche Ansätze einer theoretischen Maßstabsorientierung – inhaltlich wie methodisch – zurückzuweisen sind. Dies soll zunächst gezeigt werden. Diese Zurückweisung lässt sich nun als Rejektion dritter Ordnung fassen, der nun ein weiteres Mal eine Projektion und Appropriation folgen. Dies wird vor allem zunächst an Heideggers Abweisung von Husserls Auffassung des Maßes als Adäquation und von Rickerts und Lasks Maßstab des Wer­ tes deutlich. Dadurch wird noch klarer, wie Heidegger anhand dieser Rejektion seinen eigenen Maßstabszugang projektiv und schließlich positiv aneignend im Sorgebezug des alltäglichen Lebens aufweisen wird. Heidegger will zeigen, dass die aufgewiesene Bekümmerung und die geschichtliche Fundierung des Daseins durch einen abstrakten Maßstab verdeckt und überformt wird. Erst mit dem Nachweis dieser Überformung als Rejektion dritter Ordnung, kann er dazu übergehen, nun eine noch weitere Vertiefung der Vorzeichnung bzw. Projektion der Konfiguration der Bekümmerung vorzunehmen, um auch diese danach in ihrer Tiefenstruktur anzueignen. Am Ende dieser Untersuchung werden wir sehen, wie sich durch diese Ordnungsstufen von Rejektion, Projektion und Aneignung bzw. Appropriation nicht nur die Transformation eines Maßstabs abzeich­ net, sondern auch wie dieser andere, von Heidegger herausgestellte Maßstab die Verwandlung der Seinsfrage ermöglicht und bedingt.

a) Rejektion des neukantianischen Wertedenkens und der Husserlschen Adäquation als Maßstäbe Nachdem Heidegger durch die Destruktion die Bekümmerung und die Sorge als Weisen der Anmessung des Selbst zu seiner Welt aufgewie­ sen hat, ist jetzt zu sehen, welches theoretisch fundierte Maßverständ­

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II. Suche nach einem Maßstab der Auslegung der Faktizität des Lebens

nis er bei Husserl und Rickert explizit zurückweist und warum er dies tut. Husserl hatte das Maß als Adäquation gefasst, Rickert, Lask und die Tradition der badischen Schule des Neukantianismus verstanden hingegen das Maß als Wert.270 Diese Wertelehre hatte Einfluss auf die Lebensphilosophie Simmels ausgeübt. Doch was ist nun eigentlich Heideggers Grund für eine rejektive Arbeit an den Bestimmungen des Maßes als »Wert« und »Adäquation«? Antwort: Sie sind für Heidegger zu abstrakt und damit zu lebensfern. Hinsichtlich der sich schon abzeichnenden Grundtendenz des selbstweltlichen Daseins als Bekümmerung und Sorge, bleibt daher Heideggers Überlegung in den frühen Freiburger Vorlesungen bestimmend, dass ein Denken in abstrakten und objektivierbaren Kategorien und Maßstäben, deren Basis den Wert- und Adäquationsbegriff mitbestimmen, letztlich um Sicherung besorgt sei.271 Später identifiziert Heidegger diese Sicherung als Sorge um erkannte Erkenntnis und als Hang zur Absi­ cherung, die in ihrem reduktiven Charakter das tiefere Spektrum der Grundtendenz der Sorge weitgehend ausklammere. Dies werden wir im nächsten Kapitel noch genauer betrachten.272 Von diesen Gedanken ausgehend ist Heideggers Motiv einer Rejektion des Wertund Adäquationsbegriff zu verstehen. α) Die vertiefende Rejektion der Zumessung als Wert und Werten bei

den Neukantianern

Wir erinnern uns, dass Heidegger in seinen Anfängen vom Laskschen Maßverständnis ausging, insofern sich an diesem schon eine vortheo­ retische Haltung zum Leben ankündigte. Heidegger stand diesem Maßverständnis aber letztlich in seiner theoretischen, abstrakten und funktionallogischen Deutung schon von Anfang an skeptisch gegenüber, was sich im Grunde schon am Logik-Aufsatz von 1913 abzeichnete.273 Kann ein Maß, das als Wert repräsentiert wird, wirk­ lich dem konkreten Lebenszusammenhang gerecht werden? Wird sich hier wahrhaft um die Grundstruktur des Lebens bekümmert oder geht es hier nur um eine abstrakte Absicherung des konkreten Lebens? Vgl. Kapitel I.1b, in dieser Arbeit. Vgl. Vgl. GA 61, S. 120ff. 272 Vgl. u. a. GA 17, § 6. Die Sorge um erkannte Erkenntnis, in der das Bewußtsein steht. 273 Vgl. Kapitel I.2a, dieser Arbeit. 270

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5. Die Zuspitzung der lebensweltlichen Maßstabsaneignung

Ist dieses Maßdenken nicht in seinen Auswüchsen noch zu sehr von Rickert und der badischen Lehre des Neukantianismus und verwand­ ten Ansätzen abhängig? In den Vorlesungen Zur Bestimmung der Philosophie. 2. Phänomenologie und transzendentale Wertphilosophie, aber auch am Ende der Vorlesung Grundprobleme der Phänomenologie von 1919/1920, die uns durch eine Nachschrift von Oskar Becker bekannt ist, zeichnet sich eine rejektive Kritik ab, die auch das Maßver­ ständnis als Wert und in der Performance des Wertens betrifft. Was aber ist für Heidegger so anstößig am Wertbegriff? Zunächst ist zu beachten, dass der Wertbegriff schon im Althoch­ deutschen (werd) und im Mittelhochdeutschen (wert) so etwas wie »Marktpreis«, »Kaufpreis«, aber auch »Ergebnis einer Messung« bedeutet.274 Der Wert ist damit etymologisch pekuniär und mit der abstrakten Feststellung einer homogenisierten Einheit als Maßquan­ tum konnotiert. Entscheidend ist also, dass der Wertbegriff nicht nur eine quantitative Komponente in sich birgt, sondern, wie wir sehr genau in Simmels Philosophie des Geldes lernen können, auch einen prekären kapitalen Aspekt impliziert, der aber noch oft im heutigen Rufen nach alten oder neuen Werten in Wissenschaft, Ethik und Politik unhinterfragt bleibt oder stillschweigend ignoriert wird.275 Heidegger hat diese Schwierigkeit, wie Simmel schon vor ihm, erkannt. Anders als Simmel, kritisiert oder charakterisiert er aber nicht eine kapitale Gesellschaft der Wertorientierung. Heidegger geht es vielmehr darum, wie sich überhaupt die abstrakte und homogeni­ sierte Maßstabsorientierung des Wertes durchsetzen konnte, womit er erneut an die Problematik seiner Habilitation anknüpft, dass das Maß zumeist stillschweigend als abstrakt, mithin quantitativ interpretiert werde, indem die Übertragungsleistung heterogener Bedeutungskon­ notate in ein homogenisiertes Medium in der theoretischen Einstel­ Vgl. Duden. Das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache, 4. Aufl., hrsg. v. Matthias Wermke et al., Mannheim: Dudenverlag 2006, S. 924. 275 Vgl. Georg Simmel, Philosophie des Geldes, in: Gesamtausgabe Bd. 6. Hrsg. v. Ottheim Rammstedt et al., Berlin: Suhrkamp 1989 (orig. 1900/1907), S. 122ff. Wie eng Simmel tatsächlich Wert und Geld zusammengedacht hat, zeigt vor allem die Studie von Daniel Fulda zum Geld in der Philosophie: »In der von Simmel formu­ lierten Sicht der ›Moderne‹ repräsentiert das Geld nicht einen ›wahren‹ Wert, der ihm voranginge, sondern verweist auf die Gesamtheit aller Werte, deren Wert sich aber erst aus ihrer geldvermittelten Relation bestimmt. Repräsentation im Sinne von Stell­ vertreterschaft für etwas anderes, das selbstständig oder gar ursprünglich wäre, wird hier nicht (mehr) erwartet.« Daniel Fulda, Schau-Spiele des Geldes, Tübingen: Nie­ meyer 2005, S. 29. 274

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lung unhinterfragt bleibe.276 Diese theoretische Einstellung, die den Wert als Maßstab sogar zur Grundlage gemacht hat, kritisiert er auch deshalb bei Lask und Rickert.277 In Phänomenologie und transzendentale Wertphilosophie vom Sommersemester 1919 beginnt Heidegger mit seiner rejektiven Kri­ tik.278 Zunächst bemerkt Heidegger, wie stark die Wertelehre über Dilthey, Rickert und Lask auch auf Simmel wirke.279 Doch kommt er zum Schluss, dass eine Wertorientierung im Laufe der Zeit nicht nur philosophische Strömungen, sondern sämtliche Lebensbereiche durchdrungen habe: Die historische Wirkung der Wertphilosophie hatte eine starke Beto­ nung des Wertgedankens zur Folge in allen Lebenssphären, eine der Theoretisierung analoge Ausbreitung des Axiologischen, z.T. auch eine Herrschaft beider in einer verschiedenartigen Durchdringung. […] Die Grundüberzeugung vom Primat des Wertes ist so allgemein, daß sie bei Aufnahme mannigfacher Beeinflussungen und Problemrichtungen durchhaltbar wird, so daß scheinbar jeder synkretistische Charakter der Wertphilosophie schwindet.280

Die Wertelehre als Theorie und als Axiologie ist demnach für Heidegger flächendeckend. Auch heute sehen wir noch diese Aus­ wirkung in der Debatte um die »Werte« Europas oder um die »Werte in den Wissenschaften«.281 Auch heute sind verschiedenste Strömun­ gen der Philosophie, allen voran die Varianten der analytischen Philosophie, dem Wertbegriff verpflichtet. Nietzsche und Simmel Vgl. Kapitel I.2c, in dieser Arbeit. Die Einschätzung der Wertlehre Rickerts durch Heidegger geht von folgendem Werk Rickerts aus: Heinrich Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis. Einführung in die Transzendentalphilosophie. 3. Aufl., Tübingen: Mohr 1915. 278 Es ist im Übrigen bezeichnend, dass Heidegger in einem Brief an Rickert vom 27. Januar 1920 zwar anmerkt, dass er eine Vorlesung zur Wertlehre gehalten hatte. Dass sie aber im Grunde ablehnend gegen Rickerts Ansatz ausfiel, berichtet er Rickert – wohl aus taktischen Gründen – nicht einmal im Ansatz. Vgl. Martin Heidegger u. Heinrich Rickert, Briefe 1912–1933 und andere Dokumente, hrsg. v. Alfred Denker, Frankfurt am Main: Klostermann 2002, S. 46ff. 279 GA 56/57, S. 124. Auf die Bedeutung der Vorlesung als Abhebung gegen Rickerts Wertphilosophie und den dort implizierten Einfluss Lasks auf Heidegger machte schon Kisiel aufmerksam. Vgl. Theodore Kisiel, The Genesis of Heidegger’s Being and Time, London: University of California Press 1993, S. 59–63. 280 GA 56/57, S. 124. 281 Gerhard Schurz u. Martin Carrier, Werte in den Wissenschaften. Neue Ansätze zum Werturteilsstreit, Berlin: Suhrkamp 2013. 276 277

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waren gegenüber dem Wertbegriff bereits kritisch eingestellt, aber Heidegger ist der Erste, der eine umfassende Revision und Rejektion versucht. Heidegger geht es dabei zunächst um eine »Kritik der trans­ zendentalen Wertphilosophie«.282 Ausgang ist für ihn die Deutung der Geschichte als Kultur und der mit ihren Leistungen einhergehende Begriff der »Errungenschaft« als »Wertvolles«.283 Die Philosophie, die sich mit diesen wertvollen Errungenschaften beschäftigt, erkennt Heidegger in der Kulturphilosophie, die auch heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, wieder sehr prominent geworden ist.284 Bevor Heidegger den Wertbegriff in der Kulturphilosophie, die insbesondere Rickert und Simmel unhinterfragt in ihrem Denken impliziert hatten, kritisiert, geht er vor allem auf die Rolle des Kulturbegriffs in der Aufklärung ein, die Kulturnationen von Naturvölkern und von einer vermeintlich barbarischen Peripherie abheben will.285 Diese offenbare Arroganz eines Eurozentrismus ist heute bereits ein Allgemeinplatz geworden, nachdem Jacques Derrida diesen philosophisch sehr prä­ sent gemacht hat.286 Heidegger sieht diese Arroganz vor allem im rationalen Denken der Neuzeit selbst verankert, die sich aufgrund von naturwissenschaftlichen Erfindungen für privilegiert gehalten habe.287 Er zeichnet dann von Herder, Schleiermacher, Hegel, Ranke über Trendelenburg und Erdmann bis zu Zeller und Kuno Fischer das Begreifen der Rolle des »Eigenwerts« jeder Nation und ihrer Personen GA 56/57, S. 127. Vgl. GA 56/57, S. 130; vgl. GA 59, § 3, S. 15. 284 Die erneute Beliebtheit der Kulturphilosophie im 21. Jahrhundert belegt die Lehre an diversen philosophischen Instituten, sowie zahlreiche Veröffentlichungen u.a. in eigenen Zeitschriften und Monographien zur Kulturphilosophie: Vgl. Dirk Westerkamp, Zeitschrift für Kulturphilosophie, Hamburg: Meiner. vgl. Ralf Koners­ mann (Hrsg.), Kulturphilosophie, Leipzig: Reclam 2004; vgl. Oswald Schwemmer, Kulturphilosophie. Eine medientheoretische Grundlegung, München: Fink 2005; Ralf Konsermann, Handbuch Kulturphilosophie, München: Metzler 2012. 285 Auf die Wertelehre Simmels, die dieser mit Bergsons Lebensphilosophie im Begriff des »Mehr-als-Leben« im Sinne des geistig Schöpferischen, des Kulturschaf­ fenden verklammere, geht Heidegger in Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks ein. Vgl. GA 59, S. 69ff. Er stellt heraus, dass das a priori im Wert aus einem zirkulären Schluss – und zwar einer, der zu einem unendlichen Regress führen muss – gewonnen ist. Damit stellt er sich gegen Simmels Position, dass »[…] die Bestim­ mung des Lebensbegriffs von diesem Gegensatz aus gewonnen [wird]. (Die Zuflucht zum ›offenen System‹ weist zu einem Notausgang, der das Eigentümliche hat, direkt ins gefährdete ›Gehäuse‹ zurückzuführen.)« GA 59, § 9, S. 73. 286 Vgl. Jacques Derrida, Das andere Kap, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992. 287 Vgl. GA 56/57, S. 132. 282

283

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als erste kritische Deutung dieser eurozentrischen Haltung und das Erstarken einer entsprechenden Geschichtsphilosophie nach.288 Heidegger verortet diese Geschichtsphilosophie dann freilich vor allem bei Rickert, Simmel und Dilthey, die explizit eine Geschichtsund Kulturphilosophie durch eine Wertelehre fundamentiert hat­ ten.289 Positiv charakterisiert Heidegger die Wertelehre in der Hin­ sicht, als dass sie eine Alternative zum angelsächsischen und fran­ zösischen Naturalismus geboten habe.290 Es kann aufgrund der Fokussierung unserer Fragestellung, inwiefern in dieser rejektiven Kritik Heideggers ein Denken des Maßstabs betroffen ist, aber nicht im Einzelnen auf alle Argumente Heideggers gegen die Wertelehre eingegangen werden. Zunächst stellt Heidegger an der nackten Wertphilosophie, d.h. an ihrem logischen Bau fest, dass die Wertelehre den Anspruch auf den Maßstab des Allgemeinen habe.291 Ein Wert als Maß ist, wie schon beim Maßverständnis des Rickert-Schüler Emil Lask in Kapitel I.1b dieser Arbeit gesehen wurde, durch die Korrelation von einem geltenden Prädikat, dem qua Urteil der Wert zugesprochen wird, kon­ stelliert. Dieser Wert soll für das Prädikat gelten, hat also Geltung. Bei Windelband sieht Heidegger dieses urteilende Denken in Wertmaß­ stäben zweckorientiert, d.h. teleologisch. »Das Beurteilungsprädikat liegt nicht im Subjekt, es wird diesem nur zugesprochen mit Rücksicht auf einen Maßstab: Zweck.«292 Qua Vorstellung korrelieren Prädikat und geltender Wert in einer Beurteilung. Heidegger hält dies so Ebd., S. 134ff. Georg Simmel sieht schon vor Heidegger die Korrelation von Kultur, von Theorie, Leben und Wert in der Philosophie und benennt auch den einen oder anderen Abgrund, versucht aber eine möglichst neutrale Deskription. Dennoch verbleibt er in einer Wertphilosophie, wenn er über das Leben innerhalb dieser Kategorien sagt: »[…] [E]rst die Urtatsache des Lebens gibt allem Sinn und Maß, positiven oder negativen Wert.« Vgl. Georg Simmel, »Der Konflikt in der modernen Kultur« in: Das individuelle Gesetz, hrsg. v. Michael Landmann, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987 (orig. 1918), S. 155. Rickert verteidigt um 1920 noch den wertorientierten Kulturbegriff gegen die Lebensphilosophie. Vgl. Heinrich Rickert, Die Philosophie des Lebens. Abstellung und Kritik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit, Tübingen: Mohr 1920, S. 156ff. Vgl. Wilhelm Dilthey, Logik und Wert. Späte Vorlesungen, Entwürfe und Frag­ mente zur Strukturpsychologie, Logik und Wertelehre (1904 -1911), hrsg. v. Gudrun Kühne-Bertram in: Gesammelte Schriften XXIV, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004, S. 33–48. 290 GA 56/57, S. 136. 291 Vgl. Ebd., S. 146. 292 Ebd., S. 152. 288

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fest: »Jede Beurteilung einer Vorstellungsverbindung als wahr trägt in sich die Voraussetzung eines absoluten Maßstabes, der für alle gelten soll.«293 Die Allgemeingültigkeit des Wertes liegt also in der Normierung. Die Korrelation ist funktionallogisch gedacht, nämlich als »Funktion des Beziehens«.294 Diese logische Wertelehre wurde dann auf erkenntnistheoretische Probleme, aber auch auf die Ästhetik und Ethik übertragen. Bei Rickert seien diese Werte schließlich zu Kulturobjekten deklariert und auf die Geschichte appliziert worden.295 Wenn Werte aber den Maßstab der Allgemeinheit haben, d.h. dass sie irgendwie zeit- und raumunabhängige gültige Werte sein sollen, gerät die Wertelehre in Schwierigkeiten, wenn sie nun in einer wandelbaren Kultur und Geschichte wissenschaftliche Anwendung finden sollen. […] [I]st die Anerkennung von Werten, mit Beziehung auf die sich historische Begriffsbildung vollzieht, eine bloß faktische, selbst histo­ risch wandelbare, beschränkt auf einen bestimmten Kulturkreis, so daß im Grunde die Objektivität der Geschichtswissenschaft selbst nur eine scheinbare [ist] […]? Müssen nicht vielmehr die Kulturwerte, sollen sie echte wissenschaftliche Objektivität verbürgen, gelten […]? Die Objektivität der Kulturwissenschaft ist also abhängig von der Einheit und Objektivität eines Systems gültiger Werte.296

Was ist aber die Gültigkeit eines Wertes für Rickert? Heidegger sagt über diese vermeintlich geltenden Werte ganz klar: »Diese sind nicht deshalb wahr, weil sie mit der Wirklichkeit übereinstimmen, weil sie aussagen, was wirklich ist, sondern wirklich ist das, was von Urteilen anerkannt werden soll. […] Dieser Maßstab genügt für das Erkennen vollkommen.«297 Heidegger sieht hier gerade das Problem in der zirkulären Argumentation Rickerts. Der Maßstab des Wertens als Sollen im Sinne der Anerkennung bedürfe kein Sein, sondern nur ein widerspruchfreies Sollen, das in sich als Sollen widerspruchsfrei das Sollen fordern kann, ohne gegen das Sein anzustoßen. Das funktio­ niert eben genau dann, wenn die Wahrheit nur noch ein abstrakter Wert ist. »Wenn Wahrheit ein Wert ist, dann kann ich allererst zu einer Transzendenz, zu Sollen, zu Anerkennung kommen, dann kann 293 294 295 296 297

Ebd., S. 153. Vgl. Kapitel I 1b in dieser Arbeit; vgl. GA 56/57, S. 159-161. Vgl. ebd., S. 173. Ebd., S. 174–175. Grammatische Angleichung von M.M. Ebd., S. 188–189.

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ich zeigen, daß Urteilsakte, wenn sie Erkenntnis enthalten sollen, Anerkennen oder Verwerfen bedeuten müssen. Dann ist erwiesen: Erkennen ist Werten und nicht Schauen.«298 Aber hier tauchen schwerwiegende Probleme auf: nämlich die Voraussetzung eines psychologisch, transzendenten Seins, von dem es sich qua Sollen abzuheben gelte, indem der Maßstab des Sollens für das Maß des Wertes gelte.299 Zudem führt Rickert in Der Gegenstand der Erkenntnis noch zwei Wege zur Begründung einer Wertelehre ein, den subjektiven und den objektiven, die das Problem aus Heideggers Sicht noch einmal verkomplizieren.300 Der Weg sei ein subjektiver – auch deshalb, weil Rickert als Alternative zu diesem eingeführten negierten Sein unhinterfragt einen Gehalt eingeführt habe, der dann als objektiver Weg fungiere, es aber nicht klar sei, woher Rickert diesen nehme.301 Sowohl der sogenannte subjektive, als auch der objektive Weg seien demnach »reine Fiktionen«, so die Konklusion Heideggers.302 Ebenso seien die Grundlagen des Satzes und des Sinnes ungeklärt, die eine Wertelehre notwendig fundieren müssen, wenn die Rede von einer individuellen Setzung eines Wertes in Relation zu einer normativen Gültigkeit kohärent sein soll.303 Rickert sieht den Urteilsgehalt nicht an jetzt. Er schaut nicht nach dem prätendierten Wertcharakter des Sinnes. Er geht um den Sinn herum! Und auf diesem Wege, auf dem ich den Sinn gar nicht ansehe, sucht er ein Kriterium, auf Grund dessen ich entscheiden kann, ob hier ein Seins- oder Wertbegriff vorliegt. […] Dieses Kriterium liegt in der Negation!304

Bei genauerer Begutachtung von Rickerts Text, fällt tatsächlich eine eigentümliche Gleichsetzung von Wert und Sinn auf, die nur an dem Kriterium »beide haben eine Negation« aufgehängt zu sein scheint. Dabei ist der Wertbegriff bipolar gedeutet. Rickert selbst notiert: »Nur an Sätzen haftet theoretischer Sinn, der entweder positiver Wert und Sinn oder negativer Wert und Sinn, also Unsinn, Widersinn ist.«305 Damit setzt Rickert scheinbar nicht nur Wert und Sinn gleich, sondern 298 299 300 301 302 303 304 305

Ebd., S. 193. Vgl. ebd., S. 194–195. Vgl. Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, S. 3. Ebd., S. 196. Ebd., S. 197. Ebd., S. 199. Ebd., S. 200. Vgl. Rickert, S. 264ff. Ebd., S. 271.

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auch Unwert und Unsinn und dies ist letztlich eine Reduktion auf die bipolaren Attribute »positiv« und »negativ«. Außerdem klärt er nicht die Genese des Sinns; dieser wird einfach auf einen leeren Wertbegriff abstrahiert, d.h. wie der Sinnbegriff Bedeutung stiftet, scheint Rickert – an dieser Stelle seines Werkes zumindest – tatsächlich nicht für erklärungsbedürftig zu halten. Insofern ist Heideggers rejektive Kritik durchaus nachvollziehbar und nicht als pure Polemik gegen Rickerts theoretische Denkungsart zu verstehen. Das Kriterium bzw. der Maßstab der Negation stiftet auch für Heidegger keinen Sinn qua Wertgegensätzlichkeit; auch dieser sei in letzter Instanz abstrakt und offenbare nur Sinn in regionaler Ebene, in der etwas konkret negiert werde, von dem etwas als Wert oder Unwert abgegrenzt werden könne. D.h. der Maßstab, das Kriterium Rickerts, sei ein leeres Kriterium und daraus resultiert für Heidegger, dass auch der Wertmaßstab leer und abstrakt sei, weil er so etwas wie Sinnstiftung aus sich oder durch eine spitzfindige Operation qua Negation nicht leisten könne, sondern Sinn und Bedeutung nur von außen und ohne Erklärung der spontanen Sinnstiftung selbst auf die Bewegtheit des Lebens aufpropfe. Anders gesprochen: »[…] Rickert [geht] […] nicht vom faktischen Erfahren aus.«306 Folglich kann Heidegger dann Rickerts Ansatz nicht nur als zirkulär, sondern auch als »leer« bezeichnen, was natürlich für Heidegger nur wieder bestätigt, dass eine Theorie, und sei es die Wertelehre seines Lehrers, keinen Maßstab für ein Leben als Zusammenhang von Sinn, Gehalt und Vollzug im situativen Korrelat von Mit-, Um- und Selbstwelt liefern könne, sondern lediglich vom Leben entfremde. Überhaupt ist für Heidegger ein solches a priori des Wertes »[…] rein platonisch gefaßt.«307 So kommt er in Phänomenologie des reli­ giösen Lebens zu folgender vehementer Ablehnung: »Bedeutsamkeit scheint dasselbe wie Wert zu sein, aber Wert ist schon das Produkt einer Theoretisierung und hat wie alle Theoretisierung aus der Phi­ losophie zu verschwinden.«308 Die Wendung Heideggers gegen den Wertbegriff, sei dieser gegen Rickert, aber auch gegen Simmel oder gar gegen den Wertbegriff von Weber oder Jaspers gerichtet, wird für den späteren Heidegger auch die Ablehnung der nietzscheanischen Umwertung aller Werte als umgedrehter Platonismus und die Cha­ 306 307 308

GA 58, S. 226. GA 60, § 8, S. 50. Ebd., § 4, S. 16.

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rakterisierung Nietzsches in Platons Lehre von der Wahrheit als den »zügellosesten Platoniker« bedingen.309 Denn später wird Heidegger in seinen Nietzsche-Untersuchungen herausheben, was aus seinen frühen Schriften uns nun im Grunde schon bekannt ist: Der Wert ist quantitativ gedacht. »Wert steht im inneren Bezug zu einem Soviel, zu Quantum und Zahl. Werte sind daher […] auf eine ›Zahl- und Maß-Skala‹ bezogen.«310 Dieser Verdacht gegen eine Wertelehre, ist schon sehr deutlich in den frühen Schriften spürbar. β) Die vertiefende Rejektion des Maßes der Adäquation in Edmund

Husserls Phänomenologie

Auch bei Husserl sieht Heidegger in einer theoretischen Deutung des Maßes ein Problem, was unter anderem einer der Gründe ist, warum Heidegger die Phänomenologie Husserls nicht nur für seine Zwecke modifiziert, sondern sie auch Zug um Zug abstößt – und zwar von der Sache her schon von Anfang an. Es wurde im Kapitel I.1b dieser Arbeit eingeführt, wie Husserl die Adäquation als intentionale Anmessung des transzendentalen Bewusstseins an die Sachen selbst versteht und sie als Verklamme­ rung der scholastischen Operatoren von res und intellectum modern umdeutet. Das zu erreichende Maß ist für Husserl dabei die Erfüllung als Deckung zwischen Vernehmen (Noesis, intellectum) und vernom­ mener Sache (Noema, res). Entscheidend ist dabei auch der Anspruch auf Reinheit und Objektivität. Da die letzte Erfüllung schlechterdings nichts von unerfüllten Intentio­ nen einschließen darf, muß sie auf Grund einer reinen Wahrnehmung erfolgen; eine objektiv vollständige Wahrnehmung, die sich aber in der Weise einer kontinuierlichen Synthesis unreiner Wahrnehmungen vollzieht, kann ihr nicht genügen.311

Doch wie sind erfüllende Synthesen als die Deckung von Noesis und Noema, zumindestens in gradueller Abstufung möglich? Dieses Problem löst Husserl durch einen setzenden Akt der Bestätigung GA 9, S. 227; vgl. ebd., S. 40–41. Vgl. Henri Mongis, Heidegger et la critique de la notion de valeur. La destruction de la fondation metaphysique, Denhaag: Martinus Nij­ hoff 1976, S. 130ff. 310 GA 5, S. 228. 311 Hua XIX/2, S. 649. 309

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oder Widerlegung bei fehlender Bewährung. Hier orientiert Husserl sich am Cartesischen certum – der Evidenz als Gewißheit.312 Für die Bestätigung als setzenden Akt behauptet Husserl nun: In ihm liefert das Ideal der Adäquation die Evidenz. Im laxeren Sinne sprechen wir von Evidenz, wo immer eine setzende Intention (zumal eine Behauptung) ihre Bestätigung durch eine korrespondierende und vollangepaßte Wahrnehmung, sei es auch eine passende Synthesis zusammenhängender Einzelwahrnehmungen, findet. Von Graden und Stufen der Evidenz zu sprechen, gibt dann einen guten Sinn.313

Dieses Kriterium ist im Grunde dem Rickertschen Kriterium von Wert und Unwert qua Negation nicht unähnlich. Entscheidend ist aber hier, dass es einen Stufungsprozess gibt, in dem verschiedene Formen der Evidenz, d.h. des Ersichtlichen, möglich sind. Diese Evidenz ist aber in ihrer höchsten Stufe, von der Husserl behauptet, dass sich ihr im Fortschritt angenähert werden könne, die »Deckungssynthesis«, deren »[…] objektives Korrelat […] Sein im Sinne der Wahrheit oder auch Wahrheit […]« heiße.314 Demnach ist die Wahrheit ein Korrelat der Deckungssynthesis qua Evidenz im intentionalen Vollzug und Bezug auf den intendierten Gegenstand.315 Damit ergibt sich der Rekurs auf das bereits von Husserl erinnerte Wort: veritas est adaequatio rei et intellectus. Dieses Verständnis von phänomenolo­ gischer Adäquation ist entscheidend, denn es setzt voraus, dass es genau dann zu adäquater, d.h. angleichender, anmessender Wahrheit kommt, wenn das als Gegenstand gefasste Korrelat sich mit der Inten­ tion des transzendentalen Bewusstseins deckt. Umgekehrt verhält es sich aber bei der Negation: Dann ist es nur ein Folgeschritt, die Heidegger verweist ebenso auf die Rolle Descartes‘ und auch er hebt hervor, dass das Maß als ordine, nämlich certa und evidens, in Husserls Phänomenologie integriert und erweitert wird. GA 17, § 36, § 44. 313 Hua XIX/2, § 38, VI. S. 651. 314 Ebd. Heidegger selbst nimmt das Motiv der adeaquatio auch später in den Grund­ fragen der Philosophie wieder auf und liest es wörtlich als »Angleichung« und kritisiert damit in einem Atemzug das Verständnis der Wahrheit als Richtigkeit. Vgl. GA 45, § 6 u. 7, S. 15ff. 315 Die Apodiktizität der evidenten Selbstgegebenheit des Gegenstandes bedarf einer Rekursion auf den Bewusstseinsvollzug. Durch eine solche reflexive Rekursion wird die Frage nach ihrer Urstruktur auffällig. Husserls Lösung ist es, sie in einem Ich-Pol festzumachen und damit an einer transzendentalen Subjektivität einzuführen, die eine »transzendental-phänomenologische Epoché« als Zugang zur Untersuchung dieser Struktur zur Folge hat. Vgl. Georg Römp, Husserls Phänomenologie, Wiesbaden: Marix 2005, S. 74ff. Genau dies geschieht in den Ideen I. Vgl. Hua I, 3, § 27ff. 312

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Wahrheit im Sinne von Deckung bzw. Adäquation als Richtigkeit und Nicht-Deckung bzw. Inädaquation als Falschheit zu deuten. Und genau darauf läuft es bei Husserl auch hinaus: Dementsprechend hätten wir die Wahrheit […] zu definieren als Idee der Adäquation, oder aber als Richtigkeit der objektivierenden Setzung und Bedeutung. Das Sein im Sinne der Wahrheit wäre dann […] zu bestimmen als Identität des in der Adäquation zugleich gemein­ ten und gegebenen Gegenstandes, oder aber (dem natürlichen Wort­ sinn entsprechender) als das adäquat Wahrnehmbare überhaupt in unbestimmter Beziehung auf irgendeine dadurch wahrzumachende (adäquat zu erfüllende) Intention.316

Hier blitzt bereits der Funken auf, an dem sich Heideggers Kritik an Husserl entzünden muss. Was ist, wenn Husserls Interpretation des Maßes als Adäquation bzw. Anmessung der Wahrheit als Richtigkeit und Falschheit bzw. als Deckung und Erfüllung sowie Nichtdeckung und Nichterfüllung zu plakativ für eine phänomenologische Deutung eines konkreten lebensweltlichen Maßes wird, wie es Heidegger im Auge hat? Taugen binäre Oppositionen wie Übereinstimmung und Nichtübereinstimmung als Ausschluss des Andersseins, selbst da, wo sie quantitativ und qualitativ letztlich doch Abstufungen zulas­ sen sollten, als Kandidaten für eine Bemessung einer komplexen, geschichtlich fundierten Lebenswelt, wie es Heidegger von Dilthey ausgehend für den Zusammenhang des Lebens fordert? Heideggers Kritik an Husserls Maßverständnis setzt dann auch an dessen, aus Heideggers Sicht für unzureichend erachteten, phä­ nomenologischen Explikationsmöglichkeiten für das geschichtliche und konkrete Dasein an, wie es im letzten Teil der Grundprobleme der Phänomenologie dargelegt ist. Zunächst weist Heidegger die Husserlsche Implikation zurück, dass die Phänomene immer mit zur Deckung zu bringenden Objekten zu tun hätten, die durch ein Subjekt als Maßstab für eine Methode oder Zugangsweise namens Phänomenologie bestimmt seien. »Aber das Leben ist kein Objekt und kann nie Objekt werden; es ist nichts Objektartiges. […] Aber auch die Zurückführung des Lebens auf ein Subjekt […] ist unmög­ lich. […] Das Leben als Korrelat ursprungsmäßigen Verstehens hat weder Objektcharakter noch Sachverhaltcharakter. Deshalb ist die

316

Ebd.

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methodische Grundhaltung der Phänomenologie eine ganz andere als die der Objektwissenschaft.«317 Auch wenn Heidegger hier Husserl noch nicht direkt anspricht, so meint er die traditionell motivierte Tendenz in Husserls Phä­ nomenologie, ein Objekt, ein »Abgezogenes« also, zur Synthesis qua Deckung für ein Subjekt, d.h. für ein »Unterworfenes«, unter den Titel »transzendentales Ego« zu bringen, statt konsequent auf das phänomenologische Schauen selbst zu achten. Diese Gefahr des Missverstehens der Phänomenologie in ihrem Maß und Cha­ rakter spricht Heidegger auch sehr deutlich aus: »Es besteht die Gefahr, die phänomenologische ›Anschauung‹ mit Objektanschau­ ung gleichzusetzen.«318 Denn das Problem ist dies: in der Lebenswelt könne niemals ein ideales Objekt zur Deckung mit der konkreten phänomenologischen Anschauung eines Gegenstandes gebracht wer­ den. Adäquation als solche sei dann selbst ein uneinlösbares Ideal. Heidegger kann folglich zu den isolierten Objektabschattungen, wie Husserl sie vornimmt und fordert, sowie bezüglich des Phänomens des Verwachsenseins des Lebenszusammenhangs sagen: »[Ein] Ver­ meiden isolierender Zerstücklung und Entäußerung des Gefaßten in einem Objektbegriff ist noch viel dringlicher im jetzigen Phänomen­ zusammenhang. Die Unmöglichkeit ein Abgehobenes isoliert zur adäquaten Erfassung zu bringen, ist nicht so sehr ein Mangel als – sofern sie echt verstanden ist – eine entscheidende reiche Möglichkeit phänomenologisch-methodischen Verfahrens.«319 In einer tiefgrei­ fenden phänomenologischen Untersuchung kann die Genuinität der Phänomene demnach »[…] sehr weit von einer Adäquation im Sinne des Nachbildens weg sein und trotzdem dem Phänomen in seiner Lebendigkeit am nächsten sein […].«320 Demnach ist es nicht Heideggers Sache, Richtigkeit und Falsch­ heit eines Phänomens als Ausformung eines Maßverständnisses der Adäquation auszuweisen. Diese beiden können für ihn kein Maßstab sein, weil sie nie zu der Ursprungsfrage des konkreten Lebens und dessen Sinn- und Bedeutungsgenese vorstoßen, sondern ähnlich wie in Rickerts Wertelehre nur eine bipolare Abstraktion für etwas Annehmbares und für etwas Abzustoßendes darstellen. Bezüglich des weitverzweigten konkreten Lebens selbst ist Heidegger diese Bipola­ 317 318 319 320

GA 58, S. 236–237. Ebd., S. 237. Ebd., S. 163–164. Ebd., S. 163; vgl. ebd., S. 263.

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rität sowohl zu abstrakt, als auch zu unterkomplex. Deshalb lehnt er eine Phänomenologie, insofern sie sich als Objektwissenschaft versteht und den Maßstab der Adäquation im Sinne der Limitation auf Richtigkeit und Falschheit bzw. auf eine ähnliche Bipolarität hinsichtlich eines Objekts ausdeutet, konsequenterweise ab. Doch was kann der Maßstab für eine Phänomenologie des konkreten Lebens dann sein? »Die Norm phänomenologischen Ver­ stehens ist nicht Wahrheit im Sinne von ›Richtigkeit‹ oder Falschheit, sondern Ursprünglichkeit. Objektivierung ist eine Abtrift, eine Abbie­ gung in einem bestimmten Stadium, auf einer bestimmten Stufe der phänomenologischen Forschung, daher unfruchtbar für die Phänome­ nologie.«321 Heidegger intendiert also folglich keine »richtigen« und »falschen« Maßstäbe, sondern sieht – auch in der Objektivierung, insofern sie eine Abstraktion qua Theoretisieren ist – eine Vermessung vorliegen, die gleichwohl korrigierbar sei: »Daher muss die Objekti­ vierung, die theoretische Ausformung gewisser Lebensgestaltungen, von der Phänomenologie rückgängig gemacht werden.«322 Ein weiteres Problem, das sich auch in der Phänomenologie ergebe, sei das Einteilen und Kategorisieren der phänomenologischen Begriffe und der Phänomene unter dem Maßstab der Ordnung selbst, denn »[…] durch diese Klassifikation [ist] schon die Ord­ nungstendenz leitend geworden.«323 In der bisherigen Phänomeno­ logie ordne man zwar durchaus Erlebnisse, subsummiere sie jedoch unter Beziehungen. »Aber man versäumt, zuerst den Begriff des Erlebens überhaupt zu gewinnen.«324 Analog zu der Kritik an der Wertelehre Rickerts, der Heidegger bezüglich des Maßstabs des sinnhaften Wertes den Anspruch der Sinngebung aufgrund eines Abs­ traktionsüberschusses grundsätzlich abgesprochen hat, unterstellt er Husserl in einem Atemzug die komplexen Bedeutungsbereiche seiner Forschung ebenso nur theoretisch zu betrachten. Die Erlebnisse würden zu Objekten abstrahiert und dabei werde vergessen, nach dem Phänomen des Erlebens als solchem zu fragen. Heideggers Hauptvorwurf ist auch hier, dass eine theoretische Einstellung unhin­ terfragt vorausgesetzt werde. »Man geht also, ohne sich über den Grundcharakter der zu betrachtenden Sphäre klar zu werden, von der 321 322 323 324

Ebd., S. 244. Ebd. Ebd., S. 245. Ebd.

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theoretischen Haltung aus. Die ›Erlebnisse‹ findet man am Wege, man greift sie in roher Weise auf.«325 Das Verständnis der Adäquation als Anmessung und Deckung zwischen Erlebniswahrnehmung und wahrgenommenen Objekt bzw. Gegenstand, oder Noesis und Noema, ist für Heidegger konsequenterweise nicht nur theoretisch vorurteils­ beladen, sondern gehe ebenso von ungeklärten Voraussetzungen aus. Was sind diese Voraussetzungen? Bei Husserl heißt eine dieser Voraussetzungen »originäre Evidenz«, die einem »originär gebenden Bewusstsein« entstammt. »Eine jede solche Evidenz […] ist entweder adäquate, prinzipiell nicht zu ›bekräftigende‹ oder zu ›entkräftende‹, also ohne Gradualität eines Gewichts; oder sie ist inadäquate und damit steigerungs- und minderungsfähige.«326 Diese dem Duktus der Quantifizierbarkeit intendierten Formen von Evidenz manifestieren sich auch hier als die Deckungsmöglichkeiten zwischen der Noesis des transzendentalen Egos und seinen Objekten oder »Gegenständen« als ihrem Noema.327 Wie deutlich geworden sein dürfte, sieht der junge Heidegger seinen Ansatz im Unterschied zu Husserl nicht darin, sich über die Erlebnisse als potentiell quantifizierbare (d.h. an »Gradualität« gemessene) Objekte einer theoretischen Phänomenologie zu nähern. Stattdessen fragt er nach der geschichtlichen Genesis des Phänomens »Erlebnis« für das Selbst und seine konkrete Welt. Heidegger möchte dabei erfahren, wo der Maßstab der gesuchten Ursprünglichkeit liegt und wo der Einfall in die Gewohnheit des theoretischen Objektivie­ rens selbst stattfindet, in der die Evidenz der Adäquation als Anmes­ sung unhinterfragt aus der Tradition des Denkens übernommen wird. Man muß in der Geistesgeschichte der Menschheit die Geschichte der menschlichen Seele und ihre Erkenntnis aufsuchen. Wir stoßen immer wieder in der Geschichte auf bedeutende Versuche, die Selbstwelt zu erfassen. Immer wieder folgt ihnen ein Abgleiten in die Richtung der Objektivierung. Die Geschichte der Philosophie ist umzugestalten, sie ist nicht bloß aufzufassen als Sinngenese der (objektivierenden) Wissenschaft, sondern man muß auch phänomenologisch-kritisch nachforschen, wo es gelingt, Ursprüngliches auszudrücken und wo

Ebd., S. 245. Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Forschung. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, Bd. I.1, Halle: Niemeyer 1913, § 138, S. 288. 327 Vgl. ebd. 325

326

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von da aus wieder Abbiegungen ins Objektivierende stattfinden. Eine derartige Geistesgeschichte ist das wahre Organon des Verstehens des menschlichen Lebens.328

Heidegger wird ein solches von ihm gefordertes Rückfragen in die Geschichte hinsichtlich der Husserlschen Kategorien unternehmen. Dies werden wir noch sehen. Doch prüfen wir genau: Ist der Vorwurf Heideggers berechtigt, dass Husserl nie nach einem ursprünglichen Phänomen gefragt hat? Tatsächlich gibt es einen Ursprungscharakter in Husserls Phä­ nomenologie, der im Rahmen des Husserlschen Denkens durchaus konsequent ist: es ist die aus der originären Evidenz und Deckung aufweisbare, wesenhaft abstrakt verstandene Urdoxa (Glaubensge­ wissheit).329 Die originäre Evidenz als apodiktische wird dabei der unreinen Evidenz differenzierend beigeordnet. Erneut werden diese Formen der Evidenz wieder mit den Maßstäben von Adäquation und Indadäquation assoziiert. Entscheidend ist, dass die originäre Gegebenheit und auch graduelle Abstufungen auf die Urdoxa zurück­ geführt werden.330 Die Adäquation als Angemessenheit der Deckung zwischen dem intentionalen Akt (Noesis) und seinem Gegenstand (Noema) ist für Husserl weiterhin einer der Grundbewegungen des intentionalen Bewusstseins, so dass Husserl konsequenterweise von »originärer Evidenz« sprechen kann, die aber im Bewusstseinsvollzug immer mit nicht-originärer, mittelbarer Evidenz einhergeht.331 Die originäre Gegebenheit als Adäquation im Sinne von Evidenz ist qua Urdoxa das reine phänomenologische Schauen des Gegenstandes. Schon in der Idee der Phänomenologie hieß es zu diesem reinen Schauen: »Es ist gegeben als ein Seiendes, als ein Dies-da, dessen Sein zu bezweifeln gar keinen Sinn gibt. […] [D]iese Wahrnehmung ist und bleibt solange sie dauert ein Absolutes, ein Dies-da, etwas, das in sich ist, was es ist, etwas, an dem ich messen kann als an einem letzten Maß, was Sein und Gegebensein besagen kann und hier besagen muß […].«332 Das ist die Intentionalität, das Sich-Richten-auf-etwas, in seiner Höchstform, die allerdings in der Setzung der Evidenz bezüglich 328 329 330 331 332

GA 58, S. 246. Edmund Husserl, Ideen I, 1, § 139, S. 290. Ebd., S. 323. Ebd., § 141; vgl. § 145. Hua II, 2, S. 31; vgl. S. 74.

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5. Die Zuspitzung der lebensweltlichen Maßstabsaneignung

eines Seienden als eines Gegenstandes hinsichtlich eines Reinheits­ anspruches problematisch wird, wenn etwa Geschichte, Erinnerung und Zeitlichkeit ins Spiel kommen. Darauf hatte Husserl in der Idee der Phänomenologie selbst aber schon hingewiesen.333 Heidegger spricht dann diese Gefahr, sich qua Evidenz einem angeblich reinen, unverfälschten Maß, einer adäquaten Deckungssynthesis zu nähern, um 1920 klar aus: »Gefährlich ist auch die Tendenz auf allgemeine Mitteilbarkeit und völlige Klarheit, d.h. auf die sogenannte ›phäno­ menologische Evidenz‹.«334 Evidenz kann nach Heidegger nie vollständig als konkretes Phä­ nomen sichtbar werden – das war aber auch Husserl selbst schon klar –, sondern benötigt die Einführung eines möglichen Idealzustands. Dies geschieht bei Husserl durch die Einführung eines reinen Wesens, eines zeitlosen reinen Eidos, wie er es nennt. Husserl führt dazu bekanntlich die eidetische Reduktion ein, um dieses reine Eidos zu erreichen, nämlich »in Form einer Idee«.335 Dies ist freilich wieder eine Abstraktionsleistung des reinen Bewusstseins, das das eigentlich stets inadäquate Gegebene kategorial fasst und in eine Idee überträgt. Die Schwierigkeit liegt nun darin, dass sich das Leben für Heidegger als bewegt und geschichtlich erwiesen hatte. Folglich fällt dann aber der Maßstabsrahmen einer ursprünglichen Evidenz als reines, d.h. abstraktes Eidos qua Urdoxa aus dieser konkreten Zeitlichkeit und Geschichte des Lebens heraus. Der Maßstab der Evidenz ist und bleibt für Heidegger daher ein Abstraktum. So denkt Heidegger nur konsequent, wenn er ein anderes Kriterium bzw. einen anderen Maßstab proklamiert: »Das wirkliche Leben und die Geschichte ist der Leitfaden oder besser die Leiterfahrung für die phänomenologi­ sche Forschung.«336 Die Rejektion der husserlschen Phänomenologie hinsichtlich eines Maßstabs graduell bestimmter inadäquater Gegebenheit und abstrakt bestimmter Adäquation von Gegenständen qua eideti­ scher Reduktion, sowie die Rejektion der Wertelehre Rickerts, die Heidegger ebenso als abstrakt und prinzipiell quantitativ orientiert sieht, führen Heidegger dazu, zu überlegen, warum diese Quantifi­ zierungs- und Abstraktionstendenz in der Philosophie Einzug gehal­ ten hat. Wir erinnern uns: Quantifizieren und Abstrahieren ist für 333 334 335 336

Ebd., 5, S. 67. GA 58, S. 238. Vgl. Husserl, Ideen I, 1, § 143, S. 298. GA 58, S. 252.

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II. Suche nach einem Maßstab der Auslegung der Faktizität des Lebens

Heidegger seit seiner Habilitation die Übertragung einer heterogenen Mannigfaltigkeit in ein homogenes Medium. Was ist aber der Grund für ein Einhegen von heterogenen Zusammenhängen in eine Homogenität, die gleichwohl von Rickert als auch von Husserl durch Abstraktion weiterbetrieben wird? Wenn etwas qua Abstraktion von einem heterogenen Verhältnis in einen homogenen Zustand überführt und eingehegt wird, dann ist es unter Kontrolle, dann ist es sicher. Dann steckt hinter dem Versuch der Abs­ traktion durch Homogenisierung also folglich die bereits genannte Bekümmerung um Sicherheit. Zunächst beschreibt Heidegger den Vorgang dieser Sicherungstendenz in den Grundproblemen der Phä­ nomenologie vom Wintersemester 1919/1920 als Prozess der Verfes­ tigung, Entlebung, mit der letztlich die Verdinglichung komplexer Erfahrungszusammenhänge einhergeht.337 Folglich fordert er im Umfeld dieser Vorlesung eine Untersuchung der »Sinngenesis der Objektivierungstendenzen«.338 Im folgenden Sommersemester 1920 geht Heidegger dann ansatzweise dieser Forderung nach: Er zeigt, dass die Motivation darin liege, […] daß sich Erkenntnisse und Festsetzungen nicht durchhalten, daß sie strittig werden, daß sich Erkenntnis im reflektiven Weiterdenken als abhängig vom Subjekt zeigen. In der erkennenden Bestimmung, der Gegenstandsbestimmung, liegt mit die Tendenz auf gültige und feste Bestimmung. Es ist so motiviert die Aufgabe der Sicherung der Erkenntnis, sofern sie abhängt vom Subjekt; Sicherung impliziert Bestimmung der Subjektivität. […] In der Tendenz des Erkennens und im Sinn liegt eine Aufgabe, und zwar – als eine des gültigen Gegen­ standsbestimmens – eine solche, die nicht auf ein bestimmtes Subjekt zugeschnitten ist, sondern offene, nichts bestimmende Möglichkeit für eine Mehrheit von Subjekten.339

Dies ist also die Motivation, die Bekümmerung des wissenschaftli­ chen Denkens, die »[…] zur Durchdringung des Lebens mit der Objektivität und Sicherheit wissenschaftlicher Vernunfterkenntnis […]« führt.340 Damit ist für Heidegger zunächst das Motiv einer abstrakten und quantitativen Maßstabsorientierung mit dem Grund­ motiv einer Ausgestaltung von homogenisierenden Maßnahmen 337 338 339 340

Vgl. ebd., § 26, S. 120ff. Ebd., S. 155. GA 59, § 15, S. 139. Ebd., S. 140.

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gegenüber heterogenen lebensweltlich faktischen Maßgaben erläu­ tert. Aber das Motiv und die Motivation dieses abstrakten Maßstabs­ denkens zur Absicherung haben ihre Wurzeln in der Lebenswelt: »Faktisch ist je die faktische Erfahrung der Unsicherheit der Erkennt­ nis in der faktischen Lebenswelt (Um- und Mitwelt) gemacht.«341 Sprich: Die Bekümmerung um Sicherheit stammt selbst aus dem faktischen und konkreten Leben. Die Bekümmerungstendenz des menschlichen Daseins wurde von Heidegger schon angezeigt. Nun ist mit ihr eine ganz bestimmte Bekümmerung oder Sorge um Absicherung für Heidegger sichtbar geworden. Diese Sicherungstendenz führt nach Heidegger zu einer Sorge und Suche nach erkannter Erkenntnis, der es dann um Evidenz und Gewissheit zwecks Kontrolle der Sicherheit gehen muss. Diese Sorge um Sicherung ist dabei aus Heideggers Sicht allerdings sehr extrem geworden. In diesem extremen Modus führt sie dann Instan­ zen ein, die so faktisch nie erfahrbar sind, wie etwa reine Evidenz und reine Gewissheit. Heidegger spricht dann auch von der »[…] Vorherrschaft der Sorge um die Idee einer leeren und dabei phantastischen Gewißheit und Evidenz […]«.342 Diese sei aber nicht ursprünglich um Wissen­ schaft bemüht gewesen, sondern die Wissenschaft sei nur eine Fol­ geerscheinung einer »[…] verrückt gewordenen Intelligenz, die sich ein Dasein erfindet.«343 Heidegger muss sich fragen: Wenn dem so wäre, kann dann wirklich die grundlegende und einzige Sorgetendenz des menschlichen Selbst in seinem Dasein darin liegen, abstrakte und quantitative Maßstäbe für die Sicherungstendenz zu setzen? Was heißt Sorge und Bekümmerung für das Dasein, wenn vielleicht die Sorge um erkannte Erkenntnis eine partikuläre Kopfgeburt einer extrem gewordenen Absicherungstendenz ist? Was ist dann die grundlegende Maßgabe der Sorge? Fragen dieser Art hat Heidegger sich schon früh gestellt. Aus ihnen erwächst eine Projektion dritter Ordnung, die die Frage nach der Faktizität noch einmal vertieft und auf ihren eigentlichen Maßstab aus dem Horizont der Bekümmerung und Sorge hin befragt.

341 342 343

Ebd., § 15, S. 139. GA 17, § 3, S. 44. Ebd., S. 43.

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b) Projektion des performativen Messens als Bekümmerung und Sorge Heidegger entwickelt folgende Frage: Wie ist durch die Sorge ein ursprünglicheres performatives Messen möglich, als das abstrahie­ rende und quantifizierende Messen aus dem Horizont der Absiche­ rungstendenz, die nach Heidegger zur Genese der theoretischen Wissenschaften führte? Die Sorge muss vielmehr selbst als faktische Grunderfahrung und als fundamentaler performativer Maßstab sicht­ bar werden. Die frühchristliche Erfahrung bietet Heidegger hier einen möglichen Horizont. Auf diesem gedanklichen Plateau wird die Sorge als existentielle Bekümmernis in der Erwartung der Parusie Christi erfahrbar, was in der Vorlesung Phänomenologie des religiösen Lebens von ihm herausgearbeitet wird. α) Bekümmernis als lebensweltliche Erfahrung im Frühchristentum

Aus der Ablehnung der Maßgabe von Wert und Adäquation, deren theoretisches Motiv in der extremen Absicherungstendenz sichtbar geworden ist, die sich beispielsweise auch noch bei Husserl als strenge Wissenschaft konstituiert, leitet Heidegger her, dass Philosophie keine Wissenschaft sein kann. »Wir vertreten die These: Wissen­ schaft ist prinzipiell verschieden von Philosophie.«344 Gemeint ist damit, dass eine vermeintliche Wissenschaftlichkeit der Philosophie auf den oben genannten, zumeist unhinterfragt übernommenen Vor­ aussetzungen ihrer abstrakten Maßstäbe beruhe.345 Stattdessen, so Heidegger, müsse es der Philosophie konsequenterweise um die Durchdringung von Bedeutsamkeit aus der Lebenserfahrung gehen: »Ausgang sowohl Ziel der Philosophie ist die faktische Lebenserfah­ rung.«346 Jedoch sieht Heidegger aus gegebenem Anlass die Not, sich um die Bekümmernis innerhalb dieser Lebenserfahrung nun genauer Gedanken zu machen. GA 60, § 3, S. 9. Hier zeichnet sich bereits die Tendenz ab, die Schwendtner bei dem jungen Heidegger der Kasseler Vorträge von 1925 erkennt, nämlich dass Philosophie als Phä­ nomenologie und als fundamentale Ontologie wieder dafür Sorge tragen könne, Leit­ faden und Anleitung für die Wissenschaft zu werden, ohne selbst eine zu sein. Vgl. Tibor Schwendtner, Heideggers Wissenschaftsauffassung. Im Spiegel der Schriften 1919– 29, Frankfurt: Lang 2005, S. 114. 346 GA 60, § 4, S. 15. 344

345

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Das Leben kann sich in dieser Erfahrung an den Bedeutsamkeiten verlieren, insofern es als selbstgenügsame Bekümmerung nur um das Erleben gehe. Lebenserfahrung ist für Heidegger damit sowohl Aus­ gang als auch Behinderung des Philosophierens.347 Indem das Leben sich einseitig auf den Gehaltsinn statt auf den Bezugssinn fokussiere, d.h. dass mehr auf die Erfahrung der Bedeutsamkeiten geachtet wird, als auf die Art und Weise, die das »Wie« der Erfahrung in den Vor­ dergrund rückt, zeichne sich ein Hang zur Objektivierung innerhalb der Lebenserfahrung ab. Heidegger bezeichnet diesen »Hang« auch als »abfallende Tendenz«, weil vom konkreten Bezugssinn zu sehr abgelassen werde. »In der abfallenden Tendenz der Lebenserfahrung formt sich immer mehr ein Objektzusammenhang heraus, der sich immer mehr stabilisiert.«348 Er erläutert: »Die abfallende Tendenz der faktischen Lebenserfahrung, ständig in die Bedeutungszusammen­ hänge der faktisch erfahrenen Welt hinein zu tendieren, ihre Schwere gleichsam, bedingt eine Tendenz auf einstellungshafte Objektbestim­ mung und Objektregulierung des faktisch erlebten Lebens.«349 Die Anmessung durch das Objektivieren und die damit einherge­ henden Zugänge zum Objekt als angleichende Anmessung (Adäqua­ tion) und Wertnahme, wie Heidegger sie bei Husserl sowie den Neukantianern und deren Wirkung auf die Philosophie aufgedeckt hatte, werden hier ein weiteres Mal diagnostiziert. Die abfallende Tendenz, d.h. diese Art der Messung, findet Heidegger auch in den zeitgenössischen Zugängen zur Geschichte wieder. Bei Spengler, Rickert und Simmel sieht er als geschichtsphilosophisches Motiv eine starke Tendenz zur Sicherung, die eigentlich selbst aus einer Beküm­ merung um das faktische Leben erwachse, die sich aber im Hang zu den Maßnahmen der Objektivierung, Wertung, Angleichung, d.h. Adäquation, als Typisierung und Quantifizierung manifestiere. Mit diesen Abstraktionsleistungen würden diese Überlegungen aber dem Lebenszusammenhang eigentlich nicht mehr gerecht. Heidegger bringt es dann folgendermaßen auf den Punkt: »Das, was beunru­ higt ist, die Lebenswirklichkeit, das menschliche Dasein in seiner Bekümmerung um seine eigene Sicherung, wird nicht in sich selbst genommen, sondern als Objekt betrachtet und als Objekt in die his­

347 348 349

Vgl. ebd., S. 16. Ebd., § 4, S. 17. Ebd., S. 17–18.

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torische objektive Wirklichkeit hineingestellt.«350 Gegen Spenglers Ansatz zur Geschichte in Der Untergang des Abendlandes erhebt Heidegger daher Einspruch; insbesondere zu Spenglers Objektivie­ rungs- und Typisierungsversuchen hinsichtlich der geschichtlichen Epochen und Ereignisse: […] er hat die Weltgeschichte mathematisiert, die Typen stehen wie Häuser nebeneinander. […] Das bekümmerte Leben wird in einen geschichtlichen Zusammenhang gestellt, die eigentliche Tendenz der Bekümmerung wird nicht beachtet. […] Die Bekümmerung wird selbst einstellungsmäßig umgedeutet. Das kommt von der Tendenz des faktischen Lebens, einstellungsmäßig abzufallen. So wird die Beküm­ merung selbst im Einstellungsvorgriff zum Objekt.351

Im Gegenzug dazu findet man bei Spengler tatsächlich auch eine sehr kurze Teiluntersuchung zu einem konkreten Bekümmernis- und Sorgeverständnis: Das »Urgefühl der Sorge« ordnet Spengler in das Erleben von Zeit als Zeitgefühl ein und erkennt dies dann ästhe­ tisch an Kunstwerken und Staatsformen wieder.352 Sein Vergleich zwischen indischen und europäischen »Typen« bestätigt dann aber im wesentlichen Heideggers Kritik an Spenglers Abstraktions- und Quantifizierungstendenz. Dies sieht Heidegger schließlich auch am Bekümmernis- und Sorgeverständnis Spenglers: Die Sorge, bzw. das Bekümmern, wird selbst nur unter quantitativen und objektivie­ renden Maßstäben interpretiert. Wie gesehen, rührt dies aus einer bestimmten Tendenz der Interpretation der Lebenserfahrung her, die auf die Gehalte anstatt auf den Bezugssinn fokussiert bleibe. Wie aber die Bekümmernis anders in die Sicht rücken, wenn sich die Alltäglichkeit nur um die Gehalte kümmert, und die Art und Weise der Kümmernis nicht sichtbar macht? Heidegger versucht nun bezüglich der Kümmernis als Deutung der Faktizität, die schon in Kierkegaards Philosophischen Bissen angelegt ist, über das Urchris­ tentum, nämlich bei Paulus, die Art und Weise des Bezugssinns der Bekümmernis in den Blick zu bringen. Von diesen Perspektiven ausgehend, will er ein Gebiet ausmachen, an dem eine neue Deutung

Ebd., S. 51. Ebd. 352 Vgl. Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, 6. Aufl., München: DTV 1980 (orig. 1918), S. 177. 350

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des Maßstabes und des Messens an der Bekümmernis bzw. Sorge selbst möglich wird.353 Heidegger arbeitet dabei heraus, dass die Bekümmerung Thema der urchristlichen Lebenserfahrung wird. Dabei erfährt sich der früh­ christliche Mensch, hier aus der Perspektive des Apostels Paulus, in einer Bedrängnis aufgrund der Not, die der erwarteten Parusie, d.h. der erneuten Anwesenheit Christi, vorausgeht.354 Die Bekümmerung evozierende Bedrängnis wird von dem Widersacher Gottes noch erhöht, denn laut Paulus geht der Neuankunft Christi der Antichrist voraus. Hier werden, ähnlich wie später bei Kierkegaard in den Philosophischen Bissen, das Moment der Zeit und der Augenblick entscheidend.355 Bei Kierkegaard ist der Augenblick ein Ärgernis, da er ein Paradox ist, weil er nicht gewesen ist und weil er auch nicht kommt. Er ist ein Zwischenbereich, der ein »Weder-noch« ist: »Statuiert man den Augenblick, so ist das Paradox da […].«356 Im Augenblick eröffnet sich die Maßstabsfrage insofern, als dass der Mensch hier in der Not der höchsten Wachsamkeit steht, die ihn bis ins Äußerste drängt. Die Bekümmerung wird so zur Bedrängnis, die ihn zwischen Gemäßheit bzw. Mäßigung oder Unangemessenheit und Maßlosigkeit einlässt. So kann Heidegger sagen: »Satan hindert ständig Paulus‘ Werk, indem er dessen Bedrängnis erhöht, diese absolute apostolische Bekümmerung um seine Berufung in dieser

353 Vgl. Sören Kierkegaard, Philosophische Bissen, Hamburg: Meiner 1989 (orig. 1844); vgl. Ders., Die Krankheit zum Tode, hrsg. u. übers. v. Liselotte Richter, Werke, Bd. IV, München: Rowohlt 1969 (orig. 1849), S. 26. Hier fällt auch beispielhaft der Begriff der Kümmernis als Sorgetendenz. Vgl. Claus-Artur Scheier, Kierkegaards Ärgernis: Die Logik der Faktizität in den ›Philosophischen Bissen‹, Freiburg: Alber 1983. 354 An Paulus‘ Erwartung der Parusie erinnert der späte Heidegger, wenn er die Not der Seinsfrage auf die Erwartung des Seins in der Gelassenheit als Andenken an die Metaphysik extrapoliert: »Sein heißt Anwesen«. Es ist kein Zufall, dass in diesem Anwesen auch der Vorbeigang des letzten Gottes im Modus des Wartens und der Gelassenheit von Heidegger antizipiert wird. Der paulinische Gedanke an die Parusie Christi wird hier freilich mitgedacht und in onto-theologischer Weise transformiert, indem das Denken die Rückkehr des letzten Gottes mit vorbereitet, was Heidegger das Ereignis des Augenblicks nennen wird. Denn: »Das beginnliche Denken ist nicht gott-los, wohl aber götterscheu aus der Notwendigkeit des ersten befreienden Berei­ tens.« Vgl. GA 73.1, S. 867. 355 Heidegger macht dem Leser bekanntlich in der Vorlesung Ontologie. Hermeneutik der Faktizität auch darauf aufmerksam: »Stöße gab Kierkegaard.« GA 63, S. 5; vgl. ebd. S. 30. 356 Kierkegaard, Philosophische Bissen, Kap III, S. 50.

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Endzeit.«357 Paulus, oder seine narrative Instanz, kann es kaum ertragen; im nächsten Moment steht er in der Bewegtheit seines Lebens, das die Mission der Verkündung der Parusie und die Mah­ nung an die Gemeinden ist. Die Entscheidung zu Gott während des Wartens auf die Parusie steht ihm bevor. An dieser Entschei­ dung ist der notwendige Weckruf der Gemeinde geknüpft. Dabei gibt es für die Beteiligten zwei Weisen, sich zu vermessen: erstens kann die Gemeinde von Thessaloniki unbekümmert sein, zu wenig Sorge tragen. Das ist höchst problematisch, denn es gilt: »Beim Hereinbrechen des Antichrist hat sich jeder zu entscheiden, auch der Unbekümmerte entscheidet sich dadurch, daß er so ist. Schon wer unentschieden bleibt, hat sich aus dem Vollzugszusammenhang der Not der Erwartung herausgestellt und den ἀύni [, d.h. den Verdorbenen, den Verworfenen,] zugesellt.«358 Dabei können die Verworfenen sehr wohl äußerst geschäftig sein, »[…] aber sie täuschen sich und verfallen dem Antichrist.«359 Die Vermessenheit liegt also in der Unentschiedenheit oder Täu­ schung, d.h. unwahrhaftigen Entscheidung der Verworfenen. Aber nicht nur hier kann die Bekümmerung ein Vermessen sein. Im Hinblick auf zu viel Kümmernis, d.h. in der Übertreibung der Sorge, ist in der zweiten Hinsicht die Gefahr der Vermessenheit gegeben: »Die einen lassen das Arbeiten sein, stehen herum und schwätzen, weil sie ihn jeden Tag erwarten.«360 Der Augenblick wird von diesen sich ver­ messenden Gemeindemitgliedern zeitlich nicht wahrhaft verstanden. Er wird entweder ignoriert oder als Gehalt zum Objekt erhoben; es wird versucht, sich ihn jeden Tag habhaft zu machen, obschon die Unbegreiflichkeit des Augenblicks durch das Wort »Der Tag des Herrn kommt wie ein Dieb in der Nacht« bereits angekündigt ist. Dann kann die Bekümmernis auch noch irre gehen, denn der Antichrist gibt sich im »Schein des Göttlichen«, der nur für die Glaubenden offenbar und damit zur Prüfung wird.361 Den Augenblick als Ereignis recht zu verstehen, bedeutet dem­ nach, so Heidegger, sich recht zu bekümmern, d.h. die Zeitlichkeit als wesentliche Erfahrung des Menschen ermessen zu können. Wich­ 357 358 359 360 361

GA 60, S. 99. Ebd., § 28, S. 110; Übers. des Griechischen durch M.M. Ebd., S. 114; vgl. ebd., S. 113. Ebd., S. 112. Vgl. ebd. S. 113.

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tig ist demnach: »[…] durchhaltende Bekümmerung, eigentliche Aneignung in der faktischen Lebenserfahrung, d.h. eigentlich die Zeitlichkeit leben, so wie sie und was sie ist vom christlichen Grund­ vollzug aus.«362 Dieser liegt für die urchristliche Lebenserfahrung im Glauben. β) Bekümmernis als besinnliches Ermessen des Augenblicks

Die Situation der Bekümmernis bedarf also eines Besinnens auf die rechte Weise des Bekümmerns, so dass daraus weder eine maßlose Untertreibung noch eine maßlose Übertreibung wird, sondern ein durchhaltendes Glauben, das in der jeweiligen Lage den Augenblick nur erwartet, ihn nicht ignoriert oder ihn gierig erheischen will: »[…] nüchtern gegenüber Übertriebenheit, ein verkehrtes Abfallen. (Die sich betrinken, betrunken sind). Kein verkehrter Enthusiasmus [,] […] der in die gleiche Richtung läuft wie das Schlafen, vom Verstande sein.«363 So folgert Heidegger zum Text des Paulus: »Der Brief eine bekümmerte existenzielle ›Besinnung‹ auf die Situation.«364 Aber was heißt hier für Heidegger Besinnung? Seine Antwort lautet: Es ist der Zeit und dem Augenblick in der Art und Weise des Lebensvollzugs zu entgegnen.365 Es zeichnen sich hier projektiv also drei Modi ab, die Heidegger später explizit als Maßgaben denken wird. Erstens: Die Besinnung und das Abfallen an zweitens zu wenigem oder drittens übertriebenem Enthusiasmus. Dieses lässt sich bereits als ein rechtes Messen, jenes als ein Vermessen in zwei Richtungen deuten. Wir werden später sehen, dass Heidegger dies auch so aussprechen wird. Doch in welcher Situation finden diese zwei Modi des Vermessens statt? In der Interpretation der Confessiones des Augustinus sieht Heidegger diese Modi in der »deformis« des Lebens, die in der Hei­ deggerschen Augustinus-Interpretation als »Zerstreuung« verstan­ den wird. Heidegger sieht im Augustinus-Text die Aufforderung einer Gegenbewegung gegen die Zerstreuung, die ein »Auseinanderfallen des Lebens« sei.366 Augustinus gehe es selbst auch um die Bekümmer­ 362 363 364 365 366

GA 60, S. 137. Ebd., S. 151. Ebd., S. 140. Vgl. ebd. Vgl. ebd., § 12, S. 205.

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nis (curare, cura) als Möglichkeit dieser Zerrissenheit zu begegnen.367 Mit Augustinus sieht Heidegger verschiedene Tendenzen wie Gier, Ich-Bezogenheit, sich selbst zu wichtig nehmen sowie auch die Neu­ gier, die eine Ausgangsweise des vermessenen Bekümmerns sei. In dieser Selbstbekümmernis liege die Gefahr des Absturzes, des sich selbst Verlierens.368 Heidegger interpretiert hier keineswegs einfach nur etwas aus seinem eigenen Denken heraus in Augustinus hinein. Der Kirchenva­ ter aus Hippo selbst sieht die Schwierigkeit der Maßgabe der rechten Selbstbekümmernis sehr genau; es hält sich auch an anderer Stelle seines Werkes der Grundtenor des rechten Ausbalancierens des Sor­ gens um das eigene Leben durch, etwa wenn er über die Gesundheit des Menschen spricht: »Auch das Maß ist hier und dort verschieden: denn was zur Gesundheit hinreicht, ist der Lust noch zu wenig, und oft kann man sich fragen, ob noch die notwendige Sorge für den Leib um Hilfe bittet, oder schon die lüstern heuchelnde Genüßlichkeit bedient sein will.«369 Für Augustinus ist diese Zerrissenheit – in der Herausforderung das rechte Maß je neu auszutarieren, um nicht abzufallen – eine Belastung (molestia). Aber entscheidend ist für Heidegger die Art und Weise der Bekümmerungstendenz als Modus des Erfahrens, die als Last (mole­ stia) gefasst wird.370 Heidegger bringt dies noch einmal sehr konzis auf den Punkt: Die molestia ist kein Objektstück […], sondern bezeichnet ein Wie des Erfahrens, und zwar als solches Wie charakterisiert sie das Wie des faktischen Erfahrens, soweit wir sie jetzt in Betracht nehmen in Anmessung an unsere Aufgabe, zum mindesten in verschiedenen Hin­ sichten, d.h. den vollen Sinn der Faktizität, das Vollsinnige meint.371

Was heißt nun die Besinnung auf das Vollsinnige? Heideggers Ant­ wort lautet so: Es ist ein »je mehr« des Lebens, das durch das Sorgen (curare) dekliniert wird. Dieses »je mehr« sei aber nun nicht als »objektive Quantifizierung« gedacht, sondern meine die Möglichkeit Vgl. ebd., S. 207ff. Vgl. ebd., S. 240. 369 Aurelius Augustinus, Bekenntnisse. Lateinisch und Deutsch, übers. v. Joseph Bern­ hart, München: Kösel 1955, Lib. X 30–31, S. 556–557; S. Aureli Augustini Confessi­ onum. Libri XIII, hrsg. v. Markus Skutella, Teubner: Stuttgart 1969, X 30–31, S. 241. 370 GA 60, S. 231. 371 Ebd. 367

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des »vollzughaften Sichbilden« des Lebens, d.h. das Leben als Leben zu fassen, so wie es ist, in seinem eigentlichen Sein. Heidegger selbst bringt dies ganz klar auf den Punkt: »Das ›mehr‹ hat seinen ›Maßstab‹ am Sinn des Seins des ›Lebens‹ selbst.«372 Der rechte Maßstab ist also die Besinnung auf das Sein des Lebens – oder kurz: der Sinn von Sein.373 Damit ist im Durchgang der frühchristlichen Erfahrung der Bekümmernis ein Zweifaches für Heidegger gewonnen: Erstens: die Bekümmernis ist als ein Messen und Vermessen in der Bewegtheit des Lebens ausgewiesen. Zweitens: das rechte Messen wird als solches auf das Sein des Lebens als Besinnung und Bedenken der rechten Zumessung bezogen, um dieses Sein als Sein des Lebens im Vollzug zu erfahren. Entscheidend ist, dass die latent mitgedachte Frage nach dem Sein das erste Mal explizit von Heidegger im Kontext der Maßstabsfrage um die rechte Bekümmernis aufgeworfen wird und nicht ohne Zufall genau ab diesem Moment als Seinsfrage von Heidegger weiterverfolgt wird. Es wird nun ganz deutlich, dass die Begriffe bzw. Anzeigen Sein und Maß bei Heidegger ineinander gehören, insofern das Maß als Sein und das Sein als Maß im lebensweltlichen Vollzug der Bekümmernis jeweils sichtbar werden. Das Projekt der Maßstabsfrage des Lebens wird das Projekt der Maßstabsfrage nach dem Sein des Lebens. Dies wird noch deutlicher, wenn Heidegger bei Aristoteles die Besinnung als Maß und das Übertreiben und die Zurückhaltung als Vermessen noch expliziter interpretiert und zur Aneignung der Struktur und der Konstellation des performativen Maßes der konkreten Selbst­ welt kommt.

c) Vermessen und Messen als Appropriation der Besinnung auf das Sein der Faktizität zwischen einem Zuviel und Zuwenig Heidegger konstatiert, dass das Vermessen am Leben einer abfal­ lenden Tendenz gleichkomme. Die abfallende Tendenz der Sorge fasst Heidegger in Anlehnung an Augustinus‘ Begriff der tentatio als Neigung zu den Ablenkungen des Lebens, d.h. als Tendenz zur Ebd., § 17, S. 243. Die Frage nach dem Sinn von Sein ist gerade die Grundfrage von Sein und Zeit. Vgl. GA 2, § 1.

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Zerstreuung.374 Die Disposition der Sorge in ihrer Neigungstendenz qua formaler Anzeige zu bestimmen, ist für Heideggers Denken dabei zunächst das zentrale Anliegen. Er will sichtbar machen, wie zunächst eine weitere Differenz produziert wird, nämlich die zwischen der eigentlichen Sorge und der sich zeitigenden Faktizität des Lebens in der Situation und dem Besorgen der Alltäglichkeit im Modus unei­ gentlicher Zerstreuung. Eigentlichkeit heißt hier Besinnung aus dem Horizont des Selbst auf das eigene Sein, während die Uneigentlichkeit das Eigene, nämlich die Sinnfrage für das Sein der Selbstwelt, als Besinnung verdeckt und zuschüttet. Hier wird nun ausdrücklich das aristotelische Maß von Heidegger in diese Differenz eingetragen. Noch komplexer und damit schwieriger wird Heideggers Sorgestruk­ tur dadurch, dass die uneigentliche Zerstreuung nun zwei Seiten enthüllt, nämlich den Abstand und die Abriegelung. Durch diese bei­ den Weisen der Zerstreuung rückt der Maßstabscharakter des Lebens erst voll in die Sicht, was wir im weiteren Verlauf erläutern werden.375 Da für Heidegger das Leben um sein eigenes Sein bekümmert ist, »[…] schlägt nur im Umkreis der angezeigten Ausdrucksrichtungen ein eigentümlich durchgängiger Sinn an: Leben = Dasein, in und durch Leben ›sein‹.«376 Mit der explizit hergestellten Verklammerung zwischen Phänomenologie, Lebenstendenz und Sein des Daseins ist das Leben durch die Bekümmernis eine Tendenz, ein Gerichtetsein, was bei Husserl noch Intentionalität hieß.377 Wie gesehen, ist aber für Heidegger diese Bekümmernis – die von ihm nun zunehmend durch den Begriff der Sorge ersetzt wird – nur durch einen Bezugssinn möglich. Er ist als Sorge sogar »[…] der Grundbezugssinn des Lebens an sich […].«378 Die Sorge sei dabei nicht als »Leichenbittermiene« zu verstehen, wie Heidegger versichert, sondern als Achtsamkeit und 374 Vgl. C. Augustin Corti, Zeitproblematik bei Heidegger und Augustinus, Würzburg: Königshausen & Neumann 2006, S. 200–203. 375 Eine Vorarbeit zu Heideggers Interpretation des Maßverständnisses im Durch­ gang der aristotelischen Texte wurde von mir bereits entwickelt. Ich orientiere mich an dieser Stelle explizit an meinen früheren Überlegungen. Vgl. Michael Medzech, »Hermeneutik der Sorge und Techniken des Selbst. Zur Verwobenheit der Entschei­ dung bei Martin Heidegger und Michel Foucault«, in: Nicole Karafyllis (Hrsg.), Das Leben führen? Lebensführung zwischen Technikphilosophie und Lebensphilosophie, Ber­ lin: Sigma 2014, S. 149ff. 376 GA 61, III, 1, S. 85. 377 Vgl. Rolf Buchholz, Was heißt Intentionalität? Eine Studie zum Frühwerk Martin Heideggers, Essen: Blaue Eule 1995, S. 160ff. 378 GA 61., III, 1, B, S. 89.

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als bedeutungsorientierte Umgangsweise. Nun spezifiziert Heidegger dieses Verhältnis: »[…] das Sorgen ist ein Erfahren der Gegenstände in ihrer jeweiligen Begegnung. Begegnis charakterisiert die Grund­ weise des Daseins von weltlichen Gegenständen. Erfahrung charakte­ risiert die Grundweise des auf sie Zugehens, auf sie Stoßens.«379 Die Sorge wird dabei von Heidegger als Unruhe aufgefasst. Diese Unruhe ist die Differenz der Situation. »Der unruhige Aspekt der Unruhe. Das unabgehobene, unentschiedene Zwischen des Aspekts des faktischen Lebens: zwischen Um-, Mit-, Selbst-, Vor- und Nach­ welt; etwas Positives.«380 Das Positive der Sorge ist für Heidegger, dass sie Produkt und Produzent der Differenz als Lebensbewegtheit selbst ist. In dieser Sorge als Lebensbewegtheit zeigt sich eine Maßorien­ tierung, mit der eine modifizierende Gewichtung des Bezugssinns einhergeht, die Heidegger schon im Vorfeld die Neigung genannt hatte. Hier wird diese nun aus dem Horizont einer Phänomenologie des konkreten Lebens in die Sicht gebracht: »Dieser im Bezugssinn des Lebens selbst mitgegebene Charakter der Neigung zeitigt […] ein Wie des Vollzugs, die Geneigtheit.«381 Auch diese Bewegtheit der Sorge, die sich von der Sache her schon in Heideggers Deutung der frühchristlichen Lebenserfahrungstendenz abzeichnet, deutet erneut ein wesentliches Charakteristikum an: den Vollzug von Bewegtheit als Zeit. Dabei ist die Gewichtung zentral, denn sie modifiziert erst die Bewegtheit der intentionalen Sorge, insofern sie den Lebensvollzug bezüglich einer Maßorientierung je neu generiert. »In dieser Neigung des Bezugs, in der Geneigtheit als dem Wie des Sorgensvollzugs, hat die Welt, in der das Leben lebt, sein Gewicht, so zwar, daß es in seiner Faktizität ständig neue Gewichte zusetzt […].«382 Das jeweilige Gewicht ist die begegnende Bedeutsamkeitsman­ nigfaltigkeit für das Dasein »[…] in der Zeitigung des Lebens und im Wandel seiner Welt […].«383 Ausschlaggebend ist nun, dass der differente Grund der Situation, der die Tendenz der Sorge im Weltver­ hältnis und seine Bedeutsamkeiten gewissermaßen erst ermöglicht, in der Bewegtheit und Gewichtung das Leben in seiner Welt disponiert. Die Differenz der Situation weist bereits auf ein logisches Horizont379 380 381 382 383

Ebd., S. 90–91. Ebd., S. 93. Ebd., III,1, C, a S. 100. Ebd., S. 101. Ebd.

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und Feldverhältnis hin, das Heidegger für die Sorge, trotz ihres ver­ meintlichen Verfallscharakters, für konstitutiv erachtet: die bei Augustinus aufgeworfene Zerstreuung. Die Sorgensbezüge selbst, das Leben in der Welt zerstreut sich und die dabei wache Geneigtheit hält das Leben in seinen Zerstreuungen. Die Geneigtheit will sich gerade nichts von der Zerstreuung entgehen lassen und steigert sich damit. […] [E]s bildet sich, was wir als Selbstgenügsamkeit des Lebens bezeichnen, ein Wie des Sorgens im sich zerstreuenden, von seiner Welt mitgezogenen Leben.384

Im Ausgang von der Selbstwelt als transzendierender Bezug auf die Mit- und Umwelt und als transzendentale Möglichkeit der Weltin­ terpretation, zeigte sich in Heideggers Augustinus-Lektüre, dass die Selbstwelt den situativen Horizont erst freilegt, in dem die besagte Zerstreuung statthat. Noch komplexer und damit schwieriger wird die Sorgestruktur aus dem Horizont der Gewichtung dadurch, dass die Zerstreuung nun von zwei Seiten sichtbar wird. Diese beiden bereits erwähnten Seiten heißen bei Heidegger Abstand und Abriegelung. α) Hyperbolischer Abstand

Heidegger charakterisiert den Abstand als Aspekt der Neigung, den dieser »[…] gerade verdeckt, abdrängt und in die Zerstreuung hinein­ reißt, so daß er nun durch diese Abdrängung hindurchgegangen, als zerstreut in der Welt begegnet […].«385 Die Tilgung dieses Abstands in der Neigung als Seite der intentionalen Struktur der Sorge, bezeichnet Heidegger als »[…] ›sein‹ in der Ruinanz […].« Der Begriff Ruinanz wird von Heidegger, vom lateinischen ruina herrührend, als »Sturz« übersetzt.386 Ruinanz bedeutet in diesem Kontext, dass der Abstand zwischen der eigenen Bezogenheit und den vorliegenden Bedeutsamkeiten verdrängt wird. Die Tilgung meint hier die Ignoranz des eigenen Verhaltens zu als Umgang. Umgang ist hier nicht moralisierend von Heidegger intendiert. Die aristotelische ἑiς, die Verhaltung, wird von der phänomenologischen Deutung des nῖn als Vernehmen von Heidegger sichtbar gemacht.387 Der 384 385 386 387

Ebd., S. 101–102. Ebd., III, 1, C, b, S. 103. Vgl. GA 61, S. 121. Vgl. GA 62, S. 380, 382, 383.

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sorgend-ausgerichtete Bezug wird also nicht mehr bemerkt und das Leben geht über sich selbst hinweg und extrapoliert sich nur noch in den Bedeutsamkeiten. In der Geneigtheit und Zerstreuung lebend hält das Leben nicht den Abstand, es versieht sich. In der zerstreuenden Abdrängung des ›vor‹ ist der Abstand als solcher nicht ausdrücklich da. Es wird in der Geneigtheit gerade unausdrücklicher; im Erfahrungsvollzug geht das Leben über ihn weg. Im Sichversehen bezüglich des Abstandes vermißt sich das Leben; es vergreift sich im ihm gebührenden Maß (Maß nicht quantitativ).388

Diese Geneigtheit ist in der Abstandstilgung zugleich ein Vermessen. Dieses Vermessen ist, anders als beim frühchristlichen Text des Paulus oder bei den Bekenntnissen des Augustinus, zunächst nicht amoralisch konnotiert; es fällt für Heidegger nicht in eine ethische, sondern in eine operational-praktische und kinetische Interpretation, die sich bereits als sich zeitigende Zeitlichkeit ankündigt und die später von Heidegger explizit als ursprünglich kairologisch interpretiert wird.389 Die strukturellen Parallelen zur Interpretation der Lebenstendenz im Frühchristentum bleiben dabei unübersehbar. Inwiefern geschieht nun ein Vermessen in der Tilgung des Abstands, wenn das Leben – durch die Neigung dazu bewogen – nur noch in den jeweiligen Bedeutsamkeiten aufgeht? Die Tilgung ist auch hier keine quantitative Elimination des Abstands; Heidegger versteht sie vielmehr als eine Mitnahme in die Zerstreuung der immer neu auftauchenden und wieder verschwindenden Bedeutsamkeiten in der Alltäglichkeit. Der Abstandscharakter ist da, sofern sich das Leben in seiner Sorge in den Bedeutsamkeiten vermißt, diese selbst ausweitet, auf eine Berechnung und Abständigkeit innerhalb der bedeutsamen Welt in seiner Genauigkeit aus ist. Auf Rang, Erfolg, Position im Leben (Welt), Überholen, Vorteil, Berechnung, Betriebsamkeit, Lärm, Aufmachung,

GA 61, II, 1, C, b, S. 103. Eine fundierte Grundlage für diese Behauptung liefert Katharina von Falkenhayn, die das gesamte Frühwerk Heideggers auf die These hin untersucht, dass die Zeit bei Heidegger nicht quantitativ, sondern vom Augenblick, dem ίς, zu lesen ist, der sowohl die Zeitlichkeit des treffenden Augenblicks als auch das rechte Maß und Verhältnis involviert. Vgl. Katharina von Falkenhayn. Augenblick und Kairos. Zeitlichkeit im Frühwerk Martin Heideggers, Berlin: Duncker & Humblot 2003. 388

389

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grob und laut oder verfeinert, großzügig vordränglich in der Weise dessen, der ›die Kiste schmeißt‹ […].390

Die Aufzählung der Charakteristika dieser Lebensgeneigtheit qua formaler Anzeige macht in aller Deutlichkeit klar, dass es sich hier um ein Phänomen handelt, das Heidegger als erster wirklich phänomeno­ logisch deutet. Freud arbeitet übrigens wie Heidegger in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts analog auf naturalistisch-psychologisti­ scher Basis einen ähnlichen Begriff heraus, den er als »Verdrängung« bezeichnet hatte.391 Der frühe Heidegger kann aufgrund seiner von ihm begründeten Vorbehalte eine solche quantifizierende, objektivie­ rende »Theorie« einer einseitigen materialistischen Reduktion auf neuronale Prozesse nur ablehnen und nicht in sein Denken integrie­ ren. Stattdessen wird die Neigungsvariation als Modus des intentio­ nalen Bezugs der Sorge im Weltverhältnis selbst hergeleitet. Dieser Modus hat die Eigenart der von Heidegger herausgearbeiteten Rhyth­ mik im Sinne eines Reliefs von lebensweltlichen Verschlingungs- und Durchdringungsvariationen. Diese werden nun, genauer als in den Grundproblemen, von seinem Bezugs- und Vollzugssinn her als Maß artikuliert. Hier ist die Lebenstendenz in dieser Sorge nicht nur durch die Vermessung der Abstandstilgung versehen, sondern das Sorgen ist zugleich Maßnahme: Das Leben nimmt die Maße möglichst weit und wichtig und erleichtert sich damit selbst das, wozu und wie es sich verhält, seine Zerstreuung, es gibt in seiner Geneigtheit und Abständigkeitssorge der Zerstreuung stets neue Nahrung. […] [E]s zeitigt die Endlosigkeiten. Das Leben ist in der neigungsmäßigen Zerstreuung seines abständlichen Bezugssin­ nes hyperbolisch, […] ein Sichmittreiben des Lebens in seiner Welt.392

Dies ist die hyperbolische Seite der Rhythmik der Sorge. Zwar ist hier ein Terminus aus Aristoteles‘ Ethik genommen, aber dennoch ist Heidegger der Auffassung, dass diese Seite der Neigung in den Komplex der Sorge selbst hineingehöre: »das Hyperbolische (ein Wie des faktischen Lebensvollzugs)«.393 Bereits in den frühen Vorlesun­ gen denkt er diese Faktizität in der Sorge als einen Zusammenhang GA 61, II, 1, C, b, S. 103. Vgl. Sigmund Freud, »Die Verdrängung« in: Psychologie des Unbewußten, Studi­ enausgabe, Bd. 3, hrsg. v. Alexander Mitscherlich u. a. München: Fischer 1989, 1915d, S. 103ff. 392 GA 61, II, 1, C, b, S. 104. 393 Ebd. 390

391

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von Bewegtheit und damit von der Zeit her. Die Grundlage ist für ihn hier erneut Aristoteles‘ Begriff der inήiς, den er ursprünglich in der Faktizität des Lebens wiedererkennt.394 Die sich zeitigende Bewegt­ heit der Sorge im Modus der Abstandstilgung fasst Heidegger in sei­ ner Hyperbel als Kategorie. Diese Kategorie der Bewegtheit ist sowohl reluzent (zerstreuend in anderem) als auch praestruktiv (sich in sich selbst zerstreuend). Aus beiden Seiten nimmt das Leben in seinen »Sorgensdirektiven […] seine Ansprüche, ihr Ausmaß […]« für die Bewegteit des Lebens.395 In der Abstandstilgung ist die Bewegung eine reluzente, insofern sie als Abständigkeit von der Welt erscheinen kann und sich sodann praestruktiv im Hyperbolischen der Sicherungstendenz manifestiert. Konkret findet sich diese Bewegtheit in der Abstandstilgung als Sicherung der Objektivität, die Heidegger als Problem schon in den Grundproblemen sichtbar gemacht hatte. In der objektivierenden Wissenschaftlichkeit und Sachlichkeit als Absolutum, aber auch im Irrationalismus, am starren Festhalten einer tradierten Weltanschau­ ung, als auch in den Absolutheitsansprüchen der Antiwissenschaft­ lichkeit, erkennt Heidegger diese Abstandstilgung wieder.396 Daher geschieht ein Vermessen in dem Versuch der absoluten Absicherung, sei es hyperbolisch in einem Verabsolutieren der Wissenschaft oder im absoluten Dagegenhalten einer antiwissenschaftlichen Position. Beide sind als hyperbolische Tendenzen Weisen der Überschätzung. β) Elliptische Abriegelung

Die andere Weise des Vermessens ist ein »Zuwenig«, ein Zu-kurzkommen in der sorgenden Lebenstendenz; sie ist für Heidegger eine Ellipsis als Abriegelung.397 Hier wird im Grunde die Inversion der Vgl. GA 62, S. 394; GA 61, S. 117. Heideggers Deutung der Physik bleibt – trotz seines durchaus tiefgründigen phänomenologischen Zugangs zu Aristoteles – bis heute problematisch, da die Interpretation der inήiς von der Lebenswelt und der Lebenstendenz her bei Aristoteles nur bedingt herzuleiten ist. Etymologisch wirken, selbst bei viel Wohlwollen und respektive seiner klärenden Bemerkungen zur formalen Anzeige in Anzeige der hermeneutischen Situation, die begrifflichen Umformungen bisweilen dennoch willkürlich. Vgl. GA 62, S. 365ff; S. 368f. 395 Ebd., S. 119. 396 Vgl. ebd., S. 122, S. 120. Hier wird das Motiv der »Sicherungstendenz« von Heidegger als Folge einer »ansprechenden Unsicherheit gedeutet. 397 Ebd., S. 108. 394

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Abstandstilgung vollzogen. Die Lebenstendenz im Sorgen versucht sich durch die Selbstwelt nicht in den Blick zu nehmen und maskiert sich in doppelter Hinsicht vor sich selbst. Dies sieht Heidegger vor allem als Phänomen im öffentlichen Leben des Alltags: »Das Dasein spricht von ihm selbst, es sieht sich so und so, und doch ist es nur eine Maske, die [es] sich vorhält, um nicht vor sich selbst zu erschrecken. Abwehr der ›Angst‹ […]; in dieser Maske der öffentlichen Ausgelegt­ heit präsentiert sich das Dasein als höchste Lebendigkeit (des Betriebes nämlich).«398 Hier handelt es sich deswegen um eine doppelte Mas­ kierung vor sich selbst, weil das Dasein neben der Selbstmaskierung eine zweite öffentliche Maskierung oder Abriegelung vornimmt. Es wird sich demnach also sogar zweifach vermessen. Diese Art des Vermessens nennt Heidegger auch Larvanz (d.h. ein Einhüllen vor sich selbst, indem sich die eigene Selbstwelt wie eine Larve vor sich selbst verdeckt). »Im Sorgen riegelt sich das Leben gegen sich selbst ab und wird sich in der Abriegelung gerade nicht los.«399 Dieses Sorgen ist besorgt um ein Nicht-Sorgen und dieses zeitige sich als »Unbekümmerung«, so Heidegger.400 In der Abriegelung gehe das Dasein in den Bedeutsamkeiten auf, schiebe immer etwas »Wichtigeres« vor, als die Sorge um sich. So vergreife sich das lebensweltliche Selbst – nämlich als es selbst – und verpasst es somit im Modus der Sorge überhaupt je Thema zu werden. In der Abriegelung liege die permanente Bestrebung im Alltag vor, sich in unendlicher Dauer vor sich selbst abzukapseln. Dies ist im Grunde die andere Seite der Medaille der Abstandstilgung, die als Inversion ebenso vermessen ist wie die Abstandshaltung. Heidegger verwendet hier wieder eine äußerst brachiale Rhetorik, um dies mit aller Schärfe zu unterstreichen: »Mit dieser Unendlichkeit blendet sich das Leben selbst, sticht sich die Augen aus; es kommt zu kurz. Das faktische Leben läßt sich aus, gerade indem es sich eigens positiv gegen sich wehrt. Die Abriegelung hat den spezifischen Vollzugs- und Zeitigungscharakter des Elliptischen.«401 398 GA 63, § 6, S. 32. Es ist dabei im Blick zu behalten, dass Heidegger »Maske« mit dem lateinischen Begriff persona in Verbindung bringt und er aus diesem Grund den Personenbegriff als unpassend für das eigentliche Menschsein erachtet, da persona als maskierte Figur nicht den Menschen selbst, sondern nur eine eingeübte Rolle zeige, die die eigentliche Existenz des Menschen verdecke. 399 GA 61, S. 107. 400 Ebd. 401 Ebd, S. 108.

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5. Die Zuspitzung der lebensweltlichen Maßstabsaneignung

Auch hier formuliert Heidegger eine Bewegungskategorie – bereits verstanden aus dem sich zeitigenden Vor- und Rückblick der Bewegtheit.402 Diese Bewegtheit war als ein Zerstreuen interpretiert worden. Nun wird sie von Heidegger als eine Sichtbarkeit herausge­ stellt, die sich selbst nicht mehr in die Sicht rücken kann. Die so abge­ lenkte Lebenstendenz sieht als Leben von sich weg, »[…] gerade damit aber läßt es sich in besonderer Bewegtheit sich selbst begegnen, sich selbst auf sich zukommen, d.h. es in der Auf-es-zukommensten­ denz gleichsam verscheuchend.«403 Im Klartext: Die Lebenstendenz lässt ständig andere Dinge wichtiger werden, als sich selbst. Sie lässt sich im Wegsehen selbst aus. In dieser Blindheit vor sich selbst ist sie elliptisch. Auch hier begegnet die Zerstreuung unter dem Vorzei­ chen des Vermessens durch die Verwendung und Abwandlung einer aristotelischen Kategorie der Maßgabe. γ) Umgangserhellung der Besinnung (Phronesis) als eigentlich

fragendes Messen

Die Rhythmik dieses Vermessens als Hyperbolisches und Elliptisches wurde von Heidegger präzise durch die beiden Modifikationen der Zerstreuung dargestellt: Praestruktion und Reluzenz.404 Aus dem Horizont seiner Aristoteles-Lektüre bringt Heidegger diese Formen der Zerstreuung nun in ein direktes Verhältnis zueinander, indem er sich ausdrücklich auf Aristoteles‘ Überlegungen zum Maß bezieht und sowohl das Hyperbolische wie auch das Elliptische als ein »Es-sichleicht-Machen« deutet.405 Die Sorglosigkeit bildet nun die Welt aus und muss sie, um ein Genü­ gen zu haben, steigern, wird hyperbolisch und gewährt ein leichteres Erfüllen und Besorgen, d.h. sein Dasein Erhalten, Durchhalten. Das hyperbolische Dasein erweist sich so zugleich als elliptisch: es geht dem 402 Vgl. ebd., III, 1, D; Servanne Jollivet hebt hervor, dass die Bewegtheit eine Über­ tragung aus der aristotelischen Physik ist. Sie ist der Ansicht, dass Heidegger »[…] die kinetische Theorie der aristotelischen Physik in eine Analytik des Daseins […]« verwandele. Servanne Jollivet, »Das Phänomen der Bewegtheit im Licht der Dekon­ struktion der aristotelischen Physik«, in: Heidegger und Aristoteles, Heidegger Jahr­ buch, Bd. 3, hrsg. v. Alfred Denker et al., Freiburg: Alber 2007, S. 154. 403 GA 61, S. 123. 404 Vgl. ebd. 405 Vgl. ebd., S. 108–109.

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II. Suche nach einem Maßstab der Auslegung der Faktizität des Lebens

Schwierigen, dem was nῶς, einfältig (ohne Umschweife) ist, aus dem Wege, macht kein Ende fest, will nicht auf eine Urentscheidung und in sie (sie wiederholend) gestellt sein.406

Das Einfache und »Einfältige« wird als das Schwierige interpretiert – und dies ist für Heidegger nichts anderes als ein Besinnen auf eine unvordenkliche Differenz aus dem Horizont der Situation, indem Bezug von der Selbstwelt auf die eigene Welt als solche und auf das eigene und damit eigentliche Sein genommen wird. Heidegger inter­ pretiert im Durchgang durch die aristotelische Fassung des Maßes in seinem hyperbolischen und elliptischen Vermessen den eigenen Weg als den Schwierigen, nämlich als eine besondere Bewegtheit, der es um das eigene Leben selbst geht. Dieses Spektrum, indem die Bewegtheit eine Deutung seiner selbst in seinem Sorgen, seiner Bekümmerung und seinem Umgang ersucht, lässt Heidegger die aris­ totelische φόniς als »Umgangserhellung« übersetzen.407 Sie geht aus beiden Weisen des Vermessens als eigentliches, um sein eigenes Selbst kreisendes Messen hervor und erhellt damit das eigene Sein. Wie kommt es aber überhaupt zur Umgangserhellung und zur Besinnung? Dieses geschieht nach Heidegger merkwürdigerweise aus dem Horizont der Ruinanz selbst heraus, insofern das mensch­ liche Dasein durch das Bemerken dieser Ruinanz erschüttert wird, sobald sie als Erschütterung auffällig wird. Dieser Vollzug zeigt sich folgendermaßen: »In der Ruinanz, als einer Grundbewegtheit des Sorgens, macht sich geltend, daß im faktischen Leben ihm selbst ständig irgendwie etwas fehlt, und zwar so, daß zugleich mitfehlt die Bestimmung, was es eigentlich ist, das fehlt.«408 Das Eigentliche und Eigene des Lebens, als Maß und Bestimmung, kommt in den Blick, wird plötzlich Maßstab, indem es zum Aufriss der bisherigen zweifältigen hyperbolischen und elliptischen Vermessenheit wird. Die eigene faktische Verfasstheit des Lebens wird plötzlich fraglich. Mit dieser Fraglichkeit macht die philosophische Interpretation der Faktizität Ernst, und zwar nicht so, daß sie vermeinte, nun ihrerseits eine absolute ewige Entscheidung zu finden, sondern so, daß sie ledig­ lich konkret und in konkret verfügbaren Direktionen die Fraglichkeit

406 407 408

Ebd., S. 109. Vgl. GA 62, S. 383. GA 61, S. 155.

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5. Die Zuspitzung der lebensweltlichen Maßstabsaneignung

zeitigt und behält, und damit aber gerade den Vollzug des Zugangs zu faktischem Leben in der Lebendigkeit hält.409

In der Zeitigung der Fraglichkeit sieht Heidegger eine »gegenruinante Bewegtheit«, nämlich die des »[…] philosophischen Interpretations­ vollzugs, und zwar so, daß sie sich vollzieht in der angeeigneten Zugangsweise der Fraglichkeit. Faktisches Leben kommt gerade im Fragen zu seiner genuin ausbildbaren Selbstgegebenheit […].«410 Mit der Aneignung der Fraglichkeit ist die Richtung auf das Maß der Eigentlichkeit vorgezeichnet. Doch was ist dabei für das Eigentliche und Eigene wichtig? Es ist der Seinssinn, dem es um »[…] die Wurzeln der eigenen Faktizität des eigenen konkreten Lebens geht.«411 Dabei zeigt sich nun der perfor­ mative Charakter des Maßstabs im radikalen Fragen, nämlich als die »[…] Frage nach dem Seinssinn faktischen Lebens […]«412 Was aber ist nun die Angemessenheit dieses Maßes? Für Heidegger ist es die Unruhe der Fraglichkeit in der Ruinanz. »Es ist dem Gegenstandssinn faktisch ruinanten Lebens gerade angemessen, wenn unbestimmt und fraglich bleibt und labil, was ›ich‹ und ›mein‹ eigentlich in diesem faktischen Leben und für es besagen soll […].«413 Aber suchen wir nicht nach Antworten? Ist das Maß einer fertigen Antwort nicht das, was jedes Fragen bewegt? Heidegger ist skeptisch. Er sieht in der Möglichkeit einer schnellen fertigen Antwort die Tendenzen zur Vergegenständlichung und zur Feststellung im Theoretischen. Beide Tendenzen waren aber gerade aufgrund ihres weltanschaulichen und dogmatischen Charakters für ein echtes existentielles Fragen problematisch geworden. Es ist nicht so, dass Heidegger aus einer Willensmanifestation heraus gegen eine Beantwortung der obigen Frage wäre, aber er sieht »[…] daß das Gegenständliche (faktische Leben) und sein Seinssinn nicht einfach konstatierbar sind, daß die Seinsbestimmt­ heit von Leben genuin nicht erfaßbar ist in einer freischwebenden und beliebig zu vollziehenden Kenntnisnahme eines vor der Hand liegenden Objekts.« 414 Das Fraglichsein des Seinssinn ist also selbst 409 410 411 412 413 414

Ebd., S. 152. Ebd., S. 153. Ebd., S. 169. Ebd., S. 172. Ebd., S. 174. Ebd., S. 175.

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von der Sache her ein performatives Maß, das es nicht stillzulegen gilt, sondern im Gegenteil permanent aufrechtzuerhalten ist. Zwar liefert das Fragen keine festen Antworten, aber etwas anderes. Dies ist die »genuin erhellte Grunderfahrung«, in der sich das Leben endlich »eigens« selbst begegnen kann, nämlich als »faktisches Leben qua Leben«; ergo die zu ermessende Bewegtheit begegnet sich durch die messende Bewegtheit eines besinnlichen Denkens und wird so zum performativen Maßstab, der selbst Bewegtheit ist.415 Was ist durch die Bewegtheit des performativen Maßstabs für Heidegger gewonnen? Heideggers Antwort ist diese: Gegenruinanz, d.h. die Verfestigung und Abstraktion des eigenen Lebenszusammenhangs ist durch die Frage nach dem Seinssinn unterbunden und die kritische Besinnung des Menschen als Bedingung von Grunderfahrung überhaupt bleibt erhalten, nämlich so, »[…] daß jede echte, sich den vorgelegten Tendenzen und dem Seienden anmessende Kritik (die doch Anmessung gerade will) auf den Vollzugszusammenhang ihrer eigenen Faktizität zurückverwiesen wird […]; so kommt die Kritik in die Lage der Diskussionsmöglichkeit mit dem zu Kritisierenden.«416 Dieses »in-Bewegung-bleiben« aufgrund des Offenhaltens des Fragens um diese Bewegtheit hält den Menschen schließlich auch offen für die Grunderfahrung und Grundfähigkeit: das vollziehende Denken. Ergo ist für Heidegger der performative Maßstab die Bedingung der Möglichkeit, Grunderfahrungen zu machen und zu bedenken – und zwar als Selbstzweck für den Seinssinn des eigentlichen Lebens als solchen. Durch den performativen Maßstab der Aneignung, d.h. der Appro­ priation der Seinsfrage, ist für Heidegger das zu vollziehende grundle­ gende Fragen sowohl bedingt als auch evoziert. Mit dieser Position im Fokus schließen wir uns ausdrücklich der These von Tilo Eilebrecht an, der das »Fragen ins Offene« als ein wesentliches Motiv des Heideggerschen Denkens ausgemacht hatte.417

Vgl. ebd., S. 176. Ebd., S. 180. 417 Vgl. Tilo Eilebrecht, Durch Fragen ins Offene. Zur Charakteristik von Heideggers Denkwegen, Freiburg: Alber 2008. 415

416

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6. Zusammenfassung und Ausblick des Kapitels

6. Zusammenfassung und Ausblick des Kapitels Was haben wir in diesem Kapitel gezeigt? Zunächst haben wir metho­ disch die Genesis des Heideggerschen Fragens nach dem Maß in der Kontrastfigur von Rejektion, Projektion und Appropriation verortet und diese jeweils in drei Ordnungsstufen eingeteilt. Erstens war es mit dieser methodischen Abgrenzung möglich zu zeigen, dass Heidegger eine theoretische Einstellung hinsicht­ lich eines abstrahierenden, quantifizierenden und objektivierenden Maßes ablehnt und mit Hilfe einer Strukturanalyse das Projekt einer Maßstabssuche entfaltet, das zunächst in der Aneignung einer vortheoretischen Einstellung mündet. Zweitens sieht Heidegger in der Ablehnung der theoretischen Reduktion und Abstraktion der Umwelt auf Objektivität einen Entle­ bungsprozess, der den Ausgangspunkt einer projektiven Erörterung eines performativen Maßstabs in der vortheoretischen Perspektive zulässt. Diese Sichtweise führt Heidegger schließlich zur Aneignung der Rhythmik und Struktur des faktischen Lebens und eines perfor­ mativen Maßstabs qua formaler Anzeige und Destruktion. Drittens entfaltet Heidegger die Ablehnung der beiden großen Modelle seiner Lehrer: die Wertelehre Rickerts und die Lehre der Adäquation und der reinen Evidenz der Phänomene in der erfüllenden Deckungssynthesis bei Husserl. Das inhärente Maßverständnis die­ ser Modelle grenzt Heidegger von dem von ihm herausgearbeiteten performativen Maßstab ab. Ihn wiederum kann Heidegger nach einer solchen Differenzierung von den herkömmlichen Maßstabsorientie­ rungen in seiner Struktur der Sorge und Bekümmerung zum Projekt weiterer Untersuchungen machen. Dabei werden diese Sorge- und Bekümmerungsstruktur noch weiter in die zwei Vermessungstenden­ zen des hyperbolischen und elliptischen Lebens ausdifferenziert. Aus dieser Differenz heraus ergab sich für uns, dass Heidegger die Ausschärfung des performativen Maßstabs der Sorge als besinnliches Fragen im Kontrast zu den beiden Vermessungstendenzen entwickelt. Diese ermöglichte nunmehr in der rekursiven Grundstruktur dieses Maßstabs den Bezug auf das Sein des lebensweltlichen Daseins und damit die Aneignung der Seinsfrage. Im Rückblick ist jetzt recht deutlich zu sehen, dass Heidegger aus einer Anverwandlung des aristotelischen Maßverständnisses eine Rechtfertigung für das Projekt des eigenen vortheoretischen Ansatzes

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II. Suche nach einem Maßstab der Auslegung der Faktizität des Lebens

hergeleitet hat. Theoretische Einstellung und Weltanschauung sind aus Heideggers Sicht im Rückblick als Überschätzungen hyperbolisch zu verorten, während ein Historismus und die Lebensphilosophie für ihn eine elliptische Haltung im Sinne einer Unterschätzung der Philosophie darstellen. In der »Mitte« steht sein eigener Weg des Fragens als das performative Maß, das sich bereits hier als ein Fokus­ sieren auf die Besinnung des Lebens in seinem Seinsbezug abzeichnet. So inskribiert er die aristotelische φόniς auf die Folie seines Denkens als Maßgabe der Besinnung, »Erhellung« und »Umsicht« des lebensweltlichen Seins.418 Dies geschieht durch das Austarieren der Maßgabe qua lebensweltlichen bezugs- und vollzugsartigen Messens. So findet die Sorge in ihrem intentionalen bzw. tendenziellen Charak­ ter bezüglich der situativen Differenz ihren Ort und ihre Grenze. An diese Differenz als Grenze kann Heidegger nun denkend anknüpfen, denn diese Differenz, in der die Sorge sich als Tendenz verortet, ist das eigene Selbst in der Fraglichkeit seines eigenen Seins: »Das Wie des Seins öffnet und umgrenzt das jeweils mögliche ›da‹. Sein – transitiv: das faktische Leben sein. […] ›Eigenheit‹ ist ein Wie des Seins, Anzeige des Weges möglichen Wachseins.« Diese Abhebung zwischen rechtem Messen am grenzhaften und fraglichen Leben in der fundierten Sorge als ereignendes Fragen um sein eigenes Selbst und das Vermessen, das das eigene Selbst hyperbolisch oder elliptisch auslässt, fasst Heidegger als eigentliches und uneigentliches Leben. Geht das Leben in der Alltäglichkeit auf, verhält es sich nicht mehr eigentlich. Es ist uneigentlich geworden. Es ist zwar ›da‹, ist also ein Dasein, aber nicht mehr eigens für sich und aus sich heraus sich auslegend. Es ist fremdbestimmt. In Ontologie. (Hermeneutik der Faktizität) führt Heidegger dann für das Alltägliche und öffentliche Leben den Begriff des »Man« ein. Er fasst die Zerstreuung in ellip­ Heidegger statuiert in seiner Untersuchung zur Nikomachischen Ethik, dass die όniς den Horizont des Was und Wie der Situation vorgebe. Vgl. GA 62, S. 383; Figal unterstreicht, dass die όniς die »wahre Haltung« (ἑiς ἀς) sei, die Heidegger gewissermaßen in sein Denken schabloniert. Vgl. u. a. Günter Figal. »Heidegger als Aristoteliker«, in: Heidegger und Aristoteles, Heidegger Jahrbuch, Bd. 3, hrsg. v. Alfred Denker et al., Freiburg: Alber 2007, S. 60. Franco Volpi macht eine Transformation von Daseinsanalyse und der aristotelischen Ethik direkt zum Thema. Franco Volpi, Heidegger e Aristotele, Padova 1984; Franco Volpi, »Dasein comme praxis. L’assimilation et la radicalisation heideggerienne de la philosophie pratique d‘Aris­ tote« in: Heidegger et l’idée de la phenomenologie, hrsg. v. Franco Volpi et al., Dordrecht 1988. 418

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6. Zusammenfassung und Ausblick des Kapitels

tischer und hyperbolischer Weise an diese Öffentlichkeit und ihre fremdbestimmende Auslegung des Lebens zusammen.: »Zur Alltäg­ lichkeit gehört eine gewisse Durchschnittlichkeit des Daseins, das ›Man‹, worin die Eigenheit und mögliche Eigentlichkeit des Daseins sich verdeckt hält.«419 Die Welt erscheint dann nur als das »Da« der operational-praktischen Tendenz des Besorgens.420 Entscheidend ist, dass das »Man« für Heidegger durchaus etwas Positives ist, denn es drückt auch als »Verfallsphänomen« eine Weise des Verhaltens der Selbstwelt aus, die als solche nicht zwischen einer elliptischen und einer hyperbolischen, einer uneigentlichen und einer eigentlichen Seite »auszurechnen« sei. Vielmehr gehören diese Seiten für ihn ineinander: Ohne uneigentliches Verhalten kann es auch kein Eigent­ liches geben; nämlich als selbstbezügliches und seinsbesinnliches Fragen des Daseins.421 Umgekehrt gilt freilich: ohne Eigentlichkeit gibt es auch keine Uneigentlichkeit. Aber in der Uneigentlichkeit erkennt Heidegger dann jenseits des Alltags auch die Gefahr einer unhinterfragten Wis­ senschaftsauffassung, die sich in der »Reibungslosigkeit des ›Betrie­ bes‹“ vermesse und somit sich selbst korrumpiere.422 Insbesondere die Sorge um das erkennende Verhalten schlage sich in dieser Betrieb­ samkeit in einer Tendenz zum Ordnen und Typisieren nieder.423 GA 63, § 18, S. 85. Der Begriff des ›Man‹, in den Heidegger die beiden Weisen des Vermessens in der öffentlichen Ausgelegtheit integriert, ist übrigens schon vor Heidegger einmal in ähnlichem Kontext verwendet worden, nämlich von Henry David Thoreau in Walden. Dort heißt es: »Wenn ich ein Kleidungsstück von einer bestimm­ ten Form bestelle, so sagt mir meine Schneiderin mit ernster Miene: ›Man macht das jetzt nicht so‹, ohne das ›man‹ irgendwie zu betonen, also ob sie eine so unpersönliche Autorität zitierte wie das Schicksal. […] [I]ch muß mir jedes Wort einzeln wiederho­ len, um darauf zukommen, was es heißen soll, um herauszufinden, in welchem Grad der Blutsverwandtschaft ›man‹ zu mir steht und welche Autorität ›man‹ in einer Angelegenheit hat, die mich so nah angeht.« Henry David Thoreau, Walden oder Leben in den Wäldern, Übers. u. hrsg. v. Emma Emmerich u. Tatjana Fischer, Zürich: Dio­ genes 1971 (orig. 1854), S. 36. Es ist mir bis jetzt nicht gelungen, quellenhistorisch nachzuweisen, ob Heidegger Kenntnis von Thoreaus Hinterfragung des Begriffes des »Man« hatte. Das Unterfangen, Heideggers Rezeption amerikanischer Klassiker (u. a. Dewey und James) zu untersuchen, steht im Übrigen, meiner Kenntnis nach, noch weitgehend aus und bedarf weiterer Nachforschung. 420 Vgl. GA 63, S. 85, vgl. ebd., S. 27. Hier bringt Heidegger den aristotelischen ᾶiς–Begriff mit dem »Besorgen« zusammen. 421 Vgl. ebd., S. 17; vgl. ebd., S. 19. 422 Vgl. ebd., S. 5. 423 Vgl. ebd., § 12, S. 59. 419

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II. Suche nach einem Maßstab der Auslegung der Faktizität des Lebens

Stattdessen lautet die Aufgabe für Heidegger nun so: Als gegen­ ruinante Lebenstendenz muss sich die Selbstwelt um ihr Sein neu bemühen und sich von der bisherigen Ontologie der theoretischen Einstellung lösen.424 So ergibt sich als prinzipielle Definition der Philosophie […]: Philosophie ist prinzipiell erkennendes Verhalten zu Seiendem als Sein (Seinssinn), so zwar, daß es im Verhalten und für es auf das jeweilige Sein (Seinssinn) des Habens des Verhaltens entscheidend mitankommt. Philosophie ist ›Ontologie‹, und zwar radikale, und zwar als solche phänomenolo­ gische […] bzw. ontologische Phänomenologie. Der Gegenstand der Philosophie, Seiendes als Sein, bestimmt von sich aus (Prinzipfunk­ tion) das Verhalten mit. Als prinzipielles kommt es bei ihm auf sein Sein an.425

Diese radikale phänomenologische Ontologie fragt demnach nach dem Sein, insofern sich der Mensch zu ihm verhält. Doch wie ist das genau zu verstehen? Als Verhalten zu (ἑiς) sind die Rahmenkoordinaten der situativ konstituierten Welt der Lebenstendenz für Heidegger nicht zugespitzt genug. Der Weg dieses Verhalten zu – so erinnert sich Heidegger als Schüler Brentanos – ist bei Aristoteles in der Physik als die Interpretation der Mannigfaltigkeit des Seienden im Sein

Vgl. GA 61, Anhang I, S. 159–162. Ebd., S. 60. Am hyperbolischen und elliptischen Vermessen wird übrigens deut­ lich, dass Tugendhat in seinem Unterkapitel Das Wahre als Maß nicht recht behält, wenn er die Auffassung vertritt, dass Heidegger zum Maß als Verhalten zum Sein (›ist‹) keine Unangemessenheit ausweise oder dies nur nachträglich vollziehe. Ernst Tugendhat. Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger. Berlin: De Gruyter, 1967, S. 374. Damit wird auch Tugendhats Vorwurf gegenüber dem Heideggerschen Wahr­ heitsverständnis problematisch – ja widersprüchlich, insofern er aufgrund eines ver­ meintlichen Fehlens einer Unangemessenheit zur Tagesordnung zurückkehrt, indem er Heideggers Wahrheitsverständnis schlichtweg als Beliebigkeit ausweist und am Ende wieder Wahrheit als Richtigkeit deutet. Vgl. ebd., S. 376. Da die »Unangemes­ senheit« als Terminus in Heideggers Denken lange vor SuZ hier nun in aller Deut­ lichkeit hervortritt, ist Tugendhats Schlussfolgerung, dass das Anmessen bei Heidegger »[…] kein negativ-kritisches Moment […]« enthalte, gegenstandslos, was in Konsequenz auch für sein Resümee gelten muss, was hauptsächlich an dieser These aufgehängt bleibt. Vgl. dazu auch die Kritik an Tugendhat durch Gethmann. C. F. Gethmann. »Heideggers Wahrheitskonzeptionen in seinen Marburger Vorlesungen. Zur Vorgeschichte von ›Sein und Zeit‹ (§ 44)«, in: Martin Heidegger. Innen- und Außenansichten, hrsg. v. Forum für Philosophie Bad Homburg, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 103. 424

425

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6. Zusammenfassung und Ausblick des Kapitels

gefasst.426 Und genau hier setzt Heidegger nach der Abgrenzung eines performativen Maßstabs an, um diese Ontologie zur Frage nach dem Sein des Lebens im Ausgang von der Selbstwelt zu transformieren. Aus einem Bedenken des performativen Maßstabs, was mit dem Fragen nach dem Seinssinn einhergeht, ergibt sich für Heidegger, von Brentanos Fingerzeig ausgehend, die Möglichkeit, die Bewegtheit der Mannigfaltigkeit des Seienden als Sein in Aristoteles‘ Physik hinsicht­ lich ihres Maßstabscharakters zu befragen. Hier fällt Heidegger wohl nun auch im Rückblick auf das Denken Brentanos, Husserls und Lasks auf, dass eine alternative Deutung des Seienden als Umgang und als Verhalten zu ermöglicht wird. Diese Interpretation scheint aber nach der Brentano-Lektüre auf der Grundlage eines zureichenden Wahrheitsverständnisses des Seienden infrage zu kommen, nämlich durch das ὂn ὡς ἀές.427 Die Frage nach der Wahrheit ist aber seit jeher schon die Frage nach der Logik. Die performative Maßstabsfrage muss also hinsichtlich der Frage ihrer Logik, nämlich das Sein als solches sichtbar zu machen und die bisherige Tendenz nur das Seiende sehen zu lassen, aufgeschlüsselt und erweitert werden. Die Frage nach dem Seinssinn wird mit dieser logischen Ausdeu­ tung noch um die Frage nach der Wahrheit des Seins erweitert. Es geht Heidegger darum, die formale Seite des performativen Maßstabs, im Gegensatz zum homogenisierenden, abstrahierenden, objektivie­ renden und mithin quantifizierenden Maß, abheben zu können. So kann er zeigen, wieso schnelle aussagekräftige Antworten gegenüber einem langanhaltenden besinnlichen Fragen und Denken übereilt sein könnten.

426 Vgl. Franz Brentano. Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles, unveränderter Nachdruck, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1960 (orig. 1862), Kap. I-IV. 427 GA 62, S. 393.

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III. Heideggers Auseinandersetzung mit dem Maßstab der Wahrheit des Seins

Es ist nun der Blick auf die logischen Bedingungen des performativen Maßstabs hinsichtlich der Besinnung auf das Sein und auf die Zeit in Martin Heideggers Denken zu werfen, die der heutigen philoso­ phischen Interpretation bezüglich Heideggers Kehre(n) in seinem Denken viel Kopfzerbrechen bereitet. Es wird weiterhin die Posi­ tion vertreten, dass Heideggers unterschwellige Auseinandersetzung mit der Maßstabsfrage, des Maßes und des Messens eine andere Sichtweise auf sein Denken ermöglicht. Diese Perspektive erlaubt der Heidegger-Forschung gewisse Wege und Irrwege Heideggers präziser einschätzen zu können. Dies gilt insbesondere für die frühe Auseinandersetzung Heideggers mit der Logik. Methodisch werden wir uns erneut der Hermeneutik Heideggers mit den drei Begriffsfel­ dern Rejektion, Projektion und Appropriation annähern. Wir werden versuchen differenziert darzustellen, wie sich Heidegger von der her­ kömmlichen abstrakten und formalen Logik ablöst und sich auf den Weg zu einem offenen Logikverständnis macht. Ebenso ist zu klären, warum er die Frage nach der Wahrheit in diesem Zuge neu aufwerfen wird. Es wird überdies zu zeigen sein, wie dieses Logikverständnis durch den performativen Maßstab der Sorge extrapoliert wird. Wie wir im vorherigen Kapitel verdeutlichen konnten, ist dieser dynamisch-performative Maßstab der Sorgetendenz des Daseins mit einer Welt verwoben, die es dem messenden Menschen in seiner Daseinsstruktur nahelegt, entweder elliptischen oder hyperbolischen Neigungsrichtungen als Modi dieser Sorge nachzugehen oder einen davon freien Maßstab zu besinnen, der das Sein dieses sorgenden Daseins selbst bedenklich werden lässt. Die logische Konstellation dieses Maßstabs, der nun auch das Problem der Wahrheit und Unwahrheit in die geschichtliche Sicht des Daseins rückt, lässt Heidegger einerseits die Seinsfrage ausfalten, andererseits das Sein des menschlichen Daseins in seiner Sorgetendenz qua Zeit verstehen. Wir behaupten, dass alle weiteren produktiven und auch problema­ tischen Überlegungen zu Sein und Zeit, alle Einsichten Heideggers

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III. Heideggers Auseinandersetzung mit dem Maßstab der Wahrheit des Seins

zur Wahrheit der Geschichte des Denkens, aber auch seine, aus heu­ tiger Sicht, haarsträubenden Irrgänge von dieser logischen Konstella­ tion des Maßes mitbestimmt sind. Diese logisch-ontologische bzw. aleithologische Seite des herausgearbeiteten performativen Maßstabs soll nun anhand der frühen Marburger Vorlesungen in ihrer grund­ sätzlichen Konfiguration aufgeschlüsselt werden. Diese Arbeitsphase Heideggers lässt sich in die drei oben genannten Begriffsfelder unter­ teilen, die hier nun einen episodischen Charakter einnehmen. Mit dieser Unterteilung wollen wir uns ein weiteres Mal der Maßstabs­ frage nähern. Die erste Episode hat, wie schon zuvor in den Freiburger Vorle­ sungen, erneut rejektiven Charakter. Heidegger bleibt somit auch hier seiner destruktiven Arbeit verbunden, indem er die zuvor gesichtete Sorge in ihrer Tendenz zur Vermessenheit und Uneigentlichkeit als Sorge um erkannte Erkenntnis enthüllt, deren Wurzel er in der Sicherheitstendenz verortet. Bei Aristoteles und Platon sieht er diese Sicherheitstendenz in der Sprache und in der Logik der Satzwahrheit und der Aussagenlogik fundamentiert. Es ist zu zeigen, wie Heidegger sich an der Homogenisierungstendenz als Anzeichen des herkömm­ lichen Maßstabs der Absicherung im Ausgang vom logischen Satz von Aristoteles über Thomas von Aquin und schließlich von Descartes bis zu Leibniz abarbeitet. Dabei ist zu prüfen, welche Charakteristika diesem Maßstab in seiner Genese von Heidegger zugewiesen werden. Die zweite Episode ist von projektiver Art: Heidegger ist der Auffassung, dass der Aussagesatz bei Aristoteles überdies noch eine tiefere Struktur in sich berge, die eine eigentliche Maßstabstendenz neben der bisher von ihm ausgewiesenen uneigentlichen ermögliche. Diese Maßstabstendenz kann ein Korrelat mit der Sorge bilden, insofern nun auch ihre sprachlich-logischen Grenzen in die Sicht gebracht werden. Dies erlaubt Heidegger in der letzten und dritten Episode eine Aneignung des Grenzbereichs der logisch-formalen Seite des perfor­ mativen Maßstabs der Sorge: Erstens soll der uneigentliche Grenzbe­ reich der abgewiesenen Absicherungstendenz deutlich herausgestellt werden. Zweitens kann dann auch ein Komplement des Grenzberei­ ches der für Heidegger eigentlichen, dynamischen und performativen Maßstabsorientierung in den Blick kommen. Dieser Grenzbereich weist auf die Zeit als den für Heidegger tatsächlich maßgeblichen Hori­ zont hinaus. Diese Zusammenhänge wollen wir uns in diesem Kapitel an diesen drei skizzierten Episoden bzw. Schritten vergegenwärtigen.

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1. Heideggers Abweisung des bisherigen Maßstabs der Wahrheit

1. Heideggers Abweisung des bisherigen Maßstabs der Wahrheit im Ausgang vom Aussagesatz Das Problem der Wahrheit ist seit ehedem das Problem des Maßstabs und dessen konstitutive Grenze. Deshalb muss Heidegger zunächst erinnern, wie die Grenze des bisherigen Maßstabs der Wahrheit gefasst wurde. Die Wahrheit der theoretischen Einstellung der eta­ blierten Wissenschaft, die bis zum heutigen Tage in Aussagesätzen artikuliert wird, hatte Heidegger bereits, wie wir in den letzten Kapi­ teln gesehen haben, mit der Homogenisierung, Abstraktion, Quan­ tifizierung und Mathematisierung der Lebenswelt assoziiert. Deren hyperbolisches Motiv zeichnete sich für Heidegger als vermessene Absicherungstendenz der Sorge in der Vorlesung Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles ab. Genau dieser Absicherungstendenz der Sorgestruktur geht Heidegger in seiner ersten Marburger Vorlesung hinsichtlich ihres Maßstabscharakters von Wahrheit auf den Grund. Er will diese Absicherungstendenz im Kontext der Wahrheit des Aussagesatzes von der Erkenntnisweise und der Logik her einordnen. Wie Heidegger in diesem gedanklichen Komplex die Fäden zusammenzieht, gilt es nun zu erläutern.

a) Sorge um erkannte Erkenntnis als Verfängnis in der Absicherungstendenz In den vorausgegangenen Kapiteln sahen wir, dass Heidegger Hus­ serl und auch die Neukantianer als Vertreter einer theoretischen Einstellung erkannt hatte. Wir erinnern uns: Heidegger wies die logische Grundoperation dieser Einstellung als Adäquation und Gel­ tung aus. In Einführung in die phänomenologische Forschung nimmt sich Heidegger das Motiv der homogenisierenden, abstrahierenden und schließlich mathematisierenden Tendenz der theoretischen Ein­ stellung erneut vor. Insbesondere Husserls Phänomenologie rückt dabei in ihrer Tendenz zum Maßstab der Adäquation in den Blick. Aus welcher Perspektive, so fragt Heidegger, wird bei Husserl die Angemessenheit als Adäquation gefordert? Es gehe Husserl darum, das Erkennen des Bewusstseins in die Sorge zu nehmen. Anders als zuvor, kann Heidegger den Maßstab der Adäquation, aber auch den neukantianischen Maßstab der Geltung hinsichtlich der gewonnenen

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III. Heideggers Auseinandersetzung mit dem Maßstab der Wahrheit des Seins

Sorgestruktur tiefgehender analysieren. Heideggers Frage lautet also: Wie wird das Erkennen des Bewusstseins durch die Ausbildung der Adäquation in Sorge genommen? Heidegger hat dazu eine vorläufige Annahme: »Jede Sorge hat ihre eigentümliche Art, das Erschlossene auszubilden. Das Ausgebil­ dete wird für die Sorge das, dem sie sich verschreibt. Dieses Sichver­ schreiben liegt im Sinne des Besorgtseins um etwas. Letztlich wird das, dem sich die Sorge verschreibt, etwas, in das die Sorge sich verliert«.428 Und genau dieses Verlieren geschehe in der Sorge um erkannte Erkenntnis. Was ist diese Sorge? Heidegger gibt eine recht detaillierte Erläuterung. Zunächst zeigt er, dass die Sorge um erkannte Erkenntnis in einem Muster verläuft, das »[…] im [B]esonderen der mathematischen Naturwissenschaft […]« entspricht.429 Diesem Muster der Sorge um Begründung und Beweis folge auch die Gel­ tungslehre der Neukantianer der Marburger Schule, die, während der Zeit, als Heidegger die Vorlesung abhält, durch Natorp vertreten wird. Handelt es sich bei Husserl um Erkenntnis als Bewusstsein von etwas, so ist das Erkennen der Erkenntnis bei den Marburger Neukan­ tianern wissenschaftstheoretisch und wissenschaftlich im Gelten von Normen fundiert. Sowohl der Phänomenologie als auch den Neukan­ tianern ginge es somit gleichermaßen um erkannte Erkenntnis. Die Sorge geht auf die erkannte Erkenntnis, weil Erkenntnis die Sicherung des Daseins und der Kultur übernehmen soll. Diese Sorge um erkannte Erkenntnis will in der phänomenologischen Forschung auf einen sachlichen Boden kommen, von dem aus die Begründbarkeit alles Wissens und des kulturellen Seins eine echte werden kann.430

Ohne noch einmal auf die Details des Maßverständnisses der Hus­ serlschen Phänomenologie eingehen zu müssen, zeigen wir, wie Heidegger diese Sorge um erkannte Erkenntnis charakterisiert: Ers­ tens als »allgemeine Verbindlichkeit«;431 zweitens als »Sicherung und Begründung einer absoluten Wissenschaftlichkeit«;432 drittens als »Reinigung« im Sinne einer »[…] Gewinnung einer absoluten Evidenz und Gewißheit.«433 In der Sorge um erkannte Erkenntnis geht es 428 429 430 431 432 433

GA 17, § 6a, S. 58. Ebd., § 6b, S. 59. Ebd., § 6, S. 60. Ebd., § 9, S. 71. Ebd., § 9, S. 72. Ebd.

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1. Heideggers Abweisung des bisherigen Maßstabs der Wahrheit

um die Frage der Absicherung. Diese Frage, so Heidegger, sei selbst fundamentiert in einer bestimmten Art zu antworten, die in sich selbst Sicherheit garantieren soll: im gültigen Satz. Die Antwort ist angestrebt als Satz und zwar als Satz derart, daß dieser antwortende Satz den Schatz gültiger Wahrheiten bereichert und för­ dert, als sogenanntes Resultat eingebaut und eingeordnet werden kann in einen Bereich objektiver Geltungseinheiten. Alle wissenschaftlichen Sätze […] sind Wahrheiten in diesem Sinne.434

Der objektiv geltende Satz ist demnach feststellende Sicherung. Heidegger diagnostiziert gleichwohl, dass das Fragen nicht nur auf gültige Sätze ausgerichtet werden kann. Nämlich genau dann, wenn beim Fragen die Antworten nicht dogmatisch im Satz festgehalten werden, sondern die Frage von der Sache selbst her weitere Fragen freigibt bzw. aufwirft.435 Wenn die Antwort verschwindet und damit gewissermaßen den Weg zum Seienden freimacht, bleibt es beim Fragen. Die Antwort schlägt ins Fragen zurück. In diesem Zurückschlagen dieses Fragens in immer neues Fragen konstituiert sich das, was wir Fraglichkeit nennen.436

Für Heidegger aber ist diese eigentliche Fraglichkeit eine, dem perfor­ mativen Maß entsprechende, Besinnung. Besinnung ist somit – anders formuliert – die rechte Sorge im Modus des Interrogativen, das fort­ laufend weitere Interrogative produziert. Aber wie kommt es dazu, dass diese Besinnung des bewegten Weiterfragens unterbrochen wird und früh in fixen Merksätzen, in sentenziös anmutenden Antworten abgesichert wird? Für Heidegger ist die Wurzel dieses Problems darin verortet, dass die Sorge um erkannte Erkenntnis hyperbolisch wird und in die »Sorge um absolute Verbindlichkeit« ausartet.437 Ihr Absolutheitsanspruch auf alle Teilbereiche des Lebens und schließlich der Wissenschaft bedeute, so Heidegger, eine Verfallenheit an diese Sorge:

Ebd., § 10, S. 75. Tilo Eilebrecht hat diesen sich eröffnenden Horizont, der sich an den Sachen selbst orientiert, als den Bereich des »Frag-würdigen« bei Heidegger ausgewiesen. Vgl. Tilo Eilebrecht, Durch Fragen ins Offene. Zur Charakteristik von Heideggers Denkwegen, Freiburg: Alber 2008, S. 30ff. 436 Ebd., S. 76. 437 Ebd., § 12, S. 83. 434 435

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III. Heideggers Auseinandersetzung mit dem Maßstab der Wahrheit des Seins

Es liegt im Sorgen dieser Art eine eigentümliche Unausdrücklichkeit, daß die Sorge an das, was sie besorgt, verfällt. Die Sorge hat als solche keine Zeit zu irgendwelcher Besinnung, ob das, womit sie sich beschäftigt, am Ende nicht durch sie selbst bestimmt ist […]. Es tritt ein, was wir als Verfallen an die Sorge kennenlernen.438

Die Tendenz des Verfallens, das haben wir in Heideggers Ausdeutung des hyperbolischen und elliptischen Sorgens und Besorgens in Kapitel II gesehen, ist eine Neigung des Vermessens.439 Das Vermessen qua Verfallen an die Sorge, die Heidegger im feststehenden Satz situiert sieht, habe drei Charakteristika, in der dieses Verfallen an die Sorge einen »Rückschein« auf sich selbst werfe. Erstens sichere sich die Sorge durch den »Vorwegbau« einer »programmatischen Systematik« ab. Im Programm, der »Vorschrift« also, werde alles Denken, jede Wissenschaft, die gesamte Geschichte etc. diesem unter- und einge­ ordnet. Heidegger nennt diese Sorgenahme in ein Programm das »Verfängnis«. Damit ist gemeint, »[…] daß die Sorge, sofern sie im besorgten aufgeht, gerade dadurch ist, was sie ist, daß sie sich in sich selbst verfängt. Durch dieses Sich-in-sich-selbst verfangen kommt die Sorge dazu, alles und jedes von hier aus zu bestimmen.«440 Das »Verfängnis« hat einen Charakter des Verstrickens. Es ver­ strickt sich zu einer gebündelten Struktur, indem es das Sorgen negierend um sich selbst zirkulieren lässt und alles andere ausschließt und abtrennt, was nicht mit dieser verfänglichen zirkulären Struktur kompatibel ist. Dazu gehört nach Heidegger auch das »Versäumnis« des Sinns qua Besinnung.441 Dieses Versäumnis geschehe gerade durch das »Verfängnis« in die Norm als Ermöglichung einer idealen Kultur­ gestaltung. Die Kultur, so Heidegger, soll qua Norm gesichert wer­ den. Die Normierung ist dabei aber nicht die Lösung des Problems, sondern dessen Anteil, insofern sie das Versäumnis dahingehend mitbestimmt, das Dasein selbst in seiner Verwobenheit zur Welt zu beleuchten: »In dieser Sorge um absolute Sicherung der Norm und zugleich um Ausbildung einer echten Gesetzlichkeit kommt es gar nicht zur Aufgabe der Betrachtung menschlichen Daseins selbst.«442

438 439 440 441 442

Ebd., § 12, S. 84. Vgl. Kapitel II.5c in dieser Untersuchung. GA 17, § 12, S. 85. Vgl. ebd., S. 85–86. Ebd., § 17, S. 90.

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1. Heideggers Abweisung des bisherigen Maßstabs der Wahrheit

Mit der bündelnden Normierung ist das Dasein der Absicherungsten­ denz gewissermaßen ins Netz gegangen.443 Das Debakel ist aber für Heidegger nun dies, dass die Kultur eigentlich als Pflege der Zivilisationstechniken vom menschlichen Dasein für das menschliche Dasein als Sinnstiftung generiert wurde. In der Verfängnis der Normierung wird aber gerade der Grund der vermeintlichen Absicherungsnot aus den Augen verloren und nihi­ listisch-nivellierend an der Norm qua Norm festgehalten. Ein Phä­ nomen, das auch fast einhundert Jahre nach Heideggers Marburger Vorlesung im sogenannten Netzzeitalter ein Grundproblem geblieben ist und das sich zudem zunehmend zu verschärfen scheint, insofern die hilflose Geste; sich an abstrakten Werten und Normen zu orien­ tieren; wie ein Wiedergänger die akademischen Institutionen der Philosophie neu infiltriert und in ihnen iteriert, ohne die tatsächlich existierenden kulturellen und ethischen Probleme je konkret in den Blick zu bringen, geschweige denn überhaupt ernsthaft anzugehen.444 443 Sebastian Gießmann macht in seiner kulturphilosophischen Darstellung einer Geschichte der Netze und Netzwerke darauf aufmerksam, dass das Netz nicht allein ein sichernder Anker für Produktivität, sondern auch ein Gefängnis für den Menschen unter der Macht der Normierung sein kann, d.h. ein »normatives Netz, das fängt […]«. In dieser »Janusköpfigkeit« steht für Gießmann auch die erweiterte Metapher für »Spinne und Netz«. Vgl. Sebastian Gießmann, Die Verbundenheit der Dinge. Eine Kul­ turgeschichte der Netze und Netzwerke, Berlin: Kadmos 2016, S. 107ff. In diesem Sinne ist auch Heideggers Wort von der »Verfängnis« zu verstehen. 444 Dieses Festhalten an der Norm qua Norm zeigt sich meines Erachtens insbeson­ dere an der Voranstellung der Wirtschaft als normativer Nomos für eine Weltgesell­ schaft im frühen 21. Jahrhundert. Der Maßstabscharakter der Normierung wird hier besonders deutlich, insofern er sämtliche Strukturen menschlichen Denkens, Han­ delns und Wirkens im privaten, wie im öffentlichen Leben unter sein Kommando, seine »Werte« und »Einschätzungen« stellt. Dies insbesondere dort, wo der zum ver­ meintlichen Primat geronnene Nomos die Norm des Besitzes als Konjunkturauf­ schwung ausgibt und so den eigentlichen Sinn des Wirtschaftens durch eben jene Norm der um jeden Preis zu erreichenden Konjunkturoptimierung verdeckt. Der Sinn der Sorge um das eigene Zuhause (οἰκος) und das Gewähren von dessen Nachhaltig­ keit durch Bewirtung als Vollzug der Wirtschaft wird dabei vergessen. Stattdessen wird per Norm qua Norm des Wirtschaftens dieses Zuhause als eigentlicher Grund allen Wirtschaftens verdampft. Die Absicherung des Ökonomischen wird ein sinnloser Selbstzweck, in welcher darüber hinaus auch der soziale Sinn des Wirtschaftens für Menschen nivelliert wird. Rainer Marten hat dies in seinem Buch zur Maßlosigkeit so ausgedrückt: »Der Mensch übereignet sich der Maß- und Grenzenlosigkeit des kapi­ talistischen Selbstzweckbetriebs. Gerät das Selbstische zu einem Absolutum, dann ist die gesellige Natur des Menschen, die in lebensteiligem Gelingen ihre gemeinschaft­ liche und gesellschaftliche Fruchtbarkeit beweist, von den Bestimmungsgründen des

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III. Heideggers Auseinandersetzung mit dem Maßstab der Wahrheit des Seins

Heidegger selbst sieht die Tragik des Versäumens eines sich perpetu­ ierenden, nichtigen Klammerns an Normen und deren vermeintlicher Werte schon damals in aller Deutlichkeit: »Das Versäumte ist das eigentliche Besorgte: menschliches Dasein.«445 Aber warum liegt das Verfängnis im Versäumen im Sinne einer sich selbst zum homogenen Bündel dehyphisierenden und degenerierenden Gewebestruktur des Daseins vor? Heidegger sieht die Wurzel erneut in der theoretischen Einstellung zur Welt – und zwar vor allem dort, wo sie sich artikuliert: im Satz.446 Warum also dieses Versäumnis in der Tat vorliegt, warum mit einer erstaunlichen Unbekümmertheit die Idee der Normierung diskutiert wird, das liegt daran, daß die Idee der Norm aus einem ganz isolier­ ten Blick geschöpft wird, der wiederum von der Sorge um erkannte Erkenntnis vorgegeben ist. Sie wird aus dem Tatbestand des theore­ tischen Urteils geschöpft. Ein theoretischer Satz wird angesprochen. Der angesprochene Satz ist die Unterlage der Betrachtung, derart, daß an ihm der Unterschied zwischen vorkommender Satzfällung und gültigem Satzsinn abgehoben wird.447 Handelns endgültig ausgeschlossen. […] Der Homo oeconomicus […] ist der perver­ tierte Homo socialis. Anstatt für menschliche Natur steht er für menschliche Unnatur.« Rainer Marten, Maßlosigkeit. Zur Notwendigkeit des Unnötigen, Freiburg: Alber 2009, S. 42–43. Sowohl Heidegger, als auch in speziellerer Hinsicht Marten, deuten jenseits oberflächlicher Bestandsaufnahmen auf die tieferen Voraussetzungen dieser Maß­ stabs-Problematik hin, vor denen auch die heutige akademische Philosophie nicht mehr die Augen verschließen kann. Dieses ist im Übrigen nur ein Beispiel von vielen anderen, in denen Heideggers Bedenken hinsichtlich des Maßes und der Maßstäbe Anstoß und Anreiz für das gegenwärtige Fragen in der Philosophie sein können. 445 GA 17, § 14, S. 91. 446 Auf die geschichtliche Genese der maßgebenden Differenzierungsmacht der Nor­ mierung, die freie Gewebe deformiert, macht Jörg Friedrich aufmerksam, insofern er diese Normierung als logisches Netz deutet: »Es besteht seit Langem schon die Nei­ gung, das Wissen über die Realität in ordentliche Strukturen von Netzen zu bringen. Spätestens mit der Entwicklung der exakten Wissenschaften in der Neuzeit ist dieses Modell zum grundlegenden Paradigma der Erkenntnis geworden. Wir zerschneiden das real vorgefundene Gewebe der Wirklichkeit, um eine wesentliche Ordnung der Dinge freizulegen, die wir dann als unser Wissen über die Realität bezeichnen […].« Jörg Friedrich, Kritik der vernetzten Vernunft. Philosophie für Netzbewohner, Hannover: Heise 2012, S. 33. In diesem Sinne kann mit einem gewissen Recht auch im Kontext von Heideggers Analysen zur theoretischen Einstellung von einer de-hyphisierenden Tendenz gesprochen werden, auf die er den Finger legt, insofern er sieht, dass qua Theorie ein Normierungsnetz aus Homogenität über das heterogene Gewebe des Daseins gelegt wird, dessen Charakter er nicht umsonst den Titel »Verfängnis« gibt. 447 Vgl. GA 17, § 12, S. 87.

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1. Heideggers Abweisung des bisherigen Maßstabs der Wahrheit

Die Scheuklappensicht der isolierenden Normierung lässt sich in seinem gültig gesprochenen Satz-Sinn als eine spezifische Weise von Homogenisierung wiedererkennen, die abstrakte, mithin quanti­ fizierbare Einheiten (z.B. als »Wert«) in Rechnung nimmt; denn mit abstrakten Einheiten, mit Maßstäben, die einer Normierung unter­ zogen worden sind, so wird stillschweigend vorausgesetzt, könne die Lebenswelt – zumindest partikulär – mathematisch kalkuliert werden. So ist es auch wenig verwunderlich, wenn Heidegger daran anschließend festhält: »Nicht nur hier, sondern in unserer ganzen Wissenschaftsgeschichte ist die mathematische Idee von Strenge unkri­ tisch als absolute Norm angesetzt worden.«448 In der mathematischen Idee von Strenge verliert sich die Sorge qua theoretischer Einstellung also erneut in sich selbst. Das Verfängnis lässt seine Netze enger werden. Anders als bisher ist für Heidegger aber nun die konstitutive Sprache dieser theoretischen Einstellung wichtig. Die Sprache der Theorie ist die Aussage in Sätzen, die eine eigene, in sich geschlossene Logik birgt.449 Das Verfängnis der Sorge hat also seine Wurzeln in der Logik und in der Sprache des Aussagesatzes. In ihr zeigt sich erst das Vermessende des performativen Maßstabs der Sorge als erkannte Erkenntnis. Um das Problem zum Sein qua Sorge zu sichten, kann es für Heidegger nicht mehr genügen, sich mit der Feststellung der Absicherungstendenz der erkannten Erkenntnis zufrieden zu geben. Es bedarf ihrer Logik gewahr zu werden, um aus ihr heraus einen neuen Ansatz zur Sorge um das Sein des Daseins zu besinnen. Dies versucht Heidegger unter Rückgriff auf die ersten umfassenden Ausarbeitungen zum Bau des Aussagesatzes und seiner Aufgaben bei Aristoteles und Platon.

Ebd., § 15, S. 103. Dass Logik gleich Satzwahrheit sei, manifestiert sich bei Heideggers Zeitgenossen Ludwig Wittgenstein, der 1918 in Wien seinen Tractatus vollständig in kurzen Aus­ sagesätzen abfasst, obschon auch Wittgenstein die Grenze einer immanent kohären­ ten Satzlogik in den Paragraphen 6.5.4 und 7 deutlich vor Augen standen. Auch bei Wittgenstein kann das Experiment des Tractatus so verstanden werden, dass er auf die Limitationen der Satzwahrheit aufmerksam machen wollte, die bestenfalls nur »Lei­ ter« sein kann, die es danach wegzuwerfen gelte. Vgl. Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung. Frankfurt am Main: Suhr­ kamp 2003, S. 111. 448

449

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III. Heideggers Auseinandersetzung mit dem Maßstab der Wahrheit des Seins

b) Das Problem der Satz- und Aussagewahrheit als Folge der Absicherungstendenz bei Aristoteles und Platon Das Wort »Satz« hat nicht nur im Deutschen, sondern auch im latei­ nischen Wort sententia und damit auch in den wichtigen latinisierten Sprachen Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch und anderen romanischen Sprachen einen juridischen, d.h. richterlich-setzenden Impetus. Im Satz wird ein Urteil gefällt. Es wird gerichtet und so richtend festgestellt. Etwas gilt als gesetzt und ist somit das Richtige; das Gesagte wird »Gesetz«. Auf Griechisch heißt das Wort „έiς« soviel wie »Setzung«. Sinngemäß geht Heidegger von diesem Zusammenhang aus. Er fragt sich: Was bedeutet es für das Denken und des mit ihm einhergehenden Wahrheitsverständnisses, wenn Aussagen in Sätzen einen Maßstab der Festsetzung erfahren? Ist ein solches Festsetzen, Feststellen nicht ein übermäßiges Absichern des Gedachten und Gesagten? Zeigt sich vielleicht gerade in der Satzwahrheit die Absi­ cherungstendenz als solche am Prominentesten? In den Marburger Vorlesungen versucht Heidegger sich zunehmend dem Problem der Satz- und Aussagewahrheit auf der Grundlage dieser Fragen anzunä­ hern. Dazu schaut er sich insbesondere die Werke Aristoteles‘ und Platons als Gründungsväter der klassischen Philosophie an. Er will wissen, wie die Satzlogik der Aussagewahrheit bei beiden Denkern als Absicherungstendenz zu verstehen ist. Diese Fragen überprüft Heidegger bereits zwischen 1923 und 1924 in Einführung in die phänomenologische Forschung und dann ein Jahr darauf in seiner umfassenden Vorlesung zu Platons Dialog Sophistes. Schließlich faltet Heidegger diesen Fragekomplex in seiner Vorlesung zur Logik von 1925 und 1926 noch weiter aus. Für Heidegger ist klar: Bei den Vorsokratikern und bei den Sophisten gibt es verschiedene mögliche Formen von Logik, d.h. ver­ schiedene Verhältnisse zur Wahrheit, »mehrere όi“.450 Die Reduk­ tion auf die Aussage- und Satzwahrheit erweist sich für Heidegger als ein durchaus komplexes Problem, insofern deutlich wird, was für eine Vielzahl sprachlicher Formen und Wendungen von dieser Wahrheit 450 Vgl. GA 17, § 2, S. 36; Dunshirn hat diese Polysemantik der Logoi bei den Vor­ sokratikern im Übergang zu Sokrates und Platon untersucht. Vgl. Alfred Dunshirn, Logos bei Platon als Spiel und Ereignis, Würzburg: Königshausen & Neumann 2010, S. 12–13; S. 13ff.

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1. Heideggers Abweisung des bisherigen Maßstabs der Wahrheit

ausgeschlossen bleiben. Statt Wünsche, Fragen und Bitten zu analy­ sieren, konzentriert sich etwa Aristoteles allein auf die aufzeigende Rede (ός ἀniός) als Darlegung des Theoretischen, was wir heutzutage gewohnheitsmäßig als Aussage übersetzen.451 So kann Heidegger schließlich zu folgender Überlegung kommen: Logik hat nach der Tradition zum Thema: Begriffe, Urteile, Schlüsse. Sie sind etwas Bedeutungsmäßiges, welches mit dem sprachlichen Ausdruck im Zusammenhang steht, der nicht etwas Zufälliges ist. Denn alles Denken und Erkennen, alle theoretische Forschung schlägt sich in ›Aussagen‹ nieder. Das Interesse also an der Erforschung der Logik ist auf das theoretische Denken gerichtet. Eine bestimmte Art des Denkens ist vorgezogen und im Grunde ausschließliches Thema.452

Die Voranstellung des Theoretischen allerdings war für Heidegger schon in den frühen Freiburger Vorlesungen an eine ganz bestimmte sorgende Ausrichtung im Leben und damit am Sein des Menschen orientiert; dies erkennt er auch hier wieder: Die Sorge gehe auf die erkannte Erkenntnis, weil die Erkenntnis die Sicherung des Daseins und der Kultur übernehmen solle. Demnach ist für Heidegger die Aussagenlogik eine Weise der Absicherung qua theoretischer Festset­ zung. Diese Art des Festsetzens im Satz gibt es demnach schon seit Platon und Aristoteles. So heißt es in der Marburger Platon-Vorle­ sung: Sofern nämlich die Lehre vom ός bei den Griechen letztlich in einem theoretischen Sinne ausgebildet wurde, war das primäre Phänomen des ός der Satz, die theoretische Aussage über etwas. Sofern der ός primär von daher bestimmt wird, ist die ganze künftige Logik, wie sie sich in der abendländischen Philosophie entwickelt hat, Satzlogik geworden. Was man dann weiter an Versuchen, die Logik zu reformie­ ren, ausgearbeitet hat, ist immer an der Satzlogik orientiert und muß als Modifikation dieser aufgefaßt werden.453

Heideggers Schwierigkeit mit der Aussagenlogik ist nicht, dass diese irgendwie »falsch« oder inkorrekt sei – nein, vielmehr hat er schlicht ein Problem mit ihrer monothematischen Maßgabe des ός, von der alle weiteren Maßnahmen in der Sicherung von Erkenntnis, 451 Vgl. Arist. De int., 17a 1–7. Aristoteles selbst schreibt dort: »Das Aufzeigen (von diesem) ist jetzt die Schau.« (»ὁ ὲ ἀniὸς ῆς nῦn ίς«). 452 GA 17, § 50, S. 53. 453 GA 19, § 38, S. 252–253.

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III. Heideggers Auseinandersetzung mit dem Maßstab der Wahrheit des Seins

überhaupt in der Sicherung als Wahrheit münden. »Die Erkenntnis­ wahrheit erhielt einen universalen Vorrang; soweit dann andere Ausprägungen von Wahrheit in das Blickfeld der Reflexion traten, wurden sie an der Erkenntniswahrheit gemessen, als Ableitungen und Modifikationen dieser verstanden […]«, wie es Heidegger später in der Logik-Vorlesung von 1925/1926 sagen wird.454 Selbst die Wissenschaft von der Sprache, die Sprachphilosophie und sogar die Grammatik seien alle an Aristoteles‘ Ausführungen von ῥῆ und ὄn, Zeitwort (Verb) und Namenwort (Nomen) und deren Koppelung (uή) gebunden, wie es von Aristoteles im Liber de interpretatione ( ) erläutert wird.455 Heidegger sieht diese Maßstabsorientierung auch schon in Platons ός-Ver­ ständnis vorliegen. Platon fasse den ός dabei als Durchsprechen (iέϑi) – und zwar aufgrund der möglichen Verdrehung durch schriftliche Niederkunft – als Weg zur Einsicht (unwή). Der ός als wahre Meinung bei Platon sei laut Heidegger die »[…] rechte Verfassung zu den Sachen selbst, aber zugleich auch die rechte Begrenzung. Also kein Übermaß, daß wiederum in die eigentliche Unwissenheit und Unbildung umschlagen könnte.«456 Dafür muss die Verbindung, die auch hier den Satz qua ῥῆ und ὄn bildet, als Rede und Gegenrede, als Seiendes und Nichtseiendes, ὀn und ὴ ὀn möglich sein, wie Heidegger später auch anführt.457 Die Verbindung von Satz und »Gegen-Satz«, Seiendes und Nichtseiendes, läuft bei Platon ebenso auf eine logische Vereinheitli­ chung hinaus. Bei Platon heißen diese ἑn (das Eine) und inwnί (das Gemeinsame).458 Auch hier gibt es eine Zusammenfassung, nämlich als Benennung von Gebildemannigfaltigkeiten zu Namen (ὄn), die dann qua Zeitwort (ῥῆ) in Handlung umgesetzt werden.459 Dies verweist ebenso auf den Satz, obschon Heidegger bei Platon das Motiv des Offenbarmachens (ῦn) hier ebenso ermöglicht sieht, wie bei Aristoteles im ός ἀniός. Die Wegrichtung für Heideggers Interpretation ist auch hier fraglich: Wie steht es um die Wahrheit als Angemessenheit der Übereinstimmung von Benennung und Sache im Satz? Wo manifestiert sich diese Art 454 455 456 457 458 459

GA 21, § 2, S. 11. Vgl. Arist. De int. 16a, 1–18; vgl. GA 17, § 2, S. 16. Vgl. GA 19, S. 329ff; ebd., § 54, S. 348. Ebd., § 73, S. 507. Vgl. ebd. § 79, S. 577. Vgl. ebd., S. 584–585; § 73c, S. 508.

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von Anmessung als Angleichung? Und was sind dann die Folgen für die Metaphysik und die Geschichte der Philosophie? In der Fixierung auf die Satzlogik sieht Heidegger den Verfall des Denkens und die Auswüchse »[…] einer Schullogik des sachfremden leeren Argumentierens, zur Rabulistik.«460 Das Denken verschwin­ det in der spitzfindigen Kombinatorik der formalen Satzlogik. In der Fixierung sichert sich das Denken vor anderen Möglichkeiten ab und verbaut sich damit den Weg im Gleichmachen, im Homogenisieren. Doch wo liegt die Wurzel der Homogenisierung als Absicherungsten­ denz?

c) Die Absicherungs- und Täuschungstendenz im homogenisierenden Maßstab bei den Griechen Heideggers Zeitgenosse Ludwig Wittgenstein kann in der frühen Phase seines Denkens als einer der extremsten Vertreter der Homoge­ nisierung der Satz- und Aussagenlogik verstanden werden, insofern er 1918 in seinem Tractatus schreibt: »Der Satz ist ein Bild der Wirklichkeit.«461 Und er fügt hinzu: »Die Wirklichkeit muß durch den Satz auf ja oder nein fixiert sein.«462 Denn: »Das Bild ist so mit der Wirklichkeit verknüpft; es reicht bis zu ihr. Es ist wie ein Maßstab an die Wirklichkeit angelegt. Nur die äußersten Punkte der Teilstriche berühren den zu messenden Gegenstand.«463 Die Homogenisierung von Gegenstand und logischem Satz werden qua Repräsentation im Bild ins Maßlose gesteigert. Doch damit nicht genug: »Am Satz muß gerade so viel unterschieden sein, als an der Sachlage, die er darstellt. Die beiden müssen die gleiche logische (mathematische) Mannigfal­ tigkeit besitzen.«464 Wittgensteins Tractatus steht somit einerseits exemplarisch für das Extrem der Homogenisierungstendenz im frü­ hen 20. Jahrhundert, zugleich zeichnet sich aber andererseits in derselben Schrift Wittgensteins die Krise der klassischen Logik und ihrer expliziten modernen Ausformung durch Russell, Lotze und GA 21, § 3, S. 15. Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt am Main: Suhr­ kamp 2003 (orig. 1922), 4.021, S. 32. 462 Ebd., 4.023, S. 33. 463 Ebd., 2.1511 – 2.15121, S. 15. 464 Ebd., 4.04, S. 24. 460

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Frege ab. Dies geschieht in etwa zur selben Zeit als Heidegger die herkömmliche Logik der Aussage einer kritischen Prüfung unterzieht. Während Wittgenstein die Logik des Satzes ins Äußerste treibt, nur um am Ende des Tractatus die Fraglichkeit der homogenen Satzwahrheit bezüglich der menschlichen sinnstiftenden Begrenzung anhand der Tautologie aufzuwerfen, geht der Heidegger der Marbur­ ger Zeit noch radikaler vor: Er spricht das Motiv für die Homogeni­ sierung selbst an. Dieses Motiv ist für Heidegger die Absicherungs­ tendenz. Anders als der analytisch arbeitende Wittgenstein nähert sich Heidegger direkt der Quelle, in der seines Erachtens Homogeni­ sierung und Absicherungstendenz früh und prominent korrelieren: bei Aristoteles. Heidegger bemerkt, dass bei Aristoteles das Sein der Welt durch das Sprechen und Besprechen der Aussagesätze bestimmt ist. Hier findet auch eine primäre Homogenisierung statt. »Das Sein der Welt ist im Sprechen als Daseiendes da, aufgezeigt von Grund aus, an ihm selbst ergriffen. Im Aussagen gibt sich sein eigentliches Dasein.«465 Bereits bei Aristoteles also ist die Homogenisierung latent, indem qua Sprache einer Sache ein ός, d.h. dessen sprachliche Dar­ legung, zugewiesen wird. »Die wahre Darlegung ist niemals Ursache dafür, daß der Sachverhalt ist, der Sachverhalt allerdings zeigt sich als Ursache dafür, daß die Darlegung wahr sei.«466 Heidegger zeigt, dass diese Zuweisung von Platon inspiriert ist, denn: »Fundamental wird hier die Korrelation von ός und ἶς: ἶς ist das Aussehen, d.h. für die Griechen sein Sichausnehmen gleich ›es ist so‹. Als ός wird charakteristisch auch das Angesprochene als solches bezeichnet, und bei Aristoteles werden ἶς und ός miteinander vertauscht.«467 Dieses Vertauschen als Zusammenstellen und Trennen (ύniς und iίiς) sieht Heidegger bei Aristoteles durch das Betrachten (ἴϑiς) vermittelt: »In der Mitte ist dieses einheitliche Vernehmen da (ῇ όi).«468 Das Maß der Mitte ist bei Aristoteles also die augenscheinliche Anschauung, die durch den ός besprochen GA 17, § 2, S. 35. Vgl. Arist. Kat. 14b, 18–20. »ἔi ὲ ὁ ὲn ἀὴς ός ὐῶς ἴiς ῦ ἶni ὸ ᾶ ὸ έni ᾶ ίnί wς ἴin ῦ ἴni ἀῆ ὸn όn.« Ich habe meine eigene Übersetzung orientiert an: Aristoteles, Kategorien, hrsg. u. übers. v. Ingo W. Rath. Stuttgart: Reclam 1998. 467 GA 17, § 1, S. 24. »Aussehen« wird dann in den Kategorien des Aristoteles als Ding (ᾶ) interpretiert. 468 Ebd., § 2, S. 41. 465

466

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1. Heideggers Abweisung des bisherigen Maßstabs der Wahrheit

werden kann; umgekehrt stiftet das ἶς die Möglichkeit des Verneh­ mens, weil es besprochen und in όi, also Darlegungen, differenziert werden kann. Bereits hier gibt es laut Heidegger ein »Vertauschen«, eine gegenseitige Angleichung zueinander, weil das Maß aus der Mitte (ής) diesem aneinander angleichenden Tauschen selbst entnommen wird. Die Bedeutung der Angleichung bzw. der Homogenisierung aus dem Horizont der aristotelischen Philosophie wird von Heidegger noch deutlicher in den Vorlesungen zu Platons Sophistes und in der Marburger Logik-Vorlesung von 1925/1926 herausgestellt; nämlich in Abgrenzung von der sophistischen Erziehung her, […] jeweils an die Sache, von der gesprochen wird, sich anzumessen […]« bzw. »[…] von der Sache jeweils angemessen zu sprechen.«469 In der Sophis­ tes-Vorlesung zeigt Heidegger, dass die Strukturen des ὁiῦn, d.h. der Angleichung als Anmessung, jedoch ein Motiv der Täuschung in sich bergen. In einer Interpretation des platonischen Phaidros zeigt Heidegger, dass es sich um ein besorgendes Zumessen handelt, das tatsächlich der Rhetorik der Sophistik entstammt und von der auch Aristoteles abhängt. ὁiῦn heißt zunächst: ›angleichen‹ etwas an etwas. Der Redner ist imstande, wenn er die Sachkenntnis hat über Dinge, über die er spricht, jegliches jedem von dem, was so etwas zuläßt, anzugleichen. […] ὁiῦn bedeutet also: über etwas anderes, das es gerade nicht ist, als was es aber angesehen werden soll. […] Wenn wir uns ein Beispiel aus der Gerichtsrede machen: Ein Attentat, das verteidigt werden soll, kann ein Verteidiger, obzwar er im Grunde weiß, daß es ein bezahlter Mord ist, als Heldentat darstellen.470

Damit fällt das Anmessen als Angleichen, d.h. das, was später adae­ quare heißen wird, unter das Verdikt der Täuschung, die auf der Sprachtechnik der Rhetorik beruht. Dies ist genau dann der Fall, sobald etwas anders ausgelegt wird, als was es tatsächlich ist, indem das voneinander Verschiedene, das Bezeichnete und das Bezeich­ nende, aneinander angeglichen werden. Salopp formuliert handelt es sich für Heidegger bei dem Angleichen um einen technischen Kunstgriff, um ein Entziehen der Echtheit, eine List, die der Faktizität, die Tatsächlichkeit ihrer Wahrheit beraubt. Im Klartext: die Wahrheit wird durch das gekünstelte Angleichen austauschbar, d.h. zur mög­ 469 470

GA 19, § 31, S. 217. Ebd., § 53, S. 326.

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III. Heideggers Auseinandersetzung mit dem Maßstab der Wahrheit des Seins

lichen Täuschung, obschon die Differenz des Angeglichenen zum Anzugleichenden irreduzibel latent bleibt. Zum ὁiῦn als nή der Rhetorik führt Heidegger zu sei­ ner Deutung folgende Überlegung an: »Das ist der phänomenale Charakter einer Ansicht von etwas: so aussehen wie. Das Was ist dabei gerade für denjenigen, der die Ansicht haben soll, verdeckt haben soll, verdeckt und unbekannt; er hängt und bleibt hängen am Aussehen selbst.« 471 Dem ὁiῦn kann sich nur der entziehen, der den Betrug aufdeckt, Detektivarbeit leistet und ihn als trügerischen Schein entlarvt. »Er kann, wenn der andere mit dem ὁiῦn so verfährt, also eine Ansicht ausbildet, die der Sachlage nicht entspricht, ihm auf die Schliche kommen und ans Tageslicht bringen, daß er nicht über die Sache selbst spricht, sondern sie gerade verbirgt und ver­ deckt.«472 Täuschen kann nach Heidegger hingegen nur der, welcher Gleichmacherei durch das Austauschen der jeweiligen Operatoren betreibt, wenn er über ihre tatsächliche Differenz zueinander zwar Sachkenntnis hat und sie somit selbst differenzieren könnte, es aber unterlässt und stattdessen mit der Simulation der Äquivalenz der Operatoren den Adressaten um die Wahrheit betrügt. Damit wird die Wahrheit bewusst vermessen. Der Philosoph, der die Wahrheit durch die Homogenisierung so vermisst, wird somit als sophistischer Täuscher, Blender und als philosophischer Scharlatan entlarvt. Den wahren Sachverhalt ermessen wiederum kann auch nur jener, der ein solches vermessenes und vermessendes Angleichen aufdeckt, insofern er über eine vorausgegangene Kenntnisnahme, Ahnung etc. verfügt. Dies ist jener, der nicht »[…] den öffentlichen Meinungen nachjagt […]«, sondern der über ini, ergo dem rechten gedanklichen Durchblick verfügt.473 Wo die »Grenzen inein­ anderlaufen«, die Maßstäbe nicht konkret erfasst werden, da herrscht nach Heidegger das Angleichen vor.474 Demnach ist das Angleichen (ὁiῦn) möglicherweise auch eine gefährliche Maßlosigkeit, wenn sie im Extrem der Täuschung der Massen auftritt, die sich aufgrund des Mangels an Differenzierungsfähigkeit, fehlendem Durchblick und aufgrund von Orientierungslosigkeit erst entfalten kann.

471 472 473 474

GA 19, § 53, S. 326. Ebd., § 53, S. 327. Vgl. ebd., § 53, S. 328. Vgl. ebd.

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1. Heideggers Abweisung des bisherigen Maßstabs der Wahrheit

Fassen wir kurz zusammen: Das aristotelische »Tauschen« von Ansicht und Darlegung (ἶς und ός) kann deshalb in oben benannter geschichtlicher Abhängigkeit auch ein »Täuschen« wer­ den, wie Heidegger bemerkt. In der Verbindung (ύniς) von der Ansicht (ἶς) und der Darlegung (ός) sowie ihr Anglei­ chen aneinander (ὁiῦn) kann sich aus Heideggers Blickwinkel ebenso eine Verdeckungstendenz qua Täuschung in der Philosophie durchsetzen. Im Mittelalter verschärft sich dies bei dem AristotelesExegeten Thomas von Aquin als adaequatio rei et intellectus und in der Verfestigung der Logik von Subjekt, Kopula und Prädikat. Dies geschieht ironischer Weise in Thomas‘ echter und aufrichtiger Suche nach Wahrheit: veritas est adaequatio rei et intellectus.475 Es ist demnach für Heidegger zu beleuchten, wie dieses Maßnehmen qua Angleichung (adaequare) in der Neuzeit, namentlich von Descartes, aufgenommen und noch einmal als extreme Möglichkeit, alle Maße durch die gleichförmige und quantitative Messung in Geometrie und Arithmetik reziprok zueinander zu repräsentieren, interpretiert wird. Dies soll im nächsten Abschnitt gezeigt werden. Ist die Genese dieses Verhalts, die Heidegger im ὁiῦn sichtbar macht, klar geworden, wird auch allmählich deutlich, warum sich Heidegger gerade der Seins-Interpretation der Metaphysik besinnen will. Was ist, wenn das ὁiῦn und das adaequare dafür sorgen, dass wir uns im Sein täuschen, es nicht mehr besinnend erhellen, sondern im Gleichmachen verdecken, indem wir das Sein dem Seienden angleichen, es verallgemeinern, es damit verdinglichen und uns so am Sein selbst vermessen? Die Detektivarbeit gegen die Gleichmache­ rei, jenes Motiv der Homogenisierung, das Heidegger, wie wir im ersten Kapitel dieser Untersuchung zeigen konnten, bereits in seinen frühesten Anfängen beschäftigt, wird auch in der Sophistes-Vorlesung explizit zur Besinnung auf das Sein bezogen – und zwar als Abhebung vom besorgenden Messen des ὁiῦn und des adaequare.476 Das Problem der Homogenisierung wird auch in der Logik-Vor­ lesung ein Jahr später sichtbar, wenn Heidegger das Resultat dieser Entwicklung in der Philosophie im zeitgenössischen Psychologismus wiederentdeckt. Hier gehe es beim Angleichen nämlich nur um die Sicherung der Regeln und Gesetze im Denken.477 Und diese »[…] 475 476 477

Vgl. Thomas von Aquin, De veritate, q. 1 a. 1 co. Vgl GA 19, § 8, S. 48–56. Vgl. GA 21, § 6, S. 39.

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III. Heideggers Auseinandersetzung mit dem Maßstab der Wahrheit des Seins

Gesetzlichkeit des Denkens und damit seine Gültigkeit werden also auf die Gleichförmigkeit des Bestandes unserer Natur und Art zu denken zurückgeführt.«478 Und dies bestätigt Heidegger in der Aus­ einandersetzung mit der Falschheit des ός, der Rolle des ὁiῦn und des ὁiώ bei Aristoteles: »Und ὁiώ besagt das Angeglichene, was ὁίwς ἔi, was als Begegnendes so ist wie das Seiende selbst; es verhält sich ebenso, nämlich das Vernehmen wie das zu Vernehmende, das Vernommene des Vernehmens; es gibt das Sei­ ende selbst. […]«479 Das ὁiῦn hat somit auch hier synthetischen Charakter, insofern das Seiende im Angleichen abgesichert wird. Auch Heidegger verweist an dieser Stelle darauf, dass in der Neuzeit, aber auch schon tendenziell bei Aristoteles, der Begriff der ύniς so verwendet wurde, dass sich hinter ihm das ὁiῦn verberge, was die eben angeführten Überlegungen bestätigen dürften.480 Dies wird Heidegger in der Analyse des neuzeitlichen Denkens, insbesondere bei Descartes und bei Leibniz deutlich. Hier bestätigt sich für Heidegger exemplarisch der Verdacht über die Absicherungs­ tendenz als Sorge um erkannte Erkenntnis. Heideggers nächste Ziele sind in den Marburger Vorlesungen von der Sache her nun folglich diese: Er muss erstens rejektiv zeigen, wie sich das besorgende Messen des ὁiῦn und adaequare seit Platon und Aristoteles als Sicherungs­ tendenz zunehmend verschärft und die Offenheit des Denkens ins Kleinkarierte einer extremen Angleichungstendenz gerät.

d) Die Anmessung als Adäquation bei Thomas von Aquin Aufgrund obiger Ausführungen dürfen wir nun die auf den ersten Blick steil anmutende Behauptung bestätigen und als erwiesen anse­ hen, dass Heideggers eigentliches Ansinnen, die Seinsfrage aufzu­ werfen, aus einer Kritik der Homogenisierungstendenz seiner Zeit erwachsen ist. Der frühe Heidegger hält nun gegen diesen Maßst­ abscharakter der Angleichung, der seit der Sophistes-Vorlesung für ihn auch die Verengung auf ein verflachendes, rechnendes Denken bestimmt, die Besinnung entgegen.481 Es ist kein Zufall, dass gerade 478 479 480 481

Ebd., § 6, S. 40–41. Ebd., § 13, S. 167. Vgl. ebd., § 13, S. 168. GA 19, § 15, S. 100ff.

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1. Heideggers Abweisung des bisherigen Maßstabs der Wahrheit

in der Auseinandersetzung mit dem Maßstab der Adäquation die Seinsfrage zugespitzt wird und deren Motto bezüglich des Seins heißen könnte: Berechnung oder Besinnung? In den folgenden Überlegungen ist sichtbar zu machen, dass ein Homogenisieren qua Adäquation im Hochmittelalter für Heidegger das Einhergehen von Abstraktion, Quantifizierung und Mathemati­ sierung bedeutet. Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusam­ menhang Heideggers Vorlesung Geschichte der Philosophie von Thomas von Aquin bis Kant. Sein Versuch besteht darin, in dieser Vorlesung zu zeigen, wie in der Verfestigung der Homogenisierung im mathematischen Maßstab, die Seinsfrage auf das Seiende redu­ ziert wird. Heidegger akzentuiert das Problem schon in der Einleitung der Vorlesung: Sein ist auf Seiendes durch die geschichtlich gewachsene Homogenisierungstendenz reduziert, die die Welt vornehmlich quan­ titativ interpretiert: »[…] das Sein – ὂn ᾗ ὄn, ens inquantum ens. Nur am Seienden orientiert.«482 Das Prinzip der Quantifizierung und Abstraktion, das zur einseitigen Orientierung am Seienden führt, ist für Heidegger das Prinzip des Bezugs des Gleichen auf Gleiches: »Raum, Zeit, Geschwindigkeit, Größe, Zahl, Masse, Materie. Quali­ tativ Verschiedenes; homogen. Wenn Verfahren gefunden dadurch Maßzahl der neuen ›Größe‹ auf andere beziehbar.«483 Für Heidegger geht mit dieser Stabilisierung der Egalität, in der alles mit allem in Rechnung gestellt werden kann, eine Verdinglichung des Seins einher. Das Seiende wird bezüglich des Seins nicht mehr nüchtern als Phänomen interpretiert, sondern unter das Maß des Quantums gestellt, wobei selbst das Seiende noch einmal als Seiendes auf die Zahl reduziert wird. In Heideggers eigenen Worten: »Die Phänomene nicht an sich selbst, sondern in der neuen Hinsicht ihrer möglichen Quantifizierung und quantitativer Vergleichung, was die Grundlage des Menschen ist. Raum und Zeit – qualitativ total verschieden und doch beide zahlenmäßig – bestimmbar und die Zeit auf Weg über räumlich-zeitliche Beziehungen.«484 Für Heidegger ergibt sich aus diesem Umschlag zu austauschba­ ren, abstrakten Zahlen und Werten auch die Verfestigungstendenz »[…] verbindliche[r] Sätze […], denen alle Vernunfterkenntnis anzu­ 482 483 484

GA 23, § 1, S. 3. Ebd., § 3, S. 11. Ebd., § 3, S. 11–12.

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gleichen ist.«485 Diese wiederum führe dann zur Entfaltung des analytischen Begriffs der Algebra, der Koordinaten und Koordina­ tensysteme; »[…] diese als Zahlen xyz. Grundlage der Meßbarkeit des physischen Seins.«486 Die Genese dieser Homogenisierungsge­ schichte liest Heidegger insbesondere bei Thomas von Aquin und Descartes ab, nur um darin die Heraufkunft der Zeichen seiner eigenen Zeit bestätigt zu sehen: »Wissenschaftliche Entdeckung der Natur, ihre exakte, d.h. mathematische Erkenntnis. Mathema­ tik – ihre Strenge Ideal der Wissenschaften überhaupt, ihr die Wissenschaftlichkeit der Philosophie anzugleichen.«487 Es ist nicht schwer abzuleiten, welche zeitgenössischen Denker Heidegger bei der Methode der Angleichung im Sinne eines mathematischen Ideals der Strenge im Blick hat: seinen Lehrer Edmund Husserl und die Neukan­ tianer.488 Es ist nun in Grundzügen zu zeigen, wie Heidegger die vermutete geschichtliche Symptomatik eines Denkens des Homogenisierens im Maße der Angleichung bei Thomas und Descartes sichtbar macht. Bei Thomas von Aquin findet Heidegger die Homogenisierung im Satz veritas adaequatio est intellectus et res. Auch hier ist die Angleichung schon im höchsten Seienden präsent: in der höchsten Adäquation bei Gott. Johannes B. Lotz hat gezeigt, dass es eine gewisse Nähe zwischen Heideggers Offenheit, der Sprachlosigkeit und dem Nicht-Wissen der negativen Theologie des Thomas von Aquin gibt.489 Lotz hat in seinem Buch versucht, Thomas von Aquin als schärferen Denker im Vergleich zu Heidegger auszuweisen, der zwar das Problem der zeitlichen Endlichkeit des Daseins, nicht aber die unendliche, »[…] absolute Fülle […]« jenseits des Zeitgeschehens gesehen habe, so wie Thomas.490 Die Sicht von Lotz erweist sich schon auf dem ersten Blick als anachronistisch, zumal er Heideggers Kritik am thomistischen Logik-Verständnis aus dem Blickwinkel des frühen 20. Jahrhunderts völlig zu ignorieren scheint, in der eine Vermittlung zu Gott über eine Logik der Kopula, wie bei Thomas, angesichts der sichtbaren Fragmentierung sämtlicher Bereiche von Wissenschaft, Ebd., § 3, S. 13. Ebd., S. 12. 487 Ebd., S. 14. 488 Vgl. Kapitel I.1b in dieser Arbeit. 489 Vgl. Johannes B. Lotz, Martin Heidegger und Thomas von Aquin. Mensch – Zeit – Sein, Pfullingen: Neske 1975, S. 50ff. 490 Vgl. Ebd., S. 58. 485

486

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Technik und Lebenswelt nicht ohne Weiteres mehr möglich ist. Erst am Horizont einer formal-funktional- und mengenlogischen Sicht mit einem homogenisierenden Impetus auf alle Lebensbereiche wird der kritische Zugang Heideggers zum Adäquationsbegriff des Thomas von Aquin verständlich und möglich. Von hier aus kann Heidegger dann die Hervorhebung der Maßgabe der Zeit etablieren, wie wir noch sehen werden.491 Wie gestaltet sich die Auseinander­ setzung Heideggers mit Thomas von Aquin tatsächlich? Im dreizehnten Paragraphen zum Sinn der veritas als adaequatio zeigt Heidegger in seiner Marburger Vorlesung zur Logik der Neuzeit, wie die Angleichung zu denken ist, nämlich als Deckung zwischen Vernehmbarkeit und Zugänglichkeit: »Diese primäre Angeglichen­ heit, d.h. die Entdecktheit, ist der ontologische Sinn der veritas. Adae­ quatio rei et intellectus.«492 Heidegger weist daraufhin, dass es sich beim Angleichen um eine Weise des Messens handle, die von Gott aus ihren Anfang nehme und sich über die Schöpfung erstrecke: »qua mensurata ab intellectus divino = creata.«493 Diese Schöpfung (creata) ist als »Maß« dann zugleich auch die Richtigkeit (rectitudo).494 Das Entscheidende ist für Heidegger, dass diese Richtigkeit im Sinne von Wahrsein gegenüber einem Falschsein als Angleichung unter dem Verdikt der Homogenisierung steht, was in vielen Untersuchungen zu Heidegger zwar gesehen, aber meines Erachtens nicht stark genug akzentuiert wird.495 Er selbst sagt es in aller Deutlichkeit: »Diese rectitudo ist die adaequatio […].«496 Heidegger bemerkt nun noch schlussfolgernd, dass die Richtigkeit für Thomas auch Wahrheit sei,

Vgl. Kapitel IV dieser Arbeit. GA 23, § 13, S. 55. 493 Ebd. 494 Vgl. ebd. 495 Ein Beispiel bietet Dahlstroms umfassende Untersuchung zu Heideggers Logik­ verständnis, in der Dahlstrom die Problematik bezüglich der Kategorien des Wahrseins (im Sinne der Richtigkeit) und der Falschheit im Satzverhältnis andeutet. Diese besteht demnach in einem Vorurteil der Logik, nämlich dass die Satzglieder im Verhältnis zueinander angeglichen werden: »Es liegt verführerisch nahe, jenes Ver­ hältnis für eine logische Äquivalenz zu halten. So aber entsteht das logische Vorurteil.« Daniel O. Dahlstom, Das logische Vorurteil, Wien: Passagen 1994, S. 133. Wenn Thomas die Wahrheit als Richtigkeit im Satz nimmt, und dies tut er, dann übernimmt er zugleich jene Vorurteilsübernahme, die Dahlstrom in der Genese der Logik her­ vorhebt. 496 GA 23, S. 55. 491

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womit er zur Konklusion kommen kann: »Veritas – adaequatio.«497 Das Homogenisieren wird damit – noch ganz anders als etwa bei den Kirchenvätern oder der älteren Scholastik –, schon tendenziell neuzeitlich, zum Modell der Wahrheitsfindung umdefiniert. Damit ist für Heidegger der logische Operator des Homogenisierungsprozesses geortet. Was nun aber noch dazu komme, sei die stillschweigende Voraussetzung, dass bis zur ersten Motivation Gottes das Sein noch als Seiendes genommen werde, d.h. damit verdinglicht und erst so qua Angleichung an den Verstand erkannt werde. Von dieser Grundkonfiguration bei Thomas von Aquin ausge­ hend, schaut Heidegger sich nun an, welches Maßstabsverhältnis mit dieser ontologischen Interpretation einhergeht. Dazu gehört für Heidegger die Einführung eines handelnden Verstandes (intellectus practicus), der die Dinge bestimmt, der Messer der Maße ist, die vom Charakter der Dinghaftigkeit und des Seienden sind, d.h. ontisch konfiguriert sind. Heidegger interpretiert Thomas‘ Text daher folgen­ dermaßen: »Intellectus practicus causat res, er ist mensurans – Maß sein für, wonach bemessen wird. Res ist mensurata.«498 Ebenso sei auch der schauende Verstand (intellectus speculativus) bei Thomas bei der Sichtung der Dinge und Sachen ein Messender. Jedoch sind diese Dinge wiederum vom göttlichen Verstand (intellectu divino) aus­ gemessen (mensuratae), der selbst wiederum nur misst (mensurans), selbst aber niemals ausgemessen (mensuratus) werden kann.499 Die Adäquation als logische Operation der Homogenisierung findet hier also in zweifacher Weise statt. Erstens durch die erste wahre Vernunft, d.h. durch die Zuordnung (ordinata) des göttlichen Intellekts, zwei­ tens durch die Einschätzung der Wahrheit (aestimationem veram) des nicht-göttlichen Verstandes.500 Heidegger sieht in Thomas‘ Gottesbe­ griff, dass Gott hier als erste ratio, d.h. als erste in Rechnung gestellte Vernunft, die erste und einzige Instanz ist, die Wahrheit und Sein adäquat angleicht. Der Mensch habe nur die Möglichkeit, die Adäqua­ tion weiter anzunähern (potens).501 Trotz des Vorschubs, dass Gott Ebd., S. 57. GA 23, § 12, S. 58. 499 Vgl. ebd., S. 58–59. 500 Vgl. ebd. 501 Vgl. ebd.; Thomas geht übrigens sogar soweit, dass er in De ente und essentia auch Grade der Potentialität in Angleichung zur Wirklichkeit qua Geist (anima) in Mehr (plus) und in Weniger (minus) angibt und somit eine quantitative Interpretation der Angleichung nahelegt. Vgl. De ente, 4, 170ff. 497

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niemals ermessen oder gemessen werden kann, wird Gott mit einer ähnlichen logischen Operation zu einem Seienden, so wie Aristoteles den ersten göttlichen Beweger zu einem Unbewegten deklariert. Er ist Seiendes, jedoch ohne selbst Produkt eines anderen Seienden zu sein. Allerdings werde dieses Sein durch die Sicht des Menschen verdinglicht, d.h. als seiende Instanz interpretiert. So das gelte, dass: »[…] alles Seiende außer Gott geschaffenes ist […]«, aber »[…] Gott ens increatum […]« ist.502 Heideggers Punkt ist also folgender: Auch wenn der gottesfürchtige Thomas freilich die Verdinglichung Gottes durch die Hervorhebung seiner Transzendenz abwehren will, schleicht sie sich doch durch die Logik der Adäquation und der ontischen Deutung Gottes quasi wieder durch die Hintertür ein. Für Heidegger ergibt sich also aus dieser logischen Kippfigur eine Hierarchie der homogenisierten Maße durch den vermittelnden Operator der Adäquation, der als Kopula die Operatoren der Instan­ zen zur Messung bringt. So erscheinen diese Operatoren erst als verdinglichte – und zwar aus der ersten Instanz Gottes, der qua intellectus speculativus selbst noch adäquat bemessen und so verding­ licht wird. Heideggers Zwischenergebnis lautet: »So ist die ώή iί eo ipso schon ί. Was für Aristoteles ein Problem war, ist hier ein Dogma.« Das Problem ist dabei für Heidegger keineswegs, dass Gott der Primat ist, sondern, dass selbst dieser noch als ein Seiender gefasst wird, d.h. durch den spekulativen Verstand besagte Verdinglichung erfährt. Die Verdinglichung als Folge der Adäquations-Logik selbst ist also das Dogma, das sogar nun auch noch Gott betreffen soll. Heidegger erkennt dabei die for­ male Grundfigur der Verdinglichung in der Adäquations-Operation selbst wieder: »Adaequatio Angleichung von etwas an etwas.«503 Er meint in den von Thomas von Aquin bedachten Möglichkeiten der Kopula adaequatio des Zusammensetzenden (componens), als auch dessen Negation, das Trennende (dividens) zu sehen, d.h. die Rudi­ mente der aristotelischen Struktur der Anmessungsmöglichkeiten zwischen Zusammensetzung (ύniς) und Auseinandernehmen (iίiς). Problematisch ist für Heidegger keineswegs, ob diese logische Relation »möglich« oder »unmöglich« in der Lage ist, die Welt zu durchmessen. Vielmehr steht für ihn ihre Eignung dazu in Frage. Dies fasst Heidegger so: »Was aber adaequatio überhaupt 502 503

Vgl. GA 23, S. 60. GA 23, § 13, S. 60.

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besagt hinsichtlich des Verhältnisses von Seiendem und Erkenntnis und ob sie überhaupt geeignet ist, diese Beziehung auszudrücken, wird nicht untersucht.«504 Damit bleibe Thomas von Aquin »[…] trotz allen Scharfsinns hinter der antiken Philosophie zurück.«505 Die Operation der adaequatio zwischen zwei Operatoren von abstrakt Seienden, ermögliche damit einen abgehobenen Vorgang der Kenntnisnahme des Maßstabs als Erkennen, in der das Seiende zum nur noch Vorhandenen reduziert werde. Bei Thomas liegt laut Heidegger eine solche logisch-ontologische Konfiguration vor: Das Vorhandene ist wahr = es ist in der Weise seiend, wie es von Gott gedacht ist. So seiend ist es möglich Gegenstand und d.h. Maßstab für menschliches Erkennen. Das Vorhandene, Geschaffene, das als solches sich der Erkenntnis Gottes immer schon angeglichen hat und dadurch eben ist, kann sich das menschliche Erkennen angleichen und wahr sein. […] Wahr ist also Seiendes, das Erkennen; das Erkennen des Menschen und Erkennen Gottes.506

Gott ist in Heideggers Thomas-Lektüre zwar der Ausgang allen Maß­ stabs von Wahrheit, aber Heidegger hat seine Schwierigkeit damit, dass das »Wesen der Wahrheit = adaequatio« eine mustergültige Konzeption für diesen Ausgang sein soll.507 Ein weiteres schwerwiegendes Problem liegt für Heidegger in der diametralen Opposition des endlichen menschlichen Maßstabs, der zeitlich limitiert sei und einem Maßstab der Unendlichkeit, der Gott zukomme. Heidegger referiert auf Thomas: »Veritas in rebus men­ suratur ab intellectu divino. Res mensurata mensurant intellectum humanum.«508 Kann die Operation der Angleichung (adaequatio) als Maßstab dem Menschen aber überhaupt zukommen, wenn sie selbst innerhalb dieser Logik der Adäquation nur in Gott absolut erfüllbar sein kann? Nimmt sich der Mensch als ens creatum dabei nicht mit der Adäquation als Maßstab der Homogenisierung ein Übermaß heraus, das nur für die Unendlichkeit Gottes zutreffend sein kann? Sind nicht gerade die zeitliche Endlichkeit des Menschen und die Unendlichkeit Gottes inkommensurabel? Wie soll der Mensch die Ewigkeit (aeternitas) zum Maß nehmen können, wenn er selbst 504 505 506 507 508

Ebd., § 13, S. 63. Ebd. Ebd., § 13, S. 64. Vgl. GA 23, § 15, S. 66. Ebd., S. 67.

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sterblich ist? Wir können daran anschließend fragen: Übernimmt der Mensch sich im Homogenisieren nicht? Liegt in der Logik der Adäquation nicht die große Gefahr, selbst ein zweiter Gott werden zu wollen, wie es dann etwa Nikolaus von Kues offen und explizit in De docta ignorantia und in De beryllo nach Thomas als Frage bezüglich des menschlichen Messens aufwirft?509 Doch ist dabei vor allem eine andere Frage zu beachten: Wer ist wie Gott? Diese Frage weist mahnend auf eine der größten Anmaßun­ gen hin, die gemäß der Bibel auch die Ursünde Luzifers ist, nämlich der Versuch sich mit Gott gleichsetzen zu wollen. Etwas gleich zu setzen oder etwas gleich werden zu lassen bedeutet homogenisieren. Ist dann ein metaphysisches Prinzip der Homogenisierung nicht eben auch eine Referenz zu der Anmaßung der Ursünde, die auch Satan begangen hat? Heidegger muss aus seinem eigenen theologi­ schen Horizont eine ähnliche Schwierigkeit bezüglich eines Primaten der Homogenisierung bewegt haben. So konstatiert er sowohl für die Operation der Adäquation als auch für die Gleichsetzung von Sein mit Seiendem eine »Gott-losigkeit«, insofern er dem Menschen weder den Zugriff auf die Operation ewiger Wahrheiten angesichts seiner Sterblichkeit zubilligen kann, noch erkennt Heidegger die darin implizierte Möglichkeit der Deutung an, selbst Gott noch als ein Seiendes zu fassen.510 Denn damit wäre streng genommen selbst Gott verdinglicht, auch dann, wenn er »unerschaffen« (increatum) bliebe, da er nun so oder so Entität einer spekulativen Wissenschaft werden

509 Bei Cusanus heißt es im sechsten Kapitel von De beryllo: »Viertens beachte, daß Hermes Trismegistus sagt, der Mensch sei ein zweiter Gott. Denn wie Gott Schöpfer der realen Seienden und der natürlichen Formen ist, so ist der Mensch Schöpfer der Verstandesseienden und der künstlichen Formen, die lediglich Ähnlichkeiten seiner Vernunft sind, so wie die Geschöpfe Ähnlichkeiten der göttlichen Vernunft sind. […] Hieraus mißt er [der Mensch] seine Vernunft durch die Kraft seiner Werke, und daraus mißt er die göttliche Vernunft, wie die Wahrheit durch ihr Bild gemessen wird.« (Quarto adverte Hermetem Trismegistum dicere hominem esse secundum deum. Nam sicut deus est creator entium realium et naturalium formarum, ita homo rationalium entium et formarum artificialium, quae non sunt nisi sui intellectus similitudines sicut creaturae die divini intellectus similitudines. […] Unde mensurat suum intellectum per potentiam operum suorum et ex hoc mensurat divinum intellectum, sicut veritas mensuratur per imaginem.) Cusanus, De beryllo, 6, 7, Zitiert nach: Nikolaus von Kues, Philosophisch-theologische Werke. Lateinisch – Deutsch, Bd. 3, hrsg. v. Karl Bormann, Hamburg: Meiner 2002. 510 GA 23, § 13, S. 78.

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könnte. Heidegger statuiert daher analog mit kritischem Blick: »Nie Wissenschaft von Gott als einem Seienden?«511 Gleichwohl ist es natürlich äußerst fraglich, ob Heidegger damit Thomas von Aquin, der ein vielschichtiger und komplexer Denker ist und der ein umfangreiches Werk vorzuweisen hat, gerecht geworden ist. Ein solches Anliegen einem Denker gerecht zu werden oder gegen ihn zu polemisieren, ist allerdings nicht Heideggers Angelegenheit; er will nicht Thomas von Aquin als Philosophen oder gar als Theologen verwerfen und ihm etwas vorrechnen. All dies liegt Heidegger fern. Er will lediglich einen Grundzug in seinem Denken als prominentes Beispiel für seinen geschichtlichen Ort hinsichtlich der Maßstabsfrage des Seins in seiner Problematik aufweisen: nicht mehr, aber auch nicht weniger. Zusammenfassend lässt sich aus dem Gesagten folgendes eruie­ ren: In der Adäquation des Seienden als Sache (res) in Angleichung an und durch den Verstand (intellectus) geschieht für Heidegger ein universales Homogenisieren von Verhältnissen zu abstrakten Entitäten, d.h. zu nur noch Vorhandenem, das nicht einmal vor Gott Halt macht. Oder anders formuliert: »Sein abgelesen von der Seinsart der vorhandenen Dinge. […] Keine wesenhaften Unterschiede des Seins, sondern nur Gradabstufungen des Vorhandenen. Außer Vor­ handenheit keine andere Seinsmöglichkeit.«512 Diese Tendenz zum Homogenisieren weitet sich aus Heideggers Sicht in der weiteren Geschichte des europäischen Denkens aus. Besonders in der Neuzeit und Moderne macht er diese Tendenz zur Homogenisierung des Maß­ stabes des Seienden zum nur noch Vorhandenen an der Schlüsselfigur Descartes aus, dessen Philosophie er gesondert analysiert, um eine vertiefende Rejektion dieses logischen Maßstabs der Homogenisie­ rung voranzutreiben.

511 512

Ebd., S. 79. Ebd., § 18, S. 83.

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e) Der Maßstab der Homogenisierung als Ordnung und Gewissheit bei Descartes In der Neuzeit ist für Heidegger Descartes vor allem derjenige, der diese Maßorientierung verfestigt.513 Dem Denken der Neuzeit hält Heidegger bereits im Ausgang von seiner Thomas-Lektüre vor, die Entwicklung eines tendenziell rechnenden Denkens im 19. und 20. Jahrhundert aus dem Horizont einer logischen Homogenisierung im Sinne der Adäquation zu perpetuieren.514 Heidegger hebt dazu insbe­ sondere Descartes‘ Ausbildung bei den Jesuiten von La Flèche hervor, in der die Adäquationslehre des Thomas vermittelt wurde.515 Bei Des­ cartes gibt es für Heidegger ganz klar eine wirkmächtige Fortsetzung der Homogenisierungstradition der Scholastik. Daher setzt er sich in Konsequenz rigoros und ganz explizit von einem neuzeitlichen Ver­ ständnis des Seins bei Descartes ab, das aus Heideggers Sicht Seiendes in einer zunehmenden Mathematisierung sichere und feststelle. Er integriert die Auffassung, dass der Maßstab der homogenisierenden Adäquation eine Ontologie des Seienden als Vorhandenheit stabi­ lisiere. Heideggers Rejektion einer Homogenisierungstendenz bei Thomas und Descartes mag sehr exemplarisch erscheinen. Doch auch andere Autoren zwischen Mittelalter und Neuzeit entwickeln Gedanken, die Heideggers Kritik unterworfen werden könnten. Auch 513 Hier ist der Einwand Blumenbergs zu beachten, den wir später noch in einem Exkurs genauer beleuchten. Im Folgenden die Kurzfassung für den schnellen Leser: Man mag Blumenbergs impliziter These aus dem gegen Heideggers Auffassung geschriebenen Buch Legitmität der Neuzeit zwar zustimmen, dass eine Feinauflösung der Genesis der Neuzeit als Epochenschwelle (z.B. über Nikolaus und Bruno) diffe­ renzierter sei als Heideggers Zugang zur Neuzeit, jedoch ist die Fragestellung Heideggers eine grundsätzlich andere als die Blumenbergs: ihm geht es nicht um eine Bewertung der Neuzeit, wie Blumenberg von Heidegger meint, sondern um die Auf­ deckung der Genesis der Verdinglichung des Seins aus dem Maßstab der Adäquation als Homogenisierungstendenz. Vgl. Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988; vgl. Felix Heidenreich, Mensch und Moderne bei Hans Blumenberg, Stuttgart: Fink 2005, S. 154–159; S. 175. 514 Die Tendenz zur Verrechnung und Mathematisierung lässt sich an verschiede­ nen Ansätzen auch in der Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts zeigen. Als prominentes Beispiel ist etwa Auguste Comtes Theorie der Gesellschaft anzuführen, der im Dreistadiengesetz die Soziologie aus der Mathematik erwachsen lässt. Vgl. Auguste Comte, Cour de philosophie positive, Paris: Borrani et Droz libraires 1830, 2. Leçon. Exposition du plan de ce cours, ou considérations sur la hiérarchie des sciences positives. 515 Vgl. GA 23, § 18, S. 109.

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wenn Heidegger selbst nicht darauf eingeht, so können wir verschie­ dene Facetten einer Abstraktions- und Quantifizierungstendenz vom Spätmittelalter bis in die Renaissance bemerken, die Heideggers Kritik zumindest teilweise untermauern könnten, z.B. bei Cusanus und Bruno. Es wäre diesbezüglich eine interessante Forschungsfrage, ob es nicht eine Kontinuität zwischen Thomas und Descartes in einem Extrem der Homogenisierung und Abstraktion gibt. Unsere anfänglich aufgeworfene These, dass Heideggers Seins­ frage von einer Rejektions-, Projektions- und Aneignungsbewegung philosophisch konnotierter Maßstabsverhältnisse lesbar ist und dass diese Seinsfrage nie ohne Heideggers anfängliches und sich durchhal­ tendes komplexes Hinterfragen einer Homogenisierungstendenz von ihm hätte gestellt werden können, wird hier erneut bestätigt. Zunächst ist dabei zu beachten, dass Heidegger Descartes‘ Philo­ sophie ähnliche Vorwürfe macht wie dem Denken des Thomas von Aquin. Descartes gehe von der Angemessenheit der vorgegebenen Erkenntnis des ihm bekannten Seienden aus. »Diese ist demnach im vorhinein Leitfaden und Maßstab, daran abgeschätzt wird, ob vorgegebene Erkenntnis ihm angemessen ist.«516 Jedoch gibt es vier Unterschiede, die sich wesentlich von der thomistischen Homogeni­ sierung der Maßstabsbestimmung veritas est adqaequatio intellectus et rei unterscheiden und die Heidegger auch klar benennt: Erstens: Wahrheit als Anmessung sei nicht mehr nur Adäquation, sondern die Gewißheit selbst. Zweitens: Diese Wahrheit ist nun am mathemati­ schen Erkenntnisideal orientiert. Drittens: Das verstehende Seiende (ens cogitare, intellectus) ist nun eine denkende, verstehende Sache (res cogitans), woraus viertens auch noch die Hervorhebung dieser res cogitans vor allen anderen Sachen (rei) heraussteche.517 Für Heidegger ergibt sich aus diesen metrisch-aleithologischen und ontologischen Änderungen ein wesentliches Problem: »Ob gemäß diesem zentralen Vorrang dieses Seienden das Sein desselben ursprünglich und ihm angemessen bestimmt sei, oder ob diese Bestimmung ausbleibt, und warum sie ausbleiben muss.«518 Im Klartext: Wird nicht gerade mit der Verfestigung des Maßes, als Homogenisierung qua Gewißheit nach dem mathematischen Ideal, dem Ausbleiben des Maßes der Adäquation und der Vergegenständlichung des Seienden als Sache, 516 517 518

GA 23, § 27, S. 113. Vgl. ebd., S. 105. Ebd.

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die ontologische Fraglichkeit weiter nivelliert? Wie vollzieht sich diese entscheidende Verschiebung vom Maßstab der Adäquation zum Maßstab der Gewißheit? Und wieso wird hier die von Heidegger postulierte und abgelehnte Sicherheitstendenz als Sorge um erkannte Erkenntnis manifest? Zunächst sieht Heidegger im Übergang von Thomas von Aquin über Suarez zu Descartes eine allmähliche Verschiebung vom intel­ lectus und den rei in »[…] die einheitliche Region des ens crea­ tum […].«519 Aus den Gottesbeweisen der Spätscholastik, die übri­ gens auch noch Descartes für sich in Anspruch nimmt, werde laut Heidegger die Konsequenz gezogen, dass Gott nicht ohne den Men­ schen als ens creatum sichtbar werden könne. Wenn wir darauf den Blick richten, zeigt es sich, daß das Dasein Gottes nicht so sehr die Quelle ist, von der her das Sein des ens creatum bestimmt wäre, sondern umgekehrt, aus einer bestimmten Vorauffassung des Seins des Geschaffenen wird das Sein Gottes selbst bestimmt […]. Das ist der eigentliche Boden dessen, was man später als negative Theologie zu bestimmen pflegte […].520

Diese negative Theologie hatte nach Thomas von Aquin vor allem Nikolaus Cusanus im Übergang zur Neuzeit betrieben und den Men­ schen als produktiv Messenden akzentuiert.521 Auf Letzteres haben wir oben schon hingewiesen. Was aber misst der Mensch? Es ist die Wahrheit. Die Wahrheit misst jetzt nicht mehr Gott aus, sondern der Mensch selbst. Auch Heidegger sieht dies: »Die Sorge hat das Wahre in ihrer Sorge gestellt, die Wahrheitserfassung, die Wahrheitsbefolgung. Sofern das verum auf sein esse diskutiert ist, ist das, worauf die Sorge geht, in seinem Seinssinn fixiert.«522 Das Entscheidende ist, dass nun das ens schon bei Thomas zu einer Sache geworden ist. Folglich ist auch GA 17, § 33, S. 187. Ebd., § 33, S. 188. 521 So schreibt Cusanus: »Habeo quidem et ego: mentem esse, ex qua ominum rerum terminus et mensura. Mentem quidem a mensurando dici conicio.« Vgl. Nicolaus Cusanus, De idiota de mente, I, 57, S. 9. Demnach fällt der Geist des Menschen (mens) mit dem zu Messenden zusammen und seine Aufgabe wird das Messen. Später wird aus dem Messen als Fähigkeit des Geistes die konkrete und abstrakte Quantifizierung durch das technische Instrument der Waage, mit der alles zahlenmäßig abwiegbar (pondus omnium) wird. Vgl. Nicolaus Cusanus. De idiota de staticis experimentis, 167, fol. 95v, S. 224 (S. 122). 522 GA 17, § 34, S. 196. 519

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das ens creatum in seiner Fähigkeit zu denken (cogitare) zu einer Sache geworden, die bei Descartes res cogitans heißen und sich in seiner Sorge um Erkenntnis um sich selbst drehen wird.523 Doch wenn nicht mehr Gott, sondern der Mensch nun als res cogitans die Wahrheit zu bestimmen hat, stellt sich das Problem der Adäquation nicht mehr. An wen oder was soll sich die res cogitans denn nun auch angleichend anmessen? Vielmehr ist die Adäquation jetzt selbst auf ein »Sein der Sorge im Sinne der Beruhigung […]« qua Erkennen zu beziehen.524 Um diese zu erreichen, muss die Adäquation zur Gewissheit erweitert werden. Warum? Es bedarf »[…] zur Ausbildung der Vollkommenheit des Menschen der Überwindung des error. Das Sein des Menschen muß irrtumslos werden. Das Erkennen muß, um vollkommen zu sein, sich unter eine bestimmte Regelung stellen. Es ist mitgegebene Regelnahme.«525 Mit einer Regelnahme, so Heidegger, nimmt der Mensch auch das Urteil in die Hand, bestimmt über die Ordnung (ordo). Er richtet qua Inanspruchnahme einer Regelung. »Die Interpretation der Regel ergibt einen weiterführenden Einblick in den Seinscharakter des Erkennens als Sorge. Dieses Erkennen vollzieht sich in der Weise des dubitare in der Abzweckung der Sicherung eines Bodens, der dem Anspruch des Erkennens genügt.«526 Das Zweifeln (dubitare) ist in den Meditationes von Descartes ein permanenter Begleiter seiner Analysen, um Gewissheit zu legitimieren. Der cartesische Zweifel ist in diesem Werk deswegen eben nicht Folge einer Unsicherheit, sondern im Gegenteil eine Methode der Absicherung, d.h. ein metho­ discher Zweifel.527 Die vollkommene Gewißheit der Erkenntnis muss als Maßstab abgesichert sein, was qua Ordnung und Regelung erfolgt. »Wenn sie soll sein können, als was ich sie in Anspruch nehme, dann muß sie selbst in ihrem Recht als leitende Regel so gewiß sein, wie die

Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 197. 525 Ebd., § 34, S. 196. 526 Ebd., § 35, S. 201. 527 Claus-Artur Scheier weist daraufhin, dass dieser methodische Zweifel, »[…] gar als der hyperbolische Zweifel […]« zu sehen sei, insofern Descartes, das »[…] Fun­ dament des bestehenden Wissens […]«, als auch die universale menschliche Vernunft selbst probeweise zur Disposition stelle. Claus-Artur Scheier, Die Selbstentfaltung der methodischen Reflexion als Prinzip der neueren Philosophie. Von Descartes zu Hegel, Freiburg: Alber 1973, S. 19. 523

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Gewißheit, die sich selbst als Maßstab ausspricht. Ich muß der Regel ihrem eigenen Regelsinn entsprechend gewiß sein können.«528 Und hier kommen zwei Aspekte in Betracht, die in Heideggers Descartes-Analyse zur Debatte stehen. Erstens: Wie wirkt sich die erweiterte Homogenisierung des Maßstabs auf die Gewissheit aus? Antwort: durch Einsichtigkeit, d.h. Evidenz, die klar (clare) und sau­ ber abgeschieden (distincte) zu sein hat.529 Maximale Einsichtigkeit ergibt sich für Descartes in der Koordination von Mathematik in der wechselseitigen Repräsentation von Geometrie und Arithmetik in der Algebra, die sowohl der Ansicht (intuitus) wie auch dem Denken (cogitare) als Urteilen (iudicare) zwecks der Ordnung der Regelung gerecht werden. Dies ist keineswegs nur eine Interpretation seitens Heideggers. Descartes sagt es uns selbst. Der junge René Descar­ tes hat nämlich in seinen Regulae ad directionem ingenii, in denen jener seine Philosophie nach algebraischer Methode zu entwickeln versucht, das Programm seines Denkweges skizziert: »Nunmehr darf man […] vollends schließen, [dass,] […] wer den richtigen Weg zur Wahrheit sucht, mit keinem Gegenstand umgehen darf, über den er nicht eine den arithmetischen oder geometrischen Beweisen gleiche Gewißheit gewinnen kann.«530 Genau darauf legt Heidegger seinen Finger: »Descartes interpretiert von vornherein Wahrheit als Gewißheit.«531 Zweitens: Wieso ist nun aber gerade die Fixierung auf die Mathematik als Erfüllungsgehilfe von Gewissheit eine Vertiefung der Homogenisierungstendenz und folglich der Vergegenständlichung? Antwort: Dies beruht darauf, dass in der Mathematik das Seiende sogar noch als Gegenstand gleichgültig werden kann. Seiendes wird zum Statthalter seiner selbst abgezogen, wird zum einfachen, reinen Objekt, wenn Wahrheit als Gewissheit interpretiert wird. Heidegger zeigt auch darauf: »Die Gegenstände von Arithmetik und Geometrie sind so charakterisiert als purum und simplex objectum, daß sie für

GA 23, § 29, S. 123–124. Vgl. René Descartes, Meditatio, AT VII, III, 19, 45. 530 René Descartes, Regulae, AT X, II, 6, 366. Im Original: »Iam vero […] est concludendum, […] rectum veritatis iter quaerentes circa nullum objectum debere occupari, de quo non possint habere certitudinem Arithmeticis et Geometricis demon­ strationibus aequalem.« 531 GA 23, § 33, S. 139. 528

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ein darauf gerichtetes Erfassen niemals etwas Ungewisses zurückge­ ben können.«532 Und so zieht Heidegger diese Konsequenz: »Wird […] eine unbedingte Gewißheit gesucht, d.h. die Möglichkeit des sich Haltens an eine Unbezweifelbarkeit, dann wird das Seiende, worüber die mögliche gewisse Wahrheit Wahrheit ist, gleichgültig.«533 Genau dies geschehe bei Descartes mit Hilfe der Mathematik im Sinne der regelgemäßen Ordnung (ordo) als mathesis universalis.534 Denn: »[…] die mathesis universalis ist die formale Wissenschaft der reinen Ordnungs- und Maßzusammenhänge als solcher. Die Möglichkeit der mathesis zeigt, daß die mathematischen Disziplinen, obzwar sie selbst schon Klarheit und Einfachheit der Objekte vorgeben, auf die einfachsten Objekte zurückgehen können.«535 Diese sind eben als Objekte gleichgültig, d.h. durch x-beliebige Werte ersetzbar. Die Homogenisierung des Seins als Seiendes qua Maßstab der Gewissheit (certum) mit den Sprachmitteln der Mathematik und der mathesis universalis als ordo sind somit für Heidegger als die Nivellierung des Seins und als unhinterfragte und beibehaltene Ontologie erwiesen. Diese Nivellierung sieht Heidegger insbesondere in Husserls carte­ sisch orientierter, auf Adäquation und evidenter Gewissheit beruhen­ der Phänomenologie fortgeführt.536 Auch bei Descartes wird diese ordo, wie schon bei Thomas, im Satz gesichert, festgehalten und damit sogar noch die Verdinglichungstendenz auf die res hypostasiert und die res somit noch einmal erneut abstrahiert: »Sofern bei Descartes die Sorge der Erkenntnis umschlägt in die Interpretation des verum als certum, ist dementsprechend der Grundbefund nicht eine res, sondern eine veritas, ein gewisser Satz.«537 Für Heidegger ist aber, wie oben gezeigt wurde, im Satz die Logik des gültigen Urteils gleichartiger Werte vorgezeichnet, wenn dies auch noch nicht in der Neuzeit des Descartes realisiert wird. Diese Nivellierung auf das Gleichgültige sieht Heidegger zwar vornehmlich bei Descartes in der Neuzeit vorbereitet, aber keines­ wegs nur bei ihm. Auch bei Leibniz zeigt er, dass seine Lehre 532 533 534 535 536 537

GA 17, § 36, S. 209. GA 23, § 33, S. 139. Vgl. ebd., § 33, S. 142. GA 17, § 36, S. 217. Vgl. ebd., § 48, S. 270ff. Ebd., § 43, S. 245.

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vom Kontinuum, das sowohl Verschiedenheit als auch Gleichheit absorbiert, auf »[…] bloßen[n] Ordnungsformen […]« beruhe.538 In der Philosophie Leibniz’ens seien Gegenstände ontologisch, wenn auch wirkliche, »[f]ür sich genommen […] bloße Möglichkeiten, ideale, abstrakte Gebilde.«539 Auch wenn Leibniz die cartesischen Körper durch physische, d.h. wirkliche ersetze, beruhe seine Ontolo­ gie dennoch unhinterfragt auf der thomistischen Tradierung, die ein erstes Seiendes in einer ersten Ursache (prima causa) verorte, die dann bei Leibniz im Kraftzentrum der Urmonade als absolute Kraft (vis absoluta) bezeichnet werde.540 Die Neuzeit wird von Heidegger also keineswegs auf Descartes reduziert; er weitet vielmehr analoge Überlegungen zur Homogenisierung und Ontologie im Verlaufe der Vorlesung Geschichte der Philosophie von Thomas von Aquin bis Kant von 1926 auf Wolff, Crusius und partikulär auch auf Kant aus. An Heideggers Analyse wird nun als Zwischenergebnis folgen­ des deutlich: Heidegger kommt nicht zufällig auf die Seinsfrage. Ihre Besinnung erwächst von Anfang an aus einer Infragestellung der Homogenisierung logischer Maßstäbe, die sich für ihn parallel als Verdinglichung des Seins manifestieren. Von hier aus ist eine präzisere Einschätzung der Heideggerschen Rejektion des bisherigen Verständnisses des Verhältnisses von Maß und Sein möglich, die Heidegger in den Marburger Vorlesungen am Besorgen von erkannter Erkenntnis als Absicherungstendenz festmacht. Dem Leser mag sich freilich die Frage stellen, ob sich Heideggers Analyse einer geschichtlich entfalteten Homogenisierungstendenz in der Neuzeit halten lässt. Es wäre an dieser Stelle natürlich eine mögliche und vielleicht zweckorientierte Aufgabe gewesen, sämtliche Texte und nicht nur exemplarische Textstellen von Thomas, Descartes und Leibniz auf die Plausibilität der Heideggerschen Analysen zu prüfen. Dies würde allerdings den Rahmen und die Ökonomie dieser Arbeit bei Weitem sprengen, so dass wir hier darauf verzichten und auf spätere Einzelbeiträge verschieben mögen. Viel wichtiger, als eine Prüfung, ob Heidegger recht zu geben sei oder nicht, ist für unsere Fragestellung erst einmal, wie sich Heideggers Position zur Absicherungstendenz der Metaphysik der Neuzeit überhaupt im Horizont von Homogenisierung, Abstrak­ 538 539 540

GA 23, § 43, S. 177. Ebd. Vgl. GA 23, § 43, S. 176; ebd., § 44, S. 188.

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tion, Quantifizierung und Mathematisierung einschätzen lässt, um zunächst zu schauen, was Heideggers Motive für eine Verwebung von Maß und Sein sind. Erst auf einem solchen Prüfungsniveau ist ein Fundament erreicht, von dem aus hinreichend geklärt werden könnte, inwiefern eine Kritik an dieser rejektiven Position Heideggers zu rechtfertigen wäre. Die hier durchgeführte Exegese seiner Texte bietet zwar nur einen begrenzten, aber zumindest einen dennoch weit genug gespannten Horizont, um sich einem besonders wirkmächtigen Bei­ spiel für die Zurückweisung von Heideggers Resümee zur Neuzeit zu nähern und diesen zu diskutieren: dies ist die Gegenrede von Hans Blumenberg gegen Heideggers Auffassung der Neuzeit.

f) Heideggers Ablehnung der Absicherungstendenz der Metaphysik der Neuzeit als Homogenisierung, Abstraktion, Quantifizierung und Mathematisierung im Blickfeld der Kritik Hans Blumenbergs Heidegger wurde oft die Fixierung auf Descartes vorgeworfen. Dies geschah bisher vor allem in der Frankfurter Schule durch Jürgen Habermas.541 Noch grundlegender hat sich Hans Blumenberg mit seinem Programm, die Legitimität der Neuzeit auszuweisen, gegen Heideggers Auffassung gewandt.542 Gegen Heidegger hat er vor allem einzuwenden, dass er eine zu starke Engführung der Deutung der Neuzeit vornehme, die einer einseitigen Descartes-Interpretation geschuldet sei. Heidegger sehe in der Geschichte der Neuzeit nur eine ganz bestimmte Entwicklungstendenz des rechnenden Denkens und zudem habe Heidegger nicht die Filiationen der Genesis der Neuzeit erblickt. So sieht Blumenberg das Motiv der Neuzeit, die Mathematisierung voranzutreiben, aus dem Blickwinkel einer Selbst­ behauptungstendenz, die aufgrund einer im Laufe des Mittelalters gewachsenen Unordnung hervorgerufen worden sei. Unterschwellig ist dies gegen Heideggers Kritik der Homogenisierungstendenz im 541 Vgl. Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesun­ gen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985. 542 Vgl. Manfred Sommer, »Heidegger und Hans Blumenberg. Abweisung auf Umwegen«, in: Heidegger-Handbuch, hrsg. v. Dieter Thomä, Stuttgart: Metzler 2003, S. 403–405; vgl. Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, 2. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988.

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Denken der Neuzeit gerichtet. Dies konstatiert Felix Heidenreich in seiner Untersuchung zu Blumenberg und folgert: »Ein Blick in Blumenbergs Dissertations- und Habilitationsschrift zeigt, daß der erste Gegner, gegen den Blumenberg die Moderne verteidigte, nicht etwa einer der […] Säkularisierungstheoretiker war, sondern Martin Heidegger. Auch in der Legitimität der Neuzeit scheint Heidegger zwischen den Zeilen […] der eigentliche Gegner zu sein.«543 Bezeichnend ist, dass Blumenberg ausgerechnet von einer Selbstbehauptungstendenz der Neuzeit spricht. Schauen wir genau hin, dann verbirgt sich hinter dem Wort »Selbstbehauptungstendenz« oder »Wille zur Selbstbehauptung« nur oberflächlich ein Nietzschea­ nismus im Sinne eines Überwindens. Vielmehr handelt es sich um eine – vielleicht auch nur rhetorische – Umkehrung der Sicherungs­ tendenz, die Heidegger gerade selbst der Neuzeit unterstellt. Es wäre dann an Blumenbergs Kritik folgende Frage heranzutragen: warum muss in einem Zeitraum eine Selbstbehauptung gegen eine Unord­ nung aus dem Horizont gesellschaftlicher Umbrüche geschehen, wenn nicht, um sich gegen sie abzusichern? Blumenberg führt neben seiner Umkehrung des Heideggerschen Sicherungstendenzvorwurfs in eine etwas verwässert umrissene Selbstbehauptungstendenz der Neuzeit, die aus einer wachsenden Unordnung und Umwälzung im Spätmittelalter resultiere, zwei weitere Argumente gegen Heideggers Kritik der Metaphysik der Neuzeit ins Feld. Zum einen sei ein fixierter Bezug auf Descartes unzureichend, da in der Neuzeit kein Monolog, sondern ein »Dialog von Denkern« stattgefunden habe. Zum anderen seien erstens die geschichtliche Antizipation der einzelnen Denker limitiert und zweitens eine langfristige Absicht auf Absicherung aus dem blinden Fleck ihres jeweiligen geschichtlichen Horizonts nicht oder kaum ablesbar. Stattdessen ergebe sich ein Epochenwechsel aus Handlungskonstellationen, der nicht gezielt gemacht werde.544 Vorweg ist zu sagen, dass es hier nicht um eine Apologie von Heideggers Denken gehen kann; vielmehr ist eine kritische Prüfung von Heideggers eigenem Resümee in der Diskussion mit einem Opponenten dieser Position bezüglich der Genese der Logik in der Neuzeit durchzuführen. Dazu haben wir Blumenberg gewissermaßen als advocatus diaboli gewählt. Warum ist eine solche Prüfung für Felix Heidenreich, Mensch und Moderne bei Hans Blumenberg, München: Fink 2005, S. 163. 544 Vgl. Heidenreich, S. 164–165ff. 543

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unsere Fragestellung notwendig? Mit Heideggers Kritik an der Neu­ zeit und ihrer von ihm attestierten Sicherheitstendenz geht der Grund, einen anderen Zugang zur Logik über die Sorge zu entfalten, einher – und damit auch der Anlass, die Maßverhältnisse anders zu deuten, als bisher. Dazu ist zu fragen, ob Heideggers Kritik der Neuzeit hinrei­ chend genug ist, um gegen Einwände zumindest partikulär haltbar zu sein. Blumenbergs Einwand ist hier von exemplarischer Bedeutung, weil er gegen Heideggers Position nicht ohne Einfluss geblieben ist. Es ist daher zu zeigen, welcher der beiden Denker die Situation sach­ orientierter, schärfer und weniger naiv sichtet. Und dies beachten wir hier insbesondere im Blickfeld der herausgearbeiteten Nähe zwischen Heideggers Rejektion eines homogenen Maßstabsdenkens und seiner Abweisung einer zementierten Tendenz zum Ontischen. Dazu ist Blumenbergs Kritik nun zu prüfen. Erstens: Blumenberg bedient sich rhetorisch einer déformation professionelle, wenn er Heideggers Interpretation der Sicherungsten­ denz zusammenfasst. Der rhetorische Kniff Blumenbergs dreht die Heidegger‘sche Sicherungstendenz ins Positive der Blumenberg‘schen Selbstbehauptungsthese um, die angeblich gegen eine wachsende Unordnungstendenz notwendig gewesen sei. Diese Umkehrung erscheint vor allem deswegen philosophisch illegitim, weil sie die Heidegger vorgeworfene Einseitigkeit selbst vollzieht, eben nur invertiert. Die Neuzeit sei nicht absichernd, sondern selbstbehaup­ tend gewesen, was von der Sache her nur die andere Seite derselben Medaille ist, die Blumenberg als Einwand gegen Heidegger geltend machen will: die Festlegung auf eine fixe Interpretation der Neuzeit. Aber lassen wir Blumenbergs Gegenthese gegen Heidegger, trotz unseres ersten Einwands, einmal probehalber durchgehen, so kom­ men wir zu Blumenbergs These der Selbstbehauptung als solcher. Blumenberg ist der Auffassung, die Selbstbehauptung sei der Grund für die auf Abstraktion und Rechnung basierenden Genesis der Neuzeit, die sich aus dem Mittelalter heraus entfaltet habe. Wir können Blumenbergs These jedoch folgendermaßen in Frage stellen: Geschieht nicht auch eine Selbstbehauptung aus Angst um das eigene Bestehen? Daraus könnte die Unterstellung folgen, es handle sich nicht um eine positive Ummünzung, also Umwertung der von Heidegger unterstellten Absicherungstendenz, sondern um eine per­ sönliche Haltung, die er nur oberflächlich mit Argumenten auskleidet, ohne sie wirklich argumentativ zu fundamentieren. Heidegger hinge­ gen erklärt den Grund der Sicherungstendenz aus der existenziellen

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Angst heraus. Was spricht also dagegen, die Selbstbehauptungsten­ denz Blumenbergs lediglich als glorreiche Fassade bzw. Maskerade einer Sicherungstendenz zu deuten, die tief in der existenziellen Angst verwurzelt liegt? Bereits durch den Aufwurf dieser Frage, dürfte deutlich werden, dass Blumenbergs Einwand, die Selbstbehauptung und nicht die Sicherungstendenz sei das entscheidende Motiv für die Neuzeit, viel zu oberflächlich angelegt ist, um einer kritischen Prüfung von Heideggers Position standzuhalten. Kommen wir zweitens zu den wichtigsten Subargumenten Blu­ menbergs: Einerseits schaue sich Heidegger nicht die Neuzeit als Ganze, sondern in ihr »nur« Descartes und dessen Denken an. Damit blicke Heidegger nur gezielt auf eine bestimmte Tendenz der neuzeitlichen Genesis. Aus unserer bisherigen Untersuchung wird aber klar: Heidegger ist es in seiner Fragestellung gar nicht um eine umfassende Darstellung der Genese des Prozesses der Neuzeit bestellt. Ihm geht es stattdessen nur um die verschiedenen Facetten des Adäquationsproblems als Homogenisierungsprozess des Seins im Verhältnis zu einer monothematischen Deutung des Seienden, in der eine besondere Stoßrichtung dieser Tendenz der Adäquation von der Neuzeit bis in die Moderne explizit bei Descartes sichtbar wird. Dass dies Heideggers eigentliches Motiv für seine Interpretation der Neuzeit ist, dürfte aus der bisherigen Untersuchung deutlich geworden sein. Um eine vollständige Diskreditierung dieser Epoche geht es Heidegger also nicht. Es ist zudem sachlich falsch, wenn behauptet wird, dass Heidegger die Neuzeit nur an dem Denker Descartes festmache. Heidegger schaut sich stattdessen auch die Philosophie des Thomas von Aquin, Suarez und erst dann die von Descartes, Leibniz, Wolff, Crusius und Kant an. Es ist Heidegger an keiner Stelle seiner Texte darum bestellt, die gesamte Neuzeit als illegitim auszuweisen, wie Blumenberg es uns in seinem Hauptwerk permanent suggeriert. Vielmehr wird in Heideggers Analysen der Neuzeit deutlich, dass diese, neben der Kritik an den Maßstäben der Homogenisierung und der Reduktion der Ontologie auf das Ontische, zugleich die Errungenschaften dieser Zeit hervorheben, wenn auch nur auf Heideggers eigene Fragestellung beschränkt. Gerade in Bezug auf Kant sind Heideggers Deutungsversuche keineswegs nur rejekti­ ver, sondern durchaus appropriativer Art, wie wir noch im nächsten Kapitel sehen werden.545 545

Vgl. Kapitel IV.1a.

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Drittens: Der »Dialog der Denker«, die Komplexität und Unüber­ sichtlichkeit künftiger Epochen sind für Heidegger selbstverständ­ lich.546 Eine Ausdeutung dieser Filiationen, wie Blumenberg sie vornimmt, ist für Heidegger nicht interessant, weil es Heidegger nicht um die geschichtliche Vielseitigkeit der Epoche der Neuzeit bzw. einer Epochenschwelle geht, die sich auch freilich ganz anders hätte entwickeln können, als die Tendenz, ein rechnendes Denken zu stabilisieren und zu zementieren. Heidegger ist es stattdessen um eine Tendenz bestellt, die sich aus seiner Sicht in der Moderne tatsächlich in besonders extremer Weise durchgesetzt hat: Die Verschärfung einer Logik der Adäquation als Homogenisierung des Seins, in der Sein zunehmend nur als Seiendes bemessen wird. Dies haben wir versucht, an Heideggers Texten aufzuweisen. Wir vertreten bezüglich dieser kritischen Prüfung von Blumen­ bergs wichtigsten Einwänden die These, dass Heidegger diese Ten­ denz der Neuzeit an ihren zentralen Denkern aufzeigen wollte, unbe­ schadet möglicher Varianten und etwaiger anderer geschichtlicher Optionen, die sich in der Neuzeit auch ergeben haben und hätten ergeben können. Diese alternativen Filiationen vom Potential der Produktivität der Neuzeit haben sich aus Heideggers Sicht der späten 1920er Jahre, einer Zeit des wirtschaftlichen, sozialen und ethischen Umbruchs, de facto geschichtlich aber nicht oder nur beschränkt ergeben oder sich schlichtweg nicht durchgesetzt. Für Heidegger zählt vielmehr die Faktizität der augenblicklichen Gegenwart mit ihrer Reichweite aus der Vergangenheit in die nächstliegende Zukunft. Die­ ser faktische Zeitspielraum zeigt sich für Heidegger Mitte der 1920er Jahre tendenziell als Homogenisierung aller Lebensbereiche durch ein rechnendes Denken, das sich bereits allmählich an den Kapital­ märkten in steigender Inflationsrate als Vorbote einer ökonomischen Totalkatastrophe namens Weltwirtschaftskrise bemerkbar macht. Es dürfte kein Zufall sein, dass Heideggers Kritik eines »rechnenden Denkens« als Analyse der Anmessung und der Angleichung gerade zu dieser Zeit, nämlich Mitte der 1920er Jahre, manifest wird. 546 Zu denken sei hier nur an Heideggers zahlreiche Briefwechsel, die im dialogischen Austausch bis nach Japan und Amerika reichen. Heidegger hat überdies den »Dialog der Denker« sogar innerhalb seines Werkes als stilistisches Mittel verwendet, wie etwa in den späten Feldweg-Gesprächen. Vgl. GA 77. Ebenso dürfte ihm selbstverständlich klar gewesen sein, dass ein solcher Dialog auch die neuzeitliche Philosophie durch einen regen Briefwechsel geprägt und befördert hatte.

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1. Heideggers Abweisung des bisherigen Maßstabs der Wahrheit

Dass die Ausweisung der Adäquationslogik als Anmessung an das Sein als Seiendes qua Homogenisierung Heideggers Motiv bei der Analyse des Descartes war, um erst von dort die Sicherungstendenz zu bestätigen, spricht ganz klar gegen Blumenbergs Heidegger-Lektüre. Blumenberg hat die Problematik der Homogenisierungstendenz im Maßstab der Logik, die Heidegger – wie weiter oben gezeigt – seit der Dissertation und Habilitation bewegte, in seinem Werk weitgehend ignoriert und stattdessen ein sehr idealtypisches, wenn nicht partiku­ lär naives Bild der Neuzeit als Zeit der Verheißung zum technischen Fortschritt gezeichnet, was nicht zuletzt in den Schlusssätzen seines posthum veröffentlichten Buches Geistesgeschichte der Technik sehr deutlich wird: »Immer weniger sind Weltenge und Gütermangel elementare Drohungen, immer mehr werden die Anlässe, in der Selbstbehauptung jene Selbstständigkeit des Menschen zu vollziehen […].«547 Dabei ignoriert Blumenberg, dass die von ihm verherrlichte Selbstständigkeit des neuzeitlichen Menschen durch eine Verding­ lichung und mit ihr einhergehenden Abstraktion, Quantifizierung und Mathematisierung zunehmend eingeschränkt wird: Zu erwähnen wäre die Auswirkung der Erfindung der Dampfmaschine durch James Watt und die Reduktion der Arbeit zur Ressource. Später führte dies zur Verdinglichung des Fabrikarbeiters. Es sind auch die Länder zu erwähnen, die während der neuzeitlichen Kolonisierung mathema­ tisch minutiös als Rohstofflager ausgenutzt wurden und die damit einhergehende Verwüstung ganzer Landstriche und Kulturkreise sowie ihrer anschließenden Traumatisierung. Dass dabei vor allem Motive der Verdinglichung und Abstraktion eine Rolle gespielt haben, die in mathematischen Lettern versiegelt und durch ökonomische Werte, Statistiken und Skalen bis heute besiegelt wurden, ist von verschiedenen Autoren hinlänglich nachgewiesen worden.548 Hans Blumenberg, Geistesgeschichte der Technik. Hrsg. v. Alexander Schmitz u. Bernd Stiegler, Frankfurt a.Main 2009, S. 136. 548 Die Verdinglichungstendenz in der Neuzeit hat Rüdiger Dannemann schon 1987 sehr scharfsinnig und vielschichtig in Hinsicht der Reziprozität von Mathematisierung und Ökonomisierung untersucht: Rüdiger Dannemann, Das Prinzip Verdinglichung. Studie zur Philosophie Georg Lukács‘, Frankfurt am Main: Sendler 1987. Darauf machen auch Axel Honneth, Judith Butler u.a. in einer Sammelschrift zur Verdingli­ chung aufmerksam, die sich an den Analysen von G. Lucaҫs von 1923 orientieren. Vgl. Axel Honneth, Verdinglichung. Eine anerkennungstheoretische Studie, Berlin: Suhr­ kamp 2015. Die dunkle Seite der theoretischen Ausrichtung zum Homogenisieren als Darstellungsform eines mechanistischen Herstellens sowie die damit einhergehende verdinglichende Entfremdung des Menschen und seiner Lebenswelt werden äußerst 547

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Man mag Heideggers Überlegungen nicht in allen Aspekten zustimmen und viele sogar vehement ablehnen, allerdings lässt sich für die Rejektion an der pointierten Ausweisung einer Logik der Homogenisierung und ihrer Genesis bezüglich einer Deutung der Ontologie als Verdinglichung des Seins im Zuge der Neuzeit, ein ausgeprägtes, wenn auch eher latentes Problembewusstsein bezüg­ lich oben genannter Schwierigkeiten ausweisen, die den Menschen im digitalen Zeitalter massiver und umfassender betreffen denn je. Blumenbergs positive Resultate zur Neuzeit, zu denen er in seinen Büchern kommt, mögen partikulär berechtigt sein, jedoch werden sie genau dann problematisch, wenn sie auf allzu rosige und monothe­ matische Weise eine Erfolgs- und Fortschrittsgeschichte der Neuzeit zeichnen, ohne die Risiken und Nebenwirkungen ernsthaft zu eruie­ ren, wie es hingegen Elisabeth List versucht hat.549 Heidegger selbst geht es in den zwanziger Jahren nicht um eine Bestandsauf­ nahme, sondern um eine differenzierte Textexegese prominenter neuzeitlicher Denker, die er in seinen Vorlesungen untersucht, jedoch nicht allein mit einem Ton des Vorwurfs, sondern mit einer sach- und textorientierten Herangehensweise, die sich von voreingenommenen Einschätzungen enthält, indem Heidegger stringent seine Methode der formalen Anzeige und der Destruktion durchexerziert. Man kann nun weiterhin Heidegger entgegnen, er sei ebenso ein monothematischer Kritiker der Absicherungstendenz gewesen, wie Blumenberg monothematisch vom Fortschritt und der Innovation euphorisiert gewesen ist. Es ist aber auch zu fragen, ob Heideggers Denken in diesem Fall nicht zu oberflächlich betrachtet werden würde, wenn es nur auf eine Kritik der Neuzeit und der Logik der detailliert von Elisabeth List als Verdrängung eines de facto neu entstehenden Mythos herausgearbeitet: »Der neuzeitliche Wille zum Wissen war seit seinen Anfängen zugleich der Wille zu beherrschen und zu kontrollieren. In diesem dem wissenschaft­ lichen Habitus eigenen Begehren wirken Elemente, die mit dem Idealbild der Aufklä­ rung und dem Rationalitätsanspruch des Wissenschaftlers schwer vereinbar sind. Sie fielen einer kollektiven Verdrängung anheim. So tritt an Stelle eines rationalen Bilds der Wissenschaft ein neuer Mythos – der prometheische Mythos der Machbarkeit und das Bild einer beherrschten Welt – das Bild der Welt als Mechanismus. […] Wo der alte Mythos im Gewand der Aufklärung wiederkehrt, wird die Natur zum bloßen Objekt. So bezahlen die Menschen die Vermehrung ihrer Macht mit der Entfremdung von dem, worüber sie Macht ausüben.« Elisabeth List, Vom Darstellen zum Herstellen. Eine Kulturgeschichte der Naturwissenschaften, Weilerswist: Velbrück 2007, S. 177; vgl. ebd., S. 177ff. 549 Vgl. List 2007.

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2. Ausarbeitung der Als-Struktur als performativer Maßstab der Wahrheit

Homogenisierung reduziert würde. Heidegger bleibt nicht bei einer Kritik der Homogenisierung als eines von anderen Motiven des Den­ kens der Neuzeit stehen, sondern sucht die Wurzel der Logik der Homogenisierung in der antiken Welt. Heidegger eruiert viele seiner Gedanken aus der Wurzel dieser Logik der Homogenisierung und Verdinglichung des Seins, die er bei Platon und Aristoteles verortet sieht. Gerade hier gibt es für ihn auch ein projektives Potential, das aus seiner Sicht den Weg zu einer ganz anderen weltorientierteren Logik freimacht. Diese hat für Heidegger im selben logischen Maß der Mitte ihren Anfang, in der auch die Homogenisierungstendenz der Wahr­ heit als Adäquation und Gewissheit ihren Ursprung hat: im perfor­ mativen, auslegenden Sorgen des »als« des etwas als etwas, wie es in Aristoteles‘ De interpretatione zum ersten Mal explizit thematisch wird. Diese logische Wurzel, die mehrere Möglichkeiten, Stränge und Varianten des Denkens durch die Metaphysik zieht, ist es in Wahrheit, die Heidegger interessiert.

2. Heideggers Ausarbeitung der Als-Struktur als performativer Maßstab der Wahrheit im Ausgang von Aristoteles Während Heidegger die Rejektion eines Maßstabs logischer Homoge­ nisierung und abstrakter Angleichung vollzieht, erwächst ihm parallel die positive Möglichkeit, das Herzstück der Logik des Aristoteles genauer in den Blick zu nehmen. Dieses liegt naturgemäß in der logischen Mitte der verbindenden Kopula, also im ύniς-Begriff. Heidegger fragt sich nun, ob es von dort gelingen kann, den Entwurf, d.h. das projektive Anliegen, von der stillschweigenden Voraussetzung des Angleichens, d.h. des adaequare und des ὁiῦn (des Gleicharti­ gen, des Homogenen), abzuheben. Mit dieser Isolierung des Begriffs der logischen Mitte ließe sich dann bei Aristoteles selbst differenziert aufweisen, welche positive Besinnung der ύniς als diese logische Mitte zum Ermessen der Wahrheit des Seins im Kontext der von Heidegger herausgearbeiteten Struktur des Umgangs und der Sorge zu Grunde liegt. Heidegger etabliert in der Sophistes-Vorlesung dann auch expli­ zit eine Konstellation zwischen Wahrheit, dem ός, und dem Mes­ sen als Auslegungsreichweite des Daseins: „ῖn, messen, bestim­

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III. Heideggers Auseinandersetzung mit dem Maßstab der Wahrheit des Seins

men, ist die Weise, wie sich das Dasein etwas verständlich macht. έn ἀiός gehören in denselben Bereich wie der ός: nämlich des ἀύin.«550 Weil die Sorgestruktur für Heidegger zunächst auf der Entscheidungsebene des Menschen als Dasein angesiedelt ist, ist es für ihn ebenso wichtig, in dieser Differenzierungsarbeit die formale Struktur des Sorgens als Messen so in die Sicht zu bringen, dass die Bedingung der Möglichkeit von Wahrheit als performativer Maßstab sichtbar wird. Es geht also um nichts weniger für Heidegger, als um den Nachweis der formalen Struktur des konkreten Sorgens selbst. Erst von hier kann sich für Heidegger erneut eine Appropriation eines Messens abseits der Angleichung ergeben, durch die eine andere Seite der Metaphysik bis in die Moderne und das heutige Denken freigelegt werden kann. Damit öffnet sich der Horizont auf ein weites »Blick­ feld«, das über die homogene Logik hinausweist und das Heidegger bis ins Alterswerk begleiten wird.551 Heideggers projektive Neudeu­ tung von Aristoteles‘ und Platons Logik in ihrer strategischen Dispo­ sition lohnt nun eines genauen Blickes, nachdem klar ist, warum Heidegger das über Jahrhunderte angewöhnte Denken des abstrakten Messens ablehnt. Diese ersten Schritte beginnen für Heidegger erneut beim Aussagesatz, denn an diesem hatte Heidegger ja bereits den Ausgang für die Homogenisierungstendenz lokalisiert.

a) Die Als-Struktur als Grundfigur des Aussagesatzes Während Heidegger die oben erläuterte Rejektion betreibt, stellt sich für ihn die Frage, was im Aussagesatz überhaupt Thema ist. Es ist das Sagen darüber, was sich zeigt oder nicht zeigt: d.h. das Phänomen. „inόnn besagt: etwas, das sich zeigt.«552 Mit der Überlegung, dass sich der Ausgang eines Phänomens als das gibt, was sich zeigt, verbleibt Heidegger bis zu seinem Lebensende bei dem Kerngedanken der Phänomenologie seines Lehrers Edmund Husserl. Für Heidegger ist das Sich-zeigen nur unter der Kondition möglich, die auch Aristo­ teles bekanntlich zu Beginn seiner Metaphysik hervorhebt – durch das Sehen.553 Auch damit ist Heidegger ein Schüler Husserls geblieben, 550 551 552 553

GA 19, § 16, S. 126. Vgl. GA 77, Der Lehrer trifft den Türmer, S. 184. GA 17, § 1, S. 6. Vgl. Arist. Met., 980a.

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2. Ausarbeitung der Als-Struktur als performativer Maßstab der Wahrheit

insofern er nicht ein physisches Sehen meint, sondern das Sehen des Phänomens. Die Grundlagen für eine solche Sicht liefere Aristoteles. »Alle Kenntnisse aus der Physik, Physiologie sind fernzuhalten, weil sie die Blickrichtung auf Aristoteles verfehlen.«554 Anders als Husserl, denkt er dieses Sehen im Kontext eines geschichtlich gewachsenen Umgangs und nicht als ein reines noetisches, d.h. vernehmendes Sehen.555 Die Maßgabe des Phänomens fußt zwar für Heidegger auf dem Licht (ῶς), aber eben nicht als abstrakter Sichthorizont, sondern kontextual als »Helle«, in der sich konkret der Himmel als Tag enthüllt.556 »Helle ist Anwesenheit der Sonne.«557 Der performative Maßstab des konkreten Tageshimmels, mit dem ich umzugehen habe, verweist bereits auf den zeitlichen Charak­ ter des Phänomens, der Heideggers Appropriation der umgänglichen Logik schon andeutet. Lange vor dem Spätwerk lautet er schon hier Anwesenheit.558 So anwesend zeigt sich das Phänomen primär und konkret in der Helle des Tages und der Dunkelheit der Nacht. In der Dunkelheit zeigt sich etwas nicht, scheint weg zu sein, ist von privativem, also abwesendem Charakter des Mangels ausgezeichnet. Dennoch birgt das so verborgene Phänomen die Möglichkeit in sich, in der Helligkeit des Tages wieder anwesend zu sein. Die formale Anzeige dieses aus der konkreten Grunderfahrung der Lebenswelt entsprungenen Phänomen-Begriffs, der den Übergang und Umgang mit der Helle und der Dunkelheit involviert, sieht Heidegger mit unserer Sprache verwoben. Da das Sehenlassen der Dinge und der Welt im Vordergrund des Phänomen-Begriffs steht, wird deutlich, »[…] daß unsere Sprache (Kategorienlehre) eine Sprache des Tages ist.«559 Die Sprache ist am Aussehen des Phänomens als Seiendes und dem Umgang mit ihm in der Helle charakterisiert. Was aber heißt hier Sprache? Heidegger assoziiert sie mit dem Darlegen des Phänomens in seiner Bedeutung zu anderen Bedeutun­ gen im Umgangsbereich der Lebenswelt, in welcher die Phänomene als Seiende, d.h. als etwas, genommen werden. Das Darlegen in der bedeutsamen Rede ist der ός. »Die Frage nach der Grundstruktur 554 555 556 557 558 559

Ebd., S. 7. Vgl. Kapitel I.2b in dieser Arbeit. Vgl. ebd., S. 7–8. Ebd., S. 9. Vgl. GA 14. Vgl. GA 17, S. 12.

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III. Heideggers Auseinandersetzung mit dem Maßstab der Wahrheit des Seins

des ός hat uns auf dem Wege über das Phänomen des ›als‹ auf das Phänomen der Bedeutung geführt«, wird Heidegger in seiner LogikVorlesung von 1925/1926 sagen.560 Die Sprache ist in Heideggers Aristoteles-Lektüre also nicht erst das Zusammengesetzte aus Verb und Nomen und seiner Verbindung, sondern sie ist aus den bedeut­ samen Worten selbst konstituiert. Für Heidegger ist nicht der Laut des Wortes primär, – dieser könnte auch kein Wort sein, z.B. ein nur unwillkürlich erzeugtes Geräusch –, sondern die geschichtlich gewachsene und ständig in Modifikation begriffene Bedeutung des Wortes aus dem performativen Maßstab des Umgangs.561 Sprache und Wort konstituieren immer schon bedeutsame Geschichte und entstammen dieser, […] d.h. jedes Wort als solches ist erst geworden und hat seine Genesis. Der Wortlaut hat nicht ein für alle Male und eigentlich die feste Bedeu­ tung, die die Sache meint – das Wort ist als Ganzes nicht aus primärer ursprünglicher Sacherfahrung geschöpft, sondern aus Vormeinungen und nächsten Ansichten von den Dingen. Die Genesis des Wortes wird nicht vom physiologischen Sein des Menschen getragen, sondern von seiner eigentlichen Existenz. […] Er spricht, sofern etwas wie Welt für ihn als Besorgbares entdeckt ist und im ›für ihn‹ er sich selbst. Aber das Wort ist nicht so da wie ein Werkzeug […], z.B. die Hand. Die Sprache ist das Sein und das Werden des Menschen selbst.562

Dies ist eine zentrale Auffassung Heideggers, die auch im Spätwerk akzentuiert bleibt. Die Sprache bestimmt das Sein des Menschen, indem sie durch das Wort »ist« seine Existenz konfiguriert und färbt. In der bedeutsamen, dynamischen Sprache und ihrer Geschichte zeigt sich also der Mensch als er selbst, indem er ist. Nicht mit der Sprache geht der Mensch um, sondern in ihr und aus ihr heraus. Nicht Laut- und Werkzeugcharakter der Sprache sind konstitutiv, sondern die Möglichkeit, in ihr den Umgang mit bedeutsamen Worten, die Performance, das Messen mit der Welt zu vollziehen.563 Das heißt, GA 21, § 12, S. 152. Vgl. Ebd., S. 151. 562 GA 17, § 2, S. 16. 563 Hier ist insbesondere das direkte Anknüpfen an Heideggers performativen Maßstab der Sprache durch Jacques Derrida zu erwähnen, der in den drei Bänden Die Stimme und das Phänomen (La voix et le phénomène), Grammatologie (De la grammatologie) und die Schrift und die Differenz (L’écriture et la différence) die Dynamik des Sprachwandels im Horizont seines Schrift- und Spurencharakters im Ausgang vom französischen Strukturalismus beleuchtet. Vgl. Jacques Derrida, La voix et le 560 561

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dass jedes Wort auch schon unabhängig vom ist die Bedeutung von Welt in sich trägt. Avant la lettre liefert Heidegger eine radikale Kritik der noch bis dato in Genese begriffenen Linguistik, die bis heute noch kritische Forschungsarbeit mit einer diachron und pragmatisch orientierten Lexis vor sich hat.564 Die Sprache erlaubt also nicht erst allein aus ihrer Satzverbin­ dung, sondern schon aus dem Aufriss des Wortes die Möglichkeit, die Phänomene sehen zu lassen und zu analysieren. Heidegger geht aber noch einen Schritt weiter. Er will den Umgangscharakter des Wortes selbst benennen. Für ihn ist dieser Umgang nicht nur ein Unterfangen einer produktiven Performance, wie man vielleicht vorschnell vom performativen Charakter des Maßstabs der Sorge ableiten könnte, sondern auch ein rezeptiver; erst derjenige, der auf die Sprache hört, sie versteht und maßvoll mit ihrer Semantik interagiert, eignet sie gemäß an.565 Diese Deutung entwickelt Heidegger von seiner Aristoteles-Lektüre her: Der Hörende ruht im Verstehen des Wortes […]. Im Verstehen des Wortes ruhe ich bei dem, was es bedeutet. Etwas verstehen heißt: etwas da haben, haben in der Weise des Verstehens einer Nennung des Genannten. Aristoteles kommt es auch gegenüber Plato darauf an, daß das Sprechen, wenn es sich in der Sprache bewegt, etwas ist, was seinem eigentlichen Sein nach aus dem freien Ermessen des Menschen erwächst und nicht ύi ist.566

Dieses Ermessen meint aber daher auch die Modifikation von Worten in ihrer Bedeutung in der interpretierenden Rezeption, ohne als Maß phénomène. Introduction au problème du signe dans la phénoménologie de Husserl, Paris: PUF 1967; Ders., De la grammatologie, Paris: Éditions de minuit 1967; Ders., L’écriture et la différence, Paris: Éditions du Seuil 1967. 564 Zu erwähnen ist in diesem Kontext der Rückgriff auf die Genesis der Lexis in der Antike durch den Linguisten Wolfram Ax. Er versucht als einer der wenigen modernen Linguisten noch einmal einen unabhängigen Blick auf die Genesis der Lexis als Lehre vom Wort als konstitutives Element der Sprache zu werfen. Wolfram Ax, Lexis und Logos. Studien zur antiken Grammatik und Rhetorik, Stuttgart: Steiner 2000. Auch Zorans neuerer Ansatz Aristoteles‘ kontextuale Sprachauffassung für die moderne Linguistik fruchtbar zu machen, ist hinsichtlich der erneuten Lektüre von Heideggers Deutung der Sprache bei Aristoteles bemerkenswert. Gabriel Zoran, Bodies of Speech. Text and Textuality in Aristotle, Newcastle: CSP 2014, S. 169ff. 565 Vgl. Kapitel V und VI dieser Arbeit. Wir werden dort sehen, wie Heidegger mit dieser appropriativen Deutung des Maßvollen sein späteres Sprachdenken weiterent­ wickeln wird. 566 GA 17, § 2, S. 18.

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selbst immer Thema zu sein. Heidegger fasst dies so: »Das frei Ermes­ sene bezieht sich auf den Akt der Sprachschöpfung selbst, braucht also nicht in jedem Vollzug lebendig zu sein.«567In der Aussage als »aufzeigende Rede« (ός ἁίni) wird dieses besonders bedeutsam, denn für ein solches messendes Verstehen als Rezeption ist ein tätiges und sichtendes Vernehmen (ἴiς) im Aufnehmen notwendig. Diese kontextuelle Art des Vernehmens ist grundsätzlich verschieden von Husserls reiner Noesis der Phänomene, die von Husserl als zu vergewissernde Adäquation von Vernehmen und von Vernommenen gedacht ist. Bei Husserl steht die ἴiς als Kippfi­ gur zwischen Produktion und Rezeption. Dies ist auch bei Heidegger der Fall. Auch hier nimmt sie in seiner Aristoteles-Lektüre die Mitte (ός) ein, allerdings performativ ermessend durch die Sprache hindurch. Bezüglich des Vernehmens betont Heidegger: »Mit oder ohne Verlautbarung ist es immer in irgendeine Weise Sprechen. Die Sprache spricht nicht nur beim Vernehmen, sondern sie führt es sogar, wir sehen durch die Sprache.«568 Doch mit dieser Kippfigur hat es seine Schwierigkeit, denn wenn das Vernehmen der Sprache nicht rezeptiv und produktiv geschicht­ lich durchdacht ist, d.h. »[…] nicht ursprünglich angeeignet ist, verdeckt sie gerade die Dinge, dieselbe Sprache, die doch gerade die Grundfunktion hat, die Dinge aufzuzeigen.«569 Die Appropriation des Umgangs mit der Sprache impliziert, so wie Heidegger Aristoteles liest, die »[…] Möglichkeit des Trugs und der Täuschung […].«570 Die Worte sind in ihrer Komposition in der aussagenden oder aufzei­ genden Rede also nicht nur das Bezeichnende eines Bezeichneten, ein Signifikat des Signifikanten, wovon der Linguist Ferdinand de Saussure und später der semiotisch orientierte Strukturalismus aus­ gehen sollte.571 Hier liegt das eigentlich wegweisende Heideggers: Die Sprache spricht gerade durch die ἴiς, insofern sie in einer Abhebung unterscheidet (ίnin), bei der sich auch getäuscht werden kann, in der statt des sich Zeigens dessen, wie es ist, auch der Schein Ebd., § 2, S. 19. Ebd., § 2., S. 30. 569 Ebd. 570 Ebd. 571 Vgl. Ferdinand de Saussure, Cours de lingustique générale, Paris: Payot 1916; Jean Starobinsky, Les mots sous les mots, Paris: Gallimard 1971; Niels Brügger u. Orla Vigsø, Strukturalismus, Paderborn: Fink 2008, S. 15–17. 567

568

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trügen kann. Dieses fehlbare Unterscheiden qua ἴiς, dies ist nun Heideggers Überlegung, muss als Abheben doch ein umgängli­ ches Verstehen als performatives Ermessen sein. »Die Möglichkeit, die einen bestimmten Umkreis von Abhebbarkeiten in sich hat, jedes Abheben ist in seiner aufzeigenden Tendenz ein Festlegen, ein Bestimmen von etwas als etwas. […] In diesem Abheben wird das ›als‹, das Anderssein-als, ausdrücklich gemacht. […] Das kritische ›als‹ springt im Felde der Vernehmbarkeit heraus: blau anders als rot.«572 Das »Als« ist also demnach die Quelle des Unterscheidens von Zuweisungen durch Worte. Ich nehme etwas als etwas anderes. Mit dem »Als« wird die Welt folglich aus ihrem Phänomencharakter her erschlossen. Hier ist das Kriterium der Wahrheit zentral; es muss das Maß für das besorgende, sprachliche und vernehmende Erschließen sein. Das meint Ernst Tugendhat in aller Klarheit zu sehen: »Was ist es, woran die Erschlossenheit sich anmißt? Welchen Wesens ist das ›Maß‹? Formal kann man das Woran des Sichanmessens das Wahre nennen.«573 Doch woher ist das Wahre herzuleiten? Ist es das Erschließen durch die Als-Struktur? Das meint zumindest Tugendhat. Er kritisiert diese vermeintliche Gleichsetzung bei Heidegger, wobei Tugendhat zu übersehen scheint, dass die Als-Struktur vorprädika­ tiv ist.574 Heidegger hebt dies explizit hervor: »Der vorprädikative GA 17, S. 31. Ernst Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, Berlin: De Gruyter 1967, S. 373. 574 Tugendhats Einwand ist bis heute in der Heidegger-Forschung sehr präsent und ist daher zu beachten. Tugendhat sieht in seiner scharfsinnigen und in der Darlegung weitgehend korrekten Darstellung von Heideggers Wahrheitsbegriff gerade in der vermeintlichen Identifikation von Wahrheit und dem Erschließen dieser eine Ver­ mengung, die das Wahrheitsverständnis zu einem Relativismus erhebe und zugleich die Ursprungsbedingung von Wahrheit verworren lasse, eben weil kein Maß gegeben sei, was Wahrheit denn überhaupt sei. Heidegger gehe somit »[…] gerade über den Aspekt hinweg, auf den es bei der Wahrheit ankommt.« Ernst Tugendhat, S. 334. Dahlstrom hat in seiner Untersuchung zu Heideggers Logik-Verständnis zeigen kön­ nen, dass Tugendhat, trotz seiner insgesamt exakten und wichtigen Darstellung, in seiner Kritik an Heidegger eine Fehleinschätzung vornimmt. Dahlstrom weist darauf hin, dass Tugendhat nicht sehe, dass mit der Gleichsetzung von Wahrheit und dem Erschließen von Wahrheit, Wahrheitsermöglichung gemeint sei. Auch Dahlstrom zeigt, wie wir hier unabhängig von ihm auf anderem Wege gesehen haben, dass es eine ontische Als-Struktur als auch eine davon zu differenzierende ursprüngliche AlsStruktur gibt, die auch er als vorprädikativ ausweist. Vgl. Daniel O. Dahlstrom, Das logische Vorurteil, 271–279. Die von Tugendhat »vermißte Differenz« sei in Wahrheit 572

573

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Charakter der Als-Struktur ist deshalb ausdrücklich zu betonen, weil man in naheliegender Anlehnung an den Ausdruck meinen könnte, diese Als-Struktur sei zuerst und eigentlich gegeben im einfachen Aussagesatz […].«575 Heidegger zeigt, dass dies nicht der Fall ist, da jede Prädikation, d.h. jede Attribution, erst durch das einfache »Als« eine Prädikationsstruktur ermögliche, insofern das »Als« erst die Verbindung und Unterscheidung von Worten als Operation in einem Satz bedinge, in der sich das Besorgen von mindestens zwei Operatoren artikuliere.576 Diese Struktur des Vorprädikativen, die Heidegger meint, lässt sich an einem Beispiel verdeutlichen: »Dort ist der blaue Ball«. Dass der Ball als blau genommen wird und dass ich ihn als dort, zum Beispiel in der Ecke der Sporthalle, liegend sehe und ich mich um ihn sorge, z.B. weil ich ihn als Ball für das Fußballspiel meiner Mannschaft brauche, ist im Kontext notwendig und implizit gegeben, wird aber nicht jedes Mal explizit mitgedacht oder ausgesagt. Vielmehr klingt das »Als« gewissermaßen im Gewebe meiner Handlungen zumeist still oder verschwiegen mit. Somit wird das »Als« als das stille Maß einer Maßgabe in die Performance der Sorge hineingenommen.577 Heidegger fasst dies in seiner Logik-Vorle­ sung so: Wir leben also, sofern wir überhaupt sind, in der Weise des Daseins im Besorgen, d.h. im Verständnis eines Wozu; in diesem Zutunhaben ist das verständnisgebende Wozu im Sinne des ›Als was‹ weder je

als Differenz gegeben, nämlich »[…] in der der apophantischen Als-Struktur der Aus­ sage vorausliegenden existenziell-hermeneutischen Als-Struktur der vorprädikativen Handlungen, die ebenso fehlgehen könnten.« Ebd., S. 280. Dahlstrom sieht also in Tugendhats Deutung von Heideggers Wahrheitsbegriff, der angeblich »[…] kein for­ maler Begriff von Maß sei […]«, eine Voreiligkeit. Vgl. ebd. S. 344. Wir wollen uns dem nicht nur anschließen, sondern anhand unserer vorausgegangenen und noch anstehenden Analyse behaupten, dass Heidegger durchaus ein Kriterium für ein Maß setzt, von dem wir weiter unten zeigen werden, dass es seine Konfiguration durch das performative Ausbalancieren lebensweltlicher Grenzen empfängt. Gleichwohl ist darauf aufmerksam zu machen, dass Tugendhat nicht der Einblick in die Primärquellen gegeben war, wie es heute möglich ist, so dass seine Einwände aufgrund der früheren Quellenlage durchaus als konsequent einzuschätzen sind. Darauf macht auch Dahl­ strom aufmerksam. Vgl. Dahlstrom, S. 275f. 575 GA 21, § 12, S. 144. 576 Ebd., § 12, S. 145. 577 Doch was ist diese Maßgabe selbst? Dies wird Heidegger erst nach Sein und Zeit in aller Deutlichkeit sehen, was wir in den kommenden zwei Kapiteln versuchen herauszustellen. Vgl. Kapitel IV und V dieser Arbeit.

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erst thematisch gewonnen noch überhaupt thematisch bedacht. Im schlichten Zutunhaben-mit ist schon eher das Womit selbst – es –, das als das und das im ›als‹ verstanden ist – thematisch […].578

Dieses Thematischwerden ist für Heidegger genau dann problema­ tisch, wenn sich die Agitation des »Als« auf ein »Ansprechen« im Sinne der Aussage reduziert, da nun gerade der Umgang mit den Dingen verdeckt würde.579 Diese Modifikation der Als-Struktur sorge schließlich für das Problem der Verdinglichung und des Nivellierens des Seienden zur bloßen Vorhandenheit, die Heidegger als eine Tendenz der bisherigen Metaphysik in der Logik der Adäquation zurückgewiesen hatte. »Daher ist das aussagende Bestimmen nie ein primäres Entdecken, das aussagende Bestimmen bestimmt nie ein primäres und ursprüngliches Verhältnis zum Seienden, und deshalb kann es, dieser Logos, nie zum Leitfaden gemacht werden für die Frage was das Seiende sei.«580 Was für ein Problem zeichnet sich ab? Mit der Voranstellung der Aussage wird sich an einer Überschätzung der theoretischen Einstel­ lung aufgrund der im Menschen verankerten Absicherungstendenz vermessen. Dies hatte Heidegger schon in seinen phänomenologi­ schen Interpretationen von Aristoteles‘ Schriften einige Jahre zuvor angezeigt. Es vollzieht sich dabei ein Täuschen, weil im Fokussieren auf das nur noch Zusprechen im Modus der Betrachtung des Seienden die Gebrauchsorientierung und damit der vorprädikative Charakter des »Als« verdeckt werde. Der Kniff des Heideggerschen Ansatzes liegt nun aber gerade darin, dass die formale Struktur des Täuschens entscheidend für seinen Ansatz ist. Denn gerade im Täuschen anti­ zipiert Heidegger gleichwohl den Rückgang auf die Grundfigur des »Als« selbst. Weil ich mich im Ermessen des Als und im Nehmen des Maßes täuschen kann, bin ich immer in der Möglichkeit, mich an der tatsächlichen Maßgabe nicht nur messen, sondern auch vermessen zu können. Es verbirgt sich hier eine Doppelung des Als-Charakters, von der wir bereits gezeigt haben, dass Emil Lask sie schon vor Heidegger hinsichtlich eines Maßstabsdenkens in der Deutung der doppelten Wertgegensätzlichkeit antizipiert hatte.581 Heidegger gelingt es, diese Doppelung ab 1923/24 für seinen performativen Maßstab der Sorge 578 579 580 581

Ebd., § 12, S. 154. Vgl. ebd., § 12, S. 156–157. Ebd., § 12, S. 159. Vgl. Kap I.2b.

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als Umgang qua ἴiς zu integrieren: »Die Doppelung des AlsCharakters, die durch die Sprache verdeckt ist. Das ἀniός-als zeigt sich in jedem Sprechen. Bei jedem kommt aber auch das kritische ›als‹ hinzu.«582 Diese beiden Seiten der sogenannten Als-Struktur können hinsichtlich der Möglichkeit des Täuschens etwas zusprechen oder absprechen. Die Als-Struktur erlaubt etwas als richtig und falsch aus­ zuweisen, etwas zu entdecken oder zu verdecken, etwas zu verbinden oder zu trennen und so etwas als etwas hinsichtlich seiner Wahrheit zu be- und ermessen und so überhaupt zu eröffnen und offenbar zu machen (ῦn).583 Diese Aspekte der performativ messend-ermes­ senden Als-Struktur bezüglich der Frage nach der Wahrheit gilt es nun zu beleuchten, denn sie zeigen, wie Heidegger nun das »Als« als solches versucht zu denken.

b) Wahrheit als Zusprechen und Absprechen Heidegger verweist darauf, dass die Wahrheit als aufzeigende Rede bei Aristoteles zunächst in zweifacher Weise eine Symmetrie erhält: als Zusprechen (άiς) und Absprechen (ἀόiς). Beim Zusprechen werde etwas als etwas zugesprochen, das Absprechen meine dagegen etwas von etwas als etwas wegsprechen, z.B. bei einer bemerkten Täuschung. Dies seien die einfachsten όi. Entscheidend ist für Heidegger, dass ein Zusprechen und Absprechen gleicherma­ ßen ein Offenbarmachen (ῦn) ist. Das Zusprechen geht nach Heideggers Aristoteles‘ Deutung auf ein »konkret Seiendes«, in dem Sinne, dass eine bestimmte Möglichkeit zu erwägen ist, nämlich ob etwas verdeckt oder unverdeckt zu lassen sei, etwas für verbindlich zu halten sei oder etwas strikt von einem anderen zu trennen sei.584 Heidegger macht auf die traditionelle Übersetzung dieser Weisen des Ermessens von etwas als etwas unter den Titeln Bejahung und Verneinung aufmerksam. Aus ihm – so Heidegger – ergebe sich das Dogma etwas als »richtig« im Sinne von »wahr« und »falsch« im Sinne von »unwahr« zu kategorisieren. 582 583 584

GA 17, § 2, S. 31–32. Vgl. GA 19, § 80, S. 583–586. Vgl. GA 17, § 2, S. 22–23.

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c) Wahrheit als Richtigkeit und Falschheit Im Gegensatz zur Bitte, zur Frage oder zum Wunsch, findet sich in der Aussage die Möglichkeit, dass etwas wahr oder falsch sein kann. Dies liest Heidegger bei Aristoteles ab. Doch wie steht es um diese Rede? Entscheidend ist für Heidegger – und das zeigt seine eigentümliche Interpretation von Aristoteles‘ Logik –, dass die Möglichkeit des ός falsch zu sein, auch erst die Bedingung der Möglichkeit konstituiert, dass etwas wahr sein kann. »Denn die Weise, in der er wahr sein kann, ist, wie sich zeigen wird, mitbestimmt durch die Art der Falschheit, die dem ός zukommt.«585 Wie kann dies sein? Wir neigen dazu, Heidegger nicht recht zu geben, denn von der alltäglichen Auffassung her scheint doch die Wahrheit konstitutiv und das Falschsein eine Negation der Wahrheit zu sein. Heidegger weist dies als mittelalter­ lich-neuzeitliches Vorurteil zurück. Der Sinn von »wahr« und »falsch« im ός sei im griechischen Denken und in der Sprache der Griechen ein anderer. Dahlstrom hat in seiner Arbeit zur Logik in Heideggers Denken bereits den Finger darauf gelegt, dass wir gerne dazu tendieren, mit unserer geschichtlich gewachsenen logischen Begrifflichkeit – etwa der der derzeit prominenten sprachanalytischen Tradition – Aristo­ teles nur von einem sehr engen Sichtfeld her zu lesen: Doch »[…] die verschiedenen Wahrheitstheorien, die innerhalb der sprachanaly­ tischen Tradition entworfen worden sind, zeugen eindeutig davon, daß diese Traditionen tief im logischen Vorurteil verwurzelt sind.«586 Dieses »logische Vorurteil« beruhe sowohl bei Freges, Russells, Peirce‘ und auch noch bei Tarskis, als auch bei anderen iterativen, semanti­ schen, pragmatischen, performativen und illokutiven Logikansätzen auf der stillschweigenden Voraussetzung, dass Logik den Maßstab am Urteil und der Aussage zu messen habe.587 Vielleicht ist diese Haltung zur Logik bis heute eine unangemessene, weil sie nur einen Ausschnitt aus einer noch möglichen Logik fixiert? Heidegger projektiert diese Fragestellung: er selbst weist in seiner Logik-Vorlesung explizit auf unsere unangemessene Deutung und Explikation dieser Logik hin. Statt des Beharrens auf diesen herkömmlichen fixen Maßstab der Logik, sei auf die Grundstruktur des ός selbst zu achten. Dies 585 586 587

GA 21, § 13, S. 162. Daniel O. Dahlstrom, Das logische Vorurteil, S. 36. Vgl. ebd., S. 36–38.

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ist für Heidegger eben die Als-Struktur und nicht die unhinterfragte Übernahme des Urteils, des »Vor-urteils«, das Heidegger seit seiner Habilitation als Tendenz zum Homogenisieren und zu dessen Apex als Adäquation bezeichnet hat: »Hat man diese Grundstruktur des έin verstanden, dann ist es gar nicht möglich, in dieser Bestim­ mung von Wahr- und Falschsein etwas zu finden, was Anhalt gäbe, Wahrheit als Abbildung und Nachbildung von Seienden im Bewußt­ sein im Sinn einer nachmessenden Übereinstimmung zu fassen.«588 Im Rückgriff auf die griechischen Originaltexte sieht Heidegger, dass dieses »Nachmessen im Sinne der Übereinstimmung« auch noch gar nicht vorgesehen ist. So übersetzt Heidegger ἀές und ῦς mit »Entdeckung«, »Entdecktsein« bzw. als »Verdeckung« und »Verstellung« bzw. »Täuschen« und bemerkt, dass der Maßstab der logischen Operatoren bei Aristoteles selbst viel weiter gefasst ist, als später in der Schulphilosophie behauptet wurde und im Grunde bis heute behauptet wird.

d) Entdeckung und Verdeckung Erst von der sinngemäßen Übersetzung dieser beiden Begriffe sei es nämlich überhaupt möglich, die konstitutive Konfiguration der Als-Struktur als ός und als Maß der Wahrheit des Seienden und des Seins genauer in Augenschein zu nehmen. Aristoteles habe sich nämlich nicht festgelegt, sondern sich lediglich auf die Phänomene konzentriert, ein »[…] Fehl-sehen vermieden und damit den Weg frei gehalten […].«589 Dieses Freihalten ist hier wie eine Zurückhaltung von einer Festlegung der Deutung zu verstehen. Entdeckung – dies liest Heidegger dann wieder von Aristoteles ab – sei ein Zusprechen von etwas Zusammen-schon-vorhandenen und das Wegsprechen bzw. Absprechen von Auseinandervorhandenen. Die Verdeckung sei jeweils die entgegengesetzte Behauptung, d.h. Wegsprechen von Zusammen-schon-vorhandenen und Zusprechen des Auseinander­ vorhandenen. Das ist jeweils logisch-ontologisch von der Als-Struk­ tur her möglich: etwas als etwas.590 Heideggers Projektion besteht also nun darin, dass er Wahrheit nicht mehr unter einer diskreten Maßnahme eineindeutiger logischer 588 589 590

GA 21, § 13, S. 163. Ebd., S. 164. Ebd., S. 164–165.

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Kategorien fassen muss, die genauso nur eineindeutige Resultate zu bemessen zulassen und so die Verdinglichung des Seienden als Vorhandenheit verfestigen. Vielmehr kann er mit der näheren Übersetzung von ἀές und ῦς einen flexibleren Maßstab anpeilen, der Wahrheit auch nicht mehr nur über vorhandene Dinge aussprechen muss, sondern auch den Gebrauch, d.h. eine operatio­ nal-pragmatische Konfiguration, berücksichtigen kann. Der Maßstab einer solchen Konfiguration von Wahrheit ist nicht statisch, sondern dynamisch. Er ist vor allem nicht an das Vorurteil der Aussage und des Urteils gebunden. Die Möglichkeit dieser Dynamik erlaubt dann aber auch das Sein als Sein für das menschliche Dasein fundamental-ontologisch in den Blick zu bringen: Wahrheit kann bezüglich ihrer Verfassung als Entdeckung von Seien­ dem entsprechend aufgeteilt werden; als Entdecktheit ist sie einmal ein Charakter des Seienden selbst (im besonderen der Welt) – als Entdecken aber zugleich ein Charakter des Verhaltens des Daseins. Dieses Verhalten selbst aber und das Dasein als solches ist für es selbst entdeckt.591

Ergo kann die doppelte Konfiguration von Zusprechen und Abspre­ chen hinsichtlich der Frage von Entdeckung oder Verdeckung von Verbundenem und Getrennten für Heidegger auch genauso dyna­ misch aufgeschlüsselt werden und der Maßstab der Rechnung auf das verdinglichte Vorhandene kann abgehoben werden und somit allmählich in den Hintergrund treten. Dies versucht Heidegger dann, wenn er die Konstellation der Als-Struktur als Verbinden (ύniς) und Trennen (iίiς) genauer unter die Lupe nimmt.

e) Die Konstellation der Als-Struktur als ύniς und iίiς Das Problem des Urteils und das Beharren auf der satzorientierten Aussagenlogik – sei es nun als Logik der Kopula, als Funktionslogik oder im Sinne einer modernen Fuzzy-, Feld- oder Referenzlogik – besteht nach Heidegger, wie wir in der Nachzeichnung seiner rejekti­ ven Strategie gezeigt haben, in einer eineindeutigen Fixierung auf die Adäquation und die Gewissheit der Übereinstimmung, sprich: auf die Verbindung, d.h. die ύniς. Selbst dort, wo wir eine logische 591

Ebd., S. 169.

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III. Heideggers Auseinandersetzung mit dem Maßstab der Wahrheit des Seins

Funktion oder eine ihrer Nachfolgelogiken vorliegen haben, gibt eine scheinbar neue Differenzlogik – und vielleicht gerade die Möglichkeit ihrer unendlichen Iteration im Feld – die heimliche Erbschaft dieser Fixierung auf die ύniς im Urteilen und Aussagen keineswegs völlig preis. Somit ist eine Logik der Differenz bei Frege nur eine Modifika­ tion der Tradition des Urteils, in der, über die negative Theologie von Cusanus bis hin zu Bruno, Descartes, Leibniz, Wolff und Kant sowie die Neukantianer, das Trennen, d.h. die Differenz, nur stärker hervorgehoben wird: Die Funktion f(x) ist nichts weiter als die Dre­ hung von S c P zu P (S), wobei die Klammer den Anteil der Differenz fokussiert, wie Scheier herausarbeitet.592 Aufgrund Heideggers kriti­ scher Haltung zur Funktionslogik müssen wir davon ausgehen, dass Heidegger diese wesentlichen logischen Implikationen mehr oder minder selbst präsent gewesen sein durften, nicht zuletzt durch Emil Lasks Lehre vom Urteil und Heideggers Kenntnis von Freges und auch Russells Logikschriften.593 Heidegger geht es nun auch nicht darum, ein »Gegenmodell« zu liefern oder die Urteilstradition abzuschaffen. Er zeigt nur, dass der Maßstab dieser Logik deshalb eine Vermessenheit ist, weil dieser Maßstab sich einerseits als rational gibt, aber anderseits nicht tief genug zurückgeht, nämlich noch vor das Verbinden (ύniς), das zugleich und immer schon an ein Trennen (iίiς) gebunden war. Heidegger legt in der Sophistes-Vorlesung den Finger darauf: »Erst auf dem Grunde solcher iίiς erfolgt ύniς, die dem ός zu eigen ist. Der ός ist dihairetisch-synthetisch.«594 Deshalb geht Heidegger noch einen Schritt zurück; nicht als Rückschritt im Sinne eines Verharrens in der guten alten griechischen Tradition der Logik, sondern den Schritt zurück vor eine logische Bindung und vor die logische Differenz. Der Maßstab ist im Als 592 Vgl. Claus-Artur Scheier, Luhmanns Schatten. Zur Funktion der Philosophie in der medialen Moderne, Hamburg: Meiner 2016, S. 31. 593 Lask hatte die logische Drehung so artikuliert: »Die Kopula ist in Wahrheit nichts weiter als ein verselbstständigtes Abstraktionsgebilde, nämlich das dem unspaltbaren Zusammengehören und Nichtzusammengehören der Elemente gemeinsame Parti­ kelchen einer Verbundenheit überhaupt, das farblose Residuum einer Verklammerung von Elementen, das übrig bleibt, wenn vom harmonischen und disharmonischen Cha­ rakter des Gefüges abgesehen ist. […] [Es] ist weiter nichts als eine Umschreibung der traditionellen Kopula.« Emil Lask, Die Lehre vom Urteil, Jena: Schleglmann 2003 (orig. 1911), S. 272, [S. 315]. 594 GA 19, § 22, S. 145.

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2. Ausarbeitung der Als-Struktur als performativer Maßstab der Wahrheit

zwischen und vor diesen beiden Möglichkeiten der Logik zu suchen. Dies ist für Heidegger die eigentliche Besinnung (όniς) und Zumessung auf einen performativen Ursprung (ἀή) des Oszillierens zwischen ύniς und iίiς. Eine ἀή aber, und gar, wenn sie eine letzte, äußerste ἀή ist, ist selbst nicht mehr etwas, was als etwas angesprochen werden kann. Das angemessene Ansprechen einer ἀή kann nicht durch den ός voll­ zogen werden, sofern dieser eine iίiς ist. Eine ἀή kann nur an ihr selbst erfaßt werden, nicht aber als etwas anderes. Die ἀή ist ein ἀiίn, etwas, dessen Sein es widerstrebt, auseinandergelegt zu werden. Demnach gehört zur όniς die Möglichkeit des schlichten Erfassens der ἀή als solcher, d.h. eine Aufdeckungsart, die über den ός hinausgeht.595

Dieses schlicht zu Erfassende ist das »Als« selbst, das weder eine Verbindung noch eine Trennung ist, sehr wohl aber beide Operationen konstituiert und zu konkretisieren erlaubt. Das ist das wirklich Neue in Heideggers Ansatz zur Logik und zur Ontologie. Tugendhat, Dahlstrom und Zaborowski haben auf diese innovative Brisanz dieses Heideggerschen Ansatzes zur Logik hingewiesen.596 Da das Als das eigentlich anzupeilende Maß für Heideggers logisch-ontologische Analyse ist, müssen wir verstehen, wie er das Als bezüglich der ύniς und iίiς sowie für das Sein konstelliert. Die Grund­ frage, die Heidegger dabei begleitet, die Konfiguration dieses Maßes umfassend zu sichten, lautet folgendermaßen: »Was besagt Sein, damit Wahrheit als Seinscharakter verstanden werden kann?«597 Das heißt für Heidegger die Analyse der ύniς und der dazugehörigen iίiς ist hinsichtlich des »[…] Wahrseins […] ein schillernder Begriff, bald logisch, bald ontologisch, genauer: meist beides zusam­ men; oder noch schärfer: weder das eine noch das andere.«598 Aber nicht nur die Oszillation von logisch und ontologisch ist bedeut­ sam, sondern mit ihr auch die Oszillation zwischen ύniς und iίiς selbst. Für Heidegger ist diese Konstellation von folgender Ebd. Vgl. Tugendhat 1967; vgl. Dahlstrom 1994; vgl. Holger Zaborowski, »Wahrheit, Sein und Zeit. Zu Heideggers Vorlesung aus dem Winter-semester 1925/26 Logik. Die Frage nach der Wahrheit (GA 21)«, in: Heidegger und die Logik, hrsg. v. Alfred Denker und ders., Amsterdam u. New York: Rodopi 2006. 597 GA 21, § 14, S. 190. 598 Ebd., § 13, S. 168. 595

596

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III. Heideggers Auseinandersetzung mit dem Maßstab der Wahrheit des Seins

Fragestellung aus in die Sicht zu nehmen, nämlich: »[…] inwiefern Synthesis die Bedingung der Möglichkeit von Falschheit und Wahr­ heit ist […].«599 Hier ist Heideggers Übersetzung des Aristoteles und seine Inter­ pretation von ύniς und iίiς relevant, vor allem 1051a bis 1052a von Aristoteles‘ De interpretatione. Heidegger zeigt: die Dynamik von Entdeckung und Verdeckung schiebt sich ineinander, gibt jeweils die Möglichkeiten qua ύniς und iίiς entdeckt oder verdeckt zu sein. »Im Umkreis dessen, wo es so etwas wie Zusammensein und Auseinandergenommenwerden gibt, ist sowohl das Wahre als das Falsche.«600 Dieser Möglichkeitscharakter ist somit am Performativen orientiert und steht somit im Bezug zum Sein des Seienden qua Als-Struktur im Sinne eines »Begegnenden«.601 Entscheidend ist für Heidegger, dass es hier nicht die Dialektik von Wahrheit im Sinne von urteilsmäßiger Richtigkeit oder Falschheit gibt, sondern jeweils den Zuspruch und das Absprechen von ύniς und iίiς aus dem Entdecken und Verdecken vom Sein des Seienden im Begegnen durch das »Als«: »Demnach ist jetzt eine Weise von Entdeckung gewonnen, die sich vor anderen ausnimmt, was sich darin zeigt, daß diese Wahrheit kein mögliches Gegenteil im Sinne einer Falschheit hat, genauer: ein Entdecken ist, für das es keine Verdeckung gibt.«602 Heidegger zeigt nun, dass dies im Grunde ein Sonderfall ist; etwas kann auch im Sinne der Täuschung verdeckt werden; es kann eine Komponente einer zeitlich konnotierten Entdeckung und Verde­ ckung dazukommen. Was aber vorschichtig ist, ist die Möglichkeit von Entdeckung im »Als« selbst. »Entdecktheit also übernimmt die Antwort auf die Frage nach dem Sein. Ein Seinscharakter des Seien­ den, und zwar der des eigentlichen Seienden, des Einfachen, ist durch Entdecktheit bestimmt.«603 Zusammengefasst: Diese Entdecktheit im Sein des Daseins hat an ihm selbst sich zeigenden Gewebecharak­ ter, der grundlegend durch das vorprädikative »Als« präfiguriert und präformiert ist sowie die Grundoperatoren ύniς und iίiς in dieser Konfiguration stiftet. Aus dem Als gabelt und webt sich also die sich zeigende Wahrheit von Welt. 599 600 601 602 603

Ebd., § 13, S. 171. GA 17, § 2, S. 40. Vgl. GA 21, § 13, S. 180–181. Ebd., S. 182. Ebd., § 13, S. 190.

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3. Übergang vom Maßstab der Definition zum aneignenden Ermessen

f) Der performative Maßstab der Sorge als temporales Anwesen in der Logik der Als-Struktur Wie aber ist die Performance des Entdecktseins möglich, so dass sich etwas in Bezug vom Dasein zur Wahrheit halten kann? Heidegger sieht dies bekanntlich in der Anwesenheit, die mehr meint als phä­ nomenologische Präsenz. Dies stellt Heidegger auch schon in der Logik-Vorlesung von 1925/1926 heraus.604 Das Entscheidende ist, dass Heidegger die temporale und ortsgebundene Komponente dieses Begriffs nun im griechischen Wort ὐί zusammendenkt. »Und der Terminus ὐί, den man so gänzlich sinnlos in der Philosophiege­ schichte kolportiert als Substanz, heißt nichts anderes als Anwesen­ heit in bestimmt zu fassenden Sinn.«605 Und dieser ist für Heidegger vor allem zeitlich durch den Titel »Gegenwart« deklariert, der von ihm von der Sache her mit »Anwesenheit« semantisch assoziiert wird. Denn qua Als-Struktur werden im Zuspiel von Verbinden und Trennen vor allem der performative und auch der temporale Charakter sichtbar. »Gegenwart ist ein Charakter der Zeit. Sein ver­ stehen als Anwesenheit aus der Gegenwart heißt Sein verstehen aus der Zeit.«606 Dies ist Heideggers vorläufiges Resümee seines Projekts: Der Maßstab des Seins ist aus der Logik der Als-Struktur her zu verstehen und er ist ursprünglich die Zeit selbst, der erst die performativ konnotierte Als-Struktur ermöglicht. Die Zeit ist somit die Orientierung des performativen Maßstabs, der auf das Sein ausgerichtet ist, insofern dieser qua Dasein auf Wahrheit bezogen wird.

3. Der Übergang vom Maßstab der Definition zum aneignenden Ermessen des Horizonts des Seins Von hier ist nun Heideggers Aneignung der Konstellation des Ermes­ sens sichtbar zu machen. Sie zeichnet sich durch die Abhebung von der theoretisierenden, weil definierenden Aussage zum gegenwärtigen Ermessen des performativen und temporal orientierten Menschen aus, den Heidegger aus Kohärenzgründen mit dem Begriff Dasein betitelt. 604 605 606

Ebd., S. 191. Ebd., § 14, S. 193. Ebd.

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III. Heideggers Auseinandersetzung mit dem Maßstab der Wahrheit des Seins

a) Die Aussage (ὁiς) als vermessendes Feststellen und Umgrenzen Heidegger sieht an der Kategorisierung, d.h. an der Definition, die Pauschalität der hergebrachten Logik situiert, die zur Rechen- und Verdinglichungstendenz führe. Zugleich ist sie aber das Maß, mit dem die Tradition die Welt vermisst, indem Bereiche begrenzt und festge­ stellt werden. Produkt dieser Begrenzungen sind dann Abstrakta und Homogenisierungen im Sinne des Angleichens, mit dem die Verding­ lichung einhergehe, in der das Seiende nur noch als Vorhandenheit verstanden werde. Dies impliziert, dass das Anwesen und Anwesende (ὐί) als Besitz konnotiert werden. Dies notiert Heidegger in der Marburger Vorlesung Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie von 1924. »Der Ausdruck ὐί ist als Terminus erwachsen aus einem Ausdruck, der in der Alltagssprache herrschend ist und dort ein bestimmtes Seiendes meint, nämlich das Seiende vom Charakter des Vermögens, Besitzes, Anwesens usw.«607 Zugleich sei die ὐί eine Verkürzung eines Zeitwortes: das Gegenwärtigsein (ὐί). ὐί heiße demnach so viel wie Eigentum, dem ein bestimmtes herkünftiges Wassein, eine Jeweiligkeit zukomme, insofern ihm ein weiterer ός zugesprochen werde: der ὁiός.608 Dieser »[…] ός ist als ὁiός […] ein solches ›Sprechen‹, ›Ansprechen‹ der Welt, daß in ihm das Seiende hinsichtlich seiner Fertigkeit und diese als gegenwärtig angesprochen wird. Ὁiός ist ός ὐίς in dem Sinne, daß ὐί bezeichnet das ὸ ί ἦn ἶni.«609 Das heißt: etwas wird hinsichtlich seines Seins in seiner Anwesenheit erfasst. Ὁiός meint damit, dass etwas in seinem Sein eine Grenze (ές) hat. Dies ist der Sinn, von dem aus Heidegger den ὁiός deutet.610 Später wird dieser Begriff auch als »Definition« und »Terminus« übersetzt. Wenn ich etwas definiere, den ὁiός an die Welt anlege, d.h. abgrenze, dann kann ich etwas zuteilen, abstrahieren, zumessen, homogenisieren, quantifizieren und schließlich mathematisieren. Dies gilt, insofern der ὁiός auch eine zu erreichende Grenze (ές) und ein Ende (ές) sei, indem das Äußerste einer Möglich­

607 608 609 610

GA 18, § 7, S. 26. Vgl. ebd., § 7, S. 32–33. Ebd., § 8, S. 36. Vgl. ebd., S. 38.

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3. Übergang vom Maßstab der Definition zum aneignenden Ermessen

keit erreicht werde.611 Hier fließt dann Heideggers Interpretation zum aristotelischen Maß im Hinblick auf ein »Zuviel« und ein »Zuwenig« ein. Die Grenze stiftet einen Rahmen, der ein »Zuviel« (ὑή) durch die Grenze (ές) blockiert.612 Im ὁiός im Sinne von Ende (ές) und Grenze (ές) gibt es keine Möglichkeit des darüber Hinausschießens, ohne den ὁiός selbst zu suspendieren. Heidegger fasst dies so: »Das Worüber-hinaus-nichts hat den Charak­ ter der Grenze im Sinne einer Bestimmung des Seins.«613 Eine solche Grenze, die die »Bestimmung des Seins des Seienden« meint, zeigt sich hier als Ort der Zumessung, d.h. durch einen fixierten Maßstab, der auch eine Wahrheit festlegen kann. Was Heidegger hier verdeutlichen will, ist, dass der ὁiός selbst ein Begriff sei, der aus der sich zeigenden Lebenswelt der Griechen erst erwachse und geschichtlich erst später als fixer Maß­ stab interpretiert werde. Damit fokussiert er ein weiteres Mal die Appropriation der Zumessung hinsichtlich des Seins und der Wahrheit. Wenn der ὁiός qua Grenze (ές) ein Maß stiftet, dann ist für Heidegger nun sichtbar zu machen, aus welchem alltäglichen Sorgeverhältnis die Grenze als Begriff herrührt. Was heißt aber hier Alltag? Der Alltag ist durch die Sorge des Tages geprägt. Der Tag selbst bildet dabei ein Maß und eine Grenze in zeitlicher und räumlicher Hinsicht. Heideggers Überlegung ist dann entsprechend die, dass der Rahmen dieses Tages und des Alltags wesentlich dadurch geprägt sei, dass der Himmel und dessen Horizont, der den Himmel von der Erde scheidet, eine lebensweltliche Einfassung generiere, woraus ein tieferer Charakter der Umgrenzung sichtbar werde – nämlich als ὁin.

b) Der ὁin als Möglichkeit des gegenwärtigenden Ermessens der Weltgrenzen Heidegger ist überdies der Auffassung, dass die Genese des Maßstabsdenkens, so wie es vor allem bei Aristoteles am umfassendsten als Maß der Mitte, zwischen einem »Zuviel« und einem »Zuwenig« artikuliert ist, der griechische Himmel und die Welt sei. In diesem Zwischenbereich nehme der Mensch eine Mittelstellung ein: 611 612 613

GA 18, § 11, S. 89. Vgl. ebd., § 11, S. 83. Ebd., § 11, S. 89.

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III. Heideggers Auseinandersetzung mit dem Maßstab der Wahrheit des Seins

Der griechische Himmel und die Welt müssen verstanden werden als ein Gewölbe, an dem die Sonne auf- und untergeht. Das praktische Besorgen des Menschen spielt sich ab in der Mitte, im έn. Die Erde ist das Orientierungszentrum für die Orientierung in der Welt, welche Orientierung noch gar nicht theoretisch zu sein braucht, nicht naturwissenschaftlich. Dieses Orientierungssystem ist ein absolutes. Es gibt nichts, von woher mein Dasein relativ wäre […].614

Dabei geben die Erde und der Himmel eine Umgrenzung (ὁin) sowie einen Horizont, die qua Anordnung (ός) einen Platz stiften, an dem der Mensch seinen umgrenzten Ort hat und damit auch ein zeitlich zu denkendes Anwesen.615 »Das Seiende als ός ist charakterisiert durch die Gegenwärtigkeit dessen, was immer schon da ist, ὐί. Jedes Seiende in seinem Sein ist bestimmt dadurch, daß es ές ist, das Fertiggewordene, das seine Grenzen hat.«616 Nun geht Heidegger noch einen Schritt weiter: die Grenze ist hier als konstitutives Moment des Seienden überhaupt gedacht. Das Seiende hat Maßstabscharakter: „›Grenze‹ nicht etwa bestimmt durch die Beziehung eines Seienden auf ein anderes, sondern die Grenze ist selbst ein Seinsmoment am Seienden.«617 Dies ist für Heidegger die Begrenzung als Horizont: »Das ist nur möglich, weil bei den Griechen die Grenze ein ganz fundamentaler Charakter des Daseins des Seienden ist. Die Grenzhaftigkeit ist ein fundamentaler Charakter des Da. Dieses Moment des ὁin ist […] das Seiende, indem es vorhanden ist, als ein ›das da‹, so daß dies ›das da‹ in seiner Seinsheit sichtbar, bestimmbar, faßbar wird.«618 Von dieser Grenzbestimmung seien »[…] einige darauf gekommen ›überhaupt‹ die Grenze im weitesten Sinne die ›Zahl‹ als die ὐί zu bezeichnen.«619 Damit ist auch für uns ein weiteres Mal gezeigt: Heidegger denkt die Seinsfrage, hier die Bestimmung des Seins des Seienden bei den Griechen als Anwesenheit (ὐί), vom Problem des Maßstabs und hier explizit von seiner Umgrenzung her. Doch ist nun für Heidegger noch positiv anzueignen, nicht woher der Horizont, d.h. der Grenzbereich (ὁin) lebensweltlich, topolo­ GA 18, § 22, S. 267. Genau dieses Verhältnis wird im Kunstwerkaufsatz und in den Hölderlin-Vorle­ sungen erneut Thema sein, wie wir noch sehen werden. Vgl. Kap VI.7 dieser Arbeit. 616 Ebd. 617 Ebd. 618 Ebd., § 7, S. 31. 619 Ebd. 614 615

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3. Übergang vom Maßstab der Definition zum aneignenden Ermessen

gisch und geschichtlich herrührt, sondern warum es überhaupt zur Fassung eines Grenzbereichs zwischen Erde und Himmel, in dessen Mitte der Mensch steht, kommt. Es ist die Dynamik, die Bewegung in diesem Weltlauf, die in Aristoteles‘ Physik hinsichtlich des Maßes und des Maßstabes der Mitte umfassend diskutiert wird.620 Diesen Grenz- und Maßstabscharakter der Bewegung schaut sich Heidegger selbst auch an. In seiner Analyse zur Physik des Aristoteles hält er bezüglich des Bestimmens und Umgrenzens (ὁin) auch für das menschliche Dasein fest: Die Bewegung ist ein ἀόin. Eine ›Unbestimmtheit« bestimme ich nur angemessen, wenn ich sie durch eine Kategorie bestimme, die die Unbestimmtheit trifft. […] Dasein ist Fertig-Dasein an seinem Platze, Grenze. Wenn es bewegt ist, ist es etwas, das seinen Ort wechselt, ist es ein solches, das an keinem bestimmten Platze ist. Wenn ich ein solches, das ständig den Ort wechselt, also nicht in seinem ές bleibt, bestimme, dann steht es still, dann ist es nicht mehr das Unbestimmte, das nicht an seinem Platze ist.621

Von wem aber wird festgestellt, dass durch ές und ὁin ein wohldefinierter Maßstab des ὁiς als Möglichkeit des Festhaltens und Stillstellens manifest werde? Es ist der bewegte Mensch in seiner bewegten Welt selbst, der sich besorgend-messend mit Hilfe der Als-Struktur an dieser Welt orientiert. Dieses Messen qua »Als« hat den Charakter des Bezogenseins. Hier erhält es den Titel »zu etwas« (ός i) auf Welt. Dies ist für Heidegger der Charakter des In-derWelt-seins.622 Entscheidend ist aber nun, dass diese Bewegung durch einen besonderen Grenzcharakter auffällig wird: die Anwesenheit als Gegenwart, die die Bewegung in ihrer Temporalität zeigt und die Zeit als Horizont sichtet.623

c) Die Zeit als der maßgebliche anzueignende Horizont des Seins Der eigentliche anzueignende Grenzbereich, das wird Heidegger klar, ist derjenige, der die Dynamik des Menschen selbst fokussiert. Dieser oszilliert in der Anwesenheit und der Gegenwart, die später in der 620 621 622 623

Vgl. Arist. Phys. E, 227a ff. Ebd., § 27, S. 319. Vgl. GA 18, S. 323ff; vgl. ebd., S. 328. Vgl. ebd., S. 209.

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III. Heideggers Auseinandersetzung mit dem Maßstab der Wahrheit des Seins

Logik-Vorlesung sauber geschieden werden: „ Sein gleich Anwesen­ heit und Wahrheit gleich Gegenwart […].«624 Da Heidegger nun projektiert und angeeignet hat, dass der Mensch sich sorgend-mes­ send qua Als-Struktur an einer dynamischen Welt performativ misst, kann er in der Logik-Vorlesung von 1925/1926 über ihre konstitutive Struktur sagen: »[…] je mehr sie sichtbar wird in ihrer Temporalität, […] genauer: daß der ganze durch sie umgrenzte Seinszusammen­ hang sichtbar wird – Verhaltung: Dasein.«625 Die Verhaltung bzw. Haltung des Daseins hatte Heidegger in den Grundbegriffen als eine Bewegtheit zwischen »mehr oder minder«, d.h. im Pendeln zwischen einem hyperbolischen »Zuviel« und einem elliptischen »Zuwenig« aus den phänomenologischen Interpretationen zu Aristoteles auf­ gegriffen.626 Die Grundhandlung ἀή dieses Daseins artikuliert Heidegger auch hier im bewegten Pendeln hin zur Mitte (ός) zwischen diesen Extremen. »Ἀή ist ein Wie des Daseins, nicht als feste Eigenschaft, sondern als Wie des Daseins bestimmt durch dessen Sein, charakterisiert durch die Zeitlichkeit, durch die Erstreckung in die Zeit.«627 Der Horizont des Maßes ist damit das Dasein und dieser Hori­ zont artikuliert das Maß als Erstreckung der Zeit. Diese Erweiterung der Frage und der Besinnung des Verhältnisses von Maß und Sein wird nun von Heidegger in Sein und Zeit und in den daran anschließenden Vorlesungen beleuchtet. Erneut wird hier die Auseinandersetzung mit dem herkömmlichen berechenbaren Maß Thema, das zur Ver­ dinglichung führt und das aus Heideggers Sicht sogar selbst vor der Zeit des Menschen keinen Halt macht, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden.

624 625 626 627

GA 21, § 15, S. 207. Ebd., § 16, S. 208. GA 18, § 17, S. 180. Ebd. § 17, S. 181.

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IV. Die Genesis eines ekstatischen Maßes der Zeit in Sein und Zeit

Heideggers frühes Denken kulminiert bekanntlich in den Vorlesun­ gen rund um das Buch Sein und Zeit von 1927, insofern er hier nach dem Sinn des Seins bzw. nach dem Sein fragt. So lauten in etwa die typischen Handbuch-Einträge.628 Doch was heißt dies überhaupt? Warum ist gerade die Frage nach dem Sinn von Sein für Heidegger ein so massives und einschneidendes Ereignis in seinem Denken? Und warum führt Heidegger diese Frage gerade zu einem Zeitverständnis in Konjunktion mit der Seinsfrage: Sein und Zeit? Vielleicht erlauben die von uns gestellten Fragen zur Rolle des Verhältnisses von Maß und Sein und die dazu bereits in den vorhe­ rigen Kapiteln herausgearbeiteten neuralgischen Phänomene hier eine Perspektive einzunehmen, in der die frühe, große Wegmarke in Heideggers Denken der späten zwanziger Jahre noch einmal anders akzentuiert werden kann. Ausgehend von dem Hauptwerk Sein und Zeit wäre dann auch der Blick geschärft, um Heideggers Anliegen, der konkreten Besinnung den Vorschub gegenüber dem Horizont der abstrakten Berechnung zu geben, verständlicher zu machen. Mit die­ sem gewonnenen Verständnis wird es möglich zu fragen, in welchen Grundfiguren und Strukturen für Heidegger so etwas wie ein Maß des Seins in den Blick kommt und wie diese Konfigurationen Anreiz für das Nachdenken bis heute bieten können. Dazu erinnern wir uns zunächst an die Ergebnisse, die wir herausgearbeitet haben. Mit ihnen werden wir weiterarbeiten. Wir hatten gezeigt, dass Heidegger sich methodisch zuerst absto­ ßend (rejektiv) mit der bisherigen Deutung des Maßes auseinander­ gesetzt hatte, um diese dann entwerfend (projektiv) und schließlich aneignend (appropriativ) in sein Denken zu integrieren. Wir fassen dazu noch einmal die bereits herausgearbeiteten Ergebnisse für die weitere Untersuchung zusammen, in deren Umkreis die Aneignung in So etwa bei Inwood. Vgl. Michael Inwood, Heidegger, Übers. v. David Bernfeld, Freiburg: Herder 1999 (orig. 1997), S. 15.

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IV. Die Genesis eines ekstatischen Maßes der Zeit in Sein und Zeit

Sein und Zeit gesichtet wird. Dieses kurze Zwischenresümee werden wir für die Deutung des Maßverständnisses in dieser Schrift brauchen. Erstens lernten wir, dass Heidegger schon in seiner frühesten akademischen Zeit die Frage nach dem Maß im Verhältnis zur Frage nach dem Sein aufgeworfen hatte. Wir sahen, dass er dieses Verhältnis in einer vielschichtigen, heterogenen Tendenz gegen eine monothe­ matische, homogene Deutung eines Maßes des Seins gewandt hatte. Zweitens zeigte sich, dass sich ein solcher heterogener Maßstab im Unterschied zu einem homogenen Maßstab nicht durch Feststellung und eine abstrakte Objektivität auszeichnete, sondern durch eine Dynamik und eine Performance, die sich ganz an der Konkretion des menschlichen Daseins in Relation zu dessen Welt orientieren. Diesen konkreten, performativen Maßstab nannte Heidegger die Sorge. Drit­ tens zeigte sich, dass sich das Dasein innerhalb dieses performativen Maßstabs auch in uneigentlicher Weise vermessen kann, wenn es sich an den Vorgaben der Öffentlichkeit orientiert, in ihnen hyperbolisch aufgeht oder alles außerhalb der alltäglichen, öffentlichen Auslegung verdrängt und ein alternatives Verständnis von Welt elliptisch behan­ delt. Die Folge ist die Hingabe zum sogenannten »Man«. Es wurde aber auch deutlich, dass das Dasein ein eigentliches Messen erreichen kann, wenn es sich zumindest partikulär dem Vermessen enthält und die Besinnung der Welt im eigenen selbstverantwortlichen Denken sorgend zum Maßstab für das eigene Sein nimmt. Viertens ließ sich die Logik der Struktur der Sorge als performativer Maßstab an der Als-Struktur ausmachen. Auf dieser beruhen sowohl das uneigent­ liche als auch das eigentliche Dasein. Die Als-Struktur ermöglicht wiederum ein verstehendes Auslegen, aus dem sich jeweils jeder konkrete Bezug herleiten lässt. In ihrer performativen Struktur macht sie das sich zeitigende Messen des Horizonts der Welt des Daseins aus. Mit diesen Grundvoraussetzungen im Handgepäck kann Heidegger im Umfeld von Sein und Zeit nun drei Stufen abheben, die die reziprok konfigurierte rejektive und projektive Denkstruktur peripher werden lassen. Er kann sich stattdessen in dieser Periode sei­ nes Denkens verstärkt auf ein appropriatives Vorgehen konzentrieren. Auch wenn die Vorlesungen um Sein und Zeit und dieses Hauptbuch selbst immer wieder rejektive Passagen enthalten, ist jedoch festzuhal­ ten, dass diese Ausführungen oft wiederholenden, didaktischen oder ergänzenden Charakter haben. Selbst wenn Heidegger hier und da neue Überlegungen rejektiver Art präsentiert, so fügen diese bezüglich der Frage des Verhältnisses zwischen Sein und Maß nur partikulär

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IV. Die Genesis eines ekstatischen Maßes der Zeit in Sein und Zeit

Neues zu dem Gedanken hinzu, dass ein zunehmendes Homogenisie­ ren qua Quantifizierung das Denken totalisierend festlegt und somit einebnet. Tatsächlich ist der appropriative Charakter seines Denkens auch in Sein und Zeit selbst prädominant, wenn der Maßstab der Sorge, in dem die Differenz zwischen Sein und Seiendem fokussiert wird, hinsichtlich der Fragen des Seins und der Zeit in den Blick gerät. Die drei Stufen zu diesem Fragebereich lassen sich komprimiert anzeigen: Erstens wird dazu die Analyse zweier für Heidegger zen­ traler Ansätze in der neueren Philosophiegeschichte wichtig, die besondere Zeitstrukturen liefert und für den performativen Maßstab des Zeithorizonts sensibilisiert. Dazu gehören einerseits Kants Über­ legungen zum Zeitverständnis des transzendentalen Subjekts im Schematismus-Kapitel in der Kritik der reinen Vernunft.629 Anderer­ seits sind die Gedanken im Dialog zwischen Graf Yorck und Wilhelm Dilthey zur zeitlichen Bedeutung der Geschichte einzubeziehen.630 Zweitens lässt sich im Durchgang durch Sein und Zeit aufweisen, wie Heidegger diese obigen Überlegungen in den Bereich des Unei­ gentlichen transferiert und fragt, wie Zeit im Alltag des Seienden, der Verweisungen und Bewandtnis der Dinge als eigentliche Maßgabe emergiert. Die Datierbarkeit aufgrund von Orten verweist schließlich auf die Uhrzeitmessung, wobei von Heidegger erneut auf Aristoteles rekurriert wird. Drittens ergibt sich für Heidegger aus diesem Durchgang die Appropriation eines eigentlichen Maßes der Zeitlichkeit, das das Dasein in seinen endlichen Grenzen auszeichnet und die Frage zen­ tral werden lässt, inwiefern eine maßgebende Differenz zwischen ontischen und ontologischen Momenten Heidegger zur sogenannten Kehre seines Fragehorizonts führen wird. Diese Zusammenhänge wollen wir in diesem Kapitel genauer beleuchten. Daraus ergibt sich, dass schließlich auch zu prüfen sein wird, wie Heidegger das Maß in der Zeitlichkeit konstelliert. Es ist zu zeigen, wie Heidegger das Zeitigen des Daseins als das zu besinnende Maß in Sein und Zeit gegen das berechnende Messen der Uhrzeit stellen wird, ohne einen dieser beiden Maßbereiche aufzuheben. Zudem wird auch zu klären sein, wie es Heidegger gelingt, den letzteren Bereich in den ersteren einzubetten, um so wiederum die Frage zum Verhältnis von Immanuel Kant, KrV, A, II, 1. Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck v. Wartenburg 1877–1897, hrsg. v. Erich Rothacker, Halle a. d. Saale: Niemeyer 1923.

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IV. Die Genesis eines ekstatischen Maßes der Zeit in Sein und Zeit

Mensch und Sein akzentuieren zu können. Diese Gedankengänge in Heideggers Werk sichtbar zu machen, ist Ziel dieses Kapitels.

1. Zwei Ansätze zu einem Maß der Zeit Heidegger wird nach der Ausarbeitung seiner logisch-ontologischen Überlegungen zum transitiven Charakter der Als-Struktur und deren performativen Maß klar: Eigentlich ist jede Frage nach dem Maß des Seins und sein logischer Charakter eine Frage des Messens selbst, so wie es im Vollzug geschieht. Heidegger interessiert daher nun auch, inwiefern die Frage nach dem Messen als eine tiefschichtige Deutungsvariante der zu vollziehenden Sorge-Struktur zu verstehen ist. Dass hier der Horizont der Zeit ansichtig wird, konnten wir oben zeigen.631 Doch welchen Charakter hat die Zeit als Horizont für das Messen? Generiert der Mensch in seinem Dasein diesen Horizont in sich selbst als eine Weise des Messens oder gibt es gewissermaßen eine exzentrische Instanz – z.B. das Sein dieses Daseins –, die dieses Messen als Sorge evoziert? Welche Strukturen sind hier wichtig? Heidegger fragt sich, ob die Form des transitiven Zeithorizonts selbst oder sein geschichtlicher Ort eine Rolle spielen. Entsprechend interpretiert Heidegger die Autoren, die sich mit diesen Fragen indirekt oder verdeckt schon auseinandergesetzt haben: Kant und Wilhelm Dilthey.

a) Kants Schematismus und die Zeit des Daseins Heidegger beginnt seit der Logik-Vorlesung von 1925, intensiver als in den bisherigen Überlegungen, das Verhältnis des Seins des Daseins und seiner jeweiligen temporalen Komplexion unter Einbezug der Sorgestruktur in den Blick zu bringen. Dazu schaut er sich u.a. Kants grundlegendes Hauptwerk die Kritik der reinen Vernunft an.632 Insbe­ sondere das Schematismus-Kapitel rückt in den Fokus Heideggers. Bei Kant sieht er eine andere Maßstabsorientierung hinsichtlich der Zeit vorgezeichnet, als eine rein homogene bzw. quantitative. Vgl. dazu das Resümee des vorherigen Kapitels dieser Arbeit (Kapitel III). Vgl. GA 25, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft. Marburger Vorlesung Wintersemester 1927/28. 631

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1. Zwei Ansätze zu einem Maß der Zeit

Kant vermöge es, so Heidegger, zwar die Schwierigkeit unseres Zeitverhältnisses zu sehen, aber durch das Festhalten an der Zeit der Natur als Weltzeit gelinge es Kant nicht zu bedenken, inwiefern die Schemata ursprünglich von der menschlichen Zeitlichkeit zu betrachten und mit der konstitutiven Struktur der transzendentalen Apperzeption in Einklang zu bringen sind. Transzendentale Apper­ zeption meint bei Kant zunächst die Bedingung der Möglichkeit des Vernehmens von Welt für das Subjekt durch die Konstitution einer Form von Anschauung überhaupt.633 Heideggers wesentliches Argument, warum Kant so wichtig für das Verständnis der formalen Sorgestruktur des Daseins in ontologischer-temporaler Hinsicht ist, lässt sich so zusammenfassen: Kant sieht in der reinen Anschauungs­ form »Zeit« etwas Vorquantitatives, d.h. ein maßstiftendes Apriori vor aller Homogenisierung, das aber dennoch hinsichtlich seiner formalen Struktur charakterisiert werden kann. Deshalb ist Kant auch entscheidend für die Frage bezüglich eines zeitlich-temporalen Maßdenkens des Daseins, das dann an Heideggers performativer Sor­ gestruktur in Sein und Zeit angelehnt ist. An dieser Struktur der Sorge sahen wir bereits, dass sie bei Heidegger weder explizit homogen noch quantitativ zu verstehen ist, sondern für ihn vom konkreten, zeitlichen Phänomen selbst sichtbar wird. Eine solche Struktur meint er schon bei Kant vorgezeichnet zu sehen und behauptet, Kant habe nun selbst auch einen Sinn für das Phänomen der Zeit und für die »[…] Zeitbestimmtheit der Phänomene.«634 Anhand von Kant versucht Heidegger daher eine »phänomenologische Chronologie« zu entfalten, d.h. eine hier noch im Prozess zu verstehende Analyse der Zeitlichkeit im Verhältnis zu einem Maßverständnis der Zeit, die er bald zugespitzt in Sein und Zeit und in den Grundproblemen von 1927 vorlegen wird.635 Kant ist in der Tat für Heidegger ein entscheidender Leitfaden. In der Logik-Vorlesung von 1925/26 lobt und kritisiert er Kants Ansatz zum Zeitverständnis gleichermaßen: »Der Einzige, der […] in dieses dunkle Gebiet vortastete, ohne einen Einblick in die grundsätzliche Bedeutung seines Versuches zu gewinnen, ist Kant. 633 Vgl. Gerd Irrlitz, Kant Handbuch. Leben und Werk, Stuttgart: Metzler 2002, S. 213f. 634 GA 21, S. 200. 635 Katharina von Falkenhayn weist auf den Umstand hin, dass es sich bei den Grundproblemen »[…] um eine neue Ausarbeitung des dritten Abschnitts von Sein und Zeit handelt […].« Katharina von Falkenhayn, Augenblick und Kairos. Zeitlichkeit im Frühwerk Martin Heideggers, Berlin: Duncker & Humblot 2003, S. 149.

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IV. Die Genesis eines ekstatischen Maßes der Zeit in Sein und Zeit

Kant sieht aber auch schon […] die Dunkelheit der Phänomene, die sich ihm hier entgegendrängen.«636 Für Heidegger ist vor allem Kants Ansatz im Kapitel zum Sche­ matismus der Verstandesbegriffe in der Kritik der reinen Vernunft entscheidend für eine profunde Erarbeitung der konstitutiven Zeit­ lichkeit des Seins des Daseins. Hier wird aus Heideggers Sicht auf ganz wesentliche Weise die Interpretation des Menschen aus dem Horizont seiner Zeitlichkeit deutlich, von dem wir am Ende des letzten Kapitels gezeigt haben, dass er als Horizont und damit als Begrenzung des performativen Maßstabs bzw. der Bewegtheit und Zeitlichkeit des Daseins zu verstehen ist.637 Bevor wir uns Heideggers Interpretation des Schematismus-Kapitels zuwenden, ist es sinnvoll, unabhängig von Heidegger zu sehen, was Kant dort selbst sagt. Kant geht es im Schematismus-Kapitel um ein konstitutives Gerüst für die Genesis der Verstandesbegriffe in Korrelation zur erfahrbaren Sinnenwelt. Dieses Gerüst ist das transzendentale Schema für die intellektuelle und sinnliche Vorstellung und ihre apriorische Formgebung, unter welche letztere subsummiert bzw. vermittelt werden kann. Diese logisch fundierte Vermittlung sieht Kant in der Zeit, in der noch keine Dinge oder Lebewesen auftauchen, sondern erst die Bedingung für dieses Auftauchen freigegeben wird, d.h. die reine Konstitution von Anschauungen überhaupt, indem sie qua Zeit da sein können. Dies fasst Kant selbst so: »Der Verstandesbe­ griff enthält reine synthetische Einheit des Mannigfaltigen überhaupt. Die Zeit, als die formale Bedingung des Mannigfaltigen des inneren Sinnes mithin der Verknüpfung aller Vorstellungen, enthält ein Man­ nigfaltiges a priori in der reinen Anschauung.«638 Die Zeit dient Kant als Vermittlung allgemeiner (d.h. immer gültiger) Kategorien und Regeln für die empirisch erfahrbare Mannigfaltigkeit. Erst durch die Zeit, so Kant, ist somit auch eine Vermittlung, d.h. eine Bindung des logischen Subjekts an sein Prädikat, möglich, weil sie in beiden Vorstellungsweisen »[…] enthalten ist.«639 Aus diesem Grund folgert Kant: »Daher wird eine Anwendung der Kategorie der Erscheinungen GA 21, S. 201. Vgl. ebd., § 31, S. 357ff. Zu einer ähnlichen Ansicht kommt auch Christian Steffen in seinem Buch zu Heidegger und Kant. Vgl. Christian Steffen, Heidegger als Tran­ szendentalphilosoph. Seine Fundamentalontologie im Vergleich zu Kants Kritik der rei­ nen Vernunft, Heidelberg: Winter 2005, S. 25ff. 638 Immanuel Kant, KrV, A138, S. 240. 639 Ebd., A139. 636

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möglich sein, vermittelst der transzendentalen Zeitbestimmung, wel­ che, als das Schema der Verstandesbegriffe, die Subsumtion der letz­ teren unter die erste vermittelt.«640 Bezüglich einer formalen Regel sei die Zeit als reine Anschauungsform also unwandelbar; hinsichtlich empirischer Abfolgen ist sie für Kant jedoch durchaus wandelbar. Er spricht hier von der »Sukzession des Mannigfaltigen.«641 Die vermittelnde Konstitution der Zeit fasst Kant daher unter folgende Leitsätze: »Das Schema der Wirklichkeit ist das Dasein in einer bestimmten Zeit. Das Schema der Notwendigkeit ist das Dasein eines Gegenstandes zu aller Zeit.«642 Damit gibt es für Kant innerhalb der Zeit zwei Bestimmungen dieses Schemas der reinen Anschauung. Erstens: Zeitbestimmungen a priori nach den Maßstäben und Grenz­ ziehungen von Regeln. Zweitens: Die Ordnung der Kategorien nach diesen Regeln auf Zeitreihe, Zeitinhalt und Zeitordnung für den Zeitin­ begriff aller möglichen Gegenstände.643 Die Zeit fungiert hier also qua sukzessiver Vorstellung als »restringierendes«, also begrenzendes Element bezüglich erfahrbarer Gegenständlichkeit. Zeit ist somit endlich in der Empirie und unendlich in der allgemeinen Vorstellung und ihrer Regelmäßigkeit. Und hier setzen gleichermaßen Heideggers Faszination und kritische Abhebung von Kants Zeitverständnis an. Kants Schema sei zu grob und so gelange in der scharfen Auftrennung von Sinn­ lichkeit und Verstand die transzendentale Apperzeption selbst nicht mehr in das Zeitschema.644 Was Heidegger damit meint, ist, dass die aufnehmende Deutungsausrichtung des Daseins, die Kant als transzendentale Apperzeption bezeichnet, nicht mehr selbst zeitlich charakterisiert werden kann. Die Zeit, so Heidegger, sei zugunsten der Produktion der Einbildungskraft und der reinen Anschauung zu deren bloßer Form herabgesunken. Außerdem fasse Kant Zeit immer noch im Sinne Descartes‘ als Ordnung der Natur auf.645 Dieses Vorurteil, meint Heidegger, sei auch der Grund für die fehlende Integration der sogenannten transzendentalen Apperzeption, d.h. der Instanz des zeitlich gebundenen Vernehmens von Welt in Kants Schematismus der reinen Verstandesbegriffe. 640 641 642 643 644 645

Ebd. Vgl. ebd., A 144, S. 245. Ebd., A 145, S. 245. Vgl. ebd., A 145/B 185, S. 246. Vgl. GA 21, § 15, S. 203. Vgl. Ebd., S. 203–204; vgl. ebd., S. 269.

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IV. Die Genesis eines ekstatischen Maßes der Zeit in Sein und Zeit

Wichtig scheint für Heidegger hingegen Kants exorbitante Fokussierung auf die Zeit selbst als Bedingung der Möglichkeit des Verstehens überhaupt zu sein. Diese Möglichkeit des Verste­ hens hat nach Heidegger ein ganz bestimmtes Seinsverständnis zur Grundlage. Heidegger wird in einer späteren Marburger Kant-Vorle­ sung sagen: Das Problem ist also kurz folgendes: Wie kann der Verstand reale Grundsätze über die Möglichkeit der Sachen entwerfen, d.h. wie kann das Subjekt im vorhinein ein Verständnis dessen haben, was die Seins­ verfassung eines Seienden ausmacht? […] Dieses Seinsverständnis des Seienden, diese synthetische Erkenntnis a priori, ist maßgebend für alle Erfahrungen von Seiendem. Das ist der einzige mögliche Sinn der vielfach mißverstandenen These Kants, die man seine Kopernikanische Wendung nennt […].646

Zentral ist nun für Heidegger, dass Kant einen Ansatz einer »[…] Einheitlichkeit der Bedingungen in der Temporalität […]« liefere und dass dieser das »maßgebende« Seinsverständnis konstituiere. Diese apriorische Temporalität – und das ist für Heidegger entscheidend – ist als Maßgabe »[…] aus dem Phänomen einsichtig zu machen.«647 Dies ist für Heidegger natürlich nur aufgrund eines geschichtlichen Ortes möglich, in dem Husserl seine Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins aus der Apperzeption eines reinen intentionalen Bewusstseins heraus entfaltet. Selbiges wird in Husserls phänomeno­ logischen Analysen als reines cogitatio und »Dies-da« in der Verän­ derung der Dauer sichtbar. Heideggers Ausgang vom tendenziellen Dasein und dessen ansetzender Rückgriff auf Kants Zeitverständnis werden bei Husserl vorgezeichnet, wenn dieser Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins festhält: »Die Zeit, die da auftritt [für den Wahrnehmungsakt des intentionalen Bewusstseins], ist keine objektive und keine objektiv bestimmbare Zeit. Die lässt sich nicht messen, für die gibt es keine Uhr und keine sonstigen Chronometer. Da kann man nur sagen: Jetzt, vorher, und weiter vorher, in der Dauer sich verändernd oder nicht verändernd etc.«648 Kant hingegen – das ist Heidegger selbst wichtig zu sagen – konnte so aus einem geschichtlichen Ort heraus noch nicht denken. Was aber ist dann nun zunächst das Phänomen der Zeit für Heidegger 646 647 648

GA 25, § 3, S. 55. Hervorhebung durch M.M. Ebd. Hua X, S. 338. Kontextuelle Einfügung M.M.

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1. Zwei Ansätze zu einem Maß der Zeit

im Ausgang von Husserl und Kant? Dies haben wir gegen Ende des letzten Kapitels schon in Andeutungen gesehen: Zeit ist unter Einbezug von Husserls Deutung der Dauer als Jetzt für Heidegger Anwesenheit – und zwar unter der Gabelung der temporal fundierten Subphänomene »Begegnenlassen« und »Schonhaben« als Tendenz zu.649 Die Tendenz zu oder das Tendieren – wir erinnern uns – ist eine Deutung Heideggers von Husserls Intentionalitätsbegriff, den Heidegger verwendete, um Husserls transzendentales reines Bewusstsein zugunsten des Maßstabs des kontextual-konkreten und performativen Sorgebegriffs ausklammern zu können. Es ist nun festzuhalten, dass Heidegger mit diesem transformierten Begriffs­ horizont nicht einfach nur über Kant hinweggeht, sondern vielmehr eine unkonventionelle Vermutung bezüglich Kants grundlegender Gedanken wagt. So behauptet Heidegger: »[Die] Zeit hat grundsätz­ lich Vorrang in der Problematik der ›Kritik der reinen Vernunft‹“.650 Heidegger will wissen, ob bei Kant nicht doch etwas Wesentliches über die Zeit hinsichtlich eines performativen Zeitverständnisses zu lernen ist, so dass die Zeitlichkeit selbst als Maßgabe für das Dasein sichtbar werden kann. Heideggers Interpretationsansatz ist freilich mit äußerster vor­ ausschauender Vorsicht als eigenwillig zu bezeichnen. Wir wollen uns eines vorschnellen Urteils enthalten und stattdessen ein Verständnis der Maßgabe der Zeitlichkeit gewinnen, die Heidegger durch seine Deutung der Zeit bei Kant entdeckt – nämlich explizit in der trans­ zendentalen Ästhetik und der transzendentalen Logik. Wir können aufgrund der Eingrenzung unserer Fragestellung nicht auf die Details von Heideggers weiterer Kant-Analyse eingehen. Stattdessen zeigen wir nur die für uns entscheidenden Überlegungen und Folgerungen Heideggers hinsichtlich der Frage, inwiefern Zeit als Maßgabe im Ausgang von Kant erweitert und so Sein und Zeit vorbereitet wird. Dazu schauen wir uns an, was Heidegger diesbezüglich aus der transzendentalen Ästhetik und der transzendentalen Logik Kants her­ ausarbeitet. Aus der Lektüre der transzendentalen Ästhetik entwickelt Heidegger folgende für unsere Fragestellung relevanten Überlegun­ Vgl. GA 21, S. 209. Unter »Begegnenlassen« versteht Heidegger das temporale Subphänomen des sich nun in der Gegenwart schon ankündigenden noch Zukünfti­ gen, während das »Schonhaben« das gezeitigte Subphänomen des bereits Gewesenen anzeigt. Beide Begriffe werden wir weiter unten noch spezifischer klären. 650 GA 21, S. 270.

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gen: Er fragt zunächst, wie der für Kant konstitutive Begriff der transzendentalen Apperzeption eigentlich hinsichtlich der Zeit zu denken sei – nämlich seiner Ansicht nach außerhalb der Zeit als eine Grundbestimmung der Zeitlichkeit. Dabei ist laut Heidegger die transzendentale Ästhetik kein zufälliger Bestandteil des kantischen Gedankenpalastes, insofern hier die transzendentale Apperzeption als zeitbestimmende Instanz die Form der Anschauung konstituiert. Der Begriff »transzendentale Ästhetik« ist vom griechischen Wort ἰέiς her als »Vernehmen« von Raum und Zeit qua transzenden­ taler Apperzeption zu verstehen. Dabei ist für Heidegger zentral, dass die Form der Anschauung eine Ordnung der Zeit im zunächst unthematischen Vorstellen qua Vorstellen von Sinnmannigfaltigkeiten generiert.651 Dies ist nach Heideggers Kant-Lektüre ein Begegnenlassen der Sinnmannigfaltig­ keiten im Nacheinander und im Zugleich, ergo durch die Zeit. Aus dem Horizont der Husserlschen Phänomenologie deutet Heidegger schließlich, dass dieses Begegnenlassen wie ein Gebungsfeld interpre­ tiert werden kann, so dass qua reiner Anschauung Gegenstände aus der Sinnmannigfaltigkeit gegeben werden. Dies geschehe durch den Hinblick auf etwas, d.h. zunächst mit der Sicht auf Mannigfaltigkeit überhaupt. Das Zugleich und Nacheinander der Zeit ist insofern eine Maßgabe, als dass sie diese Hinblicknahme qua zeitlicher Ordnung erst erlaubt – und zwar von Heidegger gedeutet als Worauf des Hinblicks. »Dieses Worauf des Hinblicks, das für jede Ordnung als Ordnung konstitutiv ist, ist nun bezüglich des begegnenden Mannig­ faltigen der Sinne das bloße Nacheinander, reine Folge, – die Zeit.«652 Daraus folgt: Das Maß des sich gebenden reinen Anschauens ist bei Heideggers Lektüre der transzendentalen Ästhetik die Zeit selbst. »Zeit ist das unthematisch vorgängige, d.h. rein vorgestellte Worauf des Hinblicks im Begegnenlassen des Mannigfaltigen im Sinne.«653 Oder noch weiter zugespitzt: Die Zeit selbst ist die Maßgabe. Es ist im späteren Werk Heideggers zu beachten, dass er den Terminus des Gebens bzw. der Maßgabe dort stellvertretend und koagulierend mit dem Zeitbegriff verwenden wird. Durch die Zeit wird die Ordnung bzw. Unordnung der Vielfalt der Lebenswelt gegeben, die Heidegger die Mannigfaltigkeit des Begegnenden nennt. Dabei ist zu beachten, 651 652 653

Vgl. GA 21, S. 273, § 23. Ebd., S. 275. Ebd., S. 276.

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dass Heidegger das Ordnen bei Kant transitiv denkt. Ordnung ist übrigens auch in dieser Hinsicht noch ein korrelativer Begriff des herkömmlichen Maßverständnisses.654 Heidegger spricht aber nicht aus Zufall davon, dass die Blickrichtung des Ordnens »[…] ein möglicher Modus […]«, d.h. eine Weise, eine mögliche Zumessungsart des Mannigfaltigen als Begegnendes sei.655 Und wir hatten schon angedeutet: Heidegger denkt das Begegnenlassen als Gebung von Zeit und nicht wie Husserl, der in seinen Ideen bekanntlich primär von einem Gebungsfeld der Gegenständlichkeit ausgeht.656 Heidegger unterstreicht diese zeitliche Deutung der Form der Anschauung bei Kant im Ausgang vom jeweiligen Augenblick der wiederholten Hinsichtsnahme auf das mannigfaltige Begegnende: »[…] ›maßgebend‹ ist jeweils nur das Zuerst-auffallen bei jedem Wiederhinsehen.«657 Zeit wird von Heidegger also tatsächlich als »maßgebend« im Ausgang von Kant verstanden. Das ist entschei­ dend: Die Zeit und das in ihr inhärente Begegnen zeigen sich für Heidegger als eine Maßgabe. Später wird Heidegger den Charakter des Maßgeblichen der Zeit in Kant und das Problem der Metaphy­ sik bestätigen: »Es muß demnach im vorhinein so etwas wie ein Womit der möglichen Einstimmung begegnen können, d.h. etwas, was maßgebend regelt. Es muß im vorhinein der Horizont des Gegen­ stehenden offen und als solcher vernehmlich sein. Dieser Horizont ist die Bedingung der Möglichkeit des Gegenstandes hinsichtlich seines Gegenstehenkönnens.«658 Vom Horizont-Begriff lernten wir bereits am Ende des vorherigen Kapitels, dass dieser die Grenze der Bewegtheit des Menschen ist: nämlich die Zeit.659

654 Auf das besondere Verhältnis von Ordnung, Maß und Dimension weist Dirk Fet­ zer hin: »[…] die Bereiche, zu denen sich die Sachen ordnen, verhalten sich zueinander [...] als Dimensionen.« Dirk Fetzer, Dimensionen des Seins. Grundzüge der Dimensi­ onsphilosophie, Königshausen & Neumann 2011, S. 15. Auch in gängigen Philoso­ phie-Lexika wird der Ordnungsbegriff mit dem Maßbegriff zusammengeführt. Vgl. Franz-Peter Burkard, »Maß« in: Metzler Lexikon Philosophie, hrsg. v. Peter Prechtl und Franz-Peter Burkard. 3. Aufl. Stuttgart: Metzler 2008, S. 358–359. 655 Vgl. GA 21, S. 285. 656 Heidegger selbst unterstreicht diesen Unterschied der Gebungsfelder, wenn er sich abhebend auf Husserls »Ästhesiologie der Sinne« in den Ideen bezieht (vgl. GA 21, § 23, S. 274). 657 GA 21, S. 285. 658 GA 3, S. 114. 659 Vgl. Kapitel III.3a in dieser Untersuchung.

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Doch wie ist das zeitlich maßgebende »Zuerst« im Auffallen und im Wiederhinsehen zu denken? »Zuerst« ist immer das jewei­ lig erfahrene »Jetzt«. Wenn Heidegger nun Kants Ordnungsbegriff noch einmal mit dieser maßgebenden erfahrenen und erlebten Zeit der transzendentalen Apperzeption zusammenbringt, kann er aus der Interpretation der transzendentalen Ästhetik schließen: »Faktisch ist immer geordnetes Erfahren […].«660 Daraus ergibt sich für Heideggers Kant-Lektüre die für uns relevante erste Conclusio: Die Maßgabe der Zeit bei Heidegger ist ab der Logik-Vorlesung von 1925/26 kantisch geprägt und zwar durch Heideggers eigenwillige Lektüre, in der die Hinblicknahme und das Ordnen jeweils als perfor­ mative Tendenz oder – in Husserls Terminologie gesprochen – als intentionaler Akt gedeutet werden. Der performative Maßstab der Bewegtheit der Sorge, d.h. das sorgende Messen, wird nun ergänzt durch die Maßgabe der Zeit. Doch wie steht es mit Kants Raumbegriff? Wieso wird er ver­ nachlässigt und nicht gleichursprünglich zum Maßstab erhoben? Während Heidegger den Charakter der Maßgeblichkeit der Zeit aus der transzendentalen Ästhetik Kants mutatis mutandis in sein Denken integriert und sich somit zeitlebens stärker von Kant bestimmen lässt, als ihm vielleicht bewusst gewesen ist, urteilt Heidegger ganz anders über Kants Raumverständnis, das bekanntlich stark von New­ ton geprägt ist. Kant vergesse den konkreten Raum, während sein Zeitbegriff Konkretisierung überhaupt erst erlaube. »Kant geht bei der ganzen Problematik des Raumes auf die ursprünglichere Frage der möglichen Entdeckbarkeit des reinen geometrischen Raumes aus dem Umweltraum gar nicht ein, weil er den ganzen Phänomenbezirk der Umwelt selbst nicht zum Thema macht, er steht von vornherein mit seiner Fragestellung beim metrischen Raum.«661 Oder anders gesprochen: Kants Raum ist ein sekundärer Raum, abstrahiert von dem konkreten Umweltraum. Ein solches schon abstraktes Raumverständnis bei Kant, das angeblich a priori und konstitutiv sein soll, lehnt Heidegger natürlich ab, denn der Raum als metrischer im Sinne Newtons ist bereits quantitativ und somit homogenisiert gedacht und kann folglich nicht in Heideggers ursprüngliches Maßverständnis integriert werden. Heideggers Haltung zum Raum überhaupt wird von dieser Einsicht 660 661

Ebd. GA 21, S. 294.

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in seiner Kant-Lektüre weiterhin geprägt werden. Wenn Heidegger vom Raum sprechen wird, ist er immer vom Primaten der Zeit als ursprüngliche Maßgabe geprägt. Diese Tendenz wird sich in Sein und Zeit manifestieren. Die Form der Anschauung bei Kant wird von Heidegger mit dieser Rejektion nur positiv dem Gebungscharakter der Zeit zugeordnet, insofern die Form der Anschauung in einer Synthesis mit der Zeit gesehen wird – und zwar vor einer Leistung der von Heidegger ebenfalls abgelehnten cogitatio: dem »Ich denke«, cartesischen Ursprungs. Der Raum fällt in Heideggers Interpretation der transzendentalen Ästhetik unter die Jetzt-Zeiten, die auch noch unter die apriorische Größe der Zeit als Möglichkeit des Erfahrens untergeordnet werden. Kategorial wird die Maßgabe der Zeit dann auch erst als Möglich­ keit einer sekundären Bestimmbarkeit eines quantitativ kalkulierba­ ren Nacheinanders überhaupt sichtbar. Heidegger schreibt daher über die kantischen Kategorien in seiner Kant-Vorlesung von 1927/28: »Wenn diese reinen Begriffe in reinen Urteilen gebraucht werden, und diese Urteile wahr, d.h. mit Gegenständen übereinstimmen, sein sollen, dann muß der Maßstab und Grund des Gebrauchs dieser reinen Begriffe in reinen Urteilen in der reinen Zeit liegen.«662 Ergo ist Kants Zeitverständnis kein metrisches und kein quantitatives. Zeit ermöglicht diese erst: »Es heißt nicht: Zeit wird quantifiziert, sondern Zeit wird verstanden als das Woraufhin des Ordnungshin­ blickes, d.h. als die Möglichkeit der Bestimmbarkeit einer Quantität des Nacheinander überhaupt.«663 Da Heidegger die kierkegaardsche Philosophie der Existenz als »Schule der Möglichkeit« implizit für seine eigene Denkungsart voraussetzt, ist Heideggers tendenziöse Kant-Lektüre, die durchaus selektiv mit Kants Philosophie umgeht, für ein Verständnis einer Maßgabe der Zeit von Wichtigkeit.664 Diese GA 25, § 26, S. 424. GA 21, S. 304. 664 Kierkegaard schreibt über die Offenheit der Möglichkeit im Gegensatz zur fest notierten Wirklichkeit: »[…] in der Möglichkeit ist alles gleich möglich, und wer in Wahrheit durch die Möglichkeit erzogen worden ist, der hat das Entsetzliche genauso gut gefaßt wie das Freundliche. Wenn also ein so Erzogener aus der Schule der Mög­ lichkeit hervorgeht und, besser als das Kind um sein ABC, darum Bescheid weiß, daß er schlechterdings nichts vom Leben fordern kann […], so wird er für die Wirklichkeit eine andere Erklärung haben; er wird die Wirklichkeit preisen, und sogar wenn sie schwer auf ihm lastet, wird er daran denken, daß sie gleichwohl weit weit leichter ist als es die Möglichkeit gewesen.« Sören Kierkegaard, Der Begriff Angst. 11. u. 12. Abt. 662

663

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Lesart Heideggers steht natürlich an einem anderen geschichtlichen Ort als Kant selbst. Sie geht nämlich von Kierkegaards Überlegungen der Temporalität im Aufriss der Dimension des Augenblicks und der Möglichkeit aus. Diese Nähe zu der Dimension der Temporalität bleibe Kant selbst aber verborgen, wie Heidegger unterstreicht.665 Ähnlich fällt im Anschluss zur Deutung der transzendentalen Ästhetik Heideggers Deutung der transzendentalen Logik aus. Nicht Grenze, sondern Möglichkeit sei der Maßstab für Kants Verstandesund Vernunftbegriff. Die Möglichkeit sei qua Synthesis mit der Sinnlichkeit durch den Vorstellungsbegriff in der produktiven Einbil­ dungskraft konkret zeitlich verknüpft. Jede Synthesis des Verstandes sei auf Grund der Konkretion dieser produktiven Einbildungskraft ebenso zeitlich konnotiert, meint Heidegger.666 Er spitzt dies in seiner späteren Vorlesung zu Kant zu: »Die Einbildungskraft ist nur als zeitbezogene möglich, oder deutlicher formuliert: Sie ist selbst die Zeit – im Sinne der ursprünglichen Zeit, die wir die Zeitlichkeit nennen.«667 Zeit bei Kant sei somit sogar eine ursprüngliche Form (des Vorstellens) von Mannigfaltigkeit überhaupt. Heidegger deutet dies so, dass Kants Orientierung an der Mathematik in Wahrheit nicht die abstrakte Rechendisziplin meine, sondern eine apriorische mathesis, die dann die Zeit als erste Maßgabe involviere. Wir können natürlich nicht umhin, wie viele Kant-Forscher im Übrigen auch, dabei klar im Auge zu behalten, dass Heideggers Kant-Verständnis ein für seine Motive zurechtgebogenes ist und seine Lesart anachronistisch wirkt.668 Heidegger führt meines Erachtens Gesammelte Werke, hrsg. v. Emanuel Hirsch u. Hayo Gerdes. 2. Aufl. Köln: Diederichs, 1983, (Orig. 1844), 5, IV 422, S. 162. 665 Vgl. GA 21, § 24, S. 305. 666 Vgl. ebd., § 22, S. 306–310. 667 GA 25, § 24, S. 342. Einige Seiten später wird Heidegger hinzufügen: »[…] die reine Einbildungskraft aber ist bildend mit Bezug auf die Zeit nach allen drei Dimen­ sionen, d.h. nur in einem freien Zusammennehmen der drei Zeithorizonte zu einem ist Einheitshorizont der Gegenständlichkeit überhaupt gebildet.« Ebd., § 26, S. 415; vgl. ebd. S. 420. Damit gibt Heidegger bereits einen Vorblick auf die Erweiterung der Maßgabe der Zeit in ihrem Dimensions-Charakter, von dem in diesem Kapitel noch eingehender in der Sichtung der Grundprobleme der Phänomenologie (GA 24) die Rede sein wird. 668 Auch Steffen ist sich am Ende seiner Arbeit der Ambivalenz von Heideggers KantInterpretation bewusst und der Differenz der Ansätze von Heidegger und Kant im Klaren. »[…] Heideggers eigene Kantinterpretation hat uns schließlich gezeigt, daß es unmöglich ist, beide philosophischen Ansätze direkt miteinander in Verbindung zu

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eine déformation professionelle aus, die mit Kants Synthesis von Zeit und Raum, Sinn und Verstand und ihrer intendierten apriorischen Gleichursprünglichkeit nur bedingt Kants Schematismus der reinen Verstandesbegriffe gerecht wird. Doch wie problematisch die Inkor­ poration von Kant durch Heidegger auch sein mag, sie ist fruchtbar für die Genesis von Sein und Zeit. Heidegger bereitet so die entschei­ dende Einsicht vor, dass ein performativer Maßstab als Messen bzw. Maßnehmen qua Sorge auch ein Pendant der Maßgabe benötigt. Diese Maßgabe muss für Heidegger auf den ersten Blick sogar vorrangig sein, damit dem Sein des sorgenden Daseins überhaupt ein Funda­ ment ermöglicht wird, das Freiheit erlaubt.669 Für Heidegger ist die Zeit diese Maßgabe. Jetzt ist auch klar ersichtlich, warum die Maßgabe der Zeit für Heidegger nicht ohne Grund als Fundamentalontologie zu behandeln ist. Doch wenn die Zeit die Konkretion des Daseins der ermöglichenden Maßgabe für Heidegger ist, ist dann nicht auch für die Mitwelt in Form anderen Daseins und anderer Formen des Selbst die Frage aufzuwerfen, was gemeinsame Zeit bedeutet, nämlich als zeitliche Geschichte? So gibt es für die Maßgabe der Zeit eine weitere vorgreifende Interpretationsnotwendigkeit für Sein und Zeit, die eine konkrete Geschichte vorbereiten hilft, die Maßgabe für das Dasein in der Selbst-, Mit- und Umwelt sein kann. Den passenden Text für eine solche Interpretation findet Heidegger im Briefwechsel zwischen Graf Yorck von Wartenburg und Wilhelm Dilthey.

b) Diltheys und Graf Yorcks Dialog über die Zeit als Geschichte Dilthey ist nun für Heidegger besonders interessant, weil jener in seiner Fragestellung das Pendant zu Kants Kritik der reinen Vernunft entwerfen wollte. Statt eine kritisch fundierte Metaphysik, der der setzen, ohne einem von beiden Gewalt anzutun. Gerade deshalb ist die Interpretation Heideggers auch so angreifbar.« Steffen, Heidegger als Transzendental-Philosoph, S. 246. Steffen ist jedoch gleichwohl der Auffassung – ganz gleich wie man zu Heideggers Kant-Interpretation stehen mag –, dass Heideggers Sein und Zeit unter diesem Einfluss, »[…] als eine Art […] Transzendental-Philosophie zu lesen ist […]«. Ebd., S. 247. 669 Heidegger schreibt in der Kant-Vorlesung von 1927/28 noch einmal explizit über das sorgende Maßnehmen: »Im alltäglichen Verwenden und Gebrauchen der Dinge können wir uns eigens und ausdrücklich auf sie richten, etwa uns Maßnahmen über­ legen, wie sie mit Rücksicht auf die Sachlage am besten einzurichten seien.« GA 25, § 2, S. 25.

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Naturwissenschaft das Wort spricht, zu befördern, versucht Dilthey jene Lücke zu schließen, die Kant weitgehend offen gelassen hat, nämlich eine Kritik der historischen Vernunft zu liefern. Heideggers Schüler Gadamer fasst dies so: [Dilthey] konnte […] sich das Ziel setzen, zwischen historischer Erfahrung und idealistischem Erbe der historischen Schule eine neue erkenntnistheoretisch tragfähige Grundlage aufzubauen. Das ist der Sinn seiner Absicht, Kants Kritik der reinen Vernunft durch eine Kritik der historischen Vernunft zu ergänzen. […] Dilthey will sagen: Die historische Vernunft bedarf genauso einer Rechtfertigung wie die reine Vernunft.670

Die Problematik, die sich bei Dilthey abzeichnet, ist allerdings die, dass auch er, obschon er sich inhaltlich von Hegel löst, die Geschichte methodisch und logisch weiterhin unter den Maßstab einer abstrak­ ten, idealistischen Reflexion und Philosophie stellt. Diese bleibt allerdings noch stark vom Hegelianismus beeinflusst. »Aber in den Augen der historischen Schule war die spekulative Geschichtsphilo­ sophie ein ebenso krasser Dogmatismus, wie es die rationale Meta­ physik gewesen war«, hält Gadamer fest.671 Diesen Dogmatismus sieht Heidegger nun bei den Neukantianern fortbestehen, womit er sich Dilthey verbunden sieht, der sich ebenso mit einer am Leben orientierten konkreten Geschichtsphilosophie gegen das Geschichts­ verständnis der Neukantianer gewendet hatte.672 Hinsichtlich der Seinsfrage, die, wie wir nun gesehen haben, unter dem Aufriss einer performativ-messenden Sorge der Lebensbewegtheit und der Maßgabe der Zeit steht, ist nun gleichwohl im Kontext von Sein und Zeit zu fragen, wie die Haltung Diltheys zum Leben als Geschichte genau jenen Aufriss zwischen messender Sorge und der Maßgabe der Zeit ermöglicht, in der sich so etwas wie eine Geschichte des Seins ankündigen kann. Heidegger geht dabei sowohl von Dilthey als auch von seinem Freund Graf Yorck von Wartenburg aus. Dilthey und Graf Yorck waren in einem Briefwechsel einander über viele Jahre verbunden. Inwiefern konnten sie mit der Geschichte einen Leitfaden für ein sorgendes Messen und eine maßgebende Zeit entfalten? Um diese Frage beantworten zu können, werfen wir einen Blick auf die Ausführungen Diltheys und die Bemerkungen Graf Yorcks, bevor 670 671 672

Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen: Mohr 1960, S. 206. Ebd. S. 207. Darauf weist Gadamer hin. Vgl. ebd., S. 208.

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wir Heideggers Überlegungen dazu erörtern. Vor diesem Horizont dürften Heideggers Ausführungen zur seiner Zeit-Auffassung als Maßgabe und die an diesem Kapitel anknüpfenden Bemerkungen zu seinem Geschichtsverständnis deutlicher hervorstechen. Im Anschluss an Schleiermacher überführt Dilthey, wie in der Forschung hinlänglich bekannt ist, die Hermeneutik aus der Religi­ onsphilosophie in eine Philosophie der Geschichte, in der methodisch mit einer reziproken Deutung zwischen Teilen und Ganzen eines geschichtlichen Horizonts gearbeitet wird. Ziel für Dilthey ist es, mit einer Kritik der historischen Vernunft einen eigenen Maßstab hin­ sichtlich einer eigenständigen Methode für die Geisteswissenschaften in Abhebung von den Naturwissenschaften zu entwerfen. In Der Auf­ bau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften ist zunächst zu sehen, dass Diltheys Zugangsart, im Gegensatz zu Heideggers Kritik an dieser, nicht vollends aus dem Maßstab der Abstraktion entwächst. Der Maßstab ist ein gegenständlich-objektiver, wenn es ihm um die geschichtlich-menschliche Welt und Gesellschaft bestellt ist. Dilthey geht dabei von den Kategorien Anschauen, Verstehen und dem begrifflichen Denken aus.673 Dennoch macht Dilthey dem Leser klar, dass es ihm nicht um einen datensammelnden und nur noch registrierenden Historismus gehe, sondern um einen wert- und sinnvollen Zusammenhang.674 Er schränkt jedoch ein, dass Geschichte Nachfühlung und Nachkon­ struktion sei, die verbindend-trennend, d.h. synthetisch-diairetisch und abstrakt, einen Nexus von Begriffen zu bearbeiten habe. Entschei­ dend ist für Dilthey vielmehr, dass er einen bi-konditionalen Bezug von Geschichte und Erleben proklamiert. Dafür sei es notwendig, die Möglichkeiten der Bewusstseinslage des Horizonts einer Zeit (d.h. die Epochen der Geistesgeschichte) zu durchlaufen. Diesbezüglich entwickelt er auch eine logisch-erkenntnistheoretische Selbstbesin­ nung, die zwischen Aufgabe, Methode und Anordnung der Grundle­ gung unterscheidet.675 Dies vollzieht Dilthey dann jedoch in einer, in seinen logi­ schen Grundbegriffen nicht explizierten, Wertelehre, die Tatsache und Erleben als Funktion eines Wertes mit dem anschaulichen und 673 Vgl. Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissen­ schaften, in: Gesammelte Schriften, Bd. 7, 3. Aufl., Stuttgart: Teubner 1961, S. 3. 674 Vgl. ebd., S. 3f. 675 Vgl. ebd., S. 3–4.

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IV. Die Genesis eines ekstatischen Maßes der Zeit in Sein und Zeit

begrifflichen Zusammenhang einer menschlichen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Welt verklammert. Alle Formen des Erlebens und der Tatsachen bleiben in einem Akt von Schätzung und Bildung in dieser Verklammerung gehalten. Hierfür fordert Dilthey eine Selbst­ besinnung, ein »[…] festes Maß von den Lebenswerten um ihnen ihren Status zuzuschreiben.«676 Dieses wertgebundene Erleben sei in der Anordnung der Grundlegung eines Zugangs von Evidenz und Gegebenheit der Realität und durch eine teleologische und psychische Struktur in einer Theorie des Wissens des Bewussten fundiert.677 Philosophie übernehme dabei die Funktion der Besinnung über das Leben.678 Zwar fordert Dilthey eine philosophische Selbstbesinnung, bindet sie aber wieder an die festen Maßstäbe von Regeln und Normen zurück, wobei er in logischer Hinsicht Kant und Hegel und auch noch Descartes verhaftet bleibt. Vom Mannigfaltigen, d.h. vom Konkreten, sei induktiv zum Abstrakten überzugehen. Es ist auffällig, dass Dilthey – wahrscheinlich um den »harten« naturwissenschaftlich orientierten erkenntnistheoretischen Ansätzen Paroli zu bieten – einen »festen Maßstab« etabliert, der aber einerseits der Wertelehre der Neukantianer in seiner logischen Grundfigur ähnelt. Diese Konfiguration unterscheidet sich von der Wertelehre in der Hinsicht, dass Dilthey diese nun auf geschichtliche, lebensphi­ losophische Motive und auf die psychische Struktur des lebendigen Individuums appliziert, wobei er auch wieder an Husserls phänome­ nologisch orientierter deskriptiver Psychologie aus den Logischen Untersuchungen anknüpft. Andererseits kann Dilthey aufgrund einer mangelnden Klärung seiner angewandten logischen Grundbegriffe, wie etwa Funktion und Wert, eine Nähe zum Logizismus Freges sowie dem Neukantianismus, aber auch dem Psychologismus und Naturalismus nicht völlig vermeiden. Einerseits ist für Dilthey der »Charakter des psychischen Zusammenhangs« selbst wichtig, ande­ rerseits bestimmt Dilthey diesen wieder teleologisch im Sinne einer Normierung des Lebens unter Werten und unter dem logischen Schema der Funktion.679 Spannend für Heidegger ist jedoch, dass die psychische Struktur in die Konfiguration der Zeit, nämlich unter

676 677 678 679

Vgl. ebd., S. 6. Ebd., S. 7. Ebd., S. 6. Vgl. ebd., S. 13ff.

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1. Zwei Ansätze zu einem Maß der Zeit

Anfang und Schwinden, fällt.680 Diese zeitliche psychische Struktur gibt für Dilthey eine Anordnung psychischer Tatsachen, die durch die Maßgabe einer »inneren erlebbaren Beziehung« verbunden sind.681 Dabei sind diese Dichotomien von geschlossenen und offenen Maßstäben bestimmt, die einerseits teilweise ohne Erläuterung und Begründung in Diltheys Werk miteinander verstrickt sind. Anderer­ seits gibt es in seinem Werk Überlegungen, die ohne eine klare fun­ damentale Abgrenzung zwischen funktionaler geschlossener Logik und offener Deutung der Geschichte dargelegt werden. Gleichwohl – als sei dies noch nicht problematisch genug – versucht Dilthey eine Enthaltung des psychischen Erlebnisses von naturwissenschaftlichen Betrachtungen. Hier gibt es methodisch in gewisser Weise Analogien zu Husserls Epoché und der phänomenologischen Reduktion. So schreibt Dilthey: »Naturwissenschaften haben mit dem Verhalten gegenständlichen Auffassens, in welcher sie entstehen, nichts zu tun. Die inneren Beziehungen, in denen die Inhalte im psychischen Erleb­ nis stehen können, Akt, Verhalten, struktureller Zusammenhang [,] sind ausschließlich Gegenstand der Geisteswissenschaften.«682 Diltheys Versuch scheint es zu sein, mit der psychischen Struktur und seiner Geschichte den besagten »festen Maßstab« gegen die Natur­ wissenschaften unter dem Titel »Geisteswissenschaften« entfalten zu wollen. Heute im Rückblick wissen wir um die großen Schwächen dieses Versuches, trotz der anzuerkennenden Größe der Aufbietung wegweisender Gedanken bezüglich einer Hermeneutik des Lebens und der Geschichte, die Dilthey mit auf den Weg gebracht hat.683 Ebd., S. 14. Ebd., S. 15. 682 Ebd., S. 17. 683 Auf diese Schwächen macht Gadamer aufmerksam. Zunächst zeigt Gadamer, warum Dilthey sich auf die riskante Parallelstellung von Wertphilosophie und Geschichte einließ, um eine Art historische Objektivität durch eine wertorientierte Hermeneutik festen Maßstabs zu begründen (vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 223). Gadamer sieht die Schwäche dieses »festen Maßstabs« in aller Klarheit: »Man kann von hier aus verstehen, was Dilthey an die romantische Hermeneutik anknüpfen läßt. Mit ihrer Hilfe gelingt es ihm, die Differenz zwischen dem geschichtlichen Wesen der Erfahrung und der Erkenntnisweise der Wissenschaft zu verdecken, oder besser: die Erkenntnisweise der Geisteswissenschaften mit den methodischen Maßstäben der Naturwissenschaften in Einklang zu setzen. […] Wir erkennen jetzt, daß ihm das nicht gelang, ohne die eigene, wesenhafte Geschichtlichkeit der Geisteswissenschaften zu vernachlässigen. Das zeigt sich sehr deutlich an dem Begriff von Objektivität, den er für sie festhält; sie soll als Wissenschaft mit der in der Naturwissenschaften gültigen 680

681

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Was sind diese Schwächen, die auch Heidegger in aller Klar­ heit vor Augen stehen? Erstens: Dilthey trennt die damals, jeden­ falls noch teilweise, locker einheitlich verbundenen Wissenschaf­ ten vollends in zwei Lager auf und entfacht somit ungewollt einen schon gärenden Konkurrenzkampf zwischen den sogenann­ ten »weichen« geisteswissenschaftlichen und »harten« naturwissen­ schaftlichen Maßstäben. Zweitens können die naturwissenschaftlich orientierten Erkenntnistheoretiker, die eine Konfusion zwischen Wertorientierung und geschichtlichen Strukturzusammenhängen anprangern, sogar behaupten, dass Dilthey letztlich doch klamm­ heimlich eine klassisch-naturwissenschaftlich fundierte erkenntnis­ theoretische Position vertrete, die ihm als Schwäche seiner ver­ meintlich strikt differenzierten geisteswissenschaftlichen Maßstäbe ausgelegt werden konnte und auch wurde.684 Mit den Gedanken der Struktureinheit des verhaltenden Erlebens und dem Strukturzu­ sammenhang des Lebens als Inhalt, denkt Dilthey dann jedoch das entscheidend andersartige, was seinen Ansatz von den naturwissen­ schaftlich orientierten Erkenntnistheorien abhebt.685 Die Struktureinheit und der Strukturzusammenhang geben Dil­ they einen Maßstab an die Hand, den sein Freund Graf Yorck stark machen wird. Denn der Zusammenhang in der Struktureinheit des Erlebens ist nicht nur an der Zeit als Geschichte orientiert, sondern an einer inneren Beziehung zwischen Verhalten des Erlebens und den Inhalten der Strukturzusammenhänge des Lebens. »Das Verhalten

Objektivität mitkommen.« Ebd., S. 227. Dabei spielt gerade die Überschätzung der Hermeneutik als vermeintlich objektive Methode, indem sie als ein bloßes Entziffe­ rungswerkzeug verstanden wird, eine tragische Rolle. Mit Graf Yorck bedauert Gada­ mer die dadurch einhergehende Zurückstellung der geschichtlichen konkreten Erfah­ rung: »So wird von Dilthey am Ende die Erforschung der geschichtlichen Vergangenheit als Entzifferung und nicht als geschichtliche Erfahrung gedacht.« Ebd., S. 228. 684 Jean Grondin macht darauf aufmerksam, dass Diltheys Gesuch, eine »[…] All­ gemeingültigkeit der Interpretation ein für alle Mal zu sichern […]«, sich ausgerechnet in Widersprüche mit einer wandelbaren Geschichtlichkeit des Lebens verwickelt, in der dieser Anspruch nach Allgemeinheit doch wieder in dieselbe Kerbe schlägt, in die auch Kant zugunsten der Naturwissenschaften geschlagen hatte und somit gerade das Besondere der Geisteswissenschaft wieder in Frage stellt. Jean Grondin, Hermeneu­ tik, Übers. v. Ulrike Blech, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009 (orig. 2006), S. 29. 685 Vgl. Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, S. 21–22.

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1. Zwei Ansätze zu einem Maß der Zeit

steht hier zu der Inhaltlichkeit nicht in einem nur zeitlichen oder sinnlogischen Verhältnis […]; zwischen beiden steht die innere Bezie­ hung, die wir als Struktureinheit bezeichnet haben.«686 Im Klartext: Die strukturelle Einheit hat den Charakter des Gewebes. Dies sagt Dilthey in der Darlegung des Zusammenhangs von Bedeutung, dem zeitlich Erlebten in der Selbstbiographie des Lebens, der Dichtung und der Kunst: Vergangenheit lockt geheimnisvoll, das Gewebe der Bedeutung ihrer Momente zu erkennen. Und ihre Deutung bleibt doch unbefriedigend. Nie werden wir mit dem fertig, was wir Zufall nennen: das, was bedeut­ sam für unser Leben wurde als herrlich oder furchtbar […]. Dieselbe Beziehung zwischen der Bedeutung der einzelnen Erlebnisse und dem Sinn des ganzen Lebensverlaufs waltet in der Dichtung. […] Auch in der bildenden Kunst herrscht dasselbe Verhältnis von Bedeutung des Einzelnen zum Verständnis eines Erlebniszusammenhangs.687

Zu diesem inneren Erlebniszusammenhang und seiner Struktur gibt Dilthey eine wichtige Erläuterung: »Dieselbe verwebt auch in sich Wahrnehmen, Gefühl, Wollen zu Zusammenhängen durch Verbin­ dung mehrerer innerer Beziehungen zu dem Ganzen eines Vorgangs oder Zustandes.«688 Was besagt das? Mit der Struktureinheit des Lebens bereitet Dilthey jenseits der Orientierung an herkömmlichen wert- und funktionslogisch orientierten Maßstäben einen anderen Maßstab vor, an dem sich auch Heidegger mit den noch zu besprechenden Begriffsfeldern Verweisungszusammenhang und Bewandtnisganzheit orientieren wird.689 Wir haben im zweiten und dritten Kapitel dieser Arbeit bereits gesehen, dass auch Heidegger – wahrscheinlich schon in Anlehnung an Dilthey – die Lebensbewegtheit als Struktur und Reliefcharakter herausarbeitete. Diese hatte er als Maßstab an die Ebd., S. 22. Ebd., S. 74–75. 688 Dilthey, S. 22–23. 689 Darauf weist auch Gadamer hin: »Daß ein Strukturzusammenhang sich aus seiner eigenen Mitte heraus verstehen läßt, entsprach ja dem alten Grundsatz der Herme­ neutik und der Forderung des historischen Denkens, daß man eine Zeit aus ihr selbst verstehen müsse und nicht mit Maßen einer ihr fremden Gegenwart messen dürfe.« Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 218. Die Konsequenz Diltheys, objektive und universale Kenntnis über die Geschichte zu entwickeln, sieht Gadamer an dieser Stelle erneut als aussichtslosen Versuch an, nämlich als »[…] die Fähigkeit des Lebens, sich in Energie und Tätigkeit über alle Schranken zu erheben.« Ebd., S. 219. 686

687

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performativ-messende Sorge zurückgebunden, wie wir in Kapitel II schon dargelegt haben.690 Wenn wir uns nun im weiteren Verlauf dieser Untersuchung Sein und Zeit ansehen, dann werden wir bemerken, dass nun auch Diltheys Frage nach den Strukturzusammenhängen von Heidegger erneut hinsichtlich der Maßstabsfrage fruchtbar gemacht wird, insofern nun der Gewebecharakter in Anmessung an die Zeit als Fundierung der Bewandtnis bedeutsam wird. Die mangelnde Abhebung Diltheys von den abstrahierenden und homogenisierenden logischen Grundfigu­ ren anderer Philosopheme (etwa dem Logizismus, Pragmatismus und dem Neukantianismus) wird nicht erst von Heidegger hervorgeho­ ben. Eine ähnliche Kritik hatte Diltheys Brieffreund Graf Yorck von Wartenburg auf diplomatische und implizite Weise formuliert. In dem Fragment gebliebenen Werk Bewußtseinsstellung und Geschichte bringt sich Paul Yorck von Wartenburg schon vor Heidegger im Durchgang der Philosophiegeschichte gegen das abstra­ hierende Denken der metaphysischen Tradition in Stellung, das sich seiner Auffassung nach im Okularen, d.h. im nur hinsehenden theoretischen Denken manifestiere. Dieses Denken beginne und münde schließlich in einer ikonoklastischen Gesellschaft. »Die neue Bewußtseinsphase heißt der Eintritt der modernen Geschichte. Den darin befaßten verschiedenen Strebungen gemeinsam ist die Ikono­ klasie.«691 Graf Yorck tritt demgemäß wie ein Korrektiv Diltheys auf, wenn er sich gegen eine Abstraktion, nicht nur bezüglich des Ikonischen und Okularen, sondern auch in diesem Zuge gegen eine wertorientierte Logik und ihre neuzeitlich begründeten Maßstäbe der Ordnung (ordo) wendet: Wie die Historie im allgemeinen mittelst der […] dem antiken Denken entnommenen Vorstellungsweise unter dem Bilde eines der zufälligen Wandelbarkeit übergeordneten, sie normierenden ordo aufgefaßt wird […], so wurde die gerichtete Seite geschichtlichen Verhaltens in den entsprechenden Verband der Wertlokalisation gestellt, ein historisches

Vgl. Kapitel II.5b in dieser Arbeit. Paul Yorck von Wartenburg, Bewußtseinsstellung und Geschichte. Ein Fragment, hrsg. v. Iring Fetscher, Hamburg: Meiner (orig. 1956), 2b, 5, S. 35. Im Zeitalter der oberflächenorientierten Bildschirmwelt von heute, wäre damit Graf Yorck von War­ tenburg auch ein Kandidat für eine medienkritische Deutung unseres Zeitalters avant la lettre. 690

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1. Zwei Ansätze zu einem Maß der Zeit

Analogon der intellektuellen und ontischen Lokalisation Aristoteli­ scher Systematik.692

Der warnende Hinweis, der in den Briefen Graf Yorcks an Dilthey gerichtet ist, ist damit klar: Sieh zu, dass du dich nicht den Maßstäben einer ontischen und abstrakt orientierten Wertlogik bedienst, wenn du zugleich eine konkrete und historische Geschichtsphilosophie in ihren verwobenen Strukturzusammenhängen etablieren willst.693 Es ist dabei erstaunlich, dass die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verfasste Schrift einiges vorwegnimmt, was Heidegger in seiner Auseinandersetzung mit dem homogenen Maßstab der metaphysischen Tradition und gegen das Ordo-Denken bei Descartes selbstständig entwickeln wird.694 Genau aus diesem Grund ist der Briefwechsel zwischen Graf Paul Yorck von Wartenburg und Dilthey zentral für Heidegger. Nicht nur weil Heidegger hier seine eigene Position der anhaltenden Kritik an einem homogenen Maßstab der philosophischen Tradition wiederer­ kennt, sondern weil in diesem Briefwechsel auch Beiträge für eine positive Neubestimmung eines Maßes für die Zeit und die Geschichte vorbereitet werden, die Heidegger zwischen messenden Sorgen bzw. einem performativen Maßstab der Sorge und der Maßgabe der Zeit ansiedeln wird, wie wir noch in diesem Kapitel sehen werden. Graf Yorck weist im Briefwechsel, wie Heidegger, rejektiv den Maßstab des Abstrakten zurück: Die Bodenlosigkeit der abstrakten wissenschaftlichen Dogmatik, die sich so recht zu Hause fühlt in der dünnen und dürren Berliner Atmosphäre, kann nur wissenschaftlich überwunden werden durch Erklärung. […] Aber die Erklärung muß aus voller Erfahrung gege­ ben werden. Die Wissenschaftler stehen den Mächten der Zeit ähn­ lich gegenüber wie die feinst gebildete französische Gesellschaft

Ebd., 4, S. 34. Es ist keineswegs eine Überspitzung zu behaupten, Yorck sei Diltheys Korrektor gewesen. Es sei hier auf prominente Stellen im Briefwechsel zwischen beiden Denkern verwiesen, in der Yorck Dilthey sogar explizite Korrektur-Vorschläge von Inhalten bis hin zu Fußnoten und dem Satzspiegel macht. Vgl. z.B. auch Ders., Bewußtseinsstellung und Geschichte, 63, S. 78–88. 694 Vgl. Kapitel III.1e in dieser Arbeit. 692

693

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IV. Die Genesis eines ekstatischen Maßes der Zeit in Sein und Zeit

damaliger Revolutionsbewegung. Hier wie dort Formalismus, Kultus der Form.695

Damit zeigt Graf Yorck von Wartenburg nicht nur eine gedankliche Nähe zu Heidegger, z.B. dessen anhaltender Kritik der urban gepräg­ ten Kulturphilosophie, sondern liefert ihm auch einen positiv differen­ zierenden Maßstab zwischen dem Umgang mit dem Ontischen in der messend-sorgenden Lebenswelt und der Maßgabe der Zeit: Er heißt Erfahrung. Die Erfahrung ist für Graf Yorck zwischen dem Ontischen und dem Historischen gelegen. Erfahrung ist demnach also eben kein abstraktes quantifizierbares Datum einer Tabelle oder Statistik, die in einer Akte oder auf einem anderen Datenträger abgelegt wird, sondern zeitlich-geschichtlich mit dem ontischen Umgangsfeld ver­ woben. Gerade dieses würde aber den »naturwissenschaftlichen Prä­ tentionen« der Wissenschaften abgehen. Sie würden »[…] zu wenig die generische Differenz zwischen Ontischen und Historischen beto­ nen.«696 Diese »generische Differenz«, die für Yorck die geschichtliche Erfahrung ist, die noch einmal zwischen ontischem Lebensbezug und Zeitlichkeit des Daseins steht, wird für Heidegger der Ansatz, sie zur ontologischen Differenz zu transformieren und zwischen der messend-performativen Sorge und der Maßgabe der Zeit anzusiedeln. Gleichwohl wird Diltheys Geschichtsverständnis als Verwebung der Zusammenhänge der Struktureinheit des Lebens mit den forma­ len Anzeigen des Verweisungszusammenhangs und der Bewandtnis­ ganzheit in diese Komplexion integriert, wie wir noch sehen werden. Das zu erreichende Plateau hieße dann, an dieser Komplexion, d.h. an Verstehen, Dasein und Geschichtlichkeit, eine Fundamentalontologie zu etablieren – die Grundaufgabe des Projekts von Sein und Zeit. Hinter dieser Geste steckt der Ausspruch Heideggers, wenn er den Geist des Grafen Yorck pflegen will, um dem Werk Diltheys zu dienen, wie es zu Beginn von Der Begriff der Zeit heißt.697 Heidegger sieht, dass die generische Differenz zwischen dem Ontischem und der Geschichte erst sichtbar wird, sobald sich das Den­ ken von den künstlichen Trennungen der abstrakten und homogenen Maßstäbe verabschiedet. So befürwortet er auch folgenden Gedanken Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg 1877–1897, hrsg. v. Erich Rothacker, Halle a. d. Saale: Niemeyer 1923, Graf Yorck an Wilhelm Dilthey, Breslau 4. II, 1884, S. 39. 696 Ebd., Graf Yorck an Wilhelm Dilthey, Kleinöls d. 21.10.1895, S. 191. 697 Vgl. GA 64, S. 6.

695

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1. Zwei Ansätze zu einem Maß der Zeit

Graf Yorcks: »Die Trennung zwischen systematischer Philosophie und historischer Darstellung ist dem Wesen nach unrichtig.«698 Warum ist dies der Fall? Weil hier der Maßstab zwischen messender Sorge und der Maßgabe der Zeit die Philosophie in der künstlichen Auftrennung einer in sich verwobenen und von der Sache untrennbaren geschicht­ lich verwickelten Erfahrung nivellieren würde. Ihr geschichtlicher Ort würde durch eine solche Aufteilung unbeachtet bleiben. Eine solche Philosophie, die dieses Gewebe der geschichtlichen Erfahrung und des Lebens zerreißt, wäre stets anachronistisch und somit weltfremd. Gegen eine solche Nivellierung richtet sich Heidegger in Sein und Zeit mit aller Entschiedenheit. Auf diesem nächsten Plateau seines Den­ kens sichtet Heidegger daher die Zeit in ihrer Verwobenheit mit dem Ontischen und mit der geschichtlichen Erfahrung, die durch das Maß der ontologischen Differenz bestimmt sind. Deshalb kann Heidegger folglich sagen: »In der grundsätzlichen Fragestellung Diltheys liegt also die Aufgabe einer Ontologie des ›Historischen‹ beschlossen. Nur in ihr kann die Tendenz Geschichtlichkeit zu verstehen zur Erfüllung kommen.«699 Entscheidend ist für Heidegger daher die Seinsverfassung als bewegtes und zeitgebundenes Leben, das er bei Kant als »maßgebend« herausgestellt hatte.700An Dilthey und Yorck anknüpfend wird Heidegger in den Kasseler Vorträgen proklamieren: Wir werden sehen, daß die eigentliche Wirklichkeit, die geschichtlich ist, das menschliche Dasein selbst ist und welche Strukturen das menschliche Dasein hat. Seine Grundbestimmung ist nichts anderes als die Zeit. Von der Bestimmung der Zeit aus werden wir verständlich machen, daß der Mensch geschichtlich ist.701

Unter Rückgriff auf Graf Yorck bringt Heidegger nun die angestrebte Appropriation einer lebensweltlich-geschichtlichen Fundamentalon­ tologie zum Ausdruck: »Es kommt darauf an, das Sein des Geschicht­ lichen herauszuarbeiten, Geschichtlichkeit nicht Geschichtliches, Sein nicht Seiendes, Wirklichkeit nicht Wirkliches.«702 Wir werden im weiteren Verlauf sehen, dass Heidegger diese Komplexion von der

Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg 1877–1897, S. 251. 699 GA 64, S. 14. 700 Ebd., S. 17. 701 GA 80.1, S. 114. 702 Ebd., S. 131. 698

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IV. Die Genesis eines ekstatischen Maßes der Zeit in Sein und Zeit

Sache her in Abhängigkeit einer Maßstabsfrage in Sein und Zeit und den dazugehörigen Vorlesungen erörtern wird.

2. Das ontische Messen als Bewandtnis und Nähe zur Zeit Mit den Voraussetzungen der Kant-Analyse zur Maßgabe der Zeit und den Untersuchungen zu dem Geschichtsverständnis von Graf Yorck und Wilhem Dilthey wurde ersichtlich, dass die Zeit als Maßgabe und die Geschichte als ein Erfahren in den Farben eines komplexen und zugleich konkreten Gewebes schillert, das in sich offen und somit porös, d.h. gangbar, bleibt. Heideggers Aufgabe besteht nun darin, dies mit dem messend-sorgenden Dasein zusammenzu­ bringen, das sich zunächst am Seienden, d.h. am Ontischen misst. In den Texten Sein und Zeit und in Der Begriff der Zeit sowie in deren Umfeld versucht Heidegger den Maßstab des ursprünglichen Seins­ verständnisses, d.h. als Fundamentalontologie unter dem Primaten der Zeit, vom Ontischen her freizulegen. Wir sehen uns dazu drei Stationen dieses Versuches an: Erstens werden das ontische Messen als innerzeitliche Aktivität und danach die ontologische Maßgabe der Zeitlichkeit als Oszillationsfeld selbst sichtbar. Schließlich wird erörtert, wie Heidegger die Differenz zwischen ontischem Messen und ontologischer Maßgabe als Dimension denkt. Wir fokussieren uns zunächst auf den ontischen Bereich, den wir hinsichtlich der Begriffs­ komplexionen Verweisung, Bedeutung und Bewandtnis sowie Nähe und Entfernung und der exakten Uhrzeitmessung an den Texten Heideggers untersuchen werden.

a) Verweisung als Maßstab Heidegger fragt zunächst, wie die Zeit und das Erfahren von Geschichte auf ein Sorgen bezogen sind, von dem wir versuchten zu zeigen, dass es für Heidegger eine ursprüngliche Weise des Messens ist. Entscheidend ist für uns in diesem Zusammenhang folgende Frage: Wie eröffnen die ineinander verklammerte Sorge und die geschichtliche Erfahrung für Heidegger eine vorläufige Bestimmung eines Maßverständnisses des Seins? In Sein und Zeit gibt Heidegger auf der Basis seiner frühen Freiburger und Marburger Vorlesungen

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2. Das ontische Messen als Bewandtnis und Nähe zur Zeit

einen Hinweis auf eine orientierende Konstitution dieses Maßes. Es ist die Verweisung, die das Sein der Weltlichkeit selbst aus­ macht, nämlich so, »[…] daß Verweisung und Verweisungsganzheit in irgendeinem Sinne konstitutiv sein werden für die Weltlichkeit selbst.«703 Heidegger sieht die konstitutive Verweisung bzw. Verwei­ sungsganzheit vordergründig am Bezug von Entitäten, d.h. von Seien­ den, zueinander. Für das Dasein ist die Verweisung ein Umkreis des weltlich Anwesenden. Die Verweisung gibt nach Heidegger außerdem eine feste Orientierung und eine eigene Räumlichkeit in den Wegen und Gängen des Besorgens.704 Die Durchdringung eines Maßes des Seins der Weltlichkeit der Welt des Menschen im Ausgang aufeinander bezogener Seiender in der Verweisung bedarf aus Heideggers Sicht selbst ein Anmessen. Dies ist für Heidegger der oben herausgearbeitete Modus des Erfahrens: »Dieses Seiende wird um so reiner auszuarbeiten sein, je ursprüng­ licher es selbst erfahren, je angemessener es begrifflich bestimmt wird, je eigentlicher das Seinsverhältnis zu ihm selbst gewonnen und begriffen ist.«705 Wie aber genau geschieht aus Heideggers Sicht dieses Erfahren als Anmessen an dem rechten Begriff des Seienden? Und wie sind die Verweisung und die Verweisungsganzheit im Zusammenhang mit diesem Seienden dann zu bestimmen? Im Klartext: Wie ermißt sich das Denken am Sein des Seienden die Weltlichkeit der Welt des Daseins? Im Rückblick auf Sein und Zeit sagt Heidegger dies in seiner Leibniz-Vorlesung von 1928: »Im Denken als Denken über etwas liegt die Absicht, dem, worüber es denkt und was es im Denken bestimmt, sich anzumessen, d.h. das, worüber es denkt, an sich selbst offenbar zu machen, zu enthüllen und als enthülltes zugänglich werden zu lassen.«706 Diesen Zugang des Messens im Denken hatten wir in Kapitel II und III dieser Arbeit schon als eine bestimmte Weise des performati­ ven Maßstabs der Sorge kennengelernt, die kein schlichtes Besorgen mehr ist. Vielmehr zeigte sich das Denken als besinnliches Fragen aus dem Horizont der Als-Struktur des Verstehens. In Auseinander­ setzung mit dem Problem der Verweisung erinnert auch Heidegger selbst initiativ an dieses besinnliche Fragen als Zugang des Menschen 703 704 705 706

SuZ, § 17, S. 76. Vgl. GA 64, S. 20–21. GA 20, S. 199. GA 26, S. 25.

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IV. Die Genesis eines ekstatischen Maßes der Zeit in Sein und Zeit

zum Sein in seiner Welt: »Wenn das Fragen echtes ist, dann hat es möglichst seinem Erfragten angemessen zu sein, d.h. das Fragen muß recht verstehen, was es fragt, nach dessen Sein nämlich.«707 Die Zugänge des angemessenen Fragens kennen wir schon seit Heideggers frühen Freiburger Vorlesungen. Sie heißen auch noch in Sein und Zeit formale Anzeige und Destruktion.708 Diese Zugangs­ weisen sind für Heidegger in der Untersuchung des Verweisungszu­ sammenhangs so etwas wie Messmethoden für ein Fragen, um das Sein aufzuspüren. Wir werden uns dabei die beiden Seiten ansehen, von denen Heidegger sich der Verweisung und dem Verweisungs­ zusammenhang her annähert: Dies sind einerseits die anmessende Sorge und andererseits die maßgebliche Zeit sowie die geschichtliche Erfahrung. Die Konfiguration der Verweisung enthüllt sich dabei für Heidegger als ein Gewebe voller Poren von Zugänglichkeiten. Sie ist als Komplexion plural, heterogen und konkret und steht somit monothematischen, homogenen und abstrakten Dispositionen von isolierten Einheiten, die zählbar oder kategorisierbar sind, d.h. quantitativ gemessen oder abstrakt ab- und ausgemessen werden könnten, entgegen. Im besinnlichen offenen Fragen vollzieht sich analog eine Ände­ rung des bisherigen feststellenden Messens, das nun selbst auch nicht mehr homogen, sondern konstitutiv heterogen ist. Für Heidegger umreißt es daher positiv und appropriativ die Konfiguration der Welt in angemessener Weise und lässt die Welt als Phänomen sichtbar werden: »Die angemessene phänomenale Vergegenwärtigungsart der Weltlichkeit läßt zunächst Welt begegnen und nicht ein isoliertes Ding. Deutlich wird so ein Vorrang der Verweisung vor dem Ding, das sich in der Verweisung zeigt.«709 Dabei ist deutlich hervorzuheben, dass die Verweisung, entgegen der etablierten Lektüre von Sein und Zeit, keineswegs nur ontisch gemeint ist, d.h. auf Seiendes bezogen bleibt, sondern vielmehr ist es für Heidegger eine Seinsstruktur selbst. Sie ist sogar der Umkreis des Herzens der ontologischen, existenzialen Struktur des Menschen selbst, weil sie die tiefschichtige Konfiguration des Bezogenseins

707 708 709

GA 20, S. 199. Vgl. Kapitel II.4d in dieser Arbeit. GA 20, S. 257.

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2. Das ontische Messen als Bewandtnis und Nähe zur Zeit

als »Da« der Weltlichkeit bestimmt.710 Dies sehen wir in Sein und Zeit auch in aller Deutlichkeit so notiert. Dort heißt es, dass die Verweisung eine »ontologische Struktur« sei, die die Verweisungs­ ganzheit ausmache und als »[…] ontologische[s] Fundament zugleich Konstituens der Weltlichkeit überhaupt […]« sei.711 Das heißt für Heidegger: Keine Ontik ohne Ontologie, aber auch keine Ontologie ohne Ontik. Die Verweisung ist genau der Aufriss, die Naht zwischen beiden Ebenen, durch die sie ineinander verflochten sind. Wenn die Verweisung für Heidegger eine ontologische Grundfi­ gur ist, ist nun zu schauen, inwiefern sie zu dem messenden Charakter des Sorgens und der Maßgabe der Zeit und der geschichtlichen Erfahrung situiert ist. Das messende Sorgen, das sahen wir in den vergangenen Kapiteln, ist von Heidegger auch als Umgang bezeichnet worden. »Der besorgende Umgang ist die Zugangsart und nicht eine freischwebende und isolierte Dingwahrnehmung.«712 Demnach geschieht der besorgende Umgang im Zusammenhang der Verwei­ sungen von Seienden, der nun ab den Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs von Heidegger Zeugzusammenhang genannt wird. Seiendes wird hier von Heidegger als Zuhandenes verstanden, d.h. Seiendes, das dem konkreten Umgang mit der Hand untersteht. Dieses Zuhandene bildet a priori die Konfiguration des Zeugs im Zusammenhang der Lebenswelt. Dazu stehen im Gegensatz die abstrahierten und so auf wenige Verweisungen reduzierten Dinge, die nur noch homogenisiert für das Hinsehen vorliegen, aber nicht mehr für den handlichen Umgang freigegeben sind. Heidegger nennt diese von den Verweisungen der konkreten Sorge abgetrennten Enti­ täten daher das Vorhandene. Der ontische Zeugzusammenhang von Zuhandenen ist aufgrund der höheren Komplexion für Heidegger daher die rechte Art der Anmessung im Gegensatz zum abstrakten, isolierten und damit verweisungsarmen Vorhandenen. Doch wie manifestiert sich diese konkrete, nicht-abstrakte Anmessung in Bezug zu komplexen Verweisungen von Seienden Byung-Chul Han bringt dies auf den Punkt: »Von früh an schlägt Heideggers Herz dem Da entgegen, dem Da außerhalb metaphysischer, wissenschaftlicher Archive, das älter ist als der Anfang des Seienden, älter als ›hier‹ und ›dort‹ und früher statt-findet als das Apriori. Die Frage nach dem Da ist die Frage Heideggers.« Byung-Chul Han, Heideggers Herz. Zum Begriff der Stimmung bei Martin Heidegger, München: Fink 1996, S. 20. 711 SuZ, § 17, S. 83. 712 GA 20, S. 257. 710

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a priori? Sie geschieht in der »[…] für das Dasein konstitutiven Weltvertrautheit […].«713 Diese Vertrautheit mit der Welt ermöglicht erst Verweisungen von Seienden als Zuhandene im Zeugzusammen­ hang, und zwar – und das ist entscheidend für Heidegger – im konkreten, vielschichtigen gewohnten Umgang mit ihnen, der aus Heideggers Sicht tatsächlich ein Apriori sei: »Die ursprüngliche Ver­ trautheit mit den Seienden liegt in den ihm angemessenen Umgang. Er konstituiert sich hinsichtlich seiner Zeitlichkeit in einem behaltendvergegenwärtigenden Gegenwärtigen des Zeugzusammenhangs als solchen.«714 Entscheidend ist nun, dass der Umgang mit dem Ver­ weisungszusammenhang zeitlich gefasst wird. Nur durch den sich zeitigenden Umgang kann aus Heideggers Sicht überhaupt etwas entdeckt oder verdeckt werden. Dies sahen wir bereits am Zusam­ menhang von Messen, Umgang und der Logik der Als-Struktur im vorherigen Kapitel.715 Der Umgang ist als Weise der messenden Sorge in Bezug auf den komplexen Verweisungszusammenhang als Modus des Entdeckens von Seienden nun aber nicht mehr einfach durch eine formale Betrachtung der Als-Struktur für Heidegger erklärbar. In der Erfahrung des Verweisungszusammenhangs findet eine noch komplexere Schichtung und Tiefe von Entdecken statt. Das Entdecken muss sich dabei immer wieder neu »[…] dem zu entdeckenden Seienden anmessen.«716 Im anmessenden Umgang, d.h. in der mes­ senden Sorge, ist das Dasein des Menschen frei, die Verweisungen des Seienden in seinen jeweiligen vielschichtigen Möglichkeiten in Erwägung zu ziehen. In dieser Freiheit für sich selbst, d.h. um seiner selbst Willen, um sein Worum-willen, mit der Kapazität, die Verwei­ sungszusammenhänge zu ermessen, ist nach Heidegger der Mensch überhaupt in der Lage, die Poren des Seienden durch die Verweisung in seinen Verästelungen und Verflechtungen zu enthüllen. So kann ein Leitfaden für das Seiende von seiner Sache her und in seiner hinreichenden Komplexion denkend angeeignet werden. Denn: »Das Denken steht als freie Verhaltung des Menschen in der Möglichkeit, als Enthüllen vorgegebenes Seiendes angemessen zu treffen oder zu verfehlen.«717 713 714 715 716 717

SuZ, § 18, S. 86. GA 24, S. 423. Vgl. Kapitel III.2d in dieser Untersuchung. GA 24, S. 99. Ebd., § 18, S. 309.

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2. Das ontische Messen als Bewandtnis und Nähe zur Zeit

Auch hier sehen wir wieder die Verklammerung der enthül­ lend-verdeckenden Charakteristika der Als-Struktur und des freien Verhaltens im Verweisungszusammenhang, der für das Dasein man­ nigfaltige Möglichkeitsspielräume im Umgang mit dem Seienden erlaubt. Entscheidend ist nun, dass Heidegger mit dem Zusammen­ hang der Verweisungen endgültig mit einer bipolaren Bezogenheit herkömmlicher logischer Operatoren bricht. Mit der Verweisung wird deutlich, warum Heidegger den Schwerpunkt nicht mehr auf die Operatoren, sondern auf das »Als« in der Als-Struktur selbst als logische Komponente des performativen Maßstabs der Sorge legt. Dies sahen wir schon im vorherigen Kapitel.718 Nun kommt hinzu, dass das »Als« nun eine Konstellation mit der Verweisung und mit dem offenen, mehrfältigen Verweisungszusammenhang bildet. Mit der Verweisung unter der Voraussetzung des »Als« kann das bipolare Subjekt-Objekt-Schema, d.h. die Verknüpfung zweier Ein­ heiten zueinander, als sekundäres logisches Phänomen ad acta gelegt werden. Aus dem Umgang qua Als-Struktur im Modus des sorgenden Messens aufeinander verwiesener Entitäten blüht nun ontologisch ein ganzes Gewebe von Bezugsmöglichkeiten auf. Dieses Gewebe hebt sich von einer Substanz- oder Funktionslogik hinsichtlich des sie je neu entfaltenden Vorrangs der Möglichkeit unter zeitlichen Grenzen ab. Mit der Logik der Funktion ist dies nicht oder, wenn überhaupt, nur mit umständlichen und künstlichen Gedankenmodellen zu erreichen, die damals unter dem Titel »Relationssysteme« bekannt wurden und heute in etwas komplexerer Ausfaltung als »Systemtheorien« weitergeführt werden. Heidegger lehnt diese funktionalen Deutungsmöglichkeiten des temporal fundierten Verweisungszusammenhangs der offenen AlsStruktur nicht per se ab, macht aber darauf aufmerksam, dass die tat­ sächliche Verdichtung der Verweisungsbezüge, die Konkretion selbst also, dabei missachtet, reduziert und dann ggf. verfälscht würde. So heißt es explizit in Sein und Zeit: Den […] Verweisungszusammenhang, der als Bedeutsamkeit die Weltlichkeit konstituiert, kann man formal im Sinne eines Relations­ systems fassen. Nur ist zu beachten, daß dergleichen Formalisierungen die Phänomene so weit nivellieren, daß der eigentliche phänomenale Gehalt verloren geht […]. Diese ›Relationen‹ und ›Relate‹ des Umzu als Umwillen […] widerstreben ihrem phänomenalen Gehalte 718

Vgl. Kapitel III.2a.

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IV. Die Genesis eines ekstatischen Maßes der Zeit in Sein und Zeit

nach jeder mathematischen Funktionalisierung; sie sind auch nichts Gedachtes, in einem ›Denken‹ erst Gesetztes, sondern Bezüge, darin besorgende Umsicht als solche je schon sich aufhält.719

Wo genau hält sich dann aber das besorgende Messen in seiner Umsicht nach Auffassung Heideggers auf? Beim konkreten Zuhande­ nen in Bezug von etwas als etwas und beim Um-zu.720 In der Reduk­ tion auf eine formale Funktions- oder Substanzlogik verschwindet die Verweisung des Seienden selbst, wird bestenfalls zu einem Platzhalter oder einem Index reduziert. Das primär Zuhandene, d.h. das primär operativ behandelte Seiende, gerät in den Modus des Abgesehenen, dann des Abgezogenen und wie wir schon sahen: zum nur noch Vor­ handenen. Dieses Seiende kann auf Grund seines Nur-noch-Vorhandenseins hinsichtlich seiner ›Eigenschaften‹ mathematisch in ›Funktionsbegrif­ fen‹ bestimmt werden. Funktionsbegriffe dieser Art sind ontologisch überhaupt nur möglich mit Bezug auf Seiendes, dessen Sein den Charakter reiner Substanzialität hat. Funktionsbegriffe sind immer nur als formalisierte Substanzbegriffe möglich.721

Wir erinnern uns: Emil Lask hat das Maß bezüglich des Seins aus neukantianischer Sicht in den Blick gebracht und die logische Drehung zwischen klassischem Substanzbegriff (Subjekt, Kopula und Prädikat) und modernem Funktionsbegriff (f(x)) untersucht. Lask hatte dabei die Kategorien des Seins des Seienden im Hinblick dieser logischen Drehung homogenisiert.722 Heidegger ist nun im Laufe der Jahre mit seiner Struktur des konkret sorgenden Messens, der Konkreti­ sierung und Temporalisierung der Als-Struktur und schließlich der Einbettung in die Konfiguration der Verweisung und des Verwei­ sungszusammenhangs von diesen allgemeingültigen und abstrakten Maßstabsurteilen weit abgerückt. Dabei trat, im Gegensatz zum kon­ trollierbaren, formalen, allgemeingültigen und bipolaren Denken von Substanz- und Funktionslogik, die Vertrautheit als zentrales Kriterium des Verweisungszusammenhangs in Heideggers Überlegungen zu Tage. Wir sahen außerdem schon andeutungsweise, dass der vertraute Verweisungszusammenhang neben der sich ihm anmessenden Sorge auch die maßgebliche zeitliche Struktur impliziert, die den Verwei­ 719 720 721 722

SuZ, § 18, S. 88. Vgl. Kapitel III.2a. SuZ, § 18, S. 88. Vgl. Kapitel I.1b.

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2. Das ontische Messen als Bewandtnis und Nähe zur Zeit

sungszusammenhang bestimmt und ihn so erst erfahrbar für das menschliche Dasein macht. Dies ist gewissermaßen die andere Ansicht der Verwebung des Verweisungszusammenhangs. Durch den messenden Umgang und durch die maßgebliche Zeit wird die in sich verwebend-verwobene Verweisung selbst Kompass und Orientierungsmaß für das Dasein. Doch um diese zeitliche Komponente in Bezug zum Möglichkeits­ horizont des Verweisungszusammenhangs verständlich machen zu können, müssen weitere Aspekte der Struktur der Verweisung, so wie Heidegger sie konstelliert, in ihrer Komplexion vertiefend unter­ sucht werden. Kommen wir also zu einem kurzen Zwischenresümee: Das Dasein ist durch das messende Sorgen bzw. durch den Umgang auf die Verweisungszusammenhänge von Seienden im operativen Modus des Zuhandenen bezogen, das bis zum pflegenden Modus der Fürsorge reicht. Dieser Bezug zeigte sich als Aufblühen eines anmessbaren und entdeckbaren Möglichkeitsspielraums und zugleich als Maßstabsorientierung aufgrund der Vertrautheit des Menschen mit ihm. Wie begegnet dieser nun aber als Umweltraum? Die Verweisung gestattet dem Dasein seinen Umkreis. Sie gibt als Verweisungsganzheit, d.h. im Verhältnis der Verweisungen zuein­ ander, ein Gewebe von komplexen Knoten und Beziehungsfäden, die das Dasein in ein konkretes Gefüge des Seienden und des Mitseins der Anderen einbettet. Um diese Konfiguration sorgt es sich und im Mitsein steht das Dasein im besagten Fürsorge-Verhältnis. Diese Verweisungen faltet es alle wieder zurück auf das eigene Dasein, »worum-willen« es ist. Wir sahen, dass Heidegger diese Verwei­ sungskomplexion nicht mehr als substanz- oder funktionslogische Reflexionen im Sinne einer bipolaren Logik denkt. Diese existieren für ihn nur sekundär (d.h. nicht fundamentalontologisch) und bes­ tenfalls als Sonderfall gewisser Verweisungszusammenhänge. Durch diese proto-hyphische Struktur gewinnt das Dasein die Orientierung, um Möglichkeiten von Wegen und Zugängen zur Welt, die durch Verweisungen in sich selbst durchlässig für das messend-sorgende Dasein sind, anzueignen. Dieser Umstand ermöglicht und eröffnet den Umweltraum und seine Bewandtnis als eigentlicher Orientie­ rungsmaßstab. Dabei ist für Heidegger zuvorderst folgende Überle­ gung zentral: »Der Umweltraum hat nichts vom homogenen Raum und entsprechenden Ausmessungen. Er begegnet in den ›Plätzen‹ der weltlichen Sachen und auf den Wegen, die das Besorgen nimmt.

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Die Umgebung, darin das Besorgen sich aufhält, zeigt den Charakter der Vertrautheit.«723 Erst in diesem Modus der Vertrautheit kann die begegnende, erfahrbare und bedeutsame Welt für das Dasein auf­ leuchten. Der Umweltraum als Bewandtnisganzheit und im Modus der Vertrautheit und Bedeutsamkeit rücken bei einem solchen anders gearteten Anmessen in den Aufriss zwischen Sorge und Begegnung. Dies sehen wir uns jetzt genauer an. Dabei werden wir uns zunächst einer optischen Gedankenstütze bedienen, um dieses Verhältnis mög­ lichst deutlich zu machen. Dafür nehmen wir einmal als Beispiel einen Menschen an, der in einem Park, in der Nähe der irischen Hauptstadt Dublin zwischen einigen Bäumen stehend, über einen Zaun blickt. Der vertraute Blick in die Richtung einiger Gebäude und Fahrzeuge mag zunächst völlig belanglos erscheinen – schließlich ist er scheinbar nur ontischen Charakters. Dennoch eröffnet sich hier Heideggers komplexer Verweisungszusammenhang, der von der performativ konstellierten messenden Sorge umsäumt und vom Maß des Ontischen auf das ontologische Maß zeigt, was wir oben versucht haben strukturell zu umreißen. Diese Abbildung kann uns schließlich helfen, die Vertrautheit hinsichtlich der Termini Bewandtnis und Bedeutung verständlich zu machen:

723

GA 64, S. 21.

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b) Vertrautheit als Bewandtnis und Bedeutung In der Vorlesung Der Begriff der Zeit und in Sein und Zeit erläutert Heidegger die Charakteristika des Verweisungszusammenhangs im Detail. Diese Texte sind daher hilfreich, um den Bezug der Verweisung zur Maßgabe der Zeit besser zu verstehen. Wir werden uns nun fol­ gende Bereiche der Verweisung im Umgangsbereich der Vertrautheit anschauen. Erstens werden wir sehen, wie Heidegger diese Bereiche von der Bedeutung und vom Verstehen herkommend denkt und von ihnen den Bezirk der Bewandtnis abhebt. Zweitens werden wir her­ ausarbeiten, wie er diesen Bereich der Vertrautheit des Umweltraums in eine primordiale Temporalität überführt. In Sein und Zeit macht Heidegger den Verweisungszusammen­ hang aus dem messenden Sorgen bzw. Umgang gewissermaßen ex usu und zugleich ex negativo sichtbar. Heideggers mittlerweile berühmt gewordene Überlegung ist dabei Folgende: Am sichtbars­ ten wird ein Verweis, wenn er gestört wird und diese Störung die Verflechtungen meines Alltags zerreißt. Somit rückt der Verweis, z.B. auf irgendein Gerät, ein »Zeug«, mit dem ich hantiere, erst ins Zentrum der Aufmerksamkeit, wenn es unbrauchbar geworden ist. Wie kommt Heidegger zu diesem Gedankengang? Der Umgang mit dem Zuhandenen im Zeugzusammenhang ist, aus Heideggers Sicht, die angemessene Möglichkeit des Zugangs zur Welt als Verwei­ sungskomplexion. Entscheidend ist für Heidegger nun die Störung im nicht mehr zur Verfügungstehen eines Zuhandenen im Verweisungs­ zusammenhang, die dieses Zuhandene erst auffällig werden lässt. Ebenso kann eine Aufdringlichkeit des gestörten Verweisungszusam­ menhangs evoziert werden, wenn etwas auf unersetzbare Weise fehlt bzw. sogar bis zur Aufsässigkeit anwachsen, wenn das jeweilige Zuhandene im Verweisungszusammenhang, im buchstäblichen oder übertragenen Sinne, nutzlos geworden im Weg steht.724 Damit wird das Orientierungsmaß des Verweisungszusammenhangs, das die Vertrautheit ist, durch eine logische Differenz vom performativen Maßstab der Sorge abgehoben. In der Verweisung zeigt sich etwas. Die Verweisung entpuppt sich als Bereich, in dem etwas enthüllt oder verdeckt wird. Im Zeigen der Verweisung, was Heidegger am beson­ deren Zeug des Zeichens exponiert, leuchtet so etwas wie Richtung, 724

Vgl. SuZ, § 16, S. 73–74.

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IV. Die Genesis eines ekstatischen Maßes der Zeit in Sein und Zeit

Tendenz auf.725 Mit dieser aufscheinenden Richtung wird die Umwelt plötzlich aus diesem gestörten Verweisungszusammenhang sichtbar, in der die Ausrichtung und die Umsicht für die Erschließung bzw. Erschlossenheit der Welt notwendig werden.726 So ist für Heidegger das Dasein auf den Zusammenhang der Welt verwiesen. Zwischen der Komplexion der Verweisung und dem Dasein klafft das Sein auf, das er später in seinem Differenzcharakter als ekstatische Dimension denken wird. Dessen tautologische Grundfigur wird Heidegger in der Analyse der Ontologie in Sein und Zeit und bis in sein Spätwerk in verschiedenen Facetten immer wieder aufgreifen und aus immer wieder anderen Perspektiven beleuchten. Diese Konfiguration entwickelt Heidegger in Sein und Zeit aus dem Verständnis der Bewandtnis. Sie hat nicht mehr allein die Struk­ tur des operativen »Um-zu«, sondern auch des topologischen »mit… bei«, d.h. die Bewandtnis eröffnet die verschiedenen Windungen und Wendungen des verweisenden Bezugs, dessen Fäden und Stränge den Verweisungszusammenhang als Konstellation für das Dasein konsti­ tuieren.727 Seiendes ist daraufhin entdeckt, daß es als dieses Seiende, das es ist, auf etwas verwiesen ist. Es hat mit ihm bei etwas sein Bewenden. Der Seinscharakter des Zuhandenen ist die Bewandtnis. In Bewandtnis liegt: bewenden lassen mit etwas bei etwas. Der Bezug des ›mit…bei‹ soll durch den Terminus Verweisung angezeigt werden.728

Hier kommt nun die phänomenologische Intentionalität, die auf etwas hin gespannte Richtung, oder die Tendenz wieder ins Spiel. Bewandtnis ist als Konstellation der Verweisung ein Maß der Ori­ entierung für das Dasein, d.h. für den ursprünglichen Bezug auf das Dasein als Um-willen. Die Bewandtnis stiftet auf diese Weise erst die besagte Vertrautheit. Auf diese vertraute Konstellation der Bewandtnis ist dann auch jene gespannte Richtung fokussiert, die Vgl. ebd., § 17, S. 79. Vgl. ebd. 727 Auf diesen Umstand macht auch Romano Pocai aufmerksam: »Die Reformulie­ rung von ›Verweisung‹, bzw. ›Verwiesenheit‹ in ›Bewandtnis‹ treibt die Sache der Weltanalyse insofern voran, als Heidegger am Begriff der Bewandtnis nicht nur den Bezug des Seienden auf das Ganze der Welt, sondern auch den auf das weltkonstitu­ ierende Dasein expliziert.« Romano Pocai, »Die Weltlichkeit der Welt und abge­ drängte Faktizität (§§ 14–18)«, in: Martin Heidegger. Sein und Zeit, hrsg. v. Thomas Rentsch, 2. Aufl., Berlin: Akademie 2009, S. 60. 728 SuZ, § 18, S. 84. 725

726

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wir als performativen Maßstab der Sorge bzw. als Messen im Sorgen herausgearbeitet haben. Aber Heidegger zeigt mit der Bewandtnis noch etwas anderes. Die Bewandtnis gibt etwas, sie lässt etwas sehen, mit dem, was das Dasein im Sich-Zeigen für sich bewenden lässt. Dies ist ein Bereich, in dem nicht sofort in das sich Zeigende und in das Sich-Zeigen eingegriffen wird. So zeigt sich beispielsweise im Spaziergang durch die Stadt das sonnige Wetter mit, ebenso die spielenden Kinder im Park, die Birken, die Dächer der Häuser und das Gras, auch wenn es für sich nicht im Fokus steht, ist es für den Gesamtzusammenhang unerlässlich – ohne Wetter, ohne Kinder, ohne Birken und ohne die Dächer der Häuser im Umfeld des Parks, wäre der Park einfach nicht mehr der Park, durch den ich schreite. Wir lassen einen solchen Zusammenhang in der Regel für sich stehen. Das Dasein kann also etwas »[…] so und so sein lassen, wie es nunmehr ist und damit es so ist.«729 Heidegger fasst dieses Sein-lassen der Bewandtnis »[…] grundsätzlich ontologisch.«730 Warum? Weil Sein-lassen das Seiende, also Ontische, erst für das Anzumessende oder zu Bemessende im Sinne des tendenziellen Sorgebezugs des Daseins freigibt. Wir müssen dies ganz klar sehen: Dieses phänomenologische Motiv des Seienden ist für Heidegger ein Zuspiel zwischen ontischen und onto­ logischen Verhältnissen und später von ihm noch einmal komplexer im Spätwerk als die Gelassenheit durchdacht.731 Zentral ist für den Heidegger von Sein und Zeit, dass das Sehen lassen ursprünglich nur als Bewandtnis eines vielschichtig verwobenen Verweisungszu­ sammenhangs möglich ist, insofern dieser für das Dasein erst eine Bewandtnisganzheit stiftet, die immer schon vorentdeckt ist. Heidegger betont noch einmal: »Diese vorentdeckte Bewandt­ nisganzheit birgt einen ontologischen Bezug zur Welt in sich.«732 Dieser Bezug beruht als messende, ermessende, bemessende Ausrich­ tung auf zwei Konfigurationen, die ineinander ragen. Erstens im Sich-Verweisen auf etwas durch das angemessene Verstehen (d.h. der Durchdringung des Verweisungszusammenhangs durch die AlsEbd. Vgl. ebd., S. 85. 731 Es ist bemerkenswert, dass Heidegger das Verhältnis der Gelassenheit als »Spiel des Lebens« und schließlich als Zuspiel schon in seiner Leibniz-Vorlesung bedenken wird. Vgl. GA 27, § 36. 732 SuZ, S. 85. 729

730

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Struktur) und im Sehenlassen, das für Heidegger als ein Begegnenlas­ sen auch ein Erfahren ist. Dies ist jene geschichtliche Maßgabe der Zeit, die er bei Kant und dann vor allem bei Dilthey und Graf Yorck von Wartenburg als zentrale Motive herausdestilliert hat. In die­ sem sorgenden Erfahren wird die maßgeblich zeitliche Komponente nun in die durch die anmessende Sorge erschlossene Räumlichkeit der Bewandtnisganzheit von Heidegger bereits in Der Begriff der Zeit fokussiert: »Das Worauf seines, der Umgebungszusammenhang in der angezeigten, besorgungsmäßig artikulierten Räumlichkeit, ist anwesend in der Weise des ›Vorweg-schon da‹.«733 Das Dasein ist im Erfahren des sich Zeigen-lassens von Welt also immer schon bei etwas. Bereits hier zeichnet sich ab, dass Heidegger der Zeit nun ein weiteres Mal den Vorrang geben wird, was sich leicht daraus ersehen lässt, dass die Strukturen der Sorge und der Als-Struktur des Verste­ hens in ihrer Anmessung für Heidegger, wie wir in den vergangenen Kapiteln immer wieder herausgestellt haben, tendenzielle Konfigu­ rationen sind, die als Bewegtheit primär transitiv zu denken sind. Heidegger fasst dies in Sein und Zeit so zusammen: »Das Worin des sich verweisenden Verstehens als Woraufhin des Begegnenlassens von Seienden in der Seinsart der Bewandtnis ist Phänomen der Welt.«734 Im Verstehen der Bewandtnis ist der Bezugscharakter der Ver­ weisung auf etwas als Begegnenlassen, d.h. im Sich-Zeigen und durch das Erfahren von Welt, in der das Dasein sich sorgend und umgehend misst, für Heidegger bestimmt durch das »Be-deuten«. Wir erinnern uns: die Bedeutung in der Bewandtnis spielte schon in Heideggers Habilitation als Orientierungsmaß eine Rolle.735 In Sein und Zeit wird dieses Verhältnis von Heidegger wiederentdeckt und vertieft. Warum ist dies der Fall? Weil Heidegger, im Ausgang von Dilthey und Graf Yorck, die Verwebung der Bezüge als Verweisungszusammenhang der Bewandtnisganzheit und als Vertrautheit durch die Erarbeitung der doppelten Konfiguration des Messens als Sorgen und der maßgebli­ chen Zeit als erfahrendes Begegnen- und Sehenlassen in den Blick bringen kann.736 Auf diesen Zusammenhang der Vertrautheit ist das Dasein angewiesen. Diese Reziprozität von Sorgen und Verstehen auf der einen Seite, und dem Begegnenlassen in der vertrauten Bewandtnisganzheit auf der anderen Seite, macht für Heidegger die 733 734 735 736

GA 64, S. 22. (Hervorhebung durch M.M.). SuZ, § 18, S. 86. Vgl. Kapitel I.2c. Vgl. SuZ, § 18, S. 87.

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Bedeutsamkeit aus. Sie ist das eigentliche Orientierungsmaß für das Dasein. Entscheidend ist nun, dass mit der Bedeutsamkeit auch die Sprache, d.h. die Als-Struktur des Verstehens, als performativer Maß­ stab der Sorge mit dem erfahrbaren Verweisungszusammenhang der vertrauten Bewandtnisganzheit verwoben wird. Die Bedeutsamkeit ist für Heidegger daher die ontologische Bedingung der Möglichkeit für das auslegende Dasein überhaupt. Die Bedeutsamkeit selbst aber, mit der das Dasein je schon vertraut ist, birgt in sich die ontologische Bedingung der Möglichkeit dafür, daß das verstehende Dasein als auslegendes so etwas wie Bedeutungen erschließen kann, die ihrerseits wieder das mögliche Sein von Wort und Sprache fundieren.737

Damit ist der Kreis geschlossen, den Heidegger nicht umsonst auch als den hermeneutischen Zirkel des Verstehens bedenkt.738 Die Bedeut­ samkeit und die Bewandtnisganzheit ermöglichen erst in diesem herausgearbeiteten reziproken Zuspiel der Vertrautheit ein Maß für eine Orientierung des Daseins in der Welt. Doch wenn Vertrautheit der wichtige Zwischenbereich ist, von dem Heidegger auch gezeigt hatte, dass er durch die Defizienz eines Zuhandenen des Verweisungs­ zusammenhangs gestört werden kann, ist dies für Heidegger Anlass darüber nachzudenken, welchen Charakter diese Vertrautheit in der Verwebung der Verweisungen innerhalb der Bewandtnisganzheit kon­ kret hat. Für Heidegger heißt dieser Charakter Nähe. Fragen wir also abschließend: Ist die Nähe der Bereich und das Maß zwischen dem messenden Umgang und der maßgebenden Zeit?739

c) »Eine Pfeife lang« – konkrete Nähe und Entfernung Das Verhältnis von Nähe und Maß ist schon einmal von einem Heidegger-Forscher untersucht worden. Emil Kettering hat eine sehr detaillierte Abhandlung zu Heideggers Begriff der Nähe verfasst und nach eingehender Untersuchung »[…] die NÄHE als ›Urmaß‹

Ebd., § 18, S. 87. Vgl. ebd., § 32, S. 152–153. 739 Wir werden später noch einmal auf die Nähe im Spätwerk zurückkommen. Vgl. Kapitel VI, 9d.

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738

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herausgestellt […].«740 Kettering zeigt meines Erachtens in Bezug auf Heideggers Spätwerk, zu dem wir noch kommen werden, in völlig korrekter Weise, dass Heidegger das Maß als Bedingung der Möglichkeit von Wahrheit und Unwahrheit denkt und kein fixes, schon homogenisiertes Maß meint. Dies hält er vor allem gegen Tugendhat und Werner Marxens Vorwurf, die beide der Auffassung sind, Heidegger habe nie wirklich ein Maß gedacht, das für die Ethik fruchtbar gemacht werden könne.741 Ich schließe mich Ketterings Position in dieser Debatte im Wesentlichen an. Allerdings wende ich kritisch ein, dass Ketterings Ausführungen zum Verhältnis von Nähe und Maß teilweise etwas undifferenziert und nicht in allen Belangen deutlich genug entwickelt werden. Dies führe ich allerdings auf den Umstand zurück, dass Kettering in den 1980er Jahren keinen hinrei­ chenden Zugang zu der Quellenlage des Heideggerschen Maßbegriffs hatte, wie er heute durch die Gesamtausgabe zur Verfügung steht. Kettering weist zu Recht darauf hin, dass die Nähe auch durch die Struktur der Verborgenheit und Unverborgenheit, insbesondere durch die Als-Struktur, konstituiert sei. Sie ermögliche, so Kettering, als Urmaß die Genese eines jeden Maßes. Kettering fehlen jedoch die Hinweise Heideggers zu den frühen Freiburger und Marburger Vorle­ sungen, in denen die Grundlagen für das komplexe Maßverständnis in Heideggers Denken erarbeitet werden. Wir werden daher mit Rücksicht auf Ketterings immer noch brillanter Analyse der Nähe, das Verhältnis von Nähe und Maß noch einmal erörtern. Dazu werden wir die Rolle der Sorge und des Verstehens als Weisen des Messens und die sich abzeichnende Vorrangstellung der maßgeblichen Zeit einbe­ ziehen. Ketterings Analyse wird uns dabei einerseits als Korrektiv und andererseits auch als Anstoß der Kritik dienen. Wir konnten bisher herausarbeiten, dass Heidegger die Vertraut­ heit der Verweisungen in der Bewandtnisganzheit in Sein und Zeit immer im primären Bezug auf das Dasein denkt. In dieser Konfigu­ Emil Kettering, NÄHE, Pfullingen: Neske 1987, S. 374; vgl. ebd., S. 358; S. 362. Werner Marx hält gegen den Umstand, dass Heidegger keinen ethischen Maßstab gedacht habe, selbst ein »[…] Maß der Nächstenliebe als Maß für verantwortungs­ volles Handeln.« Vgl. Werner Marx, Gibt es auf Erden ein Maß? Frankfurt am Main: Fischer 1986 (Orig. 1983), S. 153. Tugendhat hingegen hält Heideggers Maßdenken für eine Ethik ungeeignet, weil es, wie wir schon im letzten Kapitel mit Referenz auf Tugendhat gesehen haben, aus seiner Sicht nicht teleologisch und logisch konsistent ausgearbeitet sei. Vgl. die eingebrachten Einwände gegen Tugendhat in Kapitel II.6 und Kapitel IV.2a. 740 741

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ration zeigt sich die Nähe. In der Interpretation der Nähe in Sein und Zeit und den umlagernden Vorlesungen sehen wir bereits, wie die Verweisungszusammenhänge in Bezug auf ein Maßverständnis von Heidegger bedacht sind. In Sein und Zeit sind es vor allem der zweiundzwanzigste und der dreiundzwanzigste Paragraph, die für unsere Fragestellung zum Verhältnis von Nähe und Maß wichtig sind. Der Heidegger-Forschung ist bekannt, dass Heidegger in diesem Zusammenhang den Raum für ontologisch relevant hält, ihn aber nicht als ein Apriori der Welt deutet, sondern umgekehrt zeigen will, dass der Raum aus der Weltlichkeit der Welt, d.h. aus den Verweisungszusammenhängen der bewegten und performativ sich an der Welt messenden Sorgestruktur, konstituiert wird. Nicht abstandsmäßige Raumkoordinaten, die als Unterlage für die Matrix einer abstrakten und objektivierten Dingwelt dienen, wie wir es heute in der Disziplin der Topographie lernen und dieses Wis­ sen in CAD-Programmen, in geographischen und architektonischen Disziplinen applizieren, bilden aus Heideggers Sicht keinen Einblick in die Welt. Stattdessen stiftet die Nähe des aufeinander verwiesenen Zuhandenen als das Besorgte ein konkretes Maß zur Welt. »Das ›zur Hand‹ Seiende hat je eine verschiedene Nähe, die nicht durch Ausmessen von Abständen festgelegt ist. Diese Nähe regelt sich aus dem umsichtig ›berechnenden‹ Hantieren und Gebrauchen.«742 Dabei ist es in diesem Kontext billig, Heidegger zu unterstellen, er sei ontologisch eigentlich ein heimlicher Pragmatiker.743 Weniger simpel, aber dennoch den Zusammenhang von Heideggers Denken verzerrend, ist es, Heidegger durch das Brennglas eines produktivfunktionalen Denkens zu stellen.744 Heidegger geht es nicht primär SuZ, § 22, S. 102. So nennt Richard Rorty Heideggers Sein und Zeit ein »pragmatist treatise«, d.h. eine pragmatistische Abhandlung. Richard Rorty, »Heidegger, Contingency, and Prag­ matism«, in: Ders., Essays on Heidegger and Others. Cambridge: Cambridge Univer­ sity Press 1991, S. 32; vgl. ebd., 33ff. Dass Rorty hier ein Zerrbild von Sein und Zeit und Heideggers Aufwurf der Seinsfrage liefert, dürfte aus unserer bisherigen Unter­ suchung bereits deutlich geworden sein. 744 Scheier liefert einen solchen Versuch, indem er Heideggers Konkretion der Ver­ weisungszusammenhänge als bedeutsame Bewandtnis der sich zeitigenden Lebens­ bewegtheit der menschlichen Sorge auf ein Reflexionsverhältnis von Differenzfolgen zwischen Funktion (Sein) und Argument (Seiendes) reduziert – eine Interpretation, die Heidegger selbst, wie wir mehrfach gesehen haben, aus Gründen der Gefahr der Homogenisierung des tatsächlich konkreten und heterogenen Daseinsbezugs explizit avant la lettre zurückgewiesen hätte. Scheier hingegen meint: »Auch Heideggers logi­ 742

743

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um das Hantieren als Besorgen, sondern um die Konfiguration des Sorgens als Messen selbst innerhalb eines Bezugsgewebes im Ver­ hältnis zur Maßgabe der Zeit. In Sein und Zeit macht Heidegger noch einmal in konziseren Worten klar, dass die Sorge eine konkrete Tendenz zu etwas sei. Nicht der Gebrauch oder das Hantieren bzw. Operieren steht im Zentrum, sondern der Verweisungscharakter im Modus der bedeutsamen Bewandtnis, insofern jede Sorge Umsicht und damit Richtung impliziere. Ebenso weise das Zeug eine Lokalität, ein »Wohin« als demonstrative Faktizität bzw. ein »Da« auf.745 Der Verweisungscharakter dieser Richtungslinien zeigt sich dadurch, dass der ausgerichtete Umgang mit den Dingen, dem »Zeug«, eine Zuge­ hörigkeit und Hingehörigkeit involviert. Mit dieser Richtung ist ein konkretes, d.h. verdichtendes Maß gegeben, das gleichwohl die Grenze seiner selbst impliziert, indem jeweils andere Richtungen entbehrt bzw. verhüllt oder verdeckt wer­ den. Das ist der Verweisungscharakter der konkreten phänomenolo­ gisch-demonstrativen Ausrichtung. Die so erzeugte Bewandtnis stiftet Nähe, insofern sie durch die Zuweisung von Platz und Verweisung zu den Dingen durch das Dasein sichtbar gemacht werden. In selbiger Weise bleiben andere Bereiche fern, indem die Verweisungen abge­ trennt oder verdeckt werden. »Der durch Richtung und Entferntheit –

scher Ort ist nicht das alte Urteil, sondern der Satz und also die onto-logische Differenz von Funktion (›Sein‹) und Argument (›Seiendes‹).« Claus-Artur Scheier, Luhmanns Schatten. Zur Funktion der Philosophie in der medialen Moderne. Hamburg: Meiner 2016, S. 21. Freilich, in der Logik des Urteils denkt Heidegger nicht mehr. Doch wie steht es mit dem Präjudiz von Funktion und Argument im Satz? Mit diesem reduk­ tionistischen Präjudiz kann Scheier Funktion und Argument mit der Verklammerung von Produktion und Produkt sowie von Bewusstsein und Gegenstand gleichsetzen. So könne man schließlich »[…] jetzt mit Heidegger […]« behaupten: das »[…] ›verbal‹ zu denkende Wesen des (arbeitenden Menschen) bzw. des (intentionalen) Bewußt­ seins ist der wahre Wert als die Wahrheit der Welt (der Produkte und Gegenstände) […].« Ebd., S. 28–29. Eine solche déformation professionelle mag inhärent in einem Denkkomplex seinen Ort haben – nämlich konkret in Scheiers logisch-reflexiver Interpretation des Produktionsdenkens der Moderne im Ausgang von Luhmanns Systemtheorie. Eine Interpretation oder Rekonstruktion aus dieser Perspektive heraus ist für sich genommen durchaus legitim. Nach den bisherigen herausgearbeiteten Indizien zu Heideggers Kritik an der Homogenisierung und zu seinen Einwänden gegen Freges und gegen Russells Logik, dürfte jedoch eine funktional-logische Dar­ stellung von Heideggers Denken mit einem Anspruch auf textexegetische Kohärenz und Kohäsion zumindest fraglich sein. 745 SuZ, S. 102.

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Nähe ist nur ein Modus dieser – konstituierte Platz ist schon auf eine Gegend und innerhalb ihrer orientiert.«746 Demnach steht die Gegend reziprok mit der Entfernung im Zusammenhang, in der laut Heidegger die Nähe nur ein Modus der Richtungstendenz ist, die sich von der Ferne abhebt. Die homogenen Maße eines abstrakten Raumes und seine quantifizierbaren Dimen­ sionen offenbaren sich damit als Sekundärdeutungen. »Es ist nie zunächst eine dreidimensionale Mannigfaltigkeit möglicher Stellen gegeben, die mit vorhandenen Dingen ausgefüllt wird. Diese Dimen­ sionalität des Raumes ist in der Räumlichkeit des Zuhandenen noch verhüllt.«747 Dabei gibt es sehr wohl ein formales sowie gleichwohl konkretes Orientierungsgebiet, das ein anderes heterogenes Maß stiftet, als das herkömmlich homogene. Es ist die Benennung der tat­ sächlichen Faktizität der Gegend: »Auf dem Dachboden des Sohnes«, »bei der Holztür drüben«, »im Gang A neben dem rostigen Lüftungs­ schacht in der alten Computerfabrik« etc. Die konkreten Benennun­ gen und ihre konkreten faktischen Verweisungen als bedeutsame Bewandtnis für das Dasein eröffnen erst die Möglichkeit der Abs­ traktion, die im übertragenen Sinne Sekundärtugenden vor einem anderen tieferliegenden Horizont des alltäglichen Weltzugangs sind. »[A]lle Wo sind durch die Gänge und Wege des alltäglichen Umgangs entdeckt und umsichtig ausgelegt, nicht in betrachtender Raumaus­ messung festgestellt und verzeichnet.«748 Dieses verwobene Aderwerk des Alltags erlaubt die besagte Nähe, da es keine homogenen Abstandsmaße einer abstrakten Sektion ein­ nimmt und erschließt, sondern heterogene Orientierungsmaße einer konkreten Gegend spendet und eröffnet. Und hier kommen wieder die Ausrichtung der gewohnten Vertrautheit und die bekannte Bewandt­ nisganzheit des Zeugs ins Spiel, deren Struktur wir im vorherigen Unterabschnitt erläuterten. Dabei denkt Heidegger die Entfernung transitiv, indem im »Entfernen« eine Abkehr vor dem Fernen zugelas­ sen und somit Nähe gestiftet wird, die aus der Bewandtnisganzheit erwächst.749 Erst hier wird so etwas wie die Abstraktion von dieser Nähe als ein nüchternes und kalkulierendes Sezieren möglich, nicht

746 747 748 749

Ebd., S. 103. Ebd. Ebd. Ebd., § 23, S. 105.

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umgekehrt.750 Heidegger fasst dies kurz und nüchtern: »Im Dasein liegt eine wesenhafte Tendenz auf Nähe.«751 Ein für seinen geschichtlichen Ort zeitgemäßes Beispiel für die konträre Fluktuation zwischen Nähe und Ferne erkennt Heidegger in der gerade erst etablierten Fernmeldetechnik, u.a. vor allem im Rundfunk. Hier sieht Heidegger die Schwierigkeit, dass der Rund­ funk zwar unmittelbar etwas Fernes zugänglich mache, aber nur Sekundäres appliziere und zum Primaten erhebe, obwohl der Mensch genau umgekehrt die Welt erschließe. Dabei halte der Rundfunk echte Entfernung als Stiftung von Nähe im Überwinden des kalkulierbaren »Fernen« von uns weg. Dies läge beim Rundfunk vor allem auch an dem quantitativ vervielfachten Maß an Übertragungsgeschwindigkeit im Vergleich zum traditionellen Nachrichtenverkehr, z.B. etwa per Brief. Heidegger schließt daraus: »Alle Arten der Steigerung der Geschwindigkeit, die wir heute mehr oder minder gezwungen mit­ machen, drängen auf Überwindung der Entferntheit.« 752 Damit wird aber weiterhin – so Heideggers Folgerung – die Ferne aufrechterhal­ ten und die Nähe der Verweisungszusammenhänge von Menschen, Lebewesen und Dingen durch das sich Ausrichten in die Ferne sogar verweigert und somit vorenthalten. Deshalb ist Heideggers Kritik am Rundfunk zwar nicht den technokratischen Weltanschauungen des 20. und 21. Jahrhunderts gemäß, aber dennoch in sich konsistent. Zu denken gibt sie uns vor allem in einem Zeitalter der ökologischen Krise oder in der Isolation von sozialen Kontakten im Zuge einer Pandemie, in der heutzutage während einer langanhaltenden Ausgangssperre auf Teleund Videokommunikation zurückgegriffen werden muss. Inwiefern erleben wir hier das Ausbleiben der Nähe? Diese Frage wird noch brisanter, wenn Heidegger dem technologisch begleiteten Ausbleiben der Nähe eine Umweltzerstörung attestiert: »Mit dem ›Rundfunk‹ […] vollzieht das Dasein heute eine in ihrem Daseinssinn noch nicht übersehbare Ent-fernung der ›Welt‹ auf dem Wege einer Erweiterung

Hier stimmen wir auch mit Kettering überein, der zu ähnlichen Schlüssen kommt und zu folgender Konklusion überleitet: »Der Gebrauch der Termini, ›Nähe‹ und ›Ferne‹ ist zum einen von der Ordnung oder Denkebene abhängig, zum anderen von der Art der Räumlichkeit, die sich mit dem Wandel der Denkweise ändert.« Kettering, S. 107–108. 751 SuZ, § 23, S. 105. 752 Ebd. 750

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und Zerstörung der alltäglichen Umwelt.«753 Es handelt sich genau genommen also nicht um eine pejorative Deutung des Rundfunks per se, sondern lediglich um das exemplarische Bedenken hinsichtlich der Ausrichtung und des Umgangs des Menschen sowie der mit ihm notwendig modifizierten Verweisungszusammenhänge. Diese sind schließlich sein primäres Orientierungsmaß. Wird dieses aus­ einandergenommen oder zerteilt, so löst dies aus Heideggers Sicht tatsächlich, wenn schon keine »Zerstörung«, so doch eine »Störung« oder Verschiebung der bisherigen Nähestruktur in Ausrichtung zur Umwelt und Mitwelt aus. Wichtig ist, dabei im Blick zu behalten, dass Heidegger Entfernung nicht als homogene Abstandsenthebung, sondern als Tilgung von Ferne denkt, die keinen »ausmeßbaren Abstand« meint.754 Doch welches Maß macht das Entfernen zu einem Tilgen der Ferne, um die Bewandtnis und Bedeutsamkeit zu nähern, die als Nähe für das Dasein erfahrbar wird? Heidegger verweist dazu auf ein Maß, das in der konkreten Spra­ che artikuliert werden kann und somit mehr als nur Kommunikation stiftet. Dies ist deshalb möglich, weil dieses Maß das Denken der kon­ kret heterogenen Nähestruktur mit den Bausteinen der Bedeutsam­ keit und der Bewandtnis des Verweisungszusammenhangs schärfer ausdrücken kann, als jede Zahl oder abstrakte Variable, die durch die Reduktion der komplexen Verweisungen nur das Ferne stabili­ siert und die Tilgung der Ferne auf Dauer notwendig unmöglich macht. Dieses Maß ist die konkrete Schätzung oder Mutmaßung als gezielte Vagheit im Sinne eines potentiell mehrfältig einzuschätzen­ den Bedeutsamen, das Heidegger der Monothematik eines abstrakten rechnerischen Denkens entgegenhält, freilich ohne die alltägliche Operabilität oder Technik des Rechnens als solches nivellieren zu wollen. Geht es nämlich dem Schätzen mit der Vagheit um das Offenhalten von Möglichkeiten der zeitlich noch nicht festgelegten Deutung, ist die Eindeutigkeit des Rechnens gerade um die Wertung und damit um eine Festlegung sowie einen endgültigen Abschluss bemüht. Diese Eindeutigkeit eines solchen abstrahierenden Denkens ist für Heidegger jedoch lediglich ein Sonderfall des bedeutsamen Schätzens und hat daher für ihn keine Berechtigung monothematisch das konkrete Denken zu überlagern und die umsichtige Schätzung der alltäglichen Sorge zu diskreditieren: 753 754

Ebd., S. 105. Ebd.

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Soll die Ferne geschätzt werden, dann geschieht das relativ auf Ent­ fernungen, in denen das alltägliche Dasein sich hält. Rechnerisch genommen mögen die Schätzungen ungenau und schwankend sein, sie haben in der Alltäglichkeit des Daseins ihre eigene und durchgängig verständliche Bestimmtheit. Wir sagen: bis dort ist es ein Spaziergang, ein Katzensprung, ›eine Pfeife lang‹. Diese Maße drücken aus, daß sie nicht nur nicht ›messen‹ wollen, sondern daß die abgeschätzte Ent­ ferntheit einem Seiendem zugehört, zu dem man besorgend umsichtig hingeht. Aber auch wenn wir uns fester Maße bedienen und sagen: ›bis zu dem Haus ist es eine halbe Stunde‹, muss dieses Maß als geschätztes genommen werden. Eine ›halbe Stunde‹ sind nicht 30 Minuten, sondern eine Dauer, die überhaupt keine ›Länge‹ hat im Sinne einer quantitativen Erstreckung. Diese Dauer ist je aus gewohn­ ten alltäglichen ›Besorgungen‹ her ausgelegt. Die Entferntheiten sind zunächst, und auch da, wo ›amtlich‹ ausgerechnete Maße bekannt sind, umsichtig geschätzt.755

Der bestimmende Charakter der Schätzung im obigen Sinne bleibt als performativer oder transitiver Maßstab des Sorgens als Bewegt­ heit einer »Umsicht« in eine Richtung oder in einem Richtungs­ komplex unter den Titeln Verweisung, Bewandtnis, Bedeutsamkeit vom homogenen Quantifizieren weit entfernt. Die Deutung eines porösen Maßstabs des verwobenen Verweisungszusammenhangs als ineinander gehörige und bedeutsame Bewandtnis zu verstehen, wird von Heidegger damit betont. Besonders das Offenhalten für das noch kommende Mögliche und die bedeutsame offene Bewandtnis hebt er hervor: »Auf seinen Wegen durchmißt das Dasein nicht als vorhandenes Körperding eine Raumstrecke. […] Ein ›objektiv‹ langer Weg kann kürzer sein als ein ›objektiv‹ sehr kurzer, der vielleicht ein ›schwerer Gang‹ ist und einem unendlich lange vorkommt.«756 Die Maßorientierung der Schätzung als Nähe geht also auf das im Verweisungszusammenhang zunächst Begegnende. Der Abstand in quantitativer Hinsicht fällt auch schon auf ontischer Ebene ins Sekun­ däre. Die Brille kann auf der Nase abstandsmäßig sehr nahe sein, sie wird jedoch bei der Betrachtung des Bildes an der Wand das Fernste, ohne dass dieses Ferne subjektiv umgemünzt würde, denn jeder bebrillte Mensch sieht seine Brille auf Dauer nicht mehr. Dies liegt an Ebd. Vgl. auch die Textvariante in der Vorlesung Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs zum Maß der sorgenden Schätzung, an der das Zitat aus Sein und Zeit angelehnt ist. GA 20, S. 316–317. 756 Ebd., S. 106. 755

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seiner Tendenz auf Bedeutsames in der Umwelt zu achten, was »[…] je zunächst begegnet«.757 Die Brille begegnet nämlich nicht, sondern das Bild an der Wand, da auf dieses geachtet wird. Konstitutiv ist das Begegnenlassen von Welt, wo die Ferne wegrückt und Nähe zu etwas erwächst.758 So wird Raum nicht erschlossen als »Raum einnehmen«, sondern vielmehr wird aus dem performativ sorgenden Messen ein »Raum-geben« im Sinne eines »Einräumens« als »[…] Freigeben des Zuhandenen […]«.759 Erst von diesem konkreten Umgang mit Welt als Stiften des Raumes wird, aus Heideggers Sicht, die Abstraktion als rein formales Wegsehen vom Konkreten als Kunstgriff möglich. »Die ›formale Anschauung‹ des Raumes entdeckt die reinen Möglichkeiten räumlicher Beziehungen. Hierbei besteht eine Stufen­ folge in der Freilegung des reinen, homogenen Raumes von der reinen Morphologie der räumlichen Gestalten zur Analysis Situs bis zur rein metrischen Wissenschaft vom Raum.«760 Mit anderen Worten: Die »Ent-fernung« im Sinne der Entrückung der Ferne, d.h. als Nähe, erscheint zunächst als das primäre Maß für Heidegger. Die abstrahierende und homogenisierende Abstandsmessung, in quanti­ tativer Hinsicht etwa, ist für Heidegger eine sekundäre Tätigkeit, die erst einen neuzeitlichen Naturbegriff möglich machen kann, den Heidegger vor allem, aber nicht nur, bei Descartes kritisiert hatte, wie wir sahen. Doch ist die Nähe das »Urmaß«, wie Kettering meint? Es ist noch zu prüfen, ob die Nähe als performativ-sorgendes Schätzen in seiner Bewegtheit auch in dieser Hinsicht auf ein tiefer gelagertes Maßverhältnis verweist, das an der Zeit ausgerichtet ist bzw. als Zeit selbst zu verstehen ist. Heidegger gibt uns in den Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs einen Hinweis: »Es sind keine Strecken­ verhältnisse, die ich abschreite so wie ein angelegter Maßstab, der sich der zu messenden Strecke entlangschiebt, sondern ich selbst bin es, der seine Ent-fernung jeweils überwindet. Die Dauer einer solchen Entfernung bestimmt sich dabei nachdem, wie ich Zeit habe – genauer: wie ich die Zeit jeweils bin.«761 Ist also die Zeit, die die durch Verweisung und Bewandtnis ausge­ zeichnete Nähestruktur bestimmt, tatsächlich ein »Urmaß« noch vor den von uns herausgearbeiteten performativen bzw. transitiven Maß­ 757 758 759 760 761

Vgl. ebd., S. 107; vgl. GA 20, § 25, S. 318. Vgl. SuZ, § 24. Vgl. ebd., S. 111. Ebd., S. 112. GA 20, S. 317.

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stäben der Sorge- und der Wahrheitsstruktur? Wie steht es dann mit dem Einräumen des Raumes als Umweltraum qua Verweisungs- und Bewandtnisganzheit? In welchem Zusammenhang steht die Homo­ genisierung des eigentlich Heterogenen mit der Zeit und damit mit dem verdinglichenden Denken? Wie denkt Heidegger dann die Genese der Quantität aus der Zeit und damit das rechnende Denken? Um diese für das frühe 21. Jahrhundert bedeutsamen Fragen zu fokus­ sieren und an Heidegger zu prüfen, ist ein Blick auf Heideggers Zeit­ verständnis in Sein und Zeit notwendig, wobei wir seine Überlegun­ gen zu Kants Zeitverständnis sowie Diltheys und Graf Yorck von Wartenburgs Implikation der geschichtlichen Erfahrung weiter bedenken werden.

d) »Ich habe keine Zeit« – die exakte Uhrzeitmessung Unter Einbezug der Bewandtnis, der Verweisung und des Maßstabes der geschätzten Nähe, folgt Heidegger ein weiteres Mal der Spur der Zeit als Leitfaden. Nachdem wir sahen, dass sowohl das Sorge-, Wahrheits- und Verweisungs- bzw. Bewandtnisdenken der Nähe auf eine temporale Bewegtheit des Daseins des Menschen zeigt, sind die klaren Indizien gegeben, Heideggers Überlegungen zum Zeitverständnis in den Blick der Untersuchung zu bringen. Die Zeit ist das Hauptuntersuchungsfeld von Heideggers Seinsfrage. Dabei geht Heidegger zunächst von der ontischen Verwiesenheit des Menschen auf die Zeit aus. Um diesen Problembezirk verstehen zu können, rekurrieren wir auf die Erträge der vergangenen Untersuchung zur Verweisungs-, Bewandtnis- und Nähe-Struktur. Sie sind im Hinter­ grund dieses Abschnitts immer mitzudenken. Der ontische Bezug liefert die Uhrzeit. In ihr will Heidegger ontologische Bezüge aufdecken. Heidegger fragt daher in Sein und Zeit, wie der Mensch in seinem Alltag den performativen Maßstab seines zeitlichen Daseins in seiner konstitutiven Sorge um die Zeit ausgerichtet hat und wie er ihn als Maß in die Abstraktion der Uhr und des technisch raffinierten Chronometers überführt hat. Dieses stellt Heidegger im achtzigsten Paragraphen von Sein und Zeit heraus, nachdem er dies in den Marburger Vorlesungen Der Begriff der Zeit und Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs vorbereitet

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hatte.762 Heideggers grundlegende Annahme lautet auch dort, dass dem Menschen aufgrund seiner Lebensbewegtheit, seiner Zeitlichkeit und seiner Absicherung ein ganz bestimmter abstrakter Charakter des Maßes wichtig wird, der sich als Maßstab der Quantifizierung bezeichnen lässt. Dieser enthüllt sich nach Heidegger aber selbst aus seinem primär besorgenden Verhältnis zur Welt. In dieser Welt wird der Mensch durch einen Bewandtniszusammenhang zwischen Sonne und Mond, Tag und Nacht bestimmt. In ihr muss der Mensch in seiner Bewegtheit von Anfang an um seiner selbst willen in seinen Besorgungen mit diesem Horizont »rechnen«.763 Heidegger fasst dies so zusammen: An die mit seinem faktischen Da entdeckte ›Welt‹ überlassen und besorgend auf sie angewiesen, ist das Dasein seines In-der-Welt-sein­ könnens dergestalt gewärtig [das heißt für Heidegger wartend auf der ontischen Ebene von Räumlichkeit und Zeitlichkeit], daß es mit dem auf das ›rechnet‹, womit es umwillen dieses Seinkönnens eine am Ende ausgezeichnete Bewandtnis hat. Das alltägliche umsichtige In-der-Welt-sein bedarf der Sichtmöglichkeit, das heißt der Helle, um mit dem Zuhandenen innerhalb des Vorhandenen besorgend umgehen zu können. […] In seiner Geworfenheit ist es dem Wechsel von Tag und Nacht ausgeliefert. Jener gibt mit seiner Helle die mögliche Sicht, diese nimmt sie.764

Der Mensch steht mit der zunächst scheinbar nur ontischen Bewandt­ nis und der Nähe zur Sonne als Stern, um die die Erde mehr oder wenig rhythmisch rotiert, auch in einem ontologischen Verhältnis zwischen Himmel und Erde. Dieser Aufenthalt kann erst durch die Frage der räumlichen Sichtmöglichkeit für das lebenskonstitutive Besorgen ein Verhältnis zu einem Zeitmaß stiften, in dem der Mensch eigentlich irreduzibel steht, solange er lebt. Und damit gibt dieses Maß der Zeit sowohl den uneigentlichen »Alltag«, indem jeder Tag auf den anderen folgt, der mir nicht mehr zu eigen ist, als auch die eigentliche Endlichkeit meiner eigenen Zeit, als bestimmte Dauer meines besorgenden Lebens zwischen Aufgang und Untergang der Sonne. Im Grenzbereich meiner endlichen Zeit sorge ich mich als Mensch um meiner selbst willen und für das Mit-sein der anderen in Vgl. GA 20, § 25, S. 312 ff.; vgl. GA 64, S. 66–83. Den Zusammenhang von messbarer Zeit und Sonne sieht auch Figal. Vgl. Gün­ ther Figal, Martin Heidegger, Frankfurt am Main: Athenäum 1988, S. 300. 764 SuZ, § 80, S. 412. Erläuternde Einfügung M.M. 762

763

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dieser Welt, die in irreduziblen Bezug zu mir und meiner endlichen Zeit stehen. Dies sagt Heidegger uns so: »Die Sonne datiert die im Besorgen ausgelegte Zeit. Aus dieser Datierung erwächst das ›natürlichste‹ Zeitmaß, der Tag. Und weil die Zeitlichkeit des Daseins, das sich seine Zeit nehmen muß, endlich ist, sind seine Tage auch schon gezählt.«765 Damit ist dem Menschen durch die Verweisung auf die Bewe­ gung des Himmels, die bewegten Himmelskörper und letztlich durch einen möglicherweise unendlichen Weltraum zugleich eine radikale Grenze aufgezeigt. Diese kann er nur schwer ertragen, da seine bewandtnishafte Bedeutsamkeit als endliches Lebewesen auf der limitierten Erde einem zukünftigen Verschwinden seiner Spuren ausgesetzt ist.766 Diese Verwiesenheit des Menschen auf seine eigene Endlichkeit, die durch den Wechsel von Sonne und Mond angezeigt ist, führt zu seinem davor sich absichernden, uneigentlichen Ver­ hältnis. Diese absichernde Uneigentlichkeit manifestiert sich darin, dass der Mensch, statt auf seine eigene und eigentliche Endlichkeit, d.h. seinen Horizont, zu achten, auf den uneigentlichen, weil ihm nicht eigenen, Alltag achtet, indem er mit ihm zählend rechnet.767 Heidegger sieht darin den Grund für die Einteilung des Tages. Mit dieser Einteilung werden jetzt auch zugleich die Orte mit in Rechnung gestellt: »Die Einteilung vollzieht sich wiederum mit Rücksicht auf das die Zeit Datierende: die wandernde Sonne. So wie Anfang sind Niedergang und Mittag ausgezeichnete ›Plätze‹, die das Gestirn einnimmt. Seinem regelmäßig wiederkehrenden Vorbeiziehen trägt das in die Welt geworfene, zeitigend sich Zeit gebende Dasein Rech­ nung.«768 Nicht mehr eigens für sich, sondern vielmehr uneigentlich, ist dieses Rechnen laut Heidegger deshalb, weil der Mensch nicht Ebd., S. 412–413. In den Grundproblemen der Phänomenologie weist Heidegger im Rückgriff auf Aristoteles auch explizit auf die Rolle der Bewegtheit des Himmels und des Alls bezüglich der Zeit im antiken Weltverständnis hin: »Die eine Auffassung identifiziert die Zeit mit der Bewegung des Alls […]. [D]as Ganze des Seienden, das sich bewegt, ist die Zeit selbst. […] Eine zweite Auffassung geht in dieselbe Richtung, aber sie ist bestimmter. Sie sagt: die Zeit ist ἡ ῖ ὐή. Die Zeit wird hier der Himmelskugel gleichgesetzt, die im Kreise umschwingend alles umgreift und in sich befaßt.« GA 24, S. 331–332. Heidegger nimmt diese Deutung der Zeit als Bestätigung seiner Position, dass die Sonne und der Himmel das Phänomen der Bewegung als Zeit für das Dasein sichtbar machen. 767 Vgl. GA 24, § 20, S. 362. 768 Vgl. SuZ, S. 413. 765

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alleine, sondern mit anderem Dasein unter sonnenerhelltem Himmel zusammen sein Leben besorgend verrichtet. Dafür muss miteinander gerechnet werden und zwar mit der Verweisung auf Orte, an der das zeitkonstitutive Gestirn »Sonne« steht. Aus dieser öffentlichen, gemeinsamen Rechnung erwächst dann ein uneigentliches öffentliches Maß, das aber ursprünglich aus der eigentlichen Bewusstheit um seine endliche und eigene, eigentliche Zeit herrührt. »Diese aus Licht und Wärme spendende Gestirn und seinen ausgezeichneten ›Plätzen‹ am Himmel her sich vollziehende Datierung ist eine im Miteinandersein ›unter demselben Himmel‹ für ›Jedermann‹ jederzeit und in gleicher Weise, in gewissen Gren­ zen zunächst einstimmig vollziehbare Zeitangabe. […] Auf diese öffentliche Datierung, in der jedermann sich seine Zeit angibt, kann jedermann zugleich ›rechnen‹, sie gebraucht ein öffentlich verfügba­ res Maß.«769 »Ich habe Zeit« bzw. »Ich habe keine Zeit«, bedeutet für Heidegger die Möglichkeit, diese Datierbarkeit zu haben. Aus der lebenswichtigen Abstimmung mit anderen entsteht, laut Heidegger, folglich eine der ersten und tiefgreifenden Abstraktionen, die zugleich hyperbolisch vermessen sind, weil der Abstraktionsvoll­ zug übertrieben wird, da hier nämlich die Zeit tendenziell nur noch durch die Operation der Rechnung gesehen wird. Durch das Rechnen mit einem Maß für die Zeit (z.B. durch den Sonnenstand an einem fixen Ort) erwächst nach Heidegger die öffentliche Zeitmessung, in der die Zeit nicht mehr die eigene endliche Zeit ist. Dass Heidegger hier mit seiner Überlegung recht haben könnte, lässt sich empirisch an den ersten sonnenorientierten Megalith-Bauten, etwa am zehn­ tausend Jahre alten türkischen Göbekli Tepe, oder am neolithischen Kultbau in Newgrange in Irland, oder am englischen Stonehenge, oder anderen Orten geschichtlich erhärten. An diesen Orten gibt es nun nicht nur eine Datierung von Zeit, sondern die Orte werden zur Uhr institutionalisiert. Dies hebt Heidegger selbst hervor: »Diese Datierung rechnet mit der Zeit im Sinne einer Zeitmessung, die sonach eines Zeitmessers, das heißt einer Uhr bedarf. Darin liegt: mit der Zeitlichkeit des geworfenen, der ›Welt‹ überlassenen, sich zeitigenden Daseins ist auch schon so etwas wie ›Uhr‹ entdeckt, das heißt ein Zuhandenes, das in seiner regelmäßigen Wiederkehr […] zugänglich

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Ebd.

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geworden ist. Das geworfene Sein bei Zuhandenen gründet in der Zeitlichkeit. Sie ist der Grund der Uhr.«770 Die Uhr – und das ist entscheidend – macht laut Heidegger die Zeit zu einem Maß, das teleologisiert wird. Sie wird, um Heideggers Begrifflichkeit zu verdeutlichen, »Zeit zu« oder »Zeit um zu«, d.h. eine zweckorientierte Entität, die er formal als »Zuhandenes« in einem Verweisungszusammenhang deklariert hatte. Mit diesem Ver­ hältnis zur Zeit kann die Zeit zum abstrakten Maß werden, und dieses wird umso abstrakter, je handlicher die Uhr wird und dies, so Heidegger, »[…] ermöglicht zugleich die Herstellung und Gebrauch von handlicheren Uhren, so zwar, daß diese ›künstlichen‹ auf jene ›natürliche‹ ›eingestellt‹ sein müssen, sollen sie die in der natürlichen Uhr primär entdeckte Zeit für das menschliche Dasein ihrerseits zugänglich machen.«771 Doch wie lesen wir die Zeit ab, wenn die ursprüngliche Uhr, d.h. die Sonne, von der die abstrahierte und miniaturisierte moderne (smarte) Armbanduhr herrührt, durch ihre Schatten, eingeteilten Flächen und Bahnen oder ihre räumlichen Beziehungen die endliche Zeit für das menschliche Dasein stiftet? Heidegger stellt daher die Frage: »Was bedeutet Zeitablesung?« Er beantwortet die Frage vom Besorgen her: Im Uhrgebrauch des Wieviel-Uhr feststellend, sagen wir, ob ausdrück­ lich oder nicht: jetzt ist es so und soviel, jetzt ist es Zeit zu […] [D]as auf die Uhr sehende Sichrichten nach der Zeit ist wesenhaft ein Jetzt-sagen. Es ist so ›selbstverständlich‹, daß wir es gar nicht beachten und noch weniger ausdrücklich darum wissen, daß hierbei das Jetzt je schon in seinem vollen strukturalen Bestande der Datierbarkeit, Gespanntheit, Öffentlichkeit und Weltlichkeit verstanden und ausgelegt ist.772

Das »Jetzt« wird also zu einem Rechenwort aus dem Horizont einer gemeinsam besorgten Zeit; einer Zeit, die uns mit dem »Jetzt« einen Maßstab für etwas gibt, an dem Anwesenheit von mir, von anderen Menschen oder von etwas verlangt wird. Das »Jetzt« scheint also vorerst der Schlüssel für die Datierbarkeit zu sein. Heidegger selbst bringt dies sehr konzis auf den Punkt: Die Datierung nimmt nicht einfach auf ein Vorhandenes Bezug, son­ dern das Bezugnehmen selbst hat den Charakter des Messens. Zwar 770 771 772

Ebd., § 80, S. 413. Ebd., S. 414. Ebd., S. 416.

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kann die Maßzahl unmittelbar abgelesen werden. Darin liegt jedoch: es wird ein Enthaltensein des Maßstabs in einer zu messenden Strecke verstanden, das heißt das Wie-oft seiner Anwesenheit in ihr wird bestimmt. Das Messen konstituiert sich zeitlich im Gegenwärtigen des anwesenden Maßstabes in der anwesenden Strecke. Die in der Idee des Maßstabes liegende Unveränderung besagt, daß jederzeit für jedermann in seiner Beständigkeit vorhanden sein muß. Messende Datierung der besorgten Zeit legt diese im gegenwärtigenden Hinblick auf Vorhandenes aus, das als Maßstab und als Gemessenes nur in einem ausgezeichneten Gegenwärtigen zugänglich wird. Weil in der messenden Datierung das Gegenwärtigen von Anwesendem einen besonderen Vorrang hat, spricht sich die messende Zeitablesung auf der Uhr auch in einem betonten Sinne mit dem Jetzt aus. In der Zeitmessung vollzieht sich daher eine Veröffentlichung der Zeit, derge­ mäß diese jeweils und jederzeit für jedermann als ›jetzt und jetzt und jetzt‹ begegnet.773

Mit dem »Jetzt« der zu rechnenden Zeit ergibt sich für Heidegger die Möglichkeit eines abstrakten und allgemeinen Universalmaßstabs für jedermann bezüglich des »Jetzt-hier«, denn wir haben gesehen, dass mit der Verabredung an einem Ort, auch der Ort als ein bestimmter Bereich für ein Treffen »Jetzt-hier« sichtbar wird. Dies ist brisant, weil für Heidegger daraus folgt, dass nun ein homogener Maßstab denkbar wird, der wiederum ein abstraktes, allgemeines Maß schlechthin möglich macht. Dieses betrifft nun auch die Topologie der Lebens­ welt – und zwar aus dem Primaten der Zeit heraus, der, aus der bewandtnishaften Nähe zu der Helle der Sonne im Unterschied zur Nacht, das uneigentliche entgrenzende Besorgen und die Sorge um die eigentliche endliche Begrenzung der menschlichen Lebensdauer bis zum Exitus sichtbar werden lässt. So kann Heidegger sagen: »Nicht die Zeit wird an einen Ort geknüpft, sondern die Zeitlichkeit ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß sich die Datierung an das Räumlich-Örtliche binden kann, so zwar, daß dieses als Maß für jedermann verbindlich ist. Die Zeit wird nicht erst mit dem Raum verkoppelt, sondern der vermeintlich zu verkoppelnde ›Raum‹ begegnet nur auf dem Grunde der zeitbesorgenden Zeitlichkeit.«774 Die Datierbarkeit macht also Zeitintervalle der verorteten Uhrzeit als »Jetzt-hier« möglich.

773 774

SuZ, § 80, S. 416–417. Ebd.

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Wenn aber die »Jetzte« als Zeitintervalle genommen werden, die das Maß, den Maßstab und das Messen bestimmen, dann ist die Abstraktion vollendet, sobald die konkrete Zeit sammt ihres Ortes bedeutungslos werden und nur noch die Einheit selbst »zählt«, indem sie nämlich gezählt wird. Das schon nicht mehr eigentliche allgemeine Rechnen mit der Zeit wird zur zahlenmäßigen Berechnung überhaupt. Heidegger unterstreicht dies: »In der wesensnotwendig jetzt-sagenden Zeitmessung wird über der Gewinnung des Maßes das Gemessene als solches gleichsam vergessen, so daß außer Stre­ cke und Zahl nichts zu finden ist.«775 Das Wissen um die eigene Endlichkeit ist aus Heideggers Sicht zu einem vulgären, d.h. in der Gesellschaft fest verankerten, Verständnis, einem nicht mehr eigens betreffenden und damit uneigentlichen abstrakten Maßstab von allem geworden, der selbst nichts mehr besagt – außer ein unbestimmtes Wann, ein quantum schlechthin. Das Maß der Zeit ist in sich reine Quantität geworden.776 Dieser Maßstab wäre nicht problematisch, würde er nicht bis heute unserem Verweisungs- und Bedeutungszusammenhang ent­ fremdet, um dann erneut als pure Rechenoperation wieder zurück in die konkrete und von der Abstraktion enthobenen Lebenswelt eingespeist zu werden, z.B. als Gleichsetzung von wirtschaftlichem Umsatz und Zeit, oder als Produktivität und Zeit.777 Daraus ergibt sich schon für Heidegger die Verfehlung der Passung eines abstrahierten Maßes zu den konkreten Maßstäben, mit denen wir umgehen. Aber noch viel mehr wird die Verfehlung der Passung zwischen einem nicht sinnstiftenden Maß und dem sinnbedürftigen endlichen Menschen sichtbar, dem es eigens doch um diese endliche Zeit und um die Möglichkeit der Wahl zur Sinnfrage des eigenen Seins geht. Dies zeigt sich in dem Ausspruch, der in der verplanten und verrechneten Termingesellschaft von heute nur zu oft zu hören ist: »Ich habe keine Zeit.« Hier ist dem Menschen nicht nur per Rechnung die Zeit beschnitten. Vielmehr klingt unterschwellig mit, dass der Mensch Ebd., S. 418. Vgl. ebd. §. 81 Die Innerzeitigkeit und die Genesis des vulgären Zeitbegriffes. 777 Genau auf diesen Umstand weist auch Dorothea Frede in der rein formalen Inter­ pretation der Bewegung der Zeit hin. Die Brechung der Bezüge und ihre transformierte Re-konnektion ist problematisch, »[…] weil damit die immer schon bestehenden Bezüge zur Welt gekappt und dann auf künstliche Weise wieder geknüpft werden.« Dorothea Frede, »Zum Sinn von Sein und Seinsverstehen«, in: Heidegger-Handbuch. Leben-Werk-Wirkung, hrsg. v. Dieter Thomä, Stuttgart: Metzler 2003, S. 82. 775

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meint, in der Rechnung mit der Zeit, in Form eines Termins, die Zeit verschieben zu können, als habe er später noch unendlich allgemeine Zeiteinheiten zur Disposition, nur eben gerade »jetzt nicht«. Doch in Wahrheit ist der Mensch endlich und zeitlich, so Heidegger. Der Mensch hat demgemäß nicht nur Zeit, er ist diese bedingt durch seine unberechenbare, nicht terminierbare Letalität vielmehr selbst. Tatsächlich kann zu dem Menschen als sterbliches Wesen, der den Tod irreduzibel vor sich hat, eine allgemeine, potentiell unendliche Zeit nicht passen, weil er selbst als sinnstiftendes Wesen an Bedeutung verlöre, um die es in seinem Sein als Sinnstiftung gerade geht, wenn ihm keine Begrenzung der Zeit auferlegt wäre. Von diesem Horizont aus ergibt sich für Heidegger die Notwendigkeit eines Rückgangs auf eine ursprüngliche Zeitigung.

3. Das ontologische Maß der Zeit Heidegger gelingt es schließlich, mit den oben herausgestellten uneigentlichen Phänomenen, in denen das homogene Maß eine besondere Rolle spielt, den Aufriss einer Dimensionalität der Zeit zu enthüllen. Byung Chul Han deutet das Motiv dieses Aufrisses so: »Heideggers Zeitstrategie besteht letzten Endes darin, ›Ich habe keine Zeit‹ in ›Ich habe immer Zeit‹ zu verwandeln.«778 Dieser Aufriss geschieht durch das Gewahrwerden des jeweils eigenen Todes, der Endlichkeit des Menschen und seine Angst vor dem Tod als Bezug von begrenzter Bewegtheit und Endlichkeit. Aus diesem Verhältnis wird schließlich im Aufriss des Augenblicks die ekstatische Zeit sichtbar, die Heidegger als eigentliches ontologisches Ausmaß die Dimension nennen wird. Diesen Zusammenhang gilt es nun nach dem Durchdringen der ontischen Ebenen zu beleuchten.

a) Sein zum Tode als Zumessung von Sein und Nichts am Beispiel Hamlets Wenn die Jetzte scheinbar als gezählte Zeit ein uneigentliches, weil abstraktes Maß fundamentieren und dennoch die Endlichkeit des 778 Byung Chul Han, Duft der Zeit. Ein philosophisches Essay zur Kunst des Verwei­ lens, Bielefeld: Transcript 2013 (orig. 2009), S. 69.

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IV. Die Genesis eines ekstatischen Maßes der Zeit in Sein und Zeit

Menschen, trotz aller Einhüllung eines scheinbar gleichbleibenden Lebens, irreduzibel bleibt, dann liegt es nahe, sich die Grenze des Todes als Endlichkeit des Daseins genauer anzuschauen. Es stellt sich die Frage: Wie ist der Tod als Grenze der Zeit zu denken und inwiefern bestimmt ein klarer Blick auf ihn unser Maßverständnis? In Sein und Zeit setzt Heidegger sich mit dem Tod auseinander und wir sehen nun, wie er nicht nur als Schlüssel dient, um das Verhältnis von Sein und Zeit sehen zu lassen, sondern wie er überhaupt ein anderes Maß von Sein und eine andere Dimension von Zeit aufschließt. Wir hatten gesehen: Heidegger denkt das Dasein als Aufriss zwi­ schen messender Sorge und der maßgeblichen Zeit. Doch was macht diesen Aufriss überhaupt denkbar? Für Heidegger zeigt er sich zwi­ schen Sorge und Zeit, zwischen Messen und Maßgabe, insofern beide in der Diskrepanz zwischen der Ganzheit der Sorge und dem Ganzsein der Zeit des Menschen aufklaffen: »Die Sorge, welche die Ganzheit des Strukturganzen des Daseins bildet, widerspricht offenbar ihrem ontologischen Sinn nach ein mögliches Ganzsein dieses Seienden.«779 Dieses Ganzsein ist aber das Ende des Lebens, also der Tod. In diesem wechselseitigen Spiel von Ganzsein und Ende bewegt sich der Mensch erzitternd hin und her. Der Mensch bleibt als bewegtes Dasein also nicht nur in dem Erzittern des ihn bestimmenden Daseins, zu dem er sich messend qua Sorge verhält, sondern es gibt ein weiteres Erzittern vor dem »[…] Ausstand an Seinkönnen«, an dem der Mensch noch in »Unganzheit« zu schwimmen scheint.780 Ist das Leben zur Gänze gebracht, ist es im Umschlag nicht mehr ein Sein. Es wird genichtet und damit geht das Sein in das Nichts über. Der Tod ist also als Ganzsein das metabolische Moment zwischen Sein und Nichts. Genau jener Problematik der vergänglichen Existenzsituation, ist der mit ihr wohl verbundene Dichter Shakespeare an seinem geschichtlichen Ort nachgegangen, ähnlich wie die ihm zeitgenössi­ schen holländischen Maler in ihren Gemälden. Aus diesem Problem­ bezirk heraus ließ Shakespeare einen seiner gelungensten Charaktere des Dramas, nämlich Prinz Hamlet, zur Grundfrage des Seins und seiner Entscheidung zu ihm avant la lettre stoßen: »To be, or not to be – that is the question: –.«781 Shakespeares Hamlet, der sich als Protagonist ganz an die Seinsfrage hält, muss sich angesichts SuZ, § 46, S. 236. Ebd. 781 William Shakespeare, Hamlet, »Prince of Denmark«, in: Ders., The Complete Works, Reprint, New York: Gramercy Books/Random House 1997, III. Akt, 1. Szene,

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des Todes ebenso entwerfen, ist ganz zur Entscheidung entschlossen, wie Heideggers in die Welt geworfenes Dasein. Entweder ist Hamlet eigentlich, d.h. er entscheidet sich eigens er selbst zu sein, oder er lässt sich fremdbestimmen und sein Leben von dem korrupten sowie verhassten Vatermörder und Stiefvater Claudius kommandieren, der dem wahren Erben den Thron von Dänemark vorenthält. In Shake­ speares Hamlet haben wir beispielhaft jene tragische Daseinsrolle schon vorab in das tiefschwarze Gewand des Todes gehüllt, die eine Entscheidung zum Eigentlichsein in der permanenten Möglichkeit, tragisch zu scheitern, fällt. In dieser Entscheidung ein echtes Dasein zu sein, muss Hamlet versuchen, sich mit der Situation zu messen, nur um sich am Tod und Mord des eigenen Königshauses und des eigenen Todes im Anschluss selbst vollends zu vermessen. Doch wie kann Hamlet sich selbst an seinem Ort in der tragischen Szenerie eines getöteten und zum Geist gewordenen Vaters und eines vom Mörder besetzten Throns zur Rache entscheiden? Er muss sich als Dasein vorweg sein und eine Komplexion von Möglichkeiten in der Zukunft aus dem Gewesenen antizipieren. Am Tod der Anderen, hier an der Geistererscheinung seines Vaters, des getöteten Königs von Dänemark, liest Hamlet an dessen gespenstischen Ruf, den er vernimmt, die Entscheidung des eigenen Möglichseins am Unmög­ lichsein seines verstorbenen Vaters ab.782 Der »Ausstand« von Zeit als zukünftiges »noch nicht« – nämlich des eigenen Unmöglichseins im eigenen Tod, bleibt aufgespart.783 Dies gilt auch für Hamlet, dessen S. 1088. Im Zusammenhang mit Shakespeare und Heideggers Todesanalyse ist auf zwei wichtige Forschungsbeiträge zu verweisen, die unseren Rückgriff auf Hamlet legitimieren dürften: Walter Arnold Kaufmann, From Shakespeare to Existentialism, 3. Aufl. New Jersey: Princeton University Press 1980 (orig. 1959); Brittany Rebarchik, »What a Dream Was Here: An Ontological Approach to Love and Magic in Shakespeare’s A Midsummer Nights’s Dream« in: Peter Penda, The Whirlwind of Passion: New Critical Perspectives on William Shakespeare, Newcastle: Cambridge Scholar Publishing 2016, S. 317ff. Insbesondere Rebarchik sieht die Parallelen zwi­ schen Shakespeares Dramen und Heideggers Ontologie von Sein und Zeit in Bezug auf ein authentisches Selbst qua Entscheidung, was sie am Beispiel des Mittsommer­ nachttraums herausarbeitet. 782 Bernhard F. Taureck weist ebenso auf die Totengräberszene im Hamlet hin: »Die Hamletfigur testet hier […] eine Todesontologie durch.« Bernhard F. Taureck, Philo­ sophieren: Sterben lernen? Versuch einer ikonologischen Modernisierung unserer Kom­ munikation über Tod und Sterben, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, S. 50. 783 Alfred Denker fasst dies so: »Im Sein-zum-Tode versteht das Dasein die Unmög­ lichkeit seiner eigenen Existenz als unvermeidbare Möglichkeit, oder anders gesagt, als die Möglichkeit des Nicht-Seinkönnens.« Alfred Denker, Unterwegs in Sein und

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eigenes tragisches Ende noch aussteht.784 Der Tod selbst, der als Sein zum Ende als noch ausstehendes Unmöglichsein zum Messen aufruft, weist zurück in das noch zu bemessende Möglichsein. Heidegger hat diese Konfiguration bekanntlich als Ruf des Gewissens im Sinne des Aufrufs zur Sorge artikuliert.785 »Der Tod ist eine Seinsmöglichkeit, die je das Dasein selbst zu übernehmen hat. Mit dem Tod steht sich Dasein selbst in seinem eigensten Seinkönnen bevor. In dieser Mög­ lichkeit geht es dem Dasein um sein In-der-Welt-sein schlechthin.«786 Und hier zeigt sich der Charakter der Möglichkeit, in dem jedes mes­ sende Sorgen zur maßgeblichen Zeit steht, nämlich in der ständig aus­ stehenden Möglichkeit, nicht mehr da zu sein und unmöglich zu wer­ den, d.h. nicht mehr in der Lage zu sein, Möglichkeiten zu wählen und ermöglicht zu sein aus dem jeweiligen geschichtlichen Ort. »So ent­ hüllt sich der Tod als die eigenste unbezügliche, unüberholbare Mög­ lichkeit.«787 Das Möglichsein zum Unmöglichsein ist also für Heidegger jener Aufriss und jene Zumessung zwischen messender Sorge und maßgebender Zeit im Erzittern der Möglichkeit von Sein und Nicht-sein. Der tiefste Ausdruck der Angst schlechthin als dieses Erzittern wurde bereits vor Heidegger von Kierkegaard vorgedacht. Schon lange vor diesen beiden Denkern, hatte Shakespeare in Ham­ lets berühmten Monolog dieses Erzittern der Angst vor dem eigenen Unmöglichsein als irreduzible Möglichkeit durchgespielt.788

b) Angst, Maßlosigkeit und Augenblick Doch wovor hat Hamlet Angst? Schaudert es ihm vor einer der Möglichkeiten, die ihn selbst fraglich werden lassen? Ist es der Tod, den er antizipiert? Für Heidegger ist dies nicht der Grund der Angst. Hier trennt sich der Ontologe Heidegger von dem memento mori des frühen 17. Jahrhunderts als Vorschattierung des modernen Existen­ zialismus. Nicht der Tod, sondern das Dasein selbst ist der Grund Zeit. Einführung in Leben und Denken von Martin Heidegger, Stuttgart: Klett-Cotta 2009, S. 80. 784 Vgl. SuZ, § 48, S. 242–243. 785 Vgl. SuZ, § 57. 786 SuZ, § 50, S. 250. 787 Ebd. 788 Vgl. Sören Kierkegaard, Der Begriff Angst, Gesammelte Werke, übers. von Ema­ nuel Hirsch u. Hayo Gerdes, 2. Aufl., Gütersloh GTB 1983.

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der Angst: »Die Angst vor dem Tod ist Angst ›vor‹ dem eigensten Selbstseinkönnen. Das wovor dieser Angst ist das Sein-können des Daseins schlechthin.«789 Doch warum gibt es eine Angst vor dem eigenen Sein-können? Diese Angst ist dadurch begründet, dass das Sein-können als Mög­ lichkeit der messenden Sorge, an die unermessliche Schicksalspore des Todes gesogen, nicht mehr sein kann als diese äußerste Mög­ lichkeit, die jeder Möglichkeit zu sein bevorsteht. Heidegger sieht diese Zukünftigkeit, die zugleich eine Auseinandersetzung mit der Gewesenheit impliziert, in diesem Möglichsein als Sein-können über­ haupt den Grund der messenden Sorge. Sie bestimmt die Ganzheit des Daseins vom Entwerfen seiner Möglichkeiten ab der Geburt, die bekanntlich für Heidegger zugleich ein geschichtliches Geworfensein ist: »Sorge ist der ontologische Titel für die Ganzheit des Strukturgan­ zen des Daseins.«790 Da die Sorge zum Tod hingedehnt wird, kann das Dasein die Möglichkeit antizipieren und so seine derzeitigen Entscheidungen einschätzen und überdenken. Heidegger nennt dies den Vorlauf in den Tod als Möglichkeit schlechthin, da der Tod faktisch jederzeit möglich sein kann. »Im Vorlaufen in diese Möglichkeit wird sie ›immer größer‹, das heißt sie enthüllt sich als solche, die überhaupt kein Maß, kein mehr oder minder kennt, sondern die Möglichkeit der maßlosen Unmöglichkeit der Existenz bedeutet.«791 Die Angst ist somit der Augenblick, der sich anmessend auf dieses Maßlose spannt und dehnt. Heidegger kommt somit zu dem Schluss, dass die Sorge auf dieses Eigenste zu gehen habe. Das bedeutet: Nur der Augenblick der Angst vor dem irreduzibel eigenen Tod und dem Selbstseinkönnen ist tatsächlich appropriativ, also angeeignete Gewissheit.792 Die Angst ist damit die Angst vor dem möglichen eigenen Nichts des Maßlosen. Sie ist daher auch für Heidegger die Grundbefindlichkeit, nämlich ein Maß zu finden vor diesem Maßlosen. Hier ist der Augenblick, die Entscheidung angesichts des Vorlaufens in den Tod, für Heidegger die Not der Stunde. Diese augenblickliche Entscheidung ist die Ent­ SuZ, § 50, S. 251. Ebd., § 50, S. 252. 791 Ebd., § 50, S. 252. Hervorhebung M.M. 792 Vgl. SuZ, S. 262ff. Auf Heideggers Überlegung, dass die Gewissheit und die gleichzeitige Unbestimmtheit des Todes koinzidieren, weist auch Katharina von Fal­ kenhayn hin. Vgl. Katharina von Falkenhayn, Augenblick und Kairos. Zeitlichkeit im Frühwerk Martin Heideggers, Berlin: Duncker & Humblot 2003, S. 89. 789

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schlossenheit: »Die Entschlossenheit bringt das Sein des Da in die Existenz seiner Situation.«793 Als Entwurf durch die Entscheidung in ihrem Sinne, dehnt die Entschlossenheit das Dasein messend unwei­ gerlich auf das Maßlose des Todes hin und denkend zurück auf die zu nehmenden Maße, Maßnahmen und Maßgaben des Daseins. Heideggers Pointe in Sein und Zeit ist nun diese: Wir selbst als Dasein sind diese Dehnung. Von dieser Dehnung her sorgen wir uns primär und sie fällt uns in jenem Augenblick auf, in dem wir uns ihrer plötzlich gewahr wer­ den. Zugleich deutet Heidegger diese Dehnung als Ganzseinkönnen, d.h. als Spannungsfeld zeitigender und zeitlicher Möglichkeiten der Ekstatik der Zeit. Im nächsten Teilabschnitt sehen wir, wie Heidegger diese Dehnung als Maß – auch in Abhebung vom Maßlosen des Todes – versteht und wir zeigen ebenso, warum Heideggers Denken aus diesem Sichtwinkel auch als Ringen um ein Maß des Seins interpretiert werden kann.794

c) Die Dimension der Ekstatik als Dehnung der Zeit Wenn wir selbst als Dasein eine Dehnung sein sollten, die unser Zeitverhältnis bestimmt und ausmacht, dann wäre die Zeitlichkeit auch der Sinn der Sorge, die sich an der Welt misst. Somit ist der Sinn für Heidegger ursprünglich der Entwurf: »Sinn bedeutet das Woraufhin des primären Entwurfs, aus dem her etwas als das, was es ist, in seiner Möglichkeit begriffen werden kann. Das Entwerfen erschließt die Möglichkeiten, das heißt solches, das ermöglicht.«795 Die messende Sorge wäre demnach für Heidegger also das Entwerfen des geworfenen und somit zeitlich entworfenen Daseins. Es geht ihm um den Sinn als Ausrichtung des Entwurfs auf das Sein als Sorge. »Streng genommen bedeutet Sinn das Woraufhin des primä­ SuZ., § 60, S. 300. Die Entscheidung aus dem Motiv der Endlichkeit gibt das Maß für das Denken. Vgl. Oliver Precht, Heidegger. Zur Selbst- und Fremdbestimmung seiner Philosophie, Hamburg: Meiner 2020, S. 269. 794 Auf diese »[…] Wechselwirkung zwischen der Zeitlichkeit und dem eigentlichen Sein zum Tode […]« hat Demske schon vor einigen Jahrzehnten in seiner Analyse des Verhältnisses von Sein, Mensch und Tod hingewiesen. James M. Demske, Sein, Mensch und Tod. Das Todesproblem bei Martin Heidegger, Freiburg: Alber 1963, S. 53. 795 SuZ, § 61, S. 324. 793

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ren Entwurfs des Verstehens von Sein.«796 Der Sinn von Sein ist von Heidegger daher in das Spannungsverhältnis der Ganzheit als Möglichkeitsgebiet des sorgenden Daseins gehalten, das es jeweils zu verstehen gilt. Dieses Woraufhin wird von Heidegger klar und deutlich benannt: Es ist das Dasein, dem es um das Verstehen geht. Und damit kommt Heidegger trotz aller Vorbehalte doch zu so etwas wie einer zumindest vorläufigen Bestimmung des Sinns von Sein: »Der Seinssinn des Daseins ist nicht freischwebend Anderes und ›Außerhalb‹ seiner selbst, sondern das sich verstehende Dasein selbst.«797 Wie kann sich das Dasein als es selbst verstehen? Die Antwort Heideggers lautet so: Es ist das Auf-sich-zu-kommenlassen seiner selbst. Dies denkt Heidegger als Vorlaufen auf die Zukunft.798 Da aber das Entwerfen einer Geworfenheit geschuldet ist, d.h. ein Vorblick auf die Zukunft und einen Rückblick auf den eigenen geschichtlich konstellierten Ort benötigt, um überhaupt vorblicken zu können, entfaltet sich für Heidegger aus dem Jetzt, das sonst gewöhnlich unter die Tendenz der Homogenisierung und Quantifizierung fällt, die Erfahrung eines Maßes des Seins. Mit ihm muss sich das Dasein selbst messen, weil Vor- und Rückblick am Ende nur je selbst und für sich selbst vorgenommen werden können. Der eigentliche und maßgebliche Bereich der Zeit, in der das mes­ sende Sorgen vor- und rückblickt, lässt seine Dehnung oszillieren und das Dasein aus sich heraustreten. So zeigt es sich erst als Zeitlichkeit des Daseins. Heidegger sagt dies in aller Klarheit: »Die ursprüngliche Einheit der Sorgestruktur liegt in der Zeitlichkeit.«799 Heidegger macht deutlich: Diese Zeitlichkeit ist Erstreckung und Ekstatik, inso­ fern es gewissermaßen einen Wirbel zwischen Gewesenheit, Zukunft und Gegenwart im Jetzt gibt und zwar im Aufschlag des Augenblicks angesichts der oben herausgestellten Grundbefindlichkeit der Angst. Sie ist der Ausblick auf den möglichen Tod, der gewiss ist.800 Zukunft, Gewesenheit, Gegenwart zeigen die phänomenalen Charak­ tere des ›Auf-sich-zu‹, des ›Zurück auf‹, des ›Begegnenlassens von‹. Die Phänomene des zu…, auf…, bei…offenbaren die Zeitlichkeit als 796 797 798 799 800

Ebd., S. 324. Ebd, S. 325. Vgl. ebd. Ebd., § 65, S. 327. In diesem Sinne wäre die Nähe als eine Modifikation der Dehnung zu verstehen.

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das ἐiόn schlechthin. Zeitlichkeit ist das ursprüngliche ›Außersich‹ an und für sich selbst. Wir nennen daher die charakterisierten Phänomene Zukunft, Gewesenheit, Gegenwart die Ekstasen der Zeit­ lichkeit.801

In ihnen ist das Dasein als verstehende, entwerfende-entworfene, erschließende-entschlossene Möglichkeit gehalten, im Modus der Entschlossenheit zu sich selbst eigens zu kommen. Dies ist der eigentliche vierte Bereich der sich zeitigenden Zeitlichkeit – der Blick des Auges in den Zeitstrudel als der entscheidende, mithin transzen­ dierende und differenzierende Augenblick. Das für uns entscheidende Moment ist, dass Heidegger damit das Maß des Seins in den Fokus rückt. Wir werden nun zeigen, dass Heidegger diesen herausgehobenen Bereich der Ekstatik als Aufriss der Eigentlichkeit des Daseins, im Gegensatz zum berechenbaren Maß, als Besinnung ermisst. Dem performativen Maß der Sorge wird also zur Besinnung ein fundamentaler Vorrang eingeräumt. Wir werden nun sehen, dass Heidegger seine zunächst fragmentarischen Gedanken zum Maß in seiner Besinnung des Seins und der Zeit deutlich konturierter in einer Explikation der Grundkonfiguration der für Heidegger fundamentalen Ekstatik des Daseins zusammenfließen lässt. Wir werden herausstellen, dass er dabei die Problematik eines Maßes des Seins, die er bisher eher zwischen den Zeilen entfaltet hat, nun in aller Prominenz im Umfeld von Sein und Zeit zu Tage treten lässt. Dies geschieht im Herzstück seines Hauptwerkes, näm­ lich in der Passage, in der es um das Sein und Zeitverhältnis des Daseins geht. Diese Auseinanderfaltung der Struktur der Ekstatik unter dem Blickfeld eines expliziten Maßverständnisses entwickelt Heidegger noch appropriativ im Erscheinungsjahr von Sein und Zeit, nämlich im Sommersemester 1927 im neunzehnten Paragraphen der Vorlesung Grundprobleme der Phänomenologie. Diese ist in der Gesamtausgabe überschrieben mit dem Titel Zeit und Zeitlichkeit. Es ist nun zu verdeutlichen, wie das bisher bedachte Maß des Seins als Zeit trans­ formiert und in einer vierfachen Konstellation von Sein und Zeit eingefasst wird, die Heidegger selbst als ekstatische Dimension sicht­ bar machen wird.

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SuZ, § 65, S. 328–329.

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Beleuchten wir diese komplexe Konstellation, die Heidegger aus dem Horizont der Maßfrage behandelt, genauer am Text selbst. Heidegger gibt in den Grundproblemen schließlich die schon in Sein und Zeit in Ansätzen entwickelte Konstellation in verdichteter Form, nämlich als Aufriss des Seins durch die Zeit als ontologische Differenz. Die ontologische Differenz ist die Unterscheidung des Seins vom Seienden. Für Heidegger steht diese Differenz »[…] an erster Stelle […]« seines Denkens.802 Sie ist für ihn das ursprüngliche Motiv, um das es in Sein und Zeit in der Analyse des Daseins geht. Mit ihr stehe und falle sogar »[…] die Möglichkeit der Ontologie, d.h. der Philosophie als Wissenschaft.«803 Zunächst ist zu schauen, wie Heidegger die ontologische Dif­ ferenz als Maß des Seins qua Zeit überhaupt expressis verbis als Grundverfassung des Daseins in den Grundproblemen entfaltet und zugleich die Überlegungen zur Ekstatik in Sein und Zeit voraussetzt. Ausgehend von diesen Voraussetzungen haben wir uns in den obigen Absätzen und Unterkapiteln vorbereitet, wobei wir nur die für uns bedeutsamen Momente im Durchgang von Sein und Zeit fokussiert haben. Zur Erinnerung nennen wir noch einmal Heideggers Zusam­ menfassung der Daseinsanalytik: »Die Seinsverfassung des Daseins gründet in der Zeitlichkeit«.804 Heidegger hatte aber unterlassen zu sagen, was Zeitlichkeit eigentlich meint, was er nun in einem erneuten Anlauf der Interpretation der Konstellation der ontologi­ schen Differenz im Detail nachholt. Dazu setzt Heidegger auch noch einmal erneut am vulgären Zeitbegriff an, den er am Horizont seines Maßverständnisses aufschlüsselt. Für die Durchdringung dieser Auf­ schlüsselung haben wir bereits Heideggers Deutungen zur Uhrzeit und zum vulgären Zeitverständnis untersucht. Sie werden uns nun in der weiteren Rezeption helfen. Was verspricht Heidegger sich von dieser Unternehmung? Er will zeigen, wie die Zeit in ihrer vulgären wie philosophischen Deutung ursprünglich aus der existentiellen Zeitlichkeit zu verstehen ist. Aber Heidegger will noch mehr: »Es gilt zu sehen, daß und wie die vulgär verstandene Zeit zur Zeitlichkeit gehört und aus ihr entspringt.«805 Vgl. GA 24, S. 322. Ebd. Wie es scheint, glaubt Heidegger zu dieser Zeit noch an eine apriorische »temporale Wissenschaft«. Vgl. ebd., S. 460. 804 Ebd., S. 323. 805 Ebd. 802

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Dieses Entspringen zeigt, dass es eine Quelle geben muss, einen Ursprung also, der als Zeitlichkeit die Ermöglichung des Seins gestat­ tet. Dabei knüpft er an Kants Frage »Wie sind synthetische Begriffe apriori möglich?« an und fragt von seinem eigenen Denkansatz ausgehend: Wie ist die Ermöglichung aller Ontologie zu denken? Heideggers vorläufige Antwort ist, dass die kairologisch zu deutende Temporalität diese Aufgabe übernimmt: »Der Terminus ›Temporali­ tät‹ soll anzeigen, daß die Zeitlichkeit in der existenzialen Analytik den Horizont darstellt, von woher wir Sein verstehen.«806 Der Hori­ zont, der ὁiw also, von dem wir im letzten Kapitel lernten, dass er als Differenz den Rand einander gegenüberliegender Seiten stiftet, bildet hier eine logische Begrenzung. Eine solche Grenze benötigt aber eine Zumessung, gleich wie ihre jeweiligen gegenüberliegenden Seiten, die die Umgrenzung konstellieren. Wenn die Temporalität von Heidegger horizontal gedacht wird – und das wird sie auch hier –, dann kann von ihr ausgehend eine Ontologie erzeugt werden, die in ihrer Konfiguration als Maßgeblichkeit sichtbar wird. Eine solche maßgebliche Konfiguration macht den Horizont der Temporalität erst aus. So ist es auch nicht verwunderlich, wenn Heidegger eben genau diese Maßgeblichkeit untersucht und zwar sowohl in ihrer Ursprüng­ lichkeit, als auch in dem ihr entsprungenen vulgären Zeitverständnis. Heidegger will dem Lauf des Entsprungenen folgen und von ihm die Quelle der ursprünglichen Maßgeblichkeit in ihrer Konfiguration entdecken. Dabei ist die horizontale Konfiguration der Schlüssel zur entscheidenden ontologischen Differenz. Heideggers Frage, die zwischen den Zeilen lesbar wird, ist also folgende: Wie ist das Maß der Ermöglichung des Seins und des Seienden als Unterschied der beiden Seiten zueinander vollziehbar? Oder kürzer gefasst: Was ist das Maß des Seins als Unterscheidung von Sein und Seienden? Heidegger beginnt seine Reise am Delta des vulgär und herkömmlich verstande­ nen Zeitflusses und an seinem Zerstreuungspotential. »Es gilt, durch das vulgäre Zeitverständnis hindurch zur Zeitlichkeit vorzudringen, in der die Seinsverfassung des Daseins wurzelt und zu der die vulgär verstandene Zeit gehört.«807 Heidegger wirft dazu einen genaueren Blick auf die Zeitanalysen in der Physik des Aristoteles. Wir sahen, dass Aristoteles Heidegger schon in anderen Kontexten als Denker 806 807

Ebd., S. 324. Ebd.

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des Maßes galt.808 Heideggers Rezeption von Aristoteles‘ Werk ist uns auch hier erneut ein Indiz, dass es Heidegger selbst um das Maß gehen wird. Zunächst schaut Heidegger sich die aristotelische ῖ an, die als Kreisbewegung, d.h. als ständigs Umschlagen (ή), die Zeit als Bewegungsabläufe der äußersten Himmelssphäre vergehen lässt. Heidegger betont Aristoteles‘ Parallelsetzung von Zeit und Bewegung, die jener zunächst nicht identifiziert.809 Vielmehr sehe Aristoteles die Zeit als »[…] etwas an der Bewegung, etwas im Zusam­ menhang mit der Bewegung des Bewegten.«810 Für Aristoteles sei dieses an dem Bewegten die Zahl des Bewegten, »Gezähltes« (ἀiϑς inήwς).811 Ist dann nicht aber das Bewegte in der Zeit, insofern dies Bewegte durch das Gezählte »[…] durch die Zeit gemessen wird […]« und »[…] umgekehrt auch wieder die Zeit durch die Bewegung«?812 Wir haben also eine dreifache Konstellation von Gezähltem, Beweg­ tem und Zeit, die alle drei aus Heideggers Sicht »gemessen« werden. Halten wir fest: Weder ist jetzt das Maß als homogenisierendes Ins­ trument, noch die messende Sorge gemeint. Vielmehr hat Heidegger die im Kant-Buch und in der Kant-Vorlesung herausgestellte »maß­ gebliche« Zeit im Blick. Zwischen Gezähltem und Bewegtem gibt sie qua Maß sich selbst als Zeit an der Bewegung durch das Gezählte. Insofern durch das messbare Gezählte Zeit und Bewegung reziprok für das Dasein zueinander gehören, kann Heidegger diese wechselseitige Zeitinhärenz die Innerzeitigkeit nennen. Die »Charakteristik der Zeit als Zahl« offenbart sich in diesem Zusammenhang der Aristoteles-Lektüre als das zunächst vulgäre Jetzt. Hier wird also noch ein weiteres Mal die Zeit als Jetzt-Zeit identifiziert. Aus dem Abschnitt zur vulgären Zeit wissen wir, dass diese Jetzt-Zeit durch die Gleichzeitigkeit und durch die Anwesenheit der Anderen in der Zeit bestimmt ist.813 Entscheidend ist genau die Frage nach der Gleichzeitigkeit der Jetzt-Zeit. Heidegger weist auf die Schwierigkeit der Relativitätstheorie von Minkowski und Einstein hin, in der Zeit im Verhältnis zur Geschwindigkeit in einem Bewegten jeweils anders vergehen kann, trotz lebensweltlicher Gleichzeitigkeit. 808 809 810 811 812 813

Vgl. Kapitel II; II.5c; III.1b; III.1c; III.2a in dieser Untersuchung. Vgl. GA 24, § 19, S. 332–333. Ebd., S. 333. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. Kapitel IV.2d in dieser Arbeit.

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IV. Die Genesis eines ekstatischen Maßes der Zeit in Sein und Zeit

Heidegger interessiert sich jedoch zunächst für die lebensweltliche Gleichzeitigkeit; diese findet er allerdings nicht in Einsteins theoreti­ scher Physik, sondern in der Zeitanalyse der konkreten Physik des Aristoteles. Das Motiv der Gleichzeitigkeit impliziert bei Aristoteles eine Bewegung, die für alle mit dem gleichen Maß bemessen wird. Sofern für Aristoteles die Zeit etwas an der Bewegung ist und durch die Bewegung gemessen wird, wird es darauf ankommen, die reinste Bewegung zu finden, die die Zeit ursprünglich mißt. Das erst und vorzügliche Maß für alle Bewegung ist die Umdrehung (uί) des äußersten Himmels. Diese Bewegung ist eine Kreisbewegung. Die Zeit ist so in gewissem Sinne ein Kreis.814

Heidegger sagt dem Leser, dass im Grunde, mit Ausnahme von Augustinus und Kant, das Zeitverständnis wesentlich an Aristote­ les’ allgemeiner, zirkulären Gleichzeitigkeit angelehnt bleibe, was Heidegger am Phänomen des im Kreis sich drehenden Stabes, der als Zeiger der Uhr fungiert, wiedererkennt. Auch die Uhr zeigt die Zeit für alle als Kreis. Gemessen wird aber die Geschwindigkeit am Kreisvorgang des Zeigers der Uhr. Diese Geschwindigkeit sei der Weg geteilt durch die Zeit: c = d : t. Die Zeit selbst, so Heidegger, sei aber dabei noch nicht charakterisiert. Zeit als Gezähltes an der Bewegung sagt nur, dass ich mit der Zeit an der Sonne, den Gestirnen oder der Uhr in der Westentasche oder am Handgelenk hantieren kann, um Zeit zu messen, die nicht nur die jeweils eigene ist, nicht eigens zugemessen ist. Doch was ist die Zeit als Maß? Wie steht es mit dem Früher und dem Später von Zeit, das am uneigentlich Gemessenen der Uhrzeit erscheint? Wie bestimmen etwa diese beiden Stoßrichtungen ein Maß der Zeit? Heidegger zieht eine Zwischenbilanz, die nahelegt, dass das »Früher« und »Später« die Indizien für ein anderes Maß sind. Damit zeigt er also: Hier liegen die Begrenzung und die Maßgabe der Zeit als Horizont. „›Früher‹ und ›Später‹ sind Zeitbestimmungen. Aristoteles sagt: Die Zeit ist das Gezählte an der Bewegung im Horizont der Zeit (das Früher und Später) begegnenden Bewegung. Das aber heißt doch: Die Zeit ist etwas, was im Horizont der Zeit begegnet.«815 Das bedeutet, die Zeit ist in der Zeit. Heidegger ist der Auffassung, dass es sich eben nicht um eine Tautologie handelt, sondern lediglich zeige, dass es einerseits eine vulgäre Zeit als Sonderfall einer ursprünglichen 814 815

GA 24, § 19, S. 336. Ebd., S. 341.

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Zeit gebe, in der die gezählte vulgäre Zeit des Jetzt der Uhr, als auch die uί, jene aristotelische kosmische Uhr, eingefaltet seien. Vielleicht gibt die Bewegung als Bewegtheit mehr Aufschluss. Heidegger fragt daher noch einmal, welchen Charakter überhaupt die Zeit als Gezähltes an der Bewegung im Modus des vulgären Zeitverständnisses habe? Er gibt zunächst drei wesentliche aristoteli­ sche Charakteristika, von denen er sich abstößt. Bewegung (ίniς) sei Umschlag (ή), sei Übergang (ά) und Anderswerden (ἀίwiς). Im Etwas zu etwas dehne sich die Bewegung in all diesen Modi. Heidegger denkt nun diese Transformationen der Bewegung – und das ist ganz entscheidend – als Bereich des Maßes, nämlich als Dimension. Wir nennen diese Struktur der Bewegung ihre Dimension und fassen den Begriff der Dimension in einem ganz formalen Sinn, wobei der Raumcharakter nicht wesentlich ist. Dimension meint die Dehnung, wobei die Ausdehnung im Sinne der räumlichen eine bestimmte Modifikation der Dehnung darstellt. […] Im ›von etwas zu etwas‹ ist ein ganz formaler Sinn von Erstreckung gemeint.816

Auch durch die Aristoteles-Lektüre bestätigt Heidegger die Deu­ tung der Dimension als Dehnung der Zeit. Heideggers Deutung der Dimension im Sinne einer ursprünglich formalen Seite als temporale Dehnung und Erstreckung hält er gegen Bergsons präjudizierte Deu­ tung der Dimension als Raumausdehnung.817 Doch was macht den Charakter der Dimension als Dehnung und Erstreckung aus? Inwie­ fern ist dieses rein formale Ausmaß für Heidegger Verklammerung aller Grenzen und Maße, alles Messens, Vermessens und Gemessenen, aller Bemessungen und Zumessungen, selbst noch des Maßlosen des angrenzenden Nichts und des Todes? Liegt nun in der Dimension als Dehnung und damit als Erstreckung (d.h. Ekstatik) das eigentliche Maß des Seins? Beachten wir also genau die Gedanken, die Heidegger nun bezüglich der Dimension entwickelt. Dazu zeigt Heidegger gleich mehrere Sichtweisen der Dimen­ sion als Dehnung. Dimension sei demnach erstens unές, conti­ nuum, Stetigkeit, In-sich-zusammen-gehaltensein, als auch έϑς im Sinne der Dehnungsgröße sowie das etwas zu etwas als Erstre­ Ebd., S. 343. Henri Bergson, Zeit und Freiheit, übers. von Margarethe Drewsen, Hamburg: Meiner 2016 (orig. 1889). 816 817

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ckung.818 Letzteres deutet Heidegger im Rückgriff auf Aristoteles als ein Apriori der Dimension vor aller Bewegung. »Der Bewegung geht als solches ihrem Wesen nach Dimensionalität und damit Stetigkeit voraus. Ausdehnung und Stetigkeit liegen schon in der Bewegung.«819 Damit wird nun endgültig ein Messen aus der Lebensbewegtheit unter der maßgeblichen Zeit in ein Ausmaß transformiert, das all diese performativen Maße in es verweben lässt. Wichtig ist Heidegger dabei, dass dieses Dimensionale als Dehnung nicht mit einer räumlichen Ausdehnung verwechselt wird, sondern der formale Charakter des ἐ inς ἴς i, das »Von-etwas-zu-etwas«, als solcher verstanden werden müsse. Dieser Erstreckungscharakter ist, laut Heidegger, jene Verklammerung der Zeit als etwas an der Bewegung.820 Heidegger implementiert mit der formalen Dimension der Deh­ nung bzw. Erstreckung einen Gedanken, der radikal gegen jede Deu­ tung der Welt als Konfiguration von diskreten Elementen gewendet ist, deren Kategorien angeblich die Bausteine dessen ausmachen, was ist. Zeit ist demnach keine Pulverisierung von Funktionsreihen und der in ihnen verklammerten Argumente, sondern die Dehnung als Dimension selbst. Sie wird im Hin- und Herspringen von Vorher und Nachher irreduzibel, insofern sie selbst dieses Hin- und Herspringen von jetzt, vorher, nachher konstituiert. So ist für Heidegger die Dimension Übergang und Übergangsganzes. Das Zuspiel von Vorher und Nachher, von Gewesenheit und Zukunft behält als Dehnung aus Heideggers Sicht jedes vermeintliche Diskrete schon in sich ein, in der es als Erwartung schon uneigentlich gewärtig wird. »Wenn wir so behaltend das Vorige, gewärtigend das Nachherige als Übergang als solches, die einzelnen Orte innerhalb des Übergangsganzen, das sich beliebig weit erstrecken kann, verfolgen, fixieren wir einzelne Orte nicht mehr als einzelne Punkte, auch nicht als einzelne gegeneinander beliebige Dort und Hier.«821 Alles steht jeweils unter dem maßgebli­ chen Apriori des Ausmaßes als Dehnung »von etwas zu etwas« (ἐ inς ἴς i). So lässt sich aus Heideggers Sicht auch der Gedanke des Aristoteles deuten, Zeit sei ein Gezähltes an der Bewegung, nämlich: Vgl. GA 24, § 19, S. 344. Vgl. Dimitrios Yfantis, Die Auseinandersetzung des frühen Heidegger mit Aristoteles. Ihre Entstehung und Entfaltung sowie ihre Bedeutung für die Entwicklung der frühen Philosophie Martin Heideggers (1912–1927), Berlin: Duncker & Humblot 2007, S. 437. 819 Ebd., S. 344. 820 Vgl. ebd., S. 345. 821 GA 24, § 19, S. 347. 818

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3. Das ontologische Maß der Zeit

»[…] sofern ich die Bewegung im Horizont […] des ›von etwas zu etwas‹ sehe.«822 Die Dehnung gibt erst somit eine Größe, die eine Grenze haben kann. Ohne Dehnung gibt es kein Punkt-Jetzt, das Heidegger schon als ursprünglich erstreckt denkt, insofern es in Differenz zu Grenzen von einem »vor« und »nach«, einem όn und einem ὕn stehe.823 Heidegger fordert also ein Apriori von Erstreckung und Dehnung als Ausmaß (d.h. eine Dimension), das erst das Maß als Zeit gibt, in der alle Bewegung als Gezähltes erscheinen kann und das auch die Lebensbewegtheit, d.h. die Sorge als Messen, konstituiert. Er nennt die Dimension daher auch die ekstatische »Gespanntheit«.824 Dasein ist somit, wie sein koexistentes Umfeld, wesenhaft Gedehntes. In Heideggers Daseins-Analyse verwebt sich jede Dehnung der Zeit in ein anderes gedehntes Zeitmoment: »[…] [D]as Jetzt ist in gewisser Weise immer dasselbe nie dasselbe. Das Jetzt artikuliert und begrenzt die Zeit hinsichtlich ihres Früher oder Später. Es ist einmal zwar je dasselbe, es ist aber sodann je nicht dasselbe.«825 Die Dimension als Dehnung ist somit das Ausmaß aller Maße – auch das des ›Jetzt‹ –, insofern sie maßgebend alles zu Messende in Bewegung hält, d.h. oszillieren lässt. Diese Dimension ist somit also ein formales aber gleichwohl konkretisierbares Oszillationsfeld. Damit enthüllt sich für Heidegger nun auch, dass die vermeintlich diskrete Punktmannigfaltigkeit als Erstreckungsausmaß, d.h. als Dimension zu denken ist: »Es hat in sich selbst die Dimension, die Erstreckung nach einem Noch-nicht und Nicht-mehr […]. Das Jetzt hat aufgrund dieses Dimensionsgehaltes in sich den Charakter eines Überganges.«826 Das Moment des Jetzt offen­ bart sich selbst schon von seinem Wesen her als »dimensional«.827 Ebd., S. 348. Vgl. ebd., S. 349. Yfantis kommt übrigens in seiner Interpretation von Heideggers Deutung der aristotelischen Physik in den Grundproblemen zu einem ähnlichen Ergeb­ nis und stellt explizit das »Früher« und »Später« als die Dimension der Erstrecktheit heraus. Vgl. Yfantis, 2007, S. 437. 824 Vgl. GA 24, S. 372–380. Thomä deutet die Struktur der Gespanntheit bei Heidegger dann auch in aller Klarheit als Selbstbezug: »An der Stelle des eigenen Anfangs steht das Gespanntsein in sich selbst.« Dieter Thomä, Die Zeit des Selbst und die Zeit danach. Zur Kritik der Textgeschichte Martin Heideggers 1910–1976, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 278. 825 GA 24., S. 350. 826 Ebd., S. 351–352. 827 Ebd., S. 352. 822

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Aus dem Gesagten ergibt sich nun ein logischer Umschlag. Nicht das »Jetzt« beherrscht die Zeit, sondern die Dimension als Erstreckung. Sie eröffnet erst die Deutung der Zeit als Jetzt. Deswegen kommt Heidegger zur Konklusion: »Das Jetzt ist aus dem Augenblick abkünf­ tig.«828 Dies erläutert er wie folgt: »Die Zeit wird nicht aus dem Jetzt zusammengeschoben und summiert, sondern umgekehrt, mit Bezug auf das Jetzt können wir nur die Erstreckung der Zeit jeweils in bestimmter Weise artikulieren.«829 Wenn das Jetzt keine Punktman­ nigfaltigkeit, sondern selbst in Wahrheit schon Erstreckung ist, so ist das Jetzt »[…] als Übergang und Dimension nach der Seite des Nochnicht und des Nicht-mehr offen […].«830 Gleichzeitig stiftet das Jetzt an den Enden dieser Offenheit Dehnung und Grenzen, ohne selbst jene zu sein. Das Jetzt ist in Wahrheit das »Kontinuum eines Zeitflus­ ses«, wie Heidegger sagt.831 »Ich kann mit Hilfe des Jetzt eine Grenze markieren, es als solches aber hat keinen Grenzcharakter, sofern es innerhalb des Kontinuums der Zeit selbst genommen wird.«832 Erst sekundär komme die Zahl als Unterbrechung des Rhythmus dieser Übergänge ins Spiel, insofern sie universal anwendbar alle Übergänge verdecken und zum Schweigen bringen kann, d.h. den Fluss der Zeit zu einer diskreten Punktmannigfaltigkeit nivellieren kann, so »[…] daß sie von dem Begrenzten selbst unabhängig ist.«833 Für Heidegger ist die Erstreckung durch die Zahl nivelliert, indem sie selbst zur Zeit­ größe, im Gegensatz zur ursprünglichen Dehnungsdimension bzw. zur Gespanntheit wird. Mit dieser beginnt aus dieser Nivellierung der Dehnungsdimension das vulgäre Messen der Zeit. Zeit ist Zahl und nicht Grenze, aber als Zahl ist sie zugleich imstande, dasjenige, mit Bezug worauf sie Zahl ist, zu messen. Die Zeit ist nicht nur ein Gezähltes, sondern als dieses Gezählte kann es selbst ein Zählendes im Sinne des Maßes sein. Nur weil die Zeit Zahl ist im Sinne Ebd., S. 408; vgl. ebd., S. 406. Ebd., § 19, S. 352. 830 Ebd. 831 Ebd. 832 Ebd., S. 353. 833 Ebd. Es ist daran zu erinnern, dass das Wort »Zahl« auf Griechisch die Unterbre­ chung des Rhythmus bzw. der Schwingung meint: ἀiός. Heidegger hat dies als Kenner des Griechischen mit hoher Wahrscheinlichkeit im Blick, wenn er an das feststellende Moment der Zahl und der Rechnung mit ihr als Abstraktion von der Offenheit der Rhythmik der zeitlich bestimmten Lebenswelt denkt. 828

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des gezählten Jetzt, kann sie Maßzahl werden, d.h. selbst zählen im Sinne des Messens.834

Wir haben nun gesehen, dass Heidegger tatsächlich die Wurzel der Sorge als Messen und der maßgeblichen Zeit als Dehnung herausge­ stellt hat. Wie geht er nun mit der herausgearbeiteten ursprüngli­ chen Dimension der Dehnung bzw. Ekstatik um? Er zeigt, wie diese Dehnung als Ausmaß in der Philosophie der Antike, exemplarisch bei Aristoteles, nun als homogenes Maß und zugleich quantitativ interpretiert wird. Dass Heidegger hier erneut das Problem der Homogenisierungstendenz aufnimmt, das ihn bereits seit seiner Dis­ sertation und Habilitation beschäftigt hat, zeigt ein weiteres Mal, dass Heidegger dieses Problem nie in Ruhe gelassen hat.835 Gesehen hat er nicht nur, wie dieses Problem in der Zeit verwurzelt ist, sondern auch die oben herausgearbeitete dynamisch-offene formale Dimension der gedehnten Zeitlichkeit. Wie bringt er nun diesen Homogenisierungs­ vorgang mit dem transitiven Ereignen dieser Dehnungsdimension der Zeitlichkeit zusammen? Wenn die Zeit im Vorhinein als Gezähl­ tes an der Bewegung gedeutet und somit sofort unter das Verdikt quantitativen Messens gestellt wird, geschieht noch etwas anderes. Einerseits wird die Zeit zwar als Gezähltes an der Bewegung zu einem homogenisierten und mithin quantifizierten Maß nivelliert. Maßstab ist jetzt die Zeit als Gezählte, d.h. als Punkt, insofern das Gezählte nur ontisch am »Jetzt« deklariert wird. Andererseits erscheint das Jetzt aber in seiner Tatsächlichkeit nicht mehr nur als Punkt, auch wenn das herkömmliche Zeitverständ­ nis der Uhr die Pünktlichkeit fordern mag. Heidegger zeigt in seiner Aristoteles-Lektüre: Auch das Jetzt ist in Wahrheit Dehnung von einem Vorher und einem Nachher, »[…] d.h. das Jetzt ist nicht ein Punktelement der stetigen Zeit, sondern als Übergang ist es schon, sofern es einem Punkt, einem Ort in der Bewegung zugeordnet wird, über den Punkt immer hinaus.«836 Was heißt hier Übergang? Übergang meint zunächst so etwas wie eine logische Schwelle, die zunächst kein Umschlag von einem ins andere ist, sondern ein oszil­ lierendes Fließen. Zugleich ist damit ein transitiver Pendelschlag in beide Richtungen des gedehnten Jetzt gegeben – in das Gewesene und in die Zukunft. Diese sind einheitlich zu denken. »Die Zeitlichkeit als 834 835 836

Ebd., S. 354. Vgl. Kapitel I.2b; I.2c. GA 24, § 19, S. 354.

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Einheit von Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart entrückt nicht das Dasein zuweilen und gelegentlich, sondern sie selbst als Zeitlichkeit ist das ursprüngliche Außer-sich, das ἐiόn.«837 In diesem Pen­ delschlag entfaltet sich die Gegenwart als Augenblick. Die vermeinte Oszillation ist also konturiert. Heidegger selbst sagt über diesen konturierten oszillierenden Übergang: »Als Übergang sieht es zurück und nach vorn.«838 Mit dieser inhärenten und interchangierenden Dynamik ist das Jetzt selbst als gespannte Dehnung des Übergangs für Heidegger ausgefaltet: »Bewegung als Bewegung.«839 Das Messen kann dann die Bewegung nie zerstückeln, weil sie periodisch von Übergang zu Übergang, von Jetzt zu Jetzt iteriert. Damit ist für Heidegger auch jedes Messen, hier als das Gezählte an der Bewegung, nie ein Messen von vermeintlichen homogenen Punktgrößen. Vielmehr enthüllen sich auch diese Punktgrößen im Jetzt ebenso als Dehnung, die nur bisher zur Diskretion umgedeutet wurde und wird. So deckt Heidegger auf, dass die Zeit sich eigentlich durch diese Dehnung selbst das Maß gibt, und damit selbst das Messen vorgibt, weil wir uns dieser Dehnung im Sinne des oben herausge­ stellten Übergangs nicht entziehen können und in unserer Zeitlichkeit im Grunde sogar durch diese dimensionale Dehnung bestimmt sind. So kann Heidegger mit gewissem Recht sagen: Eigentlich misst die Zeit. Wir können mit unserem Messen die Zumessung der Zeit nur interpretieren. Was misst die Zeit im Jetzt als Dehnung, d.h. als ekstatische Dimension, in Wahrheit? Sie mißt eine Bewegung oder eine Ruhe in der Weise, daß eine bestimmte Bewegung, ein bestimmter Umschlag und Fortgang fixiert wird, z.B. der Fortgang von einem Sekundenstrich zum Nächsten, mit welcher Maßzahl dann die ganze Bewegung durchgemessen wird. Weil das Jetzt Übergang ist, mißt es immer ein Von-bis, es mißt ein Wielange, eine Dauer.840

Mit der Homogenisierung der Dehnung und Dauer des Jetzt hingegen geschieht für Heidegger der Umschlag in die Zahl, die die Bewegung ausgrenzt, sie feststellt und somit zum nackten, abstrakten Punkt einfriert: »Die Zeit als Zahl grenzt eine bestimmte Bewegung aus. Die ausgegrenzte Bewegung ist dazu bestimmt, die ganze zu messende 837 838 839 840

Ebd., S. 377, § 19. Ebd., S. 354. Ebd., S. 355. Ebd.

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3. Das ontologische Maß der Zeit

Bewegung auszumessen.«841 Wir sehen auch hier noch einmal bestä­ tigt: Das Jetzt wird durch eine Abstraktionsleistung isoliert, indem die Bewegung ausgegrenzt wird. Erst so ist die Interpretation der Punktualität zulässig. Andererseits ist das Jetzt auch hier verstehbar als ursprüngliches Ausmaß des Übergangs und damit als Dimension der Dehnung und Erstreckung. Wie ist also das Jetzt für Heidegger neu zu verorten? Als formale Dehnung umgreift die Dimension qua Zeit die Bewegung vom Jetzt zum nächsten »Hier-jetzt«. Formal sichtbar gemacht, ergäbe sich diese Folge: Zeit {Bewegung – Dehnung} Dimension Dass dies auch für die Dimension qua Zeit gilt, sagt Heidegger uns selbst: »Die Zeit gehört nicht selbst zur Bewegung, sondern sie umgreift sie.«842 Die Zeit ist nicht mehr zur Entität zu nivellieren. Zeit kann nicht verdinglicht werden, d.h. sie ist kein Seiendes.843 »Mit dem Moment […] des Umgriffenwerdens ist betont, daß die Zeit nicht selbst zu Seienden gehört, das in der Zeit ist.«844 Die Zeit ist somit selbst transitiv zu verstehen, sie ist »messende Zeit«, die selbst Bewegtes, Ruhendes, d.h. Seiendes misst. Heidegger sagt daher, dass die Zeit »weiter draußen« sei.845 Anders gesprochen: »Die Zeit mißt die Bewegung am Bewegten […].«846 Als Übergang, Umschlag, umgreifendes qua Dimension der Dehnung ist die Zeit kein Seiendes, sondern – so Heidegger – ein anderes, in das erst das Seiende verwoben ist. Die transitiv zu deutende Umgreifung durch die Zeit stiftet erst Bewegtes, das in der Zeit ist. Heidegger nennt dies Innerzeitigsein. Dabei gilt: »Das Jetzt […] ist nur der Index für die ursprüngliche Zeitlichkeit.«847

Ebd. Ebd., S. 356. 843 Wenn die Zeit das Dasein ausmacht, dann gilt für das Dasein, dass es selbst auch nicht verdinglicht werden kann oder wie Alfred Denker es fasst: »Dasein kann nie objektiv und messbar gegeben sein, weil Dasein immer bereits verstehend ist.« Alfred Denker, Unterwegs in Sein und Zeit. Einführung in Leben und Denken von Martin Heidegger, 2009, S. 74. Wir fügen hinzu: es ist nur verstehend, weil es ekstatisch gedehnt ist. 844 GA 24, § 19, S. 356. 845 Vgl. ebd., S. 356–357. 846 Ebd., S. 357. 847 Ebd., S. 381. 841

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IV. Die Genesis eines ekstatischen Maßes der Zeit in Sein und Zeit

Da die Zeit laut Heidegger qua formaler Deutung der Dimension als Dehnung misst, kann folglich die homogenisierende, quantitative Interpretation von Bewegung als Bewegtes an räumlichen Naturvor­ gängen nur als Sonderfall neben anderen möglichen Deutungen von Bewegungen bestehen.848 Wenn die Zeit misst, gibt sie ein Maß. Für wen? Für das Dasein. Das lebensweltliche Dasein kann nämlich durch die umgreifende Dimension der Dehnung bewegt sein. Heidegger zeigt dies an, wenn er den aristotelischen Begriff der Seele ursprünglich als Dasein denkt. Denn auch die seelischen Verhaltungen unterstehen der Bestimmung der Bewegung – Bewegung weitgefaßt im Aristotelischen Sinne und nicht notwendig als Ortsbewegung. Die Verhaltungen sind in sich nicht räumlich, aber sie gehen ineinander über, eine schlägt in die andere um. […] Selbst wenn wir kein Bewegtes im Sinne des Vorhandenen erfahren, ist uns dennoch im Erfahren unser selbst im weitesten Sinne Bewegung und damit Zeit enthüllt.849

Damit ist nun eindeutig klar, dass die Sorge als Verhalten tatsächlich und ursprünglich als ein Messen von Heidegger gedacht ist, näm­ lich durch die Maßgabe der Zeit qua Dimension der Dehnung bzw. Gespanntheit. Diese Dehnung ist lebensweltlich das Erfahren, was ihn an Dilthey und Graf Yorck von Wartenburg anschließen lassen kann, insofern durch die Zumessung der Zeit auch Verweisung und Bewandtnis aufscheinen. Diese machen die Dehnung selbst aus und diese Dehnung enthüllt wiederum qua Verweisung und Bewandtnis die Zeitlichkeit der Zeit. Dieses Verweisen, Verweben und Dehnen – und damit die Zeit selbst – zeigen sich freilich nur, wenn es einen Interpreten der zeit­ stiftenden Dehnungsdimension gibt. Dies ist für Heidegger eben die implizit zum Dasein umgemünzte aristotelische Seele: »Wenn keine Seele ist, gibt es keine Zeit.«850 Damit ist das Dasein durch die Zeit ein gedehnter, d.h. dimensionierter Spalt, eine Pore, Öse oder Zerklüftung, Ino Augsberg sieht den hier herausgestellten Sonderfall in der Metaphysik als Interpretationsmodell von Welt verankert. Der Grund sei die »[…] Blindheit der Metaphysik, daß sie in ihrem Fragen nach der Seiendheit des Seienden innerhalb der Dimension dieser Unterscheidung sich bewegte, die Dimensionalität dieser, ihrer ermöglichenden Herkunft, jedoch nicht sah.« Ino Augsberg, ›Wiederbringung des Sei­ enden‹. Zur ontologischen Differenz im seinsgeschichtlichen Denken Martin Heideggers. München: Fink 2003, S. 28. 849 GA 24, § 19, S. 358. 850 Ebd., S. 359. 848

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4. Die ontologische Differenz als Maß

durch die ein Messen von Gemessenen überhaupt erst möglich wird. Somit stiftet die von der Zeit zugemessene umgreifende Dimension der Dehnung einen Porencharakter, den Heidegger das Dasein nennt und das zugleich die Offenheit ist, indem es selbst als Pore aus sich heraussteht, d.h. ekstematisch transzendiert qua gedehnter Zeit des Jetzt.851 Warum, sagt uns Heidegger selbst: »[…] weil die Zeitlichkeit als Transzendenz die Offenheit ist.«852

4. Die ontologische Differenz als Maß Hiermit ist für Heidegger der ontologische Fundierungszusammen­ hang der Zeit angezeigt, insofern Zeit und Sein des Daseins qua Dimension (Dehnung bzw. Stetigkeit oder Erstreckung) das Messen des Gemessenen qua Maßgabe der Zeit erlauben und den Aufriss zwi­ schen Sein und Seienden im transzendierenden Dasein ermöglichen. Dadurch können die Zeit und die Weltbewandtnis bzw. die Verwei­ sungszusammenhänge enthüllt werden. Die Dehnung als Aufriss ist somit die ontologische Differenz, insofern sie die Dimension ist, die aus der Zeitlichkeit heraus Dasein und Welt als Möglichkeit zulässt. In diesem Zusammenhang wird auch der nun nicht mehr uneigentliche Zugriff auf die Jetzt-Folge von Heidegger verstanden: »Sie meint einen ontologischen Fundierungszusammenhang, der zwischen Zeit, Bewegung, Stetigkeit und Dimension besteht.«853 Damit ist gezeigt: Heidegger denkt das Sein des Daseins aus der Stetigkeit bzw. Deh­ nung der Dimension heraus, die sich aus der Zeitlichkeit entfaltet. Die Frage nach dem Sein entpuppt sich für Heidegger selbst als eine Frage nach dem Maß des Seins im Sinne der Dimension der Zeitlichkeit, die als Dehnung das gesamte Denken Heideggers bis ins Spätwerk in verschiedensten Filiationen bestimmen wird. Was Dehnung als Dimension der Zeit in anderen Worten meint, denkt Heidegger zunächst so: Dehnung ist Ekstatik des Daseins, die das Heraustreten und Transzendieren ermöglicht, so dass eine offene Pore, eine Lichtung für die Enthüllung und Verdeckung qua GA 26, S. 269f. GA 24, S. 360. Auf die Korrelation von Zeitlichkeit und Transzendenz weist Enders in seiner Studie zu Heideggers Transzendenz-Begriff explizit hin. Vgl. Markus Enders, Transzendenz und Welt, Frankfurt am Main: Lang 1999, S. 116. 853 GA 24, S. 360; vgl. S. 378ff. 851

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IV. Die Genesis eines ekstatischen Maßes der Zeit in Sein und Zeit

Als-Struktur des Verstehens durch die Sorge und durch die Zeit zuge­ lassen wird.854 Die Ekstatik ist somit die Dimension als Maß des Seins, das Messen (Sorge) und Maßgabe (Zeit) miteinander verklammert und ermöglicht, insofern sich hier das Vorher und Nachher als die Einheit von Augenblick, Gewesenheit, Gegenwart und Zukunft zeigt. Zusammengenommen denkt Heidegger die Ekstatik als horizontale Zeitlichkeit bzw. Temporalität, wie es aus Sein und Zeit bekannt ist und wie es am Anfang dieses Teilabschnitts in seinen Grundzügen angezeigt wurde. Durch die Analyse der Zeitzumessung als Dehnung der Dimension enthüllt sich erst, was Heidegger mit dem horizontalen und ekstatischen Charakter des Seins des Daseins wirklich meint: Nämlich, dass das Sein durch die Zeit als Quelle aller Ermöglichung erst sichtbar wird.855

5. Rückblick und Vorblick einer Maßorientierung – Sein und Zeit und der Übergang zur Kehre Nach dem bisherigen Gang der Untersuchung wird es Zeit, zu einem Zwischenresümee zu kommen. Es ist sowohl zusammenzufassen, was in der bisherigen Interpretation von Sein und Zeit und den umliegenden Vorlesungen herausgearbeitet wurde. Gleichwohl sind die neuralgischen Problembezirke anzuzeigen, denen Heidegger sich selbst ausgesetzt sah und die ihm zur Kehre seines Denkens beweg­ ten. Ebenso zentral ist es nun, die Schwierigkeiten und möglichen Zugänge darzulegen, die sich durch die bisherige Interpretation erge­ ben haben. Was haben wir im Einzelnen in den Werken um Sein und Zeit und in diesem Buch von Heidegger herausgearbeitet? Wir haben zu Beginn dieses Kapitels behauptet, dass Heidegger sein von uns herausgestelltes Denken zum Maß, das wir in den bisherigen Kapiteln unter die Bereiche Rejektion, Projektion und Appropriation aufteilten und analysierten, nun weitgehend appropriativ in sein Denken einer Fundamentalontologie in Sein und Zeit eingebettet hat. Wir nahmen Vgl. ebd., S. 401; vgl. ebd. S. 426; S. 447. Vgl. ebd., S. 428ff. Diese dimensionale Zumessung der ontologischen Differenz interpretiert Vail als »Weile«, die uns als offene Zeitspanne gegeben ist: »We have been given a while, an open time span, which is bounded on all sides by absence and concealment.« L.M. Vail, Heidegger and Ontological Difference, New Jersey: The Penn­ sylvania State University Press 1972, S. 57. 854

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5. Rückblick und Vorblick einer Maßorientierung

dabei an, dass dieses Denken die implizite Frage nach einem Maß des Seins involviert. Im Durchgang zum Beleg dieser Behauptung wurden zwei Ansätze Heideggers zu einem solchen Maß des Seins als Zeit unter­ sucht. Diese sahen wir in Heideggers Rezeption von Kant, Dilthey und Yorck. Anhand von Heideggers Kant-Lektüre versuchten wir zu zeigen, dass Heidegger durch sie zur formalen Anzeige der Zeit als Maßgabe und als Maßgebendes gekommen war, während bei Yorck die Vorzeichen der Oszillation der ontologischen Differenz als die geschichtliche Erfahrung unter dem Titel »generische Differenz« sichtbar wurden. Daraufhin konnten wir im Hinblick auf Heideggers Deutung des ontischen Messens unter Einbezug von Heideggers Dilthey-, Yorckund Kant-Lektüre zeigen, dass aus Heideggers Sicht die Verweisung, die bedeutsame Bewandtnis, Vertrautheit und Nähe die Konfiguration der Erfahrung des Menschen ausmachen. Sie geben dem Menschen Maße für eine Orientierung in der Welt an die Hand. Wir stellten überdies heraus, dass die Verweisung, die bedeutsame Bewandtnis, die Vertrautheit und die Nähe als Orientierungsmaße auf eine Art »Urmaß« verweisen. Dieses ist gleichsam mit dem geteilten und vulgären Umgang und der gemeinsamen Handhabung von Zeit ver­ quickt. Dabei ergab sich aus der Lektüre von Sein und Zeit, dass durch diese Zeitinterpretation unter der Institution der gemessenen Uhrzeit ein Deutungsproblem bezüglich der eigenen und eigentlichen Zeit des Menschen erwächst. Für Heidegger handelt es sich um so eine starke Verwindung von Zeit und dem Sein des Daseins, dass sich seine Unterstellung der Seinsvergessenheit aufgrund der Abdrängung der eigenen und eigentlichen Zeit erhärtet und der Anspruch eines anderen Orientierungsmaßes notwendig wird. In unserer Interpretation versuchten wir an den relevanten Gelenkstellen von Sein und Zeit und den umliegenden Werken auf­ zuweisen, dass sich die eigentliche Zeitlichkeit des menschlichen Daseins für Heidegger an der Maßlosigkeit des Todes enthüllt. Wir konnten nachweisen, dass Heidegger diese Zeitlichkeit in mehreren Anläufen als Ekstatik und Gespanntheit im Sinne einer formalen Dimension der Dehnung anhand der aristotelischen Physik deutet. Diese Interpretation ist ebenso gegen die landläufige Homogenisie­ rung und Diskretion als Konstellation des Übergangs gerichtet. Statt­ dessen wird die Umgreifung bzw. Verklammerung einer vierfachen

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IV. Die Genesis eines ekstatischen Maßes der Zeit in Sein und Zeit

Zeit im Sinne eines transitiven Maßes des Seins als Zeitlichkeit eta­ bliert. Dabei ergeben sich für uns mehrere Problembezirke, sowohl für Heideggers eigenes weiteres Nachdenken, als auch für ein Denken im 21. Jahrhundert. Erstens zeichnet sich für Heidegger selbst eine Schwierigkeit ab: Die Zeit erwies sich als Maßgabe und als Maß des Seins. Gleichwohl zeigt sich für Heidegger, dass die Zeitlichkeit als Pore des Daseins in die Welt die Möglichkeit einräumt, diese zu interpretieren. Diesen Interpretationszugang hoben wir formal als performatives Maß der Sorge in der Als-Struktur des Verstehens ab. In den letzten drei Kapiteln wurde dabei deutlich, dass das »Als« selbst notwendig für die Verstehens- und Sorgestruktur wird, um der Zeit als Zeitlichkeit überhaupt Bedeutung zumessen zu können. Dafür ist gleichwohl die Struktur der Verweisung und Bewandtnis notwendig, d.h. der Bezug des Daseins zu seiner Welt, in die es hinaussteht und sie zugleich transzendiert. Dieser zirkuläre Verhalt lässt das zunächst ontisch an Bewandt­ nis orientierte Dasein als Leitfaden verstehen, um überhaupt die daseinskonstitutive Struktur der ekstatischen Dimension als ontolo­ gische zu enthüllen. Dazu muss das Dasein frei und offen für ein solches denkendes Verstehen sein. Diese Freiheit erhält es aber nur durch die Geschichte, d.h. durch die gegebene Zeitstruktur. Es ergibt sich eine gegenseitige Durchdringung, d.h. Kontingenz von Dasein und Zeitstiftung, und es zeichnet sich noch einmal deutlich ab, dass diese oszillierende Figur die Erfahrung ist. Damit nicht erneut ein neues Metaphysikum, d.h. ein ontischer Zeitbegriff, unter dem Titel »Die Zeit« entsteht, muss für Heidegger die Zeit als Zeitlichkeit eine transitive sein, um das Sein selbst in den Vordergrund zu rücken. Die Zeit als Sein muss folglich als ein dynamisches Maß gedacht werden, das in dem Erzittern der vier Zeitdimensionen Gewesenheit, Zukunft, Gegenwart im Augenblick aufscheint. Dafür bedarf es aber erneut der Bewandtnis und der bedeutsamen Verweisungen, die die hin und her pendelnde, schwingende Dynamik der Zeit in ihrer wechselseitigen Generation per Als-Struktur überhaupt erst denkbar macht. Dann kann aber die Zeitlichkeit als Dimension und damit das Maß des Seins des Daseins nicht ursprünglicher Art sein. Schauen wir genau hin, ergibt sich also ein weiteres Oszillations­ feld, nämlich jenes zwischen der bedeutsamen Bewandtnis des jeweils geschichtlichen Daseins und seiner ihm Sein und Freiheit stiftenden Zeit qua Zeitlichkeit. Ergo ist für Heidegger das Orientierungsmaß

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5. Rückblick und Vorblick einer Maßorientierung

sowie die Aufrechterhaltung der im Ausgang von Kant proklamier­ ten Maßgabe der Zeit, als Erfahrungsbereich zwischen Geburt und Tod, nur möglich in dem erneuten Aufriss zwischen Entwurf und Geworfenen, zwischen sich zeitigender Freiheit und gezeitigter und bewandtnismäßiger Geschichte. Für Heidegger muss der Aufriss der ontologischen Differenz der Zeit-Dimensionen zu diesem noch tiefer liegenden Aufriss führen, soll Sein und Zeit als Projekt eines neuen Orientierungsmaßes einer transitiven und ekstatischen Zeitlichkeit, als Sein gegenüber Seiendem, weiterverfolgt werden. Dies führt schließlich zu Heideggers Kehre, in der das Sein selbst zum Maß wird. Dazu muss Heidegger den Blick auf die Geschichte und ihren Bezug zur freiheitsstiftenden Zeitlichkeit wenden. Wir ahnen bereits, dass die von Heidegger versuchte Maßorientierung zwischen messender Sorge und der Maßgabe der Zeit innerhalb der transitiv zu denkenden vierfachen Zeitdimensionen noch deutlich komplexer ist, als sie sich bisher zeigte. Diese Komplexion bringt Heidegger dann auch zunächst gedanklich in eine Verstrickung, die ihn schließlich zunächst dazu führen wird, sich grundlegend am eigenen Denken zu vermessen. Dies wird noch dadurch verzwickter, dass seine eigene biographische Dimension der möglichkeitsstiften­ den Zeitlichkeit und der ihn begrenzende geschichtliche Ort, d.h. Heideggers Bestreben einer Reform der Universität als Institution, um das Sein wieder erfahrbar zu machen, als auch seine konservative Prägung sowie der antisemitische Zug aus seiner eigenen Herkunft und der Zusammenkunft mit seiner Frau Elfride, beginnen, sich auf fatale Weise mit seinem zuvor klar von der Biographie geschiedenem Denken zu vermengen. Diese Vermengung von Denken und biogra­ phischen Ansprüchen führen sowohl zum Vermessen am eigenen Denken, als auch zur weiteren biographischen Vermessenheit. Dies versuchen wir im nächsten Kapitel zu beleuchten. Ebenso wollen wir jedoch auch hervorheben, wie Heidegger aus dieser Verdüsterung in der Auseinandersetzung mit den Maßgaben, Maßstäben und Maß­ nahmen von Kunst und Dichtung zur erneuten Aufhellung seines Denkens kommen wird, um ihm so eine tiefere Einsicht in ein Maß für das Verhältnis von Zeit und Sein zu ermöglichen. Diese Überlegungen gilt es im nächsten Kapitel an den Texten Heideggers zu prüfen. Dabei wird uns allerdings jetzt die Frage begleiten, ob das Verhältnis von bedeutsamer Bewandtnis, Geschichtlichkeit und der Möglichkeit und Freiheit stiftenden Zeitlichkeit überhaupt aufgelöst werden kann. Es ist dabei ebenso fraglich geworden, ob nicht der

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IV. Die Genesis eines ekstatischen Maßes der Zeit in Sein und Zeit

Bezug der vier Zeitdimensionen selbst wieder aus einem Gewebe transitiv zu verstehender Bewandtnisstrukturen konstelliert ist. Wir müssen daher am Ende unserer groß angelegten Untersuchung noch einmal fragen, ob Sein und Zeit oder alternativ Zeit und Sein den Deh­ nungsbereich, d.h. die Ekstatik überhaupt angemessen fassen können. Was wäre, wenn dieser Knoten zwischen bedeutsamer Bewandtnis, Geschichte, Freiheit und Möglichkeitsstiftung der vier Zeitdimensio­ nen gar nicht aufgerissen werden muss? Was wäre, wenn vielmehr die von Heidegger aufgewiesene Pore des Daseins zwischen Maßgabe der Zeit und dem messenden Sorgen und Verstehen uns erst so auf die Verknotung verweist, dass diese Verweisung qua Verwebung selbst als transitives Orientierungsmaß gedacht werden könnte? Der weitere Eingang auf diesen Problembezirk wird möglich durch die weitere Sichtung und Achtung darauf, wie Sein als Zeit weiterhin von Heidegger bezüglich der Frage nach dem Maß erörtert wird. Dies wird nun in der oben schon aufgezeigten Problemstellung des nächsten Kapitels vollzogen.

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V. Zumessung und Vermessung am Mittelmäßigen als Gang in die Irre

»Vielerlei darüber geäußert; nur das eine dabei vergeblich gesucht, daß das Maß der Beurteilung aus der eigensten Fragestellung selbst geschöpft wird, d.h. daß die Bemühung ansetzt, diese heraus zu holen, was immer verlangt, das Vorgelegte zu überholen und ursprünglicher zu sehen. Dazu geschieht ja jede Mitteilung, die die Eröffnung eines fruchtbaren Denkens erwartet. Statt aber dieses Maß zu entwickeln, bringt man bequem irgendwelche Gesichtspunkte herbei und schätzt daran das Gesagte ab, unbekümmert darum, ob dieses beansprucht in der vermeintlichen Hinsicht etwas zu sagen.« Martin Heidegger, GA 82, 16. Die bisherige Stellungnahme zu ›Sein und Zeit‹, S. 152.

Diese Worte Heideggers schärfen uns ein, darauf zu achten, um was es in jeder eigenen grundlegenden Fragestellung eigentlich geht: Das Bedenken ihres Maßes, d.h. auch inwiefern in einer solchen Frage vom Maß selbst die Rede ist und wie das Maß zu dieser Fragestellung wiederum grundlegend im Verhältnis steht. Genau diese doppelte Achtsamkeit auf das Maß behalten wir in dieser Untersuchung in Bezug auf Heideggers Grundfrage nach dem Sein weiterhin im Auge. Dazu rekapitulieren wir zunächst, was wir mit einer solchen Achtsam­ keit auf jenes Maß zuletzt lernen konnten. Im vorherigen Kapitel haben wir gesehen, wie Heidegger in den Schriften um Sein und Zeit die Dimensionen eines Maßes der Zeit als Maßgabe dachte, aus der die eigentliche Umgrenzung des Verhältnisses zum Messen im Sinne eines konkreten Sorgens und performativen Verhaltens zum Sein und zur Welt sichtbar wurde. Diese Maßgabe der Zeit dachte Heidegger dabei als das Entgegen­ kommen von Gewesenheit, Gegenwart und Zukunft in der Einheit des Augenblicks. Diese vier ekstatischen Zeitdimensionen wurden als Maßgabe in ihrer Verwobenheit mit der bedeutsamen und faktischen Bewandtnisganzheit des Seins des Daseins sichtbar. Aufgrund dieser Sensibilisierung für diese Zusammenhänge ist es nun möglich, am Leitfaden dieser herausgearbeiteten Strukturen zu zeigen, warum

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V. Zumessung und Vermessung am Mittelmäßigen als Gang in die Irre

sich Heidegger weiterhin mit der Frage nach dem Maß beschäftigt und warum diese Frage nach einer Maßnahme durch die Sorge zu einer Frage nach der Maßgabe des Seins umschwenkt. Dies haben Interpreten des Heideggerschen Maßverständnisses wie Werner Marx, Ernst Tugendhat oder Charles Bambach in ihren Büchern zu Heideggers Denken des Maßes nur in Ansätzen behandeln können – und zwar deshalb, weil ihnen die notwendigen Passagen zu dieser nicht unbedeutenden Konfiguration aus dem Frühwerk Heideggers noch nicht vorlagen. Uns sind nun hingegen auf der Basis weiterer Veröffentlichungen der Heidegger-Gesamtausgabe in den Kapiteln I bis IV andere Möglichkeiten der Interpretation in diesem Fragehori­ zont gegeben.856 Daher können wir den bis dato rätselhaften Bezug Heideggers zur Frage nach dem Maß und des Messens in dessen Spätwerk auf der Grundlage unserer Untersuchungen des Frühwerks umfassender bedenken. Genau dies versuchen wir in diesem und dem nächsten Kapitel. Um was geht es uns dabei? Einerseits geht es darum, die wissenschaft­ lich fundierte Forschung zu Heideggers Denken zu vermehren und einen weiteren Aspekt seines Werkes klarer und verständlicher zu machen. Während wir uns bisher an dem recht soliden Geländer einer Forschungsarbeit entlang bewegten und auch weiterhin bewe­ gen werden, manifestiert sich andererseits im Zuge dessen auch der Anspruch eines eigenen Denkansatzes und einer eigenen Besinnung bezüglich der Frage nach dem Maß und des Messens im Verhältnis zu Heideggers Seinsfrage. Dieses Verhältnis konnte auf dem Funda­ ment einer ausführlichen Interpretation der frühen Texte Heideggers in den vorausgegangenen Kapiteln sichtbar gemacht werden. Auf

856 Werner Marx hat in seinem Buch Gibt es auf Erden ein Maß? versucht, im Anschluss an Heidegger eine Art Nächstenethik auszubilden, die angesichts von Umweltzerstörung und einer zerstörerischen Technik ein neues Maß der Verantwor­ tung auf den Weg bringen soll. Dabei gibt Marx die metaphysischen Begriffe, die an Hegel angelehnt sind, trotz der Forderung einer »nicht-metaphysischen« Ethik von Subjektivität und Freiheit, allerdings nicht auf. Vgl. Werner Marx, Gibt es auf Erden ein Maß?, Hamburg: Meiner 1983. Charles Bambach stellt sich ebenso wie Marx die Frage, inwiefern die Frage nach dem Maß eine ethische Frage und eine Frage nach Gerechtigkeit sei. Im Durchgang der Werke von Hölderlin, Heidegger und Celan sieht er – wie wir hier – das Maß als Gabe, d.h. als Maßgabe. Vgl. Charles Bambach, Think­ ing the Poetic Measure of Justice. Hölderlin-Heidegger-Celan, New York: Suny Press 2013, S. 177. Allerdings glaubt Bambach, dass erst Celan den blinden Fleck Heideggers in seiner Frage nach dem Maß in Bezug auf den Anderen aufdecken kann.

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dieser Grundlage können wir in den letzten beiden Kapiteln auch zunehmend einen eigenen Frage- und Problemhorizont ausschärfen. Methodisch wird ausgehend von diesem Motiv die Herange­ hensweise an Heidegger in diesem und dem nächsten Kapitel eine andere sein müssen, und zwar von der Sache her. Hatten wir uns bis­ her hauptsächlich noch in gut hermeneutischer Tradition explizit recht eng an den Texten Heideggers und deren genetischer Abfolge entlang bewegt, lösen wir dieses Verfahren nun auf der Basis der bereits herausgearbeiteten Zusammenhänge allmählich auf. Wir versuchen kaleidoskopisch und zugleich so pointiert wie möglich, die Motive des Verhältnisses von Maß und Sein anhand der Vorlesungen ab der Kehre bis zum Spätwerk zu beleuchten. Dies werden wir in diesem Kapitel vorbereiten und im darauffolgenden letzten Kapitel weiterentwickeln. War der Anspruch bisher gewesen, zu zeigen, dass die Frage nach dem Sein tatsächlich von der Frage nach dem Maß in Heideggers Denken begleitet wird und sich dieses Verhältnis als Maßgabe der Zeit manifestiert, so können wir anhand dieser Ausarbeitung jetzt recht gut die weiteren Stationen eines Maßdenkens bei Heidegger beleuchten. Dies ist auch dann der Fall, wenn Heidegger sich augen­ scheinlich selbst vermisst und er eine solche Vermessung dann auch (selbst-)kritisch behandelt oder dies unterlässt, was letztlich zur Deskreditierung von Heideggers Charakter und seinem Denken im Zuge seiner Rolle im Nationalsozialismus führte. Letzteres hatte auch schwerwiegende Folgen für die Phänomenologie in Deutschland. In Hinblick auf das Verhältnis von Maß und Sein wollen wir auf diese unrühmliche Episode in Heideggers Denkweg ein anderes Schlaglicht werfen. Von hier aus weisen wir auf das sechste und letzte Kapitel hinaus, wo wir schließlich die allmähliche Wandlung seines Ansatzes eines performativen Maßstabs aus den Zumutungen der modernen Technologien und Technik einerseits und aus dem Anspruch von Kunst und Dichtung andererseits aufzeigen werden. Zugleich ist methodisch gewissermaßen sequestrativ vorzuge­ hen, d.h., dass die bisherige hermeneutische Herangehensweise, die wir in dieser Untersuchung angesetzt haben, durch Einschnitte eigener Gedankenmotive ergänzt wird, die sich nun deutlicher noch als im letzten Kapitel an Heideggers eigenem Fragehorizont abzeichnen. Dieses Verfahren ließe sich vielleicht, oberflächlich gesehen, auch als eine kritische oder dekonstruktive Herangehensweise bezeichnen. Aber uns geht es nicht darum, Heideggers Text zu evaluieren und einzuschätzen, um eine Theorie dafür oder dagegen aufzustellen, oder

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diesen in eine andere »Theorie« zu transformieren oder diesen Text umzubauen.857 Vielmehr wollen wir Heideggers Ansatz in diesem Kapitel für sich stehen lassen und diesen mit dem Einschnitt eigener Überlegungen Stück für Stück hinter uns lassen. Dabei lassen wir das Werk Heideggers aber gleichwohl als Text auf sich beruhen und den­ ken an ihm entlang, ohne ihn selbst auflösen oder für unsere Zwecke umwandeln zu wollen. Nicht ein Denken ohne Geländer, wie Hannah Arendt es für ihren Zugang zum Denken reklamierte, bewegt uns hier, sondern ein Denken mit Geländer, das wir allerdings zunehmend nicht mehr brauchen werden, um es schließlich am Schluss der Arbeit nach und nach loszulassen.858 Auch ist diese sequestrative Herangehensweise nicht mit einer dialektischen Methodik zu verwechseln, selbst wenn sich scheinbar hier und da bipolare Gegenüberstellungen ergeben werden. In einem solchen Fall sind diese nur als periphere Sonderkonditionen in einem komplex verwobenen Kaleidoskop möglicher Perspektiven anzusehen. Es handelt sich nun stattdessen primär um eine Herangehensweise, die ihre Kettfäden erst dadurch zusammenhält, indem ihre Dispositio­ nen differenziert werden, ohne sie in der fortlaufenden Interpretation ausufern zu lassen. Vielmehr sollen sie in dieser Differenzierung gleichwohl in ihrem Konnex erhalten bleiben – nämlich hier konkret in unserer Leitfrage, inwiefern Heidegger ein Verhältnis von Maß und Sein im Aufriss zwischen Berechnung und Besinnung denkt und 857 Derrida denkt ein Verwandeln im Ausgang von Heidegger als ein »sich differie­ ren« und »sich verschieben« (se diffère) im Sinne einer Verzeitlichung und Verräum­ lichung im Spiel der Spur, die sich Bahn bricht. Vgl. Jacques Derrida, »Die différance«, in: Ders. Die différance. Ausgewählte Texte. Stuttgart: Reclam 2004 [2008], S. 137. Derrida leitet aus dieser Konfiguration die Dekonstruktion als Zugangsweise zu Quel­ len in verschiedenen seiner Werke ab, allen voran in seiner berühmten Grammatolo­ gie. Vgl. Jacques Derrida, Grammatologie, Paris: Éditions de Minuit 1967. Anders als Derrida wollen wir explizit Texte nicht transformieren, sondern zunächst ihre Maß­ gaben sichtbar werden lassen, d.h. ihre Grenzen und Horizonte, die ihnen einwohnen. Derridas Ansatz kann hier integriert, aber nicht mehr unbescholten wiederholt wer­ den. 858 Arendt verlangt sich frei zu machen von bisherigen Orientierungen der klassi­ schen Philosophie, um sich für eine neue (politische) Theorie des Denkens zu wapp­ nen. Sie nennt dies »Denken ohne Geländer«. Vgl. Hannah Arendt, Denken ohne Geländer: Texte und Briefe, hrsg. v. Heidi Bohnet und Klaus Stadler. München: Piper 2006. Wir lassen uns mehr von dem Motiv der Leiter anregen, die am Ende wegzu­ werfen ist, so wie es bekanntlich Wittgenstein am Ende seines Tractatus formuliert hatte. Vgl. Ludwig Wittgenstein, Tractus logico philosophicus, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003 (orig. 1922), 6.54, S. 111.

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inwiefern dieser Aufriss selbst ein anderes Denken evoziert, als das Denken Heideggers. Mit der Implikation des Motivs des Gewebes sind hier bereits die Gedanken fruchtbar geworden, die wir im vorherigen Kapitel dieser Untersuchung aus dem Verhältnis zwischen Graf Yorck und Wilhelm Dilthey sowie Heideggers Überlegungen zu diesen beiden Denkern entwickelt haben. Das Motiv des Gewebes erwies sich aber nicht nur an dieser Stelle als zentral. Auch unser Entlang­ denken an Heideggers Ausarbeitung des Reliefcharakters des Lebens, des Verweisungszusammenhangs und der Bewandtnisganzheit in ontischer und ontologischer Hinsicht ließ dieses Motiv während der Textexegese zum Verhältnis von Maß und Sein in den Vordergrund rücken. Heideggers Überlegungen der Offenheit und der Eröffnung des Wahrheitsverhältnisses gerieten überdies im Bereich unserer Untersuchung in den Blick und ermöglichten die Herleitung des Motivs des Poretischen und des Porösen. Beide Motive erscheinen in Parallelität zueinander und zeigten während der Interpretation, die wir an Heideggers Gedanken entlang vollzogen, Berührungspunkte und wechselseitige Verzweigungen. Dabei wurde sichtbar, dass kon­ sequenterweise die zu untersuchenden Texte Heideggers selbst pore­ tischen Charakter haben, insofern sie, in ihrer interrogativen Manier und ihrem Fokus auf das Offene in der Als-Struktur, Stränge zu ande­ ren Gedanken zulassen, als wir sie bei Heidegger selbst vorfinden. Methodisch bedeutet das, dass neben der weiteren Textinter­ pretation nun zunehmend eigene Gedanken in den Untersuchungs­ verlauf eingeflochten werden, insofern die Poren und Ränder des Textkorpus‘ dies zulassen. Sowohl die Darstellung der Strukturen von Heideggers Ansatz von Maß und Sein, der zuletzt akzentuiert als das Verhältnis des Seins als Maßgabe qua Zeit sichtbar wurde, als auch die eigenen Gedanken greifen zunehmend ineinander. Sie bilden markante Knoten und Rhizome, die weitere Leitfäden oder angelegte Gedankenstränge zulassen, die hier aber selbst nicht mehr begangen werden können.859 Statt alle Fragen zum Themenhorizont Ich verweise hiermit auf die Logik des Rhizoms bei Deleuze und Guattari, die hier zwar nicht mehr direkt appliziert wird, sehr wohl aber eine externe Motivation für den eigenen Gedankengang ist: »Le multiple, il faut le faire, non pas en ajoutant toujours une dimension supérieure, mais au contraire le plus simplement, à force de sobriété, au niveau des dimensions dont on dispose, toujours n – 1 (c’est seulement ainsi que l’un fait partie du multiple, en étant toujours soustrait). Soustraire l’unique de la mul­ tiplicité à constituer; ecrire à n – 1. Un tel système purrait être nomme rhizome.« Gille Deleuze u. Félix Guattari, Mille Plateaux, Paris: Éditions de minuit 1980, S. 13. 859

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beantworten zu wollen, soll dieses Kapitel in dieser einschneidenden Herangehensweise vielmehr als Einladung für das eigene Fragen des Lesers dienen. Es geht also nicht darum, systemisch neue Felder möglichst vollständig abzustecken. Es sollen vielmehr Büschel zu anderen Gedankensträngen freigelegt werden, jedoch ohne die gedankliche Sammlung in den Spannungsgebieten ins Bodenlose ausschweifen zu lassen oder sie zu stark zu deformieren. Eine Arbeit an einem Denker wäre durchaus nur partikulär philosophisch, würde sie diese Offenheit und gleichzeitige Verhaltenheit zum Selbstdenken nicht zumindest versuchen anzuregen. Nur wenn der Ansatz kein tenden­ ziell kollektivistischer, funktionalistischer oder architektonischer, d.h. in sich geschlossener ist, sondern an ausgewiesenen Stellen auch porös sein darf, hat eine solche Anregung eine echte Chance, dem Leser hinreichend Gehalt für ein weiteres Denken und Fragen zu bieten. Dabei verstehen wir das Poröse als Textur von Wegen oder Trassen, das möglicherweise der Textkonfiguration der Sprache, als einer beteiligten Instanz dieser Konfiguration, insofern vorausgeht, als dass das Poröse diese erst konstituiert und von sich selbst her eröffnet.860 Nach der Klärung der weiteren methodischen und motivischen Herangehensweise in diesem und dem nächsten Kapitel sowie dem Schlusskapitel dieser Untersuchung, können nun auch kurz die inhalt­ lichen Knotenpunkte vorgezeichnet werden, an denen wir uns in der weiteren Untersuchung entlang arbeiten, um so zu versuchen, hier und da Trassen und Poren von gedanklichen Einschnitten zu enthüllen. Wir werden uns zuerst exemplarisch ansehen, wie Heidegger von Sein und Zeit ausgehend die Maßgaben der Geschichte und der Freiheit aus der Differenz zwischen Sein und Nichts heraus interpre­ tiert, um diese aus dem Horizont der Entscheidung der vierfachen Dimension der Zeit als Leitfaden für sein weiteres Denken zu ent­ wickeln. Hier werden von uns Fragen zum Gewebecharakter dieser 860 Hatte Derrida formuliert, dass es kein außerhalb des Textes gebe, so versuchen wir etwas radikaler zu behaupten, dass der Text sogar der Sprache, sei sie schriftlich oder nicht, vorausgeht, insofern die sprachliche Differenz immer als Verhältnis zu anderen Differenzen erscheint. Vgl. Jacques Derrida, De la Grammatologie, Paris: Édi­ tions de Minuit 1967, S. 227. Ein solches Verhältnis wäre dabei selbst die texturierende Arbeit avant la lettre und ihrer Inskription, da ihre Stränge auch zunächst nichts von ihrer irreduziblen Ko-dependenz zu anderen Strängen verlauten lassen, sei es je zur sich einschiebenden Differenz, zum Differenten bzw. Differierenden oder zum Diffe­ rierten.

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Dimension eruiert, nämlich inwiefern die Oszillation zwischen Sein und Nichts dabei eine maßgebliche Rolle spielen könnte, Leitfäden dieses onto-temporalen Denkens in komplexere Verwebungen zu ver­ ästeln. Anschließend werden wir im zweiten Unterabschnitt dieses Kapitels sehen, wie Heidegger sich an einer gewandelten Deutung des Daseins zum Vermessen und der rechten Zumessung anhand Platons Vision des Ausgangs aus der Höhle als Freiwerden zur Wahrheit abar­ beitet. Es wird zu zeigen sein, wie Heidegger aus dem Kontext dieses platonischen Traumes das Problem des Vermessens weiter beleuchtet und wie er dieses Vermessen bezüglich der Wahrheit als Irre denkt. Dabei wird zu beschreiben sein, wie die Implikationen bezüglich jener Irre Heidegger, wie durch eine Ironie des Schicksals, selbst zu einer Vermessung anregen, die sich hinsichtlich seines Rektorats auch als eine politische Verirrung interpretieren lässt, die sich bis in eine schwere biographische Verfehlung steigern wird, insofern Heidegger nunmehr auch durch ein aktives Engagement zeitweise in ein prekäres Verhältnis zum Nationalsozialismus tritt. Wir sind uns darüber im Klaren, dass wir allein schon aufgrund unserer spezifischen Frage­ richtung nicht im Detail klären können, inwieweit der biographischgeschichtliche Ort als auch andere denkerische Motive Heideggers zu dieser Vermessung beigetragen haben. Es ist lediglich im Rahmen dieser Ausarbeitung möglich, zu versuchen, eine Perspektive neben anderen, zu der heiß diskutierten Rolle Heideggers unter dem Blick­ winkel der Frage des Verhältnisses von Maß und Sein aufzuwerfen, um diese kritische Forschung an Heidegger weiter anzuregen.861 Gleichwohl werden wir im sechsten Kapitel dieser Arbeit zeigen, wie Heidegger sich an der Orientierung an einem Maß des Seins (bzw. des Seyns) in der Einleitung in die Metaphysik und durch die 861 Die Debatte in dieser Hinsicht weiterzuverfolgen, hieße, sich auf einen sehr komplexen kritischen Diskurs über Heideggers politisches Engagement einzulassen, der gleichwohl zweifelsohne ein Desiderat bleiben muss, um Heideggers Rolle im Nationalsozialismus hinreichend einordnen zu können. Wie wichtig eine vollständige Aufarbeitung hier auch sein mag, in unserem vorliegenden Fragenkontext würden wir im Zuge eines solchen Exkurses jedoch zu weit abdriften und unsere eigene Frage nach dem Maß aus dem Auge verlieren. Unsere Aufgabe gemäß unserer Themenstellung ist es auf den Gedankenstrang hinsichtlich der Rolle des Maßes in dieser Phase von Heideggers Denken einzugehen. Daher können wir mit unseren Ausführungen das Problem des Heideggerschen Rektorats nicht hinreichend klären, sondern der Heidegger-Forschung in dieser Hinsicht bestenfalls nur eine Skizze eines anderen Sichtwinkels bieten, womit allerdings schon zumindest etwas gewonnen wäre.

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V. Zumessung und Vermessung am Mittelmäßigen als Gang in die Irre

anschließende Auseinandersetzung mit dem denkerischen Dichten bei Hölderlin allmählich aus dieser Gefahrenzone wieder herausar­ beitet. Inwiefern dieser Denkweg der Irre, nicht nur ein Pfad der Schuldvermehrung für Heidegger ist, sondern auch Aussicht auf The­ rapie von der Toxoplasmose der parasitären nationalsozialistischen Motive in seiner Sprache und in seinem Denken in den 1930ern und 1940ern bietet, wird ebenso zu klären sein. Hier sind sowohl Fragen zur Verwobenheit von Dichtung und Denken anhand des Begriffs der Verdichtung und der damit verklammerten Zumessung eines Maßes einzubeziehen. Ebenso ist auch am Beispiel Heideggers zu fragen, wie ein prekäres Denken den Übergang zu einem Sprach­ denken vollzieht, das sich von besagten Irrgängen auch wenigstens tendenziell wieder regenerieren kann. In der zweiten Hälfte des sechsten Kapitels werden wir heraus­ stellen, dass es neben Heideggers Vermessungen und Irrwegen allerdings auch noch andere prekäre Vermessungen außerhalb von Heideggers Denken gibt. Diese wird Heidegger selbst bezüglich unserer globalisierten Welt aus dem Horizont der neuzeitlichen Phi­ losophie auf der Basis seiner Vorarbeiten aus den frühen Vorlesungen am Maß eines übertriebenen rechnenden Denkens enttarnen. Es ist im Anschluss an Heidegger zu fragen, inwiefern diese Verstrickung ins Rechnerische im Zeitalter der automatischen und autonom funktio­ nierenden Algorithmen-Technik und einer brutal kalkulierenden und evaluierenden Wirtschaftsordnung der Investitionsunternehmen, in der das Verschwinden des Menschlichen »[…] wie am Meerufer ein Gesicht im Sand […]« scheinbar in Kauf genommen wird, zu einer der brennendsten Probleme einer Weltgesellschaft geworden ist.862 Einer Welt nämlich, in der sich eine zunehmende Indifferenz zu einer ethischen Haltung immer stärker durchsetzt und eine Austauschbar­ keit von Werten auf der Tagesordnung steht. Angesichts des Extrems einer Rechengesellschaft gilt es Stränge und Poren des Denkens 862 Im französischen Original heißt es: »[…] comme à la limite de la mer un visage de sable.« Michel Foucault, Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines. Paris: Gallimard 1966, X, VI, S. 398. Es ist bezeichnend, dass Foucault die Rolle der Mathematisierung der Geistes- bzw. Humanwissenschaften und ihr Gefah­ renpotential in aller Schärfe sah, allerdings aufgrund der damals noch offenstehenden Möglichkeiten der Informatik und der noch nicht entwickelten Digitalisierung und Vernetzung der Welt eine gewisse Schwebe des Unentschiedenen vermeinte zu erken­ nen, jedoch glasklar das drohende Verschwinden des Menschen (hier noch als Deu­ tungsfeld der Spezies in seiner sprachlichen und geschichtlichen Genese seit der Neu­ zeit) in seiner vollen Radikalität begriff und artikulierte. Vgl. ebd. V., S. 137ff.

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1. Freiheit und Geschichte als maßgebliche Leitfäden für die Kehre

anhand des Heideggerschen Verständnisses einer Maßgabe des wech­ selseitigen Zuspiels, die Heidegger in einer vierfachen Konfiguration ornamentiert, anzuzeigen. Von dieser werden wir die disperse Textur zwischen einer besinnenden Hermeneutik als genuine Kapazität des in die Welt eingelassenen Menschen einerseits und seine rechnenden, verrechnenden und allmählich autonom werdenden Produkte aus dem Horizont eines fest-stellenden Denkens andererseits in den Blick bringen, die Heidegger schon damals als den geschichtlichen Ort des Informationszeitalters situierte. Hier ergeben sich mögliche Fragefelder für die Philosophie, die Theologie, die Ökonomie, die Ökologie und die Soziologie, für die Natur- und Technikwissenschaften als auch für die Politik und die politische Theorie, die wir für die weitere Forschung an dieser Stelle nur noch anregen können. Am Ende des Schlusskapitels werden wir diesbezüglich das Projekt einer methodischen Sequestration des Denkens im Ausgang von der Frage der Spannung zwischen Sein und Maß anzeigen. Überdies werden wir die sich allmählich heraus­ schälende Konfiguration des Poren- und Texturcharakters innerhalb dieses Spannungsverhältnisses in dieser Arbeit herausarbeiten. Eine solche Sequestration des Denkens kann an diese Arbeit und den sich auftuenden Fragebereich des Maßes anknüpfen und die hier nur anzuzeigenden Probleme, die sich ergeben werden, in weiterer Hinsicht bedenken. Jeder Unterabschnitt dieses und des nächsten Kapitels dieser Untersuchung zu Heideggers Verständnis von Maß und Sein lässt sich jeweils wie ein Strang oder ein Zweig bzw. eine Abzweigung zu einem möglicherweise fruchtbaren Knäuel weiterer Gedankengewebe interpretieren, das sich differenziert von der Struktur der bisherigen Kapitel entfaltet. Welche Stränge sich aus diesem Delta für ein Weiterdenken entwickeln werden, bleibt der Zukunft des Denkens, der Weiterarbeit an den Schlussfolgerungen und denen sich aus ihr ergebenden Fragen aufbehalten.

1. Freiheit und Geschichte als maßgebliche Leitfäden für die Kehre In diesem ersten Unterabschnitt wenden wir uns, wie sich schon gegen Ende des letzten Kapitels abzeichnete, der ersten sich anschließenden

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V. Zumessung und Vermessung am Mittelmäßigen als Gang in die Irre

Verzweigung von Problemstellungen zu, die sich aus der Maßgabe der Zeit als Zeitlichkeit des Seins des Daseins in Sein und Zeit ergab. Da dort die ekstatische Zeitlichkeit des Daseins des Menschen, d.h. seine offene Pore bzw. Lichtung zur Welt, im maßnehmenden Sorgen von Heidegger zugleich als die maßgebliche Konfiguration bzw. Stoßrichtung seiner Existenz eingeschätzt wurde, ergibt sich für Heidegger die Konsequenz, nach Sein und Zeit die Filiationen dieser Seite des Seins des Menschen zu beleuchten. In diesem Sinne ist für Heidegger das »[…] Da-sein als Beständnis der offenen Stelle […] als der Offenheit des Verschlossenen […]« zu bedenken.863 Wir werden dabei sehen, dass jene Verstrebungen dieses temporal bestimmten Maßgeblichen für Heidegger im Verlaufe seines weiteren Nachden­ kens so dominant erscheinen müssen, dass er das maßnehmende, d.h. sorgende Dasein für das maßgebliche Sein qua Zeit zunächst in den Hintergrund treten lassen wird. Nicht zuletzt auch deswegen, weil der transzendentale Zug des Seins des Daseins Heidegger noch zu sehr an einen kantisch geprägten Transzendentalismus erinnert. Sein selbstkritisches Resümee lautet zehn Jahre später im Rückblick so: »Die Antwort ist zu sehr gefunden – zu rasch als der Befund aufgegriffen – also zu wenig gefragt.«864 Dieses eigene, als inferior eingeschätzte Fragen, betrifft aus Heideggers Sicht vor allem das Maßgebliche selbst – nämlich wie die Zeitlichkeit an ihren Rändern die Pore des Daseins zu denken erlaubt: »Das Welten die Randung: 1. der Durchzug des Einbezuges in die Offenheit – diese erwest; 2. zugleich aber die Aussetzung an den Abgrund des Da.«865 Dieser sich durch die Randung erst auftuende Abgrund ist einer der eigentlichen Motive für die Kehre seines Denkens und ist somit für unsere Untersuchung relevant. Bezüglich dieses spezifischen, aber entscheidenden Grundes, interessieren Heidegger nach Sein und Zeit zunächst deshalb die Ränder der offenen Lichtung des zeitlich-ekstatisch Maßgeblichen, insofern sie aus seiner Sicht die Grenzen der Konfigurationen der Dimension des Seins selbst ausmachen. Diese Konfigurationen sind die Freiheit und die Geschichte, die wir hinsichtlich ihrer maßgeblichen Abgründigkeit in Heideggers Denken beachten müssen.

863 864 865

GA 82, S. 23. Ebd., S. 134. Vgl. ebd., S. 67.

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1. Freiheit und Geschichte als maßgebliche Leitfäden für die Kehre

Doch was bedeuten diese Umgrenzungen? Stark vereinfacht können wir sagen: Umgrenzungen erlauben in ihrem umfassenden Rahmen Freiheit. Freiheit heißt für Heidegger seit Sein und Zeit Mög­ lichkeit, Entwurf und Zukunft, während Geschichte das Geschehen, die Geworfenheit und die Gewesenheit konturiert. Wir erinnern uns: Gewesenheit und Zukunft sind zwei Maßgaben in der Einfalt der vierfachen Dimension der Zeit. Zwischen diesen beiden vibrieren die weiteren Maßgaben dieser Dimension: Gegenwart und Augenblick, von denen wir im Anschluss sehen werden, dass sich ihr differierender Charakter als der innere Aufriss der Pore der Lichtung zwischen Sein und Nichts manifestiert, der wiederum ein Entscheiden innerhalb dieser Dimension erlaubt. Mit dem Begriff Pore denken wir hierbei an so etwas wie »Weg« oder »Durchlass« zwischen zwei Bereichen. So können wir die spannungsgeladene Vibration zwischen den beiden Koordinaten Gewesenheit und Zukunft als Lichtungsränder bzw. »Randungen« des Daseins als eine solche Pore oder als Durchlass denken. Diese Pore lässt das Dasein zunächst selbst vor der vorgela­ gerten Grenze des Seins dieses Daseins zurücktreten und das Sein maßgeblich werden, da das Sein qua Zeit die Zumessung für das Dasein erst als Zwischenbereich konstituiert. Mit dieser Extrapolation des Seins wird, insofern es die Umgrenzungen, Limitationen und zugleich das Poröse und mögliche Offene ausmacht, bekanntlich in Anlehnung an Heideggers eigenen Bemerkungen von der sogenannten Kehre866 gesprochen, in der das Da-sein nun zugunsten des Seins in Heideggers Untersuchung zurücktritt und ein Inzwischen von Sein und Welt ein­ nimmt: Da-sein ist nicht das ›ontologisch‹ angemessen bestimmte Sein des Menschen, nichts, was vor-läge, dem man sich durch Forschung anmessen könnte, sondern das, was als ›Inzwischen‹ dem geschichtlichen Menschsein zu-gemessen werden muß. Nicht Anmessung an Dasein als Struktur, sondern Zu-messung das Da-sein als Ur-sprung durch Ein­ sprung.867

Wie genau die beiden nun relevanten Koordinaten des zeitlich konno­ tierten Seins, Freiheit und Geschichte, zunächst als Maßgabe diese Zumessung des Da-seins für Heidegger ausmachen, wollen wir hier anzeigen und zugleich jenseits von Heidegger mitdenken, wie sie in ihrer wechselseitigen Verwebung so etwas wie das Poröse überhaupt 866 867

Vgl. Michael Inwood, Heidegger, Freiburg: Herder 1997, S. 144. GA 82, S. 170.

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zu denken erlauben. Damit lassen wir nun deutlicher als zuvor den Einschnitt eines eigenen gedanklichen Motivs hervortreten.

a) Die Maßgabe der Freiheit Was heißt für Heidegger Maßgabe der Freiheit als Möglichkeit, Entwurf und Zukunft? Es bedeutet nichts anderes als ein Sichtbarwer­ den und Klarwerden über die Grenzen und Horizonte des eigenen Daseins aus der Gewahrwerdung der eigenen und somit eigentlich werdenden Zeitlichkeit. Heidegger hatte diesen Modus in Sein und Zeit die Entschlossenheit genannt, die nur durch die Umgrenzung des Daseins, d.h. durch seine Geworfenheit bzw. maßgebliche geschichtli­ che Einlassung in seine Lebenswelt zu einem sorgend maßnehmenden Entwurf taugt. »Die Entschlossenheit konstituiert die Treue der Exis­ tenz zum eigenen Selbst.«868 Diese Treue ist insofern eine Orientie­ rung bzw. Projektierung869 am Maßgeblichen durch die Als-Struktur der immer schon hermeneutisch agierenden und damit interpreta­ tiv maßnehmenden Sorge im Kontext und Konnex der gegebenen Bewandtniszusammenhänge von Bedeutsamkeiten. Diese konkreti­ sieren somit Poren, die die Offenheit der Welt und ihre Grenzen als ihre Unzugänglichkeiten und Verschließungen konstituieren. Die Entschlossenheit als Maßgabe der Freiheit ist für Heidegger jene Offenbarkeit des Daseins für die Welt, die sich wechselseitig aus den limitativen Schließungen ergibt. Anders als im »Man«, das tendenziell die Möglichkeiten einer vigilanten Haltung zur Offenbar­ keit paralysiert, gibt es hier kein Vermessen im hyperbolischen oder elliptischen Dahintreiben oder als ein Ausweichen vor der Wahl der Entscheidung. Auch ist das Blindsein vor den Möglichkeiten im Ereignis der Entschlossenheit aufgehoben, nämlich jener Schleier des Unvermögens, das Gewesene nicht wiederholen und transformieren zu können. In der Entschlossenheit sieht Heidegger eine Entwöhnung von der Üblichkeit des »Man«; jener bloß konservativ-konservierende Zug ohne Ziel, der vom reduzierten Verstehen der Vergangenheit aus der Gegenwart oder der Geschichte nur durch dogmatisch vorhandene und historisch vermittelte Kunde geprägt ist. Die Entschlossenheit ist, SuZ, S. 391. Vgl. Günter Figal, Martin Heidegger. Phänomenologie der Freiheit, Frankfurt am Main: Athenäum 1988, S. 211. 868

869

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im Gegensatz zum »Man«, also deswegen ein Aneignen von Freiheit, weil der Mensch augenblicklich für eine echte Entscheidung an, in und aus seinem geschichtlichen Ort frei wird. Dies ist ganz im Sinne der Goethischen Mahnung im West-Östlichen Divan, dass jener, der sich nicht Rechenschaft von der Genese dieses geschichtlichen Ortes gebe, »[…] im dunklen unerfahren […]« bleibe und nur »[…] von Tag zu Tage leben […]« möge im ständig wiederkehrenden Heute des Alltäglichen.870 Freiheit bedeutet dann also als Entscheidung in der Entschlossenheit wieder die Verwebung von Gewesenheit und Zukunft. Die Gegenwart ist folglich im porösen Augenblick des Daseins ernst zu nehmen; der bequeme Kategorienwald und das Schubladendenken des abgeschilderten Alltags können dann hinter sich gelassen werden. Aber wie ist die Möglichkeit der Entscheidung zu diesem Sein-lassen zugänglich und wo sind die Grenzen, ergo wo sind die Maßgaben dieser Freiheit? Hier ist auch für Heidegger der springende Punkt der, dass der Mensch als sorgend-messender nie alleine und umfassend für sich vermag, diese Freiheit zu ermessen. Das Dasein des Menschen ist unhintergehbar in seine Geschichte verflochten. Für seine Freiheit, muss er sich auf diese einlassen. Das sich Einlassen auf das Gewebe der Geschichte heißt aber die bedeutsame Bewandtnis für das Dasein zu interpretieren. Erst eine solche Interpretation dieses Gewebes ist das Movens, der Anker, der Weg und die Grenze zugleich, um frei neue Fäden spannen zu können, die im Rahmen der biographischgeschichtlichen Zeitlichkeit Möglichkeiten bieten, dieses Gewebe in Verwandlung zu versetzen. Die Maßgabe der Freiheit als Möglichkeit bedarf also des Ein­ schnittes der Maßgabe des Gewebes der Geschichte, die aber gleich­ wohl nicht ohne die Offenbarkeit des Daseins, d.h. nicht ohne dessen grundlegenden porösen Charakter qua umrandeter Lichtung, denkbar wäre. Freiheit braucht also nicht nur Maßgaben bezüglich der Öffnung und der Grenze, sondern diese selbst sind nur durch das Dasein, der Geschichte und der Maßgabe ihrer genuinen Verwebung zugleich möglich. Eine solche komplexe Verwobenheit vertritt Heidegger selbst noch nicht, dennoch ist es bezeichnend, dass der Bezugscharak­ ter auch schon bei Heidegger nicht mehr als ein linearer logischer

870 Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke, Hrsg. v. Ernst Beutler u. a., Bd. 3, West-Östlicher Divan, Zürich: Artemis 1948, S. 332.

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Bikonditional gedacht wird.871 Vielmehr muss dieses entscheidende Verhältnis zur Freiheit als interdependent und zugleich als interdiffe­ rent verstanden werden, ohne dass in dieser Komplexion irgendwo ein Vorrang zu lokalisieren wäre. Diese Freiheit wäre also vielmehr aus der Logik eines Büschels her zu denken, in der die formale Logik, in welcher der Bikonditional syntakisch artikuliert wird, bereits als ein homogenisierter, mithin abstrakter Sonderfall auftreten müsste.872 In Heideggers Denken deutet sich selbst schon ein solcher Wandel an, der mit einer jeden bisherigen linearen Logik der Freiheit bricht, der aber zugleich auch eine tendenzielle Abkehr vom neuzeitlich-moder­ nen Synthese- und System-Begriff impliziert.873 Zu Ende gedacht wäre diese Freiheit – so paradox und komplex es klingen mag – eine verwobene Freiheit. Es ist hier also die Frage aufzuwerfen, ob nicht die Verwebung selbst die Maßgabe wäre, die das Sein evoziert. Heidegger selbst hatte sich allerdings nicht zu einem solchen Grund­ wort durchringen können, weil ihm an seinem geschichtlichen Ort das Phänomen des Aufrisses als logisch-ontologische Differenz noch sehr prominent vor Augen stand. Dies zeigt er sowohl in Vom Wesen des Grundes und Was ist Metaphysik? In einem Aufriss von wechselseitiger temporaler Oszillation ergeben sich bereits die Möglichkeit und die Freiheit schlechthin. Die Verankerung an den Maßgaben von Geschichtlichkeit, Zeitlichkeit und an der biographischen Einlassung von Entwurf und Geworfen­ heit, lassen nämlich nicht nur ein sorgendes Messen an der Welt als Besinnung (óniς) zu, sondern auch noch die freie Möglichkeit, 871 In diesem Punkt trennen wir uns von Meier, der in seinem Heidegger-Buch ver­ sucht hatte, Heideggers Denken von der konventionellen Logik her als »synthetischen Bikonditional« zu interpretieren. Jakob Meier, Synthetisches Zeug. Technikphilosophie nach Martin Heidegger, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012, S. 484; vgl. ebd., S. 488. 872 Wegweisendes in dieser Richtung wurde in Hans-Jürgen Müllers Arbeiten zur Logik bezüglich einer Neuinterpretation des uή-Begriffs herausgearbeitet. Vgl. Hans-Jürgen Müller. Logik neu denken. Pragmatisch-philosophische Systematik des Vernetzens von Begriffen. Einführung in die Begriffslogik, Frankfurt am Main: Bran­ des & Apsel 2016, S. 259. 873 Dies zeichnet sich an Heideggers tendenzieller Abkehr vom Schellingschen Frei­ heitsbegriff und dessen Implikation eines Systems der Freiheit ab, in der dieser Begriff pejorativ als »bloße Anhäufung und Anstückung« von Heidegger als Deutungsmög­ lichkeit erwogen wird. GA 42, S. 45. Im Systembegriff sieht Heidegger ein wesentli­ ches Motiv der neuzeitlichen Wissenschaft, in der die »[…] mathematische Gewißheitsforderung als Maßstab für alles Wissen […]« vorausgesetzt sei. Ebd., S. 53.

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die Freiheit selbst im Vermessen am Man, der Alltäglichkeit und an der Besinnungslosigkeit der jeweiligen geschichtlichen Situation, preiszugeben.874 Sowohl im Falle des besinnlichen Messens als auch im Falle des besinnungslosen Vermessens gibt also die Geschichte der Freiheit so etwas wie Maß und Grenze. Doch wenn die Geschichte, als Einflechtung von Maß und Grenze, die Freiheit erst ermöglicht, wie ist diese Maßgabe der Geschichte für die Zeitlichkeit des Daseins dann selbst zu denken?

b) Die Maßgabe der Geschichte Für Heidegger gelten demnach die Freiheit als auch die Geschichte als Maßgabe – und zwar in reziproker Hinsicht. Insbesondere die Geschichte ist für ihn an den sich allmählich aufschlüsselnden Umgang mit dem Seienden gehalten; zugleich eröffnet sie die Freiheit zu einem anderen möglichen Maß: »Die anfängliche Entbergung des Seienden im Ganzen [ύiς], die Frage nach dem Seienden als solchen und der Beginn der abendländischen Geschichte sind dasselbe und gleichzeitig in einer ›Zeit‹, die selbst unmeßbar erst das Offene, d.h. die Offenheit, für jegliches Maß eröffnet.«875 Die Frage nach dem Seienden, die okzidentale Geschichte sowie die Zeit, die als Offenheit jene besagte Freiheit ermöglicht, sind selbst also noch einmal interdependent ineinander verwoben. Sie stehen in einem »Zuspiel«, wie Heidegger selbst sagen wird. Auf diese Initialisierung dieses Zuspieldenkens zwischen Maßnehmen und Maßgabe, zwischen Freiheit und Geschichte, ist unbedingt der Finger zu legen, wenn Heideggers tatsächlicher Leitfaden von Maß und Sein bis ins Spät­ werk zumindest im Groben verstanden werden soll.876 Heben wir nun den geschichtlichen Horizont als Ermöglichung der Freiheit heraus, Vgl. Kapitel II.5c.γ; II.6. GA 9, S. 190. 876 In den Beiträgen stellt Heidegger später den übergänglichen Charakter der Freiheit der Entscheidung im Begriff des »Zuspiels« der Geschichte sehr präzise heraus: »Zuspiel ist geschichtlichen Wesens und ein erstes Brückenschlagen des Übergangs, eine Brücke aber, die ausschwingt in ein erst zu entscheidendes Ufer. Das Zuspiel der Geschichte des erstanfänglichen Denkens ist aber keine historische Bei- und Vorgabe zu einem ›neuen‹ ›System‹, sondern in sich die wesentliche, Verwandlung anstoßende Vorbereitung des anderen Anfangs.« GA 65, S. 169. Maßgebend, wenn auch noch nicht explizit artikuliert, ist für Heidegger schon ab Sein und Zeit dieser andere Anfang. Was heißt hier anderer Anfang? Er meint die überbrückende Maßgabe der 874

875

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dann geraten wir unweigerlich zur werkimmanenten Frage: Welche Voraussetzungen hat die Maßgabe der Geschichte hinsichtlich der Maßgabe der Freiheit seit Sein und Zeit? Diese Voraussetzungen sind unweigerlich mit Heideggers Auseinandersetzung mit Graf Yorck und Dilthey verquickt. So habe schon Diltheys Geisteswissenschaft eine »[…] themati­ sche existenziale Interpretation der Geschichtlichkeit des Daseins zur Voraussetzung.«877 Wir können auf der Grundlage unserer bisherigen Untersuchung auch zur folgenden Interpretation kommen: Es handelt sich um eine deutende Ermessung der Maßgabe der Geschichtlichkeit des sorgend-messenden Daseins. Diese Deutung von Heideggers Dilthey-Lektüre wird uns helfen zu verstehen, warum Heidegger gleichwohl eine rückhaltlose Ablehnung der bipolaren Kategorien von Geistes- und Naturwissenschaften in Diltheys Denken fordert. Diese Kategorien weisen ihm nämlich erneut ins Homogene, mithin in quantitative Maßstäbe zurück, die Diltheys und Yorcks gerade entdeckte Interpretation der Geschichte ein weiteres Mal blitzschnell in die kalkulierenden Motive der Antizipation des Historismus zurückdrängen würden. Heidegger interessiert sich stattdessen für das existenzial-interpretatorische Motiv von Diltheys und Yorcks Geschichtsbegriff, weil, aus Heideggers Sicht, in dieser Auffassung der Geschichte der Aufbruch dessen liegt, was er später einen anderen Anfang nennen wird, so wie wir ihn oben charakterisiert haben; nämlich als Unermeßlichkeit der Geschichte zwischen freiem, sorgen­ dem Maßnehmen und geschichtlicher Maßgabe. Seit 1919 wünscht Heidegger die Reformation der Universität in Hinsicht dieses Auf­ bruchs, der für ihn, nun deutlicher als noch acht Jahre zuvor, ein Fragen nach einem anderen Maß des Seins impliziert, das sich durch das bloße Messen des Seienden, d.h. der objektivierten Ding- und Lebenswelt qua Homogenisierung und Quantifizierung, nicht mehr eigentlichen Geschichte im Unterschied zur errechneten Historie des Bisherigen in eine mögliche andere Zukunft, als sie vorher rechnerisch antizipiert wurde. Die eigentliche Geschichte ist insofern Maßgabe, als sie »[…] der andere Anfang uner­ meßlicher Möglichkeiten unserer Geschichte […]« ist. Vgl. ebd., S. 411. Die Uner­ meßlichkeit ist dabei eben jenes Zuspiel der Maßgaben von Freiheit und Geschichte. Diese irreduzible Verwebung ist zentral für das gesamte Verständnis des späteren Heideggers, wenn er gegen das Rechnen, die Machenschaft und gegen die Instru­ mentalisierung von Technik andenkt. Das Movens dieses Andenkens hat seine Wur­ zeln in dieser wesentlichen Einsicht in das verwobene Zuspiel von Freiheit und Geschichte seit Sein und Zeit. 877 GA 2, S. 397.

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ergreifen und einfangen lässt. Doch warum in dieser Hinsicht die Maßgeblichkeit der Geschichte als Voraussetzung im Verhältnis zur Maßgabe der Freiheit zentral ist, wollen wir hier für ein weiteres Nachdenken herausheben. In Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leib­ niz zeigt Heidegger noch einmal erneut auf die Maßgabe der Zeit in der Metaphysik und in der traditionellen Logik als geschichtliche Orte für die Genese eines Denkens der »Regelung der Einstimmig­ keit« als »Übereinstimmung«, »Wahrheit qua Gültigkeit« im Sinne einer reflektierbaren Identität von Vorstellung (representatio) und Gegenstand (presentatio), nό und ᾶ.878 Ihre grundlegende Konfiguration ist für Heidegger seit seiner Habilitation, wie bereits in Kapitel I herausgearbeitet, auch hier als »[…] ὁίwiς, adaequatio bestimmt, d.h. als Angleichung an..., Messung an…«879 Heideggers Gegenentwurf, der diese Konfiguration der Maßgabe der Geschichte einer in sich geschlossenen Metaphysik der Angleichung gleichsam absorbiert und transformiert, ist nun hier als Maßgabe der Zeitlichkeit des Seins des Daseins, nämlich als Gewebe der Bewandtnis- und Bedeutungskomplexion der Geschichte selbst zu denken, wie es schon in Sein und Zeit entfaltet wurde. Heideggers Argument lautet von der Sache her also so: Die Geschichte selbst, in der die Metaphysik nur eine zur Tatsächlichkeit gewordene Möglichkeit ist, ist ursprünglich die offene Maßgabe, weil sie schlechterdings durch die offene Dimension der Zeit und Zeitlich­ keit des Daseins kommandiert und inhäriert wird. Die Geschichte ist so qua offener Maßgabe erst die Voraussetzung der geschlossenen metaphysischen Maßgabe der Geisteswissenschaften auf der einen und der Naturwissenschaften auf der anderen Seite.880 Denn die zeitlich fundierte Geschichtlichkeit des Daseins konstituiert erst einen Horizont, der Geisteswissenschaft oder Naturwissenschaft zulassen kann – oder der Möglichkeit nach eben auch nicht –, insofern sie qua Bewandtnis und Bedeutsamkeit dem Dasein überhaupt die Fähigkeit zur Hermeneutik, d.h. zur Deutung als eine Weise des sorgenden

878 GA 26, S. 154. Vgl. dazu Heideggers Bemerkungen zur adaequatio als anglei­ chendes Anmessen zwecks der Übereinstimmung in Vom Wesen der Wahrheit (GA 9, S. 177ff.). 879 GA 26, S. 154. 880 Vgl. GA 2, S. 397.

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Messens qua Als-Struktur zumisst.881 Aus diesem Horizont des Möglichkeitsfeldes der Geschichte erwägt Heidegger nämlich eine Neubesinnung der Universität, in der sich die Studenten über die Kon­ tingenz und radikale Hinterfragbarkeit der bisherigen Geschichte der Wissenschaft und des bisherigen metaphysisch geprägten Denkens klar werden sollen. Darüber hinaus sollen sie die Ursprünglichkeit dieser möglichen Mehrdeutigkeit von Geschichte und ihrer Möglich­ keit als Freiheit oder, temporal gesprochen, Gewesenheit und Zukunft als Frage aufwerfen können. D.h. es geht um eine Universität, deren Grunddisziplin die Interpretation der Maßgabe einer ursprünglichen und damit wissenschaftskonstitutiven Wahrheits- und Geschichtlich­ keitsbefragung des Seins des Daseins sein soll. In Sein und Zeit werden Dilthey und Yorck nicht von ungefähr in positiver Hinsicht als Gewährsmänner für eine solche Reformation der Interpretation der Maßgabe der Geschichtlichkeit angeführt. Mit einer solchen Maßgabe der Geschichtlichkeit qua Zeitlichkeit werden schon für Yorck und dann für Heidegger die Trennung zwischen systemati­ scher und geschichtlicher-historischer Philosophie obsolet, da sich beide aufgrund des konstitutiven Charakters der Geschichtlichkeit nie voneinander trennen lassen.882 Heidegger zitiert daher Yorck in Sein und Zeit anlässlich der formalistischen, nicht ursprünglichen Trennung und dem damit einhergehenden Abschildern von Verhalten und Tatsachen der von Heidegger als Historismus interpretierten schematisierenden Arbeit an Geschichte, die er als »Registraturen über Registraturen« charakterisiert.883 Stattdessen seien diese schematisierenden historistischen Her­ angehensweisen sowie die künstliche Trennung von Geistes- und Naturwissenschaften von der faktischen und konkreten Seinsver­ fassung der Geschichtlichkeit zurückzunehmen. Warum? Weil für Vgl. Kapitel III.2. Vgl. GA 2, S. 402. Es ist bedenklich, dass diese Einsicht in der heutigen Univer­ sitätsphilosophie bisher kaum zur Debatte steht – und zwar aus vorgeschobenen Gründen vermeintlicher Exaktheit durch diskrete Abgrenzungen. Dass systematische und geschichtliche Ansätze aufgrund ihrer irreduziblen Verwobenheit selten trenn­ scharf voneinander abgehoben werden können, sieht Heidegger klarer als die heutige analytisch geprägte Schulphilosophie, die sich mehr denn je dem künstlichen Ideal einer technisch-funktionalen Baukastenphilosophie hingibt und somit in diesem ver­ meintlich modernen Gewand den abstrakten Kategoriengebäuden der mittelalterli­ chen Scholastik immer näher rückt, statt die volle Komplexität zwischen einem Den­ ken und dessen geschichtlichen Ort konkret ins Auge zu fassen. 883 GA 2, S. 402. 881

882

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Heidegger schon in der Endredaktion von Sein und Zeit die frühen Züge einer gewandelten Maßgabe gelten: »Geschichtlichkeit als Seinsverfassung der Existenz ist […] im Grunde Zeitlichkeit.«884 Wie die Maßgeblichkeit der Geschichtlichkeit »im Grunde Zeitlich­ keit« ist, wird in Sein und Zeit in Paragraph 72 von Heidegger im Detail erläutert. Die einhergehenden Implikationen beachteten wir in Kapi­ tel IV.885 Wir konzentrieren uns nun auf die relevante Konfiguration dieser primordialen Struktur, die aus Heideggers Sicht Freiheit und Geschichte zueinanderhält und die auch endgültig seine sogenannte Kehre evoziert. Sie zeichnet sich als das Verhältnis von Sein und Nichts zueinander aus.

c) Sein und Nichts als Zumessung In den vorangegangenen Überlegungen haben wir behauptet, Freiheit und Geschichte seien im Grunde ineinander verwoben. Heidegger selbst denkt noch, der Bindung stiftende Aufriss, der Freiheit und Geschichte zueinander hält, müsse von Extremen seine Maße emp­ fangen. Diese heißen für ihn Sein und Nichts. Dieses hamletsche Motiv der existenzialen Weise des Menschen zu sein, lässt Heidegger noch selbst quasi-metaphysisch zwischen diesen beiden Polen den­ ken, wobei er sich tendenziell eher für das Movens eines abgründigen Verhältnisses entscheidet. Es ist für unsere Fragestellung bedeutsam, wie er diese Pole zur Maßgabe, als Zumessung von Freiheit und Geschichte, konfiguriert sieht. In Was ist Metaphysik? hebt Heidegger nicht nur das Nichts vom Sein des Seienden ab, sondern auch noch von der Negation, die er ursprünglich als logische Geste der Metaphysik vom Nichts abhängig sieht: »Wir behaupten: das Nichts ist ursprünglicher als das Nicht und die Verneinung.«886 Die eigentliche Zumessung als die Differenz zwischen dem ursprünglichen Sein und dem ursprünglichen Nichts nannte Heidegger den Einsprung.887 Der Einsprung zwischen Sein und Nichts ist für ihn nun das eigentliche Da-sein, das tiefgründiger situiert ist, als das noch transzendental konstellierte Dasein aus Sein und Zeit. 884 885 886 887

Ebd., S. 404. Vgl. Kapitel IV.1a. GA 9, S. 108. Vgl. Kapitel V.1 in dieser Untersuchung.

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Was enthüllt für Heidegger das Sein des Daseins als den Ein­ sprung zwischen Sein und Nichts? Erneut ist es die Angst bzw. die tiefe Langeweile, der es um Nichts unruhig wird. Beide Grundstimmungen machen das Nichts sichtbar.888 »Die Angst offenbart das Nichts. […] wir ›schweben‹ in Angst.«889 Aus Heideggers Sicht kommt in diesem Einsprung das Nichts zum Sein. Es zeigt sich auch ein eigentümliches Versagen von Programm und Grammatik durch das Ausbleiben des Wortes. Die Angst verschlägt das Wort, im Schweigen, im Ausbleiben des ›Ist‹ kommt das Da-sein als Zumessung des Einsprungs zu sich. »Nur das reine Da-sein in der Durchschütterung dieses Schwebens darin es sich an nichts halten kann, ist noch da.«890 Was passiert in der Angst? Die Lebenswelt, die Lebewesen und Dinge, das Sein des Seienden werden irrelevant. Das Seiende im Ganzen bzw. die ύiς, die das Da-sein zuvor durch die Endlichkeit in Freiheit und in Bindung gehalten hat, wird »hinfällig«.891 Der Verweisungszusammenhang, d.h. das Gewebe der Welt des Seienden, wird abgewiesen, es entgleitet. »Diese im Ganzen abgewiesene Verweisung auf das entgleitende Seiende im Ganzen, als welche das Nichts in der Angst das Dasein umdrängt, ist das Wesen des Nichts: Die Nichtung.«892 Es gibt also keine Vernichtung oder Verneinung bei Heidegger, wie wir sie als Negation aus Hegels Wissenschaft der Logik her kennen, die bei jenem Denker noch dialektisch gedacht war.893 Vielmehr gilt: »Das Nichts selbst nichtet.«894 Dieses transitive Hineinhalten in das Nichts sorgt nicht für ein irgendwie gegenpoliges Sein, sondern bringt es vielmehr kontingent bzw. kontrastiv hervor. Dabei ist das Nichts wie eine offene Lücke bei Heidegger zu denken; es ist zugleich die Pore für das Sein des Vgl. GA 9, S. 111. Ebd., S. 112. 890 Ebd. 891 Vgl. ebd., S. 113. 892 Ebd., S. 114. 893 Hegel versteht das Sein der Entität dort als Realität im Sinne von Positivität und denkt die Negation, ganz im Unterschied zu Heidegger, mit dieser positiven Realität zusammen: »Die Negation steht unmittelbar der Realität gegenüber: weiterhin in der eigentlichen Sphäre der reflektierenden Bestimmungen, wird sie dem Positiven ent­ gegengesetzt, welches die auf die Negation reflektierende Realität ist, – die Realität, an der das Negative scheint, das in der Realität als solcher noch versteckt ist.« G.W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik I, in Werke, Bd. 5, hrsg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, S. 122. 894 GA 9, S. 114. 888

889

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Daseins. Damit ist das Sein des Daseins durch diese Zumessung über sich hinaus. »Dieses Hinaussein über das Seiende nennen wir Transzendenz.«895 Dieses kontrastive Moment, das als Pore zum Dasein als Sein und Nichts dasselbe ist, stiftet erst als Öffnung und als Offenbarkeit das geschichtliche Selbstsein und die Freiheit. »Ohne ursprüngliche Offenbarkeit des Nichts kein Selbstsein und keine Frei­ heit.«896 Diese aufklaffende Pore, die sowohl das Sein offenbar macht und zugleich auch eine Lücke, einen Riss, d.h. ein Nichts gibt und damit als Ur-Sprung verstanden werden kann, bringt den Menschen aus Heideggers Sicht ins Fragen und somit in die Metaphysik – und zwar immer schon. So kann Heidegger bezüglich des metaphysischen Fragens sagen: »Die Metaphysik ist das Grundgeschehen im Dasein.«897 Der Frage­ charakter stößt sich an dieser Zumessung und kann durch kein sor­ gendes Anmessen der modernen Wissenschaft ausgemessen werden, die von Haus aus den Einsprung von Sein und Nichts immer nur durch die Brille der kategorialen Entität betrachten kann, um ihn so nur ins Seiende hineinzudeuten. Folglich muss sich aus Heideggers Sicht die moderne Wissenschaft weiter an dieser Zumessung vermessen. »Daher erreicht keine Strenge der Wissenschaft den Ernst der Metaphysik. Die Philosophie kann nie am Maßstab der Idee der Wissenschaft gemessen werden.«898 In Konsequenz sieht Heidegger die Frage »Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?« als mögliche Anmessung an den Grund, der den oben aufgewiesenen Porencharakter des Da-seins enthüllt. Die Frage aus dem ursprüngli­ chen Grund heraus verweist nämlich auf die Zumessung der Lücke ‑ der Pore und damit des Einsprungs. Sie zeigt, wie überhaupt die Welt als Seiendes im Ganzen die Grenze (d.h. die Endlichkeit) und das Maß (d.h. die nicht quantitativ, sondern transitiv zu denkende Bewandtnisganzheit) die Welt konfiguriert. »Dieses Wie bestimmt das Seiende im Ganzen. Es ist im Grunde die Möglichkeit eines jedem Wie überhaupt als Grenze und Maß.«899 Doch dies vergisst der Mensch zumal. Er bleibt bei seinem übergriffigen Herrschaftsan­ spruch des gedankenlosen Machens, dem »Gemächte«, wie Heidegger es nennt. Dies ist nämlich das auf Zugriff ausgerichtete insistierende 895 896 897 898 899

Ebd., S. 115. Ebd. Ebd., S. 122. Ebd. Ebd., S. 143.

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Anmessen des Menschen. Wie steht es aber mit diesem krampfhaften Anmessen des Zugriffs? Auf diesem beharrt er und versieht sich stets mit neuen Maßen, ohne noch den Grund der Maß-nahme selbst und das Wesen der Maßgabe zu bedenken. Trotz des Fortganges zu neuen Maßen und Zielen versieht sich der Mensch in der Wesens-Echtheit seiner Maße. Er vermißt sich, je ausschließlicher er sich selbst als das Subjekt für alles Seiende zum Maß nimmt. Die vermessene Vergessenheit des Menschentums beharrt auf der Sicherung seiner selbst durch das ihm jeweils zugängige Gangbare.900

Damit wendet sich Heidegger nun auch vom alltäglichen Besorgen als anmessende Sorge ab, insofern es nicht nur den täglichen Besorgun­ gen nachgeht, sondern dessen Handeln zum Mach- und Machtwerk aufschwingt. Statt auf das sorgende Anmessen zu achten, geht es Heidegger nun darum, auf die Maßgabe der Zeit und die Zumessung der ontologischen Differenz zwischen Sein und Nichts zu achten. Im Ausgang von dieser Ambiguität von Sein und Nichts in der Zumes­ sung des Einsprungs des Da-seins, wird das vorher transzendentale Denken des Seins des Daseins nun vollends gedreht. Es kann daher nicht nur von einer Kehre des Seins, sondern auch von einer Kehre des Maßes bei Heidegger gesprochen werden. Nicht nur die Zeit ist »maßgeblich«, sondern gleichursprünglich auch ihr Aufriss zwischen dem Sein des Seienden im Ganzen und dem Nichts, der als Zumes­ sung parallel zur Maßgabe der Zeit von Heidegger gedacht wird. Beide Motive bringt Heidegger in den Grundbegriffen der Metaphysik erneut als die Dimension des Seins zusammen.

d) Der Aufriss als vierfache Dimension Heidegger spricht in den Grundbegriffen der Metaphysik Zeitlichkeit und Aufriss, Maßgabe und Zumessung gleichsam an. Dabei integriert er beide Denkkonfigurationen in die Verhältnisstellung des Menschen in der Zeit. Diese Konstellation nennt er die tiefe Langeweile.901 Dort heißt es: »Die Langeweile entspringt aus der Zeitlichkeit des 900 901

Ebd., S. 195–196. Vgl. GA 29/30, § 30, S. 203.

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1. Freiheit und Geschichte als maßgebliche Leitfäden für die Kehre

Daseins.«902 Nun ist es Heidegger wichtig, »[…] sie selbst in ihrer Tiefe auszumessen.«903 Diese ermißt er zunächst in der Weite des Leerlassens und im zuspitzenden Hinhalten des Daseins. Wir über­ setzen: in der Kontingenz von Nichts und Sein.904 Beide Seiten der Tiefe der Langeweile führt Heidegger nun in den »[…] einendreifachen Horizont der Zeit […]« zusammen, den er im weiteren Verlauf – und wie schon im letzten Kapitel gesehen – die Dimension nennen wird.905 Dieses Ausmaß der Zeit »[…] verteilt sich in die Gegenwart, Gewesenheit und Zukunft. Diese drei Sichten sind kein Nebeneinander, sondern ursprünglich einig und einfach im Horizont der Zeit. Dieser ist ursprünglich der eine und einheitliche Allhorizont der Zeit.«906 Dieser Allhorizont ist hier nicht nur als vierte Dimension, sondern auch als ein Gewebe zu denken, dessen Gespinst die Einheit seiner selbst ausmacht. Er bestimmt die ύiς und gibt ihr das Maß. Dies wird Heidegger wenig später, nämlich 1932, in seiner Vorlesung zu Anaximander und Parmenides selbst ganz deutlich so aussprechen. Den Allhorizont der Zeit deutet Heidegger dort als das Wort des Anaximander: „ὰ ὴn ῦ όnu άin, ›nach der Maßgabe der Zeit‹.«907 Und zwar gibt die Zeit als Allhorizont das

Ebd., § 26, S. 191. Ebd., § 29, S. 202. 904 Vgl. ebd., § 31, S. 217. 905 Vgl. ebd., § 32a, S. 218. 906 Ebd. 907 GA 35, S. 16. Es ist bezeichnend, dass Heidegger in seinem späteren Text Der Spruch des Anaximander den letzten Teil des Satzes nicht länger für echt hält und sich dabei dem Platon-Forscher John Burnet aus Oxford anschließt, der allerdings nur den ersten Teil des Satzes für unecht erachtet. »Wer sich dazu versteht, das von Burnet angezweifelte Textstück zu streichen, kann auch das gewöhnlich angenommene Schlußstück nicht halten.« GA 5, S. 341. Heidegger ist hier meines Erachtens sehr voreilig, da der Spruch des Anaximander durch die Streichung der letzten Verse seine eigentliche Bedeutung verliert. Denn der Teil des Spruches: „ὰ ὴn ῦ όnu άin“ enthält Worte, die von der Sache genauso gut dem Anaximander, von dem wir nichts anderes haben, als auch Heraklit oder Platon und Aristoteles zuzuschreiben wären. Sie tragen bedeutungsmäßig den ersten Teil des Satzes. Es bleibt also pure Spekulation, ob der Teil des Spruches nicht doch von einem anderen Philosophen stammen könnte. Daher ist meines Erachtens die erste Deutung des Spruchs des Ana­ ximander durch Heidegger, in der er den Satz nicht streicht, die vorsichtigere und treffendere Interpretation. Dass Heidegger ihn streicht, nivelliert auch seine Inter­ pretation des ὰ ὐὰ ίn, da nun der zeitliche, d.h. transitive Charakter des »Fugs« als Übersetzung kaum mehr haltbar bleibt, an dem Heidegger doch so viel liegt (vgl. GA 5, S. 372). Daher scheint die Interpretation Heideggers von 1932 die glaubwür­ 902

903

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V. Zumessung und Vermessung am Mittelmäßigen als Gang in die Irre

Maß, insofern in ihm ein Vernehmen der Phänomene von Welt, d.h. ein Erscheinen des Seienden, möglich ist.908 Heidegger sieht dies im Wechselspiel von Auftauchen und Verschwinden. »Erscheinen aber in diesem ganz weiten Sinne ist der Charakter, der dem Seienden als Seienden von Anaximander zugesprochen wird; er kennzeichnet dessen Sein.«909 Dies ist der Fall, »[…] sofern gerade durch die Zeit das Erscheinen und Verschwinden geschieht.«910 Die Zeit ist somit erst der Ermöglichungsgrund des Seins selbst, indem sie das Sein durch ihre vierfache Dimension gibt: Die Zeit steht im Bezug zu allem Seienden und zwar zu dessen Sein, ihr Amt und Wesen ist es, das Seiende erscheinen und verschwinden zu lassen. (Vgl. Zusammenhang zwischen Zeit und Sonne, Licht und Dunkel.) Sie mißt jeweils dem Seienden sein Sein, Erscheinen und Schwinden zu. Diese Zeit stellt vor (Gegenwart) und nimmt zurück (Vergangenheit), behält zurück (Zukunft); vgl. dagegen die Entleerung und Entmächtigung des Wesens der Zeit zu einer Rechenform der Abzählbarkeit. Die Zeit – hier das Sein Zumessende, die Zeit gibt jeweils die ›Taxe‹ […] – die Zeit ist das Anweisende überhaupt. άiς das Sein, das ein Seiendes hat. Die Zeit: die Maß-gabe des Seins; daher unsere Übersetzung: ›nach der Maßgabe der Zeit‹.911

Damit ist ein weiteres Mal der Nachweis erbracht: Heidegger denkt die Zeit tatsächlich als Maßgabe des Seins, nämlich so, dass sie sich als solche gegen jede Zählbarkeit verwehrt, denn sie ist für Heidegger »[…] ἀnίς, d.h. dem ganzen Zusammenhang noch nicht ein­ fach nur: nicht abzählbar, als sollte gesagt werden, man komme beim Zählen und Messen an kein Ende. Um Zählen und Messen handelt es sich überhaupt nicht, sondern gemeint ist: die Zeit ist unberechenbar. Ihr Gegenüber als dem, was eben das Seiende bringt und nimmt, versagt in dieser Hinsicht jedes menschliche Rechnen und Planen.«912 Dennoch weist die unberechenbare Maßgabe des Seins als die vierfache Dimension der Zeit auf das Seiende als den »Allhorizont« hinaus. Dieser »Allhorizont« ist das »Ganze« des Seienden in seinem

digere zu sein und sie ist folglich diejenige, an die wir uns deswegen auch halten wer­ den. 908 Vgl. GA 35, ebd. 909 Ebd., S. 19. 910 Ebd. 911 GA 35, S. 20. 912 GA 35, S. 21.

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1. Freiheit und Geschichte als maßgebliche Leitfäden für die Kehre

Was und Wie; seine Erstreckung gibt »[…] die Offenbarkeit des Seienden im Ganzen […].«913 Der Allhorizont bringt erst das Seiende im Ganzen zur Erscheinung. Die Zeit als Maßgabe des Seins lässt das Sein des Seienden im Ganzen, d.h. ύiς sehen. In der ParmenidesVorlesung wird Heidegger selbst die ύiς in seiner Umfassung des Seienden im Ganzen auch das Weben nennen: »[…] ύiς Wachstum – das Gewachsene und Wachsende – ›Natur‹. […] Das griechische ύiς bedeutet nun in der Frühzeit der griechischen Philosophie weder das eine noch das andere, sondern ganz allgemein das Weben und Walten des Seienden – dessen Sein.«914 Dieses Weben ist nach obigen Ausführungen wiederum nur durch die Zeit als Maßgabe des Seins als dieses Weben möglich.915 In diesem Einklang mit der ύiς und der Maßgabe des Seins ist nun der Allhorizont der Zeit von Heidegger gedacht. Wir sahen es schon im Kapitel zu Sein und Zeit – es handelt sich um ein Weiter­ denken der vier Zeitdimensionen, die nun zwischen Sein und Nichts eingefaltet werden.916 Jene situierten wir auch dort schon als »Maß« und »Umgrenzung«. Dies wiederholt Heidegger nun im Bedenken des Erscheinens und Verschwindens. So sind die vier Zeitdimensionen das »[…] Umgrenzende (ίin) […]« schlechthin.917 Nun kommt noch hinzu, dass die Zeit qua ύiς die Maßgabe des Seins in diesem Wechsel von Erscheinen und Verschwinden, d.h. der Offenbarkeit und der Verbergung, ist. In dieser Konfiguration der wechselseitigen Immersion ist einmal grundlegend gesichtet, wie Heidegger das Sein denkt. In ihr, so Heidegger, liegt nun auch die Freiheit als »Sichbefreien des Daseins«, indem es sich zu sich selbst entschließt.918 Erneut ist dieses wieder eine Variante zur Entscheidung zur Eigentlichkeit als Entschließen, indem das Dasein sich vom Verschluss und vom Zugeschlossenen entbindet. Dies ist der Augenblick, dessen Moment Heidegger schon in dieser Hinsicht entwickelt hatte, wie wir im vergangenen Kapitel schon gesehen haben.919 Anders ist nun, dass GA 29/30, S. 219. GA 35, S. 19. 915 Es wird allerdings vielleicht noch eines Tages fraglich werden, ob Heideggers Vorrang der Zeit vor dem Gewebe zu halten ist. 916 Vgl. Kapitel V.1c dieser Arbeit. 917 Vgl. GA 29/30, § 32a, S. 220. 918 Ebd., S. 223. 919 Vgl. Kapitel II.5c.α; vgl. Kapitel IV.3c dieser Arbeit; vgl. GA 29/30, § 32a, S. 218. 913

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V. Zumessung und Vermessung am Mittelmäßigen als Gang in die Irre

dieser Augenblick als Vertikalspannung in der Horizontalen gedacht ist, nämlich als Aufriss zwischen Sein und Nichts, als Zumessung zur Maßgabe des Seins in den drei Zeitdimensionen Gewesenheit, Gegenwart und Zukunft, die der Augenblick als vierte Dimension gewissermaßen einfasst und umgrenzt – und zwar als offene Mög­ lichkeit zwischen Offenbarkeit und Verbergung, Erscheinen und Verschwinden: »Die Möglichkeit der Offenbarkeit des Seienden im Ganzen liegt darin, daß der Zeithorizont selbst nach allen seinen Dimensionen sich öffnet.«920 In dieser Dimension zeigt sich das Dasein selbst als offen für eine Entscheidung. Es ist die Dimension der Entscheidbarkeit selbst, d.h. die Freiheit des Menschen als Wesen seines Daseins. »Die Dimension der Entscheidbarkeit dieser Fragen, ob sie wesentlich sind oder nicht, liegt im Philosophieren selbst.«921 Dieses nämlich, das Denken als Philosophieren, ist und bleibt für Heidegger schließlich die größte Freiheit – und so ist sein Denken ein wichtiges Plädoyer für die Freiheit des Denkens selbst. Das Denken selbst ist so gesehen nämlich das Maß und die Grenze des eigentlichen, befreiten Daseins, das nun nicht mehr zu ermessen ist, sondern durch die Maßgabe der Zeitlichkeit und der Zumessung von Sein und Nichts als Konfiguration einer vierfachen Dimension dem Dasein gestiftet ist. Der Augenblick ist der Spielraum und zugleich »[…] die innerste Notwendigkeit der Freiheit des Daseins.«922 In dieser Dimension steht die Auslegungsfähigkeit als genuine Kapazität des Menschen. Im dritten Kapitel dieser Arbeit haben wir diese schon in ihrer formalen Grundfigur kennengelernt: die Als-Struktur.923 War die Als-Struktur für Heidegger die formale Anzeige des Deutens und Sorgens als Messen, so ist sie ihm nun qua Maßgabe der Zeit (Langeweile) und der Zumessung des Aufrisses von Sein und Nichts (Tiefe) in die Dimension als solche aufgegangen. »Daher gilt es positiv nach der Dimension zu fragen, in der sich dieses ›als‹ ursprüng­ lich bewegt, in der es entspringt.«924 Diese Dimension beschreibt eine formale Kreuzung zwischen der Horizontalen (die drei Zeitmomente im Augenblick) und der Vertikalen bzw. Orthogonalen (Aufriss der drei Zeitdimensionen zwischen Sein und Nichts im Augenblick), die 920 921 922 923 924

Ebd., § 32a, S. 225–226. Ebd., § 34, S. 231. GA 29/30, § 38, S. 247. Vgl. Kapitel III.2 dieser Arbeit. GA 29/30, S. § 71, S. 435.

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2. Platonische Träume, das Rektorat und die »Schwarzen Hefte«

an das Seiende im Ganzen angrenzt, das als ύiς in diese formale Kreuzung hineinragt und diese durchdringt.925 Der Spielraum dieser Konstellation ist die im »Als« zur Sprache kommende Dimension des Möglichen selbst in ihrer Verwobenheit mit dem Seienden im Ganzen, d.h. der ύiς, die Heidegger im Anschluss an seine Interpretation das aufgehende, d.h. erscheinende, Wachsen, Weben und Walten nennt, dem sich jede Freiheit eines Entwurfs aussetzen muss.926 Heidegger sagt es hier auch noch einmal selbst. Die Dimension »[…] enthüllt sich jetzt einheitlich ursprünglich verwoben in die Einheit der Urstruktur des Entwurfs. […] Im Entwurf waltet die Welt.«927 So ist der Entwurf aus Sein und Zeit in die Reziprozität des Spielraums der Dimension verschlungen und somit vertieft. Diese Dimension des Messens, der Maßgabe und Zumessung, macht für Heidegger den Weg des weiteren Denkens aus, der sich zunächst als Kehre des Seins manifestiert und zwangsläufig als Frage nach der Wahrheit des Seins auch die invertierte Seite, das »Vermessen«, für Heidegger im Denken als auch in seiner Biographie sichtbar und spürbar werden lässt. In der Frage nach dem Wesen der Wahrheit, in der anschließenden Auseinandersetzung mit Platon und dem Rekto­ rat zu Beginn der dreißiger Jahre sowie in den »Schwarzen Heften«, kommt dieses Vermessen zum Ausdruck. Diesen Problembezirk in den komplexen Maschen des Heideggerschen Denkens wollen wir nun weiter entfädeln.

2. Platonische Träume, das Rektorat und die »Schwarzen Hefte« – »Vermessung« und Einsicht Nach der oben herausgestellten Kehre vom Maßnehmen zur Maßgabe im Aufriss der Zumessung, führt Heideggers Platon-Deutung noch tiefer in das Verhältnis von Maß und Sein. Wird das Sein in der menschlichen Zeitlichkeit als Freiheit und Geschichte maßgebend, so auch die Frage nach der Wahrheit und ihre Maßgabe für den 925 Es ist kein Zufall, dass Heidegger später diese formale Kreuzung im Vortrag Das Ding »Geviert« nennt. Vgl. GA 79, S. 12, In Zur Seinsfrage wird das Sein in vierfacher Durchstreichung bezeichnet. Vgl. GA 9, S. 385. Heidegger fasst hier diese Kreuzung von Vertikalität und Horizontalität auch als Maß und Umgrenzung des Seienden im Ganzen, d.h. die konkrete ύiς wird in diese Umgrenzung einbezogen. 926 Vgl. GA 35, S. 19. 927 GA 29/30, § 76, S. 530.

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V. Zumessung und Vermessung am Mittelmäßigen als Gang in die Irre

Menschen in diesem Spannungsfeld. Aus diesem Grund schaut Heidegger sich in den 1930er Jahren Platon an und im Verlauf dieser Interpretationen kommt es zu den Abwegen, die Heidegger unter anderem dazu führen, sich im Zuge seiner Rektoratsübernahme mit dem Nationalsozialismus zu verstricken. Der Problembezirk, der sich hier auftut, ist zu komplex und zu prekär, als dass wir ihn allein mit unserem Sichtwinkel auf das Verhältnis von Maß und Sein voll ausleuchten könnten. Wir werden daher nur versuchen, einen spezifischen, aber vielleicht nicht ganz unwichtigen Bezirk die­ ses weitläufigen und vieldiskutierten Problemhorizonts aufzuzeigen; nämlich, dass diese Episode für Heidegger nicht nur entscheidend von politischen Utopien, biographischen Gemengelagen und Fehlein­ schätzungen geprägt ist, sondern auch von einer Neuinterpretation von Wahrheit und der Umgrenzung einer Maßgabe des Seins, die ein Vermessen in denkerischer Perspektive, aber auch in Hinsicht des konkreten Vollzugs thematisch werden lassen. Dies sehen wir uns nun anhand Heideggers Platon-Interpretation in Das Wesen der Wahrheit und seinen Überlegungen, den sogenannten »Schwarzen Heften«, an. Wieder ist es Heideggers nun schon einige Jahre anhaltende Auseinandersetzung mit der Angleichung, d.h. der adaequatio als Übereinstimmung des Gleichen, von der wir am Anfang dieser Arbeit schon zeigten, dass Heidegger sie seit der Dissertation und Habilita­ tion als Problemstellung vor Augen hat und die auch ab 1930 der Anlass für seine kritische Auseinandersetzung mit dem Wahrheits­ verhältnis des Seins und dessen Maßgaben wird. Bereits die griechi­ sche ὁίwiς impliziert die angleichende Übereinstimmung, die Homogenisierung, die in prosaischer Form das Wahrheitsverständnis der Aussage (ός) in Relation zu einer Sache (ᾶ) bestimmt. Heidegger bringt den geschichtlichen Ort der Homogenisierungsten­ denz in Zusammenhang mit der Entwicklung des Münzgeldzahlungs­ verkehrs bei den Griechen. Auch hier werde ein Ding mit einem Gegenwert angeglichen und so bemessen. In Wahrheit geschehe in der Aussage in Angleichung an die Sache aber noch etwas anderes, als jenes in sich geschlossene Geschäft. Tatsächlich finde so etwas wie ein Durchmessen von einander Entgegenstehenden in einem Bereich des Offenen statt. »Das Entgegenstehen muß als das so Gestellte ein offenes Entgegen durchmessen und dabei doch in sich als Ding stehen bleiben und als ein Ständiges sich zeigen. Dieses Erscheinen des im Durchmessen eines Entgegen vollzieht sich innerhalb eines

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2. Platonische Träume, das Rektorat und die »Schwarzen Hefte«

Offenen.«928 Dieser offene Bereich, diese Pore zur Welt, ermöglicht dann erst die Messung von Richtigkeit und Falschheit, von Wert und Gegenwert – dies hatte Heidegger bereits in den zwanziger Jahren durchexerziert, wie wir im dritten Kapitel gesehen haben.929 Allerdings ist nun neu, dass nicht mehr der Vollzug des Messens primär ist, sondern der Vollzug bzw. das messende Verhalten in einer Konfiguration situiert ist, die dieses Messen erst ermöglicht, was konsequent an Heideggers Überlegungen zur Maßgabe des Seins qua Zeit anschließt. Seit 1930 ist dieser Bereich das Offene selbst in seiner Dimensionalität von Heidegger bedacht worden. So auch hier: Die Aussage hat ihre Richtigkeit zu Lehen von der Offenständigkeit des Verhaltens; denn nur durch diese kann überhaupt Offenbares zum Richtmaß werden für die vor-stellende Angleichung. Das offen­ ständige Verhalten selbst muß dieses Maß sich anweisen lassen. Das bedeutet: es muß eine Vorgabe des Richtmaßes für alles Vorstellen übernehmen. Dies gehört zur Offenständigkeit des Verhaltens. Wenn aber nur durch diese Offenständigkeit des Verhaltens die Richtigkeit (Wahrheit) der Aussage möglich wird, dann muß das, was die Rich­ tigkeit erst ermöglicht, mit ursprünglichem Recht als das Wesen der Wahrheit gelten.930

Nicht erst das Transitive, sondern dessen Ermöglichungsgrund, die Lichtung der Offenständigkeit, ist der Wesensbereich der Wahrheit. Aus den Grundbegriffen der Metaphysik wissen wir, dass es sich hier um den vierfach dimensionierten Porencharakter der Zeitlichkeit des Menschen handelt, der Maßgabe und Zumessung für jedes mögliche Messen erlaubt. Die in dieser Pore des Daseins, die Heidegger die Lichtung nennt, situierte durchmessende Interpretation lässt Verbor­ genes sich zeigen und anderes verdecken. Oder das sich Zeigende enthüllt Verborgenes, nämlich »[…] in einer ›Zeit‹, die selbst unmeß­ bar erst das Offene, d.h. die Offenheit, für jegliches Maß eröffnet.«931 In diesem prä-mensurablen Bereich, der selbst nicht messbar ist, geschieht ein Ausloten von Wahrheit, die nicht notwendigerweise die Aussagewahrheit sein muss. In diesem Bezirk besteht auch die Möglichkeit, sich zu vergreifen, d.h. zu vermessen.

928 929 930 931

GA 9, S. 184. Vgl. ebd., S. 190; vgl. Kapitel III.2c der vorliegenden Untersuchung. GA 9, S. 185. Ebd., S. 190.

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V. Zumessung und Vermessung am Mittelmäßigen als Gang in die Irre

Wenn auch dies noch stark an Heideggers Vorlesungen der zwanziger Jahre anknüpft, so liegt der Fokus nun auf dem Gesche­ hen von Verbergung und Entbergung, das diesen prä-mensurablen Bereich umfasst. Dieser ist sozusagen die Zulassung im Sinne einer Art Grundpore für die Welt, für das Messen, die Maßgabe und die Zumessung. So lässt etwa das Verbergen den Entzug von Wahrheit im Vermessen zu. Zu diesem Vermessen gehört für Heidegger im Wesent­ lichen, dass es die Offenständigkeit zulässt, dass andere ausgetretene Gänge, d.h. abgenutzte Poren der Bewandtnisganzheit der Welt, weiter als »Gangbares« beschritten werden, und längst ausgetretene Pfade, selbst dann, wenn sie ein ständiges neues Vermessen implizie­ ren, nicht verlassen werden. Schließlich kommt es zur Vergessenheit ursprünglicher Wege, z.B. des Seins und des Seienden im Ganzen. Lange bekannte Methoden durchmessen die Welt als Seiendes und bringen letztlich immer nur die gleichen, weil »gangbaren« angegli­ chenen Mess-Ergebnisse hervor. Das Vermessen und das Vergessen gehören also zusammen. Indem der Mensch nur noch das Seiende ver­ misst und das Sein und das Wesen der Wahrheit als Offenständigkeit vergisst, erstarrt er allmählich in seinen Gewohnheiten und Gemäch­ ten und bleibt in ihnen stehen. Wie zentral für Heidegger dieses Mißverhältnis zum Grund- und Möglichkeitsbereich des Maßes ist, stellt er selbst eindeutig heraus: So stehengelassen ergänzt sich ein Menschentum seine ›Welt‹ aus den je neuesten Bedürfnissen und Absichten und füllt sie aus mit seinen Vorhaben und Planungen. Dieses entnimmt der Mensch des Seienden im Ganzen vergessend, seine Maße. Auf diesen beharrt er und versieht sich stets mit neuen Maßen, ohne noch den Grund der Maß-nahme selbst und das Wesen der Maßgabe zu bedenken. Trotz des Fortgangs zu neuen Maßen und Zielen versieht sich der Mensch in die Wesens-Echtheit seiner Maße. Er vermißt sich, je ausschließlicher er sich selbst als das Subjekt für alles Seiende zum Maß nimmt. Die vermessene Vergessenheit des Menschentums beharrt auf der Sicherung seiner selbst durch das ihm jeweils zugängige Gangbare.932

Dieses sich verfestigte Vermessen geschieht also vornehmlich durch zwei Weisen: erstens durch den Irrtum, dass ein Subjekt unter dem Titel »der Mensch« überhaupt meint, der Messende sein zu können, der selbst unter seine Maßnahmen fällt; zweitens durch den Fehlgriff,

932

Ebd., S. 195–196.

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dass das zu Messende vorab ein Seiendes sei, worunter das Subjekt Mensch genauso vermessen wird, wie das verdinglichte, homogeni­ sierte Objekt.933 Die Pointe ist, dass das Vermessen in der Weise des Unterwerfens von Subjekten und Objekten unter Skalen selbst ein Vermessen im Sinne des nicht Treffens des eigentlichen Verhältnisses ist. Damit wird das somit doppeldeutig zu verstehende Vermessen eine Vermessenheit. Die Folgen dieser Geschichte des Vermessens sind uns auch heute freilich noch aufdringlicher und auffälliger als zu Heideggers Lebzeiten: nämlich als zunehmende Sterilisierung und zugleich als umfassende Abstumpfung und Abflachung unserer Lebenswelt durch die funktionale Logik und ihrer Applikation in den neuen digitalen Technologien, die nahezu überall auf eine diskrete Quantifizierung an sich analoger Verhältnisse hinausläuft. Obschon wir wissen, dass hier eine Inkompatibilität von digitaler Technologie und der Lebens­ welt vorliegt, scheinen wir durch unseren bürokratisierten Alltag gleichwohl fast gezwungen zu sein, diese Technologien zu nutzen, wollen wir überhaupt noch irgendwie in dieser Lebenswelt agieren. Dies wirkt sich beispielsweise auf extreme Weise in einer Ausgangs­ sperre während einer Pandemie aus, wenn dann trotzdem sogar von zuhause aus mit digitalen Kommunikationstechniken gearbeitet werden muss. Mit den Technologien sind wir aber nur scheinbar zuhause, in Wahrheit müssen wir überall und nirgends interagieren. Wir sind nirgends und überall zuhause, weil unsere digitalen Aktio­ nen Dank des permanenten weltweiten Datenabgriffs immer auch globale Aktionen sind. Weil wir überall zuhause sein müssen, wird die Welt in zunehmender Weise in eine Paradoxie verhüllt: wir fühlen uns trotz der Möglichkeiten, Ferne zu überwinden, nirgends mehr heimisch. Es kommt zu der von Heidegger früh erkannten Kontingenz und Dispersion von Nähe und Ferne.934 Zugleich verschwindet das noch Offene anderer Möglichkeiten, weil wir heute nun auch alles auf Knopfdruck durch das Internet an jedem Ort und zu jeder Zeit mit unserem Smartphone ermessen und virtuell zugänglich werden lassen können. Dabei schalten wir uns zwar in jeden Ort der Welt, wenn wir wollen, allerdings fehlt so das Zauberhafte und Rätselhafte einer Heimat.

933 934

Vgl. GA 9, S. 196. Vgl. SuZ, § 23, S. 104ff.

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V. Zumessung und Vermessung am Mittelmäßigen als Gang in die Irre

Überdies fehlt auch eine räumlich-zeitliche Konfiguration von geschehender und noch möglicher Wahrheit. Auch Raum und Zeit werden zur Funktion der Objekte verklammert, unter die sich sowohl das Argument bzw. das Subjekt beugen muss. Der ursprünglich vielseitig offene Mensch pocht allerdings auf diese Verschließung aller seiner Poren, in deren Gewebe eigentlich auch er heimisch war. Dafür plädiert er nun auf eine Öffnung für das homogenisierende Verdinglichen, in dessen Mahlstrom er sich immer weiter hinein­ dreht. Obwohl die funktional-logisch fundierte Verdinglichung den Menschen immer weiter beschneidet und limitiert, erscheint sie ihm paradoxerweise als das Gangbare.935 Genau dies hat Heidegger schon an seinem geschichtlichen Ort im Blick, wenn er von der Wegwendung vom Geheimnis spricht, in dem das besagte Heimische mitklingt: »In seinem Maßnehmen aber ist das Menschentum weggewendet vom Geheimnis. Jene insistente Zuwendung zum Gangbaren und diese ek-sistente Wegwendung vom Geheimnis gehören zusammen.«936 Heidegger fasst dieses insistie­ rende Vermessen als Verdinglichung des Ekstatischen des Menschen zum sterilen Subjekt und zum homogenisierten Seienden, d.h. zum Die sterile und homogenisierende Methode des Funktionallogischen erscheint dabei nach wie vor gangbar, umso mehr im digitalen Zeitalter, so dass gewisse Denker sogar glauben, sie könnten die wesentliche Kritik Heideggers an der Homogenisierung und Sterilisierung als Ausbleiben des Möglichkeitsfelds von Wahrheit jenseits der Homogenisierung und Verdinglichung nicht nur ignorieren, sondern Heideggers Denken selbst im Modus einer sterilen, funktionalisierten Betrachtungsweise unter­ suchen. Die prekären Widersprüche, in die sich beispielsweise einige technophile Analysen von Heideggers dauerhafter Wendung gegen die Homogenisierung mit ste­ rilen und homogenisierten funktionallogischen Methoden begeben, müssten in eige­ nen Untersuchungen im Detail entschlüsselt werden. Im Wesentlichen laufen sie alle auf einen ziemlich simplen performativen Widerspruch hinaus, der auch für einen heterogen und transitiv zu charakterisierenden Logos konsistent bleibt: Der Heideg­ gersche Befreiungsversuch von der Verklammerung des Homogenisierens soll mit homogenisierenden Verklammerungen dargestellt werden. Das Produkt solcher per­ formativen Widersprüche ist der in sich reaktionäre Versuch der Einebnung, der ReAssimilation und Einhegung von Heideggers Denken der unberechenbaren Maßgabe der Offenheit in die Berechenbarkeit. Kurz: Heideggers Denken soll den berechenba­ ren Betriebsablauf nicht stören und in diesen zurückgeholt werden. Es gibt aber auch andere, komplexere Versuche, die zwar aus funktionallogischer Sicht Heidegger lesen, aber auch diese funktionallogische Betrachtung selbst wieder durch eine Systemtheo­ rie unter Beobachtung stellen und so eine kritische Lektüre Heideggers aus ihrem eigenen Denkbezirk her möglich machen. Vgl. Dirk Baecker, Wozu Theorie, Berlin: Suhrkamp 2016, S. 83ff. 936 GA 9, S. 196. 935

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2. Platonische Träume, das Rektorat und die »Schwarzen Hefte«

Objekt. Damit gehen die Stilllegung von Ort und von Zeit sowie deren überall inflationäre Zugänglichkeit einher, da das ekstatische Moment nivelliert wird. Dies fasst Heidegger im Wort »Die Irre« zusammen. Diese paradoxe mahlstromartige Figur der »Irre«, die wir hier mit Heidegger beschreiben, meint Folgendes: Das Herausfordern des Sei­ enden und dessen Degeneration zum sterilisierten, homogenisierten Objekt, lässt die Natur bzw. ύiς als das Walten und Aufgehen, d.h. Heideggers Seiendes im Ganzen, in dem das Seiende eigentlich steht, in den Hintergrund treten. »Die Entbergung des Seienden als eines solchen ist in sich zugleich die Verbergung des Seienden im Ganzen.« Diese wiederum reziprok-inversive Grundfigur deutet Heidegger selbst als ein in sich verstricktes Gewebe des Vermessens und des Vergessens: Die Irre ist der Spielraum jener Wende, in der die in-sistente Ek-sistenz wendig sich stets neu vergißt und vermißt. […] Die Irre ist das wesentliche Gegenwesen zum anfänglichen Wesen der Wahrheit. Die Irre öffnet sich als das Offene für jegliches Widerspiel zur wesentlichen Wahrheit. Die Irre ist die offene Stätte und der Grund des Irrtums. Nicht ein vereinzelter Fehler, sondern das Königtum (die Herrschaft) der Geschichte jener in sich verwobenen Verstrickungen aller Weisen des Irrens ist der Irrtum.937

Der Irrtum ist somit nicht der Grund des Vermessens, sondern das Vermessen der Grund des Irrtums qua Irre. Doch gibt es jederzeit einen Ausweg. Und dies verweist wiederum auf das ganz andere Mes­ sen, das nicht Maßeinheiten vermisst, sondern als Geschehen ein freies und befreiendes Messen für Heidegger ermöglicht, weil sich ein solches Messen unter Umständen aufdrängt, ohne homogen auf Seiendes zu zielen oder zu planen. So etwa das Fragen aus dem Staunen und dem Entsetzen heraus, das sich als Maß für das Sein gibt und als Seiendes interpretiert wird, wie Heidegger es erfährt. »Der Ausblick in das Geheimnis aus der Irre ist das Fragen im Sinne der einzigen Frage, was das Seiende im Ganzen als solches sei. Dieses Fragen denkt die wesentliche […] Frage nach dem Sein des Seienden.«938 Diese Frage, so Heidegger, entstamme eigentlich wiederum dem Denken des Seins selbst und sei bei Platon zur Metaphysik geworden. Doch wie kam es dazu? Muss sich Platon dann nicht selbst dem Problem der Irre gestellt haben, wenn die Wahrheit des Seins im Sinne des 937 938

Ebd., S. 196–197. GA 9, S. 198.

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V. Zumessung und Vermessung am Mittelmäßigen als Gang in die Irre

Seienden im Ganzen Thema war? Heidegger schaut sich daraufhin das Höhlengleichnis Platons an. In der Allegorie der dunklen Höhle und seiner Bewohner sowie seiner lichten Außenwelt, vermessen sich die Menschen gleicherma­ ßen. Heidegger denkt diese Allegorie in Bezug zur Irre. Wir werden hier auf eine vollständige Zusammenfassung des Höhlengleichnisses verzichten, da es selbst philosophischen Laien hinlänglich bekannt oder zugänglich sein dürfte. Nur so viel für uns Relevantes sei genannt: In Platons Höhlengleichnis vermessen sich die Menschen, indem sie nur an den Vorstellungen der Schatten und Bilder kleben, die sie im einzigen Horizont ihrer Ortschaft vermögen zu sehen. Sie sind das Gangbare, jene Irre, die Heidegger beschreibt. Die Möglich­ keit, dass die Sonne außerhalb der Höhle die Wahrheit der Bilder und Abbilder noch einmal anders sehen lässt, wird aus dem Gangbaren ausgeschlossen. Der Weg hinaus ins Licht scheint nicht ausmessbar, ungangbar. Doch das Geschehen, dass ein Höhleninsasse herausge­ führt wird, entspricht der Zumessung des Fragens zur Besinnung des Aufrisses zwischen Sein oder Nichts. Dieses ist das eigentliche Messen, das ins Freie führt. Die verschlossene Pore öffnet sich nach draußen.939 Doch um die Möglichkeit, sich im Lichte außerhalb der Schatten zu bewegen, und die Sonne der Wahrheit selbst zu erfahren, brauchen die Menschen eine lange Vorbereitung und Zurichtung. Sie müssen die rechte Bildung erfahren, so Heidegger. Dies nenne Platon iί. Heidegger übersetzt dieses Wort als »Bildung« und transitiv als »Bilden«. Er stellt heraus: Dieses ›Bilden‹ aber ›bildet‹ (prägt) zugleich aus der vorgreifenden Anmessung an einen maßgebenden Anblick, der deshalb das Vor-bild heißt. ›Bildung‹ ist Prägung zumal und Geleit durch ein Bild. Das Gegenwesen zur iί ist die ἀiuί, die Bildungslosigkeit. In ihr ist weder die Entfaltung der Grundhaltung geweckt, noch wird das maßgebende Vor-bild aufgestellt.940

In dieser Bildungslosigkeit verweilen aus Heideggers Sicht die Höh­ lenbewohner Platons. Erst das Vor-bild gibt Bildung – und zwar nicht, indem es sich auf die Schatten einlässt, die die Grottenbewohner zum Maß nehmen und haben. Das Vor-bild ist kein Lernbegleiter oder Es ist demnach auch denkbar, Platons Höhlengleichnis als ein Porengleichnis des möglichen Gangbaren und Nichtgangbaren zu deuten. 940 Ebd., S. 217. 939

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2. Platonische Träume, das Rektorat und die »Schwarzen Hefte«

Lerncouch, der die Höhlenbewohner unter homogenen und sterilen didaktischen Vorzeichen stets im selben Sumpf fischen lässt. Nein, das Vor-bild ent-reißt sie aus dem Pseudo-Maß der vorgefragten Meinungen und dem Halbwissen des »Man«. Das Vor-bild fordert mit der Zumessung der Besinnung das Mittelmäßige aus dem Oxymoron des Sumpfes des Gangbaren heraus, d.h. es hilft die Irre zu verlassen, um so den Verhüllungen der Höhle zu entgehen. Dies wird durch die Zumessung des Offenen ermöglicht, d.h. der Pore des Höhlen­ eingangs selbst, durch die das Licht der maßgebenden Wahrheit scheint. Auch wenn es dabei verschiedene Stufen der Entbergung »[…] der jeweils maßgebenden ἀϑές […]« der Zugänge gibt, am Ende wartet die eigentliche Wahrheit im Freien, der Freiheit, um die sich die Geschichte des Ausgangs aus der Pore der Höhle dreht.941 Diese Freiheit gibt aus Heideggers Sicht die Befreiung, die zugleich selbst erst möglich wird »[…] als die stetige Eingewöhnung in das Festmachen des Blickes auf die festen Grenzen der in ihrem Aussehen feststehenden Dinge.«942 Der erneute Untergang in die Höhle des Befreiten, der nun selbst Befreier sein muss, ist die letzte Stufe der Entbergung (ἀήϑi) – ein hartnäckiger Kampf, um den Höhlenbewohnern ihre Verdeckungen zu entreißen.943 Wahrheit ist für Heidegger daher in den 1930ern zunächst noch ein Abbringen der Verborgenheit in den folgenden Modi: »Verschließung, Verwahrung, Verhüllung, Verdeckung, Ver­ schleierung, Verstellung.«944 Heidegger fühlt sich nun vom Motiv der Befreiung angeregt. Er möchte selbst ein solcher Befreier sein. Und hier beginnt Heideggers eigene Vermessenheit, nämlich zu glauben, ein Volk zur Wahrheit und zum Fragen anleiten zu können. Heidegger möchte selbst ein Vor-bild, d.h. ein Befreier sein, der vor dem Vermessen bewahren kann, indem er die Bildung zum Maßgeblichen der eigentlichen Freiheit und Geschichte des Seins anleitet. Dass er sich damit quasi selbst vermisst, ist nur eine Facette Vgl. Platon, Rep. Z VII, St. 515d-516; vgl. GA 9, S. 221. GA 9, S. 219. 943 Es dürfte Heidegger nicht verborgen geblieben sein, dass eine analoge Bewegung im modernen dichterischen Werk in Nietzsches Zarathustras stattfindet. Auch hier ist der Wille zur Macht, gedacht als Befreiung der Menschen aus ihrem Irrglauben, ein Untergang. Zarathustra übernimmt in diesem Untergang die Rolle eines modernen invertierten Sokrates oder platonischen Befreiten, der andere zu befreien hat: „– Also begann Zarathustra’s Untergang.« Vgl. Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, S. 12. 944 GA 9, S. 223. 941

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der recht komplexen und kontroversen Konfiguration des Heidegger­ schen Rektorats, die wir hier im Rahmen und der Eingrenzung dieser Arbeit weder vollständig überschauen noch analysieren können. Unsere Absicht ist stattdessen lediglich zu zeigen, warum Heidegger in der Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Maß und Sein eine erneute Kehre im Denken vornehmen wird, um ein ganz anderes Maß in den Fokus zu rücken: das Dichterische.

3. Heidegger vermisst sich am Rektorat 1933 übernimmt bekanntlich nach einigen gewalttätigen Unruhen und dem Reichstagsbrand die NSDAP die Macht in Deutschland. Die gerade erst etablierte und schon zermürbte Demokratie der Weimarer Republik zerbricht an politischen Fehleinschätzungen, an der großen Inflation, am Klüngel mit der Investoren- und Bankwirtschaft, an einer Politik im Elfenbeinturm, und vor allem an den Altlasten des Ersten Weltkrieges, der Not der Menschen und nicht zuletzt an den politischen Machenschaften, den Gewaltakten und Intrigen der Nazis, die der nunmehr schon wankenden Republik nun völlig den Rest geben werden. Die wert- und kulturphilosophisch orientierte Akademie und intellektuelle Gesellschaft sieht Heidegger analog zur politischen Situation der Weimarer Republik in einer Krise oder Dekadenz, deren Ende aus seiner Sicht sogar noch nachzuhelfen bzw. vorzuspringen sei. Auch hier sieht er strategisch die große Chance für seine mög­ liche Rolle als post-platonischer Befreier.945 Wie Platon einerseits, 945 Es ist hier leicht zu ersehen, dass Heidegger sich vom Denken her in performative Widersprüche begibt, sobald er die Rolle des Befreiers für seine Mitmenschen ein­ nehmen will. Das Rechnen, Werten und Homogenisieren sind ihm eine Gefahr, aber die Berechnung, den Rektor-Posten anzustreben oder ihn zumindest zu erwägen, die Einschätzung der Nazis als Bundesgenossen und Hitler als sein Vorbild von Füh­ rungskraft sowie die Gleichschaltung, d.h. Homogenisierung der Universitäten, schei­ nen ihm als Mittel zu seinem Ziel zunächst völlig akzeptabel zu sein. Bereits hier dürfte dem aufmerksamen Leser klar sein: Heidegger handelt in diesem Zeitraum nicht nur aus biographischer Prägung problematisch, sondern er verstößt massiv gegen seine eigenen philosophischen Grundgedanken, paradoxerweise, um diese Grundgedanken verwirklichen zu wollen. Heidegger glaubt anscheinend zeitweise, der Zweck heilige die Mittel, in Wahrheit gerät er in die Vermessenheit, die Maße der neuzeitlichen Metaphysik einzusetzen, um selbige hinter sich zu lassen. Er selbst verfällt der von ihm vorgedachten Irre, d.h. er gibt sich der Illusion hin, mit der Übernahme einer

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und in gewissem Sinne wie Nietzsches Zarathustra andererseits, will Heidegger ein geistiger Befreier sein, um Menschen Maß und Grenze der maßgebenden Wahrheit des Seins durch eine andere Bildung angedeihen zu lassen, als die auf Homogenisierung ausgerichtete Verschulung an den zeitgenössischen Universitäten, die Heidegger aus dem ersten Viertel des 20. Jahrhunderts kennt. Die alten Gedan­ ken der Universitätsreform, die er seit den frühen zwanziger Jahren hegt, melden sich zurück. Jetzt gibt es ein neues Regime und damit scheinen aus Heideggers Sicht totale Neubegründungen des Denkens überhaupt in greifbare Nähe zu rücken. Und hier offenbart sich nun das verhängnisvolle Moment in Heideggers Denken: Zu sehr in seine Überlegungen verstrickt, sieht er nicht die destruktive und zugleich banale, wie brutale Facette eines sich ankündigenden Schreckensre­ gimes.946 Im Versuch ein maßgebendes »Vor-bild« zu sein, vermisst Heidegger sich am eigenen geschichtlichen Ort. Er verdrängt und ignoriert das brutale und gewalttätige Kalkül der Nazis und eifert dem Rektorat entgegen. Dabei lässt er sich auf die Verwicklung mit der faschistischen Administration in Karlsruhe ein. Das Volk

Machtposition, der Metaphysik entgehen zu können. Diese Analyse wird der späte Heidegger in einer sehr ambiguen Darlegung zugeben, die sich für den Rezipienten als schmerzhafter und provozierender Sarkasmus deuten lassen kann: »Wer groß denkt, muss groß irren.« Vgl. GA 13, S. 81. 946 Am prägnantesten wird dies im Brief an Frau Malwine Husserl deutlich. Heidegger erfährt von Dritten, dass Husserls Sohn Opfer von Nazi-Gewalttaten wurde. Heidegger, der in sein Denken vertieft ist, lässt seine Frau darauf einen Brief abfassen, in der Elfride Heidegger, auch im Namen ihres Mannes Martin Heidegger, die Hoffnung hegt, die in Kiel vollzogene unrechtmäßige Beurlaubung von Husserls Sohn seien nur »Übergriffe«, die gewissermaßen aus Versehen geschehen seien und nicht dem Regime selbst zuzuschreiben seien. Das Ehepaar Heidegger scheint die Möglichkeit, dass es sich um ein menschenverachtendes, barbarisches System handelt, unter allen Umständen verdrängen und von sich halten zu wollen, was im Übrigen eine sehr typische Haltung für die deutsche bürgerlich-konservative Gesellschaft die­ ser Zeit gewesen ist und auch im intellektuellen Milieu keineswegs nur bei den Heideggers präsent war. Vgl. GA 16, No. 35, S. 87. Im Blick auf den geschichtlichen Kontext ist Heidegger leider einer von jenen vielen, die weggeschaut haben, um sich weiterhin Illusionen über das Terror-Regime machen zu können. Es wurde dem Kon­ flikt mit dem Regime sowie dem eigenen Gewissen aus dem Wege gegangen, um in der heilen eigenen Lebenswelt weiter schalten und walten zu können, wie bisher. Letztlich handelt es sich also auch bei der Haltung des Alltagsmenschen – und ver­ mutlich auch des Denkers Heidegger – um eine solche, für die Zeit des Nationalso­ zialismus so typische, wie symptomatische, Konfliktvermeidungsstrategie.

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und die Studenten seien nun für das Maßgebliche vorzubereiten. Dabei beginnt hier zunächst Heideggers maßlose, weil berechnende Orientierung am nur Mittelmäßigen; jenes »Man«, welches er selbst doch loswerden wollte. Dieses Mittelmäßige ist das System und die Mittelmäßigen sind die Anhänger, Mitläufer und Täter des perfiden NSDAP-Regimes. Und Heidegger? Er sucht in dieser Mittelmäßigkeit von Mitläufern und Tätern nach einem Maß. Dies ist mehr als nur ein sehr großer Irrtum, wie Heidegger später selbst feststellen wird. Hier ist nichts schön zu reden: Das Maß, was er zunächst sucht, ist anscheinend das geschichtliche Volk der Deutschen, an dem er sich gefährlich vermisst.947 Die Folge wird später ein anderer Anfang Heideggers abseits einer Orientierung an einem Volk und gegen eine jede Form von Mittelmäßigkeit sein. Doch sehen wir zunächst, welche Motivation Heidegger dazu anleitet, die Mittelmäßigkeit dieses rechnenden Regimes zu überse­ hen, das nicht einmal ein Jahrzehnt später mit einem eiskalten Kalkül und mit gnadenloser Berechnung ein Blutbad mit Millionen von Toten anrichten wird, dem auch unzählige Juden in Konzentrationslagern zum Opfer fallen werden. Statt eigenen Studierenden die Maßgabe des Seins zu lehren, glaubt Heidegger zunächst durch den personalen Wechsel im Universitätswesen an die Möglichkeit, die Universität in Deutschland überhaupt zur maßgebenden Instanz umzuformen. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Schikane und die Angriffe gegenüber jüdischem Leben in Deutschland bereits begonnen. Heidegger, der 947 Freilich wollen wir nicht apologetisch sagen, Heidegger vermesse sich »nur«. Viel­ mehr ist das Vermessen Heideggers in dieser Sache ein Aspekt einer vielschichtigen Entscheidung und biographisch-geschichtlich einer komplexen Konstellation geschul­ det, deren Bedeutung und Tragweite hier nicht im Detail erörtert werden kann. Ich verweise aber ausdrücklich auf die einschlägige und aktuelle Diskussion der Thematik durch Victor Farías, Heidegger und der Nationalsozialismus, übers. v. Klaus Laermann, mit einem Vorwort v. Jürgen Habermas, Frankfurt am Main: Fischer 1989 (orig. 1987); Silvio Vietta, Heideggers Kritik am Nationalsozialismus und der Technik, Tübingen: Niemeyer 1989; Emanuel Faye, Heidegger. Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie. Im Umkreis der unveröffentlichten Seminare zwischen 1933 und 1935. Übers. v. Tim Trzaskalik. Berlin: Matthes & Seitz 2009 (orig. 2005); Holger Zabo­ rowski, »Eine Frage von Irre und Schuld?« Martin Heidegger und der Nationalsozialis­ mus, Frankfurt am Main: Fischer 2010; Peter Trawny, Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung, 3. Aufl., Frankfurt am Main: Klostermann 2015 (orig. 2014); Marion Heinz u. Sidonie Kellerer (Hrsg.), »Schwarze Hefte«. Eine philoso­ phisch-politische Debatte, Berlin: Suhrkamp 2016. David Espinet et al (Hrsg), Heideggers ›Schwarze Hefte‹ im Kontext. Geschichte, Politik, Ideologie, Tübingen: Mohr Siebeck 2018.

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selbst jüdische Studierende hat und hatte, zu denen auch seine ehe­ malige Geliebte Hannah Arendt gehörte, schaut weg. Er will die Tatsachen nicht wahrhaben. Er ignoriert die Fakten und träumt nur noch von seiner Reform einer Universität des eigentlichen Seins. Die Universität, die Heidegger bisher nur als einen Ausbildungs- und Verwaltungsapparat erlebt hat, der aus seiner Perspektive lediglich nur noch seinen Namen als Titel für diesen Komplex trage, hat nun aus Heideggers Sicht das Potential, eine neue geistige Lebenswelt im Sinne der Tradition einer Nation von Dichtern und Denkern zu werden und diese erneut heranzubilden, so wie es zur Zeit des soge­ nannten Deutschen Idealismus schon einmal der Fall gewesen sei.948 Als Vorbild sieht Heidegger sich selbst als den Denker der Seins­ frage und als Bedenker seiner Grenzen und Maße sowie des Wesens der Wahrheit. Am 27. April 1933, kurz nach der Übernahme des Rek­ torats, plant Heidegger eine Kundgebung. Den Leitgedanken dieser Kundgebung formuliert er entsprechend: »Der Aufbau einer neuen geistigen Welt für das deutsche Volk wird zur wesentlichen künftigen Aufgabe der deutschen Universität.«949 In einem Brief an seinen Bru­ der Fritz Heidegger vom 4. Mai 1933 wird deutlich, dass Martin Heidegger dermaßen mitgerissen wird, dass sogar seine Denkarbeit in den Hintergrund tritt und stattdessen fast nur noch die in greifbare Nähe rückende Universitätsreform zu einer Art Akademie des Seins ins Visier genommen wird, in der aus Heideggers Sicht »[…] das Ganze und das Schicksal des deutschen Volkes […] auf dem Spiel steht.«950 Statt der eigenen Aufgabe des Denkens, schwebt ihm nun eine nationale Mission der erneuten Vergeistigung einer Gesellschaft vor, die um 1933 und 1934 in Wahrheit aber von Verdinglichung, Objektivierung, Gleichgültigkeit vor dem Leben, von abstrakten Wer­ Es ist kein Zufall, dass Heidegger sich in dieser Zeit verstärkt mit dem Deutschen Idealismus auseinandersetzt, weil er zu Beginn der 1930er Jahre Hoffnungen hegt, eine ähnliche Denklandschaft als Nährboden für eine neue Akme des Denkens durch eine reformierte Universität evozieren zu können. Im Rückblick mag dies naiv oder sogar außerordentlich töricht erscheinen. Heidegger aber, der die Zukunft eines totalitären rechnerischen Mordapparats nicht antizipiert oder nicht antizipieren will, sieht im Nazi-Regime zunächst nur die Möglichkeiten einer neuen Zeit des Geistes in Deutschland. Hier kann ihm gewiss keine Weitsichtigkeit oder ein sensibler Blick in die tatsächlichen Verhältnisse bescheinigt werden. Vielmehr erleben wir, wie ein bisher weitsichtiger Denker, der ins Offene zu schauen vermag, nun in eine finstere Enge tappt. 949 GA 16, S. 82. 950 Ebd., S. 93. 948

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ten, Bigotterie, schlichter Profitgier, Geltungssucht und offenem Hass gegen alle Andersartigen geprägt ist. Heideggers biographischer und nun auch philosophischer blin­ der Fleck, lässt ihn angesichts dieser Tatsachen trotzdem noch nicht an das »Man« aus Sein und Zeit zurückdenken. Er lässt ihn nicht an die »Larvanz«, die »Maskierung«, an das Elliptische und Hyperboli­ sche der Massen und das Zunächst und Zumeist des uneigentlichen Vermessens aus den Phänomenologischen Interpretationen zu Aristote­ les von 1922 erinnern.951 Ein performativer Widerspruch zwischen Heideggers Denken und seiner eigenen Biographie bricht sich Bahn, denn es scheint, als verfalle Heidegger in der Rektoratszeit diesen genannten Weisen des Vermessens selbst, wie die Dokumente aus der Rektoratszeit nahelegen.952 Doch wie kommt es dazu? Zunächst muss man sich darüber klar werden, warum Heidegger überhaupt ursprünglich das Rektorat übernehmen wollte. Neben biographischen Anreizen gibt es auch gedankliche Anstöße. Wir wollen eines von diesen Beweggründen im Rahmen dieser Arbeit beleuchten, das den Maßbegriff im Ver­ hältnis zum Sein betrifft. Dafür ist Heideggers Lektüre von Platons Höhlengleichnis der Ausgang. Heidegger greift auf Nietzsche und sein Motiv des Willens zur Macht zurück. Dieser Wille wird für Heidegger kurzfristig zur Macht des Befreiers der Menschen aus der Höhle der Verdinglichung, in der die Maßgabe des Seins des Seienden selbst nicht mehr gesehen werde. Stattdessen werde gemessen, ausge­ messen, kategorisiert, quantifiziert und homogenisiert. Der Mensch wende sich so gegen das Seiende im Ganzen, das die ύiς ist. Doch wie ist dem zu entgehen? Der Rektor Heidegger vermeint die Lösung zu kennen. Sie liege in der Aufsuchung des Grundes solcher Wendung: »Nur dann, wenn wir uns wieder unter die Macht des Anfangs unseres geistig-geschichtlichen Daseins stellen. Dieser Anfang ist der Aufbruch der griechischen Philosophie. Darin steht der abendländische Mensch aus seinem Volkstum kraft seiner Sprache erstmals auf gegen das Seiende im Ganzen.«953 Universitäre Lehre ist für Heidegger demnach die Maßgabe des Seins qua Geschichte des griechischen Anfangs des Denkens und dessen Sprache. Ein derartiges Denken zu bedenken – im transitiven Sinne –, bringt Heidegger 951 952 953

Vgl. Kapitel II.5c dieser Arbeit. Vgl. GA 16, S. 81ff. GA 16, S. 108–109.

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seit 1925 dazu, das Fragen als eigentliche Weise des Messens zu verstehen. Die Maßgabe des Seins zeigt sich anhand der griechischen Geschichte des Seins als Maß der Anwesenheit (ὐί), d.h. der vierfachen Dimension der Zeit, und der ύiς als das Seiende im Ganzen bzw. als das Aufgehen, Weben und Walten des Seins. Dieses Maß der Anwesenheit öffnet sich im messend-sorgenden Dasein als ursprünglicher Modus des verstehenden, weil auslegenden Fragens. Wird diese Konfiguration mitgedacht, ist klar, um was es Heidegger im Rektorat zunächst geht: um die Umwandlung der bisher dogmatisch vermittelten Wissenschaften in Fragedisziplinen, denen es jeweils um das Sein des Seienden im Ganzen bestellt ist. »Wissenschaft ist das fragende Standhalten inmitten des sich ständig verbergenden Seienden im Ganzen.«954 Da Heidegger das Fragen als Grundfigur der messenden Sorge denkt, kann er sagen: »Das Fragen ist dann nicht mehr nur die überwindbare Vorstufe zur Antwort als dem Wissen, sondern das Fragen wird selbst die höchste Gestalt des Wissens.«955 Selbstbehauptung der Universität ist für Heidegger damit ein Wille zu diesem messenden Fragen, das mit dem nur auf Antworten begierigen Ausmessen nicht zufrieden sein kann. Als »[…] Wille zum Wesen der Universität […]« geht es Heidegger um diese Möglichkeit selbst zu fragen; nämlich als Selbstgesetzgebung, statt nur Antworten aus Handbüchern für eine schlichte Ausbildung von Studierenden zu dozieren. Folglich ist für Heidegger »[…] sich selbst das Gesetz geben […] höchste Freiheit.«956 Hierin liegt für Heidegger zugleich der Grenzbereich der Uni­ versität unter der geschichtlichen Maßgabe als »[…] begrenzende Selbstbehauptung […]« und »[…] entschlossene Selbstbesinnung […].«957 Mit dem Vorhaben der Selbstbehauptung der deutschen Universität will Heidegger konsequent sein und zunächst das auf das einzelne Dasein bezogene Bedenken der Freiheit in den Grenzen der Maßgabe der Zeitlichkeit auf eine Vielzahl von Menschen übertragen – nämlich auf deren wissenschaftliche Tätigkeit an der Universität. Es geht Heidegger in der Selbstbehauptung der deutschen Universität also erneut um die geistige Befreiung von der Homogenisierung der Maße, die sich beispielsweise in Kategorien der modernen Wissenschaften, in Abstraktionen oder in Reduktionen von komplexen Sachverhalten 954 955 956 957

Ebd., S. 110. Ebd., S. 111. Ebd., S. 113. Ebd., S. 116.

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zu quantitativen Ausmessungen oder in den Abschilderungen, Regis­ tern und Tabellen eines Historismus manifestiert. Dieses Streben Heideggers, ein Denken der Homogenisierung und Abstraktion mit einem Gewaltstreich loszuwerden, musste in einer Gesellschaft, die über Jahrhunderte hinweg bereits im Modus der verdinglichenden Ansprüche gelebt hatte und nun dabei war, sich der Gleichschaltung der Nazis zu unterwerfen, Utopie bleiben. Heidegger sah anscheinend nicht, dass er in den dreißiger Jahren nunmehr selbst Teil einer Gesellschaft wurde, der Obrigkeitshörig­ keit, Gewinn, Macht, Geld und Vetternwirtschaft gepaart mit einer Obsession für Bürokratie wichtiger geworden war, als die Mitmensch­ lichkeit. In der Tat waren große Teile dieser Gesellschaft sogar dabei, in einer bodenlosen Maßlosigkeit den letzten verbliebenen Rest dieser Mitmenschlichkeit zu opfern. Doch Heidegger schien dies nicht sehen zu können oder zu wollen. Die allgegenwärtige Schattenseite der Nazis, deren verbre­ cherische Machtübernahme im Übrigen schon von Anfang an von technokratischen, ökonomistisch-kalkulierenden und homogenisie­ renden Motiven geprägt war, konnte er anscheinend ausblenden. So war es ihm vielleicht möglich in seinem Taumel und seinen platoni­ schen Träumen von der Universitätsreform zu einer Geistesstätte des Seins tatsächlich zu glauben, dass unter dem Nazi-Regime ein neuer Wind wehen würde und alles über Nacht erneuert werde, so dass Gelegenheiten genutzt werden könnten, um die Maßstäbe des Homogenen, Abstrakten und Quantitativen, denen sich das NaziRegime auf teuflische Weise verschrieben hatte, dann später wieder irgendwie loszuwerden. Das krasse Gegenteil zeigte sich an jenem geschichtlichen Ort: Die bis ins Kleinste berechnete und systematisch durchgeführte Ausräuberung, Ausbeutung und schließlich Vernich­ tung der jüdischen Bevölkerung und der politischen Gegner, die Kooperation Hitlers mit den großen Magnaten der Wirtschaft und mit den Bänkern, die massive militärische Aufrüstung des Landes, die perfide Ideologie des Rassismus und die systematische Gleichschal­ tung machten in Wahrheit die hässliche Fratze des Regimes aus, dem Heidegger sich andiente und das paradoxerweise genau das auf allen Ebenen substantiell betrieb, was Heidegger doch Jahre lang in seinen Vorlesungen bekämpfte. Dies war doch gerade die Homogenisierung gewesen, die nun im Nazi-Regime unter dem vielsagenden Titel »Gleichschaltung« zum Programm erhoben wurde.

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Wir werden den komplexen biographischen und geschichtlichen Verhalt, den Heidegger ins Rektorat führte, an dieser Stelle nicht ausleuchten können, um Heideggers Motivation in dieser Situation umfassend einschätzen zu können. Dazu müssten viele andere gegen­ sätzliche Interpretationen rund um das Rektorat Heideggers einbezo­ gen und ebenso die Genese des Streits um Heideggers Engagement herangezogen werden, was allerdings im Rahmen dieser Arbeit nicht mehr geleistet werden kann.958 Wie schwierig und problematisch der Sachverhalt, vor allem nach den bekannten antijudaistischen Äußerungen Heideggers in dieser Zeit und auch noch Jahre nach dem Rektorat sein mögen, so ist es jedoch auch bezeichnend, dass Heidegger bald, trotz aller biographisch fundierten Verdrängung und trotz seines Utopismus einer Universität des Seins während der Zeit des Rektorats, auf kurz oder lang, das maßlose Regime des rechnenden Denkens auffällig werden musste. Heidegger fiel dann anscheinend doch ins Auge, dass er zunehmend in Widerspruch mit seinen eigenen Grundgedanken geraten musste.959 Keine Demokratie und auch keine andere Diktatur sollten bis dato das von Heidegger gerade angeprangerte Rechnen, Quantifizieren, Werten, Homogenisieren und Abstrahieren mehr auf die Spitze treiben, als der deutsche Faschismus. Und die Menschen? Heideggers »Volk der Deutschen« und die Studentenschaft? Sie waren, außer weniger Ausnahmen, blinde Mit­ läufer oder Täter im System. Heideggers Fragen nach einer Maßgabe des Seins sollte nur die Wenigsten ins Denken bringen. Die meis­ ten von ihnen interessierten sich stattdessen für die Maßstäbe des Prestiges, der Posten, der Gehaltserhöhungen, das Maß der kleinbür­ gerlichen, vornehmlich materiellen Werte, sowie das Ausleben von Macht und Gewalt über Verfolgte und Verfemte. Statt maßgeblicher Menschen begegnet Heidegger in den dreißiger Jahren nach wie vor nur den Massen, die sich im »Man« vermessen und ohne viel zu fragen blind dem Nazi-Regime dienen. Was nach wie vor besonders prekär für die Nachwelt ist: Heidegger verstrickt sich als Rektor zeitweise selbst in diese Machenschaften. Er kollaboriert und trifft sich mit den Nazigrößen. Berühmt werden sollte ein Bild, das ihn inmitten Vgl. dazu meine Hinweise zur weiterführenden Literatur in diesem Kapitel. Holger Zaborowski hat diese Wende Heideggers nach 1933/34 als eine Art »Ent­ fremdung« von den damals herrschenden Institutionen bezeichnet. Vgl. Holger Zabo­ rowski, »Eine Frage von Irre und Schuld?« Martin Heidegger und der Nationalsozialis­ mus, Frankfurt am Main: Fischer 2010, S. 403. 958

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von Parteigenossen zeigt. Heidegger war inzwischen in die NSDAP eingetreten. Diese Fakten sind bitter. Heidegger wird während des Rektorats jedoch allmählich klar: Das Rektorat selbst steht inmitten der starrsinnigsten und strammsten Mittelmäßigkeit. Martin Heidegger, dessen Frau Elfride überzeugte Nationalso­ zialistin ist, steht biographisch und intellektuell in einem Schisma, mit dem er nicht ohne Weiteres fertig werden kann. Einerseits gelingt es ihm nicht, aufgrund seiner biographischen Voraussetzungen und Einhegungen, sich von den Fängen des Nationalsozialismus sofort zu lösen – u.a. schon wegen seiner Frau Elfride und wegen seines Parteieintritts. Die Distanzierung kann er nur allmählich vollziehen. Andererseits geht Heidegger im Zuge dessen vom Denken her auf, dass er sich an einer Idee des Völkischen vermessen hat.960 In diesem Vermessen, das mit Verdeckung, Selbstverschleierung, Selbstbetrug etc. einhergeht, gelingt für den Heidegger des Rektorats nicht auf die von ihm selbst herausgearbeitete Maßgabe der zeitlich-geschicht­ lichen Offenheit zu achten. Der blinde Fleck Heideggers sorgt dafür, dass er als Rektor selbst sein Maß an Strategie, Rechnen, Werten und Quantifizieren und Homogenisieren nimmt, von Amts wegen im System der Universität nehmen muss – zumal er im Paragra­ phendschungel des immer unmenschlicher werdenden Nazi-Regimes verstrickt ist, das u.a. die Gleichschaltung auch unerbittlich an die Freiburger Universität bringen wird. Heidegger kann nicht vor, noch zurück, also geht er zunächst umso radikaler im berechnenden System und in dessen Maßlosigkeit auf. In den »Schwarzen Heften«, zu Beginn der dreißiger Jahre, notiert Heidegger nämlich, dass die Maßnahmen als Chance zur geistigen Reform der Universität zu ergreifen wären, ohne Rücksicht auf Verluste: »Regel: Ganz – unbedingt aus dem Künftigen schaffen, die Fremde der Zukunft aushalten – bedingungslos dorther Maß und Diese Einsicht bleibt freilich Prozess. Auch Jahre später meint Heidegger sich hier und da noch an einem Gedanken eines, wie auch immer gearteten, Volkes orientieren zu müssen. Vgl. exemplarisch die Beiträge zur Philosophie, in denen Heidegger noch einmal – allerdings deutlich vorsichtiger – versucht, die Masse eines Volkes mit der Wahrheit des Seyns zusammenzudenken. Vgl. GA 65, S. 42. Erst am Ende der Beiträge sieht Heidegger ein, dass es mit dem Volk nichts ist. Stattdessen traut Heidegger das Schicksal des Denkens ganz im Gegenteil nur noch einer sehr begrenzten Zahl von Menschen zu: »Die wenigen Zukünftigen zählen zu sich die wesentlich Unscheinba­ ren, denen keine Öffentlichkeit gehört, […] aber Gründer des Da-seins sein können.« GA 65, S. 400. 960

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Regel nehmen und auf sie zu die Ansprüche durchsetzen.«961 Diesen temporären Modus Heideggers können wir hier eine Art Vermessen­ heit nennen, die Heideggers Verstrickung mit dem nationalsozialisti­ schen System ab 1933 bis in die späten vierziger Jahre mitbestimmt. Zusammenfassend können wir diese Verstrickung folgendermaßen charakterisieren, ohne dabei Anspruch auf eine finale Erklärung des Rektorats und Heideggers Rolle im NS-Staat geben zu wollen: Heideggers Vermessenheit war es, sich in einem bürokratischen men­ schenverachtenden System vermessen zu haben, das wesentlich durch Mittelmäßigkeit geprägt war. Dies sieht Heidegger dann auch ein. So notiert er unmittelbar nach Aufgabe des Rektorats: »Amt zur Verfügung gestellt, weil eine Verantwortung nicht mehr möglich. Es lebe die Mittelmäßigkeit und der Lärm.«962 Diese Mittelmäßigkeit – das sind die Mehrheiten an der Universität, das Volk, das »[…] Unmaß des Massenhaften […]«.963 Aus Heideggers Sicht kann von ihm keine geistige Leitung in der Universität als besondere Institution erwachsen. Dies fällt Heidegger nun wie Schuppen von den Augen: »Volksmeinungen, Volksüberzeu­ gungen, Ansichten – sind noch längst nicht ohne weiteres, bloß weil sie herrschen oder Luft bekommen und sich vordrängen, das Richtmaß des Wahren.«964 Vielmehr könnten sich diese noch mehr als Einzelne irren, fügt Heidegger hinzu. Die Folge ist nun die Wendung gegen eben jenes Mittelmaß und Unmaß, an dem Heidegger sich vermessen hatte. Er sieht das Mittelmaß nun überall. So entpuppen sich ihm nicht nur die Massen als »Unmaß« oder »Mittelmaß«, sondern auch die intellektuellen nationalsozialistischen Repräsentanten des Systems. Den national­ sozialistischen Philosophen und Propagandisten Krieck, mit dem Heidegger bald in Konflikt stehen wird, bezeichnet er nun sogar als den »[…] Maulhelden der Mittelmäßigkeit.«965 Dieses »Mittelmä­ ßige« ist für Heidegger deshalb das Unmaß, weil es sich aus seiner Sicht barbarisch, ergo messend-rechnend, gegenüber der Maßgabe des Seins ausnimmt. So beginnt Heidegger allmählich, wenn auch noch abschwächend und zögerlich, einzusehen: »Der Nationalsozia­ 961 962 963 964 965

GA 94, S. 115. Ebd., S. 162. Ebd., S. 171. Ebd., S. 174. Ebd., S. 179.

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lismus ist ein barbarisches Prinzip.«966 Versucht Heidegger dies zwar noch irgendwie heillos zu rechtfertigen, muss er schließlich doch zähneknirschend zu folgendem Resümee kommen: Das Rektorat in Komplizenschaft mit den Nazis war in jedem Falle eine Vermes­ senheit seinerseits. Er merkt nun zumindest, dass er sich einem technokratischen System in Wort, Gedanke, Sprache und Handlung angedient hat, das vom besagten Unmaß des Mittelmaßes bestimmt ist und niemals eine geistig neu fundierte Universität hervorbringen noch mittragen wird, die ihm seit den zwanziger Jahren vorschwebt. Mit der Gleichschaltung geschieht im Gegenteil eine Reduktion der Universität zur Fachhochschule und Ideologisierungsanstalt – sprich die vollständige Erosion von dem, was je von Geist hätte erfüllt sein können. Heidegger erlebt aus seiner Sicht das Absterben der Universität. So gibt er im Rückblick zu: Ich habe während meines Rektorats viele und große Fehler gemacht. Aber die beiden größten Fehler waren: 1. daß ich nicht mit der Gemein­ heit der sogenannten Kollegen rechnete und mit der charakterlosen Verräterei der Studentenschaft; 2. daß ich nicht wußte, daß man einem Ministerium gegenüber nicht mit schöpferischen Forderungen und weitgestreckten Zielen kommen darf; weshalb dieses Ministerium lieber und bequemer mit seiner gemeinen Machenschaft der Studen­ tenschaft und Kollegenschaft – hier und auswärts – >arbeitete