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German Pages 279 [280] Year 2014
Espinet/Hildebrandt (Hg.) · Suchen, Entwerfen, Stiften
David Espinet/Toni Hildebrandt (Hg.)
Suchen, Entwerfen, Stiften Randgänge zum Entwurfsdenken Martin Heideggers
Wilhelm Fink
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Nationalen Forschungsschwerpunkts Bildkritik „eikones“ Basel, der Freiwilligen Akademischen Gesellschaft Basel, der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein und der Wissenschaftlichen Gesellschaft in Freiburg im Breisgau
Umschlagabbildung: Brunnen auf Nikolaikirchhof, Leipzig © David Chipperfield Architects
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. © 2014 Wilhelm Fink, Paderborn (Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-5619-9
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
I.
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ÄSTHETISCHES ENTWERFEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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ALEXANDER SCHWARZ Finden, Erfinden, Entwerfen. Gedanken zum Entwurf des Neuen Museums, Berlin . . . . . . . . . . . . . . .
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GÜNTER FIGAL Seinkönnen in der Welt. Zur Phänomenologie des Entwerfens . . . . . . . .
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DAVID ESPINET Die Freiheit des Entwurfs. Zur Antinomie der Kunst bei Kant, Bacon, Heidegger und Kandinsky . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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TONI HILDEBRANDT Die Zeichnung als Öffnung der Form. Entwurf der Linie, Gegenwurf des Bildes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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SIEGFRIED ZIELINSKI Die „neue Einbildungskraft“. Eine „Haltung maschinischer Komposition“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. EPISTEMISCHES ENTWERFEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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MARKUS GABRIEL Ist die Kehre ein realistischer Entwurf? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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TOBIAS KEILING Erklüftung. Heideggers Entwurfsdenken in den Beiträgen zur Philosophie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 RAINER TOTZKE Das Seyn „mappen“. Medienphilosophische Überlegungen zu einem Assoziagramm Martin Heideggers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 CHRISTINA VAGT Heidegger und die Atomphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
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INHALTSVERZEICHNIS
FRANÇOISE DASTUR Entwurf einer phänomenologischen Chrono-logie . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
III. ETHISCHES ENTWERFEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 KARSTEN HARRIES Entwurf, Vorauswurf, Zuwurf. Zur Vorläufigkeit des Kunstwerks . . . . . . 173 JEFF MALPAS Heidegger, Aalto, and the Limits of Design. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 INGA RÖMER Entwurf und Intersubjektivität bei Heidegger und Sartre . . . . . . . . . . . . 215 LUDGER SCHWARTE Vom Entwurf auf dem Papier zur Weltarchitektur. . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 ALAIN BADIOU Zeichnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 IV. ABBILDUNGEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
Vorwort Im Entwerfen verdichtet sich die Bewegung des Suchens zur Sinnstiftung. Einmal hingeworfen, kommt das Entwerfen indes nicht zur Ruhe. Entwürfe zeichnen sich durch ihre Realisierungsoffenheit aus — sie entfalten sich als bestimmender Sinn. So befindet sich beispielsweise im zeichnerischen Entwerfen ikonischer Sinn erst unterwegs zum Bild. Entwurf ist demnach ein inchoativer Begriff. Ähnliches lässt sich über architekturale, dichterische, musikalische, filmische oder technische Entwürfe im engeren Sinne sagen, in welchen sich räumlicher, sprachlicher, klanglicher, kinematographischer oder funktionaler Sinn – häufig transmedial – abzeichnet. Was sich derart ab- oder vorzeichnet, sind Bahnen möglicher Bewegungen und Handlungen, Räume zukünftigen Erfahrens und Wirkens und nicht zuletzt Möglichkeiten ikonischer Bildgenese oder poetischer Produktion. Als Probiersteine möglicher Realisierungen bündeln Entwürfe Sinnkonstitution auf sinnfällige Weise und erlauben so, dass etwas Neues, bisher Unbekanntes sinnlich zum Vorschein kommt – dies geschieht gerade, bevor sich der Entwurf ganz in die Realität einschreibt und seine endgültige Form findet. Ein umgesetzter Entwurf ist schließlich, streng genommen, kein Entwurf mehr, sondern ein fertiges Artefakt. Überall dort aber, wo Neues entworfen wird, in allen epistemischen, ethischen und ästhetischen Weisen der Welt- und Selbstbildung, die sich nicht damit zufrieden geben, einen gesicherten Bestand nur zu verwalten, bedarf es einer ars inveniendi: diese ist primär nicht bloß die Kunst des Findens oder Erfindens, sondern vielmehr eine Kunst des Entwerfens, in der sich ein suchendes Ausprobieren und Permutieren von Realisierungsmöglichkeiten artikuliert. Ein solches Suchen ist umso suchender, je ergebnisoffener es verfährt. Es verwundert kaum, dass der inchoative und praxeologische Begriff des Entwurfs auf vielfältiges Interesse stößt, treffen in ihm doch scheinbar heterogene Perspektiven aufeinander. Bildkritik, Entwurfsforschung, Medien-, Kunst- und Literaturwissenschaften und nicht zuletzt die Philosophie haben so mit einem vergleichbaren Fokus die Frage nach der prozessualen Sinnkonstitution ethischen, epistemischen und künstlerischen Entwerfens gestellt.1 Martin Heideggers Entwurfsdenken erweist sich in diesen Kontexten vielfach als zündendes und darin 1 Vgl. Entwerfen und Entwurf. Praxis und Theorie des künstlerischen Schaffensprozesses, hg. v. Gundel Mattenklott und Friedrich Weltzien, Berlin 2003; Kreativität. XX. Deutscher Kongress für Philosophie, Kolloquienbeiträge, hg. v. Günter Abel, Hamburg 2006; Kulturtechnik Entwerfen: Praktiken, Konzepte und Medien in Architektur und Design Science, hg. v. Daniel Gethmann und Susanne Hauser, Bielefeld 2009; Siegfried Zielinski, Entwerfen und Entbergen. Aspekte einer Genealogie der Projektion, Köln 2010; Wissen im Entwurf, 4 Bde., hg. v. Christoph Hoffmann und Barbara Wittmann, Zürich und Berlin 2008-2011; Claudia Mareis und Christof Windgätter, Long Lost Friends. Wechselbeziehungen zwischen Design-, Medien- und Wissenschaftsforschung, Zürich/Berlin 2012; Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 1 (2012), „Schwerpunkt Entwerfen“, hg. v. Lorenz Engell und Bernhard Siegert; Wissenschaft Entwerfen. Vom forschenden Entwerfen zur Entwurfsforschung der Architektur, eikones-Reihe, hg. v. Sabine Ammon und Eva Maria Froschauer, München 2013.
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VORWORT
prägendes Moment für sehr unterschiedliche Entwicklungen. Mehr noch, Heideggers Insistenz im Umgang mit dem Begriff und Phänomen des Entwerfens – nicht zuletzt seine eigene zunehmende Kritik an einem einseitig voluntaristisch-subjektivistisch verstandenen Entwurfsparadigma – bietet Möglichkeiten sowohl zur gegenwärtigen Begriffsklärung als auch zu neuen Anverwandlungen, wie sie seit der frühen Rezeption Heideggers immer wieder vorgelegt worden sind.2 Im Ausgang von Heidegger lässt sich das Entwerfen jenseits der trivialen Bestimmung durch „Intuition“ oder „Kreativität“ (creatio ex nihilo) und der Entwurf selbst jenseits der nicht minder trivialen Auffassung als eines bloß heuristischen Mittels denken: Entwerfen ist ein Öffnen oder Eröffnen verborgener Möglichkeiten, damit selbst ein Möglichkeitsdenken im Vollzug und der Entwurf dessen Verdichtung hin zur erfahrbaren Sinnfälligkeit. Heideggers umfangreiches Begriffsfeld um das Entwerfen herum – Entwurf als Zu- und Gegenwurf, als Weltentwurf oder als vorbildlicher Entwurf, die alle nicht nur in einem Entwurfsbereich stattfinden, sondern diesen allererst eröffnen; die inzwischen sprichwörtliche Heidegger’sche Geworfenheit des endlichen Subjekts und dieses wiederum als geworfener Werfer; nicht zuletzt der Auf- oder Grundriss des Seins, der zumindest einigen Werfern gelingt, etc. – sie alle verweisen auf ein überaus differenziertes Beschreibungs- und Reflexionsinstrumentarium, das bislang jedoch insbesondere in der Entwurfsforschung nicht ausreichend Anwendung gefunden hat. Ziel des Bandes ist es daher, die Modalitäten des Entwerfens mit Heidegger und mit diesem über ihn hinaus auszuloten, dies im Spannungsfeld bildkritischer, entwurfstheoretischer, architektonischer, literarischer und philosophischer Fragestellungen. Im Mittelpunkt steht hierbei stets die Frage, wie sich an den verschiedenen Phänomenen des konkreten Entwerfens epistemischer, ästhetischer und ethischer 2 Aus der umfangreichen Wirkungsgeschichte des Heidegger’schen Entwurfsbegriffs seien herausgegriffen: Jean-Paul Sartre, L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique, Paris 1943, S. 3780, 477-598; Maurice Merleau-Ponty, Phénoménologie de la perception, Paris 1945, S. 466-495; Paul Ricœur, Philosophie de la volonté. Le volontaire et l’involontaire, Paris 1960, S. 60-64; HansGeorg Gadamer, Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 7. Aufl., Tübingen 2000 (= Gesammelte Werke. Bd. 1), S. 266-277. Da der vorliegende Band bei Erschienen von Heideggers sogenannten „Schwarzen Heften“ (Martin Heidegger, Überlegungen II-XII. Schwarze Hefte 1931-1941, hg. v. Peter Trawny, Frankfurt am Main 2014 [=Gesamtausgabe Bd. 94–96]) bereits gesetzt war, konnte die neue Forschungslage kaum mehr berücksichtigt werden. Wie die drei neuen Bände der Gesamtausgabe schon bei erster Sichtung zeigen, wird im Zuge der Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels deutscher Ideengeschichte auch Heideggers Begriff des „Entwurfs“ von Revisionen nicht unberührt bleiben können. Soweit gegenwärtig absehbar ist, muss nun geklärt werden, in welchem Umfang die unmittelbaren begrifflichen und deskriptiven Ressourcen, die man bei Heidegger zweifelsohne findet, argumentativ und phänomenologisch davon unterminiert werden, dass Heidegger sie selbst in den Zusammenhang eines „geistigen Nationalsozialismus“ (vgl. Heidegger, Überlegungen II-VI, Gesamtausgabe Bd. 94, S. 135-136) stellt. Es wird im einzelnen zu klären sein, ob Heideggers Begriffsfeld des Entwerfens, wie es uns aus den bisher zugänglichen Texten bekannt gewesen war, aus Heideggers eigenen tiefer als bisher angenommen sitzenden Ressentiments und politischen Verirrungen entwunden werden kann oder nicht. Dazu kann der Band immerhin indirekt einen Beitrag leisten, indem er zeigt, was ohne Heideggers eigene nationalsozialistische Einschreibungen im Ausgang von dessen Entwurfsdenken jedenfalls zu denken möglich ist.
VORWORT
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Sinn konstituiert, wie der entworfene Sinn im Entwurf selbst noch offen für weitere Sinnbestimmungen bleiben kann, kurz: wie im Entwurf die Offenheit des Entwerfens über sich selbst hinausgeworfen wird. Im Sinne einer systematischen Aufbereitung der vielfältigen transmedialen und transkategorialen Entwurfsbewegungen sortiert der vorliegende Band die versammelten Beiträge in ein epistemisches, ästhetisches und ethisches Entwerfen. Was auf den ersten Blick kaum fraglich erscheint, bedarf gleichwohl einer Erläuterung: denn zum einen sind die drei Hinsichten sachlich eng verbunden, zum anderen besteht folglich die Möglichkeit, dass eine Hinsicht anhand der anderen erläutert wird, beispielsweise epistemische oder ethische Fragen anhand des künstlerischen Entwerfens im Sinne einer Ästhetik der Existenz. So lässt sich bei genauerer Lektüre kaum ein Textbeitrag eindeutig nur einer einzigen der drei Hinsichten zuordnen. Erfindendes Entwerfen und Welterzeugung, künstlerisches Schaffen und Bildentwurf, Lebens- und Weltentwürfe durchdringen sich vielmehr gegenseitig und verweisen auf eine fruchtbare Komplexität des Begriffs. In seiner kategorialen Wandelbarkeit führt dieser sowohl auf die phänomenale Differenziertheit des Entwurfsgeschehens, als auch auf die sachliche Einheit, die sich im Schnitt verschiedener Blickbahnen zeigt. Diese Mehrdeutigkeit des Begriffs erfordert ein Denken, das die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen einer reflexiven Entwurfsforschung in den Mittelpunkt stellt. Der philosophischen Frage „Was heißt Entwerfen?“ versucht der vorliegende Band so selbst erst Gewicht zu verleihen. Antworten sucht er indes nicht nur in, sondern auch jenseits der Philosophie im engeren Sinne – auf dem Feld der Künste, der modernen Wissenschaften und nicht zuletzt der Lebensentwürfe. Ein Nachdenken über das Entwerfen kann nicht im luftleeren Raum des Denkens allein geschehen, bei dem „ich“ – mit Kant gesprochen – „denken kann […], was ich will, wenn ich mir nur nicht widerspreche“.3 Ganz anders das Nachdenken über das Entwerfen: hier wird das Denken vom Realen in die Pflicht genommen. Im Entwerfen suchen wir nach realen Möglichkeiten, nach einem Möglichkeitssinn im Wirklichen. „Was kann ich aus etwas machen?“, dies ist die Grundfrage allen Entwerfens, das stets im Bestehenden anhebt – und sei es auch gegen dieses gerichtet. Deshalb ist das Nachdenken über das Entwerfen gut beraten, nicht nur eine reine Logik des freien Planens und Umsetzens zu entfalten, sondern auch und zuerst – wie in den versammelten Texten geschehen – Zusammenhänge aufzusuchen, in welchen Ideen sinnlich werden. Man sollte also den Kontakt und den Widerstand der Dinge suchen, durch welche der Entwurf entsteht (Materialien, Situationen, Geschichten etc.) oder an welchen das Entwerfen sinnliche Spuren hinterlässt (Bauten, Ruinen, Bilder, Gedichte etc.), und somit als
3 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B XXVII (Text nach: Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, hg. v. Jens Timmermann, Hamburg 1998).
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sinnlicher Anhaltspunkt – erneut mit Kant – „viel zu denken veranlaßt, ohne daß […] doch irgend ein bestimmter Gedanke […] adäquat sein kann“.4 Die vorliegende Textsammlung wurde im Dialog zwischen Basel und Freiburg im Breisgau konzipiert. Dieser ging zunächst eine Tagung am Nationalen Forschungsschwerpunkt Bildkritik „eikones“ an der Universität Basel im Frühjahr 2012 voraus, an der einige der Autorinnen und Autoren des vorliegenden Bandes teilgenommen hatten. Unser Dank gilt vielen, ohne deren Mitsein dieser Sammelband ein Entwurf ohne Realitätssinn geblieben wäre: der Basler Universität als Gastgeberin und dem NFS Bildkritik für die kontinuierliche Unterstützung, namentlich seinen beiden Direktoren Gottfried Boehm und Ralph Ubl, sowie Orlando Budelacci und Michael Renner, als auch Günter Figal und dem Lehrstuhl I am Philosophischen Seminar Freiburg; Frank Berberich und Heinz Jatho, die den Wiederabdruck eines Textes von Alain Badiou ermöglichten, der zuerst in der Kulturzeitschrift Lettre Internationel erschienen war; Sonja Feger für die umsichtige editorische Fertigstellung der einzelnen Aufsätze. Nicht zuletzt möchten wir an dieser Stelle den Autorinnen und Autoren danken, die sich unserer Frage nach dem Entwurf aus verschiedenen Perspektiven und Hintergründen gewidmet haben. Wir hoffen, dass ihre Antworten weitere Fragen aufwerfen und auf die eine oder andere Weise dazu anregen, in der Realisierungsoffenheit des Entwurfs auch den Möglichkeitssinn im Realen selbst zu erkennen, das keineswegs alternativlos ist. Freiburg und Basel im Juli 2013 David Espinet und Toni Hildebrandt
4 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, hg. v. Heiner F. Klemme, Hamburg 2009 (Stellenangaben nach der Paginierung aus: Immanuel Kant, Kants Werke, hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1902 ff. (= Akademieausgabe), S. 314.
I. ÄSTHETISCHES ENTWERFEN
ALEXANDER SCHWARZ
Finden, Erfinden, Entwerfen Gedanken zum Entwurf des Neuen Museums, Berlin Als wir anfangen, darüber nachzudenken, was das Neue Museum nach unserem Eingreifen sein soll, ist das Neue Museum seit mehr als fünfzig Jahren eine Ruine (Abb. 1.1). Es dient keiner Nutzung mehr und zeigt in einem Zustand zwischen Gebäude und Natur, verfallend dem Wiederaufbauen harrend, seine gebrochene Physis. Mit dem Verlust der Oberfläche wird sichtbar, wie es gebaut ist, die Vielzahl seiner Werktechniken bis zum Rohbau, der den Architekten Friedrich August Stüler auf dem Höhepunkt seiner Schaffenszeit zeigt. Die gesteigerte physische Präsenz der Ruine reflektiert aber auch die beiden anderen Existenzweisen des Neuen Museums. Zum einen spiegelt es diejenige vor seiner Zerstörung im zweiten Weltkrieg wider, als ein Museum für die Ägyptische Sammlung und die Sammlung für Vor- und Frühgeschichte. Zum anderen steht es für ein Nachleben der ursprünglichen Idee Friedrich Wilhelms IV., in der Mitte der an Topografie armen Stadt eine Freistätte für Kunst und Wissenschaft akropolisartig aufzuwerfen. Mit seinem didaktisch durchdrungenen Reproduktionscapriccio will Stüler im damals ersten dreigeschossigen Museum Europas die Kulturgeschichte der Menschheit, quasi enzyklopädisch, abbilden. Der Ideenkosmos umfasst Bautechnik, Werktechnik, Raumdekoration und Exponat gleichermaßen. Abguss und Original sollen ein möglichst vollständiges Bild erzeugen. Der Bau mit seinen von Raum zu Raum wechselnden Welten ist selbst Exponat. Stüler scheitert an diesem Konzept. Während der Rohbau in einer logistischen Meisterleistung innerhalb von nur fünf Jahren noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erstellt wird, dauert die Ausstattung über zehn Jahre und ist bei seiner Eröffnung bereits konzeptionell überholt. Stüler fällt in der Wahrnehmung seiner Zeitgenossen vom Avantgardisten zum müden akademischen Verhinderer. Erst die großen Grabungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts machen das Haus zu dem, was es vor seiner Zerstörung war, ein Schatzhaus mit atemberaubenden Sammlungen originaler Altertümer, Schliemann-Gold und Nofretete eingeschlossen. Dann Ruine und schließlich der Wettbewerb mit der Aufgabe, die Ruine wieder nützlich zu machen und die vierte Existenz des Neuen Museums zu entwerfen. Darin sollten möglichst die städtebaulichen, infrastrukturellen und sammlungsübergreifenden Probleme der Museumsinsel gelöst werden. Ausgehend von der Grundhaltung, dass es an dem Ort bereits viel gibt und dass es daher wohl eher um den Umgang mit dem Gefundenen geht und weniger um die Virtuosität der eigenen Erfindung, haben wir, in Zusammenarbeit mit dem Restaurierungsarchitekten Julian Harrap, den dreistufigen Wettbewerb gewonnen. Einer anschließenden intensiveren Auseinandersetzung mit dem
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ALEXANDER SCHWARZ
Ort halten die Lösungsansätze aus unserem Wettbewerbsentwurf allerdings nicht stand. Die Gegenwart des Orts, die Ruine, wirft zunächst ganz andere Fragen für den Umgang mit dem Ort auf, nicht die nach der Vergangenheit und nicht die nach der Zukunft. Die physische Gegenwart der nutzlos gewordenen Ruine entfaltet naturähnlich eine quasi vorsprachliche Unmittelbarkeit, die ich als gültig und wahr empfinde, ohne genau sagen zu können, worin sie besteht. Das berührt Grundsätzliches der Architekturerfahrung. Es gibt Orte, die machen unmittelbar glücklich. Obwohl gemacht, obwohl gebaut, gewollt und erdacht, kann manchmal Architektur dazu führen, dass wir, ähnlich dem Wandern in der Natur, schöpfungsimmanente Stimmigkeit empfinden. Das mag damit zu tun haben, dass Architektur Orte besetzt und diese vorher auch schon sind. Weil Ort stets einmalig ist, ist es Architektur eigentlich auch. Streng genommen müssen wir, wenn wir Architektur machen, um einmalig zu sein, nichts erfinden. Es genügt bisweilen zu finden, was da ist. Die Gemengelage Ort ist voller meist autorenloser Erfindung. Ist Stüler der Autor der Ruine des Neuen Museums? Der Pilot, der die Bombe auf das Neue Museum wirft – entwirft er? Feuer, Einschüsse, Wetter – sind sie Autoren des Neuen Museums? Unser Entwurf für die Restaurierung der Ostfassade sei „meteorologischer Impressionismus“, argumentierte Peter-Klaus Schuster, ehemaliger Generaldirektor der Staatlichen Museen zu Berlin. Angesichts des Vorschlags, die Sandstein imitierenden Putzquader dort, wo sie weggewittert sind, nicht vollständig nachzuempfinden, müsse er, Schuster, feststellen: „…offenbar entwerfe das Wetter“. Entwirft das Wetter? Zumindest ist es aufs Engste mit Architektur, Ort und Atmosphäre verknüpft. Man baut, weil man an einem Ort bleiben will, obwohl das Wetter dagegen spricht. Indem der Bau vor dem Wetter schützt, ist er ihm ausgesetzt. Das wird man dem Bau ansehen. Für Ruskin bedeutet dieser Alterungsprozess einen atmosphärischen Wert, der entscheidend für die Anmut eines Baudenkmals ist. Indem ein Bau schützt, ist er selbst ungeschützt. Eine Ruine schützt nicht mehr gut. Sie ist wie das, was sie nicht mehr schützt, dem Verfall preisgegeben. Für ein Museum hingegen ist es wesentlich, dass es seine Sammlung schützt (Abb. 1.2). Museen haben die Aufgabe, den natürlichen Verfall ihrer Sammlung signifikant zu verlangsamen. Dafür wird bisweilen baulich, technisch und energetisch großer Aufwand betrieben. Wir wollen Dinge, die nicht dauerhaft sind, zukünftigen Generationen materiell erhalten und weitergeben. Offensichtlich gehen wir davon aus, dass in den Dingen etwas wohnt, das wir nicht restlos in Information, die uns eine vollkommene Reproduktion erlauben würde, umwandeln können. Für uns ist auch die Ruine des Neuen Museums ein solches Ding. Der Bau ist, wie bereits bei Stüler, beides zugleich, Behausung der Sammlung und Exponat. Das führt bei Stüler zu einer gigantischen Ansammlung von Reproduktionen, die wir heute als nicht reproduzierbare Originale betrachten. Für die Planung erweist sich das als eine Sisyphusarbeit. Schutz zu bieten für die Originale der Ägyptischen Sammlung und der Sammlung für Vor- und Frühgeschichte bedeutet heute eine Vollklimatisierung. Vollklimatisierung bedeutet Lüftungsleitungen, Doppelboden, Wandvorsatzschalen, Abhangdecken, dichte Iso-
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lierverglasung etc. Unmöglich ist diese Herausforderung in einem Haus, in dem jede erhaltene Oberfläche selbst Exponat, nicht reproduzierbares Original ist. Im Niobidensaal (Abb. 1.3), dessen Zuluftleitung außen im Dachzwischenraum der Kolonnade verläuft, während seine Abluft über den benachbarten Nordkuppelsaal durch das Kuppelauge geführt wird, gibt es Fenster mit originaler Verglasung. Einfachverglasung aus böhmischem Glas in bemerkenswertem, ungeteiltem Format. In der Außenansicht stößt das filigrane Glas in ausgesprochen moderner Anmutung scheinbar rahmenlos auf die Sandsteinlaibung. Freilich ist das Fenster aus heutiger Sicht bauphysikalisch völlig unzulänglich und gar nicht geeignet für ein Museum, in dem beispielsweise auch die Luftfeuchte konditioniert wird. Die bauphysikalische Unschuld, die Leichtsinnigkeit ist zweifellos Teil der Anmutung des Fensters. Es berührt auch, weil sein Erhalten-Sein der Gewalt der Zerstörung, die man dem Bau auch ansieht, so diametral entgegensteht. Eine Mitarbeiterin unseres Büros war mehr als ein Jahr nur damit beschäftigt, dieses Fenster so weit zu ertüchtigen, dass es, obwohl es modernen Anforderungen entspricht, seine Anmut und seine Substanz behält. Lohnt sich das? Immerhin handelt es sich nur um ein Fenster aus dem 19. Jahrhundert. Wenn wir es wertschätzen als Ding, wenn wir es als Exponat wertschätzen, lohnt sich das. Gerade in der Ambivalenz seiner Existenz – einerseits ist es Exponat und andererseits muss es besser denn je funktionieren, muss schützen vor Wetter und Diebstahl – sehe ich einen hohen Wert, der auch wieder Grundsätzliches der Architekturerfahrung anspricht. Indem es beides ist, ist es beides nicht ganz. Es funktioniert nicht so gut wie ein neues Fenster, ist aber nicht mehr so unschuldig wie das vorgefundene Fenster, das man ja auch hätte ausbauen und als nutzloses Exponat zeigen können. Architektonisches Entwerfen ist Abwägen. Zugleich das Eine sein und das Andere. Meistens widerspricht die Kurzfristigkeit einseitiger Optimierung der Langfristigkeit architektonischer Entscheidungen. Architektur, die nicht nützlich ist, kann schnell lächerlich werden. Architektur, deren Nutzung hingegen erloschen ist, ist häufig sehr architektonisch und ästhetisch. Warum ist die Ruine des Neuen Museums so schön? Sie ist doch die Folge von Schrecklichem, von Feuer, Krieg, Zerstörung und Verfall. Vielleicht zeigt aber die Ruine, ähnlich der Baustelle, nicht nur wie der Bau gemacht ist, sondern zeigt auch die immanente architektonische Schönheit des Baus, die mit dem Verschwinden des Nützlichen blank, unmittelbar und ungeschützt vor uns liegt. Seit wir begonnen haben, mit dauerhaften Materialien zu bauen, also schon sehr lange, sind wir mit dem Phänomen konfrontiert, dass Bauten länger existieren als ihre Nutzung. Wir sind schon sehr lange in der Lage, Architektur jenseits des Aspekts seiner Nützlichkeit zu beurteilen. Wir erfahren Architektur als vorgefunden, als Ort. Vielleicht subsummiert die Erfahrung architektonischer Schönheit sehr lange erworbenes passives Wissen um Architektur jenseits ihrer unmittelbaren Nützlichkeit. Wie wir Ort spüren, spüren wir Architektur, atmosphärisch sozusagen. Ich denke, die wenigsten Menschen können sagen, was den atmosphärischen, also gesamtheitlichen Eindruck eines Orts ausmacht. Aber sehr viele empfinden die Atmosphäre eines Orts. Unser passives Wissen und Wahrnehmen ist enorm. Wir
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können augenblicklich sagen, ob wir einen Ort mögen. Beim ersten Aufschließen der Wohnungstür wissen wir bereits, ob die Wohnung für uns als Wohnung in Frage kommt. Das Originalfenster aus dem 19. Jahrhundert ist atmosphärisch hochgradig relevant. In seinem Entwurf überwiegt die Öffnung. Seine materielle Reduktion entspricht seiner konzeptionellen Idee, nicht Wand zu sein. Die Stelle, wo der Schutz der Wand aufgegeben wird. Heute würde man planerisch alles tun, damit ein Fenster in einem Museum funktional, klimatisch wie mechanisch, der Wand so nahe wie möglich kommt, also möglichst wenig Öffnung und Schwächung der Schutzfunktion zulässt. Öffnen ist so wesentlich für ein Museum wie Umschließen. Umschließen dient dem Bewahren, dem Schützen der Sammlung, die Öffnung dem Licht und der Zugänglichkeit, dem Zeigen, der Begegnung von Sammlung und Betrachter, von Exponat und Ort. Wenn man ein Museum entwirft, entwirft man zugängliche Abgeschiedenheit. Unser Entwurf des Folkwang Museums versucht im Wesentlichen nur, zwischen den beiden Polen Öffnen und Einschließen das richtige Maß abzuwägen (Abb. 1.4 und Abb. 1.5). Die grandiose Öffnungsgeste von Schinkels Altem Museum, die Verschränkung von Außenraum und Innenraum, die Treppenhalle als nicht verglaster Außenraum (Abb. 1.6), wirkt wie das Kopfmotiv der Berliner Museumsinsel, auf der die Sammlungen öffentlich zugänglich sind, während sie gegenüber im Schloss eingeschlossen waren. Der Öffnungsgeste folgt die Rotunde, das Pantheon, als ultimativer Raum des Umschließens und der Konzentration mit dem Kuppelauge als Öffnung gegenüber dem Himmel (Abb. 1.7). Auch der Entwurf der Treppenhalle des Neuen Museums träumt mit seinen großen Trippelfenstern vom Außenraum (Abb. 1.8). Seine Architektur atmet die Sehnsucht nach einem arkadischen Ort, wo die Architektur weit weniger trennen muss zwischen außen und innen, weil außen nichts ist, das ausgeschlossen werden müsste, um das Innere vor Schaden zu bewahren. Auch die Ruine gibt die Trennung von Außenraum und Innenraum auf, wird sozusagen arkadischer, auch wenn sie dadurch auf Dauer verzehrt wird. Dem Phänomen des Eindrucks, im Ruinösen erfülle sich eine immanente Sehnsucht, begegnet man immer wieder. Die vier Kopien der Erechteion-Säulen, die in der Treppenhalle den Brand überstanden haben, sind in ihrer durch die Zerstörung gesteigerten Physis nicht nur von illustrativen Kopien des Erechteions zu originalen Säulen der Treppenhalle des Neuen Museums mutiert, sondern wirken, weil sie ihre didaktische Anämie verloren haben, nicht mehr klassizistisch, sondern selbst antikisch wie ihre Vorbilder. Sie haben heute mehr Gegenwart und mehr Vergangenheit. Ähnliches gilt für den Nordkuppelsaal (Abb. 1.9), dem Pantheon im Neuen Museum, dessen antikische Anmutung eine unmittelbar emotionale Wirkung entfaltet, ganz im Gegensatz zur Raumwirkung der Rotunde des Alten Museums, die mich, wenn ich ganz ehrlich bin, merkwürdig kühl lässt, obwohl der Entwurf des Schinkel‘schen Pantheons den des Stüler‘schen weit übertrifft. Das liegt natürlich am restauratorischen Entwurf aus den 50er Jahren und dessen unterdrückter Materialität. Der restauratorische Entwurf des Nordkuppelsaals versucht, die physische Kraft und Schönheit der gebrochenen Oberflächen zu bewahren und sie rückzubinden in den Zusammen-
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hang des Raumes, der nun nicht mehr Ruine ist sondern Behausung für die Büste der Nofretete. Die Archäologien beider Dinge, des Raumes aus dem 19. Jahrhundert wie der Büste aus dem zweiten Jahrtausend vor Christus, überlagern sich wundervoll und machen beide staunen über die Unwahrscheinlichkeit ihrer Existenz und Sinnlichkeit. Freilich ist die Exposition beider fragwürdig und natürlich steht diese im Vordergrund und jener im Hintergrund. Es geht beim restauratorischen Entwurf für das Neue Museum nicht um die Konservierung einer Ruine. Es geht nicht um Pompei. Eine Ruine ist staubig, ein vollklimatisiertes Museum ist es besser nicht. Restauratorisches Entwerfen im Neuen Museum ist hochgradig manipulativ. Der Zusammenhang des Vorgefundenen wird neu definiert und mit dem Neuen in Beziehung gesetzt. Daraus entsteht ein neues Neues Museum. Seine erhaltene, alte Substanz soll möglichst viel von der unmittelbar sinnlichen Gültigkeit bewahren, obwohl sie aus ihrer ruinösen Existenz in den Zusammenhang eines nützlichen Ganzen und auch sehr schönen Gebäudes transponiert wird. Das erhaltene Alte wird nicht, wie so häufig bei Restaurierungen, in seine Kopie verwandelt. Es wird jedoch alles getan, um es möglichst gut innerhalb seines Raumzusammenhanges zu stützen und zur Geltung zu bringen. Das heißt, wenn es gebrochen ist, wird notwendigerweise auch sein Gebrochen-Sein erhalten, auch wenn es in erster Linie gerade nicht darum geht, den Bruch zu monumentalisieren, sondern aus dem Alten und dem Neuen ein neues Ganzes zu entwerfen. Das bedeutet, das entwerferische Interesse am Bruch gilt nicht so sehr der Grenze sondern gilt dem Übergang. Der Entwurf zeichnet nicht die pittoreske Karte des Schadens, nicht das moderne ornamentale Detail der Lücke, der Distanz zwischen Alt und Neu. Alt und Neu berühren sich. Sowohl physisch als auch im übertragenen Sinne. Das Neue weiß um das Alte und weiß um das Verlorene, das es ersetzt, ohne es zu imitieren. Das Alte bleibt alt und das Neue wird neu entworfen, und beide berühren sich und formen ein Ganzes, das nützlich ist und schön. Es inkorporiert die Zerstörung und spricht auch darüber, allerdings nicht so laut. Worüber soll die Architektur des Neuen sprechen? Ein frühes Konzeptmodell aus dem Gutachterverfahren zeigt die großen Neubauergänzungen des Neuen Museums als weiße Gipsform (Abb. 1.10) , als „neutrale“ Wiederherstellung der Form, welche die erhaltenen Teile, ähnlich den Fragmenten einer griechischen Vase, in den Zusammenhang der kompletten Form einbindet. Diese scheinbare Objektivität kann wohl keine Architektur erfüllen. Indem sie entworfen wird, ist sie subjektiv und keineswegs neutral. Sie spricht, auch wenn sie nicht, wie beispielsweise Stülers didaktische Architektur, im engeren Sinne eine sprechende Architektur ist. Und Sie ist emotional. Mit Semper vermute ich, dass Architektur sprachlich ist, seitdem wir gelernt haben, mit dauerhaften Materialien zu bauen. Davor war sie vermutlich bereits emotional. Architektur spricht häufig über Architektur. Das ist mir am liebsten, denn ich finde, sie neigt zu unangenehm lautem Plappern, wenn Sie dieses Gebiet verlässt. Man muss auch bedenken, dass sie aufgrund ihrer langen Weile häufig wiederholt, was sie sagt, was unter Umständen eine ziemliche Zumutung sein kann. Ich habe einmal einen Brunnen für den Nicolaikirchhof in Leipzig entworfen (Abb. 1.11), der laut Wettbewerbsaufgabe
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über die politischen Ereignisse des 9. Oktober 1989 sprechen sollte. Er schweigt darüber. Sein Entwurf spricht über sein Brunnen-Sein, sein Stein-Sein und sein Wasser-Sein. Und obwohl er physische Extreme auslotet – die große Schale besteht aus einem monolithischen Block Lausitzer Granits (Abb. 1.12), die dem Wasser eine perfekt horizontale Oberfläche bietet, sodass der Überlauf die Brunnenwand gleichmäßig netzt – scheint er so normal, dass man in Leipzig nicht darüber nachdenkt, seit wann es den Brunnen gibt oder ob er einmal entworfen wurde. Er murmelt nur. Man kann ihn leicht überhören. Stülers Prinzip der Kernform und der Zierform ist eine hochentwickelte Architektursprache, die über Architektur spricht. Die schmiedeeiserne Sehne des den Raum stützenfrei überspannenden Bogen-Sehnen-Trägers im Niobidensaal erhält eine vergoldete Zinkgussummantelung mit einem Kordelmotiv, das uns das Zugglied des Trägers als Seil zeigt. Die Dekoration des Trägers veranschaulicht seine Funktionsweise. In unserer Seherfahrung ist die Tatsache, dass in einem Seil ausschließlich Zugkräfte in Seilrichtung herrschen können, zumindest passiv tief eingeprägt. Das goldene Hanfseil ist die didaktische Aufbereitung der statischen Funktion des in Wahrheit in einem dauerhafteren Material (Schmiedeeisen) ausgeführten Zugglieds des Bogen-Sehnen-Trägers, das im Kern der Verzierung liegt. Als ambitionierter, avantgardistischer Baumeister hat Stüler allen Grund, über die Funktionsweise des Bogen-Sehnen-Trägers zu sprechen, stellt sie doch von all seinen anderen Deckentragwerken, wie diversen Kuppeln, Tonnen, Pfeilern, Säulen und Architraven, das modernste und sein eigenes Tragwerk dar, das den Raum filigran und stützenfrei überspannt. Sein genialer Lehrer, Schinkel, konnte das noch nicht. Doch worüber soll die neue Architektur sprechen? Was entwerfen? Wenn die Lücke im Bestand klein ist, erfolgt ihre Schließung als Reparatur. Angenehm an der Reparatur ist, dass sich ihre architektonische Aussage dem Bestand völlig unterordnen kann. Es ist interessant zu sehen, wie Häuser, die kontinuierlich immer nur repariert wurden, häufig ein hohes Maß an Authentizität und atmosphärischer Dichte erreichen. Um reparieren zu können, muss aber genug Substanz vorhanden sein. Die großen Fehlstellen hingegen brauchen, wenn sie nicht das Verlorene kopieren wollen, Erfindung. Sie zu entwerfen, heißt nachdenken über das Verlorene, nachdenken über die Funktion und nachdenken über das neue Ganze. Weil auch das, was verloren ist am Neuen Museum, gesamtheitlich die Kulturgeschichte des Bauens reflektiert, gilt es über die Kulturgeschichte des Bauens generell nachzudenken. Dies trifft umso mehr zu im Wissen und mit der Erfahrung, dass die Ruine Grundsätzliches aufwirft. Eine Besonderheit am Entwerfen für die Museumsinsel scheint zu sein, dass die lange Auseinandersetzung mit dem Ort und den vielen Beteiligten nicht zu einer Verwässerung sondern zu einer Konzentration führt. Bis auf die Decke der Treppenhalle ist nichts geblieben, wie es im Wettbewerb vorgesehen war. Für mich sind die im Prozess längsten und spätesten Entwurfsentscheidungen häufig die dichtesten hinsichtlich ihres Gehalts an Gefundenem und Erfundenem. Obgleich der Reflexionsgrad über das Gefundene und das Verlorene im Erfundenen höher und deutlich subjektiver wird, erscheint das lange und spät Ent-
FINDEN, ERFINDEN, ENTWERFEN
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worfene unmittelbar einleuchtend. Es ist stimmiger, schöner. Die Erfindung der Decke in der Treppenhalle ist vermutlich richtig. Glücklich macht sie mich nicht; die Decke des Saals hinter der Treppe hingegen schon; und die Südkuppel, die ich am liebsten entworfen habe, auch.
GÜNTER FIGAL
Seinkönnen in der Welt Zur Phänomenologie des Entwerfens Für A.M.E.S. – zurückwerfend
1. Entwerfen, so erfährt man aus Grimms Wörterbuch der deutschen Sprache, heißt Umreißen, etwas in den Hauptlinien kennzeichnen, damit es dann ausgestaltet werden kann; so umreißt ein Maler mit Zeichenkohle die Figuren eines Bildes und arbeitet das Bild dann in Farbe aus. Entwerfen heißt auch allgemeiner: „in gedanken entwerfen, den plan zu etwas fassen“.1 Plan im wörtlichen Sinne ist aber wiederum „der grundrisz einer bodenfläche“, eines Hauses oder einer Stadt.2 Planen heißt demnach zunächst: einen Grundriss zeichnen, die Umrisse ziehen, nach denen und in denen etwas gebaut werden kann. Spricht man allgemeiner von einem Plan im Hinblick auf das, was man vorhat, so wird das Wort auf das absichtsvolle Tun übertragen; wie der Entwurf dem Bau vorausgeht, so geht der Plan, also die entwickelte, möglichst gut überlegte Absicht, einer Handlung voraus. Dieses Vorausgehende und im Wortsinne Provisorische bleibt auch im Spiel, wenn das Wort Entwurf zu einem philosophischen Begriff wird. Trotz einer zwar bedeutsamen, aber noch beiläufigen Formulierung Kants, nach der „die Vernunft nur einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt“,3 geschieht dies erst bei Heidegger. Mit seiner philosophischen Habilitierung des Entwurfs nimmt Heidegger eine weitere Übertragung vor. Wie Heidegger betont, soll es nun nicht mehr um Absicht und Planung gehen; mit „einem Sichverhalten zu einem ausgedachten Plan“ habe das Entwerfen, wie er es konzipiert, nichts zu tun.4 Im Entwerfen vollzieht sich demgegenüber die Eröffnung desjenigen Bereichs, in dem Absicht, Planung und Sichverhalten erst möglich sind. Entwurf in diesem Sinne ist Weltentwurf und damit zugleich der Selbstentwurf des menschlichen Daseins in die Welt hinein. Mit dem Entwurf der Welt öffnen sich Möglichkeiten des Tuns, die allesamt Möglichkeiten des je eigenen „Seinkönnens“ sind. Allein im Zusammenhang 1 Jacob Grimm/Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 3, Leipzig 1862, Sp. 655. 2 Jacob Grimm/Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 7, Leipzig 1889, Sp. 1885. 3 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1904/11 (= Kants Werke. Bd. III), B XIII. 4 Martin Heidegger, Sein und Zeit, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1977 (= Gesamtausgabe. Bd. 2), S. 193.
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dieser Möglichkeiten findet alles, was in der Welt entdeckbar ist, seinen Sinn; Entwurf als Weltentwurf ist Sinnentwurf, das heißt: die vor jeder Erfahrung, apriorisch geschehende Bestimmung der Welt auf die Grundmöglichkeit hin, im menschlichen Dasein sinnvoll oder auch sinnlos zu sein. Allein in dieser Vorbestimmung wird die Welt im Sinne Heideggers zur Welt. Nach Sein und Zeit hat Heidegger den skizzierten Gedanken weiterentwickelt und dabei die in Sein und Zeit ganz formal bleibende Bestimmung des Weltentwurfs konkretisiert und differenziert. Dabei verschiebt sich der Begriff – weg von der am alltäglichen Verhalten orientierten Konzeption des Verstehens hin zu Konzeptionen wissenschaftlicher und künstlerischer Weltdeutung, die zugleich originäre Welterschließung sein soll. In diesem Sinne unterscheidet Heidegger in der Vorlesung des Wintersemesters 1931/32, Vom Wesen der Wahrheit, naturwissenschaftliche, geschichtliche und künstlerische Entwürfe. Die klassische Physik der Moderne vollziehe einen Entwurf, durch den „vorausspringend“ umgrenzt worden sei, „was überhaupt unter Natur und Naturvorgang künftig verstanden werden“ solle.5 Die Geschichtsbetrachtung, die Heidegger am Beispiel Jacob Burckhardts erläutert, sei dadurch bedeutend, dass Burckhardt „den vorausgreifenden Wesensblick für Menschenschicksal, Menschengröße und Menschenkümmerlichkeit, für Bedingtheit und Grenze menschlichen Handelns“ in sich habe wirken lassen. So habe er „das vorgreifende Verständnis des Geschehens dessen, was wir Geschichte nennen“, gehabt.6 Der Künstler schließlich habe „den Wesensblick für das Mögliche“ und bringe so „die verborgenen Möglichkeiten des Seienden zum Werke“, derart, dass sie „die Menschen erst sehend“ mache „für das Wirklich-seiende, in dem sie sich blindlings herumtreiben“.7 Grundsätzlich bedeutet Entwurf hier noch dasselbe wie in Sein und Zeit; gemeint ist immer noch die apriorische Vorbestimmung eines Bereichs, in dem das Einzelne und Besondere dann gemäß dieser Vorbestimmung entdeckbar ist. Gerade das macht Heideggers Konkretisierungen jedoch schwierig, denn man hat es nicht in jedem der genannten Beispiele mit einer solchen Vorbestimmung zu tun. Genau genommen vollzieht der Künstler keinen Entwurf, genauso wenig wie die Kunst selbst, was Heidegger, den skizzierten Gedanken variierend, einige Jahre später in Der Ursprung des Kunstwerkes sagen wird;8 weder der „Wesensblick für das Mögliche“ noch das Werk selbst öffnen, diesen vorbestimmend, einen Bereich des Verhaltens, sondern lassen einfach nur das Mögliche als solches zum Vorschein kommen. Auch der „Wesensblick“ für das Geschichtliche wird sich kaum als „das vorgreifende Verständnis des Geschehens dessen, was wir Geschichte nennen“ ausweisen lassen – als ob sich nicht erst in der geschichtlichen Betrachtung und Darstellung ergeben müsste, was als Geschichte zu verstehen ist. Wie auch immer der 5 Martin Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit. Zu Platons Höhlengleichnis und Theätet, hg. v. Herrmann Mörchen, Frankfurt am Main 1988 (= Gesamtausgabe. Bd. 34), S. 61. 6 Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit. Zu Platons Höhlengleichnis und Theätet, a.a.O., S. 62. 7 Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit. Zu Platons Höhlengleichnis und Theätet, a.a.O., S. 64. 8 Martin Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“, in: Holzwege, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1977 (= Gesamtausgabe. Bd. 5), S. 1-74, hier S. 60.
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„Wesensblick“, von dem Heidegger spricht, genauer zu fassen wäre, kann er nur das Wesen jedes Einzelnen und Besonderen betreffen und ist darin keine „vorgreifende“, die Entdeckung des Einzelnen und Besonderen leitende Bestimmung. Durch einen Entwurf im Sinne der „vorausspringenden“ Umgrenzung wäre demnach allein die Naturwissenschaft bestimmt, und es dürfte kein Zufall sein, dass Heidegger sich bei seinen späteren Erläuterungen zur Sache – wie in der Vorlesung Die Frage nach dem Ding aus dem Wintersemester 1935/369 – allein an sie gehalten hat. Offenbar hat Heidegger die Schwierigkeiten seiner früheren Entwurfstypologie inzwischen gesehen. Jedenfalls räumt er in seinem 1938 gehaltenen Vortrag Die Zeit des Weltbildes ein, „der Entwurf und die Sicherung des Gegenstandsbezirkes der historischen Wissenschaften“ sei „nicht nur von anderer Art, sondern leistungsmäßig weit schwieriger als die Durchführung der Strenge der exakten Wissenschaften“.10 Im Gegenzug wird für die Naturwissenschaften diese „Sicherung“ des Entwurfs ebenso betont wie die Notwendigkeit der „Strenge“ des durch ihn bestimmten „Vorgehens“.11 Zum Entwurf, wie Heidegger ihn denken will, gehört offenbar die sichernde Vorbestimmung der Dinge, die im Umgang mit ihnen methodisch einlösbar ist. Diese Festlegung des Entwurfs auf die Sicherung hat freilich eine Konsequenz, die Heidegger in späteren Jahren tatsächlich zieht, indem er auf den Begriff des Entwurfes verzichtet. Die Sicherung, von der in Wissenschaft und Besinnung die Rede ist, also das Verfügbarmachen der Dinge durch Einpassung in einen vorgegebenen konzeptuellen Rahmen, hat mit dem Möglichkeitssinn, der in Sein und Zeit noch für den Entwurf wesentlich war, nichts mehr zu tun. Die moderne Wissenschaft, so liest man, stelle dem Wirklichen nach, um es sicherzustellen,12 und sie bearbeite jede neu auftauchende Erscheinung so lange, „bis sie sich in den maßgeblichen gegenständlichen Zusammenhang der Theorie“ einpasse.13 Wissenschaft, derart verstanden, ist kein Entwurf, sondern eine Ausprägung des verfügenden Wesens der Technik: des Ge-stells.
2. Damit wäre die Karriere des philosophischen Entwurfsbegriffs zu Ende, wenn nicht Gadamer den Begriff aufgenommen und in seiner Konzeption des Verstehens aufgenommen hätte, die, wie sie in Wahrheit und Methode entwickelt ist, noch unerfüllte Sinnerwartung oder Sinnantizipation bei der Lektüre eines Textes als 9 Martin Heidegger, Die Frage nach dem Ding, hg. v. Petra Jaeger, Frankfurt am Main 1984 (= Gesamtausgabe. Bd. 41) bes. S. 92-124. 10 Martin Heidegger, „Die Zeit des Weltbildes“, in: Holzwege, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1977 (= Gesamtausgabe. Bd. 5), S. 75-113, hier S. 79. 11 Heidegger, „Die Zeit des Weltbildes“, a.a.O., S. 75-113, hier S. 79. 12 Vgl. Martin Heidegger, „Wissenschaft und Besinnung“, in: Vorträge und Aufsätze, hg. v. FriedrichWilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 2000 (= Gesamtausgabe. Bd. 7), S. 37-66, hier S. 50. 13 Heidegger, „Wissenschaft und Besinnung“, a.a.O., S. 51.
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Entwurf bezeichnet. Wer einen Text verstehen wolle, werfe „sich den Sinn des Ganzen voraus, sobald sich ein erster Sinn im Text“ zeige. Das „Verstehen dessen, was da steht“, vollziehe sich dann im „Ausarbeiten eines solchen Vorentwurfs, der freilich beständig von dem her revidiert“ werde, „was sich beim weiteren Eindringen in den Text“ ergebe.14 Hier ist das Vorläufige, im Wortsinne Provisorische des Entwerfens berücksichtigt und gegenüber der Verfügungssicherheit einer Wissenschaft wieder zur Geltung gebracht, die immer schon weiß, was sie sucht und damit nie etwas Neues findet. Gadamer beantwortet in seinen Überlegungen auch die von Heidegger offen gelassene Frage danach, wie der Entwurfscharakter der sogenannten Geisteswissenschaften zu fassen sei. Aber trotzdem wertet Gadamer den Entwurfsbegriffs nicht nachhaltig auf. Der Begriff bleibt bei ihm recht unspezifisch; das Verstehen, wie Gadamer es konzipiert, ist ja kein originäres Erschließen einer Möglichkeit, sondern nichts als ein Phasenmoment – gleichsam der Platzhalter des noch nicht Verstandenen. Verstehen im Sinne Gadamers geschieht erst, wenn der im Entwerfen leer vorweggenommene Sinn sich erfüllt. Doch man sollte die Marginalisierung des Entwurfsbegriffs nicht einfach hinnehmen. Dafür ist der Begriff zu aufschlussreich; er ist zu gut geeignet, die eigentümliche Erschließung des Möglichen zu fassen, die das Verhalten in und zu Möglichkeiten trägt. Allerdings kommt es für eine Rettung des Begriffs darauf an, Heideggers Einseitigkeiten zu vermeiden, die schließlich zu seinem Verzicht auf den Begriff geführt hatten. Wie das möglich ist, zeigt sich an diesen Einseitigkeiten selbst. Der Entwurf, wie Heidegger ihn konkret fasst, ist entweder, im Hinblick auf die Kunst, die Erschließung des einfach nur Möglichen, dem kein besonderes Verhalten zu den Dingen entspricht; oder er ist, im Hinblick auf die Naturwissenschaft, die Festlegung eines einzig möglichen Verhaltens zu den Dingen. Obwohl die Vereinseitigung sich erst mit der Konkretion des Entwurfsbegriffs ergibt, ist beides schon in der formalen Fassung des Entwurfs in Sein und Zeit angelegt. Im Entwurf des In-der-Welt-seins geht es einerseits um die reine Möglichkeit des „Seinkönnens“, die nicht im Verhalten zu den Dingen der Welt verankert ist, und andererseits darum, dass die Welt die Möglichkeit des Verhaltens in ihr und zu den in ihr entdeckbaren Dingen zugestellt ist. Entsprechend hat Heidegger die Verlagerung des Entwurfs auf das Dasein selbst von der Verlagerung auf die „Erschlossenheit der Welt“ unterschieden und so die Möglichkeit des Seinkönnens und die Möglichkeit der Realisierung bestimmter Ziele im Möglichkeitsbereich der Welt auseinandergehalten. Es bedurfte nur eines weiteren Schrittes und die isoliert einseitigen Bestimmungen, mit denen die Struktur des Entwurfs nicht vereinbar ist, treten hervor: hier die reine Möglichkeit, dort die Möglichkeit der Sicherstellung des Verhaltens. Diese Vereinseitigungen sind freilich nicht zwingend. Heidegger selbst hat betont, dass der Entwurf „immer die volle Erschlossenheit des In-der-Welt-seins“ be-
14 Hans-Georg Gadamer, Hermeneutik I. Wahrheit und Methode: Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 7. Aufl., Tübingen 2000 (= Gesammelte Werke. Bd. 1), S. 271.
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treffe.15 Wenn alles andere zu Schwierigkeiten führt, ist es nur konsequent, das Wesentliche des Entwurfs auch in dieser „vollen Erschlossenheit“ zu sehen, sodass Seinkönnen und Welt sich im Entwurf wechselseitig bestimmen. Dann ist die Welt als Bereich des Seinkönnens offen, ebenso wie das Seinkönnen als solches welthaft ist. Und dann ist der Entwurf kein Weltentwurf des Daseins mehr, in dem die Welt auf das Dasein hin bestimmt wird, sondern eine jeweilige, immer welthaft gebundene, auf Welthaftes bezogene Möglichkeit des Seinkönnens in der Welt. Dieses Verständnis des Entwurfs kehrt zur Grundbedeutung des Wortes zurück und macht seine Übertragungen auf die planvolle Absicht und weiter auf die apriorische Erschließung der Welt wieder rückgängig. Entwurf ist nun wieder das, was auch alltäglich darunter verstanden wird: Entwurf eines Bildes, einer Erzählung oder Abhandlung, eines Gebäudes, eines Gartens oder einer Stadt. Das heißt jedoch nicht, Heideggers Bestimmungen seien einfach vergessen. Durch sie oder nach dem Durchgang durch sie lässt sich der Entwurf im nichtmetaphorischen Sinn viel besser begreifen und klarer beschreiben. So lässt sich auch zeigen, was im genauen Sinne Entwurf genannt werden kann und nicht nur in selbstverständlich gewordener, aber unsachgemäßer Verwendung des Wortes so heißt.
3. Dabei sollte man zunächst wieder auf das Wort Entwurf zurückgehen und auf die mit ihm evozierte Bewegung achten. Im Werfen verbinden sich Absicht und damit auch Zielrichtung mit Unkontrollierbarkeit. Werfen ist ein – mitunter konzentriertes – Tun. Doch ist etwas einmal geworfen und damit im Flug, lässt seine Bewegung sich nicht mehr beeinflussen. Entsprechend gelangt es nicht unbedingt dorthin, wo es hinkommen sollte. Es kann freilich auch an eine glückliche Stelle gelangen, ohne dass dies mit dem Wurf bewirkt worden wäre. In diesem Sinne kann auch allgemein vom Wurf als einem glücklichen Ergebnis oder einem guten, nicht vorhersehbaren Gelingen die Rede sein.16 Entwerfen heißt demnach: etwas absichtlich in Gang bringen, das dennoch nicht absehbar ist. Das Entwerfen führt nicht geradewegs zu etwas, sondern es lässt etwas sich ergeben, durchaus auch etwas, das nicht in der Zielrichtung des Wurfes liegt – so wie, nach einem Gedicht Rilkes, ein emporgeworfener Ball: ... wenn er steigt, als hätte er ihn mit hinaufgehoben, den Wurf entführt und freiläßt –, und sich neigt und einhält und den Spielenden von oben
15 Heidegger, Sein und Zeit, 19. Aufl., Tübingen 2006, S. 194. 16 Friedrich Schiller, „Über naive und sentimentalische Dichtung“, in: Philosophische Schriften, hg. v. Eduard von der Hellen, Stuttgart/Berlin 1904 (= Schillers Sämtliche Werke. Bd. 12), S. 161-263.
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auf einmal eine neue Stelle zeigt, sie ordnend wie zu einer Tanzfigur[.]17
Doch Entwürfe sind keine Spiele mit dem Zufall, deren Ergebnis offen und deshalb in der einen oder anderen Weise überraschend ist. Entworfen wird etwas, von dem von vorn herein feststehen muss, was es sein soll. Aber wie genau es sein soll oder gar sein wird, ist offen. Es zeichnet sich irgendwie ab; man mag sogar eine Vorstellung davon haben. Doch gehört es zum Entwerfen, dass eine solche Vorstellung nicht zu schnell zu genau wird. Zum Entwerfen gehört das Ausprobieren und Abwägen, nicht selten werden vorläufige Ergebnisse variiert und revidiert. Aber das geschieht nicht, weil man ein genaues Bild von etwas hätte, an dem der Entwurf orientiert wäre und dem er sich anzupassen hätte. Vielmehr soll sich ein solches Bild durch den Entwurf erst ergeben. Entwürfe sind Erkundungen eigener Art; sie sind Klärungs- und Entdeckungsmöglichkeiten dessen, was noch nicht da ist. Weil es so ist, spielt sich das Entwerfen ganz und gar im Möglichen ab. Mit der Bestimmtheit des zu Entwerfenden öffnet sich ein Bereich von Möglichkeiten, die in der einen oder anderen Weise das zu Entwerfende betreffen. Dieser Bereich ist offen, solange der Entwurf nicht abgeschlossen ist; seine Offenheit ist die des Entwurfs selbst. Die Möglichkeiten sind mannigfacher Art. Sie können mit der Gestalt und den Eigenschaften des zu Entwerfenden zu tun haben, doch ebenso mit dessen Einbindung in einen Zusammenhang. Auch können Möglichkeiten der Realisierung dessen, was entworfen wird, im Spiel sein. Aber im Entwerfen unterstehen diese nicht einer bereits abgeschlossenen Vorstellung von etwas, das, nachdem es hinreichend klar bestimmt ist, nur noch realisiert werden muss. Vielmehr bildet sich das zu Entwerfende auch in der Erwägung und Einbeziehung von Realisierungsmöglichkeiten erst aus; es wird anders, je nachdem welche Realisierungsmöglichkeiten überhaupt in den Entwurf eingehen und welche von ihnen im Entwerfen aufgenommen, weiterentwickelt und für die Realisierung des zu Entwerfenden festgelegt werden. Die Bestimmtheit des zu Entwerfenden und der Bereich von Entwurfsmöglichkeiten gehören zusammen; erst ihre Zusammengehörigkeit macht den Entwurf als solchen aus. Etwas ist allein dadurch etwas zu Entwerfendes, dass es auf einen Bereich von Möglichkeiten bezogen und aus diesem Bereich verstanden wird. Etwas wird dadurch zur Entwurfsmöglichkeit, dass es auf etwas zu Entwerfendes bezogen und allein im Hinblick auf dieses betrachtet und erwogen wird. Das zu Entwerfende schließt Möglichkeiten auf, und diese lassen es entwerfbar sein. Das zu Entwerfende und der Bereich der Entwurfsmöglichkeiten sind in ihrer Zusammengehörigkeit ursprünglich; eines ist mit dem anderen da. Beide treten in ihrer Ursprünglichkeit mit dem Werfen, das im Entwurf spielt, hervor. Das Werfen im Entwurf ist das Spiel, das in der Spannung zwischen dem zu Entwerfenden und 17 Rainer Maria Rilke, „Der Ball“, in: Der neuen Gedichte, anderer Teil, hg. v. Manfred Engel, Frankfurt am Main/Leipzig 1996 (= Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Bd. 1), S. 583584, hier S. 584.
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dem Bereich der Entwurfsmöglichkeiten gespielt wird. Es ist der ursprüngliche, in jedem Entwurfsmoment wirksame Möglichkeitsimpuls – die Intuition, dass etwas sein kann, ein Impuls, der sich immer wieder neu mit der Absicht verbindet, etwas, das sein soll, zu ermöglichen und hervortreten zu lassen. Mit dieser Absicht sieht man sich in einen Bereich von Möglichkeiten versetzt, in dem sich das Beabsichtigte entwickeln kann. Das ist allein in diesem über die Absicht hinausreichenden Bereich und damit im Unvorhergesehenen möglich; entwickeln kann sich das jeweils Beabsichtigte nur, wenn etwas, das nicht zu ihm gehört hat, in es eingehen, es beeinflussen und es so konkretisieren oder modifizieren kann. So ist im Entwerfen die Absicht immer auch ins Unabsichtliche zurückgenommen; was beabsichtigt ist, muss sich immer auch ergeben können, und es ergibt sich aus dem Bereich der Entwurfsmöglichkeiten, in den die Absicht gehört. So geht das nicht Beabsichtigte auf eine niemals ganz kontrollierbare Weise in die Absicht ein. Im Spiel zwischen dem Beabsichtigten und dem Bereich der Entwurfsmöglichkeiten kann sich das zu Entwerfende herausbilden. Es bildet sich in der mehr oder weniger absichtlichen, also mehr konstruktiven oder mehr assoziativen Verbindung der Entwurfsmöglichkeiten zu einem Ganzen, das ein Konzentrat der Entwurfsmöglichkeiten und in seiner Ganzheit ein Pendant des offenen Bereichs ist, der diese umfasst. Mit diesem Ganzen erst zeigt sich, was nach der Maßgabe dieses Entwurfs unter dem im Voraus bestimmten zu Entwerfenden zu verstehen ist.
4. Sobald das Ganze des Entworfenen sich zeigt, ist es Werk geworden. Dann steht es da, und der Prozess des Entwerfens liegt, je länger es dasteht, immer weiter zurück. Man muss ihn eigens in Erinnerung rufen, um im Werk noch einmal das Entworfene zu sehen. Damit übersetzt man die innere Ordnung des Werks in den offenen Bereich der Entwurfsmöglichkeiten zurück. In diesem Sinne hat Peter Zumthor den Entwurfsprozess seiner Therme in Vals (Graubünden) festgehalten – von der anfänglichen Bestimmtheit des zu Entwerfenden an, die nicht schon mit dem Auftrag der Gemeinde, ein Thermalbad zu bauen, gegeben war, sondern mit dem initialen Entwurfsgedanken „Felsblöcke stehen im Wasser“,18 aus dem sich dann, wie Zumthor berichtet, allmählich die Gestalt des Thermebaus ergab. Dabei konkretisiert sich der Stein des initialen Gedankens zum Valser Gneis, wie er in Mauern, Dachplatten und im Fels des oberen Rheintals zu sehen ist. Das Gebäude selbst, das an einen Hang gebaut und durch den Hang hindurch, unterirdisch zugänglich sein soll, wächst aus Möglichkeiten, die der Architekt in den die Straße nach Vals überspannenden Lawinenschutzgalerien findet, auch in der Staumauer des Zervreilasees weiter hinten im Tal (Abb. 2.1). Natürlich wächst der Thermebau auch aus der Erfahrung von anderen Bädern. Zumthor erwähnt das Rudas-Bad in Budapest 18 Peter Zumthor, Therme Vals, Texte: Sigrid Hauser, Peter Zumthor; Bilder: Hélène Binet, Zürich 2007, S. 27.
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mit seinen farbigen Oberlichtern,19 außerdem die türkischen Bäder in Istanbul und Bursa mit ihren flach ins Wasser führenden Steintreppen, ihrem gedämpften, die Badenden aufnehmenden Licht (Abb. 2.2). Und er erwähnt, wie die Rhythmik der steinernen Volumina und der von ihnen begrenzten, durch sie geöffneten Räume aus einem Partiturbild von John Cage erwuchs, auf dem Zeichen sich verdichten und zerstreuen (Abb. 2.3). All dies und vieles mehr hat in den Bereich der Entwurfsmöglichkeiten gehört, der sich in dem Augenblick öffnete, als der initiale Gedanke, „Felsblöcke stehen im Wasser“, da war. Und als der Entwurfsbereich offen war und sich mit Möglichkeiten anreicherte, konnte sich in ihm und aus ihm der initiale Gedanke ausbilden. Manche der von Zumthor genannten Entwurfsmöglichkeiten lassen sich leicht wiederfinden, wenn man die Therme besucht; einige von ihnen wie die Entsprechung zwischen den aus schmalen Platten geschichteten Wänden und dem Fels, der über dem engen Tal aufragt, sind sogar offensichtlich. Dennoch lässt sich der als Werk dastehende Bau auf die ihm vorausgehenden Entwurfsmöglichkeiten nicht zurückführen. Eine Bedingung dafür wäre, dass man sie und ihr Zusammenspiel vollständig kennte, und das ist nicht der Fall. Der rückblickende Bericht des Architekten ist unvollständig und muss es sein. Vieles mag er bei der Entwurfsarbeit an seinem Bau gesehen, überlegt und gezeichnet haben, das er nicht erwähnt; vieles davon hat er womöglich vergessen und anderes, das erwogen und verworfen wurde, ging in den Bau nur indirekt ein, als eine der unzählbaren nichtrealisierten Möglichkeiten, ohne die sich die realisierten nicht herausgebildet hätten. Auch sie waren schließlich zunächst nichts weiter als Möglichkeiten ohne Realisierungsgarantie, solche, die geprüft oder einfach als Möglichkeiten gelassen werden konnten. Oft ist das sogar besonders günstig. Möglichkeiten müssen nicht immer ‚ergriffen‘ werden; oft genug wachsen sie von selbst und werden immer bestimmter, um schließlich ohne jeden Zwang unabweisbar zu sein. Nicht über jede Möglichkeit wird entschieden, und wenn über eine entschieden wird, so bleibt der Zusammenhang, in den diese Möglichkeit gehört, der Entscheidung vorgängig – nicht unzugänglich, aber in der Entscheidung selbst nicht fassbar. Wollte man versuchen, den Bereich der Entwurfsmöglichkeiten genau und en détail zu fassen, so müsste man das Leben des Künstlers während der Entwurfszeit beschreiben, und zwar einschließlich all der Erfahrungen, die in dieser Zeit wirksam oder als erinnerte wieder gegenwärtig geworden sind. Ein solches Unternehmen aber wäre nicht die getreuliche Rekonstruktion einer Werkgenese, sondern ein neues Werk, das eine auswählende, Akzente setzende Darstellung des Entwurfsbereichs sein müsste und so diesem gegenüber Eigenständigkeit gewönne. Nicht umsonst hat Thomas Mann sein Buch über die Entstehung des Doktor Faustus, das den skizzierten Versuch unternimmt, den „Roman eines Romans“ genannt. Dass Werke auf ihre Entwurfsmöglichkeiten nicht zurückführbar sind, heißt nicht, diese seien in den Werken verschwunden. Vielmehr sprechen die Entwurfsmöglichkeiten im dastehenden Werk mit – mehr oder weniger deutlich, mehr oder 19 Zumthor, Therme Vals, a.a.O., S. 70.
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weniger verschwiegen. Aber diese Möglichkeiten sind, mit einer Formulierung Gadamers gesagt, ins Gebilde verwandelt20 und damit zu Möglichkeiten des Werks geworden. Ebenso ist die Offenheit des Entwurfsbereichs nun die Offenheit des Werks, die das Werk in der Fülle seiner ihm eigenen Möglichkeiten sein lässt. Derart kann das Werk selbst für den Künstler, der es entworfen hat, erstaunlich werden. Er sei „überrascht und irritiert“ gewesen, schreibt Zumthor, als er die ersten aufgemauerten Wände des Thermebaus gesehen habe: Alles entspricht zwar genau unseren Plänen. Aber diese harte und zugleich weiche, diese glatte und felsähnliche, diese in vielen Grau- und Grüntönen schillernde Präsenz der aus Steinplatten gefügten Quader habe ich nicht vorausgesehen. Für einen Moment beschleicht mich das Gefühl, unser Projekt entgleite mir und verselbständige sich, weil es nun Materie wird und seinen eigenen Gesetzmässigkeiten folgt.21
Die beschriebene Eigenständigkeit eines Werkes und damit auch seine Unreduzierbarkeit auf die ihm vorausgehende Ermöglichung sind charakteristisch für Werke der Kunst. Nur Kunstwerke oder Dinge, die in ihrer Eigenständigkeit den Kunstwerken im engeren Sinne nahekommen, können – und müssen – entworfen werden. Nur bei Kunstwerken und solchen Dingen, Gebrauchsdingen mit skulpturaler Anmutung zum Beispiel, steht nicht im Vorhinein fest, wie sie aussehen sollen. Sie haben keine als solche erkennbare und in verschiedenen Materialien realisierbare Form, die in ihrer Bestimmtheit die Herstellung leiten könnte. Kunstwerke haben, anders gesagt, kein εἶδος, und Dinge, die ihnen nahekommen, ohne Kunstwerke zu sein, gehen in ihrem εἶδος nicht auf. Man erfährt sie, anders gesagt, nicht in einem Sinn, den sie für uns haben, zum Beispiel darin, dass sie in einer bestimmten Weise zu gebrauchen sind. Vielmehr nimmt man sie, wie Zumthor es an seinem eigenen Werk beschreibt, in ihrer entgegenstehenden Eigenständigkeit – das heißt: in ihrer Gegenständlichkeit – wahr. Sie sind nicht eidetisch, sondern ästhetisch hergestellt worden; sie sind entworfen worden und konnten sich deshalb, nicht ohne Absicht, aber auch nicht allein durch die Absicht geleitet, in einem dichten Gewebe von Möglichkeiten und aus diesem heraus ergeben. Weil die ästhetische Herstellung wesentlich Entwurf ist, lässt sie sich auch nicht in den Bestimmungen der eidetischen Herstellung fassen. Kunst ist sie nicht im Sinne der τέχνη, an der seit Platon und Aristoteles die philosophische Bestimmung und Beschreibung des Herstellens allein orientiert ist. τέχνη ist, wie Heidegger einmal sagt, „eine Weise des Wissens“.22 Sie ist ein Herstellen, das vom Wissen geleitet ist, davon also, dass etwas im Voraus Gewusste das Herstellen leitet und dass sich im Herstellen das Gewussthaben dieses Gewussten erweist oder bestätigt. In diesem Sinne ist auch die Naturwissenschaft, wie Heidegger sie beschreibt, ‚technisch‘; sie ist eine Modifikation der τέχνη, sofern sich im Berechnen 20 Vgl. Gadamer, Hermeneutik I. Wahrheit und Methode: Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, a.a.O. 21 Peter Zumthor, „Der Körper der Architektur“, in: Architektur Denken, 2. erw. Aufl., Basel/Boston/Berlin 2006, S. 53-62, hier S. 62. 22 Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“, a.a.O., S. 46.
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von etwas seine im Voraus angesetzte Berechenbarkeit erweist. Die ästhetische Herstellung hingegen ist als solche kein Wissen. Wie zum Beispiel die Kunst des Architekten zeigt, muss zwar Wissen in sie eingegangen sein, aber sie geht als Kunst im Wissen nicht auf. Sie kommt aus dem Möglichen und geht deshalb, voraussetzungslos wie sie ist, hinter jedes Wissbare und Gewusste zurück. Sie erkundet, wie etwas sein kann. Der Architekt, der als Künstler eine Therme baut, will entwerfend erkunden, wie ein solcher Bau möglich ist. Dabei muss ihm alles, was in irgendeiner Weise mit der Möglichkeit des Baues zusammenhängt, zu einer Möglichkeit werden, die in den Entwurfsbereich des Baues gehört. Im Entwerfen leben, das heißt: im Möglichen leben; es ist ein Leben aus dem Können, und dieses ist hier ganz dem, was sein kann und sich realisieren soll, unterstellt. Nichts, was ins Entwerfen gehört, keine Betrachtung von etwas, keine Lektüre, kein Gespräch ist dann selbstverständlich; nichts von dem, was erfahren wird, ist einfach, was es alltäglich ist, nichts ist nur realer Bestand. Alles bezieht sich auf das, was entstehen soll; die „Fähigkeit und Bereitschaft, [...] Beziehungen aufzuspüren zum eigenen leidenschaftlichen Treiben“ werde, wie Thomas Mann beobachtet, „fast komisch“. Dabei sei die Wahrheit, „daß einem das Beziehungsvolle und Anzügliche beständig von allen Seiten“ entgegenkomme und „auf fast kupplerische Weise zugespielt“ werde.23 Aber dieses Leben im Möglichen ist nicht auf Dauer gestellt; es ist auf das Werk ausgerichtet. Wenn das Werk dasteht, wenn nichts mehr zu erwägen und zu ändern ist, ist das Entwerfen an seinem von Anfang an bekannten, aber zugleich nicht vorwegnehmbaren Ziel; es erfüllt sich, und es ist zu Ende. Gerade so, in ihrer Vollendung, sind Werke, Gebäude zum Beispiel, auf das Seinkönnen bezogen. Sie geben Möglichkeiten zu sein, weil sie in den Sinnsetzungen des alltäglichen Lebens nicht aufgehen und Anlass zum Hinsehen und Hinhören geben, dazu, Räume als Räume zu erfahren – ihre Begrenztheit und Weite, ihr Spiel von Licht und Schatten, ihre Dichte und Transparenz. Diese Möglichkeiten geben Werke, indem sie in Anspruch nehmen und zugleich auf Abstand halten – in ihrer Gegenständlichkeit also. Sie lassen Spielraum, und dieser lässt sich wahrnehmen, weil nichts mehr entworfen wird; es ist alles schon da. Die Erfahrung dieses Daseins zeigt an, dass das Entwerfen zwar eine Grundform des menschlichen Lebens, aber keine seiner Grundbestimmungen ist. Es gibt ein Leben jenseits der Entwürfe. Um dieses Leben ist es auch im Entwerfen zu tun.
23 Thomas Mann, „Die Entstehung des Doktor Faustus. Roman eines Romans“, in: Das essayistische Werk, Frankfurt am Main 1968 (= Taschenbuchausgabe in acht Bänden. Schriften und Reden zur Literatur, Kunst und Philosophie. Bd. 3), S. 182.
DAVID ESPINET
Die Freiheit des Entwurfs Zur Antinomie der Kunst bei Kant, Bacon, Heidegger und Kandinsky Weitab von Aristoteles’ ästhetischen Schriften, in dessen Politik, findet sich die bis dahin kaum gängige Annahme, dass das „Zeichnen (γραφική)“ Teil der musischen Unterweisung sein solle. Kinder sollten Aristoteles zufolge „nicht nur wegen“ des „unmittelbaren Nutzens […] zeichnen lernen […], sondern eher, weil es zum Erfassen der Schönheit der Gestalt (θεωρητικὸν τοῦ τὰ σώματα κάλλους)“ verhelfe. „Denn überall das Nützliche zu suchen“, gehöre „sich am wenigsten für Männer mit einer hohen Gesinnung und von freier Art (τὸ δὲ ζητεῖν πανταχοῦ τὸ χρήσιμον ἥκιστα ἁρμόττει τοῖς μεγαλοψύχοις καὶ τοῖς ἐλευθερίοις).“1 In anderen Worten: das Zeichnen ohne praktische Absicht öffnet Aristoteles zufolge den Blick für die schöne Gestalt und übt dabei zugleich in Freiheit ein. Damit liegen bereits wesentliche Bestandteile der ästhetischen Theorie vor, wie sie Kant in der Kritik der Urteilskraft formuliert. Die Erfahrung von schönen Formen versetzt gemäß Kant den Menschen in Freiheit; zudem nimmt in den Ausführungen Kants die Zeichnung als das Medium reiner Form eine paradigmatische Stellung ein.2 Im Zuge der „Erläuterung durch Beispiele“3 für „reine […] Schönheit […] im Geschmacksurteile“4 lesen wir: „In der Malerei, der Bildhauerkunst, ja allen bildenden Künsten, in der Baukunst, Gartenkunst, sofern sie schöne Künste sind, ist die Zeichnung das Wesentliche, in welcher nicht, was in der Empfindung vergnügt, sondern bloß, was durch seine Form gefällt, den Grund aller Anlage für den Geschmack macht.“5 Das, „was“ nur „durch seine Form gefällt“, vermag gemäß Kant „die Anlage für den Geschmack“ auszumachen. Nicht der „Reiz der Farben 1 Aristoteles, Politik VIII, 4, 1338 a 18-1338 b 4. Übersetzung nach: Aristoteles, Politik Buch VII/ VIII. Über die beste Verfassung, übers. und erläutert von Eckhart Schütrumpf, hg. v. Hellmuth Flashar, Darmstadt 2005 (= Werke in deutscher Übersetzung. Bd. 9), S. 5 (Altgriechisch nach: Aristotelis Politica, ediert von William D. Ross, Oxford 1957). 2 Zum Paradigma der Linie bei Kant aus bildtheoretischer Sicht vgl. z. B. Arno Schubbach, „Grundbegriffe des Bildes. Die Linie“, in: Rheinsprung 11. Zeitschrift für Bildkritik 3 (2012), S. 174-182, hier S. 178-182: http://rheinsprung11.unibas.ch/archiv/ausgabe-03/glossar/linie. html (Zuletzt aufgerufen am 28.04.2013). 3 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, hg. v. Heiner F. Klemme, Hamburg 2009; Stellenangaben aller zitierten Werke Kants nach der Paginierung aus: Immanuel Kant, Kants Werke, hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1902ff. (= Akademieausgabe). Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 223-226. 4 Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 223. 5 Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 225 (Hervorhebung D.E.).
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oder angenehmer Töne des Instruments“, sondern „die Zeichnung […] und die Komposition […] machen den eigentlichen Gegenstand des reinen Geschmacksurteils aus.“6 Mit „Zeichnung“ und „Komposition“ meint Kant die sinnliche Struktur eines Artefakts oder Kunstwerks. Ohne Zweifel geben Kants Ausführungen zur schönen Form wenig Aufschluss über die Schönheit des Materials und die Fülle des Sinnlichen. Gleichwohl lohnt sich ein zweiter Blick auf seine Bestimmung der Erfahrung schöner Formen. Kants theoretische ‚Schwäche‘ in Bezug auf die volle sinnliche Anwesenheit des Schönen erweist sich in Bezug auf seine Analyse der schönen Form unabsichtlich als Stärke, muss Kant doch etwas an der Form entfalten, was man gewöhnlich an der sinnlichen Präsenz von Farbe und Klang festmacht. Sinnliche Eigenständigkeit, Konsistenz und damit die Autonomie des Werkes beginnen nicht erst mit der Farbe oder dem Klang, sie steckt bereits im grauen Linienzug der Zeichnung oder der bloßen Struktur der Komposition. Wie in neuerer Zeit Jean-Luc Nancys Le Plaisir au dessin deutlich macht, erweist sich die schöne Form bei Kant als reichhaltiger, gleichsam fülliger als ein dürrer Umriss, den man dann ausmalt: „Die Zeichnung ist die Öffnung der Form.“7 Nancys Ausführungen, die eine Ästhetik des Entwerfens in nuce darstellen,8 zeigen, dass die Zeichnung bei Kant nicht ihrer vermeintlich abgeschlossenen Formalität wegen zum Leitmedium schöner Formen avanciert, sondern aufgrund ihrer entwurfssensiblen Offenheit. Dieser ästhetischen Aufwertung der zeichnerischen Form entspricht nun, dass Kant die Entwurfsmetapher einsetzt, um die Freiheit der Einbildungskraft in der Berührung mit der schönen Form zu umreißen, was nun in einem ersten Schritt untersucht wird. Der Text gliedert sich in vier Gedankenbögen, von welchen der erste den Entwurfscharakter der Einbildungskraft bei Kant und die daraus resultierende Pluralität der Interpretationen erörtert (1.). Der zweite Bogen verfolgt das Entwerfen schöner Formen durch die Einbildungskraft und das darin wirksame Moment der Freiheit, die im Kontext der Kritik der Urteilskraft als eine dezidiert hermeneutische
6 Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 225. Farben und Klänge sind für Geschmacksurteile nur zugelassen, sofern sie nicht wie „Fremdlinge […] jene schöne Form […] stören“ (Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 225). „Farben“ und „Töne“ sollen und können Kant zufolge die Form der Zeichnung „nur genauer, bestimmter und vollständiger anschaulich“ (Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 225-26) machen. Gewinnen „Reiz“ und „Rührung“ hingegen die Oberhand, haben wir es gemäß Kant nicht mehr mit der „schönen Form“ zu tun, sondern mit „Schmuck“ oder „Zierat“ (Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 226). Bliebe Kants ästhetische Theorie hier stehen, sie wäre zweifelsohne defizitär. Zu Recht hat beispielsweise Deleuze darauf hingewiesen, dass Kant seine „Formalästhetik (esthétique formelle)“ des Schönen mit einer „materialen Metaästhetik (méta-esthétique martérielle)“ des Erhabenen verbindet. Gilles Deleuze, La philosophie critique de Kant, Paris 1963, S. 83. 7 Jean-Luc Nancy, Le Plaisir au dessin, Paris 2009, S. 9; vgl. darin auch das Kant gewidmete Kapitel „Finalité sans fin“, S. 111-117. 8 Vgl. David Espinet, „Skizze einer Ästhetik des Entwerfens. Rezension zu Jean-Luc Nancy, Le Plaisir au dessin“, in: Rheinsprung 11. Zeitschrift für Bildkritik 3 (2012), S. 166-173: http://rheinsprung11.unibas.ch/archiv/ausgabe-03/kritik/skizze-einer-aesthetik-des-entwerfens.html (Zuletzt aufgerufen am 21.04.2013).
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Freiheit verstanden werden kann (2.). Anders als die theoretische oder praktische Freiheit ermöglicht die Freiheit der Einbildungskraft im Umgang mit den schönen Dingen per se eine Pluralität der Auslegungen, indem die Einbildungskraft die Unabschließbarkeit des interpretierten schönen Gegenstandes – anders als die theoretische und praktische Freiheit in Bezug auf ihre epistemisch oder ethisch relevanten Gegenstände – grundsätzlich anerkennt. Veranschaulicht wird dies an Annahmen und Realisierungen Francis Bacons und Wassily Kandinskys (3. und 4.). Im dritten Gedankenbogen wird die kantische Entwurfsfreiheit mit der Antinomie des Entwurfs in Verbindung gebracht, wie sie Heidegger als gegenwendige Bezogenheit von freiem Entwurf und unfreier Geworfenheit entwickelt (5. und 6.). Insbesondere Heideggers Kunstwerkaufsatz und einige wenige Überlegungen zum Schönen in seinen Nietzschebänden erlauben eine dingaffinere Perspektive, von wo aus der Entwurf nicht nur als eine Bewegung der Selbstsorge verstanden werden muss, sondern der Entwurf in seiner Dinglichkeit aufgefasst werden kann. Auch der Entwurf als Ding wird von einer Antinomie durchzogen, dies besonders deutlich bei Entwürfen der bildenden Kunst. Ein solches Entwurfsding möchte ich „Entwürfel“ nennen (6.). Veranschaulicht wird die Antinomie des Entwürfels an Kandinskys Werk Bild mit weißem Rand und einigen Dokumenten seiner Entstehung. Der vierte und letzte Gedankenbogen geht unter diesem realistischen Blickwinkel dem Entwurfscharakter nach, wie er Heidegger zufolge gerade in vollendeten Kunstwerken am Werk bleibt (7.). Dabei wird Heideggers Monumentalisierung der Kunst als großer Entwurf einer Welt im Ganzen in Frage gestellt und durch die Annahme kleiner Entwürfe ersetzt, in welchen die sinnliche Präsenz und Resistenz der Heidegger’schen Erde – anders als bei Heidegger selbst – als widerständig bestehen bleibt.
1. Der Entwurfscharakter der Einbildungskraft und die Pluralität der Interpretationen Ein Axiom Kant’scher Ästhetik lautet, dass Urteile über das Schöne „ohne alles Interesse“9 seien, wenn sie denn Geschmacksurteile sein sollen, das heißt Urteile, die das Schöne gerade nicht verfehlen. Gemeint ist, dass beim Umgang mit schönen Dingen weder unsere praktische noch theoretische Existenz betroffen ist, dass beim Schönen also unerheblich wird, ob es angenehm oder unangenehm, ja, ob das schöne Ding objektiv erkennbar ist. Das Wohlgefallen, das wir am Schönen haben, kann sich nur losgelöst von dem, was wir bestimmen oder besitzen möchten, entfalten. Darin erweist es sich als gänzlich uninteressiert. Relevant wird in dieser Einstellung allein die Art und Weise, wie wir von den schönen Dingen affiziert werden, also wie sie uns erscheinen. Schönheit ist so verstanden reine Phänomenalität. Dieses rein anschauliche Sich-zeigen bedingt es, dass die schöne Form ohne 9 Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 211.
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Begriffe gefällt. Das Schöne erscheint im Licht einer „Zweckmäßigkeit ohne Zwecke“10 oder „Zweckmäßigkeit ohne Begriff“11 beziehungsweise „Regel“.12 Damit meint Kant, dass sich angesichts des Schönen eine Form der Sinnhaftigkeit einstellt, die ohne inneres subjektives Telos (Neigung/Moral) noch äußeren objektiven Grund (Tatsachenurteil/Erkenntnis) anspricht. „Das Schöne […] gefällt“ einfach so – „für sich selbst“.13 Dass diese ästhetische Einklammerung des Lebens- und Erkenntnisbetriebes möglich wird, bei der etwas „ohne Rücksicht auf den Gebrauch oder einen Zweck […] in Ansehung der Erkenntnis“14 gefällt, schreibt Kant dem spezifischen Entwurfsvermögen der Einbildungskraft zu. So lesen wir, dass „die Freiheit der Einbildungskraft“ in der „Absonderung von allem Zwange der Regel“15 bestehe; und das Urteilsvermögen über das Schöne, der „Geschmack“,16 zeige „in Entwürfen der Einbildungskraft seine größte Vollkommenheit“.17 Mit anderen Worten: Freiheit und Entwurfsvermögen der Einbildungskraft sind ein Vermögen. Die Spontaneität der ästhetisch befreiten Einbildungskraft besteht nicht wie jene der theoretischen Vernunft darin, dass die Einbildungskraft univoke Regeln schematisch umsetzen und begrifflich transparente Zusammenhänge, sozusagen fertige Baupläne, herstellen würde. Hierbei gälte gemäß Kant, dass „die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt“.18 Wäre dies alles, was wir von der Erfahrung erhoffen dürften, der Einbildungskraft käme beim Geschmacksurteil – wie beim Erkenntnisurteil – letztlich nur zu, schematische Passepartouts zu entwerfen. Dagegen besteht die „Freiheit“ der Einbildungskraft im Geschmacksurteil „darin, daß“ sie nun „ohne Begriffe schematisiert“.19 Kant umreißt hier eine sinnliche Gebärde der Vernunft nach der griechischen Bedeutung von σχῆμα, „Haltung des Leibes“ oder „Gebärde“. Angesichts der schönen Form zeigt die Einbildungskraft so einen freieren, durchaus willkürlichen Entwurfscharakter. Zur EinKant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 241. Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 241. Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 242. Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 244. Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 242. Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 242. Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 242. Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 242 (Hervorhebung D.E.). Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B XIII (Text nach: Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, hg. v. Jens Timmermann, Hamburg 1998). Eine genauere Lektüre dieser Passage aus der Einleitung zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft müsste indes darauf hinweisen, dass bei der Konstitution der „Prinzipien“ und „beständigen“ bzw. „notwendigen Gesetze“ gleichwohl ein Suchen im Spiel ist. Wie der „Richter“, der die Wahrheit stets vor dem Hintergrund bestehender Gesetze sucht, um gemäß diesen nach festen Grundsätzen zu urteilen, so „sucht“ die „Vernunft“ nach einem von ihr selbst „vorher entworfenen Plane“, den sie innerhalb empirischer Forschung „bedarf“ (Kant, Kritik der reinen Vernunft, B XIII; Hervorhebung D.E.). Selbst im Bereich theoretischer Erkenntnis kommt Kant also nicht ohne die Dimensionen des Suchens und der Offenheit aus, die Entwürfe mitbestimmen. Zur Möglichkeit theoretischer Spontaneität bei Kant insbesondere im Kontext der dritten Kritik vgl. Gerold Prauss, Kant über Freiheit als Autonomie, Frankfurt am Main 1983, S. 233-243. 19 Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 287 (Hervorhebung D.E.). 10 11 12 13 14 15 16 17 18
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bildungskraft hält Kant dann auch fest: Als „Urheberin willkürlicher Formen möglicher Anschauungen“ ist Einbildungskraft nicht nur „reproduktiv“, sondern „produktiv und selbsttätig“.20 Pointierter formuliert: Einbildungskraft ist in der Berührung mit den schönen Dingen vollständig frei und darin reine Entwürflichkeit. Im Bannkreis des Schönen kehrt sich die theoretische Konstitutionsrichtung geradezu um. Bei der „freie[n] und unbestimmt-zweckmäßige[n] Unterhaltung der Gemütskräfte mit dem, was wir schön nennen“, ist „der Verstand der Einbildungskraft, und nicht diese jenem zu Diensten“.21 Durch ihre unbegriffliche, das heißt vorintentionale Unbestimmtheit lockert die Einbildungskraft den Verstand gleichsam auf, der von sich aus nur das „Steif-Regelmäßige“ der „Symmetrie“22 begreift, was in ästhetischen Angelegenheiten aber „lange Weile macht“.23 Wenn wir bei Kant unsere Aufmerksamkeit auf den Entwurfscharakter der Einbildungskraft richten, dann zeigt sich Freiheit in ihrer willkürlichsten, freisten Form, ohne doch den Makel eines bösen Willens zu haben. Anders als dieser, der stets die eigene Interessiertheit zum Prinzip des Handelns erhebt, wird die Vernunft in der Berührung mit dem Schönen, das die Einbildungskraft belebt,24 von der Interessiertheit des Lebens befreit. Nicht das „liebe Selbst“25 bildet das Zentrum des Interesses, sondern eine offene Form, die das Interesse in mannigfaltige Interpretationsmöglichkeiten zerstreut. Indem die Vernunft so zu einer Pluralität von Interpretationen gezwungen wird, die sich nicht zu einer letzten einheitlich-kausalen, sachhaltig-wirklichen oder gar moralisch notwendigen Objektivität synthetisieren lassen, öffnet die Einbildungskraft die Vernunft auf den „Logos der sinnlichen Welt“,26 so aber, dass dieser nicht unter die Rechtssprechung der Begriffe fällt. Wäre dem so, wir sähen oder hörten nichts als den praktischen, moralischen oder epistemischen Wert eines schönen Dings, nicht aber dessen Schönheit und der nur daran sich zeigenden Wahrheit. Mit anderen Worten: Naturschönes oder Kunstwerke wären nur Typen im pragmatischen Setzkasten der vertrauten Lebenswelt, aber keine schönen Dinge mit ihrer eigenen sinnstiftenden Kraft. „Dagegen“ – anders als die Begriffe des Verstandes oder die Ideen der Vernunft – „ist das, womit die Einbildungskraft ungesucht und“ doch „zweckmäßig spielen kann“, die schöne
Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 240. Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 242. Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 242. Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 243. Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 219, S. 315. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: ders., Kants Werke, hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Akademieausgabe, Berlin 1902ff. (= Akademieausgabe. Bd. 4), S. 407; Text zitiert nach: Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, hg. v. Bernd Kraft und Dieter Schönecker, Hamburg 1999. 26 Ich greife eine Formulierung Husserls auf (vgl. Edmund Husserl, Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kritik der logischen Vernunft, hg. v. Paul Janssen, Den Haag 1974 (= Husserliana. Bd. 17), S. 297), auf die sich Merleau-Ponty wie auf ein Leitmotiv seines eigenen Denkens bezieht. Vgl. Maurice Merleau-Ponty, „Le philosophe et son ombre“, in: ders., Signes, Paris 1960, S. 201-228, hier S. 218.
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Form, „uns jederzeit neu“.27 Im Unterschied zur Betrachtungsweise also, die nur „Erkenntnis oder einen bestimmten praktischen Zweck zur Absicht hat“,28 kommt durch das Geschmacksurteil also eine befreiende Absichtslosigkeit ins Spiel, die eine „lange Unterhaltung mit der Betrachtung“ des Schönen „gewährt“.29 Die Berührung des Schönen stiftet für Kant so eine hermeneutische Freiheit, von welcher sich ein reines Verstandes- oder Moralwesen nichts träumen ließe.30
2. Hermeneutische Freiheit und der „Stoff“, aus dem ästhetische Ideen sind Was die „Einbildungskraft“ derart „in Freiheit setzt“ und dadurch eine „Gedankenfülle“ bewirkt, „der kein Sprachausdruck völlig adäquat ist“,31 nennt Kant eine „ästhetische Idee“. Ästhetisch ist diese, weil sie einen „Stoff“ besitzt, der „die Gemütskräfte zweckmäßig in Schwung versetzt“.32 Ästhetische Ideen vermögen es so, das „Gemüt zu beleben“.33 „Stoff“ meint hier nicht primär die empirisch affizierende Materie hyletischer Empfindung (schließt diese aber auch nicht aus), sondern zielt auf jene Stofflichkeit, die man auch meint, wenn man vom „Stoff eines Romans“ spricht. Der Romanstoff, der aus lauter realen Elementen bestehen kann (man denke an Balzacs oder Prousts Werke), besteht – im Roman – nicht aus bloßen empirischen Fakten. Dieser besondere Stoff wird durch die Komposition in eine offene Form gebracht, die Kohärenz mit Mannigfaltigkeit der Auslegungen verbindet. Weil dabei nicht allein die Begriffsmuster, die man im Alltag vorfindet, verarbeitet werden, sondern die sinnliche Erscheinung von Personen, Orten, Ereignissen, von Gesichtern, Stimmen, Blicken, überhaupt Leibern, von Häusern, Städten, Landschaften, von Stimmungen, Zuständen, Zufällen und dergleichen, und weil diese sinnlichen Oberflächen unserer Erfahrung nicht primär in der univoken Bedeutsamkeit alltäglicher Zusammenhänge erscheinen, deshalb spricht beispielsweise der Stoff eines Romans – anders als die intentional vermittelten alltäglichen empirischen Fakten – auf direkte Weise sinnlich an. Während wir alltäglich immer schon durch pragmatische, moralische, weltanschauliche Filter wahrnehmen, ist Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 243. Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 243 (Hervorhebung D.E.). Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 243. Diese Überlegungen zur „hermeneutischen Freiheit“ bei Kant verdanken sich in vielfacher Weise den Arbeiten Günter Figals, vgl. insbesondere Günter Figal, Gegenständlichkeit. Die Hermeneutik und die Philosophie, Tübingen 2006, bes. S. 196-205; Günter Figal, Erscheinungsdinge. Ästhetik als Phänomenologie, Tübingen 2010, bes. S. 70-74. Für eine systematische Untersuchung zu Freiheit und reflektierender Urteilskraft im Rahmen hermeneutischer Fragestellungen vgl. Rudolf A. Makkreel, Imagination and Interpretation in Kant. The Hermeneutical Import of the Critique of Judgment, Chicago/London 1990. 31 Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 326. Kant spricht hier vordergründig nur von der Dichtkunst, der Sache nach geht es Kant um die ästhetische Idee in allen Kunstformen. 32 Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 313. 33 Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 315.
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selbst der Stoff des realistischen Romans – wie der aller Kunstwerke – unverstellte reine sinnliche Oberfläche.34 Der Stoff, aus dem ästhetische Ideen sind, ist so reine Anschaulichkeit mit gleichwohl noetischer Krafteinwirkung: Kant zufolge regen ästhetische Ideen das Denken ungemein an, ohne doch selbst fest umrissene Gedanken zu sein. In einer Anverwandlung von Marcel Prousts Wort möchte ich ästhetische Ideen als „êtres de fuite“35 – als Fluchtwesen – bezeichnen: wie Albertine, die selbst als Gefangene für Marcel unbeherrschbar, unerreichbar und darin begehrenswerte sinnliche Präsenz bleibt, ist die ästhetische Idee reine anschauliche Gestalt „die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff, adäquat sein“ könnte, „die folglich keine Sprache erreicht und verständlich machen kann“36 – eine rein anschauliche Gestalt oder schöne Form (eben „freie“ und nicht „anhängende Schönheit“37), die sich jeder Fixierung und Darstellung entzieht, die entwürflich bleibt – dies nicht, weil sie bloß unvollkommen wäre, sondern weil ihre Vollkommenheit gerade darin liegt, dass sie sich einer letztgültigen Fixierung entzieht. Eine Freiheit der Einbildungskraft allerdings, die sich – wie Kant bemerkt –, „bis […] zum Grotesken“38 steigern kann – man denke nicht nur an die schöne Albertine, sondern auch den berüchtigten Baron de Charlus. Aus diesem wird deutlich: Hermeneutische Freiheit ist die Freiheit zur Pluralität von Entwürfen. Diese produziert nicht eine bloß beliebige reine Multiplizität der Interpretationen, sondern „eröffnet“, wie Kant es beschreibt, „die Aussicht in ein“ zwar „unabsehliches Feld“, aber doch ein Feld „verwandter Vorstellungen“.39 Die ästhetische Idee erweist sich so als ein noetisch-hyletisches Gravitationszentrum, um das herum sich eine Vielheit von Begriffen und Realisierungsmöglichkeiten dezentral organisieren.40 Ästhetische Ideen, da sie nicht schon die schönen Dinge selbst sind, müssen als Organisations- oder Kompositionsprinzipien dezentraler Ordnungen verstanden werden. Anders als die Anzahl der kategorialen Verstandesbegriffe und der reinen Vernunftideen scheint die Anzahl der ästhetischen Ideen als dezentraler Ordnungen mit Kant gedacht unbegrenzt zu sein. Dem entspricht ein eigentümlicher Ereignischarakter ästhetischer Ideen, die in ihrer Vielzahl und partikularen Individualität nicht vorhersehbar sind.41 Mit einer Unterscheidung Lyotards und Deleuzes kann man über die innere Spannung und Bewegtheit dieser unordentlichen Ordnungen 34 Zum Begriff der „sinnlichen Oberfläche“, vgl. David Espinet, Phänomenologie des Hörens, Tübingen 2009, S. 238-248. 35 Proust beschriebt musikalische Ideen als „phrases fugitives“ und die petite phrase aus der Sonate de Venteuil einmal als „passante“ (Marcel Proust, À la recherche du temps perdu. Du côté de chez Swann: Un amour de Swann, Band 1, hg. v. Jean-Yves Tadié, Paris 1987, S. 206f.). 36 Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 314. 37 Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., 229. 38 Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 242. 39 Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 315. 40 Ich greife auf Figals Auslegung der kantischen Schönheitsbestimmung als einer „dezentralen Ordnung“ zurück. Vgl. Günter Figal, Erscheinungsdinge, a.a.O., S. 72-76. 41 Zur Partikularität der Geschmacksurteile vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 215.
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sagen, dass ästhetische Ideen nicht figurativ, sondern „figurale“ Ereignisse sind, das heißt formgenerierende Überschüsse.42 Kant bezeichnet ästhetische Ideen auch als „Nebenvorstellungen“,43 das heißt Akzidenzien des Begriffs und als solche mit diesem nicht direkt, sondern auf lose – das heißt freie, für neuen Sinn offene – Art verbunden. Was gewöhnlich als unwesentlich, das heißt als akzidentell verstanden wird, wird beim Schönen wesentlich. Kants ästhetische Ideen sind also weder Ideen in ästhetischem Gewand noch Darstellungen solcher, sondern „Nebenvorstellungen“,44 das heißt Akzidenzien des Begriffs oder der Idee. Weil dies so ist, erweisen sich ästhetische Ideen auch auf der sinnlichen Seite als „Formen, welche nicht die Darstellung eines gegeben Begriffs selber ausmachen“.45 Die Tatsache, dass das Verstehen der mimetischen Funktion Kunstwerke nicht erschöpft (bei Naturschönheit spielt Mimesis ohnehin keine Rolle), liegt nun daran, dass ästhetische Ideen vom Begriff und dessen Darstellungsmöglichkeiten befreit sind. Nicht das praktisch-theoretisch Wesentliche (der Begriff oder Zweck), sondern das sub specie aeternitatis Unwesentliche, die sinnliche Mannigfaltigkeit, Unbegreiflichkeit und allem Akzidentellen eigene Flüchtigkeit wird im Auge des Schönen wesentlich. Diese Kantlektüre soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass vorliegende Bestimmung des Schönen mit Kants Subjektorientierung in Konflikt gerät. Für ihn sind ästhetische Ideen Entwürfe der subjektiven Einbildungskraft und Schönheit ein innerer Zustand der Erkenntniskräfte des Subjekts; mehr möchte Kant nicht zeigen. Gleichwohl zeigt er mehr: Was die schönen Dinge selbst sind, kann man immerhin indirekt an dem ablesen, was diese im Subjekt bewirken. Es widerspricht Kants Kritizismus in Bezug auf ästhetische Ideen jedenfalls nicht prinzipiell, anzunehmen, dass, weil Ideen ästhetisch sind, sie nicht einfach nur erdacht werden können. Vielmehr müssen sie anschaulich gegeben sein; in dieser Anschaulichkeit können sie nicht nur bloße Illusionen sein, sondern haben eine gewisse Eingeständigkeit, Widerständigkeit und Konsistenz. Und wie auch die künstlerische Entwurfspraxis zeigt: ohne Material und ohne sinnliche Realisierung entfalten ästhetische Ideen keine innere Konsistenz oder äußere Wirkung, sind sie nicht mehr als Bilder im Strom der endlosen Produktionen der Einbildungskraft; Bilder also, auf die man nicht zurückkommen könnte. Die Freiheit der Einbildungskraft als Entwurfsvermögen bleibt beim Betrachter oder Hörer auf die wirklichen schönen Dinge angewiesen, und beim Schaffenden darüber hinaus auf die Materialität des Sinnlichen, aus der zuweilen unverhofft und akzidentell ästhetische Ideen entspringen; und sei es die Materialität, die einer spröden grauen Linie auf weißem Grund, in die hinein Entwürfe ästhetischer Ideen geworfen – und nicht selten dort erst entdeckt – werden. 42 Vgl. Jean-François Lyotard, Discours, figures, Paris 1971; vgl. auch Deleuze, Francis Bacon. Logique de la sensation, Paris 2002, S. 11-16, S. 91f. 43 Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 315. 44 Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 315. 45 Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 315 (Hervorhebung D.E.).
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3. Francis Bacon über die Antinomie des Entwurfs Die Antinomie des Entwerfens gehört zur Erfahrung des Schaffensprozesses, der sich auf das Material einlässt. Nicht selten wird Erfahrung als ein schwieriges Verhältnis zwischen dem frei zu wählendem Sujet und dem eigenwilligen Material beschrieben. Besonders deutlich weist Francis Bacon auf den „conflict between the material and the subject“46 hin. Das Werk ist für Bacon „a mixture between what the painter wanted and […] accidents.“47 Im Schaffensprozess selbst, der für Bacon Entwurfscharakter hat, spielen ein „element of control“ und ein „element of surprise“48 ineinander. Kontrolliert wird die Maltechnik, überraschend ist immer wieder, was im Kontakt von Technik und Material unintendiert hervorkommt. Über die Entstehung von Painting 1946 berichtet Bacon: I was doing a landscape and I wanted to make a field with a bird flying over. I had put a whole heap of references on the canvas, then suddenly the forms that you see on the canvas began to appear; they imposed themselves on me. It wasn’t what I set out to do. Far from it. It just happend like that, and I was quite surprised by what had appeared. […] It’s both accidental and at the same time completely obvious.49
Was derart unerwartet und doch im Ergebnis offensichtlich notwendig erscheint, ist die ästhetische Idee, die das künstlerische Entwerfen antreibt. Dieser Antrieb ist durch den Verstand nicht einholbar, weshalb Bacon wiederholt von einem „instinct“50 spricht, der das Schaffen steuere. Noch deutlicher wird der Konflikt von intendiertem Sujet und dessen nicht-intentionaler Realisierung in den programmatischen Sätzen: when I begin a new canvas I have a certain idea of what I want to do, but while I am painting, suddenly, out of the painting itself, in some way these forms and directions that I hadn’t anticipated just appear. It is these that I call accidents.51
Figurale Zufälle, wie Bacon sie beschreibt, sind formbildende Ereignisse, die sich selbst zur Geltung bringen. Die von Bacon ins Spiel gebrachte Zufälligkeit besteht nun genauer darin, dass das Material eine ästhetische Idee gleichsam herausfordert. Um dieser Herausforderung gerecht zu werden, setzt sich Bacon nach dem Schlüsselerlebnis mit Painting 1946 zunehmend bewusster der Zufälligkeit des Materials aus: „I do, of course work very much more by chance now than I did when I was young. For instance I throw an awful lot of paint onto things, and I don’t know
Francis Bacon, In conversation with Michel Archimbaud, London/New York 2010, S. 145. Bacon, In conversation with Michel Archimbaud, a.a.O., S. 84. Bacon, In conversation with Michel Archimbaud, a.a.O., S. 84. Bacon, In conversation with Michel Archimbaud, a.a.O., S. 81. Bacon, In conversation with Michel Archimbaud, a.a.O., S. 81. Vgl. Dazu auch: David Sylvester, Interviews with Francis Bacon, London 1993, S. 99, S. 104. 51 Bacon, In conversation with Michel Archimbaud, S. 83. 46 47 48 49 50
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what is going to happen to it.“52 Dem entspricht, dass Bacon kaum mit Vorentwürfen arbeitet. Vielmehr sucht er im Werk selbst den kreativen Entwurfsprozess: „I think there are all sorts of possibilities in working directly first and then afterwards bringing this thing that has happend by accident to a much further point by will.“53 Keineswegs darf dieser Wille als ein Wille zur illustrativen Umsetzung verstanden werden; die Freiheit des Entwerfens besteht für Bacon vielmehr darin, sich auf die Entwurfsdynamik, die das Material in Gang setzt, einzulassen, um sich so von intentionalen Verstandesmustern – „story-telling“54 – zu befreien: „The will to make oneself completely free. […] I might as well just do anything. And out of this anything, one sees what happens.“55 Diese Überlegungen und Beschreibungen Bacons machen deutlich, dass der Entwurf, sei er bereits materialer Teil des Werkes wie bei Bacon, sei er davon noch als Vorentwurf abgesondert, die Antinomie von Freiheit und Bestimmtheit selbst verkörpert, und dies idealiter, sobald etwas auf der Leinwand zu sehen ist. Keineswegs also trifft die Antinomie nur auf das schaffende Subjekt, unabhängig von dessen Entwürfen, zu. Dem Entwurf selbst kommt Freiheit als konstitutive Offenheit zu (die eine hermeneutische Entwurfsfreiheit ermöglicht). Wenn dies so ist, dann gibt es auch eine Antinomie des Entwurfs, die nicht wieder nur die Antinomie des Subjekts ist, wie sie Kant als die subjektive Spannung zwischen Willensfreiheit und empirischer Bestimmtheit des Menschen feststellt. Auch der Entwurf muss die Spannung zwischen Freiheit und Sinnlichkeit austragen. Den Ausführungen Bacons zufolge spricht für diese Annahme, dass Entwürfe eine kaum erklärbare Eigendynamik und Schönheit entfalten können. Tatsächlich oszillieren Entwürfe stets und unauflöslich zwischen Offenheit des Sinns und stofflicher Bestimmtheit eines bereits skizzierten Sinns auf Widerruf. Da beide Seiten untrennbar ineinander verflochten sind, ist auch der scheinbar unsinnliche Sinn erneut von dieser Antinomie durchzogen. Über Antinomien im Allgemeinen sagt Kant, dass sie „zwar unschädlich gemacht, aber niemals vertilgt werden“56 können. Die Antinomie des Entwurfs wird nun unschädlich, das heißt produktiv, wenn man keine der beiden Seiten gegen die jeweils andere ausspielt, sondern mit Bacon gesprochen versucht, „to keep the vitality of the accident and yet preserve a continuity“.57 Die Realität des Materials und die Idealität der schönen Form sind zwei Seiten einer Sache und entsprechen zwei Hinsichten auf diese selbe Sache. Anders gesagt, wer im Entwurf den Sinn von seiner materialen Präsenz trennen möchte, hat Entwürfe nicht verstanden: Im Entwurf konkurrieren Sinnbestimmtheit, die sich materiell manifestiert, und Offenheit des Sinns, der mögliche Realisierungen verspricht. Der Entwurf einer ästhetischen Idee ist nichts 52 Sylvester, Interviews with Francis Bacon, a.a.O., S. 90. Vgl. zu Bacons Arbeiten mit dem Zufall auch Deleuze, Francis Bacon. Logique de la sensation, a.a.O., S. 89-92, S. 116-118. 53 Sylvester, Interviews with Francis Bacon, a.a.O., S. 19. 54 Sylvester, Interviews with Francis Bacon, a.a.O., S. 22. 55 Sylvester, Interviews with Francis Bacon, a.a.O., S. 13. 56 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 422 / B 450. 57 Sylvester, Interviews with Francis Bacon, a.a.O., S. 17.
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anderes als diese Konkurrenz. Bei Kunstentwürfen drängt die ästhetische Idee als ein bestimmender Sinn – halb erkannt, halb verborgen, halb sinnlich, halb Idee – in die Gestalt, die ihr noch fehlt. Jede Hälfte ist ohne ihr Gegenstück nichts. Wie in Kants allgemeiner Bestimmung der Antinomie der Freiheit trägt auch der Entwurf selbst den unsynthetisierbaren Konflikt aus, der sich zwischen realer Bestimmtheit und dem freien Möglichkeitssinn von Entwürfen entfaltet. Heidegger wird diese Antinomie als eine „Gegenwendigkeit von Erde und Welt“ interpretieren. In freier Übertragung von Kants dritter Antinomie her lässt sich sagen, dass bei allen Entwürfen die ästhetische Idee im Material unbeweisbar ist und doch stets notwendig vorausgesetzt werden muss. Der Künstler sucht gleichsam im Material nach dem Werk. Als Bacon gefragt wird, weshalb er gerade Velasquez’ Papst Innozenz X (1650) nahezu obsessiv als Sujet gewählt habe, nicht aber andere Motive aus dem Werk des verehrten Meisters, antwortet jener lapidar: „I think it’s the magnificent colour of it“.58 Findet der Entwerfende die ästhetische Idee, wird das Material mit einem Mal ein anderer Stoff, dichter und doch leichter als die Materie, aus welcher er besteht: dichter, weil aufgeladen mit Möglichkeiten, leichter und luftiger, weil offener und freier, als Natur und Lebenswelt für uns Zweck- und Absichtswesen meist erscheinen können. Das Entwerfen ist so unterwegs zur ästhetischen Idee, der Entwurf ein Zwitterwesen zwischen Suchen und Werk, zwischen rein materialer Präsenz und Abwesenheit idealen Sinns. Dass diese Antinomie nicht nur im Schaffensprozess virulent wird, zeigt sich in Bacons Malerei eher verhalten, beispielsweise durch die charakteristischen Verwischungen und Farbspritzer. Diese bleiben in ihrer Zufälligkeit und Freiheit dem Betrachter aber meist verborgen, so sehr erwecken sie ab den 1950er Jahren zunehmend den Eindruck der technischen Perfektion. Nicht wenig trägt zur Wirkung der Kunst Bacons gerade die Tatsache bei, dass diese die brodelnde Entwürflichkeit nur minimal hervorscheinen lässt. Überspitzt lässt sich sagen, dass Bacon einen Entwurfsminimalismus präsentiert, indem der Maler Entwurf und Werk in- und übereinander malt, sodass der Entwurf sukzessive ins Werk übergeht und darin nahezu verschwindet. Was Bacon über den kreativen Prozess auf der Leinwand berichtet, kann man in den Werken nur indirekt erkennen. Einen direkten Einblick in die Entwürflichkeit des Werkes deutet Bacons Malerei nur an, ohne ihn zu gewähren – und entfaltet gerade darin ihre disruptive Kraft.59 Offen vor Augen wie selten dagegen liegt die Entwürflichkeit in einem Werk Kandinskys, Bild mit weißem Rand, sowie in zahlreichen Vorentwürfen, die uns zu diesem erhalten sind.
58 Sylvester, Interviews with Francis Bacon, a.a.O., S. 25. 59 Es bedürfte einer ausführlicheren Analyse, um zu zeigen, dass und wie die Wirkung der Malerei Bacons nicht unbeträchtlich dadurch bestimmt wird, dass die Entwürflichkeit des Werkes durch gewaltvolles Schwarz und im späteren Werk zunehmend durch monochrom-deckende Farbflächen indirekt zur Geltung kommt – dadurch, dass der Entwurfscharakter auf einen Widerstand prallt.
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4. Kandinskys Bild mit weißem Rand Als Kandinsky 1913 Bild mit weißem Rand malt (Abb. 3.1), waren dem lange Monate des Suchens vorhergegangen, in welchen der Maler in zahlreichen Bleistift-, Tusche- und zwei großen Farbentwürfen versucht hatte, die Eindrücke seiner Moskaureisen in die Komposition einer ästhetischen Idee zu verwandeln: „Und […] erst nach beinahe fünf Monaten saß ich vor dem zweiten größeren Entwurf in der Dämmerung und sah plötzlich vollkommen klar, was noch fehlte – das war der weiße Rand. […] Diesen weißen Rand habe ich ebenso kapriziös“ – oder frei – „gebracht, wie er mir von selbst vorkam: links unten Abgrund, daraus steigende Welle, die plötzlich fällt, dann die rechte Seite des Bildes in faul sich schlängelnder Form umfließt, oben rechts einen See bildet (wo das schwarze Kochen entsteht) und zur linken oberen Ecke verschwindet, um als weiße Zacken zum letzten Mal und definitiv auf dem Bild zu erscheinen. Da dieser weiße Rand die Lösung“ – oder Befreiung – „des Bildes war, so habe ich nach ihm das ganze Bild genannt.“60 Man darf festhalten, dass mit dem weißen Rand in diesem Fall der Entwurfscharakter des Werkes selbst zum Gegenstand des Werkes geworden ist. Bild mit weißem Rand zeigt in seiner Vollendung nicht nur eine meisterliche Komposition, sondern zudem die Entwürflichkeit, aus der es hervorgegangen ist; ja, dieser weiße Rand ist die „Lösung“ des Bildes, das heißt die Befreiung des Bildes zu sich selbst. Die Autonomie des Entwurfs, die im vollendeten Werk meist tief verborgen bleibt, kommt hier an die Oberfläche. Im vollendeten Werk kehrt so der Möglichkeitssinn zurück, den Kandinsky in seinen Farbentwürfen gleichsam zugepinselt hatte (Abb. 3.2 und 3.3). Wenn man Kandinskys Bild mit weißem Rand mit den Farbentwürfen vergleicht, wird mehr als deutlich, weshalb der Maler mit den Entwürfen nicht zufrieden sein konnte. Es fehlt ihnen der Freiraum der offenen Form. Insbesondere einige Bleistiftzeichnungen legen nahe, dass Kandinskys Entwurfsprozess tatsächlich auf der Suche nach dem weißen Rand war, an dem diese offene Form besonders deutlich hervortritt. Darauf deuten zwei Bleistiftskizzen hin, bei welchen Kandinsky tatsächlich einen vertikalen Streifen am rechten Bildrand frei lässt (Abb. 3.4 und 3.5). Schon hier macht sich die Stärke der Komposition mit weißem Rand geltend, wie man im Vergleich zu einer Skizze sieht, die diesen Rand nicht offen lässt (Abb. 3.6). Schon 1911 hatte Kandinskys in seinem Traktat Über das Geistige in der Kunst zum Sinn von „Weiß“ vermerkt: „Ewiger Widerstand und trotzdem Möglichkeit (Geburt)“ im Unterschied zu „Schwarz“: „Absolute Widerstandslosigkeit und keine Möglichkeit (Tod)“.61 Der weiße Rand wirkt also belebend; Form und Farbe, in welchen die ästhetische Idee erscheint, erstarren nicht, sondern bleiben in Bewegung. Dies ermuntert zur allgemeinen Annahme, dass Bild mit weißem 60 Wassily Kandinsky, „Das Bild mit weißem Rand“, in: ders., Kandinsky 1901-1913, Berlin 1913, S. 40-41 (Zitiert nach: Felix Thürlemann, Kandinsky über Kandinsky. Der Künstler als Interpret eigener Werke, Bern 1986, S. 226-227). 61 Wassily Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, revidierte Neuauflage, hg. v. Jelena Hahl-Fontaine, Bern 2004, S. 93.
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Rand reflektiert, das heißt, dass es zeigt, dass und wie das wirkliche Werk stets seinen Entwurfscharakter beibehält. In sachlicher Nähe zu Kandinsky interpretiert Heidegger nun die Wirklichkeit des Werkes als Entwurfsgeschehen, genauer: als das Ins-Werk-setzen des Entwurfs. Dieser enthält als Teil des Werks selbst dinglichen, und damit werkhaften, Charakter.62 Da der dingliche Entwurf bei Heidegger deutliche Züge des Selbstentwurfs des Daseins trägt, ja nur in einer Korrelation zu diesem strukturell verstanden werden kann, soll in den folgenden beiden Abschnitten zunächst diese Korrelation in den Blick gebracht werden. Die dabei gewählten Beispiele sind keine Daseinsentwürfe, sondern Dingentwürfe; dies mit Absicht: wenn die Korrelationsthese stimmt, lässt sich auch an Dingentwürfen die Entwürflichkeit des Daseins ablesen. Dingentwürfe bringen so die Antinomie der Freiheit zur Geltung.
5. Selbstentwurf und Freigabe des Schönen Der Entwurf, wie Heidegger ihn in den 1920er und 30er Jahren denkt, soll mindestens viererlei leisten: erstens die epistemische Trennung von Subjekt und Objekt durchbrechen; zweitens die Bewegung beschreiben, durch die Kontingenz in Sinn transformiert wird, sodass sich, drittens, das Dasein zu sich selbst befreit; viertens soll sich am Entwurf zeigen, wie das Entwerfen Werke der freien und schönen Kunst stiftet. Drei dieser Hinsichten finden sich bereits in Sein und Zeit, in dem Heidegger anders als Kant dem Entwurf begrifflichen Charakter zuschreibt; die vierte Hinsicht entfaltet Heidegger erst im Kunstwerkaufsatz. Dort transferiert jener die ersten drei Hinsichten ins Kunstwerk, um ihnen gewissermaßen ein dingliches Korrelat zu geben, das dem Selbstentwurf des Daseins fehlt. In Sein und Zeit, wo der Entwurf für die Philosophie erstmals explizit als Begriff thematisch wird, bezeichnet Heidegger damit die „existenziale Struktur“63 des Verstehens. Diese Entwurfsstruktur besteht darin, dass das Dasein, indem es sich versteht, sich zugleich auf die Welt hin versteht. Das Verstehen antwortet dabei auf eine vorgängig bestehende Welt, so aber, dass es dabei Spielräume auslotet. Das Subjekt ist so zwar immer schon welthaft bestimmt und die Dinge der Welt sind immer schon subjektiv eingefärbt, aber doch nicht mechanisch, sondern in einer unabschließbaren Bewegung des Entwerfens. Dieser Entwurfschiasmus lässt sich 62 Eine der zentralen Verschiebungen, die Heidegger im Kunstwerkaufsatz gegenüber Sein und Zeit vornimmt, besteht darin zu zeigen, dass der Entwurf nicht nur den Charakter eines mehr oder weniger intentionalen Projekts annehmen muss, in das sich die Dinge als Zeug nahtlos einfügen, sondern dass Entwürfe auch dinglich realisiert werden können, ohne bereits in ein intentionales Projekt zu gehören. Von hier aus wird eine Ontologie der Dinge selbst möglich, in welcher das „Dinghafte […] aus dem Werkhaften gedacht wird“ (Martin Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“ in: Holzwege, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1977 (= Gesamtausgabe. Bd. 5), S. 1-74, hier S. 25). Insbesondere im siebten Abschnitt gehe ich darauf ein. 63 Martin Heidegger, Sein und Zeit, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1977 (= Gesamtausgabe. Bd. 2), S. 193.
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auf die Korrelation von Geworfenheit in eine bestehende Welt und dem Entwerfen von Möglichkeiten in dieser verstehen. Das Dasein ist in eine Welt geworfen, die allererst durch die eigenen Entwürfe die eigene Welt werden kann: „Der Entwurfscharakter des Verstehens konstituiert das In-der-Welt-sein hinsichtlich der Erschlossenheit seines Da als Da eines Seinskönnens.“64 Anders gesagt, im Entwerfen verwandelt das Verstehen sowohl die Kontingenz eines faktischen Da-seins als auch einer faktischen Welt in ein erschlossenes Da, in dem das Dasein ‚sein kann‘, also nicht bloß wie ein Stein zufällig irgendwie und irgendwo vorkommt. Was verschlossen, fremd und unheimlich war, was im Modus der bloßen Geworfenheit gleichgültig vorhanden vorlag, wird so erschlossen. Sinnlose Geworfenheit wird entworfen, ihre Sinnlosigkeit gleichsam abgebaut, oder genauer: in Sinn verwandelt. Das gilt nicht nur für die einzelnen Entwerfenden, sondern auch für die Entwürfe selbst, die stets mehr oder weniger explizit ältere Entwürfe aufnehmen und transformieren. Zur Veranschaulichung betrachte man das Neue Museum in Berlin: zwischen 1848 und 1859 von Friedrich August Stüler erbaut, im Zweiten Weltkrieg stark zerstört und über fünf Jahrzehnte dem weiteren Verfall durch Wind und Wetter ausgesetzt (vgl. Abb. 1.1) – welchen Sinn konnten die Spuren der Verwüstung haben, die das Gebäude allenthalben aufwies, als man es 1997 wieder in Stand setzen wollte? Der Entwurf, den Alexander Schwarz und seine Mitarbeiter vorgelegt und umgesetzt haben,65 stiftet einen Sinn, den die Spuren der Geschichte, des Krieges und der natürlichen Witterung für sich nicht haben konnten. Indem man aber die Ruine stehen ließ und das renovierte Gebäude weiterhin die Spuren der Zerstörung und des Verfalls aufweist, die nicht verdeckt, sondern sichtbar ausgebessert worden sind, verwandelt der Neubau selbst die Schäden auf subtile Weise zu einer sinnvollen, individuellen Gestalt. So sind auch nach der Restaurierung, die alles andere als historistisch ist, neue Elemente klar erkennbar und von den konservierten abgesetzt, dies ohne aber den Grundriss und die anfängliche ästhetische Idee des Gebäudes aufzugeben (vgl. Abb. 1.8). So wird das sinnlos Kontingente nicht überspielt, sondern der Entwurf begegnet ihm, berührt und verwandelt es in eine glückliche Fügung. Ein älterer Entwurf, den die Zeit in faktische Geworfenheit verwandelt hat, wird erneut in Sinn transformiert. Von hier aus zeigt sich, dass die starre Gegenüberstellung von Geworfenheit und Sinn, wie sie zu Erläuterungszwecken angezeigt war, eine Abstraktion darstellt. Tatsächlich ist Geworfenheit bereits mit Sinnstiftungen vorgängiger Entwürfe versehen, die als Erbe angenommen oder abgelehnt werden können, wie auch die sinnstiftenden Entwürfe stets Momente der Fremdheit und Kontingenz transportieren. Das Beispiel des Neuen Museums zeigt deutlich, dass Sinnstiftung einerseits nicht frei von Kontingenz bleiben kann. Alles neu Entworfene ist, weil es auf geschichtliche und materiale Kontingenz antwortet, von dieser mitbestimmt und darin „ge-
64 Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 193. 65 Vgl. auch Alexander Schwarz’ Beitrag in diesem Band „Finden, erfinden, entwerfen. Gedanken zum Entwurf des Neuen Museums, Berlin“.
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worfener Entwurf“.66 Heideggers Daseinsanalytik unterstreicht deshalb, dass das Subjekt beim Entwerfen an keinen ersten Anfangspunkt negativer Freiheit kommt, bei der noch alles unbestimmt, das heißt offen wäre. Es gibt keinen Anfang, der wie ein weißes Blatt völlig unbeschrieben vorläge. Ganz im Gegenteil, alles Entwerfen vollzieht sich in einer Anfangssituation, die durch zahllose vorgängige Entwürfe und natürliche sowie historische Zufälle bestimmt ist, welche meist unentscheidbar in einer Geworfenheit vermengt sind.67 Heidegger radikalisiert diesen Gedanken in den Beiträgen zur Philosophie: „der Werfer des Entwurfs ist selbst ein geworfener“ – und Heidegger setzt hinzu: „aber erst im Wurf und durch ihn“.68 Das heißt, dadurch, dass der Entwerfende den Wurf wagt, ist er selbst ein Geworfener; er bewirkt so nicht nur unweigerlich zukünftige Kontingenz von Entwürfen, die nun für den Entwerfenden selbst und andere bestimmend sind, sondern das Entwerfen selbst ist Teil der Geworfenheit, das heißt der Kontingenz von Sinn. An den Rändern des gesuchten und zuweilen glücklich eröffneten Sinnes lauert nicht nur weiterhin Kontingenz, sondern diese gehört Heidegger zufolge zum Entwerfen konstitutiv dazu. In dieser Perspektive erweist sich Kontingenz als produktives Element des Entwerfens. Deshalb betont Heidegger: „Die Eröffnung durch den Entwurf ist nur solche, wenn sie als Erfahrung der Geworfenheit […] geschieht.“69 Dies bedeutet: Nur im sinnstiftenden Entwerfen, das Kontingenz anerkennt und bearbeitet, wird überhaupt ein Verhalten zur Kontingenz der Geworfenheit möglich. Damit bestätigt Heidegger die Antinomie des Entwurfs: die unbestimmte Freiheit des Wurfs kann sich nur zusammen mit der bestimmenden Geworfenheit ereignen.
6. Der Entwürfel Spielen wir einen Augenblick mit der Sprache, um diese Antinomie in ein einziges Wort zu fassen: dingliche Entwürfe sind Ent-würfel. Während der sechsseitige Würfel für den Spieler sub specie temporis für reine Kontingenz zufälliger Würfe und für den 66 Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 378 (Hervorhebung D.E.). 67 Vgl dazu auch Heideggers erste Ausarbeitung des Kunstwerkaufsatzes: „Im Entwurf tritt jenes ‚Anders wie sonst‘ ins Offene, aber dieses Anders ist im Grund kein Fremdes, sondern nur das bislang verborgene Eigenste des geschichtlichen Daseins. Der Entwurf kommt aus dem Nichts, sofern er nicht dem Sonstigen und Bisherigen ent-stammt; er kommt nicht aus dem Nichts, weil er als zuwerfender die verborgene hinter-legte Bestimmung heraufholt, sie als einen Grund legt und eigens gründet.“ Martin Heidegger, „Vom Ursprung des Kunstwerks (Erste Ausarbeitung)“, in: Heidegger Studies 5 (1989), S. 5-22, hier S. 20. 68 Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, 3. Aufl., Frankfurt am Main 2003 (= Gesamtausgabe. Bd. 65), S. 259 (Hervorhebung D.E.). 69 Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), a.a.O., S. 239. Dies gilt selbst für den mathematischen Entwurf: „Wo der Wurf des mathematischen Entwurfs gewagt wird, stellt sich der Werfer dieses Wurfes auf einen Boden, der allererst im Entwurf erworfen wird. [...] Im mathematischen Entwurf vollzieht sich die Bindung an die in ihm selbst geforderten Grundsätze.“ (Martin Heidegger, Die Frage nach dem Ding. Zu Kants Lehre von den transzendentalen Grundsätzen, hg. v. Petra Jäger, Frankfurt am Main 1984 (= Gesamtausgabe. Bd. 41), S. 97).
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Mathematiker sub specie aeternitatis für die statistische Beherrsch- oder Fixierbarkeit eben jener Kontingenz steht, ist der Entwurf weder reine Kontingenz noch reine Mathesis, sondern ein ganz besonderer Würfel. Er ist ein Ent-würfel. Er hat die Offenheit des Spiels mit dem unbestimmten Sinn, der noch nicht ist, und die Bestimmtheit des sinnlichen Artefakts, das in einem festen Umriss erscheint und darin distinkten Sinn aufblitzen lässt. Der Ent-würfel wirft hin und ent-wirft im selben Zug er generiert Kontingenz und schränkt diese auf einen Spielraum ein. Der Entwürfel ent-wirft, nimmt die Kontingenz des Wurfs zurück und verleiht ihm eine gewisse Sinnhaftigkeit, die wie jedes Spiel als solches ohne letzten äußeren Zweck bleibt – und doch nicht sinnlos ist. Dieser Spielraum ist offener als die mathematische Statistik und bestimmter als die reine Kontingenz des jeweils einzelnen Würfelwurfes. Der Entwurf als Ent-würfel ist ein unbestimmt-bestimmender sinnlicher-unsinnlicher Sinn, ein Sinn der – meist in sinnlichen Artefakten – weiteren Sinn generiert oder solchen zumindest verspricht, ohne doch schon vollkommen realisiert zu sein.70 Hier ist zu präzisieren, dass Heideggers Aufmerksamkeit – mit Ausnahme des Kunstwerkaufsatzes (1935/36) und seinen Vorstufen – vom Ende der 1920er bis 40er Jahre nicht auf Entwurfsdinge geht, auf Ent-würfel, sondern auf Selbstentwürfe des Daseins. Dabei interessiert sich Heidegger primär für den Selbstentwurf des Daseins im Ganzen als ein Grundmuster, das alle Daseinsartikulationen durchwirkt; ab den 1930er Jahren lädt Heidegger die Entwurfsstruktur zudem (seins-) geschichtlich auf, indem er darin die epochal wirksamen wirkenden Entwürfe denkt, nicht aber die kleinen Entwürfe einzelner Menschen zu bestimmten Lebenszeiten oder der einzelnen Werke der Kunst, jenseits ihrer – von Heidegger angenommenen – geschichtsbildenden Wirkung. Der große Entwurf kommt für Heidegger stets vor den kleinen Entwürfen: als der Entwurf des Daseins im Ganzen, später als der anfängliche Entwurf des abendländischen Seinsverständnisses durch die griechische Philosophie oder als die Wirkmächtigkeit quasi-prophetischer Dichterfiguren wie Homer, Sophokles oder Hölderlin im Sinne einer sprach-, volks- und heimatstiftenden Dichtung, aber auch als der Paradigmenwechsel durch naturwissenschaftlich-mathematische Pioniere wie Galileo oder Newton.71
70 Die Offenheit des Entwurfs umreißt also keine radikale Kontingenz, wie sie in neuerer Zeit Quentin Meillassoux entwickelt und die vermutlich auf die contingentia mundi des Mittelalters zurückführt (Quentin Meillassoux, Après la finitude. Essais sur la nécessité de la contingence, Paris 2006, S. 137, S. 149; zur Figur der radikalen contingentia mundi vgl. Peter Vogt, Kontingenz und Zufall. Eine Ideen- und Begriffsgeschichte, Berlin 2011, S. 49-66). Radikale, und sei es säkularisierte Kontingenz, die Meillassoux gegen die Zufälligkeit des Würfelwurfs abgrenzt, taugt nicht zur Bestimmung sinnlich erfahrbarer Realitäten wie Kunstwerke es sind. Hierin ist Meillassoux zuzustimmen. Allerdings überzeugt Meillassoux’ Umweg, die Kontingenz der Werke über deren Mathematisierbarkeit zu erklären, weniger (vgl. Quentin Meillassoux, Le nombre de la sirène. Un déchiffrage du Coup de dés de Mallarmé, Paris 2011). 71 Diese letzteren sind nicht die eigentlichen Heroen der Heidegger’schen Seinsgeschichte, sondern die Denker und Dichter sind dies. Vgl. dazu Christian Sommer, „‚Nämlich sie wollten stiften/Ein Reich der Kunst‘. Zum Verhältnis von Kunst, Mythos und Politik in Heideggers Der Ursprung des Kunstwerkes (1935/36) und Hölderlins Hymen ‚Germanien‘ und ‚Der Rhein‘ (1934/35)“, in: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik 11 (2012), S. 229-261.
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Man sollte Heidegger in seiner monumentalen, tiefsitzend nationalistisch orientierten Geschichtsauffassung, auf die er vor allem in den 1930er und 40er Jahren rekurriert, gewiss nicht folgen. Nicht nur aus politischen Gründen; auch Heideggers Entwurfskonzeption ist strukturell davon unabhängig.72 Die Struktur des Entwurfs trifft auch ohne den geschichtlichen und nationalen Überbau auf den existenziellen, zeitlichen und geschichtlichen Sinn des kleinen Entwurfs zu. Während man bei den großen Entwürfen nicht mehr versteht, wie diese als radikale Neuanfänge noch mit einer vorgängigen Geworfenheit verbunden bleiben sollen, sind die kleinen Entwürfe Ent-würfel, in welchen die Korrelation von Freiheit und Bestimmtheit so wesentlich wie konkret einholbar ist. Darin sind Entwürfel auch realer als die großen Entwürfe. Es gibt Entwürfel unmittelbar und wirklich, weil sie nicht Chiffren ungebundener Freiheit sind. Neben dem Kunstwerkaufsatz nimmt Heidegger etwa zeitgleich und kurz vor der Niederschrift der Beiträge eine Bestimmung vor, die man auch als die Bestimmung eines objektiven Korrelats des Entwurfs deuten kann, zumal vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen zur ästhetische Idee Kants. Deutlicher als im Kunstwerkaufsatz greift Heidegger in seinen Nietzschebänden auf Kants Bestimmung des interesselosen Wohlgefallens am Schönen zurück, um den Modus der Selbstgegebenheit schöner Dinge zu beschreiben: „Das Verhalten zum Schönen als solchen, sagt Kant, ist freie Gunst: wir müssen das Begegnende als solches freigeben in dem, was es ist, müssen ihm das lassen und gönnen, was ihm selbst zugehört“.73 Heidegger, der hier Kant ungewöhnlich emphatisch aufnimmt, formuliert in diesen wenigen Zeilen die Möglichkeit hermeneutischer Freiheit in der Berührung mit dem Schönen selbst: das Schöne soll „sich selbst rein als es selbst“ zeigen können. Um es als solches „vor uns kommen“ zu „lassen […], dürfen wir es nicht im vorhinein im Blick auf etwas anderes, auf unsere Zwecke und Absichten […] in Rechnung stellen.“74 Im nächsten Atemzug betont Heidegger zudem den chiastischen oder korrelativen Charakter einer solchermaßen freien und befreienden Einklammerung des Lebenszusammenhangs, die zugleich „die Befreiung unserer selbst zur Freigabe dessen“ sei, „was in sich eine eigene Würde hat“.75 Hier wird besonders deutlich, wie das Entwerfen ästhetischer Ideen und die Selbstkonstitution des Subjekts zusammenhängen, und dass zudem die Eigenständigkeit des objektiven Korrelats, das sich für sich selbst zeigen soll, zugleich mit der Freigabe des Objekts ein freies Selbstverhältnis des Subjekts fordert. Anders als Gebrauchsdinge, die im Gebrauch verbraucht werden, fallen die schönen Dinge als schöne aus der ZweckMittel-Relation heraus; dies bewirkt beim Betrachter eine Befreiung aus eben jenen pragmatischen Zusammenhängen. Heidegger betont damit die grundsätzliche 72 Vor dem Hintergrund der soeben publizierten sogenannten „Schwarzen Hefte“ Heideggers muss dies erneut geprüft werden, was zum Zeitpunkt der Endredaktion des vorliegenden Aufsatz nicht mehr möglich war; vgl. dazu auch Fußnote 2 aus dem Vorwort der Herausgeber. 73 Martin Heidegger, Nietzsche I, hg. v. Brigitte Schildbach, Frankfurt am Main 1996 (= Gesamtausgabe. Bd. 6.1), S. 109. 74 Heidegger, Nietzsche I, a.a.O., S. 109. 75 Heidegger, Nietzsche I, a.a.O., S. 109.
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Korrelation von subjektiver Freiheit und objektiver Bestimmtheit. Er vertritt also nicht, dass es keine eigentliche gegenständliche Erfahrung geben könne, sondern nur, dass diese äußerst fragil und schwierig ist, weil die Freigabe des Dinges auch ein freies Verhältnis zu eigenen Voraussetzungen erfordert, die dem Freigegeben nicht übergestülpt werden dürfen. Meist verfehlen wir das objektive Korrelat, indem wir uns in vorgefertigten Entwürfen darauf beziehen – also gerade nicht auf die Sache selbst beziehen, sondern auf eine intentionale Projektion an der Sache vorbei. Indem das entwerfende Verstehen aber begrifflich an sich hält und das Schöne nicht schon mit fertigen Entwürfen überlagert, wird das Entwerfen selbst frei von bestehenden Interpretations- und Verständnismustern. Hierbei wird nichts mehr „in Rechnung“ gestellt. Heidegger vertritt damit, dass das eigenständige Korrelat, das in einem Entwurf erschlossen wird, das Entwerfen befreit – nicht aber, dass das entwerfende Verstehen sich selbst allein befreien würde.
7. Das Ins-Werk-setzen des Entwurfs Im Unterschied also zum daseinsorientierten Sein und Zeit, in dem die Grundbestimmung von Phänomenalität als der Selbstgegebenheit der Sache ausschließlich auf das Dasein selbst und im Ganzen angewandt wurde, anders auch als in den Beiträgen, die den Fokus auf den Selbstkonstitutionsprozess beibehalten und zudem die Hypertrophie des Entwurfs verschärfen im Sinne eines die Geschichte im Ganzen stiftenden Großereignisses, und anders auch als in den Nietzschebänden, in dem die eigentümliche ästhetische Bestimmung des Schönen als irreduzible Selbstgegebenheit eine Episode bleibt, stellt der Kunstwerkaufsatz dagegen die Eigenständigkeit – das „Eigenwüchsige und Insichruhende“76 – der Dinge in den Mittelpunkt. Genauer, jener Dinge, die zwar ins Dasein hineinwirken, diesem aber nicht einfach wie Hammer oder Schuh einverleibt werden können. Erst im Kontext der „nutzlosen“ Dinge, als welche uns Kunstwerke begegnen, lässt sich nachvollziehen, weshalb der Selbstentwurf nicht alle Dinge in uneigenständige, daseinsfunktionale Korrelate verwandeln kann, um sie zu verstehen. Mit dem Kunstwerkaufsatz füllt Heidegger die Lücke, die Sein und Zeit weit offen gelassen hatte, indem er nun entlang der Kunsterfahrung eine Phänomenologie der Dinge vorlegt. Der Unterschied zu den genannten Beiträgen und Sein und Zeit könnte kaum größer sein: Im Kunstwerkaufsatz ist es die Wirklichkeit, die höher als die Möglichkeit steht. Es geht Heidegger nun erklärtermaßen um die „eigenste Wirklichkeit des Werkes“.77 Im Kunstwerkaufsatz nun bringt Heidegger das wirkliche Sichselbstzeigen der Dinge in einer Weise zur Geltung, welche die Rede von einem „phänomenologischen Realismus“78 rechtfertigt. 76 Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“, a.a.O., S. 1-74, hier S. 9. 77 Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“, a.a.O., S. 56. 78 Taylor Carmans Annahme, dass Heideggers Zeuganalysen auch schon Ausdruck eines phänomenologischen Realismus seien, folge ich nicht. Vgl. Taylor Carman, Heidegger’s analytics. Interpretation, discourse, and authenticity in Being and time, Cambridge 2003, S. 155-200.
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Zentral bei der wirklichen Selbstgegebenheit der Werke ist, dass und wie Heidegger auf den Entwurfscharakter auch vollendeter Werke beharrt. Denn neben dem neuen Begriff der Erde, der Heideggers Realitäts- und Individuationsprinzip ist,79 führt Heidegger den Entwurf als zweites Realitätsprinzip ein. Der Entwurf des Kunstwerks wirkt Wirklichkeit, ohne dass diese Wirklichkeit schon voll bestimmt wäre. Auf ähnliche Weise war dieser offene Entwurfscharakter bei Bacon, dem Neuen Museum oder in Kandinskys Bild mit weißem Rand begegnet. Es gibt, mit Heidegger gedacht, auch eine Antinomie der vollendeten, wirklichen Werke, weil deren Realisierungsprozess nicht abgeschlossen ist, sofern man in die Realisierung nicht bloß die handwerkliche Anfertigung des Werkes, sondern die Werkrezeption integriert. Ein integraler Realisierungsbegriff trägt sodann dem Sachverhalt Rechnung, dass die Freiheit des Entwurfs und dessen Geworfenheit nicht zur Ruhe kommen. Mehr noch, Kunstwerke sind aus Heideggers Sicht erst vollendet, wenn sie diese Antinomie nicht vertilgen, sondern als „Streit“80 zeigen. Zeigen kann sich diese ‚polemische‘ Wirklichkeit aber nur an einzelnen Werken, nicht an der Kunst an sich oder an einer geschichtlichen Konstellation im Ganzen. Solcherlei zeigt sich, wenn überhaupt, nur konkret. Immerhin schreiben Heideggers Analysen einzelnen Kunstwerken Entwurfscharakter zu, wenngleich auch mit der Absicht, von diesen Einzelanalysen in die Entwurfsbahnen großer Narrative aufzuspringen: der griechische Tempel, der Bamberger Dom oder die Dichtung Hölderlins – jeweils als seinsgeschichtliche sinnliche Verdichtung. Aber Heideggers Entwurfsphänomenologie im Kunstwerkaufsatz lässt sich zumindest hin zu einer werknäheren und feingliedrigeren Analyse lenken. Nicht der griechische Tempel oder die Dichtung Hölderlins, sondern die „Einzigkeit“ der singulären Werke und deren partikulare sinnliche Phänomenalität sollten das Ohren- und Augenmerk leiten. Auch Heidegger selbst bestätigt dies performativ, indem er von ganz bestimmten Werken ausgeht und zudem das konkrete sinnliche Erscheinen und Erklingen der Kunstwerke wie kaum sonst eigens betont. Im Unterschied zum alltäglichen Reaktivieren schematischer Passepartouts, durch die man an der sinnlichen Gegebenheit selbst gleichsam vorbei auf den intendierten Sinn schaut (beispielsweise auf ein Stoppschild – nicht aber auf die Farbe Rot selbst), lässt der Kunstentwurf dagegen das Sinnliche nicht als „Stoff verschwinden, sondern allererst hervorkommen: der Fels kommt zum Tragen und Ruhen und wird so erst Fels; die Metalle kommen zum Blitzen und Schimmer, die Farben zum Leuchten, der Ton zum Klingen, das Wort zum […] Verlauten“.81 Entworfen wird so mit dem wirklichen Werk auch ein je neuer Zugang zur Pluralität des Sinnlichen. Eng verknüpft mit der Mannigfaltigkeit der Erde – und gegen die Annahme nur singulärer großer Entwürfe – ist Heideggers Konzeption, 79 Vgl. dazu David Espinet, „Das Lied der Erde“, in: Näher dran? Zur Phänomenologie des Wahrnehmens, hg. v. Steffen Kluck und Stefan Volke, Freiburg/München 2012, S. 273-300, hier S. 290292. 80 Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“, a.a.O., S. 58. 81 Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“, a.a.O., S. 32.
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dass das vollendete Werk in seiner Vollendung als wesentlich unfertig verstanden werden sollte, wenn ‚vollendet‘ denn meint, dass alle Entwürflichkeit aus ihm gewichen wäre. Wirkliche Kunstwerke haben für Heidegger Entwurfscharakter durch und durch; anders als alle anderen Artefakte – seien es virtuos mimetische, figurative Darstellungen, die genau erkennen lassen, was sie zeigen und ansonsten nichts weiter wollen, oder seien es Gebrauchsgegenstände, die gemäß ihrer Funktion zweckgerecht eingesetzt werden können und dann im Funktionieren unthematisch werden, gleichsam verschwinden –, beschreibt Heidegger Kunstwerke als gänzlich offene und autonome Gebilde,82 die sich von sich selbst her zeigen. Anders als Gebrauchsdinge in Sein und Zeit, in dem die Selbstgegebenheit des Zeugs nur als zweckwidriger Störfall möglich war, besteht die Autonomie der Kunstwerke darin, sich dem Funktionieren prinzipiell zu widersetzen. Deren Freiheit besteht einerseits also darin, dass sie sich der Eingliederung in pragmatische oder naturwissenschaftliche Perspektivierungen durch die Lebenswelt radikal widersetzen: „alles Gewöhnliche und Bisherige“ im Bannkreis des Werkes „zum Unseienden“.83 Andererseits bedeutet solche Freiheit eine positive Form der Selbstgegebenheit, die neue Sinnstiftungen auslösen kann. Auf diese Weise wohnt Kunstwerken eine grundlegende Autonomie inne. Aber ebendiese Freiheit der Sinnstiftung bleibt allerdings antinomisch angewiesen auf eine sinnliche Bestimmtheit durch die „Erde“. So lässt sich verstehen, dass im vollendeten Werk die Entwürflichkeit nicht zur Ruhe kommt, sondern dass sich die Freiheit des Entwurfs am vollendeten Werk weiterhin zeigt, ja dass diese den Kunstwerkcharakter maßgeblich mitbestimmt – und gleich mehrfach: (1) Kunstwerke zeigen offensichtlich, dass sie weder zur natürlichen noch zur zweckorientierten Realität gehören, sondern dass sie durch und durch künstlich sind:84 „das Geschaffensein des Werkes hat gegenüber jeder anderen Hervorbringung darin sein Besonderes, daß […] im Werk […] das Geschaffensein in das Geschaffene mit hineingeschaffen“ ist, „so daß es aus ihm, dem Hervorgebrachten, eigens hervorragt.“85 Was aus dem Werk so hervorragt, ist – anders als bei allen anderen hergestellten Dingen – seine Künstlichkeit, nämlich, dass es aus der (lebensweltlich-pragmatisch eingefassten) Natur heraussteht, kurz seine Entwürflichkeit. Anders als Naturdinge, welchen wir ihre Eigenwüchsigkeit meist ansehen, oder Gebrauchsgegenstände, die im Gebrauch gleichsam verschwinden, zeigt das Werk, dass es geschaffen ist. Mit Schiller und Kant gesprochen: das Kunstwerk zeigt von sich
82 Vgl. dazu auch Andrea Kern, „Das Kunstwerk zwischen Autonomieanspruch und Wahrheit“, in: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik 12 (2013), S. 147-164. 83 Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“, a.a.O., S. 60. 84 Das gilt auch dann, wenn sich Werke als Natur- oder als Gebrauchsdinge ausgeben. In solchen Fällen besteht ein zentraler Aspekt der ästhetischen Idee darin, dass das Werk mit dem Sichselbstzeigen der Künstlichkeit spielt, das heißt, dass dieses Grundmerkmal mit den Mitteln der Kunst reflektiert wird. 85 Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“, a.a.O., S. 52.
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selbst her, dass es „ästhetischer Schein“ ist, der gerade nicht „Realität heuchelt“.86 Deshalb ist das Werk auch kein mimetisch virtuoses trompe-l’œil, das hinter der rekognitionsorientierten, figurativen Mimesis verschwindet. In solcher sieht man bloß das dargestellte Ding, beispielsweise die perfekte Illusion scheinbar echter Trauben, nicht aber das Werk selbst, seine Komposition, das heißt seine spielerischoffene, entwürfliche Form, in der Erde qua unintentionaler Sinnlichkeit erscheinen kann. Deshalb ist das Werk aber auch kein künstlich erzeugter Gebrauchsgegenstand, welcher wie gut passende Schuhe im Gebrauch zur zweiten Natur würde. Anders als bei anderen hergestellten Gegenständen bleibt der Entwurfscharakter des Kunstwerks, das unerklärliche Faktum, dass das Werk ist, „das Daß des Geschaffenseins“87 und damit die Freiheit des Entwerfens sperrig; dies nicht im luftleeren Raum transzendentaler Freiheit, sondern im Sinnlichen: Es bleibt sichtbar, hörbar, selbst riechbar,88 dass wir es mit einem gänzlich anderen Gegenstand als gewöhnlich zu tun haben. Das heißt, das Werk zeigt seine Entwürflichkeit: Im Werk dagegen ist dieses, daß es als solches ist das Ungewöhnliche. Das Ereignis seines Geschaffenseins zittert im Werk nicht einfach nach, sondern das Ereignishafte, daß das Werk als dieses Werk ist, wirft das Werk vor sich her und hat es ständig um sich geworfen. Je wesentlicher das Werk sich öffnet, um so leuchtender wird die Einzigkeit dessen, daß es nicht vielmehr nicht ist.89
Einzigartigkeit, Individualität, Unerklärlichkeit, Auffälligkeit, Nutzlosigkeit und Unselbstverständlichkeit leuchten so in der Künstlichkeit/Willkürlichkeit des Entwurfs sinnlich hervor. Zum Vorschein kommt im ent-worfenen Material die Freiheit des Entwurfs und dieser selbst als ästhetische Idee. Das freie Werk wirft diese 86 Das vollständige Zitat lautet: „Nur soweit er aufrichtig ist, (sich von allem Anspruch auf Realität ausdrücklich lossagt) und nur soweit er selbstständig ist, (allen Beistand der Realität entbehrt) ist der Schein ästhetisch. Sobald er falsch ist und Realität heuchelt, und sobald er unrein und der Realität zu seiner Wirkung bedürftig ist, ist er nichts als ein niedriges Werkzeug zu materiellen Zwecken, und kann nichts für die Freiheit des Geistes beweisen. Übrigens ist es gar nicht nötig, daß der Gegenstand, an dem wir den schönen Schein finden, ohne Realität sei, wenn nur unser Urteil darüber auf diese Realität keine Rücksicht nimmt; denn soweit es diese Rücksicht nimmt, ist es kein ästhetisches.“ (Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: Theoretische Schriften, hg. v. Rolf-Peter Janz, Frankfurt am Main 1992 (= Werke und Briefe. Bd. 8), S. 556-676, hier S. 664). Schiller verdeutlicht damit einen Gedanken, den er bei Kant findet: „Sie [die Dichtung als Modus der Einbildungskraft] spielt mit dem Schein, den sie nach Belieben bewirkt, ohne doch dadurch zu betrügen; denn sie erklärt ihre Beschäftigung für bloßes Spiel“ (Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 327). Zudem findet sich an dieser Stelle der Ästhetik Schillers bereits Heideggers Unterscheidung von Zeug und Kunstwerk vorgeprägt. Heidegger wiederum erlaubt es, Schillers zweideutige Verwendung von Realität zu entschlüsseln: Die „Realität“, die vom ästhetischen Schein durchkreuzt wird, sofern er „eigenständig“ ist, ist eine andere Realität, als die „Realität“, die der „Gegenstand“ verbreitet, „an dem wir den schönen Schein finden“, der - so Schiller ausdrücklich - nicht „ohne Realität“ sei. Schiller stellt damit der pragmatischen Realität der zweckorientierten Lebenswelt die Realität der zwecklosen Kunst entgegen. 87 Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“, a.a.O., S, 53. 88 Man denke beispielsweise an Joseph Beuys’ Olivestones, die den Duft frischen Olivenöls verströmen (Kunsthalle Zürich). 89 Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“, a.a.O., S. 53.
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in ihrer Einzigkeit in alle Richtungen „um sich“ wie Heidegger formuliert. Die Entwürflichkeit des Werkes trägt derart zu dessen Ereignischarakter bei, indem es dem Werk Autonomie verleiht und dieses zugleich im ent-worfenen Material individuiert, das ohne Entwurf reine Geworfenheit bleibt. Es gehört zu erstaunlichen Wendungen in Heideggers Denken, dass diese Künstlichkeit des Entwurfs nicht die Sinnlichkeit der Werke vernichtet, sondern gerade hervorkommen lässt. Denn der Entwurf in seiner künstlichsten Form behindert gerade nicht mehr die sinnliche Dimension der Dinge: im Kunstwerk kommt diese wieder hervor. Zum Sinnereignis des Kunstwerks gehört für Heidegger die Unverborgenheit des Sinnlichen, das – als dieser bestimmte Klang, diese bestimmte Farbe, diese Oberflächenstruktur und Materialität etc. – unverdeckt von intentionalen Mustern erscheint. (2) Dabei „reißt“ das Werk „inmitten des Seienden eine offene Stelle auf […], in deren Offenheit alles anders ist als sonst.“90 Was in der Natur kompakt in sich selbst eingefaltet gewesen war, bekommt Spiel, wird frei zu sich selbst. So wird die verschlossene Sinnlichkeit der Erde, verdrängt durch pragmatische und begriffliche Verständnismuster, die sich über die Erde legen, zum Anklang oder Leuchten gebracht: „Das Werk läßt die Erde eine Erde sein.“91 Dies kann das Werk nur Dank seiner spezifisch freien Entwürflichkeit, wie sie Heidegger im Zusammenhang der Interpretation des interesselosen Geschmacksurteils bei Kant herausgearbeitet hatte: Der Entwurf holt aus der Natur qua Erde etwas hervor, was ohne ihn unsichtbar bliebe, nämlich die reine sinnliche Dimension der Erde. Dies ist das Moment der „Unverborgenheit“, die Heidegger im Kunstwerkaufsatz lapidar als „Schönheit“ bezeichnet. Auch so zeigt sich die Antinomie des Werks, das zwischen Natur und Künstlichkeit vermittelt. Dies kann der Entwurf nur, weil er auf eine ästhetische Idee zielt, das heißt auf eine sinnliche Form. Der Kunstentwürfel zeigt in seiner Entwürflichkeit die Antinomie unbestimmter, kontingenter, gleichsam maßloser, erdhafter Sinnlichkeit und bestimmten, intentional verständlichen welthaften Sinns: der „Riß“ zwischen Natur und Kunst, wie Heidegger in Anlehnung an Dürers Aufriss formuliert, wird von Heidegger als „Streit von Maß und Unmaß“ (Welt und Erde) gedeutet: der Aufriss einer ästhetischen Idee wird „durch den schaffenden Entwurf ins Offene gebracht“.92 Das Werk stellt eine fest umrissene, aber zwecklose Gestalt auf, die Teil einer Welt oder Lebenswelt werden kann, so aber, dass letztere dadurch nicht bestätigt, sondern herausgefordert und verändert wird: „Kraft des ins Werk gesetzten Entwurfs der sich uns zu-werfenden Unverborgenheit des Seienden wird durch das Werk alles Gewöhnliche und Bisherige zum Unseienden.“93 Das heißt erprobte Interpretationsmuster und eingefahrene Bedeutsamkeiten streicht die dezentrale Ordnung des entwürflichen Werk durch und nötigt, das heißt befreit, das Denken zu sich selbst, 90 91 92 93
Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“, a.a.O., S. 59. Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“, a.a.O., S. 32. Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“, a.a.O., S. 58. Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“, a.a.O., S. 59-60.
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versetzt es so in hermeneutische Freiheit. Was zweckmäßig, nützlich oder anders intentional transparent schein, wird opak und fragwürdig. An die Stelle von intentionalen Strukturen kann nun vorintentionale Sinnlichkeit treten. Wo vordem abstandsloses Verstehen herrschte, kann nun ein freies Verhältnis zum Sinnlichen entstehen. Farben, Klänge, Oberflächen aller Art können so plötzlich – und wie befreit von vordem bestehenden intentionalen Mustern – als sie selbst erscheinen. Dabei geht durchschnittliche Bedeutsamkeit in nichts auf, und es entsteht Raum für neuen, in seinem sinnlichen Ursprung kaum beherrschbaren sinnlichen Sinnüberschuss. In Heideggers Worten: „Die Stiftung ist ein Überfluß, eine Schenkung.“94 Es ist nicht unplausibel, dass Heidegger im bezeichneten Überfluss die Restitution verdrängter Sinnlichkeit mitdenkt – und darin die Ermöglichung einer Pluralität der Interpretationen. (3) Was das Werk eigentlich ist, bleibt stets offen; keine Interpretation erschöpft es vollständig. Das Werk erweist sich in dieser Entwürflichkeit, die mit dessen Vollendung nicht zur Ruhe kommt, als die Offenheit seiner selbst, die Heidegger als die „Wirklichkeit des Werkes“95 fasst. Um den Charakter der Offenheit zu betonen, deutet Heidegger das „Werksein“ 96 als ein Wirken. Der prozessuale Sinn zielt auf ein „Geschehnis der Wahrheit“.97 Wahrheit und damit der im Entwerfen hingeworfene, noch vorintentionale Sinn ist nur als Prozess gegeben, nicht als abgeschlossene Sinnentität. Von dem „Riß“, der Kunstentwürfe durchzieht, sagt Heidegger deshalb, er habe die „Gestalt“ des „Streit[s]“,98 will sagen der unkontrollierten Bewegtheit aufeinander bezogener Kräfte. Der antinomische Riss, der im künstlichen Streit von Erde und Welt, von Sinnlichkeit und Verstand, aufbricht, konfiguriert eine unbegriffliche Fügung oder Ordnung. Risse verlaufen selten linear, sondern meist im unregelmäßigen Zickzack, das häufig unsichtbar als feine Haarrisse ins scheinbar kompakte Material hineingreift. Der Riss, den die Entwürflichkeit des Werks im freien Spiel der Erkenntniskräfte und der schönen Dinge sinnlich – erdhaft – offen hält, ist die Schönheit der Kunst als das Ereignis figuraler und dezentraler Ordnungen ohne Zweck. Vielleicht lässt sich Heideggers allzu knappe Bemerkung im Kunstwerkaufsatz so verstehen, wonach die „Schönheit […] eine Weise“ sei, „wie“ sich „Wahrheit als Unverborgenheit“99 zeige. Die Unverborgenheit der Schönheit wäre die spezifische Offenheit, die Kant als Zweckmäßigkeit ohne Zweck, das heißt Sinnhaftigkeit ohne Bezug auf theoretische Begrifflichkeit, pragmatische Nützlichkeit oder praktische Moralität beschreibt: das Erscheinen einer ästhetischen Idee, „die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff, adäquat sein“ könnte.100 Heideggers Bestimmung weist indes darin über Kant hinaus, dass Heidegger anders als Kant die epistemische Wahrheitsfrage theo94 Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“, a.a.O., S. 63 95 Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“, a.a.O., S. 58. 96 Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“, a.a.O., S. 58 (Hervorhebung D.E.). 97 Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“, a.a.O., S. 59 (Hervorhebung D.E.). 98 Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“, a.a.O., S. 51. 99 Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“, a.a.O., S. 43. 100 Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 314.
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retischer Philosophie nicht aus der Schönheitserfahrung ausklammert, sondern diese als eine intensivierte Form der Unverborgenheit begreift. (4) Weil dem Werk in seiner Unbegrifflichkeit keine bestehende Sprache angemessen sein kann, stiftet es eine Sprache, genauer, es schickt den Betrachter oder Hörer auf die Reise zu einer fernen Sprache, die sich in der Interpretation erst zu konstituieren hat. Jedes Werk fordert tatsächlich eine eigene Sprache heraus. Heideggers missverständliche Formulierung, dass „[a]lle Kunst […] im Wesen Dichtung“101 sei, wäre dahingehend zu modifizieren: indem die Sprache von der Kunst herausgefordert wird, trägt Sprache zur „Offenheit des Seienden“102 bei. Wer nach Worten sucht, verändert bereits sein Verhältnis zu den Dingen und der Welt. Dies kann das „entwerfende Sagen“103 aber nur, weil es von etwas angestoßen wird, was eine andere Sprache fordert. Was aber eine andere Sprache fordert, zu immer neuen Entwürfen drängt und die Welt auf diese Weise offen hält, ist die Erde, die irreduzible Pluralität des Sinnlichen – und nicht wieder die Sprache selbst.
101 Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“, a.a.O., S. 59. Heidegger selbst verengt den Fokus auf unangemessene Weise auf eine Kunstgattung: „die Poesie, die Dichtung im engeren Sinne“ sei, so Heidegger, „die ursprünglichste Dichtung im wesentlichen Sinne.“ „Bauen und Bilden dagegen geschehen“ Heidegger zufolge „immer schon und immer nur im Offenen der Sage und des Nennens.“ (Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“, a.a.O., S. 62) 102 Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“, a.a.O., S. 61. 103 Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“, a.a.O., S. 61.
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Die Zeichnung als Öffnung der Form Entwurf der Linie, Gegenwurf des Bildes Le dessin est l’ouverture de la forme. Jean-Luc Nancy
1. Jean-Luc Nancy eröffnet seine Theorie des zeichnerischen Entwurfs mit einer These, die es genauer zu verstehen gilt: „Die Zeichnung ist die Öffnung der Form.“1 Mit Valéry gesprochen,2 scheint der Doppelsinn diese Satzes zwar unmittelbar zu greifen, doch bliebe übrig, jeder dieser Vokabeln – der Zeichnung, der Öffnung und der Form – noch einen Sinn zu verleihen. Zwischen ihnen verschiebt sich der Doppelsinn des Satzes vom Praktischen über das Existentielle zum Singulären. Die Zeichnung steht dabei als Subjekt im Mittelpunkt. Doch was versteht Nancy als Philosoph unter einer Zeichnung, was bezeichnet die Ouvertüre oder Öffnung der Zeichnung, und schließlich, wie wird die Form der Zeichnung in ihrer je singulären Präsenz gedacht und auf eine Sinnoffenheit bezogen, die diese eröffnend stiftet? Um diese Fragen zu beantworten, sollen Nancys Reflexionen zur Graphie zunächst in einer historischen Genealogie verortet werden, die vom Strukturalismus über den Schriftbegriff der Grammatologie zu jenen späten Überlegungen zur Zeichnung führte, die grundlegend für Nancys eigene Lust an der Zeichnung sind. Beginnen wir mit der zeichnerischen Geste. Zwischen 1964 und 1965 veröffentlicht André Leroi-Gourhan unter dem Titel Le geste et la parole seine zweibändige Geschichte der menschlichen Evolution.3 Innerhalb dieses Hauptwerks des französischen Paläontologen kommt der Hand-Zeichnung eine paradigmatische Funktion zu. Ursprung und frühe Entwicklung des menschlichen Darstellungsverhaltens basieren, so Leroi-Gourhan, auf einer Indienstnahme des Werkzeuges und der Geste einer sich zunehmend befreienden Hand. „Die Hand“ wird dabei „zur Schöpferin von Bildern, von Symbolen, die nicht unmittelbar vom Fluß der gesprochenen Sprache abhängen, sondern eine echte Parallele dazu darstellen [...]. 1 Jean-Luc Nancy, Le plaisir au dessin, Paris 2009 (dt:. Die Lust an der Zeichnung, Wien 2011, S. 11). 2 Vgl. Paul Valéry, Degas Danse Dessin, Paris 1938, S. 146. 3 André Leroi-Gourhan, Le geste e la parole, Paris 1964/65. Vgl. Toni Hildebrandt, „Bild, Geste und Hand. Leroi-Gourhans paläontologische Bildtheorie“, in: IMAGE 14 (2011), S. 55-64.
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Die Hand hat ihre Sprache.“4 Indem sich über die Geste der menschlichen Hand eine Figuration an der Wand veräußert, entsteht gleichsam das Bild als eine dem homo erectus gegenüberstehende Aufzeichnung seiner eigenen motorischen Fähigkeiten und symbolischen Möglichkeiten. Leroi-Gourhan bezeichnet diese graphologische Veräußerung der menschlichen Geste als „Geburt das Graphismus“ und „Geburt der Bilder“.5 Zwei Jahre nach dem Erscheinen von Le geste et la parole liefert Derrida auf nur wenigen Seiten seiner Grammatologie einen luziden Kommentar zu diesem Passus. Derrida thematisiert die „Exteriorisierung der Spur“ im Zuge der graphischen Figuration.6 „Das rätselhafte Modell der Linie“ ist ihm Paradigma,7 um die Differenz zwischen Geste und Spur, Intentionalität und Einschreibung zu überdenken. Gleichsam betont Derrida den gemeinsamen Zug von Sprechen und Schreiben als „Einheit der Geste, des Worts, des Körpers und der menschlichen Rede“.8 Wenn, wie Bernard Stiegler dies nahe legt,9 die Grammatologie noch primär die Relation von Schrift und Technik denkt, gelang es Derrida spätestens seit den 1980er Jahren, seinen Schriftbegriff auch auf realistische Entwürfe des Zeichnerischen anzuwenden. Entscheidend war hierfür nicht zuletzt die intensive Auseinandersetzung mit dem zeichnerischen Œuvre von Antonin Artaud und Valerio Adami.10 In den Mémoires d’aveugle, jenem langen Essay, der die von Derrida kuratierte Ausstellung im Pariser Louvre begleitete, versammeln sich schließlich seine Gedanken zu Zeichnung und Blindheit in einer Theorie des graphischen Entzugs: Im Moment der ursprünglichen Bahnung, wo die ziehend-zeichnende Macht des Zugs [puissance traçante du trait] wirkt, in dem Augenblick, wo die Spitze an der Spitze der Hand (des Leibes überhaupt) sich im Kontakt mit der Oberfläche vorwärtsbewegt, wird die Einschreibung des Einschreibbaren nicht gesehen. Ob improvisiert oder nicht, die Erfindung des Strichs [invention du trait] folgt nicht, richtet
4 André Leroi-Gourhan, Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt am Main 1980, S. 261f. 5 Leroi-Gourhan, Hand und Wort, a.a.O., S. 237-243, S. 451-460. 6 Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt am Main 1983, S. 149. 7 Derrida, Grammatologie, a.a.O., S. 153. Derrida stellt dieses Modell der Linearisierung zuvor entschieden in Frage: „Die Wurzeln der Schrift im engeren Sinn, vor allem der phonetischen Schrift gründen in der Vergangenheit einer nicht-linearen Schrift. [...] d. h. einer Schrift, die ihre Symbole in der Mehr-Dimensionalität buchstabiert und deren Bedeutung nicht der Sukzessivität, der Ordnung der logischen Zeit oder der irreversiblen Zeitlichkeit des Lautes unterworfen ist.“ (Derrida, Grammatologie, a.a.O., S. 151) 8 Derrida, Grammatologie, a.a.O., S. 150. 9 Vgl. Bernard Stiegler, „Derrida und die Technologie“, in: Denken bis an die Grenzen der Maschine, hg. v. Erich Hörl, Zürich 2009, S. 111-153. 10 Vgl. Jacques Derrida, „Das Subjektil ent-sinnen“, in: Antonin Artaud. Zeichnungen und Portraits, hg. v. Paule Thévenin, München, 1986, S. 51-109; Jacques Derrida, Artaud Moma. Ausrufe, Zwischenrufe und Berufungen, Wien 2003; Jacques Derrida, „+R (zu allem Überfluß)“, in: ders., Die Wahrheit in der Malerei, Wien 1992, S. 177-218; Jacques Derrida, „Denken, nicht zu sehen“, in: Bildtheorien aus Frankreich. Eine Anthologie, hg. v. Emmanuel Alloa, München 2011, S. 323-348.
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sich nicht nach dem, was gegenwärtig sichtbar ist, folgt nicht diesem Sichtbaren, das sich angeblich als mein Motiv dort vor mir befindet.11
Der gezeichnete Strich (trait) entzieht sich in seinem Entstehen dem Feld des Sehens. Der Zug (trait) der Linie vollzieht so eine Schneise (tracé), die wiederum eine Spur (trace) mit einem Entzug (re-trait) hinterlässt. Die Zeichnung „supplementiert“ demnach das Feld des Sehens über den blinden Akt der Berührung, ganz so, „als eröffnete sich ein lidloses Auge an der Spitze des Fingers.“12 Jean-Luc Nancy scheint nun sowohl Leroi-Gourhan als auch Derrida zu folgen, wenn er in Les Muses erstmals über die Zeichnung innerhalb der Künste schreibt und eine imaginäre Urszene des Graphismus skizziert: Stellen wir uns das Unvorstellbare vor: die Geste des ersten Bildermachers. Er folgt weder dem Zufall noch einem Plan. Seine Hand tastet sich vor in eine Leere, die sich im Augenblick der Bewegung erst auftut und ihn von sich selbst trennt […]. Sie tastet im Dunkeln, blind und taub für jede Form. Denn das Tier in der Höhle, das diese Handbewegung macht, kennt Dinge, Wesen, Stoff, Muster, Zeichen und Handlungen. Aber es weiß nichts von der Form, weiß nicht, wie sich eine Figur, ein Rhythmus in der Darbietung abheben. Es weiß nichts davon, gerade weil es genau dies unmittelbar ist: sich abhebende Form, Figuration.13
Den Mémoires d’aveugle folgend wird nun auch für Nancy „an der Spitze des Feuersteins oder der Kohle ein ungeheures Ereignis manifest.“14 Dabei folgt die „ausgestreckte Hand der Linie, die ihr immer ein wenig voraus ist.“15 Ein derart sich entziehendes Ereignis, das sich an der Spitze von Feuerstein und Bleistift in blinder Berührung eines Bildraumes abspielt, exemplifiziert für Nancy ontologisch die Freisetzung des Seins zur Existenz: „Die Manifestation ist selbst die Ankunft des Fremden, das Zur-Welt-kommen dessen, was keinen Platz in der Welt hat, die Geburt des Ursprungs, das Erscheinen, die Freisetzung des Seins zur Existenz.“16 Aus Anlass einer Ausstellung im Musée des Beaux-Arts in Lyon hat Nancy diese Ontologie des graphischen Ereignisses in eine Ästhetik des zeichnerischen Entwerfens überführt. Entscheidend ist hierbei vor allem der Formbegriff, den Nancy in den Mittelpunkt seines Essays stellt und mit dem ontologischen Ereignis einer Eröffnung von Welt zusammendenkt. David Espinet hat hieran anknüpfend von der Realisierungsoffenheit des zeichnerischen Entwurfs gesprochen: Die Zeichnung ist die Vergegenwärtigung dessen, dass der Entwurf mit der Zeichnung gerade nicht abgeschlossen wird, sondern sich darin weiter entfaltet. Le dessin est l’ouverture de la forme meint dann zweierlei: einmal Eröffnung als ein Anfang oder Ursprung der Form, die mit der zeichnerischen Geste entsteht, sodann die stetige 11 Jacques Derrida, Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbstportrait und andere Ruinen, hg. v. Michael Wetzel, München 1997, S. 49. 12 Derrida, Aufzeichnungen eines Blinden, a.a.O., S. 11. 13 Jean-Luc Nancy, „Höhlenmalerei“, in: Die Musen, Stuttgart 1999, S. 109-119, hier S. 115f. 14 Nancy, „Höhlenmalerei“, a.a.O., S. 118. 15 Nancy, „Höhlenmalerei“, a.a.O., S. 118. 16 Nancy, „Höhlenmalerei“, a.a.O., S. 117.
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Offenheit der hingezeichneten Form, die auch als fertige Zeichnung nicht abgeschlossen ist, nicht zur Ruhe kommt. Die Zeichnung deutet zurück auf den Spielraum der zeichnerischen Geste, die der Zeichnung voraus- und in diese eingeht, sowie vor auf die eigenste Möglichkeit der Zeichnung, nämlich: die Offenheit der Form selbst, die keine bloß abgezirkelte res extensa ist.17
Um diese Offenheit der Form als eigenste Möglichkeit der Zeichnung beschreiben zu können, trifft Nancy eine terminologische Unterscheidung zwischen forma formans und forma formata.18 Diese stehen zueinander, wie in der aristotelischen Ontologie δύναμις und ἐνέργεια – Möglichkeit und Wirklichkeit. Wie schon bei Aristoteles besteht auch für Nancy der Reiz und die Schwierigkeit darin, die Relation von Akt und Potenz nicht nur als Opposition zu denken, sondern ihre innere wechselseitige Bedingtheit zu beschreiben, so aber dass diese Gegenwendigkeit in einer Form oder einem Sein zur Erscheinung kommt. Die „Zeichnung“ ist dann „Teil einer semantischen Ordnung, in der Akt und Potenz sich vermengen, in der der Sinn des Akts, des Zustandes, des Gegebenen nie vollkommen losgelöst vom Sinn der Geste, der Bewegung, des Werdens betrachtet werden kann.“19 Nancy begreift die zeichnerische Form nun nicht allein formalistisch, als einfache Gestalt linearer Strukturen, der eine formgebende Kraft im Gestaltungsprozess vorausgeht. Vielmehr sieht er in ihr einen anschaulichen Gedanken angelegt: „Die Zeichnung bezeichnet [désigne] die Form und die Idee. Sie ist bezeichnender, darstellender, zeigender, anschaulicher Gedanke.“20 Wenn Nancy so Form und Idee ineinander verschränkt, geht er über die neoplatonische Auslegung der idea hinaus, die für die neuzeitlichen Theorien der Zeichnung bestimmend war. Nancy unterwirft den Sinn dieser Bezugnahme vielmehr einer dekonstruktiven Lektüre. Auf den Widerspruch einer Ästhetik des künstlerischen Schaffensprozesses mit Referenz auf eine Instanz höherer Ordnung hatte schon Erwin Panofsky in seiner 1924 publizierten Abhandlung über die neuzeitliche Begriffsgeschichte von idea verwiesen: Bereits das Denken der Früh-Renaissance hatte von vornherein neben dem realen künstlerischen Objekt auch ein reales künstlerisches Subjekt vorausgesetzt (genau wie die Erfindung der Zentralperspektive zugleich eine Bejahung des sichtbaren ‚Gegenwurfs‘ und des sehenden ‚Auges‘ bedeutet hatte); allein es hatte ja [...] an das Bestehen 17 David Espinet, „Skizze einer Ästhetik des Entwerfens“ (Rezension von Jean-Luc Nancys Le Plaisir au dessin), in: Rheinsprung 11. Zeitschrift für Bildkritik 3 (2012), S. 166-173, hier S. 167f.: http:// rheinsprung11.unibas.ch/archiv/ausgabe-03/kritik/skizze-einer-aesthetik-des-entwerfens.html (Zuletzt aufgerufen am 15.05.2013). Vgl. auch David Espinet, „Kunst und Natur. Der Streit von Welt und Erde“, in: Der Ursprung des Kunstwerks. Ein kooperativer Kommentar zu Heideggers Kunstwerkaufsatz, hg. v. David Espinet und Tobias Keiling, Frankfurt am Main 2011, S. 46-65, hier S. 61f. 18 Das lateinische Begriffspaar natura naturans und natura naturata spielt in der nachscholastischen Philosophie im Besonderen bei Spinoza, Schelling und dem späten Merleau-Ponty eine entscheidende Rolle. Luigi Pareyson hat meines Wissens als erster den Gedanken auf eine Ästhetik der Form angewandt. Vgl. Luigi Pareyson, Estetica. Teoria della formatività, Turin 1954. 19 Nancy, Die Lust an der Zeichnung, a.a.O., S. 11. 20 Nancy, Die Lust an der Zeichnung, a.a.O., S. 21.
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jener ebenso übersubjektiven als überobjektiven Gesetzlichkeiten geglaubt, die den Gestaltungsprozeß gleichsam als eine Instanz höherer Ordnung regeln zu können schienen, und deren vorbehaltlose Anerkennung mit dem Begriff eines frei-genialen künstlerischen Schaffens im Grunde in Widerspruch stand.21
Für Nancy wird die Lust an der Zeichnung, jenseits einer einfachen Positivität, nun zur Instanz, die den Übergang eines Begehrens in ein zu entwerfendes Werk begründet. Die Lust, zu entwerfen, als eine sinnliche Erschütterung, stellt demnach den Motivationsgrund für die Tätigkeit des Entwerfens dar. Diese Lust ist dabei nicht bloßer Genuss, sondern auch ein unwiderstehlicher Antrieb zur künstlerischen Tätigkeit des Zeichnens und darüber hinaus das nach einem Werk strebende Suchen, wie es jedem schaffenden Entwurf vorausgeht. In ihrer Zweideutigkeit verweist die Lust so stets auf eine formgebende Kraft, die nicht im theoretischen Wissen um das Entwerfen aufgehoben ist, sondern anhand praktisch-impliziter Umgangsweisen ein Wissen im Entwurf entfaltet. Dieses Wissen bewahrheitet sich stets an gelungenen Entwürfen, die nicht allein auf Intentionen und Absichten eines entwerfenden Subjekts zurückführbar sind, aber Kraft ihrer Intensität auf jenen Motivationsgrund verweisen, den Nancy als „ästhetische Vorlust“ bezeichnet.22 Man muss der an Freud geschulten „Konstitution der Sinnlichkeit als Sensualität“23 somit nicht gänzlich folgen, um doch, wie Nancy, sagen zu dürfen, „dass man den Entwurf verlässt, um dem Wurf Platz zu machen, oder dass man das Theoretische zugunsten des Praktischen aufgibt.“24 Dies wäre dann eine erste wichtige Voraussetzung für ein praxeologisches Verständnis des zeichnerischen Entwerfens. Obviously a drawing of a person is not a real person, but a drawing of a line is a real line. Sol LeWitt
2. Betrachten wir nun eine farbige Zeichnung von Agnes Barley (Abb. 4.1). Die lose lineare Faktur weckt zweifellos assoziative Anklänge an eine Figurengruppe – doch wird es stets ungewiss bleiben, ob die Zeichnung nun eine bewegte Gemeinschaft mit einigen Randpersonen tatsächlich repräsentiert oder unserer assoziativen Phantasie einen kompositorischen Aufbau frei überlässt. Eine bestimmte Beobachtung zur Linearität ihrer Ausführung lässt sich indes mit Sicherheit treffen: die Form der Zeichnung wird konturiert durch Linien. In den facettenreichen Kontur- und Linienzeichnungen (profili, dintorni, lineamenti) wurde nun spätestens seit Vasari das Potential eines gemeinsamen Entwurfs21 Erwin Panofsky, Idea. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie, hg. v. John Michael Krois, Hamburg 2008, S. 112. 22 Nancy, Die Lust an der Zeichnung, a.a.O., S. 63-71. 23 Jean-Luc Nancy, „Von der ästhetischen Lust“, in: ders., Ausdehnung der Seele. Texte zu Körper, Kunst und Tanz, hg. v. Miriam Fischer, Zürich/Berlin 2010, S. 59-72, hier S. 65. 24 Nancy, Die Lust an der Zeichnung, a.a.O., S. 132.
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verfahrens erkannt.25 Der aristotelische Terminus lineamentum, den zuerst Leon Battista Alberti in seinem Architekturtraktat aufgreift, erfährt dabei eine entscheidende Umdeutung und wird zuletzt zum disegno – jenem schillernden Ideal des Zeichnens, das allen Werken der Künste – der Architektur, Bildhauerei und Malerei – im Sinne eines geistigen Entwurfs als Metamedium vorauszugehen habe. Die Linienzeichnung erlaube daher, so Alberti in De re aedificatoria, dass „die gesamte Form des Gebäudes gänzlich in ihr aufgehoben ist.“26 Gleiches dürfte dann für die farbliche Komposition der Malerei oder den voluminösen Raum der Skulptur gelten. Vasari folgte in seiner eingehenden Alberti-Lektüre schließlich der Übersetzung Cosimo Bartolis, indem er in seiner Kunstlehre lineamentum durch disegno ersetzte.27 Disegno, als das den Künsten vorausgehende Entwurfsdenken, wurde so auf Grundlage einer eminenten Linientheorie der Auf-, Um- und Grundrisse auf flächigem Grund gedacht. Die Linienzeichnung avancierte in diesem Sinne seit der Renaissance zum leitbildenden Paradigma des Entwerfens.28 Die von Nancy geprägte Denkfigur einer Zeichnung als Öffnung der Form steht noch in dieser Tradition und drängt doch darauf, sich von ihr zu befreien. Wenn Vasari den disegno noch primär als eine Fähigkeit des künstlerischen Intellekts denkt, so verschiebt Nancy diesen Begriff der Zeichnung hin zu einem Sinnbegriff realistischer, weltlicher und sinnoffener Entwürfe, deren Ursprung nicht nur in der zentralperspektivischen Subjektivität eines genialen Entwerfers zu suchen wäre, sondern sich auf den gestalterischen Austausch mit der Technologie, der multidimensionalen Materialität und den Sinn einer Gemeinschaft einlässt – so wie dies anschaulich Alexander Schwarz am Entwurf des Neuen Museums in Berlin beschreibt.29 Die Zeichnung fungiert dabei als das Scharnier, an dem sich die verschiedenen Interessen von Architektur und Auftraggeber reiben, an dem die unterschiedlichen Intentionen eines Künstlersubjektes oder eines Kollektivs verifiziert werden und sich die technisch-materialevokativen Potentiale des Entwurfsdispositivs in nuce verdichten. Diese kybernetische Tendenz der Zeichnung (disegno) bescherte ihr gemeinsam mit der gelehrten und virtuosen Hand (docta manus) den 25 Vgl. Matteo Burioni, „Gattungen, Medien, Techniken. Vasaris Einführung in die drei Künste des disegno“, in: Giorgio Vasari, Einführung in die Künste der Architektur, Bildhauerei und Malerei. Die künstlerischen Techniken der Renaissance als Medien des disegno, hg. v. Matteo Burioni, Berlin 2006, S. 7-24, hier S. 10-12. 26 Leon Battista Alberti, De re aedificatoria (Über das Bauwesen), I, 1. Zum lineamento bei Alberti vgl. Branko Mitrović, Serene Greed of the Eye. Leon Battista Alberti and the Philosophical Foundations of Renaissance Architectural Theory, München/Berlin 2005, S. 29-57. Alberti bedient sich des aristotelischen Terminus lineamentum, aber er hätte bei Aristoteles auch schon einen Begriff der Zeichnung (γραφική) vorfinden können. Vgl. hierzu die Ausführungen in den Beiträgen von David Espinet und Günter Figal im vorliegenden Band. 27 Vgl. Burioni, „Gattungen, Medien, Techniken. Vasaris Einführung in die drei Künste des disegno“, a.a.O., S. 11. 28 Vgl. Toni Hildebrandt, „Die lineare Handzeichnung als Paradigma der Entwurfsforschung“, in: Long Lost Friends. Wechselbeziehungen zwischen Design-, Medien- und Wissenschaftsforschung, hg. v. Claudia Mareis und Christof Windgätter, Zürich/Berlin 2012, S. 158-180. 29 Vgl. den Beitrag von Alexander Schwarz im vorliegenden Band.
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Nimbus des Geistigen und Höheren. Eine Phänomenologie des Entwerfens wurde so durch eine Metaphysik des neuzeitlichen, sich selbst entwerfenden Subjekts zunächst verdeckt.30 In dieser Künstlermetaphysik ist die Zeichnung als disegno primär ein materielles Substitut des Geistes oder Intellekts. Vieles hängt nun davon ab, inwieweit man gewillt ist, der Linienzeichnung im Kontext künstlerischer Entwürfe ein idealistisches Privileg zu geben. Ein Dispositiv wäre die Zeichnung (disegno) dann deswegen, weil sie innerhalb der neuzeitlichen Idee des schöpferischen Menschen eine bestimmte Funktion erfüllte und diese darüber hinaus durch Institutionen und Akademien, Traktate und Biographien bis ins 20. Jahrhundert bestätigt und stabilisiert wurde.31 In der Erkenntnistheorie Kants zeigt sich dieses Problem hingegen von einer anderen Seite. In der Kritik der reinen Vernunft ist die Linie das Paradigma für die synthetische Leistung des Schematismus; das heißt der Konstitution möglicher Gegenstände als allgemeine Konkreta. Die Linie ist damit keinesfalls paradigmatisch im Sinne eines zeichnerischen Entwerfens innerhalb der Künste zu verstehen, sondern reine Anschauung, das heißt Idealität des Raumes in der einfachsten möglichen Form. Die Linie verdeutlicht so eine Möglichkeit der Erkenntnis – jedoch jenseits ihres graphischen Potentials. Die Linie zieht sich etwa von selbst in der Selbstaffektion des Subjekts als einem zeitlichen – sofern es sich selbst reflektiert und damit seine Zeit in die Räumlichkeit der Linie einschreibt: „Um aber irgend etwas im Raume zu erkennen, z. B. eine Linie, muß ich sie ziehen, und also eine bestimmte Verbindung des gegebenen Mannigfaltigen synthetisch zu Stande bringen, so daß die Einheit dieser Handlung zugleich die Einheit des Bewußtseins (im Begriffe einer Linie) ist, und dadurch allererst ein Objekt (ein bestimmter Raum) erkannt wird.“32 Innerhalb dieser Logik kamen folglich konkrete Praktiken des künstlerischen Zeichnens und Entwerfens gar nicht erst zum Zug und in den Blick. Selbst Zirkel und Lineal sind nach Kant keine „wirklichen Werkzeuge“ des geometrischen Zeichnens.33 30 Vgl. Hans Blumenberg, „‚Nachahmung der Natur‘. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen“ (1956), in: ders., Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart 1981, S. 55-103. 31 Vgl. Wolfram Pichler und Ralph Ubl, „Vor dem ersten Strich. Moderne und vormoderne Zeichnungsdispositive“, in: Randgänge der Zeichnung, hg. v. Werner Busch, Oliver Jehle und Carolin Meister, München 2007, S. 231-255. 32 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, hg. v. Jens Timmermann, Hamburg 1998, B 137f. 33 „In Ueber eine Entdeckung, nach der alle neue Critik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlicht gemacht werden soll führt Kant 1790 aus, dass es auf die praktische Durchführung der Konstruktion [einer geometrischen Zeichnung] gar nicht ankommt. Schließlich erklärt er ungefähr zur selben Zeit in der sogenannten ‚Ersten Fassung der Einleitung in die Kritik der Urteilskraft‘, dass die beiden Hilfsmittel der geometrischen Zeichnung, Zirkel und Lineal, nicht als ‚wirkliche Werkzeuge‘ zu begreifen seien, sondern als ‚die einfachsten Darstellungsarten der Einbildungskraft a priori‘. In Kants Begriff der Konstruktion ist daher kein Ansatz zur pragmatischen oder gar praxeologischen Genese von Erkenntnis zu sehen, was sich schon deshalb verbietet, weil Kant die Erkenntnisse der Geometrie als apriorische Urteile begreift.“ Arno Schubbach, „Von den Gründen des Triangels bei Kant“, in: Der Grund. Das Feld des Sichtbaren, hg. v. Gottfried Boehm und Matteo Burioni, München 2012, S. 361-386, hier S. 370 (Einfügung T.H.).
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Jean-Paul Sartre hat Kants Denkfigur eines linearen Schematismus jedoch im Vorwort zu den Zweiundzwanzig Zeichnungen zum Thema des Begehrens von André Masson aufgegriffen und im Sinne einer transzendentalen Ästhetik gedeutet. Um die lineare Gerichtetheit in der Handzeichnung zu beschreiben, führt Sartre den mathematischen Begriff des Vektors ein. „Vektor“ bezeichnet, so Sartre, die „virtuelle Bewegung der Unbeweglichkeit“ im sichtbaren Feld des in sich ruhenden Bildes.34 Nicht alle Linien verfügen jedoch gleichermaßen über diese vektorielle Kraft. Sartre gibt hierfür eine wahrnehmungstheoretische Erklärung: Gegeben sei eine Linie auf einer schwarzen Tafel: alle ihre Punkte existieren gleichzeitig, was unter anderem bedeutet, daß ich ihre Reihenfolge in beliebiger Richtung durchlaufen kann. Zwar muß ich diese Linie ‚ziehen‘, und meine Augen müssen ihr vom einen Ende der Tafel zum andern ‚folgen‘; aber während sie sich von rechts nach links oder von unten nach oben bewegen, behalte ich im Geist und sogar bis in die Augenmuskeln hinein das Gefühl gegenwärtig, daß ich sie genauso gut von oben nach unten oder von links nach rechts bewegen könnte; somit erscheint mir die Bewegung, die sie vollbringen, als reine Auswirkung meiner Laune und hat nicht das geringste mit der betrachteten Figur zu tun: die Linie ist träge. Nun kann jedoch in gewissen Fällen und aus gewissen Gründen mein Blick gezwungen werden, die Linie in einer bestimmten Richtung zu durchlaufen: damit wird sie zum Vektor. In diesem Fall gleitet mein Blick von einem Punkt zum andern wie eine Kugel auf einer schiefen Ebene, und seine Bewegung wird von dem Bewußtsein begleitet, daß keine andere Bewegung möglich ist. Weil ich jedoch auf dieser Linie genauso wenig zurückkann wie in der Zeit, verleiht diese Unmöglichkeit dem Raum auf einem begrenzten Gebiet die Unumkehrbarkeit, die nur der Zeit eignet: während ich die Bewegung meiner Augen ausführe, projiziere ich sie zugleich in die Linie hinein, mir scheint, als entspringe sie ihr selbst, und aus dem leuchtenden Kielwasser mache ich eine ihrer Eigenschaften; sie existiert bereits und zwingt mich doch zugleich, sie zu ziehen.35
Sartre schließt hier an die Passage der Kritik der reinen Vernunft an, in der Kant nicht nur den Raum als „Abfolge im Nebeneinander“,36 sondern auch den zeitlichen Nachvollzug der Linie durch die Einbildungskraft beschrieben hatte. „Wir können uns keine Linie denken“, so Kant, „ohne sie in Gedanken zu ziehen, keinen Zirkel denken, ohne ihn zu beschreiben.“37 Die Linie ist im zeichnerischen Entwurf jedoch oftmals kein einfaches Raumphänomen, sondern verfügt über eine innere gerichtete Kausalität, die mehr als ein räumliches Nebeneinander präsentiert. Wassily Kandinsky hatte in seiner Grundlagenschrift Punkt und Linie zu Fläche (1926) dieses Verhältnis von Linie und Vektor ebenfalls schematisch verdeutlich, wobei sich der „Sinn des Schematismus“, wie Gottfried Boehm in zahlreichen Stu-
34 Jean-Paul Sartre, „Introduction“, in: André Masson, Vingt-deux dessins sur le thème du désir, Paris 1961 (dt.: Jean-Paul Sartre, „Masson“, in: ders., Die Suche nach dem Absoluten. Texte zur bildenden Kunst, Reinbek 1999, S. 39-58, hier S. 44). 35 Sartre, „Masson“, a.a.O., S. 45. 36 Sartre, „Masson“, a.a.O., S. 45. 37 Kant, Kritik der reinen Vernunft, a.a.O., B 154.
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dien zur ikonischen Figuration gezeigt hat, „in seiner inhärenten Zeitlichkeit identifizieren lässt.“38 Nach Sartre nun wird eine Linie nur dann zu einem Vektor, wenn sie mir mein eigenes Vermögen widerspiegelt, sie mit dem Blick zu durchlaufen; sie scheint in jedem Punkt ihre Vergangenheit festzuhalten, in jedem Punkt sich auf ihre Zukunft hin zu überschreiten, aber in Wirklichkeit bin ich es, der sich selbst überschreitet, und die Richtung des Vektors ist nur die provisorische Bestimmung meiner unmittelbaren Zukunft. Da jedoch die Linie an sich nur ein einfaches Nebeneinander von Punkten ist, entspringt ihre Forderung nicht aus der physischen Struktur, sondern aus ihrer menschlichen Bedeutung.39
Wenn jedoch ihre Forderung nicht auch aus der physischen Struktur der Linie entspringt, scheint fragwürdig, warum Sartre überhaupt bei Massons Zeichnungen ansetzt und nicht vielmehr gleich mathematische Vektoren herbeizieht. Wenn Kant die Zeichnung auf eine geometrisch-mechanische Technik und die Linie auf ein mathematisches Paradigma der Anschauung reduziert, so scheint doch letztlich auch Sartres existenzialistische Spielart dieser Paradigmatik nur eine Linearität im Auge zu haben, die sich primär auf jenen Schematismus einer bildlichen Anschauung und Projektion richtet, den auch ein geometrischer Beweis verlangt – auch dann, wenn sich das Erkenntnisinteresse auf die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung richten mag.40 Dementgegen hat Walter Benjamin eine strenge Unterscheidung zwischen der „Linie der Geometrie“ und der „graphischen Linie“ vorgeschlagen. Letztere definiert er als „durch den Gegensatz zur Fläche bestimmt.“41 Dieser Gegensatz, so Benjamin weiter, „hat bei ihr nicht etwa nur visuelle sondern metaphysische Bedeutung. Es ist nämlich der graphischen Linie ihr Untergrund zugeordnet. Die graphische Linie bezeichnet die Fläche und bestimmt damit diese indem sie sich selbst als ihrem Untergrund zuordnet.“42 Linie und Grund bedingen dabei einander, sodass selbst ein Zustand zu denken wäre, bei dem ein Entwurf zu vieler Linien die Zeichnung als solche überzeichnen und aufheben würde: „Umgekehrt gibt es auch eine graphische Linie nur auf diesem Untergrunde, sodaß beispielsweise eine Zeichnung, die ihren Untergrund restlos bedecken würde, aufhören würde eine solche zu sein.“43 Deutlich wird dies exemplarisch auch in Barleys Zeichnung, in deren Bildzentrum sich die Assoziation einer Figurengruppe aufzulösen scheint und man nur 38 Gottfried Boehm, „Die ikonische Figuration“, in: Figur und Figuration. Studien zu Wahrnehmung und Wissen, hg. v. Gottfried Boehm, Gabriele Brandstetter und Achatz von Müller, München 2007, S. 33-52; vgl. auch Gottfried Boehm, „Bild und Zeit“, in: Das Phänomen Zeit in Kunst und Wissenschaft, hg. v. Hannelore Paflik, Weinheim 1987, S. 1-23. 39 Sartre, „Masson“, a.a.O., S. 46. 40 Kant, Kritik der reinen Vernunft, a.a.O., A 140-142/B 179-181. 41 Walter Benjamin, „Über die Malerei oder Zeichen und Mal“, in: Aufsätze, Essays, Vorträge, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Scheppenhäuser, Frankfurt am Main 1989 (= Gesammelte Schriften. Bd. II/2), S. 603-607, hier S. 603. 42 Benjamin, „Über die Malerei oder Zeichen und Mal“, a.a.O., S. 603. 43 Benjamin, „Über die Malerei oder Zeichen und Mal“, a.a.O., S. 603f.
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noch ein sich überlappendes Ineinander farbiger Linien wahrnimmt. Für die Offenheit der graphischen Zeichnung wäre demnach auch ein bestimmtes Verhältnis zu ihrem Grund entscheidend. Denn wenn die graphische Linie als ihre eigene Möglichkeit ihr Ziel als das zu Entwerfende in sich trägt und mit sich führt, dann auch deshalb, weil sie auf die Potenziale eines offenen Raumes reagiert; eines Möglichkeitsraums also, den man seit Aristoteles bekanntlich als die leere Schreibtafel (tabula rasa) bezeichnet hatte.44 Dieser offene Raum wird von einer sinnoffenen Zeichnung nicht verdrängt, sondern allererst hergestellt. Er bestimmt die graphischen Linien als antagonistische Figurationen zu einer nicht messbaren Flächigkeit. Dieser Widerstreit – sein Entwurfscharakter – ist wesentlich für die Öffnung der Form. Er überschreitet den vektoriellen Charakter der geometrischen Linie und erzeugt einen sinnlichen Bildraum, der in Relation zu den Räumen einer sinnlich erfahrbaren Lebenswelt steht. Each line is now the actual experience with its own history. It does not illustrate – it is the sensation of its own realization. Cy Twombly
3. Ich möchte nun abschließend die Frage stellen, wie die Zeichnung als Öffnung der Form als eine paradigmatische Denkfigur für Heideggers Entwurfsdenken fruchtbar gemacht werden kann und wie darüber hinaus im Sinne Heideggers der Entwurf einer Linie seinen Gegenwurf in der Realisierungsoffenheit von Bildern findet, die in einem emphatischen Sinne zeichnerische Entwürfe sind.45 Es wird sich darüberhinaus zeigen, dass die Korrelation von Entwurf der Linie und Gegenwurf des Bildes in Heideggers Entwurfsdenken auf einer ontologischen Ebene bereits angelegt und fundiert ist. 1927 filmte der Regisseur Hans Cürlis in der Berliner Galerie Nierendorf Wassily Kandinsky beim Zeichnen (Abb. 4.2). Der Kurzfilm offenbart zwar nicht die Erfahrung des Entwerfens, aber er zeigt dessen korrelative Praxis – den Prozess. Der Film ist Teil eines umfangreichen Zyklus von 87 Filmen, die unter dem Titel Schaffende Hände auch andere Zeichner und Zeichnerinnen wie Lovis Corinth, Max 44 Aristoteles, De anima, 429 a-430 a. Vgl. Giorgio Agamben, „Das unvordenkliche Bild“, in: Bildlichkeit. Internationale Beiträge zur Poetik, hg. v. Volker Bohn, Frankfurt am Main 1990, S. 543553. In dieser aristotelischen Tradition stehend, hatte Dante in seiner Vita Nova, bereits lange vor Vasari, einen anderen Begriff des disegno gebraucht, der sich primär an einen Adressaten (Beatrice) richtet. Nach den marginalen Kommentaren von Schlosser und Grassi hat auf die philosophische Bedeutung dieser Dante-Stelle zuerst Pedro A. H. Paixão in seinen Arbeiten zur Potentialität der Zeichnung hingewiesen. Vgl. Pedro A. H. Paixão, Desenho: A Transparência dos Signos. Estudos de Teoria do Desenho e Práticas Disciplinares Sem Nome, Lissabon 2008. Vgl. hierzu auch Wolf-Dietrich Löhr, „Dantes Täfelchen, Cenninis Zeichenkiste. Ritratto, disegno und fantasia als Instrumente der Bilderzeugung im Trecento“, in: Das Mittelalter 13 (2008), S. 148-179. 45 Mir scheint dasselbe gemeint zu sein, wenn Alain Badiou den emphatischen Begriff einer „reinen“ oder „wahren“ Zeichnung entfaltet. Vgl. Badious Text „Zeichnung“ im vorliegenden Band.
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Liebermann, Käthe Kollwitz, Alexander Calder, Max Pechstein oder Otto Dix bei ihrer künstlerischen Tätigkeit im Prozess des zeichnerischen Entwerfens vorführen. Cürlis hatte 1914 am Kunsthistorischen Seminar der Universität Kiel über den zeichnerischen Entwurfsprozess bei Dürer promoviert, was seinen renommierten Kollegen Heinrich Wöllflin unmittelbar dazu bewog, in der zweiten Auflage seines Dürerbuches einen Verweis auf die Arbeit zu ergänzen.46 Wölfflin selbst hatte in seinen Münchner Vorlesungen über die „Geschichte der Zeichnung“ noch kaum über das Zeichnen als ein zeitliches Entwerfen gesprochen, sondern sein Augenmerk auf Zeichnungen als abgeschlossene Artefakte und Werke; auf deren Deutung und Historiographie gerichtet. In Cürlis’ Studien zu den Vorzeichnungen Dürers, aber dann vor allem durch die neuen medientechnischen Möglichkeiten des Films, hatte sich die Perspektive indes auf die Zeitlichkeit des Entwurfsprozesses verschoben. Cürlis’ Schaffende Hände zeigen in der Zeitlichkeit ihrer Hervorbringung die Möglichkeiten des zeichnenden Entwerfens. Das Erscheinungsjahr von Cürlis’ Filmzyklus ist bezeichnenderweise auch das Jahr der Erstveröffentlichung von Sein und Zeit. Ohne dass es einen direkt nachweisbaren Einfluss gegeben hätte, ist der expressionistische Duktus von Heideggers erstem Hauptwerk gewiss nicht unschuldig daran, dass und wie Heidegger den Begriff des Entwurfs dort prominent einführt. Entwurf ist für Heidegger die Verfasstheit eines „Spielraums“ eines „faktischen Seinkönnens.“47 In Sein und Zeit ist dies zunächst eine „existenziale Seinsverfassung“; im Kunstwerkaufsatz paradigmatisch jedoch die Sinnstruktur von Kunstwerken, wie beispielhaft für Heidegger die graphische Kunst Albrecht Dürers.48 Die Analyse der Temporalität des Werkes kann dabei als die zentrale Bemühung von Heideggers Kunstwerkaufsatz gelten.49 Sie ist auch für sein Denken des Entwurfs in Sein und Zeit von entscheidender Bedeutung und war darüber hinaus in der Etymologie des Begriffs bereits angelegt: Im Begriff Entwurf steckt ebenso wie im Begriff Geworfenheit das transitive Verb werfen. In Sein und Zeit versucht Heidegger dementsprechend das Dasein von der Richtung her zu denken, in die es sich bewegt – das heißt von dem her, auf das es sich hin ent-wirft. Dass die Zukunft als primäre Dimension der Zeitlichkeit in den Blick kommt, liegt daher wesentlich am Entwurfscharakter des Daseins. Ursprünglich verweist Entwurf und Entwerfen zurück auf das werfende Verweben von Fäden beim Weben – und damit also auf ein ordnendes, gestaltendes Hervorbringen von Möglichkeiten innerhalb eines gegebenen Rahmens. Als Fachwort 46 Vgl. Hans Cürlis, Die Bedeutung des Verhältnisses von Vorzeichnung und Druck für das Kupferstichund Holzschnittwerk Albrecht Dürers, Kiel 1914; Heinrich Wölfflin, Albrecht Dürer Handzeichnungen, 2. Aufl., München 1914. 47 Martin Heidegger, Sein und Zeit, 19. Aufl., Tübingen 2006, S. 145. 48 Vgl. Toni Hildebrandt, „‚Bildnerisches Denken‘. Martin Heidegger und die bildenden Kunst“, in: Der Ursprung des Kunstwerks. Ein kooperativer Kommentar zu Heideggers Kunstwerkaufsatz, hg. v. David Espinet und Tobias Keiling, Frankfurt am Main 2011, S. 210-225, hier S. 225. 49 Vgl. Gottfried Boehm, „Im Horizont der Zeit. Heideggers Werkbegriff und die Kunst der Moderne“, in: Kunst und Technik. Gedächtnisschrift zum 100. Geburtstag von Martin Heidegger, hg. v. Walter Biemel und Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1989, S. 255-285.
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der traditionellen Bildweberei bedeutet Entwerfen aber auch ein Bild gestalten: Indem das Weberschiffchen in die aufgezogene Webekette hin- und hergeworfen wird, gestaltet sich durch dieses Ent-werfen ein Bild im Gewebe.50 Daneben hatte Entwerfen aber bereits im Mittelhochdeutschen auch die Bedeutung eines literarischen, also im weitesten Sinne künstlerischen Gestaltens, welches sich nicht auf das Ausführen eines vorgefertigten Musters reduzieren ließe. Wenn „das Entwerfen“, so Heidegger in Sein und Zeit, somit „nichts zu tun [habe] mit einem Sichverhalten zu einem ausgedachten Plan“,51 so gilt dies gerade auch für literarische und künstlerische Entwürfe. Siegfried Zielinski hat in seinem Buch Entwerfen und Entbergen. Aspekte einer Genealogie der Projektion daher das Entwurfsdenken Heideggers dem der medientechnischen Projektion bei Vilém Flusser kontrastierend gegenübergestellt.52 Entwurf und Projektion sind bei Heidegger und Flusser jeweils Bewegungen in die Zukunft und damit in die Offenheit des Möglichen hinein. Entwurf und Projektion wurden in diesem Sinne bereits frühzeitig begrifflich zusammengedacht. Johann Heinrich Zedler etwa brachte im Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste den Entwurf mit dem „Abriss“ um eine Kugel – der „Proiectio Sphaerae“ – in Verbindung.53 Diese Vorstellung von Projektion begreift den Entwurf so aber als einen abbildenden Abriss eines Gegenstandes (einer Sphäre) nach einem „ausgedachten Plan“. Auch in Dürers Unterweysung der Messung wird ein Gegenstand, in diesem Fall eine Knickhalslaute, durch ein Messverfahren ins Bild projiziert (Abb. 4.3). Dürer beschreibt dieses Verfahren des projizierenden und daher planenden Entwerfens in seiner Unterweysung der Messung Schritt für Schritt. Abschnittsweise ist der Traktat nichts anderes als eine Anleitung zur Ausführung; eine Gebrauchsanweisung für einen (technischen) Entwurf oder eine perspektivische Projektion in die plane Fläche. Was hier offensichtlich begrifflich verloren geht, ist eine gewisse Offenheit des Entwurfs – oder die Modalform der Kontingenz –, denn Dürer beschreibt in seiner Unterweysung jeden einzelnen Schritt des Messverfahrens, das dann zur möglichst exakten Projektion der Laute führt.54 Freiheit und Offenheit des Entwerfens zeichnet allem voran Heideggers Entwurfsdenken aus. Dass sich Heidegger im Kunstwerkaufsatz aber gerade auf eine Stelle aus Dürers technischen Schriften bezieht, kann als Antwort auf die Ambiva50 Zur allgemeinen Etymologie und spezifischen Begriffsverwendung bei Heidegger vgl. im vorliegenden Band den Beitrag von Günter Figal sowie Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Hermeneutische Phänomenologie des Daseins. Eine Erläuterung von „Sein und Zeit“, Bd. 1 „Einleitung: die Exposition der Frage nach dem Sinn von Sein“, Frankfurt am Main 1988, S. 108. Zur lateinischen Etymologie von jacere im Sinne eines (Ent-)werfens vgl. Derrida, „Das Subjektil ent-sinnen“, a.a.O., S. 61. 51 Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., § 31, S. 193. 52 Vgl. Siegfried Zielinski, Entwerfen und Entbergen. Aspekte einer Genealogie der Projektion, Köln 2010. 53 Johann Heinrich Zelder, Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschaften und Künste, 1732-1754, Bd. 8, Graz 1961, S. 1303. 54 Vgl. Albrecht Dürer, „Unterweisung der Messung“ (Nürnberg 1525), in: ders., Schriftlicher Nachlass, hg, v. Hubert Faensen, 2. Aufl., Berlin 1963, S. 166ff.
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lenz des Entwerfens verstanden werden. Entwerfen, das Heidegger als eröffnendes Projektieren verstehen möchte, tendiert doch in seiner Offenheit zugleich zur Fixierung und Feststellung, nicht selten nach einer geregelten Methodik (oder Programmierung). So sehr Heidegger um diese Verstellungsgefahr des Möglichen also weiß, so sehr denkt er doch dagegen an. Die Herausgeber der englischen Ausgabe von Heideggers Beiträgen zur Philosophie übersetzten den deutschen Begriff Entwurf daher mit projecting-open oder projecting-opening, um auf die fehlende Dimension des Öffnens oder Eröffnens in einem bestimmten Verständnis des Begriffs Projektion aufmerksam zu machen.55 Die Projektion eines einfachen Gegenstandes würde demnach nicht nur eine Repräsentation und Abbildung desselben wiedergeben, sondern als Entwerfen ein Bild in eine noch verborgene Möglichkeit projizieren. Wie wäre dann aber das Verhältnis zum Objekt dieses realistischen Entwerfens zu verstehen? Schon Dürer übersetzt das lateinische obiectum bezeichnenderweise nicht mit Gegenstand sondern mit „Gegenwurf“.56 Heidegger erinnert daran, dass auch Lessing diese Übersetzung wählte: Lessing übersetzte obiectum durch ‚Gegenwurf‘. Diese Übersetzung ist in der Tat nicht nur wörtlicher sondern auch sprechender. Denn sie spricht davon, dass etwas entgegengeworfen wird, nämlich dem vorstellenden Subjekt und durch dieses. ‚Gegenwurf‘ trifft genau denjenigen Sinn von obiectum, den das Wort auch schon im Mittelalter hatte. Ein obiectum ist z. B. ein goldener Berg, gerade weil er, wie wir heute sagen, nicht existiert, sondern nur durch das einbildende Vorstellen dem vorstellenden Ich zugeworfen wird.57
An dieser Bemerkung Heideggers wird verständlich, dass das Entwerfen als eine Tätigkeit der bildprojizierenden Imagination verstanden werden kann.58 Die reine produktive Einbildungskraft ist die Möglichkeit eines sich eröffnenden, bildenden Entwerfens. „Entwerfen“ ist damit mit Kant wie ihn Heidegger versteht „die Sche-
55 Vgl. „Translator’s Foreword“, in: Martin Heidegger, Contributions to Philosophy (From Enowning), übers. v. Parvis Emad und Kenneth Maly, Bloomington Ind. 1999, S. xv–xliv, hier S. xxix; Kenneth Maly, „Turnings in Essential Swaying and the Leap“, in: Companion to Heidegger’s Contributions to Philosophy, hg. v. Charles E. Scott u.a., Bloomington 2001, S. 151-170, hier S. 158. 56 Dürer, „Von der Perspektive“, in: ders., Schriftlicher Nachlass, a.a.O., S. 238: „Item Perspektiva ist ein lateinisch Wort, bedeutt ein Durchsehung. Item zu derselben Durchsehung gehören funf Ding: Das erst ist das Aug, das do sieht. Das ander ist der Gegenwürf, der gesehen wird. Das dritt ist die Weiten dozwischen. Das viert: all Ding sicht man durch gerad Lini, das sind die kürzesten Lini. Item das fünft ist die Theilung voneinander der Ding, die du sichst.“ Dürer spricht auch von „Gegenwurf“ (S. 199) und „Gegengesicht“ (S. 217). 57 Martin Heidegger, Der Satz vom Grund, 9. Aufl., Stuttgart 2006, S. 139. 58 Das Entwerfen als eine Tätigkeit der bildprojizierenden Imagination steht im Mittelpunkt der bei Heidegger verfassten Dissertation von Hermann Mörchen. Vgl. Hermann Mörchen, „Die Einbildungskraft bei Kant“, in: Jahrbuch für Philosophie 11 (1930), S. 311-495. Grundsätzlicher lässt sich das Entwerfen wohl aber als eine Tätigkeit der willkürlichen Freiheit des Daseins verstehen. Heideggers Entwurfsdenken findet diesbezüglich auch Eingang in sein späteres Denken der Gelassenheit. Vgl. Bred W. Davis, „Will and Gelassenheit“, in: Martin Heidegger. Key Concepts, hg. v. Bret W. Davis, Durham 2010, S. 168-182.
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mabildung in ihrem Vollzug“,59 nicht auf die Versinnlichung eines Begriffes bezogen, sondern auf die eines erst zu entwerfenden Neuen hin. Dieses Neue ist gleichsam das Arkanum eines jeden Entwurfsdenkens und seit den Theorien des disegno zumeist nur über eine creatio ex nihilo erklärt. Heidegger hat diesem Erklärungsmodell entschieden widersprochen und doch die Existenz des Neuen als des Eigensten bejaht: Im Entwurf tritt jenes ‚Anders wie sonst‘ ins Offene, aber dieses Anders ist im Grund kein Fremdes, sondern nur das bislang verborgene Eigenste des geschichtlichen Daseins. Der Entwurf kommt aus dem Nichts, sofern er nicht dem Sonstigen und Bisherigen entstammt; er kommt nicht aus dem Nichts, weil er als zuwerfender die verborgene hinterlegte Bestimmung heraufholt, sie als einen Grund legt und eigens gründet.60
Dies impliziert meines Erachtens nun zweierlei: Zum einen wird deutlich, dass der Entwurf auf eine gegebene Situation antwortet und diese nicht mit einem radikal Neuen lediglich überfrachtet. Da diese Situation – etwa im Fall des Neuen Museums in Berlin – eminent geschichtlich ist, muss auch das Entwerfen selbst über ein historisches Bewusstsein verfügen. In Auseinandersetzung mit der Technologie und Materialität, der Geschichte und Gemeinschaftlichkeit der Welt, projiziert der Entwurf also nach bestem Gewissen das Neue in eine gute Zukunft. In diesem Sinne träte durch den Entwurf das „bislang verborgene Eigenste des geschichtlichen Daseins“ ins Offene. Dieses „Eigenste“ ist jedoch nicht eine einzige Möglichkeit, sondern nur eine Möglichkeit unter potentiell verschiedenartig gelungenen Entwürfen. Ein Kriterium ihres Gelingens wäre dann das Verhältnis von Offenheit des Entwurfs und Realisierung des Werks, je im Hinblick auf ihr Verhältnis zum „Eigensten“ des geschichtlichen Daseins und den potentiellen Adressaten des ganzen Entwurfsgeschehens. Dass dieses „Eigenste“ auch eine Kategorie des Fremden, Äußeren und Liminalen sein kann, haben nicht zuletzt die dekonstruktiven Lektüren nach Heidegger gezeigt. Wenn für Nancy und Derrida die Öffnung mit und über Heidegger hinaus eine Schlüsselkategorie der Ontologie bleibt, so ist die graphische Zeichnung in einem spezifischen Sinne ihr Paradigma, denn in ihr versammeln sich die Residuen einer zu eröffnenden Welt: ein (sich) entwerfendes Subjekt, eine zu entwerfende Weltanschauung und eine beides bedingende Technik des bildnerischen Denkens. Die Zeichnung ist damit für Derrida und Nancy eine Möglichkeit, die Öffnung des Seins zur Existenz anhand realistischer Entwürfe zu entfalten. Es ist vielleicht kein Zufall, dass selbst Heidegger das Paradigma der Zeichnung wählte, als er während eines Seminars im Zürcher Burghölzli einige Halbkreise und Vektoren als Zeichen der menschlichen Existenz skizzierte (Abb. 4.4). Heidegger kommentierte das Schema nur knapp: „Diese Zeichnung soll nur deutlich machen, 59 Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt am Main 2010 (= Gesamtausgabe. Bd. 3), S. 97. 60 Martin Heidegger „Vom Ursprung des Kunstwerks (Erste Ausarbeitung)“, in: Heidegger Studies 5 (1989), S. 5-22, hier S. 20.
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Abb. 4.4 Martin Heidegger, „Halbkreise und Vektoren“, von Medard Boss rekonstruierte Zeichnung in: Martin Heidegger, Zollikoner Seminare. Protokolle – Zwiegespräche – Briefe, hg. v. Medard Boss, Frankfurt am Main 2006, S. 3 © Vittorio Klostermann GmbH, Frankfurt am Main 1987.
daß menschliches Existieren in seinem Wesensgrunde nie nur ein irgendwo vorhandener Gegenstand ist, schon gar kein in sich abgeschlossener Gegenstand.“61 Im Spannungsverhältnis von Entwurf der Linie und Gegenwurf des Bildes eröffnet sich nach Heidegger, Derrida und Nancy ein neues Verständnis von Objektivität. Die Zeichnung verleiht den Gegenständen der Welt nicht allein ihre Form als Fasson, sondern ist als zugeworfene Öffnung der Form gleichsam Gegenwurf des Bildes und damit in nuce auch ein Weltentwurf.
61 Martin Heidegger, Zollikoner Seminare. Protokolle - Zwiegespräche - Briefe, hg. v. Medard Boss, Frankfurt am Main 2006 (= Gesamtausgabe. Bd. 89), S. 3. Die Wandzeichnung, die Heidegger am 8. September 1959 auf das schwarze Brett im großen Hörsaal im Zürcher Burghölzli, der psychiatrischen Universitätsklinik von Zürich, anfertigte, wurde nach dem Seminar vernichtet und von Medard Boss, der Heidegger von 1959 bis 1969 zu den Zollikoner Seminaren eingeladen hatte, für die publizierten Seminarprotokolle rekonstruiert. Heidegger hat die graphische Darstellung wohl zu keinem späteren Zeitpunkt wiederholt. Zu zeichnerischen Denkversuchen in den Assoziogrammen Heideggers vgl. den Beitrag von Rainer Totzke im vorliegenden Band.
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Die „neue Einbildungskraft“ Eine „Haltung maschinischer Komposition“? Meine Textminiatur möchte nicht mit den zahlreichen filigranen philologischen Kritiken von Heideggers Kritik an Kants Metaphysik konkurrieren. Dazu fehlt mir die Kompetenz, die in diesem Fall Sache der Philosophie ist. Vielmehr verfolge ich aus mediengenealogischer Perspektive eine Spur, welche die Einbildungskräfte konsequent als eine starke dritte geistige und sinnliche Kraft für mediale Weltgenerierungen im Spiel hält. Vilém Flusser hat sie im Kontext von Phänomenen vernetzter Komputationen erneut aktiviert, indem er auf die originäre Version Kants zurückgriff und sie zugleich ins Bodenlose1 erweiterte. Der Reflexion sollen zwei Konzepte hinzugefügt werden, die in Vergessenheit geraten sind und die im Verhältnis zu Heidegger und Flusser sowohl als Durchlauferhitzer als auch als Kontrastmaterial interpretiert werden können: Ludwig Anton Muratoris Traktat zur Einbildungskraft vom Beginn der Aufklärung und Dietmar Kampers Zur Geschichte der Einbildungskraft vom Ende der Aufklärung.
1. Kants erste Schrift innerhalb seiner fundamentalkritischen Trilogie zur Metaphysik war bekanntlich der reinen Vernunft gewidmet. Sie erschien 1781. Darin widmete der Philosoph aus Königsberg der Einbildungskraft eine besondere Aufmerksamkeit. Für das menschliche Erkenntnisvermögen wurde ihr in Wertigkeit und Bedeutung eine ähnliche Funktion zugewiesen wie sie später das Imaginäre in Lacans Dreifaltigkeitslehre über das Reich des Psychischen einnahm. Sie wurde zum spannungsreichen Spielfeld für das Denken in seiner ambivalenten Existenz zwischen der obersten Zensurbehörde und dem Zuchtmeister Verstand einerseits und der zur Anarchie neigenden Sinnlichkeit andererseits. In einer etwas groben Übersetzung auf das lacansche Konzept der Psyche projiziert heißt das: zwischen dem Symbolischen und dem Realen. Das Imaginäre sorgt bei Lacan für jene Vernähungen, die es zum Beispiel auch für Kinotheorie geeignet macht.2 Kant schätzte die dritte Denkkapazität überaus aufgrund ihrer besonderen Kraft (virtus) der Synthetisierung – eine virtuelle Realität der besonderen Art. Kant schrieb ihr eine Vermitt1 Bodenlos ist der Titel der Autobiographie Vilém Flussers, die 1992 postum veröffentlicht wurde. 2 Vgl. zum Beispiel Christian Metz, „Le signifiant imaginaire“, in: Communications (Psychanalyse et cinéma) 23 (1975), S. 3-55.
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lungsfunktion zwischen dem Endlichen (der ausgedehnten Dinge) und dem Unendlichen (der Denkdinge) zu und zerriss die oszillierende Existenz der Einbildungskraft in zwei unterschiedliche Energiekurven: eine zuständig für die Produktion und eine für die Reproduktion von Bildern. 1787 erschien die zweite Auflage des kantischen Meistertextes der deutschen Metaphysik, der wie kaum ein anderer das philosophische Denken im Europa der letzten gut 200 Jahre geprägt hat. Kant hatte die epistemische Kraft mit der seltsamen Virtuosität zwischen dem Sinnlichen und Vernünftigen gezähmt und zurechtgestutzt, sodass wenig von ihrer widerständigen Autonomie übrig blieb. In ihrer transzendentalen Dimension wurde die Einbildungskraft der Seite der Vernunft zugeschlagen. Um das uneingeschränkte Regime der disziplinierenden Instanz zu retten, hatte sich Kant für den reinen Verstand und gegen die reine Einbildungskraft entschieden, die er im ersten Entwurf der Kritik der reinen Vernunft so emphatisch ins Spiel der Gedanken gebracht hatte. Aus der heiligen Trinität des Denkens, die als Bild bis in die frühe Neuzeit sämtliche europäische Gehirnkammer-Heuristiken bestimmt hatte, wurde wieder die platonische Zwiespältigkeit von ratio und sensus, für welche die imaginatio ihre Dienstleistungen erbringen durfte. Obwohl bereits Descartes erhebliche Zweifel an der Sinnhaftigkeit dieses Dualismus hegte. Die Einbildungskraft erscheint bei ihm immer wieder sowohl auf der Seite der ausgedehnten wie auch der denkenden Dinge, also in jener Ambiguität, wie sie auch Kant ursprünglich dachte. Gleichsam, als wollte er rechtzeitig vor der Kehrtwendung im metaphysischen Universum des deutschen Philosophen warnen, veröffentlichte Georg Hermann Richerz, ein katholischer Universitätsprediger aus Göttingen, zwei Jahre zuvor, 1785, einen merkwürdigen Traktat in deutscher Übersetzung und Kommentierung. Das Buch hieß im italienischen Original Della forza della fantasia umana und erschien erstmals in Venedig 1745.3 Sein Autor Ludwig Anton Muratori [1672 1750] war ein philologisch hoch gebildeter Jesuit, der Jahrzehnte als Archivar und Bibliothekar für die Biblioteca Ambrosiana in Mailand arbeitete. Er schrieb einige bedeutende Werke zur (Kultur-)Geschichte Italiens, die aber in diesem Kontext nicht von Belang sind. Zu seinen außerordentlichen Marginalien gehört eine Abhandlung über das Betteln als lästiger und zugleich bedenkenswerter sozialer Erscheinungsform in den entstehenden Städten des modernen Europa. Er schlug vor, die Bettelei mit der einfachen, aber schwer zu realisierenden Maßnahme zu bekämpfen, den um Almosen Bittenden eine Arbeit zu verschaffen, die sie zu ernähren vermag und ihnen Würde verleiht.4 Die Städte und ihre reichen Nutznießer hätten die Armut erzeugt, es wäre ihre Pflicht, auch für die Beseitigung zu sorgen.
3 In der deutschen Übersetzung von Muratoris Text wird forza della fantasia, die Verknüpfung von aktiver Kraft und Phantasie als „Einbildungskraft“ gefasst: Ludwig Anton Muratori, Über die Einbildungskraft des Menschen, hg. v. Georg Hermann Richerz, Leipzig 1785. 4 „Ein jeglicher Ort oder Stadt ist schuldig zu erst für seine Armen [...] zu sorgen“, Ludwig Muratori’s Gedanken über die Abschaffung des Bettelns und Verpflegung der Armen, Augsburg 1780, S. VIII.
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Den Philosophen aus dem hohen Norden, der das kalte Königsberg nie verlassen hatte, kannte der italienische Jesuit, Archivar und Bibliothekar offenbar nicht. Muratoris Abhandlung Über die Einbildungskraft des Menschen ist ein engagiertes Plädoyer für die forza della fantasia als mentale Avantgarde des Denkvermögens in der unauflösbaren Einheit von Körper und Geist. Der Text ist durchsetzt mit zahlreichen Metaphern, Bildern und Vergleichungen, durch die hindurch die Denkvorrichtungen des Menschen wie mediale Apparate und die Denkleistungen wie mediatisierende Prozesse beschrieben werden - zum Teil in einem sprachlichen Duktus, wie er uns in der jüngsten Vergangenheit aus den Diskursanalysen der 1980er und 1990er Jahre vertraut ist. Nicht nur deshalb lohnt es sich, ein Blick darauf zu werfen. Das erste Kapitel in Muratoris Buch handelt von „der Verschiedenheit des Verstandes und der Einbildungskraft“. Es wartet nicht nur mit markanten Verschiebungen allzu bequemer dichotomischer Gegenüberstellungen auf, sondern auch mit einer eindrucksvollen medientheoretischen Eröffnung. In einer bemerkenswerten Fußnote wendet sich Muratori entschieden gegen die Auffassung, „dass der Körper bloß ein Kanal für die äußere[n] Eindrücke, bey ihrem Übergang zu der Seele“, wäre, „oder gar nur eine zufällige [akzidentelle] Veranlassung gewisser Vorstellungen der Seele sey“.5 Der bekennende katholische Sensualist Muratori, dessen Text zur Einbildungskraft im historischen Kontext der provokanten Schriften Julien Offray de la Mettries erschien, wendet sich entschieden gegen die Auffassung einer Neutralisierung des Übertragungskörpers, weil sie unter anderem zu einer Hierarchisierung der intellektuellen Leistungen des Menschen führen würde, die der Sache des Denkens nicht dienlich wäre. Gedächtnis (memoria) und Einbildungskraft sind für Muratori zugleich tragende, vermittelnde wie auch herstellende, prägende Gehirnaktivitäten, ohne die der Verstand nichts sei und nichts zu tun habe. Die Einbildungskraft diskutiert Muratori leidenschaftlich als physisch-materiell verankerte Unterhändlerin zwischen Seele/Geist und der äußeren Welt der Attraktionen, die wir mit den Sinnen wahrnehmen. Damit wird die Einbildungskraft zu einer echten Botschafterin, bei der die Botschaft noch nicht vom Körper der Überbringerin getrennt ist, wie das später bei der Verständigung auf Entfernung, der Telekommunikation, der Fall sein wird. Von der Einbildungskraft gelangen [...] Berichte an die Seele. Diese erkennt dadurch in ihrem Wohnsitz fast eben so gut die außer ihr befindlichen Dinge als wenn sie dieselben unmittelbar gesehen, gehöret oder gefühlt hätte. [...] das ganze Denken der 5 (Einfügungen S.Z.) Muratori formuliert hier auf S. 31 bereits in aller Klarheit den Dualismus, der nach dem Zweiten Weltkrieg das Medien-Denken zwischen technologischem Determinismus und akzidenteller Technologie beschäftigte und wie er zum Beispiel von Raymond Williams schon in den 1970er Jahren entschieden aufgehoben wurde, lange bevor deutsche Medienwissenschaft erneut ein nicht-triviales Verhältnis zwischen Technik und Kultur zu denken lernte. Im Zitat Muratoris klingt deutlich auch das Verhältnis von Medienmaterial oder Medienstruktur und Botschaft, von Hardware und Software an, wie es Medientheorie seit McLuhan beschäftigt. Vgl. Raymond Williams, Television. Technology and Cultural Form, London 1974.
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Seele besteht dann doch nur in der Anschauung des in der Werkstätte der Phantasie abgezeichneten Gegenstandes. Diese Copie stellt uns das von uns entfernte Original aufs lebendigste dar.6
Hier formuliert Muratori vortrefflich vor, was später bei Kant und in aller KantInterpretation eine wichtige Rolle spielt, nämlich sowohl die Vergegenwärtigung als auch die Bildhaftigkeit dessen, was die Kraft der Phantasie liefert und was sie mit Hilfe des Verstandes produziert, auch und gerade wenn „das von uns entfernte Original“ als Abwesendes zählt. Der Gedanke stammt in der europäischen Neuzeit von Thomas von Aquin, geht aber bereits auf die atomistischen Naturphilosophien der griechischen Antike zurück. Die Einbildungskraft fertige Kopien des Realen als Erinnerung an. Das wird präziser im zweiten Kapitel Muratoris diskutiert. Es handelt „von der Einbildungskraft, ihren Geschäften und ihrem Sitz“ und beginnt mit einer detaillierten Beschreibung der Vorgänge und Ereignisse beim Denken: Sobald ein Sinn den Eindruck irgend eines Gegenstandes empfangen hat, wird die Idee, oder das Bild [imago], oder der Charakter [durchaus hier auch im drucktechnischen Sinne zu denken, die einzelne Type, der einzelne Buchstabe] – mit einem Wort, irgend eine Notiz von solchem Gegenstande vermittelst der Nerven und Lebensgeister zum Gehirn gebracht, und in die Zellchen und Falten des Gehirnes niedergelegt.7
Das Gehirn konzipiert Muratori gänzlich wie einen medialen Apparat: Es lässt sich kein vernünftiger Grund angeben, warum diese weiche und klebrichte Masse in unserem Kopf angebracht sey, wenn man nicht annimmt, dass sich die vermittelst der Sinne dahin geführten Eindrücke und Begriffe von äußern Dingen daselbst einprägen und aufbewahrt [gespeichert] werden, – dass sie also zum Magazin des Gedächtnisses dienen soll. 8
Wenige Seiten später spricht Muratori erneut davon, „dass sich Bilder oder Ideen unserem Gehirne eindrückten“ und dort „Spuren der Körper“ hinterlassen, welche die Einbildungskraft mit sich führe.9 Das Verhältnis von sterblichem Körper und unsterblicher Seele, von Endlichkeit und Unendlichkeit, versucht Muratori immer wieder auch in Metaphern optischer Wahrnehmung zu fassen: die Seele als „Spiegel“ und das strukturierte Licht der Einbildungen, das vom Spiegel reflektiert werde, wobei er das Licht als „feinste und sich dem Geistigen am meisten nähernde Materie unter allen, die wir kennen“ begreift. Empedokleisch formuliert er: Die Augen unterrichten uns von den äußeren Gegenständen gewöhnlich zuerst. Das von den Körpern herstrahlende Licht dringt durch das Auge und dessen Nerven, wie 6 Muratori, Über die Einbildungskraft des Menschen, a.a.O., S. 34f. 7 Muratori, Über die Einbildungskraft des Menschen, a.a.O., S. 37 (Einfügungen und Hervorhebungen S.Z.). 8 Muratori, Über die Einbildungskraft des Menschen, a.a.O., S. 37. 9 Muratori, Über die Einbildungskraft des Menschen, a.a.O, S. 42.
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durch Krystalle. Auf die Art drückt es das Bild der Körper, von denen es herleuchtet, gleichsam in die glatte Tafel des Gehirns. […] Eigentlich sollten allein diejenigen Eindrücke, welche wir vermittelst der Augen erhalten, Bilder oder Ideen genannt werden. Die Eindrücke durch Gehör, Geruch, Geschmack und Gefühl können wir Spuren, Merkmale, Zeichen der Figuren und Bewegungen der Körper nennen.10
Ganz nebenbei wird hier eine optische Theorie eingeführt, die uns aus dem goldenen Zeitalter der arabischen Wissenschaften, nämlich von Ibn al-Haythams Studien zur Optik aus dem elften Jahrhundert, vertraut ist,11 und ein paar Zeilen weiter findet sich die medienepistemologisch interessante Bemerkung zur Differenzierung unterschiedlicher Sinneseindrücke. Im vierten Kapitel, das „vom Gedächtnis“ handelt, greift Muratori diesen Gedanken wieder auf und schreibt davon, dass „die Bilder der Dinge sich dem Gehirn eindrückten, und dass die Sammlung dieser Bilder die fantasia [Einbildungskraft] ausmachen“.12 Damit korrespondiert der Jesuit nicht nur vortrefflich mit Kants Idee der Zusammenfassung/Synthetisierung, sondern er bietet wenig später auch noch einen – für die zeitgenössische Lektüre – unverschämten medientheoretischen Sprung an, indem er von der Einbildungskraft als einem „weitläufigen Buche“ schreibt, in welchem die „eingeschriebnen Ideen“ für die Synthese wirksam sind, im Wortsinn: ausgedrückt werden.13
2. 200 Jahre nach der ersten Übersetzung dieser Zeilen Muratoris ins Deutsche und fast 250 Jahre nachdem sie auf Italienisch geschrieben wurden, veröffentlichte Dietmar Kamper, der in den 1980er Jahren zusammen mit Michael Wetzel auch die Archäologie im Medienzusammenhang ins Spiel brachte, erneut eine Geschichte der Einbildungskraft, die das Recht des Körpers massiv einklagt. Die Abstraktionsleistungen des Technologischen hatten in der Krise der Moderne, die einige Postmoderne nannten, wieder einmal einen Höhepunkt erreicht und waren in ihren Folgen unabsehbar geworden. Lyotard arbeitete bereits an ersten Ideen zur Ausstellung „Les Immatériaux“, welche die denkende Kulturszene Mitte der 1980er Jahre von Paris aus aufrollte. Baudrillard feilte unentwegt an seiner Heuristik der simulacra mit dem zentralen Motiv einer unvermeidlichen Agonie des Realen aus dem Jahr
10 Muratori, Über die Einbildungskraft des Menschen, a.a.O., S. 46. 11 Vgl. hierzu: Hans Belting, „Afterthoughts on Alhazen’s Visual Theory and Its Presence in the Pictorial Theory of Western Perspective“, in: Variantology 4 – On Deep Time Relations of Arts, Sciences and Technologies in the Arabic-Islamic World and Beyond, hg. v. Siegfried Zielinski und Eckhard Fürlus, Köln 2010, S. 43-52; Siegfried Zielinski und Franziska Latell, „How One Sees – A Short Genealogy on the Variation of a Model“, in: Variantology 4, a.a.O., S. 413-442. 12 Muratori, Über die Einbildungskraft des Menschen, a.a.O., S. 178f. 13 Muratori, Über die Einbildungskraft des Menschen, a.a.O., S. 179.
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1978, und Virilio trieb seine Dromologie in immer schneller rotierenden Spiralen in Richtung einer Ästhetik des Verschwindens (Esthétique de la disparition, 1980), die im rasenden Stillstand (L’Inertie polaire, 1990) ihre Ruhe im delirierenden Equilibrium finden sollte. Flusser übte sich unentwegt im Abstraktionsspiel, der Idee einer ludischen Überwindung der unerträglichen Spaltung zwischen (abstraktem) Programm und einer Imagination, die Neues zu entwerfen, zu erfinden und herzustellen in der Lage wäre. Kampers Position war klar und unmissverständlich. Er schlug sich auf die Seite einer Logik der Mannigfaltigkeiten, die an deutschen Universitäten zu dieser Zeit noch wenig gedacht und noch weniger geachtet wurde (zumindest nicht in den Feldern des Kulturellen, der Kunst und des Medialen): „keine Geschichte aus einem Guss [...], sondern ein Vielfältiges“, wolle er mit seiner Geschichte der Einbildungskraft erarbeiten. „Zivilisationsgeschichte als Abstraktionsgeschichte“ habe „von dem gelebt, was sie verdrängte, ausschloß, vernichtete [...]. Die Einbildungskraft als Kraft des körperlichen Lebens war auf der Jen-Seite der Gegenstände, ihr gleichsam unerkanntes Inneres, das – im Griff der verwertenden Analyse – angezapft wurde für parasitäre Nutzungen.“14 Letztere konnten bis zu grundlegenden Missverständnissen reichen wie demjenigen, dass Phantasie etwas mit denjenigen Orten zu tun haben könne, an denen die Macht zu Hause ist. In einem stark komprimierten Kapitel15 beschreibt Kamper die Karriere der Einbildungskraft im Zwiespalt zwischen der „Rolle des niederen Erkenntnisvermögens, das untrennbar mit dem Körper verbunden ist“ und einer „nach Regeln verfahrenden Erkenntnis“.16 Trotz zahlreicher Ansätze, die Einbildungskraft sowohl auf der untersten epistemologischen Stufe als auch als höchste Erfüllung des Denkens zu betrachten, sie also in einem einheitlichen Konzept zwischen sinnlicher Erfahrung und höchster Abstraktion anzusiedeln, überwiegen in der europäischen Tradition die Versuche, das Vermögen zu diskriminieren, das für das „Denken des Seins“ als „Bild-Denken“ (Heidegger) so entscheidend sei.17 Hegels „Verdikt [...] über die ‚Ungezogenheit‘ der Einbildungskraft“ habe „einer phantasiefeindlichen Erziehung bis auf den heutigen Tag Schützenhilfe geleistet“, selbstverständlich „ohne daß der Philosoph direkt verantwortlich gemacht werden könnte“.18 Kamper bezieht sich 1981 in seiner Kritik ausdrücklich auf Heideggers berühmte Abhandlung Kant und das Problem der Metaphysik.19 Heidegger diskutiert hier pointiert Kants „Zurückweichen vor der transzendentalen Einbildungskraft“
14 Dietmar Kamper, Zur Geschichte der Einbildungskraft, München 1981, S. 11. 15 „Das Elend der Einbildungskraft. Kurze Geistesgeschichte einer langen Verdrängung“, Kamper, Zur Geschichte der Einbildungskraft, a.a.O., Kap. 6, S. 86-106, hier S. 86ff. 16 Kamper, Zur Geschichte der Einbildungskraft, a.a.O., S. 87f. 17 Kamper bezieht sich in diesem Zusammenhang auf das Kapitel „Über das Einbildungsvermögen“, vgl. Wilhelm Szilasi, Phantasie und Erkenntnis, Bern/München 1969, bes. S. 58-75. 18 Kamper, Zur Geschichte der Einbildungskraft, a.a.O., S. 105. 19 Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, 7. Aufl., Frankfurt am Main 2012.
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(§ 31) zugunsten eines reduzierten Verständnisses der Einbildungskraft als begrenzte sinnliche Tätigkeit, wie er es in seiner Anthropologie eingeleitet und in der B-Auflage der Kritik der reinen Vernunft (1787) besiegelt habe. Heidegger ging es dabei vor allem darum, seine Idee von der Grundlegung der Metaphysik durch die Zeit gegen Kants Bildlastigkeit zu profilieren. Flusser soll die genannte Schrift Heideggers als Jugendlicher in seiner Prager Zeit nahezu auswendig gekonnt haben. Das kann man in seinen späten Texten daran ablesen, dass er in stark heideggerianischer Diktion mit jenem zwiespältigen Begriff der Einbildungskraft arbeitet, der für Heideggers Kant-Kritik in epistemologischer Perspektive entscheidend ist: die Aufspreizung in eine transzendentale, reine Einbildungskraft, die einen produktiven, also herstellenden Charakter besitze, und eine reproduzierende Einbildungskraft, die eher eine ausführende, vom Verstand und seinen Ideen gelenkte Tätigkeit ausübe.
3. In seiner Idee einer „neuen Einbildungskraft“ radikalisiert Flusser die Kritik Heideggers und reaktiviert zugleich die originäre transzendentale Einbildungskraft Kants, indem er „das ‚Unbekannte‘, in das Kant hineingeblickt haben muss“ und vor dem er zurückgewichen sei, weil einem darin „das Beunruhigende“ im Erkannten entgegentrete,20 neu besetzt. Zu den klassischen Eigenschaften des ersten Hirnventrikels, das in scholastischen Konstruktionen ganz vorne im Schädel zu finden ist, gehörte die Hitze und die Trockenheit. Sie waren Voraussetzung dafür, dass die Sensationen der Realität in das Gehirn eingebrannt und schließlich in der kühlen und trockenen Kammer der Erinnerung aufbewahrt werden konnten. Die neue Einbildungskraft, von der Flusser im Angesicht komputierender Maschinen schwärmt, ist hingegen äußerst cool. Sie sei mit der Regelhaftigkeit von Algorithmen verbündet, sei insofern eine „programmierende Einbildungskraft“ und schieße in ihren Resultaten zugleich über die reine Verstandesleistung hinaus. Flusser verbindet die so schwer zu greifende produktive Einbildungskraft mit dem rechnenden, kalkulierenden Vermögen als der höchsten Abstraktionsleistung des Verstandes. Seine Perspektive ist dabei die Generierung von Realitäten, die auf keinen Fall identisch seien mit der realen vergangenen Gegenwart. Flussers Traktat Lob der Oberflächlichkeit (1993), der aus etlichen knappen fragmentarischen Stücken postum vom Verleger zu einer Monografie zusammengestellt wurde, kann als ein Zeugnis spekulativen Realismus und objektorientierter Philosophie – lange bevor diese Begriffe als Etiketten in den Theoriemarkt zwischen den USA, Paris und Berlin eingeführt wurden – interpretiert werden. In kompromissloser Geste versucht sich der Prager Kulturanthropologe hier an einer „Phänomenologie der Medien“, die sich ganz auf deren uns zugewandte Seite fokussiert und keinerlei nebulösen Grund zu entdecken versucht, der sich hinter der Oberfläche verbirgt. In der Idee der neuen Einbildungskraft finden die Textfrag20 Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, a.a.O., S. 160.
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mente Flussers ihren Höhepunkt. „Computare“ bedeute in etwa, „zuerst Beschnittenes zusammenzudenken“.21 Durch die Abstraktion, über den Zwischenschritt einer (Neu-)Berechnung von Welt, also vermittels des Durchschreitens der symbolisch organisierten Welt der Zahlen und Algorithmen, der flusserschen Nulldimension, seien die programmierenden Einzelnen dazu in der Lage, alternative Welten zu entwickeln, im Gegensatz zur schlichten Reproduktion des Vorhandenen. Letzteres sei das Geschäft der alten, im wesentlichen dienenden, passiven Imagination. Sie gehöre als Kapazität der geschichtlichen Epoche an. Die neue Einbildungskraft habe hingegen nachgeschichtliche Qualität. Pós-História ist der portugiesischsprachige Titel, den Flusser für eine Sammlung von Vorträgen gewählt hat, die er vor allem im Brasilien der 1970er Jahre gehalten hat.22 Und dann kehrt unversehens die Geschichte doch wieder zurück: „Die Kraft ein Bild ein(zu)setzen!“ betont der Prager Philosoph energisch am Ende eines auf Englisch geführten Gesprächs mit den ungarischen Kunsthistorikern László Beke und Miklós Péternàk 1990 in Budapest, plötzlich ins Deutsche hinüberwechselnd und die geballte Faust nach vorn in Richtung Kamera und Zuschauer richtend.23 Das ist die gleiche Geste, wie sie die Superman-Figur auf Ted Nelsons legendärem Dream Machines / Computer Lib (1974) demonstriert, und mit der sie auf einen weißen leeren Bildschirm zufliegt. Die von Nelson selbst verlegte Publikation, in der der Anarchist einer Kultur des Hypertextes zwei Bücher buchbinderisch zu einem zusammengefügt hatte, eröffnete die Diskussion über den Computer als universelles Autoreninstrument. In einem anderen Text aus dieser Zeit schreibt Flusser, sein eigenes Konzept erklärend: „Darin unterscheidet sich diese Geste [der neuen Einbildungskraft] von jener anderen bildermachenden, von der bisher gesprochen wurde: sie ist nicht abstrahierend, rückschreitend, sondern im Gegenteil konkretisierend, projizierend.“24 Wir haben es in Flussers heterogenem Denkuniversum also im Grunde mit der Reaktivierung von jenen zwei verschiedenen Tätigkeiten zu tun, die Kant in der Kritik der reinen Vernunft in einem Begriff zusammengefasst hat: die reproduktive Einbildungskraft (I) ist diejenige, die entlang der Fluchtlinien sinnlicher Wahrnehmung aktiv ist und vornehmlich wiedergibt, was sie aufgenommen hat. Das ist für Flusser die klassische Imagination, die der Vergangenheit angehört. Sie ist für ihn retrospektiv und passiv. Sie reduziert die konkrete Lebenswirklichkeit hin zur Abs21 Vilém Flusser, Lob der Oberflächlichkeit. Für eine Phänomenologie der Medien, Köln 1993, S. 251. 22 Post-History ist das erste Buch aus einer Reihe, die als „Flusser-Archive-Collection“ in den USA veröffentlicht wird. Die brasilianische Fassung erschien 1983 bei Duas Cidades, die Übersetzung ins Englische besorgte Rodrigo Maltez Novaes. Vgl. Vilém Flusser, Post-History, hg. v. Siegfried Zielinski, Minneapolis 2013 (= Flusser-Archive-Collection. Bd. 1). 23 Das Gespräch mit dem Titel „On Religion, Memory, and Synthetic Image“ ist enthalten auf der DVD We shall survive in the memory of others, hg. vom Center of Communication and Culture Budapest in Kooperation mit dem Vilém-Flusser-Archiv Berlin, Köln 2010. 24 Hier zitiert aus dem Typoskript mit dem Titel „Eine neue Einbildungskraft“, das als Vorlage für den Beitrag Flussers in Volker Bohns Sammelband Bildlichkeit diente (Vilém-Flusser-Archiv an der Universität der Künste Berlin). Vgl. Vilém Flusser, „Eine neue Einbildungskraft“, in: Bildlichkeit. Internationale Beiträge zur Poetik, hg. v. Volker Bohn, Frankfurt am Main 1990, S. 115–128.
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traktion, bis zu ihrer höchsten Stufe in der Nulldimension. Die produktive Einbildungskraft (II) hingegen, die facultas imaginandi im engeren Sinn, ist diejenige einer aktiven und prozessierenden Neuschöpfung von Welt, die nach den unermesslichen Katastrophen von Auschwitz und Hiroshima und dem endgültigen Verschwinden Gottes nicht mehr aus der Substanz, sondern nur noch aus der Abstraktion heraus denkbar sei. Das synthetische Bild, sagt Flusser in dem oben zitierten Gespräch mit einer unverschämten Provokation, sei eine Antwort auf Auschwitz. Die wichtigsten Positionen der Dialogphilosophie des 20. Jahrhunderts sind von Denkern entwickelt worden, deren Freunden und Familien von anderen das denkbar größte Leid zugefügt worden ist, von jüdischen Philosophen wie Martin Buber, Franz Rosenzweig und Emanuel Levinas. Die Idee einer komputierenden Einbildungskraft, mit deren Hilfe jene Möglichkeitsfelder bearbeitet werden können, die die erfahrbare Welt anbietet, zieht sich durch die Schriften Flussers ebenso wie durch die großartigen Texte seines Pariser Freundes Abraham A. Moles.25
4. Am besten hat Flusser sein anthropologisches Modell, das er in ludistischer Perspektive auch gern Abstraktionsspiel nennt und das der Aufteilung in die zwei Typen von Einbildungskräften zugrunde liegt, in einem kurzen, recht unbekannt gebliebenen Aufsatz entwickelt, den Volker Bohn herausgab. Für seinen „Versuch, die beiden Einbildungskräfte voneinander zu unterscheiden“, sei die Ausdifferenzierung verschiedener Niveaus im Projekt der „Menschwerdung“ wichtig, und zwar „etwa so: Zuerst trat man aus der Lebenswelt zurück, um sie sich einzubilden. Dann trat man von der Einbildungskraft zurück, um sie zu beschreiben. Dann trat man von der linearen Einbildungskraft zurück, um sie zu beschreiben. Dann trat man von der linearen Schriftkritik zurück, um sie zu analysieren. Und schließlich projiziert man aus der Analyse dank einer neuen Einbildungskraft synthetische Bilder.“26 Wie wenig konsistent diese Einbildungskraft (II) im Gegensatz zur vertrauten Einbildungskraft (I) für Flusser selbst war, zeigt sich auch in diesem Text deutlich. Kamper liest das Stottern Flussers in seiner Kritik an dessen „Körper-Abstraktionen“ als Hilferufe bei dem Unterfangen, den „mühseligen Sprung aus dem Linearen ins Nulldimensionale (ins ‚Quantische‘) und ins Synthetisieren (ins Komputieren), den wir zu leisten haben“, als „an uns gestellte Herausforderung“ zu wagen. Zum Beleg zitiert Kamper den Schluss des flusserschen Buches über die Belange 25 Vgl. zum Beispiel dessen großartiges erstes manifest der permutationellen kunst aus den frühen 1960er Jahren: Abraham A. Moles, rot #8, hg. v. Max Bense und Elisabeth Walther, Stuttgart (o.J.); vgl. ebenfalls dessen ausgearbeitete Informationsästhetik: Abraham A. Moles, Théorie de l’information et perception esthétique, Paris 1958 (dt.: Informationstheorie und ästhetische Wahrnehmung, Köln 1971). 26 Flusser, „Eine neue Einbildungskraft“, a.a.O., S. 125.
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der Kommunikation mit der rhetorischen Frage des Prager Denkers: „Ist Engagement für Kommunikation nicht gerade dies: andere um Hilfe rufen?“27 Der Kern in der Kritik Kampers am leidenschaftlichen Abstraktionsspiel Flussers ist, dass er die Nulldimension als Medium der neuen Einbildungskraft als einen Nicht-Ort verstanden wissen möchte, von dem es kein Zurück mehr und von dem aus es kein Vorwärts gebe. Die „De-Eskalation“ von der lebensweltlichen Erfahrung über die Einbildung als Imagination (reproduktiv) „bis zum Rechnen mit Null/Eins“ sei irreversibel,28 die Niveaus davor seien nicht mehr einholbar. Das Paradies sei endgültig verloren. Die Bewegung, die jetzt notwendig sei, weise nach unten: „Vertiefung ins Souterrain der Phantasie“, dorthin, wo das „Körper-Denken“ zu Hause sei.29 Von Rückkehr spricht und schreibt Flusser freilich nirgendwo. Unmöglich kann er von einer Rückkehr ins Paradies geträumt haben, da es auch für ihn nach Auschwitz unwiederbringlich verloren war. Seine Idee einer neuen Einbildungskraft ist aufs Engste mit einer Setzung verbunden, die er in den Bochumer Vorlesungen (1991) im Anschluss an eine Kritik Heideggers und seine eigenwillige Interpretation der Kategorie der „Sorge“ entwickelte.30 Danach seien wir nicht mehr als Subjekte von Objekten zu betrachten, als „Untertanen von Bedingungen“, sondern wir werden mehr und mehr zu „Projekte[n] für alternative Realitäten“. In den Akten der Projektion werden wir selbst als Sachverhalte entworfen und als Projektwerdende beginnen wir selbst Sachverhalte zu entwerfen, „die uns nicht mehr bedingen, sondern bezeugen“. Bei Bruno Latour taucht ein ähnlicher Gedanke auf, wenn er im Hinblick auf das kollektive Experiment von einem Paradigmenwechsel von den „Tatsachen“ zu „Sachverhalten“ spricht.31 Das öffnet den potential space (Winnicott), den Möglichkeitsraum digital basierter Kommunikationen für eine Beziehungsqualität, an die wir uns noch nicht gewöhnt haben, die aber für komputierte Artefakte charakteristisch wird. Sie liegt wesentlich noch vor uns. Der junge chinesische Theoretiker Yuk Hui benutzt dafür in seiner Diskussion der Epistemologie und Ästhetik digitaler Objekte klugerweise den Ausdruck „Interobjektivität“, die in der technisch basierten Kommunikation mehr und mehr an die Stelle intersubjektiver Handlungen trete.32 Objekte kom27 Dietmar Kamper, Körper-Abstraktionen. Das anthropologische Viereck von Raum, Fläche, Linie und Punkt, 2. Aufl., Köln 2008, S. 27. 28 Kamper, Körper-Abstraktionen, a.a.O., S. 25. 29 Kamper in der Ankündigung eines Seminars mit Hans Belting, hier zitiert nach: Dietmar Kamper, „Okzidentierung. Die Sonnenuntergangsrichtung als Lebensform“, in: der infant. Zeitschrift junger, aktueller Gegenwartskunst (1999/2), S. 3-7. Eine längere Ankündigung des Seminars von Kamper und Belting folgt in der Zeitschrift auf Seite 11. 30 Vgl. zum Beispiel: Siegfried Zielinski, Entwerfen und Entbergen. Eine kleine Genealogie der Projektion, Köln 2010. 31 Bruno Latour, „Von ‚Tatsachen‘ zu ‚Sachverhalten‘. Wie sollen die neuen kollektiven Experimente protokolliert werden?“, in: Kultur im Experiment, hg. v. Henning Schmidgen, Peter Geimer und Sven Dierig, Berlin 2004, S. 17–36, hier S. 17ff. 32 Yuk Hui, „Deduktion, Induktion und Transduktion. Über Medienästhetik und digitale Objekte“, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft (2013/8), S. 101-115 , hier S. 107.
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munizieren mit Objekten, erkennen und verkennen sich gegenseitig, suchen sich aus, inkludieren und exkludieren sich wechsel- und gegenseitig, verändern sich in ihren Kontakten. Am Beginn der massenhaften Nutzung vernetzter Computer – also in etwa parallel zur Entwicklung von Flussers operationaler Anthropologie kommunikativen Handelns – schwärmte Pierre Lévy in Paris von der Hoffnung, dass durch Kulturtechniken wie den digitalen Hypertext endlich der „ontologische eiserne Vorhang zwischen dem Sein und den Dingen“ niedergerissen werden könnte, wie Félix Guattari es formuliert hatte.33 Wie die autopoetische besitze die „,hypertextuelle‘ Position der Maschine [...] eine pragmatische Potentialität. Sie erlaubt es, eine schöpferische Haltung einzunehmen, eine Haltung maschinischer Komposition angesichts dieses ontologischen eisernen Vorhangs, der das Subjekt auf der einen und die Dinge auf der anderen Seite hält.“34 In Flussers Umkehrung der Idee der Projektion (durch die Abstraktion in eine neue Konkretheit) steckt ein phänomenologischer Gedanke, wie er im Buche steht und wie ihn aller zeitgenössischer spekulativer Realismus zwischen Paris und New York in dieser Einfachheit und Klarheit noch nicht zustande gebracht hat. Dank der „transklassischen Maschine“ (Max Bense), dank der „abstrakten Maschine“ (Noam Chomsky), dank des Bündnisses von Mathematik und visueller Poesie, wie Flusser die neuen computierten Wirklichkeiten jenseits von Text und Bild gern bezeichnete, können wir „eingebildete Welten entwerfen“, „welche die eine Welt ersetzen, die wir uns bisher als gegeben eingebildet haben.“ Erneut mit der Geste eines Hilferufs, der den missionarischen Auftrag nicht ausschließt, macht Flusser deutlich, dass diese neuen alternativen Welten erst in kaum wahrnehmbaren Ansätzen existieren, in vagen Voraussichten „stümperhaft auf den Schirmen sichtbar“ werden. Er spricht von einer „Denkart und Technik, deren Konsequenzen [...] nicht abzusehen sind.“35 Wir können nur spekulieren, dass er damit zum Beispiel diagrammatisch konzipierte Zeichenwirklichkeiten meint, dynamische Karten, phantomatische Entwürfe, die zwischen den Wirklichkeiten von Text, Bild und Zahl prozessieren. Die Temporalität spielt für diese Welten eine entscheidende Rolle. Wenn es darin um Bilder gehen sollte, dann sind es zeitbasierte, durch Zeitmaschinen generierte Bilder. Wenn Henning Schmidgen die besondere Art und Weise beschreibt, wie Deleuze und Guattari in ihrem gemeinsamen Werk Kapitalismus und Schizophrenie Technik neu zu denken versuchen, wird eine starke Parallele zu Flusser deutlich: „Sie rücken das Abstrakte vor das Konkrete, den Prozess vor das Produkt, das Wer-
33 Guattari bezieht sich hier auf Lévys Buch über die Technologien der Intelligenz. Félix Guattari, „Über Maschinen“, in: Ästhetik und Maschinismus. Texte zu und von Félix Guattari, hg. u. übers. v. Henning Schmidgen, Berlin 1995, S. 115-132; Pierre Lévy, Les technologie de l’intelligence. L’avenir de la pensée à l’ère informatique, Paris 1990. 34 Guattari, „Über Maschinen“, a.a.O., S. 132. 35 Flusser, Lob der Oberflächlichkeit, a.a.O., S. 270f.
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den vor das Sein.“36 Und in einem anderen Kontext rekapituliert Schmidgen ein zentrales Argument des Philosophen Günther Anders zum telematischen Bild: „Durch die Vergleichzeitigung rückt das Bild in eine Sphäre zwischen Sein und Schein“; es werde zum „Phantom“.37 Die ‚Schemata‘ aus Kants Verständnis des synthetisierenden Urteilens spielen hier möglicherweise eine Rolle. Es stört Flusser überhaupt nicht, diese Einbildungen noch nicht genauer definieren zu können. Er weiß, dass sie nur im Experiment entwickelt und gewonnen werden können. In der „gegenwärtigen Übergangsperiode“ seien „nur phantastische Behauptungen von Interesse. Was nicht phantastisch ist, ist dem Kontext des Überholten zuzurechnen.“ Und wenige Zeilen zuvor verwirrt er die Unterscheidung zwischen den beiden Einbildungskräften noch einmal regelrecht und mit Lust: „Entweder sind die [durch die neue Einbildungskraft erzeugten] eingebildeten Welten ebenso konkret wie die angeblich gegebene, oder diese ist ebenso eingebildet.“38
5. Kampers Beschreibung der flusserschen Nulldimension des Rechnens und Komputierens als – in Analogie zum Nicht-Ort – eine „(Un)Zeit“ insistiert implizit auf etwas, was der Berliner Anthropologe als charakteristisch für die Denkarbeit im weiten Feld des Imaginären hält, von der Religionsphilosophie Thomas von Aquins bis zur Existenzphilosophie Sartres: die Einbildungskraft „als Vermögen der Vergegenwärtigung“. Die Fähigkeit, etwas im Moment Abwesendes, das in der Vergangenheit anwesend war, das vergangene Gegenwärtige in das Jetzt zu holen, ist im Verständnis der Einbildungskraft nach der ersten Fassung der Kritik der reinen Vernunft deutlich akzentuiert, gleichsam wie eine Kompetenz zur Aktualisierung. Das Medium, in dem Kant diese Vergegenwärtigung denkt, ist die Bildlichkeit. Mit seiner Idee der Aktivität der Einbildungskraft als „zeitigende Zeit“39 akzentuierte Heidegger hingegen offensichtlich die Temporalität. Das ist sein Versuch, sich dem zu stellen, was Kant seiner Auffassung nach nicht ausgehalten hat. In der Dialogphilosophie Emanuel Levinas‘ erscheint die Zeit als die unmittelbare Anwesenheit des anderen. Der Preis, den wir mit der Umdisponierung Heideggers zahlen, ist allerdings hoch, denn damit wird die Bildlichkeit, die ich einschließlich ihrer Materialität schon lange nicht mehr ohne die zeitliche Dimension zu denken vermag, zu einer sekundären Angelegenheit für das Imaginäre. Flusser setzt erneut an der Bildgewaltigkeit von Kants ursprünglicher Version der Einbildungskraft an, virtualisiert die Körperhaftigkeit, die Muratori ihr zuge36 Henning Schmidgen, Das Unbewusste der Maschinen. Konzeptionen des Psychischen bei Guattari, Deleuze und Lacan, München 1997, S. 168. 37 Henning Schmidgen, Die vielsagende Stummheit der Geräte, in: Maschinensehen. Feldforschung in den Räumen bildgebender Technologien, Karlsruhe 2013, S. 49. 38 Flusser, Lob der Oberflächlichkeit, a.a.O., S. 270. 39 Hier zitiert nach: Kamper, Zur Geschichte der Einbildungskraft, a.a.O., S. 104.
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sprochen hatte und verbindet sie mit seiner eigenen Idee von Zeitlichkeit, bei der die Einbildungskraft zweiter Ordnung in das Unmögliche hinein gewendet wird: in die Zeit, die noch aussteht. Zukunft sei ein Sich-Verwirklichen, Vergangenheit ein Unwirklich-Gewordensein. Das ist jener Gedanke, der die Existenz und das Denken in der Bodenlosigkeit begründet. Flusser entwickelt diese Kategorie in seiner Autobiographie als Bild für ein Denken, das zwischen den Extremen eines schrecklichen Absurden einerseits und frohlockender Verheißung andererseits oszilliert, auch als Verkennung. Er markiert damit zugleich die Differenz zwischen einem Denken vor und einem Denken nach der Katastrophe. Und er drückt den Unterschied zwischen einem Bewusstsein aus, das Auschwitz als ontologisches Ereignis erlitten hat und einer Geistesgegenwart, die Auschwitz lediglich beobachten konnte und so zu ertragen in der Lage war. Als „mundus imaginalis“ bezeichnet der Experte für iranisch-islamische Mystik Henry Corbin (1903 – 1978) jene Zwischenwelt, zu denen die „freischwebenden Bilder“ der aktiven, kognitiven Einbildungskraft gehören. Das Sein der Zwischenwelt aus allerfeinsten Körpern, die er auch als Nicht-Ort begreift (was bekanntlich nur ein anderes Wort für Utopie ist), begreift er als ein „Sein in der Schwebe“. Es werde „situativ“ und immer wieder neu konstituiert. Corbin ergänzt das Imaginäre der Einbildungskraft durch eine „imaginale Welt“, die als Botschafterin „zwischen der sinnlichen und der intelligiblen Welt“ tätig sei. „Vielleicht haben wir dann weniger Schwierigkeiten, diejenige Kategorie von Figuren zu bestimmen, die weder dem ‚Mythos‘, noch der ‚Geschichte‘ angehören, und vielleicht haben wir so etwas wie ein Schlüsselwort auf dem Wege zum ‚verlorenen Kontinent‘ gefunden.“40 Warum nicht: die Welt des Imaginalen neu bevölkern? In der Diskussion des in der Wissenschaftsgeschichte berühmt gewordenen Dialogs zwischen dem Physiker Wolfgang Pauli (1900-1958) und dem Psychologen Carl Gustav Jung (1875-1961) plädiert Hans Primas vom Züricher Laboratorium für physikalische Chemie vehement dafür, den Naturwissenschaften den Zugang zum Unbewussten nicht zu versperren und ihnen die äußere wie die „innere Erfahrung“ (auch Georges Bataille benutzt diesen Begriff, um das Denken zu bezeichnen) in gleicher Intensität zu ermöglichen. Das Imaginale taucht in diesem Zusammenhang explizit als diejenige Region des Psychischen auf, die verborgen sei und „nicht vom Tageslicht des wissenschaftlichen Verstandes vereinnahmt werden könne, sondern vielmehr „als Schatten anerkannt werden“ müsse.41 Hinzuzufügen ist lediglich, dass wir nicht von der tiefen Negativität ausgehen müssen, die der Schatten in der abendländischen Philosophie zugewiesen bekommen hat. In der Fluchtlinie des Lobs der Oberflächlichkeit kann auch der Schatten als etwas Autonomes, Widerständiges und somit Positives gepriesen werden. 40 Henry Corbin, „Mundus Imaginalis oder Das Imaginäre oder das Imaginale“, in: Gorgo. Zeitschrift für archetypische Psychologie und bildhaftes Denken (1979/2), S. 1-19, hier S. 15. 41 Hans Primas, „Über dunkle Aspekte der Naturwissenschaft“, in: Der Pauli-Jung-Dialog und seine Bedeutung für die moderne Wissenschaft, hg. v. Harald Atmanspacher, Hans Primas und Eva Wertenschlag-Birkhäuser, Heidelberg 1995, S. 205-238, hier S. 234.
II. EPISTEMISCHES ENTWERFEN
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Ist die Kehre ein realistischer Entwurf? Das in der gegenwärtigen Erkenntnistheorie wohl wirksamste Motiv von Sein und Zeit kann man dahingehend bestimmen, dass Heidegger versucht hat, eine bestimmte bis heute virulente Auffassung des Erkenntnisproblems zu unterlaufen. Diese Auffassung identifiziert das Erkenntnisproblem mit dem Außenweltproblem.1 Heidegger stellt bekanntlich insbesondere in den §§ 19-21 sowie 43-44 den Prämissenrahmen in Frage, der in der einen oder anderen Variante zur Formulierung eines Außenweltproblems führt. Die Grundidee ist jedem Heidegger-Leser vertraut: Das Außenweltproblem resultiere daraus, dass das eigentliche Weltproblem oder Weltphänomen unzulässig „übersprungen“ werde.2 Überspringen besteht darin, dass das Dasein dazu neigt, zu übersehen, unter welchen Bedingungen es alltäglich in die Zusammenhänge eingelassen oder eingespannt ist, in denen sein In-der-Welt-sein oder weniger terminologisch: sein Leben besteht. Zu diesen Bedingungen gehört, dass die Dinge, mit denen wir umgehen oder „hantieren“, dadurch individuiert sind, dass sie in unsere Lebensentwürfe integriert sind. Der berühmte Hammer ist ein Hammer, weil er eine Stelle etwa im Leben eines Handwerkers eingeräumt bekommt. Der Blinker erhält seine Funktion im Straßenverkehr, der – hier überspringt Heideggers eigene Analyse leider das Soziale – letztlich dadurch geregelt wird, dass wir Regeln entwerfen, die mit einer Pluralität konkurrierender oder einfach nur nebeneinander laufender Lebensentwürfe kompatibel sind. Heidegger stellt den Prämissenrahmen des Außenweltproblems geschickt in Frage und zeigt, dass das Problem im folgenden Sinne kein natürliches ist: die Prämissen sind nicht unhintergehbar in der Beschreibung unserer Fähigkeit, uns in einer Umgebung zu orientieren, deren strukturelle Beschaffenheit wir schon vorfinden. Das Außenweltproblem resultiert aus einer tendenziösen, weder selbstverständlichen noch irgendwie natürlichen Beschreibung unseres In-der-Welt-seins. Das Problem ergibt sich aus einer Verwechslung. Der Umstand, dass wir immer schon strukturelle Beschaffenheiten irgendeiner Art vorfinden, in denen wir uns orientieren, wird mit dem Umstand verwechselt, es gebe eine riesige anonyme Außenwelt, in die wir durch Geburt hinein- und durch unser Ableben hinausfinden. Dabei handelt es sich um eine Verwechslung, die darin gründet, dass ein Existenzial, das heißt eine strukturelle Eigenschaft unserer selbst, mit einer Kategorie, das 1 In diesem Sinne argumentiert einflussreich Barry Stroud, The Significance of Philosophical Scepticism, Oxford 1984. 2 „Ein Blick auf die bisherige Ontologie zeigt, daß mit dem Verfehlen der Daseinsverfassung des In-der-Welt-seins ein Überspringen des Phänomens der Weltlichkeit zusammengeht“. Martin Heidegger, Sein und Zeit, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1977 (= Gesamtausgabe. Bd. 2), § 14, S. 85-89, hier S. 85; vgl. auch § 21, S. 127-134, hier S. 133f.
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heißt mit einer strukturellen Eigenschaft wesentlich unbelebter, bloß vorfindlicher Dinge, identifiziert wird. In An den Grenzen der Erkenntnistheorie habe ich die grundierende Annahme dieses Weltentwurfs als „naive Einzeldingontologie“ bezeichnet, die grundsätzlich annimmt, dass „die Welt“ ein gigantischer Behälter ist, der mit Einzeldingen eingerichtet ist, wobei insbesondere nur das als „Einzelding“ gilt, zu dessen Individuation Wesen mit Überzeugungen keinen Beitrag geleistet haben.3 Nennen wir entsprechend den „alten Realismus“ die These, dass „die Welt“ erstens primär „die Außenwelt“ ist und dass diese zweitens aus Einzeldingen besteht, die Zuschauer-unabhängig schon individuiert sind. Das Außenweltproblem des alten Realismus geht davon aus, dass die Welt primär die Welt ohne Zuschauer ist, sodass sich die Frage stellt, unter welchen Bedingungen wir dann überhaupt in einer solchen Welt zu Zuschauern werden können. Diese Arbeitsteilung – Welt ohne Zuschauer versus Welt der Zuschauer – unterläuft Heidegger auf verschiedenen Ebenen. Hervorzuheben ist dabei in meinen Augen erstens seine Bestimmung des Zuschauers als Dasein, was zu einer Integration des Zuschauers in seine scheinbar anonyme Umgebung führt. Zweitens gilt es im Auge zu behalten, dass dies zu einer Umdeutung des Weltbegriffs führt. Denn die „Außenwelt“ kann nicht mehr als Anker unserer realistischen Intuition dafür fungieren, dass wir Dinge schon vorfinden. Denn nun verstehen wir schon, dass wir uns selbst und unsere von uns bestimmte Umgebung mit demselben Recht schon vorfinden wie Sonne, Mond und Sterne. Wenn die Welt nicht identisch mit der Welt ohne Zuschauer ist, sondern uns als Teilnehmer mit einschließt, stellt sich die Frage, ob und unter welchen Bedingungen die Isolation eines wesentlich Zuschauer-unabhängigen Bereichs (die Außenwelt) überhaupt noch berechtigt ist. Dass sich diese Frage stellt, spricht schon gegen die Natürlichkeit des Außenweltproblems, das heißt umgekehrt dafür, dass es sich bei diesem Problem um ein Artefakt einer bestimmten philosophischen Theoriebildung handelt.4 Damit hat Heidegger unter anderem eine entscheidende Wende in der Realismus-Diskussion der Nachkriegszeit antizipiert, eine Wende, die üblicherweise mit Michael Dummett assoziiert wird.5 Diese Wende besteht darin, erkannt zu haben, dass dasjenige, was der „alte Realismus“ erklären wollte, die Vorfindlichkeit von 3 Vgl. zum Begriff der Einzeldingontologie Markus Gabriel, An den Grenzen der Erkenntnistheorie. Die notwendige Endlichkeit des objektiven Wissens als Lektion des Skeptizismus, Freiburg/München 2008, bes. S. 64-75. Heidegger spricht in diesem Zusammenhang von „Dingontologie“. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 134. 4 Vgl. dazu Michael Williams, Unnatural Doubts, Princeton 1996. Vgl. auch den Beitrag von Jörg Volbers, „Wie ‚natürlich‘ ist der Skeptizismus? Überlegungen zum historischen Grund der skeptischen Erfahrung“, in: Skeptizismus und Metaphysik. Deutsche Zeitschrift für Philosophie Sonderband 28, hg. v. Markus Gabriel, Berlin 2012, S. 155-166. 5 Vgl. etwa Michael Dummett, Truth and Other Enigmas, Cambridge Massachusetts 1978; Michael Dummett, The Logical Basis of Metaphysics, Cambridge Massachusetts 1991. Genau genommen geht es Dummett darum, ein logisches Kriterium für den Realismus herauszuarbeiten, das heißt insbesondere ein Kriterium, das einer Theorie realistische Annahmen bezüglich ihres Gegenstandsbereiches attestiert, was Dummett bekanntlich an der Bivalenz eines relevanten Aussagentyps festmacht.
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Strukturen war. Die allgemeine Vorfindlichkeit oder Vorgängigkeit von Strukturen ist aber mindestens prima vista nicht darauf zurückführbar, dass es sich um einen bestimmten Typ von Strukturen handelt. Realismus ist eine topisch-neutrale oder eben allgemeine Annahme, die Annahme, dass es irgendwelche Strukturen gibt, deren Individuierung nicht zuwendungsabhängig ist: der Mond wäre auch dann kleiner gewesen als die Sonne, wenn niemand dies je artikuliert hätte, sei es in einem stummen Urteil, in einer expliziten Aussage oder als perspektivisch gefärbte mentale Repräsentation; zwischen 2 und 5 hätte es auch dann mehr als eine natürliche Zahl gegeben, wenn niemand je gezählt hätte; Töten wäre auch dann schlecht gewesen, wenn uns dies nicht aufgefallen wäre und so weiter. Dass es dem Realismus um die Frage der zuwendungsunabhängigen Individuierung von Strukturen geht, hat in der gegenwärtigen Debatte zu einer Neuauflage eines Strukturenrealismus (Sider) beziehungsweise des Strukturalismus (Chalmers) geführt.6 Allerdings krankt der Realismus in der analytischen Metaphysik der Gegenwart seinerseits daran, dass er letztlich keineswegs hinreichend und vorurteilsfrei topisch-neutral ist. Die zentrale Annahme eines häufig mindestens implizit unterstellten Physikalismus oder Naturalismus wird nicht in Frage gestellt und sie lautet, dass Existenz letztlich darauf zurückführbar ist, dass im Gegenstandsbereich der besten Naturwissenschaften oder gar der besten singulären Naturwissenschaft (= science) vorfindliche Strukturen angenommen werden müssen.7 Natürlich kann man sich nun darüber streiten, welche Strukturen wirklich so beschrieben werden müssen, dass wir bezüglich ihrer einen Realismus vertreten können. Und genau an dieser Stelle hilft uns Heidegger schon weiter, da er insbesondere gezeigt hat, dass wir nicht mit einer grundierenden Außenwelt rechnen können, die aus schon individuierten Einzeldingen besteht, zu der wir nun noch Werte oder Zahlen addieren müssten.8 Das unglückliche Bewusstsein, das meint, der größte Teil der Menschenwelt (unsere Institutionen, unsere Gefühle, unsere Kunstwerke, Gesetze, Freundschaften, Ideologien und dergleichen) sei eigentlich ontologisch zu eliminieren oder im Gehirn-Einzelding zu verorten, wird von Heidegger geschickt entlarvt. Insbesondere verdanken wir ihm die Einsicht, dass die Idee des Universums als „kalter Heimat“,9 wie Wolfram Hogrebe dies jüngst ge6 Vgl. David J. Chalmers, Constructing the World, Oxford 2012; Theodore Sider, Writing the Book of the World, Oxford 2012. 7 Vgl. dagegen ausführlich Markus Gabriel, Die Erkenntnis der Welt. Eine Einführung in die Erkenntnistheorie, 4. Aufl., Freiburg 2014; Markus Gabriel, Warum es die Welt nicht gibt, 8. Aufl., Berlin 2013. 8 In diesem Tenor zum Beispiel seine Kritik an Descartes: „Descartes läßt sich nicht die Seinsart des innerweltlichen Seienden von diesem vorgeben, sondern auf dem Grunde einer in ihrem Ursprung unenthüllten, in ihrem Recht unausgewiesenen Seinsidee (Sein = ständige Vorhandenheit) schreibt er der Welt gleichsam ihr ‚eigentliches‘ Sein vor. Es ist also nicht primär die Anlehnung an eine zufällig besonders geschätzte Wissenschaft, die Mathematik, was die Ontologie der Welt bestimmt, sondern die grundsätzlich ontologische Orientierung am Sein als ständiger Vorhandenheit, dessen Erfassung mathematische Erkenntnis in einem ausnehmenden Sinne genügt“. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., § 21, S. 127-134, hier S. 128. 9 Wolfram Hogrebe, Riskante Lebensnähe. Die szenische Existenz des Menschen, Berlin 2009, S. 40.
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nannt hat, immer noch die Idee einer Heimat ist. Der Mensch bestimmt seinen Wohnort als den einer geist- und selbstlosen Kugel, „auf der ein Schimmelüberzug lebende und erkennende Wesen erzeugt hat“.10 Dies ist keine neutrale Beobachtung oder Feststellung von Tatsachen, sondern ein Urteil aus einer bestimmten, keineswegs alternativlosen Perspektive. Die nihilistische Ortsangabe und Selbstbeschreibung ist nicht nur äußerst voraussetzungshaft, sie erweist sich bei genauerem Hinsehen an allen Ecken und Enden als falsch. Folgen wir Heidegger noch einen Schritt: Der typische von einer naiven Einzeldingontologie im Hintergrund unterstützte Naturalismus übersieht, dass er Menschenwerk ist. Es handelt sich um eine Projektion einer Eigenschaft, die wir im Umgang mit Dingen erfahren, auf die Zuschauer-unabhängigen Dinge, nämlich ihre Eigenschaft, in die Brüche gehen zu können. Gehen die Dinge in die Brüche, werden sie auf verschiedene Weisen „auffällig“, wie Heidegger in seinen beeindruckenden Analysen herausgearbeitet hat.11 Die Einzeldinge der naiven Einzeldingontologie sind Dinge, die in die Brüche gegangen sind; meistens kaum zufällig die Elementarteilchen, aus denen angeblich alles bestehen soll, vom Erdmond und den Dinosauriern bis hin zu Willy Brandt oder der chinesischen Kulturrevolution, eben alles.12 Wie gesagt, darf man nun aus all dem nicht schließen, dass der Begriff des Realismus damit erledigt wäre. Im Gegenteil lernen wir aus Sein und Zeit die Lektion, dass Realismus im Allgemeinen nicht darin bestehen kann, dass bestimmte Strukturen privilegiert werden, die zu allem Überfluss insgeheim doch durch unsere Zuwendung individuiert werden. Die Pointe liegt darin, zu verstehen, dass die Idee einer an sich durchgängig individuierten Außenwelt, die im wesentlichen eine Welt ohne Zuschauer ist, nur aus der Abwendung der Zuschauer hervorgeht. Man versucht gleichsam, einmal nicht hinzusehen und fragt sich, wie die Dinge dann wären. Diese Debatte über den fast sprichwörtlichen Baum, der unbeobachtet und ungehört im Wald umfällt, die zur Entzweiung zwischen Berkeley’schem Idealismus und dem Realismus der naiven Einzeldingontologie geführt hat, lässt Heidegger überzeugend hinter sich. Ob ein Baum auch unbeobachtet umfällt oder ein Atom auch unbeobachtet zerfällt, ist nicht die entscheidende Frage des Realismus. Denn die relevante Frage lautet auch und vor allem, unter welchen Bedingungen die Strukturen unserer Zuwendung genau so „real“ oder „objektiv“ sein können wie der umfallende Baum. Mit anderen Worten, das Realismusproblem ist eben allgemein und gilt insbesondere in der Selbstbeschreibung seiner eigenen Versuchs10 Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung. Zweiter Band, welcher die Ergänzungen zu den vier Büchern des ersten Bandes enthält. Erster Teilband, hg. v. Arthur Hübscher, Zürich 1977 (= Zürcher Ausgabe. Werke in zehn Bänden. Bd. III.), S. 9. 11 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., § 16, S. 97-101. 12 Graham Harman hat in Fortsetzung Heidegger’scher Motive den Begriff der Unterminierung von Objekten eingeführt, die er genau darin sieht, die Dinge der Menschenwelt oder die Einrichtung der Werkwelt Heidegger’schen Daseins auf ihre Bruchteile zurückzuführen. Vgl. dazu Graham Harman, „Undermining, Overmining, and Duomining: A Critique“, in: ADD Metaphysics. Aalto University Design Research Labratory (2013), S. 40-51.
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anordnung: Unter welchen Bedingungen sind die Strukturen unserer allgemeinen Analyse von Strukturen derart, dass wir sie entdecken und unter welchen Bedingungen ist es sinnvoll, sie als spontane Entstehungen zu begreifen? Das Realismusproblem stellt sich damit genauso auf der höherstufigen Ebene seiner Selbstbeschreibung wie in jedem anderen postulierten oder systematisch aufgewiesenen Gegenstandsbereich. Das Problem unter solchen Bedingungen der Selbstanwendung oder der Reflexion zu beschreiben, nenne ich den „Neuen Realismus“.13 Im Unterschied zum „alten Realismus“ integriert der Neue Realismus seine eigenen Wahrheitsbedingungen in den Bereich des Realen. Das Reale wird daraufhin untersucht, unter welchen Bedingungen es perspektivisch erscheinen kann. Im Zentrum der Aufmerksamkeit des Neuen Realismus steht deshalb auch das Problem des Erscheinens oder der „Phänomenalisierung“, das heißt das Problem, unter welchen Bedingungen Dinge an sich, die auch zuwendungsunabhängig individuiert wären, durch Zuschauer erfasst werden können. Werden sie durch Zuschauer erfasst, das heißt werden sie etwa erkannt, erscheinen sie unter bestimmten Bedingungen, die nun ihrerseits partiell zuwendungsunabhängig sind. Im Folgenden möchte ich nun der Frage nachgehen, ob Heidegger imstande ist, die Kehre als realistischen Entwurf zu begründen. Dabei werde ich erstens (I.) eine skizzenhafte systematische Rekonstruktion von Heideggers Selbstkritik an Sein und Zeit vorstellen, die in meinen Augen unter anderem geltend macht, dass das erste Hauptwerk letztlich an seinem höherstufigen Antirealismus scheitert. Dieser liegt darin, dass die Strukturen, die Heidegger untersucht, zu sehr daran gebunden sind, dass man sie in einem bestimmten Modus, dem Modus der Eigentlichkeit untersucht, der seinerseits spontan, im Akt einer freischwebenden Kreativität hervorgezaubert werden muss. Es gibt letztlich keinen Grund, warum man sich zur Eigentlichkeit entschließen sollte, man tut dies eben im Akt einer Selbstbehauptung, in der Heidegger später gerade die wahre Quelle der Seinsvergessenheit sieht. Die logische Form der Selbstbehauptung, welche die Theoriebildung in Sein und Zeit bestimmt, färbt auf die Gegenstände ab, die primär als zuhanden und damit als instrumentalisierbar vorgestellt werden. Die Theorieanlage erweist sich damit selbst als Gestell im später von Heidegger herausgearbeiteten Sinn.14 Anschließend (II.) werde ich dafür argumentieren, dass es Heidegger niemals gänzlich gelungen ist, eine realistische Analyseebene einzuschalten, die das Gebäude derart trägt, dass ein unproblematischer objektstufiger Realismus in ihm 13 Vgl. Markus Gabriel (Hrsg.), Der Neue Realismus, Berlin 2014. 14 Vgl. dazu neuerdings Jens Rometsch, „Descartes, Heidegger und die neuzeitliche Skepsis“, in: Skeptizismus und Metaphysik. Deutsche Zeitschrift für Philosophie Sonderband 28, hg. v. Markus Gabriel, Berlin 2012, S. 105-129. Vgl. dazu ansatzweise selbstkritisch Heidegger: „Man nimmt das Seiende im Sinne des gegenständlich Vorhandenen als das Fraglose und Unantastbare, dem man doch am gemäßesten bleibt, wenn das Vor-handene durchgängig zum schlechthin Zuhandenen und dieses im durchaus technischen Sinne eingerichtet wird.“ Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1989 (= Gesamtausgabe. Bd. 65), S. 444. Vgl. dazu kritisch meinen Artikel „Nazi aus dem Hinterhalt“ in Die Welt (7.3.2014)
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vorkommt. Er zieht immer wieder weitere höherstufige antirealistische Manöver ein. Dabei meine ich, dass ein höherstufiger Antirealismus, der etwa besagt, dass das Sein niemals ohne das Dasein auskommt, auch wenn sie sich im Ereignis gegenseitig bedürfen, nach unten durchdiffundiert. Wenn die Theorieebene, auf der über Gegenstände (oder eben Dinge) gesprochen wird, ihre eigene Objektivität antirealistisch erklärt, färbt dies auf die Gegenstände (oder eben Dinge) ab.15 Dies hat zur Folge, dass die Unabhängigkeit der Dinge niemals vollständig sichtbar wird: Selbst das späte Ding bleibt in einen Entwurf eingespannt und wird niemals gänzlich freigelassen. Das Ziel der Gelassenheit wird einfach deswegen nicht gänzlich erreicht, weil der „Bereich aller Bereiche“16 oder „die Gegnet“17 wesentlich darauf bezogen bleibt, dass wir in ihr vorkommen. Es gibt am Ende sozusagen immer noch zu viel Begegnung und zu wenig Gegend. Abschließend (III.) werde ich in der gebotenen Kürze für einen Neuen Realismus des Sinns plädieren, welcher der Welt auch ohne Zuschauer einen Sinn von Sein attestiert. Sinn, ja selbst Heidegger‘sche Unverborgenheit, bedarf keines Hirten, um zu sein. Die Gegenstände erscheinen auch unbehütet. Dies richtet sich auch gegen Deleuzes Hauptannahme in seiner Logik des Sinns, Sinn als solcher sei immer nur produziert.18 Einiger Sinn mag zuwendungsabhängig hervorgebracht sein, aber es ist unmöglich, dass Sinn als solcher aus einer sinnfreien Grundierung hervortritt. Dies berechtigt zur Annahme bereits bestehenden Sinns, den wir nicht hervorbringen, sondern auf eine bestimmte Weise reflexiv in einer Sinnerfahrung zur Erscheinung bringen.
1. Der Antirealismus in Sein und Zeit In der Einleitung meines Beitrags habe ich festgelegt, Realismus sei eine topischneutrale oder eben allgemeine Annahme, die Annahme, dass es irgendwelche Strukturen gibt, deren Individuierung zuwendungsunabhängig ist. Entsprechend verstehe ich hier unter „Antirealismus“ die Negation dieser These, folglich die An15 Vgl. dazu Crispin Wrights Begriff des „Ausbleichens“, der ursprünglich aus einer Wittgensteindeutung stammt, hier aber auch zur Anwendung kommt. Crispin Wright, Rails to Infinity. Essays on Themes from Wittgenstein’s Philosophical Investigations, Cambridge Massachusetts 2001. Vgl. meine allgemeine Rekonstruktion dieses Gedankens in „The Art of Skepticism and the Skepticism of Art“, in: Philosophy Today 53 (2009), S. 58-70 und Gabriel, An den Grenzen der Erkenntnistheorie, a.a.O., bes. S. 134-175. 16 Martin Heidegger, „Aletheia (Heraklit, Fragment 16)“, in: Vorträge und Aufsätze, hg. v. FriedrichWilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 2000 (= Gesamtausgabe. Bd. 7), S. 263-288, hier S. 285. 17 Vgl. Martin Heidegger, „Ein Gespräch selbdritt auf einem Feldweg zwischen einem Forscher, einem Gelehrten und einem Weisen“, in: Feldweg-Gespräche, hg. v. Ingrid Schüßler, Frankfurt am Main 1995 (= Gesamtausgabe. Bd. 77), S. 1-161. Der Begriff wird auf S. 114 vom Gelehrten eingeführt und später vom Weisen um die Dimension einer „Geschichte der Gegnet“ (S. 141) ergänzt. 18 So etwa explizit: „le sens n’est jamais principe ou origine, il est produit.“ Gilles Deleuze, Logique du sens, Paris 1969, S. 89f.; vgl. auch S. 116.
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nahme, dass es irgendwelche Strukturen gibt, deren Individuierung zuwendungsabhängig ist. Nun kann man zunächst natürlich festhalten, dass diese beiden Thesen nicht notwendig konfligieren, solange sie lokal bleiben. Man kann bezogen auf Himmelskörper Realist sein, aber Antirealist bezüglich des Geschmacks von Wein.19 Daraus kann man dann Konsequenzen ziehen, etwa die verbreitete, Himmelskörpersüberzeugungen seien objektiv, Weinüberzeugungen hingegen subjektiv, was auch immer dies genau bedeutet. Doch Heidegger ist in Sein und Zeit und eben auch darüber hinaus letztlich ehrgeiziger, was sich im Entwurfsgedanken ausdrückt. Die Frage ist nicht, ob dieser oder jener Gegenstandsbereich zuwendungsunabhängige Individuen enthält, da es eben in seiner Deutung ohnehin nur dann Gegenstandsbereiche gibt, wenn diese in einem Entwurfszusammenhang stehen. Die Seinsgeschichte, die in Sein und Zeit schon angelegt ist, behauptet im Wesentlichen, dass es nur dann eine Pluralität von Gegenstandsbereichen gibt, wenn diese in einem globalen Entwurf vorkommen. Für meine Überlegung ist es nun besonders wichtig, dass Heidegger deutlich sagt, das An-sich der Gegenstände sei ihre Zuhandenheit, die Vorhandenheit sei dagegen ein abkünftiger Modus.20 Dies verstehe ich folgendermaßen: An sich ist ein Hammer da, um dieses oder jenes zu erledigen, an sich ist auch der Mond da, um angeschaut, bereist, verehrt oder verachtet („nur ein Stein!“) zu werden. Die Idee, der Hammer und der Mond seien einfach nur so da, „always already there anyway,“ wie Vertreter der sogenannten „absoluten Konzeption der Realität“ dies nennen, resultiere aus einer unzulässigen Generalisierung der seltenen Erfahrung des Zusammenbruchs der Zusammenhänge, in denen diese Dinge stehen.21 Dieser Diagnose habe ich mich oben zwar angeschlossen, aber insgeheim mit dem Vorbehalt einer bestimmten Korrektur. Denn Heidegger meint, dass die Dinge überhaupt nur in einem Zusammenhang (der Welt) stehen, wenn dieser von Wesen wie uns entworfen wird, wobei die Annahme, sie stünden im Gesamtzusammenhang der Vorhandenheit, eine Projektion unseres je eigenen Todes (der Zusammenbruch aller Bedeutsamkeit) auf das Weltganze wäre. Ohne Dasein gibt es auch keine Welt. Sofern Dasein sich zeitigt, ist auch eine Welt. [...] Die Welt ist weder vorhanden noch zuhanden, sondern zeitigt sich in der Zeitlichkeit. Sie ‚ist‘ mit dem Außer-sich der Ekstasen ‚da‘. Wenn kein Dasein existiert, ist auch keine Welt ‚da‘.22
19 Vgl. dazu den Sammelband von Barry Smith, Questions of Taste. The Philosophy of Wine, Cambridge Massachusetts 2009. 20 „Zuhandenheit ist die ontologisch-kategoriale Bestimmung von Seiendem, wie es ‚an sich‘ ist.“ Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., § 15, S. 90-96, hier S. 96. 21 Vgl. Robert B. Brandom, „Heidegger’s Categories in Sein und Zeit“, in: ders., Tales of the Mighty Dead. Historical Essays in the Metaphysics of Intentionality, CambridgeMassachusetts/London 2002, S. 298-323; Bernard Arthur Owen Williams, Descartes. The Project of Pure Enquiry, New York 2005; Adrian William Moore, Points of View, Oxford/New York 1997; Gabriel, Die Erkenntnis der Welt, a.a.O., sowie Gabriel, An den Grenzen der Erkenntnistheorie, a.a.O. 22 Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 483.
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Ein „Seiendes im Ganzen“,23 wie Heidegger an anderen Stellen sagt, gibt es nur für oder gar aufgrund eines Daseins. Zwar räumt er später bekanntlich ein, dass Tiere auch ein wenig davon haben, sie sind weltarm, aber nicht weltlos.24 Doch die Steine sind und bleiben weltlos, stumm Vorhandenes gehört nur dann zur Welt, wenn wir eine Welt durch unsere Vorkommen in ihr hervorbringen. Diese Annahme ist ein Restkantianismus, den Heidegger niemals gänzlich abgeschüttelt hat. Denn sie lässt sich als eine gleichsam abgespeckte Version der These lesen, dass es sich bei der Welt um eine regulative Idee handelt, das heißt eben insbesondere um etwas, das auf unseren Entwurf bezogen ist, den Kant in der Kritik der reinen Vernunft primär als das Urteilen, als die Erkenntnis der Welt bestimmt hatte. Heidegger akzeptiert bekanntlich nicht, dass das Dasein im Grunde ein theoretisches Wissens- oder Erkenntnissubjekt ist. Er widerspricht Kants Entwurf, gibt aber nicht etwa den Entwurfsgedanken auf. Vielmehr entwirft er selbst die Idee unserer selbst als Entwerfer im Allgemeinen, das heißt als Wesen, die gerade dadurch beschreibbar sind, dass sie für Entwürfe verantwortlich zeichnen. Wir treffen unablässig Annahmen über das ultimative Weltganze, wobei Heidegger eine Reflexionsstufe nach oben klimmt und diesen Umstand thematisiert, anstatt einfach nur einen weiteren objektstufigen Entwurf hinzuzufügen. Heidegger entwirft uns als Entwerfer im Allgemeinen, was das Projekt von Sein und Zeit prinzipiell von einer objektstuftigen differentiellen Anthropologie unterscheidet, die den Menschen als ‚Tier plus irgendeine besondere Fähigkeit‘ bestimmt.25 Sein und Zeit ist ein phänomenologisches Werk und dies bedeutet insbesondere, dass Heidegger die Frage beantwortet, unter welchen Bedingungen überhaupt etwas erscheint. Doch gerade diese Bedingungen versteht er so, dass sie ohne Zuwendung nicht erfüllt sein können, sie sind in unserer Zuwendung verortet, was natürlich nicht heißt, dass sie uns im Akt der Zuwendung transparent sind. Quentin Meillassoux hat jüngst den bereits prominent von Adorno und Derrida erhobenen Einwurf wirkungsvoll wiederholt, demzufolge die Phänomenologie methodologisch zum Antirealismus neige.26 Meillassoux trifft allerdings die im Einzelnen sehr fragwürdige Annahme, dass der phänomenologische Antirealismus noch spe23 So zum Beispiel besonders prominent im Weltbild-Vortrag: „Wo die Welt zum Bilde wird, ist das Seiende im Ganzen angesetzt als jenes, worauf der Mensch sich einrichtet, was er deshalb entsprechend vor sich bringen und vor sich haben und somit in einem entschiedenen Sinne vor sich stellen will. Weltbild, wesentlich verstanden, meint daher nicht ein Bild von der Welt, sondern die Welt als Bild begriffen [...] Daß die Welt zum Bild wird, ist ein und derselbe Vorgang mit dem, daß der Mensch innerhalb des Seienden zum Subjectum wird.“ Martin Heidegger, „Die Zeit des Weltbildes“, in: Holzwege, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1977 (= Gesamtausgabe. Bd. 5), S. 75-95, hier S. 89, 92. 24 Vgl. Martin Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1983 (= Gesamtausgabe. Bd. 29/30), S. 261. 25 Vgl. dazu natürlich Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., §10, S. 61-67. 26 Vgl. Quentin Meillassoux, Nach der Endlichkeit. Versuch über die Notwendigkeit der Kontingenz, übers. v. Roland Frommel, Zürich/Berlin 2008. Vgl. genau in diesem Sinne bereits Theodor W. Adorno, Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Studien über Husserl und die phänomenologischen Antinomien, Frankfurt am Main 1990; Jacques Derrida, Die Stimme und das Phänomen. Einfüh-
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zifischer als „Korrelationismus“ zu fassen sei, worunter er die Annahme versteht, „derzufolge wir Zugang nur zu einer Korrelation von Denken und Sein haben, und nie gesondert zu einem der beiden Begriffe.“27 Genau genommen trifft diese Beschreibung natürlich keineswegs auf Heidegger zu, je nach Deutung möglicherweise auf Husserls transzendentale Phänomenologie. Noch genauer besehen, ist die Formulierung allerdings sogar inkohärent.28 Wenn wir nämlich Zugang zu einer Korrelation haben, haben wir ipso facto Zugang zu den Relata, die in dieser Beziehung stehen. Zugang zu einer – und sei es einer irgendwie epistemisch unhintergehbaren – Relation zu haben, setzt voraus, dass man Zugang zu den Relata hat, wenn auch unter der Beschreibung, die nur dank des Umstandes auf sie zutrifft, dass sie in dieser Relation stehen. Wenn ich weiß, dass Wolfram größer als Fernando ist, weiß ich damit ja etwas über Wolfram und Fernando, selbst wenn ich sonst vielleicht nichts über sie weiß oder gar nichts über sie wissen könnte. Worauf Meillassoux bestenfalls hinauswill, ist wohl eine Kritik an der antirealistischen Vereinnahmung der Gegenstände (des „Seins“) durch das Denken (die Sprache, das Dasein, das Subjekt, die Logik, die Kommunikation, die mentale Repräsentation, etc.). Doch genau gegen eine solche Vereinnahmung wendet sich auch Heideggers Versuch, eine Phänomenologie zu entwerfen, die keine bestimmte Annahme über die Natur unseres Weltzugangs trifft und unseren Weltzugang damit den Gegenständen entgegensetzt, die sich auf der anderen Seite einer „schlechthin scheidenden Grenze“ befinden würden.29 Die Pointe von Heideggers antiskeptischer Strategie in Sein und Zeit besteht gerade darin, dasjenige, was Meillassoux als „Korrelationismus“ bezeichnet, zu unterlaufen, indem gezeigt wird, dass Gegenstände nur dann erscheinen können, wenn wir mit ihnen hantieren und das heißt, wenn sie in einer realen Beziehung zu uns stehen, die gerade nicht darin aufgeht, dass sie erst durch ein Medium gefiltert werden müssen. Heidegger bestreitet – wie vor ihm übrigens besonders deutlich schon Hegel –, dass wir nur dann mit Gegenständen in Kontakt treten können, wenn wir ein Medium in Anspruch nehmen, in dem sie gedeutet werden.30 Die Zuhandenheit ist kein Medium, sondern eine Art und Weise, wie Gegenstände erscheinen. Sie ist keine Deutung einer an sich bedeutungslosen, rein vorhandenen Weltordnung, beziehungsweise genauer, wenn die Zuhandenheit als Deutung verstanden werden muss, dann eben mit demselben Recht und aus denselben Gründen auch die Vorhandenheit. Die Annahme einer rein vorhandenen, res-extensa-artigen Weltordnung, die wir hantierend in eine Lebenswelt transformieren, ist bestenfalls eine unter vielen möglichen Deutungen, die
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rung in das Problem des Zeichens in der Phänomenologie Husserls, 2. Aufl., Frankfurt am Main 2003. Meillassoux, Nach der Endlichkeit, a.a.O., S. 18. Vgl. dazu ausführlich Markus Gabriel, Fields of Sense. A New Realist Ontology, Edinburgh 2014 (im Erscheinen). Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, hg. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt am Main 1986 (= Georg Wilhelm Friedrich: Werke in 20 Bänden. Bd. 3), S. 68. Vgl. Brandom, „Heidegger’s Categories in Sein und Zeit“, a.a.O.
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wir dem Umstand widmen, dass wir uns in einer Lebenswelt vorfinden, in der die Dinge uns „zumeist und zunächst“ zuhanden erscheinen.31 Und dennoch bleibt der Entwurf von Sein und Zeit im Antirealismus befangen, was Heidegger selbst bemängelt. Eines seiner eigenen Motive, sich von Sein und Zeit zugunsten eines realistischen Entwurfs abzuwenden, besteht darin, dass sich die Werkwelt aus dem Hauptwerk von 1927 wie eine Theorie der Moderne liest. Es ist wohl kein Zufall, dass Heidegger an mehreren Stellen in Schwierigkeiten mit dem Begriff des „primitiven“ oder vielmehr des „mythischen Daseins“ gerät, wozu er vor allem in § 11 Stellung bezieht.32 Das Problem liegt einfach darin, dass das Primat der Zuhandenheit sich selbst einem geschichtlich situierten Seinsverständnis verdankt. Dies generiert ein Spannungsverhältnis zum in Anspruch genommenen Apriorismus. Das Seinsverständnis von Sein und Zeit überführt Heidegger später als Selbstbeschreibung der Moderne in der Gestalt des Entwurfs, den er als „Technik“ bezeichnet. Sein und Zeit beschreibt eben nicht „die Substanz des Menschen“,33 was er gegen Ende der Abhandlung ausdrücklich beansprucht, sondern allenfalls die Substanz des modernen Menschen, sofern dieser seine gesamte Umwelt ins Design-Konzept ihrer unauffälligen Verwendbarkeit für menschliche Zwecke einspannt. Genau dies entspricht etwa der heutigen Apple-Welt, der Welt des iGadgets, wie ich sie nennen möchte. Denn in dieser Welt hantieren wir andauernd mit Dingen, die in ihrer Zuhandenheit reibungslos aufgehen. Sobald sie Schwächen aufweisen und zur Auffälligkeit neigen, ist schon das nächste iGadget auf dem Markt, um die Vorhandenheit zu überspielen. Die Zuhandenheit ist nicht an sich mit einer natürlichen Alltäglichkeit verbunden, sie kann all die Zeichen der Entfremdung an sich tragen, die Heidegger selbst in den Verfallenheitsanalysen beschreibt. Wenn nun aber das Dasein als solches eine Welt primär über die Zuhandenheit von Gegenständen erschließt, wenn alle Gegenstände immer schon oder zumeist und zunächst Zeug sind, kann man von diesen Gegenständen eben nicht mehr ablassen. Die kritische Distanznahme, welche die neutrale phänomenologische Analyse in Anspruch nimmt, ist dann eigentlich nicht mehr möglich, da sie sich schon für die Zuhandenheit der Gegenstände, für ihren Entwurf als Zeug entschieden hat. Diese Entscheidung oder Entschlossenheit wird Heidegger folgerichtig durch sein letztlich methodologisches Konzept der „Gelassenheit“ ersetzen.34 Es ist ebenfalls kein Zufall, dass er das Zeug für das Ding eintauscht und das Ding seinerseits 31 Vgl. in diesem Sinne ausführlich Bruno Latour, Enquête sur les modes d’existence, Paris 2012. 32 Vgl. auch Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 414-416. Zum folgenden Problem des Anachronismus der Moderne vgl. Markus Gabriel, Der Mensch im Mythos. Untersuchungen über Ontotheologie, Anthropologie und Selbstbewußtseinsgeschichte in Schellings »Philosophie der Mythologie«, Berlin/ New York 2006; Markus Gabriel und Slavoj Žižek, Mythology, Madness and Laugther. Subjectivity in German Idealism, London/New York 2009 sowie neuerdings Gabriel, Warum es die Welt nicht gibt, a.a.O., Kap. V. 33 Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 416. 34 Vgl. natürlich Martin Heidegger, „Gelassenheit“, in: Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges (1910-1976), hg. v. Hermann Heidegger, Frankfurt am Main 2000 (= Gesamtausgabe. Bd. 16), S. 517-529.
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mythisch färbt. Denn er hat eingesehen, dass Sein und Zeit eine anachronistische Retrojektion moderner Lebensbedingungen, moderner Alltäglichkeit auf die gesamte Geschichte unterläuft. Das Dasein ist selbst noch nicht geschichtlich, wenn es sich auch nur in einer Geschichte auslegen mag. Es selbst bleibt historisch invariant. Diese historische Invarianz ist eine Erbschaft der Transzendentalphilosophie, der Sein und Zeit wichtige Grundideen verdankt.35 Was in dieser ausgeschlossen bleibt, ist ein Ereignis, welches die Entwurfsstruktur des Daseins selbst grundsätzlich in Frage stellt und als variabel und kontingent erscheinen lässt. Wenn das Dasein eine invariable Struktur aufweist und diese überdies primär zur Folge hat, dass alle Dinge uns als Zeug erscheinen oder gar als Zeug erscheinen sollten, führt kein Weg zu einer vernünftigen Kritik der Moderne. Sein und Zeit ist und bleibt ein moderner Entwurf, eine Affirmation einer kontingenten bestehenden Struktur, deren Kontingenz Heidegger zwar in seiner kurzen Diskussion des mythischen Daseins anerkennt, für die er aber aufgrund des transzendentalen Charakters des Daseinsbegriffs eigentlich keinen Raum hat. Die Annahme, die Welt erscheine oder „welte“ nur, indem Dasein sich zeitigt, läuft auf einen höherstufigen Antirealismus hinaus, der verdächtig nach demjenigen klingt, was Meillassoux als Korrelationismus brandmarkt. Dies trifft letztlich nicht ohne Weiteres zu, gerade weil die „Welt“ hier der Name für eine Bewandtnisganzheit ist, das heißt dafür, dass alle Gegenstände in einem bestimmten Licht erscheinen, dessen Bestimmtheit sich dem jeweiligen Entwurf eines einzelnen Daseins im Zusammenhang epochaler Gesamtentwürfe verdankt, eine Spannung, die Heidegger später zugunsten des Epochalen auflösen möchte. Dennoch vertritt Heidegger damit einen ontologischen Antirealismus, das heißt hier die These, dass die ontologischen Begriffe, die er verwendet, zuwendungsabhängig strukturiert sind. Die Ontologie, die man vertritt, hängt für Heidegger davon ab, „was für ein Mensch man ist“, wie die vielzitierte Behauptung Fichtes häufig gedeutet wird.36 Das Problem ist hierbei, dass man sich auf Konditionale einlässt, die besagen, dass nichts (genauer: niemand) existiert hätte, wenn wir diesen Umstand nicht gedeutet hätten, oder auch, dass die Gegenstände nicht in einem Zusammenhang stünden, 35 Das wird in Sein und Zeit aus der Analogisierung von „Kategorie“ und „Existential“, sowie der häufigen Rede vom Apriori hinlänglich deutlich. Es wird sogar noch deutlicher in der ein Jahr nach der Veröffentlichung von Sein und Zeit entstandenen Abhandlung „Vom Wesen des Grundes“: „Wir nennen das, woraufhin das Dasein als solches transzendiert, die Welt und bestimmen jetzt die Transzendenz als In-der-Welt-sein. Welt macht die einheitliche Struktur der Transzendenz mit aus; als ihr zugehörig heißt der Weltbegriff ein transzendentaler“. Martin Heidegger, Wegmarken, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1976 (= Gesamtausgabe. Bd. 9), S. 139. 36 Vgl. Johann Gottlieb Fichte, Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre (1797/98), hg. v. Peter Baumanns, Hamburg 1975, S. 17: „Was für eine Philosophie man wähle, hängt sonach davon ab, was man für ein Mensch ist: denn ein philosophisches System ist nicht ein toter Hausrat, den man ablegen oder annehmen könnte, wie es uns beliebte, sondern es ist beseelt durch die Seele des Menschen, der es hat. Ein von Natur schlaffer oder durch Geistesknechtschaft, gelehrten Luxus, und Eitelkeit erschlaffter, und gekrümmter Charakter wird sich nie zum Idealismus erheben.“ Fichte hat freilich zu dieser Zeit keinen Spielraum zwischen Dogmatismus und Idealismus eingeräumt.
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wenn wir keine Zusammenhänge stifteten. Damit wird unterschwellig doch wieder eine Einzeldingontologie eingeschmuggelt, da es nun so aussieht, als ob vor der Ankunft des Daseins (und damit der „Substanz des Menschen“) nur Einzeldinge isoliert vorhanden waren, die nun nachträglich in Zusammenhängen zu stehen scheinen. Unter der Hand vertritt Heidegger damit die These, dass es relationsfreie atomare Gegenstände gibt, die durch unsere Ankunft nachträglich in Relationen und damit erst in Tatsachen eingebettet werden, sofern Tatsachen Relationen zwischen Gegenständen herstellen. Wenn die ontologischen Grundbegriffe, die wir verwenden, um überhaupt Zusammenhänge darzustellen, in denen Gegenstände erscheinen, nur dadurch anwendbar sind, dass wir uns ihnen zuwenden, bringen wir ontologische Strukturen ex nihilo hervor. Genau diesen Rest von Schöpfungstheologie erkennt Heidegger später in seinem ursprünglichen Entwurf, was zu seiner Unterminierung der Ontotheologie und der mit dieser einhergehenden Annahme führt, das Ganze des Seienden müsse als creatum gedeutet werden. Die Kehre kann man vor diesem Hintergrund demnach als Versuch eines realistischen Entwurfs deuten, der das Programm einzulösen versucht, ontologische Strukturen so zu verstehen, dass sie einerseits variabel und kontingent und andererseits zuwendungsunabhängig sind. Die Geschichtlichkeit des Daseins wird zu einem zuwendungsunabhängigen Geschick, das gleichwohl an das Dasein gebunden bleibt, ohne welches das Geschick nicht zur Erscheinung käme.
2. Die Kehre als realistischer Entwurf Der Begriff der „Kehre“ erfüllt verschiedene Funktionen. Dabei bezeichnet er meines Erachtens primär die Möglichkeit von „Wandel im Sein“.37 Nach Sein und Zeit, in der Phase, die man manchmal auch als „die Kehre“ bezeichnet, geht es Heidegger darum, den „Apriorismus“ zu überdenken, den er zuvor noch als Definiens der wissenschaftlichen Philosophie überhaupt anerkannte.38 Dies bedeutet insbesondere, dass er sich von dem Gedanken abwendet, es gebe eine invariante Struktur, das Sein, die von unserem Seinsverständnis derart abhängt, dass wir diese Struktur verstehend, das heißt zuwendungsabhängig hervorbringen. Mit anderen Worten, Heidegger versucht sich mit der Kehre an einem realistischen Entwurf, der die ontologischen Strukturen als genuin zuwendungsunabhängig, wenn auch nicht zu-
37 Martin Heidegger, „Die Kehre“, in: Bremer und Freiburger Vorträge, hg. v. Petra Jaeger, Frankfurt am Main 1994 (= Gesamtausgabe. Bd. 79), S. 69. 38 Vgl. Sein und Zeit, a.a.O., § 10, S. 67, Anm. 9: „Der ‚Apriorismus‘ ist die Methode jeder wissenschaftlichen Philosophie, die sich selbst versteht.“ Vgl. natürlich auch etwa: „Die Seinsfrage zielt daher auf eine apriorische Bedingung der Möglichkeit nicht nur der Wissenschaften, die Seiendes als so und so Seiendes durchforschen und sich dabei je schon in einem Seinsverständnis bewegen, sondern auf die Bedingung der Möglichkeit der vor den ontischen Wissenschaften liegenden und sie fundierenden Ontologien selbst.“ Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., § 3, S. 15.
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wendungstranszendent beschreibt. Dies wird etwa an Stellen wie der folgenden deutlich, die sich als subkutanes Anknüpfen an den Platonismus verstehen lassen: Der Mensch kann zwar dieses oder jenes so oder so vorstellen, gestalten und betreiben. Allein, über die Unverborgenheit, worin sich jeweils das Wirkliche zeigt oder entzieht, verfügt der Mensch nicht. Daß sich seit Platon das Wirkliche im Lichte von Ideen zeigt, hat nicht Platon gemacht. Der Denker hat nur dem entsprochen, was sich ihm zusprach.39
Damit legt Heidegger eine wegweisende Analogie nahe. Platon beschreibe mit der Vorfindlichkeit der Ideen, die unsere Zuwendung zu Gegenständen ermöglichen, selbst aber nicht nur zuwendungsabhängig bestehen, letztlich den Modus seines eigenen Philosophierens und keinen objektstufigen Theoriebereich. Er spreche in der Beschreibung der Ideen indirekt über die realistische Voraussetzung philosophischer Beschreibungen, dass sie nämlich keine Konstruktionen seien, wogegen sich Heidegger übrigens auch schon in Sein und Zeit wendet.40 Philosophische Begriffe wären konstruiert, wenn wir sie reibungsfrei hervorbrächten, ohne Anhalt an einer unabhängigen Wirklichkeit. Genau ein solches Schaffenspathos unterstellt Heidegger mit seinem Begriff der Entschlossenheit, einer Einstellung, in der man sich befinden muss, um kreativ philosophieren zu können. Das Man bezeichnete dagegen das bloße Nacherzählen historisch vorgegebenen Theoriestoffs, wie es leider auf allen Gebieten und zu allen Zeiten der akademischen Disziplin namens „Philosophie“ auch weitverbreitet ist, heute hierzulande meist in der Form der Berichterstattung von Pro- und Contraargumenten, die man englischsprachigen Aufsätzen entnimmt. Heidegger stellt sich nun erneut die Frage, unter welchen Bedingungen ontologische Grundbegriffe einen Anhalt an einer zuwendungsunabhängigen Wirklichkeit haben können und antwortet darauf mit seiner Theorie der Wahrheit als Unverborgenheit, von der es etwa heißt: Allein, die Unverborgenheit selbst, innerhalb deren sich das Bestellen entfaltet, ist niemals ein menschliches Gemächte, so wenig wie der Bereich, den der Mensch jederzeit schon durchgeht, wenn er als Subjekt sich auf ein Objekt bezieht.41
In dieser Überlegung kann man das folgende Argument ausmachen. Wahrheitsfähige und damit wahre oder falsche Bezugnahmen auf Gegenstände unterstellen, dass es einen Gegenstandsbereich gibt, auf den sie sich beziehen. Überzeugungen über Elementarteilchen etwa unterstellen, dass es einen Bereich gibt, in dem diese vorkommen und assoziieren diesen Bereich mit einer methodisch geeigneten Disziplin, sagen wir der Atomphysik. Wenn wir in diesem Bereich fündig werden können, sind wir zur Unterstellung berechtigt, dass irgendetwas in ihm der Fall ist. 39 Martin Heidegger, „Die Frage nach der Technik“, in: Vorträge und Aufsätze, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 2000 (= Gesamtausgabe. Bd. 7), S. 18. 40 Vgl. gegen die Identifikation von Apriorismus und „Konstruktion“ ausdrücklich Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., § 10, S. 67, Anm. 9. 41 Heidegger, „Die Frage nach der Technik“, a.a.O., S. 18.
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Nennen wir „Tatsachen“ Wahrheiten über Gegenstände. Es ist wahr über Atome, dass sie aus mehreren Elementarteilchen bestehen. Diese Wahrheit ist weder ein Atom noch ein Elementarteilchen, sondern eine solche Gegenstände verbindende Tatsache. Gegenstände sind in Tatsachen eingebettet und Tatsachen wiederum sind in verschiedene Gegenstandsbereiche eingeteilt, wobei gerade Letzteres ein Gedanke ist, der sich durch Heideggers Gesamtwerk zieht.42 Wenn wir nun überhaupt wahrheitsfähige (in Heideggers Sprache: richtige) Überzeugungen haben sollten, dann nur unter der Voraussetzung, dass es Gegenstandsbereiche mit Tatsachenstrukturen gibt. Darüber hinaus müssen wir annehmen, dass uns diese Bereiche nicht insgesamt verschlossen sein können, da unsere Wahrheitsfähigkeit ansonsten „kurz vor den Tatsachen aufhörte“,43 wie McDowell dies treffend charakterisiert hat. Wir wären genau genommen auch nicht wahrheitsfähig, wenn keine unserer Überzeugungen an Strukturen heranreichen könnte, von denen unsere Überzeugungen handeln sollen. Nun zeigt sich in dieser minimalen Analyse unserer Wahrheitsfähigkeit und der Betonung einer gewissen „realistischen Platitüde“44, dass uns nicht alle Gegenstände vollständig entzogen sein können. Denn wir wissen ja, unter welchen Bedingungen sie uns minimal aufgeschlossen sein könnten, das heißt als Gegenstände wahrheitsfähiger Bezugnahme. Der Bereich dieser Bedingungen steht selbst nicht in derselben Weise wie einzelne Wissens- oder Wahrheitsansprüche zur Disposition. Und diesen Bereich nennt Heidegger (unter anderem) „das Sein“. Das Sein steht nicht in derselben Weise zur Disposition wie einzelne Wahrheitsansprüche, wir müssen folglich eine andere Einstellung zu ihm haben als die unserer üblichen falliblen Wissensansprüche. Die Frage ist nun, wie man diese Einstellung beschreiben kann, ohne das Sein oder die Wahrheit im Sinne der Unverborgenheit damit zuwendungsabhängig zu machen. Denn es sieht nun so aus, als ob das Sein darin aufginge, eine Voraussetzung unserer falliblen Bezugnahme auf Gegenstände und Tatsachen zu sein. Dann könnte man allerdings wieder meinen, das Sein hinge von uns ab, wobei dies natürlich genau besehen noch nicht folgt. In einer nicht ganz unauffälligen Bezugnahme auf den späten Schelling drückt Heidegger dies als den Verdacht aus, der
42 In seiner Habilitationsschrift spricht Heidegger etwa auch schon von „Gegenstandsgebieten“ und argumentiert dort auf dieser Grundlage „für eine Mannigfaltigkeit von Geltungsbereichen“. Vgl. Martin Heidegger, „Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus (1915)“, in: Frühe Schriften, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1978 (= Gesamtausgabe. Bd. 1), S. 210, 404. Vgl. dazu meine Überlegungen über „Sinnfelder“ in: Gabriel, Warum es die Welt nicht gibt, a.a.O.; Gabriel, Fields of Sense, a.a.O. 43 Vgl. John McDowell, Mind and World, Cambridge Massachusetts 2000, S. 29. 44 Anton Friedrich Koch, Versuch über Wahrheit und Zeit, Paderborn 2006, S. 54f.
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Mensch könne sich damit als „Herr des Seins“ aufspielen,45 was insbesondere die Gefahr in sich berge, dass der Mensch sich als „Herrn der Erde“ missverstehe.46 Dadurch macht sich der Anschein breit, alles was begegne, bestehe nur, insofern es ein Gemächte des Menschen sei. Dieser Anschein zeitigt einen letzten trügerischen Schein. Nach ihm sieht es so aus, als begegne der Mensch überall nur noch sich selbst.47
Genau dagegen wendet sich Heidegger mit der Kehre. Denn diese besteht darin, unser Seinsverständnis realistisch zu grundieren. Dazu führt er den Begriff des Geschicks ein, was lediglich bedeutet, dass wir uns jeweils in einem letztlich völlig grundlosen und damit zufälligen Seinsverständnis vorfinden, das nun einmal da ist. Das Ereignis hat gerade keine Quelle, keinen Agenten, wie Heidegger den Tod Gottes interpretiert. Deswegen insistiert er auch auf die Begriffsgeschichte von „causa“, die er auch wie den „casus“ von „cadere“ ableitet.48 Vor diesem Hintergrund ist es geradezu aberwitzig, wenn Meillassoux sein Denken des Zufalls und seine Abkehr vom Satz vom zureichenden Grunde als Heidegger-Kritik präsentiert, da seine Grundgedanken in Nach der Endlichkeit sich grundsätzlich als eine bestimmte durchaus gut begründete Heidegger-Interpretation verstehen lassen. Im Grunde genommen verteidigt Meillassoux lediglich das Heidegger’sche Ereignis für das physikalische Universum und wendet Heideggers Überlegung auf den nicht-menschlichen Bereich der unbelebten Natur an. Von Heidegger-Kritik kann an dieser Stelle keine Rede sein, zumal gerade Heidegger – durchaus im Gespräch mit Heisenberg – in seinen Arbeiten zum Satz vom Grunde darauf hinaus will, dass sich jedes Seinsverständnis einem Zufall verdankt. Damit verfolgt er die Absicht, die „Möglichkeit einer Kehre“ in Aussicht zu stellen:49 Wenn die Seinsvergessenheit nur eine kontingente, ja zufällige Epoche der Seinsgeschichte ist, eine zufällige Deutung des Seienden im Ganzen, die eine lange Vorgeschichte hat, aber für Heidegger letztlich doch die Moderne seit dem 17. Jahrhundert umschreibt, können wir allemal auf einen weiteren Zufall hoffen. Diesen weiteren Zufall nennt Heidegger in den Beiträgen zur Philosophie „den letzten Gott“, wobei in dieser Philosophie
45 Heidegger, „Die Kehre“, a.a.O., S. 69; Friedrich Wilhelm Josef Schelling, System der Weltalter. Münchener Vorlesung 1827/28 in einer Nachschrift von Ernst von Lasaulx, hg. v. Siegbert Peetz, Frankfurt am Main 1998, S. 108. Zu Heidegger und Schelling vgl. Markus Gabriel, „Unvordenkliches Sein und Ereignis – Der Seinsbegriff beim späten Schelling und beim späten Heidegger“, in: Heideggers Schelling-Seminar (1927/28). Die Protokolle von Martin Heideggers Seminar zu Schellings „Freiheitsschrift“ (1927/28) und die Akten des Internationalen Schelling-Tags 2006, hg. v. Lore Hühn und Jörg Jantzen, Stuttgart-Bad Cannstatt 2011, S. 81-112 sowie Markus Gabriel, „Der ‚Wink Gottes‘ – Zur Rolle der Winke Gottes in Heideggers Beiträgen zur Philosophie und bei Jean-Luc Nancy“, in: Jahrbuch für Religionsphilosophie 7 (2008), S. 145-173. 46 Heidegger, „Die Frage nach der Technik“, a.a.O., S. 28. 47 Heidegger, „Die Frage nach der Technik“, a.a.O., S. 28. 48 Heidegger, „Die Frage nach der Technik“, a.a.O., S. 10. 49 Heidegger, „Die Kehre“, a.a.O., S. 71.
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der Zukunft, in diesem Denken dessen, „was sein wird“50 wiederum unverkennbar der späte Schelling nachhallt.51 Heidegger präsentiert die Kehre als eine wohlbegründete Vermutung: „Wenn das Gestell ein Wesensgeschick des Seins selbst ist, dann dürfen wir vermuten, dass sich das Gestell als eine Wesensweise des Seins unter anderen wandelt.“52 Diese Vermutung ist paradoxerweise genau dadurch begründet, dass unser Seinsverständnis letztlich grundlos ist. Doch was genau bedeutet dies und wie ist eine solche Grundlosigkeit von der Arbitrarität einer antirealistischen Konstruktion abzugrenzen? In meiner Lesart lässt sich hinter Heideggers Insistieren auf der Grundlosigkeit gerade ein realistisches Motiv der Kehre ausmachen. Eine heute sehr verbreitete Weise über die Begründung philosophischer Theorien nachzudenken, nimmt an, dass wir durch die Teilnahme am „Spiel des Gebens und Verlangens von Gründen“ die Wahrscheinlichkeit der Wahrheit oder Richtigkeit unserer Überzeugungen erhöhen. Allerdings kann man dagegen sogleich den einfachen Einwand erheben, dass keine Schlussfolgerung, kein inferenzielles Netzwerk, garantieren kann, dass seine Prämissen wahr sind. Die inferenziell garantierte Wahrheit von Prämissen ist immer tautologisch, bloße Wahrheitswertvererbung. Um über die tautologische Schlüssigkeit eines Arguments oder einer Schlussfolgerung hinauszugelangen, müssen irgendwelche Prämissen wahr sein, wobei diese Wahrheit auf Bedingungen angewiesen ist, die nicht-inferenzieller Natur sind. Wenn Gründe Prämissen mit inferenzieller Unterstützung sind, können wir folglich so viele Gründe, wie wir wollen, sammeln, ohne damit irgendwie sicherzustellen, dass unsere Überzeugungen wahr oder auch nur (in einem objektiven Sinne) wahrscheinlicher wahr sind. Bestenfalls arbeiten wir an einer Optimierung des Für-Wahr-Haltens, was aber aufgrund der offensichtlichen Beschränktheit der von uns bearbeiteten Informationen (eine endliche Ecke des Unendlichen) jederzeit völlig daneben liegen kann. Das Spiel des Gebens und Verlangens von Gründen kontrastiert deswegen mit dem Wahrheitsbegriff, den Brandom im Gefolge seines Lehrers Rorty auch am liebsten gleich ganz loswerden möchte.53 Ob eine philosophische Theorie sich als wahr erweist, hängt demnach bestenfalls partiell von der Theorie selbst ab. Insbesondere ist jede noch so komplexe Theorie gemessen an allen Möglichkeiten extrem begrenzt und in diesem Sinne auch endlich. Welche Auswahlmechanismen zur Akzeptanz eines bestimmten Prämissenrahmens führen, bleibt uns deshalb immer bis zu einem gewissen Grad entzogen, da wir trivialiter nicht alles begründen können. In 50 Heidegger, „Die Kehre“, a.a.O., S. 46. 51 Vgl. zu diesem Aspekt von Schellings Spätphilosophie Markus Gabriel, „Schellings Antwort auf die Grundfrage der Metaphysik in der Urfassung der Philosophie der Offenbarung“, in: Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Wandel und Variationen einer Frage, hg. v. Daniel Schubbe, Jens Lemanski und Rico Hauswald, Hamburg 2013, S. 159-187. Leider muss man die Beiträge aber für politisch ambivalent halten. Vgl. meinen Artikel in Die Welt (7.3.2014). 52 Heidegger, „Die Kehre“, a.a.O., S. 68. 53 Vgl. Robert B. Brandom, Reason in Philosophy. Animating Ideas, Cambridge Massachusetts 2009, S. 156-177.
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diesem Sinn gilt, dass „jede Weise des Entbergens“ eine „Schickung des Geschickes“ ist.54 Jede philosophische Theorie nimmt letztlich einen Entwurf in Anspruch, der ihr einen gewissen Überblick über das Ganze in Aussicht stellt, eine Haltung, die Heidegger als „Einblick“ bezeichnet. Dies gilt auch für eine Theorie hinsichtlich der Begründung philosophischer Theorien, die Begründungen als Schlussfolgerungen versteht. Auch diese setzt eine „Unverborgenheit“ voraus, „in der alles, was ist, sich jeweils zeigt“.55 Wir stehen damit vor der Frage, unter welchen Bedingungen dieser Befund als Anlass zu einem ontologischen Realismus genommen werden kann. Gelingt es nicht, einen ontologischen Realismus plausibel zu machen (oder gar doch: zu begründen), droht alles Seiende zu einer Machenschaft zu werden. Wenn nämlich die ontologischen Grundbegriffe nur dann auf irgendetwas zutreffen, wenn es Wesen wie uns gibt, die diese Begriffe durch ihre Zuwendung spontan hervorbringen, bestehen eben Zusammenhänge zwischen Seiendem und damit Tatsachen nur dadurch, dass wir uns ihnen zuwenden. Der ontologische Antirealismus diffundiert von der Ebene philosophischer Theoriebildung auf die Ebene der Gegenstände durch. Damit meine ich das Folgende. Wenn es nur dadurch Gegenstandsbereiche und Tatsachen gäbe, dass wir diese unterscheiden, dann hätte es keine Tatsachen gegeben, wenn es Wesen wie uns nicht gegeben hätte. Dann wäre es aber auch noch keine Tatsache gewesen, dass der Erdmond kleiner als die Erde ist, wenn es Wesen wie uns nicht gegeben hätte. Die Gegenstände (das Seiende) wären zusammenhangslos (ohne Sein) gewesen, woraus dann umgehend folgt, dass alle Zusammenhänge, die wir nun konstatieren können, zu konstruktiven Halluzinationen werden, ein in Zeiten des Neurokonstruktivismus wieder einmal allzu plausibel erscheinender Unsinn.56 Man kann Heideggers Begriff des „Gestells“ auch als den Konstruktivismus deuten, der alle Wahrheitsbedingungen für intern generierte Halluzinationen oder Illusionen hält, die auf freischwebenden Gegenständen aufsitzen. Allerdings gelingt es Heidegger letzten Endes nicht, die realistische Linie durchzuhalten, die er mit der Kehre entwirft, da er dem Menschen immer noch einen Sonderstatus zubilligen möchte. Dieser Sonderstatus besteht darin, dass der Mensch mit einem Seinsverständnis umgeht und dieses damit explizit machen kann. Sofern es explizit gemacht wird, steht es damit zur Disposition, was Heidegger selbst beabsichtigt, um dem Seinsentwurf der Technik die „Möglichkeit eines anderen Seins“ entgegenzustellen, wie Schelling dies genannt hat.57 Heidegger 54 Heidegger, „Die Frage nach der Technik“, a.a.O., S. 25. 55 Heidegger, „Die Frage nach der Technik“, a.a.O., S. 27. 56 Genau dagegen wendet sich der „Neue Realismus“. Vgl. in diesem Sinne Ferraris, Manifest des Neuen Realismus, a.a.O.; Gabriel, Warum es die Welt nicht gibt, a.a.O. Vgl. auch Jocelyn Benoist, Eléments de philosophie réaliste, Paris 2011; Paul Boghossian, Angst vor der Wahrheit. Ein Plädoyer gegen Konstruktivismus und Relativismus, übers. v. Jens Rometsch, Berlin 2013. 57 Vgl. Friedrich Wilhelm Josef Schelling, Philosophie der Offenbarung, hg. v. Karl Friedrich August Schelling, Stuttgart 1856-1861 (= Sämmtliche Werke. Bd. 13), S. 226, 273; Friedrich Wilhelm
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schreibt ausdrücklich, „das Wesen des Seins“ brauche „das Menschenwesen“, „um als Sein nach dem eigenen Wesen inmitten des Seienden gewahrt zu bleiben und so als das Seyn zu wesen“.58 Hierin bleibt er der Analyse des apophantischen Logos aus Sein und Zeit verhaftet und nimmt weiterhin an, dass Seiendes nur dann gedeutet oder unter bestimmten Beschreibungen erscheinen kann, wenn es als dieses oder jenes in Anschlag gebracht wird. Er übersieht damit die Möglichkeit einer realistischen Ontologie des Sinns.59 Einen Sinn von Sein scheint es für Heidegger nur dann zu geben, wenn wir ihm uns zuwenden, weshalb die Kehre auch auf den Menschen angewiesen bleibt, um sich zu ereignen. „Das große Wesen des Menschen denken wir dahin, daß es dem Wesen des Seins zugehört, von diesem gebraucht ist, das Wesen des Seins in seine Wahrheit zu wahren.“60
3. Für einen Neuen Realismus des Sinns Ohne dies hier im Einzelnen ausführen zu können, möchte ich abschließend behaupten, dass Heidegger die Option übersehen hat, zuwendungsunabhängigen Sinn anzuerkennen. Wie Jens Rometsch überzeugend dargelegt hat, unterstellt Heidegger tendenziell eine der Unverborgenheit vorgängige – oder wie Meillassoux sagen würde: anzestrale – Verborgenheit, eine Unterstellung, die unzureichend begründet ist.61 Unverborgenheit verortet Heidegger allein auf unserer Seite, was genau dem modernen wissenschaftlichen Weltbild eines an sich unbelebten und nackt ausgedehnten intransparenten An-sich-Universums entspricht, in das irgendwann mehr oder weniger plötzlich unsere Wahrheitsfähigkeit und mit ihr der Sinn einbricht. Die könnte man auch hinter Heideggers Blitz-Metaphorik vermuten, die freilich beim spätesten Heidegger auch zurücktritt zugunsten eines Experi-
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Josef Schelling, Urfassung der Philosophie der Offenbarung, hg. v. Walter E. Erhardt, Hamburg 1992, S. 91. Heidegger, „Die Kehre“, a.a.O., S. 69. Vgl. genau dagegen Gabriel, Warum es die Welt nicht gibt, a.a.O.; Gabriel, Fields of Sense, a.a.O. Heidegger, „Die Kehre“, a.a.O., S. 70. Vgl. Rometsch, „Descartes, Heidegger und die neuzeitliche Skepsis“, a.a.O., bes. S. 125-128. Rometsch zitiert folgende Belegstellen: „Aber die Wesung der ursprünglichen Wahrheit ist nur zu erfahren, wenn dieses sich selbst gründende und Zeit-Raum bestimmende gelichtete Inmitten ersprungen ist in dem, wovon und wofür es Lichtung ist, nämlich für das Sichverbergen“. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), a.a.O., S. 330; „Die Verborgenheit des Seienden im Ganzen stellt sich nie erst nachträglich ein als Folge der immer stückhaften Erkenntnis des Seienden. Die Verborgenheit des Seienden im Ganzen, die eigentliche Un-wahrheit, ist älter als jede Offenbarkeit von diesem oder jenem Seienden. Sie ist älter auch als das Seinlassen selbst, das entbergend schon verborgen hält und zur Verbergung sich verhält“. Martin Heidegger, „Vom Wesen der Wahrheit“, a.a.O., S. 193f.; „Die Wahrheit west als sie selbst, sofern das verbergende Verweigern als Versagen erst aller Lichtung die ständige Herkunft, als Verstellen jedoch aller Lichtung die unnachläßliche Schärfe der Beirrung zumißt“. Martin Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“, in: Holzwege, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1977 (= Gesamtausgabe. Bd. 5), S. 1-74, hier S. 41f.
IST DIE KEHRE EIN REALISTISCHER ENTWURF?
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ments mit einer gleichsam ruhenden Offenheit.62 Jäh und völlig unbegründet gehe das Licht an oder genauer jäh und unbegründet tue sich die Lichtung auf, das heißt der Bereich unserer Wahrheitsfähigkeit, das Wahr-oder-Falsch-Sein-Können. Doch damit stellt sich das Problem der Integration unserer Wahrheitsfähigkeit in ihre Umgebung auf eine bereits voraussetzungshafte Weise. Dagegen nehme ich an, dass Gegenstände – in jedem relevanten Verständnis von an-sich – schon an sich erscheinen. Abschließend sei zumindest der Grundgedanke skizziert, der hinter dieser Behauptung steht. Ich verstehe unter „Existenz“ den Umstand, dass etwas in einem Sinnfeld erscheint. „Sinnfeld“ ist mein Name für einen Gegenstandsbereich, der sich von anderen Bereichen unterscheidet. Der Sinn eines Bereiches individuiert ihn als diesen im Unterschied zu jenem Bereich. Allgemein verstehe ich dabei unter Sinn in Anlehnung an Frege eine objektive Art des Gegebenseins von Gegenständen. Dass etwa der Vesuv so-und-so von Neapel aus betrachtet aussieht, oder dass blaue Würfel in einer bestimmten Beleuchtung grün aussehen, ist genauso objektiv wie der Vesuv oder die blauen Würfel selbst.63 Gegenstände existieren immer nur in Gegenstandsbereichen, von denen sie sich abheben, vor denen sie hervortreten. Gegenstandsbereiche existieren ihrerseits nur, indem sie sich als Gegenstände in anderen Gegenstandsbereichen abheben. Wenn überhaupt etwas existiert, existieren folglich mehrere Gegenstandsbereiche, was die Grundthese der Version des ontologischen Pluralismus ist, die ich vertrete. Was Gegenstandsbereiche individuiert, sind die Arten des Gegebenseins der Gegenstände, die in ihnen vorkommen. Es ist eben ausgeschlossen, dass ein Elementarteilchen, das im Bereich der Atomphysik erscheint, buchstäblich ein Teil meiner selbst als Staatsbürger der Bundesrepublik Deutschland ist. Es ist sinnlos, die Elementarteilchen, die an der Raumzeitstelle meiner Körperlichkeit erscheinen, unter eine bestimmte Jurisdiktion zu stellen. Doch daraus folgt eben deswegen nicht, dass ich damit nicht unter eine bestimmte Jurisdiktion falle, weil ich eben nicht 62 Zur Blitz-Metaphorik vgl. beispielsweise Heidegger, „Die Kehre“, a.a.O., S. 74. Ich danke David Espinet für sein Insistieren darauf, dass beim sehr späten Heidegger in der Tat die Möglichkeit dessen durchgespielt wird, was ich den „Neuen Realismus“ nenne. Dies gilt mindestens in der Hinsicht, dass er mit der ruhenden Offenheit versucht, ein nicht erst aktiv der Überführung in Transparenz bedürftiges Grundmotiv zu finden. Espinet hat mich insbesondere auf die folgenden Stellen hingewiesen aus „Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens“: „Die Lichtung ist das Offene für alles An- und Abwesende.“ (S. 81); Bemerkenswert ist auch die von Espinet unterstrichene explizite Parallele zu Goethes Urphänomen. Heidegger zitiert: „Man suche nur nichts hinter den Phänomenen: sie selbst sind die Lehre“. Und Heidegger weiter: „Solche Offenheit allein gewährt überhaupt ein Geben und Hinnehmen, gewährt einer Evidenz erst das Freie, worin sie sich aufhalten können und sich bewegen müssen.“ (S. 81f.). „Auch Abwesendes kann nicht als solches sein, es sei denn als anwesend im Freien der Lichtung.“ (S. 82) Diese Stellen dokumentieren überzeugend, dass Heidegger mit der Möglichkeit einer realistischen Phänomenologie experimentiert, was er, soweit wir aus den publizierten Texten bisher wissen, allerdings nicht weit genug ausgeführt hat. Hier kann man demnach durchaus auch mit Heidegger noch weiterdenken. Zitiert aus: Martin Heidegger, „Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens“, in: Zur Sache des Denkens, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 2007 (= Gesamtausgabe. Bd. 14), S. 67-90. 63 Umrao Sethi arbeitet derzeit an einer Theorie von „objective looks“, die ich während ausführlicher Gespräche in Berkeley diskutieren konnte.
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mit meiner Erscheinung im Sinnfeld der Elementarteilchen identisch bin. Dies sollte eigentlich schon eine Lektion gewesen sein, die man Thomas Manns Zauberberg entnehmen kann. Eine der Krankheiten der Bewohner des Zauberbergs ist, dass sie sich über ihre Röntgenbilder identifizieren, sodass es ein Rätsel ist, wie auf einem bloßen unbelebten Berg der Zauber der Liebe und der Erkenntnis hervortreten kann – die Grundfrage des modernen Nihilismus. Heidegger hat die Option der sinnvoll strukturierten Erscheinung, einer ungedeuteten Unverborgenheit an sich, nicht in Betracht gezogen, weil sein Ausgang von Kant bis zum Ende dazu führt, dass er Identitätsbedingungen für Gegenstände auf unserer Seite, auf der Seite unserer wahrheitsfähigen Zuwendung gesucht hat.64 Doch gerade diese Annahme führt zum Nihilismus einer an sich sinnlosen atomistischen Ausdehnungswelt, von der Heidegger deswegen immer zugleich angezogen und abgestoßen war. Der Mythos der an sich bedeutungslosen Welt, des von Ameisen und intelligenten Killeraffen besiedelten Planeten inmitten schwarzer, rapide zerklüftender Weiten, muss in seiner ganzen Grundlosigkeit durchschaut werden, wenn wir einen „Wandel im Sein“ wünschen. Und ein solcher Wandel im Sein ist mindestens deswegen wünschenswert, weil das Sein, mit dem wir uns im Moment zufrieden geben, auf einem Irrtum beruht. Und als Philosophinnen und Philosophen wollen wir eben mindestens eines: die von uns unverstellte Wahrheit, die in meinen Augen das zentrale Thema von Heideggers Denken insgesamt darstellt. Wir verdanken Heidegger die vorgezogene Erinnerung daran, dass wir der Versuchung des postmodernen Konstruktivismus und der Toterklärung von Wahrheit und Tatsachen widerstehen müssen, wenn wir nicht zum Opfer der Verblendung werden wollen, der Mensch sei das Zentrum des Ganzen, weil er an dessen Zustandekommen wesentlich mitwirkt. Dass er sich nicht ganz von dieser Verblendung befreien konnte, bleibt seiner Zeit geschuldet. Aber er hat in dieser Hinsicht den richtigen Weg gewiesen. Aus diesem Grund können wir uns demnach nicht leisten, Heidegger zu vergessen. Dass er darüber hinaus ein zwielichtiger Geselle war, darf man auch nicht vergessen. Hier ging es nur um das, was sich bei Heidegger verstehend rekonstruieren lässt.
64 Dass dies ein Problem darstellt, hat Heidegger selbst später anerkannt, was insbesondere aus der folgenden Stelle erhellt: „Die Frage nach der ἀλήθεια, nach der Unverborgenheit als solcher, ist nicht die Frage nach der Wahrheit. Darum war es nicht sachgemäß und demzufolge irreführend, die ἀλήθεια im Sinne der Lichtung Wahrheit zu nennen“. Martin Heidegger, „Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens“, a.a.O., S. 86. Vgl. ansatzweise auch Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), a.a.O., S. 350: „Wahrheit als die Lichtung für die Verbergung ist deshalb ein wesentlich anderer Entwurf als die ἀλήθεια, obzwar er gerade in die Erinnerung an diese gehört und diese zu ihm“.
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Erklüftung Heideggers Entwurfsdenken in den Beiträgen zur Philosophie Philosophie ist auf Bilder angewiesen, die jedoch nicht selten ihre eigene Logik entfalten – auch gegeneinander. Das gilt nicht weniger, wenn es Bilder sind, die sich im Medium Sprache – und damit im Medium der Philosophie – zeigen. Heideggers philosophische Meisterschaft hat bekanntlich viel damit zu tun, dass er die originären Möglichkeiten der Sprache und der Übersetzung wie wenige andere Denker zu nutzen weiß. Dabei ist es keineswegs so, dass sich etwa seine Begriffsprägungen der Sprachgeschichte unterstellen oder diese verdrehen, auch wenn besonders sein Denken von Etymologien her immer wieder dem Verdacht ausgesetzt war, entweder unkritisch oder philologisch falsch – oder beides zugleich – zu sein. Das Problem liegt jedoch weniger im Gebrauch von Etymologien oder ‚bildlicher‘ Sprache zur Konzentration der Beschreibungskraft eines Wortes als in der Passung von Worten und Sachen: Da Worte das, was sie bezeichnen, nicht hervorbringen, können sie gut oder schlecht gewählt sein, wenn sie die Sache, die sie bezeichnen, besser oder schlechter treffen. Gerade dann aber, wenn eine Wortwahl scheitert, kommt es zur Suche nach Alternativen und dem treffenden Wort. Bei dieser Suche tritt auch die Bildlichkeit der Sprache hervor und verschiedene Sprachbilder konkurrieren im Hinblick auf das in ihnen Aufgewiesene. Die Suche nach den richtigen Worten einer Philosophie ist deshalb auch die Suche nach geeigneten Bildern für die Sache ihres Denkens. Die Dynamik, die durch die Konkurrenz der Denkbilder freigesetzt wird, steht jener des Austauschs philosophischer Argumente in nichts nach. Nicht nur eine der weniger prominenten, sondern auch eine der schwächeren Begriffsprägungen Heideggers ist, so soll im Folgenden gezeigt werden, der Begriff der Erklüftung. Nichtsdestotrotz lohnt, gerade weil in ihm die philosophische Umwandlung eines Wortes in einen Begriff scheitert, eine Untersuchung dieses Ausdrucks. Im ersten Abschnitt dieses Beitrags steht das Wort und dessen Bedeutung im Mittelpunkt, in einem zweiten und dritten Abschnitt soll Heideggers Entwurfsdenken soweit rekonstruiert werden, wie es für die Situierung des Wortes in diesem Denken notwendig erscheint. Dabei wird es zum einen darauf ankommen, die Verzeitlichung des Entwerfens zu entwickeln, die Heidegger in Sein und Zeit vornimmt, und zum anderen darauf, eine spezifische Verbindung von Entwurf und Grund nachzugehen, die Heidegger in einer Passage des Kunstwerkaufsatzes am prägnantesten fasst. Erst im vierten Abschnitt thematisiere ich die Beiträge zur Philosophie und die Rolle, die das Bild der Erklüftung in diesem Text spielt. Dabei geht es mir nicht darum, Erklüftung als einen unterschätzten philosophischen Begriff
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stark zu machen und seine hermeneutischen Möglichkeiten als größer darzustellen, als sie es tatsächlich sind. Vielmehr wird in einem fünften Abschnitt des Beitrages gefragt, warum sich Erklüftung zur Erörterung des Entwerfens zwar in einem gewissen Maße eignet, aber letztlich ebensowenig wie das Paradigma des Entwurfs selbst den philosophischen Zwecken dienen kann, denen Heidegger diese Worte und die mit ihnen verbundenen Bilder unterstellt. Weder Entwurf noch Erklüftung treffen die Sache, die Heidegger zu denken versucht. Der besonderen Kreativität von Heideggers Denken ist es zu verdanken, dass es dennoch nicht stumm bleibt: Das Wort Lichtung, so die abschließende Überlegung, trifft die zu denkende Sache nur wesentlich besser und erlaubt es, auch das Entwerfen besser zu verstehen.
Das Wort Erklüftung Um herauszufinden, was das Wort Erklüftung meint, welche Phänomene es anspricht und in welche Sachbezüge es eintreten kann, liegt ein einfacher Schritt nahe – ein Blick in das Grimm’sche Wörterbuch: ERKLÜFTEN, findere, zerklüften. ERKLÜFTUNG, f. fissura, rima: diese masse, von jenen erklüftungen wenig erleidend. Göthe 51, 74.1
Erklüften hat dem Grimm zufolge also die Bedeutung von lateinisch findere, von dessen Partizip Perfekt fissum sich das deutsche Fremdwort Fissur ableitet. Außerdem sei erklüften Synonym zu zerklüften. Unter dem Substantiv Erklüftung findet sich entsprechend ein Verweis auf die lateinischen Nomen fissura und rima sowie ein Verweis auf eine einzige Fundstelle des Wortes Erklüftung in der Literatur. Anders als erklüften wird zerklüften als transitives Verb mit der Grundbedeutung „breit zerspalten, mit klaffenden einschnitten zertheilen“ bestimmt. Außerdem werde das Verb „im eig. sinne, zumeist nur als adj. partic., von felsgebirgen, gesteinsblöcken oder der küste eines landes“ gebraucht, also wenn man sagt, ein Landstrich sei zerklüftet. In übertragener Bedeutung meine zerklüften dann auch „in oder durch parteien spalten u. ä.“. Allerdings findet sich hier auch die Hinzufügung, zerklüften meine „eig. schlieszlich noch holz z[erklüften]“, also „holz spalten“. „Ganz vereinzelt“ trete im Gegensatz zu dieser transitiven Grundbedeutung das Verb intransitiv auf.2 Als Beleg wird eine Stelle bei Adalbert Stifter angegeben, an der es heißt: „das holz zerklüftete und fiel in stücken herab“.3
1 Jacob Grimm/Wilhelm Grimm, „Erklüften/Erklüftung“, in: Deutsches Wörterbuch, Bd. 3, Leipzig 1862, Sp. 878. 2 Jacob Grimm/Wilhelm Grimm, „Zerklüftung“, in: Deutsches Wörterbuch, Bd. 15, hg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Leipzig 1956, Sp. 704. 3 Adalbert Stifter, „Über den geschnitzen Hochalter in der Kirche zu Kefermarkt“, in: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe, hg. v. Alfred Doppler und Hartmut Laufhütte, Bd. 8.4, hg. v. Johannes John und Karl Mösender, Stuttgart 2011, S. 68-85, hier S. 80.
HEIDEGGERS ENTWURFSDENKEN IN DEN BEITRÄGEN ZUR PHILOSOPHIE
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Um diesen intransitiven Sinn geht es auch an der einzigen Belegstelle für erklüften, die sich – wie das einzige Auftreten von durchklüften, das die Gebrüder Grimm verzeichnen4 – in den naturkundlichen Schriften Goethes findet, genauer in einem Abschnitt mit dem Titel Gebirgsgestaltung im Ganzen und Einzelnen (gedruckt 1824). Goethe interessiert sich hier für das „makro-mikromegische Verfahren der Natur“, welche „im Großen nichts [tut], was sie nicht auch im Kleinen thaete“, und „nichts im Verborgenen [bewirkt,] was sie nicht auch am Tagslicht offenbarte“.5 Unter dieser naturphilosophischen Prämisse lassen sich bereits an einzelnen Beispielen geologische Grundeinsichten gewinnen, wie etwa die Bedeutung der sogenannten „Solidescenz“ bei der Entstehung und Formung von Gebirgen: „Solidescenz ist der letzte Act des Werdens, aus dem Flüssigen durch’s Weiche zum Festen hingeführt, das Gewordene abgeschlossen darstellend.“6 Zu Erklüftungen kommt es demnach beim Werden, im Übergang von Möglichkeit (potentia) zu Wirklichkeit (actus), den Goethe, sich des metaphorischen Gebrauchs dieses Wortes durchaus bewusst, auch die „Urdurchgitterung“ des Gesteins nennt.7 Allerdings gehört das Erklüften zum Prozess der allmählichen Verfestigung von Gestein nur aufgrund eines Phänomens, das, so Goethe, „uns bei seiner Unerforschlichkeit nicht losläßt: Solidescenz ist mit Erschütterung verbunden. Nur selten kommt dieses Phänomen, seiner Zartheit wegen, zur unmittelbaren entschiedenen Anerkennung“.8 Die Klüfte, die Risse und Fissuren entstehen also durch einen Schock, der die allmähliche Verfestigung des flüssigen Gesteins unterbricht. Ein besonders anschauliches, aber auch merkwürdiges Beispiel für dieses Phänomen sei der „allbekannte Florentinische Ruinenmarmor“. Dieser war, so stellt Goethe sich vor, „sich bandartig zu bilden im Begriff [...], als ein gewisses Zucken die zarten Streifen mit verticalen Klüftchen durchschnitt und die horizontalen Linien bedeutend verrückte [...], wodurch uns dann die Gestalt einer lückenhaften Mauer vor Augen tritt.“ Der Marmor ist nun tatsächlich, wie die im Grimm’schen Wörterbuch zitierte Belegstelle lautet, „von diesen Erklüftungen wenig erleidend“. Trotz der Risse in seiner Struktur lässt sich das Gestein vielfach bearbeiten, zerschneiden, polieren und bemalen (Abb. 5.1). Gerade die Brüche machen sogar die besondere Schönheit des Marmors aus: Die „zarten Streifen“ und „verticalen Klüftchen“ erscheinen, so Goethe, „bei geschnittenen und polirten Tafeln über der Landschaft als Bewölkung, wer es dafür will gelten lassen“.9
4 Vgl. Jacob Grimm/Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 2, Leipzig 1860, Sp. 1633: „DURCHKLÜFTEN, durch und durch spalten. der kieselschiefer ist so vielfach durchzogen und durchklüftet“. Die hier genannte Belegstelle bei Goethe findet sich in: Johann Wolfgang von Goethe, „Gebirgs-Gestaltung im Ganzen und Einzelnen“, in: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, hg. v. Hendrik Birus u.a., Bd. 25, hg. v. Wolf von Engelhardt und Manfred Wenzel, Frankfurt am Main 1989, S. 628-635, hier S. 632. 5 Goethe, „Gebirgs-Gestaltung im Ganzen und Einzelnen“, a.a.O., S. 631. 6 Goethe, „Gebirgs-Gestaltung im Ganzen und Einzelnen“, a.a.O., S. 628. 7 Goethe, „Gebirgs-Gestaltung im Ganzen und Einzelnen“, a.a.O., S. 628. 8 Goethe, „Gebirgs-Gestaltung im Ganzen und Einzelnen“, a.a.O., S. 630. 9 Goethe, „Gebirgs-Gestaltung im Ganzen und Einzelnen“, a.a.O., S. 633.
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Erklüftungen, wie Goethe das Wort benutzt, sind also das Resultat einer plötzlichen Unterbrechung, die im Prozess des Festwerdens eintritt. Erstaunlicherweise tritt diese zur verborgenen Entwicklung des Gesteins aber durchaus harmonisch hinzu, denn der Marmor bricht nicht von sich aus auf, wohl weil der äußere Druck zu groß ist. Die Solidität des Gesteins umschließt den Bruch vielmehr, der so gewissermaßen stillgestellt wird und in den Erklüftungen seine Spuren hinterlässt. Die Erklüftungen des Marmors, auch wenn sie als spontane Unterbrechung im Prozess der „Solidescenz“ entstehen, geschehen im Verborgenen und exponieren den Verwandlungsprozess gerade nicht. Erst die herausgebrochenen Stücke und die „geschnittenen und polirten Tafeln“ geben davon Zeugnis. Nichtdestotrotz versucht Goethe jenes verborgene Geschehen zu beschreiben, das die Erklüftungen hervorgebracht hat. Die festverbundenen Risse geben Anlass, den verborgenen Ursprung des Gesteins zu imaginieren.
Die Zeitlichkeit des Entwurfs Heideggers Entwurfsdenken hat zunächst mit Rissen im Gestein sehr wenig zu tun. Es ist vielmehr durch eine gewaltsame Festlegung dessen bestimmt, was entworfen wird: das Seiende im Ganzen, das Ganze der Erfahrbarkeit, des Offenen und des Verständlichen – Dasein. Diese radikale Erweiterung und philosophische Aufwertung erfährt das Denkbild des Entwerfens dadurch, dass Heidegger es zur Erörterung des Verstehens benutzt, welches alles erfasst, was im menschlichen Dasein auftritt. Alles Verstehen geschieht strukturgleich mit dem Entwerfen. Alles, was verstanden wird, wird demnach eigentlich entworfen.10 Den Anlass für diese Übertragungen, die explikative Gleichsetzung von Dasein, Entwerfen und Verstehen, bietet die Modalität der Möglichkeit. Dasein ist Möglichsein und versteht sich in diesem Möglichsein durch das Entwerfen. In Heideggers Worten: „Das Dasein entwirft als Verstehen sein Sein auf Möglichkeiten.“11 Erst der „Entwurfscharakter des Verstehens“ mache dem Dasein „sein Da als Da eines Seinkönnens“, sein Dasein als Möglichsein, zugänglich. Dieses Entwerfen aber habe nichts zu tun mit einem Sichverhalten zu einem ausgedachten Plan, gemäß dem das Dasein sein Sein einrichtet, sondern als Dasein hat es sich je schon entworfen und ist, solange es ist, entwerfend. Dasein versteht sich immer schon und immer noch, solange es ist, aus Möglichkeiten. [...] Das Verstehen ist, als Entwerfen, die Seinsart des Daseins, in der es seine Möglichkeiten als Möglichkeiten ist.12
10 Heidegger variiert so offensichtlich Kants Überzeugung, dass „die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt“ (Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1904/11 (= Kants Werke. Bd. III), B XIII). 11 Martin Heidegger, Sein und Zeit, 19. Aufl., Tübingen 2006, S. 148. 12 Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 145.
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Diese begrifflichen Operationen sind im Kontext von Sein und Zeit zwar nachvollziehbar, sie bleiben jedoch unanschaulich, denn sie entsprechen nur wenig dem, was meist mit etwas entwerfen gemeint ist. Etwas entwerfen scheint vielmehr genau das zu sein, was Heidegger mit dem „Sichverhalten zu einem ausgedachten Plan“ ausschließt: eine Idee wird genauer gefasst, ein Plan ausgearbeitet, vielleicht auf seine Realisierbarkeit hin überprüft, auf jeden Fall wird eine Möglichkeit an einem bestimmten Etwas, dem Entwurf, als Möglichkeit konkretisiert. Das Entwerfen in diesem Sinne ließe sich tatsächlich als ein Verstehen von Möglichkeiten erläutern, als die menschliche Fähigkeit, Möglichkeiten als solche genauer zu bestimmen, zu erkunden, auch zu verwerfen – ohne sie verwirklichen zu müssen und dadurch zu erschöpfen. Dafür ist aber entscheidend, dass das Entwerfen in einen es übergreifenden Prozess des Verstehens, des Planens und Realisierens eingebunden ist und in irgendeiner Weise auch ein objektives Resultat hervorbringt – eben einen Entwurf, der das Mögliche in einer bestimmten Gestalt verkörpert. Erst der für sich in irgendeiner Weise fertige Entwurf macht den Prozess des Entwerfens überhaupt erst für andere mitteilbar, und allein deshalb, weil der Prozess des Entwerfens auf etwas ausgerichtet ist, das eine Möglichkeit anschaulich machen soll, wird diese durch das Entwerfen in seiner Konkretion erschlossen und dadurch als konkrete Möglichkeit in Abgrenzung zu anderen verstanden. Das ist jedoch nicht die Weise, wie Heidegger das Entwerfen beschreibt und als Bild für das Verstehen des Möglichseins des Daseins gebraucht. Wenn man den Gedanken, dass das Entwerfen auf das Mögliche bezogen ist, wenn auch einseitig, so doch plausibel finden und auch die Vernachlässigung der Gebundenheit des Entwerfens an Entwürfe akzeptieren mag, so folgt aus Heideggers Identifikation des Entwerfens mit dem Verstehen noch eine weitere und wesentlich anspruchsvollere Behauptung: Nicht nur wird alles, das verstanden wird, entworfen. Da Verstehen für Heidegger wesentlich sich verstehen ist, nämlich sich in seinen Möglichkeiten und sein Da als Möglichsein verstehen, muss auch das Entwerfen wesentlich reflexiv sein. Seinkönnen, sein Möglichsein zu entwerfen, heißt für Heidegger: sich entwerfen. Das Dasein entwirft sich selbst, wenn es sich versteht – und als Grundbestimmung seines Seins kann das Dasein gar nicht anders, als sich zu verstehen und entwerfend zu sein. Dass das Entwerfen ein Selbstentwurf des Möglichen aus sich selbst heraus sein soll, ist jedoch kein leicht einlösbarer Gedanke. Das Bild des Entwerfens als einer kreativen Tätigkeit, die trotz ihrer Schaffenskraft in der Gestaltung dennoch auf etwas dieser Praxis Äußeres bezogen ist und an etwas gebunden bleibt, von dem sich das Entwerfen inspirieren lässt, mit dem es arbeitet oder in das es zurückfinden soll, wenn der Entwurf verwirklicht wird – dieses Bild des Entwerfens wird durch die Vorstellung verzerrt, dass das Entwerfen ein Entwerfen des eigenen Seins und des Seins überhaupt ist. Das Entwerfen wird so nicht nur zu einem absolut kreativen, sondern auch zu einem allumfassenden Geschehen. Dadurch, dass Heidegger das Paradigma des Entwurfs zu nutzen versucht, um seinen ontologischen Diskurs zu veranschaulichen, entfernt sich seine Konzeption von der gewöhnlichen Semantik des Entwerfens, und umgekehrt wird so fraglich,
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ob sich das Entwerfen zur Verbildlichung der Fundamentalontologie eignet. Heidegger reagiert auf diesen Widerstand seines Sprachbildes durch eine Überbietung: Das Entwerfen soll als eminent zeitliche Erfahrung im Dasein gefasst werden, um die Struktur des Selbstvollzugs, den reinen Vollzugscharakter des Entwerfens, zu begründen. Die komplexe Struktur der verschiedenen, als authentisch oder inauthentisch klassifizierten Zeiterfahrungen, die Heidegger entwickelt, um den Zeitvollzug des Daseins zu beschreiben, machen deutlich, dass das für das Entwerfen spezifische Zeitmoment von der Zukunft her verstanden werden soll: Das „in der Zukunft gründende Sichentwerfen“ gehört zum „Wesenscharakter der Existenzialität“, und weil das Dasein sich als Ganzes in seiner Existenz entwirft, ist der „primäre Sinn“ des Existierens „die Zukunft“.13 Heidegger kommt es jedoch nicht darauf an, dass etwas zu planen und zu entwerfen impliziert, dass der Entwurf in der Zukunft verwirklicht werden kann. Das Dasein kennt keine konkreten Entwürfe seiner selbst und auch keine Realisierungen dieser Entwürfe. Heidegger wird vielmehr durch eine andere Überlegung geleitet: Wenn Entwerfen das Verstehen von Möglichkeiten ist, dann ist es auf jene Möglichkeiten bezogen, die eine noch offene Zukunft bietet. Es ist die Unbestimmtheit der Zukunft, die das sich entwerfende Verstehen erschließt und die erst jene allein selbstbezügliche Kreativität denkbar werden lässt, als die Heidegger das Entwerfen fasst. Heidegger versteht das Entwerfen als Zukunftsbezogenheit also derart, dass es ohne konkrete Festlegungen auskommt und die Zukunft gerade in ihrer Unentschiedenheit und Unbestimmtheit zugänglich macht, unter Absehung von allen Bedingungen unter denen das Entwerfen stehen könnte. Damit kommt ein neuer Sinn von Entwerfen ins Spiel: etwas auf etwas oder, im Falle des Daseins, sich auf etwas entwerfen. Wenn Entwerfen das Erschließen des Unbestimmten ist und die Offenheit der Zukunft für dieses Unbestimmte einsteht, dann hat es Sinn, von einem Entwerfen auf das Unbestimmte und in die Zukunft zu sprechen. So ist auch die Wendung gemeint, derzufolge das Dasein sich auf seine Möglichkeiten entwirft. Das Entwerfen ist dann jedoch weniger das Geschehen, Entwürfe auszubilden, die Mögliches verkörpern, bevor es verwirklicht wird. Das Entwerfen ist dann ein Projizieren auf eine unbestimmte Fläche, die eben die noch ungeschriebene Zukunft ist. Als solches ist es die Fähigkeit, die Zukunft nicht in ihren konkreten Möglichkeiten und Grenzen, also im Hinblick auf die Bedingungen des Entwurfs oder auf die Realisierung von konkreten Entwürfen, sondern in ihrer völligen Unbestimmtheit zu imaginieren. Was wir – als Dasein – also verstehen, wenn wir uns entwerfen, ist nicht die radikale Kontingenz in allem, was sich auf die Zukunft bezieht, sondern unsere vermeintlich grenzenlose Fähigkeit, Möglichsein vorzustellen. Es geht dann aber tatsächlich nicht um „ausgedachte Pläne“, sondern um die Offenheit der Zukunft, die es überhaupt erst sinnvoll sein lässt, Pläne zu schmieden. Dadurch gerät die Bestimmtheit der Zukunft, die Bedingungen unter denen das Entwerfen steht, jedoch aus dem Blick. Das Entwerfen ist dann, wenn es – wie Heidegger meint – auf die Zukunft gerichtet ist, auf nichts anderes als sich 13 Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 327.
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selbst gerichtet, es ist ein Entwerfen auf das „immer entworfene Seinkönnen“,14 ein Entwerfen auf das Entwerfen. Dadurch bestätigt sich das Entwerfen jedoch letztlich selbst und allein aus sich selbst heraus. Dies wird spätestens dann zum Problem, wenn nicht nur das Dasein, sondern das Sein selbst entworfen wird.15 Im Zusammenhang der Zeitlichkeit wird die Selbstreferenz des Entwerfens dadurch verstärkt, dass Heidegger das Entwerfen und das Vorlaufen miteinander verbindet. Das Entwerfen projiziert Vergangenheit und Gegenwart auf die Unbestimmtheit der Zukunft, es erkundet sie nicht in konkreten und verschiedenen Möglichkeiten, sondern in deren bloßer Möglichkeit: Nichts von dem, was war und ist, muss in Zukunft noch sein, und dies zu erkennen gibt dem Entwerfen Raum. Während das bloße Gewärtigen der Unbestimmtheit der Zukunft ausweicht, ergibt sich durch den Entwurfscharaker des Verstehens die Möglichkeit, in authentischer Weise für die Zukunft, deren Veränderlichkeit verstehend, aufgeschlossen zu sein. Das Vorlaufen in diese Zukunft bietet die Chance, das Dasein als ganzes zu gestalten, und das heißt, sich jenen drei authentischen Zeiterfahrungen auszusetzen, die Heidegger als Augenblick, als Wiederholen und eben als Vorlaufen bestimmt, und die in der Projektion in die Unbestimmtheit der eigentlichen Zukunft zusammenfinden. Gerade im Entwerfen verbinden sich Augenblick und Wiederholung unter dem Primat des Vorlaufens als eigentlicher Form des Verstehens. Das Bild des Entwerfens sorgt deshalb dafür, dass durch das Verstehen und das Vorlaufen die zeitlichen Ekstasen des Daseins (Gegenwart, Gewesenheit, Zukunft) keineswegs gleichrangig sind, sondern unter dem Primat der Zukunft kombiniert werden. Der Vorrang der Zukunft hätte jedoch keine anschauliche Bestätigung, könnte Heidegger nicht für die Bestimmung der eigentlichen Zukunft auf das Denkbild des Entwurfs zurückgreifen. Heideggers Versuch, den ontologischen Vorrang der Zukunft, das dauernde „Sichvorweg“16 des Daseins im Bild des Entwerfens zu denken, ist auch der Grund dafür, dass das Entwerfen keinen Entwurf hervorbringen, nichts Festes, Materielles, kein – noch nicht einmal ein vorläufiges – Resultat produzieren kann, und auch nichts außer sich braucht, wovon es Gebrauch macht oder wovon seine Realisierung abhängig sein könnte. Das Entwerfen ist als vorlaufendes Erschließen von Möglichkeiten ungegenständlich, und es erschließt deshalb auch keine konkreten Möglichkeiten, wie einzelne Entwürfe das tun. Dafür erschließt es die Zukunft als völlig unbestimmtes Möglichsein und deshalb, wie Heidegger meint, die Zukunft als Zukunft.
14 Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 337. 15 Vgl. Inga Römer, Das Zeitdenken bei Husserl, Heidegger und Ricœur, Phaenomenologica 196, Dordrecht et. al. 2010, S. 218. 16 Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 425.
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Grund und Entwurf Entwerfen ist für Heidegger, auch wenn dies durch die Rede vom Selbstvollzug aus der Zukunft heraus den Anschein haben mag, kein absolutes Geschehen, keine kontinuierliche Erschließung des Möglichen durch sich selbst. Bei aller Vehemenz, mit der Heidegger den Vorrang der Zukunft im Dasein auszuweisen versucht, wäre es keine überzeugende Beschreibung, Dasein allein als unbestimmtes Möglichsein zu verstehen. Die Rückbindung des Entwerfens, die Heidegger zu denken versucht, entwickelt sich jedoch nicht dadurch, dass es doch immer konkrete Entwürfe sind, die das Entwerfen hervorbringt oder dass auch die Unbestimmtheit der Zukunft noch in einen Verstehensprozess übergehen muss, der die Zukunftsplanung auch wieder konkretisiert. Die Beschränkung des Entwerfens, die an die Stelle von dessen Bindung an den konkreten Plan treten soll, hat vielmehr wesentlich mit einem zweiten, in der Sache konkurrierenden Sprachbild zu tun. Das Dasein ist nämlich nicht nur zugleich entworfen und entwerfend, sondern auch der Grund seines eigenen Entwurfs. Die Rückbindung des Entwerfens durch die Rede von der „Geworfenheit in das Da“17 und die Formel vom „geworfenen Entwurf“18 bleiben dagegen seltsam kraftlos. Wenn das Dasein „als geworfenes [...] in die Seinsart des Entwerfens geworfen“19 ist, so heißt dies nämlich nichts weiter, als dass es gezwungen ist, überhaupt zu entwerfen. Darin aber besteht keine Einschränkung seines Entwerfens, sondern nur eine Bestätigung des Vorrangs des Vollzugs des Entwerfens. Eine wirksame, gleichsam materiale Begrenzung des Entwerfens geschieht erst dadurch, dass dieses mit dem Bild des Grundseins verbunden wird. Dieses Gegenbild gibt dem Entwerfen kein resultatives Moment oder ein anderes Ziel als das bloße Vorlaufen. Der Grund des Daseins ist nicht das Resultat seines Entwerfens. Blendet man dieses Denkbild ein, besteht die Rückbindung des entwerfenden Daseins darin, dass das Dasein zwar der „Grund seines Seinkönnens“ ist, aber diesen „Grund selbst nicht gelegt“ habe. In Konkurrenz zum Bild des entwerfenden Geworfenseins der Existenz schreibt Heidegger, das Dasein laufe nicht vor, sondern „ruhe“ vielmehr „in seiner Schwere“ und entwerfe sich erst aus dieser Schwere „auf Möglichkeiten [...], in die es geworfen ist“. Das Entwerfen stößt auf seine eigene Möglichkeit, ohne diese einholen zu können. Als die letztlich entscheidende Begrenzung des Möglichseins erweist sich so die Angewiesenheit des Entwerfens auf einen Grund, der das Dasein zwar selbst ist, dessen es aber „von Grund auf nie mächtig“ werden kann und deshalb „ständig hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt“.20 Erst aus der Negativität des tragenden, aber unbeherrschten Grundes, der das Dasein ebenso ist wie sich entwerfender Entwurf, ergibt sich also ein anschauliches Gegenbild zur Selbsterschließung und -ermächtigung des Seinkön17 18 19 20
Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 148. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 285. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 145. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 284.
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nens. Erst die Rede von der Eigenmacht des Grundes erlaubt es, das Entwerfen nicht nur als Selbstvollzug aus der Zukunft, sondern als einen Möglichkeitsraum zu denken, der durch seinen Grund getragen und so sowohl ermöglicht als auch begrenzt wird. Dennoch ist diese Einheit von Entwurf und Grund, mag sie auch in wenigen Worten ausgesprochen sein, in der Sache schwer zusammenzudenken. Wie kann das Dasein, als vorlaufend-verstehendes Möglichsein, zugleich Grund sein? Wie können Grund und Entwurf gleichermaßen Bestimmungen von Dasein sein? Es ist die Verbindung ebenjener Denkbilder, die auch mit dem Gedanken des Erklüftens versucht wird. Was hier problematisch ist, lässt sich am leichtesten dadurch benennen, dass die Zukunft eines Entwurfs als konstitutiv offen gedacht werden muss. Die Hervorhebung des Zukunftsbezugs des Entwerfens, den Heidegger forciert, trifft durchaus etwas, denn was mit einem Entwurf geschieht – ob er umgesetzt, modifiziert oder verworfen wird –, ist im Moment des Entwerfens nicht entschieden. Heidegger geht zwar so weit, dass der Vollzug des Entwerfens noch nicht einmal eigenständige und zueinander differente Entwürfe hervorbringt, sondern dauernde Offenheit des Vorlaufens in die Unbestimmtheit des Möglichen ist. Aber so lässt sich der Raum, in dem es konkurrierende Entwürfe, Entwicklungsstufen und die Revision von Entwürfen gibt, nicht denken. Wenn die Verbindung von Grund und Entwurf in der Projektion in die Zukunft jedoch nicht plausibel zu machen ist, muss ebenjene Offenheit anders verstanden werden, denn als die Unentschiedenheit der Zukunft. Als Denkbilder für das Dasein als Möglichkeitsinn konfligieren Grund und Entwurf. Sie sind im Text von Sein und Zeit zwar beide da, aber nicht so, dass sie beide auf einmal verständlich würden. Blickt man auf den Diskurs über Entwerfen, Verstehen und Zukunft, denkt man an ein anderes Bild als in Heideggers Sprechen über Geworfenheit und Grund. Heidegger hat die Konkurrenz der Denkbilder in Sein und Zeit gesehen, und daraus zunächst die Konsequenz gezogen, das Bild des Grundes innerhalb einer Theorie der Geschichtlichkeit, nicht in der Analyse der Zeitlichkeit, weiterzuentwickeln. Zielte Sein und Zeit auf eine Theorie des Erscheinens von Sein in der Zeit, wird in Der Ursprung des Kunstwerkes Sein in seiner Geschichtlichkeit erläutert, die an verschiedenen Kunstwerken diskutiert wird. Im Kunstwerkaufsatz wird deshalb auch die Zukunftsausrichtung des Entwerfens nicht mehr im Horizont des Verstehens und Vorlaufens in die Zukunft thematisiert, um so die Temporalität des Seins zu erweisen, sondern im Hinblick auf den Umgang mit der eigenen Geschichte. Erschloss sich Dasein im Entwerfen seine eigene Ganzheit in der Zeit, so findet es im Kunstwerkaufsatz etwas vor, das sich nicht integriert, einen Grund außerhalb seines Selbstentwurfs. Erst dadurch wird auch echte Kreativität möglich, die nun zwar mit dem geschichtlichen Grund etwas dem Entwerfen Äußeres vorfindet, dadurch aber die Freiheit gewinnt, etwas zu erschließen, dass die Angst (als Grundbefindlichkeit), das Schweigen (als eigentliches Reden), das Vorlaufen (als eigentliches Verstehen) und damit die Sorge um sich (das Sein des Daseins) und die Zeitlichkeit (den Sinn der Sorge) hinter sich lässt. Ästhetische Spontaneität überschreitet den
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Theorierahmen der Daseinsanalyse, aber Heidegger bleibt bei seinem Paradigma, dem Entwerfen, wenn dieses jetzt auch sehr verschieden aufgefasst wird. Heidegger bezieht Grund und Entwurf nämlich in eminenter Weise auf das Vergangene und das Verborgene, nicht auf die Zukunft als eigentliche Zeitekstase des Daseins. In seiner Erläuterung des Stiftens von Geschichte unterscheidet Heidegger Schenken, Gründen und Anfangen als verschiedene Hinsichten, in denen ein Kunstwerk als ein geschichtliches Ereignis verstanden werden kann. Diese drei Hinsichten des geschichtlichen Charakters eines Kunstwerks nehmen die drei Zeitekstasen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf. Vom Entwerfen ist nun bezeichnenderweise nicht im Zusammenhang des Anfangens, also dem Zukunftsbezug der Kunst, die Rede, sondern nur im Zusammenhang mit dem Gründen. Heidegger bringt also am Entwerfen von Kunstwerken als geschichtlichen Wahrheitsereignissen die in Sein und Zeit konfligierenden Denkbilder zusammen, bezieht sie allerdings nicht auf die Unbestimmtheit der Zukunft, sondern denkt sie als im Vergangenheitsbezug zusammengehörig. Der Grund soll nicht mehr aus dem Entwurf als Vorlaufen in die Zukunft, sondern umgekehrt der Entwurf aus jenem Grund gedacht werden, der das Vergangene für das Dasein ist. Die Bewegung des geschichtlichen Daseins ist auf die Ruhe des Grundes angewiesen, auf den das Entwerfen rückbezogen ist. Der verborgene Grund, nicht die Unbestimmtheit der Zukunft, wird mit dem Perspektivwechsel auf das Entwerfen der Kunstwerke zur Chiffre des Unbekannten. Deshalb geht es mit dem Gedanken des Stiftens als anfangendem Gründen auch nicht darum, Vergangenes zu wiederholen, also jenes Zeitverhalten zu zeigen, dass Heidegger in Sein und Zeit als eigentliches Verhalten zur Vergangenheit bestimmt hatte. Durch das Entwerfen soll vielmehr überhaupt erst jener Grund eröffnet werden, den die Geschichte für Heidegger darstellt: Der „dichtende Entwurf der Wahrheit, der sich ins Werk stellt als Gestalt, wird auch nie ins Leere und Unbestimmte hinein vollzogen“ und also, so müsste man ergänzen, auch nicht in die Unbestimmtheit der Zukunft als leerer Projekionsfläche für das Entwerfen. Der Entwurf sei vielmehr die Eröffnung von Jenem, worein das Dasein als geschichtliches schon geworfen ist. Dies ist die Erde und für ein geschichtliches Volk seine Erde, der sich verschließende Grund, dem es aufruht mit all dem, was es, sich selbst noch verborgen, schon ist. [...] Deshalb muß alles dem Menschen Mitgegebene im Entwurf aus dem verschlossenen Grund heraufgeholt und eigens auf diesen gesetzt werden. So wird er als der tragende Grund erst gegründet.21
Das Entwerfen, der „dichtende Entwurf“, den Heidegger hier den Entwurf der Wahrheit, nicht den Entwurf des Daseins nennt, nimmt also den Grund in Anspruch, dringt in das Verborgene des Grundes ein, und dies meint hier einen geschichtlichen Rückbezug auf die Vergangenheit, die durch das Stiften von Kunst 21 Martin Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“, in: Holzwege, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1977 (= Gesamtausgabe. Bd. 5), S. 1-74, hier S. 63.
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neu erschlossen wird, ohne jedoch bloße Wiederholung zu sein. Die Ausrichtung des Entwerfens in der Zeit hat sich so gegenüber Sein und Zeit gewissermaßen umgekehrt. Es ist, mit den dortigen Begriffen gesagt, nicht mehr das Vorlaufen, welches das Entwerfen auszeichnet, sondern das Wiederholen. Das Entwerfen wird also nicht mehr als absolute und kreative Tätigkeit verstanden, es holt aber auch nicht nur vergangene Möglichkeiten einfach wieder, sondern lässt die Vergangenheit Grund sein für das Zuküftige. So wird jedoch die Vergangenheit nicht mehr durch das Entwerfen der Zukunft untergeordnet, sondern beide in der Simultaneität von Schenken, Gründen und Anfangen gleichgeordnet. Die verschiedenen Ekstasen sind nun als Hinsichten konzipiert, unter denen die geschichtliche Wirkung beschrieben werden kann, die Kunstwerke als geschichtliche Ereignisse im Hinblick auf Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart zugleich haben. Dadurch wird gegenüber dem Vorrang der Unbestimmtheit des Zukunftsvollzugs des Sichentwerfens das Vergangene rehabilitiert, das für das Dasein in seinem Grund verborgen ist.
Erklüftung Auch wenn dieser Begriff die Vergangenheit mitumfassen soll und gerade deshalb für Heidegger auch ontologisch relevant ist, hat es eine intuitive Plausibilität, wenn Heidegger die Erde als wesentlichen Bezugspunkt des Entwerfens identifiziert. Wer etwas entwirft, zeichnet auf einen Grund, denkt und stellt den Entwurf auf einen Grund. Heidegger übernimmt aus Sein und Zeit jedoch die Selbstbezüglichkeit des Entwerfens, die jetzt als Selbstbezüglichkeit des entworfenen/entwerfenden Grundes ist. Deshalb behauptet Heidegger, durch das Entwerfen werde der Entwurf mit dem Grund identisch, als Verschlossenheit und Erschlossenheit der Vergangenheit sollen sie zwei Aspekte desselben sein – aber diese begriffliche Erläuterung fügt sich nicht in eine Anschauung. Grund und Entwurf bleiben im Entwerfen inkongruent, und deshalb treten auch die Denkbilder durch die Beschreibung des Entwerfens immer wieder auseinander. In den Beiträgen zur Philosophie beginnt Heidegger diesen Widerstreit der Bilder zu erkennen, und Grund und Entwurf sind nur zwei der Denkbilder, die in diesem Text konkurrieren. Der elementare phänomenale Grund, den Heidegger Erde nennt, ist jetzt nicht durch den Entwurf erschlossen, sondern bleibt, wie es heißt, ein „Sichverschließen vor jedem Entwurf“.22 Der Gedanke ist aus dem Kunstwerkaufsatz bekannt: Ein Fels, der zerschlagen wird, wird nur wieder Stein, sofern er nicht in die gemachten Sinnbezüge einer Welt integriert wird – was, handelt es sich um einen Stein, in dessen Bruch- und Schnittflächen wir wie beim oben beschriebenen Marmor gleichsam Ruinen erkennen, sogar schon geschehen ist, bevor jede menschliche Gestaltung beginnt. Im Verborgenen wirkt so die Natur selbst
22 Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1989 (= Gesamtausgabe. Bd. 65), S. 482.
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gestaltend und sogar bildend.23 Diese Verschlossenheit gelte nun genauso für die Geschichte, die sich ohne Erinnerung dem Zugriff aus der Gegenwart und der Bestimmung der Geschichte in Richtung der Zukunft entzieht. Dass der Grund des geschichtlichen Daseins und das Entwerfen des Daseins identisch sein sollen, überträgt sich in Heideggers Beschreibung der Erde in jene phänomenologische Doppelrolle, die Heidegger der Erde zu geben versucht und die sich am Beispiel des Ruinenmarmors beschreiben lässt: Die Erde ist einerseits Gegenstand des Entwerfens und insoweit erschlossen, andererseits bleibt sie verborgener Grund, elementar ununterscheidbare Materialität. Der Marmor macht nun aber vor allem darauf aufmerksam, dass es eminent sinnhafte Prozesse gibt, die dem menschlichen Entwerfen ähneln, aber von keinem Menschen angestoßen wurden, dass es also ein Entwerfen gibt, das sich im Grund, in der Erde selbst abspielt. In eben diesem Sinn müsste man mit Heidegger erläutern, wie Goethe das Wort Erklüftung gebraucht. Heidegger könnte sich auf diese Überlegungen emphatisch beziehen und sogar soweit gehen zu behaupten, dass sich eben dieser Grundzug nicht nur in der natürlichen Entwicklung von Gesteinsmassen, sondern in der Geschichte selbst erkennen lasse. Nicht zuletzt die Semantik von bergen, die Heideggers Gebrauch etwa von verbergen und entbergen ermöglicht, ließe sich dafür anführen.24 Diese spielt in Heideggers Gebrauch von Erklüftung jedoch überraschenderweise keine Rolle, sondern die Doppelrolle der Erde als Grund und Entwurf des Entwerfens, wie sie im Ruinenmarmor paradigmatisch vor Augen tritt, ist es, die hilft, Heideggers Diskurs über Erklüftung anschaulicher verständlicher werden zu lassen. Das Wort fällt im fünften Teil der Beiträge, benannt Die Gründung, in einem Abschnitt mit dem Titel Vom Da-sein. Es ist die Stelle, an der sich in Heideggers Werk zuerst eine Struktur findet, die er das Geviert nennt, oder die dem später sogenannten Geviert zumindest sehr stark ähnelt. Der Abschnitt beabsichtigt, vom Dasein „gründend zu sagen“, was zugleich heiße, „geschichtlich in unserer und für unsere künftige Geschichte“ zu sprechen. Diese könne geschehen „im rechtverstandenen Entwurf“, der das Unzeitgemäße anklingen lasse, dass der Mensch immer schon „ausgebrochen ist ins Offene“. Die ekstatische Verfassung des Daseins wird hier also nicht als Vorlaufen in die Zukunft, sondern als simultane Offenheit gedacht, und, wie sich zeigen wird, als ein eminent räumliches Geschehen. Dieses Geschehen sei das Ereignis, das Welt und Erde, Menschen und Götter zugleich in Beziehung setze. Aus der Strukturzeichnung dieses Ereignisses mit seinen zentrifugalen Pfeilen, so Heidegger, sei „schon zu ersehen, welcher einheitlich gefügten Entwurfskraft es bedarf“ – der einheitlichen Entwurfskraft des Ereignisses (Abb. 5.2).25
23 Das hat Roger Caillois dazu veranlasst, von einer „Malerei“ der Natur zu sprechen. Vgl. Roger Callois, „Natura pictrix. Anmerkungen zur figurativen und nicht-figurativen ‚Malerei‘ in Natur und Kunst“, in: Bildtheorien aus Frankreich. Eine Anthologie, hg. v. Emmanuel Alloa, München 2011, S. 103-117. Zum Ruinenmarmor vgl. Roger Callois, L’écriture des pierres, Genf 1970, S. 25-50. 24 Vgl. etwa Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“, a.a.O., S. 27-35 und S. 47-51. 25 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, a.a.O., S. 310.
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Abb. 5.2 Martin Heidegger, Schema für die Beiträge zur Philosophie, Manuskript (Detail) aus dem Nachlass, Literaturarchiv Marbach
Zur Erläuterung dieser Entwurfskraft nun kommt Heidegger auf Erklüftung zu sprechen. Als „Geschehnis der Erklüftung“ nämlich könne im Dasein die „Er-eignung“ der vier Bereiche geschehen, die Heidegger identifiziert: Durch das Erklüften komme der „geschichtliche Mensch“ zu sich; die „Nahung und Fernung der Götter“ geschehe. Mit dem Namen sei ferner nichts anderes benannt als jene dynamische Räumlichkeit der „Nahung und Fernung“, die der „Ursprung des ZeitRaums“ und das „Reich des Streites“ von Welt und Erde sei.26 Erklüftung ist also – in erstaunlicher Ähnlichkeit mit Goethes Sprachgebrauch – jene Gestaltung eines Grundes, deren Entwurfskraft aus keinem Subjekt kommt, wenn sie sich letztlich auch im Dasein zeigt. Das Entwerfen dieses Grundes ist in diesem Grund selbst nicht nur angelegt und möglich, sondern vollzieht sich aus diesem heraus, ohne menschliche Manipulation, allerdings auch ohne sich dem menschlichen Blick zu öffnen. Die beiden anderen Stellen, an denen in den Beiträgen das Wort Erklüftung fällt, fügen sich diesem Bild. An der ersten wird die Rolle des Menschen im Entwurfsgeschehen bestimmt und mit der Daseinsanalytik verbunden. Die authentische „Selbstheit“, wie Heidegger sagt, ergibt sich aus dem Streit der Erklüftung, sofern die Bereitschaft bestehe, die Ereignishaftigkeit des Geschehens ‚auszustehen‘.27 Eigentliche Existenz ist demnach die Bereitschaft, sich durch das Erklüftungsgeschehen mitnehmen zu lassen. Allerdings wird dieses Geschehen nicht mehr durch die drei Ekstasen der Zeitlichkeit geordnet und gefiltert, und es kann daher auch nicht durch ein Vorlaufen in die Zukunft, die im eigenen Tod ihr Ende hat, geschlossen werden. Vielmehr sollen umgekehrt nicht nur die vier Dimensionen des Gevierts, sondern auch Zeit und Raum aus der Erklüftung als Ursprung von Zeiträumen gedacht werden. In einer „vorbereitenden Überlegung zum Zeit-Raum“ wird daher das Bild der zentrifugalen Bewegung aufgenommen und variiert. Der Zeit-Raum sei die „ereignete Erklüftung der Kehrungsbahnen des Ereignisses“. Die damit gemeinte zeit-räumliche Dynamik dürfe nicht „von den üblichen Zeit- und RaumVorstellungen her“ begriffen werden, also auch nicht von der Dreidimensionalität oder dreifachen Ekstatik der Zeit. Es gelte vielmehr, in „Nähe und Ferne, Leere und Schenkung, Schwung und Zögerung“ das „verhüllte Wesen des Zeit-Raumes“28 26 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, a.a.O., S. 311. 27 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, a.a.O., S. 321. 28 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, a.a.O., S. 372.
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zu sehen. Erklüftung bezeichnet also ein völlig unverstandenes Erschließen, das durch Ereignisse geschieht. Dies findet eine Parallele in Heideggers Gebrauch von Zerklüftung. Die Zerklüftung sei „die in sich bleibende Entfaltung der Innigkeit des Seyns“. Das zerklüftete Sein ist demnach offen und geschlossen, bleibt in sich und faltet sich aus. Mithilfe der „‚metaphysischen‘ Modalitäten“ lasse sich die Zerklüftung des Seins jedoch lediglich paradox denken, als die „höchste Wirklichkeit des höchsten Möglichen als des Möglichen und damit die erste Notwendigkeit“.29 Umgekehrt müssten sich deshalb aus diesem Geschehen heraus die ontologischen Modalitäten neu verstehen lassen. Während das Entwerfen im Verstehen das Mögliche als Mögliches erschließt, lässt sich das zerklüftete Sein nicht allein als Mögliches verstehen. Dem steht, in der Logik der Bilder gesprochen, der Grund als etwas dem Entwerfen radikal Äußeres entgegen, als verschlossene Erde. Gegenüber der Daseinsanalyse und dem Vorrang von Möglichkeit als letzter Bestimmung des Daseins ist dies eine radikale Rehabilitierung von Wirklichkeit und Notwendigkeit, die wiederum mit jenen Phänomenen in Verbindung gebracht wird, die Heidegger hier als das Insich-bleiben thematisiert und die in Sein und Zeit zuerst in das Bild des Grundes gefasst wurden. Als zerklüftetes ist Sein nicht mehr reines Möglichsein, sondern in sich bedingte – notwendige und wirkliche – Möglichkeitsbedingung von Existenz. An der zweiten Stelle, auf jener Seite der Beiträge, auf der das Wort Erklüftung viermal und in der längsten kursiv gestellten Passage des ganzen Bandes auftaucht, werden diese Überlegungen in einer der enigmatischsten Formulierungen Heideggers noch einmal verbunden. Es ist dies die erste von den nur sechs (mir bekannten) Vorkommnissen des Wortes im heideggerschen Werk: Dasein sei das „Geschehnis der Erklüftung der Wendungsmitte der Kehre des Ereignisses“.30 Diese Genitivkaskade interpretierend ließe sich sagen: Dasein geschieht – sich nicht in die Zukunft projizierend, sondern sich als den Grund erklüftend, der es selbst ist – inmitten des durch die vier Pole des Gevierts strukturierten Feldes und im allen konkreten Räumen vorausliegenden Zusammenspiel von Zeit und Raum, das Heidegger den Zeitraum nennt. Damit ist es der Resonanz von Ereignissen ausgesetzt, die nicht bloß Manipulationsmöglichkeiten des Menschen sind, sondern sich auf keinen der Pole reduzieren lassen. Dasein wird zum Geschehnis, jedoch nicht zur Aktualisierung eines Prinzips, sondern zur Wendung inmitten der verschiedenen Bestimmungen, die Heidegger gibt – Welt, Erde, Menschen, Götter, Zeit, Raum – und die je für sich nicht nur eine dunkle Geschichte haben, sondern deren Zusammenspiel sich dem Denken auch konstitutiv entzieht. Doch erst im freien Spiel dieser Ereignisse ergibt sich umgekehrt die eigene Phänomenalität von Menschen und Göttern, Welt und Erde, Zeit und Raum. Dasein heißt, in der „Wendungsmitte“ dieser Ereignisse zu sein. Nicht die Verbindung von Entwurf und Grund, sondern eher dieses hochkomplexe Geschehen, das ist Erklüftung.
29 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, a.a.O., S. 244. 30 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, a.a.O., S. 311.
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Lichtung, Ort und Leere Was Heidegger unter dem Titel Erklüftung zu denken versucht, ist also nicht bloß ein subjekt-dezentrierendes Entwurfsgeschehen, das wie das zeitlich gedachte Entwerfen als Bild für das Verstehen das Ganze jeden Daseins erfasst. Die Erklüftung ist keine bloß durch die Geworfenheit beschleunigte oder durch die Geschichte verlangsamte Zukunftserschließung. Durch die bereits in Sein und Zeit implizierte Verschmelzung von Grund und Entwurf kommt Heidegger vielmehr auf den Gedanken, die Zugänglichkeit des Seienden müsse sich nicht nur als ein dynamisches und emergentes Geschehen verstehen lassen, sondern auch als eines, das sich im Verborgenen abspielt – nicht in der Erde, sofern wir sie erschließen, sondern in der Erde, sofern sie uns verborgen ist. Wie die plötzliche Erschütterung des Gesteins dessen Erklüftungen hervorbringt, ohne dass es jemand bemerkt, so gestalten Ereignisse das Sein um, ohne dass wir es in jenem Moment bemerken könnten. Dies zu behaupten widerspricht aber der Grundintuition, dass eine Theorie der Offenheit und Zugänglichkeit des Seienden, eine transzendentale Theorie im weitesten Sinne also, dieses Transzendentale nicht nur behaupten oder mystifizieren, sondern auch exponieren muss. Mag sich das Entwerfen auf einen Grund beziehen – die Überlegung, dass das Entwerfen im Verborgenen geschieht, widerspricht dem Grundzug des Entwerfens, ein Umgang mit Offenheit zu sein, eine Erkundung und Vorgestaltung des Möglichen aus jenen Gegebenheiten, die zu Tage liegen und zugänglich und so, wenn auch nicht in Gänze, verständlich geworden sind. Das Erklüften, das Heidegger als Grundgeschehen im Sein behauptet, kann daher in jener Verschmelzung der Bilder von zeitlichem Entwurf und sich verbergendem Grund nicht anschaulich werden. Es mag so etwas geben, aber es ist nur im Widerstreit der Bilder zu denken, als eine Erweiterung des durch die beiden Bilder erfassten in das Unsichtbare und Verborgene hinein. Aber diese Imagination durch das Wechselspiel der Bilder reicht Heidegger nicht aus. Es ist ein phänomenologisches Ethos und der Wunsch, ein einheitliches Bild für das Denken des Daseins zu finden, die Heidegger zwingen, bereits auf der folgenden Seite der Beiträge ein weiteres Denkbild zur Bestimmung des Daseins ins Spiel zu bringen, das mit Erklüftung als der Verschmelzung der Bilder von Grund und Entwurf konkurriert, und diese letztlich verdrängt: Dasein ist Lichtung. Der Gedanke, dass das Dasein als Lichtung zu verstehen sei, schließt Phänomene des Entzugs und des Verborgenen nicht aus, sondern erlaubt diesen vielmehr, eine ganz eigene Präsenz zu gewinnen: „Abwesendes kann nicht als solches sein, es sei denn als anwesend im Freien der Lichtung“.31 Ebenso müsste man von den beiden Denkbildern des Entwurfs und des Grundes sagen, dass es einen offenen, dem bildlichen Denken zugänglichen Raum geben muss, in welchem sie sich aufeinander beziehen können.
31 Martin Heidegger, „Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens (1964)“, in: Zur Sache des Denkens, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 2007 (= Gesamtausgabe. Bd. 14), S. 67-90, hier S. 82.
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Das ist der Grundgedanke des späten Denkens Heideggers, das in den Beiträgen erst anhebt und mit dem In-sich-bleiben des sich-erklüftenden Grundes nicht zu denken ist. Das gewaltsame Zusammendenken von Grund und Entwurf wird nicht anschaulich, weder durch eine Logik der vorlaufenden Wiederholung in der Zeit noch durch einen gründenden Anfang der Geschichte. Gerade um – wie es an jener Stelle der Beiträge heißt – als „Gründung der Offenheit des Sichverbergens“ verständlich zu werden, müsse Dasein im Bezug zur Lichtung thematisiert werden. Dies heißt für Heidegger hier, außerhalb der Paradigmen von Grund und Entwurf, über Einbildung zu sprechen, und in der Tat scheint es genau die Logik der Einbildbarkeit, der Imagination als Fähigkeit des Denkens zu sein, die es eben verbietet, beide Denkbilder in eins zu fassen, aber die es dennoch erlaubt, sie als widerstreitende zu denken.32 Die Konkurrenz der auf das Selbe bezogenen Sprachbilder und der Vorrang, den Heidegger letztlich der Einbildung und der Lichtung zugesteht, werden überdeutlich, wenn es heißt, gerade als „entwerfend-geworfene Gründung“ müsse das Dasein als „höchste Wirklichkeit im Bereich der Einbildung“ bestimmt werden, und das wiederum heiße: als Lichtung. Einbildung meine hier kein „Vermögen der Seele, auch kein transzendentales“ im kantischen Sinne, sondern das „Geschehnis der Lichtung selbst“. Etwas in der Einbildung zu haben, heißt nicht, dass es einem als bloße Idee vor Augen steht, sondern dass es, so Heidegger, „zum Scheinen gebracht werde in die Lichtung, in das Da“.33 Eben dieses Scheinen erreicht das Erklüften, das im Verborgenen geschieht, nicht. Es bleibt spekulativ, als bloße Spiegelung zweier Bilder. Selbst wenn man also Heideggers Überlegungen zur Einheit von Entwurf und Grund im Erklüften mit Goethes Paradigma des Ruinenmarmors zu Hilfe kommt, ergibt sich dieselbe Konsequenz, nämlich dass Offenheit als Bestimmung des Ganzen der Existenz dem Gründen und Entwerfen gleichermaßen vorausgeht. Es ist zwar die erstaunliche Eigenschaft dieses Gesteins, dass es eine wie von Menschen entworfene Gestaltung besitzt, bevor eine Menschenhand es berührt, und dass es also eine nur ihm eigene Form spontaner, natürlicher Kreativität zu besitzen scheint. Doch dass dies so ist, tritt erst dann hervor, wenn der Stein im Wortsinn ans Licht kommt, und dies geschieht nicht dadurch, dass das Gestein sich erklüftet, sondern dadurch, dass es bricht oder zerschlagen und so zugänglich wird – in eine Lichtung kommt, wie Heidegger sagen würde, die gegenüber den Erklüftungen im Gestein anderen Ursprungs ist und die sie ermöglicht. Ein Bild für das Ganze des Erschlossenen zu denken, würde durch die Entwurfsmetapher – in Heideggers eigenem Verständnis des Entwerfens – auch dann nicht gelingen, wenn der Entwurf zugleich sich verbergender Grund wäre, wie dies bei den Erklüftungen der Fall ist. Das Entwerfen mag auf einen Grund bezogen sein, den es eröffnet und der sich vor dem Entwerfen verschließt. Aber es ist selbst weder dieser Grund noch jene ursprünglichere Offenheit der Lichtung, in der dies alles geschieht. Weder Grund 32 Zur Logik der Imagination vgl. John Sallis, Logic of Imagination. The Expanse of the Elemental, Bloomington 2012. 33 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, a.a.O., S. 312.
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noch Entwurf sind Bilder für das Ganze des Daseins. Vergegenwärtigt man sich den Eigensinn dieser Bilder, kann es kaum verwundern, dass sich das Bild der Lichtung für das durchsetzt, was Heidegger in ihm zu denken versucht. Dieses Ergebnis wird bestätigt durch zwei – sachlich miteinander verbundene – Stellen, an denen Heidegger das Bild der Lichtung als Bild für das Ganze der Erfahrbarkeit weiter ausarbeitet und mit dem Gedanken des Ortes und der Leere verbindet. Beides ist innerhalb der Logik der Erklüftung konstitutiv ausgeschlossen, und dennoch scheinen gerade diese Begriffe für das Vokabular einer Phänomenologie des Entwerfens wesentlich zu sein. Auch das Entwerfen selbst bekommt durch diese eine begrenztere, aber auch phänomenologisch wesentlich plausiblere Position, und es ließe sich dann im Anschluss an Heidegger, jedoch jenseits der Logik der Erklüftung, sagen, wie das Entwerfen in einer Lichtung auf einem Grund geschieht, mit dem es nicht identisch ist, nämlich als Schaffung von Orten und als Gestaltung der Leere. Die erste Stelle ist eine Anmerkung zum Ursprung des Kunstwerkes, die Heidegger nach 1960 geschrieben haben muss. Zu „Entwerfen“ merkt Heidegger an, entworfen werde „nicht die Lichtung als solche“. Als Grund wird ausgeführt: „denn in [der Lichtung] erst ist der Entwurf geortet“.34 Auch wenn das Entwerfen also Orte schafft, so schafft es diese nicht aus dem Nichts. Das käme jener hier ausdrücklich ausgeschlossenen Ermächtigung gleich, nach der auch das Ganze der Lichtung, das Ganze des Erschlossenen, des Möglichen, Wirklichen und Notwendigen durch den Entwurf kreiert würde, und es macht zugleich auf eine besondere Schwäche des Gedankens der Erklüftung aufmerksam: Es wird nicht klar, wie aus dem Erklüftungsgeschehen, das sich in der kompakten Solidität des Gesteins abspielt, Orte sich herausbilden können. Die These, dass die Erklüftung der Ursprung des Zeitraums, der Ursprung von Nähe und Ferne sei, bleibt deshalb eine Behauptung. All diese Phänomene gibt es im Grund nicht. Das doppelte Bild der Erklüftung geht deshalb wie selbstverständlich von einer Dichte und ursprünglichen Solidität des Raumes aus, die jedoch keineswegs selbstverständlich, sondern sehr unanschaulich ist. Wenn das Sein sich in Erklüftungen öffnete, wäre jede Offenheit und Leere ein Ergebnis räumlicher Dynamik, aber Offenheit und Leere wären selbst keine ursprünglichen Konstituenten dieser Dynamik. Das ist aber bereits dann anders, wenn Heidegger in einem perfektiven Sinn von der Zerklüftung des Seins spricht, die im Offenen der Lichtung zu Tage trete. Zerklüftung, so ließe sich pointieren, ist sichtbar, Erklüftung ist es nicht. Das stärkste Gegenbild zum Gedanken der Erklüftung stellt daher die Grundidee des Aufsatzes Die Kunst und der Raum (1969) dar, der Gedanke, dass die Leere – weil „mit dem Eigentümlichen des Ortes verschwistert“ – selbst ein „Hervorbringen“ sei. Die Leere wird demnach gerade nicht durch den Entwurf eines Grundes oder durch die Erklüftung erst geschaffen. Vielmehr wird sie vorgefunden und im Offenen der Lichtung als Kunst gestaltet. Das lässt sich übrigens schon an den Druckgraphiken klar machen, die Chillida für diesen Text geschaffen oder für welche Heideg34 Heidegger, „Vom Ursprung des Kunstwerkes“, a.a.O., S. 61, Anmerkung a.
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ger den Text geschrieben hat (Abb. 5.3). Die – mit dem Weiß des Papiers assoziierte – Leere wird darin durch die dunklen Abteilungen gerade nicht erst eröffnet, sondern lediglich geformt. Heidegger spricht hier – wesentlich bescheidener als in seinem sonstigen Gebrauch des Wortes – nicht mehr vom Dasein als Möglichsein, vom zeitlichen Ganzen des Verständlichen als einem Entwurf, sondern in seltener Bescheidenheit von den Kunstwerken der modernen Plastik, wenn es heißt, diese seien das „suchend-entwerfende Stiften von Orten“.35 Damit ist Heidegger beim Entwerfen von etwas angelangt, so wie wir entwerfen meist verstehen, und anstatt das Entwerfen als Projektion auf die unbestimmte Fläche der Zukunft zu denken, ist jetzt klar, dass es etwas gibt, das entworfen wird, nämlich Orte. Orte sind jene Ensembles konkreter Möglichkeiten, die durch das Entwerfen erfahrbar werden. Der Entwurf zeigt die Möglichkeiten an, die ein gestalteter Erfahrungsraum haben kann. Für die Möglichkeiten, das Entwerfen positiv zu verstehen, bedeutet dies, dass das Entwerfen zum einen auf Lichtung und Leere – als dessen Ermöglichung – bezogen sein muss, zum anderen aber auf dasjenige, das im Entwerfen erschlossen und hervorgebracht wird – nämlich die Orte der Erfahrung. Wesentlich eher als die Verschmelzung mit dem Grund im Gedanken der Erklüftung bieten sich zum Verständnis des Entwerfens daher Situationen an, die im Hellen, Offenen, in der Lichtung lokalisiert sind, wie die Handzeichnung, die Skiagraphie36 oder die Bildhauerei,37 an der sich Heideggers Überlegungen zu Chillida orientieren. Auf Heideggers Philosophie bezogen aber lässt sich auch und gerade am Bild des Entwerfens der Weg verfolgen, auf dem sich Heideggers Denken bewegt und auf dem der Gedanke der Erklüftung, der sich im phänomenologischen Gebrauch der Einbildungskraft nicht einlösen ließ, Heidegger nur ein kurzes Stück begleitet hat.
35 Martin Heidegger, „Die Kunst und der Raum“, in: Aus der Erfahrung des Denkens, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1983 (= Gesamtausgabe. Bd. 13), S. 203-210, hier S. 209. 36 Vgl. Jacques Derrida, Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbstporträt und andere Ruinen, hg. v. Michael Wetzel, übers. v. Andreas Knop und Michael Wetzel, München 1997, S. 9-127, bes. S. 22 und S. 54. 37 Vgl. Andrew J. Mitchell, Heidegger Among the Sculptors. Body, Space and the Art of Dwelling, Stanford 2010, S. 66-91.
RAINER TOTZKE
Das Seyn ‚mappen‘ Medienphilosophische Überlegungen zu einem Assoziagramm Martin Heideggers 1. „Der Denker gleicht sehr dem Zeichner, der alle Zusammenhänge nachzeichnen will“ heißt es in einer Notiz aus Wittgensteins Nachlass.1 „Philosophisch denken ist so viel wie in Modellen denken“ formuliert Adorno in der Negativen Dialektik.2 Und in seinen Thesen über die Sprache des Philosophen heißt es: „Es bleibt ihm [dem Philosophen] keine Hoffnung als die, die Worte so um die neue Wahrheit zu stellen, dass deren bloße Konfiguration die neue Wahrheit ergibt.“3 Schaut man sich bestimmte Manuskriptblätter aus Heideggers Nachlass an, so gewinnt man den Eindruck, dass es sich bei der von Wittgenstein vorgeschlagenen Analogisierung von philosophischem Denken und Zeichnen wie bei Adornos wort-konfigurativer Philosophiekonzeption um mehr als um bloße Analogien handeln könnte: In Heideggers Manuskripten findet sich eine durchaus vielfältige graphisch-schriftbildliche Entwurfspraxis des Arrangierens und Komponierens von Begriffswörtern auf dem Papier – über die Schreibfläche verteilt notierte Wörter, die zeichnerisch verbunden, durchkreuzt, gegenseitig abgesetzt und durchdrungen werden von beziehungsweise mit Strichen, Pfeilen und Verklammerungen, die gelegentlich auch farbig und expressiv sein können. Im Folgenden soll ein prominentes Beispiel aus Heideggers Manuskripten herausgegriffen werden, das paradigmatisch für dessen praktisch-entwerfendes schriftbildliches Denken steht, und vielleicht sogar paradigmatisch für eine zumeist vergessene Praxis von Philosophieren überhaupt: Es handelt sich um das in diesem Band abgebildete Schriftbildartefakt „Das Unwesen des Seyns“4 (Abb. 6.1 und Abb. 6.2) aus den Beiträgen zur Philosophie, das man unter Rückgriff auf das Voka1 Ludwig Wittgenstein, „Vermischte Bemerkungen“ (1931), in: Bemerkungen über die Farben. Über Gewißheit. Zettel. Vermischte Bemerkungen, hg. v. G. E. M. Anscombe und G. H. von Wright, Frankfurt am Main 1984 (= Werkausgabe. Bd. 8), S. 445-573, hier S. 466. 2 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, 7. Aufl., Frankfurt am Main 1992, S. 39. 3 Theodor W. Adorno, „Thesen über die Sprache der Philosophen“, in: Philosophische Frühschriften, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1990 (= Gesammelte Schriften. Bd. 1), S. 366-371, hier S. 369f. 4 Martin Heideggers Assoziagramm „Das Unwesen des Seyns“ – handschriftliches Manuskript. Das Original befindet sich im Literaturarchiv Marbach. Es handelt sich um Blatt 422 des handschriftlichen Manuskript-Konvolutes „Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)“ und wird hier mit freundlicher Genehmigung der Familie Heidegger und des Literaturarchivs Marbach in faksimilierter Fassung veröffentlicht. (Größe des Blattes: A5).
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bular der Kreativitäts- und Lernforschung auch als Assoziagramm bezeichnen kann.5 Anhand einer Auseinandersetzung mit diesem Assoziagramm soll herausgearbeitet werden, inwiefern Heideggers philosophisches Denken ein beständiges, sich auch und gerade im Medium des Schriftbildlich-Diagrammtischen realisierendes „Denken im Entwurf“ ist, ein Denken, das auch und gerade in seiner begriffskartographisch-assoziagrammatischen Praxis und durch diese hindurch eben nicht auf das Konzept eines abgeschlossenen Werkes, sondern auf permanenten Mitvollzug setzt. Heideggers Experimentieren mit sprachlichen beziehungsweise schriftsprachlichen und schriftbildlichen Darstellungsformen ist immer auch so zu deuten, dass dieser dadurch den permanenten Entwurfscharakter seiner Philosophie ausstellen möchte. An anderer Stelle habe ich bereits darauf hingewiesen, dass Heideggers eigentümliche Sprachformen und Begriffsschöpfungen sich wesentlich dem Medium Schrift verdanken und erst durch die intensive Nutzung von schriftbildlichen Möglichkeiten des Variierens von Wörtern auf der Schreibfläche entstehen.6 Mit der Analyse des Assoziagramms „Das Unwesen des Seyns“ wird nun die Aufmerksamkeit exemplarisch auf eines derjenigen schriftbildlichen Artefakte aus Heideggers Manuskripten (inklusive dessen veröffentlichte Version in der Gesamtausgabe) gerichtet, das am stärksten diagrammatisch strukturiert ist und bei dem die Verschränkung von Schrift und Bild am deutlichsten vor Augen liegt. Heideggers Assoziagramm „Das Unwesen des Seyns“ wird dabei einer „ikonischen Analyse“ und einer philosophischen Interpretation unterzogen, die es in den Kontext seiner Spätphilosophie stellt und die umgekehrt diese Spätphilosophie auch noch einmal auf eigene Weise zu erschließen versucht. Dabei werden – wie die Eingangszitate bereits nahelegten – bei der Interpretation zugleich zwei philosophische Zeitgenossen Heideggers herangezogen: Ludwig Wittgenstein und Theodor W. Adorno. Denn bei beiden finden sich an zentralen Stellen ihres Denkens diagrammatisch inspirierte Überlegungen zur angemessenen Form philosophischer Darstellung: zur „übersichtlichen Darstellung“ bei Wittgenstein einerseits und zur „Begriffskonfiguration“ bei Adorno andererseits. Diese Überlegungen lassen sich in fruchtbarer Weise auf Heideggers Assoziagramm „Das Unwesen des Seyns“ beziehen und bereichern dessen Interpretation, insbesondere weil die Überlegungen zur Übersichtlichkeit beziehungsweise zur Konfiguralität bei Wittgenstein und Adorno dazu dienen, den permanenten Entwurfscharakter des Denkens,7 dessen Performanz, dessen praktische Einbettung wie Vollzugsförmigkeit präsent zu halten. Die5 Assoziagramme sind schriftbildlich-diagrammatische Artefakte, bei denen Begriffswörter beziehungsweise Wortgruppen auf einer Fläche gegeneinander positioniert und miteinander über graphische Elemente wie Linien oder Einkapselungen verbunden sind. 6 Rainer Totzke, „‚Assoziagrammatik des Denkens‘. Zur Rolle nichttextueller Schriftspiele in philosophischen Manuskripten“, in: Schriftbildlichkeit. Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen, hg. v. Sybille Krämer, Eva Cancik-Kirschbaum und Rainer Totzke, Berlin 2012, S. 415-436. 7 Zum prinzipiellen Entwurfscharakter des Verstehens siehe auch die Überlegungen in: Sabine Ammon, Wissen verstehen. Perspektiven einer prozessualen Theorie der Erkenntnis, Weilerswist 2009, bes. S. 129-135.
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sen Zug, das philosophische Denken gegen eine falsche Idee des Definitiven zu verteidigen, teilen Adorno und Wittgenstein bekanntlich durchaus mit Heidegger. Der Versuch, Heideggers Assoziagramm „Das Unwesen des Seyns“ mit Adornos und Wittgensteins konfigurations- beziehungsweise übersichtslogischen Überlegungen lesbar zu machen, soll dabei im besten Falle nicht nur Heideggers Beiträge zur Philosophie, sondern auch Adornos und Wittgensteins eigene philosophische Konzeptionen neu zugänglich machen.8
2. Das Schriftbildartefakt „Das Unwesen des Seyns“ – Abbildung 2 zeigt ein Faksimile des Manuskriptblattes und Abbildung 1 die diplomatische Umschrift desselben in der Druckfassung der Gesamtausgabe9 – befindet sich in Heideggers Manuskript „Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)“. Dieses entstand in den 1930er Jahren, wird heute von einer Reihe von Interpreten als Heideggers „zweites Hauptwerk“ (neben Sein und Zeit) und als Dokument der sogenannten „Kehre“ in Heideggers Denken betrachtet. Das Manuskript wurde zu Heideggers Lebzeiten nicht veröffentlicht, von diesem lediglich zur postumen Veröffentlichung als Band 65 der Gesamtausgabe vorgesehen. Das Schriftbild-Artefakt findet sich dort als Abschnitt 65 auf Seite 130. Es ist in der Publikation allerdings nicht als Faksimile, sondern nur in der diplomatischen Umschrift abgebildet. Diese Umschrift ist nicht von Heidegger selbst vorgenommen oder autorisiert worden, sondern erfolgte erst im Zuge der Drucklegung. Sie wurde vom Herausgeber des Bandes 65 der Gesamtausgabe, Friedrich-Wilhelm von Herrman persönlich angefertigt.10
8 Der experimentelle Zug dieser synoptischen, die „Familienähnlichkeit“ betonenden Lektüre von Heidegger, Adorno und Wittgenstein ist unbestreitbar. Zugestanden ist, dass es zum Teil durchaus erhebliche Differenzen zwischen den Autoren gibt, die insbesondere von Adorno gegen Heidegger auch vehement artikuliert werden. Gerade in den oben beziehungsweise im Folgenden mehrfach zitierten Texten Adornos „Der Essay als Form“ (in: Noten zur Literatur, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1981, S. 9-33), „Über die Sprache des Philosophen“ sowie in der Negativen Dialektik polemisiert Adorno ausdrücklich gegen die Darstellungsweise Heideggers. Diese Polemik kann hier natürlich nicht im Einzelnen dargestellt und kritisch reflektiert werden; die Hoffnung wäre aber, dass man durch die hier vorgeschlagene synoptische, weniger die Differenzen als die Konvergenzen betonende Lektüre einen neuen Impuls auch für die Diskussion der tatsächlich bestehenden Unterschiede zwischen den Denkansätzen und Darstellungsweisen Heideggers, Adornos und Wittgensteins bekommt. 9 Martin Heidegger, Assoziagramm „Das Unwesen des Seyns“, in: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1989 (= Gesamtausgabe. Bd. 65), S. 130. 10 Diese Auskunft erhielt ich auf Anfrage bei Friedrich-Wilhelm von Herrmann persönlich. In dem – von Martin Heidegger nicht angefertigten aber gegengelesenen – Typoskript, das der Veröffentlichung der Beiträge zur Philosophie neben den Manuskriptblättern zugrunde lag, finden sich an der entsprechenden Stelle lediglich – unterschiedlich stark eingerückt auf der Schreibfläche verteilt, aber ohne die vielfältigen Verbindungslinien – die unterschiedlichen Begriffe des Schriftbildartefaktes.
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Was ist nun auf dem Manuskriptblatt mit der Überschrift „Das Unwesen des Seyns“ konkret zu sehen? Heidegger ‚mappt‘ hier die verschiedenen von ihm insbesondere im zweiten Kapitel seines Manuskriptes verwendeten zentralen Begriffe beziehungsweise Leitworte zu einer assoziativen Begriffskarte zusammen. Konkret zu sehen ist ein Arrangement von Wörtern und Wortgruppen, von denen die meisten durch Linien miteinander verbunden sind; einige sind eingekapselt, einige unterstrichen. Insbesondere zwei eingekapselte Wörter springen schon beim ersten Blick ins Auge: die Wörter „Seinsverlassenheit“ und „Verzauberung“, und zwar deshalb, weil diese Wörter rot markiert und zugleich miteinander verbunden sind. „Seinsverlassenheit“ ist rot eingekapselt, und auf das Wort „Verzauberung“ weist der vom Wort „Seinsverlassenheit“ herkommende große rot verstärkte Pfeil. Das Wort „Seinsverlassenheit“ ist darüber hinaus auch dadurch hervorgehoben, dass es an exponierter Stelle relativ zentral knapp über der Blattmitte steht, zum zweiten dadurch, dass eine Art Pfeil am linken Bildrand darauf hinzeigt und zuletzt dadurch, dass von ihm wie von einem semiotischen Kraftzentrum aus eine Reihe der markantesten Pfeile und Linien auf dem Blatt ausgehen. Manche der eingetragenen graphischen Verbindungslinien zwischen Wörtern sind gerichtete Pfeile/Vektoren. Einige Wörter beziehungsweise Wortgruppen sind listenartig untereinander notiert, andere sind ein- oder herausgerückt. Die Wörter „Machenschaft“ und „Erlebnis“ tauchen doppelt auf. In der diplomatischen Umschrift des Assoziagramms sind wichtige der soeben mit Blick auf das Faksimile beschriebenen Eigenschaften des Assoziagramms verloren gegangen, denn einiges ist bei der Transkription anders gelöst worden. Für den Betrachter ergibt sich so ein völlig anderer Gesamteindruck. Um zu einer angemessenen Deutung von Heideggers Assoziagramm „Das Unwesen des Seyns“ zu gelangen, schlage ich vor, zwei Fragen auseinanderzuhalten und nacheinander zu beantworten. Erstens: Was will das Assoziagramm – beziehungsweise was will Heidegger mit ihm – konkret zeigen beziehungsweise verdeutlichen? Zweitens: Warum zeigt das Assoziagramm das, was es zeigt? Anders formuliert: Warum wählt Heidegger den Modus des graphischen Zeigens und nicht den des Sagens?
3. Zur ersten Frage: Was will beziehungsweise worauf zielt Heidegger mit der diagrammatisch-kartographischen Darstellung des „Unwesen[s] des Seyns“? Heidegger möchte hier auf die verschiedenen leitenden Denkweisen über und Umgangsweisen mit Welt hinweisen (unter den Stichworten „Machenschaft“ und „Erlebnis“), die seiner Meinung nach im westlichen Kulturkreis praktiziert werden und die insgesamt so etwas wie einen ‚seinsgeschichtlichen Verblendungszusammenhang‘ bilden. (Ich amalgamiere Heideggers Begrifflichkeit an dieser Stelle einmal frei mit derjenigen Adornos.) Zentral für die Darstellung dieses Verblendungszusammenhangs ist für Heidegger das Titelwort „Seinsverlassenheit“, das er, wie oben be-
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schrieben, relativ zentral knapp oberhalb der Blattmitte positioniert und durch rote Einkapselung hervorhebt. Neben der „Verzauberung“ sind es insbesondere zwei weitere Titelwörter, die über Linien beziehungsweise Pfeile mit der „Seinsverlassenheit“ – und miteinander – direkt verbunden erscheinen: „Erlebnis“ und „Machenschaft“. Diese graphische Verbindung von „Seinsverlassenheit“, „Erlebnis“ und „Machenschaft“ findet sich auf dem Blatt sogar doppelt: sowohl im unteren als auch im oberen Teil des Blattes. „Machenschaft“ ist für Heidegger – dies wird in den umgebenden Textpassagen erläutert – der Zwang zur objektivierenden Erklärung, Berechnung, Kontrolle und Herstellung aller Phänomene. „Erlebnis“ wird von Heidegger komplementär zur „Machenschaft“ gedacht: als der aufkommende (‚erlebnisgesellschaftliche‘) Denkzwang, sich als Subjekt einer ‚objektiven Welt‘ gegenübergestellt zu sehen, einer ‚objektiven Welt‘, die in den Wissenschaften als solche „richtig“ beschrieben und erklärt ist.11 Dadurch bleibt dem so von der Welt abgetrennten und dieser gegenübergestellten Menschen nur noch die Möglichkeit, sich diese ihm gegenübergestellte ‚objektive Welt‘ rein ‚subjektiv‘, das heißt im Erleben (erlebnismäßig) anzueignen – so zumindest Heideggers Sicht. Deshalb führt der Pfeil im unteren Teil des Assoziagramms von der „Machenschaft“ zum „Erlebnis“. Das graphisch markanteste Phänomen innerhalb des Assoziagramms ist der rote Pfeil, der das Wort „Seinsverlassenheit“ mit dem ganz unten auf dem Blatt stehenden Leitwort „Verzauberung“ verbindet. Letzteres ist, das macht das textuelle Umfeld deutlich, negativ konnotiert: Es ist im Sinne von „Verhexung“,12 „Behexung“13 oder eben Verblendung gemeint. Die Positionierung, die graphische Hervorhebung und die Linienführung zwischen den vier Wörtern „Machenschaft“, „Ereignis“, „Seinsverlassenheit“ und „Verzauberung“ dominieren das Blatt. Es wird so auch graphisch der Eindruck eines kaum aufzulösenden, beziehungsweise kaum entrinnbaren Verirrungszusammenhangs erweckt. Allerdings notiert Heidegger relativ unscheinbar unterhalb der Mitte des Assoziagramms – und, wenn man die Lage auf dem gesamten Blatt betrachtet, als geometrisches Pendant zum zentralen Begriff „Seinsverlassenheit“ – untereinander folgende Wörter beziehungsweise Wortgruppen: „Anklang der Wesung des Seyns in der Seinsverlassenheit“
Hierbei ist die Wörterfolge „in der Seinsverlassenheit“ durch Unterstreichung graphisch hervorgehoben. Es ist nun gerade dieser „Anklang der Wesung des Seyns in der Seinsverlassenheit“, auf den man – so muss man Heidegger deuten – aufmerk11 Dass „Machenschaft“ und „Richtigkeit“ zusammengehören wird im oberen Teil des Assoziagramms dargestellt. 12 „Die Behexung durch die Technik und ihren sich ständig überholenden Fortschritt ist nur ein Zeichen dieser Verzauberung, der zufolge alles auf Berechnung, Nutzung, Züchtung, Handlichkeit und Regelung drängt. Sogar ,der Geschmack‘ wird jetzt Sache dieser Regelung, und Alles kommt auf ein ,gutes Niveau‘“ Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), a.a.O., S. 124. 13 Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), a.a.O., S. 124.
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sam werden sollte, weil die Wahrnehmung dieses „Anklangs“ den Ausweg aus dem seinsgeschichtlichen Verirrungszusammenhang zu bahnen vermag. Es ist bekanntlich markant für Heidegger, dass er den Ausweg aus dem, was er das „Unwesen des Seyns“ oder die „Seinsverlassenheit“ nennt, gerade nicht ‚vom Rande her‘ kommend, sondern als „Ereignis“ aus der Mitte dieses Unwesens selbst heraus sich ereignend denkt und gedacht haben will. Dabei ist das „Ereignis“ der zentrale antimetaphysische Begriff beziehungsweise das zentrale anti-metaphysische Leitwort des späten Heidegger: „Das Ereignis ist die sich selbst ermittelnde und vermittelnde Mitte, in die alle Wesung der Wahrheit des Seyns im voraus zurückgedacht werden muß.“14 Diese prinzipielle ‚Mittigkeit des Ereignisses‘ als in der Mitte des „Unwesen des Seyns“ liegende Möglichkeit wird im vorliegenden Assoziagramm – so könnte man etwas zugespitzt formulieren – auch graphisch exemplifiziert, auch wenn das Wort „Ereignis“ hier als solches gar nicht auftaucht. Dass das Ereignis als aus der Mitte heraus kommend zu denken (und auch so zu „zeichnen“) ist, wird deutlich, wenn man die ‚ikonische Analyse‘ noch auf eine andere, explizite graphisch-assoziagrammatische „Ereignis“-Darstellung von Heidegger ausweitet (Abb. 6.315) (vgl. Abb. 5.216). Mit Blick auf diese und ähnliche graphische Beispiele lässt sich vielleicht sogar die umgekehrte Behauptung aufstellen: Heideggers Das-Ereignis-aus-der-Mitteheraus-Denken ist graphisch-assoziagrammatisch (mit-)induziert. Das „Ereignis“ ist auch ein schriftbildlich-graphisches Ereignis!
4. Damit zur zweiten Frage: Warum zeigt Heidegger mit dem Assoziagramm „Das Unwesen des Seyns“ gerade, was es zeigt, warum ‚sagt‘ er es also nicht? Das heißt: Warum artikuliert er es nicht nur in der Form eines linear geschriebenen Textes? Ich möchte hier eine doppelte Antwort geben: Über die begriffskartographischdiagrammatische Darstellung, über das ‚Mappen‘ seiner Leitworte auf der Schreibfläche kommt Heidegger zum einen selber ins („Seins“-)Denken. Man könnte sagen: Heidegger nutzt das ikonische, ‚gestisch-zeigende‘ (schriftbildliche) Potential der Schrift zunächst heuristisch – zum Zweck der Selbstverständigung, wie ja 14 Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), a.a.O., S. 73. 15 Martin Heideggers Darstellung des „Gevierts“ in diplomatischer Umschrift; in der Mitte: „E“ – das Ereignis. (Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), a.a.O., S. 310). Vgl. aber auch das Assoziagramm „Das Seyn als Austrag“, in: Martin Heidegger, Die Geschichte des Seyns, hg. v. Peter Trawny, Frankfurt am Main 1998 (= Gesamtausgabe. Bd. 69), S. 27. 16 Martin Heideggers Darstellung des „Gevierts“ im Manuskript (Faksimile). Das Diagramm findet sich auf dem handschriftlichen Manuskriptblatt in der unteren rechten Ecke. Das Original befindet sich im Literaturarchiv Marbach. Es handelt sich um Blatt 742 des handschriftlichen Manuskript-Konvolutes Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) und wird hier mit freundlicher Genehmigung der Familie Heidegger und des Literaturarchivs Marbach in faksimilierter Fassung veröffentlicht.
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die Beiträge zur Philosophie insgesamt für Heidegger als Manuskript zunächst primär eine Selbstverständigungsfunktion hatten. Hier wäre an Wittgenstein zu erinnern, der auf einem seiner „Zettel“ notiert: „Ich mache einen Plan nicht nur, um mich Anderen verständlich zu machen, sondern auch, um selbst über die Sache klar zu werden. (D. h. Sprache ist nicht nur Mittel zur Mitteilung.)“17 Zum anderen aber macht Heidegger – indem er einige seiner Assoziagramme ausdrücklich zur (postumen) Veröffentlichung freigibt – diese Praxis des Sich-selbst-über-dieSache-klar-Werdens in gewissem Maße für den Leser sichtbar und mitvollziehbar. Mit Blick auf diese Seite seiner Schreibpraxis lässt sich sagen, dass der späte Heidegger assoziagrammatisch arbeitet: Die Art seiner Darstellung ist nicht nur sprachlich, sondern auch buchstäblich graphisch-assoziierend. Heideggers Texte leben bekanntlich vom Anklang, von den Konnotationen der Wörter. Mit dieser un-terminologischen Art des Verfassens von philosophischen Texten will Heidegger zeigen, dass Sprache eben unhintergehbar genau so arbeitet: konnotativ. Eben dieses Anklingende, Kon-notierende der Sprache wird nun gerade im Assoziagramm in schriftlichbildlicher Form buchstäblich vor Augen gestellt: Begriffe werden von Heidegger auf der Schreibfläche kon-notiert, das heißt in verschiedenen Arrangements zusammengestellt und durch Lineaturen verbunden, sodass eben in der sich ergebenden Gesamtgestalt sichtbar wird, in welchen vielfältigen Netzen oder Gefügen die jeweiligen Begriffe verortet sind und verstanden werden müssen. Heidegger zeigt in und mit diesem und anderen seiner Assoziagramme: Begriffe stehen immer in Konstellationen und Konfigurationen, Denken ist entsprechend immer Denken-in-Konfigurationen beziehungsweise sollte es sein. In seiner philosophischen Skepsis gegenüber der Praxis der bloß klassifikatorischen Begriffsdefinition, die sich vor allem in Verbaldefinitionen vollzieht, trifft sich Heidegger mit Walter Benjamin und Theodor W. Adorno: „Wo sie [die Sprache] wesentlich als Sprache auftritt, zur Darstellung wird, definiert sie nicht ihre Begriffe“, heißt es bei Adorno in der Negativen Dialektik.18 Benjamin hatte bereits im Trauerspiel-Buch die Idee der „Konfiguration“ und „Konstellation“ von Begriffen ins Spiel gebracht und sie dann im Passagen-Werk mit der Rede vom „dialektischen Bild“ verknüpft.19 Adorno greift diese Idee in der Negativen Dialektik auf und schreibt: „Konstellatio17 Ludwig Wittgenstein, „Zettel“ (Nr. 329), in: Bemerkungen über die Farben. Über Gewißheit. Zettel. Vermischte Bemerkungen, hg. v. G. E. M. Anscombe und G. H. von Wright, Frankfurt am Main 1984 (= Werkausgabe. Bd. 8), S. 259-443, hier S. 349. Dass die Produktion von externen, insbesondere auch diagrammatischen Repräsentationen und Modellen nicht nur der Kommunikation mit Anderen, sondern auch dem Produzenten selbst zur Problemdarstellung und -lösung dienen kann, zeigen aus lernpsychologischer Sicht auch Wolfgang Schnotz, Christiane Baadte, Andreas Müller und Renate Rasch in ihrem Aufsatz „Kreatives Denken und Problemlösen mit bildlichen und beschreibenden Repräsentationen“, in: Bilder – Sehen – Denken, hg. v. Klaus Sachs-Hombach und Rainer Totzke, Köln 2011, S. 204-252. 18 Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., S. 164. 19 Walter Benjamin, „Ursprung des deutschen Trauerspiels. Erkenntniskritische Vorrede“, in: ders., Allegorien kultureller Erfahrung, Leipzig 1984, S. 92-123, hier S. 99f.; Walter Benjamin, „Passagen-Werk, Erkenntnistheoretisches. Theorie des Fortschritts“, in: ders., Allegorien kultureller Erfahrung, Leipzig 1984, S. 144-156, hier S. 147.
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nen allein repräsentieren, von außen, was der Begriff im Innern weggeschnitten hat, das Mehr, das er sein will so sehr, wie er es nicht sein kann. Indem die Begriffe um die zu erkennende Sache sich versammeln, bestimmen sie potentiell deren Inneres, erreichen denkend, was Denken notwendig aus sich ausmerzte.“20 Und in der bereits eingangs anzitierten Stelle aus Adornos „Thesen über die Sprache des Philosophen“ heißt es: Dem Philosophen bleibe „keine Hoffnung als die, die Worte so um die neue Wahrheit zu stellen, dass deren bloße Konfiguration die neue Wahrheit ergibt. Dies Verfahren ist nicht zu identifizieren mit der Absicht, neue Wahrheit durch herkömmliche Worte zu ‚erklären‘; die konfigurative Sprache wird vielmehr das explizite Verfahren, das die ungebrochene Dignität von Worten voraussetzt, durchaus zu meiden haben.“21 Freilich bezieht Adorno seine Reflexionen zur „konfigurativen Sprache“ der Philosophie selber nicht ausdrücklich auf eigene oder fremde diagrammatische Schriftbildartefakte beziehungsweise Assoziagramme. Vielmehr ist es vor allem der philosophische Essay, den er unter Verweis auf dessen nicht-terminologische, sondern konfigurative Verwendung von Begriffen als die einer zeitgemäßen negativ-dialektischen Philosophie angemessenen Darstellungsform ins Recht setzen möchte.22 Bei Adornos konfigurations-philosophischem Ideengeber Walter Benjamin finden sich viel eher Reflexionen, die auch die materialen diagrammatisch-konfigurativen Aspekte der eigenen schriftlich-schriftbildlichen Archivierungs-, Sortier- und Arrangierprozesse thematisch mit einbeziehen.23 Gleichwohl wird Adornos konfigurative Erkenntnis-Utopie mit Blick auf diagrammatische philosophische Schriftpraktiken auf frappante Weise anschaulich: „Die Utopie der Erkenntnis wäre, das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen.“24 20 Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., S. 164f. 21 Adorno, „Thesen über die Sprache der Philosophen“, a.a.O., S. 369f. 22 „Seine Übergänge [die Übergänge des Essay] desavouieren die bündige Ableitung zugunsten von Querverbindungen der Elemente, für welche die diskursive Logik keinen Raum hat.“ „Er [der Essay] ist nicht unlogisch, gehorcht selber logischen Kriterien insofern, als die Gesamtheit seiner Sätze sich stimmig zusammenfügen muß.“ (Beide: Adorno, „Der Essay als Form“, a.a.O., S. 31). „Ist der Essay im Vergleich zu den Formen, in denen ein fertiger Inhalt dargestellt wird, vermöge der Spannung zwischen Darstellung und Dargestelltem, dynamischer als das traditionelle Denken, so ist er zugleich als konstruiertes Nebeneinander, statischer. Darin allein beruht seine Affinität zum Bild, nur daß seine Statik selber eine von gewissermaßen stillgestellten Spannungsverhältnissen ist.“ (Adorno, „Der Essay als Form“, a.a.O., S. 32) Zu Adornos konstellativem Denken und dessen entsprechenden Darstellungsformen siehe auch: Andreas Lehr, Kleine Formen: Adornos Kombinationen: Konstellation/Konfiguration, Montage und Essay (http://www.freidok.uni-freiburg. de/volltexte/27/ Zuletzt aufgerufen: 10.9.2012). 23 Vgl. hierzu: Walter Benjamins Archive. Bilder, Texte, Zeichen, hg. v. Walter Benjamin Archiv, Frankfurt am Main 2006, S. 188. 24 Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., S. 21. Auch Adornos wiederholte dunkle Rede vom „Verblendungszusammenhang“ wäre möglicherweise fruchtbar experimentell-diagrammatisch darstellbar. Heidegger hat seinen zentralen ‚Verirrungszusammenhang‘ – das „Unwesen des Seyns“ eben in so eine diagrammatisch-anschauliche Entwurfsform überführt. Die Frage, ob es auch in den Manuskripten Adornos (ähnlich wie bei Benjamin oder Heidegger) diagrammatische Darstellungen, Assoziagramme oder Begriffslandkarten gibt und welche Rolle sie in Adornos Schreibprozess spielen, scheint mir ein Forschungsdesiderat. Dass sich Adorno partiell durchaus darüber bewusst
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Durchaus ähnlich „konfigurations-logisch“ gelagert scheinen Wittgensteins Überlegungen zur „übersichtlichen Darstellung“, wie sie sich in den Philosophischen Untersuchungen finden: Es ist eine Hauptquelle unseres Unverständnisses, daß wir den Gebrauch unserer Wörter nicht übersehen. – Unserer Grammatik fehlt es an Übersichtlichkeit. – Die übersichtliche Darstellung vermittelt das Verständnis, welches eben darin besteht, daß wir die ‚Zusammenhänge sehen‘. Daher die Wichtigkeit des Findens und des Erfindens von Zwischengliedern.25
Heiner Wilharm bringt Wittgensteins Konzept der „übersichtlichen Darstellung“ sogar ausdrücklich in Verbindung mit der Verwendung diagrammatischer Darstellungsformen: „Wir behaupten nicht, […] [diagrammatische Darstellungen] seien der einzige Repräsentationstyp in dessen Rahmen übersichtliche Darstellungen gegeben werden könnten. Allerdings bedarf es zur Herstellung der Übersichtlichkeit in unserer gewöhnlichen Sprache und in unseren ‚normalen‘ Texten bestimmter Anstrengungen, die auf nichts anderes als auf Veranschaulichung zielen.“26 Alois Pichler verweist auf Wittgensteins polyphonen, fragment- und albumhaften Darstellungsstil in den Philosophischen Untersuchungen – ein Stil, der den Leser durch eine permanente Befremdung anregen soll, die Zusammenhänge selbst sehen zu lernen.27 „Wittgensteins Nachlass – so kann man vereinfacht sagen – besteht aus nichts anderem als einer relativ kleinen Gruppe von Bemerkungen, die immer ‚wiederholt‘ und dabei variiert werden.“28 Für Pichler machen Wittgensteins polyphone Texte gerade das Prozesshafte der philosophischen Denktätigkeit deutlich. Sie fordern in viel stärkerem Maße den Mitvollzug durch den Leser, das heißt dessen denkende Interaktion heraus. Es gibt gute Gründe dafür, die Performanz des Denkens im Schreiben nachvollziehbar zu machen beziehungsweise aufrecht zu erhalten. Mit der Form seiner Darstellung wollte Wittgenstein an den Leser appellieren, selbst zu denken, die einzelnen „Puzzlestücke“,29 das heißt die einzelnen Sätze beziehungsweise Paragraphen der Philosophischen Untersuchungen selbst zu arrangieren und umzuarrangieren, selbst zu variieren, selbst neue Zwischenglieder zu (er-)finden, kurz: selbst den „synoptic view“ einzuüben.
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war, welche philosophisch relevante Rolle schriftbildliche Aspekte der Textdarstellung spielen, zeigen seine Überlegungen zum Satzzeichen. (Theodor W. Adorno, „Satzzeichen“, in: ders., Noten zur Literatur, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1981, S. 106-113). Ludwig Wittgenstein, „Philosophische Untersuchungen“, in: ders., Tractatus logico-philosophicus. Philosophische Untersuchungen, Leipzig 1990, § 122. Heiner Wilharm, „Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte“, in: Diagrammatik und Philosophie, hg. v. Petra Gehring u.a., Amsterdam/Atlanta 1992, S. 121-159, hier S. 148. Alois Pichler, Wittgensteins Philosophische Untersuchungen. Vom Buch zum Album, Amsterdam/ New York 2004, S. 12. Pichler, Wittgensteins Philosophische Untersuchungen. Vom Buch zum Album, a.a.O., S. 228. Es handelt sich um die Puzzlestücke eines „Puzzles ohne Vorlage“, wie es Hanspeter Ortner in Bezug auf Wittgensteins Schreibstil formuliert (Hanspeter Ortner, „Wittgenstein als Schreibstratege“, http://wab.aksis.uib.no/wab_contrib-ohp.page; Stand: 10.1.2011).
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Wittgenstein hat zudem auf die Ereignishaftigkeit des – gerade auch visuellen – Einsicht-Gewinns, auf das Phänomen des Plötzlich-die-Zusammenhänge-SehenKönnens hingewiesen.30 Auch Benjamin und Adorno betonen bekanntlich das Ereignishafte beziehungsweise „Blitzhafte“ der Wahrnehmung von Konstellationen beziehungsweise Konfigurationen. Dieses „Blitzhafte“ lässt sich ebenfalls gerade anhand der Praxis des Kreierens und Rezipierens von schriftbildlichen Artefakten wie Assoziagrammen verständlich machen, denn man kann in diesen manchmal plötzlich – ‚blitzhaft‘ – Zusammenhänge erblicken, die man vorher nicht gesehen hat. Walter Benjamin konstatiert im Passagen-Werk: „In den Gebieten, mit denen wir es zu tun haben, gibt es Erkenntnis nur blitzhaft. Der Text ist der langnachrollende Donner.“31 Auch bei Adorno wird – sogar mit explizitem Bezug auf den Schrift-Begriff – die Momenthaftigkeit philosophischer Erkenntnis betont. Am Ende der Negativen Dialektik heißt es: Metaphysik ist, dem eigenen Begriff nach, möglich nicht als deduktiver Zusammenhang von Urteilen über Seiendes. Genauso wenig kann sie nach dem Muster eines absolut Verschiedenen gedacht werden, das furchtbar des Denkens spottete. Danach wäre sie allein möglich als lesbare Konstellation von Seiendem. Von diesem empfänge sie den Stoff, ohne den sie nicht wäre, verklärte aber nicht das Dasein ihrer Elemente, sondern brächte sie zu einer Konfiguration, in der die Elemente zur Schrift zusammentreten.32
Auch hier gibt es Parallelen zu Heidegger: Dessen „Ereignis“-Begriff trägt ebenfalls Züge des blitzhaften Offenbarwerdens.33 Heidegger spricht vom „Ereignis“ als „Eräugnis“ – mithin einem Phänomen der Sicht, des Sehens – und vom „Augen-Blick“ als „im Blicken zu sich rufen“.34 Ins Schriftbildliche gewendet lässt sich vielleicht sagen: Heideggers Assoziagramm „Das Unwesen des Seyns“ versucht, den Leser beziehungsweise den Betrachter gerade auch durch den beinahe unmittelbar zeichnerischen Gestus der Darstellung augenblickhaft/ereignishaft im Mitvollzug aus der gewohnten theoretischen Perspektive heraus und in eine neue Perspektive hinein zu reißen. Wenn man mit Bezug auf das Assoziagramm von „visueller Evidenzerzeugung“ sprechen will, so besteht diese hier aber eben nicht in der Erzeugung von so etwas wie ‚unmittelbarem Verstehen‘.35 Was durch die Darstellung vielmehr 30 Zur Rolle des visuellen Argumentierens mittels Handzeichnungen bei Wittgenstein siehe: Ulrich Richtmeyer, „Ist Nachzeichnen ein Regelfolgen?“, in: Rheinsprung 11. Zeitschrift für Bildkritik 3 (2011), S. 110-126 (http://rheinsprung11.unibas.ch/archiv/ausgabe-03/thema/ist-nachzeichnenein-regelfolgen.html). 31 Benjamin, „Passagen-Werk, Erkenntnistheoretisches. Theorie des Fortschritts“, a.a.O., S. 144. 32 Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., S. 399. 33 „Wie, wenn das Ereignis – niemand weiß, wann und wie – zum Ein-Blick würde, dessen lichtender Blick in das fährt, was ist und für das Seiende gehalten wird.“ (Martin Heidegger, Unterwegs zur Sprache, 10. Aufl., Stuttgart 1993, S. 264). 34 Vgl. Martin Heidegger, Der Satz von der Identität, Tübingen 1964, S. 24. 35 Auf die Ereignishaftigkeit visueller Evidenz machen Martina Heßler und Dieter Mersch in der Einleitung zu dem von ihnen herausgegebenen Buch aufmerksam. Martina Heßler/Dieter Mersch, „Einleitung“, in: Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen Vernunft, hg. v. Martina Heßler und Dieter Mersch, Bielefeld 2009, S. 8-62, hier S. 29.
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induziert wird, ist zunächst eher eine jähe und tiefe Befremdung und Irritation, die freilich zur weiteren produktiven Auseinandersetzung herausfordert. Um es in Heideggers Sprache auszudrücken: Das Assoziagramm soll den Blick freiwerden lassen für das irritierende „Seyns-Unwesen“ und indem es das tut, „ereignet“ beziehungsweise „eräugnet“ es sich. Was hier fokussiert wird, ist die transformative Dimension des Assoziagramms. Das Manuskript „Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)“ wäre als Text dann, so ließe sich noch einmal mit Bezug auf Benjamin weitergehend formulieren, der prozessierende „langnachrollende Donner“ des schriftbildlichen Assoziagramm-Ereignisses.
5. Die „graphischen Praxis“36 Heideggers reicht weit über das Schriftbildliche hinaus und umfasst zum Beispiel auch schriftlose schematische Tafelzeichnungen, die oft auch in situative philosophische Lehr- und Diskussionszusammenhänge eingebunden wurden. Erinnert sei hier exemplarisch an die bekannte zeichnerische Darstellung, die Martin Heidegger zu Beginn der Zollikoner Seminare entwarf, um den Teilnehmern des Seminars die Offenheit des menschlichen Existierens anschaulich zu verdeutlichen.37 Für eine philosophisch angemessene Reflexion der heideggerschen graphischen Praxis im Allgemeinen, wie auch für die Reflexion des Assoziagramms „Das Unwesen des Seyns“ im Speziellen scheint mir an dieser Stelle ein Brückenschlag zu Heideggers theoretischer Auseinandersetzung mit dem Werk Paul Klees interessant und fruchtbar.38 Dies soll hier kurz skizziert werden. Heideggers – aufgrund einer Verfügung des Autors bisher unveröffentlichte – „Klee-Notizen“ wurden der Öffentlichkeit in einigen Auszügen und zusammenfassenden Kommentaren durch Günter Seubold zugänglich gemacht.39 Auch andere 36 Ich übernehme den Begriff „graphische Praxis“ von Benjamin Meyer-Krahmer, der sich mit diesem Begriff einen Zugang zu den unendlich vielen und vielfältigen bildlichen, diagrammatischen und schriftbildlichen Artefakten in den Manuskripten von Charles Sanders Peirce gebahnt hat. (Benjamin Meyer-Krahmer, „My brain is localized in my inkstand. Zur graphischen Praxis von Charles Sanders Peirce“, in: Schriftbildlichkeit. Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen, hg. v. Sybille Krämer, Eva Cancik-Kirschbaum und Rainer Totzke, Berlin 2012, S. 401-414). 37 Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, hg. v. Medard Boss, Frankfurt am Main 1987, S. 3. 38 Mein Dank gilt Toni Hildebrandt, der mich im Zuge der Ausarbeitung dieses Aufsatzes auf diesen Zusammenhang aufmerksam gemacht und zu den folgenden Überlegungen inspiriert hat. Vgl. zudem: Toni Hildebrandt, „‚Bildnerisches Denken‘. Martin Heidegger und die bildende Kunst“, in: Heideggers Ursprung des Kunstwerks. Ein kooperativer Kommentar, hg. v. David Espinet und Tobias Keiling, Frankfurt am Main 2011, S. 210-225. 39 Günter Seubold, „Heideggers nachgelassene Klee-Notizen“, in: Heidegger Studies 9 (1993), S. 5-12. Seubold hat diese Auseinandersetzung mit den Klee-Notizen dann ausgebaut und integriert in seine systematischen Interpretationen von Heideggers später Kunstphilosophie. (Günter Seubold, Kunst als Enteignis. Heideggers Weg zu einer nicht mehr metaphysischen Kunst, Bonn 1996, S. 119-135; Günter Seubold, Das Ende der Kunst und der Paradigmenwechsel in der Ästhetik, Freiburg/München 1997, S. 224-264).
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Autoren haben darauf verwiesen, dass der späte Heidegger Paul Klees bildnerisches Werk sehr schätzte und sich zudem mit dessen kunsttheoretischen Reflexionen auseinandersetzte.40 Schon im Kunstwerk-Aufsatz hatte Heidegger artikuliert, dass die Kunst in ihrer welteröffnenden, sinnstiftenden Funktion bedroht ist durch die Rahmenbedingungen der Gegenwart: durch die lebensweltliche Dominanz einer machenschaftlichen Praxis, einer technisch-verwissenschaftlichen Weltsicht wie durch die erlebnisgesellschaftliche Kunstrezeption qua Musealisierung der Kunstwerke und deren Einbindung in kapitalistische Verwertungszusammenhänge.41 Hatte Heidegger diesen Bedrohungen gegenüber im Kunstwerk-Aufsatz noch positiv den Werkcharakter der Kunst herauszuarbeiten und gegen die ‚Ver-ding-lichung‘ von Kunst zu bestimmen versucht, so wird dem späteren Heidegger der „Klee-Notizen“ auch die Fixierung auf das Werkhafte in der Kunst problematisch: „Reicht der Hinblick auf den Werkcharakter aus?“ und: „Können noch Werke sein? Oder ist die Kunst zu anderem be-stimmt?“42 In ihrer Orientierung und Fixierung auf „Werke“ beziehungsweise auf „Bilder“ stellt Heidegger die Kunst jetzt selbst unter Metaphysikverdacht: „‚Kunst‘ als solche metaphysischen Wesens“ heißt es verknappt in den „KleeNotizen“.43 Wie Heidegger auch in und mit seinem Ereignis-Denken selbst den Schritt weg von philosophischen Werken hin zu philosophischen „Wegen“ vollzieht,44 um sich dem metaphysischen Zwang zum Definitiven zu entziehen, so fokussiert Heidegger auch in der bildenden Kunst solche Kunst-Ereignisse, die in sich selbst das Werkhaft-Hervorgebrachte beziehungsweise Sichtbare eher zurückdrängen und die Wahrnehmung auf den Prozess des Hervorbringens selbst, den Weg des Erscheinen-Lassens (von Welt) richten. Dies scheint für Heidegger in Paul Klees Arbeiten gelungen – wie im Übrigen auch in vielen Werken der ostasiatischen Kunst.45 Seubold referiert dazu aus Heideggers Notizen: „‚Nichts Anwesendes‘, ‚kein Gegenstand‘ sei bei Klee dargestellt, ja die Kleeschen Werke seien überhaupt ‚nicht mehr bloß eidos‘, seien ‚nicht Bilder, sondern Zustände‘.“46 Seubold erläutert weiter, dass sich für Heidegger in Klees Arbeiten auch ein essentieller Wandel des Verhältnisses von „Werk“ und „Betrachter“ andeutet. Werk und Be40 Otto Pöggeler, Über die Moderne Kunst. Heidegger und Klees Jenaer Rede von 1924, Erlangen/Jena 1995. 41 Martin Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“, in: Holzwege, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1980 (= Gesamtausgabe. Bd. 5), S. 1-74, hier S. 25, S. 65-67. 42 Seubold, „Heideggers nachgelassene Klee-Notizen“, a.a.O., S. 10. 43 Seubold, „Heideggers nachgelassene Klee-Notizen“, a.a.O., S. 10. Darüber hinaus wählt Heidegger analog zum durchgestrichenen Sein in den „Klee-Notizen“ auch für den Begriff „Kunst“ eine Schreibweise, die er schon für das Sein erprobt hat: die Schreibung bei gleichzeitiger kreuzweiser Durchstreichung des Begriffs. 44 Siehe den Titel von Heideggers Aufsatzsammlung: Holzwege. 45 Seubold referiert Heideggers „Klee-Notizen“ zur Frage nach der ostasiatischen Kunst wie folgt: „Ebenso [wie Klee] spricht Heidegger der ‚ostasiatischen Kunst‘ diese Sonderstellung zu; geht es in ihr – Heidegger notiert ‚Zen‘ und ‚Nichts‘ – doch nicht um ‚Darstellung‘ von Seiendem, sondern um die Hinführung des Menschen zum einräumenden Nichts.“ (Seubold, „Heideggers nachgelassene Klee-Notizen“, a.a.O., S. 11). 46 Seubold, „Heideggers nachgelassene Klee-Notizen“, a.a.O., S. 11.
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trachter blickten sich gegenseitig an.47 Für Heidegger scheint es dabei offenbar Aufgabe des Betrachters zu sein, den „gemäßen Anblick“ des Werkes zu finden.48 Toni Hildebrandt hat mit Blick auf den Kunstwerk-Aufsatz betont, dass Heidegger bereits dort den Ursprung des Kunstwerks als ein „temporales Entwurfsgeschehen“ bestimmt hat – ein Entwurfsgeschehen, in dem sich Kunst zeige –, und er spricht in diesem Zusammenhang vom Vollzugscharakter der ästhetischen Präsentation, der nur im Horizont der Zeit erfahrbar sei.49 Diese heideggersche Perspektive parallelisiert Hildebrandt mit Klees kunsttheoretischen Ansichten. In der „Schöpferische Konfession“ bei Klee heißt es etwa: Wenn ein Punkt Bewegung und Linie wird, so erfordert das Zeit. Ebenso, wenn sich eine Linie zur Fläche verschiebt. Desgleichen die Bewegung von Flächen zu Räumen. Entsteht vielleicht ein Bildwerk auf einmal? Nein, es wird Stück für Stück aufgebaut, nicht anders als ein Haus. Und der Beschauer, wird er auf einmal fertig mit dem Werk? (Leider oft ja.)50
Beide Aspekte – die Temporalisierung der ästhetischen Bilderfahrung und die aktive, das Kunstwerk mitkonstituierende Rolle des Betrachters – lassen sich nun als Interpretationszugänge in interessanter Weise auch auf das Assoziagramm „Das Unwesen des Seyns“ zurückbeziehen: Heideggers Schriftbildartefakt selbst lebt ja durchaus auch – wenn wir uns das Manuskriptblatt noch einmal vor Augen führen – von der temporalen Dynamik von Punkt, Linie und Fläche. Das temporal-gestische Moment erscheint etwa besonders stark im Mitvollzug der (roten) Pfeilbewegung nach unten. (In der diplomatischen Umschrift geht dieser temporalisierende Gestus freilich verloren.) Auch das Assoziagramm „Das Unwesen des Seyns“ bedarf des sinneröffnenden Mitvollzugs durch den Rezipienten, der den „gemäßen Anblick“ finden muss. Hier erhellt sich noch einmal die Rede von der transformativen Dimension des Assoziagramms. Mit diesem Blick auf das Assoziagramm und Heideggers allgemeine graphische Praxis wird deutlich, dass Philosophie und (bildende) Kunst eine viel nachbarschaftlichere Beziehung haben als gemeinhin zumeist gesehen wird, und dass auch die Praxis des Zeichnens (etwa von diagrammatischen Artefakten), die von Philosophen ausgeführt wird, in gewisser Weise zum genuinen Bereich des Philosophierens selbst gehört. Mit Bezug auf die graphische Praxis von Wittgenstein haben dies im Übrigen auch bereits schon Autoren wie Kristóf Nyíri und Ulrich Richtmeyer betont.51
47 Heidegger wählt hier zur Veranschaulichung unter anderem folgende diagrammatische Darstellung: → | ← . Auch diese wird von Günter Seubold in seiner Zusammenfassung der „Klee-Notizen“ wiedergegeben. (Seubold, „Heideggers nachgelassene Klee-Notizen“, a.a.O., S. 11). 48 Seubold, „Heideggers nachgelassene Klee-Notizen“, a.a.O., S. 11. 49 Hildebrandt, „‚Bildnerisches Denken‘. Martin Heidegger und die bildende Kunst“, a.a.O., S. 213. 50 Paul Klee, „Schöpferische Konfession“, in ders., Kunst-Lehre. Aufsätze, Vorträg, Rezensionen und Beiträge zur künstlerischen Formlehre, hg. v. Günther Regel, Leipzig 1987, S. 60-66, hier S. 62f. 51 Kristóf Nyíri, „Wittgensteins Philosophie der Bilder“, in: ders., Vernetztes Wissen. Philosophie im Zeitalter des Internet, Wien 2004, S. 107-129. Ulrich Richtmeyer spricht vom „Medium der
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6. In der skizzierten philosophisch-assoziagrammatischen Perspektive lassen sich auch Heideggers Bemerkungen zur Sprache noch einmal in neuer Weise interpretieren: Heidegger möchte bekanntlich ein benennungs-theoretisches, logizistisches Bild von Sprache zerstören und opponiert auch in der eigenen Sprach- beziehungsweise Schreibpraxis gegen ein Bild von der Sprache als einem bloßen prädikativ operierendem Definitions- und Erklär-Instrument.52 Sprache soll – so Heidegger – vielmehr aus dem „Zeigen“ beziehungsweise „Winken“ verstanden werden. In „Unterwegs zur Sprache“ formuliert er: „Das Wesende der Sprache ist die Sage als die Zeige“53 „‚Sagan‘ heißt zeigen, erscheinen-, sehen- und hören-lassen.“54 Und an anderer Stelle schreibt Heidegger, dass Worte „Winke“55 geben. Der „Wink“ wird für ihn zum „Grundzug des Wortes“.56 Das ikonische „Wink-“ beziehungsweise „Zeige“-Potential der Sprache wird in schriftlicher Form nun gerade in assoziagrammatischen, nichttextuellen Schriftspielen deutlich vor Augen gestellt. Gerade das Arrangement von Worten auf der Schreibfläche zeigt, und erklärt nicht. Der Leser beziehungsweise Betrachter des Assoziagramms muss selbst die rechte Interpretation finden beziehungsweise diese entwerfen, ihm wird das Denken nicht abgenommen. Im Assoziagramm als Darstellungsform ist eine entscheidende Intention Heideggers verwirklicht: Es macht den Leser fragend, steht damit exemplarisch gegen das von Heidegger kritisierte „Zeitalter der völligen Fraglosigkeit“, in der alles Seiende zum ‚erklärten Seienden‘ geworden ist.57 Gegen eine dichotomische Logik des Entweder-Oder setzt das Assoziagramm – so könnte man mit Deleuze und Guattari formulieren – eine zeigende, assoziierende „Logik des Und“,58 eine Logik des Sowohl-als-auch. Es ist dabei gerade die Perspektive einer „Hermeneutik
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Zeichnung als ganz eigenständiger philosophischer Operationsraum“ (Richtmeyer, „Ist Nachzeichnen ein Regelfolgen?“, a.a.O., S. 126). Vgl. hierzu auch: Rainer Totzke, Buchstaben-Folgen. Schriftlichkeit, Wissenschaft und Heideggers Kritik an der Wissenschaftsideologie, Weilerswist 2004, S. 314-347. Heidegger, Unterwegs zur Sprache, a.a.O., S. 254. Heidegger, Unterwegs zur Sprache, a.a.O., S. 245. Heidegger, Unterwegs zur Sprache, a.a.O., S. 114ff. Adornos Kritik an Heidegger und seine Absetzung gegen Heidegger konzentriert sich auf dessen etymologischer Ausgrabung beziehungsweise Neuschöpfung von „Urworten“, die möglichst frei sein sollen vom Ballast der metaphysischen Tradition. Versteht man diese Praxis Heideggers (anders als Adorno) als eine tatsächlich eher experimentelle Praxis, bei der es darum geht, bestimmte „Winke“ zu geben und nicht darum, die metaphysisch belasteten festgefahrenen Begriffe der Tradition durch neue („ursprünglichere“, „richtigere“) und sich deshalb erneut festfahrende Begriffe (das „Sein“/„Seyn“) zu ersetzen, dann liegen Heidegger und Adorno weniger stark auseinander, als es Adornos explizite Kritik an Heideggers Sprachgebrauch nahelegt. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), a.a.O., S. 110. Gilles Deleuze/Félix Guattari, Tausend Plateaus, Berlin 1992, S. 41.
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des Bildes“,59 in der die Assoziagramme Heideggers erschlossen werden sollten, um damit zugleich Wege zu einer transformierenden „Hermeneutik des Wortes“ zu bahnen. Wenn Heidegger Sprache als „reine Nennung“ verstanden wissen will, so lässt sich dies ‚assoziagrammatisch‘ erschließen und deuten: Es gibt eine graphische Praxis der „reinen Nennung“. Diese besteht in der (‚reinen‘) Verzeichnung einzelner Wörter beziehungsweise Wortgruppen im Rahmen eines Assoziagramms auf der Schreibfläche. Wenn Heidegger in Bezug auf das „Ereignis“ formuliert, man könne es sich „weder als ein Vorkommnis noch als ein Geschehen vorstellen, sondern nur im Zeigen der Sage als das Gewährende erfahren“,60 dann ließe sich auch dieses „Zeigen der Sage“ gerade als Praxis der kreativen Erstellung oder des deutenden Nachvollzugs eines assoziagrammatischen Artefaktes verständlich machen. Dieser Logik des Zeigens in der philosophischen Reflexion nachzugehen, wäre das, was Heidegger in den Beiträgen als „Besinnung auf das Wesen der Sprache“ bezeichnet hat.61 Eine abschließende Bemerkung zu Heideggers Sprachdenken: Schon in Sein und Zeit hatte Heidegger von der „Aufgabe“ einer „Befreiung der Grammatik von der Logik“62 gesprochen. Nach der ‚Kehre‘ ins Seins- beziehungsweise EreignisDenken, wie sie mit den Beiträgen zur Philosophie vollzogen wird, spricht Heidegger nun sogar von der „Befreiung der Sprache aus der Grammatik in ein ursprünglicheres Wesensgefüge“, die „dem Denken und Dichten aufgegeben“ sei.63 Auch hier liegt es nahe, das assoziagrammatische Schreiben beziehungsweise die „Assoziagrammatik“ als Mittel beziehungsweise Ziel dieses Befreiungsprojektes „aus der Grammatik“ ins Spiel zu bringen: Nichttextuelle Schriftspiele und Assoziagramme von Philosophen verlassen die Struktur einer prädikativen Sprache und Schriftsprache ebenso wie dies auch dichterische Schriftspiele tun können. Auch die von Heidegger so sehr geschätzten Dichter arbeiten häufig schriftbildlich gerade ‚gegen die Grammatik‘, indem sie zum Beispiel Wörter und Wortgruppen graphisch über Zeilen/Zeilenumbrüche assoziieren beziehungsweise dissoziieren.64
59 Siehe Gottfried Boehm, „Zu einer Hermeneutik des Bildes“, in: Seminar: Die Hermeneutik und die Wissenschaften, hg. v. Hans-Georg Gadamer und Gottfried Boehm, Frankfurt am Main 1978, S. 444-471. Vgl. aktuell auch Boehms systematischen Artikel: Gottfried Boehm, „Ikonische Differenz“, in: Rheinsprung 11. Zeitschrift für Bildkritik 1 (2011), S. 170-176: http:// rheinsprung11.unibas.ch/archiv/ausgabe-01/glossar/ikonische-differenz.html (zuletzt aufgerufen am 02.04.2014). 60 Heidegger, Unterwegs zur Sprache, a.a.O., S. 258. 61 Heidegger schreibt: „Die ‚Logik‘ als Lehre von der richtigen Denkweise wird zur Besinnung auf das Wesen der Sprache als der stiftenden Nennung der Wahrheit des Seyns.“ (Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), a.a.O., S. 177). 62 Martin Heidegger, Sein und Zeit, 16. Aufl., Tübingen 1986, S. 165. 63 Martin Heidegger, „Brief über den Humanismus“, in: Wegmarken, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1976 (= Gesamtausgabe. Bd. 9), S. 313-364, hier S. 314. 64 Vgl. hierzu den Aufsatz von Georg Witte: „Das ‚Zusammen-Begreifen‘ des Blicks: Vers und Schrift“, in: Schriftbildlichkeit. Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen, hg. v. Sybille Krämer, Eva Cancik-Kirschbaum und Rainer Totzke, Berlin 2012, S. 265-286.
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7. Zum Schluss: Dieser Aufsatz versucht, mit der Analyse und Interpretation von Heideggers Assoziagramm „Das Unwesen des Seyns“ und in gleichzeitiger Auseinandersetzung mit den konfigurations- beziehungsweise übersichtslogischen Überlegungen Adornos und Wittgensteins den Blick für folgende Perspektiven zu öffnen: Erstens: Praktiken des diagrammatisch-assoziagrammatischen Entwerfens spielen in der Philosophie eine wichtige und bisher zumeist unterschätzte Rolle.65 Nicht nur bei der Erstellung, sondern auch bei der Aneignung von philosophischen Texten nutzen Philosophen Verfahren, bei denen sie Begriffswörter, Wortgruppen oder Sätze diagrammatisch auf der Schreibfläche anordnen, sowohl um für sich selbst größere Klarheit über bestimmte Zusammenhänge zu erlangen, als auch (oft ad hoc) in Vorlesungs- und Seminarsituationen um diese Zusammenhänge nicht nur sich selbst, sondern auch Anderen vor Augen zu stellen. Assoziagramme und diagrammatische Begriffslandkarten müssen also als philosophische Denkwerkzeuge und Darstellungsmittel ernst genommen werden. Zweitens: Gerade die Reflexion der spezifischen Leistungen von assoziagrammatischen Schriftspielen in der Philosophie kann zu einem weniger „metaphysischen“ Philosophieverständnis führen – einem Philosophieverständnis, für das gerade auch die behandelten Autoren Heidegger, Wittgenstein und Adorno (wenn auch durchaus je unterschiedlich nuanciert) werben. Insbesondere kann die Perspektive des „Assoziagrammatischen“ zu einem stärker pragmatisch orientierten Wahrheitsund Wissensverständnis beitragen – „Wahrheit ist werdende Konstellation“,66 formuliert Adorno in dieser Hinsicht pointiert –, denn Assoziagramme und andere Schriftbildartefakte irritieren zunächst. Anders als etwa satzförmige Wahrheitsbehauptungen stellen sie so ganz offensichtlich aus, dass sie praxisfundiert sind und eines Aneignungsprozesses bedürfen. Sie stellen aus, dass es sich bei ihnen um Umschlagplätze des Sinns handelt,67 sie zeigen, dass Verstehen, Wissensaneignung und -erzeugung immer nur in solchen transkriptiven Umschlagsituationen beziehungsweise -prozessen stattfindet.68 Assoziagramme und andere nichttextuelle schriftbildliche Artefakte sind – wie Texte und mündliche Gespräche – Mittel transkrip-
65 Siehe hierzu genauer: Rainer Totzke, „‚Assoziagrammatik des Denkens‘. Zur Rolle nichttextueller Schriftspiele in philosophischen Manuskripten“, a.a.O., S. 415-436. 66 Theodor W. Adorno, „Anmerkungen zum philosophischen Denken“, in: Kulturkritik und Gesellschaft II, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1977 (= Gesammelte Schriften. Bd. 10.2), S. 599-607, hier S. 604. 67 Vom Diagramm als „Umschlagplatz des Sinns“ sprechen Steffen Bogen und Felix Thürlemann in ihrem Aufsatz: „Jenseits der Opposition von Text und Bild“, in: Die Bildwelt der Diagramme Joachims von Fiore, hg. v. Alexander Patschovsky, Ostfildern 2003, S. 1-22, hier S. 22. 68 Zum Begriff des „Transkriptiven“ vgl. Ludwig Jäger, „Störung und Transparenz. Skizze zur performativen Logik des Medialen“, in: Performativität und Medialität, hg. v. Sybille Krämer, München 2004, S. 35-74.
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tiver Evidenzerzeugung – auch in der Philosophie.69 Und sie sind zugleich metaphysik-dekonstruierende Darstellungsmittel in Heideggers, Adornos und Wittgensteins Sinn, indem sie – eingebunden jeweils in eine Praxis – eben die grundsätzliche Vorläufigkeit, den grundsätzlichen Entwurfscharakter von Philosophie überhaupt auszustellen vermögen. Heideggers graphisch-schriftbildliche Praxis ist verstehbar als entwerfendes Anrennen gegen die Idee einer ein für alle Mal habhaft machbaren Wahrheit in Form von satzförmig notierbaren Urteilen. Auch bei Adorno heißt es: „Nicht ist es an Philosophie […] die Phänomene auf ein Minimum an Urteilen zu reduzieren.“70 Assoziagramme funktionieren in der Regel gerade nach einer anderen als der zweiwertigen Logik des „Ja-oder-Nein, des Ist-oder-ist-nicht“. Sie plausibilisieren mit einer zeigenden Logik des Konstellativen beziehungsweise Konfigurativen. Sie sind Formen der Veranschaulichung und ermöglichen Synopsen beziehungsweise „Übersichten“. Zugleich unterscheidet sich die zeigende Logik des Assoziagrammatischen jedoch von der ebenfalls zeigenden „Logik des Bildlichen“71 durchaus, insofern als es gerade schriftsprachliche Einheiten – Wörter, Wortgruppen – sind, die die wesentlichen ‚Bildelemente‘ der Assoziagramme bilden. Assoziagramme enthalten darüber hinaus als Entwürfe immer ein Moment des (freien, assoziativen) Spiels, ohne das Philosophie nicht sein kann – so wie es etwa bei Adorno heißt: „Gegenüber der totalen Herrschaft von Methode enthält Philosophie, korrektiv, das Moment des Spiels, das die Tradition ihrer Verwissenschaftlichung ihr austreiben möchte.“72 Drittens: Mit Blick auf Phänomene des Assoziagrammatischen muss entsprechend auch über die Unterscheidung von explizitem und implizitem Wissen neu nachgedacht werden – und zwar dahingehend, dass es verschiedene Formen des (auch philosophischen) Explizierens geben kann: Die Idee, dass der Text beziehungsweise der Satz der einzige Ort der Explikation sein soll, erscheint zumindest nicht mehr ohne Weiteres plausibel. Es sind gerade nicht-textförmige Assoziagramme, die bestimmte Zusammenhänge (zwischen Begriffen oder Sätzen) auf ihre Weise durchaus ‚ikonisch explizit‘ – übersichtlich – vor Augen stellen.73 Diese ‚(begriffs-)bildgebenden Verfahren‘ ermöglichen auch in der Philosophie Verstehens69 Um ein anderes Beispiel zu nennen: Auch Jacques Derrida versucht in seinen veröffentlichten Texten verschiedenste Mittel der Schrift und des Schriftbildlichen zu nutzen, um antimetaphysische Darstellungseffekte zu erzeugen. Vgl. hierzu meinen Aufsatz: „Logik, Metaphysik und Gänsefüßchen. Derridas Dekonstruktion und der operative Raum der Schrift“, in: Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine, hg. v. Gernot Grube, Werner Kogge und Sybille Krämer, München 2005, S. 171-186. 70 Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., S. 24. 71 Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen Vernunft, hg. v. Martina Heßler und Dieter Mersch, Bielefeld 2009. 72 Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., S. 25f. 73 Die Reflexion der Rolle von Assoziagrammen beziehungsweise weiter gefasst des Diagrammatischen in der Philosophie scheint mir auch den Begriff der „stereoskopischen Lektüre“ auf interessante Weise neu zu erschließen, den Albrecht Wellmer, für (bestimmte) philosophische Texte (wie die Adornos) empfiehlt. Albrecht Wellmer, „Wahrheit, Schein, Versöhnung. Adornos ästhetische Rettung der Modernität“, in: ders., Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, Frankfurt am Main 1985, S. 9-47, hier S. 44.
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und Reflexionsprozesse. Sie ermöglichen das Konzipieren von philosophischen Sätzen und Texten ebenso, wie sie deren Rezeption stützen oder steuern können. Um abschließend noch einmal Wittgenstein zu zitieren: „Man könnte in vielen Fällen als Kriterium des Verstehens festsetzen, dass man den Sinn des Satzes muss zeichnerisch darstellen können.“74
74 Ludwig Wittgenstein, „Zettel“ (Nr. 245), in: Bemerkungen über die Farben. Über Gewißheit. Zettel. Vermischte Bemerkungen, hg. v. G. E. M. Anscombe und G. H. von Wright, Frankfurt am Main 1984 (= Werkausgabe. Bd. 8), S. 259-443, hier S. 327.
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Heidegger und die Atomphysik Es funktioniert alles. Das ist gerade das Unheimliche, daß es funktioniert und daß das Funktionieren immer weiter treibt zu einem weiteren Funktionieren und daß die Technik den Menschen immer mehr von der Erde losreißt und entwurzelt. Ich weiß nicht, ob Sie erschrocken sind, ich bin jedenfalls erschrocken, als ich jetzt die Aufnahmen vom Mond zur Erde sah. Wir brauchen gar keine Atombombe, die Entwurzelung des Menschen ist schon da. Wir haben nur noch rein technische Verhältnisse. Das ist keine Erde mehr, auf der der Mensch heute lebt.1
1. Martin Heidegger befindet sich in einer Art intellektueller Superposition, als er Werner Heisenberg 1935 auf seiner beschaulichen Schwarzwald-Hütte empfängt. Der Gastgeber soll in seiner Funktion als Philosoph ein Gespräch zwischen dem Physiker Heisenberg und dem Mediziner Viktor von Weizsäcker über die Einführung des Subjekts in die Naturwissenschaft „vermitteln“. Carl Friedrich von Weizsäcker, damals noch Student von Heisenberg und Neffe von Viktor von Weizsäcker, nimmt ebenfalls an dem Gespräch teil und berichtet viele Jahre später in Form eines Gedankenprotokolls.2 Bemerkenswert an diesem kleinen Gipfeltreffen zwischen Natur- und Geisteswissenschaft ist lediglich, dass sich der Zeuge Carl Friedrich später nicht mehr erinnert, worüber die drei hellen Köpfe nun eigentlich sprachen – er hatte offenbar kaum etwas davon verstanden. Sehr gut ist ihm dagegen die karge Einrichtung der Hütte, Heideggers Aufzug mit Zipfelmütze und dessen Rolle als Übersetzer in Erinnerung geblieben: Heidegger stellte den beiden Naturwissenschaftlern Fragen, um dann die Antworten so lange zu reformulieren, bis beide Seiten zustimmen konnten. Welchen Eindruck Heideggers Mediation bei Heisenberg und von Weizsäcker hinterlassen hat, ist nicht bekannt, sicher aber ist, dass in dieser Zeit bei Heidegger ein konzentriertes Nachdenken über alte und neue Physiken einsetzt, das weder in einer Wissenschaftstheorie, noch in eine Philosophie der Naturwissenschaften
1 „Spiegel-Gespräch“, in: Antwort. Martin Heidegger im Gespräch, hg. v. Günther Neske und Emil Kettering, Pfullingen 1988, S. 81-114, hier S. 98. 2 Carl Friedrich von Weizsäcker, „Begegnungen in vier Jahrzehnten“, in: Erinnerung an Martin Heidegger, hg. v. Günther Neske, Pfullingen 1977, S. 239-247. Bei den folgenden Ausführungen handelt es sich um eine Überarbeitung einiger zentraler Gedanken meiner Dissertation Geschickte Sprünge. Physik und Medium bei Martin Heidegger, die 2012 bei Diaphanes in Berlin erschienen ist.
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mündet, sondern sich direkt in die Argumentation des heideggerschen Spätwerkes einschreibt. Die Quantenphysik, die bei Heidegger immer etwas unscharf »Atomphysik« bleiben wird, wirft verschiedene Fragen rund um Kausalität, Identität, Rationalität und Kalkül innerhalb herrschender und fast vergessener Ontologien auf. Vor allem aber, und darum soll es im Folgenden gehen, verhilft sie Heidegger zu der für das Spätwerk zentralen Erkenntnis, dass es sich beim abendländischen Entwurf der Natur (und damit der Ontologie) generell um eine Frage nach der Technik handelt.
2. Explizite Verweise auf Atomphysik finden sich bereits in den beiden zentralen Veröffentlichungen von 1935, Einführung in die Metaphysik und Die Frage nach dem Ding, Heideggers zweitem Kantbuch.3 In Die Frage nach dem Ding rückt er die Mathematik ins Zentrum der Überlegungen zur Ontologie der Dinge sowohl im theoretischen wie experimentellen Bereich der Physik. Er subsumiert die Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik von 1927 unter die historisch gerechnet ältere Ding-Ontologie im Ausgang von Kant, als die Verschränkung von Seinsverständnis und Mathematik: Diese kurze Besinnung auf das Wesen des Mathematischen wurde durch unsere Behauptung veranlaßt, der Grundzug der neuzeitlichen Wissenschaft sei das Mathematische. Das kann nach dem Gesagten nicht heißen: in dieser Wissenschaft sei mit Mathematik gearbeitet worden, sondern es sei auf eine Weise gefragt worden, daß ihr zufolge erst die Mathematik im engeren Sinne ins Spiel treten durfte.4
Die Mathematik ist weder Instrument noch Hilfswissenschaft der Naturwissenschaften, die zu der Wissenschaft noch hinzukommt aber genauso gut auch weggelassen werden könnte. Sie gehört vielmehr genuin zum Entwurf neuzeitlicher Wissenschaft dazu. Dementsprechend ist Heisenbergs Unbestimmtheitsrelation für Heidegger keine Neukonzeption der Physik oder gar der Natur. Er betont vielmehr die Kontinuität rationaler Raum- und Zeitdefinitionen innerhalb der modernen Physik durch die Allianz von symbolisch-mathematischen Bedingungen und der experimentellen Produktion wissenschaftlicher Objekte. Im Bereich der Atomphysik sind die Relationen zwischen Raum und Materie vielleicht komplizierter als zuvor – Heidegger zufolge hat sich aber an der alten metaphysischen Ontologie der res extensa nichts geändert. Um Raum auszufüllen, müssen die Dinge ausgedehnt sein:
3 Vgl. Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, hg. v. Petra Jaeger, Frankfurt am Main 1983 (= Gesamtausgabe. Bd. 40); sowie Martin Heidegger, Die Frage nach dem Ding, 3. Aufl., Tübingen 1987. 4 Heidegger, Die Frage nach dem Ding, a.a.O., S. 59.
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Auf Grund der Ergebnisse der heutigen Atomphysik – seitdem Niels Bohr 1913 sein Atommodell aufstellte – sind die Beziehungen zwischen Materie und Raum zwar nicht mehr so einfach, aber grundsätzlich nicht anders. Was einen Ort besetzt hält, Raum einnimmt, muß selbst ausgedehnt sein.5
Heidegger wählt einen interessanten Ausgangspunkt indem er Niels Bohrs Atommodell von 1913 kommentiert, das noch mit dem alten physikalischen Weltbild übereinstimmt, demzufolge ein Atom in Analogie zum Sonnensystem entworfen wird, mit den Elektronen als Planeten, die den Atomkern umkreisen wie die Erde die Sonne – nur eben sehr viel kleiner. Neu an Bohrs Modell ist dagegen, dass es mit diskreten Bahnen, klar abgegrenzten Energieniveaus arbeitet, etwas, das es bei Planetenbahnen nicht gibt. Bohrs Atommodell ist Mitte der 1930er Jahre das produktive aber bereits lange überholte Produkt mathematischer Notwendigkeiten und experimenteller Daten. Mit diesem Beispiel betont Heidegger die Rolle des wissenschaftlichen „Grundrisses“, des Entwurfs oder Designs der Physik, das es gestattet, symbolischen Rahmen und experimentelle Daten zu integrieren; eine Verschränkung, die er auf Descartes und Galilei zurückführt. Wissenschaft entsteht bei Heidegger innerhalb eines metaphysischen Rahmens und findet in Kants Begründung transzendentaler Wissenschaften ihren Höhepunkt, indem dieser das wissenschaftliche System mit einer Beweisführung für alles, was erfahren und benannt werden kann, entwirft. Die Kohärenz des wissenschaftlichen Systems, die „Sicherung des Gegenstandbezirks“ wird durch das Mathematische garantiert, das nur einen im Voraus bestimmten Bereich der Phänomene innerhalb des experimentellen Aufbaus gestattet. Mit der Atomphysik gerät nun ausgerechnet im Herzen abendländischer Rationalität das wissenschaftliche Gebäude ins Wanken, da sich hier der Gegenstand, das wissenschaftliche Objekt, mehr und mehr zu entziehen scheint. Heute ist das Gegebene für die experimentelle Atomphysik nur eine Mannigfaltigkeit von Lichtflecken und Strichen auf der photographischen Platte. Dieses Gegebene auszulegen, bedarf es nicht weniger Voraussetzungen als bei der Auslegung eines Gedichtes. Es ist nur die Festigkeit und Greifbarkeit der Messapparatur, was den Anschein erweckt, diese Auslegung stünde auf einem festeren Boden als die angeblich nur auf subjektiven Einfällen beruhenden Auslegungen der Dichter in den Geisteswissenschaften.6
So wird der Experimentalphysiker bei Heidegger zum Poetologen, die Spektralanalyse zur Gedichtinterpretation und die Grenze zwischen Natur- und Geisteswissenschaften selbst wird unscharf. Der einzige Gegenstand, der in der Mikrophysik noch im klassischen Sinne Faktizität garantiert, ist die Messaparatur, das Medium, das die Elementarteilchen oder vielmehr ihre Eigenschaften zur Erscheinung bringt.
5 Heidegger Die Frage nach dem Ding, a.a.O., S. 15. 6 Heidegger. Die Frage nach dem Ding, a.a.O., S. 163.
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Heidegger interessiert sich zwar für Heisenbergs Unschärfe- oder Unbestimmtheitsrelation, weist aber zunächst alle Ansätze zurück, die daraus einen fundamentalen Wandel innerhalb der Subjekt-Objekt-Relation oder gar der Kausalität ableiten. Heisenbergs Unschärfe widerlege nicht die Philosophie – sie bestätige sie vielmehr: Durch den Kopenhagener Formalismus werde die Behauptung der klassischen Physik widerlegt, eindeutig und restlos die Zusammenhänge messen zu können.7 Obwohl die Physik sich wandelt und spätestens im 20. Jahrhundert ganz und gar von statistischen Gesetzen beherrscht zu sein scheint, sind die alten Newton’schen Bewegungsgesetze weiterhin gültig und in Gebrauch, allerdings beschränkt auf einen klar definierten raumzeitlichen Gültigkeitsbereich; ehemalige Naturgesetze werden zu Spezialfällen der Mesoebene degradiert. Eine daraus abzuleitende Vorläufigkeit und regionale Beschränkung der Naturgesetze, ihre geschichtliche und lokale Dimension findet aber in der Regel keinen Eingang in die Arbeit der Wissenschaften selbst, und hierin liegt für Heidegger der blinde Fleck aller Wissenschaft. Nichtsdestotrotz bringt Heisenbergs Unbestimmtheitsrelation Heidegger auf eine entscheidende Idee für das eigene Projekt einer der metaphysischen und wissenschaftlichen Blindheit nicht verfallenen Seinsgeschichte: Sie entbirgt die ontologische Rolle des „Zeugs“ innerhalb der Wissensgeschichte der Physik. Dem Zeug, das bis dahin lediglich Teil der existenzialen Struktur des In-derWelt-seins des Daseins war, wird im Umfeld der Atomphysik eine aktive Rolle innerhalb der abendländischen Wahrheitsgeschichte zugeschrieben. Bereits in Sein und Zeit fungiert das Zeug etwa in Form des Werkzeuges in doppelter Funktion von Entbergen und Verbergen als Schlüsselbegriff ontologischer Differenz.8 Nun wird es als Messzeug auch am Denken seinsgeschichtlicher Prozesse beteiligt. Der Blick auf die Apparate und Maschinen der Experimentalphysik hilft den geschichtlichen Wandel von Wahrheitsprozessen selbst zu denken. Das Zeug ist entscheidendes Medium für die umfassende Mathematisierung des Seienden, mit der sich für Heidegger das Denken der Technik konfrontiert sieht. Besonders die propädeutischen Arbeiten der 1930er Jahre, die erst 2009 in einer hervorragenden Edition von Archivbeständen herausgegeben wurden, zeigen, wie Heidegger die epistemologische Beziehung zwischen Mathematik und Zeug im Kontext von Atom- und Quantenphysik klar wird: Weil der Entwurf geworfener ist, muß hier wegen der äußersten Mathematisierung der Zeugcharakter des Meßzeuges herauskommen.9
7 Vgl. Martin Heidegger, „Die Bedrohung der Wissenschaft“, in: Leitgedanken zur Entstehung der Metapyhsik, der neuzeitlichen Wissenschaft und der modernen Technik, hg. v. Claudius Strube, Frankfurt am Main 2009 (= Gesamtausgabe. Bd. 76), S. 157-190, hier S. 180. 8 Vgl. §15 in Sein und Zeit: Martin Heidegger, Sein und Zeit, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1977 (= Gesamtausgabe. Bd. 2), S. 90-96. 9 Heidegger, Leitgedanken, a.a.O., S. 178.
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Die Physik ist ein „geworfener Entwurf“. Das heißt, dass sowohl die Wissenschaft als auch ihr Wissen innerweltlichen Verweisungsprozessen obliegt, einer Struktur, die sich aus den existenzialen Strukturen des Daseins ableitet.10 An der frühen Existenzialphilosophie Heideggers ändert die Technikfrage also im Prinzip nichts. Mit der wahrheitsgeschichtlichen Argumentation fügt Heidegger dem fundamentalontologischen Entwurf von Sein und Zeit lediglich noch eine seinsgeschichtliche Dimension hinzu: Hieraus ergibt sich die grundsätzlich Einsicht: die Wahrheit des Wissens, hier der Wissenschaft, ist in das Da-sein des Menschen gegründet und in ihr erst ist der Gesichtskreis umrissen, der das Seiende als solches bestimmbar werden läßt.11
Heideggers Zeug operiert sowohl existenziell als auch seinsgeschichtlich, es spielt daher eine tragende Rolle in der philosophischen Gesamtkonstruktion aus daseinsanalytischer Argumentation und Wahrheitsgeschichte: Das Zeug verknüpft die innerweltliche Struktur des Daseins mit einer technisch kadrierten Wahrheitsgeschichte des Seins, es verschaltet Ontologie und Geschichte: „Die Technik ist in unserer Geschichte“, lehrt Heidegger im Wintersemester 1942 in seiner Vorlesung zu Parmenides zwischen Krieg und Schreibmaschine.12
3. Heideggers Faltungen von Ontologie und Geschichte, Technik und Wissenschaft werden im Kontext der Nukleardebatte der Nachkriegszeit besonders transparent, wenn man sie diskursanalytisch, das heißt nach ihren Bedingungen fragend liest. In den Bremer Vorträgen von 1949 kommentiert er mit der ihm eigentümlichen Distanz die herrschende Angst vor dem nuklearen Supergau, obwohl die Amerikaner zu dieser Zeit noch an der Entwicklung, vor allem an der Berechnung von The Super arbeiten: Der Mensch starrt auf das, was mit der Explosion der Atombombe kommen könnte. Der Mensch sieht nicht, was lang schon angekommen ist und zwar geschehen ist als das, was die Atombombe und deren Explosion nur noch als einen letzten Auswurf aus sich hinauswirft, um von der einen Wasserstoffbombe zu schweigen, deren Initialzündung in der weitesten Möglichkeit gedacht, genügen könnte, um alles Leben auf der Erde auszulöschen.13
10 „Das Dasein im Menschen bildet die Welt.“ (Martin Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1983 (= Gesamtausgabe. Bd. 29/30), S. 414.) 11 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, a.a.O., S. 178. 12 Zum Kontext der Vorlesung vgl. Friedrich Kittler, Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986, S. 289ff. 13 Martin Heidegger, Bremer und Freiburger Vorträge, hg. v. Petra Jaeger, Frankfurt am Main 1994 (= Gesamtausgabe. Bd. 79), S. 4.
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Mit den Explosionen von Hiroshima und Nagasaki und der Möglichkeit einer Wasserstoffbombe hat der abendländische Entwurf der Metaphysik sein Ende gefunden. Der „Geschichtsraum der Metaphysik“, den Heidegger in den frühen 1940er Jahren noch mit Nietzsche enden lässt, findet seine Vollendung in der Technik.14 Die Bedrohung der Welt durch (thermo)nukleare Waffen ist für Heidegger ontische Konkretion, zeitgeschichtlicher Hintergrund der Technikfrage. Ontologisch ist sie aber „Auswurf“ (englisch fallout) des rational-technischen Verbunds namens ,Gestell‘, das heißt sie hat ihren Grund in einem größeren, seingeschichtlich zu interpretierenden Zusammenhang. Als Zeug gehört die Bombe sowohl zur innerweltlichen Faktizität des Philosophen als auch zur Verfallsgeschichte des Seins in Folge metaphysischer Verblendung und der ihr innewohnenden Vernichtung des Dings zugunsten des „Vorstellens“ und „berechnenden SichersteIlens“ des wissenschaftliches Objektes: Das in seinem Bezirk, dem der Gegenstände, zwingende Wissen der Wissenschaft hat die Dinge als Dinge schon vernichtet, längst bevor die Atombombe explodierte. Deren Explosion ist nur die gröbste aller groben Bestätigungen der langher schon geschehenen Vernichtung des Dinges.15
Heidegger lässt die Epoche des Gestells bereits mit Descartes’ rationaler Methode beginnen, mit der metaphysischen Neubestimmung des Mathematischen beziehungsweise der mathematischen Neubestimmung der Metaphysik. In letzter Konsequenz wird dadurch auch das daseinsmäßige Verhältnis zu Natur und Geschichte zu einer technologischen Bestimmung: Das Bestellen befällt nicht nur die Stoffe und Kräfte der Natur mit Gestellung. Das Bestellen befällt zugleich das Geschick des Menschen. Das Wesen des Menschen wird daraufhin gestellt, das Bestellen in menschlicher Weise mitzuvollziehen. Das Bestellen betrifft Natur und Geschichte, alles, was ist, und nach allen Weisen, wie das Anwesende ist.16
Die Atom- und Kernphysik ist für Heidegger lediglich Ausdruck des Gestells, einer langen Geschichte europäisch geprägter Wissenschaft und einer noch längeren Geschichte der Metaphysik. Die Gefahr wähnt er dabei , wie man es von ihm kennt, nicht in der offensichtlichen und erfahrbaren Verwahrlosung der Dinge, sondern in der Verweigerung von Welt, die der Dingverlust mit sich bringt: ohne die Erfahrung von Nähe zum Ding keine Welt, ohne Welt keine daseinsmäßigen, innerweltlichen Bezüge, kein Mitsein, kein Sein-zum-Tode.17 Stattdessen herrsche eine „pla14 Vgl. zu Nietzsche: Martin Heidegger, „Nietzsches Wort ,Gott ist tot‘“ in: Holzwege, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1977 (= Gesamtausgabe. Bd. 5), S. 209-268, hier S. 221. 15 Heidegger, Bremer und Freiburger Vorträge, a.a.O., S. 9. 16 Heidegger, Bremer und Freiburger Vorträge, a.a.O., S. 31. 17 Vgl. die entsprechenden Passagen aus dem Bremer Vortrag zum Ding: Heidegger, Bremer und Freiburger Vorträge, a.a.O., S. 16ff.
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netarische Totalität“ der Technik und Welt-Mächte in einer Epoche fast totaler Seinsvergessenheit. Von Descartes’ Ballistik bis zum Kalten Krieg ist es seinsgeschichtlich nicht weit. Angesichts der doppelten Bedrohung durch kriegerische Atomwaffen und friedliche Atomtechnik erscheint Heideggers besonderes Interesse an der Atomphysik noch einmal in einem etwas anderen Licht als im Zuge seiner Wissenschafts- und Wahrheitskritik der 1930er Jahre. Die allgegenwärtige Angst vor der Bombe ruft den Seinsgeschichtler auf, sich über die Konsequenzen nuklearer Technologie klar zu werden. Bei näherer Betrachtung, etwa der Auseinandersetzung Heideggers mit Heisenberg in den 1950er Jahren, entsteht mitunter der Eindruck, bei Heisenberg handele es sich um ein weiteres Spaltprodukt des Gestells, eine Art Sprachrohr der Technik, die nicht nur neue Technologien, sondern auch neue Forscher hervorbringt.18 Im Brief an seine Frau vom 7. August 1953 berichtet Heidegger von einem Gespräch mit Heisenberg über ein in der Nähe von München geplantes Atomkraftwerk, für das Heisenberg zu dieser Zeit als Berater tätig ist: Es soll eine ähnliche Sache werden, nur in kleineren Maßstäben wie das Werk, das bei Jungk beschrieben ist. Nach dieser Richtung treibt alles mit einer unheimlichen Zwangsläufigkeit weiter; andererseits hofft H. einmal auf eine kommende Meisterung der Technik u. zugleich auf religiöse Hilfe aus einer allgemeinen Erneuerung – Im Grunde aber zeigt sich nichts von einer inneren Loslösung aus dieser ganzen Forscherhaltung.19
Heidegger bezieht sich hier auf Robert Jungks Monographie über amerikanische Zukunftsforschung von 1952, Die Zukunft hat schon begonnen. Jungk schildert darin unter anderem seinen Besuch in den Plutoniumwerken der Hanford Sight im US-Bundesstaat Washington. Mit dem dort produzierten Material wurde die erste amerikanische Atombombe bestückt. Das Buch war ein Kassenschlager. Damit taucht in der bundesrepublikanischen Diskussion auch die Endlagerproblematik auf: Man hat sogar erwogen, diese Abfälle vielleicht später einmal mit Raketen aus unserer Atmosphäre in den Weltraum zu schießen. Nur so, heißt es, werde man sie wirklich loswerden. [...] Alles, was die Menschheit bisher geschaffen hat, verging, zerfiel, verfaulte in absehbarer Zeit. Zum ersten Mal haben wir nun durch unsere Natureingriffe etwas hervorgebracht, das zwar nicht unsterblich, nach unserem Maß gemessen aber
18 Vgl. zum Briefwechsel zwischen Heidegger und Heisenberg: Christina Vagt, „Komplementäre Korrespondenz. Heidegger und Heisenberg zur Frage der Technik“, in: NTM – Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin Bd. 19, Heft 4 (2011), S. 391-406. 19 Martin Heidegger, „Mein liebes Seelchen!“ Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfride (19151970), hg. v. Gertrud Heidegger, München 2005, S. 290. (Hervorhebung (urspr.: Unterstreichung Martin Heideggers) aus dem Original übernommen.)
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doch ,kaum sterblich‘ ist. Ein gefährliches Erbe, das alle unsere Schöpfungen lange überleben dürfte, ein Stückchen ,Beinahe-Ewigkeit‘, ein Stückchen Hölle.20
Heideggers Versuche, die Wissenschaft und insbesondere die Atomphysik zur Besinnung zu bringen, indem er immer wieder auf die Unberechenbarkeit und ontologische Abgründigkeit der Technik verweist, fruchten nicht.21 Der erste Forschungsreaktor der BRD wird 1957 in Garching bei München gebaut. Umso schärfer fallen im selben Jahr seine Äußerungen zur Göttinger Erklärung aus: Am Parametercharakter von Raum und Zeit haben auch die neuen Theorien, d. h. Methoden der Raum- und Zeitmessung, Relativitäts- und Quantentheorie und Kernphysik nichts geändert. Sie können eine solche Änderung auch nicht bewirken. Könnten sie dies, dann müßte das ganze Gerüst der modernen Naturwissenschaft in sich zusammenbrechen. Nichts spricht heute für die Möglichkeit eines solchen Falles. Alles spricht dagegen, allem voran die Jagd nach der mathematischen Weltformel. Allein der Antrieb zu dieser Jagd entstammt nicht erst der persönlichen Leidenschaft der Forscher. Deren Wesensart ist selber schon das Getriebene einer Herausforderung, in die das moderne Denken im Ganzen gestellt ist. ,Physik und Verantwortung‘ – das ist gut und für die heutige Notlage wichtig. Aber es bleibt eine doppelte Buchführung, hinter der sich ein Bruch verbirgt, der weder von seiten der Wissenschaft noch von seiten der Moral heilbar ist – wenn er es überhaupt ist.22
Die Göttinger Erklärung, der 1957 verfasste Aufruf gegen die unter Konrad Adenauer geplante Aufrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen löste eine Debatte aus, die vielleicht dazu beitrug, dass die Bundesregierung von ihrem Vorhaben abließ und Deutschland keine Atommacht wurde. Zu den 18 Unterzeichnern des Manifests – allesamt Atom- und Kernforscher – zählen auch Carl Friedrich von Weizsäcker (der Verfasser der Abhandlung) und Werner Heisenberg. Gleichzeitig sind die meisten der noch aktiven Unterzeichner bereits mit der Entwicklung von Kernreaktoren beschäftigt. Die Atomtechnik wird in der BRD unter anderem durch diese pazifistische Erklärung über „Physik und Verantwortung“ gesellschaftsfähig.23 Im Archiv findet sich ein von Heidegger bearbeiteter Zeitungsartikel von Heisenberg mit dem Titel „Friedliche Atomtechnik. Die Anwendung der Atomenergie in Deutschland“.24 Heidegger hat darin drei Stellen markiert: Die erste betrifft die 20 Robert Jungk, Die Zukunft hat schon begonnen. Amerikas Allmacht und Ohnmacht, Bern/München 1952, S. 124f. 21 Vgl. besonders die beiden zusammengehörigen Vorträge, die im Kontext des Heisenberg-Briefwechsels entstanden sind: Martin Heidegger, „Wissenschaft und Besinnung“, in: ders., Vorträge und Aufsätze, Stuttgart 2004, S. 41-66, „Die Frage nach der Technik“, S. 9-40. 22 Martin Heidegger, „Das Wesen der Sprache“, in: Unterwegs zur Sprache, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1985 (= Gesamtausgabe. Bd. 12), S. 147-204, hier S. 198. 23 Vgl. Ilona Stölken-Fitschen, Atombombe und Geistesgeschichte. Eine Studie der fünfziger Jahre aus deutscher Sicht, Baden-Baden 1995, S. 188ff. 24 Vgl. Werner Heisenberg, „Friedliche Atomtechnik. Die Anwendung der Atomtechnik in Deutschland“, in: Deutsche Universitätszeitung 6 (23. März 1953), S. 10-13; sowie im HeideggerNachlass, Deutsches Literaturarchiv Marbach, Konvolut A: Heidegger 1 / B75; Nr. 75.7356.
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Verfügbarkeit von Atomphysikern in Deutschland, die zweite die Möglichkeit, Nukleartechnik gesundheitsschonend fernzusteuern und die dritte die Frage, ob man diese Technologie überhaupt auf deutschem Territorium installieren sollte – angesichts der jüngsten Zeitgeschichte. In erster Linie handelt es sich bei dem Artikel um ein Plädoyer für die Kernkraft aus energiewirtschaftlichen, industriellen Interessen. Heisenbergs Lobbyarbeit ist nicht überraschend. Während und nach seiner Internierung in Großbritannien bemüht er sich erfolgreich um die politische Rehabilitierung der deutschen Atomphysik als ,friedlich‘. Dass Heidegger spätestens ab 1957 zu den Gegnern zählt, ist angesichts der öffentlichen Debatte ebenfalls nicht verwunderlich. In dem 1957 veröffentlichten Vortrag Der Satz vom Grund wird er für seine Verhältnisse ungewöhnlich deutlich in Bezug auf die herrschende Nuklear-Debatte: Die Menschheit tritt in das Zeitalter ein, dem sie den Namen ,Atomzeitalter‘ gegeben hat. Ein kürzlich erschienenes, für die breite Öffentlichkeit berechnetes Buch trägt den Titel: ,Wir werden durch Atome leben‘. Das Buch ist mit einem Geleitwort des Nobelpreisträgers Otto Hahn und mit einem Vorwort des jetzigen Verteidigungsminister Franz Joseph Strauß versehen. Am Schluß der Einführung schreiben die Verfasser der Schrift: ,Das Atomzeitalter kann also ein hoffnungsvolles, blühendes, glückliches Zeitalter werden, ein Zeitalter, in dem wir durch Atome leben werden. Auf uns kommt es an.‘25
Die Atomlobby, und mit ihr Heisenberg, stellt in den 1950er Jahren mit wachsender Besorgnis fest, dass der Begriff „Atom“ in Deutschland „eine peinliche Angelegenheit“ ist und „mit Krieg, Trümmern und Vernichtung“ in Verbindung gebracht wird.26 Strauß will mit seinem Buch nicht weniger als das „mystische Grauen beseitigen, das die Menschen beim Hören der vier Buchstaben Atom befällt“.27 Im Gegensatz zu den Physikern der Göttinger Erklärung und populären Autoren wie Robert Jungk28 sieht Heidegger den Physiker nicht als moralische Instanz, dessen Integrität die Welt vor einer wie auch immer gearteten nuklearen Katastrophe bewahren könne. Die Technik ist für ihn weder Instrument noch Machenschaft des Menschen, die Atomtechnik entbirgt nur ihre wesentliche Unberechenbarkeit und vor allem Unbeherrschbarkeit. Indem die Atomtechnik zum histo-
25 Martin Heidegger, Der Satz vom Grund, hg. v. Petra Jaeger, Frankfurt am Main 1997 (= Gesamtausgabe. Bd. 10), S. 178. 26 Werner Heisenberg, „Atomtechnik nötig“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. Juni 1955. 27 Obwohl die BRD-Bevölkerung gegenüber der Atomtechnik zu großen Teilen skeptisch eingestellt war, hielten sich die Proteste in den 1950er Jahren in Grenzen. (Vgl. Ilona Stölken-Fitschen, Atombombe und Geistesgeschichte. Eine Studie der fünfziger Jahre aus deutscher Sicht, a.a.O., S. 196ff ). 28 Jungk lanciert 1956 in Heller als tausend Sonnen prominent und mit zweifelhaften Methoden die These, dass die deutsche Atomphysik – im Gegensatz zur amerikanischen – immer schon friedlich gewesen sei und auch im Nationalsozialismus aus pazifistischen Gründen nie an einer Atombombe gearbeitet habe. (Vgl. Otta Gerhard Oexle, Hahn, Heisenberg und die anderen, Berlin 2003, S. 21).
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rischen Akteur wird, stellt sie nicht nur die Rolle des Physikers, sondern generell die Herrschaft des historischen Subjekts in Frage. An seine Stelle tritt bei Heidegger das „Geschick“.29 Heideggers Polemik gegen Strauß zielt dann auch nicht auf das Offensichtliche, die lebensbedrohlichen Aspekte des Atomzeitalters ab, sondern stellt vielmehr das in der Debatte um nukleare Abschreckung und Begrenzung des gesundheitlichen Risikos operierende Sicherheitsdispositiv in Frage, das er wahrheitsgeschichtlich auf Leibniz’ Prinzip vom principium reddendae rationis zurückführt. Leibniz’ Satz vom zureichenden Grund ist für Heidegger das abendländische Kalkül schlechthin. Seiend ist seitdem nur das Objekt, über das vor dem Subjekt Rechenschaft abgelegt wurde. Was heißt es denn, daß ein Zeitalter der Weltgeschichte durch die Atomenergie und deren Freisetzung geprägt wird? Es heißt nichts anderes als dies: Das Atomzeitalter ist von der Gewalt des Anspruches beherrscht, die uns durch das Prinzip vom zuzustellenden zureichenden Grund zu überwältigen droht. [...] Unter dieser Gewalt des Anspruches festigt sich der Grundzug des heutigen menschlichen Daseins, das überall auf Sicherheit arbeitet. (Beiläufig gesagt: Leibniz, der Entdecker des Grundsatzes vom zureichenden Grund, ist auch der Erfinder der ,Lebensversicherung‘). Die Arbeit an der Sicherstellung des Lebens muß jedoch ständig sich neu sichern. Das Leitwort für diese Grundhaltung des heutigen Daseins lautet: Information.30
Information ist das Leitwort einer Epoche, die das Leben ständig neu versichern muss und die dabei ironischerweise auf die „Zustellung“ der Atomenergie setzt. Für Heidegger steht der Begriff der Information in direktem Zusammenhang mit Atomenergie und statistischer Physik. Die mathematische Informationstheorie, die Kybernetik und die Ankunft des Computers stehen seinsgeschichtlich im Schatten der Wasserstoffbombe, sie entstehen im selben epistemologischen Feld, auch wenn die ersten gezündeten Exemplare noch von Hand gerechnet wurden.31 Für Heidegger geht es bei diesem wissenschaftlichem Axiom um viel mehr als um Atombomben. Er denkt über die sich ausbreitende Herrschaft des Kalküls auch und vor allem im Bereich der Sprachwissenschaft nach und entdeckt in Leibniz den Beginn einer solchen Auffassung und Praxis. Die ,Zustellung‘ von Sprache als Information beginnt demzufolge nicht mit der Atomphysik oder der Kybernetik, sondern bereits im 17. Jahrhundert.
29 „Das Wesen der modernen Technik bringt den Menschen auf den Weg jenes Entbergens, wodurch das Wirkliche überall, mehr oder weniger vernehmlich, zum Bestand wird. Auf einen Weg bringen – dies heißt in unserer Sprache: schicken. Wir nennen jenes versammelnde Schicken, das den Menschen erst auf einen Weg des Entbergens bringt, das Geschick. Von hier aus bestimmt sich das Wesen aller Geschichte.“ (Heidegger, Die Frage nach der Technik, a.a.O., S. 28.) 30 Heidegger, Der Satz vom Grund, a.a.O. S. 200ff. 31 Vgl. Wolfgang Hagens Darstellung: Wolfgang Hagen, „Die Camouflage der Kybernetik“, in: Cybenetics-Kybenetik. The Macy-Conferences 1946-1953. Essays und Dokumente, Bd. 2, hg. v. Claus Pias, Berlin, 2004, S. 191-208.
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So gehören Leibniz und die Bombe demselben Seinsgeschick an, was aber erst durch die Ausweitung kybernetischen und systemtheoretischen Denkens in fast allen Sprach- und Lebenswissenschaften der Nachkriegszeit offenkundig wird. Demgemäß gewinnt die Vorstellung von der Sprache des Menschen als einem Instrument der Information in steigendem Maße die Oberhand. Denn die Bestimmung der Sprache als Information verschafft allererst den zureichenden Grund für die Konstruktion der Denkmaschinen und für den Bau der Großrechenanlagen. Indem jedoch die Information informiert, d. h. benachrichtigt, formiert sie zugleich, d. h. sie richtet ein und aus. Die Information ist als Benachrichtigung auch schon die Einrichtung, die den Menschen, alle Gegenstände und Bestände in eine Form stellt, die zureicht, um die Herrschaft des Menschen über das Ganze der Erde und sogar über das Außerhalb dieses Planeten sicherzustellen. In der Gestalt der Information durchwaltet das gewaltige Prinzip des zuzustellenden zureichenden Grundes alles Vorstellen und bestimmt so die gegenwärtige Weltepoche als eine solche, für die alles auf die Zustellung der Atomenergie ankommt.32
Mit dem Sputnikschock von 1957 fallen für Heidegger dann auch Metasprache und Raketentechnik in eins. Schlimmer noch, das Wort und mit ihm die Philosophie finden in diesem Kurzschluss zwischen symbolischem Kalkül und reeller Maschinentechnik ihr seinsgeschichtliches Ende. Dinge wie Raketen, Atombomben und Reaktoren sind sichtbarer Ausdruck für die technische Instrumentalisierung der Sprache, angesichts derer das eigene seinsgeschichtliche Projekt aussichtslos wirkt. Die wissenschaftliche Philosophie, die auf eine Herstellung dieser Übersprache ausgeht, versteht sich folgerichtig als Metalinguistik. Das klingt wie Metaphysik, klingt nicht nur so, ist auch so; denn die Metalinguistik ist die Metaphysik der durchgängigen Technifizierung aller Sprachen zum allein funktionierenden interplanetarischen Informationsinstrument. Metasprache und Sputnik, Metalinguistik und Raketentechnik sind das Selbe. [...] Unzählige halten indes auch dieses ,Ding‘ Sputnik für ein Wunder, dieses ,Ding‘, das in einem weltlosen ,Welt‘-Raum umherrast; und für viele war es und ist es noch ein Traum: Wunder und Traum der modernen Technik, die am wenigsten bereit sein dürfte, den Gedanken anzuerkennen, das Wort verschaffe den Dingen ihr Sein. Nicht Worte sondern Taten zählen in der Rechnung der planetarischen Rechnerei. Dazu Dichter..? Und dennoch!33
Das Ding im weltlosen Weltraum, planetarische Rechnerei, Technisierung der Sprache, eine in Informationsprozessen sich auflösende Welt – und dazu Dichter? Diese Frage hat sich Heidegger bereits in der 1946 verfassten Abhandlung „Wozu Dichter?“ gestellt, in der es als Antwort unter anderem auf die Atombombe um ein dichtendes Sichbesinnen, um eine Zwiesprache von Denken und Dichten geht, und die Sprache zum ‚Haus des Seins‘ ernannt wird; ein Entwurf, der sich gleicher-
32 Heidegger, Der Satz vom Grund, a.a.O., S. 203. 33 Heidegger, „Das Wesen der Sprache“ a.a.O., S. 160ff.
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maßen gegen literaturwissenschaftliche wie philosophische Traditionen abgrenzt.34 Die Notwendigkeit, die ,Einkehr‘ in das Wesen der Sprache zu suchen, verschärft sich angesichts der ,rein technischen Verhältnisse‘ in Zeiten von Kaltem Krieg, Raumfahrt und Informationstheorie. Das Geschick der Technik entbirgt Heidegger zufolge die Gefahr des Bezugsverlustes von Mensch und Sein, die Technik selbst ist aber nichts ,Dämonisches‘, sondern steht in einem bestimmenden Verhältnis zu Sein und Geschichte und ist selbst wie diese in der Natur, der φύσις, gegründet. Da sich die φύσις aber am liebsten verbirgt und auch die Physik keinen unmittelbaren, technisch unverstellten Zugang zur Natur mehr zu behaupten vermag, bleibt nur die wiederholte Besinnung auf den gemeinsamen Grund und damit die Gegenwendigkeit von τέχνη und ποίησις, von Technik und Kunst, von Atomphysik und Dichtung.
34 „Sie [die seinsgeschichtliche Zwiesprache zwischen Denken und Dichten] gilt der literaturhistorischen Forschung unvermeidlich als ein unwissenschaftliches Vergewaltigen dessen, was jene für Tatsachen hält. Die Zwiesprache gilt der Philosophie als ein Abweg der Ratlosigkeit in die Schwärmerei.“ (Heidegger, „Wozu Dichter?“, in: Holzwege, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, 2. Aufl., Frankfurt am Main 2003 (= Gesamtausgabe. Bd. 5), S. 269-320, hier S. 274; vgl. auch S. 294, S. 310).
FRANÇOISE DASTUR
Entwurf einer phänomenologischen Chrono-logie1 In Sein und Zeit entwickelt Heidegger den Gedanken, dass der geworfene Entwurf die Seinsverfassung des Daseins sei.2 Entwurf und Geworfenheit konstituieren also Heidegger zufolge die wesentliche Struktur der Existenz, die zu verstehen ist als im Wurf befindliche und deswegen als das Außer-sich-sein, das heißt als die Zeitlichkeit des Daseins.3 Und wenn die Geworfenheit auch in der Gewesenheit gründet – der Übernahme dessen, was sich bereits mit und vor mir ereignet hat –, so ist der Entwurf durch die ekstatische Form der Zeitlichkeit des Daseins im Grunde zukünftig. Dies scheint der alltäglichen Aufassung, dass Entwürfe in die Zukunft weisen, zu entsprechen. Heidegger merkt indes an, dass das Entwerfen „mit einem Sichverhalten zu einem ausgedachten Plan“ nichts zu tun habe,4 sodass man den Entwurf nicht einfach als ein „Planen“ oder „Projizieren“ in die Zukunft verstehen sollte.5 Was aber bedeutet „Entwurf“ dann genau? „Entwerfen“ heißt für Heidegger nicht Etwas-vor-sich-werfen – und hier sollte man unterstreichen, dass „Vorwurf“ in Heideggers Verständnis zuerst die Bedeutung von „Objekt“ hat –,6 vielmehr verbindet Heidegger mit dem Vollzug des Entwerfens ein Weg-von-sich-werfen, „hinwerfen“ im Sinne von „ein Bild gestalten“ oder „skizzieren“7. Aufgrund dieser semantischen Affinität zum Schematisieren liegt es nahe, Heideggers Entwurfskonzeption in Verbindung zu bringen mit seiner Interpretation von Kants Lehre der Einbildungskraft, die Heidegger bereits in seiner Vorlesung zur Logik von 1925 zu entwickeln beginnt.8 In seiner Vorlesung über die Kritik der reinen Vernunft des Wintersemesters 1927/28 führt Heidegger dann aus, dass, obzwar der menschliche Intuitus derivativus nicht ontisch schöpferisch ist, er gleichwohl ontologisch schöpferisch in der exhibitio originaria, der produktiven Synthe1 Vorliegender Text bringt die Überarbeitung eines Vortrags, den ich 1995 auf Einladung von Bernhard Waldenfels an der Ruhr-Universität Bochum gehalten habe. Die Grundlage für die hier vorgestellten Gedanken bildet mein Buch Dire le temps. Esquisse d’une chrono-logie phénoménologique, La Versanne 1994. 2 Martin Heidegger, Sein und Zeit, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1977 (= Gesamtausgabe. Bd. 2), S. 295. 3 Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 435f. 4 Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 193. 5 In dieser Hinsicht ist die übliche französische Übersetzung dieses Wortes als „projet“ irreführend. 6 In Der Satz vom Grund bemerkt Heidegger, dass „Vorwurf“ die wörtliche Übersetzung des griechischen πρόβλημα sei, dessen lateinische Übersetzung wiederum „obiectum“ sei. Vgl. Martin Heidegger, Der Satz vom Grund, Pfullingen 1971, S. 148. 7 So führt der Duden aus, dass „Entwerfen“ ein Fachwort der Bildweberei war. „entwerfen“, in: Der Große Duden. Herkunsftswörterbuch, Bd. 7, hg. von der Dudenredaktion, Mannheim 2001, S. 182. 8 Martin Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, hg. v. Walter Biemel, Frankfurt am Main 1976 (= Gesamtausgabe. Bd. 21), S. 357-379.
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sis der Einbildungskraft sei.9 Dies heißt, dass das Dasein als geworfenes auf das vorgegebene Seiende angewiesen bleibt und deswegen den Entwurf eines vorgängigen Horizonts braucht, innerhalb dessen das Seiende als solches erscheinen kann. In diesem Zusammenhang nun greift Heidegger Kants Begriff des Schematismus auf. In Kant und das Problem der Metaphysik von 1929 schreibt Heidegger, dass „das Geschehen der Transzendenz in seinem Innersten ein Schematismus sein muss“.10 Kants Begriff des Schemas bezeichnet aber kein empirisches Bild, sondern die Vorstellung einer Regel, mittels welcher eine Vorstellung von etwas Bestimmten möglich wird. Durch die Ausbildung von Schemata gibt die reine Einbildungskraft einen gleichsam skizzenhaften Vorblick auf das Seiende. Schemata sind Vorgriffe auf das jeweils begegnende Seiende, das von der Einbildungskraft durch einen allgemeinen, ‚schematischen‘ Anblick in seiner ontischen Konkretion vorgezeichnet wird. Das transzendentale Schema ist also für Heidegger die Vor-zeichnung dessen, was sich als seiend aufweisen lässt. Was Kant Heidegger zufolge in seiner Schematismustheorie entdeckt, ist „die ursprüngliche Produktivität des Subjekts“, die Heidegger in seiner Vorlesung Metaphysische Anfangsgründe der Logik von 1928 als „die eigentümliche innere Produktivität der Zeitlichkeit“ versteht.11 Denn anders als bei Kant wird Transzendenz bei Heidegger nicht auf die Subjektivität, sondern auf die ekstatische Zeitlichkeit des Daseins bezogen, die so zur „Origo der Transzendenz“ wird.12 Die Ekstasen der Zeitlichkeit sind nicht einfach unbestimmte Entrückungen zu…, sondern zu jeder Zeitekstase gehört ein Horizont, der gewissermaßen ihr Ekstema als ein Wohin des Ausgreifens konstituiert.13 Diese Richtung der Ekstase charakterisiert Heidegger als das „horizontale Schema“. Zugleich betont er, dass diese Schemata der Ekstasen von diesen struktural nicht abzulösen sind, sodass ein allgemeinerer Begriff der „Temporalität“ gewonnen ist: „Temporalität ist Zeitlichkeit mit Rücksicht auf die Einheit der ihr zugehörigen horizontalen Schemata“.14 Der Entwurf muss also in Verbindung mit Transzendenz und Temporalität gedacht werden. Wie nun aber Geworfenheit auf Befindlichkeit bezogen ist, so ist der Entwurf auf Verstehen gerichtet, welches nicht eine Art der Erkenntnis, sondern „eine ursprüngliche Bestimmtheit der Existenz des Daseins“ ist.15 Bereits aus dem alltäglichen Sprachgebrauch des Wortes „verstehen“ ergibt sich seine existenziale Bedeutung: „einer Sache vor-stehen können, ihr gewachsen sein, etwas können“,
9 Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, Ingtraud Görland, Frankfurt am Main 1977 (= Gesamtausgabe. Bd. 25), S. 417. 10 Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, hg. v. Friedrich-Wilhelm von mann, Frankfurt am Main 1991 (= Gesamtausgabe. Bd. 3), S. 97. 11 Martin Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, hg. v. Held, Frankfurt am Main 1978 (= Gesamtausgabe. Bd. 26), S. 272. 12 Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, a.a.O., S. 272. 13 Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, a.a.O., S. 269. 14 Martin Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, hg. v. Friedrich-Wilhelm von mann, Frankfurt am Main 1975 (= Gesamtausgabe. Bd. 24), S. 436. 15 Heidegger, Die Grundprobleme der Metaphysik, a.a.O., S. 390.
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wie Heidegger in Sein und Zeit erklärt.16 So aufgefasst hat „verstehen“ denselben Sinn wie das griechische Wort ἐπιστήμη, das ursprünglich nicht „Erkenntnis“ oder „Wissenschaft“ bedeutet, sondern Bekanntschaft mit etwas machen, sich bei einer Sache aufhalten, sie aufnehmen. Als Anverwandlung dieses Begriffs von ἐπιστήμη besagt Verstehen „sein-können“ und genauer „sich entwerfen auf eine Möglichkeit, im Entwurf sich je in einer Möglichkeit halten“.17 Das Verstehen ist dann als Sichentwerfen „die Grundart des Geschehens des Daseins“.18 Mit dem Ausdruck „Geschehen des Daseins“, womit Heidegger „die spezifische Bewegtheit des erstreckten Sicherstreckens“ bezeichnet,19 stellt sich erneut die Frage der Beziehung zwischen Entwurf, Verstehen und Zeitlichkeit. In seiner Vorlesung Grundbegriffe der Metaphyisk von 1929/30 gibt Heidegger einen wesentlichen Hinweis zur existenzialen Bedeutung des Entwurfs wenn er betont, dass „das Geschehen des Entwurfs den Entwerfenden in gewisser Weise von ihm weg- und fortträgt“, dass aber „in diesem Fortgenommenwerden vom Entwurf […] gerade eine eigentümliche Zukehrung des Entwerfenden zu ihm selbst“ geschehe.20 Diese Entwurfsanalyse legt Heidegger am Ende der Vorlesung vor, welcher er den Untertitel „Welt, Endlichkeit, Einsamkeit“ gibt, worin Heidegger die drei fundamentalen Fragen der Metaphysik erblickt. In der Frage der Endlichkeit wiederum sieht Heidegger „die einigende und ursprüngliche Wurzel der beiden anderen“, weil in der Endlichkeit die „Gebrochenheit des Daseins“ zum Ausdruck kommt, welches gleichzeitig von der Ferne der Welt bedrängt und durch seine Einsamkeit, das heißt die Einzigkeit und Einmaligkeit seines Daseins, vereinzelt ist.21 Das Dasein ist weder wie das Tier von dem Begegnenden ganz ein- oder hingenommen, noch reflexiv nur sich selbst zugewandt, vielmehr ständig enthoben in das Mögliche, sodass das Dasein als Erwerfendes „gerade nicht zur Ruhe“ kommen kann.22 Derart verstanden erweist sich der Entwurf also als das, worauf die Möglichkeit des λόγος als ursprüngliche Einheit von σύνθεσις und διαίρεσις gegründet wird, weil der Entwurf „jenes ursprünglich einfache Geschehen“ ist, „das […] Widersprechendes in sich vereinigt: Verbinden und Trennen“.23 Daran wird deutlich, dass λόγος, das heißt Rede und Sprache, auf den Entwurfscharakter des Daseins, das heißt auf dessen Verstehen und Zeitlichkeit, gegründet ist. Doch kann λόγος als solcher das Wesen des Entwurfs ausdrücken? Kann im
16 Martin Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 190. Vgl. auch Martin Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, hg. v. Hermann Mörchen, Frankfurt am Main 1988 (= Gesamtausgabe. Bd. 34), S. 22, S. 61. 17 Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, a.a.O., S. 392. 18 Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, a.a.O., S. 393. 19 Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 495. 20 Martin Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1983 (= Gesamtausgabe. Bd. 29/30), S. 527. 21 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, a.a.O., S. 252f. 22 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, a.a.O., S. 528f. 23 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, a.a.O., S. 530.
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λόγος das Geschehen des Daseins, im Licht dessen der Mensch, wie Nietzsche sagt, als „ein Übergang“ erscheint,24 zur Sprache gebracht werden? Anders gefragt, ist es überhaupt möglich, die Zeit zu sagen? Diese Frage mag zunächst gegenstandslos erscheinen, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Sprache nicht bloß eine einfache semiotische Tätigkeit ist, dass sie also nicht nur darin besteht, vorfindliche Dinge mit Namen zu versehen, sondern dass Sprache auch die zeitliche Beziehung des menschlichen Wesens zur Welt ausdrückt. Besonders deutlich wird dies bei den indogermanischen Sprachen, weil deren Morphologie auf dem Unterschied zwischen Namen und Verb gründet. Sprachen dieser Klasse haben eine innere Zeitbeziehung, die sich aber – wie bei allen Sprachen – nur im gegenwärtigen Sprechen adäquat entdecken lässt. Anders als die herrschende Tendenz der modernen semiotischen Sprachwissenschaft seit Saussure, der in der Sprache bloß ein Zeichensystem sah, hatte Humboldt die Sprache zuvor als eine Tätigkeit definiert, die darin besteht, „den artikulierten Laut zum Ausdruck des Gedanken fähig zu machen“,25 als die Arbeit des Geistes, der zwischen dem Subjekt und den Objekten eine Welt von Bedeutungen setzt. Humboldt versteht Sprache so als „etwas beständig und in jedem Augenblicke Vorübergehendes“, etwas wovon man folglich nur eine genetische Definition geben kann. Aus diesem Grund verortet Humboldt die eigentliche Grammatik der Sprache in der lebendigen Tätigkeit des Sprechens und nicht in einem leblosen Zeichensystem: „Die Sprache liegt nur in der verbundenen Rede, Grammatik und Wörterbuch sind kaum ihrem todten Gerippe vergleichbar“.26 Humboldts Sprachbetrachtung bietet für den Versuch einer Chronologie, in der die Temporalität der Rede befragt wird, ein ausgezeichnetes Beispiel.
1. Die Temporalität der Rede Die Frage nach der Temporalität der Rede hat, wenn auch meist verdeckt, die gesamte abendländische Tradition beherrscht, deren Ursprung zu Recht in jener Reflexion zu suchen ist, die von den griechischen Denkern über ihre eigene Sprache angestellt wurde. Es ist in diesem Zusammenhang kaum möglich, alle Entwicklungsschritte zu analysieren, die zur ersten sich philosophisch nennenden Rede, das heißt zu Platons Ideentheorie, geführt haben. Gleichwohl soll anhand einiger Bei24 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, a.a.O., S. 531. Siehe Also sprach Zarathustra, Zarathustras Vorrede, § 4: „was geliebt werden kann am Menschen, das ist, dass er ein Übergang und ein Untergang ist“. Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München/Berlin/New York 1980 (= Kritische Studienausgabe. Bd. 4), S. 17. 25 Wilhelm von Humboldt, „Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts (1830-1835)“, in: Wilhelm von Humboldts Gesammelte Schriften, hg. von der Preussischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1907 (= Werke. Bd. 7.1), S. 1-344, hier S. 46. 26 Wilhelm von Humboldt, „Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues (18271829)“, in: Wilhelm von Humboldts Gesammelte Schriften, hg. von der Preussischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1907 (= Werke. Bd. 6.1), S. 111-303, hier S. 147.
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spiele aufgezeigt werden, welche Bedeutung der grammatischen Selbstbesinnung bei der Ausbildung jenes Denkens zukommmt, das sich ab dem vierten vorchristlichen Jahrhundert in Griechenland den Namen „Philosophia“ gegeben hat. Unter „Grammatik“ sei hier nur die immanente syntaktische Struktur des Sprechens und nicht ihre wissenschaftliche Beschreibung verstanden, wie sie in verschriftlichten Grammatiken vorliegt. In seiner Einleitung zur Reedition der Grammaire de Port-Royal aus dem 17. Jahrhundert hält Michel Foucault fest: Es „verdoppelt sich der Sinn des Worts Grammatik; es gibt eine Grammatik, die in der jeder geäußerten Rede immanenten Ordnung besteht, und eine Grammatik, die in der Beschreibung, Analyse und Erklärung — in der Theorie — dieser Ordnung besteht“.27 Diese „immanente Ordnung der Rede“, diese fungierende Syntax, ist dem Menschen nur langsam ins Bewusstsein gekommen – oder vielmehr erweist sich dieses Innewerden der Sprachstruktur als der wahre Ursprung dessen, was man heute „Bewusstsein“ nennt. Diese Übertragung ist es, was die Ausarbeitung der ἐπιστήμη λογική, der Wissenschaft der Logik erlaubt hat, die der Ausarbeitung der γραμματικὴ τεχνή, der Grammatik im technischen Sinne des Wortes weithin vorausgeht. Tatsächlich ist die Wissenschaft der Grammatik in der abendländischen Tradition recht spät, nämlich erst in der hellenistischen Zeit entstanden. Dies bedeutet indes nicht – wie man fälschlicherweise aus der Bezeichnung γραμματικὴ selbst folgern könnte –, dass für diesen Vorgang die vorgängige schriftliche Fixierung des Sprechens nötig gewesen wäre. Im fünften oder vierten vorchristlichen Jahrhundert – in einer Zeit also, in der das Schreiben noch keine etablierte und generalisierte Kulturtechnik und die vedische Tradition eine Art grundsätzlichen Phonozentrismus darstellte – erarbeitete der indische Grammatiker Panini eine umfassende metasprachliche Analyse des Sanskrit, die noch heute als sprachpraktisches Sanskritlehrbuch brauchbar ist. Das, was die Griechen der hellenistischen Zeit γραμματικὴ τεχνή nennen, heißt bei Panini vyakarana, ein Wort, das sowohl „Erscheinung“ als auch „Unterscheidung“ bedeuten kann, was zusammengenommen den Sinn einer aufklärenden Analyse besitzt, durch welche die Sprechenden der Morphologie und Grammatik ihrer eigenen Sprache innewerden. Die Absicht, die hinter der Grammatik von Port-Royal steht – nämlich eine allgemeine Grammatik zu entwerfen –, ist dann von noch größerer Tragweite als die Grammatik im Sinne von Panini. So zielt die Grammatik von Port-Royal auf eine apriorische Grammatik, die den Charakter einer „Metagrammatik“ hat, vergleichbar mit der „Logik des Sinnes“, die Husserl 1900 in der vierten Logischen Untersuchung entwickelte. In der Tat hat Husserl, wie Heidegger es in seiner Habilitationsschrift über Duns Scotus deutlich zum Ausdruck bringt, der Theorie der Bedeutungsformen ihre zentrale Rolle zurückgegeben – analog zur Wiederentde27 Michel Foucault, „Einleitung“, in: Dits et écrits (1954-1969), hg. v. Daniel Defert und François Ewald, übers. v. Michael Bischoff, Hans-Dieter Gondeck und Hermann Kocyba, Frankfurt am Main 2001 (= Schriften in vier Bänden. Bd. 1), S. 932-957, hier S. 942 („le sens du mot grammaire se dédouble: il y a une grammaire qui est l’ordre immanent à toute parole prononcée, et une grammaire qui est la description, l’analyse et l’explication – la théorie de cet ordre“ Michel Foucault, „ Introduction“, in: Dits et écrits I, Paris 1994, S. 760-780, hier S. 768).
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ckung der apriorischen Grammatik durch den französischen Rationalismus des siebzehnten Jahrhunderts, der damit seinerseits die Zielsetzung der mittelalterlichen Tradition der grammatica speculativa des zwölften Jahrhunderts wiederholt. Die Ausarbeitung der Letzteren vollzieht sich, wie Heidegger ausführt, in einer Zeit, da das Interesse an der aristotelischen Dialektik neu erwacht war und die logischen sowie grammatischen Untersuchungen auf ein Denkens zielten, das anhand des grammatischen Ausdrucks einer kritischen Analyse unterzogen wurde. Der Zweck, den solche Analysen verfolgten, war die Ausarbeitung einer wahren „Logik der Sprache“.28 Von Johannes von Salisbury, einem Denker des zwölften Jahrhunderts, der in Paris bei Peter Abelard studierte, stammt das berühmte Wort, das sich in seinem Metalogicon findet: „grammatica […] est totius philosophiae cunabulum“ – „Die Grammatik ist die Wiege der ganzen Philosophie“.29 Diese Formel gibt eine klare Vorstellung von der spekulativen Verwandlung der grammatischen Wissenschaft und könnte auch als Motto dieser gegenwärtigen Untersuchung genommen werden. Um Salisburys Spruch genauer zu erläutern, ist es hilfreich, mit dem Philologen Bruno Snell die entscheidende Rolle des bestimmten Artikels für das philosophische Denken in den Blick zu nehmen: Snell macht in Die Entdeckung des Geistes von 1946 auf das Problem aufmerksam, das sich Cicero stellt, als er die platonische Idee des Guten ins Lateinische, das keinen Artikel besitzt, übersetzen möchte.30 Cicero muss das simple griechische τὸ ἀγαθόν mit der Periphrase id quod bonum est wiedergeben. Anders als Griechisch hatte Latein nicht die konkrete Sprachform, die zur Ausbildung abstrakter Begriffe dienen kann, entwickelt: in diesem Fall zur Übersetzung des griechischen bestimmten Artikels auf der Grundlage des Demonstrativpronomens, das die ursprüngliche Bedeutung des τό ist. Noch wirksamer aber als das Demonstrativpronomen erweist sich bei der Genese der philosophischen Denkweise aus Snells Sicht das Partizip, das, wie sein Name bereits anzeigt, an zwei Bedeutungen, einer nominalen und einer verbalen, partizipiert, und bereits im parmenideischen Lehrgedicht erstmals und zentral in der singulären Form des ἐόν als das Leitwort einer neuen Art zu Denken auftaucht. Wie Jean Beaufret in seiner Erläuterung von Parmenides’ Gedicht herausstellt, sind die Griechen aller Wahrscheinlichkeit nach φιλό-σοφοι, Freunde des Wissens, geworden, weil sie zuerst, φιλο-μέτοχοι Freunde des Partizips, gewesen waren.31 Denn diese grammatikalische Kategorie, die in der griechischen Sprache ihre intensivste Ausprägung findet, ist der Ursprung der doppelten, existentialen und kategorialen, Bedeutung des Begriffs von Sein; und diese doppelte Bedeutung bestimmt auch die doppelte, ontologische und theologische, Struktur der aristotelischen πρῶτη
28 Martin Heidegger, Frühe Schriften, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1972 (= Gesamtausgabe. Bd. 1), S. 145, S. 269ff. 29 Ioannis Saresberiensis, Metalogicon, hg. v. John Hall, Turnhout 1991, I, 13, 840 a 5-8. 30 Bruno Snell, Die Entdeckung des Geistes, 6. Aufl., Göttingen 1986, S. 205ff. 31 Jean Beaufret, Le Poème de Parménide, Paris 1955, S. 34.
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φιλοσοφία die selbst den Ursprung der grundsätzlichen Einteilung der scholastischen Metaphysik in metaphysica generalis und metaphysica specialis darstellt. Diese zwei Beispiele belegen die zentrale Bedeutung des Nominierungsprozesses in der Ausbildung des begrifflichen Denkens. In dieser Hinsicht ist die platonische Wesensfrage in der Form τί ἐστιν nichts anderes als die Suche nach dem richtigen Namen. Wenn dies stimmt, kann man auch mit Recht behaupten, dass im Vorrang des Namens der Ursprung der platonischen Bestimmung der Philosophie als Suche nach abgetrennten intelligiblen Formen liegt. Auch wenn Aristoteles in seiner Kritik des platonischen χωρισμός zwischen dem Sinnlichen und dem Übersinnlichen eine Seinstheorie entwickelt, die zeigt, dass das Sein nicht von unseren Reden getrennt ist, insofern es πολλαχῶς λέγεται – auf verschiedene Weisen (aus)gesagt wird –, so findet sich in seiner Schrift über die Interpretation, Peri hermeneias, dennoch keine Analyse der Sprache, die das Verb ins Zentrum des Satzes stellen würde. Die Tatsache, dass eine Analyse des Sprachphänomens, die nicht dem Namen, sondern dem Verb den Vorrang gibt, in der indogermanen Sprachgruppe indes möglich ist, beweist Paninis Analyse: in seiner „Grammatik“ wird der verbale Satz zur Grundlage und rückt so das Verb ins Zentrum, auf das alle anderen Faktoren der Handlung (Agens, Objekt, Instrument und dergleichen) bezogen sind. Eine solche auf das Verb zentrierte Analyse des Satzes aber findet sich nicht in Peri Hermeneias, einer Schrift, die man zu Recht als die erste abendländische Abhandlung über die Sprache betrachten kann. Im Gegenteil gilt Aristoteles das Verb, ῥῆμα als „ein Zeichen (σημεῖον) dessen, was man von etwas anderem sagt, das zum Subjekt (ὑποκείμενον) gehört oder das im Subjekt enthalten ist“.32 Dies bedeutet, dass das Verb nur als ein Prädikat verstanden wird und dass, konsequenterweise, der Name den wichtigsten Teil der Rede bildet. Aristoteles bestimmt das Verb selbst, getrennt vom Satz, als einen „Namen“, der aber im Gegensatz zum Namen selbst, der in keiner Zeitbeziehung steht, diesem erst die Bedeutung des Zeitbezugs hinzufügt. Dieses προσεμαίνον χρόνον, diese ‚Zeithinzufügung‘, ist nicht identisch mit der πτῶσις ῥῆματος, dem Tempus des Verbs, sondern bedeutet nur, dass sich der Sprechende im verbalen Teil der Rede gegenwärtig auf das bezieht, was er sagt. Aber das kann er nur auf der synthetischen Ebene des Satzes tun, sodass das Verb allein betrachtet keinen Bezug zur wirklichen Zeitlichkeit aufweist – einen solchen Bezug findet man nicht in den Wörtern selbst, sondern nur zwischen dem, was gesagt wird, und dem Sprechenden, in der Spannung beider und auf der Ebene von Worten.33 Vor diesem Hintergrund kann man mit Johannes Lohmann behaupten, der in seinem 1945 erschienen Buch Philosophie und Sprachwissenschaft die Grundlinien einer temporalen Logik zu entwerfen versucht, dass die aristotelische Sprachanalyse als eine rein logische Theorie des Logos konzi32 Aristoteles, De interpretatione, hg. v. Lorenzo Minio-Paluello, Oxford 1949, 16 b 10 (Hervorhebung F.D.). 33 Zur Unterscheidung von Wörtern und Worten vgl. Heideggers Ausführung in Was heißt Denken?: „Auf das Sagen der Worte achten, ist im Wesen etwas anderes, als es zunächst den Anschein hat, nämlich den Anschein einer bloßen Beschäftigung mit Wörtern“. Martin Heidegger, Was heißt Denken?, Tübingen 1954, S. 89.
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piert ist, in welcher der Logos als eine bloße Verflechtung der logischen Formen von Namen und Verb unabhängig von ihrem Bezug zur wirklichen Zeitlichkeit definiert wird.34 Gleichwohl ist der Zeitbezug aber in der Syntax der griechischen Sprache selbst einbeschrieben, die, sofern sie zur indogermanischen Sprachgruppe gehört, eine flektierende Sprache ist. Seit Friedrich Schlegels berühmter Abhandlung Über die Sprache und Weisheit der Indier von 1808 ist Flexion oder Beugung zum zentralen sprachtypologischen Kriterium avanciert. Humboldt weigert sich indes, in diesem Kriterium eine absolute Demarkationslinie zu sehen und hält entgegen: „In keiner Sprache ist Alles Beugung, in keiner Alles Anfügung“.35 Es bedeutet daher, dass alle Sprachen im Lichte der Flexionsstruktur verstanden sein können, auch wenn diese Struktur überhaupt abwesend zu sein scheint, wie es beim Chinesischen der Fall ist im Gegensatz zum Sanskrit, das gewissermaßen das Modell der flektierenden Sprache darstellt. Humboldt, der von dieser anscheinend grammatischen Sprache fasziniert zu sein scheint, zeigt aber auf, dass Chinesisch nicht den phonetischen Permutationen, sondern den Wortstellungen die Ausdrucksfunktion der grammatischen Form zuweist, was ihm zufolge „eine hohe Stufe der inneren Spannung“ verlange. Chinesisch sei deshalb nicht als eine niedrige Form der Sprache anzusehen. Paninis Sprachanalyse unterscheidet schon zwischen Stamm und Endung und lässt den flektierenden Charakter des Sanskrits offenkundig werden. Seit Franz Bopp, dem Begründer der vergleichenden Grammatik, gilt Sanskrit als die Matrix aller indogermanischen Sprachen. In der semitischen Sprachgruppe findet sich zwar auch Flexion, aber nicht Stammflexion wie im Sanskrit, sondern Wurzelflexion. Während in indogermanischen Sprachen der Stamm ausschließlich das Produkt einer Analyse ist, die allein durch eine etymologische Untersuchung legitimiert werden kann, ist in den semitischen Sprachen die Wurzel Teil der lebendigen Spracherfahrung. Dies zeigt sich allem voran darin, dass sie im Sprachbewusstsein des Sprechenden gegenwärtig ist, obwohl sie lediglich in der Schrift verkörpert ist. In Peri hermeneias nun gebraucht Aristoteles dasselbe Wort πτῶσις, „Fall“, wörtlich „Fallen“, Latein casus, um jede Art der Abwandlung der Grundform des Wortes, sei es die eines Namens oder eines Verbs, zu bezeichnen. Die hellenistischen Grammatiker verstehen unter πτῶσις dann allein die Bezeichnung der Abwandlung des Namens und gebrauchen ἔγκλισις, Neigung, um die Abwandlungen des Verbs zu bezeichnen. Im Kapitel über „Die Grammatik des Wortes ‚sein‘“ in der Einführung in die Metaphysik bemerkt Heidegger nun, dass die Wahl dieser Wörter belege, dass die Griechen das Sein als eine gleichsam „im Stand“ bleibende Anwesenheit verstanden haben: Die Namen πτῶσις und ἔγκλισις bedeuten Fallen, Kippen und Sich-neigen. Darin liegt ein Ab-weichen vom Aufrecht- und Geradestehen. Dieses aber, das in sich hoch gerichtete Da-stehen, zum Stand kommen und im Stand bleiben, verstehen die Grie34 Johannes Lohmann, Philosophie und Sprachwissenschaft, Berlin 1965, S. 176. 35 Humboldt, „Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues (1827-1829)“, a.a.O., S. 275.
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chen als Sein. Was dergestalt zum Stand kommt, in sich ständig wird, schlägt sich dabei von sich her frei in die Notwendigkeit seiner Grenze, πέρας. Diese ist nichts, was zum Seienden erst von außen hinzukommt. Noch weniger ist sie ein Mangel im Sinne einer abträglichen Beschränkung. Der von der Grenze her sich bändigende Halt, das Sich-Haben, worin das Ständige sich hält, ist das Sein des Seienden, macht vielmehr erst das Seiende zu einem solchen im Unterschied zum Unseienden. Zum Stand kommen heißt darnach: sich Grenze erringen, er-grenzen.36
Nach Heidegger ist das, was die Griechen ἰδέα oder εἶδος nannten konsequenterweise das, was in sich selbst steht, das heißt in seine eigenen Grenzen eingefasst ist, das, was sich in dem, wie es aussieht, seiner Gestalt, darstellt. εἲδος oder ἰδέα erhalten diesen ihren Sinn aber Heidegger zufolge durch eine fraglos hingenommene Erfahrung des Sinnes von Sein als Anwesenheit. Dies erklärt zumindest, weshalb Aristoteles die πτῶσις ῥῆματος, die Flexionen des Verbs, das Präteritum und das Futurum nannte: In beiden Fällen wird die gewesene oder zukünftige Nicht-Präsenz auf die Form einer stabilen und vollendeten Präsenz zurückgeführt, auf welche wir nur auf eine retrospektive oder prospektive Weise hinblicken können. Die stabile Form der Präsenz kann daher in einer privativen Weise innerhalb des Zeitverlaufs erhalten werden, was im aristotelischen Denken durch die Bildung des Begriffs der στέρησις, Latein privatio, abgebildet wird. Bei Aristoteles haben wir daher mit der Definition des Verbs als Prädikat auf der einen Seite den Ursprung der logischen Form des Satzes als die Synthesis von Begriffen definiert, und mit der Anerkennung des Flexionscharakters des Verbs finden wir auf der anderen Seite das implizite Verständnis der Rede als Vergegenwärtigung des Seins. Heidegger widmet einen langen Teil seiner Vorlesung aus dem Wintersemester 1925/2637 der Analyse des aristotelischen Oszillierens zwischen einer logischen und einer ontologischen Konzeption des Logos. Zu dieser Zeit – 1926 beendet Heidegger Sein und Zeit –, gelten Heideggers Bemühungen der Frage, wie der nichttemporale Charakter der Wahrheit aufzuklären sei. Zeitgleich mit Husserl und auf ähnliche Weise wie dieser, der eine Genealogie der Logik ausarbeitet (das Ergebnis davon wird nur posthum mit der Veröffentlichung von Erfahrung und Urteil zugänglich werden),38 unternimmt auch Heidegger eine genetische Analyse des Wahrheitsbegriffes. Die Heidegger’sche Untersuchung des aristotelischen λόγος ἀποφαντικός kommt zum Ergebnis, dass Aristoteles, weil er den Phänomenen treu geblieben sei, anstatt eine Theorie des Wissens zu entwickeln, zeigen konnte, dass Wahrheit und Unwahrheit nicht nur in der Rede, sondern auch in den Dingen selbst zu finden seien. Die Wahrheit kann daher mit Aristoteles nicht mehr auf der Stufe des Urteils lokalisiert werden, weil es Wahrheit schon auf der Stufe des einfachen Vernehmens gebe, auf der Ebene des einfachen Kontakts mit den Dingen, wie
36 Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Tübingen 1966, S. 46. 37 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, a.a.O., S. 127-195. 38 Edmund Husserl, Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik, Hamburg 1948. Dieses Werk wurde zuerst von Ludwig Langrebe gleich nach dem Tod Husserls 1938 veröffentlicht.
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Aristoteles es im Buch Θ 10 der Metaphysik zeige. Heideggers Antwort auf die Frage nach der genetischen Verfassung der Wahrheit lautet: „Satz ist nicht der Ort der Wahrheit, sondern Wahrheit der Ort des Satzes“.39
2. Logik und Philosophie Das aber, was fraglos in der aristotelischen Konzeption der ontologischen Wahrheit bleibt, ist der temporale Sinn, welcher in der Identifizierung von Wahrheit und Sein liegt. In der erwähnten Vorlesung gelangt Heidegger so zur „Idee einer phänomenologischen Chronologie“. Die Aufgabe einer solchen phänomenologischen Chronologie ist die Frage nach der Temporalität der Phänomene. Temporalität meint hier nicht das In-der-Zeit-sein der Phänomene, sondern die Tatsache, dass sie „durch Zeit charakterisiert“ sind,40 das heißt, dass ihre Struktur die Zeit miteinbezieht – und in Bezug darauf findet sich auch eine gewisse Nähe zu dem, was Husserl in seinen Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins „Zeitobjekte“ nennt. Ein solcher Typ chronologischer Untersuchung hat offenkundig nichts mit der historischen Wissenschaft zu tun, die „Chronologie“ heißt, und die die Zeitrechnung zum Gegenstand hat. Heidegger fügt deshalb das Beiwort „phänomenologisch“ hinzu: Er möchte zeigen, dass „dieser Logos von der Zeit, diese Erforschung der Zeit philosophisch orientiert ist und mit Zeitrechnung und Lehre von der Zeitrechnung nichts zu tun hat“.41 Eine solche Chronologie phänomenologischer Art darf mit Heidegger als Fundamentalforschung innerhalb philosophischer Wissenschaft verstanden werden. Heidegger verzichtet aber darauf, die Idee dieser Chronologie mit den üblichen philosophischen Disziplinen zusammen zu bringen. Denn, so Heidegger, „es [könnte sein], daß durch diese Chronologie die traditionellen Disziplinen in ihrer Verwurzelung erschüttert werden“,42 sodass es vermutlich überhaupt sinnlos ist, die phänomenologische Chronologie im traditionellen Sinne zu klassifizieren. Man sollte daher nicht versuchen, die Chronologie im System der Philosophie einzuschließen, sondern vielmehr das Augenmerk auf die Aufgabe richten, die dieser Chronologie zukommt. Zunächst gilt es indessen, das Arbeitsfeld dieser Forschung zu umreißen, wie die Unsicherheit im philosophischen Gebrauch von Zeitbegriffen und Zeitbestimmungen zeigt, sowohl „die rohe Art, in der man von Zeit, von Zeitlosigkeit gegenüber Zeitlichkeit zu sprechen pflegt, als wären das die einfachsten Dinge von der Welt“.43 Kant ist für Heidegger nun der Erste und vor ihm „der Einzige, der in dieses dunkle Gebiet vortastete“, ohne aber „einen Einblick in die grundsätzliche Bedeutung seines Versuchs zu gewinnen“.44 39 40 41 42 43 44
Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, a.a.O., S. 135. Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, a.a.O., S. 199. Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, a.a.O., S. 200. Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, a.a.O., S. 200. Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, a.a.O., S. 200. Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, a.a.O., S. 200.
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Genauer erblickt Heidegger in Kants Konzeption des transzendentalen Schematismus einen wesentlichen Versuch der chronologischen Untersuchung in dem präzisen Sinn, dass Kant die innere Temporalität der Grundverhalten des Daseins aufweist, das heißt der Verstandes- oder Bewusstseinshandlungen. Über ein Drittel dieser Vorlesung widmet Heidegger deshalb Kants Lehre der Zeit. Weil Heidegger darin mehr als eine bloß äußerliche Verbindung von Verstand und Sinnlichkeit erblickt, weist er Hegels Kritik am kantischen Schematismus entschieden zurück. Heidegger versucht im Gegenteil, den eigentlichen Sinn der zentralen Problematik, auf die Kant hier gestoßen ist, deutlich zu machen. Kant erkenne Heidegger zufolge „die Dunkelheit der Phänomene“.45 Für Heidegger macht sich in Kants kritischer Philosophie eine charakteristische Zurückhaltung vor den Phänomenen bemerkbar, die alle gewaltsame Übergriffigkeit zu vermeiden sucht. Es gilt für Heidegger nun, sich mit derselben Vorsicht und Zurückhaltung in die ‚Nacht der Zeit‘ zu wagen. In merkwürdiger Koinzidenz hatte Husserl 1926, im selben Jahr in dem Heidegger Sein und Zeit beendet, diesem die Manuskripte seiner Vorlesungen über die Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins gegeben, in welchen Husserl ebenfalls in die dunklen Tiefen der hyletischen Intentionalität hinabsteigt, um nach dem Muster Kants die innere Beziehung von Zeit und Bewusstsein zu verstehen. Heidegger aber, der diese Manuskripte erst zwei Jahre später, im Jahr 1928, veröffentlicht, wird auch danach Kant und nicht Husserl ins Zentrum seines Denkens der Seinstemporalität stellen, wie es spätestens 1929 in Kant und das Problem der Metaphysik deutlich wird.46 Wie dem auch sei, die Ausarbeitung einer phänomenologischen Chronologie scheint in der Tat innerhalb der Aufgabe, die Heidegger sich in diesem Abschnitt seines Denkens stellt, eine Art regulatives Ideal zu bilden. Diese Aufgabe besteht, wie Heidegger in seiner Vorlesung über Leibniz von 1928 unmissverständlich festhält, in der „Destruktion“ der traditionellen Logik.47 Denn diese Schullogik sei nur „der veräußerlichte, entwurzelte und dabei verhärtete Gehalt eines ursprünglichen philosophischen Fragens“.48 Die Aufgabe, die Heidegger übernehmen möchte, besteht genau in der Wiederaneignung des Produktiven und Lebendigen, das unter der Schullogik gleichsam verschüttet wurde. Das heißt: die Logik philosophierend zu betreiben, sich also in einem ersten Schritt für eine philosophierende Logik zu entscheiden. In dieser Hinsicht ist die Heidegger’sche „Destruktion“ nicht ohne Ähnlichkeit mit der Husserl’schen „Rückfrage“, in der es ebenfalls darum geht, die 45 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, a.a.O., S. 201. 46 Man sollte nicht annehmen, dass Heidegger Husserls Phänomenologie des Zeitbewusstseins als bloße Spielart kantischer Zeitkonzeption missverstand. Der späte Heidegger betont ausdrücklich: „Meine Frage nach der Zeit wurde von der Seinsfrage her bestimmt. Sie ging in eine Richtung, die Husserls Untersuchungen über das innere Zeitbewusstsein stets fremd geblieben ist.“ Martin Heidegger, „Über das Zeitverständnis in der Phänomenologie und im Denken der Seinsfrage“, in: Phänomenologie – lebendig oder tot? Zum 30. Todesjahr Edmund Husserls, hg. v. Helmut Gehrig, Karlsruhe 1969, S. 47. 47 Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, a.a.O., S. 132. 48 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, a.a.O., S. 13.
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sedimentierten und verhärteten geschichtlichen Endprodukte der Tradition nach ihrem lebendigen Sinn zu befragen, um so die ursprünglichen Erfahrungen, wovon sie herrühren, wieder in den Focus der Aufmerksamkeit zu bringen. Wie Husserl ist auch Heidegger zu dieser Zeit auf der Suche nach der „Durchsichtigkeit wissenschaftlicher Forschung“.49 Diese wird Heidegger zufolge nur möglich, wenn es der Wissenschaft gelingt, sich selbst als eine Art und Weise zu verstehen, in der sich menschliche Existenz vollzieht. Denn die „Entzeitlichung“, die am Ursprung des formalen Charakters der traditionellen Logik steht, ist auch die Ursache der Naturalisierung des Objektes der Wissenschaft, das seit der Neuzeit als unabhängig von Zeit und Sprache erscheint. Eine philosophierende Logik zu betreiben heißt für Heidegger (in nächster Nähe zum späten Husserl) gerade, diese Form des Naturalismus und des Objektivismus zu bekämpfen.
3. Die Zeitmäßigkeit des Entwurfs Das Projekt einer phänomenologischen Chronologie hat weder in Sein und Zeit noch in den Marburger und Freiburger Vorlesungen aus derselben Periode Spuren hinterlassen. Nach der Kehre verzichtet Heidegger auf die Ausarbeitung einer temporalen Ontologie; die Idee eines temporalen Horizonts als Grundbegriff des Seins wird von Heidegger als unzureichend abgetan. Statt einer solchen Idee entfaltet dieser deshalb in den 1930er und 1940er Jahren ein Denken der Gegend oder „Gegnet“,50 worin Heidegger nun die Möglichkeit eines angemesseneren Zuganges zur Offenheit des Seins erblickt. In dieser späteren Periode aber gilt es gleichwohl, nicht beispielsweise im Raum als solchem das Offene selbst zu suchen, sondern stattdessen die Zeit als die Eröffnung des Seins zu denken, wie 1949 in der Einleitung zu „Was ist Metaphysik?“ deutlich wird51. Hierzu versucht Heidegger, die Zeit in einer entschiedeneren Weise als zuvor von der Dimension der Interiorität und Subjektivität zu befreien. Nach der Kehre lautet die Frage nicht mehr, wie noch in Sein und Zeit, wie die Räumlichkeit auf die Zeitlichkeit zurückzuführen sei52 – vielmehr gilt es, den Zeitspielraum zu denken. So geben die posthum veröffentlichten Beiträge zur Philosophie Zeugnis davon, dass Heidegger bereits zwischen 1936 und 1938 beginnt, die Zeit als Zeitigung, und diese als Entrückung, und somit als Eröffnung zu denken. Heidegger zeigt in den Beiträgen auf, dass die Zeit als entrückende-eröffnende zugleich auch einräumende ist und so Räume „schafft“. Mit dem 49 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, a.a.O., S. 17. 50 Martin Heidegger, „Zur Erörterung der Gelassenheit“ (1945), in: ders., Gelassenheit, Pfullingen 1959, S. 41ff. 51 Vgl. „,Sein‘ ist in ,Sein und Zeit‘ nicht etwas anderes als ,Zeit‘, insofern der ,Zeit‘ als der Vornahme für die Wahrheit des Seins genannt wird, welche Wahrheit das Wesende des Seins und so das Sein selbst ist“. Martin Heidegger, „Einleitung zu ‚Was ist Metaphysik?‘“, in: Wegmarken, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1976 (= Gesamtausgabe. Bd. 9), S. 365-384, hier S. 376. 52 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 485f.
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Wort „Zeit-raum“53 meint Heidegger nicht, wie in dem 1962 gehaltenen Vortrag über „Zeit und Sein“ deutlich wird, den Zeitraum der modernen Physik, sondern das Offene „das im Einander-sich-reichen von Ankunft, Gewesenheit und Gegenwart sich lichtet“. Nur dieses Reichen kann „Raum einräumen, d. h. geben“.54 Aus diesem Grund ist es verständlich, wenn Heidegger betont, dass die Frage nach dem Sinn von Sein, die schon nach der Kehre sich in die Frage nach der Wahrheit des Seins verwandeln musste, fortan als die Frage nach dem Topos des Seins auftritt. Dies bedeutet indes nicht, dass die spätere Formulierung der Seinsfrage die Verleugnung des alten Vorhabens einer phänomenologischen Chronologie impliziert. Im Gegenteil ist es klar, dass die „Topologie des Seins“, die jetzt verlangt wird, die wahre Erfüllung der damals entworfenen Chronologie darstellt. Erst jetzt ist die Zeit nicht mehr in einer noch transzendentalen und metaphysischen Weise als der Horizont oder der Grund des Seins gedacht, nämlich gleichzeitig als sein τέλος und seine ἀρχή, sondern als die Öffnung eines Spielraums des Wohnens. Wenn Heidegger Titel wie Chronologie und Phänomenologie nicht mehr benutzt, bedeutet es somit nicht, wie er selbst in seinem kurzen autobiographischen Text „Mein Weg in die Phänomenologie“ betont, dass er die Phänomenologie überwunden hätte. Er sagt im Gegenteil: Die Phänomenologie „ist die zu Zeiten sich wandelnde und nur dadurch bleibende Möglichkeit des Denkens, dem Anspruch des zu Denkenden zu entsprechen. Wird die Phänomenologie so erfahren und behalten, dann kann sie als Titel verschwinden zugunsten der Sache des Denkens, deren Offenbarkeit ein Geheimnis bleibt“.55 Das Verschwinden solcher „Titel“, die in sich noch die Bezogenheit auf einen möglichen architektonischen Aufbau der Philosophie als Wissenschaft tragen, steht im Dienste einer Unterwerfung des Denkens unter die Sache selbst, welche ihrerseits nicht mehr als Objekt eines möglichen objektivierten oder gar absoluten Wissens betrachtet werden kann. Wenn Heidegger mit dem Titel „Topologie des Seins“ einen neuen programmatischen Hinweis gibt, bedeutet dies nicht, dass die Aufgabe, die als eine chrono-logische bestimmt wurde, jetzt als unerfüllbar betrachtet werden soll, sondern nur, dass die Mittel ihrer Erfüllung nicht mehr dieselben sein können – dass sie insbesondere nicht mehr den λόγος in seiner traditionellen Bestimmung als Mittel gebrauchen kann. Wenn wir nun also die Aufgabe einer Chronologie, das heißt einer temporalen Logik wieder aufnähmen, würde folglich das Problem der Frage danach auftauchen, welchen Sinn wir dem Logos dieser Logik zuteilen sollten. Ist es überhaupt möglich, eine neue Logik zu denken, die in ihren Aussagen das temporale Moment, das in der Beschaffung des wissenschaftlichen Gegenstands ausgeschlossen wurde, wieder aufnimmt? 53 Vgl. Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1989 (= Gesamtausgabe. Bd. 65), §§ 238-242. 54 Martin Heidegger, „Zeit und Sein“ in: ders., Zur Sache des Denkens, Tübingen 1969, S. 1-26, hier S. 15. 55 Martin Heidegger, „Mein Weg in die Phänomenologie“, in: ders., Zur Sache des Denkens, Tübingen 1969, S. 81-90, hier S. 90.
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Auf diese Frage macht Gadamer aufmerksam, wenn er in Wahrheit und Methode schreibt: „Es ist das Ziel der Wissenschaft, Erfahrung so zu objektivieren, daß ihr keinerlei geschichtliches Moment mehr anhaftet… Insofern kann die Geschichtlichkeit der Erfahrung in der Wissenschaft kein Platz gelassen werden“.56 Es ist deswegen ganz klar, dass Heidegger, wenn er den Ausdruck „Topologie des Seins“ prägt, nicht den Logos dieser „Logik“ im traditionellen Sinne meint. Der Ausdruck begegnet zum ersten Mal in der kleinen Schrift mit dem Titel Aus der Erfahrung des Denkens. Dort spricht Heidegger von dem noch verhüllten Dichtungscharakter des Denkens und auch von einem denkenden Dichten, das „in der Wahrheit die Topologie des Seyns“ ist, in dem Sinn, dass diese Topologie dem Seyn „die Ortschaft seines Wesens“ sage.57 Der Logos dieser Topo-logie wird daher nicht mehr von seiner nur semantischen oder epistemischen Seite betrachtet, sondern er kommt auch von seiner syntaktischen und poietischen Facette in den Blick. Hierdurch ist es möglicht, dass wir im Denken nicht nur eine Vorbereitung zum Handeln, sondern auch „das einfachste und zugleich das höchste Handeln“ sehen, wie es am Anfang des „Briefes über den Humanismus“ steht.58 Am Ende eines anderen Textes, der unter dem Titel „Logos“ Heraklit und so einem ursprünglicheren Logos als dem der traditionellen Logik gewidmet ist, schreibt Heidegger: Um das Denken freilich ist es eine eigene Sache. Das Wort der Denker hat keine Autorität. Das Wort der Denker kennt keine Autoren im Sinne der Schriftsteller. Das Wort des Denkens ist bildarm und ohne Reiz. Das Wort des Denkens ruht in der Ernüchterung zu dem, was es sagt. Gleichwohl verändert das Denken die Welt. Es verändert sie in die jedesmal dunklere Brunnentiefe eines Rätsels, die als dunklere das Versprechen auf eine höhere Helle ist.59
So kann die Welt tiefer und rätselhafter werden, allerdings nur insofern als wir, wie Heraklit, in der Lage sind, den Blitz des Seins im Logos selbst zu sehen. Das wiederum ist nur möglich, wenn wir, wie Heidegger es auf bildreiche Weise sagt, uns in das „Gewitter des Seins stellen“.60 Nun aber taucht eine weitere Frage auf: Wenn dieser ursprünglichere Logos wirklich den Charakter eines Blitzes besitzt, ist es dann noch möglich, eine programmatische Darstellung solch einer Chronologie zu geben? Sollten wir nicht lieber auf ein derartiges Unternehmen verzichten, weil es nur die Form einer ursprünglicheren Begründung der traditionellen Logik in einer notwendigerweise noch transzendentalen und sogar hypertranszendentalen Weise variieren würde?
56 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1975, S. 329. 57 Martin Heidegger, Aus der Erfahrung des Denkens, Pfulligen 1965, S. 23. 58 „Das Denken handelt, indem es denkt. Dieses Handeln ist vermutlich das einfachste und zugleich das höchste, weil es den Bezug des Seins zum Menschen angeht“. Martin Heidegger, „Brief über den Humanismus“, in: Wegmarken, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1976 (= Gesamtausgabe. Bd. 9), S. 313-364, hier S. 313. 59 Martin Heidegger, „Logos (Heraklit, Fragment 50)“, in: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 207-230, hier S. 229. 60 Heidegger, „Logos (Heraklit, Fragment 50)“, in: Vorträge und Aufsätze, a.a.O., S. 229.
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Wenn wir aber darauf verzichten, sollten wir unseren Verzicht dennoch ausführlich begründen. Dies war schon in einer ganz anderen, aber nicht gänzlich unvereinbaren Weise das Problem, dem sich Derrida in der Grammatologie konfrontiert sah. Derrida konnte nicht die Absicht haben, die Grundlegung einer Schriftwissenschaft zu leisten, insofern die grundsätzliche Bedingung der Grammatologie gerade der Abbau des Logozentrismus ist. Deswegen schreibt Derrida dort, dass seine „Möglichkeitsbedingung sich zu einer Unmöglichkeitsbedingung wendet“;61 und der erste Teil endet mit dem Satz „Grammatologie: dieses Denken würde noch in die Präsenz eingemauert“ sein.62 Derridas Grammatologie kann deswegen letztlich nur eine programmatische Darstellung einer unmöglichen Wissenschaft sein. Es gibt aber im Falle der Chronologie einen anderen Weg, den wir nun wählen können – einen Weg, der nicht zu einer programmatischen Darstellung einer unmöglichen Wissenschaft, sondern zu einem provisorischen und vorläufigen Entwurf einer temporalen „Logik“ führt. Denn es ist in der Tat möglich, diese chronologische Aufgabe wieder aufzunehmen, wenn ihre Absicht nicht eine Wiederholung oder eine Vollendung oder sogar eine Verleugnung der Tradition ist, sondern nur darin besteht, die Tradition als solche im Lichte einer Frage, der Zeitfrage, erscheinen zu lassen, so dass sie fähig wird, sich in sich selbst und durch sich selbst hin zu anderen Traditionen des Denkens zu öffnen. Solch eine Chronologie kann nicht in einer transzendentalen Weise konzipiert oder entworfen werden; sie kann nicht innerhalb bestimmter architektonischer Grenzen eingeschrieben werden; sie ist im Gegenteil zur Unvollkommenheit wesentlich bestimmt und zur Inchoativität verurteilt, genau wie die Phänomenologie selbst, die nach der Meinung Merleau-Pontys nie systematisiert werden, nie eine Lehre oder eine Schule des Denkens ausbilden kann.63 Solch eine Chronologie könnte letztlich nur „improvisiert“ werden – und das ist es gerade, was hier unter „Entwurf“ und „Entwerfen“ verstanden wird. „Entwerfen“ sollte den Sinn eines Skizzierens haben, ein Wort, das sich vom lateinischen schedium herleitet, was frei übersetzt „improvisiertes Gedicht“ bedeuten kann, und ferner vom griechischen σχέδιος abgeleitet wird, das „in der Eile gemacht“, „improvisiert“ bedeutet. Dieses Improvisieren meint, der Zeit einen Spielraum zu geben, sich auf die Gunst des Augenblickes einzulassen, ja sich auf diesen zu verlassen, zugleich aber auch fähig zu sein, sich mit dem Unvorausgesehenen zu konfrontieren und sich der Möglichkeit des Scheiterns auszusetzen. Seitdem die Philosophie sich selbst als systematischen Aufbau der Wissenschaft versteht, das heißt seit dem Anfang der Moderne, ist das Moment des Improvisierens an den Rand des Denkens gedrängt worden. Nicht nur Descartes, der Denker der Me61 „[C]ette condition de possibilité vire en condition d’impossibilité“. Jaques Derrida, De la Grammatologie, Paris 1967, S. 109. 62 „Grammatologie, cette pensée se tiendrait encore murée dans la présence“. Derrida, De la Grammatologie, a.a.O., S. 142. 63 „La phénoménologie se laisse pratiquer et reconnaître comme manière ou comme style, elle existe comme mouvement, avant d’être parvenue à une entière conscience philosophique“. Maurice Merleau-Ponty, Phénoménologie de la perception, Paris 1945, S. II.
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thode, sondern auch Kant, der in der Kritik der reinen Vernunft schreibt: „Es ist aber ein gewöhnliches Schicksal der menschlichen Vernunft in der Spekulation, ihr Gebäude so früh, wie möglich, fertigzumachen, und hintennach allererst zu untersuchen, ob auch der Grund dazu gut gelegt sei“.64 Die methodologische und architektonische Sorge charakterisiert in einer wesentlichen Weise das philosophische Unternehmen, das, als ein logisches Unternehmen, die Geduld der Begriffsarbeit verlangt, dessen bestes Beispiel man in den hegelschen Wissenschaft der Logik findet, verstanden als die Selbstrede des Absoluten. Dementgegen wäre vielleicht ein zeitliches und endliches Denken möglich, ein Denken, das zwar auf das architektonische Ideal der Philosophie verzichten müsste und Schutz nur in einer temporären Unterkunft findet – ein Denken, das in unfertigen, zerbrechlichen Einrichtungen wohnt, die in Eile zusammengefügt sind, das aber ein Versprechen gibt, das beim Dichter René Char zur Sprache kommt: „Wenn wir einen Blitz bewohnen, ist er das Herz des Ewigen“.65
64 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, hg. v. Raymund Schmidt, Hamburg 1976, B 44. 65 „Si nous habitons un éclair, il est le cœur de l’éternel“. René Char, „Le Poème pulvérisé“, in: Œuvres complètes, Paris 1983, S. 247-272, hier S. 266.
III. ETHISCHES ENTWERFEN
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Entwurf, Vorauswurf, Zuwurf Zur Vorläufigkeit des Kunstwerks 1. Entwurf Den Anstoß zu diesen Überlegungen geben ein paar Sätze aus dem dritten und letzten Teil von Heideggers Der Ursprung des Kunstwerkes. Er ist überschrieben: „Die Wahrheit und die Kunst“. „Geschaffensein des Werkes,“ so lesen wir hier, heißt: „Festgestelltsein der Wahrheit in die Gestalt“.1 Und weiter: „Alle Kunst ist als Geschehenlassen der Ankunft der Wahrheit des Seienden als eines solchen im Wesen Dichtung“.2 Dichtung wiederum versteht Heidegger als „entwerfendes Sagen“: „die Sage der Welt und der Erde, die Sage vom Spielraum ihres Streites und damit von der Stätte aller Nähe und Ferne der Götter,“ das Kunstwerk als „den dichtenden Entwurf der Wahrheit, der sich ins Werk stellt als Gestalt“.3 Doch sei das Wesen des Kunstwerks mit dieser Bestimmung noch nicht erschöpft: das Kunstwerk müsse auch als Vorauswurf verstanden werden.4 Durch solchen Vorauswurf würde „das Dasein erst zukünftig, d. h. geschichtlich“.5 Das wiederum setze voraus, dass das so Vorausgeworfene dem Dasein jenes zuwirft, „worein das Dasein als geschichtliches schon geworfen ist. Dies ist die Erde“.6 Das so verstandene Kunstwerk ist also Entwurf, Vorauswurf und Zuwurf. Heideggers Spiel mit „Wurf“ und „werfen“ gibt zu denken. Schon die Bestimmung des Kunstwerks als Entwurf macht stutzig, gibt Heidegger doch dem Wort „Entwurf“ hier eine Bedeutung, die zwar in seinem eigenen Werk, so auch in Sein und Zeit, eine lange Vorgeschichte besitzt und später, besonders in den Beiträgen als „geschichtebildende Gründung“,7 entfaltet wird, sich aber mit dem tradierten Verständnis des Kunstwerks schlecht verträgt. Verstehen wir nicht unter einem Entwurf erst einmal etwas Zukunftbezogenes, Vorläufiges, ist der Entwurf nicht doch unterwegs zum eigentlichen Werk und lässt als solcher, anders als ein vollendetes 1 Martin Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“, in: Holzwege, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1977 (= Gesamtausgabe. Bd. 5), S. 1-74, hier S. 51. 2 Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“, a.a.O., S. 59. 3 Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“, a.a.O., S. 63. 4 „Was die Dichtung als lichtender Entwurf an Unverborgenheit auseinanderfaltet und in den Riß der Gestalt vorauswirft, ist das Offene, das sie geschehen läßt“. Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“, a.a.O., S. 60. 5 Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“, a.a.O., S. 63. 6 Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“, a.a.O., S. 63. 7 Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“, a.a.O., S. 56, S. 65.
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Werk, Möglichkeiten offen? Der Entwurf eröffnet Möglichkeiten. Nun ist auch ein Entwurf etwas Festgestelltes. Aber das Festgestellte erhebt hier nicht einen Anspruch auf Endgültigkeit. Der Entwurf eröffnet einen Spielraum. Zugegeben, wir schätzen auch Entwürfe als große Kunst – und dies besonders heute, hat doch gerade für uns das Unvollendete, das Möglichkeiten eröffnet, einen besonderen Reiz. Aber das heißt doch nicht, dass wir das Wesen des Kunstwerks in seinem Entwurfscharakter zu suchen hätten. Ist der Entwurf, um es noch einmal zu wiederholen, nicht wesentlich unterwegs zum Werk? Erreicht nicht im vollendeten Kunstwerk der Prozess des künstlerischen Schaffens Ziel und Ende? Sollte das wirkliche Kunstwerk nicht ein in sich vollendetes Ganzes sein, als solches festgestellt, wie Heidegger sagt, in seine Gestalt, aber eben als ein solches Festgestelltes nicht mehr Entwurf, der in seiner Vorläufigkeit wesentlich Möglichkeiten eröffnet, somit zukunftsbezogen ist, also Endgültigkeit nicht beansprucht? So unterscheidet Heidegger selbst in Sein und Zeit die Ganzheit, die unserem Dasein als Entwurf zukommt und wesentlich Möglichkeiten offen lässt von der Vollkommenheit eines Kunstwerks: „Mit dem letzten Pinselstrich wird das Gemälde fertig. Aber das Enden als Fertigwerden schließt nicht Vollendung in sich. Wohl muss dagegen, was vollendet sein will, seine mögliche Fertigung erreichen. Vollendung ist ein fundierter Modus der Fertigkeit. Diese ist selbst nur möglich als Bestimmung eines Vorhandenen oder Zuhandenen.“8 Begriffe wie „Fertigung“ und „Vollendung“ werden jedoch dem Tod als Ende des Daseins nicht gerecht. „Würde das Sterben als Zu-Ende-sein im Sinne der besprochenen Art verstanden, dann wäre das Dasein hiermit als Vorhandenes bzw. Zuhandenes gesetzt.“9 Das aber verbietet der Entwurfscharakter des Daseins: „Der Entwurf ist die existenziale Seinsverfassung des Spielraums des faktischen Seinkönnens. Und als geworfenes ist das Dasein in die Seinsart des Entwerfens geworfen. Das Entwerfen hat nichts zu tun mit einem Sichverhalten zu einem ausgedachten Plan, gemäß dem das Dasein sein Sein einrichtet, sondern als Dasein hat es sich je schon entworfen und ist, solange es ist, entwerfend“.10 Hier kommt es nicht nur zu einer klaren Abgrenzung von Heideggers existenzialem Verstehen des Wortes und der Wörterbuchbedeutung, die uns Entwurf ontisch als Plan oder skizzenhafte Ausführung oder vorläufige Niederschrift verstehen lässt, sondern, so scheint es, bedeutsamer, zu einer Abgrenzung des Seins des Kunstwerks vom Sein des Daseins. Der Mensch steht wesentlich vor Möglichkeiten. Als solcher ist er immer schon in einen Spielraum geworfen und somit wesentlich zukunftsbezogen. Nicht dass dieser Spielraum als etwas Feststehendes zu denken wäre, obwohl vom Tod umschrieben. Faktisch bedingt, entwirft ihn das Dasein, so lange es ist. Anders als ein gelungenes Kunstwerk, erfahren wir diesen Spielraum nicht als vollendet. Der Kunstwerkaufsatz verwischt diese Grenzziehung. Nennt Heidegger in Sein und Zeit das Dasein wesentlich entwerfend, so wird nun solches Entwerfen eines 8 Martin Heidegger, Sein und Zeit, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1977 (= Gesamtausgabe. Bd. 2), § 48, S. 312-326, hier S. 326. 9 Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 326. 10 Heidegger, Sein und Zeit, § 31, S. 193.
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Spielraums dem Kunstwerk zugeschrieben. Das Kunstwerk wird sozusagen vermenschlicht. Damit wendet sich Heidegger ganz bewusst von dem überkommenen Verstehen des Wesens der Kunst ab, das auch Sein und Zeit noch vorauszusetzen scheint. Und damit stellt er auch die dort vollzogene Einengung des Seienden durch die Kategorien Vorhandenheit und Zuhandenheit in Frage. Sie werden dem Sein des Kunstwerks so wenig gerecht wie sie dem Sein des Daseins gerecht werden. Die einem solchen Denken verhaftete ästhetische Auffassung des Kunstwerks soll nun überwunden werden. Solch eine Forderung kann sich jedoch nicht auf das zeitlose Wesen des Kunstwerks berufen. So heißt es rückblickend in den Beiträgen: Die Frage nach dem Ursprung des Kunstwerks ist nicht auf eine zeitlos gültige Feststellung des Wesens des Kunstwerks hinaus, die zugleich als Leitfaden zur historisch rückblickenden Erklärung der Geschichte der Kunst dienen könnte. Die Frage steht im innersten Zusammenhang mit der Aufgabe der Überwindung der Aesthetik und d. h. zugleich einer bestimmten Auffassung des Seienden als des gegenständlich Vorstellbaren. Die Überwindung der Aesthetik wiederum ergibt sich als notwendig aus der geschichtlichen Auseinandersetzung mit der Metaphysik als solcher. Diese enthält die abendländische Grundstellung zum Seienden und somit auch den Grund zum bisherigen Wesen der abendländischen Kunst und ihrer Werke.11
Das Wenige, das Sein und Zeit über das Kunstwerk zu sagen hat, spricht noch aus dieser ästhetischen Grundstellung, obwohl es sich nur schlecht mit der dort vertretenen Auffassung der Rede als fundamentale Existenzialie verträgt, die ein anderes Kunstverständnis fordert.12 Eben diese ästhetische Grundstellung und die damit verbundene Bestimmung des Wesens der Kunst und des Seienden stellt der Kunstwerkaufsatz in Frage und fordert deren Überwindung. Dass es uns Heutigen weiter fast unmöglich ist, dieser Forderung zu entsprechen, sagt der Epilog mit seinem Hinweis auf Hegel. Was für Heidegger auf dem Spiel steht, ist weniger die Zukunft der Kunst als Wesen und Zukunft des Menschen; wie Heidegger am Ende von Bauen Wohnen Denken sagt: „das Wohnen in das Volle seines Wesens zu bringen“ und aus diesem zu bauen13– das ist die eigentliche Aufgabe.
11 Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1989 (= Gesamtausgabe. Bd. 65), S. 503f. 12 Die Unzulänglichkeit dieser Kategorien scheint in Sein und Zeit mehrmals auf. So lässt sich die Sprache nicht adäquat als Vorhandenes oder Zuhandenes verstehen. Rede, lesen wir dort, ist konstitutiv für die Existenz des Daseins. Die „Hinausgesprochenheit der Rede“ aber ist die Sprache (Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 214). So verstanden hat auch die Sprache Entwurfscharakter. In Der Ursprung des Kunstwerkes heißt es dementsprechend, „die Sprache selbst ist Dichtung im wesentlichen Sinne“ und „Das Wesen der Kunst ist die Dichtung“. Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“, a.a.O., S. 62f. 13 Martin Heidegger, Vorträge und Aufsätze, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 2000 (= Gesamtausgabe. Bd. 7), S. 164.
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2. Das ästhetische Objekt Auch im Kunstwerkaufsatz versteht Heidegger, wie wir sahen, das Kunstwerk als etwas Festgestelltes. Aber was heißt hier „festgestellt“? Wenn ich etwas feststelle, eröffne ich doch gerade nicht nur eine Möglichkeit. Das wirklich Festgestellte bezieht sich gerade nicht auf eine Zukunft, die es auch unverwirklicht lassen könnte. Wenn ich zum Beispiel feststelle, „dieses Zimmer hat drei Fenster“, beansprucht diese Aussage eine Gültigkeit, die das Hier und Jetzt übersteigt. Im Strom der Zeit bietet das so Festgestellte festen Grund. Eine solche Feststellung einer Wahrheit ist kein Entwurf. Und gilt Analoges nicht auch von der Schönheit und der ihr dienenden Kunst? In dem vollendeten und in diesem Sinne festgestellten oder fertigen Kunstwerk soll nichts zufällig oder willkürlich erscheinen. Hingegeben an ein solches Werk stehen wir nicht mehr vor verschiedenen Möglichkeiten und das heißt auch, sorgen wir uns nicht mehr um Zukünftiges. Und so nimmt das so verstandene Kunstwerk der Zeit ihren Stachel, verspricht uns, wenn auch nur für kurze Zeit, so etwas wie Erlösung von jenem Widerwillen gegen die Zeit, den Nietzsche als den ‚Geist der Rache‘ und als den ‚tiefsten Grund unserer Selbstentfremdung‘ verstand. Das erklärt, warum in einem Zeitalter, das an Gott und seine Gnade nicht mehr glauben kann, die so verstandene Kunst so oft Ersatz für das Verlorene zu bieten scheint – Ferien von der Wirklichkeit. Aber müssen wir nicht die Vorläufigkeit des Entwurfs von der Endgültigkeit des so verstandenen Kunstwerks unterscheiden? Als Beispiel hier, was der Maler Frank Stella über eines seiner Bilder aus den frühen 60er Jahren sagte: Immer wieder gerate ich in Streitgespräche mit Menschen, die die alten Werte in der Malerei bewahren möchten, die humanistischen Werte, die sie immer auf der Leinwand finden. Fragt man weiter, so kommen sie zum Schluss immer zu der Behauptung, dass da noch etwas sei, außer der Farbe auf der Leinwand. Mein Bild beruht auf der Tatsache, dass es nur gibt, was man sieht. Es ist wirklich ein Ding. Ein jedes Bild ist ein Ding und jeder, der sich mit Bildern genügend beschäftigt, kommt letzten Endes um die Dinghaftigkeit des von ihm Geschaffenen nicht herum. Er macht ein Ding. Das sollte Voraussetzung sein. Wenn das Bild alles Überflüssige abschütteln könnte, wenn es genau genug, richtig genug wäre, dann wärest Du in der Lage, es einfach zu sehen. Das Einzige, das jemand aus meinen Bildern herausholen soll, und das Einzige, das ich aus Ihnen heraushole, ist die Tatsache, dass Du die ganze Idee ohne jede Unklarheit siehst ... Du siehst was Du siehst.14
Vier Punkte möchte ich unterstreichen: 1. Ein solches Bild soll unsere Aufmerksamkeit so an sich ziehen, dass wir nicht versucht sind, irgendwo anders, außerhalb des Bildes, einen Bildsinn zu suchen. So sollen wir das Bild zum Beispiel nicht als Darstellung sehen, die ihr Maß in dem abwesenden Dargestellten besitzt; auch nicht als ein auf Abwesendes verweisendes 14 Bruce Glaser, „Questions to Stella and Judd“, in: Minimal Art. A Critical Anthology, hg. v. Gregory Battcock, New York 1968, S. 148-164, hier S. 157f.
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Zeichen; auch nicht als sinnschweres Symbol; auch nicht als vielsagende Metapher oder Allegorie. Das Bild soll nichts sagen, soll nichts bedeuten. Wir sollten nicht mehr versucht sein, es vor den Horizont anderer Möglichkeiten zu stellen. Das Bild soll nur sein, was es eben ist. Damit nimmt es Abstand von der Sprache. Dies scheint einem Verstehen des Kunstwerks als Entwurf zutiefst zu widersprechen. 2. Das Bild soll uns die „ganze Idee ohne jede Unklarheit“ sehen lassen. Die Frage, ob es da nicht doch einen verborgenen, tieferen Sinn gäbe, sollte sich einfach nicht stellen. Im Bild sollte es nichts Überflüssiges geben; nichts sollte fehlen. Ein solches Bild erfahren wir nicht als Fragment eines abwesenden Ganzen. Um es zu wiederholen, das so verstandene Bild soll kein Entwurf sein; soll sich selbst genügen. Was Mörike in dem auch von Heidegger erörterten Gedicht Auf eine Lampe von einem „Kunstgebild der echten Art“ sagt – ich werde darauf zurückkommen – gilt von einem solchen Bild: „selig scheint es in ihm selbst“. 3. Solch selige Selbstgenügsamkeit will, dass wir Zuschauer das Bild sein lassen, was es eben ist, dass wir Distanz bewahren. Ein solches Distanzbewahren unterscheidet die so verstandene ästhetische Erfahrung von der Art unseres alltäglichen Umgangs mit Menschen und Dingen, von unserem alltäglichen Wohnen. Das so verstandene Kunstwerk ist wesentlich unbewohnbar. Zunächst und zumeist interessieren wir uns für das, was uns begegnet. Solches Interesse ist, wie es Kant betont, immer auch wirklichkeits- und das heißt auch zukunftsbezogen, eröffnet Möglichkeiten zukünftigen Handelns und hat somit Entwurfscharakter; solches Interesse lässt uns nicht den von der Ästhetik geforderten Abstand halten. Sorge und Begierde, Hass und Liebe lassen ihre Objekte nicht allein. Das so verstandene ästhetische Erfahren dagegen lässt das ästhetische Objekt so sein wie es eben ist. Das heißt nun nicht, dass ein solches Bild den Betrachter nicht anspricht. Aber es spricht ihn an auf eine Art, die ihn wollen lässt: das Bild sei, wie es eben ist. Volo ut sis.15 4. Der sich selbst genügenden Gegenwart des ästhetischen Objekts entspricht die Selbstgenügsamkeit der ästhetischen Erfahrung. Ästhetische Objekte brauchen wir nicht wie Hammer oder Computer; sie sind unbrauchbar, taugen zu nichts. Und so ist auch der Ästhet, wie schon Kant sah, wesentlich ein Taugenichts. Aber eben diese Unbrauchbarkeit des Kunstwerks, die es von allem unterscheidet, was unserem Interesse dient, verleiht ihm seinen besonderen Zauber. Dieser Unbrauchbarkeit entspricht, was Kant ein interesseloses Wohlgefallen nennt, ein Wohlgefallen, das es uns erlaubt, wenigstens eine Zeit lang, unbelastet von der Sorge, in der Gegenwart zu existieren, ist doch alles Interesse auf Zukünftiges ausgerichtet. Und so lässt das so verstandene Kunstwerk uns in der Gegenwart präsent sein auf eine Art, die unsere alltägliche Geschäftigkeit verbietet. Der Fülle des ästhetischen Objekts entspricht die Fülle der ästhetischen Erfahrung. Ästhetisches Erfahren so verstanden denkt nicht an die Zukunft. Was Stella von seinen Bildern sagt kann verallgemeinert werden. So gelesen geben seine Worte uns eine erste Bestimmung des ästhetischen Objekts das, so 15 Vgl. dazu Tatjana Tömmel, Wille und Passion. Der Liebesbegriff bei Martin Heidegger und Hannah Arendt, Frankfurt am Main 2013.
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verstanden, mit jedem Bauen, das einem zukünftigen Wohnen dienen soll, nicht vereinbar ist. Wichtig ist hier nicht Stella, sondern eine bestimmte Einstellung, ein Verstehen des Schönen und ein Umgang mit Kunstwerken, der sich schon im Altertum ankündigt und seit dem 18. Jahrhundert die Entwicklung der verschiedenen Künste immer entschiedener bestimmt hat und auch heute noch bestimmt, ungeachtet einer immer stärker werdenden Gegenströmung, die auch in Heideggers Kunstwerkaufsatz einen Ausdruck findet und gerade heute wieder aktuell ist. Dass diese Gegenströmung sich immer wieder an der Architektur orientiert, kann nicht überraschen, fordert diese doch ihrem Wesen nach einen anderen Umgang als ein rein ästhetisches Verhalten. In Alexander Gottlieb Baumgartens Dissertation von 1735 fand die ästhetische Einstellung, die Der Ursprung des Kunstwerkes in Frage stellt, eine erste klare Formulierung. Besonders vielsagend ist folgender Vergleich: der Dichter, meint Baumgarten, sei wie Gott und ein gelungenes Gedicht, und wir dürfen verallgemeinern und lesen, das Kunstwerk sei wie eine Welt. Welt wird hier aber nicht, wie in Heideggers Kunstwerkaufsatz, existenzial verstanden als ein den Menschen Möglichkeiten eröffnender Raum, vielmehr ontisch als die Gesamtheit der Tatsachen. Die so verstandene Welt versteht Baumgarten mit Leibniz und Wolff als vollkommenes Ganzes. Sie ist somit alles andere als ein Entwurf. Dieser Welt fehlt nichts und nichts in ihr ist überflüssig. Alles hier ist notwendig. In diesem Sinne sollte, so Baumgarten, auch das Kunstwerk ein vollkommenes Ganzes sein. So verstanden bietet es uns Ersatz für die offensichtliche Unvollkommenheit unserer Welt, die aber Bedingung eigentlichen Wohnens ist. Alles Vollkommene ist unbewohnbar, lässt es doch der Freiheit keinen Raum. Mir geht es hier weder um Baumgarten noch um Stella; nur um eine Einstellung zum Schönen und zur Kunst, die in Kants Kritik der Urteilskraft ihre tiefste Deutung und mit Schopenhauer ihren wohl einflussreichsten Vermittler finden sollte. Wenn ich hier von der ästhetischen Einstellung zum Schönen spreche, will ich damit nicht das Ästhetische mit dem Schönen gleichsetzen, hat das Wort „Schönheit“ doch heute einen etwas antiquierten Klang – welcher Künstler dient heute schon noch der Schönheit? Kennzeichnet die postmoderne Kunst nicht gerade die Absage an Vollkommenheit, Fülle und Selbstgenügsamkeit? Zwar konnte ein so bedeutender Kritiker wie Michael Fried 1967, mit Bezug auf damals aktuelle Künstler wie Kenneth Noland und Jules Olitski, noch schreiben, „Presentness is grace“, „Gegenwärtigkeit ist Gnade“ – auch Fried ließ hier den Künstler an die Stelle Gottes treten.16 Damit stand er noch ganz im Banne eines Kant verpflichteten, wenn auch Kant nur oberflächlich rezipierenden, ästhetischen Verständnisses der Kunst, wie es damals in den Schriften von Clement Greenberg seinen scheinbar definitiven Ausdruck gewonnen hatte. Heute gehört dieser Satz, wie auch die abstrakte Kunst der 50er und frühen 60er Jahre und die Greenberg’sche Ästhetik, zu einer Vergangenheit, die ihre Aktualität verloren hat, ringen Kunst und Kritik doch 16 Michael Fried, „Art and Objecthood“, in: Minimal Art: A Critical Anthology, hg. v. Gregory Battcock, New York 1968, S. 116-147, hier S. 147.
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heute um ein grundsätzlich anderes Kunstverständnis. Bedeuten uns heute Entwürfe, das Spiel mit vieldeutigen Möglichkeiten nicht mehr als die so verstandene Schönheit? Aber wenn wir hier auch von Entwürfen sprechen können, hieße das auch, dass wir uns damit schon Heideggers Entwurfsdenken angenähert hätten? Heute hat das Interessante das Schöne verdrängt und grade in ihrer herausfordernden Unfertigkeit oder Hässlichkeit können Kunstwerke interessant oder vielleicht auch erhaben sein. Aber trotz der Abkehr von der Schönheit, die als sinnlich erfahrene Vollkommenheit verstanden wird, braucht die Hinwendung zum Interessanten noch nicht einen Bruch mit der ästhetischen Einstellung zu bedeuten, sondern kann im Gegenteil als Erweiterung unseres Verstehens des Ästhetischen verstanden werden. Wesentlich bleibt, dass das ästhetische Objekt eine Empfindung erzeugt, die wir genießen. Somit bleibt die Empfindung gegenwartsbezogen: das Interessante unterhält. Aber warnt Heidegger nicht im Nachwort zum Kunstwerkaufsatz, dass das Erlebnis, und das heißt auch Unterhaltung, auch im gehobensten Sinn, das Element wäre, in dem die Kunst stürbe?17 Auch das Interessante ist Gegenstand eines ästhetischen Genießens. Solches Genießen ist letztlich Selbstgenuss, rechtfertigt so sich selbst und kehrt, auch wenn das, was interessiert, Wirkliches sein sollte, letztlich doch der Wirklichkeit den Rücken. Kants Sprechen von einem „interesselosen Wohlgefallen“ impliziert diese Abkehr. Das Interessante unterwirft unser wesentlich wirklichkeitsbezogenes Interesse einem solchen Wohlgefallen, ist nach Kant Interesse doch immer auf ein Verändern der Wirklichkeit, d. h. auf ein Handeln gerichtet. In diesem Sinne ist alles Wohnen wesentlich interessiert. Ein interessantes Kunstwerk, dagegen, lässt es uns auch mit verschiedenen Möglichkeiten spielen – wer zum Beispiel ist der Mörder in einem spannenden Detektivroman? – hält Abstand von der Wirklichkeit. Was wir genießen, ist eben dieses Spiel. Albertis scheinbar leichtfertig hingeworfener Spruch vom narzisstischen Ursprung der Kunst trifft das Wesen einer Kunstauffassung, die ihm entscheidende Impulse verdankt. Heideggers Bestehen auf dem Entwurfscharakter des Kunstwerks stellt diese ganze Tradition in Frage. Das von ihm als Entwurf verstandene Kunstwerk wirft uns unsere Bestimmung zu, eröffnet Handlungsmöglichkeiten und hat somit eine ethische Funktion. In diesem Sinne ist es wesentlich erbaulich, ein Wort das wir heute nicht ohne Bedenken hören.
3. Mörikes Lampe Aber sagte ich nicht eingangs, das echte Kunstwerk will nicht erbaulich oder wahr sein, will nicht Anderem dienen, will nur selig in sich selbst scheinen? Diese Worte entnahm ich Mörikes in Heideggers Briefwechsel mit Emil Staiger zitiertem Gedicht Auf eine Lampe, das mit den Worten anfängt:
17 Vgl. Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“, a.a.O., S. 67.
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Noch unverrückt, o schöne Lampe, schmückest du, An leichten Ketten zierlich aufgehangen hier. Die Decke des nun fast vergessnen Lustgemachs.
Und mit diesen beiden Zeilen schließt: Ein Kunstgebild der echten Art. Wer achtet sein? Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst.18
In diesem Briefwechsel scheint Heidegger ebendieser Bestimmung des Kunstwerks beizustimmen. Wie aber verträgt sich diese mit dem Entwurfscharakter des Kunstwerks? Erst einmal ging es in diesem Briefwechsel darum, wie wir das „scheint“ zu verstehen haben: mit Heidegger als lucet, wobei das Gewicht auf das Leuchten der unser nicht bedürfenden Lampe fällt, oder mit Staiger als videtur, wobei das Gewicht auf die Art, wie die schöne Lampe uns in dieser, unserer historischen Situation erscheint, fällt. In seinem ersten Brief meint Heidegger: „die zwei Zeilen sprechen in nuce Hegels Ästhetik aus. Die Lampe, ‚das Leuchtende‘ ist als ein Kunstgebild echter Art das σύμβολον des Kunstwerkes als solchen – in Hegels Sprache ‚des Ideals‘.“19 Von der Vorläufigkeit eines Entwurfs will die so verstandene Schönheit nichts wissen. Und so sagt der von Heidegger zitierte Hegel: „Wir können in dieser Hinsicht die heitere Ruhe und Seligkeit, dieses Sichselbstgenügen in der eigenen Beschlossenheit und Befriedigung als den Grundzug des Ideals (d. h. des Kunstwerks) an die Spitze stellen. Die ideale Kunstgestalt steht wie ein seliger Gott vor uns da.“20 Dem immer zukunftsbezogenen und deshalb unvollendeten menschlichen Dasein wird hier die Vollkommenheit göttlichen Daseins entgegenstellt. Das Kunstwerk trägt etwas von diesem Göttlichen in unsere Welt. Ganz ähnlich verstand schon Plotin das Wesen des Kunstwerks: So meint er, dass Phidias seinen Zeus nicht im Bilde eines Menschen schuf, sondern weil er die Gestalt erschaute, in der Zeus sich den Menschen zeigen müsste, sollte er sich entscheiden, dies zu tun.21 Auch das Wort „selig“ verdient unsere Beachtung, meint es doch so etwas wie wunschlos glücklich sein, so wie wir uns die, die himmlischen Freuden genießenden, Seligen zu denken haben. Schon das Mittelalter verstand so das Schöne als Metapher des Paradieses, eine Auffassung, die in der Ästhetik des 19. und 20. Jahrhunderts immer wieder anklingt, so auch noch bei Michael Fried. Das Schöne schenkt uns eine analoge Seligkeit und kann uns so für den Verlust des Paradieses entschädigen. 18 Zitiert nach: Martin Heidegger, „Zu einem Vers von Mörike. Ein Briefwechsel mit Martin Heidegger von Emil Staiger“, in: Aus der Erfahrung des Denkens, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1983 (= Gesamtausgabe. Bd. 13), S. 93-110, hier S. 93. 19 Heidegger, „Zu einem Vers von Mörike. Ein Briefwechsel mit Martin Heidegger von Emil Staiger“, a.a.O., S. 95. 20 Heidegger, „Zu einem Vers von Mörike. Ein Briefwechsel mit Martin Heidegger von Emil Staiger“, a.a.O., S. 96f. 21 Vgl. Plotinus, Enneade 5, 1.
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Aber wie vertragen sich solche Beschlossenheit und Befriedigung mit dem von Heidegger im Ursprung des Kunstwerkes beschworenen Entwurfscharakter des Kunstwerks? Um noch einmal Heidegger zu zitieren: „Die Lampe, das Kunstgebild (o schöne Lampe), bringt in eines zusammen: das sinnliche Scheinen und das Scheinen der Idee als Wesen des Kunstwerkes. Das Gedicht selbst ist als sprachliches Kunstgebilde das in der Sprache ruhende Symbol des Kunstwerkes überhaupt.“ Heidegger nennt das so verstandene Schön-Sein „das reine ‚Scheinen‘“.22 Auch Heidegger scheint hier Schönheit als zeitlos zu denken. So wenigstens verstand ihn Emil Staiger und in diesem Briefwechsel ließ ihm Heidegger das letzte Wort: „Sie lesen das Gedicht als Zeugnis des Dichterischen und des Schönen in seiner wandellosen Einfachheit. Ich lese es mehr als Zeugnis der besonderen, unwiederholbaren Art des Dichterischen und des Schönen, die in Mörike um die Mitte des letzten Jahrhunderts wirklich geworden war.“23 Aber verstand Heidegger das Schöne hier wirklich „in seiner unwandelbaren Einfachheit“? Wie verträgt sich eine solche zeitlose Schönheit mit Heideggers Seinsverständnis? Wie verträgt sie sich mit dem im Kunstwerkaufsatz behaupteten Entwurfscharakter des Kunstwerks? Dürfen wir ein Verständnis des Kunstwerks das Heidegger erst einmal diesem Gedicht entnimmt auch ihm zuschreiben? Aufschlussreich und verwirrend zugleich ist die Art, wie Heidegger hier Mörike und, was seine eigenen Ansichten zu sein scheinen, mit Hegels Vorlesungen über die Ästhetik verbindet. Erklärend fügt er später hinzu: „Mein Hinweis [...] sollte nur die Atmosphäre kennzeichnen, worin das Wort scheinen verlautet, wenn es von Mörike im Zusammenhang mit dem Schönen gebraucht wird.“24 Und weiter: „Das Gedicht selbst aber verbleibt in der Atmosphäre des Sprachgeistes seines Zeitalters und schwingt in einer Grundstimmung, wenn anders es selber ein Kunstgebild der echten Art ist.“25 Das bedeutet, jedes echte Kunstwerk „schwingt in einer Grundstimmung“, die ihren Ursprung nicht nur im Künstler besitzt, sondern auch in der geistigen Situation der Zeit. Solche Grundstimmungen wandeln sich im Laufe der Geschichte. So spricht Heideggers Entwurfsdenken im Kunstwerkaufsatz aus einer anderen, nicht nur zurück- sondern auch vorausblickenden Grundstimmung, als das Gedicht von Mörike oder auch der Briefwechsel. Diesen Wandel der Grundstimmung gilt es zu bedenken. In dem Gedicht Mörikes – hier sind sich Heidegger und Staiger einig – ist die Grundstimmung die „zurückblickende Wehmut.“26 Dabei dürfen wir nicht über22 Heidegger, „Zu einem Vers von Mörike. Ein Briefwechsel mit Martin Heidegger von Emil Staiger“, a.a.O., S. 96. 23 Heidegger, „Zu einem Vers von Mörike. Ein Briefwechsel mit Martin Heidegger von Emil Staiger“, a.a.O., S. 109. 24 Heidegger, „Zu einem Vers von Mörike. Ein Briefwechsel mit Martin Heidegger von Emil Staiger“, a.a.O., S. 100. 25 Heidegger, „Zu einem Vers von Mörike. Ein Briefwechsel mit Martin Heidegger von Emil Staiger“, a.a.O., S. 103. 26 Heidegger, „Zu einem Vers von Mörike. Ein Briefwechsel mit Martin Heidegger von Emil Staiger“, a.a.O., S. 103.
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sehen: die Grundstimmung des Gedichtes ist nicht die der in ihm besungenen schönen Lampe. Das stellt Heideggers Gleichsetzung von Mörikes Gedicht und der schönen Lampe als beide „Kunstgebilde der echten Art“ in Frage. Mörikes Gedicht steht in einem anderen Verhältnis zu seiner und unserer Welt als die schöne Lampe. Das Kunstwerk das in der schönen Lampe, wie Heidegger sagt, sein σύμβολον findet, gehört nicht mehr in unsere moderne, auch nicht in Mörikes Welt. „Wer nimmt das Kunstgebilde in seiner echten Art, in seinem eigentlichen Wesen noch in die Acht? Die Frage lautet so, dass sie zu folgender Antwort neigt: Niemand mehr, kaum einige, nur wenige. Die Frage ist traurig gestimmt“.27 Die Lampe, die die Decke des nun fast vergessenen Lustgemachs ziert, ist somit ein Kunstwerk grundsätzlich anderer Art als das rückwärts blickende Gedicht von Mörike, das sie besingt. Vom gold-grünen Efeukranz, der die Lampe ziert, sagt Heidegger, er zeige in das glühend-wachstümliche des Dionysischen: „Der Ringelreihen der Kinderschar verstrahlt den Glanz des Lustgemachs“.28 Aber gehört auch dieser dionysische Aspekt zur Welt, die die schöne Lampe, Handlungsmöglichkeiten eröffnend, wie Heidegger sagt, „lichtend einräumt“ oder entwirft, so kann Ähnliches nicht von Mörikes Gedicht gesagt werden. Das Wesen des von der schönen Lampe vertretenen Kunstwerks ist lichtendes Einräumen einer zukünftigen Welt, das Wesen des von Mörikes Gedicht vertretenen Kunstwerks ist Eröffnen einer vergangenen seligen Welt, die es nicht mehr vermag, uns einen Spielraum zu eröffnen. Die zurückblickende Grundstimmung, aus der das Gedicht spricht, aber nicht die Lampe, verbleibt, wie Heidegger bemerkt, „in der Atmosphäre des Sprachgeistes seines Zeitalters“.29 Eben diese Atmosphäre, die echte Kunst der Vergangenheit zuordnet, lässt Heidegger Mörike zurecht mit Hegel zusammenstellen. Vergleichen wir Mörikes Noch unverrückt, o schöne Lampe, schmückest du, An leichten Ketten zierlich aufgehangen hier. Die Decke des nun fast vergessnen Lustgemachs.30
mit den Sätzen aus Hegels Vorlesungen über die Ästhetik, die Heidegger im Nachwort zum Kunstwerkaufsatz zitiert; dies aber nur, um sie dort in Frage zu stellen, ist es doch Hegel mit dem sich Heidegger in diesem Aufsatz kritisch auseinandersetzt. „Uns gilt die Kunst nicht mehr als die höchste Weise, in welcher die Wahrheit sich Existenz verschafft. 27 Heidegger, „Zu einem Vers von Mörike. Ein Briefwechsel mit Martin Heidegger von Emil Staiger“, a.a.O., S. 105. 28 Heidegger, „Zu einem Vers von Mörike. Ein Briefwechsel mit Martin Heidegger von Emil Staiger“, a.a.O., S. 104. 29 Heidegger, „Zu einem Vers von Mörike. Ein Briefwechsel mit Martin Heidegger von Emil Staiger“, a.a.O., S. 103. 30 Zitiert nach: Heidegger, „Zu einem Vers von Mörike. Ein Briefwechsel mit Martin Heidegger von Emil Staiger“, a.a.O., S. 39.
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Man kann wohl hoffen, dass die Kunst immer mehr steigen und sich vollenden werde, aber ihre Form hat aufgehört, das höchste Bedürfnis des Geistes zu sein. In allen diesen Beziehungen ist und bleibt die Kunst nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes.“31 In seinem Nachwort schreibt Heidegger, die Entscheidung über Hegels Spruch sei noch nicht gefallen. Aber das heißt, dass Mörikes Gedicht und die schöne Lampe, von der dieses Gedicht spricht, sich als Kunstwerke wesentlich unterscheiden. Diesen Unterschied verwischt Heidegger mit seiner Behauptung, „das Gedicht selbst“ sei „das in der Sprache ruhende Symbol des Kunstwerkes überhaupt“.32 Aber diesen Unterschied dürfen wir nicht verwischen, so wenig wie wir das im Kunstwerkaufsatz beschworene Bild von Van Gogh und das in seiner Ganzheit zitierte Gedicht von Conrad Ferdinand Meyer ohne Weiteres mit dem griechischen Tempel gleichgesetzten dürfen, ungeachtet der Tatsache, dass Heidegger eben dies zu tun scheint, wenn er Tempel, das Bild van Goghs und das Gedicht Conrad Ferdinand Meyers als Wahrheitsgeschehen zusammenstellt. Wäre dies gerechtfertigt, wäre Hegel widerlegt. Aber Heidegger weiß, dass sich Hegel nicht durch den Hinweis auf Kunstwerke wie Mörikes Gedicht oder das Bild van Goghs widerlegen lässt. Die Grundstimmung, aus der diese Werke sprechen, ist eine ganz andere als die ihrer großen Vorgänger. Sie ist rückwärtsgerichtet. Sie lässt uns das echte Schöne als wesentlich unzeitgemäß verstehen, und eben deshalb wird es uns Ersatz und Metapher eines verlorenen Paradieses. Heidegger nennt Mörike einen „Epigonen“. Unter einem Epigonen verstehen wir den Spätkömmling, den Nachfolger. Das Wort fordert eine Unterscheidung von großer vergangener und von solcher abhängiger Kunst. Dies ist im Grunde auch der Unterschied, der Mörikes Gedicht von der Lampe die es besingt trennt; wobei zu bedenken ist, dass die Lampe eine dem Lustgemach wesentlich dienende Funktion hat. Nun schreibt Heidegger, Mörikes Gedicht bringe „die Wesensart eines Kunstgebildes zur Sprache“33: Dadurch hat nicht nur das Gegenständliche dieses Kunstgebildes, die Lampe, den Charakter des brennenden Leuchtens, sondern das Wesen des Kunstwerks, die Schönheit der schönen Lampe, leuchtet in der Weise des lichtenden Scheinens. Die schon erloschene Lampe leuchtet noch, indem sie als schöne Lampe lichtet: sich zeigend (scheinend) ihre Welt (das Lustgemach) zum scheinen bringt. Ist das ‚Raffinement‘? Ist es nicht eher ein Geschenk des unscheinbar Einfachen an den Dichter, der mit diesem Gedicht als ein Später in die Nähe des früh Gewesenen der abendländischen Kunst gelangt?34
31 Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“, a.a.O., S. 66. 32 Heidegger, „Zu einem Vers von Mörike. Ein Briefwechsel mit Martin Heidegger von Emil Staiger“, a.a.O., S. 95. 33 Heidegger, „Zu einem Vers von Mörike. Ein Briefwechsel mit Martin Heidegger von Emil Staiger“, a.a.O., S. 107. 34 Heidegger, „Zu einem Vers von Mörike. Ein Briefwechsel mit Martin Heidegger von Emil Staiger“, a.a.O., S. 107.
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Mit der Frage „Ist das ‚Raffinement‘?“ bezog sich Heidegger auf Staiger, der geschrieben hatte: Mörike „traut sich nicht mehr ganz zu, zu wissen, wie es der Schöne zumute ist. Was aber schön ist, selig scheint es …, ist alles, was er zu sagen wagt. Und nun ersetzt er noch gar mit jenem letzten Raffinement, über das nur ein Spätling verfügt, das sich durch ihm. Hätte er in sich selbst geschrieben, so hätte er sich immer allzusehr in die Lampe hineinversetzt. Ganz abgerückt ist das Schöne wieder, wenn es selig ist in ihm selbst…“35 Staiger versteht das so in ihm selbst selige Schöne als etwas, das uns Spätlingen so scheint. Er trifft mit diesem Abrücken den Kern von jenem, was ich die ästhetische Auffassung des Schönen nannte. Das Licht, das das so verstandene Schöne in unsere Welt wirft, vermag es nicht mehr, uns dionysische Möglichkeiten zuzuwerfen. Was überrascht ist, dass Heidegger hier diese Auffassung zu der seinen zu machen scheint. Dass die Grundstimmung des Gedichts die zurückblickende Wehmut ist, gibt er zu. Aber diese Wehmut bestimmte doch nicht die schöne Lampe, die nach Heidegger für das Schöne überhaupt stehen soll, als sie noch ihr Licht in das nun fast verlassene Lustgemach warf. „Die Stimmung der Wehmut trifft das Kunstgebilde insofern, als es die seinem Wesen gemäße Achtung der Menschen nicht mehr um sich hat. Das Kunstwerk vermag dieses Haben weder jemals für sich zu erzwingen, noch auf immer ungeschmälert für sich zu retten. Vielleicht hat der Dichter in dieses zum Wesen des Kunstwerkes gehörende Unvermögen (in dieses ‚Wehe‘) einen Blick geworfen.“36 Heidegger lässt Staiger mit seiner Bemerkung, dass während Heidegger „das Gedicht als Zeugnis des Dichterischen und des Schönen in seiner wandellosen Einfachheit“ läse, ihn als Historiker mehr die Frage beschäftigte, „wie er [der Dichter] daran teil hat“,37 das letzte Wort. Aber verträgt sich dieser Begriff der selig in sich selbst scheinenden wandellosen Einfachheit des Schönen mit Heideggers wesentlich auf die Bewahrenden, das heißt die Zukünftigen bezogenen Verständnis des Kunstwerks als Entwurf, Vorauswurf, Zuwurf? Der Dichter, schreibt Heidegger, gelange mit seinem Gedicht in die Nähe des Ursprungs der Kunst. Doch bleibt, ungeachtet dieser Nähe, auch ein Riesenabstand. Der Ursprung des Kunstwerks versagt sich uns hier. Uns vermag das Gedicht nicht in die Welt zu stellen, die die Lampe einst scheinend erhellte, so wenig wie Van Goghs Bild es vermochte, Heidegger in die Welt der Bäuerin zu stellen, die er beschwört. Dieses Unvermögen unterscheidet beide Werke grundsätzlich von einem Kunstwerk wie dem griechischen Tempel oder auch von der sehr viel bescheideneren schönen Lampe. Die Welt, die diese einst zum Scheinen brachte, war ihre Welt, eine Welt die im Lustgemach ihre dionysische Metapher findet. In dieser Welt eröffnete sie mit ihrem Licht Handlungsmöglichkeiten. Aber diese Welt ist vergangen und heute fast vergessen. Die Lampe gehört dieser vergangenen Welt an. 35 Heidegger, „Zu einem Vers von Mörike. Ein Briefwechsel mit Martin Heidegger von Emil Staiger“, a.a.O., S. 94. 36 Heidegger, „Zu einem Vers von Mörike. Ein Briefwechsel mit Martin Heidegger von Emil Staiger“, a.a.O., S. 107. 37 Heidegger, „Zu einem Vers von Mörike. Ein Briefwechsel mit Martin Heidegger von Emil Staiger“, a.a.O., S. 109.
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So ist sie heute nicht mehr das Kunstwerk, das sie einst war. Das erinnert an das, was Heidegger im Kunstwerkaufsatz über die großen Werke der Vergangenheit zu sagen hatte: „[A]uch wenn wir uns bemühen, solche Versetzungen der Werke aufzuheben oder zu vermeiden, indem wir z. B. den Tempel in Paestum an seinem Ort und den Bamberger Dom an seinem Platz aufsuchen, die Welt der vorhandenen Werke ist zerfallen. Weltentzug und Weltzerfall sind nie mehr rückgängig zu machen. Die Werke sind nicht mehr die, die sie waren.“38 Ihren einstigen Entwurfscharakter haben diese Werke für uns verloren. Uns sind sie zu ästhetischen Objekten geworden. Das lässt sich auch von Mörikes Lampe sagen und eben dies lässt Heidegger Mörike eine „Späten“ nennen, den zwar der Ursprung der Kunst noch immer anspricht, der sich jenem aber zugleich versagt.
4. Die Bewahrenden Heidegger und Staiger sind sich einig, dass die Grundstimmung von Mörikes Gedicht die zurückblickende Wehmut ist. Aber in welcher Grundstimmung schwingt die schöne Lampe? Uns scheint sie in ihrem selbstgenügsamen seligen Scheinen der Menschen nicht zu bedürfen, aber ursprünglich hatte die schöne Lampe die Funktion das nun fast vergessene Lustgemach zu schmücken und ihr Licht in das in ihm stattfindende lustige Treiben zu werfen, nicht nur buchstäblich, sondern auch durch ihr Aussehen: Auf deiner weissen Marmorschale, deren Rand Der Efeukranz von goldengrünem Erz umflicht. Schlingt fröhlich eine Kinderschar den Ringelreihn. Wie reizend alles! Lachend, und ein sanfter Geist Der Ernstes doch ergossen um die ganze Form.39
„Efeukranz und Lustgemach“, ich zitiere Heidegger, „gehören zum Kunstgebilde der schönen Lampe, insofern diese die Welt des Lustgemachs lichtend einräumt.“40 Ein solches Einräumen einer Welt entwirft Möglichkeiten, aber stimmt diese auch, indem es Menschen auch in einen bestimmten Modus des In-der-Welt-seins, in eine bestimmte Grundstimmung ruft. Es wirft ihnen diese Möglichkeiten zu. Im Kunstwerkaufsatz hieß es, dass das Kunstwerk dem Dasein jenes zuwirft, „worein es als geschichtliches schon geworfen ist. Dies ist die Erde.“41 Wie Heidegger nun von der Lampe sagt, „Das Golden-Grüne des Efeukranzes zeigt in das glühend-
38 Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“, a.a.O., S. 26. 39 Zitiert nach: Heidegger, „Zu einem Vers von Mörike. Ein Briefwechsel mit Martin Heidegger von Emil Staiger“, a.a.O., S. 93. 40 Heidegger, „Zu einem Vers von Mörike. Ein Briefwechsel mit Martin Heidegger von Emil Staiger“, a.a.O., S. 104. 41 Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“, a.a.O., S. 63.
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wachstümliche Dionysische.“42 Der Efeukranz ist Attribut des Gottes Dionysos, der für die Bejahung dieses erdgebundenen Lebens, von Tod und Geburt, steht. Ähnliches lässt sich auch von der von Heidegger im Kunstwerkaufsatz beschworenen griechischen Tragödie und dem ihr verwandten Tempel sagen. Aber, um es noch einmal zu wiederholen, die Welt, die die schöne Lampe lichtend einräumt, ist weder die des Dichters noch die unsrige. Verstehen wir das Kunstwerk mit Heidegger als eine Welt entwerfend und damit auch einräumend, dann sollten wir immer auch fragen, wie sich diese vom Kunstwerk entworfene Welt zu unserer Welt verhält. Die schöne Lampe wurde geschaffen, nicht um selig in sich selbst zu scheinen, sondern um das Lustgemach, mit Heidegger formuliert, lichtend einzuräumen. Die Lampe entwarf einen Spielraum und erst das in diesem Raum statt findende Spiel wird ihrem Wesen gerecht. Wir können sie mit einer Partitur vergleichen, die Aufführungsmöglichkeiten vorauswirft; oder mit einem Entwurf, der auf Verwirklichung wartet. Heidegger nennt das Lustgemach die Welt der Lampe. Indem die Lampe half, diese Welt einzuräumen, stiftete sie Möglichkeiten. Aber, wie es im Kunstwerkaufsatz heißt, „Stiftung wird nur in der Bewahrung wirklich.“43 Zum so verstandenen Kunstwerk gehören also wesentlich die Bewahrenden, denen es sich zuwirft. Die Welt, die ein solches Kunstwerk einräumt, ist eine Welt, in der die Menschen, denen es sich zuwirft, auch handeln. Ohne die das Kunstwerk in diesem Sinne Bewahrenden bleibt es ein ästhetisches Objekt das, wie die von Heidegger im Kunstwerkaufsatz beschworenen Aegineten in der Münchener Glyptothek, seine Welt verloren hat; ein Verlust den Bertel Thorwaldsens nun rückgängig gemachter Versuch, Verlorenes zu ergänzen, nur unterstreichen konnte, wie es die in der Glyptothek gerade stattgefundene Ausstellung bezeugt.44 Heidegger: Die ‚Aegineten‘ in der Münchener Sammlung, die ‚Antigone‘ des Sophokles in der besten kritischen Ausgabe, sind als die Werke die sie sind, aus ihrem eigenen Wesensraum herausgerissen. Ihr Rang und ihre Eindruckskraft mögen noch so groß, ihre Erhaltung mag noch so gut, ihre Deutung noch so sicher sein, die Versetzung in die Sammlung hat sie ihrer Welt entzogen. […] Weltentzug und Weltzerfall sind nie mehr rückgängig zu machen. Die Werke sind nicht mehr die sie waren. Sie selbst sind es zwar die uns da begegnen, aber sie selbst sind die Gewesenen. Als die Gewesenen stehen sie uns im Bereich der Überlieferung und Aufbewahrung entgegen. Fortan bleiben sie solche Gegenstände. Ihr Entgegenstehen ist zwar noch eine Folge jenes vormaligen Insichstehens, aber es ist nicht mehr dieses Selbst. Dieses ist aus ihnen geflohen.45
Unsre Welt ist nicht die ihre; uns räumen solche Werke nicht mehr unsere Welt ein, das heißt, wir erfahren sie nicht mehr als uns zugeworfen, mögen wir sie auch 42 Heidegger, „Zu einem Vers von Mörike. Ein Briefwechsel mit Martin Heidegger von Emil Staiger“, a.a.O., S. 104. 43 Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“, a.a.O., S. 63. 44 „Kampf um Troja – 200 Jahre Ägineten in München“, 14. April 2011 - 31. Januar 2012. 45 Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“, a.a.O., S. 26f.
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eben gerade deshalb liebevoll erhalten und ihre Schönheit bewundern. Eben dieser Weltentzug aber schafft einen Abstand, der uns solche Werke zu ästhetischen Objekten werden lässt. Ähnliches gilt auch von der schönen Lampe. Auch sie ist ein Gewesenes, dessen Schönheit ein vergangenes Paradies beschwören mag und uns für eine kurze Zeit unsere Welt vergessen lässt. Das Licht, das ihre Schönheit immer noch in unsere Welt wirft, ist ein Licht, das uns vielleicht von unserer Welt Abstand nehmen lässt, aber uns unsere Welt nicht einräumt. Und dürfen wir ein solches Einräumen überhaupt noch von der Kunst erwarten; „bleibt die Kunst“ nicht, wie wir es in Hegels Vorlesungen über Ästhetik lesen, „nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes“? Heideggers Nachwort zum Kunstwerkaufsatz ließ die Antwort auf diese Frage offen: „Die Entscheidung über Hegels Spruch ist noch nicht gefallen: denn hinter diesem Spruch steht das abendländische Denken seit den Griechen, welches Denken einer schon geschehenen Wahrheit des Seienden entspricht. Die Entscheidung über den Spruch fällt, wenn sie fällt, aus dieser Wahrheit des Seienden und über sie. Bis dahin bleibt der Spruch in Geltung. Allein deshalb ist die Frage nötig, ob die Wahrheit, die der Spruch sagt, endgültig sei und was dann sei, wenn es so ist.“46
5. Aussichten Im Briefwechsel mit Staiger steht Heidegger unbestimmt zwischen der überkommenen ästhetischen Auffassung des Kunstwerks als eines in sich selig scheinenden ästhetischen Objekts und einer anderen, die das Kunstwerk als eine Welt entwerfend und damit Möglichkeiten voraus- und Menschen zuwerfend versteht. Solche Unbestimmtheit zeigt sich in der Art, wie sich Heidegger auch hier auf Hegel beruft. Heidegger ist sich mit Staiger einig, dass die Voraussetzung jeder angemessenen Interpretation eines Kunstwerks das Erfassen der dieses bestimmenden Grundstimmung ist. Diese Grundstimmung verstehen beide als „die zurückblickende Wehmut“.47 Ich möchte hier nicht der Frage nachgehen, ob es auch diese Grundstimmung ist, aus der Hegels Vorlesungen über die Ästhetik sprechen. Ich möchte dies bezweifeln. Zwar ist auch Hegel „Kunst nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung“ ein Vergangenes, aber dass dem so ist, versteht Hegel als Folge geistigen Fortschritts. Zurückblickende Wehmut stellt solchen Fortschritt in Frage. Von der so verstandenen vernunftgläubigen Welt und ihrem optimistischen Fortschrittsglauben hält das Gedicht Abstand, beschwört eine andere Welt, Metapher eines verlorenen Paradieses. Verstehen wir mit Heidegger die Lampe als σύμβολον des Kunstwerkes als solchen, so spricht das Gedicht wehmütig von der Ohnmacht einer Kunst, die in unserer modernen Welt ihre einstige ethische Funk-
46 Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“, a.a.O., S. 68. 47 Heidegger, „Zu einem Vers von Mörike. Ein Briefwechsel mit Martin Heidegger von Emil Staiger“, a.a.O., S. 103.
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tion verloren hat. Diesem Verlust entspricht die ästhetische Auffassung der Kunst, die eben deshalb die Kunst von der Wirklichkeit Abstand nehmen lässt. Zurückblickende Wehmut, sagte ich, stellt die unsere Welt bestimmende Vernunftgläubigkit in Frage. Einem solchen Infragestellen diente auch Heideggers Der Ursprung des Kunstwerkes. Hier allerdings war die Grundstimmung noch eine entschieden andere, nicht zurückblickende Wehmut, sondern vorausweisende Hoffnung auf eine zeitgemäße Wiederholung einer unsere Welt für uns entwerfenden und die Erde herstellenden Kunst, wie Heidegger sie mit seinem griechischen Tempel beschwor. Dieser Hoffnung entspricht Heideggers Bestimmung des Kunstwerks als Entwurf, Vorauswurf und Zuwurf. Der Kunstwerkaufsatz war zukunftsweisend. Der Schrecken der dazwischen liegenden Jahre erklärt den Tonwechsel, der auch im Briefwechsel mit Staiger hörbar wird. Zwei grundlegend verschiedene Auffassungen der Kunst begegnen uns in Mörikes Gedicht, wie auch in Heideggers Briefwechsel mit Emil Staiger und in seinem Gesamtwerk. Die eine, ästhetische, versteht das Kunstwerk als sich selbst genügendes, in sich vollendetes, ästhetisches Objekt. Verstanden als Entwurf dagegen ist das Kunstwerk wesentlich zukunftsbezogen und stellt die es Bewahrenden so in die Wirklichkeit. Die schöne Lampe, wie sie uns Heutigen erscheint, verbindet beide Auffassungen. Die Lampe ist nicht mehr, was sie einst war. Sie hat ihre Welt verloren. Als Gewesene scheint die schöne Lampe nun selig in sich selbst. Und dürfen wir sie mit Heidegger als „das σύμβολον des Kunstwerkes als solchen“ verstehen, müssen wir dann nicht auch dieses als etwas wesentlich Gewesenes verstehen, das wir zwar immer noch ästhetisch erfahren können, das aber uns nicht mehr in seine Welt zu stellen vermag. Dann bliebe Hegel das letzte Wort. Was sich heute Kunst nennt, wären dann nicht mehr „Kunstgebilde der echten Art“. Was solche Kunstgebilde verloren hätten, wäre eben der Entwurfscharakter, den Heidegger dem wahren Kunstwerk zuschreibt. Mit Heidegger können wir hier von einem Wesenswandel der Kunst sprechen oder auch von einem Abrutschen der Kunst ins Ästhetische. Dieser Wandel verdient Beachtung, entspricht ihm doch die Entwicklung der modernen Kunst. Heideggers Nachwort zum Kunstwerkaufsatz lässt uns eine solche Entsprechung erwarten. „Dem Wesenswandel der Wahrheit“, heißt es hier, „entspricht die Wesensgeschichte der abendländischen Kunst. Diese ist aus der für sich genommenen Schönheit so wenig zu begreifen wie aus dem Erlebnis, gesetzt, dass der metaphysische Begriff von der Kunst in ihr Wesen reicht.“48 In Die Zeit des Weltbildes versteht Heidegger den „Vorgang, dass die Kunst in den Gesichtskreis des Ästhetischen rückt“ als „[…]wesentliche Erscheinung der Neuzeit“.49 In Hegels Vorlesungen über die Ästhetik findet diese Hinwendung zum Ästhetischen eine überzeugende Begründung. Aber Heidegger möchte Hegel hier nicht das letzte Wort lassen. Und so heißt es im Nachwort zum Kunstwerkaufsatz, die Entscheidung 48 Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“, a.a.O., S. 70. 49 Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“, a.a.O., S. 75.
ENTWURF, VORAUSWURF, ZUWURF. ZUR VORLÄUFIGKEIT DES KUNSTWERKS
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über Hegels Spruch, dass die Kunst „nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes sei, sei noch nicht gefallen“.50 Das Herausstellen des Entwurfscharakters des Kunstwerks kann als Versuch verstanden werden, der Kunst eine Tür zu öffnen, die sie vielleicht einmal den Weg zurück zu ihrer höchsten Bestimmung finden lassen könnte, und eine solche Tür wäre auch eine Tür oder wenigstens ein Fenster in Heideggers Gestell. Und mit diesem Versuch stand Heidegger durchaus nicht allein. Verwandte Bemühungen lassen sich auch in der Entwicklung der Kunst unserer Zeit nachweisen. So wie Heidegger mit seinem Entwurfsdenken jede ästhetische Auffassung der Kunst in Frage stellt, so auch die Entwicklung der heutigen Kunst. Hier nur ein Beispiel: Jahre lang wies Clement Greenbergs Kant verpflichtete ästhetische Auffassung der Kunst dem abstrakten Expressionismus die Richtung. Für so manchen Kritiker gilt das immer noch. Aber heute hat Greenberg den meisten Künstlern wenig zu sagen. Ein Licht auf diesen Umschwung wirft die Art, wie schon in den vierziger Jahren Harold Rosenberg Greenberg widersprach. Das Primäre, meinte er, sei nun der Malakt und, so warnte er die, wie Greenberg, einer ästhetischen Einstellung verpflichteten Kritiker: „Der Kritiker, der fortfährt sich auf Schulen, Stile, Form zu berufen, als ginge es dem Maler immer noch darum, eine bestimmte Art Objekt (das Kunstwerk) zu schaffen, statt auf der Leinwand zu leben, muss als Fremder erscheinen.“51 Und Künstler, die sich der Greenberg’schen Ästhetik unterwarfen, warnte er, dass ihnen das Ästhetische zum Gefängnis werden müsse. Der Unterschied von Malen und Leben verwischt sich hier. Sartre verpflichtet, stellte auch Rosenberg Möglichkeiten über Tatsachen. „Fundamentaler als Wesen ist Existenz“.52 Auch hier ließe sich vom Entwurfs- und Prozesscharakter des Kunstwerks sprechen. Und auch hier kommt es zu einer Vermenschlichung des Kunstwerks. Verwandt ist die Art, wie Heidegger eine Charakterisierung, die in Sein und Zeit vom menschlichen Dasein galt und dieses vom vollendeten Kunstwerk abheben sollte, in Der Ursprung des Kunstwerkes auf dieses überträgt. Diese Übertragung lädt uns ein, der Familienähnlichkeit zwischen dem Sein des Kunstwerks und dem des Menschen weiter nachzugehen.53
50 Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“, a.a.O., S. 68. 51 Harold Rosenberg, „The American action painters“, in: Art News 51/8 (1952), S. 22–23, 48–50, hier S. 23. 52 Vgl. Ann Eden Gibson, Issues in Abstract Expressionism: The Artist-Run Periodicals, Ann Arbor 1990, S. 39. Siehe Harold Rosenberg, „The Stages: A Geography of Human Action“, in: possibilities 1 (1947/48), S. 47-65, hier S. 48. 53 Hier bietet Walter Benjamins Aurabegriff einen Ansatzpunkt. In dem diesem Vortrag folgenden Workshop versuchte ich, diesem Hinweis nachzugehen.
JEFF MALPAS
Heidegger, Aalto, and the Limits of Design It is not in things, but in man’s attitude toward life that we find the final standard of measurement. Alvar Aalto
1. In spite of the common tendency to treat him as a nostalgic anti-Modernist, when it came to architecture and design, as with painting and sculpture, Heidegger seems to have had a keen interest in, and appreciation for, some of the key Modernist figures and their works – certainly this appears to have been so with respect to Le Corbusier,1 and, according to Heinrich Petzet, Alvar Aalto.2 As Petzet tells it: Heidegger’s lecture, [,Bauen Wohnen Denken‘], … to an unusual degree, caught the attention of one of the greatest architects of our time, Alvar Aalto. On Aalto’s writing desk, friends noticed the volume containing the text of this lecture and reported this back to Freiburg. When I was coming back from Finland, I ran into some young Finnish architects who were likewise talking about that lecture. When soon thereafter I reported this to Heidegger, he was very pleased; and he gave me the assignment of taking his greetings to Aalto when I repeated the trip as planned the following year. But the death of the great architect kept me from making a connection between the two men, which I would have only too happily have done.3
There is admittedly something a little strange about Petzet’s remark here: Aalto died on May 11 1976, but Heidegger himself died on May 26 of the same year. Even had Aalto lived, it seems unlikely that the additional two weeks would have pro1 Dieter Jähnig reports that Heidegger said of Corbusier’s pilgrimage church at Ronchamp that it was „a holy space“ – see Dieter Jähnig, ,Die Kunst und der Raum‘, in: Errinerung an Martin Heidegger, ed. By Günther Neske, Pfullingen 1977, pp. 131-148, here p. 136. Moreover, although Petzet tells us that during the visit to the site, Heidegger left Petzet and his companions to an ,„examination“ of the architecture’, while he, Heidegger, went to hear a new mass being used for the pilgrims (see Heinrich Wiegand Petzet, Encounters and Dialogues with Martin Heidegger 19291976, transl. by Parvis Emad and Kenneth Maly, Chicago 1993, p. 207), Petzet also talks elsewhere, in terms that fit with Jähnig’s comment, of Heidegger’s ,exuberance from his impressions of the pilgrimage church by Corbusier‘ (Petzet, Encounters, loc. cit., p. 150). This does not mean, however, that Heidegger would have regarded all of Corbusier’s work with similar enthusiasm, especially given the significant shifts in Corbusier’s work from early to late. 2 One might argue that the work of Aalto and Corbusier – especially a work such as Ronchamp – contain elements that do not adhere to the standard Modernist creed (and some of these elements will be important in the discussion below), but it is hard to claim that the two therefore cannot be counted as key figures in the Modernist movement. 3 Petzet, Encounters, loc. cit., p. 188.
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vided Petzet with much more of an opportunity to make the connection to Aalto. Did Petzet misremember the incident or perhaps the timing of it? Petzet’s account is also tantalisingly brief – he offers no more detail that is given in this one passage, and there seem to be no other sources, from Heidegger’s side or Aalto’s, that could offer any additional corroboration or elucidation.4 We thus know nothing of the extent of Heidegger’s knowledge of Aalto or of Aalto’s of Heidegger – it is not even clear what weight should really be attached to the presence of that volume by Heidegger on Aalto’s desk. Nevertheless, the main point of the anecdote – namely, that the philosopher and the architect might each have had an interest in and even respect for the work of the other – is in accord with a widespread understanding that associates both with a similar mode of architectural and design thinking: one that is phenomenologically attentive and situationally responsive, and that takes as a central focus the relation between human being and its environmental context. Yet for all that it is commonplace to assume such convergence, there is little in the existing literature in the way of any direct and detailed investigation of the relation between Heidegger and Aalto, and often, when the two are treated together, it is as part of a much broader treatment,5 rather than in terms of a more direct focus on the work of each in relation to the other. There is a also a further complication: the Heideggerian mode of thinking that is at issue is frequently viewed as exemplifying and promoting a backward-looking conservatism that privileges problematic notions of identity and belonging over the uncertainty and mobility that are seen as characteristic of modernity. For many writers, this opposition is itself read in political terms, one that reminds us of Heidegger’s own political commitment during the 1930s, and in a way that views notions of home, belonging, and place, as inevitably tending towards political danger – towards the extremities of fascism and the horrors of Auschwitz.6 What, one might ask, given the supposed commonality of Heidegger and Aalto, should we take this to imply about Aalto’s work? Does it also fall victim to the same critique – does it give a more problematic tenor to, for instance, Aalto’s association with a specifically Nordic or Finnish architectural style (and with aspects of Finnish national identity)? If not, then does Aalto’s work indicate the possibility of a different way of reading the issues that are at stake in Heidegger – and so a different way of understanding Heidegger’s thinking on architecture and design? Whether or not they arrive at a positive or negative appraisal of his thinking, discussions of architectural and design in Heidegger invariably begin with the essay mentioned by Petzet, and in which Aalto seems to have had an interest, ,Bauen 4 There was certainly no direct connection between the two men, and the Aalto Archives contain no record of any correspondence between them. 5 For instance, as in Colin St. John Wilson, The Other Tradition of Modern Architecture: The Uncompleted Project, London 1995. Although an important and interesting work, St. John Wilson’s volume deals with Heidegger and Aalto largely as they contribute to the ‘other tradition’ that is his primary focus. 6 See, for instance, Hilde Heynen, Architecture and Modernity: A Critique, Cambridge Massachusetts 1999, p. 23; and also Adam Scharr, Heidegger for Architects, Abingdon 2007, pp. 112-114.
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Wohnen Denken‘. It is this essay which is also taken to carry with it the problematic connotations mentioned by Heynen. But we may ask how Aalto himself might have understood that essay – what is it that could, as Petzet puts it, ,to an unusual degree… [have] caught the attention‘ of Aalto? Rather than assume an answer here, there may be some value in re-reading this essay, and doing so in a way that would also bring it into closer proximity with Aalto, a way that would connect it more directly with Aalto’s own understanding of architecture and design.7 Doing so may indeed be instructive, not only in terms of an understanding of the anecdote Petzet recounts, but also in an understanding of Heidegger’s own thinking, while it may also further illuminate Aalto’s work. This is just the strategy that I wish to follow here. The first part of this essay will thus focus on Heidegger’s essay, only then, in the second part, moving on to consider the relationship to Aalto. A key element in my approach will be the rethinking of a concept that is central to Heidegger’s late thinking about architecture and design, the concept referred to by the German Wohnen. My aim is not only to arrive at a rethought idea of what Wohnen might mean, however, but also to use that idea as the starting point from which to arrive, through the juxtaposition of Heidegger with Aalto, at an account of the proper limits within which architecture and design operate and out of which they arise. Reading Heidegger in relation to Aalto in this way may also enable us better to arrive at a more concrete sense of what is at issue for Heidegger in architecture and design, and that may dispel some of the tendency for Heidegger’s account (whether in relation to architecture and design or more generally) to be read in terms of ,arcane erudition‘, ,rare and exceptional states‘ or ,mystical raptures, reveries, and swoonings‘.8 Perhaps it offers, at least as far as the thinking of architecture and design are concerned, a way of reading Heidegger as engaged with certain simple and yet fundamental questions concerning the nature
7 Christian Norberg-Schulz is one who might be thought already to have provided an answer in works such Genius Loci, towards a phenomenology of architecture, New York 1980, Christian Norberg-Schulz, The Concept of Dwelling, New York 1985 and Christian Norberg-Schulz, Architecture: Presence, Language, Place Milan 2000. There are similarities between the account offered above and that of Norberg-Schulz, but there are also some differences – most obviously in my refusal of the term ,dwelling‘ itself, but also in other respects that may not be immediately apparent. Norberg-Schulz has a more determinate conception of the character of place and our relation to place than my account allows (part of my emphasis is on the indeterminacy and questionability that is at the heart of our living in the world – something that brings me closer on some points to a thinker such as Massimo Cacciari than it does to Norberg-Schulz), and this also means that I am less willing to talk of notions of identity and belonging, and especially authenticity, than is Norberg-Schulz himself, and when I do use these notions it is often in ways that differ significantly from his (for a critique of authenticity, see my ,From Extremity to Releasement: Place, Authenticity, and the Self‘, in: The Horizons of Authenticity: Essays in Honor of Charles Guignon’s Work on Phenomenology, Existentialism, and Moral Psychology, ed. by Hans Pedersen and Lawrence Hatab, Dordrecht, forthcoming, 2013). 8 See Martin Heidegger, Parmenides, transl. by André Schuwer and Richard Rojcewicz, Bloomington 1998, p. 149: ,To think Being does not require a solemn approach and the pretension of arcane erudition, nor the display of rare and exceptional states as in mystical raptures, reveries, and swooning‘.
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of a properly ,human‘ mode of living in the world, as well as with the manner of our attunement to such a mode of living.
2. Heidegger’s ,Bauen Wohnen Denken‘ was originally presented at a conference on ,Man and Space‘ attended by architects and designers (as well as philosophers – including the Spanish philosopher José Ortega y Gasset). Not only is the essay clearly concerned with issues of architecture and design, but it has also become a frequently-cited text in architectural and design theory. Yet in spite of this, the terms ,architecture‘ and ,design‘ figure in the essay only fleetingly. Architecture is itself encompassed within the term that Heidegger views as more fundamental, namely, ,building‘, and as such it remains present, but under another name. Design, however, seems to appear, if at all, in more obscure fashion, and the term itself, Entwurf in the German, is used by Heidegger only once – although the passage in which it does appear is an important one. Towards the end of the essay, Heidegger tells us that building ,is a distinctive letting-dwell [Wohnenlassen]. Whenever it is such in fact, building already has responded to the summons of the fourfold. All planning remains grounded on this responding, and planning in turn opens up to the designer the precincts suitable for his designs [den Entwürfen für die Risse die gemäßen Bezirke öffnet]‘.9 As it appears here, Heidegger’s focus on ,design‘, Entwurf, seems to be on design as that which is the outcome of a planning or design process, rather than encompassing some broader notion of design as an activity, as something perhaps more integrally bound up with building.10 But there is no reason to restrict the notion of design as it might be at stake here to such a narrow conception. Inasmuch as we can ask what design itself might be, what its grounds and limits truly are, so we may indeed take design to be already implicated in building. The key point of this passage, however, 9 Martin Heidegger, ,Building Dwelling Thinking‘, in: Poetry, Language, Thought, transl. by Albert Hofstadter, New York 1971, pp. 143-161, here p. 159. The entire passage in the original German reads: ‚Das gekennzeichnete Bauen ist ein ausgezeichnetes Wohnenlassen. Ist es dieses in der Tat, dann hat das Bauen schon dem Zuspruch des Gevierts entsprochen. Auf dieses Entsprechen bleibt alles Planen gegründet, das seinerseits den Entwürfen für die Risse die gemäßen Bezirke öffnet‘, Martin Heidegger, ‚Bauen Wohnen Denken‘, in: Voträge und Aufsätze, 8th edn., Stuttgart 1997, pp. 139-156, here p. 154. Clearly Hofstadter takes some liberties, as he does elsewhere in his translations, in the rendering of Heidegger’s German into English. 10 It is worth noting that there is an easily overlooked complication here too, although one that is not crucial to the present inquiry. The German term Entwurf (which can mean design, but also outline, sketch, draft or ,project‘ – entwerfen being the verb form) appears in Heidegger’s later writings only infrequently, even though it is the later works that are usually cited in discussions of Heidegger and design. But Entwurf is a key notion in earlier works, notably Being and Time, where it is often translated as ,project‘ or ,projection‘. It seems likely that if Entwurf appears less frequently in the later thinking this is partly because of Heidegger’s own shift away from the more active sense of Entwurf that is captured in the notion of ,projection‘, and towards the stronger emphasis on responsiveness evident in the passage at issue here.
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is that design cannot be understood as simply the opening up of its own space – instead the space of design is opened up in the responsiveness to ,letting-dwell‘ that is essential to building. Before we can take the inquiry into design any further, however, we need first to ask after the concept of ,letting-dwell‘ that is given such a central role here. What is at issue in this notion of ,letting-dwell‘, or, more basically, in the idea of ,dwelling‘, that it can be so foundational? Rather than move immediately to a discussion of the account Heidegger develops in the body of the essay, it is worth reflecting on the terms at issue here and in particular the term ,dwelling‘. The use of this term in the standard English translation of the essay, and in almost all subsequent English-language discussion, is seldom remarked upon, and yet there is something strange about it. Although the German Wohnen which appears in Heidegger’s original text is a common term in ordinary usage, the English ,dwelling‘ is not (at least not beyond the use of the term in architectural and planning discourse to designate a place of residence), and the same goes for the English ,dwell‘. The etymology of ,dwell‘ is also quite different from the German, and as a result, so are some of its connotations. The Oxford English Dictionary lists a number of meanings for the term, not only ,to remain (in a house, country, etc.) as in a permanent residence; to have one’s abode; to reside, „live“ … to occupy as a place of residence; to inhabit‘, but also including ,to lead into error, mislead, delude; to stun, stupefy … to hinder, delay … to tarry … to desist from action … to abide or continue for a time, in a place, state, or condition … to spend time upon or linger over … to continue in existence, to last, persist … to cause to abide in‘.11 Many of these senses of the term are specified as ,obsolete‘ (even in the first edition of the Oxford English Dictionary from 1933), including those that mean ,to reside, to inhabit or to live‘, and the sense of ,dwell‘ that is said to be ,the most frequent use in speech‘ is that which means ,to spend time upon or linger over‘ (as in ,let’s dwell on that thought for a moment‘). The difference between the English ,dwell‘ and the German Wohnen is clearly evident when one considers that while in ordinary German, if one wishes to know someone’s place of residence, one asks Wo wohnen Sie?, in English one does not say ,where do you dwell?‘, but ,where do you live?‘ – and in fact the Oxford Dictionary notes of the term ,dwell‘ as it relates to ,live‘ or ,reside‘: ,now mostly superseded by live in spoken use; but still common in literature‘. Because ,dwelling‘ is a relatively uncommon term in contemporary English (and has been so for much of the last hundred years or more), its use to translate Heidegger’s Wohnen, although not unreasonable, nevertheless results in the transformation of a term that is ordinary in German into something unusual in English. Immediately, dwelling becomes something special and even rather strange – the very word suggesting a return to something archaic. Yet much of the point of Heidegger’s discussion in ,Bauen Wohnen Denken‘ is to use a term that we think we understand – for German speakers, Wohnen – and then, as he so often does, render 11 Oxford English Dictionary, Oxford 1933, p. 733. The entry is largely unchanged from the first edition in 1933 to the present online version of the Dictionary.
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our understanding questionable. This does not happen in the usual English translations of Heidegger’s essay – ,dwell‘ and ,dwelling‘ already appear as terms that are unfamiliar – and so there is no shift from the familiar and the ordinary to the unfamiliar and the questionable. ,Dwell‘ and ,dwelling‘ have thus become words of art for many readers of Heidegger – technical terms that carry a special coding with them, and that also have echoes of the poetic and even the mystical. Yet these terms are also used, in spite of the oddity that attaches to them in English, as if their meaning was indeed already understood – so one finds architectural theorists and commentators writing about ,the question of dwelling‘ as if it was clear what this might mean.12 Rather than continue to talk of ,dwelling‘, there are good reasons to look for a different way of speaking – if one can be found (and given the contemporary prevalence of talk of ,dwelling‘ in Heideggerian discussions, the usage might be thought extremely difficult to shift). However, English has a rather more differentiated vocabulary around these topics than does German, and there is no single English term that matches, even closely, the German Wohnen in either its noun or verb form. ,Reside‘, ,inhabit‘ and ,abide‘, while they overlap with the meaning of the German term, like ,dwell‘, also differ significantly, while ,live‘ (as in ,Where do you live?‘) carries a different set of etymological and semantic links. An obvious way to handle the matter might be to look to some notion of ,being home‘, except that Heidegger himself contrasts being zu Hause (almost literally, being ,at home‘) with Wohnen. Heidegger’s point, however, is to emphasise the difference between those places with which we are engaged in terms of an everyday familiarity and the places in which we actually live. So he writes that ,the truck driver is at home [zu Hause] on the highway, but he does not have his shelter [seine Unterkunft]‘, and similarly, ,the working woman is at home in the spinning mill, but does not have her dwelling place [ihre Wohnung] there; the chief engineer is at home in the power station, but he does not dwell there [er wohnt nicht dort]‘.13 We can certainly capture something of this in English, if in a different way: neither the power station, the mill, nor the highway are home to those who are ,at home‘ within them. We might also say, that in an important sense, neither the driver, the mill worker, nor the engineer live in the places in which they are nevertheless ,at home‘. Still, even though we can find ordinary English terms to fill the role of Wohnen here,14 we lack any single 12 For instance Pavlos Lefas, Dwelling and Architecture: From Heidegger to Koolhaas, Berlin 2009. Lefas writes of how, in ,Bauen Wohnen Denken‘, Heidegger ,set the question of dwelling on a new footing‘ as if ,the question of dwelling‘ were something with which we were already familiar. Understood in terms of ,dwelling‘, however, the question at issue takes on a particular character that may well be thought to obscure rather than illuminate the underlying issues at stake. Perhaps ,the question of dwelling‘ should be viewed more as a peculiar by-product of the way Heidegger’s thinking has been taken up in certain circles than a real question in its own right. 13 Heidegger, ,Building Dwelling Thinking‘, loc. cit., p. 145. Interestingly, Heidegger immediately goes on: ,The buildings house man‘ – the reference to ,these buildings‘ includes the power station, the spinning mill, and the highway. 14 Translation is always possible even though it does not always allow of simple one-to-one correlations between terms. This makes for special difficulties when one wishes to mirror stylistic and
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term that exactly matches the German, and so rather than simply translate Wohnen with ,dwelling‘, as if the one were an exact match for the other, perhaps we should accept the need for more than one term, sometimes ,home‘, sometimes ,living‘, adjusting the term to the context. Perhaps too, if we are to retain the neat symmetry of Heidegger’s title ,Bauen Wohnen Denken‘ while also being true to the sense carried by the German, then we may need to look to an English title closer to ,Building Living Thinking‘. Certainly, when we look to compare Heidegger with Aalto, it may well be that the latter translation will turn out to be a more useful and enlightening one. In this latter respect, while admitting that the translational issue admits of no easy solution (,living‘ undoubtedly carries some awkward ambiguities of its own), my own practice, in the discussion that follows, will be to eschew talk of ,dwelling‘ in favour of terms like ,living‘ and ,home‘. One reason for doing this is not only to facilitate the engagement with Aalto, but also to approach anew the question of the understanding of architecture and design in the Heideggerian context. The key point here is to see ,Bauen Wohnen Denken‘, not as introducing some strange new concept, but rather as aimed at a rethinking of something with which we are already familiar – at a questioning of what is at stake in the otherwise ordinary language concerning the places in which we ,live‘, the places that we call ,home‘, and an opening up of a further questioning as to how this might relate to ,building‘, and to ,thinking‘. Not only is it important to keep open the question as to what is at issue here – what is it to be ,at home‘, what is it to ,live somewhere‘? – but it is also important to keep in mind that in talking about home here we mean something quite ordinary and mundane. In the first instance, that may mean the very ordinary sense we attach to ,where we live‘ and ,home‘ as just our ordinary place of residence. That is certainly a starting point for Heidegger’s discussion, but although it may well be where it begins, it need not be where that discussion ends – neither for Heidegger nor, as we shall see below, for Aalto. It would certainly be a mistake to suppose that what is at stake in Heidegger’s discussion of Wohnen is just a matter of identifying the need for there to be some one place that stands out above all other places as the sole foundation for our living in the world – as if it were a matter of our sedentary ,belonging‘ to some one place that is our ,home‘ – even though such an idea may seem to be indicated by some of our everyday ways of talking. If we are to use the notion of ,belonging‘ here at all, and we might well view the term as creating more problems than it resolves, then we must distinguish between two different senses of the term. One involves the idea, already suggested, of a longstanding and temporally extended association with a single place or locale – and it is, in fact, just this sense that is the most commonly assumed sense of ,belonging‘ as employed in this context, as well as the sense typirhetorical forms – which is why the translation of poetry is less a matter of translation than a certain sort of poetic ,re-creation‘, and also why the attempt too closely to mirror stylistic and rhetorical devices from one language to another can give rise to translational inadequacies (something that often plagues English translations of Heidegger).
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cally associated, especially in English, with Heideggerian ,dwelling‘ (a sense reinforced by the idea of the English ,dwelling‘ as a ,lingering‘ or ,remaining‘ – and also, perhaps, the association of ,dwell‘ with ,stun‘, ,stupefy‘, ,hinder‘ or delay‘). The other involves the idea of an ordered mode of living that possesses a certain coherence, and therefore a certain topological boundedness, but that is not necessarily worked out in relation to only one place nor to be understood in terms simply of a static temporally extended ,remaining‘. It is this second sense of ,belonging‘, rather than the first, that is at issue here. What matters is not the number of places that a mode of living encompasses nor even the enduring centrality of one single place. Instead the focus must be on the ordering of those places, and the coherence of that ordering. Within such an ordering, there will be a differentiation within and between spaces and places that itself embodies the differentiation of the mode of living. Within that differentiation, certain spaces and places will take on greater centrality than others, and yet not only might that ordering change, but it is the overall topographical structuring that is primary, rather than any single place within that structure. Our belonging to place is thus a matter of the topographical articulation of our mode of living, and not of our sedentary fixation in a single locale. It is this notion of our living in the world, and so with it of home, as a matter of a complex and dynamic topographical articulation that is fundamentally at issue in Heidegger’s talk of Wohnen, and that is elaborated through his idea of the gathering of earth and sky, gods and mortals within the Fourfold – das Geviert. Indeed, in general (and not only as articulated through the Fourfold), the way place appears in ,Bauen Wohnen Denken‘, as in much of Heidegger’s thinking, is not in terms of any single locale that is the unchanging site of ,home‘. The character of place itself is such as to resist any such reduction. Every place enfolds and is enfolded within other places, while the boundaries that determine a place, like the place itself, shift according to what is brought to appearance within it – or, as one might also say, what is brought to appearance shifts according to its boundaries, according to its place. Thus, if we talk of place as home, then what that place is may vary from a single dwelling to a street, a stretch of countryside to a country, a path to a set of pathways, a region to a world. Yet inasmuch as any and every mode of living is indeed topographically articulated, so it always requires a certain boundedness, a certain relatedness to place and places, as that in which its coherence as a mode of living is realised and made possible. This is the real meaning of the idea that to live in the world is to live somewhere – to live in the world is to essentially to be placed, so that living, Wohnen, is also, one might say, a placing or being placed – Heidegger’s account of the Fourfold being an elaboration of this mode of placing. There is no form of human living in the world that is not bound to place in this way, and that is not, therefore, also itself bounded (such boundedness being understood, in the way Heidegger understands it, as ,constitutive‘ rather than merely ,restrictive‘15). Indeed, the shaping of human life, both individually and collectively 15 ,A boundary is not that at which something stops but, as the Greeks recognized, the boundary is that from which something begins its presencing‘, Heidegger, ,Building Dwelling Thinking‘,
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is a shaping that occurs in and through particular places. Even the most eloquent contemporary exponents of modernity’s homeless character do not find themselves living a life completely without boundaries, completely unplaced, never having a care for the places in which they find themselves and in which their lives are shaped. Even among those whom we refer to as the genuinely ,homeless‘, those who through poverty or alienation have no shelter or other place of residence that is their own, still they find ways to shape their own ,sense of home‘ on the street or the countryside – a ,sense of home‘ evident in both the overall structuring of their mode of life and in the ordering of the places around which their lives are organised. Indeed, if and when such a ,sense of home‘ really does break down, then so does the life itself. In general, the care for oneself that is central to being a self – which remains even in situations of homelessness and alienation – is also a care for the places in which one’s self is articulated, in which it is embedded, and with respect to whose boundaries the self is itself shaped and expressed. That care, whether for self or for place, may not always be well-formed or well-directed – sometimes it may be distorted or ,misplaced‘ – but it is always present. Thus when Heidegger talks of Wohnen as a matter of a ,sparing and preserving‘, of ,taking under our care‘, what he is referring to is a ,sparing and preserving‘, ,a caring‘, that we can see implicit in the concern for one’s own being that was already a starting point for Heidegger’s consideration in Being and Time. In ,Bauen Wohnen Denken‘ it becomes clear that care for one’s own being is also care for the world as that is given focus in the places in which one’s mode of living is brought forth as an issue.16 It is because we find ourselves already given over to the world, as it appears in the specific places in which, and with respect to the things among which, we live, that we are already given over to caring for those things and places. Modernity, according to Heidegger is characterised by homelessness. Often this is taken to mean that modernity has itself rendered any idea of the sort of ordered mode of living in the world, of any sort of ,home‘, impossible, and that therefore the concern with home is representative of a desire that cannot be fulfilled, that we have no choice but to abandon. Massimo Cacciari, in particular, has advanced this as a claim Heidegger himself makes,17 and it is an idea that frequently recurs in much contemporary discourse – often taken to be reinforced by consideration of the rise of digital technology and globalisation.18 To some extent, this reading depends on already understanding Heidegger’s discussion through certain conceploc. cit., p. 149. This understanding of the idea of boundary is central to Heidegger’s thinking, and especially to his thinking as topological – see Jeff Malpas, ,Ground, Unity, and Limit‘, in: Heidegger and the Thinking of Place, Cambridge Massachusetts 2012, p. 73-96. 16 The interconnection of self with place that is invoked here is something for which I have argued and elaborated upon in a number of works – most notably in Place and Experience. It is an interconnection that I have argued is also present in Heidegger – in ,Bauen Wohnen Denken‘ as well as elsewhere. On this see Jeff Malpas, Heidegger and the Thinking of Place, loc. cit. and also Heidegger’s Topology, Cambridge Massachusetts 2006. 17 Massimo Cacciari, ,Eupalinos or Architecture‘, in: Oppositions 21 (1980), pp. 106-116. 18 See, for instance, Neil Leach, ,Forget Heidegger‘, in: Designing for a Digital World, London 2002, pp. 21-30.
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tions of place and home – particularly those that give priority to modes of sedentary belonging – that are not only problematic in their own terms, but also give rise to difficulties within the framework of Heidegger’s own thinking. In this respect, it is especially important to recognise that the question of home – understanding that as one way of characterising the question to which Wohnen refers us – is itself a question that arises only because we are already given over to a mode of being in the world that is itself configured in terms of home (one might say that it is this, whether recognised or not, that underpins all of critical engagement with home – including that which is suspicious of the notion). Even though we may be threatened with homelessness, both empirically and metaphysically (as Heidegger constantly reminds us), the loss of home only threatens inasmuch as it stands within the frame of a mode of being that nevertheless always stands in a relation to home. This reflects a more general structure that appears throughout Heidegger’s thinking – a structure in which a loss or absence always arises in relation to an ongoing presence. Thus in ,Bauen Wohnen Denken‘, in a passage that emphasises the way in which human being is always a being among things, and so also within the Fourfold, Heidegger tells us that ,the loss of rapport with things that occurs in a state of depression would be wholly impossible if even such a state were not still what it is as a human state: that is, a staying with things. Only if this stay already characterises human being can the things among which we are also fail to speak to us, fail to concern us any longer‘.19 Heidegger’s point is that only if we remain with things, can we also experience an apartness from things. Similarly, only if we remain in a relation to home, can we experience homelessness. Homelessness is a loss or lack of home, and so carries home within it as just such a loss or lack. At the same time, home also contains homelessness within it, both as a possibility and a presence. Home and homelessness are not two different modes of being, then, but one.20 The real danger of modernity, and of the particular character of the homelessness it brings, is that it refuses and obscures this fact – in doing so it refuses and obscures the question of home, of our living in the world, and with it the question of place. If this is not so obvious at first sight it is only because of the way in which modernity obscures its own contradictory character. So far as home and place are concerned, modernity presents two different and, for the most part, separated faces. On the one hand, home is at the very heart of modernity and its promise. Modernity itself arises out of a desire for and a belief in 19 Heidegger, ‚Bauen Wohnen Denken‘, loc. cit., p. 157. 20 As Heidegger wrote some years before ,Bauen Wohnen Denken‘: ,We reside in the realm of being and yet are not directly allowed in. We are, as it were, homeless in our ownmost homeland, assuming we may thus name our own essence. We reside in a realm constantly permeated by the casting toward and the casting-away of being. To be sure, we hardly ever pay attention to this characteristic of our abode, but we now ask: „where“ are we „there“, when we are thus placed into such an abode?‘ Martin Heidegger, Basic Concepts, transl. by Gary E. Aylesworth, Bloomington 1993, p. 75. Here the questions of home and place are put in a way that shows them not as questions that arise due to a complete loss of either, but only as we remain in a relation to them even as we experience our estrangement from them.
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the possibility of a home without homelessness – here is modernity in its most clearly utopian character. In the modernity of the present, this appears in the rise of the private dwelling, and all that is associated with it from interior decoration to home entertainment, as a key focus of social and cultural life, as well as in the development of information and communication technologies that seemingly allow the home (in the shrunk-down form of the mobile phone) to be taken out into the world and the world (through television and the computer) to be brought directly into the home. On the other hand, modernity also operates, often by the very same means, in ways that are destructive and destabilising of home, and so in favour of a mode of homelessness, that is perhaps greater than we have seen before. Perhaps nowhere is this more evident than in the Holocaust – in the attack on the very possibility that Jews, and others with them, might find a home in the world. The Holocaust was not merely about the extinguishing of individual human lives, but about the extinction of the possibility of a human mode of living, the possibility of home in the very deepest sense, for whole communities of human beings.21 One might argue that the Holocaust is a distortion within modernity, rather than strictly representative of it, but no matter how one views the matter, one can easily point to phenomena that seem to exhibit the apparently homelessness of modernity in other ways. Indeed, the most common term with which to understand modernity is in terms of its character as a state of homelessness. Here the reference is not to the displacement of persons that is such a feature of the contemporary world, but rather to the way in which the very same technologies that seems to promise home also seem to take us away from home. Modern technologies appear to disintegrate the boundaries between home and world, making home a more ambiguous place at the same time as the world itself seems to be transformed into a single homogenous plane in which the very distinction between home and its other has disappeared. Moreover, the rise of this form of ,homelessness‘ is not a rise in the capacity to ask what home is – to question home. Instead home is either taken for granted or denied. It is not that modernity draws both together as Heynen argues, but that it juxtaposes without connecting them, both drawing us toward home at the same time as it draws us away – and yet seldom, if ever, acknowledging the tension that is present here.22 It is for these reasons that Heidegger’s inquiry aims to put the idea of home, of our living in the world, in question. What it is to be at home, what it is genuinely 21 See Jean Améry, ,How Much Home Does a Person Need?‘, At the Mind’s Limits. Contemplations by a Survivor on Auschwitz and its Realities, transl. by Sidney and Stella P. Riosenfeld, New York 1986, pp. 41-61. 22 It might sometimes seem as if what occurs here is the rise of a new form of home (this seems to be Heynen’s view) – one that is no longer tied to place. ,Home‘ thus seems to become a mobile phenomenon. Such an interpretation often depends, however, on the assimilation of a topological mode of thinking to the sort of sedentary model that I criticised above, or, more fundamentally, on failing to recognise the way in which even mobility is articulated topologically, and even mobility operates within certain bounds. In fact, no one is everywhere, and every life operates within certain bounds and certain places.
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to live in the world, is itself to be capable of raising the question of home and of living (here the ,question of being‘ understood as a question in which our own being is always at issue appears anew), but this means that our questioning and our relation to home, and to place, are bound together.23 This is why Wohnen, as Heidegger emphasises at the end of ,Bauen Wohnen Denken‘, is that which we must always learn anew. This, he says, is the real plight of Wohnen – the plight of living in the world, of finding a home in the world. Of course, if home were completely lost to us, then there would be no longer any question of home, no need to learn what it is to be at home, no need to learn how to live in the world, no need to respond to the call that is made here (‘the summons … that calls mortals into their dwelling‘24). But the plight at issue here is one from which we can never truly escape – so long as we are in the world then home is an issue for us – yet it is also a plight to which modernity blinds us. It is thus that the plight at issue, the plight of home and of homelessness, takes on a special character in the face of modernity. Moreover, as our living in the world is a matter of building, so within modernity, the question of building, and with it of architectural construction, takes on a special character, a special urgency even – and so we are also brought back by this route to the question of design.
3. The importance of the idea of human life as always a living somewhere, a ,being home‘, even in the face of modernity, is important here not only because of Heidegger’s focus on the question to which Wohnen refers us, but because it is quite clear that this is also a key concern for Aalto. One might say that this is partly evident in Aalto’s own interest in residential construction and design – and not only in the design of homes for the wealthy, but also in the production of more modest dwellings.25 The concern with residential design is, of course, something present in the work of many Modernist architects, and one might argue that this very focus exemplifies the way in which the home has become a theme within modernity. To some extent that is true of Aalto (it also reflects the need for mass housing following the Second World War – the very context in which Heidegger’s lecture was presented), but it is also the case that, for Aalto, the focus on residential design is part of a larger 23 As Heidegger puts it: ,Man’s relation to places and through places to spaces, inheres in his living [Wohnen]‘ [with modifications to Hofstadter’s original translation], Heidegger, ,Building Dwelling Thinking‘, loc. cit., p. 157. 24 Heidegger, ,Building Dwelling Thinking‘, loc. cit., p. 161. 25 As Markku Lahti notes, Aalto designed around one hundred single family houses during his career, including houses for family and friends, houses that formed part of larger institutional or corporate complexes, and more standardised homes that were wholly or partly mass-produced (of which around one thousand were built) – see Markku Lahti, ,Alvar Aalto and the Beauty of the House‘, in: Alvar Aalto: Towards a Human Modernism, ed. by Winfried Nerdinger, Munich 1999, pp. 48-60, here p. 49.
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question about design – and not only the design of buildings but also lighting and furniture – as it relates to human living. The focus on residential design does not mean that we are returned, however, to a narrow concern with ,home‘ as instantiated in a particular built form – with the home as residence. Certainly, from the perspective already set out above, the problem of home, of human living, is not only a problem concerning residential design. When Heidegger says that the truck driver is at home on the highway, but does not make it his home, Heidegger is not suggesting that we should only be concerned with residential dwellings as opposed to highways, and that only the latter has any relevance to the form of our living in the world. Indeed, both are encompassed by Heidegger’s notion of what it is to build, and so also by what it is to live in the world, since Bauen is itself a form of Wohnen. Heidegger’s concern is rather to emphasise the way in which the ,being at home‘ that may seem to be immediately evident in our ordinary coming and goings, our ordinary activities, is not the same as the ,being at home‘ that provides the ordering of our mode of living as such. Although we can distinguish between the different places and regions within which our lives are articulated, and in particular between the places in which we live and those with which we are merely familiar, this does not mean that our living in the world is restricted to or expressed in just those places that are intimate to us. The question of our living in the world, of the manner in which we find ourselves at home, is raised also by forms of building and design beyond the intimacy of the residential, and can so be seen as extending out to encompass more ,public‘ forms of building and design – including highways, power stations, and spinning mills. Although we may get to the question of home through an initial concern with the home as residence, this nevertheless leads us back outwards to a more encompassing concern with the way in which human living is given form across the whole range of human activity. In Aalto’s case, this means that we should not see the question of living, of home, as at work only in his residential projects, and, indeed, it is significant that his own thinking about design, and the relation between the design and human living, includes, for instance, hospitals, libraries, schools, and concert halls, as well as larger built configurations from the housing complex to the city, no less than it does individual dwellings. That Aalto is indeed concerned with the larger question concerning the mode of human living in the world is evident from Aalto’s own emphasis on the human and the ,humanistic‘ even within the frame of Modernism. Thus he writes that ,true architecture exists only where man stands in the centre. His tragedy and his comedy, both‘,26 and elsewhere that architecture is that which ,most closely strives to realise a true humanism in our world, to create the very limited happiness one can offer man‘.27 Aalto’s willingness to talk of ,humanism‘ might seem to be at odds with what is commonly assumed to be Heidegger’s own rejection of humanism in 26 Alvar Aalto, ,Instead of an Article’, in: Sketches, ed. by Göran Schildt, transl. by Stuart Wrede, Cambridge Massachusetts 1979, pp. 160-161, here p. 161 27 Aalto, ,The Architect’s Conception of Paradise‘, in: Sketches, loc. cit., pp. 157-159, here p. 158.
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the famous ,Letter on Humanism‘ from the late 1940s. Yet Heidegger’s critique of humanism in the ,Letter‘ is specifically directed at humanism in its metaphysical, and so for Heidegger also, its nihilistic form.28 Heidegger himself leaves open the possibility that his own position can be seen as embodying a more fundamental and radically different mode of humanism that more properly attends to the essential character of the human (which means, in Heidegger’s case, to its essential finitude).29 Similarly, in Aalto’s case, ,humanism‘ implies an attentiveness to the actual character of human living, and to a mode of architecture that is similarly attentive and attuned. This does not mean, of course, that it is exclusively concerned with the human alone, or that the focus on the human is meant to rule out a concern with what might ordinarily be thought of as going beyond the human. Just as Heidegger’s notion of the Fourfold encompasses earth, sky, and the divinities, as well as mortals, so too does Aalto understand nature, in all its forms, as that to which the human stands in an essential relation, and as having a value and significance that goes beyond mere utility or instrumentality. Aalto’s attentiveness to the human also means thinking of architecture, not in purely aesthetic terms, nor in terms of formal or technical considerations alone, but rather through what he terms its ,functional‘ character, where function is itself understood in relation to the larger structure of human living in the world. Aalto’s conception of ,function‘ is thus not to be narrowly construed in the manner that was common among many of his contemporaries,30 but is much more encompassing in its conception. As Aalto wrote in 1940: During the past decade, modern architecture has been functional mainly from the technical point of view […]. But, since architecture covers the entire field of human life, real functional architecture must be functional from the human point of view. If we look deeper into the processes of human life, we shall discover that technique is only an aid, not a definite and independent phenomenon therein.31 28 See ,Heidegger‘, ,Letter on Humanism‘, in: Martin Heidegger: Basic Writings, ed. by David Farrell Krell, New York 1993, pp. 193-242, esp. pp. 245ff. – see also Jeff Malpas, ,Nihilism, Place, and „Position“‘, in: Heidegger and the Thinking of Place, Cambridge Massachusetts 2012), pp. 97-112. 29 On the issue of finitude, in particular, see Jeff Malpas, Heidegger’s Topology, loc. cit., pp. 41-43 and also Jeff Malpas, ,Death and the End of Life‘, in: ,Ground, Unity, and Limit‘, in: Heidegger and the Thinking of Place, Cambridge Massachusetts 2012, pp. 189-196. So far as the connection to the human is concerned, I am in agreement with those many commentators (including, for instance, Derrida) who argue that Heidegger’s supposed ,anti-humanism‘ does not displace the human as a central Heideggerian concern, but I disagree with those who argue that this means Heidegger remains fundamentally anthropocentric. 30 One of the most famous expression of functionalist thinking is undoubtedly Le Corbusier’s assertion that ,a house is a machine for living in‘ (Le Corbusier, Toward an Architecture, transl. by John Goodman, Toronto 2008, originally published 1923, p. 151). Such a characterisation seems not to be one that Aalto would have accepted, at least not in his more mature thinking, although he undoubtedly shared, especially early on, some of the functionalist commitments present in Corbusier as well as Mies van der Rohe. 31 Aalto, ,The Humanizing of Architecture‘, in: Sketches, loc. cit., pp. 76-79, here p. 76. Here Aalto broadens the concept of functionalism just as he also broadens (or ,deepens‘) the concept of rationalism.
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It is worth noting that the functional conception at work here implies not only a conception of architectural design as both constrained by a set of holistic and relational considerations (functionalism is a form of relationalism, and in this context, where there is not one function but a unitary complex, it must also be understood as holistic) that goes beyond the built form alone, but also a conception of the human that is similarly holistic and relational. Why should the building be ordered in functional terms? Because the mode of human living is itself functionally, that is holistically and relationally, ordered – a mode of ordering that is also exemplified in the natural realm where it is associated with a multiplication of form: Nature, biology, is formally rich and luxuriant. It can with the same structure, the same intermeshing, and the same principles in its cells’ inner structure, achieve a billion combinations, each of which represents a high level of form. Man’s life belongs to the same family. The things surrounding him are hardly fetishes and allegories with mystical eternal value. They are rather cells and tissues, living beings also, building elements of which human life is put together. They cannot be treated differently from biology’s other elements or otherwise they run the risk of not fitting into the system; they become inhumane.32
Implicit in Aalto’s approach is a conception of human living – of being home – as itself expressed and articulated in spatialized, materialized, and also built, forms.33 Thus Aalto writes, in a discussion of art and technology, that ,the most important thing is always how the whole community is formed, what we make with our own hands of the material through which our lives are finally to be channelled‘.34 The mode of human living is realized in its spatialized, materialized forms – something that might seem obvious to an architectural perspective such as Aalto’s – but the point is also at the heart of Heidegger’s focus on the connection between Wohnen and Bauen, and, with them, space and place, as developed in ,Bauen Wohnen Denken‘. The ,functional‘ approach to architecture that we see in Aalto bears comparison with a similarly ,functional‘ conception that is present in Heidegger’s analysis of the Black Forest farmhouse in ,Bauen Wohnen Denken‘. There the different aspects of human living in the world are seen reflected within the building – the ordering of the building thus gives a material form to the ordering of life and world as it is also part of that same ordering. This encompasses the way the house is sited (,on the wind-sheltered mountain slope looking south, among the meadows close to the spring‘), the way its external form is structured to meet the challenge of the elements (,the wide overhanging shingle roof whose proper slope bears up under the burden of snow and … shields the chambers against the storms of the long winter 32 Aalto, ,Rationalism and Man‘, in: Sketches, loc. cit., pp. 47-51, here p. 51. 33 The emphasis on the spatial here should not be assumed to exclude the temporal either – there is no space that is not dynamic, while the functional conception is also one that is inherently temporalized. See Jeff Malpas, ,Putting Space in Place: Relational Geography and Philosophical Topography‘, in: Planning and Environment D: Space and Society 30 (2012), pp. 226-242. 34 Aalto, ,Art and Technology‘, in: Sketches, loc. cit., pp. 125-129, here p. 127.
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nights‘), and the way the internal arrangement of the building accommodates the different stages and activities of human life (,It did not forget the alter corner behind the community table; it made room … for the hallowed places of childhood and the ,tree of the dead‘ … and in this way it designed for the different generations under one roof the character of their journey through time‘).35 If Heidegger does not present us with a critique of the social arrangements that are themselves encoded within this building (he does not acknowledge, as is often pointed out, its patriarchal character – something of which, with respect to older building forms, Aalto was well-aware36 – then the reason is simply that this is not germane to the point of the example. What Heidegger aims to show by reference to the Black Forest farmhouse is just the manner in which the form of the building is grounded in the form of ,living‘ – and so too, of course, the way the form of living is embodied, materially and spatially, in built form. Consequently Heidegger says of his use of this example, as Karsten Harries has also emphasised, that it ,in no way means that we should go back to building such houses; rather it illustrates by a dwelling that has been [einem gewesenen Wohnen] how it was able to build‘.37 That the farmhouse does illustrate this so clearly is partly because the built form that is evident here is so directly derivative of a specific mode of living in the world, of a specific mode of ,home‘ (it is also a mode of living in which the home itself encompasses almost all of the activities relevant to that mode of living – the homeplace is also the primary workplace – and is situated at the heart of the larger landscape that supports that living). Indeed, the same will be true of other ,indigenous‘ built forms – in each, the same direct relation will be discernable between building and living. It is not that this relation does not exist in ,modern‘ forms of building, but that the relation is often more complex, more mediated, and therefore less easy to discern and to delineate. Heidegger’s use of an indigenous architectural form, the Black Forest farmhouse, is echoed in Aalto’s work by his own interest in traditional Finnish building, including the tupa, or central space of the traditional Finnish house, as well as in his discussions of farmhouse construction from the Finnish heartland of Karelia38 – in the latter case especially, Aalto is as interested in the design of the building, and the timber construction methods employed, as well as the way buildings are clustered, as in the way the building’s particular form is shaped by, and so is fitted to, the mode of living that it also exemplifies. Nevertheless, in both cases, in Heidegger and in Aalto, one can see why the return to an indigenous, and even archaic architectural form may be relevant to an understanding of the nature of architectural practice, or more generally ,building‘, as it relates to (is indeed a mode of ) human living. 35 36 37 38
Heidegger, ,Building Dwelling Thinking‘, loc. cit., p. 160. See Aalto, ,The Dwelling as a Problem‘, in: Sketches, loc. cit., pp. 29-33, here p. 33. Heidegger, ,Building Dwelling Thinking‘, loc. cit., p. 160. See Aalto, ,Architecture in Karelia‘, in: Sketches, loc. cit., pp. 80-91. The interest in traditional vernacular architecture is one of those strands in Aalto’s work that runs contrary to the broader tendency of architectural Modernism.
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Abb. 7.1 Muuratsalo Experimental House 1952-54, Patio, Photo: Eino Mäkinen, Alvar Aalto Museum, approximately 1953.
Inasmuch as Aalto is an architect and designer, and Heidegger is not, so it is unsurprising to find that Aalto’s treatment of ,functionalism‘ includes considerations that may be thought to operate at a more mundane and technical level than do Heidegger’s. Similarly, Aalto is also concerned, as Heidegger is not, with the direct investigation of the functionality of particular built forms – something that Aalto views as possible, not only through scientific inquiry into the biological and other constraints on human being, but also through architectural experimentation. In this regard, one of the examples to which Aalto frequently refers is the Paimo Tuberculosis Sanatorium. The design considerations at work in this case involved, as Aalto describes it: ,the relation between the single human being and his living room… [and] the protection of the single human being against larger groups of people and the protection from collectivity‘.39 A similar experimental mode of inquiry, though one less constrained, is exemplified in Aalto’s design of the explicitly designated ,experimental house‘ at Muuratsalo on Lake Paijanne (Abb. 7.1). Here Aalto emphasises the role of play in architectural design, although since he also warns that a reliance on play alone would be to treat architecture as if it were a ,game‘ played ,with form, structure and content, and finally, with people’s bodies and souls‘, he insists that ,we should unite our experimental work with a play mentality and vice versa‘.40 He goes on ,not until architecture’s structural elements… and our empirical knowledge are modified by what we seriously call play, or art, will we be proceeding in the right direction. Technology and economy must always
39 Aalto, ,The Humanizing of Architecture‘, in: Sketches, loc. cit., p. 77. 40 Aalto, ,Experimental House, Muuratsalo‘, in: Sketches, loc. cit., pp. 115-124, here p. 115.
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be combined with life-enriching charm‘.41 The Muuratsalo house thus combines a series of experiments that relate to matters of construction, spatial sequencing, and siting, as well as internal plan and functional arrangement, set against a proximity to nature that is a source of inspiration, as well as relationally encompassed within the building itself. It is significant that Aalto views his experimental investigations as always tempered by a spirit of artistic playfulness, and this is indicative of the extent to which even his experimental inquiries do not take his thinking completely away from a proximity to Heidegger’s more philosophical concerns. Indeed, even when concerned with the ,scientific‘ or experimental investigation of the ,functionality‘ of the built, Aalto retains a focus on the larger and more encompassing questions that also preoccupy Heidegger – questions concerning what Aalto refers to in terms of the human ,soul‘ – although always approached, in Aalto’s case, from the specific mode of engagement of architectural design. In this latter respect, the holistic or organicist elements that are evident in Aalto’s reflective engagement with architecture and design, and that underpin his concept of functionalism, are equally evident in his practice, including his experimental practice, and in the built form of his designs. Not only does he make use of certain patterns and forms from nature – including the famous Aalto ,wave‘ – but his buildings also exemplify modes of organisational and structural unity that depend, as in nature, on the interplay between otherwise independent and sometimes counter-posed elements. The result is a dynamic conception of design that rejects any idea of a single uniform conception to which all else must rigidly conform.42 This conception of both the human and the architectural as having a relational, holistic, or ,organic‘ character undoubtedly derives in part from Aalto’s early interest in vitalist philosophy, especially the work of Bergson, as well as his acquaintance with elements of anarchist thinking – particularly ideas deriving from the life and work of Piotr Kropotkin (a thinker perhaps best known for his emphasis on mutuality as a key element in social and political life).43 It is also partly derivative of Aalto’s artistic interests as evident in his own endeavours in painting and sculpture, as well as his engagement with art and artists more generally, not only within Finland, but also with contemporary figures such as Léger (with whom Aalto was friends), and figures from the history of art, of whom perhaps the most important is undoubtedly Cézanne.44 41 Aalto, ,Experimental House, Muuratsalo‘, in: Sketches, loc. cit., p. 115. 42 See, for instance, Goran Schildt, Alvar Aalto: The Early Years, New York 1984, pp. 242-259. This is as evident in Aalto’s approach to urban planning as in the design of single buildings – see, for instance: Aalto, ,National Planning and Cultural Goals‘, in: Sketches, loc. cit., pp. 99-110, and Aalto, Town Planning and Public Buildings‘, in: Sketches, loc. cit., pp. 165-167. 43 Schildt draws attention to the connection to Kropotkin, but argues that it was based only in an interest and acquaintance with Kropotkin’s autobiographical Memoirs of a Revolutionary, and so related to Kropotkin’s ,personality, philosophy of life and attitudes to certain basic moral values, not his intellectual theories‘ (see Schildt, Alvar Aalto: The Early Years loc. cit., p. 242). Clearly, however, Kropotkin’s own organicist and mutualist commitments, which are foundational to his thinking, have strong resonances with important aspects of Aalto’s thought and practice. 44 See especially Schildt, Alvar Aalto: The Early Years, loc. cit., pp. 149-159.
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The role of art in Aalto’s design thought and practice is particularly noteworthy – all the more so when one considers this in relation to Heidegger. Petzet and others have drawn attention to Heidegger’s interest in art, especially painting (also of particular importance to Aalto), and Heidegger, like Aalto, had a special regard for, and interest in, Cézanne – ,if only one could think‘, said Heidegger, ,as directly as Cézanne painted‘.45 Goran Schildt argues that in Aalto’s case, Cézanne is especially influential in Aalto’s understanding of architectural space. Schildt writes: If we look at a painting by Cézanne […] we see how the space grows directly out of the forms placed on the canvas; individual elements with volume spread out towards the sides from an intensely modulated central zone. There is no abstract space here, merely concrete relations between forms and volumes, surfaces forming partly overlapping solids, creating an impression of space which is neither uniform nor unambiguously coherent.46
As Schildt sees it, Cézanne also showed Aalto that architectural space, especially interior space, could be treated in a similar fashion, allowing the opening up of space within a building in a way that enables its openness and boundedness, and the indeterminacy that belongs with both, to be present at one and the same time.47 Space thus appears as itself dynamic (and so as already entwined with time) – and, if perhaps less obviously, it also appears in direct relation to place: ,Spaces receive their being from places‘, Heidegger reminds us, which is to say that the openness that belongs to space (its character as ,room‘ – Raum in German, Rum in Swedish) only appears within the boundedness of place.48 One might add that Cézanne also shows that what painting achieves is done not by beginning with the attempt to recreate a realistic representation, but rather by attending to the complexity of things in their placed, and so also spatialized, appearance – thus Schildt comments that ,Cézanne showed how to paint pictures without starting from stereometric abstractions‘.49 In Cézanne, especially in his late painting, this means that things appear as things, not through being present as clearly defined ,objects‘, but rather through their partial dissolution into bounded relations of surface, colour and form – invoking, as they also extend into, the larger horizontality in which they are placed, and that grounds their appearing.50 What 45 Hartmut Buchner, ,Fragmetarisches‘, in: Errinerung an Martin Heidegger, ed. by Günther Neske, Pfullingen 1977, pp. 47-52, here p. 47; see also Julian Young, Heidegger’s Philosophy of Art, Cambridge 2001, p. 151, and Christoph Jamme, ,The Loss of Things: Cézanne – Rilke – Heidegger’, Kunst & Museumjournaal 2 (1990), pp. 33-44, here pp. 39-40. 46 Schildt, Alvar Aalto: The Early Years, loc. cit., p. 220. 47 See Schildt, Alvar Aalto: The Early Years, loc. cit., p. 223. 48 Space can thus be understood, in its primary sense, as the openness of place – see Malpas, ,Putting Space in Place: Relational Geography and Philosophical Topography‘, loc. cit., pp. 226-242. 49 Schildt, Alvar Aalto: The Early Years, loc. cit., p. 221. 50 It is this that can be seen partly to underlie Heidegger’s account of the nature of Cézanne’s achievement in terms of its realisation of the twofold unity of ,what is present‘ (Anwesendem) and ,presence‘ (Anwesenheit) – see Martin Heidegger, ,Cézanne‘, in: Aus der Erfahrung des Denkens 19101976, ed. by Hermann Heidegger, Frankfurt am Main 1983 (= Gesamtausgabe. Vol. 13), p. 223; see also Julian Young’s discussion of this in Heidegger’s Philosophy of Art, loc. cit., pp. 152-153.
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Cézanne demonstrates and exemplifies is also evident, though articulated conceptually rather than concretely, in Heidegger’s own treatment of the thing as it stands within the gathered relationality of the Fourfold, as set out, not only in ,Bauen Wohnen Denken‘, but also elsewhere, and especially in ,Das Ding‘.51 Here the thing is understood as standing in an essential relation to space, and so also to place, and space and place, in their own turn, in relation to the thing – and so to the larger structure that Heidegger understands in terms of the Fourfold, and that appears more ambiguously and variously in Aalto in terms of the idea of the ideal of the harmonious unity of the human, and of the human with nature. While more general notions of holism and organicism undoubtedly bring with them ideas of relationality and unitary complexity of the sort that are present in Aalto, and to some extent in Heidegger also, taken on their own such notions can also lead away from a focus on the concrete and the immediate, away from things, away from the human (which is why they are sometimes taken to be associated with forms of political authoritarianism). In Cézanne’s work, we see how such relationality and unitary complexity is itself articulated in and through the concrete spatiality and placedness of things. Only by attending to things, in their indeterminate and multiple unity, can we attend to the larger unity of the world, and our own human mode of living. The focus on the thing, which must now be understood as also entailing a focus on the complex structure of space and place, can be seen as evident in Aalto’s work in a number of ways. It is surely connected with his close attention to materiality, and to the sensory and experiential qualities of building. Not only does this mean that Aalto is not seduced by the idea of architecture as some form of ,textual‘ practice, but it also means that he is especially attentive to the potential for materials to themselves function in ways that, through their materiality, and the sensory complexity that brings, draw other elements into relation with them. The combination of material and formal elements are thus understood, not only in terms of their functionality in technical terms, but also in terms of a sensory and experiential richness that itself plays a role in the spatial and topographic functioning of a built form. This is especially evident in a building such as the house Aalto built for his friends Harry and Maire Gullichsen, the Villa Mairea (Abb. 7.2) – a building that exhibits a complex interplay of elements both within the formal and material elements of its construction and in its sensory, experiential, and affective character.52 The focus on the thing, on spatialized form in its concrete complexity, is also evident in the character of Aalto’s architectural practice. Schildt comments that when Aalto began a new building, ,he would not start by drawing the floor plan or elevation, but by looking at it as an object in space and depicting it as a reality‘.53 Of 51 Heidegger, Poetry Language Thought, loc. cit., pp. 163-186. 52 See Aalto’s own account of the Villa Mairea as set out in his plan description for the building in ,The Villa Mairea‘, in: Alvar Aalto in his Own Words, ed. by Goran Schildt, transl. by Timothy Binham, New York 1998, pp. 225-230. Aalto emphasises that although built as a unique dwelling for a wealthy client, the building is nevertheless an opportunity ,to tackle some of the central problems in architecture today‘ (Aalto, ,The Villa Mairea‘, loc. cit., p. 226). 53 See Schildt, Alvar Aalto: The Early Years, loc. cit., p. 155
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course, the ,looking at‘ that is at issue here is inseparable from the sketch and the act of sketching – from that form of drawing that explores the reality of the thing through the vitality of the drawn line. Here a sense of the spatiality that is at work in such a superlative way in Cézanne can also be discerned in the sketches by which Aalto’s own practice was advanced and that also demonstrate something of the essentially spatial character of the engagement with things that is itself integral to design practice as such. The spatialized character of Aalto’s practice in architecture and design also seems to be reflected in Heidegger’s philosophical practice – certainly as exemplified in essays such as ,Bauen Wohnen Denken‘. What appears there is a thinking that, no matter its density, nevertheless operates, not only through an attempt to stay close to things, and so to respond to the circumstances of thought, but also by means of an active visualisation that engages, not merely with concepts in their abstraction, but rather with a conceptual field articulated in terms of concrete figures and experienced forms – the Fourfold itself, and its gathering of earth, sky, gods and mortals (especially understood in relation to the sorts of the ,active principles‘ of which Hölderlin speaks),54 being a particularly clear example. In Heidegger and in Aalto, the understanding of things in their located and spatialized concreteness, in their indeterminacy and complexity, can be seen to connect directly with the two thinkers’ common concern with the human, and with that human mode of living in the world to which the idea of ,home‘ also refers us. That concern does not depend on a prior and substantive definition of the human, nor does it imply some notion of human superiority or excellence. It is much simpler and more fundamental: that it is out of human being in the world, and only thus, that the need for building comes, that building, both in its generality and in its specific architectural form, arises as an issue; it is only thus that there is even a question about what it is to live, about what it is to find a sense of home. Moreover, the way the human appears here is inextricably bound to place and therefore to bound or limit, and it is here that the proper limit of design itself appears. The limit of design is given in and through its human, which is to say, its placed character, and in design as a responsiveness and attentiveness to that placedness. Neither for Heidegger nor for Aalto can the question of what it is to live in the world, the question or ,plight‘ of home, be resolved by reference to any single over-arching ,frame‘. That question can only take its bearings, can only appear as a question, from within the place and space in which it is opened up. The question of home, of living, and so of building is thus always and only a question that arises 54 ‘The more I study nature around home, the more I am moved by it. The thunderstorm, perceived not only in its more extreme manifestations, but precisely as a power and feature among the various other forms of the sky, the light, active as a principle and resembling fate, working to impart national shape so that we might possess something sacred, the urgency of its comings and goings, the particular character of its forests, and the way in which the diversities of nature all converge in one area, so that all the holy places of the earth come together in a single place, and the philosophical light around my window – all this is now my joy. Let me not forget that I have come this far‘. Friedrich Hölderlin, Letter (1802), in: Hymns and Fragments, transl. by Richard Sieburth, Princeton 1985, p. 39.
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within a singular horizon, with respect to a concrete situatedness, in and through the unitary multiplicity of what is given here, within these bounds, in this place. In this way too, the question of the possibility of the human, of a human mode of living, is indeed seen to be a question inseparable from the question concerning the reality of things – a reality that is no less material than it is ,ideal‘ (indeed, one might say that its ideality is given in its materiality)55 – for it is only in and through the engagement with the concrete and the material that human living is shaped in its own reality. The question of the human, of living and of home, and the question of things, of building, and so too of architecture and design, thus arise together, within the same, though complex and expansive, place. It may be that in living and building we do indeed aim, as Aalto says of architecture, at the creation of a certain paradise, but any such paradise remains always an aim and never an achievement – as Aalto himself recognises, it is a ,very limited happiness‘ that architecture, and so also building, offers. It is thus that in Aalto’s work, and increasingly so towards the end of his career, a key task of architectural practice is to strive against what Aalto saw as the ,dehumanizing‘ effects of technology and ,rationalization‘ – an idea often expressed in terms of his injunction to ,protect the little man‘56 as well as in his ever-present concern to maintain a role for art in architecture and design, where art goes beyond any merely aesthetic concern, but itself moves us into the wider sphere of the interconnectedness of things, of nature, of the human, and of the world. The young Aalto expressed something of what is at issue here in a comment on the character of the built form of the home: ,If you want my blessing on your home‘, he writes, ,it must have one further characteristic: you must give yourself away in some little detail. Your home should purposefully show up some weakness of yours‘, and he adds, ,no architectural creation is complete without some such trait; it will not be alive.‘57
4. It would be a mistake to suppose that an essay like ,Bauen Wohnen Denken‘ could provide us with a detailed account of the nature of design, even of architectural design. Yet equally, Heidegger’s essay is not without implications for design as well as architecture, and indeed, it seems to move us towards elements that contribute
55 See Jeff Malpas ,Building Memory‘, in: Interstices: Journal of Architecture and Related Arts 13 (2012), pp. 11-21. 56 See, for instance, Aalto, ,Art and Technology‘, in: Sketches, loc. cit., p. 128. Here Aalto argues that technology itself ,even the more vulgar … must in each detail practice the same synthesis: think of man above all‘. His comments on planning, referred to below, footnote 59, are also of relevance here. 57 Alvar Aalto, ,From Doorstep to Living Room‘, in: Alvar Aalto in his Own Words, ed. by Goran Schildt, transl. by Timothy Binham, New York 1998, pp. 49-55, here p. 55. I am grateful to Esa Laaksonen for bringing this passage to my attention.
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to a broad conception of design that is not far removed from that of such a key practitioner as Aalto. According to Heidegger, design operates within a domain opened up for it out of the active engagement in the world that is ,building‘, and that is itself stands in a close relation to our mode of living in the world (‘All planning remains grounded on the response of building to the Fourfold, on building as a letting-dwell, and planning in turn opens up to the designer the precincts suitable for his designs‘). Design is predicated, and indeed arises out of, that more fundamental mode of orientation. The question is whether this is something to which we attend – either in terms of attending to the larger context in which a particular design task is situated or to the broader dependence of design that is also at issue here. Attending to that dependence means adopting a different attitude to design – one that does indeed see design as responding to the task of building and of living as that takes on a singular and concrete form. The measure of design cannot be simply an aesthetic or technical one. It cannot, as Aalto so often emphasised, be one of mere economy. The only real measure does indeed come, in the terms Aalto uses, from ,the general attitude towards life‘,58 from the mode of living within which any particular design is embedded. In this respect, design in general must be understood as Karsten Harries has argued we must understand architecture,59 as having a fundamentally ,ethical‘ function. All the more so if we attend to the idea of the ethical as concerned with the realm of human action as it shapes human living, with human action as always standing within a certain ethos (and so also a certain bounded topos). Such an ethical emphasis is evident in Heidegger, even if it is not named as such, and explicit in Aalto – ,the architect’s task‘, he writes, ,is to restore a correct order of values‘.60 Too much of contemporary architecture and especially design practice operates in a way that seems divorced from such ethical concerns – divorced from the concern with human living that preoccupied Heidegger and Aalto. This is evident, although it may sometimes seem otherwise, even in the recent fashion for so-called ,design thinking‘. On the face of it such thinking may seem to exhibit many of the features that are suggested by Aalto and Heidegger’s accounts of building and design practice (the emphasis, for instance, on what are often referred to as ,non-linear‘ forms of thinking, and on the need to address multiple considerations at one and the same time).61 Given the contemporary rhetoric around the notion, perhaps one could even be lead to suppose that ,design thinking‘ itself moves in the direc58 The quotation comes from Aalto, ,Culture and Technology‘, in: Sketches, loc. cit., pp. 94-95, here p. 95. How the sense of measure that appears here relates to the sense of measure at work in Heidegger’s ,Poetically Man Dwells‘ (Poetry, Language, Thought, loc. cit., pp. 213-229) is an important question, but there is not the space to pursue it here. 59 See Karsten Harries, The Ethical Function of Architecture, Cambridge Mass. 1998. 60 Aalto, ,Between Humanism and Materialism‘, in: Sketches, loc. cit., pp. 130-141, here p. 131. Elsewhere he talks of planning ,regarded as an ethical means of development that puts a stop to centralization, leading where blind development cannot, and functioning as a guardian of ethics and human freedom‘. Aalto, ,National Planning and Cultural Goals‘, in: Sketches, loc. cit., p. 101. 61 See, for instance, Aalto’s discussion in ,Art and Technology‘, in: Sketches, loc. cit., esp. pp. 127128.
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tion of the ,thinking‘ (Denken) that figures as the third element in Heidegger’s ,Bauen Wohnen Denken‘. Yet it is worth taking a closer look here. While ,design thinking‘ undoubtedly encompasses many different things (and there are forms that undoubtedly are closer to the broad view of design found in Aalto and Heidegger), there is also a sense in which what it refers to is a mode of practice that is itself firmly embedded within contemporary forms of economic and political organisation (in this sense, the idea has almost taken on the status of a design ,product‘ in its own right), and thereby often serves exactly the forms of technological and rationalistic ordering that Heidegger and Aalto find so threatening.62 This form of thinking typically understands itself as a means for the more effective solution of already given ,problems‘ (even if complex or ,wicked‘ in character), rather than of attending to the larger place, its openness and its bounds, in which such thinking arises. In this respect, one might ask to what extent some of the celebrated exemplars of current design and ,design thinking‘ actually match up to the conception of design found in Heidegger and Aalto. Moreover, whereas the phrase ,design thinking‘ may well lead us to suppose that it is design that leads thinking, in fact, as Heidegger would urge, it can only be thinking that leads design – that grounds design, that opens up the proper domain of its activity (which is to say that design, properly understood, is itself embedded in thinking, and only thus can it be understood as itself the expression of a fundamental mode of thinking). The thinking at issue here, however, is a thinking that itself stands in direct relation to human living, and so also to the placed mode of being in the world to which Heidegger’s thinking can be seen to direct us. Only on that basis can we think design, and only on that basis can design, though its role in relation to human building, contribute to thinking. On this basis, one can well imagine, as Petzet seems to suggest, that Heidegger and Aalto might have come together in a fruitful meeting – if only such a possibility had not itself been cut off by the limit to which their own lives were brought in such coincidental fashion.
62 In Heidegger’s case, it is crucial to realise (although, again, this is all too often overlooked) that his own critique of technology is not a critique of technology as usually understood, but is indeed directed at a particular mode of ordering of the world – one as much evident in contemporary economic and organisational systems as in particular instances of contemporary technology (see Malpas, Heidegger’s Topology, loc. cit., pp. 281ff.) – and perhaps Aalto should be read in similar fashion. Certainly one finds an equally trenchant critique of technology, developed over several decades, in the work of Aalto’s close friend, the philosopher G. H. von Wright. Von Wright attacks what he refers to as ,the managerial type of rationality of which modern natural science is in origin the outflow‘ as well as the refusal of limit that appears as a characteristic element in modern technology – see Georg Henrik von Wright, ,Dante Between Ulysses and Faust‘, in: Knowledge and the Sciences in Medieval Philosophy, ed. by Monika Asztalos, John E. Murdoch and Ilkka Niiniluoto (Acta Philosophica Fennica 48, Helsinki 1990, pp. 1-9).
INGA RÖMER
Entwurf und Intersubjektivität bei Heidegger und Sartre Wollte man grundlegende Gemeinsamkeiten in den frühen Hauptwerken von Heidegger und Sartre angeben, so ließe sich ohne Zweifel auf den von beiden geteilten Gedanken einer individuellen Freiheit verweisen, die sich nicht in ein bereits vorgegebenes System einordnen lässt, sondern in der der Einzelne sich selbst auf seine jemeinige Existenz entwirft. Angesichts dieser zentralen Funktion des je individuellen Entwurfs in Sein und Zeit (1927) und in L’être et le néant (1943) drängt sich eine Frage besonders auf: Welche Bedeutung kommt dem Mitdasein beziehungsweise, wie die Rückübersetzung von Sartres Übersetzung lautet, der anderen menschlichen Realität in diesem Entwurf zu? Wenn wir uns dieser Frage im Folgenden zuwenden, so tun wir dies im Ausgang von Sartres Kritik an Heidegger. Diese Perspektive erlaubt es uns, im Titel dieses Aufsatzes von ‚Intersubjektivität‘ zu sprechen, obwohl dieser Terminus dem Heidegger’schen Ansatz fremd ist. Das Problem der Intersubjektivität betrifft die Frage, wie zwei Subjekte, die nicht lediglich zwei Exemplare eines Substanztypus oder einer anonymen Ichstruktur, sondern vielmehr radikal voneinander verschieden sind, miteinander in Beziehung stehen. Diese in der Philosophiegeschichte im Ansatz erst bei Fichte aufkommende und damit relativ neue Frage ist in einem Teil der Phänomenologie, bei Husserl, Sartre und Levinas, zu einem zentralen Problem geworden – nicht so jedoch bei Heidegger. Heidegger glaubt, dieses Problem entspringe einer cartesianischen Tradition der Subjektphilosophie, welche er durch die Bestimmung des Daseins als In-der-Welt-sein, das immer auch schon Mitsein ist, überwinden zu können meint. Wenn man die oben formulierte Frage als Frage nach der Intersubjektivität formuliert, bleibt dies Heidegger daher bis zu einem gewissen Grad äußerlich. Nicht äußerlich bleibt dem Heidegger’schen Ansatz jedoch die Frage selbst, welche Bedeutung dem Mitdasein im Entwurf des jemeinigen Daseins zukommt. Der Gedankengang dieses Aufsatzes gliedert sich in drei Teile. Der erste Teil enthält eine kritische Erörterung der Kritik Sartres an Heideggers Begriff des Mitseins. Der zweite Teil untersucht den Ort des Mitdaseins beziehungsweise der anderen menschlichen Realität im Entwurf des Daseins beziehungsweise des Fürsich. Diese Untersuchung wird zu dem Ergebnis führen, dass sowohl für Heidegger als auch für Sartre das andere Dasein letztlich nur ein Moment innerhalb des jemeinigen Entwurfs darstellt. Ein dritter Teil verleiht dieser Auslegung schärfere Konturen, indem Heideggers und Sartres Konzeptionen mit der Auffassung von Levinas konfrontiert werden.
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Sartres Kritik an Heidegger Zum In-der-Welt-sein des Daseins gehört laut Heidegger auch das Existenzial des Mitseins: „Das In-Sein ist Mitsein mit Anderen.“1 Das bedeutet, so legt Sartre aus, „ich bin nicht zunächst, damit dann eine Kontingenz mich dem Andern begegnen läßt“,2 sondern Dasein ist immer schon mit Anderen.3 Für Sartre entscheidend ist, dass dieses Mitsein des Daseins bei Heidegger wesentlich lateralen Charakter hat und über das Zeug verläuft: „Unsere Beziehung ist keine frontale (de front) Opposition, es ist vielmehr eine gegenseitige Abhängigkeit von der Seite her (par côté)“.4 Das Zeug, das uns alltäglich begegnet, verweist darauf, dass es von jemandem für jemanden gemacht wurde: Es wird deutlich, „daß mit dem in Arbeit befindlichen Zeug die anderen ‚mitbegegnen‘, für die das ‚Werk‘ bestimmt ist“, „[i]mgleichen begegnet im verwendeten Material der Hersteller oder ‚Lieferant‘“.5 Allerdings verweist das Zeug nicht auf einmalige Individuen, sondern auf irgendeinen, für den es gemacht wurde, was Sartre hervorhebt: „Anzüge von der Stange, öffentliche Verkehrsmittel, Parks, öffentliche Orte, Schutzdächer, damit irgendeiner sich unterstellen kann usw.“6 In diesem Umgang mit Zeug enthüllt sich mir daher laut Sartre das Mitsein „nicht als die Beziehung einer einmaligen Persönlichkeit mit anderen ebenso einmaligen Persönlichkeiten […], sondern als eine totale Austauschbarkeit der Glieder der Beziehung.“7 Wir befänden uns im Heidegger’schen Mitsein in einer „dumpfe[n] Gemeinschaftsexistenz“8, deren Beziehungsweise „nicht das Du und Ich, sondern das Wir“ ist, das Wir des „Mitspielers mit seiner Mannschaft“,9 das „eine Art ontologische Solidarität zur Ausnutzung dieser Welt aus[drückt]“.10 Sartres Kritik an Heideggers Begriff des Mitseins besteht nun in dem Vorwurf, Heidegger habe das Mitsein derart als „Wesensstruktur meines Seins“11 bestimmt, dass er trotz anders lautender Intention „in den Solipsismus zurück“12 falle. Heidegger versuche zwar, das Mitsein als eine wesenhafte und allgemeine Struktur a priori des Daseins zu bestimmen, auf deren Grundlage jede ontisch spezifische Beziehung zu konkreten Anderen verständlich würde. Im Ausgang von einer Struktur a priori des jemeinigen Daseins könne man jedoch niemals dem konkreten 1 Martin Heidegger, Sein und Zeit, 17. Aufl., Tübingen 1993, S. 118. 2 Jean-Paul Sartre, L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique, Paris 1943, S. 301 (dt.: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, hg. v. Traugott König, übers. v. Hans Schöneberg und Traugott König, 5. Aufl., Hamburg 1997, S. 444). 3 Sartres im Folgenden zugrunde gelegte, direkte Auseinandersetzung mit Heideggers Begriff des Mitseins findet sich in L’être et le néant im Kapitel „Husserl, Hegel, Heidegger“, S. 300-310 (dt. S. 443-456). 4 Sartre, L’être et le néant, a.a.O., S. 302 (dt. S. 445) (Einfügung des Originals I.R.). 5 Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 117. 6 Sartre, L’être et le néant, a.a.O., S. 303 (dt. S. 446). 7 Sartre, L’être et le néant, a.a.O., S. 303 (dt. S. 446). 8 Sartre, L’être et le néant, a.a.O., S. 303 (dt. S. 447). 9 Sartre, L’être et le néant, a.a.O., S. 303 (dt. S. 447). 10 Sartre, L’être et le néant, a.a.O., S. 302 (dt. S. 445). 11 Sartre, L’être et le néant, a.a.O., S. 301 (dt. S. 444). 12 Sartre, L’être et le néant, a.a.O., S. 305 (dt. S. 450), vgl. auch S. 306 (dt. S. 451).
ENTWURF UND INTERSUBJEKTIVITÄT BEI HEIDEGGER UND SARTRE
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Anderen als einem Anderen begegnen. Wenn die ontisch singuläre Beziehung zu einem konkreten Anderen nur das Exempel einer Struktur ist, welche ihrerseits aus mir selbst kommt, finde ich in dem Anderen nur das, was ich zuvor in ihn hineingelegt habe. Dadurch aber verliert er gerade das, was für ihn spezifisch sein sollte: ein Anderer als ich zu sein. „Wenn nämlich meine Beziehung zu Anderen a priori ist, erschöpft sie jede Beziehungsmöglichkeit mit Anderen.“13 Ein a priori vorgegebenes „Gesetz“ des Mitseins konstituiere seinen eigenen Bereich und schließe „a priori jedes reale Faktum aus, das nicht von ihm konstruiert würde.“14 Heidegger erreiche daher nur eine „Bastardform des Idealismus“15, in der das, „was das Dasein am unerreichbaren Ende dieser Flucht aus sich heraus tatsächlich findet“, immer noch nur es selbst ist, „die Flucht aus sich heraus ist Flucht zu sich hin, und die Welt erscheint als bloße Distanz von sich zu sich.“16 Sartre zufolge führt also Heideggers laterale Konzeption des Mitseins auf die Unmöglichkeit, einem mir faktisch begegnenden konkreten Anderen als einem Anderen Rechnung zu tragen. Es erscheint hier allerdings notwendig, zwei Dinge voneinander zu unterscheiden, die Sartre unmittelbar miteinander verknüpft: die Lateralität und den Charakter der Apriorität. Mit der Lateralität des Mitseins hebt Sartre in der Tat denjenigen Zug der Heidegger’schen Konzeption hervor, durch den diese sich von Sartres eigener Auffassung fundamental unterscheidet. Während zwischenmenschliche Beziehungen für Heidegger primär über ein Drittes, das Zeug, verlaufen und damit lateralen Charakter haben,17 ist für Sartre die primäre zwischenmenschliche Beziehung eine frontale, zweigliedrige Beziehung von einem Für-sich zu einem anderen Für-sich. Dass der Andere jedoch nur als Moment des Eigenen verstanden werden kann, weil die Struktur eines Mitseins a priori vom Eigenen her immer schon festlegt, wie das Andere – das dann seinen Charakter der Andersheit verliert – zu begegnen hat, ist keine notwendige Konsequenz dieser Lateralität. Während aus einer Heidegger’schen Perspektive die Lateralität in der Tat ein auszeichnendes Merkmal des Mitseins darstellt, gilt das nicht für die Apriorität des Mitseins, wie Sartre sie versteht. Für Heidegger haben die Existenzialien, zu denen auch das Mitsein gehört, den Status dessen, was er bereits vor Sein und Zeit als ‚formale Anzeige‘ bezeichnet. Dass Begriffe lediglich den Charakter einer formalen Anzeige haben, besagt negativ, dass ein Begriff als ein solcher charakterisiert ist, der 13 14 15 16 17
Sartre, L’être et le néant, a.a.O., S. 305f. (dt. S. 450). Sartre, L’être et le néant, a.a.O., S. 306 (dt. S. 451). Sartre, L’être et le néant, a.a.O., S. 306 (dt. S. 451). Sartre, L’être et le néant, a.a.O., S. 306 (dt. S. 451f.). Heidegger räumt zwar auch frontale Beziehungen wie die Fürsorge ein. Die laterale Beziehung ist jedoch sowohl diejenige Beziehung, die zunächst und zumeist zum Anderen besteht, und zwar über das Dritte des Zeugs, als auch diejenige Beziehung, welche das ursprüngliche Miteinander darstellt und sich auf das Dritte des Selben bezieht. Zum ursprünglich lateralen Miteinander und zu Heideggers Polemik gegen die frontale Beziehung vgl. insbesondere die Analyse des ursprünglichen Miteinander in der Vorlesung des Wintersemesters 1928/29: Martin Heidegger, Einleitung in die Philosophie, hg. v. Otto Saame und Ina Saame-Speidel, 2. Aufl., Frankfurt am Main 2001 (= Gesamtausgabe. Bd. 27), §§ 13-20.
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„den Gegenstand gerade nicht voll und eigentlich gibt“;18 positiv bedeutet es, dass ein formal anzeigender Begriff nichtsdestotrotz „eine gehaltlich unbestimmte, vollzugshaft bestimmte Bindung“ vorgibt.19 „Das leer Gehaltliche in seiner Sinnstruktur ist zugleich das, was die Vollzugsrichtung gibt.“20 Philosophische Begriffe seien keine die mit ihnen bezeichnete Sache erschöpfenden Definitionen, sondern sie wiesen wie eine Art Wegweiser die Richtung auf, in der das mit ihnen formal Umrissene im Vollzug konkretisiert werden kann.21 Der Mensch ist für Heidegger „durch eine prinzipielle ontologische Unbestimmtheit gekennzeichnet“,22 der die Existenzialen nur umrisshaft Struktur verleihen. Wenn das aber so ist, bestimmt die ontologische Struktur des Mitseins nicht im Vorhinein bereits den vollen Gehalt der konkreten Erfahrung des Anderen, sondern sie liefert lediglich einen formal anzeigenden Rahmen, welcher allererst angesichts der Erfahrung eines konkreten Anderen spezifiziert werden kann. Das Mitsein ist keine feststehende, inhaltlich konkretisierte Struktur, der gegenüber ein Anderes nicht aufkommen kann; es ist lediglich ein formal anzeigender Umriss, innerhalb dessen die Erfahrung eines Anderen die ontologische Unbestimmtheit des jemeinigen Daseins spezifiziert. Wenn Heidegger sagt: „Mitsein ist eine Bestimmtheit des je eigenen Daseins“,23 dann löst er den Anderen damit nicht im Eigenen auf, sondern markiert formal anzeigend eine Seinsweise des Daseins, die erst im konkreten Vollzug Gehalt gewinnt. Die laterale Struktur der zwischenmenschlichen Beziehungen macht daher bei Heidegger eine Beziehung zum Anderen als Anderen noch nicht per se unmöglich.
Der Andere im Entwurf der individuellen Freiheit bei Heidegger und Sartre Sartre konzentriert sich in seiner Kritik an Heidegger auf das Mitsein, wie es sich in der alltäglichen Seinsweise ausgestaltet, in welcher das Dasein nicht eigentlich es selbst, sondern ein Man-Selbst ist. Die veränderte Existenzweise der Eigentlichkeit sowie die damit einhergehende veränderte Weise des Mitseins wird von ihm lediglich en passant erwähnt. Seine kurzen Bemerkungen lassen jedoch erkennen, wie er die Heidegger’sche Eigentlichkeit versteht. Angesichts des Rufs des Gewissens ver18 Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung, hg. v. Walter Bröcker und Käte Bröcker-Oltmanns, Frankfurt am Main 1985 (= Gesamtausgabe. Bd. 61), S. 32. 19 Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, a.a.O., S. 20. 20 Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, a.a.O., S. 33. 21 Vgl. zu Heideggers Begriff einer formalen Anzeige im Zusammenhang des Problems der philosophischen Begriffsbildung Andrew Inkpin, „Formale Anzeige und das Voraussetzungsproblem“, in: Heidegger und Husserl im Vergleich, hg. v. Friederike Rese, Frankfurt am Main 2010, S. 13-33. 22 Antonio Cimino, „Die performative Grundbestimmung der menschlichen Subjektivität“, in: Investigating Subjectivity. Classical and New Perspectives, hg. v. Gert-Jan van der Heiden, Karel Novotny, Inga Römer, László Tengelyi, Leiden/Boston 2012 (= Studies in Contemporary Phenomenology. Bd. 6), S. 165-180, hier S. 172. 23 Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 121.
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mag sich das Dasein Heidegger zufolge entschlossen auf seinen jemeinigen Tod hin zu entwerfen, indem es sich allein aus dieser äußersten Möglichkeit heraus seine eigensten Möglichkeiten zueignet. Für Heidegger bedeutet das, dass die Selbstverständlichkeiten des Man zusammenbrechen und sich das Dasein zurückgeworfen findet auf sich selbst sowie sich dazu aufgefordert erfährt, selbst zu wählen. Bei Sartre ist nun Folgendes zu lesen: „In diesem Moment enthülle ich mich mir selbst in der Eigentlichkeit und hebe auch die anderen mit mir zum Eigentlichen empor.“24 Sartre fasst die Heidegger’sche Eigentlichkeit also so auf, dass das eigentliche Dasein per se seine Mitdaseine zur Eigentlichkeit gleichsam mitreißt. Gerade dies aber ist im Ausgang von der Heidegger’schen Definition der Eigentlichkeit nicht nur nicht der Fall, sondern es ist sogar unmöglich: Ein Dasein kann nur je selbst einen eigentlichen Entwurf vollziehen, sodass es per definitionem unmöglich ist, dass ein Dasein durch seinen eigentlichen Entwurf ein anderes Dasein zur Eigentlichkeit mit emporhebt. Eben diese innerlich widersprüchliche Auffassung aber schreibt Sartre Heidegger zu, was noch ein weiteres Zitat zu bestätigen vermag: „Auf dem gemeinsamen Hintergrund dieser Koexistenz löst mich plötzlich die schroffe Enthüllung meines ‚Seins-zum-Tode‘ in ein absolutes ‚gemeinsames Alleinsein‘ heraus und erhebt zugleich die anderen bis zu diesem Alleinsein empor.“25 Sartres Interpretation ist jedoch keineswegs eine bloße Fehlauslegung, sondern sie verweist auf eine fundamentale Schwierigkeit bei Heidegger selbst. Es gibt zwei Stellen in Sein und Zeit, die Sartres Interpretation zu stützen scheinen: Die eine Stelle bezieht sich auf das, was Heidegger ‚Geschick‘, die andere auf das, was er ‚vorausspringende Fürsorge‘ nennt. Heidegger entwickelt den Begriff des Geschicks als einen dem Begriff des Schicksals korrespondierenden Begriff. Wenn das Dasein eigentlich existiert, existiere es derart als sein Schicksal, dass es frei aus den überlieferten Möglichkeiten wähle.26 ‚Schicksal‘ bedeutet für Heidegger damit gerade nicht das, was wir herkömmlich darunter verstehen: Es meint nicht etwas Vorherbestimmtes, das uns überfällt und das wir quasi passiv über uns ergehen lassen, sondern es ist genau umgekehrt das eigentliche Übernehmen der eigenen Freiheit, den Entwurf mithilfe der gewesenen Möglichkeiten zu gestalten und zu vollziehen. Dem so verstandenen individuellen Schicksal lässt Heidegger das gemeinschaftliche Geschick korrespondieren, welches er als Phänomen der Eigentlichkeit auffasst. Diese Übertragung des individuellen Schicksals auf das gemeinschaftliche Geschick ist angesichts der Heidegger’schen Konzeption jedoch keineswegs selbstverständlich; sie ist vielmehr höchst problematisch. Ein entscheidender systematischer Grund spricht gegen eine solche Übertragung: ‚Eigentlich‘ kann das Dasein nur sein, wenn es in seinen eigenen, unübertragbaren Tod vorläuft, um aus diesem Vorlaufen auf sein Erbe zurück24 Sartre, L’être et le néant, a.a.O., S. 303 (dt. S. 446) (Hervorhebung I.R.). 25 Sartre, L’être et le néant, a.a.O., S. 303 (dt. S. 447) (Hervorhebung I.R.). 26 Heidegger bestimmt seinen Schicksalsbegriff folgendermaßen: „Damit bezeichnen wir das in der eigentlichen Entschlossenheit liegende ursprüngliche Geschehen des Daseins, in dem es sich frei für den Tod ihm selbst in einer ererbten, aber gleichwohl gewählten Möglichkeit überliefert“. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 384.
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zukommen, seine Seinsmöglichkeiten zu gewinnen und sich in sein je eigenes Schicksal zu bringen. Wenn das Geschick analog zum Schicksal strukturiert sein soll, und abweichende Angaben macht Heidegger hier nicht, scheint sich eine Bestimmung gemeinschaftlicher Eigentlichkeit ebenfalls an dieses Vorlaufen in den Tod halten zu müssen. Wie aber soll ein gemeinschaftliches Vorlaufen in den Tod möglich sein?27 Das Vorlaufen in den Tod zeichnet sich doch gerade dadurch aus, dass „[k]einer […] dem Anderen sein Sterben abnehmen“ kann und jeder, obgleich stets in einem existenzialen Mitsein, in diesem Vorlaufen unhintergehbar auf sich selbst zurückgeworfen ist.28 Es genügt nicht, dass ich selbst in meinen Tod vorlaufe und einen eigentlichen Entwurf vollziehe, um auch meinen Mitdaseinen zur Eigentlichkeit zu verhelfen. Ich kann sie nicht im Entwurf eines gemeinsamen Geschicks zur Eigentlichkeit emporheben, wie es Sartre suggeriert. Wie bei Kant die moralische Vollkommenheit, so kann auch bei Heidegger die Eigentlichkeit per definitionem nur von dem jeweiligen Dasein selbst erreicht werden. Die Eigentlichkeit eines gemeinsamen Geschicks könnte sich vor diesem konzeptuellen Hintergrund allenfalls so vollziehen, dass jedes einzelne Dasein je für sich selbst einen eigentlichen Entwurf auf sein Schicksal hin vollzieht und sich diese Entwürfe gleichsam zufällig zu einem gemeinsamen Anliegen zusammenfügen. Heidegger versucht hier offenbar, die laterale, über das Zeug verlaufende zwischenmenschliche Beziehung des Man auf die Eigentlichkeit zu übertragen, indem ein gemeinsames Ziel die Schicksale der Einzelnen in einem einzigen Geschick verbinden soll. Das jedoch muss misslingen beziehungsweise scheint allenfalls zufällig gelingen zu können, denn so wie Heidegger die Eigentlichkeit in Sein und Zeit bestimmt, bedeutet sie den jemeinigen, völlig individuell gestalteten und vollzogenen Entwurf. Heideggers Begriff der Eigentlichkeit macht den eigentlichen Entwurf des Daseins zu einem völlig singulären, worin sich gerade die im Man verdeckte fundamentale Geschiedenheit der Daseine bekundet. Der Begriff des Geschicks erscheint jedoch aufgrund seiner tendenziellen Verdeckung dieser Geschiedenheit untauglich dazu zu sein, so etwas wie eine eigentliche Beziehung zwischen eigentlichen Daseinen verständlich zu machen.29 Der zweite Begriff, der so etwas wie eine eigentliche zwischenmenschliche Beziehung anzudeuten scheint, ist der der vorausspringenden Fürsorge. Während das Besorgen die spezifische Gestalt der Sorge in Bezug auf Dinge kennzeichnet, mar27 Vgl. zu diesem Argument Dorothea Frede, Heideggers Tragödie – Bemerkungen zur Bedeutung seiner Philosophie, Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften. Göttingen 1999, S. 29. 28 Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 240; Martin Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, hg. v. Petra Jaeger, Frankfurt am Main 1979 (= Gesamtausgabe. Bd. 20), S. 429. 29 Im Rahmen der Metaphysik des Daseins, die Heidegger zwischen 1927 und 1930 entwickelt, findet sich eine alternative Konzeption des Entwurfes, die diese Schwierigkeit auflöst. Dies geschieht allerdings so, dass dabei die Verschiedenheit der einzelnen Daseine verlorenzugehen droht. In einem existenziellen Einsatz, so Heidegger dort, hätten sich die einzelnen Daseine zu einem metaphysischen Entwurf des Menschen durchzuringen. Das ursprüngliche Miteinander sei dabei ein laterales Miteinander zu einem Selben, dem eingeräumt wird, sich von sich selbst her zu offenbaren. In dieser metaphysischen Konzeption des Entwurfes jedoch wird die in Sein und Zeit ausgearbeitete radikale Differenz der verschiedenen Daseine weitestgehend nivelliert.
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kiert der Begriff der Fürsorge die eigentümliche Gestalt der Sorge, so wie sie sich den Mitdaseinen gegenüber ausgestaltet. „Die Fürsorge“, so Heidegger, „hat hinsichtlich ihrer positiven Modi zwei extreme Möglichkeiten. Sie kann dem Anderen die ‚Sorge‘ gleichsam abnehmen und im Besorgen sich an seine Stelle setzen, für ihn einspringen. […] Ihr gegenüber besteht die Möglichkeit einer Fürsorge, die für den Anderen nicht so sehr einspringt, als daß sie ihm in seinem existenziellen Seinkönnen vorausspringt, nicht um ihm die ‚Sorge‘ abzunehmen, sondern erst eigentlich als solche zurückzugeben“.30 Letztere ist eine „vorspringend-befreiende[…] Fürsorge“, die ein „eigentliche[s] Miteinander“ ermöglichen soll.31 In der vorausspringenden Fürsorge nimmt das Dasein seinem Mitdasein nicht einspringend dessen eigene Sorge ab, sondern „verhilft dem Anderen dazu, in seiner Sorge sich durchsichtig und für sie frei zu werden“,32 das heißt das Dasein sucht seinem Mitdasein einen Rahmen zu schaffen, in dem die Versuchungen des Man weniger stark auf das Mitdasein einwirken und es aufgrund dieser günstigen Bedingungen zur Eigentlichkeit zu finden vermag. Anders als der den Unterschied zwischen den verschiedenen Daseinen tendenziell nivellierende Begriff des Geschicks trägt der Begriff der vorausspringenden Fürsorge der fundamentalen Differenz der Daseine Rechnung. Das jemeinige Dasein kann in seinem eigentlichen Entwurf den Anderen nicht zur Eigentlichkeit mit emporheben, wie es Sartre suggeriert. Es kann sich jedoch innerhalb seines eigentlichen Entwurfes zu dem Anderen so verhalten, dass er dessen Andersheit nicht überdeckt und ihn auf die Möglichkeit seines eigensten Seinkönnens hinweist. Indem das Dasein im Rahmen seines eigenen eigentlichen Entwurfs den Anderen nicht dadurch zur Uneigentlichkeit verleitet, dass es ihm die Richtlinien seines Existierens vorgibt, sondern vielmehr jede Gelegenheit nutzt, ihm den Weg zu einem nur von dem Anderen selbst vollziehbaren eigentlichen Entwurf zu bahnen, schafft es dem Anderen die Grundbedingungen für dessen eigentlichen Entwurf. Es erhebt den Anderen damit zwar nicht mit sich zur Eigentlichkeit empor, was unmöglich ist. Es tut jedoch das ihm Mögliche, indem es die Hindernisse der Eigentlichkeit des Anderen so weit ausräumt, wie es ein Anderer vermag. In Bezug auf Sartres Interpretation lässt sich zweierlei sagen: Zum einen ist es, anders als Sartre meint, im Ausgang von Heideggers Prämissen unmöglich, dass ein Dasein ein Mitdasein mit sich zur Eigentlichkeit emporhebt; zum anderen ist es jedoch möglich, dass ein Dasein einem Mitdasein günstige Bedingungen für einen eigentlichen Entwurf verschafft, worin zugleich die ursprüngliche Differenz der Daseine zum Vorschein kommt, die Sartre in Heideggers lateraler Konzeption des Mitseins grundsätzlich nivelliert sah. Können wir also sagen, Heideggers Begriff der vorausspringenden Fürsorge impliziere, dass ein jemeiniger eigentlicher Entwurf bereits die Achtung für die Andersheit des Mitdaseins enthält? Gehört es notwendig zum eigentlichen Dasein, dass es dem Anderen nicht lediglich einen 30 Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 122. 31 Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 298. 32 Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 122.
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Ort innerhalb seines eigenen Entwurfs zuschreibt, sondern diesem mittels vorausspringender Fürsorge seine Andersheit belässt? Wie bereits bei dem Begriff des Geschicks gibt es auch hier eine Spannung bei Heidegger: Er scheint zwar zu meinen, dass der eigentliche Entwurf des Daseins ein eigentliches Miteinander in vorausspringender Fürsorge impliziert; sein Begriff der Eigentlichkeit jedoch lässt dies nicht zu. Im Ruf des Gewissens ruft sich das Dasein auf sein eigenstes Seinkönnen zurück. Da es jedoch gar keine vorgegebenen Kriterien gibt, die dieses eigenste Seinkönnen inhaltlich im Vorhinein bestimmen, scheint es im Rahmen der Fundamentalanalyse genauso denkbar zu sein, dass sich das sich auf sein eigenstes Seinkönnen zurückrufende Dasein für eine Existenzweise entschließt, die sich dem eigensten Seinkönnen seiner Mitdaseine gegenüber gleichgültig zeigt. Gegen diese Kritik scheint der Einwand naheliegend, dass das Dasein in diesem Fall aber der tatsächlichen Seinsweise der anderen Mitdaseine nicht gerecht wird und daher nicht ‚eigentlich‘ existieren würde. Heidegger zufolge aber ruft mein Gewissen lediglich dazu auf, gemäß meinem eigensten Seinkönnen zu existieren. Liegt in meinem eigensten Seinkönnen aber eine Aufforderung zur vorausspringenden Fürsorge? Heidegger meint zwar, „[d]ie Entschlossenheit zu sich selbst bringt das Dasein erst in die Möglichkeit, die mitseienden Anderen ‚sein‘ zu lassen in ihrem eigensten Seinkönnen und dieses in der vorspringend-befreienden Fürsorge mitzuerschließen“.33 Dies ist im systematischen Rahmen der Heidegger’schen Argumentation jedoch tatsächlich nur eine Möglichkeit. Im Gewissensruf selbst aber liegt kein Aufforderungscharakter, der so etwas wie einen Aufruf zur vorausspringenden Fürsorge begründen könnte und die vorausspringende Fürsorge als notwendiges Moment des eigentlichen Entwurfes auszeichnen würde.34 Wenn Heidegger formuliert, „[d]as entschlossene Dasein kann zum ‚Ge33 Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 298 (Hervorhebung I.R.). 34 Wir folgen nicht der an Derrida anknüpfenden Auslegung, der zufolge die Stimme des Gewissens bei Heidegger mit der Stimme des Freundes identifiziert und damit eine ursprüngliche Alterität des Gewissensrufs behauptet werden kann. Derrida greift bei seiner Auslegung auf den Rede und Sprache behandelnden § 34 von Sein und Zeit zurück, in dem es heißt: „Das Hören konstituiert sogar die primäre und eigentliche Offenheit des Daseins für sein eigenstes Seinkönnen, als Hören der Stimme des Freundes, den jedes Dasein bei sich trägt.“ Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 163. Derrida versteht diese ‚Stimme des Freundes‘ als die „Stimme des Anderen als des Freundes (la voix de l’autre en tant qu’ami)“ und interpretiert selbige als die Bedingung meines eigensten Seinkönnens. Vgl. Jacques Derrida, „L’oreille de Heidegger. Philopolémologie (Geschlecht IV)“, in: ders., Politiques de l’amitié, Paris 1994, S. 343-419, hier S. 356 (dt.: „Heideggers Ohr. Philopolemologie (Geschlecht IV)“, in: ders., Politik der Freundschaft, Frankfurt am Main 2000, S. 411492, hier S. 428, Einfügung des französischen Wortlauts I.R.). Dies ist eine für Derridas eigenes Anliegen höchst fruchtbare und sachlich vielversprechende Deutung. Als Auslegung von Heideggers Gewissensphänomenologie jedoch erscheint sie problematisch. Zum einen schreibt diese Auslegung einer beiläufigen Bemerkung, die in Sein und Zeit an einer ganze anderen Stelle – nämlich im Kontext der Auslegung der Mitteilung – steht, eine fundamentale Bedeutung für die Gewissensanalyse zu, obgleich in dieser selbst in den §§ 54-60 von der ‚Stimme des Freundes‘ überhaupt nicht die Rede ist. Zum anderen schreibt sie jener ‚Stimme des Freundes, den jedes Dasein bei sich trägt‘ eine Alterität zu, von der keineswegs eindeutig behauptet werden kann, dass Heidegger sie ihr an jener entlegenen Stelle tatsächlich zuschreibt. Da er nicht erläutert, was er mit der ‚Stimme des Freundes‘ meint, bleibt es unsicher, ob Heidegger diesen ‚Freund‘ im Dasein
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wissen‘ der Anderen werden“,35 dann ist das im Rahmen seines Ansatzes so zu verstehen, dass das eigentliche Dasein seinem Mitdasein ein Beispiel der Eigentlichkeit vorhält, mithilfe dessen es dazu angeregt werden kann, auf den in ihm selbst liegenden Gewissensruf zu hören. Die Anführungszeichen im Zitat weisen darauf hin, dass das Dasein nicht wirklich selbst das Gewissen der Anderen ist, sondern über jene Beispielfunktion das Gewissen im Anderen zu beleben vermag. Damit aber kann der Andere im eigentlichen Entwurf des Daseins ein wahrhaft Anderer sein, der nicht im Eigenen aufgehoben wird; diese Möglichkeit bei Heidegger sieht Sartre nicht. Der Andere kann jedoch auch derart für den eigentlichen Entwurf instrumentalisiert werden, dass er seine Andersheit verliert; in diesem Fall würde das eigentliche Dasein im Anderen tatsächlich, wie Sartre sagt, nur das finden, was es in ihn hineingelegt hat. Wie aber steht es bei Sartre selbst? In welchem Verhältnis steht der Entwurf des Für-sich zum Anderen? Sartre geht von der fundamentalen Geschiedenheit der Bewusstseine aus. Er spricht von dem „Skandal der Pluralität der Bewußtseine“,36 von dem unreduzierbaren „Faktum der Pluralität“37 sowie von einer „absoluten“38 oder auch „ontologische[n] Trennung“39 derselben. Im Unterschied zu Heidegger geht Sartre also nicht von einer lateralen Beziehung des Mitseins aus, sondern versteht die primäre Beziehung zum Anderen als eine frontale. Nicht begegnet mir der Andere über das Zeug, sondern er begegnet mir direkt, von Angesicht zu Angesicht. Damit es den Anderen für mich gibt, muss er mir begegnen, denn er könne nicht aus den Strukturen des Für-sich abgeleitet werden: „Man begegnet dem Andern, man konstituiert ihn nicht.“40 Nichtsdestotrotz sei der Andere kein zufälliges Faktum unter anderen zufälligen Fakten der Welt. Sartre schreibt ihm eine spezifische Art von Notwendigkeit zu. Diese Notwendigkeit der Existenz des Anderen sei jedoch nicht jene Notwendigkeit der Möglichkeitsbedingungen der Erfahrung, die sich auch als ontologische Notwendigkeit verstehen ließe, sondern sie habe vielmehr den Charakter einer kontingenten oder „faktischen Notwendigkeit“.41 So wie das Cogito des Vollzugs faktisch notwendig sei, sei es auch der Andere, da in beiden Fällen gilt: Es ist logisch möglich, dass das Cogito oder der Andere nicht existiert,
35 36 37 38 39 40 41
überhaupt von dem „Helden in seiner Seele“, dem ursprünglichen und potentiell eigentlichen Selbst, fundamental unterscheiden will. Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, hg. v. Friedrich Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1991 (= Gesamtausgabe. Bd. 3), S. 159; ebenso: Martin Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, hg. v. Friedrich Wilhelm von Herrmann, 3. Aufl., Frankfurt am Main 1997 (= Gesamtausgabe. Bd. 24), S. 192. Die Stimme des Gewissens, in der das Dasein sich selbst anruft, wird Heidegger zufolge allein deshalb als „eine fremde Stimme“ erfahren, weil sie „dem alltäglichen Man-selbst unvertraut“ ist. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 277. Ihre Fremdheit ist damit auf ein durch eine Selbstspaltung erzeugtes Sich-selbst-Fremdwerden zurückzuführen. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 298. Sartre, L’être et le néant, a.a.O., S. 300 (dt. S. 442). Sartre, L’être et le néant, a.a.O., S. 363 (dt. S. 536). Sartre, L’être et le néant, a.a.O., S. 345 (dt. S. 511). Sartre, L’être et le néant, a.a.O., S. 299 (dt. S. 441). Sartre, L’être et le néant, a.a.O., S. 307 (dt. S. 452). Sartre, L’être et le néant, a.a.O., S. 307 (dt. S. 452).
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wenn sie aber einmal im Vollzug erfahren sind, kann von ihnen nicht mehr abgesehen werden. L’être et le néant zufolge haben die intersubjektiven Beziehungen der ontologisch geschiedenen Bewusstseine die Gestalt eines Kampfes beziehungsweise eines Konflikts, welche sich in Entfremdung, Gewalt, Unterdrückung und Manipulation äußert. Der strukturelle Grund dafür liegt darin, dass Sartre die intersubjektiven Beziehungen hier vollkommen auf Subjekt-Objekt-Verhältnisse reduziert. In seiner Theorie des Blicks42 vertritt er die Auffassung, dass der Andere zunächst für mich auftaucht, indem er mich in seinem Blick zum Objekt versteinert und mich so mir selbst entfremdet; die einzige Möglichkeit der „Verteidigung meines Seins“43 als Subjekt besteht darin, den Anderen zu einem Objekt für mich zu machen, indem ich ihn meinerseits anblicke. Das entfremdete Subjekt versucht, sich die es entfremdende Freiheit des Anderen in einer Verobjektivierung anzueignen, sie unter seine Kontrolle zu bringen, um so seine eigene Entfremdung aufzuheben. Dies ist Sartre zufolge der Anfang eines unausweichlichen Kreislaufs von Liebe, Masochismus, Begehren, Sadismus und Hass, der einen unversöhnlichen Kampf der Freiheiten bedeutet. Der Andere wird als Störung meiner Freiheit empfunden, was auf der äußersten Stufe des Hasses dazu führt, dass ich auf die Vernichtung des Anderen überhaupt ziele; eine Vernichtung, die doch unmöglich ist, weil mich der versteinernde Blick des Anderen auch noch über dessen physischen Tod hinaus verfolgen würde. Man mag versucht sein, in Sartres Erörterungen des „Wir“ aus L’être et le néant einen Ausweg aus diesem Teufelskreis der Gewalt zu suchen.44 Dieser Versuch muss jedoch misslingen, weil das „Wir“ zum einen stets nur sekundär ist und daher lediglich vorübergehend den ursprünglichen Kampf der Freiheiten zu verdecken vermag45 sowie weil auch das „Wir“ sich letztlich wiederum auf Subjekt-Objekt-Verhältnisse reduziert. Ein Objekt-Wir entstünde, wenn der Andere und ich durch den Blick eines Dritten zu einem Wir zusammengeschmolzen werden. Ein SubjektWir hingegen komme auf, wenn ich das Gefühl habe, gemeinsam mit anderen auf eine Sache gerichtet zu sein. Diese lateralen Beziehungen, in denen Sartre den Heidegger’schen Gedanken eines lateralen Mitseins in seinem eigenen Ansatz verortet, stellen jedoch nur scheinbar ein konfliktfreies „Wir“ her. Das Objekt-Wir bedeutet vielmehr eine noch radikalere Entfremdung als die Objektivierung nur meiner selbst durch den Blick eines Anderen, weil ich im Objekt-Wir nicht nur das Bild des Anderen von mir auf mich nehmen muss, sondern das Bild des Anderen von uns. Dem Subjekt-Wir hingegen kommt gar keine ontologische Dimension zu, sondern es ist lediglich psychologischer Natur, weil der Andere gar nicht notwendig eine Wir-Erfahrung hat und ich möglicherweise allein jene Gruppenerfahrung 42 43 44 45
Vgl. Sartre, L’être et le néant, a.a.O., S. 310-364 (dt. S. 457-538). Sartre, L’être et le néant, a.a.O., S. 327 (dt. S. 483). Vgl. Sartre, L’être et le néant, a.a.O., S. 484-503 (dt. S. 720-748). So heißt es am Ende des Kapitels über das „Wir“: „Das Wesen der Beziehungen zwischen Bewußtseinen ist nicht das Mitsein, sondern der Konflikt.“ Sartre, L’être et le néant, a.a.O., S. 502 (dt. S. 747).
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mache. Auch der sekundäre Begriff des „Wir“ vermag daher nichts daran zu ändern, dass die grundlegende und unvermeidbare intersubjektive Beziehung die des Kampfes der Freiheiten ist:46 Der Andere stört den Entwurf meiner Freiheit, weswegen ich letztlich auf seine Vernichtung als Subjekt aus bin. Diese pessimistische Sicht der Intersubjektivität findet sich jedoch nicht in allen Arbeiten Sartres. Insbesondere in dem Aufsatz „L’existentialisme est un humanisme“ (1945),47 in der Schrift Qu’est-ce que la littérature? (1947),48 in den Notizheften Cahiers pour une morale (1947/48)49 und in dem späten Interview L’espoir maintenant (1980)50 macht Sartre diverse Andeutungen zu einem intersubjektiven Verhältnis wechselseitiger Anerkennung, welches sich wesentlich von dem Konfliktmodell des frühen Hauptwerkes unterscheidet. Um die Grundstruktur dieser anderen Gestalt der Intersubjektivität darzulegen, beziehen wir uns im Folgenden auf die Cahiers, weil Sartre seinen Gedankengang dort am differenziertesten ausgearbeitet hat. Anders als im frühen Hauptwerk hält Sartre hier eine wechselseitige Anerkennung der konkreten Freiheiten für möglich. Diese Möglichkeit ergibt sich ihm über das Werk. Freiheit, so Sartre nun, sei erst konkret, wenn sie sich ins Werk setzt, wenn sie einen Ausdruck hervorbringt, der nach dem Modell des Kunstwerkes verstanden werden kann. Sartre fasst das freie Subjekt wie einen Künstler auf, der sein Werk in Großzügigkeit dem Publikum als eine Gabe darbietet. Diese Gabe jedoch sei zugleich eine Forderung: eine Forderung an eine ebenfalls großzügige konkrete Freiheit, das Werk als ein von einer konkreten Freiheit bewohntes Werk aufzufassen. Als ein solches fordere es, verstanden und umgeformt zu werden, eine Aufgabe, die die konkrete Freiheit des Empfängers in einer neuen großzügigen Gabe verwirklichen kann. Das Verstehen eines Werkes bedeute, dass ich es als Aus46 Dies ändert sich auch nicht in Sartres Konzeption der Gruppe aus seiner Kritik der dialektischen Vernunft. Vgl. dazu Jean-Paul Sartre, Critique de la raison dialectique. Tome I: Théorie des ensembles pratiques, Paris 1960, Livre II (dt.: Kritik der dialektischen Vernunft. 1. Band: Theorie der gesellschaftlichen Praxis, übers. v. Traugott König, Hamburg 1967, 2. Buch). Die Gruppe konstituiert sich, wenn sich eine Ansammlung von Menschen zugleich und in gleicher Weise von einem äußeren Feind bedroht fühlt. Weil die aus Individualitäten bestehende Gruppe jedoch instabil ist, verstärkt sie ihren Zusammenhalt durch den Eid. Um ihrer wesentlichen Instabilität entgegenzuwirken, die sich insbesondere dann bemerkbar macht, wenn der Druck des Feindes sich lockert, operiert die Gruppe mit einem Terror nach innen. Das Subjekt-Wir ist jetzt zwar nicht mehr nur eine psychologische Erfahrung eines Einzelnen, sondern es ist eine sich über den Eid als Gruppe konstituierende gemeinsame Freiheit. Diese Gruppe jedoch ist weiterhin gegenüber den Antagonismen der Individuen sekundär. Der Terror nach innen, mit dem sie diese Instabilität kompensiert, reduziert die neue Gestalt des Subjekt-Wir letztlich wiederum auf den Kampf der Freiheiten. 47 Jean-Paul Sartre, L’existentialisme est un humanisme, Paris 1996 (dt.: „Der Existentialismus ist ein Humanismus“, übers. v. Vincent von Wroblewsky, in: Jean-Paul Sartre, Der Existentialismus ist ein Humanismus – und andere Essays, 5. Aufl., Hamburg 2010, S. 145-192). 48 Jean-Paul Sartre, Qu’est-ce que la littérature? Paris 1948 (dt.: Was ist Literatur?, übers. v. Traugott König, 2. Aufl., Hamburg 1986). 49 Jean-Paul Sartre, Cahiers pour une morale, Paris 1983 (dt.: Entwürfe für eine Moralphilosophie, übers. v. Hans Schöneberg und Vincent von Wroblewsky, Hamburg 2005). 50 Jean-Paul Sartre, L’espoir maintenant. Les entretiens de 1980, Lagrasse 1991 (dt.: Brüderlichkeit und Gewalt. Ein Gespräch mit Benny Lévy, übers. v. Grete Osterwald, Berlin 1993).
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druck einer konkreten Freiheit, die einen „Appell“51 an mich richtet, verstehe. Ich verstünde durch diesen Ausdruck hindurch den Zweck der Freiheit eines Anderen und erfahre mich als zur Übernahme dieses Zweckes herausgefordert. Dieses Verstehen und diese Übernahme kann ich laut Sartre nicht vermeiden. Wenn ich das Verstehen zu negieren versuche, dränge es sich mir in einem Gewissensbiss auf,52 denn: Wenn ich den „Zweck des anderen in der Welt […] durch ein Verstehen“ erfasse, bedeute das, dass ich diesen Zweck bereits „als halb begehrenswert“53 setze. Dieses Verstehen wiederum könne sich „nur in der Hilfe und durch sie verwirklichen“,54 sodass das halbe Begehren des Zweckes sich in einer Übernahme des Zweckes des Anderen realisiert: Ich setze, so Sartre, „dass sein Zweck mein Zweck ist, […] weil er ihn als Zweck gesetzt hat.“55 Allein im Verstehen des Werkes, so Sartre, vermag ich die individuelle Freiheit des Anderen anzuerkennen, „ohne dass sie mich durchdringt wie ein Blick.“56 Dieses Verhältnis sei „die einzige Art und Weise, eine Freiheit in ihrem Herzen konkret als subjektive Freiheit zu erreichen“,57 denn sobald man seine eigene Freiheit oder die Freiheit von anderen direkt als Zweck nähme, mache man sie, wie im frühen Konfliktmodell, zu einer Substanz, die sie nicht ist. Nach dem Werkmodell müssen daher „die Verhältnisse der Menschen sein, wenn sie als Freiheit füreinander existieren wollen“.58 Eine immanente, von Sartre selbst herausgestellte Schwierigkeit dieses Werkmodells der Intersubjektivität ist, dass es nicht auf alle menschlichen Beziehungen gleichermaßen anwendbar zu sein scheint. Nicht zufällig hat Sartre es zunächst in Qu’estce que la littérature? spezifisch für das Verhältnis des Schriftstellers zu seinem Leser entwickelt. Im Falle des Schriftstellers und seines Werkes drückt sich eine differenzierte individuelle Freiheit aus und fordert zu einem Verstehen ihres komplexen Ausdrucks auf. Sartres eigene umfangreiche Versuche, eine Künstlerperson in ihrer Ganzheit zu verstehen, verdeutlichen, wie unerschöpflich der Ausdruck einer solchen konkreten Freiheit in ihrem Werk sein kann. Es gibt jedoch auch Menschen, denen die Möglichkeit versagt zu sein scheint, ein Werk hervorzubringen, das ihre individuelle Freiheit ausdrückt. Sartre fragt: „wie aber das Tun eines Arbeiters anerkennen, das abstrakt ist?“59 Auf diese Frage gibt er die „Antwort: man kann es nicht.“60 Aus diesem Befund leitet Sartre zwar die Forderung ab, die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse so zu verändern, dass man jeden Menschen über den individuellen Ausdruck seiner Freiheit anerkennen kann. Aber solange diese Veränderung nicht geschehen ist, bleibt die Anwendungsmöglichkeit des Werkverhältnisses der Intersubjektivität be51 52 53 54 55 56 57 58 59 60
Sartre, Cahiers pour une morale, a.a.O., S. 292 (dt. S. 493). Sartre, Cahiers pour une morale, a.a.O., S. 290 (dt. S. 489). Sartre, Cahiers pour une morale, a.a.O., S. 292 (dt. S. 493). Sartre, Cahiers pour une morale, a.a.O., S. 294 (dt. S. 496). Sartre, Cahiers pour une morale, a.a.O., S. 291 (dt. S. 490). Sartre, Cahiers pour une morale, a.a.O., S. 291 (dt. S. 490). Sartre, Cahiers pour une morale, a.a.O., S. 149 (dt. S. 252). Sartre, Cahiers pour une morale, a.a.O., S. 149 (dt. S. 253). Sartre, Cahiers pour une morale, a.a.O., S. 149 (dt. S. 253). Sartre, Cahiers pour une morale, a.a.O., S. 149 (dt. S. 253).
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grenzt. Menschen, deren Werk ‚abstrakt‘ und nicht individuell ist, erscheinen als austauschbar und können nicht als individuelle Freiheit anerkannt werden. Jedoch auch im Falle eines gelingenden intersubjektiven Verhältnisses der Gabe und des Werkes versteht Sartre diese Beziehung zum Anderen letztlich als eine Erweiterung meines Entwurfes. Ich bin der Empfänger der Gabe des Werkes des Anderen und gebe ihm meinerseits, indem ich seinen Zweck frei übernehme. Ich übernehme seinen Zweck zwar, indem ich will, „dass der Zweck durch den anderen verwirklicht wird“,61 das heißt so, dass ich „ihn beauftrage, mich zu seinen Zielen weiterzuführen, die meine sind, insofern sie durch seine Freiheit verwirklicht werden und ich großzügigerweise meine Hilfe als Zugabe gewährt habe“.62 Dieses Verhältnis aber versteht Sartre als eine Erweiterung meines Entwurfs, denn in der Übernahme des Zwecks des Anderen sei „[d]ie Freiheit des anderen […] zugleich die Verlängerung meiner Freiheit in der Dimension der Alterität“.63 Ich nehme seinen Zweck in meinen Entwurf mit auf und verlängere dadurch meine Freiheit zu ihm hin.64 In welchem Verhältnis die beiden Intersubjektivitätskonzeptionen des Kampfes und des Werkes zueinander stehen, bleibt bei Sartre weitestgehend unklar. Wovon es abhängt, ob eine zwischenmenschliche Beziehung die Gestalt eines Kampfes der Freiheiten oder aber die Gestalt eines Gabeverhältnisses der Anerkennung konkreter Freiheiten annimmt, wird von Sartre nicht eigens erörtert. Seine Notizen zur Ethik, die er nie zu einem systematischen Werk über Ethik ausgearbeitet hat, entwickeln keine Antwort auf die Frage nach dem systematischen Ort dieser beiden Gestalten der Intersubjektivität und ihrem Verhältnis zueinander. Es ließe sich jedoch durchaus erwägen, dass er nach L’être et le néant zu der Auffassung gelangt ist, dass das Gewissen das Für-sich angesichts der Begegnung mit Anderen dazu anhält, deren Zwecke zu übernehmen, und eine Verobjektivierung des Anderen eine sekundäre Verdeckung dieses ursprünglichen Gewissensrufes darstellt. Wie lassen sich die Konzeptionen Heideggers und Sartres zueinander in Verhältnis setzen? Beide gehen in Bezug auf die Frage nach dem Mitsein beziehungsweise der Intersubjektivität von verschiedenen Ausgangspunkten aus. Für Heidegger ist die Beziehung zu Anderen primär lateral, für Sartre hingegen frontal. Nichtsdestotrotz geht Sartre, der diesen Unterschied selbst hervorhebt, fehl, wenn er daraus schließt, dass der Andere bei Heidegger in einer apriorischen Struktur des Mitseins seiner Andersheit beraubt wird. Sartre verkennt, dass Existenzialien keine abschließend und inhaltlich bestimmten Strukturen sind, sondern vielmehr als formale Anzeigen fungieren. Das Existenzial des Mitseins lässt es daher durchaus zu, dass ein Mitdasein als ein Anderer begegnet. 61 62 63 64
Sartre, Cahiers pour une morale, a.a.O., S. 290 (dt. S. 490) (Hervorhebung I.R.). Sartre, Cahiers pour une morale, a.a.O., S. 291 (dt. S. 491). Sartre, Cahiers pour une morale, a.a.O., S. 291 (dt. S. 491) (Hervorhebung I.R.). Da dieses Grundmodell auch noch den Ausführungen in dem Interview von 1980 zugrunde liegt, konnte Bedorf überzeugend zeigen, dass der späte Sartre kein Levinasianer ist. Vgl. Thomas Bedorf, „Der blinde Philosoph des Blicks oder Ob der späte Jean-Paul Sartre als Levinasianer anzusehen sei“, in: Phänomenologische Forschungen, hg. v. Ernst Wolfgang Orth und Karl-Heinz Lembeck, Hamburg 2004, S. 113-132.
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Bei Heidegger begegnet der Andere zunächst und zumeist über das Zeug als Irgendeiner. Sartre sagt zwar nicht ausdrücklich, dass das konflikthafte Subjekt-Objekt-Verhältnis zum Anderen dasjenige ist, das „zunächst und zumeist“ vorherrscht; aber es kann zumindest als ein Verhältnis gelten, das oft bestimmend ist für zwischenmenschliche Beziehungen. Wird der Andere als Irgendeiner, als Objekt oder als mich entfremdendes Subjekt betrachtet, ist jedoch eine intersubjektive Beziehung zwischen einzelnen Für-sichs beziehungsweise Daseinen, die deren ursprüngliche Seinsweise achtet, unmöglich. Sowohl Heidegger als auch Sartre zeigen allerdings die Möglichkeit eines intersubjektiven Verhältnisses auf, in dem eine individuelle Freiheit einem Anderen begegnet, den sie als Anderen in seiner Freiheit sein lässt. Bei Heidegger ist es der Modus der vorausspringenden Fürsorge, bei Sartre das Verstehen des Werkes einer konkreten individuellen Freiheit. In der vorausspringenden Fürsorge belässt das Dasein seinem Mitdasein die Andersheit, weil es nicht in dessen Entwurf eingreift, sondern dem Anderen nur so weit wie möglich die Hindernisse ausräumt, die dessen eigentlichem Entwurf im Wege stehen. Im Verstehen des Werkes des Anderen erfasst das Für-sich den Anderen nicht in einer inhaltlich bestimmten Identität, sondern übernimmt die Zwecke, von denen es anhand des Ausdrucks des Anderen glaubt, dass sie die Zwecke der individuellen Freiheit des Anderen seien. Bei Heidegger, so haben wir zu zeigen versucht, hängt es vom je eigentlichen Entwurf des Daseins ab, wie es sich zu Anderen verhält. Im Gewissen, so Heidegger, rufe das Dasein nur sich selbst auf sein eigenstes Seinkönnen zurück. Die vorausspringende Fürsorge ist jedoch kein notwendiges Implikat des eigensten Seinkönnens. Mit anderen Worten, der eigentliche Entwurf eines Daseins kann implizieren, dass es sich zu Anderen im Modus der vorausspringenden Fürsorge verhält, dies ist jedoch nicht zwingend. Bei Sartre steht es hiermit anders. Wenn das Für-sich den Zweck des ihm begegnenden Anderen versteht, könne es nicht umhin, diesen Zweck bereits als ‚halb begehrenswert‘ zu setzen. Wenn es ihn ignoriert, stellt sich ein Gewissensbiss ein. Das Für-sich vollzieht in seiner Freiheit zwar einen ihm eigenen Entwurf. Diesem Entwurf steht es jedoch anders als bei Heidegger nicht frei, wie er sich zu Anderen verhält, weil das Gewissen angesichts der konkreten Begegnung mit einem Anderen zur Übernahme seiner Zwecke auffordert. Nichtsdestotrotz fassen sowohl Heidegger als auch Sartre den jemeinigen Entwurf so auf, dass das Verhältnis zum Anderen als eines seiner Momente erscheint. Bei Heidegger kann die vorausspringende Fürsorge ein Moment des eigentlichen jemeinigen Entwurfes werden. Sartre stellt die Befolgung des Gewissensrufes in der Übernahme der Zwecke der Anderen als eine Verlängerung der eigenen Freiheit im Modus der Alterität dar, womit er letztlich ebenfalls die Zwecke der anderen Freiheit in den eigenen Entwurf integriert. Beide räumen zwar ein Verhältnis zum Anderen ein, in dem der Andere als ein Anderer sein gelassen wird; die Beziehung zu diesem Anderen wird dann aber als Moment des je eigenen Entwurfes gedacht. Um dieses Verhältnis von Entwurf und Intersubjektivität noch stärker zu konturieren, wollen wir uns im Folgenden kontrastiv einem Denken zuwenden, von dem gesagt werden kann, dass der Entwurf von dem Anderen getragen wird, ohne dass
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das Verhältnis zum Anderen lediglich eines seiner Momente darstellt: dem Alteritätsdenken von Levinas.
Der Andere: Moment oder Grund des Entwurfes? Heidegger, Sartre, Levinas Angesichts der unmittelbaren Verbindung von Freiheit und Entwurf bei Heidegger und Sartre erscheint es legitim zu sagen, dass Levinas mit dem Freiheitsbegriff der Sache nach die Frage nach dem Entwurf aufnimmt, wenngleich er dem Entwurfsbegriff keinen zentralen Platz einräumt. Wenn wir der systematischen Frage nach dem Verhältnis von Entwurf und Intersubjektivität bei Levinas nachgehen wollen, können wir uns daher seinem Freiheitsbegriff zuwenden. Einer der Hauptgedanken des Levinas’schen Denkens besteht darin, dass die Freiheit im vollen Sinne als eine auf fremde Ansprüche antwortende Freiheit verstanden werden muss. In seinem ersten Hauptwerk Totalité et infini unterscheidet er zwei Freiheitsbegriffe voneinander. Der erste knüpft sich an das, was Levinas ‚Genuss‘ nennt. Das Leben vollziehe sich im Genuss: „Wir leben vom ‚guten Essen und Trinken‘, von der Luft, vom Licht, vom Schauen, von der Arbeit, von Ideen, vom Schlaf usw.“65 In diesem Genießen ernähren wir uns gleichsam von allem, was uns begegnet, und wandeln auf diese Weise alles Andere in das Selbe um.66 Mit jenem Lebensvollzug als Genuss verknüpft sich für Levinas eine Freiheit, die er als reine Spontaneität und Willkür bezeichnet.67 Diese „Willkür der Freiheit“ sei für sich genommen grundlos – ihre Grundlosigkeit gelte „es gerade zu begründen“.68 Dies geschehe durch den Anspruch des Anderen, in dem „der Anfang des sittlichen Bewußtseins“ liege.69 Der Andere stelle mit seinem Anspruch meine Willkürfreiheit in Frage, woraufhin sie entdecke, dass sie „keine unschuldige Spontaneität, sondern Usurpator und Mörder“, „willkürlich und gewalttätig“ ist.70 Diese Infragestellung der Willkürfreiheit bedeutet jedoch keineswegs eine Vernichtung der Freiheit, sondern sie führt vielmehr durch die „Kritik der Spontaneität“ angesichts des Anderen zu einer „Einsetzung (investiture) der Freiheit“.71 Diese Einsetzung der Freiheit versteht Levinas als eine „privilegierte Heteronomie“, „eine Abhängigkeit, die gleichzeitig die Unabhängigkeit bewahrt“.72 Die durch den Anderen eingesetzte
65 Emmanuel Levinas, Totalité et infini. Essai sur l’extériorité, Den Haag 1980, S. 82 (dt.: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, übers. v. Wolfgang Nikolaus Krewani, 4. Aufl., Freiburg/München 2008, S. 152). 66 Vgl. Levinas, Totalité et infini. a.a.O., S. 83 (dt. S. 153). 67 Vgl. Levinas, Totalité et infini, a.a.O., S. 54-56 (dt. S. 112-116). 68 Levinas, Totalité et infini, a.a.O., S. 58 (dt. S. 118). 69 Levinas, Totalité et infini, a.a.O., S. 56 (dt. S. 115). 70 Levinas, Totalité et infini, a.a.O., S. 56 (dt. S. 116). 71 Levinas, Totalité et infini, a.a.O., S. 55, 57 (dt. S. 115, 116). 72 Levinas, Totalité et infini, a.a.O., S. 60f. (dt. S. 122f.).
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Freiheit ist eine begründete Freiheit, indem sie sich als nicht mehr grundlose Antwort auf die fremden Ansprüche konstituiert. Diesen Grundgedanken radikalisiert Levinas in seinem zweiten Hauptwerk Autrement qu’être ou au-delà de l’essence. Hier ist das Selbst in seiner Sinnlichkeit von vornherein ein durch den Anderen und seine Ansprüche immer schon getragenes. Diese Ansprüche binden das Begehren des Selbst in einem „Begehren des NichtBegehrenswerten“.73 Levinas verwendet diese paradoxe Formulierung, weil es ihm um ein Begehren geht, das nicht die Struktur des alles assimilierenden Genusses hat. Dieses spezifische Begehren des Anderen bezeichnet er auch als „Nicht-Indifferenz“ gegenüber dem Anderen oder als „Verantwortung für den Anderen“.74 Diese Verantwortung darf nun aber keinesfalls als eine begründete Verantwortung im herkömmlichen Sinne verstanden werden. Levinas meint mit ihr vielmehr den Erfahrungsgehalt eines „‚sich nicht entziehen können‘ angesichts einer Vorladung“,75 die ich nicht nicht beantworten kann.76 Die Freiheit definiert Levinas angesichts dieser Bestimmungen des Selbst nun von vornherein als eine „Freiheit, die durch die Verantwortung getragen ist“.77 Freiheit ist in Autrement qu’être ausschließlich als eine Freiheit fassbar, die auf den Sinn der sie tragenden Ansprüche antwortet. Im ersten Hauptwerk ist die Freiheit erst als antwortende Freiheit eine begründete Freiheit beziehungsweise eine Freiheit, die diesen Namen verdient; im zweiten Hauptwerk ist Freiheit für Levinas gar nicht anders denkbar als im Sinne einer durch fremde Ansprüche getragenen Freiheit. Diesen Begriff einer wesentlich auf fremde Ansprüche antwortenden Freiheit versteht Levinas selbst als Kritik sowohl an Heidegger als auch an Sartre. Bei Heidegger kritisiert Levinas eine Unterordnung der Beziehung zum Anderen unter die Ontologie.78 Levinas’ Kritik an Heidegger zielt dabei in dieselbe Richtung wie Sartres Kritik an Heidegger: „Wir sind betroffen von der Existenz des Anderen nicht dank seiner Teilhabe am Sein, mit dem wir alle je schon vertraut sind“.79 Wenn der Andere innerhalb eines Mitseins begegnet, dann, so der Einwand, begegnet er als ein Vertrauter, Bekannter und nicht als ein Anderer. So wie Sartre Heidegger dafür kritisierte, den Anderen im Ausgang von einer apriorischen Struktur des Mitseins als immer schon Bekannten aufzufassen, kritisiert Levinas Heidegger dafür, von einem universalen Sein auszugehen, das uns als eine Totalität immer schon verbindet. 73 Emmanuel Levinas, Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, Den Haag 1978, S. 158 (dt.: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, übers. v. Thomas Wiemer, 2. Aufl., Freiburg/München 1998, S. 274). 74 Levinas, Autrement qu’être, a.a.O., S. 158, 161 (dt. S. 274, 280). 75 Levinas, Autrement qu’être, a.a.O., S. 163 (dt. S. 282). 76 Letzteres ist eine in Anlehnung an Levinas von Waldenfels wiederholt gebrauchte Formulierung: „ich kann nicht nicht antworten, so wie ich laut Paul Watzlawick nicht nicht kommunizieren kann.“ Vgl. Bernhard Waldenfels, Verfremdung der Moderne. Phänomenologische Grenzgänge, Göttingen 1997, S. 82. 77 Levinas, Autrement qu’être, a.a.O., S. 160 (dt. S. 277). 78 Vgl. Levinas, Totalité et infini, a.a.O., S. 61 (dt. S. 124). 79 Vgl. Levinas, Totalité et infini, a.a.O., S. 61 (dt. S. 124).
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Levinas geht jedoch über diesen, ihn mit Sartre verbindenden Einwand noch hinaus, indem er Sartres Freiheitskonzeption ebenfalls kritisiert. Dass Levinas’ Freiheitskonzeption eine Zurückweisung von Sartres Freiheitsbegriff darstellt, ist bereits dem ersten Satz des Kapitels „Die Einsetzung der Freiheit oder die Kritik“ aus Totalité et infini unmissverständlich zu entnehmen. Auch wenn Levinas Sartres Namen hier nicht ausdrücklich nennt, bezieht er sich eindeutig auf ihn, wenn er schreibt: „Tatsächlich ist die Existenz nicht zur Freiheit verdammt (condamnée), sondern als Freiheit eingesetzt.“80 Dass der Mensch als Existenz zur Freiheit verdammt oder verurteilt ist, ist eine der bekanntesten und zentralsten Thesen Sartres. Im selben Kapitel ergänzt Levinas, ebenfalls unmissverständlich an Sartre gerichtet: „Nicht dass das ‚Für sich‘ begrenzt oder unaufrichtig wäre! – vielmehr ist es durch sich selbst nur Freiheit, d. h. zufällig und ohne Rechtfertigung und in diesem Sinne hassenswert; es ist Ich, Egoismus.“81 Wie Sartre meint auch Levinas, dass wir vom Anderen betroffen werden und mit diesem nicht durch eine immer schon fungierende Struktur des Mitseins verbunden sind. Im Unterschied zu dem Sartre von L’être et le néant ist Levinas jedoch nicht der Auffassung, dass der Andere uns als eine „Freiheit, die wir zu unterjochen und für uns zu nutzen hätten“,82 begegnet. Der Andere ist nicht Störung und Bedrohung meiner individuellen Freiheit. Vielmehr ist meine Freiheit, so Levinas, überhaupt keine Freiheit ohne den sie tragenden Anspruch des Anderen. Eine Freiheit, wie Sartre sie versteht, ist für Levinas eine zufällige, ungerechtfertigte, egoistische Freiheit. Sie unterscheidet sich nicht wesentlich von jener bodenlosen, willkürlichen Freiheit des Genießens, das sich alles ihm Begegnende aneignet. Levinas’ Kritik ist zugespitzt und ihr kann entgegengehalten werden, dass in Heideggers Konzeption einer vorausspringenden Fürsorge schon in Sein und Zeit die Andersheit des Anderen nicht in einer im Vorhinein feststehenden Seinsstruktur aufgelöst wird sowie dass in den Levinas unbekannten Sartre’schen Cahiers ein Modell der Anerkennung individueller Freiheiten entwickelt wird, in welchem der Andere nicht mehr als Bedrohung und zu Vernichtender erscheint. Trotz dieser – ohne Zweifel notwendigen – Nuancierungen scheint Levinas’ Kritik aber jenen zentralen, oben hervorgehobenen Punkt zu treffen: Sowohl bei Heidegger als auch bei Sartre wird die Beziehung zum Anderen, auch noch in der vorausspringenden Fürsorge oder im Gabeverhältnis des Werkes, als Moment des je eigenen Entwurfs gedacht. Eine radikal individuelle Freiheit vollzieht einen Entwurf, innerhalb dessen sie dem Verhältnis zum Anderen einen Ort zuweist. Der Entwurf selbst jedoch ist in seinem Ursprung nicht wesentlich von dem Anderen her bestimmt. Das eigentliche Dasein vermag einen eigentlichen Entwurf hervorzubringen, zu dessen Eigentlichkeit es möglicherweise das Verhältnis der vorausspringenden Fürsorge zählt. Das Für-sich findet sich zwar angesichts der Begegnung mit einem konkreten
80 Vgl. Levinas, Totalité et infini, a.a.O., S. 57 (dt. S. 116) (Einfügung des Originals I.R.). 81 Vgl. Levinas, Totalité et infini, a.a.O., S. 61 (dt. S. 123). 82 Vgl. Levinas, Totalité et infini, a.a.O., S. 61 (dt. S. 124).
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Anderen dazu aufgefordert, dessen Zwecke zu übernehmen; diese Zwecke integriert es jedoch lediglich in den bereits fungierenden eigenen Entwurf seiner Freiheit. Aus der Sicht von Levinas bleiben beide Entwürfe grundlos; eine Grundlosigkeit, die erst durch die Einsetzung der Freiheit durch die Ansprüche des Anderen aufgehoben werden könnte. Um diese Differenz weiter aufzuklären und auch die metaphorische Rede von einer ‚Einsetzung‘ der Freiheit sowie von einem ‚Getragensein‘ der Freiheit durch die Ansprüche der Anderen zu konkretisieren, erscheint es sinnvoll, auf den bereits bei Heidegger und Sartre bedeutsamen Begriff der Faktizität einzugehen. Dass zum Sein des Daseins Faktizität gehört, impliziert bei Heidegger, dass der Entwurf des Daseins sich nicht gleichsam aus dem Nichts vollzieht. Dasein ist, so Heidegger, „kein freischwebendes Sichentwerfen“.83 „Existenz (Entwurf )“ und „Faktizität (Geworfenheit)“ gehören untrennbar zusammen,84 was bei Heidegger zugleich eine wesentlich zeitliche Bedeutung hat: „Der primäre existenziale Sinn der Faktizität liegt in der Gewesenheit.“85 Dasein entwirft sich auf eine Zukunft hin und entnimmt den Gehalt dieses Entwurfs seiner Gewesenheit beziehungsweise den sich aus dieser heraus eröffnenden Möglichkeiten. Es gehört damit zur Existenzweise des Daseins, dass es permanent zu den sich in seiner Faktizität eröffnenden Möglichkeiten Stellung beziehen muss, indem es sie ablehnt oder sie sich in verwandelter Form aneignet und realisiert. In einem Heidegger fremden Vokabular könnten wir sagen, die Faktizität liefert dem Entwurf sein ‚Material‘. Die Faktizität des Daseins ist jedoch mit etwas verbunden, das man als Trägheit bezeichnen könnte. Mit der Situiertheit des Daseins in einer Welt und unter Anderen geht in ihm die Tendenz zu einer Trägheit einher, sich die Gestalt seines Entwurfs von der Welt vorgeben zu lassen, was ihm seine eigentliche Existenzmöglichkeit verschließt und verdeckt: „Zur Faktizität des Daseins gehören Verschlossenheit und Verdecktheit.“86 Dieses Trägheitsmoment macht deutlich, dass das Dasein zwar auch im eigentlichen Entwurf seine Möglichkeiten aus seiner Faktizität schöpft, sich dabei jedoch vielmehr von den Vorgaben seiner Faktizität abstößt, um seine Eigentlichkeit zu finden. Im Kampf gegen das Man schöpft das Dasein aus seiner Faktizität, nur um sich in seinem Entwurf umso deutlicher von deren Zwängen zu lösen. Sartre übernimmt von Heidegger den Grundgedanken einer Faktizität des Daseins beziehungsweise des Für-sich.87 In seiner eigenen Terminologie formuliert er diesen Gedanken so: „Diese dauernd schwindende Kontingenz des An-sich, die das Für-sich heimsucht und es an das An-sich-sein bindet, ohne jemals fassbar zu sein, nennen wir die Faktizität des Für-sich.“88 Das Für-sich wählt zwar „den Sinn seiner
83 84 85 86 87 88
Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 276. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 284. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 328. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 222. Vgl. Sartre, L’être et le néant, a.a.O., S. 121-127 (dt. S. 173-181). Sartre, L’être et le néant, a.a.O., S. 125 (dt. S. 178).
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Situation“, nicht aber wählt es „seine Position“.89 Dass es ist sowie wo es ist und unter wem und was, wählt es nicht, wohl aber muss es sich dazu verhalten. Sartres Konzept einer individuellen Freiheit des Für-sich, welches seine Existenzweise und die dazugehörigen Werte selbst wählt und wählen muss, bedeutet hier ebenfalls keine absolute Freiheit, die aus dem Nichts einen Entwurf hervorbringt. Vielmehr ist dieser Entwurf notwendigerweise auf die Situation des Für-sich bezogen. Seine individuelle Freiheit nimmt das Für-sich jedoch als solche erst dann eigentlich wahr, wenn es sich nicht in die Unaufrichtigkeit und den Geist der Ernsthaftigkeit eines vermeintlichen An-sich-Seins der Werte flüchtet. Erst wenn das Für-sich sich nicht mehr vorgeben lässt, was es an sich vermeintlich ist und welche Werte an sich vermeintlich gelten, sondern sich von diesen Vorgaben distanziert und einen eigenen Entwurf vollzieht, existiert es wahrhaft als diejenige individuelle Freiheit, die es immer schon ist. Sowohl bei Heidegger als auch bei Sartre sind die Anderen ‚zunächst und zumeist‘ Teil dieser Faktizität, gegen deren Zwänge ich einen eigenen Entwurf allererst erobern muss, wenngleich sich dieser eigene Entwurf, wie gezeigt, keinesfalls notwendig gegen die Anderen richten muss. Bei Levinas steht es damit ganz anders. Für Levinas, und insbesondere den Levinas von Autrement qu’être, finde ich mich nicht entfremdet durch eine Faktizität, gegen die ich mich allererst abstoßen muss, um meine Freiheit zu ergreifen. Es ist vielmehr umgekehrt: Die Ansprüche der Anderen binden mein Begehren immer schon derart, dass sich meine Freiheit nur als eine Antwort auf sie zu vollziehen vermag. Die durch die Ansprüche der Anderen allererst eingesetzte Freiheit benutzt nicht das ‚Material‘ dieser Ansprüche, um ihm einen letztlich allein aus ihr selbst geschöpften Sinn zu verleihen, sondern als Freiheit ist sie in ihrem Begehren gebunden, dem Sinn in den Ansprüchen der Anderen mit einer sinnvollen Antwort zu begegnen. Diese Bindung aber ist keine Entfremdung, sondern sie nimmt der Freiheit vielmehr ihre Grundlosigkeit. Der Entwurf einer eingesetzten Freiheit ist ein antwortender Entwurf, dessen Gehalt durch den Sinn der Ansprüche zwar nicht determiniert wird, der sich aber nur als Antwort auf die Ansprüche herausbilden kann. Levinas’ Freiheitsbegriff führt auf die Konzeption eines Entwurfs, der wesentlich der Entwurf einer durch den Anderen eingesetzten Freiheit ist, während sowohl bei Heidegger als auch bei Sartre der Entwurf einer ist, welcher sich letztlich der Faktizität als eines bloßen ‚Materials‘ bedient.
89 Sartre, L’être et le néant, a.a.O., S. 126 (dt. S. 179).
LUDGER SCHWARTE
Vom Entwurf auf dem Papier zur Weltarchitektur 1. Entwerfen – Machen – Mögen Die Dinge können sich nur dann in Erfahrung bringen, wenn der Raum, in dem sie sich zeigen, sich herausstellen und auf sich hinweisen, weder allein von dem SichZeigenden geschaffen wird – denn dann würden sie uns womöglich, wie ein Großteil des Spektrums elektromagnetischer Strahlung, mangels geeigneter Sinnesorgane entgehen –, noch allein durch die Struktur der Wahrnehmung gegeben ist – denn dann würden wir ihre unausdenkliche Realität und Heterogenität stets verfehlen –, sondern wenn er die Begegnung zwischen dem zunächst Unsichtbaren, unbestimmt Erscheinenden, als das sich etwas zeigt, und den Sinnen zuerst gründet. Der Raum, in dem sich etwas zeigt, ist Produkt eines architektonischen Entwurfs. Denn die Architektur prägt mit den Strukturen der Lebenswelt die Horizonte und Modi möglicher Erfahrung. Die Architektur muss in diese Struktur der Erfahrung das Auftreten eines Unausdenklichen, Unbeherrschten einfügen. Sie muss die Gegend, die Ahnung einer Spur des Ankommenden, das Schema der Entgegnung erschließen, sodass etwas als das, was es ist, erscheinen kann, und nicht nur als das, was wir schon kennen, was wir uns wünschen oder berechnen können. Der Raum, in dem etwas als etwas Anderes, Riskantes zur Erscheinung kommen kann, löst räumliche Kontinuitäten auf, umrahmt dadurch ein Geschehen der Annäherung, hebt es hervor, und antizipiert doch zugleich ein Unheimliches, das die Möglichkeit der Universalisierung dieses Geschehens auf Distanz hält. Die Architektur erschließt damit die Möglichkeit, dass etwas so erscheint wie es ist. Innerhalb des architektonischen Entwurfs werden Möglichkeiten traditionell in Form der Potentialität gedacht. Die Potentialität (δύναμις) gestaltet die Erfahrung so, dass wir unser Vermögen als Können und dieses im Hinblick auf unsere Aktionen begreifen. Der architektonische Entwurf versetzt mich folglich in die Lage, das, was mir begegnet, nicht einfach als sinnliche Erscheinung, sondern als Objekt zu erfassen, das erkenntnisrelevante Informationen liefert. Die Potentialität versetzt mich in die Lage, etwas mit dem, was geschieht, zu tun. Dabei kann zwischen einem generischen Potential, zum Beispiel dem Vermögen zu sprechen, und einem in Abhängigkeit von geschaffenen Voraussetzungen existierenden Potential, zum Beispiel der Fähigkeit, ein Haus zu bauen, unterschieden werden. Das Potential, meinen Arm zu heben, ist mit der Aktualität verknüpft, in der ich meinen Arm nicht heben will. Auch das Potential, nicht zu bauen, ist in der Aktualität meines Bauens enthalten. Die Impotentialität zu bauen wird vom Akt des Bauens erschöpft. All dies gilt für Potentialitäten, jedoch nicht für Möglichkeiten. Wir müssen also unterscheiden zwischen zwei Arten des Entwurfs: demjenigen, der ein Können erzeugt, und demjenigen, der eine Möglichkeit hervorbringt.
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LUDGER SCHWARTE
Möglichkeiten verdichten sich in dem, was werden mag. Das „Mögen“ ist nicht identisch mit der Impotentialität oder der Kraft der Passivität, sondern geht aus dem Beliebigen hervor. Das Beliebige ist nicht das Indifferente, Massenhafte, sondern das Singuläre, Einzigartige, So-Seiende. Das, was uns anrührt, was uns stimmt, was einfach ist, ohne gemeinsame Eigenschaften aufzuweisen, kann uns in seiner scheinbaren Unmöglichkeit oder Unwirklichkeit nur dann plausibel werden, wenn wir unseren Raum sinnlicher Erfahrung darauf einstellen und es dadurch erst möglich werden lassen. Die Möglichkeit ist nicht das Vermögen, etwas in einem anderen zu bewirken, sondern vor allem das Erfassen von etwas Singulärem durch die Selbstveränderung. Im Unterschied dazu basiert die Potentialität auf der Vorstellung des Verursachens durch Handlungen und des Unverursachten dieser Handlungen selbst. Das Erleiden ist als potentia passiva die radikalste Erfahrung, die dem Dasein gegeben ist, eine Fähigkeit, so Giorgio Agamben, die nicht nur zur Potentialität fähig ist, sondern vor allem zur Impotentialität. Die Erfahrung der Freiheit koinzidiere daher mit der Erfahrung der Impotentialität.1 Für Agamben ist der Begriff der Potentialität (δύναμις) die Beschreibung dessen, was wir meinen, wenn wir ‚können‘ (potere) sagen. Potentialität ist direkt mit der Frage der Handlung verbunden: Das Potentielle ist das, was seine Impotentialität ausschöpft, indem es sie in den Akt einbringt.2 Wenn die Potentialität, nicht zu sein, originär zu aller Potentialität gehört und diese geradezu definiert, so fällt sie der Aktualität nicht zum Opfer, sondern erhält sich in ihr. Dies ist wahr für die Potentialität, hierin ist Agamben zuzustimmen; aber nicht für die Möglichkeit. Es gibt zumindest einen Sinn, in dem sich die Möglichkeit nicht nach der Handlung richtet, sondern nach dem, was geschehen oder nicht geschehen mag. Eine ganz andere Architektur zeichnet sich ab, wenn es um dieses Mögen eher denn um das Können geht. Wenn das Mögliche weder vom Akt und von der Existenz aus gedacht werden soll, noch als Illusion oder Fiktion, sondern als Mögen, als Sein-Lassen, so ist fraglich, ob dies eine „stille Kraft“ oder Energie ausmacht, und wie diese zur Geltung kommen kann. Dies ist genau das, was Heidegger hervorhebt, wenn er von dem der Möglichkeit zugrunde liegenden Mögen spricht. Agamben vernachlässigt diese entscheidende Nuance und biegt in seiner Interpretation der fraglichen Textstelle Heideggers „Mögen“ um in die Impotentialität.3 Heidegger jedoch schreibt in der Passage, auf die Agamben sich beruft, wörtlich:
1 Giorgio Agamben, Potentialities. Collected Essays in Philosophy, Stanford 1999, S. 181-183, bes. S. 182. Dieses Buch wird in einer deutschen Übersetzung von Francesca Raimondi demnächst vom Fischer Verlag, Frankfurt am Main publiziert. Ein Aufsatz daraus ist auf Deutsch bereits erschienen: Giorgio Agamben, „Über negative Potentialität“, in: Nicht(s) sagen. Strategien der Sprachabwendung im 20. Jahrhundert, hg. v. Emmanuel Alloa und Alice Lagaay, Bielefeld 2008, S. 285-298, bes. S. 289. 2 Agamben, Potentialities. Collected Essays in Philosophy, a.a.O., S. 183-184, unter Rekurs auf: Aristoteles, Metaphysik 1047 a 24-26. 3 Agamben, Potentialities. Collected Essays in Philosophy, a.a.O., S. 199- 202, bes. S. 200.
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Sich einer ‚Sache‘ oder einer ‚Person‘ in ihrem Wesen annehmen, das heißt: sie lieben: sie mögen. Dieses Mögen bedeutet, ursprünglicher gedacht: das Wesen schenken. Solches Mögen ist das eigentliche Wesen des Vermögens, das nicht nur dieses oder jenes leisten, sondern etwas in seiner Her-kunft ‚wesen‘, das heißt sein lassen kann. Das Vermögen des Mögens ist es, ‚kraft‘ dessen etwas eigentlich zu sein vermag. Dieses Vermögen ist das eigentlich ‚Mögliche‘, jenes, dessen Wesen im Mögen beruht […]. Das Sein als das Vermögend-Mögende ist das ‚Mög-liche‘. Das Sein als das Element ist die ,stille Kraft‘ des mögenden Vermögens, das heißt des Möglichen. Unsere Wörter ‚möglich‘ und ‚Möglichkeit‘ werden freilich unter der Herrschaft der ‚Logik‘ und ‚Metaphysik‘ nur gedacht im Unterschied zur ‚Wirklichkeit‘, das heißt aus einer bestimmten – der metaphysischen – Interpretation des Seins als actus und potentia, welche Unterscheidung mit der von existentia und essentia identifiziert wird. Wenn ich von der ‚stillen Kraft des Möglichen‘ spreche, meine ich nicht das possibile einer nur vorgestellten possibilitas, nicht die potentia als essentia eines actus der existentia, sondern das Sein selbst.4
In seinem Homo Sacer zeigt Agamben, dass das Problem der konstituierenden Gewalt zum Problem der ‚Konstitution der Potenz‘ wird. Die ungelöste Dialektik von konstituierender und konstituierter Gewalt soll einer neuen Form der Beziehung zwischen Potenz und Akt Platz machen. Nur eine völlig neue „Konjugation von Möglichkeit und Wirklichkeit, von Zufall und Notwendigkeit und der anderen páthè toû óntos“ werde den Knoten zu zerschneiden vermögen, den die Souveränität und konstituierende Gewalt aneinander binde. Nicht erst der (gewaltsame) Akt erzeuge die Potenz, denn diese werde schon von der Impotentialität getragen. Doch auch Agambens Begriff der Impotentialität bleibt von der traditionellen Definition des Seins als Potenz eines Aktes5 und einer entsprechenden Machtarchitektur abhängig. Das Mögen befindet sich jenseits der Unterscheidung von Aktivität und Passivität in einer Disposition, in der etwas zur Entfaltung kommt. Es entfaltet sich jenseits unserer Mittel, es herzustellen, aus seiner unbeherrschten Herkunft (Hannah Arendt würde dies wohl die Geburt nennen). Verfolgt man diesen Gedanken weiter, so wird deutlich, dass das Mögen letztlich auch nicht als Energie oder als Vermögen bezeichnet werden sollte. Heideggers Vorstellung von der Möglichkeit als „stiller Kraft“ bleibt der Idee der Macht verhaftet, mit dem Machen und dem Können der Kraft. Denn auch das Sein-Lassen ist ein Gewähren, gewissermaßen ein Akt souveräner Gnade. Radikal verstanden ist aber das Mögen kein Bewirken, kein Herstellen-Können und keine Bewegung. Das Mögen ist auch kein Lassen. Das Vermögen, etwas zur Entfaltung kommen zu lassen, das nicht gemacht werden kann, die Fähigkeit, sich (gekonnt, souverän) auf das Unverfügbare eines Ereignisses einzulassen,
4 Martin Heidegger, „Brief über den Humanismus“, in: Wegmarken, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1976 (= Gesamtausgabe. Bd. 9), S. 313-364, hier S. 316f. Zitiert bei: Agamben, Potentialities. Collected Essays in Philosophy, a.a.O., S. 199f. 5 Giorgio Agamben, Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt am Main 2002, S. 58.
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muss unterschieden werden vom Mögen. Denn das Mögen entsteht in der Interaktion als (ungewollte, unplanbare) Selbstveränderung, als ἄρχειν. Herrschaft, auch gnädige, basiert auf dem Können. Die herrschende politische Ordnung basiert nicht nur auf Technologien der Disposition über Handlungen und Dinge als allgemeinen Formen konkreter Bezugnahme, sondern auf der technischen Implementierung von Gleichheit. Eine solche Architektur der Macht stellt aus Heideggers Sicht einen letzten Schritt in der Unterwerfung der Welt durch den Menschen dar. In einem solchen Zustand würde jedwedes Mögen undenkbar. Heidegger zufolge entwickelt der Mensch in dieser letzten Phase vor allem Techniken der Selbstbeherrschung. Diese Techniken wiederholen allerdings immer nur das Gleichartige, das Gleiche, das Selbe, nicht das Selbst, nicht das Authentische. Jeder Entwurf bleibt Wiederholung des Selben, des Normalen, des gesetzlich Gewollten. Die Architektur entwirft mit dieser Gleichheit eine machtbasierte Gemeinschaft. Heidegger definiert Gemeinschaft, τὸ κοινόν, als „Zu Gang“,6 womit mehr und anderes gemeint ist als die Zugänglichkeit des Individuums für die Macht. Gemeinschaften sind technologisch implementierte und dann internalisierte Systeme des Zugangs. In der Gemeinschaft ermächtigen wir andere, uns als Objekte zu behandeln, die eine Ordnung stützen, um somit technisch das Ergebnis zu kontrollieren: Recht und Ordnung sind das Ergebnis dieser Gemeinschaftstechnologie, die jede Rechtfertigung und jede Opposition ausschließt: [Macht] ist das sich ausbildende Vermögen des plötzlichen Losbrechens in die beliebige und doch berechnete Niederhaltung und Vernichtung. Dazu bedarf die Macht einer uneinschränkbaren Wandlungsfähigkeit und der Zurückweisung jedes Anspruchs auf Rechtfertigung [...]. [Ruhe und Ordnung] dienen nur dazu, um das letzte Gegenüber zur Macht noch unter diese zu zwingen. Mit dem Verschwinden jedes Gegenüber ist der Raum beseitigt, aus dem überhaupt ein der Macht fremder Anspruch an sie sich gegen sie erheben könnte. Die Macht ersetzt jede Rechtsmöglichkeit durch die unbedingte Ermächtigung ihrer selbst. Die Rechtfertigung der Macht braucht nicht einmal mehr zurückgewiesen zu werden; die Macht hat ihr jeden ‚Sinn‘ genommen. Denn ‚Recht‘ ist jetzt der Titel für in einer Machtverteilung gewährte Forderungen und benötigte ‚Freiheiten‘ [...]. Die Machbarkeit besteht darin, daß das Seiende plan- und berechenbar und als so Vorgestelltes jederzeit herstellbar bleibt. Die Machsamkeit des Seienden gibt die Vorbedingung für die jederzeitige, beliebige und allem Verhandeln entzogene Einsetzbarkeit der Menschen eines entsprechenden Menschentums, dem jede Besinnung lediglich noch als Fehlleistung gelten kann. Zu solcher Einsetzbarkeit gehört die Ersetzbarkeit eines Jeden durch Jeden; das Menschentum erhält durch die Machsamkeit des Seienden, d. h. durch die Ermächtigung der Macht zum Sein des Seienden, das Gepräge des ‚Menschenmaterials‘ [...], das beliebig verschickt werden kann. Nicht der Einsatz des Menschen macht das Seiende machbar, sondern die aus dem Wesen der Macht geforderte Machsamkeit zwingt alles Verhalten zum Seienden in die ‚Einsatzbereitschaft‘.7
6 Martin Heidegger, „ τὸ κοινόν . Zu Gang“, in: Die Geschichte des Seyns, hg. v. Peter Trawny, Frankfurt am Main 1998 (= Gesamtausgabe. Bd. 69), S. 45. 7 Vgl. Heidegger, Die Geschichte des Seyns, a.a.O., S. 184f.
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Die Macht errichtet einen Raum der Übermacht, in dem jedes grundsätzliche Nachdenken, jedes Handeln und Ersinnen undenkbar wird. Entsprechend gibt es keine neuen Entwürfe, sondern nur Konstruktionen entlang der Vorgaben dieser Macht: „[Das Konstruktive] muß der Macht botmäßig werden samt den Bauenden, die nur mit Gerüsten spielen dürfen, ohne jemals Gründer zu sein.“8 Die Kontingenz dieser Macht wird durch die Produktion historischer Bilder dissimuliert, das heißt durch die Reproduktion des Selben. Eine solche Wiederholung ist Heideggers Analyse zufolge der grundlegende Vorgang der Konzeptualisierung und Technisierung.9 Eine Okkurrenz, ein Vorkommnis, ein Fall, eine Möglichkeit wird dabei zugleich idealisiert und als dominante Regel festgeschrieben. Was immer geschehen mag, wird nun durch ein Muster der Nachfolge vorherbestimmt, das wir als notwendig für das rationale Verstehen postulieren. Die Repräsentation eines Begriffes basiert auf einer vergangenen Erfahrung als idealer oder als natürlicher Rahmen der Referenz, der es erlaubt, etwas als Einzelfall eines Typs aufzufassen. Repräsentation etabliert und erhält einen eigenen Typus von Gegenwart, der durch Folgebeziehungen als Fluss und Stabilität gekennzeichnet ist. Wenn wir etwas begreifen, so sind wir Subjekt dieser Präsenz, und das Ding, das wir zu begreifen versuchen, erscheint nur in den Parametern der Repräsentation als relevant für unser Urteil, das heißt als ein Gegenstand in dieser Gegenwart. Die Wirklichkeit dieser historischen Bilder kontrolliert die Gegenwart. Ihre Funktion besteht nicht zuletzt darin, die Wichtigkeit der Macht herauszustellen.10 Das Publikum dieser Bilder wird in einem Zustand der Konfusion gehalten über die Kontingenzen von Kontrolle und Macht, die jede Entscheidung unterminieren könnten. Die Indifferenz dieses Publikums der Repräsentation lässt nur die Wiederholungen des Selben zur Geltung kommen. „[D]ie unbedingte Gleichgültigkeit ermöglicht die Zulassung von allem.“11 Und doch, so merkt Heidegger an, je weniger Widerstand dieses Publikum der Ausübung der Macht entgegen setzt, je indifferenter es wird, desto eher besiegt es die Macht.12 Die Legitimation der politischen Macht ist daher eine Frage der Propaganda. Die Tatsache, dass Gemeinschaften auf der Vergrößerung der Macht gründen, macht kriegerische Zustände unausweichlich, Heidegger spricht sogar von einem Totalen Krieg gegen die Bürger wie auch gegen andere Gemeinschaften als Zustand der Ordnung, denn nur die Expansion technischer Macht ersetzt den „Raum der Konfrontation“, in dem die Schwierigkeiten der Legitimation überhaupt erst entstehen könnten, den Raum der debattierfähigen Gerechtigkeit. So entsteht ein „‚Raum‘ des ‚Politischen‘“,13 in dem Planung und Administration möglich wird, 8 Heidegger, Die Geschichte des Seyns, a.a.O., S. 64. 9 Heidegger gebraucht hier andere Ausdrücke. Siehe bspw. Heidegger, Die Geschichte des Seyns, a.a.O., S. 22, S. 26, S. 81f. 10 Vgl. Heidegger, Die Geschichte des Seyns, a.a.O., S. 67. 11 Heidegger, Die Geschichte des Seyns, a.a.O., S. 84. 12 Vgl. Heidegger, Die Geschichte des Seyns, a.a.O., S. 84. 13 „Raum des Politischen“ im Kontrast zur „Politik“ als abgesondertem Bezirk menschlichen Tuns. Heidegger, Die Geschichte des Seyns, a.a.O., S. 188.
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weil Zustimmung und Entscheidung der Alternative von Kapitulation oder Vernichtung gleichkommt. Alle historischen Formen der Regierung, schreibt Heidegger, autoritär oder demokratisch, seien darin identisch, dass das Maß der Ruhe und der Ordnung des Realen ein Ideal darstelle.14 So liege es in der Idee der Demokratie, das Volk als Quelle der Macht zu statuieren und zugleich ruhig zu stellen. Heidegger nennt dies den demokratischen Schein, denn das Volk, das hier in Frage steht, ist nur insofern Volk, als andere Menschen es regieren. Das Regiertwerden definiert das Volk in der Demokratie. Volk ist, wer nicht regiert. Der Diktator ist nicht nur unter dem Druck der Gegenmacht des Volkes, noch mehr aber vom Ideal der „Machtvollkommenheit“ getrieben. Formen von Regierung sind nur möglich durch eine Macht, die alles einsammelt und versammelt unter die Verfügungsgewalt, die beständig ausgeweitet werden muss, um die Einheit zu wahren. Regierungsformen müssen eine Uniformität kreieren und dürfen keine Ausnahmen zulassen.15 Diese Uniformität des Zugangs verlangt eine architektonische Basis der kommunalen Macht. Die technische Ermächtigung führt, so Heidegger, unweigerlich zum Kommunismus. Kommunismus ist die Richtung der Moderne, nicht aufgrund der historischen Form der kommunistischen Politik, sondern aufgrund der technologischen Konstitution dessen, was als Welt zählt, und einer entsprechenden Subjektivität. In dieser Weltbegründung durch „Vor-Stellung“ kann Imagination und Intelligenz durch spezialistisches Engineering ersetzt werden. Auch wenn die technisch vergemeinschafteten Menschen dadurch Zugang zu vordem exklusiven, bürgerlichen Bedürfnissen erhalten, wie Klassenbewusstsein, Mitgliedschaft in einer Partei, Erhöhung des Lebensstils, Unterstützung des Fortschritts, Erschaffung von Kulturellem,16 so verstärkt die Magie dieser Werte nur die Uniformität der vergesellschafteten Menschen. Die Spezialisten und Experten des Regierens jedoch sind nicht im Besitz der Macht, sondern nur Funktionäre eines Entwurfsschemas; sie funktionieren innerhalb der Macht, indem sie diese verwalten. Diese Wenigen werden von der Angst zusammen gehalten, dass ihre Macht sich nicht noch weiter steigern lässt und daher zu einem Ende kommen muss.17 Weil der Kommunismus der modernen Zeiten aber nur dann funktioniert, wenn die Macht im Sinne des Könnens stetig gesteigert wird, so muss die Verwaltungs- und Steuerungsposition ergänzt werden durch eine repräsentative Position, von der aus die Öffentlichkeit dieser Macht durch die Steigerung der Selbigkeit generiert wird. Die Repräsentanten, die auf dieser Position agieren, Politiker oder kulturelle Helden, vereinigen das Volk im Bannkreis der Wirksamkeit eines Machtsystems. Die Macht installiert sich selbst 14 „Maßstab der Beruhigung und der Ordnung des ‚Wirklichen‘ und damit seiner Umgestaltung“. Heidegger, Die Geschichte des Seyns, a.a.O., S. 189. 15 Die „unbedingte Ermächtigung der Macht“ stößt daher „die Machthaber rücksichtslos in die Unauffälligkeit“ und untergräbt auch die Diktatur. Heidegger, Die Geschichte des Seyns, a.a.O., S. 190. 16 Heidegger, Die Geschichte des Seyns, a.a.O., S. 193. 17 Heidegger, Die Geschichte des Seyns, a.a.O., S. 194.
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im kollektiven Körper dadurch, dass sie eine Wirklichkeit als Notwendigkeit in den Vorstellungen verankert. Die Menschen sehen die Bedingungen der Macht als Notwendigkeit. So gewöhnen sich die Menschen auch an den Krieg, an die Verwüstung, die das Ziel jeder technischen Ermächtigung ist, weil sie wirkliche Entscheidungen unterminiert.18 Als eine Gegenhandlung schlägt Heidegger das Zögern, die Verweigerung, die Entmachtung und Enteignung vor.19 Dies bedeutet: Ein Überwinden der Verwüstung durch die Zerstörung der Furcht und der Uniformität. Ein Absprung, der zur Entscheidung, zur Gründung befähigt: „Entgegnung als Befreiung des Strittigen.“20 Diese „Aussparung des Inzwischen“21 verfügt über den Reichtum des Eigentümlichen. Die Dinge geschehen darin, ereignen sich. Das Sein-Lassen der Dinge in ihrer eigenen, ganzen Qualität und Fragwürdigkeit setzt „Entwürfe des Seins des Seienden aus der Werfung des Seins selbst“ voraus.22 Heidegger nennt dies die Freiheit des Eigentums, Eigentum – hier klingt Max Stirners Vokabular an – verstanden als die Lichtung des Verborgenen, als Ereignis.23 Ähnlich seinem Begriff des Mögens bleibt dieser entgegnende Entwurf eine Variante des Könnens, der Konstruktion. Mit seinen Überlegungen zur Destruktion als Entwurf will Heidegger nicht zu einem Naturzustand zurück, sondern zu einem anderen Anfang, einer anderen Weise, Freiheit und Technik innerhalb der Kunst zu denken. Anstatt also Konstrukteure oder Ingenieure der ewigen Ausdehnung der Selbstbeherrschung zu sein, sollten wir „Gründer“ werden:24 „Kreis und Einsprung so, daß dem vollen Wesen im Voraus die Freiheit gewährt und die Unterstellung des Denkens notwendig wird.“25 Ob wir dem technischen Kommunismus durch künstlerische Gründungsereignisse entgehen? Dieses impliziert ein anderes Kunstverständnis als dasjenige, was auf der Repräsentation aufbaut. Aber es bleibt gekoppelt an die souveräne Geste, an das Können, an die Macht, auch dort, wo sie die Ohnmacht oder das Reservat des Eigentümlichen ins Recht zu setzen vermeint. Um jenseits der Machtmetaphysik zu verstehen, wie das Mögliche ermöglicht wird, müssen wir einen anarchischen Sinn für Architektur als das ermöglichende Ergründen von Anfängen entwickeln. Es ist ein Verfahren des Entwerfens, das nicht auf das Ermächtigen abzielt, sondern auf ein Ermöglichen. Das Verfahren besteht zunächst im Aufspüren von Kontingenzen, wo zuvor nur Notwendigkeiten und Sachzwänge das Denken konditionierten. Der öffentliche Raum beispielsweise ist die anarchische Konstruktion von derartigen Spielräumen. Die Architektur des 18 Heidegger, Die Geschichte des Seyns, a.a.O. S. 48. 19 Heidegger, Die Geschichte des Seyns, a.a.O., S. 119 (Zu „Zögern“ Vgl. S. 58, zu „Verarmung“ Vgl. S. 123). 20 Heidegger, Die Geschichte des Seyns, a.a.O., S. 124. 21 Heidegger, Die Geschichte des Seyns, a.a.O., S. 125 22 Heidegger, Die Geschichte des Seyns, a.a.O., S. 152. 23 Heidegger, Die Geschichte des Seyns, a.a.O., S. 125, S. 170. 24 Heidegger, Die Geschichte des Seyns, a.a.O., S. 64. 25 Heidegger, Die Geschichte des Seyns, a.a.O., S. 170.
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öffentlichen Raumes, in dem etwas Beliebiges zum Vorschein kommt, ist die Ermöglichung des Mögens. Wie werden Möglichkeiten entworfen? Und wie werden sie ermöglicht? Ich werde versuchen, diese Fragen in drei Schritten zu beantworten: 1.) Möglichkeiten als geistige Projektion, 2.) Möglichkeiten als Metaphern und 3.) Möglichkeiten als Zwischenwelten.
2. Papierarchitektur Der erste Schritt eines solchen Entwurfes von Möglichkeiten ist die Verabschiedung von allem, was bislang als gesichert, als gültig, als wirklich galt; zugleich ein Erspüren dessen, was bislang aus der Struktur der Wirklichkeit ausgeschlossen war. Dieser fundamentale Entwurfsschritt folgt der Intuition.26 Dabei bleibt der Entwurf jedoch nicht stehen; in ihn gehen sodann konstruktive Elemente ein. Es gibt vielfältige Dinge, die bloß möglich sind, weil sie aus einer intellektuellen Konstruktion hervorgehen. Das Wolkenkuckucksheim ist eine solche Konstruktion. Auch als sorgfältige Planungen nehmen derartige Entwürfe ihren Ausgang in der Imagination, in flüchtigen Strichen des Zeichenstiftes, Tagträumen oder einem theoretisch unterfütterten Stochern im Stoff der realen Welt. So sind die Entwürfe einer Papierarchitektur auch von der Praxis des Zeichnens, vom Umgang mit dem Papier geleitet. Die Hand lernt es, in der Zeichnung, die Umrisse, Konturen und Profile eines darzustellenden Gegenstandes zu unterstreichen. Der Zeichenstift ist allerdings nicht nur in der Lage, Linien zu ziehen. Vor allem vermag er es, Punkte zu setzen. Der Stift, der alle möglichen Welten, Häuser, Maschinen entwirft, ist quasi am Nullpunkt aller Instrumente. Leonardo sagte, das Zeichnen sei nicht mehr als das Bewegen eines Punktes.27 Der Zeichenstift drückt einen Punkt auf dem Blatt ein und lässt dabei aufgrund der Bewegung eine Linie zurück. Oft dehnen sich diese Punkte zu formlosen Flecken, die den Geist zu irgendeinem Einfall anregen sollen. Neben Fleck, Punkt und Linie waren andere Möglichkeiten der Zeichnung für das Florieren dieser Art von Bildgebung vielleicht entscheidender, wie zum Beispiel die Schraffur und die Arbeit mit verschiedenen Stiften (Kohle, Rötel etc.). Doch in jeder Zeichnung vollzieht sich ein Übergang zwischen Einkerbung, Einzeichnung und Einschreibung. Jeder Fleck, jede Durchlöcherung der Zeichenoberfläche enthält eine Geste zur Figuration eines Anderen, das weder eingezeichnet noch eingeschrieben wurde. Diese Figuration eines anderen Seins wird jedoch bei der Ausformulierung der Zeichnung unweigerlich angeglichen und eingebunden. Sobald die Hand die Punkte und Linien souverän auf das Papier setzt, kann sie auf der Basis des Realen, schon Gesehenen, ein Imaginäres, bloß Vorgestelltes kon26 Siehe hierzu ausführlicher: Ludger Schwarte, Die Regeln der Intuition. Kunstphilosophie nach Adorno, Heidegger und Wittgenstein, München 2000. 27 Vgl. Leonardo da Vinci, Libro di pittura, hg. v. Carlo Pedretti, Florenz 1995, § 3 und § 31c.
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struieren. Derartige Skizzen enthalten verschiedene Komponenten, zum Beispiel: 1. ein Inventarium individueller Akteure; 2. eine Beschreibung der absoluten und der dispositionalen Eigenschaften des Wirklichen; 3. eine Spezifizierung der Veränderungsregeln dieser dispositionalen Eigenschaften. Auf der Grundlage einer solchen Skizze, die aus Realem abgeleitet ist, lassen sich nun kombinatorische Variationen entwickeln. Das Tatsächliche dehnt sich in das Mögliche hinein durch Suppositionen, Assumptionen und dergleichen. Dabei bleibt der Möglichkeitsgrad anhand der ins Spiel gebrachten Variablen bestimmbar. Alle diejenigen Alternativen, bei denen die Naturgesetze oder Dispositionsregeln nicht als invariant angesehen werden, gelten nicht als rationale Konstruktionen, sind aber nichtsdestoweniger intellektuelle Möglichkeiten. Aus allen denkbaren Kombinationen lassen sich drei Fälle ausmachen, bei denen eine genuin neue Weltsicht auf der Basis des Tatsächlichen konstruiert wird: a) Indem man die unrealisierten Möglichkeiten entfaltet, die in der aktuellen Disposition der Dinge liegen („Alle Gletscher schmelzen.“), b) die spekulative kontrafaktische Möglichkeit, die gänzlich hypothetische Änderungen in den Eigenschaften tatsächlicher Dinge involvieren, unabhängig von ihren operativen Dispositionen („Ich könnte jetzt in der Sonne sitzen, sitze aber im Regen.“), und c) rein hypothetische oder fiktive Möglichkeiten („Jetzt könnte ein unsichtbarer Dinosaurier hier im Raum sein.“). Auf diesen Imaginationsebenen werden Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Dingen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft durcheinander gemischt. In dieser Weise kann man auf der Basis eines aus der Realität abgeleiteten ontologischen Rahmens darstellbare oder aber nur vorstellbare Konstruktionen entwerfen. Es gibt für diese Imaginationswelten zumindest zwei Grenzen: das Tatsächliche auf der einen Seite und die logische Ordnung auf der anderen. Beide sind kontingent und miteinander verflochten, insofern das Sagbare nicht nur bestimmt, was als möglich gilt, sondern auch, was als Sachverhalt ausgedrückt werden kann. Über die Bedeutungsebene ist andererseits das Sagbare vom Tatsächlichen abhängig. Man kann reale Möglichkeiten von fiktiven Möglichkeiten unterscheiden, beide jedoch beruhen auf Praktiken der Invention. Viele Möglichkeiten können auf die funktionale Möglichkeit mentaler Entwurfsoperationen zurückgeführt werden.28 Doch die ihnen zugrunde liegenden logischen Kombinationsoperationen und Techniken der Negation bleiben abhängig vom Gebrauch der Sinne, vom Feststellen von Invarianten, von Medien des Aufzeichnens und Entwerfens, von der Sprache und der Schrift, von Bildgebungsverfahren, von Dispositiven der Manifestation, d.h. von dem ganzen Apparat einer Papierarchitektur,29 die den Kosmos des Imaginären ausdehnt und die Relevanz von Imaginationen herstellt.
28 Vgl. Nicholas Rescher, A theory of possibility. A Constructivistic and Conceptualistic Account of Possible Individuals and Possible Worlds, London 1975, S. 217. 29 Vgl. hierzu: Barbara Wittmann, „Papierobjekte. Die Zeichnung als Instrument des Entwurfs“, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 1 (2012), S. 135-150; dies., Welten schaffen. Zeichnen und Schreiben als Verfahren der Konstruktion, hg. v. Jutta Voorhoeve, Zürich 2011.
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3. Modell und Metaphernarchitektur Skizzen sind hypothetische Gebilde, deren Bedingungen die Grenzen der Imagination und das System der Schrift sind. Modelle hingegen sind Schnittpunkte des Imaginären und des Realen, sie sind Vorbilder und Maßstäbe des Wirklichen, weil sie selbst sich ähnlichen Bedingungen der Realisierbarkeit stellen wie das von ihnen Imaginierte. Das Theater als Wahrnehmungsmodell beispielsweise soll einerseits die Bedingungen des Sehens veranschaulichen; andererseits ist es selbst als ideale Wahrnehmungssituation Ausgangspunkt realer Wahrnehmungsvollzüge. Die Arbeit an einem Modell ist der Versuch, ein Konzept auf seine Anwendbarkeit hin zu befragen. Ein Konzept zu visualisieren, einen Entwurfsgedanken prüfbar zu machen und Kriterien der Evaluation festzulegen heißt, den Entwurf zur Grundlage von Wahrnehmungsvollzügen zu machen. Dementgegen versucht die architektonische Metapher, zumindest partiell die Parameter, nach denen eine solche Überprüfung erfolgen könnte, aufzusprengen. Dies geschieht beispielsweise durch eine überraschende, wenn nicht kontradiktorische Zusammenstellung. Der Entwurf einer architektonischen Metapher eröffnet neue Möglichkeiten, indem er durch das Nebeneinanderstellen des Ungewöhnlichen alte Erfahrungsund Bedeutungswelten zuschüttet und bestimmte Ausdrucksvarianten verunmöglicht. Architektonische Metaphern sind Ausdrucksvarianten und Verhaltensweisen, die auch zur Ironie, zur Parodie, zum Sarkasmus und zur Transgression in der Lage sind. Doch selbst diejenigen baulichen Interventionen, die hier als Metaphern aufzufassen sind, können nicht erschöpfend nach dem Muster von Äußerungen in einem bereits vorausgesetzten sozialen Kontext verstanden werden. Denn als Architekturen spielen sie eine wesentliche Rolle in der Hervorbringung, Gestaltung und Bewahrung dieser weiteren Kontexte, sie bringen die Orte hervor, an denen wir leben, sie arbeiten an den Grundlagen dessen, was als Existenz und was als Leben gilt, sie operieren jedoch auch in den Zwischenräumen des Sozialen, jenseits der Techniken der Bedeutungszuordnung. Architekturen können aufgrund ihrer Bedeutungsebene als metaphorische Operationen erlebt werden, doch bilden sie insgesamt, noch vor aller Symbolwirkung, die Möglichkeiten des Wirkens und Existierens, des Wahrnehmens und Erlebens überhaupt erst aus; sie wirken erst metaphorisch auf der Ebene der Infrastruktur, die jede Bedeutungszuweisung stets voraussetzen muss.
4. Weltarchitektur Wie lässt sich die Welt, in der wir leben, ändern? Architektonische Entwurfsarten und Bauweisen ebenso wie die Logik der Kombination, das Reservoir der sprachlichen Operationen (inklusive Metaphern, Ironie, Parodie etc.), sowie die Muster der Performation ändern sich nicht zuletzt deshalb, weil die Akteure ebenso wie ihre Handlungsweisen eingebunden sind in das Erschließen ihrer Umwelt, in die
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Organisation und Artikulation ihres Körpers, wie auch in das Sich-Ändern ihrer Denkmöglichkeiten. Der Entwurf von Grundlagen, Konstruktion und Modifikation von Stabilem und Variablem, von Gründen, Massierungen, Friktionszonen und Oberflächen ist zuerst eine Weise des Verlassens, eine Weise des Sein-Lassens, bevor es eine Technik zur Bestimmung von Formen, ein Können, wird.30 Architektur betrifft die Begegnungsstätte mit Qualitäten und Kräften, mit Eigenarten und Gestalten des Materiellen eher als das Errichten von freistehenden Objekten; sie ergründet Räume der Erscheinung eher als Orte der Aneignung. Doch auch Heideggers Sein-Lassen bleibt eine Variante des Agierens und Veränderns, eine architektonische Immersion. Sie ermöglicht das Ins-Verhältnis-Setzen zwischen einer symbolischen Topologie einerseits und dem Plasma des Geschehens (Okkurrenz) andererseits, eine Kontaktfläche zwischen Struktur und Schema. Die Dimensionen des Messens, des Denkens, des Artikulierens, die Varianten des SichEreignens, des Werdens und der Intensitäten sind im Horizont dieses Lassens immer noch abhängig von den historisch dominanten Konzepten des Raums und der Zeit. Diese Begriffe sind ihrerseits von der frontalisierten Progression unseres Körpers durch den Tiefenraum geprägt. In dieser Weise leitet Maurice Merleau-Ponty bekanntlich Raum, Zeit und Körperorganisation vom Körperschema ab, genauer, von den Strukturen des sich bewegenden und wahrnehmenden Leibes. Er beschreibt das Körperschema als unsichtbaren Vorraum, dessen motorische Strukturen das äußere Präsenzfeld und den Radius der Wahrnehmung bestimmen. Weil „alles, was ist“ nur auf diesem Körperraum erscheint, ist es selbst leer.31 Das kinästhetische Schema verräumlicht die Integrität von Sensation, Objekt und Dauer in Situationen, nicht in einem abstrakten geometrischen Feld.32 Weil die Wahrnehmung als organische Operation sowohl die Grundlage symbolischer Operationen als auch mathematischer und physikalischer Beschreibungen bildet, richtet sich Merleau-Pontys Theorie gegen die Auffassung von Zeit und Raum als abstrakten, regulatorischen oder natürlichen Kategorien: „Der Körper bewohnt Zeit und Raum.“33 Die körperliche Raumgestaltung objektiviert Transpositionen, Äquivalenzen und Identitäten. Diese Objektivation, so erklärt Merleau-Ponty, geht dabei durch eine Art Konsekration vor: Vom Körperschema aus wirft jede Bewegung ein Netz von affektiven Vektoren, ein Raum des Ausdrucks, der die Quellen von Sensationen offenbart.34 30 Heidegger selbst nennt die Gelassenheit zu den Dingen auch die Möglichkeit des Aufenthaltes in der Welt. Martin Heidegger, Gelassenheit, Pfullingen 1959, S. 24. 31 Maurice Merleau-Ponty, Phénoménologie de la Perception, Paris 1945, S. 108f. 32 Merleau-Ponty, Phénoménologie de la Perception, a.a.O., S. 116f. 33 Merleau-Ponty, Phénoménologie de la Perception, a.a.O., S. S. 162. 34 Merleau-Ponty bezieht sich mit diesem Modell auf die Konsekration des antiken Tempels, worin das griechische Verb τέμνειν anklingt, jenes Auswerfen des Raum-Zeit-Radius, von dem auch Heidegger gesprochen hat. Merleau-Ponty, Phénoménologie de la Perception, a.a.O., S. 170; Martin Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“, in: Holzwege, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herr-
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Die so produzierte Wirklichkeit ist nichts anderes als eine Gewohnheit, das Wohnen des Körpers in der Welt. Die Instanzen werden umso wirklicher (realer, effektiver), je mehr sie innerviert und verinnerlicht werden. Gegen den Idealismus und den Empirismus hält Merleau-Ponty dafür, dass die Grundlage des Sinnes zwischen dem Geist und der Welt eine Art auto-generischer Un-Sinn ist – ein sich in sein eigenes affektives Netz einspinnender Körper. Dieses Sich-auf-sich-selbstEinlassen führt Merleau-Ponty dazu, den Leib mit einem Kunstwerk zu vergleichen, denn beide seien „Knotenpunkte von Raum-Zeit-Relationen und keine Objekte.“35 Die Zivilisation ist entsprechend ein Produkt wiederholter Entwürfe, sie richtet sich an einer Invention der Gesten aus, nicht an einer unumstößlichen Wirklichkeit. Deshalb resümiert Merleau-Ponty, das Ich sei kein „Loch im Sein“, sondern eine Falte,36 eine Verknüpfung von möglicher Kontinuität. In dieser phänomenologischen Sicht, die den Horizont des Möglichen auf die Selbstentfaltung des Körpers stützt, projizieren die verschiedenen Sinnesorgane eine Vielheit von Räumen. Der Körper staffelt und integriert in seiner Gewohnheit die akustischen, visuellen, olfaktorischen, taktilen etc. Räume. In einer Passage seines Textes, in der Merleau-Ponty zwischen den verschiedenen Raumsinnen unterscheidet, erwähnt er darüber hinaus auch einen gebauten Außenraum, eine Halle, die als Rahmen und Fügung all der verschiedenen Raumerfahrungen in Frage kommt.37 Dies legt die Vermutung nahe, dass es also nicht nur das Körperschema ist, sondern auch die Architektur, die die Schnittstelle verschiedener Räume ausprägt. Doch auch in seiner späteren Arbeit, in der er der Verflechtung der Wahrnehmung mit der umgebenden Welt durch den Begriff des Fleisches (chair) auf die Spur zu kommen versucht, ist das Fleisch, das heißt die unsichtbare Struktur, aus der sowohl der wahrnehmende Körper als auch die wahrgenommenen Körper emergieren und innerhalb derer sie einander (im Blicken, im Hören, im Fühlen) berühren, merkwürdig apriorisch angelegt; ohne Rücksicht auf die zugrunde liegende Architektur. Der Wahrnehmungsvorgang ist hier ein wechselseitiges Abtasten und Aufnehmen. Diese Verflochtenheit und Gegenseitigkeit des Wahrnehmungsvorganges nennt Merleau-Ponty „Chiasmus“: Ich nehme sowohl die Tatsache wahr, dass ich berühre, wie auch die Tatsache, dass ich von dem berührt werde, dass ich wahrnehme. Merleau-Ponty vernachlässigt dabei jedoch eigentümlicherweise die äußeren Bedingungen der Wahrnehmung: Seinem Blick entgeht gewissermaßen die ‚Haut‘, die die Unsichtbarkeit des Sichtbaren in ein Wahrnehmungsfeld transformiert und mann, Frankfurt am Main 1977 (= Gesamtausgabe. Bd. 5), S. 1-74; Martin Heidegger, „Wozu Dichter?“, in: Holzwege, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1977 (= Gesamtausgabe. Bd. 5), S. 269-320, hier S. 286; Vgl. auch Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, hg. v. Petra Jaeger, Frankfurt am Main 1983 (= Gesamtausgabe. Bd. 40), S. 153, S. 200. 35 Merleau-Ponty, Phénoménologie de la Perception, a.a.O., S. 177. 36 Merleau-Ponty, Phénoménologie de la Perception, a.a.O., S. 249. 37 Merleau-Ponty, Phénoménologie de la Perception, a.a.O., S. 256f.
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die Knotenpunkte verknüpft, an denen der Wahrnehmungsvorgang innerhalb des ‚Fleisches‘ stattfindet. Architektur ist nicht notwendigerweise das äußere Skelett des Leibes, Struktur und Instrument seiner Vermögen. Bevor sie in dieser Weise angeeignet wird, ist sie die Zwischenwelt, der wir die Erfahrung von etwas Unbestimmtem, Fremdem und Äußeren verdanken.38 Diese Architektur, in der sich etwas zeigen kann, führt nicht zwangsläufig zu einem Können, zu einer Technologie der Macht. Das Neue, das Überraschende, das Schockierende, das Verführerische lässt sich nur dort erfahren, wo sich der architektonische Entwurf auf die Selbstveränderung einlässt.
38 In dem postum erschienenen Buch Le visible et l’invisible wird der äußeren Disposition, die für die Sichtbarkeit notwendig ist, kein zureichender theoretischer Stellenwert eingeräumt. Stattdessen wird auch dort der Körper in die Position von Husserls transzendentalem Ego und Bergsons Intuition gerückt. Aber dieser Körper ist in seinen Akten auch das Produkt äußerer Anreize. Bewegungsräume und soziale Milieus produzieren seine Grenzen und Membrane in erheblichem Maße. Von diesen Räumen können ebenso wie vom Klima, von Atmosphären, von sich ändernden Umweltbedingungen Sensationen ausgelöst werden, die das Körperschema zu programmieren vermögen.
ALAIN BADIOU
Zeichnung1 1. Ich beabsichtige, eine sehr allgemeine Definition der Künste vorzuschlagen, insbesondere der zeitgenössischen, und danach eine kurze Definition der Zeichnung. Inspiriert sind diese Definitionen durch ein sehr schönes und sogar fundamentales Gedicht von dem amerikanischen Dichter Wallace Stevens. Das Gedicht trägt den Titel: „Beschreibung ohne Ort“.2 Sehr einfach und knapp formuliert könnte ich sagen: Das ist meine Definition von Kunst. Jedes Kunstwerk, insbesondere jedes heutige Kunstwerk, ist eine Beschreibung ohne Ort. Eine Installation zum Beispiel ist die Beschreibung einer Gruppe von Dingen außerhalb ihres normalen Orts und außerhalb der normalen Beziehungen zwischen ihnen. Darum ist sie die Schöpfung eines Orts, an dem alle Dinge, die ihm angehören, verortet und zugleich ortlos geworden sind. Eine Performance oder ein Happening ist eine Art verschwindender Abfolge von Gesten, Bildern und Stimmen, sodass die Aktion der Körper einen Raum beschreibt, der genau genommen außerhalb seiner selbst ist. Aber was ist eine Zeichnung? Eine Zeichnung ist ein Komplex von Markierungen. Diese Markierungen haben keinen Ort. Warum? Weil in einer echten, einer schöpferischen Zeichnung die Markierungen, die Spuren, die Linien in den Hintergrund nicht mit einbezogen oder eingeschlossen sind. Es sind im Gegenteil die Markierungen, die Linien – die Formen, wenn man so will –, die den Hintergrund als offenen Raum schaffen. Sie schaffen, was Mallarmé „die leere Seite, die von ihrem Weiß beschützt wird“ nennt. Im ersten Fall – der Installation – macht der neue Ort alle Dinge in ihm ortlos; im zweiten Fall – dem Happening – machen die neuen Dinge, die neuen Körper, den Ort ortlos. Im dritten Fall – der Zeichnung – schaffen ein paar Markierungen einen inexistenten Ort. Das Ergebnis ist eine Beschreibung ohne Ort. Meine allgemeine Definition der Künste stimmt also, und ich habe anscheinend keinen Grund, in meinem Text fortzufahren, denn ich kann eine kurze Definition der Zeichnung vorlegen. Um eine Zeichnung handelt es sich, wenn eine ortlose Spur sich eine leere Fläche als Ort schafft.
1 Erstmals veröffentlicht: Alain Badiou, „Zeichnung“, in: Lettre International 74 (2006), übers. v. Heinz Jatho, S. 56f. Rechtschreibung und Nummerierungen der Abschnitte wurden dem vorliegenden Band formal angeglichen. 2 Wallace Stevens, „Description Without Place“, in: ders., Collected Poetry and Prose, New York 1997, S. 296-302.
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Glücklicherweise gibt es in dem Gedicht von Wallace Stevens etwas, das mich überrascht; und ich kann mit meinem Text nicht aufhören, bevor ich mir über diesen Punkt nicht im Klaren bin. Am besten ist es wohl, ich lese und kommentiere ein paar Stellen. Zuerst den Anfang: Es ist möglich, daß zu scheinen – sein ist, So wie die Sonne etwas ist, das scheint und ist. Die Sonne ist ein Beispiel. Was sie scheint, Ist sie, und in solchem Scheinen sind alle Dinge.
Die artistische Idee einer Beschreibung ohne Ort steht also in enger Beziehung zur alten philosophischen Frage von Sein und Schein. Oder von Sein als Sein und Erscheinen – zu sein und zu erscheinen –, dem Erscheinen an einem bestimmten Ort, in einer greifbaren Welt. Die Sonne ist, und sie ist etwas Scheinendes, und in der Poesie dürfen wir „Sonne“ weder das Faktum nennen, dass die Sonne ist, noch das, dass die Sonne scheint oder erscheint, sondern „Sonne“ müssen wir die Äquivalenz von Scheinen und Sein nennen, die Untrennbarkeit von Sein und Erscheinen. Und schließlich die Äquivalenz von Existieren und Nichtexistieren. Genau das ist das Problem der Zeichnung. In gewissem Sinn existiert das Papier, es existiert als materieller Träger, als geschlossene Totalität, während die Markierungen oder Linien nicht durch sich selbst existieren: Sie müssen innerhalb des Papiers etwas bilden. Aber in einem anderen und entscheidenderen Sinn existiert das Papier als Hintergrund nicht, weil es als solcher, als offene Fläche, von den Markierungen erst geschaffen wird. Diese bewegliche Reziprozität zwischen Existenz und Nichtexistenz ist es, die das Wesen der Zeichnung ausmacht. Die Frage der Zeichnung ist sehr verschieden von der in Hamlet. Sie lautet nicht: „Sein oder Nichtsein“, sondern „Sein und Nichtsein“. Das ist der Grund für die fundamentale Fragilität der Zeichnung: nicht eine klare Alternative, zu sein oder nicht zu sein, sondern eine dunkle und paradoxe Konjunktion, zu sein und nicht zu sein. Wie Deleuze sagen würde: eine disjunktive Synthese. Diese Fragilität ist das Wesentliche an der Zeichnung. Und wenn wir an ein anderes berühmtes Wort aus Hamlet zurückdenken: „Schwachheit, dein Name ist Weib“, dann werden wir eine geheime Beziehung zwischen Zeichnung und Weiblichkeit gewahr. Wir haben hier, bei Wallace Stevens, eine Kritik von zwei historischen Definitionen von Schönheit und Kunst gefunden. Die erste Definition geht dahin, dass wirkliche Schönheit immer jenseits der Erscheinung liegt. Als Schöpfung mit materiellen Mitteln ist ein Kunstwerk nur ein Zeichen oder Symbol von etwas Unendlichem, das jenseits seiner eigenen Erscheinung liegt. Erscheinen ist bloß ein Übergang zu wirklichem Sein. Wallace Stevens fasst diese klassische Theorie der Schönheit zusammen, wenn er schreibt: „Beschreibung besteht aus einem Sehen, das gegen das Auge indifferent ist“. Das Auge, das konkrete Sehen, ist in der Kunst nicht das wahre Sehen, die reale Vision von Schönheit. Die reale Vision von Schön-
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heit ist indifferent gegen das Auge. Sie ist ein Akt des Denkens. Aber Stevens ist anderer Meinung, und ich bin es auch. Die absolute Abhängigkeit des Erscheinens von einem transzendenten Sein gibt es nicht im Kunstwerk. Wir müssen im Gegenteil den Punkt bestimmen, wo Erscheinen und Sein ununterscheidbar sind. Dieser Punkt ist in der Zeichnung eben der Punkt, die Markierung, die Spur, wenn sie vom weißen Grund kaum unterscheidbar sind.
2. Eine andere, mehr romantische als klassische Konzeption vom Kunstschönen ist die, dass Schönheit die sinnliche Form der Idee ist. Das Kunstwerk als Komposition verwirklicht in seinem Erscheinen eine wirkliche Präsenz des Unendlichen, der absoluten Idee. Es geht nicht darum, über das Scheinen hinauszugehen. Die Bewegung verläuft im Gegensinn: Die Idee, das wirkliche Sein, steigt herab in eine materielle Form und erscheint als Schönheit. Aber Wallace Stevens ist, was diese romantische Sicht betrifft, anderer Meinung, und ich bin es auch. Stevens scheint zuzustimmen, wenn er schreibt: „Beschreibung ist Offenbarung.“ Ist nicht „Offenbarung“ ein Name für den Abstieg der absoluten Idee in die Erscheinung einer schönen Form? Aber hier, im Gedicht, ist das nicht so. Denn das Kunstwerk ist als Beschreibung ohne Ort „nicht das beschriebene Ding“. Also ist Schönheit nicht die sinnliche Form der Idee. Das Kunstwerk ist eine Beschreibung, die keine unmittelbare Beziehung zu einem Wirklichen außerhalb der Beschreibung hat, so wie in der romantischen Konzeption die absolute Idee erst außerhalb ihres sinnlichen Glanzes zu finden ist. So ist zum Beispiel eine Zeichnung heute nicht die Realisierung eines externen Motivs. Weit eher ist sie vollständig ihrem eigenen Akt immanent. Weit eher als das statische Ergebnis einer Geste ist eine Zeichnung die fragmentarische Spur dieser Geste. Tatsächlich kann eine romantische Zeichnung nicht einfach eine Zeichnung sein. Da ist immer anderes: schweres Dunkel, schwarze Tusche, grelle Kontraste... Eine heutige Zeichnung kennt diese Art von Effekten nicht. Sie ist nüchterner, unsichtbarer. Die reine Zeichnung ist die materielle Sichtbarkeit der Unsichtbarkeit. Fassen wir kurz zusammen: Die beste Definition für ein Kunstwerk ist: „Beschreibung ohne Ort.“ Diese Beschreibung ist immer eine Verbindung zwischen realem Sein und Scheinen oder Erscheinen. Diese Verbindung ist nicht rein symbolisch. Wir brauchen nicht über die Erscheinung hinauszugehen, um das Reale zu finden. Die Beschreibung ist kein Zeichen für etwas, das außerhalb ihrer Form liegt. Diese Verbindung ist keine reine Offenbarung. Es ist nicht der Abstieg der absoluten Idee oder des Unendlichen in eine schöne Form. Das Erscheinen ist nicht einem formalen Körper des Seins gleichzusetzen. Darum muss eine neue Verbindung zwischen Erscheinen und Sein in Betracht gezogen werden. Wallace Stevens schreibt:
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Die Beschreibung ist künstliches Ding, das existiert In seinem eigenen Scheinen, klar sichtbar, Dennoch ist sie nicht allzu genau das Doppel unseres Lebens, Sondern ist intensiver als irgendein wirkliches Leben sein könnte.
Unsere neue Aufgabe besteht darin, vier Züge des Kunstwerks als Beschreibung ohne Ort zu erklären. Die Beschreibung ist ein „künstliches Ding, das existiert“. Künstlichkeit. Zeichnung ist etwas Zusammengesetztes. Es ist die Frage der Technologie. Heute kann der Hintergrund statt aus einem Stück Papier aus einem Bildschirm bestehen, und die Markierungen können die sichtbare Projektion immaterieller Zahlen sein. Die Beschreibung ist ein Ding „in seinem eigenen Scheinen“. Es gibt eine unabhängige Existenz in Erscheinungen. Die Zeichnung muss ohne jede externe Erklärung existieren und ohne externe Referenzen. Aber die Beschreibung ist nicht „allzu genau das Doppel unseres Lebens“. Eine echte Zeichnung ist nicht Kopie von irgendetwas. Sie ist eine konstruktive Dekonstruktion von etwas und viel wirklicher als das anfängliche Ding. Die Beschreibung ist „intensiver als irgendein wirkliches Leben“. Eine Zeichnung ist fragil. Aber sie schafft eine sehr intensive Fragilität. In Kürze: Zunächst ist Sein bloß eine mathematische Abstraktion. Es ist, in jedem Ding, das Mannigfaltige ohne jede Qualität oder Bestimmung. Die Zeichnung greift diese Definition auf, indem sie jedes Ding auf ein System von Markierungen reduziert. Wenn, zweitens, ein Ding als ein Intensitätsgrad erscheint, haben wir nichts als die Existenz dieses Dings in einer Welt. Ein Ding existiert mehr oder weniger, und die Intensität hat keine Beziehung zum Sein, sondern nur zur konkreten Welt, in der das Ding erscheint. In der Zeichnung sind es der Hintergrund, die Seiten, der Bildschirm oder die Wand, welche die Welt symbolisieren. Drittens geht es nicht um Nachahmung oder Repräsentation. Die Existenz einer Mannigfaltigkeit ist direkt ihr Erscheinen in einer Welt, mit einem neuen Maß der Intensität dieses Erscheinens. Damit ist ein Rahmen gegeben, in dem wir unsere Theorie des Kunstwerks als dem Punkt, an dem Erscheinen und Sein ununterscheidbar sind, rekonstruieren können.
3. Ich will mit zwei Beispielen beginnen, einem poetischen und einem anderen, zeichnerischen, die beide denselben Typ von Dingen betreffen: ein Musikinstrument, eine Gitarre. Wallace Stevens hat ein Buch geschrieben mit dem Titel: Der Mann mit der blauen Gitarre.3 Was ist eine „blaue Gitarre“? Es ist die poetische Intensität des Dings 3 Wallace Stevens, Der Mann mit der blauen Gitarre – The Man with the Blue Guitar, übers. v. Karin Graf und Hans Magnus Enzensberger, München/Paris/London 1995.
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„Gitarre“ im Werk von Stevens, in der künstlichen Welt, die Stevens sprachlich geschaffen hat. Am Punkt der „blauen Gitarre“ ist keine Unterscheidung mehr möglich zwischen „Gitarre“ als Wort und „Gitarre“ als realem Ding, zwischen Gitarre als Sein und Gitarre als Erscheinen. Denn diese Gitarre, die in Stevens’ Gedichten erscheint, ist die blaue Gitarre. Mit der blauen Gitarre haben wir also, so ließe sich sagen, eine poetische Intensität, in der Sein und Existenz identisch sind. Das dürfte die beste Definition eines Kunstwerks sein: In der Beschreibung ohne Ort haben wir eine Art Verschmelzung von Sein und Existenz vor uns. Darum schreibt Stevens: Die Theorie der Beschreibung ist äußerst wichtig. Es ist die Theorie des Worts, für die, Für die das Wort die Erzeugung der Welt ist.
Hier ist die Beschreibung gedacht als der Punkt innerhalb der poetischen Sprache, an dem eine Erschaffung der Welt stattfindet. Aber wenn vor unseren Augen eine Welt geschaffen wird, können wir nicht unterscheiden zwischen dem Erscheinen des Dings, seiner Existenz und seinem Sein. All dies ist in derselben Intensität enthalten, der Intensität der blauen Gitarre. Das alles lässt sich unmittelbar auf die Erfahrung der Zeichnung anwenden. Bekanntlich ist die Gitarre in der frühen kubistischen Malerei etwas wie ein Fetisch. Sie ist ein Ding, das bei Picasso, Braque oder Juan Gris als ein neues Zentrum der Komposition erscheint. Und als Zeichnungsding ist sie für das wahre Sein des Dings eine neue Weise zu existieren. Sie ist die Schöpfung einer Gitarre ohne Trennung zwischen ihrem Sein und ihrer Existenz. Denn in einer Zeichnung ist eine Gitarre nichts anderes als ihre reine Form. Eine Gitarre ist eine Linie, eine Kurve. Wenn man sagt, die Zeichnung sei ein Kunstwerk, dann hat das also eine genaue Bedeutung. Sie ist eine Beschreibung ohne Ort, die eine Art künstliche Welt schafft. Diese Welt gehorcht nicht dem üblichen Gesetz der Trennung zwischen realem Sein und Erscheinung. In dieser Welt – oder mindestens an ein paar Punkten von dieser Welt – gibt es keinen Unterschied zwischen „Sein“ und „Existieren“ oder zwischen „Scheinen“ und „Erscheinen“. All dies erlaubt uns, eine Beziehung zwischen Zeichnung und Politik ins Auge zu fassen. Klassisch ist Politik, ist revolutionäre Politik eine Beschreibung mit Orten. Da sind soziale Orte, Klassen, rassische und nationale Orte, Minoritäten, Ausländer und so weiter; da sind herrschende Orte, Reichtum, Macht... Ein politischer Prozess ist dann eine Art Totalisierung verschiedener objektiver Orte. Eine politische Partei etwa organisiert man als Ausdruck gewisser sozialer Orte, in der Absicht, die Macht im Staat zu ergreifen. Heute aber könnte es sein, dass wir eine neue politische Richtung schaffen müssen, jenseits der Herrschaft der Orte, jenseits sozialer, nationaler, rassischer Orte, jenseits von Geschlecht und Religion. Eine ganz und gar ortlose Politik, mit absoluter Gleichheit als Grundbegriff. Diese Art Politik wird eine Aktion ohne Ort sein. Eine internationale und nomadische Schöpfung, in der – wie im Kunstwerk – Gewalt, Abstraktion und finaler Frieden gemischt sind.
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Wir müssen, jenseits des Gesetzes der Orte und der Machtzentralisierung, eine neue politische Richtung organisieren. Und wir müssen eine Aktionsform finden, in der die politische Existenz eines jeden von seinem Sein nicht getrennt ist, einen Punkt, an dem wir in so intensiver Weise existieren, dass wir unsere innere Teilung vergessen. In diesem Fall werden wir ein neues Subjekt. Kein Individuum, sondern Teil eines neuen Subjekts. Von etwas Derartigem schreibt Wallace Stevens am Schluss eines sehr schönen Gedichts mit dem seltsamen Titel: „Finales Selbstgespräch der inneren Geliebten“. Aus diesem selben Licht, aus dem zentralen Geist Machen wir eine Heimstatt in der Abendluft, In welcher zusammen zu sein genug ist.
Ja, wir müssen eine neue Heimstatt bauen, ein neues Haus, wo „zusammen zu sein genug ist“. Dazu aber müssen wir unsere Geistesverfassung („aus dem zentralen Geist“) und das Licht ändern. Und dazu müssen wir, mit Hilfe neuer Formen von Kunst, uns auf eine Aktion ohne Ort einlassen. Genau das ist das Ziel der reinen Zeichnung: eine neue Welt einzusetzen, und zwar nicht mittels Stärke der Mittel, der Bilder, Malereien, Farben, sondern mittels der Minimalität von ein paar Markierungen und Linien, sehr nahe an der Nichtexistenz jeden Orts. Zeichnung ist das vollkommene Beispiel für eine Intensität der Schwäche. Sieg oder Fragilität. Sieg oder Weiblichkeit, vielleicht. In einer Zeichnung ist das „Zusammen“ bloß das Zusammen von ein paar schwindenden Markierungen. „Zusammen ist genug.“ Darum können wir vielleicht von einer Politik der Zeichnung sprechen.
IV. ABBILDUNGEN
Abb. 1.1 Neues Museum, Berlin, um 1980, Blick in Richtung der Südwand des zerstörten Modernen Saals © SMB / Zentralarchiv.
Abb. 1.2 Neues Museum, Berlin, Plattform Ägyptischer Hof © SMB / David Chipperfield Architects, Photo: Ute Zscharnt.
Abb. 1.3 Neues Museum, Berlin, Niobidensaal © Jörg von Bruchhausen.
Abb. 1.4 Museum Folkwang, Essen, Dauerausstellung © Ute Zscharnt für David Chipperfield Architects.
Abb. 1.5 Museum Folkwang, Essen, Ostfassade, Blick von der Bismarckstraße © Christian Richters.
Abb. 1.6 Neues Museum, Berlin, Treppenhalle, Aquarell (um 1910) von Hedwig SchultzVoelcker © bpk / Kupferstichkabinett, SMB / Jörg P. Anders.
Abb. 1.7 Neues Museum, Berlin, Südkuppel © Christian Richters.
Abb. 1.8 Neues Museum, Berlin, Treppenhalle © Ute Zscharnt für David Chipperfield Architects.
Abb. 1.9 Neues Museum, Berlin, Nordkuppelsaal mit Nofretete © SMB / David Chipperfield Architects, Photo: Ute Zscharnt.
Abb. 1.10 Konzeptmodel für das Neue Museum, Berlin © Ute Zscharnt für David Chipperfield Architects.
Abb. 1.11 Brunnen auf dem Nikolaikirchhof, Leipzig © Jörg von Bruchhausen.
Abb. 1.12 Monolith für den Brunnen auf dem Nikolaikirchhof in Leipzig © David Chipperfield Architects.
Abb. 2.1 Therme Vals, Graubünden, Schweiz, Außenansicht, Photo: Günter Figal.
Abb. 2.2 Therme Vals, Graubünden, Schweiz, Innenansicht, © Hélène Binet.
Abb. 2.3 Peter Zumthor, Blockstudie für die Therme Vals © Peter Zumthor.
Abb. 3.1 Wassily Kandinsky, Bild mit weißem Rand (Moskau), 1913, Öl auf Leinwand, 140,3 x 200,3 cm, Solomon R. Guggenheim Founding Collection, New York.
Abb. 3.2 Wassily Kandinsky, Erster Entwurf für Bild mit weißem Rand (Moskau), 1913, Öl auf Leinwand, 100,5 x 75,5 cm, The Philips Collection, Washington D.C.
Abb. 3.3 Wassily Kandinsky, Zweiter Entwurf für Bild mit weißem Rand (Moskau), 1913, Öl auf Karton, 70 x 104 cm, Russisches Museum Sankt Petersburg.
Abb. 3.4 Wassily Kandinsky, Studie für Bild mit weißem Rand (Moskau), 1913, Bleistift auf Papier, 15 x 25 cm, Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau, München, GMS 429/1.
Abb. 3.5 Wassily Kandinsky, Studie für Bild mit weißem Rand (Moskau), 1913, Bleistift auf Papier, 15 x 25 cm, Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau, München, GMS 429/2.
Abb. 3.6 Wassily Kandinsky, Studie für Bild mit weißem Rand (Moskau), 1913, Tusche über Bleistift auf Papier auf grauem Papier befestigt, 27,5 x 37,8 cm, Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau, München, GMS 397.
Abb. 4.1 Agnes Barley, Untitled (Vertical Garden Series), 2004, Acryl auf Papier, Privatsammlung, USA.
Abb. 4.2 Hans Cürlis, „Wassily Kandinsky beim Zeichnen“, aus dem Film-Zyklus Schaffende Hände, Berlin 1926.
Abb. 4.3 Albrecht Dürer, Unterweysung der Messung, Nürnberg 1525.
Abb. 4.4 Martin Heidegger, „Halbkreise und Vektoren“, von Medard Boss rekonstruierte Zeichnung in: Martin Heidegger, Zollikoner Seminare. Protokolle – Zwiegespräche – Briefe, hg. v. Medard Boss, Frankfurt am Main 2006, S. 3 © Vittorio Klostermann GmbH, Frankfurt am Main 1987.
Abb. 5.1 Ruinenmarmor aus Goethes geologischer Sammlung, gerahmt © Klassik Stiftung Weimar.
Abb. 5.2 Martin Heidegger, Schema für die Beiträge zur Philosophie, Manuskript (Detail) aus dem Nachlass, Literaturarchiv Marbach
Abb. 5.3 Eduardo Chillida, Litho-Collage III, in: Martin Heidegger, Die Kunst und der Raum, St. Gallen 1969 © Zabalaga-Leku / VG Bild-Kunst, Bonn 2013.
Abb. 6.1 Martin Heidegger, Assoziagramm „Das Unwesen des Seyns“, aus: Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, 3. Aufl., Frankfurt am Main 2003 (=Gesamtausgabe. Bd. 65), S. 130 © Vittorio Klostermann GmbH, Frankfurt am Main 1989.
Abb. 6.2 Martin Heidegger, Assoziagramm „Das Unwesen des Seyns“ – handschriftliches Manuskript. Das Original befindet sich im Literaturarchiv Marbach. Es handelt sich um Blatt 422 des handschriftlichen Manuskript-Konvolutes „Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)“ und wird hier mit freundlicher Genehmigung der Familie Heidegger und des Literaturarchivs Marbach in faksimilierter Fassung veröffentlicht. (Größe des Blattes: A5)
Abb. 6.3 Martin Heidegger, Darstellung des „Gevierts“, aus: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, 3. Aufl., Frankfurt am Main 2003 (=Gesamtausgabe. Bd. 65), S. 310 © Vittorio Klostermann GmbH 1989.
Abb. 7.1 Muuratsalo Experimental House 1952-54, Patio, Photo: Eino Mäkinen, Alvar Aalto Museum, approximately 1953.
Abb. 7.2 Villa Mairea 1938-39, Living room windows and main entrance, Photo: Martti Kapanen, Alvar Aalto Museum. 1980.
Namensregister Aalto, Alvar 191-193, 197, 202-214 Abelard, Peter 160 Adami, Valerio 56 Adenauer, Konrad 150 Adorno, Theodor W. 94, 125-127, 131132, 134, 138, 140-141 Agamben, Giorgio 236-237 Alberti, Leon Battista 60, 179 Alighieri, Dante 64 Améry, Jean 201 Anders, Günther 82 Arendt, Hannah 237 Aristoteles 29, 31, 64, 161-164 Artaud, Antonin 56 Bacon, Francis 33, 39-41, 49 Badiou, Alain 64 Balzac, Honoré de 36 Barley, Agnes 63 Bartoli, Cosimo 60 Bataille, Georges 83 Baudrillard, Jean 75 Baumgarten, Alexander Gottlieb 178 Beaufret, Jean 160 Bedorf, Thomas 227 Beke, László 78 Belting, Hans 80 Benjamin, Walter 63, 131-132, 134-135 Bense, Max 81 Bergson, Henri 208 Berkeley, George 90 Beuys, Joseph 51 Boehm, Gottfried 62 Bohn, Volker 79 Bohr, Niels 145 Bopp, Franz 162 Boss, Medard 69 Brandom, Robert B. 102 Braque, Georges 253 Buber, Martin 79
Cacciari Massimo 193, 199 Cage, John 28 Caillois, Roger 118 Calder, Alexander 65 Cézanne, Paul 208-211 Chalmers, David J. 89 Char, René 170 Chillida, Eduardo 123 Chomsky, Noam 81 Cicero 160 Corbin, Henry 83 Corinth, Lovis 64 Cürlis, Hans 64-65 Deleuze, Gilles 32, 37, 40, 81, 92, 138, 250 Derrida, Jacques 56-57, 68-69, 94, 141, 169, 204, 222 Descartes, René 72, 89, 145, 148-149, 169, 215 Dix, Otto 65 Dummett, Michael 88 Duns Scotus 159 Dürer, Albrecht 65-67, 141 Espinet, David 57, 105 Fichte, Johann Gottlieb 97, 215 Figal, Günter 36-37 Flusser, Vilém 66, 71, 76-78, 80-83 Foucault, Michel 159 Frege, Gottlob 105 Fried, Michael 178, 180 Friedrich Wilhelm IV. 13 Gadamer, Hans-Georg 23-24, 29, 168 Galilei, Galileo 46, 145 Goethe, Johann Wolfgang von 105, 108110, 119, 122 Grassi, Luigi 64 Greenberg, Clement 178, 189 Gris, Juan 253
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NAMENSREGISTER
Guattari, Félix 81, 138 Gullichsen, Harry 210 Gullichsen, Marie 210 Hahn, Otto 150 Harrap, Julian 13 Harries, Karsten 206, 213 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 76, 95, 165, 170, 175, 180-183, 187-189 Heisenberg, Werner 101, 143, 146, 149150 Heraklit 168 Heynen, Hilde 201 Hildebrandt, Toni 135, 137 Hogrebe, Wolfram 89 Hölderlin, Friedrich 46, 49, 211 Homer 46 Hui, Yuk 80 Humboldt, Wilhelm von 158, 162 Husserl, Edmund 35, 159, 163-166, 215 Ibn al-Haytham 75 Johannes von Salisbury 160 Jung, Carl Gustav 83 Jungk, Robert 149-150 Kamper, Dietmar 71, 75-76, 79-80, 82 Kandinsky, Wassily 33, 42-43, 49, 62, 64 Kant, Immanuel 9, 21, 31-38, 43, 47, 5053, 61-63, 71-72, 74-75, 77-78, 82, 94, 106, 122, 144-145, 155-156, 164-165, 170, 177-179, 189, 220 Kittler, Friedrich 147 Klee, Paul 135-137 Kollwitz, Käthe 65 Kropotkin, Pjotr Alexejewitsch 208 Lacan, Jacques 71 Lahti, Markku 202 Laaksonen, Esa 212 La Mettrie, Julien Offray de 73 Latour, Bruno 80 Le Corbusier 191, 204
Lefas, Pavlos 196 Léger, Fernand 208 Leibniz, Gottfried Wilhelm 152-153, 165, 178 Leonardo da Vinci 242 Leroi-Gourhan, André 55, 57 Lessing, Gotthold Ephraim 67 Levinas, Emanuel 79, 215, 229, 231-233 LeWitt, Sol 59 Lévy, Pierre 81 Liebermann, Max 65 Lohmann, Johannes 161 Lyotard, Jean-François 37, 75 Mallarmé, Stéphane 249 Mann, Thomas 28, 30, 106 Masson, André 62-63 McDowell, John 100 McLuhan, Marshall 73 Meillassoux, Quentin 46, 94-95, 97, 101, 103 Merleau-Ponty, Maurice 35, 169, 245-246 Meyer, Conrad Ferdinand 183 Mies van der Rohe, Ludwig 204 Moles, Abraham André 79 Mörchen, Hermann 67 Mörike, Eduard 179, 181-183, 185, 188 Muratori, Ludwig Anton 71-75, 82 Nancy, Jean-Luc 32, 55, 57-60, 68-69 Nelson, Ted 78 Newton, Isaac 46, 146 Nietzsche, Friedrich 148, 158, 176 Nyíri, Kristóf 137 Noland, Kenneth 178 Norberg-Schulz, Christian 193 Olitski, Jules 178 Ortega y Gasset, José 194 Paixão, Pedro A. H. 64 Panini 159, 161-162 Panofsky, Erwin 58 Parmenides 160
NAMENSREGISTER
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Pauli, Wolfgang 83 Pechstein, Max 65 Péternàk, Miklós 78 Petzet, Heinrich 191-193, 214 Picasso, Pablo 253 Pichler, Alois 133 Platon 29, 99, 158, 161 Plotin 180 Primas, Hans 83 Proust, Marcel 36-37
Snell, Bruno 160 Sophokles 46 Staiger, Emil 179-181, 184-185, 187-188 Stella, Frank 176-178 Stevens, Wallace 249-253 Stiegler, Bernard 56 Stirner, Max 241 Stifter, Adalbert 108 Strauß, Franz Joseph 150, 152 Stüler, Friedrich August 13-14, 16-18, 44
Richerz, Georg Hermann 72 Richtmeyer, Ulrich 137 Rilke, Rainer Maria 25, Rometsch, Jens 103 Rorty, Richard 102 Rosenberg, Harold 189 Rosenzweig, Franz 79 Ruskin, John 14
Thomas von Aquin 74, 82 Thorwaldsen, Bertel 186 Twombly, Cy 64
Sartre, Jean-Paul 62-63, 82, 189, 215-221, 223-233 Saussure, Ferdinand de 158 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 100, 102-103 Schildt, Goran 209 Schiller, Friedrich 50-51 Schinkel, Karl Friedrich 16 Schlegel, Friedrich 162 Schlosser, Julius von 64 Schmidgen, Henning 81-82 Schopenhauer, Arthur 90, 178 Schuster, Peter-Klaus 14 Schwarz, Alexander 44, 60 Semper, Gottfried 17 Sethi, Umrao 105 Seubold, Günter 135 Sider, Theodore 89
Valéry, Paul 55 Van Gogh, Vincent 183-184 Vasari, Giorgio 59-60 Velasquez, Diego 41 Virilio, Paul 76 Weizsäcker, Carl Friedrich von 143, 150 Weizsäcker, Viktor von 143 Wellmer, Albrecht 141 Wetzel, Michael 75 Wilharm, Heiner 133 Williams, Raymond 73 Winnicott, Donald 80 Wittgenstein, Ludwig 92, 125-127, 131, 133, 137, 140-142 Wolff, Christian 178 Wölfflin, Heinrich 65 Wright, Georg Henrik von 214 Zedler, Johann Heinrich 66 Zielinski, Siegfried 66 Zumthor, Peter 27-29
Sachregister Absicht 27-29, 59 Andere 223-228, 230-231, 233 Angst 115 Architektur 13-19, 28-30, 178, 191-194, 197, 203-214, 235-236, 238, 241, 244, 246-247 Bild/Bildlichkeit 13, 29, 42, 55, 75, 78-79, 81-82, 107-108, 113, 117-118, 122, 156, 176, 239 Bild-Denken 68, 76 Bildsinn 176 Chronologie 164, 166-167, 169 Darstellung 134, 176 Dichtung 49, 153-154, 168, 174, 181 εἶδος 29, 163 Einbildungskraft 32, 34-35, 38, 45, 62, 67, 71-74, 76-77, 79-80, 82-83, 122, 124, 155-156 Empfindung 36, 179 Entwerfen, Entwurf (vgl. auch „Werfen“) 7, 9, 18, 21, 23-26, 33, 41-44, 46, 48, 50-52, 55, 59-60, 65-66, 68, 81, 93-94, 96-98, 103, 107-108, 110-118, 121-123, 141, 148, 153, 155-157, 169, 173-174, 176-178, 181, 186, 188, 194, 215, 225, 228-229, 233, 238-239, 241-243, 245246 - antwortender 233 - architektonischer 13, 15, 16, 235, 244, 247 - dichtender 116 - eigentlicher 219-221, 223, 231-232 - geschichtlicher 22 - geworfener 45, 114, 147, 155 - individueller 215 - künstlerischer/ästhetischer 22-24, 39, 48, 186, 189
- naturwissenschaftlicher/physikalischer 22-24, 144-145 - realistischer 60, 67, 91, 98 - restauratorischer 17, 68 - Lebensentwurf 83 - Selbstentwurf 21, 43, 46, 111, 115 - Sinnentwurf 22 - Verwerfen 28 - Vorentwurf 24, 40 Entwurfsmöglichkeiten 26-28 Entwürfel 33, 45-47, 52 Entzug 56-57, 121 Erde 117-118, 188 Ereignis 38-39, 52, 57, 92, 97, 101, 118, 120, 130, 136, 139, 237, 241 Erfahrung 15, 18, 22, 27-28, 34, 36, 39, 64, 80, 83, 93, 112, 124, 177, 218, 223, 235-236, 253 Erklüftung 107, 109, 110, 117, 119-120, 122-123 Ethik/Ethos 121, 179, 187, 213, 227 Faktizität 148, 232-233 Figurale, das 38-39, 53 Form 7, 17-18, 32, 36-37, 42, 51, 55, 5758, 69, 204-205, 249, 253 Freiheit 34, 36-38, 40-41, 45, 47, 50-51, 53, 66, 178, 215, 225-226, 229-233, 236, 241 Gabe 225, 227 Gedächtnis (memoria) 73 Gegend 92, 166, 235 Gegenständlichkeit 28-30 Gelassenheit 67, 92, 96, 245 Geschichte 22, 48, 68, 78, 83, 97, 115116, 118, 122, 147, 154 Geste 55-56, 246, 251 Gestell 91, 103, 148, 189 Geviert 118, 120, 130, 198, 200, 204, 210-211
278
SACHREGISTER
Geworfenheit 44, 47, 52, 65, 114-115, 121, 155, 232 Grund 107, 114-119, 121-123, 251 Grundstimmung 182-185, 187 Hand 55, 242 Hässlichkeit 179 Idee/idea 9, 16, 36-41, 44, 47, 51-52, 58, 99, 111, 163, 250-251 Imaginäre, das 71, 82-83 Impotentialität 236 In-der-Welt-sein 24 Intersubjektivität 215, 224-225, 228 Intuition 8, 27, 242 Kehre 91, 98, 100, 102-104, 120, 127, 166-167 Körper 56, 73-76, 80, 82-83, 105, 241, 245-247, 249 Korrelationismus 95, 97 Kraft 58-59, 71, 74, 237 Kreativität 8 Kunst 29, 33, 60, 116, 123, 136, 176, 178, 185, 241, 249 Kunstwerk 29, 32, 37, 43, 48, 50, 116, 175-177, 182, 184, 186, 188-189, 225,246, 249-250, 253 Lebenswelt 95-96, 235 Leere 123-124 Lichtung 108, 121-123, 241 Linie 61-62 Logos 157-158, 162-163, 167 Maschine 81 Medium 95 Mitsein 215-218, 221, 224, 227, 230-231 Moderne 75, 96-97, 100, 104, 106, 124, 187-188, 191-192, 199-203, 206 Möglichkeitssinn 23 Neue, das 7, 17, 68, 247
Offenheit 8, 16, 26, 29, 32, 34, 36, 40, 42, 45, 53, 58, 64, 66-68, 105, 110, 112, 115, 118, 121-123, 135, 166-167, 209, 214 Optik 75 Ort 14-16, 18, 244, 249-250, 252-254 Phänomenologie 77, 81, 94-95, 123, 167 Physis 13, 16, 52, 154 Plan 9, 21, 25, 110-111, 155, 174, 194 Potentialität 235 Privation/στέρησις 163 Projektion 66-67, 81, 90, 93, 112-113, 115, 124, 155, 194 Reale, das 91, 251 Realisierungsoffenheit 57 Realismus 89, 93 - Neuer 91-92, 103, 105 - ontologischer 103-104 - Spekulativer 77, 81 Riss 52-53, 109-110 Schein 51, 181, 184, 250 Schematismus 156, 165 Schönheit 15, 17, 32-33, 35, 38, 47, 176, 179, 181, 187, 250-251 Schweigen 115 Sinn 7-8, 30, 44, 53, 92, 104 Sinnfeld 105 Sorge 80, 115 Spiel/Spielraum 30, 46, 174-175, 179, 186 Sprache 177 Stiften 44 Technik/τέχνη 29, 144, 146-148, 150151, 154 Tod 93, 120, 148, 174 Unfertigkeit/unvollendet 174, 179 Vernunft 72 Verstehen 43, 110-112, 157, 225
SACHREGISTER
Vollzug 8, 112, 223 Vorbestimmung 22-23 Vorhandenheit 78, 91, 93-96, 175 Vorstellung 26 Wahrheit 30, 99-100, 102, 105-106, 140, 163, 174, 176 Welt 24, 43, 51, 68, 78-79, 81, 83, 92-93, 97, 129, 178, 184-188, 232, 253 Weltentwurf 21-22, 25, 83 Werfen/Wurf (vgl. auch „Entwerfen“) 2526, 45, 65 - Vorauswurf 173
279
- Vorwurf 115, 155 - Zuwurf 173 Werk 22, 27, 30, 136, 173, 225-226 Wohnen (dwelling) 167, 193, 195-200, 202-203, 205-206, 211, 213, 246 Zeichnung 7, 31-32, 42, 55, 57-59, 68, 117, 124, 137, 242, 249-254 Zeitlichkeit 155, 164 Zuhandenheit 91, 93, 96, 175 Zufall 26 Zuschauer 88, 90-91