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German Pages 250 Year 2015
Ulrich Meurer, Maria Oikonomou (Hg.) Fremdbilder
2009-03-10 13-25-01 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 019e204590078192|(S.
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Ulrich Meurer, Maria Oikonomou (Hg.) Fremdbilder. Auswanderung und Exil im internationalen Kino
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Gedruckt mit Unterstützung von Frau Chiona Xanthopoulou-Schwarz.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: © Ulrich Meurer Lektorat & Satz: Ulrich Meurer, Maria Oikonomou Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1122-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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INHALT
Fremdbilder – Aspekte geographischer und medialer Bewegung ULRICH MEURER / MARIA OIKONOMOU 9 Wanderer zwischen beiden Welten. Zum Problem des Transitorischen in Josef von Sternbergs The Last Command VOLKER MERGENTHALER 35 Zur Poetik der Auswanderung. Kazans America, America und Valtinos’ Legende des Andreas Kordopatis MARIA OIKONOMOU 67 Overstanding Robert Wises The Sound of Music. Überlegungen zu Österreichs berühmtesten Film-Exilanten HEINZ DRÜGH 87 Die Ikonographie des Exils in Andrej Tarkowskijs Nostalghia GEORGIANA BANITA 107 Laughing back at the colonizer? Religiöse Transgression und groteske Gewalt in Jim Jarmuschs Dead Man. ROGER LÜDEKE 121 Daheim in der Fremde? Zur Inszenierung der »Heimat« im Hindifilm Aa ab laut chalen. IRA SARMA 143
Natives und Immigrants. Martin Scorseses Gangs of New York HANS-EDWIN FRIEDRICH 175 Eran Riklis: The Syrian Bride ISABELLA SCHWADERER 187 Taktische bricolage in der Transitlounge. Steven Spielbergs The Terminal JÖRN GLASENAPP 203 The institution of the dear love of comrades. Zur Wiederaufführung amerikanischer Soziotopologie in M. Night Shyamalans The Village ULRICH MEURER 215
Personen- und Filmtitelregister 241
Dank Der vorliegende Band ist das Ergebnis einer Film- und Vorlesungsreihe, die im Wintersemester 2005/06 an der Universität München stattgefunden hat. Wir möchten die Gelegenheit nutzen, allen unseren Dank auszusprechen, die zum Gelingen der Reihe beigetragen haben, darunter nicht zuletzt unseren Kooperationspartnern vom Bayerischen Rundfunk. Besonderer Dank gilt jedoch Frau Chiona Xanthopoulou-Schwarz, deren Engagement und großzügige finanzielle Unterstützung die Drucklegung dieses Bandes – als Teil eines weiter angelegten Kultur- und Forschungsprojekts zur Migration – erst möglich gemacht hat.
Fremdbilder – Aspekte geographischer und medialer Bewegung ULRICH MEURER / MARIA OIKONOMOU
1. SYLLOGISMUS: MIGRATION IST WELT, KINO IST WELT, MIGRATION IST KINO. Für jede Bewegung ist zunächst eine Differenz oder eine Art Druckgefälle vonnöten: auf der einen Seite ein Bezirk der Fülle oder Überfülle, ein zentrierter Raum der Signifikanzen, der durch seine Beschränkungen und Gewährungen den Möglichkeiten in seinem Inneren Grenzen setzt und sich gleichzeitig gegen sein Außen abschließt. Von hier aus bricht man auf. Im Falle bereits der ersten aller Exilierungen, von der die Genesis berichtet, ist dies Eden, eine von der übrigen Schöpfung abgeteilte und mit Zeichen gesättigte Zone im Osten, in die Gott den Menschen setzt und ihn mit Verboten belegt. Auf der anderen Seite ist eine Leere notwendig, ein unoder bestenfalls schwach definierter Raum, der statt ausdifferenzierter Aktualität ein relativ höheres Maß an Potenzialität aufweist. Hierhin wandert man aus, in die ganze Welt westlich des Paradieses, die zwar schon mit allerlei provisorischen Scheidungen zwischen Licht und Finsternis, Himmel und Erde, Land und Wasser versehen ist, vor allem aber eine Zone des Möglichen darstellt, in der noch keine Feldsträucher wachsen, solange der Boden nicht bestellt wird, in der es noch nicht regnet und alle Feuchtigkeit aus dem Erdboden selbst aufsteigt.1 In einer solchen Konstellation aus Fülle und Leere muss nun auch ohne jeden Sündenfall die Abwanderung einmal stattfinden; denn so gerecht und vermeintlich einsehbar Gott die erste Übertretung (seines Gesetzes) mit einem anderen Übertritt (der Einfriedung des Paradieses) ahndet und damit eine stabile Symmetrie von Verstoß und Strafe, von Ursache und Wirkung in die Welt einzuführen 1
Vgl. Gen. 2.4-6.
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Ulrich Meurer / Maria Oikonomou scheint,2 so unleugbar übt die Weite jenseits der Grenzen Edens ihre Anziehung allein schon durch ihre viel versprechende Asignifikanz. Von Beginn an also und schon vor dem Vergehen ist in der göttlichen Anordnung der Welt ein Ungleichgewicht auszumachen, das alle ausgewogene Ruhe des Schöpfungsprojekts grundsätzlich in Frage stellt und sich schließlich in Bewegung entladen muss. Die Leere will gefüllt und besiedelt sein, sie verlangt – ganz wie Verteilungsdifferenzen in der Thermodynamik – unausweichlich nach dem Ausgleich und Austritt des Menschen aus dem Paradies, so dass die Missachtung des göttlichen Gebots nur mehr als Vorwand erscheinen mag, die große kinetische Maschine der Welt in Gang zu setzen. Insofern deshalb die Migration in der Genesis kaum der einen kontingenten Fehlentscheidung des Menschen als vielmehr jenem ersten und entelechischen Unterschieds-Prinzip der Schöpfung selbst entspringt, insofern die Bewohner ihre erste Heimat verlassen müssen, einfach weil neben ihr die Fremde existiert, zeigt sich die Auswanderung als wesenhafte Bewegung schlechthin. Sie ist deren Anfang und Urbild, als inhärente Folge des Gegensatzes zwischen Fülle und Leere dem Universum zutiefst vor- und eingeschrieben und so eine Form des (Orts-)Wechsels, die allen anderen vorausgeht, da sie unvermittelt dem »Medium« einer prozesshaften Welt erwächst. Wenn jedoch die Migration in der Topographie der Welt angelegt ist und ihr so unbedingt entspringt, dass sie mit der Schöpfung in eins fällt, dann sind Exil und Auswanderung auf besondere Weise auch mit einer anderen Form der Bewegung verwandt, die ihrerseits und im selben Maß der zutiefst beweglichen Realität angehört, diese nicht nur reproduziert, sondern ohne jede Reduktion in sich aufgenommen hat und in ihrer Qualität offenlegt: mit dem Kinematographen. Da in Bezug auf Bewegungsprozesse keinerlei Unterschied zwischen Welt und Film zu bestehen scheint – schon 1896 bezeichnet das Pariser Magazin La Poste die Erfindung der Brüder Lumière als das Leben selbst, als Bewegung, die direkt aus dem Leben gewonnen ist3 –, da die Migration wie auch der Film der ureigenen Bewegung der Welt angehören, zumindest aber ihr direktes Bild liefern (indem die eine geradewegs aus der Unruhe des beweglichen Kosmos kommt und ihm nicht erst als Strafe für die Erbsünde hinzugezählt werden muss; indem der andere ebenso wenig eine nach2
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Ein solches symmetrisches Denken ist dem Alten Testament (wie auch der israelitischen Gesetzgebung) durchweg eigen und findet bereits in der Erzählung vom Sündenfall auf vielfältige Weise seinen Ausdruck; so etwa schickt Gott den Menschen aus Eden fort, »damit er den Ackerboden bestellte, von dem er genommen war« (Genesis, 3.23). La Poste vom 12. Januar 1896; vgl. auch Ulrich Meurer: »Cinema Vérité und Cinema Varieté. Kann das digitale Bild auf neue Weise erzählen?«, in: http://www.uni-erfurt.de/slawistische_literaturwissenschaft/projekte/meurer_sicher.pdf vom 3. März 2008, S. 3.
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Fremdbilder trägliche Mobilisierung des Statischen, sondern das Faktum der Bewegung selbst darstellt4), stehen sie zu ihr im gleichen engen Verhältnis. Beide sind mehr als lediglich zwei Phänomene raumzeitlicher Veränderung unter vielen; sie sind diese raumzeitliche Veränderung. Und zu ihrer innigen Entsprechung, die sich zuerst über das gemeinsame Dritte wesenhafter Bewegung herstellt, gesellen sich im Weiteren eine historische und zum anderen eine strukturelle Koinzidenz zwischen Migration und Kinematographie:
2. SYLLOGISMUS: MIGRATION IST MODERNE, KINO IST MODERNE, MIGRATION IST KINO. Zwar gehört die Wanderung, zumal wenn sie der beweglichen Anlage der Welt schon in der Genesis entspringen soll, zu jeder Zeit und grundsätzlich der Conditio humana an und hat sich der Homo sapiens im Lauf der gesamten Geschichte stets als Homo migrans über die Erde ausgebreitet5 (Harry Levin etwa sieht die Abstraktion von den historischen Bedingungen der Migration nachvollzogen im metaphorischen Sprechen über das Exil, das konstant »zwischen Babylon und Zion« siedele und so die Erfahrung des displacement – in der Literatur von Ovid bis Nabokov – zu einem allgemein anthropologischen Phänomen, zu einer endlosen Sequenz von Proskription und Auswanderung erkläre6). Dennoch ist offensichtlich, dass es vor allem die Moderne ist, die besonders mit der Konjunktur der Idee vom Nationalstaat verstärkt eben solche Demarkationslinien hervorbringt, wie sie für die Teilung und Ausbildung »voller« und »leerer« Bezirke und damit für das Anwachsen eines Druckgefälles zwischen diesen Bezirken verantwortlich sind.7 Durch die abnehmende Permeabilität politischer und kultureller Raumzellen entsteht im Europa der Neuzeit allenthalben ein Innen und ein Außen samt der damit einhergehenden Verteilungsdifferenzen. Auf dem Boden eines neuen und zunehmend restriktiven Migrationsregimes8 4 5
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Vgl. Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino I, Frankfurt/Main 1997, S. 15. Vgl. Klaus J. Bade u.a.: »Die Enzyklopädie: Idee–Konzept–Realisierung«, in: diesn. (Hg.): Enzyklopädie. Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn 2007, S. 19-27, hier S. 19. Vgl. Elisabeth Bronfen: »Entortung und Identität. Ein Thema der modernen Exilliteratur«, in: The Germanic Review, Bd. LXIX, Nr. 1, Winter 1994, S. 7078, hier S. 72. Dies sieht H. Levin wiederum in der realen Exilerfahrung bestätigt, die als ein essentiell modernes Phänomen mit der französischen Revolution und dem Beginn des Nationalismus zusammenfalle. Für den exilierten Schriftsteller bedeute der Ersatz der Universalität des Lateinischen durch die neue Vielsprachigkeit die Voraussetzung für das sprachlich verankerte Heimweh des modernen Exilanten. Vgl. ebd. Der Begriff »Migrationsregime« bezeichnet unterschiedliche und in sich veränderliche Ausprägungen und Praktiken räumlicher Bevölkerungsbewe-
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Ulrich Meurer / Maria Oikonomou und angesichts der immer zahlreicheren Grenzziehungen zwischen den Staaten wird schließlich »Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur größten flüchtlingsgenerierenden Region der Welt«.9 Und nicht nur das Exil als konkrete Massenbewegung, hervorgerufen durch die Radikalisierung nationalpolitischen Denkens und Handelns, sondern auch die allgemeine und vergleichsweise diffuse Erfahrung einer »transzendentalen Obdachlosigkeit« (Lukács) und »Unbehaustheit« (Heidegger), des »Unterwegs-Seins« und des »Ungewohnten« haben wesentlichen Anteil an der Gestimmtheit der Moderne. Die Auswanderung des neunzehnten scheint sich im zwanzigsten Jahrhundert in eine allumfassende und tiefgreifende Lebensweise zu verwandeln. Zeitgleich aber mit jenen politischen Faktoren der Moderne, die die Migration einerseits herausfordern und andererseits und im selben Moment verstärkt zu kanalisieren oder gar vollends zu verhindern suchen, entwickeln sich auch die technischen Instrumente zur Kontrolle von Bewegung. Wenn Gilles Deleuze und Félix Guattari deshalb den Staat als Regulator der Bewegung definieren, als »Straßenmeister« und »Konverter«, der alle unkontrollierte Geschwindigkeit, die über ihn herzufallen droht, unterbinden will,10 so fällt die Hypertrophie dieses staatlichen Regimes sicherlich nicht zufällig mit der Erfindung des Kinematographen zusammen, der eine analoge Regelung von Bewegungsprozessen anstrebt und es zum ersten Mal und im Verein mit dem Automobil und dem Flugzeug möglich macht, »to control acceleration or speed mechanically«.11 Denn mit Blick auf derlei moderne Maschinerien ist nicht nur wie stets nach ihrem fortschrittlichen und den Raum öffnenden Beschleunigungspotential zu fragen, sondern ebenso nach ihrer Funktion der Steuerung, zügelnden Aneignung und Beherrschung der mobilisierten Kultur. Während also mit der Moderne die Mobilität fraglos an Bedeutung gewinnt – in der Verschiebung von Mensch und Gut genauso wie in der Übermittlung von Information –, verlangt sie nach einem Instrumentarium, das die Bewegung sowohl zu realisieren als auch zu domestizieren versteht; insofern sind etwa die (durch die Taktstraße rationalisiergung mit ihren jeweils spezifischen Möglichkeiten oder Beschränkungen, wie sie sich innerhalb mehrerer staatlich gerahmter Gesellschaftstypen ausbilden. Vgl. Dirk Hoerder/Jan Lucassen/Leo Lucassen: »Terminologien und Konzepte in der Migrationsforschung«, in: Klaus J. Bade u.a. (Hg.): Enzyklopädie. Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn 2007, S. 28-53, hier S. 39 ff. 9 Ebd., S. 43. 10 Siehe Gilles Deleuze/Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II, Berlin 1997, S. 532, außerdem die Anzeichen einer Staatwerdung in der Kontrolle freier Bewegung, wie sie in diesem Band der Beitrag zu M. Night Shyamalans Film The Village beschreibt. 11 Edgar Reitz: »Speed is the Mother of Cinema«, in: Thomas Elsaesser/Kay Hoffmann (Hg.): Cinema Futures: Cain, Abel or Cable? The Screen Arts in the Digital Age, Amsterdam 1998, S. 63-72, hier S. 63.
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Fremdbilder te) Fahrzeugherstellung und das Vitascope der Zeitgenossen Ford und Edison Verfahren zur Einführung von Bewegung in die Produktion beziehungsweise Rezeption der Welt und zugleich Mittel ihrer mechanischen Regulierung, die sich dem ungehemmten Raumgreifen der Kinetik und der Geschwindigkeit entgegenstellen. Da in diesem Sinne der Schnelligkeit nun die Bremsung beigeordnet ist, da die Bewegung – diejenige der Migranten über die Staatsgrenzen wie auch die eines technischen Prozesses über die Schranken des menschlichen Aktions- und Wahrnehmungsapparats hinweg – politisch und maschinell kontrolliert werden muss, scheint der Film als genuine Repräsentations- und Kunstform des 20. Jahrhunderts durch mehr als nur eine zufällige geschichtliche Gleichzeitigkeit besonders geeignet, die geographischen Verschiebungen der Einund Auswanderung zu reflektieren. In der Moderne trifft er sich mit der Migration und ihrer politischen Behandlung im Hinblick auf die in beiden Fällen anwachsende Bewegung und im Bestreben, sie zu rahmen und zu rhythmisieren.12 Nimmt man eine solche geschichtliche Koinzidenz von geopolitischer und medialer Bewegung sowie ihrer Kontrolle an, so wird mit diesem historischen Argument jedoch auch eine gewisse zeitliche Ferne, ein anachronistischer Zug sowohl jenes erwähnten nationalstaatlichen Modells und seines Migrationsregimes als auch des klassischen Kinos und seines Dispositivs fühlbar: Beides – so ließe sich sagen – entwickelt sich zuerst parallel, um in der Moderne eine Blütezeit zu erleben und dann auf ähnliche Weise sein Ende zu finden (eine These, die das Analogieverhältnis zwischen Migration und Film weiter untermauerte). Während sich nämlich die Auswanderung für das neunzehnte und das Exil für das zwanzigste Jahrhundert als zentrale Begriffe des Migrationsdiskurses erweisen mögen, vollzieht sich in der nachmodernen Gegenwart ein »Zwielichtigwerden der großen Ordnungen«, zwischen denen und entlang deren sich zuvor derlei Bewegungen entwickelt haben. Das bisher von der Ordnung Ausgesonderte sieht sich nunmehr als ein allgegenwärtiges »radikal Fremdes«13 mitten in die vormals vertraute und abgedichtete Zone des Eigenen versetzt und transformiert, ohne noch einen Unterschied zu machen, die Migration zu einer unspezifischen Erfahrung. Indem so der Raum der Gegenwart mit Foucault 12 Daher nimmt es nicht Wunder, wenn wohl keine andere Darstellungsform so häufig und eingehend auf ihre inhärente – gleichsam »mediale« – Politik geprüft worden ist wie der Film. Eine ähnliche Verschränkung von politischen Strömungen einerseits und dispositiven Bedingungen des Kinos andererseits, wie sie hier zwischen den sich wandelnden Migrationsregimes im 20. Jahrhundert und der Taktung des Kinematographen angenommen wird, lässt sich etwa im Werk Walter Benjamins, besonders in seinem Kunstwerk-Essay, finden. 13 Bernhard Waldenfels: Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden 1, Frankfurt/Main 1997, S. 11.
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Ulrich Meurer / Maria Oikonomou als Gleichzeitigkeit und Nebeneinander bestimmt werden kann, als der Raum dessen, was »Seite an Seite und zerstreut ist«,14 verlieren der Ortswechsel und die räumliche Differenz zwischen dem Eigenen und dem Anderen ihre Bedeutung für die Lebenswelt. Nicht mehr geht es um Ein- und Auswanderung, nicht einmal ist der Immigrant bereits hier, sondern hält sich – statt nur in dessen Territorium – jetzt in jedem einzelnen selbstfremden Subjekt auf. Ähnliches benennt auch Ulrich Bielefelds Diktum von der »Demokratisierung des Fremden«: der Nationalstaat habe seine Form verändert und seine klassischen Souveränitätsrechte und -forderungen verloren. Mithin zeichne sich der Beginn einer Transnationalisierung von Identitäten und Loyalitäten in verschiedenen Segmenten der Bevölkerung ab, an deren Ende die Fremdheit keine Ausnahmeerfahrung mehr bilde, sondern alltäglich geworden sei.15 Der Raum »abendländischer Kultur« ist ein anderer geworden; ihn charakterisieren die Anwesenheit und statt der Teilung die zunehmend gleichmäßige Verteilung, so dass – im Gegensatz zur Weltordnung der Genesis oder zu derjenigen im Zeichen eines erstmals erstarkenden Nationalgedankens (freilich jedoch nur innerhalb des wiederum nach außen abgeschotteten Hypersystems16) – fast von einem entropischen Zustand gesprochen werden könnte. Die zielgerichteten Wanderbewegungen und weitläufigen Verschiebungen nehmen ab, materieller Transport und reale Bewegung erscheinen angesichts flächiger Streuung und Präsenz nicht länger notwendig. Dieselbe Diagnose vom Verschwinden des Transports und der physischen Bewegung ließe sich nun – nach dem »Ende« der Migra-
14 Michel Foucault, zitiert ebd., S. 12. 15 Vgl. Ulrich Bielefeld: »Exklusive Gesellschaft und inklusive Demokratie. Zur gesellschaftlichen Stellung und Problematisierung des Fremden«, in: RolfPeter Janz (Hg.): Faszination und Schrecken des Fremden, Frankfurt/Main 2001, S. 19-51, hier S. 41 f. Um dabei jedoch nicht willkürlich eine postmoderne, beliebig vernetzte Welt zu postulieren, die in der vermeintlichen Einheitssphäre und den synchronen Verteilungen westlicher Industrienationen jede Migration überwunden hätte, weist Bielefeld darauf hin, dass die »alten sog. ›push and pull‹-Faktoren der Immigration [weiter wirken], d. h. Armut, Unterdrückung und Krieg können zur Wanderung motivieren und tun es tatsächlich.« (S. 42) Nichtsdestoweniger werde die institutionell nach wie vor vorhandene Nation bunter, »d.h. sie kann sich nicht mehr über kulturelle Souveränität definieren, und ihre Grenzen werden nach außen weiter, ohne real verlagert zu werden« (S. 44). 16 So fördern etwa die Schengener Abkommen die Freizügigkeit innerhalb der EU und tragen damit zur Vervielfältigung von »Streuungen« und »Mikrobewegungen« in einem Einheitsraum bei, die den grenzüberschreitenden und gleichsam absoluten Charakter der Auswanderung hinter sich gelassen haben. Zugleich jedoch suchen die Regelungen diesen Raum als »Festung Europa« vor Zuwanderung von außen zu schützen (vgl. D. Hoerder/J. Lucassen/L. Lucassen: Migrationsforschung, S. 45). Es lässt sich also neuerlich nur im Innern des politisch definierten Systems Europa tatsächlich eine Abnahme von Makrobewegungen und eine Beliebigkeit der Richtungen annehmen.
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Fremdbilder tion, nach dem »Tod« des Kinos – auch für den Film stellen. Seine archaischen Aufnahme- und Projektionsmaschinen aus beweglichen und unbeweglichen Teilen, die mit Klebestellen versehenen, dem Verschleiß und der Alterung ausgesetzten Zelluloid-Streifen, »carried arduously to the express train or the central store after they have been shown«,17 die Mechanik, der Kampf gegen die Schwerkraft, die das Wesen und die Geschichte des Kinos ausmachen18 – all dies mutet zutiefst unzeitgemäß an, nachdem die analoge Bildfolge eines Films längst schon in einen gewichtslosen und immateriellen Datenstrom verwandelt werden kann. Wie die körperliche Bewegung des Migranten geht diejenige des Films und auch seines Zuschauers, geht der Transport in einer flächigen Verteilung und Präsenz der Bilder on demand auf. Folgerichtig sieht Edgar Reitz die Bewegung als grundlegende Kategorie der Bildwahrnehmung durch die Übertragung abgelöst: »No longer is motion that which is most important but the fact that telemedia understand everything our senses perceive in terms of communications technology and to make its transmission possible.”19 Und gerade am Begriff der »Heimat« – ebenfalls Titel seiner zwischen 1984 und 2004 entstandenen Trilogie von Fernsehfilmen – veranschaulicht Reitz diesen Paradigmenwandel, der nicht nur einen massiven Bewegungsverlust des Bildlichen in dessen steter Anwesenheit herbeigeführt, sondern ebenso den Ursprung und die Möglichkeit der Bewegung in der Sphäre des Vertrauten gelöscht habe: With Heimat I made a film which obviously represents an extreme opposite to this technical world of computer aesthetics. The term »Heimat” itself seems to be the opposite of what has just been hinted at, because it still deals with the fact that each of us experienced a distinctive childhood in a particular place, something which can neither be put into perspective nor be disposed of. […] Heimat tries to describe this state which, after all, is also the memory of something forever lost. To this day I know that this is something which cannot be digitized.20
Da »Heimat« raumzeitliche Ferne konnotiere, die sich – als immer schon verlassen – sogar der Verfügung des Subjekts entziehe, da sie recht eigentlich erst zu existieren beginne, wenn sie nicht mehr präsent sei21 und also ihrem Wesen nach der anhaltenden, unaufdring17 18 19 20 21
E. Reitz: Speed, S. 69. Vgl. ebd., S. 65. Ebd., S. 68. Ebd., S. 70. »In diesem Sinne würde Heimat als etwas Bezeichnetes, mithin also die Rede von Heimat, überhaupt erst unter den Bedingungen ihres – zumindest drohenden – Verlustes plausibel. Pointiert [mit Friedrich Kittler] gesagt: ›um über Heimat zu schreiben, muß sie schon verloren sein‹.« (Gunther Gebhard/Oliver Geisler/Steffen Schröter: »Heimatdenken: Konjunkturen
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Ulrich Meurer / Maria Oikonomou lichen Nähe, der mangelnden Schwere und Beharrlichkeit des Digitalen widerspreche, könne zwar das Kino die Erfahrung des Heimatlichen bergen; das gerechnete Bild und die elektronisch übermittelte Information hingegen zersetzten den Abstammungs- und Schutzort des Menschen, indem sie selbst sein Heim in Besitz nähmen, bei jeder Rückkunft dort bereits auf den Heimkehrer warteten und ihn damit zum alltäglichen Exilanten in der Datenwelt machten. Reitz’ Zusammenführung des Mediums mit einer Art inneren Geographie veranschaulicht, wie das Heim (der Ort, von dem aus man sich auf den Weg ins Kino macht) und die Heimat (der Ort, der am Anfang aller Migration steht) historisch wie auch technisch mit dem Film verknüpft sind, während das Digitale diesen Ursprung der Bewegung löscht. Hier wie dort, auf dem Gebiet einer Politik und Kultur, die vormals dem Verlassen und der Ankunft Raum geboten haben und nun von ewiger Anwesenheit durchwoben sind, ebenso im Kreis eines Mediums, das einmal auf der kontinuierlichen Veränderung von Phasen und der räumlichen Verschiebung beruhte und jetzt der raumlosen Gegenwart des Signals weicht, markiert dieser Schritt zu Streuung und Präsenz im annähernd selben Augenblick gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts die allmähliche Auflösung der Bewegung. Wie die Moderne – ihr Denken, ihre Politik und ihre Techniken – spätestens mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert die Mobilität als Leitfigur erfindet, die Tempi steigert, sie zugleich in Rhythmen kadriert, wie damit in ihr die Migration und der Kinematograph unwillkürlich enggeführt sind, so sinkt in der Nachmoderne das universelle Bewegungsprinzip in das weite Spatium unterschiedsloser Verfügbarkeit zurück.
3. SYLLOGISMUS: MIGRATION IST FORM, KINO IST FORM, MIGRATION IST KINO. Neben dieser geschichtlichen Koinzidenz von Auswanderung und Exil einerseits und Kinematographie andererseits, die beide die Moderne als Dominante durchlaufen und mit Anbruch des postindustriellen Zeitalters zusehends einer Umkodierung beziehungsweise Marginalisierung anheim fallen, existiert noch eine weitere, diesmal strukturelle Parallele, die sich aus dem eingangs beschriebenen Verhältnis der Migration und des Films zur Kategorie der Bewegung überhaupt ableitet. Denn beide sind nicht nur als deren wesenhafte Verkörperung zu verstehen und setzen direkt eine prozesshafte Wirklichkeit um; darüber hinaus nämlich ordnen sie sie – als Form – in ähnliche Abläufe. Sosehr sie dem unbegrenzten Konund Konturen. Statt einer Einleitung«, in: diesn. (Hg.): Heimat. Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts, Bielefeld 2007, S. 9-56, hier S. 11).
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Fremdbilder tinuum der Welt entsprechen mögen, so werden sie dennoch erst als ein Ausschnitt wahrnehmbar, der eine äußere Einfassung und innere Struktur aufweist. Ein Leben mag ganz wie das gesamte (Bergsonsche) Sein keinerlei Schnitte kennen und bildet einen stets veränderlichen, unteilbaren Strom, wandelt sich aber erst durch den Eingriff der Form vom reinen Ereignis zur erzählbaren Begebenheit. Zwischen seinen als wichtig erachteten »Wendepunkten« und entlang der (vielleicht um ein weniges blasser erscheinenden) Entwicklungslinien, die sie verknüpfen, taucht so ein Lebensabschnitt auf, dem dann Anfang, Mitte und Ende eignen. Es ist offensichtlich, dass ein solches Verfahren der Organisation – durch die Erinnerung, durch die Kunst – der Migrationserfahrung und dem Film gleichermaßen unterliegt und sie nun auf dem Feld narrativer Struktur einander annähert. Die Auswanderung beginnt mit einem Aufbruch und mündet nach der Reise in eine Ankunft, sämtlich Phasen, die sich im Bereich der bewegten Realität verteilen und ihr angehören, ohne freilich ihre ganze Fülle zu umfassen; der Film setzt ein, folgt einer – zuweilen noch so kleinteiligen – Ereigniskette,22 endet und stellt mithin ebenso Differenzen im Fluss der durch ihn abgebildeten Wirklichkeit her. Wie also die unbestimmte geographische Bewegung zugleich die Bewegung der Welt ist, während die konkrete Migration durch ihre Auswahl eines kontingent gesetzten Beginns, eines Verlaufs und Abschlusses diese Bewegung zu einer Handlung transformiert, gehört auch das Filmische in seinem Wechsel von Bild und Zwischenbild und der daraus erwachsenden Kinetik grundsätzlich dem beweglichen Kosmos an, während die durch einen Film getroffenen formalen Entscheidungen aus der Potenzialität des Mediums und der Bewegung eine aktuelle Narration herstellen. Insofern sind mit Situation und Milieu, Aktion und Ereignis die Pole benannt, zwischen denen gleichermaßen Auswanderung, Exil und das filmische Erzählen siedeln. Aus dem zutiefst Prozessualen der Wirklichkeit und den technischen Bedingungen des Films gehen dort die Wege und Karten der Migration, hier der Handlungsbogen oder gar all jene Motive und Stoffe der Mobilität hervor, die das Kino als die ihm gemäßen bevorzugt. Auf einer noch relativ abstrakten Ebene bringt die Notwendigkeit der Strukturierung im Film unter anderem das klassische Aktions-Bild hervor, dessen so genannte »große Form« Gilles Deleuze eben als 22 Selbst der erste der nur einminütigen Filme der Brüder Lumière, La sortie des usines Lumière (1895), in dem man Arbeiter und Arbeiterinnen nach der Öffnung der Tore, und bis diese wieder geschlossen werden, das Fabrikgelände verlassen sieht, umfasst Anfang, einen vollständigen Handlungsablauf und Ende, so dass ihn etwa J. Paech nicht als bloße – vom Titel des Films benannte – Ereignisaussage, sondern als geschlossene Miniaturerzählung beschreibt: »Es ist also durchaus möglich, daß ein Film mit nur einer Einstellung die Gliederung des narrativen Minimalschemas realisiert« (Joachim Paech: Literatur und Film, Stuttgart 1988, S. 7).
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Ulrich Meurer / Maria Oikonomou eine Verkettung von Situation, Aktion und (veränderter) Situation – SAS’ – beschreibt,23 und es lässt sich unschwer erkennen, dass dieser triadische Aufbau auch den Mustern oder der »Struktur« der Migration zugrunde liegt. Nicht allein aufgrund der Erzählkonventionen des Kinos scheint jenes Syntagma der »großen Form« vielleicht mehr noch als das Wahrnehmungs- und das Affektbild der Bewegungsdominante des Films zu entspringen. Jedoch ist das Kino nicht lediglich durch derlei allgemeine Aktionsstrukturen oder Schemata raumzeitlicher Verschiebung gekennzeichnet, sondern darüber hinaus – wie Jean-Christophe Royoux betont – bereits durch seine Prähistorie mit bestimmten Themen verbunden und (als Erbe einer Vielzahl mechanischer Abbildverfahren) so oftmals mit der Reise in eins gesetzt: Bilder von Reisen gehören seit ihrer Anfangszeit zu den bevorzugten Motiven der Photographie, die sie als medialer Nukleus des Films daraufhin in diesen fortzutragen weiß. Und auch früher schon, in den Bildern, die der Erfindung selbst der Photographie vorausgehen, aber fraglos zur weit verzweigten Vorgeschichte des Films gezählt werden müssen, in Guckkästen, in Pano- und Dioramen, in den Bildsujets der Laterna Magica, nimmt die Reise eine beherrschende Stellung ein: »So wie der Schausteller durch die Lande reist, lädt auch sein Projektionsapparat dazu ein, sich an andere Orte zu begeben, also eine Reise an Ort und Stelle anzutreten.«24 Derweil ist es wiederum Edgar Reitz, der – weil das Kino ein Kind der Geschwindigkeit sei und das Anhalten des Projektors oder der Filmriss sein Ende bedeuten würden – nun dem Film selbst (nicht aufgrund seiner »Genetik«, sondern mit Blick auf seine Mechanik) bestimmte Themen zuordnet, in denen diese Mechanik pointiert zutage trete, die seiner Kinetik entsprechen und daher besonders »filmisch« genannt werden können: »[The] two major topics of the cinema are crime and sex. In crime as well as in sexual passion the inevitable moment arrives when something gets going that can no longer be stopped.«25 Indem Reitz allerdings zugesteht, dass daneben auch andere Gegenstände, etwa der filmische Lebensbericht (Heimat), von der ununterbrochenen Sequenzialität der Bilder abhängen und die grundlegende Bewegung des Kinos auf die Ebene des Bildinhalts transponieren, findet das Prinzip des Kinos sein thematisches Pendant schließlich ebenso im Migrationsfilm. Die Auswanderung stellt im Auge des Films also keinen beliebigen Anteil phänomenaler 23 Vgl. G. Deleuze: Bewegungs-Bild, S. 194 ff. 24 Jean-Christophe Royoux: »Was ist Kino? Vom bewegten Bild zum multiplen Bild: Eine Lektüre des Media Magica-Zyklus von Werner Nekes«, in: Nike Bätzner/Werner Nekes/Eva Schmidt (Hg.): Blickmaschinen – oder wie Bilder entstehen. Die zeitgenössische Kunst schaut auf die Sammlung Nekes, Köln 2008, S. 261-271, hier S. 269. 25 E. Reitz: Speed, S. 64.
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Fremdbilder Realität dar; sie ist mit ihm vielmehr wesensverwandt, da sie den Verlauf filmischen Erzählens vorzeichnet und ihn implizit zum Ausdruck bringt. Ob man Exil und Kino also als unvermittelte Präsenz und Präsentation ansehen will, denen die (Welt-)Bewegung vor allem anderen eigen ist, ob man sie als historische Phänomene betrachtet, die mit den Kontrollmechanismen und Maschinen der Moderne ihre Konjunktur erleben, um dann in den Disseminationen der Postmoderne aufzugehen, oder ob man ihnen eine struktuelle Verwandtschaft zuspricht, da beide Formen kontinuierliche, aber begrenzte Serien ausbilden – stets erscheinen sie als Reflektoren, die einander spiegeln, ohne dass in ihrem Wechselverhältnis von einem Primat noch die Rede sein könnte.
EIN BILD DER POLYMORPHEN BEWEGUNG: THE IMMIGRANT Dieser vielfältig changierende und doch stabile Konnex zwischen Migrations- und filmischer Bewegung zeigt sich exemplarisch bereits für Charles Chaplins 1917 entstandene Komödie The Immigrant als konstituierend. Alle Ebenen der Darstellung – der mediale und der modale Raum, die Sphäre der Thematik wie diejenige der Motive, das »reale« und auch das metaphorische Bild – werden dort von einer einzigen großen Bewegung durchlaufen, die sich immer sowohl auf die Auswanderung als auch auf deren Repräsentation auf der Leinwand bezieht. Indem The Immigrant so auf beständig neue Weise das Verhältnis von bewegtem Bild und abgebildeter Bewegung (des Auswandererschiffs, der Passagiere) variiert, sind die Übergänge zwischen ihnen bald kaum mehr auszumachen; der Film in seiner Gesamtheit entwirft einen kinetischen Kosmos, in dem beides ineinander übergeht. Schon ganz zu Beginn etwa folgt auf den Establishing Shot eines Dampfschiffs auf hoher See eine Bildsequenz, die zunächst eine undifferenzierte, vielköpfige Gruppe von Migranten, dann ein aus der Menge herausgegriffenes Paar – Mutter und Tochter (Kitty Bradbury/Edna Purviance) – und schließlich den von Chaplin verkörperten Tramp an Deck zeigen. Diese Einstellungsfolge verlagert nicht nur das Thema Immigration schrittweise aus dem Bereich einer allgemeinen gesellschaftlichen in den einer individuellen Erfahrung, insofern sie letzten Endes den Tramp als Synekdoche oder Typus einer ganzen sozialen Gruppe vorstellt;26 darüber hinaus macht sie deutlich, wie 26 Auf eine solche für die Darstellung der Migration im Kino bzw. in der Literatur typische »Vertretung« der Masse durch den Einzelnen geht im vorliegenden Band besonders M. Oikonomous Beitrag zu Elia Kazans Spielfilm America, America und Thanasis Valtinos’ Roman Andreas Kordopatis ein; wenn dort die Zeichnung der Protagonisten zunächst biographischen Anspruch zu erheben und damit das individuelle Erleben herauszustellen scheint, so erwächst aus dem epischen Erzählstil Kazans und aus Valtinos’
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Ulrich Meurer / Maria Oikonomou die Bewegung der Reise von der des Aufnahmeapparates grundsätzlich nicht zu unterscheiden ist, da das Rollen des Schiffs hier weniger dem Seegang, dem physischen Umgebungsraum, sondern vor allem der gleichmäßig auf ihrem Stativ schwankenden Kamera entspringt. Die Dynamisierung, welche die Welt durch die Migration erfährt, verschmilzt demnach von Anfang an mit dem durch einen technischen Effekt dynamisierten Bild, wird von ihm zugleich simuliert, dupliziert und amplifiziert. Kurz darauf jedoch löst sich die Bewegung vom Apparat und geht abermals in eine neue Komponente über; jetzt ist es nicht mehr der Kader, der die Bewegung vom zu überquerenden Ozean übernommen und in sich aufgenommen hat, jetzt ist es die Figur im Bildfeld, es sind die Auswanderer, die ihrerseits vom bewegten Bild affiziert scheinen: Während nämlich die Kamera in den nächsten Einstellungen statisch den Raum fixiert, hat sich ihr vormaliger Bewegungstakt nun hinein in die Körper der Personen verlagert, die von Seekrankheit geschüttelt werden und jeden Moment ihr aufbegehrendes Inneres nach außen kehren möchten. Dabei geht mit jener »Verinnerlichung« der Bewegung ein deutlicher Wechsel der Einstellungsgröße einher. Wenn zuvor der Raum als Erstreckung erschienen ist, in der die Körper der Bewegung ausgesetzt waren, so drängt jetzt die Nahaufnahme auf diese Körper ein, um auf ihrer Oberfläche die minutiösen Bewegungen darunter sich abzeichnen zu sehen. Denn der hier abgebildete Affekt (die Übelkeit) stellt eben keine raumgreifende Aktion, sondern einen »Stau« dar, der die direkte Aktion als Antwort auf eine leibliche Wahrnehmung aufschiebt. Er findet sich nur mehr als Gesichtsausdruck – als Expression einer Körperpartie, die »den wesentlichen Anteil ihrer Bewegungsfähigkeit aufgeben mußte, um Träger von Empfangsorganen zu werden«27 –, anstatt sich im gesamten Bild auszubreiten. Die extensive Makrobewegung des modalen Raums, des krängenden Schiffs, die sich zuerst auf den medialen Raum des schwankenden Bildkaders übertragen hat, verwandelt sich mithin in die intensive Mikrobewegung eines Gesichts in Großaufnahme28 – sie geht über in ihren dritten Zustand, Wendung seines Berichts zur Legende doch in beiden Fällen eine Verallgemeinerung der geschilderten Ereignisse, die nunmehr »beispielhaft« die Migration an sich veranschaulichen. 27 G. Deleuze: Bewegungs-Bild, S. 123. 28 Wenn man das Gesicht Chaplins, das von der See(-krankheit) bewegt ist und in dem sich so die Raumbewegung abzeichnet, an einem der beiden Pole des Affektbildes ansiedeln will, die Gilles Deleuze als eine reflektierende Empfindung – »Staunen« – beziehungsweise einen gerichteten Bewegungsimpuls – »Verlangen« – bezeichnet, so deuten die vom Umriss des Gesichts unabhängigen Teile (das zuckende Bärtchen, das Heben und Senken der Augenbrauen) auf die zweite dieser Varianten: »Tatsächlich befinden wir uns immer dann vor einem Gesicht mit starkem Ausdrucksgehalt, wenn die Gesichtszüge sich vom Umriß freimachen, auf eigene Rechnung arbeiten und eine autonome, einer Grenze zustrebende [...] Serie bilden.«
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Fremdbilder so dass deutlich wird, wie bereits in der ersten Szene des Films die Bewegung tatsächlich alle Repräsentationsebenen in Besitz zu nehmen trachtet. Und daraufhin wechselt sie erneut ihren Ort, verlässt den Körper, auf dem sie sich als affektive Mimik zu erkennen gegeben hat, und kehrt in den Außenraum zurück, diesmal jedoch nicht, indem sie wie zuvor den Aufnahmeapparat erfasste oder die bewegte Wasserfläche beträfe, sondern indem sie – gleichsam »zwischen« dem technisch abbildenden und dem real abgebildeten Feld, zwischen Medialität und Modalität – das Set okkupiert. Auf das Glockensignal des Schiffstewards hin eilen die Auswanderer in den Speiseraum, der auf einer mechanisch bewegten Studiobühne errichtet ist, so dass nun, während die Kamera still gestellt ist, der ganze Raum und mit ihm die Menschen und Requisiten von einer zur anderen Seite geschleudert werden. Die auf eine Wippe montierte Lichtbühne, die die Emigranten durcheinander wirft und die Suppenteller tanzen lässt, stellt einen neuen (und nicht den letzten) Ort einer Bewegung dar, die sich in The Immigrant unaufhörlich von einer Instanz des Dispostivs auf die nächste verlagert, die sich unablässig im Bild und zwischen den Bildern verschiebt, bis sich Handlung und Form – und darunter Thema und Medium – als kinetische Serien offenbaren und damit die Differenz zwischen Chaplins Vorliebe für »Ganzkörper«-Aufnahmen beziehungsweise weiträumige Kameraführung und den von seinem Aufnahmeleiter Rollie H. Totheroh bevorzugten Nahaufnahmen in einer allgegenwärtigen Dynamisierung aller Bildelemente und Einstellungsgrößen aufgehoben ist.29 Wie bewusst Chaplin eine Bewegung an die andere anschließt – das Thema der Auswanderung an die große mobile Maschine des Schiffs, das Schiff an den in Bewegung versetzten Reisenden, an den akrobatischen Schauspieler, all dies wiederum an den Aufnahmeapparat, an die Bewegung der Narration und immer so fort –, zeigt sich nicht zuletzt in seinem Umgang mit Gags und Erzählelementen, die die Bewegung der Migration »metaphorisch« ein um das andere Mal wieder aufnehmen und fortführen (sogar der durch die Aristotelische Physik eingeführte Begriff der metaphora selbst impliziert ursprünglich eine Umwandlung oder Verschiebung im Raum). So wird etwa das Rollen des Dampfers, dessen Passagiere dem Meer und den Wechselfällen eines ungewissen Schicksals ausgesetzt sind, durch den anschließenden Zwischentitel »More (Ebd., S. 125 ff.) Chaplins in Unruhe versetztes Gesicht, das nicht denkt, sondern Anlass gibt zu Fragen wie: Was ist in dich gefahren, was fühlst du oder spürst du?, spiegelt eine aus dem Umgebungsraum gespeiste und nun im wahrsten Sinne verinnerlichte Erregung. 29 Vgl. Catherine Bot: »The Mutual Comedies«, in: dies. (Hg.): Booklet zur DVD: Charlie Chaplin – The Mutual Comedies Vol. 6, 1917, Euroarts 2000, S. 1-3, hier S. 1.
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Ulrich Meurer / Maria Oikonomou rolling« mit der darauf folgenden Szene, dem Würfelspiel des Tramps und einiger Mitreisender, in Beziehung gesetzt. Die Schrifttafel scheint dabei die Würfel zum Dingsymbol zu erklären, mehr noch: sie spannt durch die Bedeutungsvielfalt des Begriffs »rolling«, der deshalb als tertium comparationis dienen kann, die erste und die nächste Sequenz, das Schiff und das Glücksspiel auf eine Weise zusammen, die den ganzen Bewegungskomplex der Migration in den Würfeln aufgehoben erscheinen lässt. Und obwohl der gesamte von der Atlantikpassage weitgehend unabhängige zweite Teil von The Immigrant, in dem der Einwanderer seine erste Mahlzeit in einem New Yorker Speiselokal zu sich nimmt, nur aus produktionstechnischen Gründen mit der Überfahrt zu einem einzigen Film montiert wurde,30 ist sicherlich die Münze, die der Tramp nach seiner Ankunft auf dem Pflaster findet, als verknüpfendes Element zwischen den beiden sonst disparaten Episoden, nämlich als eine weitere metaphorische Verdichtung der Migrationsbewegung zu sehen. Im Geldstück, das dem Migranten zumindest für einen weiteren Tag das Überleben in der Fremde erlaubt und ihn als Subjekt innerhalb des weltumspannenden Kapitalkreislaufs kenntlich macht, verbinden sich nicht lediglich die Schlüsselthemen des Films, die Ungleichheit sozialer Klassen und diejenige ethnischer Gruppen (Zuwanderer vs. Einheimische);31 zugleich schließt die Münze das Leben nach der Ankunft in den Vereinigten Staaten mit der zuvor unternommenen Reise kurz, indem nun auch sie zu wandern beginnt. Sie wiederholt gleichsam die ganze Bewegungsserie, taucht zuerst an Bord des Passagierschiffs als Wetteinsatz auf, dann unvermittelt auf dem Bürgersteig der Großstadt, wo Chaplin sie entdeckt und in die löcherige Tasche steckt, so dass die Münze unbemerkt durch sein Hosenbein zurück auf den Boden rollt und wenig später von einem Passanten aufgelesen wird, der daraufhin dieselbe Gaststätte betritt wie vor ihm der Tramp. Nachdem der Fremde seine Tasse Kaffee bezahlt hat, fällt das Geld nunmehr durch das Loch in der Tasche des Oberkellners, und Chaplin kann es sich erneut aneignen; jedoch stellt es sich, als er zu zahlen versucht, als falsch heraus; der mittellose Vagabund bemüht sich verzweifelt um Ersatz und bemächtigt sich schließlich des Trinkgelds eines wohlhabenden Gastes, um seine Rechnung zu beglei30 Der Fernsehdokumentation »Unknown Chaplin« von Kevin Brownlow und David Gill aus dem Jahr 1983 zufolge plante Chaplin zunächst einen Film, der das Leben der Bohème in einem Pariser Künstlercafé zum Thema hat. Da nach dem ersten Schnitt das Material jedoch nicht für zwei Rollen reichte, fügte er den ersten Teil an, der die Personen als Immigranten in Amerika darstellt. Vgl.: http://www.path.coe.uh.edu/seminar2002/week2/ immigrant_chaplin.html vom 27. Dezember 2008. 31 Vgl. Ben Dooley: »Music, comedy and class: The Immigrant and Gold Diggers of 1933«, in: Offscreen, Bd. 10, Nr. 1, Januar 2006 (http://www. offscreen.com/biblio/phile/essays/comedy_class/ vom 27. Dezember 2008).
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Fremdbilder chen. Das Würfelpaar, auch der Hut des Tramps (der von seinem Kopf in die Hand des Kellners, auf die Tischplatte, neuerlich auf den Kopf, die Wand empor, über die Stuhllehne wandert) und vor allem die Münze (deren Weg sich unablässig verzweigt, die erscheint und sich wieder entzieht, Kreise zieht, Substitutionen eingeht, sich verwandelt und stets in Bewegung bleibt), geben sich so als Elemente zu erkennen, die einerseits die Migration und das Kino als dynamische Phänomene in sich fassen und andererseits durch ihren Relais-Charakter die zwei Teile von The Immigrant in ein strukturelles Verhältnis setzen. Denn besonders das Münzgeld »migriert« nicht nur selbst unaufhörlich durch Hände und Hosentaschen, als Nukleus aller Bewegung durchläuft es zudem beide Serien des Films – das Schiff/das Speiselokal – und stellt auf diese Weise zwischen ihnen eine symbolische Brücke her. Wie der Brief in Edgar Poes Purloined Letter, wie das Taschentuch Othellos bildet die Münze den Konvergenzpunkt, der das Geschehen in Episode eins und zwei des Films koordiniert, nach dem sich die Differenzen in ihnen verteilen, die Objekte und Personen anordnen, und der auf beiden Seiten der Struktur anwesend ist. Ein solches Objekt – so Gilles Deleuze, wenn er die Kriterien des Strukturalismus aufzählt – bewegt sich über die Grenzen der Serien hinweg, es zirkuliert in ihnen und von einer zur anderen und hat daher die Eigenschaft, »nicht dort zu sein, wo man es sucht, aber dafür auch gefunden zu werden, wo es nicht ist«.32 Die ganze zweiseitige Struktur, der ganze Film, das heißt auch, die ganze Bewegung sowohl der Auswanderung als auch der Kinematographie, wird von diesem ursprünglichen Dritten, das zwischen den Bewegungen vermittelt, in Gang gesetzt. Derweil aber weiß The Immigrant ebenso um das Bedürfnis, um den Auftrag der Moderne und ihres Staatsapparates, diese wuchernden Bewegungen in den Dingen und Menschen zu kontrollieren. Einerseits schließt der Film an die Migration den Kinematographen an und stellt beides als ununterscheidbar dar; er erfindet Bilder, die auf besondere Art Bewegung zeigen und zugleich bewegt sind, er erfindet Requisiten, um noch in ihnen die Anwesenheit der Bewegung zu demonstrieren. Andererseits jedoch deutet er hin auf die Mechanismen der Entschleunigung, die bereitstehen, der überbordenden Kinetik ein Ende zu setzen, und stets mit einem Augenblick der »Erfüllung« sich vermählen, der die Leere und damit das Druckgefälle zwischen dem Status der Aktualität und einer entfernten Potenzialität abzuschaffen sucht. Sowohl für den ersten als auch für den zweiten Teil des Films gilt, dass sie mit einem solchen Eingriff in die Bewegung, mit einer Bremsung oder gar Stillstellung 32 Vgl. Gilles Deleuze: Woran erkennt man den Strukturalismus?, Berlin 1992, S. 44.
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Ulrich Meurer / Maria Oikonomou schließen. Zunächst markiert so der Zwischentitel »The arrival in the land of liberty« das Ende der Überfahrt, eine hoffnungsfrohe Masse von Menschen versammelt sich an Deck des Schiffs, worauf im Umschnitt die Freinheitsstatue als Ikone des gewährten neuen Handlungsraums auftaucht. Gleich darauf aber – bevor sich die Schiffsladung von Migranten dem disziplinierenden Zugriff entziehen und in jenen Raum der Möglichkeiten ergießen kann – sind Staatsmacht, Schiffsbesatzung und Einwanderungsbehörde zur Stelle, um die Menschenmeute mit Hilfe eines festen Taus zurückzuhalten. Denn wenn der Staat (wie bereits erwähnt) unaufhörlich damit beschäftigt ist, Bewegung aufzulösen, zu transformieren und die nomadische Geschwindigkeit zu regulieren, wenn die Schwerkraft sein Wesen ist und er den Raum gegen alles einkerbt, was über ihn hinausgehen will,33 so stellt für ihn die Einwanderung eine besondere Herausforderung dar, die kanalisiert werden will, indem die Masse durch registrative Mittel in Subjekte zerteilt und diesen nur zögerlich in der neuen Gesellschaft ein Platz zugewiesen wird: die durch das Wachpersonal und das Seil in eine Ecke des Schiffsdecks gepferchten Migranten, deren Identität – auf Zetteln verzeichnet – an ihre Kleider geheftet ist, werden einer nach dem anderen in eine Liste aufgenommen und daraufhin einzeln von Bord geschickt. Allerdings stellt neben der kleinen Öffnung, durch die der Staatsapparat hier die Bewegungsenergie entweichen lässt, der in die Menge aus Körpern gekeilte Vertreter dieser Bewegung, der Vagabund, ein besonders widerständiges Element dar, das sich der Beschränkung entgegenstellt. Einem der Uniformierten versetzt er ungesehen einen Tritt und markiert zuletzt damit eben die kinetische Gegenkraft, die sich dem Regulativ zu entziehen sucht.34 Und man kann sagen, daß jedesmal dann, wenn man sich gegen den Staat wehrt (Undiszipliniertheit, Aufstand, Guerillakrieg oder Revolution), eine Kriegsmaschine wiederbelebt wird, ein neues, nomadisches Potential auftaucht, und damit die Rekonstitution eines glatten Raumes oder einer Lebensweise wie in einem glatten Raum (Virilio erinnert an die Bedeutung des aufständischen oder revolutionären Themas, »die Straße zu halten«).35
(Wie bedrohlich eine solche emanzipatorische Geste wirkt, belegt zudem die Tatsache, dass dieser Tritt von der McCarthy-Administration in den fünfziger Jahren als Beweis für Chaplins staats33 Vgl. G. Deleuze/F. Guattari: Tausend Plateaus, S. 532 f. 34 Der Tritt in das Hinterteil eines Wachtmeisters/Staatsvertreters gehört selbstverständlich zum festen Repertoire des Slapsticks in der Stummfilmära, wird jedoch zuweilen explizit – wenn etwa in der Kriegskomödie Shoulder Arms (1918) der von Chaplin gespielte französische Soldat dem deutschen Kaiser Wilhelm I. (Sydney Chaplin) einen solchen Tritt versetzt – als Element subversiver Auflehnung gegen die politische Macht kenntlich. 35 G. Deleuze/F. Guattari: Tausend Plateaus, S. 532.
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Fremdbilder feindliche und unamerikanische Haltung herangezogen werden konnte.) Die Schließung also, die am Ende des ersten Teils von The Immigrant den Auswanderern die freie Bewegung verwehrt, erweist sich – auch weil der Film selbst ein Innehalten, die Unterbrechung nicht hinnehmen kann – zumindest als angreifbar und noch provisorisch. Aber gleichermaßen scheint dann die zweite Episode in einen Status zu münden, der dem ungebundenen und wesenhaft dynamischen Migrantendasein ein Ende setzt. Indem nämlich die Auswanderung zugleich eine Lösung aus dem Verband des Familialen bedeutet, indem sogar ihr »Ideal« die Überwindung jedes Abstammungsverhältnisses und den Eintritt in eine Gemeinschaft aus nur mehr wahlverwandten Einwanderern aller Länder bedeuten mag – der Tramp ist der Prototyp des nomadisierenden Einzelgängers, und ebenso hat seine junge Reisegefährtin ihre Bingungen aufgegeben und nach der Ankunft in Amerika auch die Mutter verloren, wie deren Taschentuch als letztes Erinnerungsstück in ihren Händen deutlich macht –, lässt sich die Eheschließung zwischen diesen beiden jetzt gleichsam flottierenden Elementen, mit der der Film endet, als eine Rückwendung, als neuerliche Gründung eines Familienkomplexes verstehen, der die im doppelten Wortsinn unverwandte Bewegung tilgt. Was von ihr bleibt, ist die kokette Parodie der Bewegung, die lediglich spielerische Flucht vor der Heirat, wenn das Mädchen, schon vor der Tür des Standesamts und unter den Augen des blassen, strengen und stillen »Standbilds« des Bürokraten, mit ein paar Schritten zappelnd noch zu entkommen sucht, unverkennbar jedoch in der Erwartung, von ihrem Begleiter eingeholt und über die Schwelle der Amtsstube getragen zu werden. The Immigrant endet, indem sich hinter dem Paar die Tür mit der Aufschrift »Marriage Licenses« schließt, ganz anders also als zahlreiche der Stummfilm-Komödien Chaplins, die vor der Abblende eine in die Ferne sich streckende Landstraße zeigen, auf der der Vagabund – selten nur in Gesellschaft – in die Tiefe des (Bild-)Raums sich aufmacht und das im Kinosessel bewegungslose Publikum bewegt zurücklässt.
ZU DEN BEITRÄGEN Bereits die vielen verschiedenen Ausprägungen der Migration, die sich reflektiert sehen in einer entsprechenden Begriffsvielfalt – in der Aus- und der Einwanderung, im Exil, in der Landesflucht, Diaspora oder Verbannung –, gestatten kaum trennscharfe Definitionen, so dass sich die Kulturwissenschaften, die Soziologie, die Philosophie (von Georg Simmel über Vilém Flusser und Julia Kristeva bis hin zu Peter Sloterdijk) auf immer neue Weise den zahlreichen Varianten des Fremdseins nähern. Fraglos unterschei-
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Ulrich Meurer / Maria Oikonomou den sich diese in der Motivation für den Aufbruch, in dessen ökonomischer beziehungsweise politischer Begründung, die daraufhin ihren Niederschlag in der inneren Haltung desjenigen findet, der die Heimat verlässt. So versucht etwa Flusser eine Differenzierung solcher Befindlichkeiten, indem er den Flüchtling als »positiv und negativ der verlassenen Bedingung verhaftet« beschreibt, den Emigranten hingegen als »über die verlassene Bedingung erhoben«,36 während sich wiederum Kristeva auf das dem Exilanten und Emigranten gemeinsame Erleben der Fremdheit konzentriert.37 Aus fast ebenso zahlreichen Blickwinkeln betrachten daher die in diesem Band versammelten Beiträge die Migration, die so vielgestaltig ist, dass sie – auch wenn hier der Schwerpunkt durchgängig auf ihrer künstlerischen Repräsentation liegt – notwendig den interdisziplinären Zugriff zu fordern scheint. Angesichts unvermindert proliferierender Konzepte der Globalisierung und Mobilität sowie eines anhaltenden Einflusses des »spatial turn« auf die unterschiedlichsten Wissensgebiete verspricht eine solche Herangehensweise darum eine angemessen weite Perspektivierung des Gegenstands und eine Ergänzung zur allgemeinen Migrationsforschung. Methodisch also versteht sich die Sammlung als eine die Grenzen der Disziplinen bewusst überschreitende Auseinandersetzung mit Exil und Auswanderung im Spiegel künstlerischer Formbildung und erstreckt sich vor allem auf die Bereiche der Cultural Studies, der Medienwissenschaft oder auch der Philologien, während die Migration im Kino bislang nur in wenigen verstreuten Aufsätzen und zumeist aus soziologischem Blickwinkel betrachtet worden ist.38 Vor diesem Hintergrund lassen sich diverse Aspekte nennen, die inhaltlich wie formal die Darstellung der Migration auf der Leinwand kennzeichnen (und doch sämtlich miteinander verwoben sind). So widmet sich das Kino zuweilen dem Augenblick des ersten Aufbruchs – dies allerdings auffallend selten, da der Migrant im Film, wie bereits bei Charles Chaplin, auf dem Weg und die Heimat immer schon verlassen ist,39 da der Projektor schon laufen muss, damit die Welt sichtbar wird –; häufiger hingegen zeigt es die Ankunft und entwirft Szenarien gelungener Integration oder auch des 36 Vilém Flusser, zitiert nach: Dieter Bachmann: »Editorial«, in: Du. Nicht zuhause – Migranten der Literatur, Heft Nr. 12, Dezember 1992, S. 11. 37 Siehe: Julia Kristeva: Fremde sind wir uns selbst, Frankfurt/Main 1990. 38 Erst in jüngerer Zeit beginnt die kulturwissenschaftliche Forschung, die Themen Migration und Film im Verein zu betrachten. In diesem Zusammenhang sei auf einen erst kürzlich erschienenen Sammelband hingewiesen: Ricarda Strobel/Andreas Jahn-Sudmann (Hg.): Film transnational und transkulturell. Europäische und amerikanische Perspektiven, München, Paderborn 2009. 39 Eine der wenigen Ausnahmen bildet hier der Episodenfilm Mechri to ploio (To the Ship, Alexis Damianos, 1966), der den Weg des Protagonisten von seinem Bergdorf bis in die Hafenstadt Piräus schildert, auf eine Darstellung der Überfahrt und seiner Ankunft in Australien jedoch verzichtet.
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Fremdbilder Scheiterns am abweisenden Anderen; es handelt den Komplex der Nostalgie ab, das rückgewandte Sehnen, das oft genug die Schaffung einer exterritorialen »kleinen Heimat« in der Fremde motiviert oder aus dem Verschwimmen der vergangenen und der gegenwärtigen Sphäre eine Unentscheidbarkeit und typische Anwesenheit des Dort im Hier erwachsen lässt; es kann genauso aber auf der unüberwindbaren Differenz beharren und das Eigene und das Fremde radikal auseinander setzen; es schildert manches Mal die Migration als stete Wiederholung, mithin als eine Reise, die immer neu unternommen werden muss, um sich dem Ziel zu nähern und es dabei nur im Glücksfall zu erreichen; es verknüpft den physischen mit einem geistigen Weg, den geographischen Grenzübertritt mit der Grenzüberschreitung und Transgression, die die Migration in die Nähe einer spirituellen Erfahrung rückt – all diesen Aspekten begegnet man in den Beiträgen des Bands. Bei ihrer kursorischen Betrachtung aber wird augenfällig, dass jener (sicherlich unvollständige) Katalog von Themen und Motiven in einem kategorialen Punkt konvergiert: sämtlich geben sich die aufgezählten Facetten der Migration als Bewegungs-Phasen zu erkennen, so dass schließlich die Bewegung als Grundschema, in das alles Weitere einzuordnen ist, für jeden der Aufsätze die Matrix abgibt. Ob ihr Anfang oder ihr Ende betrachtet, der äußeren eine innere zugeordnet oder der Raum ins Auge gefasst wird, der ihr »Medium« ist, ob sie als Singularität oder als Serie, ob sie physisch oder metaphysisch erscheint: immer (und selbst im Gegenbild der Stasis und der Grenze) folgt die Diskursivierung der Migration und des Films hier einer Bewegungsspur, die unweigerlich die eine wie die andere Seite, die Geographie wie auch die Kinematographie durchläuft. Es mag nach historischen Momenten des Exils und der Emigration, nach der ethnischen, politischen oder wirtschaftlichen Bedingung in der Heimat und der Fremde, nach Utopie und Dystopie, nach der für das Thema zentralen Inszenierung von Gedächtnis und Erinnerung gefragt werden. Doch dabei erweist sich stets, dass zwei bewegliche Elemente eines kinetischen Kosmos im »Migrationsfilm« aufeinander treffen, sich überlagern, Interferenzen bilden, einander verstärken und immer neu die grundsätzliche Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Bewegung im Bild und dem Bewegungs-Bild aufwerfen. Da der Band aus einer Vorlesungsreihe hervorgeht und deshalb die Auswahl der behandelten Filme nur exemplarisch ist, kann er sich zwar weder als enzyklopädische Aufarbeitung noch als umfassendes Vademekum für die Untersuchung der Migration im Film verstehen; nichtsdestoweniger verknüpft er durchweg topographische mit medialen Aspekten, indem die Mehrzahl der Beiträge die Darstellung räumlicher Veränderung mit Überlegungen zum Film (und dessen Theorie) verschränkt: Der Film – so ließe sich als
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Ulrich Meurer / Maria Oikonomou Formel des Bandes angeben – erkennt sich in der Migration wie die Migration im Film. So leitet bereits Volker Mergenthalers Lektüre von Josef von Sternbergs The Last Command das Exil ins Mediale über, wenn er zeigt, dass die Migrationsproblematik den Blick auf einen überaus komplexen ästhetischen Zusammenhang lenkt, der »Migration« als Struktur begreift. Freigelegt wird das transitorische Potential der Migration, und zwar im Rekurs auf ein anderes Feld, das Feld der Ästhetik. Sternbergs Film nämlich ist als mise en abyme organisiert, in der ein Binnennarrativ (die Erinnerung eines in der Revolution gestürzten Zarengenerals) und ein es spiegelndes Rahmennarrativ (die Situation, in der erinnert wird) so zusammengeschlossen sind, dass sie einander wechselseitig durchdringen. Der Ex-General, der zur Zeit der Revolution in die USA emigriert und dort – traumatisiert vom Fall des Zarenreichs – als Komparse arbeitet, erhält eine Rolle in einem Film über die Revolution, in der er spielen muss, was er zuletzt war: einen zaristischen General, der vor dem Fall des Zarenreichs seinen letzten Befehl gibt. Die in der Erinnerung geschlagene Wunde kann so durch einen Wiedereintritt in das Trauma geheilt, die Integration in die neue Ordnung abgeschlossen und die Figur etabliert werden. Als Medium der Transgression und damit als Medium der Migration setzt The Last Command auf diese Weise sich selbst – als Film – ein. Ähnlich schlägt Maria Oikonomous Untersuchung von Elia Kazans America, America nicht nur die intertextuelle wie intermediale Brücke zu Thanasis Valtinos’ Roman Die Legende von Andreas Kordopatis, da beide Werke aufzeigen, wie die Neue Welt um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zur Hoffnung und zum Ziel südosteuropäischer Migranten wird. Zugleich sucht die vergleichende Analyse der in beiden Fällen vorherrschenden Thematik, Motivik und Formalia zu ermitteln, inwiefern sich aus künstlerischen Verarbeitungen der Auswanderung unter Umständen medienübergreifende Merkmale einer »Poetik der Migration« extrapolieren lassen. So erweist sich hier wie dort etwa die als persönliches Dokument eines Einzelschicksals inszenierte Erzählung zugleich als exemplarisch und zielt auf eine »mythische« Verallgemeinerung von Heimatlosigkeit und Wanderschaft. Weiter lässt vor allem die Figurenzeichnung die Protagonisten als »Maschinen« erscheinen, deren einsetzende Bewegung erst die Handlung initiiert und deren Furor und kinetische Energie sich daraufhin der Landschaft, der Transportmittel, des gesamten Erzählraums bemächtigen. Diese Geschwindigkeit findet ihr formales Pendant in der lakonischen und stark parataktisch geprägten Erzählweise bei Valtinos wie auch in der »Sensomotorik« des gleichsam ungebremsten Aktionsbilds bei Kazan. Schließlich aber zeigt sich die Differenz der beiden Werke,
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Fremdbilder indem der Roman seine Hauptfigur nicht mehr zur Ruhe kommen, sie in der manischen Bewegung wie auch sprachlich an Amerika »abgleiten« lässt und ein Ende der Migrationsbewegung damit aussetzt, während Kazans Film den amerikanischen Traum wie auch das Aktionsbild »festigt« (Deleuze) und die Migration in einem – zumindest scheinbar – konventionellen Kreisschluss aufgehen sieht. Derweil zeichnet Heinz Drügh nach, wie The Sound of Music, ein Musical-Film über die Trapp-Familie, Österreichs berühmteste Emigranten während des Nationalsozialismus, in den USA zu einem Schlager an den Kinokassen wurde und in Sachen ökonomischer Ertrag sogar Victor Flemings Gone with the Wind beerben konnte. Nach wie vor gilt The Sound of Music als der meistgesehene Film überhaupt und prägt weltweit auf maßgebliche Weise das Bild Österreichs sowie das des deutschsprachigen Kulturraums, während an deutschen Kinokassen der Erfolg weitgehend ausblieb – The Sound of Music ist nicht nur einer der in Europa am wenigsten bekannten Kino-Welterfolge aller Zeiten, er wird auch von Cinéasten im allgemeinen wenig geschätzt. Drüghs Überlegungen zu diesem Film versuchen jedoch, diese verengte Sicht zu korrigieren und The Sound of Music mit Blick auf seine filmische Semiotik, auf die mythologische Intertextualität und die Struktur des ins Bild gesetzten Begehrens nicht zuletzt auch auf seine politischen Implikationen hin zu befragen. Dabei erscheint unter der vermeintlich harmlosen Oberfläche des Illusionskinos eine elaborierte Inszenierung des Fremden – in der markierten Autoreflexivität des Filmbilds ebenso wie in der unterschwelligen Assoziation etwa der Protagonistin mit Figuren des »Anderen«. Und so geht schließlich auch die idyllische Unschuld des katholischen Konservatismus der TrappFamilie, die der Film säuberlich vom aggressiven Nazitum zu trennen weiß, in der Theatralität und Künstlichkeit des Musicals auf, und das Genre wird auf diese Weise gegen jede Erwartung zu einer »art réaliste« (M. Chion). Georgiana Banita widmet sich daraufhin der »Ikonographie des Exils« in Andrej Tarkowskijs Nostalghia: Tarkowskijs 1983 in Italien entstandener Spielfilm lasse sich – so Banita – weniger als Verhandlung einer konkreten Differenz zwischen östlich-orthodoxer und westlicher Kultur lesen denn als Verbildlichung eines »abstrakten« Exils, die den Heimatverlust nicht im Kontrast, sondern in einem Zugleich von Ferne und Nähe, von erinnertem und gegenwärtigem Raum fühlbar macht. Insofern bilden ein imaginiertes Russland und ein unablässig (und entgegen romantischer Tradition) »verschleiertes« Italien nur mehr die Pole eines seelischen Spannungsfelds, in dem Abwesendes und Anwesendes miteinander verschmelzen. Jene Grenzlöschung findet ihr Pendant in der vielfältigen
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Ulrich Meurer / Maria Oikonomou Bezugnahme Tarkowskijs auf die traditionelle Ikonenmalerei. Wie die Ikone, die alle bloße Mimesis und Symbolik ablehnt und stattdessen formelhaft als Mittler zwischen sichtbarer Realität und einer unsichtbaren höheren Sphäre fungiert, versucht auch Nostalghia – ästhetisch wie geistig –, die (Bild-)Wirklichkeit hinter sich zu lassen, und strebt in einer gleichsam religiösen Wendung dem Undarstellbaren zu. So setzt der Regisseur gestalterische Mittel wie die Leerung des Bildraums, die rituelle Wiederholung und zurückgenommene Farbgebung, die meditative Plansequenz oder auch den expliziten Verweis auf historische Heiligendarstellungen ein, die an der Öffnung des Films auf ein Transzendentes arbeiten, dessen Entfernung von der Physis des vorfilmischen Raums am Ende nur durch den Tod des Protagonisten zu überwinden ist. In Tarkowskijs Film manifestiert sich derart die Nostalgie nicht als Lebenszustand des Migranten, sondern als metaphysische Conditio. Im Anschluss beschäftigt sich der erste Teil von Roger Lüdekes Beitrag über Jim Jarmuschs Spätwestern Dead Man mit dem Film als einem »road movie« und legt dar, wie seine Reisestruktur neuerlich die Grundlage bildet für eine religiös geprägte Erlösungshandlung, die von Jarmusch auf emphatische Weise für ein Projekt der interkulturellen Versöhnung verwendet wird, als Ausgangspunkt nämlich, von dem aus das geschichtlich bestimmte Konfliktverhältnis zwischen englischen Besatzern und indianischen Ureinwohnern Amerikas einer entscheidenden kritischen Revision unterzogen wird. In diesem Zusammenhang erklärt sich nicht zuletzt auch die Funktion, die Jarmuschs auffällige Reverenz an den englischen Dichter William Blake erfüllt, dem der Held von Dead Man seinen Namen verdankt. Der zweite Abschnitt des Beitrags setzt sich mit den komischen Aspekten von Dead Man auseinander. Wie nicht anders zu erwarten, ist allerdings das Verhältnis zwischen der grotesken Komik von Jarmuschs Film und seiner religiös geprägten Rahmenhandlung alles andere als unproblematisch, denn in der Bewegung vom Religiösen zum Komischen verliert die Rahmenhandlung ihre transzendente Qualität und wird ästhetisch profaniert, wie in der Bewegung vom Komischen zum Religiösen die grotesken Gewalthandlungen wiederum ihre komische Qualität verlieren, religiös transzendiert und in einen übergeordneten Bezugsrahmen lebensweltlichen Ernstes eingelassen werden, dessen Geltungsanspruch lachend jedoch immer wieder zerbrochen wird. Damit ist die Überschreitungsstruktur von Dead Man so beschaffen, dass sie immer wieder eine Grenze durchbricht, aber – indem sie dies tut – zugleich den Bezugsrahmen zerstört, von dem aus die Überschreitung dieser Grenze als solche überhaupt wahrgenommen werden kann. Im Wechselspiel mit der religiösen Rahmenhandlung verhindern die profanierenden Überschreitungsrituale in
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Fremdbilder Dead Man also in letzter Instanz zwar, »das Heilige in seinem unmittelbaren Inhalt« (Foucault) zu vergegenwärtigen; gleichwohl ermöglichen sie es, dieses Heilige als Bezugspunkt politischer und postkolonialer Praxis als Leerform und als Horizont des Unüberschreitbaren zu erfahren. Indem sich Ira Sarma dann der Inszenierung der »Heimat« im Hindi-Film Aa ab laut chalen (Komm, wir gehen zurück) widmet, wird deutlich, dass die Fremde gegenüber dem kulturell und politisch einheitlich gezeichneten Herkunftsraum als eine fragmentierte Sphäre des stets drohenden Werteverlusts zu verstehen ist, wann immer das Bollywood-Kino Europa oder die Vereinigten Staaten nicht lediglich als pittoreske Kulisse, sondern als realen Handlungsort und damit zumeist als Lebenswelt indischer Emigranten in Szene setzt. Der Text stellt beispielhaft dar, wie deshalb die Bindung des Migranten an sein Herkunftsland in einer Ausdifferenzierung vor allem imaginärer Bereiche resultiert, die der nostalgischen Erinnerung an die Heimat den ungebrochenen Wunsch nach Rückkehr in diesen mittlerweile utopisch verklärten Raum beiordnet, während ein befriedigendes Dasein in der Fremde nur durch die Errichtung einer – im Sinne Foucaults – heterotopischen Version Indiens im Gastland möglich ist. Auswanderung, wie sie die oft konservative Filmindustrie Bombays ins Bild setzt, gerät damit zum stereotypen Kontrast zwischen dekadentem Westen und einer besonders mit Familie, Tradition und Ganzheit emotional verbundenen Ursprungs-Gemeinschaft. Auf solche Weise ergibt sich ein dichtes Beziehungsnetz zwischen Bollywood-Produktionen und den so genannten NRI (Non-Resident Indians): Die Filme untermauern den politisch-kulturellen Mythos von einer homogenen indischen Nation, darüber hinaus leiten sie das Selbstverständnis der in der Diaspora lebenden Inder an, wirken einheitsstiftend und reflektieren daher nicht nur die Emigration, sondern nehmen – als (besonders in den neunziger Jahren) kaum verhohlene Aufforderung zur Rückkehr wie auch als moralisches Leitbild – aktiv Einfluss auf das in ihnen repräsentierte Leben in der Fremde. Ein ähnliches Paradigma problematischer Integration zeichnet Hans-Edwin Friedrich in seinem Beitrag zu Martin Scorseses Gangs of New York nach: In der Schlacht zwischen den Banden der »Natives« und »Dead Rabbits« um die Herrschaft über den New Yorker Stadtteil Five Points im Jahr 1846 siegen Butcher Bills Natives. Der Sohn des Anführers der unterlegenen irischen Rabbits macht sich sechzehn Jahre später auf, den Vater zu rächen. Aus der historischen Vorlage konstruiert Gangs of New York diese Auseinandersetzung, um die Formung der Stadt als sozialer Organismus vor dem Hintergrund des amerikanischen Bürgerkrieges zu erzählen. Politik, Faustrecht, Religion bilden eine Einheit, die sich in dieser Phase
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Ulrich Meurer / Maria Oikonomou aufgrund der sozialhistorischen Entwicklungen ausdifferenziert, so dass der Einfluss der Gangs schwindet; sie werden aus dem öffentlichen Raum in die Illegalität gedrängt. Insofern erscheinen die Thematik der Migration und diejenige der Integration der Einwanderer in die amerikanische Gesellschaft zuerst als grundsätzliche Verhandlung der Begriffe des Autochthonen und des Fremden, wie sie sich in unterschiedlichen Diskursen darstellen. In Gangs of New York sieht sich der Immigrant letzten Endes weniger aufgrund seiner ethnischen Zugehörigkeit oder nationalen Herkunft mit Misstrauen bedacht und abgewiesen, sondern vor allem wegen seiner religiösen Zugehörigkeit (zum irischen Katholizismus), die jedoch nur ein vorgeschobenes und vorübergehendes Alteritätsschema bildet. Sobald die Macht von den stammesähnlich organisierten Banden auf die demokratischen Institutionen überzugehen beginnt, die sich statt über Gewalt nun über Wählerstimmen etablieren, zeigt sich die integrierende Macht des jungen Staatenbundes, der – in Anspielung auf die Metapher vom Schmelztiegel – im Film schließlich zum »furnace« wird und dessen neue Ordnung überkommene xenophobe Muster hinter sich zu lassen scheint. Auch Isabella Schwaderer beschäftigt sich mit ideologischen Grenzziehungen und der Möglichkeit ihrer Überwindung, diesmal jedoch in einem gänzlich anderen kulturellen Umfeld: Indem Eran Riklis’ Spielfilm The Syrian Bride die Geschichte der jungen Mouna erzählt, einer Drusin aus den Golan-Höhen, die, um ihren syrischen Bräutigam zu heiraten, unwiderruflich Heimat und Familie verlassen muss, setzt sich der Film – ganz wie Riklis’ fünf Jahre zuvor entstandene Dokumentation Borders – mit konkreten geopolitischen Beschränkungen auseinander. Die hochgesicherte Staatsgrenze gibt jedoch zugleich Anlass, Ein- und Ausgrenzungen zu thematisieren, wie sie durch Religion, Generation und Geschlecht entstehen. Mit Blick auf jene Diskurse, die das Leben im Mikrokosmos des grenznahen Dorfs Magd-as-Shams bestimmen, entwirft The Syrian Bride ein komplexes Gesellschaftspanorama, unternimmt aber auch den Versuch, Modelle für eine individuelle wie auch kollektive Bewegungsfreiheit zu erstellen. Dabei sind es neben einer Haltung des engagierten »Pessoptimismus« (E. Habibi) vor allem Medien – vom handgeschriebenen Brief über Fotographie und Video bis hin zum Megaphon, mit dem man sich über Grenz- und Sicherheitszonen hinweg verständigt –, die der oktroyierten Erfahrung von Migration und Separation entgegenarbeiten und auf diese Weise auch den Film selbst als ästhetisch wie politisch wirksames Kommunikationsinstrument ausweisen. In methodischer Hinsicht unternimmt daraufhin Jörn Glasenapps Text zu Steven Spielbergs The Terminal den – nicht eben oft gemachten – Versuch, Argumentationsweisen der Cultural Studies
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Fremdbilder für die Filmanalyse und -interpretation (und nicht für die Filmrezeption!) nutzbar zu machen. Er rückt mit Spielbergs »post-9-11 comedy« eine Hollywood-Produktion in den Fokus, die den Exilanten als bricoleur im Sinne Lévi-Strauss’, zugleich aber auch als Taktiker im Sinne de Certeaus präsentiert. So hat sich der von Tom Hanks gespielte Protagonist Viktor Navorski als taktischer bricoleur zu bewähren, dies in einem ihm zunächst völlig fremden Raum, der Welt des New Yorker Flughafens, die er sich jedoch immer mehr anzueignen vermag. Hierbei kommen »Praktiken des Auskommens« (J. Fiske) zum Zuge, mit denen Navorski die Macht der Herrschenden immer wieder unterläuft und düpiert. Schließlich erläutert der Beitrag zu M. Night Shyamalans The Village, wie Walt Whitman mit der Formel der »institution of the dear love of comrades« ein politisches Konzept benennt, das dem Staatsapparat und hierarchischen Denken Europas das postrevolutionäre Ideal einer Migrationsgemeinschaft von locker verbundenen Individuen in Amerika gegenüberstellt. Zugleich scheint im Oxymoron der »Institution der Liebe« aber auch die Restituierung des alten Staates auf, die dem Ideal unweigerlich ein Ende macht. Jene Bewegung von der Utopie zum System verzeichnet auch Shyamalans Film als paradigmatisch für die US-amerikanische Geschichte und reflektiert sie sowohl in seinem Entwurf einer alternativen Gesellschaft von Auswanderern, die sich am Ende einem despotischen Patriarchat unterworfen sieht, als auch in der Darstellung der Räume, die zuerst als heterogen und wild, dann jedoch in wachsendem Maß als homogen und geregelt erscheinen. Dabei vollzieht sich das filmische re-enactment der Besiedelung und anschließenden Staatsbildung (im Übergang von Bewegung zu Stagnation oder Land zu Stadt) nicht lediglich durch die Illusionsmaschinerie des Kinos, sondern ebenso auf intradiegetischer Ebene: Indem sowohl der Zuschauer als auch die von ihrer Führerkaste getäuschten Figuren des Films fälschlicherweise annehmen, es handele sich beim Village um eine Dorfgemeinschaft am Ende des 19. Jahrhunderts, gerät die soziotopologische Wiederaufführung der Vergangenheit im Jetzt zum transdiegetischen Phänomen, das »Amerika« in seiner Realität und genauso in seinen Bildern als eine stete Wiederholung der eigenen Geburtsstunde aufdeckt.
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Wanderer zwischen beiden Welten. Zum Problem des Transitorischen in Josef von Sternbergs The Last Command1 VOLKER MERGENTHALER
1. EIN »FILM THAT WAS TO DEAL WITH HOLLYWOOD AND THE RUSSIAN REVOLUTION«?2 »I wrote the manuscript«, so teilt Josef von Sternberg in seinen 1965 erschienenen autobiographischen Aufzeichnungen über The Last Command (Der letzte Befehl, 1928), seinen fast vier Jahrzehnte zuvor entstandenen »film that was to deal with Hollywood and the Russian Revolution«, mit, basing it on a meager but very good idea casually mentioned by Ernst Lubitsch, who thought that it was not good enough for a film. However, it interested me very much, as I saw an opportunity to deal with the machinery of Hollywood and its callous treatment of the film extra. I converted it into a film-within-afilm idea, making a derelict old man, who had survived the Russian Revolution, the victim of a director’s whim.3
Was hat ein, zumindest in den Augen eines zeitgenössischen Kritikers, »schlechte[r] Film«4 über Hollywood und die Russische Revolution mit »Auswanderung und Exil im internationalen Kino« zu tun? Immerhin findet er Erwähnung in einem prominent besetzten Sam1 2 3 4
Für Unterstützung danke ich Susanne Rößler (Marbach) und Schamma Schahadat (Tübingen), für wertvolle Anregungen Ulrich Meurer (Wien). Josef von Sternberg: Fun in a Chinese Laundry, London 1987, S. 131. Ebd., S. 126f. L[utz] W[eltmann]: »Die Ängstlichen. 1«, in: Die Literatur. Monatsschrift für Literaturfreunde 31, 1928-1929, S. 252. Eine Vielzahl teilweise enthusiastischer Äußerungen führt Herman G. Weinberg an: Josef von Sternberg. A Critical Study, New York 1967, S. 37-39. In kommerzieller Hinsicht gilt The Last Command allerdings als Fehlschlag. Vgl. hierzu John Baxter: The Cinema of Josef von Sternberg, London, New York 1971, S. 52.
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Volker Mergenthaler melband mit dem einschlägigen Titel Home, Exile, Homeland: Film, Media, and the Politics of Place. »The Last Command«, so heißt es in dem von Thomas Elsaesser gelieferten Beitrag, was scripted by none other than Lajos Biro.5 The film is about a tsarist general who, fleeing from the Bolsheviks and now living as political refugee in the United States, is reduced to making a living as a Hollywood extra in Los Angeles. As fate would have it, he is cast in an anticommunist epic about the heroic last stand of a White Russian battalion. Obliged to watch a Hollywood actor play a tsarist general, his distress at the fake performance makes him rush up to the director and explain to him who he ›really‹ is. The director eventually gives in, and – dressed once more in his full military splendour – the generalturned-pauper-turned-movie-extra is able to die before the camera the heroic death on the battlefield that life so ignominiously denied him.6
Mehr nicht? Mehr hat Sternbergs Film zum Thema Migration nicht beizutragen als einen zaristischen General, der nach der Februarrevolution 1917 in die Vereinigten Staaten ausgewandert ist und in Hollywood als Statist arbeitet? Ein vertiefender Blick in von Sternbergs Aufzeichnungen liefert allerdings noch einen anderen Anhaltspunkt. »I had«, so schreibt er über die Arbeit an The Last Command, »fortified my image of the Russian Revolution by including in my cast of extra players an assortment of Russian ex-admirals and generals, a dozen Cossacks, and two former members of the Duma, all victims of the Bolsheviks, and, in particular, an expert on borscht by the name of Koblianski.«7 The Last Command setzt zu Beginn also – zumindest in den Augen Eingeweihter – seine eigenen Produktionsbedingungen ins Bild und führt in die Versuchung, den im Film vorgestellten Regisseur Leo Andreyev als mehr oder minder opakes Selbstportrait Sternbergs zu entziffern. Ich möchte dieser im Anekdotischen sich rasch verlierenden Spur8 aber nicht weiter nachgehen, meine Aufmerk5
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»I mention«, so von Sternberg: Fun in a Chinese Laundry, S. 127, zur Frage der Drehbuch-Autorschaft, »that I was the author of the film because it carries the Name of the Hungarian Lajos Biro; the company officials asked me to allow them to place that name on the product, pleading that Mr. Biro had been carried on the payroll for years and that this somehow had to be justified«. Thomas Elsaesser: »Ethnicity, Authenticity, and Exile: a Counterfeit Trade? German Filmmakers and Hollywood«, in: Hamid Naficy (Hg.): Home, Exile, Homeland: Film, Media, and the Politics of Place, New York u.a. 1999, S. 97-124, hier S. 113. J.v. Sternberg: Fun in a Chinese Laundry, S. 132. Weiter nach geht ihr z.B. Peter Baxter: Just Watch! Sternberg, Paramount and America, London 1993, S. 97-98, allerdings mit Blick auf die biographischen Übereinstimmungen zwischen von Sternberg und Sergius Alexander:
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Wanderer zwischen beiden Welten samkeit vielmehr ganz auf die ästhetische Faktur des Films richten, um deutlich machen zu können, warum The Last Command sehr wohl als Beitrag zum Thema ›Migration‹, als überaus aufschlussreicher Beitrag zumal, eingeschätzt werden kann. Bereits die ersten Zwischentitel von The Last Command bringen das Thema Migration ins Spiel und verknüpfen es mit der Sphäre des Films. Sie lauten: »Hollywood – 1928!«, »The Magic Empire of the Twentieth Century! The Mecca of the World!«, »To this Hollywood had come Leo Andreyev, a Russian director.« Die Eröffnungssequenz zeigt, noch ehe der emigrierte General überhaupt im Spiel ist, einen anderen Einwanderer: Leo – arriviert, dandyhaft, überaus gepflegt mit Zigarette, pomadisiertem Haar und hellem Sommeranzug. Umgeben von diensteifrigen Mitarbeitern durchblättert er einen Stapel Casting-Karten auf der Suche nach russischen Statisten für einen Film, ein »Russian picture«, wie man später erfahren wird. Leo ist sichtlich unzufrieden mit dem Angebot. Obwohl, wie es heißt, »every Russian in Hollywood is in that stack«, dauert es lange, bis er fündig wird. Erst »Sergius Alexander«, der (so unterrichtet seine Casting-Karte) »claims to have been Commanding General of Russian Army and cousin to Czar«, der über »little film experience« verfügt, und »for $7,50 a day« arbeitet, gewinnt das Interesse des Regisseurs. Die Entscheidung fällt zu Sergius’ Gunsten aus, der telefonisch aufgefordert wird, sich am nächsten Morgen vor den Toren seines Arbeitgebers einzufinden: des »Eureka Studio«. Die nächste Sequenz setzt das Thema Migration ins Bild, auf bemerkenswerte Weise, wie ich meine. Sie zeigt in einer (lateralen) Kamerafahrt das zweiflügelige schmiedeeiserne »studio gate«, vor dem sich viele Menschen drängen und Einlass begehren. Die Kamera fährt, lotrecht auf das Tor ausgerichtet, an diesem entlang und schweift über die angestrengten Gesichter derjenigen, die das Privileg haben, in der ersten Reihe warten zu dürfen – viele davon unzweideutig als Einwanderer markiert. Unter ihnen, in der Mitte, die Kamera hält kurz inne, entdecken wir den einbestellten Sergius Alexander. Die nächste Einstellung dokumentiert, nun mit unbewegter Kamera, ganze 15 Sekunden lang den nach dem Öffnen des Tores nicht enden wollenden Strom der auf das Gelände des »Eureka Studio« drängenden Menschen, und darin, durch seine Haltung deutlich exponiert: Sergius Alexander.9
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beide sind emigriert und haben ihre Auswanderung mit Schwierigkeiten in der Identitätsbildung und Selbstversicherung erkauft. Quelle für die in diesen Beitrag aufgenommenen Bildzitate ist: The Last Command (J.v. Sternberg), VHS, Paramount, 1998.
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Volker Mergenthaler
Nach einem Schnitt sieht man Sergius Alexander durch das Fenster eines Ausgabeschalters, durch das ihm Kostüm und Requisiten für seine Rolle, die eines Generals, hinausgereicht werden. Die zweite Kamerafahrt beginnt, schweift in drei Bewegungsaufnahmen ohne Schnitt und mit kaum spürbaren Schwenks von Fenster zu Fenster: Im ersten erhält Sergius einen Uniformrock, im zweiten ein Paar Stiefel, im dritten eine Mütze, im vierten schließlich einen Säbel. Neben und hinter Sergius sind ungeduldig zu den Ausgabefenstern sich drängende Menschen in großer Zahl zu sehen. Die folgenden Einstellungen führen Sergius an seinen Platz in die Maske. Eine zunächst kaum sich bewegende Kamera zeigt ihn, eingelassen in einen Strom von Kollegen, die Treppe emporsteigen und empfängt ihn (er ist noch immer Teil des aufgeregten Gedränges) nach einem weiteren Schnitt in der Maske. Jetzt erst kann sich die Kamera auf ihn konzentrieren. Migration als Problemfeld ist in diesen ersten Minuten von The Last Command nicht nur als Motiv, Thema oder Anspielungshorizont präsent, sondern auf komplexe (und für unseren Zusammenhang überaus aufschlussreiche) Weise filmisch umgesetzt. Entscheidend dafür ist, wie das Erlebnis »Migration« mit den Mitteln des Mediums Film in die sinnliche Erfahrung des Rezipienten übersetzt wird. Zunächst ist Bewegung als Aufschub akzentuiert, als geballte Energie, die (vom Studio-Tor eingedämmt) auf ihre Freisetzung wartet. Erst als das Tor sich öffnet, drängen und schieben die Arbeitsuchenden von Hollywood als Masse auf das Studio-Gelände, an die Fenster, durch die ihnen ihre Arbeitskleidung gereicht wird. Sie werden in ein Wechselbad aus Beschleunigung und Verzögerung versetzt: am ersten Fenster sistiert, zum zweiten weitergeschoben, am zweiten sistiert, zum dritten weitergeschoben, am dritten erneut sistiert, wieder weitergeschoben, nun zum vierten, am vierten ein letztes Mal stillgestellt, um endlich in die Ströme entlassen zu werden, die sie zu den jeweiligen Arbeitsplätzen transportieren. Der Aufbruch in »The Magic Empire of the Twentieth Century«, in das
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Wanderer zwischen beiden Welten »Mecca of the World« zeigt Ort und Potential des in eine Massenbewegung integrierten, sie mit konstituierenden Individuums. Der einzelne nimmt Bewegung auf und hält an, weil er (dem acht Jahre später auf dem Fließband zappelnden und im Räderwerk überdimensionierter Maschinen hantierenden Chaplin aus Modern Times [Moderne Zeiten, Charles Chaplin, 1936] vergleichbar) angehalten und in Bewegung versetzt wird – weil er passiv ist und nicht aktiv. Nicht als freie Willensentscheidung ist Bewegung oder Nicht-Bewegung hier gezeigt, sondern als überindividuelle Mechanik der Filmindustrie. Charles Chaplin im Räderwerk der Maschine: Modern Times
Dass die in diese Mechanik eingespannten Individuen mehrheitlich als Einwanderer markiert sind, lenkt die Aufmerksamkeit ein wenig um, lässt die am Beispiel der Filmindustrie entfaltete Kapitalismuskritik als analytische Auseinandersetzung mit dem Schicksal von Einwanderern lesbar werden. In einen scharfen Kontrast zu dieser Dynamik der Massen tritt die diesseits des Tores patrouillierende, in aller Ruhe und unbedrängt die Schiebenden einfassende und die diesseits der Ausgabeschalter zwischen gelangweilt Requisiten verwaltenden Handlangern der »Eureka Studios« platzierte, geradezu behäbig von Fenster zu Fenster schweifende Kamera. Der Kamera (und mit ihr dem Blick des Zuschauers) ist auf diese Weise ein privilegierter Standort zugewiesen. Kamera und Zuschauer sind – im Unterschied zu Sergius
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Volker Mergenthaler Alexander und seinen Schicksalsgenossen – bereits Teil derjenigen Welt, in die die Arbeitsuchenden von Hollywood Einlass begehren. Ebenfalls dieser privilegierten Seite der »Bread line of Hollywood« zugeordnet ist der genau wie Sergius aus Russland gekommene Regisseur Leo Andreyev. Zwei Einwanderer-Schicksale zeichnen sich also ab. Zu dieser Einschätzung gelangt man zumindest dann, wenn man sich nicht zu sehr von der Suggestion leiten lässt, es handele sich um einen Film über einen zaristischen General, um »a rich character study«,10 deren Mittelpunkt11 vollständig von Sergius Alexander und seinem überaus prominenten Darsteller, Emil Jannings, besetzt wird. Leo, dargestellt von dem 1928 weitgehend unbekannten William Powell, bildet (es ist unschwer zu erkennen) den Gegenpol zu Sergius: Der Einwanderer Sergius gehört zu den vielen Arbeitsuchenden von Hollywood, der Einwanderer Leo dagegen zu den happy few, zu denjenigen, die auf die richtige Seite der »Bread line« gespült worden sind.
2. TRANSGRESSION / MIGRATION Die Ostentation der Schwelle, des Übergangs von der Welt der »Hungernden« ins »Magic Empire of the Twentieth Century« stellt ein nicht nur auf den Aspekt der Migration beschränktes, sondern ein entschieden weiter reichendes, Migration in ihrem systematischen Kern bestimmendes Grundproblem ins Zentrum von Sternbergs The Last Command: das der Transgression. Ich möchte im Folgenden zeigen, dass Sternbergs Film als analytische Durchdringung und ästhetische Ausschlachtung dieses Grundproblems entzifferbar ist und dass er Leo Andreyev und Sergius Alexander ausgewählt hat, um das Potential dieser Fragestellung auszuloten. The Last Command belässt es nämlich nicht dabei, die beiden Migrationsgeschichten einander gegenüberzustellen, um die Differenz von Leo und Sergius zu betonen, er ist vielmehr an einer analytischen Durchdringung dieser Differenz interessiert, legt ihre Gehalte frei und geht ihren Gründen nach. Sergius ist offenbar, so akzentuieren es die ersten Sequenzen, kein typischer Vertreter der Arbeitsuchenden. Er ist entschieden älter als die meisten anderen, angenehm dezent, verfügt über eine im Gedränge seltsam deplatziert wirkende Würde und über eine in Haltung und Mimik sich mitteilende Unsicherheit. Nicht nur dem Zuschauer, auch den übrigen Statisten wird nach und nach deutlich,
10 Kevin Brownlow: The Parade’s gone by, Berkeley, Los Angeles, London 1968, S. 197. 11 Vgl. J.v. Sternberg: Fun in a Chinese Laundry, S. 144.
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Wanderer zwischen beiden Welten dass Sergius ›anders‹ ist. Er wackelt fortwährend mit dem Kopf, weil er, wie er sagt, einen »great shock« erlitten hat. Sein Generalskostüm schmückt er mit einem seiner Brieftasche entnommenen Verdienstabzeichen, das sofort die Neugier eines seiner Kollegen auf sich zieht. Nach der Herkunft des Kreuzes befragt, verweist Sergius auf den Zaren, der ihm den Orden verliehen habe, und ruft damit den Hinweis auf der Rückseite der Casting-Karte in Erinnerung, wonach Sergius behaupte, »to have been Commanding General of Russian Army and cousin to Czar«. Es ist das Kreuz des St. Georg-Ordens – die prestigereichste Auszeichnung, die das Zarenreich seit Katharina der Großen für militärische Leistungen zu vergeben hat. Während die anderen Komparsen über Sergius’ Auskünfte lachen, zu erkennen geben, dass sie seinen meritenreichen Identitätsentwurf nicht anerkennen, öffnet er seine Puderdose, blickt wackelnden Kopfes in den darin angebrachten Schminkspiegel und kann sich auf diese Weise seines Ichs zu versichern suchen – nun nicht im sozialen, sondern im optischen Medium. Er schließt angesichts seines Spiegelbildes die Augen wie im Schmerz und wechselt allem Anschein nach in den Modus kommemorativer Introspektion. Nach 15 Sekunden wird der Spiegel mit Sergius’ Konterfei langsam aus- und ein weiterer Zwischentitel »Imperial Russia – 1917« eingeblendet, der einen Zeitsprung von 11 Jahren markiert und Sergius’ Spiegelblick als Impuls und Medium einer Erinnerungsarbeit klassifiziert. Es gehört zu den medialen Spezifika des Films, dass eine Erinnerung, mithin die Transgression einer Filmfigur in einen ontologisch andersartigen Raum, nicht nur vorgeführt, sondern psychotechnisch umgesetzt und in den Erfahrungshorizont des Zuschauers verlängert wird. Die Psycho-Mechanik der Erinnerung vollzieht sich am Zuschauer nicht anders als an Sergius, nicht anders als am Erinnernden selbst. Sternbergs The Last Command folgt mit diesem probaten Verfahren filmpsychologisch bereits gesicherten Erkenntnissen. Ich zitiere aus einer 1916 veröffentlichten Studie des zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Harvard lehrenden Psychologen und leidenschaftlichen Cineasten Hugo Münsterberg: The modern photoartist makes use of this technical device [gemeint ist der Schnitt; V.M.] in an abundance of forms. In his slang any going back to an earlier scene is called a ›cut-back.‹ The cut-back may have many variations and serve many purposes. But the one which we face here is psychologically the most interesting. We have really an objectivation of our memory function.12
12 Hugo Münsterberg: »The Photoplay: A Psychological Study. [1916]«, in: Hugo Münsterberg on Film. The Photoplay: A Psychological Study and Other Writings, hg. v. Allan Langdale, New York, London 2002, S. 43-162, hier S. 90.
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Volker Mergenthaler Das Binnennarrativ nun bestätigt zunächst Sergius’ Angaben – diejenigen zu seiner Identität und diejenigen seinen »Schock« betreffend. Er wird vorgestellt als »Grand Duke Sergius Alexander, cousin to the Czar, and Commanding General of the Russian Armies«, »tireless in the defense of a crumbling empire«. Als militärischer Oberbefehlshaber hat er es mit zwei Gegnern zu tun, mit den Feinden an den Fronten des Ersten Weltkriegs und mit den das Zarenreich von innen heraus ›zersetzenden‹ Kräften der Russischen Revolution. Er fällt den Revolutionären in die Hände, wird gedemütigt und soll hingerichtet werden. Er kann aber mit Hilfe einer sich für ihn opfernden Frau, Natalie,13 sein Leben retten. Was für ihn von Bedeutung ist, Natalie auf der einen, das Zarenreich auf der anderen Seite, geht unter – das Zarenreich in der Revolution, Natalie in einem eisigen Fluss. Die Binnenerzählung schließt mit einem Hinweis auf den weiteren Weg des doppelt traumatisierten Sergius: »And so the backwash of a tortured nation had carried still another extra to Hollywood«. Der Hinweis wird aus-, das im Schminkspiegel gezeigte Antlitz Sergius’ langsam wieder eingeblendet. Der Rahmen ist geschlossen und kann fortgesetzt werden.
3. CHIASMUS IN DER HISTOIRE – PARALLELISMUS IM DISCOURS Die von Sergius erinnerte Binnengeschichte hat den Zuschauer aber nicht nur über das Vorleben des hochrangigen Komparsen unterrichtet, sondern zugleich auch – und dieser Sachverhalt erst macht den Film interessant – über dasjenige Leos. Leo und Sergius sind sich bereits begegnet, allerdings unter umgekehrten Vorzeichen, denn Leo wurde dem General vorgeführt, weil er im Verdacht stand, zu den Drahtziehern der Revolution zu gehören. Sergius demütigt ihn und lässt ihn einsperren. Aus diesem Chiasmus schlägt Sternbergs Film sein poetisches Kapital, und an diesem Chiasmus entwickelt er seine Überlegungen zur Transgression. Wenn Sergius’ Bild im Schminkspiegel das zweite Mal, nun am Ende des Binnennarrativs gezeigt wird und zurückführt in die Rahmensituation, spätestens dann verliert Leo seine scheinbare Marginalität. Und zwar deshalb, weil die beiden Portraits kurzgeschlossen werden: das Sergius sich darbietende Spiegelbild und die von Leo in Augenschein genommene Casting-Photographie. Beide zeigen (ikonographisch, bildgeometrisch und -kompositorisch nahezu überein13 Ich folge der Nomenklatur der Zwischentitel. Im Drehbuch (»The Last Command. By Lajos Biro. Screen Play by John Goodrich«, in: Motion Picture Continuities: A Kiss for Cinderella, The Scarlett Letter, The Last Command, hg. v. Frances Taylor Patterson, New York 1929, S. 166-246) und in manchen Beiträgen zu Sternbergs Film finden sich abweichende Namen oder Schreibweisen der Namen.
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Wanderer zwischen beiden Welten stimmend) den gealterten Komparsen Sergius Alexander, recte auf dem Photo, verso im Spiegel.14 Bemerkenswert ist diese Dopplung nun deshalb, weil Leos Blick auf das Photo und Sergius’ Blick in den Spiegel in ein wechselseitiges Kommentar- und Anreicherungsverhältnis treten. Nicht nur für Sergius öffnet sich ein Erinnerungsraum, sondern auch für Leo. Für beide, das macht das Binnennarrativ geltend, wenn es den von Sergius erniedrigten Leo zeigt, ist diese Erinnerung negativ besetzt: Sergius hat ein schweres Trauma erlitten, das ihn noch immer in Beschlag nimmt, Leo eine tiefe Kränkung, die (wie man erfahren wird) noch immer in ihm schwärt. Spätestens nach dem Wiedereintritt in die Rahmenfiktion wird dem Zuschauer bewusst, dass Leos Blick auf die Casting-Photographie dieselben Ereignisse des Jahres 1917 in Erinnerung ruft, die auch in Sergius wieder wach werden.
Diese Engführung hat weitreichende Konsequenzen für die Profilierung von Leo und Sergius und (wie an einer ganzen Reihe von Einstellungen deutlich wird und wie ich im Folgenden zeigen möchte) auch für die Architektur des Films. Ich werde also einige Aspekte herausgreifen, um herauszuarbeiten, wie Sternbergs The Last Command angelegt ist.15
14 Auf diese Parallele aufmerksam geworden ist bereits Frances Taylor Patterson: »Introduction«, in: Motion Picture Continuities: A Kiss for Cinderella, The Scarlett Letter, The Last Command, hg. v. Frances Taylor Patterson, New York 1929, S. 159-165, hier S. 162. Patterson ordnet allerdings das Casting-Portrait fälschlicherweise dem Binnennarrativ zu: »He thinks of how he used to look at the height of his power, and gradually the palsied old man fades into the General as we have already seen him in the photograph held in the hands of the director.« 15 Einige Anregungen verdanke ich John Tibbetts: »Sternberg and The Last Command«, in: Cinema Journal 15/2, 1976, S. 68-73.
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Volker Mergenthaler Zunächst zu den beiden Figuren und der zwischen ihnen sich manifestierenden Beziehung. Regisseur und General werden durch die mise en scène konsequent enggeführt, zu spiegelbildlich konturierten Antagonisten. Großfürst General Sergius Alexander ist 1917 – in scharfem Kontrast zu seiner Komparsenexistenz – mindestens ebenso gepflegt und eitel wie 1928 Leo: mit sorgfältig gelegtem Haar, akkurat gestutztem Bart, herablassendem Habitus und (wie Leo) fortwährend umgeben von emsigen Adjutanten. Eine Reihe weiterer Übereinstimmungen der mise en scène im Binnennarrativ, aber auch Binnen- und Rahmennarrativ übergreifend, unterstreicht (den zwischen Leo und Sergius angelegten Antagonismus relativierend) die Ähnlichkeitsbeziehung: Auf dem ersten Bild sieht man Sergius mit dem Ausweis von Leo, auf dem zweiten Leo mit der Casting-Karte von Sergius, beide von Papieren umgeben hinter ihren Schreibtischen.
Worauf die Blicke der beiden Männer gerichtet sind, löst der jeweilige Gegenschuss auf: Der »cousin to the Czar, and Commanding General of the Russian Armies« Sergius Alexander mustert im Jahr 1917 das Passbild des »director of the Kief Imperial Theatre« Leo Andreyev, der Hollywood-Regisseur Leo mustert – umgekehrt und im Jahr 1928 – die Photographie des Komparsen Sergius Alexander.
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Wanderer zwischen beiden Welten Beide sind (ikonographisch und kompositorisch wieder übereinstimmend) als leidenschaftliche, von diensteifrigen Assistenten umsorgte Raucher in Szene gesetzt:
Beide mustern ihre in Reihen angetretenen Truppen, Sergius eine Infanterie-Division, Leo das Aufgebot der Statisten, die im »Russian picture« zum Einsatz kommen. In beiden Fällen befindet sich die Kamera hinter den Aufgereihten und fährt, Leo und Sergius jeweils parallel begleitend, an den Reihen entlang.16
Beide Geschlagenen – Leo, dem Sergius einen Peitschenhieb versetzt hat, und Sergius, der von den Aufständischen aufgebracht und erniedrigt worden ist – werden ikonographisch als Märtyrer ausgewiesen, von ›Gloriolen‹ umgeben: Sergius vom Bogen einer Nische, in der eine Muttergottes steht, Leo von einer an der Wand angebrachten Garderobe:
16 Zum Zusammenwirken dieser beiden Einstellungen vgl. Andrew Sarris: The Films of Josef von Sternberg, New York 1966, S. 18. Sarris konzentriert sich allerdings nicht auf deren Übereinstimmungen, sondern auf die Differenzen.
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Volker Mergenthaler Die »Märtyrer« Sergius und Leo
Und beide werden einbestellt: »Have him report to work tomorrow morning«, lässt Leo zu Beginn des Films an den Komparsen Sergius weitergeben. »You are ordered to report for passport examination in the morning«, heisst das von einem der Soldaten aus Sergius’ Einheit an den als Revolutionär verdächtigten Leo gerichtete Pendant im Binnennarrativ. Leo und Sergius sind, so viel sollte deutlich geworden sein, (in der Dimension der histoire dieses Filmes) Antagonisten, und sie sind zugleich (in der Dimension des filmischen discours, in der Art und Weise, wie sie in Szene gesetzt werden) frappierend ähnlich, woraus sich die Frage ableitet, welche Begründung The Last Command für diese Ambiguität bereithält. Ihr Gemeinsames, der Parallelismus, erschließt sich allerdings erst dann, wenn man die chiastische (zeitlich wie ontologisch fundierte)17 Verschränkung ihrer Schicksale auflöst und im Hollywood-Regisseur des Rahmens Eigenschaften des Zarengenerals aus dem Binnennarrativ und umgekehrt im inhaftierten Revolutionär des Binnennarrativs Eigenschaften des im Rahmen vorgestellten Komparsen Sergius Alexander ausfindig macht.
4. DER GENERAL, DIE SCHAUSPIELERIN, IHR MORDVERSUCH UND SEIN PATRIOTISCHER PRÄTEXT Irritiert wird die Symmetrie dieser Anordnung durch eine in das Binnennarrativ integrierte ›Komponente‹: Natalie Dabrova. Wie Leo arbeitet 1917 auch Natalie am Kiewer Theater, er als Regisseur, sie als Schauspielerin. Beide gehören den Revolutionären an. Und wie
17 Zeitlich verschränkt sind die Schicksale dadurch, dass die Gemeinsamkeit zwischen Sergius von 1917 und Leo von 1928 besteht, ontologisch dadurch, dass sie die Gemeinsamkeiten über die ontologische Grenzlinie von Binnen- und Rahmenfiktion begründet.
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Wanderer zwischen beiden Welten Leo wird auch Natalie Sergius vorgeführt. An Leo ist Sergius allerdings nicht weiter interessiert, um so mehr aber an der attraktiven Natalie. Leo kommt in Haft, Natalie in Sergius’ Nähe, wo dieser ihr den Hof zu machen beginnt und ihre zunächst nur mühsam verdeckte Ablehnung nach und nach in leidenschaftliche Hingabe umzumünzen versteht. Eine Schlüsselfunktion kommt dem intimen Gespräch zu, das sich an eine militärische Lagebesprechung anschließt. Sergius hält die ihm soeben in Natalies Gegenwart mitgeteilten Anweisungen des Zaren für militärisch hoch bedenklich. Natalie: Aren’t you taking a terrific risk in defying the Czar’s wishes? Sergius: I would take any risk to prevent a needless sacrifice! Natalie: Then why do you continue this stupid war? Sergius: We must have victory! Defeat means revolution – and the collapse of Russia! Natalie: Then you love Russia so much? Sergius: I would gladly die tonight – if it would help Russia! Natalie: Before you die – won’t you at least have coffee with me – in my room?
Was zunächst den Anschein einer Verschiebung politischer Rede auf das Feld der Verführung hat, erweist sich sehr rasch in seiner gefährlichen Ambivalenz. »I would gladly die tonight – if it would help Russia!«, hatte Sergius gesagt, und in diesem Sinne beginnt die Revolutionärin Natalie zu handeln. Sie verbirgt eine Pistole unter ihrem Sofakissen, unvollständig allerdings, so dass sie Sergius’ Aufmerksamkeit nicht entgeht. Sein Blick fällt – erster close up – auf den Pistolenschaft. Eine sanfte Überblendung etabliert einen weiteren close up auf das von Sergius kognitiv vervollständigte Bild der Waffe.
Eine weitere Überblendung führt wieder zurück zum ersten close up: der zur Hälfte unter dem Kissen verborgenen Pistole. Während der vorgewarnte Sergius Natalies Zigaretten holt, zieht sie die Pistole hervor und richtet sie langsam aus. Ein Reißschwenk verdeutlicht, dass Sie auf Sergius zielt. Die Kamerabewegung endet 47
Volker Mergenthaler in einer Einstellung, die im linken Vordergrund Sergius’ Rücken zeigt. Er steht vor einem Wandspiegel und blickt darin auf Natalies Bild. Im Zentrum des Spiegels und im Zentrum des Filmkaders befindet sich das Bild der auf Sergius’ Rücken ausgerichteten Pistole. Nach einem Schnitt sehen wir erneut einen close-up, wieder auf die Waffe.
Natalie schießt aber nicht, sondern fällt verzweifelt und aufgewühlt auf das Sofa. Sergius’ patriotische Bekenntnisse haben offenbar ihre Wirkung nicht verfehlt und in das Herz der zwar politisch grundlegend anders gesinnten, in ihrem Patriotismus Sergius aber eng verbundenen Frau getroffen. Der anschließende Dialog untermauert diese Schlussfolgerung: Sergius: Why didn’t you shoot? Natalie: I don’t know why I didn’t kill you. I suppose it was because I couldn’t kill – anyone – who loves Russia as much as you do! Sergius: From now on you are my prisoner of war – and my prisoner of love.
Weit interessanter als die melodramatische Begründung der Liebesbeziehung ist die Faktur dieser Sequenz, und zwar in filmtechnischer und in intertextueller Hinsicht. Technisch ist sie bemerkenswert, weil sie neuerlich mit der Objektivierung eines Bewusstseinsakts arbeitet, wie Münsterbergs Überlegungen zur Psychotechnik des Films verdeutlichen – nun nicht zum cut-back (heute sagt man flashback), sondern zum close-up, mit dem man es hier ja zu tun hat: Here begins the art of the photoplay. That one nervous hand which feverishly grasps the deadly weapon can suddenly for the space of a breath or two become enlarged and be alone visible on the screen, while everything else has really faded into darkness. The act of attention which goes on in our mind has remodeled the surrounding itself. The detail which is being watched has suddenly become the whole content of the performance, and everything which our mind wants to disregard has been suddenly banished from our sight and has
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Wanderer zwischen beiden Welten disappeared. The events without have become obedient to the demands of our consciousness. In the language of the photoplay producers it is a ›close-up.‹ The close-up has objectified in our world of perception our mental act of attention and by it has furnished art with a means which far transcends the power of any theater stage.18
In intertextueller Hinsicht ist die Szene deshalb bemerkenswert, weil sie Münsterbergs Beispiel exakt ins Bild zu setzen scheint. Dieser Bezug bliebe allerdings einigermaßen esoterisch, nur dem kleinen Kreis derjenigen zugänglich, die sich für fachwissenschaftliche Publikationen an der Schnittstelle von Filmtheorie und moderner Psychologie interessieren. Hinter der Szene aus The Last Command und hinter Münsterbergs Beispiel scheint allerdings ein weit weniger esoterischer Anspielungshorizont auf. Münsterbergs so passgenaues Beispiel bezieht sich nämlich auf einen Meilenstein der Filmgeschichte – auf David Griffith’ The Birth of a Nation von 1915,19 näherhin auf die darin dargestellte Ermordung Abraham Lincolns.20 Wir sehen den über Lincolns Haltung gegenüber der Sklaverei erbitterten Attentäter, den Schauspieler John Wilkes Booth, vor der Loge, von der aus Lincoln ein Theaterstück verfolgt, Tom Taylors Our American Cousin. Wenig später wird Booth, Angehöriger eines Verschwörerkreises, die Tür aufstoßen und Lincoln in den Hinterkopf schießen. Im Wandspiegel vor Sergius läuft (zumindest vor den Augen der mit Griffith’ Erfolgsfilm Vertrauten) dieser Filmausschnitt ab, womit Sergius – als intertextueller Auswanderer, wenn man so will – in die Position Lincolns eingerückt wird, desjenigen, der den amerikanischen Bürgerkrieg zwar beenden, sein Ende aber nicht mehr erleben konnte.
18 H. Münsterberg: The Photoplay, S. 86f. 19 Zur filmtechnischen Relevanz des Griffith-Films und zum Stellenwert der von Griffith etablierten technischen Innovationen vgl. Ulrich Gregor/Enno Patalas: Geschichte des Films. 1895-1939, Reinbek 1976, S. 26-32. 20 Zur filmischen Faktur dieser Szene vgl. Michaela S. Ast: Geschichte der narrativen Filmmontage. Theoretische Grundlagen und ausgewählte Beispiele, Marburg 2002, S. 116-120.
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Volker Mergenthaler Und dieser Filmausschnitt wird wenig später noch einmal abgerufen, vermittelt, wenn Booth’ Kommentar zu seinem Mord an Lincoln »sic semper tyrannis« (so auch der Zwischentitel in Griffith’ Film) auf einem Transparent der Sergius überwältigenden Aufständischen auftaucht, ehe es Natalie (scheinbar wieder revolutionär gesinnt) an sich nimmt und die Parole zu ihrem ostentativ ausgestellten Leitspruch21 macht: »СМЕРТЬ ТИРАНАМ« (Smert Tiranam) – »Tod den Tyrannen«. The Last Command
The Birth of a Nation
Und noch ein weiteres Mal (nun mehrfach vermittelt) wird dieser Komplex in das Gedächtnis Sergius’ und des Zuschauers gerufen, und zwar in der zweiten Hälfte des Rahmennarrativs, der ich im Folgenden meine Aufmerksamkeit widmen möchte.
5. LEOS »RUSSIAN PICTURE« – INSTRUMENT EINER RACHEPHANTASIE? Nachdem Sergius’ Bild zum zweiten Mal im Schminkspiegel erscheint und wieder fest im Rahmennarrativ verankert wird – die Komparsen und Sergius beenden die Maske –, zeigt ein establishing shot erstmals den Filmset: Man sieht eine Kulisse, die einen verlassenen Schützengraben mit Drahtverhauen vorstellt – auch dies übrigens ein aus der Binnenfiktion bereits vertrautes Bild (mit dem Unterschied allerdings, dass da gefochten wurde). Leo ruft »die Statisten auf die Bühne«. Sein Assistent staffiert Sergius aus und schickt alle Komparsen in zwei Reihen geordnet aus der Maske. Sie müssen auf dem Set antreten, wiederum in zwei Reihen, und werden von Leo (ich hatte darauf schon hingewiesen) inspiziert. Zwar stellen die Komparsen ausnahmslos Soldaten vor, doch gibt es keinen ersichtlichen Grund dafür, ihr Erscheinen auf 21 Im Unterschied zu J. Baxter: The Cinema of Josef von Sternberg, S. 48, der (im Schwarz-Weiß-Film, wohlgemerkt) »the red flag« schlicht »as a symbol of the revolution« begreift.
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Wanderer zwischen beiden Welten dem Set als militärische Exerzierübung zu gestalten, zumindest nicht im Horizont einer Filmproduktion. Vor dem Hintergrund der Verknüpfung von Binnen- und Rahmennarrativ findet sich dafür allerdings sehr wohl eine Begründung, denn die Aufstellung der Statisten mit aufgepflanztem Seitengewehr ruft den ebenso einlässlich dargestellten Appell der Division aus dem Binnennarrativ in Erinnerung, die sich für die Truppeninspektion durch Sergius formiert hatte. Als Leo nun die Reihen der Komparsen abschreitet, hält er auf der Höhe von Sergius inne und fixiert ihn eindringlich. Im Shot-reverse-shot-Verfahren wird deutlich, dass Sergius, der Leo zu diesem Zeitpunkt im Rahmennarrativ erstmals sieht, den »director of the Kief Imperial Theatre« wiedererkennt, den er 1917 mit einer Peitsche traktiert, erniedrigt und in Militärgewahrsam gegeben hatte. Leo scheint die Gunst der Stunde für Vergeltung mit seinen Mitteln, mit den Mitteln des Films nutzen zu wollen: »I have waited ten years«, so lässt er Sergius wissen, »for this moment, Your Imperial Highness.«22
6. SCHLUSSSEQUENZ Schnitt und mise-en-scène geben allerdings in einem überaus komplexen Zusammenwirken zu erkennen, dass eine psychologische Lektüre der Schlusssequenz, die Sergius’ Einsatz in Leos Film als Ausleben einer Rachephantasie zu entziffern hätte, entschieden zu kurz griffe. Die Funktionsweise dieser großartigen Sequenz lässt sich nur dann herausarbeiten, wenn man im Blick hat, dass die Kamera auf Sergius und auf Leo ausgerichtet ist, auf Sergius als Beobachterin ersten und, sobald ihre Aufmerksamkeit der ganz auf Sergius eingestellten Aufmerksamkeit Leos gilt, auf Leo als Beobachterin zweiten Grades.23 Es gilt also zunächst zu klären, (1.) wie Leo Regie führt und (2.) wie Sergius die ihm zugewiesene Rolle umsetzt, zugleich aber auch, (3.) wie Sergius mit der seltsamen Dopplung von
22 Aus diesem Hinweis allerdings, wie F.T. Patterson: Introduction, S. 163, zu schließen, der Russenfilm, den Leo gerade dreht und in dem er Sergius einsetzt, ziele einzig darauf ab, die Rachegelüste zu befriedigen (»Now has come the opportunity for revenge. For this he has set his stage«), schießt entschieden über das Ziel hinaus: Zwischen der Auswahl von Sergius und dem aufwendigen Dreh vergeht schließlich nur ein einziger Tag. 23 I.S. von Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/Main 1999, S. 92-105.
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Volker Mergenthaler Maske und Persona24 zurechtkommt und (4.) wie Leo auf Sergius’ Reaktion reagiert. Ich beginne meine Analyse der Schlusssequenz mit den Instruktionen, die Leo seinem Komparsen gibt: »This is supposed to be a trench scene of troops just before a battle – You are the General in command! The troops are tired of war – tired of listening to your pretty speeches – One of them becomes violent – you stroke him with this whip! We won’t have to rehearse that scene – I know you can use a whip!« Das Drehbuch ordnet Sergius eine Rolle zu, die vor dem Hintergrund des Erinnerungsnarrativs als Melange zweier Kränkungen zu entziffern ist. Zum einen hatte der leidenschaftliche Widerstand der Revolutionäre gegen das Zarenregime die Weltanschauung Sergius’ erschüttert und einen Schock bei ihm ausgelöst, zum anderen hatte Sergius den Verdächtigen »director of the Kief Imperial Theatre« mit einer Peitsche misshandelt: Leos Regieführung ist unverkennbar ambigue, sie setzt den lange vor der Besetzung der Generalsrolle mit dem Komparsen Sergius Alexander geplanten Film um und nötigt zugleich Sergius zur Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit als kompromissloser General im Dienst des Zaren. Leos nächste Anweisungen, er verlässt die Kulisse und begibt sich hinter die Kamera, untermauern diesen Eindruck: »Music please – the Russian National Anthem.« – »Wind machine!« – »Lights!« – »Camera!« Dass eine Windmaschine in Gang gesetzt und die Beleuchtung eingestellt wird, ehe die Kamera ihre Arbeit aufnimmt, folgt fraglos den Gepflogenheiten der Filmproduktion. Das Anstimmen der russischen Nationalhymne dagegen erscheint zumindest erklärungsbedürftig – es sei denn, man begreift Leos Anweisungen als virtuos praktizierte Psychotechnik auf der Sinnesklaviatur Sergius Alexanders, den es offenbar in die vorgestellte Welt zu versetzen gilt. Dem Zwischentitel und der von Leo gegebenen Anweisung, die Hymne zu spielen (1), folgt eine Einstellung auf die Hände eines Pianisten (2), eine Halbtotale auf den im vorgestellten Schützengraben hinter ›seinen‹ vorgestellten Soldaten stehenden Sergius (3), wieder die Einstellung, die die Pianistenhände zeigt (4), dann eine halbnahe Einstellung, in der wir nur Sergius’ verunsichertes Gesicht und
24 Diesen Aspekt akzentuiert an einer vergleichbaren Konstellation Bertolt Brecht: »Die Bestie«, in: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe 19, hg. v. Werner Hecht/Jan Knopf/Werner Mittenzwei/KlausDetlef Müller, Berlin u.a. 1997, S. 294-299. Zu den Aneignungsverhältnissen der »zwischen Ende Juni und Mitte September 1928« (S. 646) und im Dezember 1928 in der Berliner Illustrierten Zeitung veröffentlichten Kurzgeschichte vgl. S. 646-648. Für den Hinweis auf Brechts »Bestie« danke ich Klaus-Detlef Müller (Tübingen).
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Wanderer zwischen beiden Welten seinen Oberkörper sehen (5), schließlich eine Halbtotale auf Leo, die Kamera und den Kameramann (6). 1
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Die nächste Sequenz streicht heraus, wie der Einsatz der Windmaschine auf Sergius zu wirken beginnt und wie Leo von dieser Wirkung Kenntnis nimmt: Nach dem Zwischentitel (7) sieht man zunächst die Windmaschine (8), dann in einer Halbotalen den verstört um sich blickenden Sergius mit wehendem Haar und Pelzkragen (9), im Anschluss daran, halbnah, den beobachtenden Leo (10), dann wieder, ebenfalls halbnah, Sergius (11), schließlich Leo, der zur Seite geneigt nach »Lights!« verlangt (12).
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Es folgt der entsprechende Zwischentitel (»Lights!«), darauf ein establishing shot, der die über die Kulisse gelegte Beleuchtung zeigt (13), eine halbnahe Einstellung auf den zutiefst verstört wirkenden Sergius (14), eine halbnahe Einstellung auf Leo und die Kamera (15), die jetzt erst – nächste Zwischentafel (16) – in Betrieb genommen wird. Es folgt neuerlich der establishing shot, in dessen Vordergrund Kameramann, Kamera und Regisseur zu sehen sind, im Mittelgrund der hinter den vorgestellten Soldaten im vorgestellten Schützengraben stehende Sergius, im Hintergrund der vorgestellte Nachthimmel an der vorgestellten Front (17), dann Einstellungen auf Leo, die nun in Betrieb genommene Kamera und den kurbelnden Kameramann (18).
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Die folgende Sequenz verdient besondere Aufmerksamkeit, denn sie zeigt zunächst genau diejenige Einstellung, die die von Leo dirigierte Kamera festhält (19, 20). Es folgt eine Reihe von Einstellungen, die durch die im establishing shot vorgestellte Kamera nicht eingefangen werden können, daher dem Wahrnehmungshorizont des vorgestellten Generals zuzuordnen sind, für kurze Zeit die Geschlossenheit der Repräsentation sicherstellen und von einer Halbtotalen auf Sergius und den Abtrünnigen und einer Halbnahen auf Leo (25, 26) beendet werden: als Schuss-Gegenschuss geschnittene Serie von insgesamt neun Naheinstellungen auf Oberkörper und Kopf des Generals und auf das wutverzerrte Gesicht des rebellierenden Soldaten (hier 21-24).
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Wanderer zwischen beiden Welten Das Gesicht des vorgestellten Generals hat sich grundlegend verändert. Die Spuren der Verunsicherung sind den Zeichen der Wut über das abtrünnige Verhalten des Soldaten gewichen. Hat man es, wie man zunächst meinen könnte, tatsächlich mit einem vorzüglichen Schauspieler zu tun, der die ihm zugewiesene Rolle perfekt umzusetzen versteht? Die nächsten Einstellungen legen eine andere Deutung nahe. Im Schuss-Gegenschuss-Verfahren wechseln Einstellungen auf den vorgestellten General und (als Subjektive ausgewiesen) auf das, was seinem Blick sich zeigt. Entscheidend ist nun, dass dies mit Hilfe von Überblendungen dargestellt ist: Eine bedrohlich auf den Betrachter ausgerichtete Menschenmenge mit den schon bekannten, zum Tyrannenmord auffordernden Transparenten wird wechselweise über drei verschiedene Einstellungen gelegt: über das Bild des drahtbewehrten Schützengrabens, über das Filmteam und über das vom Entsetzen entstellte Gesicht des vorgestellten Generals, desjenigen also, dem die Phantasmagorie zugeordnet wird – eine Menschenmenge, die Sergius aus dem Jahr 1917 und dem Zuschauer aus dem Binnennarrativ vertraut ist. Es sind die Revolutionäre, die den Zug aufgebracht und Sergius und seinen Stab überwältigt haben.
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Vollständig aufgegangen in seiner Rolle, nichts sonst bedeuten diese Bilder, ist Sergius neuerlich in die Situation eingetreten, die seinen »schweren Schock« verursacht hatte. Der drohenden Rebellion ›seiner‹ Soldaten begegnet der General/Sergius konsequenterweise mit genau denjenigen Worten, die er elf Jahre zuvor an die Aufständischen gerichtet hatte. Ihnen rief er »People of Russia – you are being led by traitors!« entgegen, den Trugbildern ruft er zu: »People of Russia, you are being led by traitors – we must win or Russia will perish!« »The command is forward – to victory –« »Long live Russia!« Sergius kollabiert, und spätestens jetzt wird deutlich, dass seine Darbietung nicht als Schauspielkunst, sondern als Wiedereintritt eines Traumatisierten in die traumatische Situation25 zu begreifen ist. Erklärungsbedürftig ist an diesem traurigen Ende vor allem der kurze Dialog zwischen Sergius, in seinen letzten Atemzügen liegend, und dem hinzugeeilten Leo. Sergius: Have we won? Leo: Yes, Your Imperial Highness – you have won!
Sergius stirbt in Leos Armen. »Tough luck«, kommentiert Leos Assistent, »that guy was a great actor«. »He was more than a great actor«, antwortet, sichtlich getroffen, Leo, »he was a great man.« Leo breitet sorgfältig die Fahne des russischen Zarenreichs über Sergius aus und bleibt neben dem Toten stehen – mit dieser Einstellung endet der Film. Eine »inconsistency of the story line«, »an obvious story flaw«26 hat Kevin Brownlow dem Ende von The Last Command zur Last gelegt. »Andreyev«, so Brownlow, »encountered the Grand Duke once, when he was arrested, when the Grand Duke struck him. He could not have known about the general’s true personality since he
25 »Le Grand Duc«, so schreibt Pascal Mérigeau: Josef von Sternberg, Paris 1983, S. 53, »revit la scène où il s’était adressé à la foule«. 26 K. Brownlow: The Parade’s gone by, S. 203, S. 196. Analog J. Baxter: The Cinema of Josef von Sternberg, S. 49.
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Wanderer zwischen beiden Welten never saw him or Natacha again«.27 Leo hat, wie er sagt, zehn Jahre auf den Augenblick gewartet, da ihm Sergius noch einmal begegnen würde. Als es so weit ist, versetzt er seinen Komparsen in die Rolle eines Generals, der eine drohende Desertion zu vereiteln hat. Es bleibt im Unklaren, ob er weiß, dass er damit genau diejenige Situation in Szene setzt, in der Sergius elf Jahre zuvor seinen schweren Schock erlitten hat. Entscheidend ist, dass er sich, seine Miene gibt es preis, in Sergius offenbar getäuscht hat, dass dieser nicht über eine despotische, sondern über eine ungebrochen patriotische Disposition verfügt, dass Sergius’ Handeln von derselben offenbar unausrottbaren Liebe zu Russland zeugt, mit der Sergius auch »Natalie Dabrova, the most dangerous revolutionist in Russia«, ›umzudrehen‹ vermochte.28 Als Regisseur nimmt Leo also strukturell die Position Natalies ein, die mit der Waffe auf Sergius zielt, mit dem Unterschied aber, dass er (wie der Schauspieler und Lincoln-Mörder John Wilkes Booth) seine Waffe abfeuert. Seine Waffe ist allerdings – und vor diesem Hintergrund gewinnt die ostinate Engführung von Filmindustrie und Kriegsmaschinerie endlich einen anderen Sinn als den so augenfälligen der Kritik am Hollywood-Apparat29 – die Kamera. Diese Verknüpfung von Film und Krieg gehört zu den Effekten der zwischen Sergius, dem Kriegsherrn aus dem Binnennarrativ, und Leo, dem Filmregisseur aus dem Rahmennarrativ, angelegten Übereinstimmungen. In ihrem Horizont verschmilzt die technische Ausstattung der vorgestellten Füsiliere mit derjenigen des Filmteams. Filmkamera und Schusswaffe sind eins. Betont wird diese Engführung in der Schlusseinstellung. Sie folgt einer Totalen, in der 27 K. Brownlow: The Parade’s gone by, S. 197. 28 Ich weiche mit dieser Einschätzung von einer Erklärung ab, die von Sternberg (abgedruckt übrigens in K. Brownlow: The Parade’s gone by, S. 203) selbst zu diesem ›Bruch‹ abgegeben hat: »William Powell, as the director, is commenting on the difference between a great actor and a great man. It is necessary to point the difference. What was actually said was, ›He was more than a great actor. He was a great man.‹ He said that based on his observation of Jannings’ performance in the trenches in the studio.« 29 So z.B. H. Weinberg: Josef von Sternberg, S. 35f.: »The film gave Sternberg an opportunity to castigate the superficiality of Hollywood movie making«, die von Alice Goetz, Helmut W. Banz und Otto Kellner aus Anlass einer Sternberg-Retrospektive besorgte Broschüre: »Wir stehen hier einem Film gegenüber, in dem sich Sternberg erlaubt, die Atmosphäre von Hollywood zu kritisieren durch die Darstellung des tragischen Niedergangs eines Generals und damit eine modifizierte Kritik übt an dem grausamen und erbarmungslosen Milieu von Hollywood« (Josef von Sternberg. Eine Darstellung, hg. v. Verband der Deutschen Filmclubs, Mannheim 1966, S. 126) und Michel Bouvier: »The Last Command: Hollywood, lieu du crépuscule«, in: Revue Française d’Études Americaines, 9/19, 1984, S. 77-87.
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Volker Mergenthaler man Leo, seinen Assistenten und den soeben verstorbenen Sergius in der vorgestellten Kriegslandschaft sieht. Der Kader wird zunächst von den drei Männern dominiert, im Mittelgrund liegen die zurückgebliebenen Waffen der Statisten. Während Leo die Fahne des Zarenreichs über Sergius ausbreitet, sich wieder aufrichtet und betroffen stehen bleibt, fährt die Kamera langsam zurück und bringt nach und nach die – wie am vorgestellten Schützengraben die Gewehre – herrenlos zurückgebliebenen Filmkameras ins Bild. Sie rücken aber nicht nur in den Kader, sondern nähern sich, bis zur scheinbaren (auf der Bildebene angelegten) Berührung, den Karabinern am Schützengraben an und bilden zusammen mit den Karabinern eine Klammer um Sergius und Leo.
Auch hierin folgt Sternberg einer bereits fest etablierten Tradition. Sie verweist auf die Anfänge des Films, auf Etienne-Jules Marey und seine wie eine Flinte gestaltete und zu gebrauchende ›Filmkamera‹. »Als er die Schaufelräder eines Raddampfers betrachtete«, so schreibt Paul Virilio in seiner Krieg und Kino betitelten Abhandlung über die Logistik der Wahrnehmung, kam dem späteren Oberst Gatling 1861 die Idee zum Maschinengewehr mit zylindrischem Magazin und Kurbelantrieb. 1874 erfand der Franzose Jules Janssen nach dem Vorbild des Trommelrevolvers, der 1832 patentiert worden war, seinen astronomischen Revolver, der bereits Reihenaufnahmen gestattete. Von
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Wanderer zwischen beiden Welten dieser Idee ging Etienne-Jules Marey aus bei seiner photographischen Flinte, die es erlaubte, ein im Raum sich bewegendes Objekt anzuvisieren und aufzunehmen.30
Einen Nachfolger des von Gatling entwickelten und medientechnisch so wirkungsmächtigen Maschinengewehrs zeigt der Film übrigens einige Sekunden lang bei der Arbeit – beim ›Niedermähen‹ heranstürmender Aufständischer und ähnlich in Szene gesetzt wie die Bilder von Sergius schießenden Kameras:31
Was ist daraus nun zu schließen? Wenn Sergius am Ende hinter dem vorgestellten Schützengraben mit der Fahne des russischen Zarenreichs in den Händen zusammensinkt, als wäre er tödlich getroffen worden, so stirbt er – der (für ihn ja zur Realität gewordenen) Fiktion nach – auf dem ›Feld der Ehre‹. Er stirbt allerdings, wie es den Anschein gewinnen könnte, einen wenig ruhmvollen Tod: Er wird nicht von einem feindlichen Schützen getroffen, sondern kolla30 Paul Virilio: Krieg und Kino. Logistik der Wahrnehmung, Frankfurt/Main 1989, S. 19. 31 Dass zwei Kameras nebeneinander gezeigt werden, entsprach den Gepflogenheiten der Produktion. Auf diese Weise ließ sich für den internationalen Verleih sofort ein hochwertiges Original zur Verfügung stellen, das für Kopien genutzt werden konnte.
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Volker Mergenthaler biert – nur so freilich kann sein Tod von der Fiktion der gedrehten Szene in die Realität der Filmproduktion überführt werden. Sergius’ Herzschlag wird allerdings vor dem Hintergrund der intertextuellen Verstrickungen von Sternbergs Film nobilitiert.32 Leo hat die Kamera geführt und mit dieser Waffe, mit der von ihm abgeschossenen Waffe der Filmkamera, die Position des Lincoln-Attentäters eingenommen und Sergius die Position desjenigen zugewiesen, den die Geschichtsschreibung als Begründer der amerikanischen Nation verbucht: »›A house divided against itself […]«, so hat sich Lincoln über das in der Sklavenfrage auseinander gebrochene Amerika mehrfach geäußert, »cannot stand.‹ I believe this government cannot endure, permanently half slave and half free. I do not expect the Union to be dissolved – I do not expect the house to fall – but I do expect it will cease to be divided. It will become all one thing, or all the other.«33 »Defeat«, so lautete Sergius’ Echo darauf, »means revolution – and the collapse of Russia«.
7. DER SCHATTEN DES KÖRPERS DER LEITER PARALLELEN IM ZEICHEN DES CHIASMUS ODER: AMERIKANISCHE GESCHICHTE AUF RUSSISCHEM GRUND ODER:
Ein Bild aus dem Binnennarrativ verliert vor diesem Hintergrund seine Rätselhaftigkeit. Es zeigt eine wandgroße Karte des Zarenreichs, auf die die Schlagschatten einer großen Klappleiter fallen. Dass es sich um Zufall oder eine Unachtsamkeit von Sternbergs handelt, darf bei einem Regisseur ausgeschlossen werden, der als überaus sensibel für Lichttechnik und Beleuchtungseffekte gilt.34 Die Einstellung verknüpft, wie ich meine, zwei wichtige Aspekte des Films: Zum einen gibt sie (darin liegt ihr struktureller Gehalt) ein Bild der Architektur35 – einer Verknüpfung von Parallelismen (in der 32 Die martialisch-negative Färbung, die The Last Command dem Medium Film gibt, wird auf diese Weise wieder zurückgenommen – zurückgenommen in dieselbe Schwebe, in die auch die Schauspielkunst versetzt ist: Natalie ist Schauspielerin und kann sich so in die Position einer Attentäterin im Dienst der Revolution bringen. Ihre Schauspielkunst ist es aber auch, die sie am Ende des Binnennarrativs zur Rettung Sergius einzusetzen versteht. Für den Hinweis auf die Ambivalenz, in der die Welt des Films (Produktion, Schauspiel, Filmtechnik) erscheint, danke ich Ulrich Meurer (Wien). 33 Abraham Lincoln: »›A House Divided‹. Speech at Springfield, Illinois, June 16, 1858«, in: The collected works of Abraham Lincoln 2, hg. v. Roy P. Basler, New Brunswick 1953, S. 461-469, hier S. 461. 34 Vgl. hierzu K. Brownlow: The Parade’s gone by, S. 206-210. 35 Die Komplexität dieser Architektur hat Marcel Oms: »Josef von Sternberg«, in: Peter Baxter (Hg.): Sternberg, London 1980, S. 59-81, hier S. 66, offenbar dazu veranlasst, das »scenario of The Last Command« als »completely
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Wanderer zwischen beiden Welten Dimension des discours) und einem Chiasmus (in der Dimension der histoire).
Zum anderen gibt sie (darin liegt ihr politischer Gehalt), und zwar wieder im Rekurs auf die amerikanische Geschichte, ein Bild für Sergius’ politische Motivation. Auf der Karte des Zarenreichs liegt zunächst das Flaggenmotiv der russischen Marine. Im Horizont der intertextuellen Anspielung auf Griffith’ Birth of a Nation wird der seltsame Schatten aber als Kompilation zweier anderer Flaggen lesbar: derjenigen der Sons of Liberty und derjenigen der Konföderierten Staaten, auch Rebelflag genannt.
Die erste stammt aus dem 18. Jahrhundert und bildet in weißen und roten Streifen die 13 Staaten ab, die sich gemeinsam gegen den Herrschaftsanspruch der englischen Krone ausgesprochen hatten. mad« zu bezeichnen, und A. Sarris: The Films of Josef von Sternberg, S. 16, spricht im Hinblick auf die mit dieser Komplexität verknüpfte Selbstreferentialität vom »most Pirandellian film« von Sternbergs. Eine in Ansätzen analytische Auseinandersetzung mit der Artifizialität des Films findet sich bei J. Tibbetts: Sterberg and The Last Command.
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Volker Mergenthaler Sie steht im Unterschied zur Kriegsflagge der Konföderation, die auf die hundert Jahre später drohende Spaltung der amerikanischen Nation verweist, für die nationale Einigung. Auf der russischen Landkarte sind damit die wichtigsten Etappen der amerikanischen Geschichte abgebildet und die beiden Kräfte, die (in der Wahrnehmung Sergius’) auf Russland einwirken: eine spaltende und eine für die Integrität Russlands eintretende. »I would gladly die tonight«, so hatte er Natalie wissen lassen, »if it would help Russia«. Sein Tod auf dem Set, in der für ihn zur Realität gewordenen Fiktion, steht nun im Zeichen dieser Integrität. Im entrückten Wahrnehmungshorizont des Sterbenden bilden Leos Worte: »Yes, Your Imperial Highness – you have won!« daher die Sergius erlösende Versicherung, dass sein Tod Russland nützte.
8. TRANSGRESSION / MIGRATION / FILM Zwei Einwanderer, so hatte ich eingangs betont, stehen in diesem Film zur Debatte, einer, den es auf die Seite des Erfolgs, und einer, den es auf die Seite der Arbeitsuchenden gespült hat. Beide, und das ist der ausschlaggebende Punkt, sind, wie der Film zu Beginn markiert, noch immer nicht angekommen, haben ihre Migration noch immer nicht zum Abschluss bringen können. Sergius zeigt Symptome einer psychischen Erkrankung, Leo dreht geradezu manisch »Russian pictures«. Was Sergius in die Vereinigten Staaten getrieben hat, wird durch das Binnennarrativ verdeutlicht, weshalb Leo, der Revolutionär, nicht im nachrevolutionären, von der Zarenherrschaft befreiten Russland geblieben ist, bleibt im Dunkeln. Beide haben aber eine durch das Binnennarrativ aufgedeckte Gemeinsamkeit: erlittene und noch immer in ihnen schwärende Kränkungen. Am Ende, so meine ich, sind beide Migrationen abgeschlossen. Sergius ist aus seinem Trauma gelöst – nicht weil er stirbt, sondern weil Leo (als Instanz des Dritten) seine Fiktion, sein Phantasma vom Heldentod für Russland stützt. Und Leo hat die erlittene Kränkung überwunden, weil er sein Bild vom Despoten Sergius durch das des Patrioten Sergius ersetzen konnte. Beide Lösungen sind nur möglich geworden durch einen im Medium der vorgestellten Welt des »Russian picture« vollzogenen Übergang, möglich geworden durch Sergius’ Transgression in das Russland des Jahres 1917 und durch die dafür von Leo bereitgestellte Zeitmaschine,36 sein »Russian picture«.
36 Film ist auf diese Weise – neben der kritischen Markierung des Mediums, der theatralischen Kunst wie der Traummaschine Hollywood – auch positiv konnotiert.
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Wanderer zwischen beiden Welten Auch für diese Engführung, für die Engführung von Film und Transportmittel, gibt Sternbergs The Last Command ein Bild – mit dem ich schließen möchte. Es ist das Bild des durch die Nacht fahrenden und von den Revolutionären aufgebrachten »Train Number 476, carrying the Grand Duke Sergius Alexander and staff« auf dem Weg zur Front, desjenigen Zuges, der Sergius und das Zarenreich in den Untergang und Natalie in den Tod führt. Mehrmals wird diese Einstellung in das Binnennarrativ geschnitten, und das obwohl sie ungewöhnlich informationsarm ist: Im Bildkader ist lediglich die dunkle Silhouette des Zuges zu erkennen, im Vordergrund – ebenfalls vom Dunkel der Nacht nahezu verschluckt – der verschneite Bahndamm und ein Telegraphenmast.
Einzig die erleuchteten Fenster der Waggons und die darin im Schattenriss, wie auf einem Filmstreifen, sich abzeichnenden Passagiere sind zu erkennen. Das Medium der Transgression, so lautet, wie ich meine, der latente Gehalt dieser Einstellung, ist das Medium Film.37
37 A. Sarris: The Films of Josef von Sternberg, S. 18, hält The Last Command für »almost too much of a good thing« und bemängelt, dass »we are left then with no moral, no message, but an only partially resolved melodrama of pride and punishment, a work of art rich in overtones but pitched at too many different keys of interpretation«. Die in dieser Zuspitzung angelegte Verbindung von Transgression und Ästhetik habe ich an anderer Stelle eingehend untersucht. Vgl. hierzu Volker Mergenthaler: Völkerschau – Kannibalismus – Fremdenlegion. Zur Ästhetik der Transgression (1897-1936), Tübingen 2005, besonders S. 223-247.
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Zur Poetik der Auswanderung. Kazans America, America und Valtinos’ Legende des Andreas Kordopatis MARIA OIKONOMOU
Noch bevor Amerika überhaupt entdeckt war, unterlag es schon der ideologischen Anschauung. Es existierte bereits, so könnte man sagen, seit der Idee eines irdischen Ortes der Erlösung. So versichert etwa die biblische Genesis, wenn das Paradies in der Richtung des Sonnenaufgangs im Osten der Welt liegt, dann bedeutet der Westen das Ende jeder Wanderbewegung und Geschichte und birgt die Möglichkeit einer Aufhebung des Sündenfalls. Wenn also die Neuzeit endlich wagt, die Säulen des Herkules hinter sich zu lassen und den Atlantik zu überqueren, begegnet sie in der Neuen Welt diesem seinem Eden. Die hoffungsvollen Überzeugungen und der Glaube Europas treffen schließlich auf eine wirkliche Landmasse, auf einen Kontinent, und wenden auf ihn all ihre Fiktionen an. In Amerika finden sich daher scheinbar alle vorangegangenen Erlösungserzählungen bestätigt. Der unbekannte Raum am Rand der Weltkarte befeuert die Phantasie und funktioniert wie eine Leinwand, auf die man die Utopien der Elysischen Felder, des Gelobten Landes oder der Inseln der Seligen projiziert. Gerade das bisher Unbekannte, die geographische Unbestimmtheit Amerikas, erlaubt ein ungehindertes Einschreiben von Ideologien in seine Fläche. Folgerichtig bemerkt Ulrich Meurer, dass der amerikanische Kontinent (bis heute) einen Prozess erlebe, den man als eine konstante Fiktionalisierung bezeichnen könne. Er sei eine konstruierte Fläche, die vor allem durch ihre interpretatorische Inanspruchnahme existiere – ein immer neu erfundenes Land, mehr eine Vorstellung denn ein Ort.1 Amerika scheint von Anfang an seinen Zweck in sich zu tragen und über eine Entelechie zu verfügen. Es
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Vgl. Ulrich Meurer: Topographien. Raumkonzepte in Literatur und Film der Postmoderne, München 2007, S. 39f.
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ist das »religiöse, politische oder soziale Telos«;2 es ist der Traum des Intellektuellen wie des Emigranten, die immer wieder mit der »Beschriftung« und »Ideologisierung« des Landes beginnen. Es kann also nicht verwundern, wenn ungezählte Auswanderer ihren Traum vom besseren Leben in Amerika verwirklicht sehen, da sich seine eigentliche Existenzweise doch stets gerade dem Traum verdankt. Daher auch wird es zum Ziel einer halben Million Griechen, die jenseits des Ozeans die Bedrückungen ihres Lebens hinter sich lassen wollen.3 Und Amerika als Migrationsziel um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ist auch das Thema von Elia Kazans Film America, America und des Romans Die Legende des Andreas Kordopatis von Thanasis Valtinos, die beide in der ersten Hälfte der 60er Jahre entstanden sind – 1963 bzw. 1964 – und die ich im Rahmen der Frage nach gemeinsamen Motiven und ästhetischen Verfahren einer »Migrationskunst« hier einer vergleichenden Parallellektüre unterziehen möchte. Freilich kann es sich dabei um keine umfassende Analyse jener Migrationskunst handeln; vielmehr soll versucht werden, am Beispiel der beiden Werke einige zentrale Merkmale herauszustellen, die (jenseits der medialen Grenzen zwischen Literatur und Film) Teil einer möglichen Poetik der Auswanderung sein könnten. Wie ließe sich jedoch eine solche Poetik sinnvoll umreißen, ohne dabei die methodisch relevante Frage nach den Unterschieden, die aus dem Medialen erwachsen, aus dem Blick zu verlieren oder auch in normative Bestimmungen zu verfallen, wie also wäre deskriptiv den Eigenarten der Migration in der Kunst Rechnung zu tragen? Nach welchen Merkmalen müsste man Ausschau halten, und sind diese Merkmale (deduktiv oder induktiv) eindeutig bestimmbar? Trotz der bisher unabgeschlossenen Diskussion – die sich unter anderem damit auseinander setzt, ob die Bezeichnung »Migrationsliteratur« eine Literatur meint, die zumindest zwei Forderungen zu erfüllen hat, sich zum einen nämlich thematisch mit den Prozessen der Migration, der Diaspora oder des Exils zu beschäftigen und zum anderen von Migranten geschrieben zu sein;4 ob man im Hinblick auf diese Literatur von einer »littérature mineure« im Sinne Deleuze’ und Guattaris sprechen kann; ob man es mit dem Produkt eines nicht nur »trans-nationalen sondern auch post-nationalen Diskur-
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Ebd., S. 39. Vgl. Ioanna Laliotou: »Inomenes Politeies«, in: Ioannis K. Chasiotis/Olga Katsiardi-Hering (Hg.): Oi Ellines sti diaspora. 15.-21. Jahrhundert, Athen 2006, S. 275-281. Die Begriffsdiskussion kann hier nicht erschöpfend dargestellt werden. Differenzierungen wie diejenige zwischen »Migrantenliteratur«, »Migrationsliteratur« oder gar »interkultureller Literatur« versuchen, den angesprochenen Bereich abzustecken. Vgl. Heidi Rösch: »Migrationsliteratur im DaFUnterricht«, in: Info DaF, Heft 27, Nr. 4, 2000, S. 376-392.
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ses«5 zu tun hat, das eine Facette der postmodernen Literatur darstellt; ob man Migrationsliteratur exkludierend als eine andere, randständige Literatur innerhalb des nationalen Kanons oder integrativ als Teil dieses Kanons einordnen soll –, trotz also dieser noch offenen definitorischen Fragen hat die jüngere Literatur- und Kulturwissenschaft bereits vielfältige Zugänge zu einer »Migrationspoetik« und deren Ausprägungen eröffnet. Obwohl von einer strengen Typologie dabei keineswegs die Rede sein kann, lassen sich doch zumindest im Bereich des Literarischen, der fraglos seine Entsprechungen im Filmischen aufweist, zwei dominante Ansätze ausmachen, derjenige einer wiederkehrenden Thematik und Motivik und der einer Anzahl von wiederholt auftauchenden Formalia. Einerseits und ganz unabhängig von bestimmten nationalen Ausprägungen und divergierenden Ursachen der Migration ist der einschlägigen Kunst die Beschäftigung mit den Erfahrungen der Wanderung, des Sprachwechsels, des Heimatverlustes und der Fremdheit gemeinsam.6 Sie ist verortet zwischen den vielen »Grenzen und Überquerungen«, im »Transitorischen und Offenen zwischen Fremdem und Eigenem und ihrer Umkehrbarkeit«, in den »Ortswechseln und deren materialen und symbolischen Wirklichkeiten«.7 Dies ist unweigerlich verbunden mit bestimmten formalen Charakteristika, insofern die Migrationskunst mehr als nur ein thematisch zu fassendes Phänomen ist, sondern vor allem »eine kulturelle Performanz, die sich in ihren Schreibweisen umsetzt«.8 So kann zum Beispiel die Schwellenerfahrung auch in der sprachlichen Vielstimmigkeit reflektiert werden (die Klaus Schenk als »babylonischen Diskurs« bezeichnet), in der Unübersetzbarkeit und Sprachlosigkeit,9 in der Lockerung der Raum- und Zeitgebundenheit oder in gewissen diegetischen Strategien der Zuschreibung von Identität. Mit anderen Worten: die Ästhetik der Migration scheint oft homolog zur Erfahrung der Migration strukturiert zu sein. Vor diesem Hintergrund zeigt Elisabeth Bronfen in ihrer poetologischen Untersuchung des Exils paradigmatisch, dass Exil als Kategorie für eine Textanalyse sowohl »biographisch referentiell«, »thematisch inhaltlich« und »textästhetisch strukturell« zu dekodie-
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Vgl. das Vorwort von Klaus Schenk/Almut Todorow/Milan Tvrdík in: diesn. (Hg.): Migrationsliteratur – Schreibweisen einer interkulturellen Moderne, Tübingen, Basel 2004, S. VII-XI, hier S. VIII. Almut Todorow: »Das Streunen der gelebten Zeit: Emine Sevgi Özdamar, Herta Müller, Yoko Tawada«, in: Klaus Schenk/Almut Todorow/Milan Tvrdík (Hg.): Migrationsliteratur – Schreibweisen einer interkulturellen Moderne, Tübingen, Basel 2004, S. 25-50, hier S. 27. Ebd., S. 27. K. Schenk/A. Todorow/M. Tvrdík: Migrationsliteratur, S. VIII. Vgl. ebd.
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ren ist.10 Bronfen fasst Exil »sowohl als die erzwungene wie auch die freiwillig gewählte Trennung eines Menschen von dem ihm vertrauten natürlichen Ort« auf und versteht es vor allem als einen »dritten Bereich«, als den Eintritt in eine »spannungsgeladene Zweiräumigkeit« zwischen einem ursprünglich verlorenen und einem sekundär erworbenen Ort. Exil kann, so Bronfen, entweder auf eine erfahrbare historische Realität verweisen oder auf einen universalisierenden Diskurs, auf eine anthropologische Ur-Erfahrung des Geworfenseins. Damit einher geht eine gewisse Sinnbildhaftigkeit, die insbesondere mit dem Verlust des Paradieses, der Trennung von der Mutter und der Unschuld der Kindheit oder dem Verlust einer wahrhaften, wörtlichen und eindeutigen Ausdrucksweise operiert.11 All dies kann in die Exilliteratur eingewoben werden und verschiedene Möglichkeiten des Exilanten in Erscheinung treten lassen – mal die imaginäre Wiederherstellung des Heimatparadieses, mal die Umsemantisierung des neuen Ortes als Paradies oder aber auch das prekäre Dazwischen des Exils. Aus der Position also der Entortung erwächst in der modernen Exilliteratur sowohl eine neue Identität des Migranten als auch ein neuer Korpus literarischer Strategien und Topoi. Thanasis Valtinos’ Die Legende des Andreas Kordopatis beginnt mit einer Notiz, die der Autor seiner Novelle voranstellt und in der er angibt, den Bericht über die Auswanderung seiner Hauptfigur nicht allein, sondern gemeinsam mit Kordopatis selbst verfasst zu haben: Andreas Kordopatis lebt im Dorf Dara in Mantinia. Er geht auf die 95. Was folgt, ist ein Stück aus seinem Leben. Manches hat er selbst geschrieben, anderes hat er mir erzählt. Das war das ursprüngliche Material. Ich schrieb die Geschichte noch mal von Anfang an, indem ich darauf achtete, den ursprünglichen Stil und die einfache Rede zu halten. Veränderungen an den Fakten geschahen nur in den wenigsten Fällen, vor allem dort, wo sie aus technischen Gründen unvermeidlich waren.12
Dieses Verfahren, Gespräche oder mündliche Erzählungen aufzuzeichnen und sie nachträglich literarisch zu verdichten, steht in der Tradition der Dokumentar-Literatur. Das Rohmaterial, so der Autor, bleibt dabei weitgehend unverändert, was ein hohes Maß an Authentizität gewähren soll und sich zudem im Stil des Texts spiegelt, 10 Elisabeth Bronfen: »Entortung und Identität. Ein Thema der modernen Exilliteratur«, in: The Germanic Review, Bd. LXIX, Nr. 1, Winter 1994, S. 70-78, hier S. 71. 11 Ebd., S. 77. 12 Thanasis Valtinos: Die Legende des Andreas Kordopatis. Amerika (Synaxari Andrea Kordopati: Vivlio proto, Ameriki), übers. von Hans Eideneier u.a., Köln 1982, S. 8.
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der sich die umgangssprachlichen und kunstlosen Enunziationen des »eigentlichen« Erzählers anzueignen sucht und damit formal den Anteil des unverfälschten Faktualen in der Fiktion unterstreicht.13 Darüber hinaus garantiert nicht nur die wie immer geartete Mitwirkung des realen Kordopatis am Manuskript, sondern allein schon die Existenz eines Menschen dieses Namens die Faktizität des Texts, der deshalb sowohl in seiner Genese als auch in seinem Weltbezug unversehens als unhintergehbar »wahr« erscheint. Doch zugleich wird dieser Gestus der Wahrhaftigkeit von Textelementen unterlaufen, die zwar nicht dazu angetan sind, die Figur Kordopatis mit aller Sicherheit nun als Fiktion zu demaskieren, wenigstens aber Zweifel am nur dokumentierenden und auf das Biographische reduzierten Charakter des Texts aufkommen lassen. So stellt sich dem Leser zuerst die Frage, welche ungenannten »technischen Gründe« es wohl unvermeidlich machen könnten, die Fakten der Erzählung des alten Kordopatis zu ändern, ob es sich dabei um von Valtinos recherchierte technische Daten der historischen Lebenswelt handelt, die mit dem Zeugenbericht nicht übereinstimmen, oder gar um Anforderungen des Textes selbst, die von der Erinnerungsstruktur des Protagonisten abweichen, mithin um Gründe, die der Technik des Schreibens (eines Romans) entspringen. In jedem Fall weist der Paratext eben im Bemühen um das Faktuale hier zugleich auf dessen möglichen Mangel hin; bereits in seiner Versicherung des Tatsächlichen, die diesen Anspruch im selben Moment relativiert, scheint die Wahrheit des ganzen Buchs eingeschränkt. Wenn man zudem weitere der »Beweise« Valtinos’ in Betracht zieht, die er als Para- oder Kontexte dem Buch beigeordnet hat, erscheint die Zwischenstellung der Figur – des Helden einer literarischen Erzählung, die (im Sinne Bronfens) im »biographisch Referentiellen« wurzelt – um so mehr als inszenierter Kunstgriff: So etwa lässt sich der Autor zusammen mit Kordopatis ablichten (und es heißt, das besondere »Es-ist-so-gewesen« der Photographie fördere stets und dem Wesen des Mediums gemäß etwas zutage, das zu einem vergangenen Zeitpunkt unwiderlegbar gegenwärtig war): Auf dem Bild blicken beide mit ernstem Blick ins Objektiv, als wollten sie den Beweischarakter dieses Photos unter13 Vgl. auch Kyriaki Chryssomali-Henrich: »To yfos tis amesotitas, i armonia logou kai periechomenon. (Stoicheia tis poiitikis tou Thanasi Valtinou)«, in: Porfyras 103, April-Juni 2002, S. 31-41, hier S. 32. Zu recht bemerkt Chryssomali-Henrich, dass sich bereits in Valtinos’ erstem Buch I Kathodos ton ennia (Der Marsch der Neun) der idiosynkratische Still des Autors offenbart – die unvermittelte »Zeugenaussage« in der Ich-Erzählung, der volkstümliche Jargon, die »Brachylogie«, die knappe und lakonische Ausdrucksweise also, oder die überaus unbeteiligte und ungerührte Darstellung des Geschehens; darin zeige sich Valtinos’ künstlerisches Programm der Objektivität und literarischen Versachlichung, das in seinen folgenden Werken noch stärker hervortrete (S. 37).
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streichen, und neben ihnen ist noch eine dritte Person zu sehen, ein gewisser Jannis Alexopoulos, dem der Roman gewidmet ist und der in dunklem Anzug wie ein den Bund bestätigender Zeuge wirkt. Dabei verleihen die drei vor einer roh verputzten Mauer aufgereihten Männer, ihre Kleidung und ihr Habitus dem Photo etwas Improvisiertes, das vor allem dem Bildjournalismus eigen ist.14
Nichtsdestoweniger ist es gerade jene so »ungestellte« Photographie, die – vielleicht aufgrund des milden Schocks, den der Leser der Novelle erfährt, wenn er unerwartet deren Hauptfigur technisch abgebildet sieht – den Unglauben gegenüber einem real existierenden Andreas Kordopatis schürt. Und ebenso tragen Valtinos’ Erklärungen in diversen Interviews dazu bei, die Figur in ein merkwürdiges Zwielicht des zugleich Faktualen und Fiktionalen zu tauchen, etwa wenn der Autor bereits als junger Schüler auf das eher unverständliche und ungelenk in antikisierender Reinsprache (der so genannten Katharevousa) abgefasste Manuskript des Auswanderers gestoßen sein will, sich als Erwachsener schließlich auf die Suche nach dem Verfasser gemacht und ihn überzeugt habe, seine Geschichte als Vorlage für die Schriftversion noch einmal in der 14 Bildquelle: Dimitris Daskalopoulos: »Thanasis Valtinos. Parousiasi-Anthologisi«, in: I metapolemiki pezografia. Apo ton polemo tou ’40 os ti diktatoria tou ’67, Bd. 2, Athen 1992, S. 298-341, hier S. 309.
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Volkssprache zu erzählen.15 Diese Anekdote atmet so sehr den Geist des 18. Jahrhunderts – das, um seine literarischen Fiktionen zu rechtfertigen, ein um das andere Mal von in Bibliotheken oder verkorkten Flaschen aufgefundenen Schriftstücken spricht, die der Autor daraufhin lediglich herausgegeben habe16 –, dass sie den Text unwillkürlich als ebenso erfunden erscheinen lässt wie jene Romane. Auf diese und ähnliche Weise bezeugen all die Paratexte, Interviews17 und das Bildmaterial zwar einen realen Kordopatis, beginnen jedoch (auch und gerade durch das in ihrer Häufung implizierte unbedingte Beharren auf der Wirklichkeit) bei genauerem Hinsehen dessen Anwesenheit im Text fast unmerklich zu zersetzen. Jedoch sollen hier weniger die Aussagen des Autors über sein eigenes Werk oder die Existenz seiner Inspirationsquelle als grundsätzlich bezweifelbar dargestellt werden; vielmehr geht es um die Frage, ob sich zwischen der unablässig beschworenen Realität der Ereignisse und Personen einerseits und dem Charakter des Textes selbst andererseits nicht eine Inkongruenz einstellt, die unter Umständen als ein erstes Kriterium einer Poetik der Migrationskunst dienen könnte. Nicht zuletzt ist es im vorliegenden Fall der Text selbst, der zwar dem Postulat eines biographischen Realitätsgehaltes nicht widerspricht, diese auf den Einzelfall beschränkte Haltung des Dokumentierens jedoch auf bezeichnende Weise »hinter sich lässt«: Die Einzelheiten, die der Leser über das Leben des Protagonisten erfährt, sind überaus spärlich. Sie verraten lediglich, das er einer achtköpfigen griechischen Familie aus ärmsten Verhältnissen entstammt, in einem kleinen pelloponesischen Dorf aufgewachsen ist und 1903 beschließt, nach Amerika auszuwandern. Dieser äußerst gedrängten und bestenfalls skizzierten biographischen Vorgeschichte folgt dann die eigentliche Handlung, die Versuche des Helden, sein gelobtes Land zu erreichen. Mehrere Male scheitert er an den Behörden, die ihm wegen einer Trachoma-Erkrankung sei15 Vgl. Kay Cicellis: »Thanasis Valtinos. Sinaxari Andrea Kordopati«, in: Books abroad, Frühjahr 1973, S. 403f. 16 Die bekanntesten Beispiele für diese Strategie sind vermutlich Defoes Roman Robinson Crusoe, »Written by Himself«, in dessen Vorbemerkung der Autor/Herausgeber versichert: »The Editor believes the thing to be a just History of Fact; neither is there any Appearance of Fiction in it« (Daniel Defoe: Robinson Crusoe, Oxford 1983, S. 1) und Richardsons Briefroman Pamela, von dem sein Verfasser behauptet, die darin geschilderten Begebenheiten seien ihm von einem »Gentleman« zugetragen worden und beruhten vollständig auf Tatsachen: »With no tradition on which to depend, Richardson undoubtedly felt that if he was to secure the credulity of his readers, he must depend on a true story for his narrative. [He] did not appear on the title page as the author of Pamela but only as the editor of her letters and journal.« (William M. Sale Jr.: »Introduction«, in: Samuel Richardson: Pamela, New York, London 1993, S. V-XIV, hier S. VIIf.) 17 Andere Interviews, die Valtinos zum Thema gegeben hat, finden sich u.a. in: Diavazo, 22, Juli 1979, S. 67-70; Diavazo, 116, April 1985, S. 66-72; Anti, 294, Juli 1985, S. 36-40.
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ner Augen die Überfahrt untersagen. Und endlich in Amerika angekommen, verdingt er sich im Bergbau und als Arbeiter für diverse Eisenbahngesellschaften. Bemerkenswert daran ist, dass jene bakteriell verursachte Augenkrankheit unter den Einwanderern aus Europa überaus verbreitet und geradezu »typisch« war. Und wer als Grieche in die USA emigrierte, arbeitete beinahe ausnahmslos in den Minen und an den Bahnstrecken des amerikanischen Westens. Was uns Valtinos also als die Wechselfälle eines Einzelschicksals erzählt – dafür häufen sich im Verlauf der Novelle die Indizien – scheint weniger den persönlichen Erfahrungen eines bestimmten Menschen zu entspringen, sondern ist der Leidensweg des griechischen Auswanderers schlechthin. Hierdurch beginnt Kordopatis neuerlich seine Individualität einzubüßen, diesmal nicht durch Züge des Fiktiven, sondern dürch Züge des Kollektiven, die sich in ihm manifestieren; er ist das singuläre und persönliche Ereignis, in dem zugleich Weltgeschichte zur Artikulation drängt.18 In diesem Sinne erscheint auch der Titel des Buches in neuem Licht: »Synaxari« meint »Heiligenlegende, Kurzvita« und macht den Rekurs auf das Genre »Hagiographie« programmatisch. In der Hagiographie aber ist weniger das Individuell-Biographische als vielmehr das Exemplarische von Belang. Sie fungiert als ein Lebens-Beispiel, in dem die bloßen Tatsachen stets hinter dem Überzeitlichen und Allgemeingültigen zurückstehen. Kordopatis ist mithin mehr als ein Leben, er ist – wie der Heilige, von dessen Dasein berichtet wird, um ihn zum (Leit-)Bild des Menschlichen in Gott zu erheben – ein Prinzip. Er ist die Sehnsucht aller Migranten nach der Ferne, er ist deren unbedingter Wille und schließliche Unterwerfung; seine Relevanz besteht nicht in seinen Lebensdaten, sondern in seiner Statthalterschaft, die ihn zur synekdochischen Figur der Auswanderung schlechthin macht. So wie das Buch zu Beginn vorgibt, eine Strategie des Dokumentarischen zu verfolgen, und sich auf die Echtheit der Ereignisse beruft, so offenbart auch Elia Kazans Film America, America gleich zu Beginn ein ähnliches Bemühen um Authentizität. Auch ihm ist daran gelegen, seine Geschichte als wahr darzustellen, und er unterlegt daher die ersten Bilder mit der extradiegetischen Off-Stimme des Regisseurs, die zwischen dem Faktualen und Fiktionalen vermittelt: Mein Name ist Elia Kazan. Ich bin Grieche durch mein Blut, Türke von Geburt und Amerikaner, weil mein Onkel eine Reise machte. Diese Geschichte haben mir die Alten in meiner Familie über die Jahre erzählt. Sie erinnern sich noch an Anatolien, das große Zentralplateau der asiatischen Türkei. Und sie erinnern sich an den Berg Erciyas, der die Ebene überragt. 18 Vgl. D. Daskalopoulos: Thanasis Valtinos, S. 301.
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Wiederum also scheint es um die orale Überlieferung zu gehen, die durch das Kunstwerk in eine Form gefasst ist. Wieder haben wir es angeblich mit der Geschichte einer bestimmten Person zu tun, deren Lebensweg geschildert wird, und bei der es sich – wie man etwa aus Kazans autobiographschen Aufzeichnungen erfährt – um Avraam Elia Kazanjioglou handelt, bekannt als A. E. (»Joe«) Kazan, dessen real fassbare Existenz ebenso durch die Photographie sich bestätigt finden darf.19
Darüber hinaus deutet der zu Beginn der 60er Jahre sicherlich nicht mehr technisch notwendige und daher offenbar inszenatorisch bewusste Einsatz des Schwarzweiß-Films auf eine ähnliche Absicht. Der Verzicht auf Farbmaterial als eine ästhetische Entscheidung Kazans unterstützt nicht nur die Expressivität der Bilder, die durch die reine Schattierung eine Welt der (politischen und moralischen) Kontraste entwerfen, er unterstreicht auch ihren Wahrheitsanspruch, indem sie den Belegcharakter einer auf das Dokumetarische reduzierten Abbildtradition aufrufen. Das Schwarzweiß erscheint hier als eine formale Wirklichkeitsgeste – zugleich historisierend und anachronistisch –, die wie auf alten Photographien auf das Vergangene der Vergangenheit hinweist und zugleich auf eine Annäherung an die geschichtlichen Umstände. 1896 – das Jahr, in dem die Geschehnisse des Films ihren Lauf nehmen – ist nicht nur
19 Bildquelle: Elia Kazan: A Life, London 1988, S. 318.
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das Jahr des türkischen Pogroms gegen die Armenier; es ist ebenfalls das Jahr der Erfindung des Kinematographen, so dass die Geschichtlichkeit des Medialen in den schwarzweißen Bildern genauso seinen Platz findet wie die Geschichtlichkeit schlechthin. Aber wie im Roman von Valtinos leistet dieser »Paratext« neben der vermeintlichen Verankerung der Erzählung im Persönlichen, Authentischen und Historischen zugleich etwas anderes: Der einführende Monolog ist mehr als Darlegung der Fakten; er ist eine Beschwörung und auch in beschwörend-sonorem Ton vorgetragen, markiert den Anfang nicht einer kontingenten Geschichte, sondern eines Mythos’, der auch die ersten Einstellungen motiviert. Was wir hören, ist in doppeltem Sinne die Stimme des Schöpfers, ort- und zeitlos, die über den menschenleeren Ebenen zu vernehmen ist. Und bevor noch irgendeine menschliche Gestalt oder gar ein Akteur auftaucht, sind von Wolkenfetzen verhangene Berggipfel zu sehen, eine Reihe felsiger Massive, knorrige Baumstämme und dann erst eine karge Ebene, in der gerade eine primitive Form landwirtschaftlicher Bebauung begonnen zu haben scheint. So vermittelt der Anfang des Films ein Bild des unwandelbaren, weiten Landes, eine Ursprungslandschaft, die die Überzeitlichkeit des Geschehens konnotiert:20
20 Quelle für alle in diesen Beitrag aufgenommenen Bildzitate aus dem behandelten Film ist: America, America (E. Kazan), DVD, Kyriakatiki-Eleftherotypia-Edition, Tegopoulos, Athen, o.J.
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Auf diese Weise sind Bild und Ton wiederum an der Errichtung einer allgültigen Fiktion beteiligt und übersteigen die bloße Biographie. Sie suggerieren, dass es bei den Begebenheiten, die der Film schildert, um eine ewige Geschichte geht, die – losgelöst von allem Individuellen – von der Heimatlosigkeit, der Wanderschaft und der Sehnsucht berichtet. So wird auch Stavros Topouzoglou, der Protagonist des Films, zu einem Exempel. Er ist zugleich Träger einer Familiengeschichte und Verkörperung des Schicksals einer ganzen ethnischen Minderheit, vielleicht sogar Beispiel für die allgemeine Dynamik der Auswanderung, die die Menschen allenthalben vor dieselben bedingungslosen Entscheidungen stellt. Zwar handelt er extrem, darin aber stets stellvertretend für alle, die dem gleichen Zwang unterliegen und den gleichen Passionsweg abschreiten. Kazan blättert keine Fall-Akte auf, er berichtet vom Drama eines ganzen Volkes. In jenem Anliegen, die persönliche Erfahrung ins Überpersönliche zu wenden, das Singuläre ins Exemplarische, mag sich nun eine Dominante der Migrationskunst erweisen. Wie die (Auto-)Biographie zielt sie immer wieder auf die diskursive Erweiterung ihres Sinns, um auch dort Bedeutung zu gewinnen, wo kein Interesse am Individuum besteht. Das Verfahren aber, das sie hierfür wählt, ist ein um das andere Mal der Gestus des Authentischen, der sich im Verlauf der Diegese nur mehr als Anlass einer »großen Erzählung« zu erkennen gibt. Diese Erzählung beginnt eigentlich erst in dem Augenblick, in dem der Protagonist aufbricht. Erst die Reise macht ihn zum Kristallisationskorn einer weit ausgreifenden historischen und gesellschaftlichen Bewegung. Und sowohl an der Legende des Andreas Kordopatis als auch an America, America lässt sich ablesen, wie der Held besonders dadurch exemplarische Gültigkeit erlangt, dass er diese Bewegung zutiefst verinnerlicht. Sie ist kein Attribut, das ihm zukommt, sondern ergreift ihn voll und ganz – in solch einem Maße, dass er selbst gleichsam zu reiner Kinetik wird. Mithin steht er nicht mehr für die Auswanderung, er ist die Auswanderung geworden, indem sie sich in jeder Faser seines Körpers und in jedem seiner Ortswechsel wesenhaft ausdrückt. Andreas Kordopatis will nach Amerika. Und von nun an übersetzt er seinen Willen in reine Bewegungsenergie. Unaufhörlich reiht sich in der Erzählung ein Versuch an den nächsten, Griechenland zu verlassen. Er macht sich auf den Weg, wird zurückgeworfen und ist im nächsten Moment bereits wieder aufgebrochen. Alles unterwirft er seinem frenetischen »Vorwärts«: Er geht zu Fuß, er bedient sich unterschiedlicher Transportmittel, bis er selbst zu einer Art Triebwerk zu werden scheint. Mehrmals legt er die Strecke von seinem Dorf bis zur Hafenstadt Patras zurück, mehrmals ist er kurz
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davor, an Bord des Schiffes zu gehen, mehrmals wird er wegen seiner Augenerkrankung abgewiesen. Und wenn es ihm zu langsam geht, hilft er zuweilen sogar einer Lokomotive auf die Sprünge: Der Zug aus Anapli kam, und wir trennten uns. Ich stieg ein und in Mili wieder aus. Dort nahm ich den nächsten Zug nach Tripolis. Der fuhr langsam, Kohle war nämlich knapp geworden, und er hatte Mühe, mit Holz zu fahren. [...]. Bei der Steigung von Andritsa fing es an zu nieseln, und die Lok begann den Geist aufzugeben. Sie hatte nicht genügend Dampf, um vorwärts zu kommen, blieb stehen und rutschte zurück. Wir Fahrgäste sprangen ab und warfen Schotter auf die Schienen, damit es weiterging. Bis es wieder flach wurde, kamen wir ganz schön ins Schwitzen. Am Abend kamen wir in Tripolis an, die Lichter brannten schon. Ich übernachtete wieder bei dem aus Dara, und morgens machte ich mich auf den Weg. Ich kürzte wieder über die Ebene von Mili ab, kam an der Herberge von Turnikiotis vorbei und bei weiteren, die noch höher lagen.21
Und als Kordopatis 1907, nach dem unaufhörlichen Abbrechen und neuerlichen Einsetzen seiner Bewegung in Schleifen und Kreisen, endlich die Überfahrt in Richtung New Orleans antritt, verbindet der Autor dieses Ereignis mit einem Bild, das an einen anderen prototypischen Reisenden gemahnt: Das Schiff passiert Gibraltar – und »dann stachen wir in den großen Ozean«.22 Dieser lapidare Satz liest sich wie eine mehr oder minder verhohlene Reminiszenz an die letzte Reise des Odysseus, von der Dante in seiner Divina Commedia berichtet. Dort macht sich der Seefahrer, von der Leidenschaft der Erkenntnis und der Neugierde entflammt, von Ithaka aus ein zweites Mal auf und wird dabei zur Figur der Transgression, wenn er die Grenzen der damaligen Welt – die Säulen des Herkules – hinter sich zu lassen wagt: »ma misi me per l΄alto mare aperto« (Inferno, XXVI, 100). Kordopatis steht im Zeichen dieses Odysseus, wenn auch seine Fahrt mittlerweile keine die Götter herausfordernde Grenzüberschreitung mehr darstellt, sondern im Zuge der großen Auswanderungswellen der Moderne und ihrer geradezu industriellen Massenmigration zur Erfahrung Tausender geworden ist. Er durchquert das Tor zum Atlantik und begibt sich gen Westen aufs offene Weltmeer hinaus, aber dieser Schritt führt über keinerlei Demarkationslinie mehr, die der Bewegung Einhalt geböte. Kordopatis’ Welt steht in allen Richtungen dem mobilen Protagonisten offen – so sehr, dass jene grenzenlose Offenheit ihn (als ein dynamisches Prinzip) nicht mehr zum Stillstand kommen lassen wird. So ist denn auch die kurzfristige »Entschleunigung« der Novelle, wenn sie sich der Überfahrt widmet, kein Zeichen nachlassender Bewegungsener21 T. Valtinos: Legende, S. 19f. 22 Ebd., S. 35.
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gie, sondern vor allem Reflex des quälend langsamen Fortkommens auf dem Ozean. Valtinos’ sorgfältiger Einsatz der Tempi nimmt dieses Stocken zum Anlass, nur ein einziges Mal die Erzählzeit zu dehnen und in einiger Ausführlichkeit zu schildern, wie das Schiff Schlagseite hat und unterzugehen droht, wie die Passagiere von Läusen geplagt werden und beinahe verdursten, wie sie die Küste erblicken und der Dampfer endlich die Mündung des Mississippi erreicht. Kordopatis aber – von der Komission amerikanischer Mediziner, die ihn hier untersuchen, erneut für untauglich erklärt – kommt immer noch nicht an; man verbietet ihm, das Festland zu betreten. In diesem Augenblick allerdings bricht seine innere Geschwindigkeit, die während der Passage im engen Kabinenraum des langsamen Schiffes in ihm aufgespeichert war, gleichsam hervor – das vermeintliche Ziel vor Augen, entschließt er sich, illegal an Land zu gehen. Und was die Erzählung darauf folgen lässt, ist die nunmehr ungebremste Bewegung der Maschine Kordopatis. Jetzt ist er auf der Flucht vor den Behörden, reist von Saint Louis nach Kansas City, von Pocatello in Idaho nach Salt Lake City und Montana. Wie das Eisenbahnnetz, an dem er unter falschem Namen arbeitet, führt ihn sein Weg in alle Richtungen. Jeder Raum, den er durchquert, öffnet sich in einen nächsten, so dass ihre trennenden Begrenzungen und Markierungen an Bedeutung verlieren und eine beliebige Fläche entsteht, so groß wie der gesamte nördliche Teil des Kontinents. Wo ein Moment der Stasis eintreten will, wo eine Station erreicht scheint, ist im gleichen Moment der Ausgangspunkt einer neuen Bewegung erreicht. Sie erscheint als etwas Unbeendbares und reißt den Raum gleichsam mit sich fort. So arbeitet die Erzählung an der Verwandlung der Geographie in einen absolut ebenen und wuchernden Raum und zugleich an der Verräumlichung aller zeitlichen Erfahrung. Unterstützt wird dies durch die konsequent parataktische Form des Textes, der makrostrukturell Ereignis an Ereignis reiht, mikrostrukturell die Satzteile und -perioden aneinander schließt, so dass der Erzählfluss (ohne ein Element dem anderen unterzuordnen) das Geschehen in eine atemlose Abfolge von flüchtigen Erfahrungen und knappen Spracheinheiten transformiert, die zur Endlosbewegung geraten. Denn Parataxis – jene rhetorische Strategie, die der hierarchischen Logik der Syntax ausweicht – meint, mit Adorno, immer einen »Ausbruch in die Freiheit«; sie ist die »Auflehnung gegen die Synthese«.23 All die lakonisch notierten und wie gegeneinander abgedichteten Sätze, aus denen die Erzählung konstruiert ist und die kein Innehalten und keine Refle23 Theodor Adorno: »Parataxis: Zur späten Lyrik Hölderlins«, in: ders.: Noten zur Literatur, Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt/ Main 1974, Bd. 11, S. 447-491, hier S. 477.
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xion des Beschriebenen erlauben, entsprechen mithin nicht nur einer in ihnen wiedergegebenen Bewegung, sie sind Bewegung (in ähnlichem Sinne, wie Andreas Kordopatis die Migration ist). Und der so beschleunigte Erzählfluss spiegelt wiederum die Geschwindigkeit des Protagonisten.24 Ebenso aber erleben wir Stavros in America, America als eine kinetische Maschine. Wie Kordopatis ist er keine Person, sondern der Inbegriff eines (pathologischen) Begehrens. Er ist ein Motor, der von nur einem Gedanken angetrieben wird: Anatolien zu entkommen und Amerika zu erreichen. Nach dem zu Beginn von Kazan in Szene gesetzten Massaker der Türken an der armenischen Minderheit, nach dem Tod seines Freundes und nachdem sich sein Bewegungsdrang geradezu ins Unerträgliche gesteigert hat – immerzu rennt und stolpert er durch die Straßen seines Dorfs, immerzu greift sein Körper unbeherrscht in alle Richtungen aus –, schickt ihn sein Vater nach Konstantinopel. Stavros macht sich auf den Weg, gelenkt von dem festen Willen, nicht dort, sondern erst in Amerika wieder zur Ruhe zu kommen. Auch er bedient sich dabei der verschiedensten Fortbewegungsmittel, er überquert einen See mit Hilfe eines Floßes, er reitet auf einem Esel, nimmt den Zug und geht zu Fuß. Und eins folgt auf das andere: Man raubt ihn aus, entehrt ihn, macht ihn zum Mörder, doch nichts davon verringert sein inneres Tempo. Daher nimmt es nicht Wunder, dass Gilles Deleuze hierin ein hysterisches Verhalten, eine Neurose erkennt: »Der Protagonist«, so schreibt er, »kommt nicht zur Ruhe. […] Wenn er nicht explodiert, lädt er sich auf, nie hält er still.«25 Die unaufhaltsame Bewegung von Stavros mag zuweilen scheinbar zum Erliegen kommen, aber in solchen Augenblicken verlagert sich diese Bewegung (wie bereits während Kordopatis’ Schiffspassage) lediglich in sein Inneres, um im nächsten Augenblick freigesetzt zu werden. Dabei setzt sie sich über alle menschlichen Maßstäbe und moralischen Kategorien hinweg, sie übergeht die Grenzen und Ansprüche der Unschuld und Schuldhaftigkeit, der Schande und Ehre. In Istanbul angelangt, scheint es zwar, als würde er den Entschleunigungen und Ruhestellungen eines bürgerlichen Daseins anheimfallen. Er verlobt sich. Die Braut stammt aus einer wohlhabenden Familie, und ihr Vater entwirft nach dem Mittagsmahl im reich ausgestatteten Salon ein Zukunftsbild für den Helden – das 24 Freilich bleibt in diesem Zusammenhang anzumerken, dass sich die Verwendung der Parataxis im Text auch aus der mündlichen Form und dem deshalb vergleichsweise einfachen Erzählstil seiner (angeblichen) Vorlage ergibt. Durch den weitgehenden Verzicht auf hypotaktische Strukturierung scheint Valtinos den oralen Charakter des Berichts herausstellen zu wollen. Derweil vermutet der Filmkritiker Vasilis Raphailidis, der parataktische Stil des Autors sei auf dessen Erfahrungen als Verfasser von Drehbüchern zurückzuführen. Vgl. D. Daskalopoulos: Thanasis Valtinos, S. 305. 25 Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild, Kino 1, Frankfurt/Main, S. 212.
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langsame Wohlleben, das gute Essen, das zufriedene Glück der Nachkommenschaft und einen ruhigen Tod im Kreise der Familie. Doch angesichts dieser (verführerischen) Bewegungslosigkeit arbeitet es in Stavros. Er sitzt da, gleichsam mit entkuppeltem Getriebe. Die Bewegung hat er nur ausgesetzt und unterdrückt, seine Braut soll ihm lediglich das Geld für die Überfahrt verschaffen, er hat sie bereits vor der Hochzeit in Gedanken verlassen. Hier zeigt sich – im Sinne Bergsons – der »vegetalische« Pol seines Wesens, während sich dessen »animalischer« Pol in all den Momenten hysterischer Geschwindigkeit manifestiert. Denn »das vegetalische Leben hat sich zur Aufgabe gemacht, das Explosive an Ort und Stelle aufzuspeichern, während es dem Tier zukommt, es in heftigen Bewegungen explodieren zu lassen«.26 Äußerlich ein Bürger, im Innern eine Maschine ...
So stellen der Bürgerstand und dessen Verlockungen keine Gefahr für Stavros dar, der sich längst entschlossen hat, allen Status und alle Stasis hinter sich zu lassen, der sie immer schon hinter sich gelassen hat und dem auch der Betrug ein rechtes Mittel ist, sein Ziel zu erreichen. (Insofern geht es in America, America nicht um eine Geschichte moralischen Verfalls, um die Umstände und das Milieu, die den Protagonisten schließlich zum Verbrecher werden lassen. Vielmehr geht es um die Unvereinbarkeit des schnellen Begehrens und des langsamen Gesetzes und um die himmelweite Di26 Henri Bergson, zitiert nach G. Deleuze: Bewegungs-Bild, S. 213.
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stanz zwischen intensiver Geschwindigkeit und gesellschaftlichem Reglement.) Die Liebe seiner Verlobten, das Pflichtbewusstsein und die Wärme ihrer Familie sind nur dazu da, um Stavros zum Opfer zu fallen; sie sind lediglich das vorbeiziehende Panorama, der verschwimmende Hintergrund für die rasende Monstrosität und Mobilität des Helden. Und neuerlich erwächst die Geschwindigkeit des Filmes auch aus seiner parataktischen Erzählweise. Jedes Bild zeugt ein neues, daran angeschlossenes Bild, jede Wahrnehmung mündet in eine Aktion; alles gehorcht dem Gesetz der Reihe und strebt mit geradezu linearer Unausweichlichkeit dem Telos der Geschichte zu. »In Amerika, Amerika hat jede Sequenz ihre eigene Geographie, ihre Soziologie, ihre Psychologie, ihre Klangfarbe, eine eigene Situation, die von der vorausgegangenen Handlung abhängig ist und die eine neue Handlung hervorrufen wird, die ihrerseits den Helden in die nächstfolgende Situation versetzt, jedesmal durch Aufladung und Explosion«.27 Derart bildet der Film unaufhörlich sensomotorische Verkettungen aus, die mehr sind als reine (aristotelische) Einheit und Chronologie. Denn die Elemente sind nicht nur logisch miteinander verknüpft, sondern gleichsam mechanisch, so dass ein Handlungsteil den vorangehenden abschließt und zugleich den Keim des darauf folgenden ausbildet. Indem ein Teil in den anderen greift, entsteht eine Art Maschine aus beweglichen Segmenten, die voll und ganz dem maschinellen Charakter des Protagonisten entspricht. Die differenten Pole der Erzählung, deren Spannungsfeld die Bewegung generiert – die Geschwindigkeit und die Stasis, das Hier und Dort – finden sich sogar in jedem einzelnen Bild wieder. Dadurch etwa gibt sich das Schwarzweiß als mehr zu erkennen denn als bloße historische Referenz. Das harte Schwarz und das grelle Weiß bilden einen expressiven Kontrast; nirgendwo begegnet man dem Grau in der Mitte oder einer nur schwach konturierten, dunstigen Bildlandschaft. Stets prallen die dunklen und hellen Flächen im Kader frontal aufeinander. Sie stoßen sich ab, so dass zwischen ihnen ein Feld von Kräften entsteht, welches wiederum seine eigene Kinetik besitzt und hervorruft. So zerschneidet die Grenze zwischen Schwarz und Weiß ein um das andere Mal den Helden Stavros. Sie teilt – einmal vertikal und ein andermal horizontal – seinen Körper und sein Gesicht in zwei Zonen:
27 G. Deleuze: Bewegungs-Bild, S. 214.
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Sicherlich ist dies zum einen ein moralischer Expressionismus: Das Licht muss sich unaufhörlich der Dunkelheit erwehren; es kämpft sich frei aus dem beherrschenden Schwarz einer Verschuldung gegen das ethische Gesetz. Aber neben dieser – noch recht oberflächlichen – moralischen Attitüde des Bildes verfügt der Kontrast vor allem über eine innere Geschwindigkeit. Schwarz stellt sich gegen Weiß, wenn Stavros Entscheidungen fällt, wenn er beschleunigt und »in Fahrt kommt«. Und als er seiner Verlobten sein Innerstes offenbart und sie endgültig in ihrer weichen und verständnisvollen Resignation hinter sich lässt, ist es nicht das Schwarz einer Schuld, das ihn umgibt. Im Gegenteil beginnt er zu leuchten. Er wird zum Himmelskörper, der in einem Moment all seine aufgespeicherte Energie im Blitz einer Explosion verströmt und vor dessen Licht man sich schützen muss, indem man blinzelnd die Hand vor die Augen hebt. In vielerlei Hinsicht lassen sich so der Prolog, die nur mehr vorgeschützte Authentizität, die parataktische Reihung, die genau das praktiziert, was sie thematisiert, und die Geschwindigkeit der Protagonisten in Roman und Film in eins setzen. Allerdings zeigt sich im Vergleich auch die Differenz zwischen dem Werk des Griechen Valtinos, der den Blick auf die Vergangenheit seines Herkunftslands richtet, und des Amerikaners griechischer Abstammung, Kazan, dem sein Herkunftsland Vergangenheit ist. Denn das Buch berichtet vom Scheitern der Migration, während am Ende des Films die Auswanderung glückt: Andreas Kordopatis verkörpert das Paradoxon eines Mannes, der in Amerika ist, aber zuletzt niemals nach Amerika gelangen kann. Seine Wanderschaft nimmt dort kein Ende, vielmehr sieht er sich auf der Flucht zu immer größerer Beschleunigung gezwungen. Die Konfrontation mit dem Fremden ähnelt daher eher einem Abgleiten, einer konstanten inneren und äußeren Haltlosigkeit, die sich bis in seine Sprache fortsetzt. Die entwindet sich ihm, was ihm wiederholt seinen Ausschluss aus der Sprache des fremden Landes und zugleich sein Eingeschlossensein im Eigenen
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vor Augen führt: »Mir standen die Tränen in den Augen. Wir konnten uns nicht verständigen«.28 Und als er einige Zeit in einer Gefängniszelle zubringt, deren eiserne Türen den freien Zugang zum Gelobten Land versperren, verzweifelt er an dem Schloss, das – wie es dort heißt – »mit dem amerikanischen Alphabet geöffnet werden« muss.29 Wie Amerika für ihn ein Traum bleibt, so bleibt die Sprache Geheimnis und reiner Klang; einen Pfirsichkuchen macht man dort aus »pitsches«, das »Hamburger Steak« ist ihm »hemur steke«30. Und schließlich wird er von den amerikanischen Behörden aufgespürt und nach zweieinhalb Jahren des illegalen Aufenthalts in den USA auf einem Dampfschiff nach Griechenland zurückgeschickt (ein unfreiwilliger Nostos, der ihn wieder in eine negative Isotopie zu Odysseus setzt). Doch auch dort nimmt die Geschichte noch kein Ende, auch dort kommt er nicht wirklich an; vielmehr endet der Roman in einer ewigen Bewegung auf Amerika zu, das nur als Vorstellung Stabilität besitzt, sich als Land jedoch immer neu entzieht. So schließt das Buch folgerichtig mit einem neuen Aufbruch: Als wir am Sankt-Vassilis-Platz vorbeikommen, sage ich: Wart einen Moment. Ich sitze ab und gehe zur Agentur Maluchos. Dort war ein neuer Angestellter. Ich sage: Gib mir in sechs Monaten Bescheid, wann ein Schiff fährt. Und ich hinterließ Namen und Adresse.31
Im Gegensatz dazu scheinen sich in America, America Wunsch und Glaube zu erfüllen. Ist Stavros über Jahre hinweg ein Getriebener, so entlädt sich alles letzten Endes im »explosiven Schlußakt, der Umarmung des Kais von New York«. Stavros ist endlich angekommen, so dass Deleuze bemerkt, »wie sich bei Kazan der amerikanische Traum und das Aktionsbild gleichzeitig festigen«.32 Ist die Neue Welt also paradiesische Verheißung, so kommt die Geschichte mit ihrer Erfüllung zum Stillstand und Abschluss und erfährt der Sündenfall seine Umkehr. Zum einen erscheint Kazans Film deshalb tatsächlich als neutestamentarische Erlösungserzählung, als eine Passion (es ist etwa der Bettler Johannes, dem der Held zu Beginn des Films seine Schuhe schenkt und der ihn – als ein Bruder im Geiste – auf die Reise schickt; und von nun an gehorcht Stavros seinem bedeutungsvoll sprechenden Namen und trägt sein Kreuz bis zum Augenblick der Ankunft und »Verklärung«). Zum anderen 28 29 30 31 32
T. Valtinos: Legende, S. 45. Ebd., S. 94. Ebd., S. 94f. Ebd., S. 107. G. Deleuze: Bewegungs-Bild, S. 214.
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entwirft der Film in der Hoffnung des Migranten die Hoffnung auf ein Eden und rekurriert dabei auf den alttestamentarischen Gründungsmythos der Genesis. Die »Umarmung des Kais von New York«
Nichtsdestoweniger stellt sich die Frage, ob hier wirklich alles ein glückliches Ende nimmt. Stavros will nichts mehr, als Amerikaner sein und sein früheres Tun und Handeln hinter sich lassen. Aber vielleicht bleibt auch in der letzten so optimistischen Szene des Films – Stavros heißt mittlerweile Joe, arbeitet emsig in einem New Yorker Schuhputz-Salon und spart die verdienten Pennies, um die Familie nachkommen zu lassen – noch ein Rest jenes expressionistischen Schwarzweiß’ erhalten. Vielleicht haftet dem Protagonisten etwas an, das ungeachtet der wahr gewordenen Prophezeiungen des Beginns immer noch den Schatten der Erbsünde wirft.33 Denn zu den Erzählungen der Genesis zählt auch diejenige von Kain und Abel; auch in Elia Kazans Film befinden wir uns »in Kains Welt, und das Kainszeichen läßt keinen Frieden zu«.34
33 »He starts out as a very pure and father-morality-ridden boy, and gradually he gets clipped of all his sense of worth. So he’s left with his obsession, but without his character. In other words, the film is about what it costs to become an American.« Zitiert nach: »Elia Kazan. Interview with Stuart Byron and Martin L. Rubin, 1971«, in: William Baer (Hg.): Elia Kazan. Interviews, Oxford, Mississippi 2000, S. 124-157, hier S. 152. 34 G. Deleuze: Bewegungs-Bild, S. 214.
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Overstanding Robert Wises The Sound of Music. Überlegungen zu Österreichs berühmtesten Film-Exilanten HEINZ DRÜGH
Als Robert Wises Film The Sound of Music (Meine Lieder, meine Träume) 1965 in die Kinos kam, war die Reaktion der Kritiker niederschmetternd. Eine Greueltat (atrocity) überlebt zu haben, verkündet Stanley Kauffmann von der New York Times nach der Premiere. Wises Film sei so geflissentlich zuckersüß (studiously saccharine), dass der Zuschauer nachgerade glaube, in den Bauch eines Tankers mit karibischer Melasse gefallen zu sein.1 Und so freundlich das National Catholic Film Office in Person von John E. Fitzgerald die story, und damit ist gemeint: das Geschehen überhaupt, als »joyous and wholesome as anyone could want« begrüßt, so ablehnend äußert sich derselbe Kritiker in Bezug auf den plot, die konkrete Durchführung der Handlung. Diese sei nicht mehr als eine »Austrian torte« und zudem – so Fitzgeralds eifrig, wenn auch in einem brüchigen Bild dargebotenes Weltwissen über den Alpenraum – »as full of holes as a swiss cheese«.2 Dessen ungeachtet wurde The Sound of Music in den USA zu einem bis dahin unerreichten Schlager an den Kinokassen, beerbte in Sachen ökonomischer Ertrag die lang währende Nummer eins, Victor Flemings Gone with the Wind (Vom Winde verweht, 1939), und wurde von diesem Spitzenplatz erst wieder von einem Highlight wie Francis Ford Coppolas The Godfather (Der Pate, 1972) verdrängt. Nach wie vor gilt The Sound of Music mit geschätzten 1,2 Milliarden Zuschauern weltweit als der meistgesehene Film überhaupt. Bei den Academy Awards wurde er seinerzeit mit fünf Oscars in den Kategorien bester Film, Schnitt und Ton sowie beste Regie und Musik dekoriert. Julie Andrews’ Darstellung der Maria war immerhin einen 1 2
S. Kauffmann, zitiert nach: Paul Monaco: The Sixties. 1960-1969 (History of the American Cinema), Berkeley 2003, S. 163. J.E. Fitzgerald, zitiert nach: ebd.
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Heinz Drügh Golden Globe wert. Sogar die doppelte Ausbeute, ebenfalls inklusive Oscar für besten Film und beste Regie, hatte Wise schon für die 4 Jahre zuvor aufgeführte West Side Story abgeräumt, so dass er, dessen Karriere in den vierziger Jahren als Schnittmeister für Orson Welles’ Citizen Kane begann und der in den fünfziger Jahren vorwiegend sogenannte B-Pictures in den unterschiedlichsten Genres gedreht hatte, mit Fug und Recht als der erfolgreichste Filmemacher der 60er Jahre bezeichnet werden kann. Eine ganz andere Geschichte schrieb The Sound of Music im deutschsprachigen Raum. Dort war er ein regelrechter Flop, der sich nur verschwindend kurz in den Kinos hielt und bis heute im Fernsehen eher selten gezeigt wird. Es gibt also kaum einen Film, bei dem sich amerikanische und europäische, insonderheit deutschsprachige Rezeption derart eklatant unterscheiden: in den USA ein Film, den wirklich jeder kennt, ist The Sound of Music in Europa sicher einer der unbekanntesten Kino-Welterfolge aller Zeiten. Ein wenig anders pointiert, ist The Sound of Music, mit dem französischen Filmwissenschaftler Michel Chion gesagt, »un des films les plus populaires« und gleichzeitig »[un] des moins ›cotés‹ cinéphiliquement«3 – unter Cinéasten kaum der ernsthaften Diskussion für würdig erachtetet. Vielleicht ist es nicht ganz falsch, dass man als Zuschauer mit The Sound of Music dann am glücklichsten wird, wenn man ihn wie eine Nummernrevue ansieht und die zum Teil großartigen Songs von Richard Rodgers und Oscar Hammersteins 1959 am Broadway uraufgeführtem Musical genießt, ohne sich weiter um das Filmganze zu scheren. (Es ist nicht von ungefähr, dass sich mit John Coltrane der vielleicht bedeutendste Musiker des Modern Jazz schon 1960 des Songs My favorite things annimmt, den er in unterschiedlichsten Versionen einspielt und ihn so gleich einem Klassiker der populären Musik auf eine Stufe mit Melodien Cole Porters oder Irving Berlins hebt). Man könnte aber auch argumentieren, dass gerade ein so immens erfolgreicher Film wie The Sound of Music einen etwas genaueren Blick auf seine Faktur erfordert, und zwar insofern, als sich auf diese Weise ein wenig mehr über ein populärkulturelles Produkt in Erfahrung bringen lässt, das immerhin von knapp einem Viertel der Erdbevölkerung konsumiert worden ist. Es lässt sich freilich nur spekulieren, worin der riesige Erfolg von The Sound of Music begründet liegt. Wahrscheinlich ist dabei die Feier konservativer und weltweit verständlicher Werte wie Familie oder insbesondere Mütterlichkeit nicht unbeteiligt. Ein bisschen Pfeffer bekommt die Angelegenheit, wenn man so will, durch das in
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Michel Chion: La comédie musicale, Paris 2002. S. 2.
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Overstanding The Sound of Music der Populärkultur stets aufs Neue beliebte Thema der gefallenen, bzw. ihre Unschuld verlierenden Nonne (man denke in diesem Zusammenhang an Marias rote Bäckchen, als sie erstmals mit dem Baron einen Ländler tanzt, oder an das kaum verhohlen sexuelle Locklied »The lonely goatherd« mit jener, fast möchte man sagen, silikonverdächtigen Dirndlmaid). Und insgesamt scheint der in den Vereinigten Staaten ohnehin positiv konnotierte Alpenraum mit seiner Vegetation und Kultur für amerikanische Augen zum einen hinreichend vertraut, dass das Geschehen nachvollziehbar bleibt, zum anderen aber auch fremd genug für die Generierung eines gewissen Exotismus. Im Folgenden werde ich ein wenig genauer darüber nachdenken, wie sich dieser Exotimus in den Bildern des Films dokumentiert und dabei zunächst – a very good place to start – die Anfangsszene in den Blick nehmen. In einer ebenso stillen wie abstrakt-areferentiellen Szenerie, dort also, wo nichts zu hören und nichts Konkretes zu erblicken ist, bilden sich Schemen heraus, die sich im weiteren als Bergspitzen erweisen.4
Wie natürliche Barrieren oder Grenzen werden alpine Massive oder Hügel wiederholte Male von der Kamera überwunden oder umflogen, wenn sie sich dem Schauplatz des Geschehens im Gleitflug 4
Quelle für die in diesen Beitrag aufgenommenen Bildzitate ist: The Sound of Music (R. Wise), DVD, Twentieth Century Fox Home Entertainment/Argyle Enterprises, 2005.
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Heinz Drügh nähert. Die Atmo klingt dabei wie das Stimmen der Instrumente in einem Orchester, wirkt also wie ein Herantasten an das eigentliche Musikstück. Eine vergleichbare Form der Exposition hatte Wise im übrigen schon für die West Side Story (1961) gewählt, wo zu Beginn des Films auf einen Blackscreen, knallfarbige Hintergründe folgen, von denen sich in schwarzer Strichelei zunächst eine ungegenständlich wirkende, dann als Großstadtsilhouette identifizierbare Formation abhebt, die im Weiteren mit dem Filmtitel ›beschriftet‹ und dann in die reale Luftansicht von New York überblendet wird. Aus der Vogelschau landet die Kamera dann von der Totalen über die Halbtotale schließlich bei den establishing shots für die erste Szene, der jugendlichen, cool mit den Fingern schnippenden Straßengang. Die Exposition von R. Wises West Side Story5
Wenn die Kamera in der Anfangssequenz von The Sound of Music schließlich begierig auf das fast schon schmerzliche Grün jener 5
Bildquelle: West Side Story (R. Wise), DVD, MGM Entertainment, 2000.
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Overstanding The Sound of Music Wiese zufliegt, auf der sich, zunächst verschwindend klein, Julie Andrews, die Darstellerin der Maria, befindet, und wenn diese sich, angetrieben von einem musikalischen Crescendo, ihrerseits auf die Kamera zubewegt, dann bewirkt dies nicht nur eine gewisse Dramatik der Anfangssequenz, sondern lässt auch auf einen enormen inszenatorischen Aufwand aufmerksam werden.
Fast im Stil einer Schöpfungsgeschichte des Filmbilds wird hier vorgeführt, dass Bilder semiotisch aus einem Chaos stammen, in dem nichts unterschieden ist. Bei der Konstitution des Bilds entstehen dann Formen, die mit kräftigen Farben ausgemalt und bei Bedarf mit einer affektsteigernden Tonspur versehen sein können, wodurch ein Realitätseffekt generiert wird. Die emphatische Vorführung der Faktur, der semiotischen Genesis des filmischen Bildes, ist aber immer auch eine Betonung des Films als Medium, als zeichenhafte Vermittlung, also ein selbstreferentielles Signal. Das vermeintliche Naturkind Maria, das jauchzend und singend über die Wiesen tollt, ist – so sagt es die Form der Anfangssequenz – nichts anderes als ein Kunstgeschöpf, eine Konstruktion, und diese Lesart wird dadurch gestützt, dass zu ihrem Gesang ein unsichtbares Orchester aufspielt und ihre Bewegungen im Birkenwäldchen eher an einen Revueauftritt als an einen unbeobachteten Spaziergang in der Natur erinnern. Ein solcher Konstruktivismus berührt sich mit dem Verfahren des Exotismus, werden doch auch dabei vorwiegend eigene Wünsche oder Ängste auf das vermeintlich Fremde projiziert. Das Fremde wird also imaginativ, im eigenen Blickwinkel überhaupt erst hergestellt. In The Sound of Music ist diesem Fremden aber die Grenzüberschreitung, die Immigration, bereits eingeschrieben, denn die
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Heinz Drügh Trapps sind als sangesfreudige Einwanderer in die USA längst vor Wises Film ein Begriff.6
Jener Heimatverlust, der ein geradezu emblematisches Bild in der mit Trachtenjankern bekleideten, zu Fuß einen Bergpass ins rettende Ausland überquerenden Trapp-Familie findet, bildet gleichsam die Spielvoraussetzung für The Sound of Music. Und so scheint es nur konsequent, dass ein äquivalentes Phänomen zum auslösenden Moment der Filmhandlung wird: Die Novizin Maria soll jenes Kloster verlassen, das sie mit großem Nachdruck als ihr »home« bezeichnet. Der Grund für diese Maßnahme ist Marias hybrides, nicht stillzustellendes und ihre Mitschwestern verstörendes Wesen.
Im Gegensatz zu den Nonnen, die in starren Kadern fast wie Photographien oder Gemälde in Szene gesetzt werden, ist Maria unstet und flüchtig: ungreifbar wie eine Wolke (how do you catch a cloud and pin it down), eine Welle (how do you keep a wave upon the sand) oder ein Strahl Mondlichts (how do you hold a moonbeam in your hand), so der Song Maria, sie ist also vergleichbaren Wesens 6
Bildquelle: William Anderson/David Wade: The World of the Trapp Family, Davison 1998. S. 62.
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Overstanding The Sound of Music mit dem Chaos des Filmanfangs. Auch wenn dies, ruft man sich die kreuzbiedere Julie Andrews vor sein inneres Auge, ein wenig überspannt klingen mag: Etwas von der impliziten Bedrohung, die von einem solchen Chaos ausgeht, bleibt im Weiteren an der Figur Maria haften. Scheint die histoire des Films zunächst nicht mehr als eine harmlose Cinderella-Geschichte, in der eine junge Frau trotz ihrer hässlichen Kleidung das Herz des stolzen Prinzen/Barons/Kapitäns von Trapp erobert und im Gegenzug dieses adelige Herz, das zu Stein geworden zu sein schien, wieder empfänglich macht für bürgerliche Werte wie Natürlichkeit und Liebe, so bleibt im discours des Films, seiner bildlichen Faktur, eine Verhandlung mit dem Fremden sichtbar. Bei aller harmlosen Buntheit des Oberflächenarrangements sind gewissermaßen in dessen Falten auch Pathologien und Ängste repräsentiert. Gemäß der Maxime, dass auf einer Bildfläche potentiell alles von Bedeutung ist, werde ich im Folgenden einer Marginalie in The Sound of Music nachgehen, einer vermeintlichen Abseitigkeit, die sich aber mit einer gewissen Insistenz oder Wiederholungsenergie durch den Film zieht und so zu einer Art Isotopie mausert. Die Rede ist von den merkwürdig oft ins Bild gerückten Ansichten von Pferden, die auf den ersten Blick kaum mehr zu sein scheinen als bloße Staffage. Ganz so scheint es zumindest in jener Szene, in der Marias Salzburg-Ausflug mit den Trapp-Kindern für eine ganze Reihe von touristischen Stadtansichten verantwortlich zeichnet (in der Tat besteht eine Spätwirkung von The Sound of Music bis heute darin, dass amerikanische Reisende geradezu magnetisch von Salzburg und seiner Umgebung angezogen werden). Die barocke Pferdeschwemme, der Maria und ihr Anhang einen Besuch abstatten, ist jedenfalls eine bekannte Salzburger Sehenswürdigkeit, und die in ihrem Hintergrund zu sehenden Pferdefresken sorgen für ein übriges, dass an diesem Ort nicht gerade Mangel am Schauobjekt Pferd herrscht.
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Heinz Drügh Dass Robert Wise nun aber auch noch eine Pferdekutsche durchs Bild fahren lässt, scheint des Guten fast ein bisschen zuviel zu tun, so dass man bei jedem weiteren Durchgang durch den Film merkwürdig sensibilisiert für die Anwesenheit von Pferden im Bild wird. Und man muss ein wenig genauer hinschauen, um auf dem Schreibtisch der Äbtissin die Figur eines sich aufbäumenden Pferdes wahrzunehmen.
Dieses ist indes in der Bildkomposition so haargenau zwischen die Rückansicht von Maria und die am Schreibtisch sitzende Nonne platziert, dass man kaum umhinkann, es als symbolischen Kommentar der Marke: ›Maria ist ein Wildfang wie ein Pferd, das der Zähmung bedarf‹ zu lesen. So weit, so schlicht, passiert Maria bei ihrem Auszug aus dem Kloster einen weiteren Brunnen mit einem wild die Mähne zurückwerfenden Pferd – auch hier ist die Kadrierung überaus kalkuliert gewählt, wenn der Raum zwischen Maria und dem Brunnenpferd von einer in Reih’ und Glied marschierenden Schulklasse sowie von einem trabenden Kutschpferd ausgefüllt wird:
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Overstanding The Sound of Music Letzteres nicht nur der Inbegriff einer auf unglückliche Weise gezähmten Natur,7 sondern eben auch das bekannteste Sujet von Eadweard Muybridges Chronophotographie und damit das medienarchäologische Emblem des bewegten Bildes.8
Wenn Maria, nachdem die Kutsche in ihrem Rücken vorbeigefahren ist, ihrerseits die Brunnenfigur mit Wasser bespritzt, dann vernäht dies die Szenerie mit einer weiteren Pferdeinszenierung: Im Rahmen ihrer als street dance inszenierten musikalischen Alphabetisierung tanzt Maria mit ihren Eleven um einen manieristisch als topshot photographierten Brunnen, in dessen Mitte sich ein auffällig auf der Wasseroberfläche gespiegeltes Pferd mit Flügeln, ein Pegasus, befindet.
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Vgl. Friedrich Schiller: »Kallias oder Über die Schönheit. Briefe an Gotfried Körner. Brief vom 23. Februar 1793«, in: Friedrich Schiller: Sämtliche Werke in 5 Bänden, Band V, hg. von Wolfgang Riedel, München 2004. S. 413. Eadweard Muybridge: Trotting; sulky; bay horse (1884), University of Pennsylvania series, plate 605. Bildquelle: Gordon Hendricks: Eadweard Muybridge. The Father of the Motion Picture, London 1975. S. 165.
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Heinz Drügh Diese mythische Figur fügt der Pferdeisotopie eine neuen Aspekt hinzu, nämlich das Chimärenhafte, das deutlich gendered ist. So akzentuieren Maria und die Kinder bei ihrem Tanz um den Brunnen mit der lautspielerischen Diakope »Do(e), a deer, a female deer« die Weiblichkeit des besungenen Lebewesens, entsprechend zu Marias irrlichterndem Naturell, das von den Mitschwestern im Kloster in letzter Instanz auf ihr Geschlecht zurückgeführt worden ist: »She’s a demon, [...] she’s an angel, she’s a girl«. Die Sache wird komplizierter, nimmt man den mythischen Pegasus noch ein wenig genauer in den Blick. Selbst ein Mischwesen und dem Rumpf der enthaupteten Medusa entsprungen, bedient sich der Held Bellerophon des geflügelten Pferdes bei seinem Kampf gegen Amazonen und Chimären. Im Pegasus-Motiv ist also eine gewisse Umkehrlogik angelegt und eine solche lässt sich auch in The Sound of Music finden. Reitet mit dem Pegasus ein Mischwesen gegen die Chimären, so ist auch Marias Gegenüber, der Baron von Trapp, der mit seinem Vornamen ›Georg‹ nach einem der berühmtesten Untier-Bekämpfer aus christlichem Kontext benannt ist, mit Affinitäten zur Pegasus-Figur versehen. Als von Trapp nämlich nach dem Kentern jenes Boots, in dem Maria mit den Kindern singend über den See gefahren ist, den Konflikt mit der durchnässten Gouvernante ausficht, da wird er in Halbnahaufnahme nicht nur neben einem der beiden geflügelten Pferde gezeigt, die das Ufer des Trappschen Grundstücks einrahmen, sondern seine Kopfhaltung wird präzise jener des Pferdes angeglichen.
Was ist daraus zu schließen? Nun, Maria wird, auch wenn man dies bei all ihrer Harmlosigkeit kaum glauben mag, mit durchaus bedrohlichen Zügen versehen; mit ihrem Gesang und Tanz stellt sie – wie es im Lied der Nonnen heißt – geradezu jeden Derwisch in den Schatten, und sie selbst bezeichnet es gegenüber der Äbtissin als
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Overstanding The Sound of Music »transgression«, dass sie es nicht lassen kann, jederzeit und überall Lieder anzustimmen. Es ist also mehr als ein bloß touristisches Bild, wenn Maria mit den Kindern um eine der Figuren im berühmten Salzburger Zwerglgarten herumtanzt.
Vielmehr kann es als Zeichen dafür gelesen werden, dass Maria infolge ihrer musikalischen Obsession selbst beinahe wie ein Freak erscheint. So geht der Film denn auch so weit, Maria als Gegenspielerin des Barons von Trapp mit gewissen Zügen der Medusa auszustatten. Ist die Medusa für ihr Schlangenhaar berühmt, so heißt es im Song der Nonnen über Maria: »Underneath her wimple she has curlers in her hair« – also: ›unter ihrer Nonnenhaube hat sie Lockenwickler im Haar‹. Nicht von ungefähr versteinert Baron von Trapp fast bei ihrem ersten Anblick, was durchaus damit zusammenhängen kann, dass ihre Kleider so furchteinflößend hässlich sind. Als dialektische Kehrseite der übersteigerten Rede vom Schrecken der Medusa ist dabei – wie schon in Ovids Metamorphosen nachzulesen – von Beginn an ein gutes Stück Faszination im Spiel; zumindest insofern, als Maria signalisiert, sich in ihrem Verhältnis zum Baron durchaus nicht vor einer Neuauflage des ewigen Geschlechterkampfs zu fürchten. Ebenso wie die mythische Medusa, ist sie eher lauten Wesens, während von Trapp sie schmallippig informiert, »I will not have anyone shouting in this house«. Ob man es also glaubt oder nicht, das sangesfreudige Bubiköpfchen Julie Andrews mit seinem wohlanständigen britischen Akzent und seinem nicht eben elaborierten Sex-Appeal wird von den Bildern des Films mit einer Mischung aus Faszination und Angst gezeigt. Gesang und Geschrei, führt uns der Film vor, sind Formen von Kommunikation, an denen Ordnungssysteme zuschanden gehen. Mag sich also – so eine sprechende Parallelaktion zum sich an-
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Heinz Drügh bahnenden Verhältnis zwischen Maria und von Trapp – der Postbotenjunge Rolf noch so sehr ins Zeug legen, das, wie es im Song heißt, leere Blatt seiner Angebeteten, der Trapp-Tochter Liesl, zu beschreiben, sie wie ein Zirkuspferdchen durch die Manege des Lebens zu führen, am Schluss dieser Szene steht dennoch der Lustschrei des jungen Mädchens, den Wise als Horrorbild inszeniert9 – The Sound of Music
The Haunting
und zwar mit all jener Erfahrung, die er sich als Regisseur des Gruselstreifens The Haunting (Bis das Blut gefriert, 1963) erworben hat, und die Horror-Ästhetik bleibt subkutan bis in die Bilder unmittelbar vor dem Song My favorite things wirksam. The Sound of Music
The Haunting
Ich möchte an dieser Stelle eine kleine methodische Zwischenüberlegung einschalten. Man könnte im Hinblick auf das Ausgeführte den Verdacht hegen, dass hier ein beflissener Philologe an einem im Grunde doch harmlosen Film herumdoktert und dabei – ähnlich dem berüchtigten Beschießen von Spatzen mit Kanonenkugeln –
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Bildquelle: The Haunting (R. Wise), DVD, Warner Home Video, 2003.
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Overstanding The Sound of Music das Gefühl dafür vermissen lässt, was ein populärer Film wie The Sound of Music überhaupt an Interpretation aushält. Zunächst einmal, wäre zu entgegnen, bestreite auch ich keineswegs, dass The Sound of Music ein populärer Film ist, und ich würde auch nicht behaupten, dass ein genussvoller Konsum des Films einer Fehlwahrnehmung gleichkäme. Es liegt vielmehr auf der Hand, dass Filme solche Arten der Rezeption geradezu suchen, schon allein deshalb, weil große Zuschauermengen die Voraussetzung für die Amortisierung der in der Regel immens hohen Produktionskosten sind. Filme sind in aller Regel Massenkunst. Dennoch glaube ich, dass auch und nicht zuletzt große Produktionen mit hohem Unterhaltungsfaktor alternative Lektüren gestatten, ja, dass das Medium Film im Hinblick auf seine Facettiertheit immer noch unterschätzt wird. Zumal in Zeiten, in denen man nicht mehr auf die Betrachtung im Kinosaal angewiesen ist, sondern sich mit Hilfe des DVD-Spielers vom narrativen Sog des Bilderreigens lösen und der verlangsamten oder sogar Einzelbildbetrachtung frönen kann, lassen sich in der Tat Kompositionselemente der Bilder oder auch Marginalien erst mit der nötigen Ruhe wahrnehmen. Wer aber möchte von vornherein ausschließen, dass sich auf diesem Weg in den meist sorgfältig und professionell, mit handwerklicher Akribie gestalteten Bildern eines Films nicht auch alternative Bedeutungspotentiale finden lassen? Dagegen mag eingewendet werden, dass genau in einem solchen Vorgehen die Crux der Überinterpretation begründet liegt: statt den Film so anzuschauen, wie er gedacht ist, nämlich im Kinosessel dem Bilderrausch auf einer monumentalen Leinwand hingegeben, zerlegt ihn der Interpret am heimischen Rechner zu einer Folge von Einzelaufnahmen und sucht ihn dadurch medial dem üblichen Opfer seiner Auslegungen anzugleichen: dem geschriebenen Text, der ja von vornherein das Innehalten, das Hin- und Herblättern gestattet. Ich würde darauf mit dem Plädoyer für die Überinterpretation antworten, wie es der amerikanische Literaturwissenschaftler Jonathan Culler formuliert hat: Interpreten von Literatur (oder in unserem Fall Film) sollen nämlich nach Culler, »wenn sie schon Zeit aufwenden, um Interpretationen zu ersinnen und vorzuschlagen, gedanklich forciert bis zum äußersten gehen«. Denn im Vergleich zu einer Vielzahl der sogenannt »›soliden‹ oder gemäßigten« Interpretationen, haben forcierte Lesarten – sofern sie nicht als ganz und gar »unplausibel, redundant, irrelevant oder langweilig erscheinen« – den Vorteil, »daß sie Zusammenhänge oder Implikationen zutage fördern, die zuvor unbemerkt oder unbedacht«10 geblieben sind. Ein 10 Jonathan Culler: »Ein Plädoyer für die Überinterpretation«, in: Umberto Eco: Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation. Mit Einwürfen von Richard Rorty u.a., München 1994. S. 121.
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Heinz Drügh Beispiel dafür gibt Culler, indem er an Wayne Booths Oppositionspaar des sogenannten Unterfragens und Überfragens (im Original: understand und overstand) von Texten anknüpft. Unterfragen (to understand) so Culler mit Booth, bedeutet im Hinblick auf einen auszulegenden Text, Fragen zu stellen und Antworten zu finden, die der Text erzwingt. [Der Satz] ›Es gab einmal drei kleine Schweinchen‹ veranlaßt uns zu fragen: ›Was widerfuhr ihnen?‹, nicht jedoch: ›Warum gerade drei?‹ oder: ›Welches ist der konkrete historische Kontext?‹ Überfragen (overstand) heißt dagegen, Fragen aufzuwerfen, die der Text seinem exemplarischen Leser gar nicht stellt.
Und Booth zieht die Linien des nur scheinbar abseitigen Beispiels von dem Wolf und den drei kleinen Schweinchen aus: »Was verrätst du scheinbar harmloses Kindermärchen von den drei Schweinchen und dem bösen Wolf über eine Kultur, die dich tradiert und in Ehren hält? Über die unbewußten Träume des Autors oder der Gruppen, die dich schufen? Über die Ursprünge der erzählerischen Spannung? Über das Verhältnis zwischen hellen und dunklen Rassen? Über Erwachsene und Kinder, Behaarte und Kahle, Magere und Fette? Über Triaden in der Menschheitsgeschichte? Über die Dreieinigkeit? Über Faulheit und Fleiß, die Familienstruktur, Innenarchitektur, Ernährungsgewohnheiten, die Normen von Gerechtigkeit und Rache? Über den Einsatz der Erzählperspektive, um Sympathien zu schaffen? Tut es Kindern gut, dich zu lesen oder Abend für Abend zu hören? Werden – sollten – Geschichten wie du im idealen sozialistischen Staat erlaubt sein? Welche sexuellen Implikationen hat der Kamin – hat diese rein männliche Welt, in der nie von Sex die Rede ist? Was bedeutet all das Ächzen und Stöhnen?«11 All dieses Überfragen hätte wohl als Überinterpretation zu gelten. Wenn Interpretation bedeutet, die Textintention zu rekonstruieren, dann führen solche Fragen auf Abwege, zielen sie doch darauf, was der Text bewirkt und wie er dies erreicht: Wie verhält er sich zu anderen Praktiken? Was verbirgt oder unterdrückt er? Was fördert oder schützt er? Am interessantesten ist heute nicht, was ein Werk intendiert, sondern was es übergeht, nicht, was es sagt, sondern was es selbstverständlich voraussetzt.12
Was lässt sich vor diesem Hintergrund, um zu The Sound of Music zurückzukommen, über die Art sagen, wie der Film seinen realhistorischen Hintergrund, den Beginn der NS-Herrschaft in Österreich, verhandelt? Eine keineswegs falsche, freilich unterfragende Lektüre würde hier wohl sagen, dass der Baron von Trapp auf der Basis seines katholisch-nationalen Wertesystems den Nazi-Schergen widersteht. Und ist es nicht just die von ihm zunächst so angst-
11 Die hier von Culler zitierte Passage findet sich in: Wayne Booth: Literary Understanding. The Power and Limits of Pluralism, Chicago 1979. 12 J. Culler: Plädoyer, S. 125 f.
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Overstanding The Sound of Music voll vermiedene Sangeskunst, und zwar in Form des Auftritts der Trapp-Familie bei dem Musikfestival in der Felsenreitschule und insbesondere des vom Baron selbst con emozione vorgetragenen Lieds Edelweiß, die einen Kontrapunkt zur Naziideologie markiert, ganz entgegen der Intention des Gauleiters, der ja formuliert hatte: »Nothing in Austria has changed. Singing and music will show this to the world«? Zur imaginären Überformung Österreichs aus amerikanischer Sicht hat das Lied Edelweiß im übrigen das seinige beigetragen, war doch kein Geringerer als der ehemalige US-Präsident Ronald Reagan, der The Sound of Music als seinen Lieblingsfilm bezeichnet hat, der festen Ansicht, Edelweiß sei die österreichische Nationalhymne. Als er bei einem Staatsbesuch in Österreich aus der vermeintlichen ›Hymne‹ zitierte, wusste der österreichische Präsident Kirchschläger allerdings bezeichnenderweise überhaupt nicht, von welchem Lied sein amerikanischer Gast da phantasierte.13 Wie dem auch sei, ein wenig Skepsis bleibt in Bezug auf Edelweiß als politischer Song durchaus angesagt. So mokierte sich bereits beim Erscheinen des Films ein Rezensent über den »lukewarm liberalism« des Films, »that seeks to transform a modest tribute to ›Edelweiss‹ into a stirring anti-Nazi Song of protest«.14 Nein, ein ernstzunehmender politischer Film ist The Sound of Music nicht, was aber nicht heißt, dass er unpolitisch wäre. So wird der Nationalsozialismus, der ja immerhin vom Drehbuch eng mit der Liebesgeschichte verknüpft wird (die realen Trapps haben ganz anders, als es der Film suggeriert, bereits 1927 geheiratet), mit kindlichem Schauder in der Preisklasse jener Spinnen verhandelt, mit denen die TrappSprösslinge ihre Gouvernanten zu traktieren pflegen, mit einer Naivität, der die Hakenkreuzflagge als »the flag with the black spider« gilt, »[that] makes people nervous«. Und was anderes als naiv ist die gleich auf den Vorspann folgende Temporalangabe »Salzburg in the last golden days of the thirties«? Als hätte es nie einen Austrofaschismus gegeben. Dem Nazi-Komplex gebührt von Seiten des Films denn auch eine eher milde Komisierung, etwa wenn der Postbote Rolf, von Baron von Trapp beim Fensterln erwischt, in seiner Sprachnot mit einem herzhaften »Heil Hitler« herausplatzt, als würden sich damit alle Verstrickungen auf einmal lösen lassen. Wer denkt dabei nicht an die herrliche Nazi-Verballhornung aus Ernst Lubitschs To be or not to be (Sein oder Nichtsein, 1942), wo dieses »Heil Hitler« auch häufig als kommunikative Letztversicherung in den allgegenwärtigen Verwicklungen zwischen den Nazis und den sich für Nazis ausgebenden polnischen Schauspielern herhalten 13 Vgl. dazu: Christian Strasser: »›The Sound of Music‹ - Ein unbekannter Welterfolg«, in: ›The Sound of Music‹ zwischen Mythos und Marketing, Salzburg 2000, S. 291. 14 Zitiert nach J. Monaco: The Sixties, S. 163.
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Heinz Drügh muss. Wo aber Lubitschs Film von dem ebenso verzweifelten wie vergeblichen Wunsch angetrieben wird, die Nazi-Bedrohung durch ein human grundiertes Verlachen zu bannen, so scheint The Sound of Music mit den patriotischen Gesten des Barons das Nazistische zwar en gros zu verdammen: schließlich wandern die Trapps ja aus. Den kulturellen Hintergrund des Nationalsozialismus, etwa jenen nicht zuletzt von Emigranten wie denjenigen des Frankfurter Instituts für Sozialforschung in den Vereinigten Staaten durchdeklinierten autoritären Charakter, schält der Film aber geflissentlich vom Nazi-Phänomen ab. Baron von Trapps despotisches Verhalten in seiner Familie erscheint folglich ganz losgelöst von gesellschaftlichen Implikationen ebenfalls im milden Licht der Komik. Wenn aber das Schlussszenario des Films die von Trapp im familiären Kontext zur Dressur seiner Kinder eingesetzte Trillerpfeife in die Hände des Jungnazis Rolf verpflanzt, scheint damit dann doch ganz vorsichtig ein Konnex zwischen K.u.K.-Militarismus und Faschismus angezeigt zu werden. Ich würde allerdings dabei bleiben: Ein wichtiges Ingrediens des amerikanischen Erfolgs von The Sound of Music ist, dass die dargestellten Exilanten der realiter bei weitem kleinsten Auswanderergruppe angehören, jenen, die dafür ethisch-religiöse Gründe geltend machten. Eine solche Spezies Exilant kann aber problemlos als alpin-katholisches Folklore-Objekt fortbestehen, statt dass man es bei ihr mit jener notorisch komplizierten Mehrheitsvariante, den wahlweise jüdisch-entartet-kommunistischen Künstlern oder Wissenschaftlern zu tun bekäme (von denen bekanntlich eine ganze Reihe in Hollywood reüssiert hat). The Sound of Music schafft also das Kunststück, eine Geschichte über Exil und drittes Reich zu erzählen ohne jegliche Beeinträchtigung jenes national-konservativ-katholischen Komplexes, für den die Nachfahren der Trapps in den Vereinigten Staaten nach wie vor stehen (so zu sehen auf einer Aufnahme aus dem 1998 erschienenen Bildband The World of the Trapp Family).
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Overstanding The Sound of Music Der Grund für den Erfolg des Films in den USA könnte indes exakt den Misserfolg im deutschsprachigen Raum erklären. Ist man in den Staaten begeistert von der vermeintlich anrührenden Naivität und dem folkloristischen Touch der späteren Exilanten, so muss es für deutsche und österreichische Augen befremdlich gewesen sein, dass ausgerechnet in jenem Genre, das man in aller Regel mit dem politischen Eskapismus der fünfziger und frühen sechziger Jahre gleichsetzt, dem Heimatfilm, Reminiszenzen just auf jene Zeit durchblitzen, über die öffentlich zu reden man bis Mitte der sechziger Jahre noch immer nicht gelernt hat. Was aus der Sicht Amerikas wie eine willkommene Glättung des Exilthemas aussieht, stellt sich infolgedessen aus deutsch-österreichischer Sicht ganz anders dar, nämlich als impliziter Vorwurf, dass es Mitbürger des so genannt ›grundanständigen‹, national-konservativ-katholischen Milieus gegeben hat, die sich nicht nur nicht mit Hitler arrangiert, sondern per Auswanderung auch die Konsequenzen daraus getragen haben.15 An diesem Unbehagen konnte sogar die erstaunliche Tatsache nichts ändern, dass die deutsche Verleihniederlassung der Fox-Studios, »ohne die Zentrale zu konsultieren, den Film vor den ›inkriminierenden‹ Stellen unmittelbar nach der Trapp-Hochzeit [gemeint sind Szenen um den so genannten ›Anschluss‹ Östereichs, HD], einfach abgeschnitten und den letzten Teil, immerhin 1/3 des Films [in dem der Konflikt zwischen Trapps und Nazis im Vordergrund steht, HD], gar nicht mehr gezeigt«16 hatte. Es soll freilich nicht der Eindruck aufkommen, The Sound of Music sei schlicht ein reaktionärer Film (das würde ja auch nicht zum ersten Teil meiner Ausführungen passen). Unter Einsatz einer gewissen Energie des Überfragens lassen sich im Film nämlich selbstreflexive Momente ausmachen, und zwar insofern, als er die Zuschreibungen, die er vornimmt, die Inszenierung der Trapps als solche gleich auch wieder markiert. Eine in dieser Hinsicht sprechende Szene ist diejenige, in der sich die Familie schließlich von den Nazis davonzumachen sucht. Schon vor dem Tor des Trappschen Anwesens hat aber der Gauleiter mit einem Trupp Stellung bezogen, und nun werden der Baron und seine Familie von Autoscheinwerfern bestrahlt und stehen da wie auf einer Bühne. Natürlich streiten die Trapps ab, sich gerade ins Ausland absetzen zu wollen, und behaupten, sie seien auf dem Weg zu dem Festival in der Felsenreitschule, bei dem sie dann ja auch tatsächlich auftreten. Die süffisante Frage des Gauleiters, warum sie denn dann ihre »travel clothes« angezogen hätten, beantwortet Maria damit, dies seien ihre
15 Vgl. C. Strasser: The Sound of Music, S. 291. 16 C. Strasser: The Sound of Music, S. 283.
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Heinz Drügh »costumes, naturally«. Die Reisekleidung der Trapps auf dem Weg ins Exil – darauf weist der Film hier explizit hin – bildet also schon das Kostüm für kommende Auftritte; die Flucht vor den Nazis wird zum Markenzeichen der Trapps, versieht sie gewissermaßen mit jener street credibility, von der sie als Bühnenfiguren zehren werden. In diesem Zusammenhang ist und bleibt es auch die entscheidende formale Transgression des Genres Musical, dass es stets Szenen voller Künstlichkeit parathält: Unvermittelter, von einem unsichtbaren Orchester begleiteter Gesang in der Öffentlichkeit etwa oder ausgeklügelte choreographische Arrangements markieren die Differenz nicht nur zur realen Welt des Betrachters, sondern auch zur erzählten Welt; deutlich abzulesen an jenem Bild, in dem Maria – auf ihrem Weg vom Kloster zum Baron, dem ersten kleinen Exil des Films – im fahrenden Autobus sitzt und aus dessen Fenster hinaus singt, während im Inneren des Gefährts ein weiblicher Mitpassagier völlig unbeteiligt vor sich hinstarrt.
In einer solch genuin musicalhaften Szene öffnet sich ein gewissermaßen hyperfiktionaler Raum jenseits der Narration, der in seiner Artifizialität auf das Arrangement des gesamten Films abstrahlt. Neben der singenden Maria präsentiert der entsprechende Kader denn auch als selbstreferentielles Signal mit der spiegelnden Busscheibe gewissermaßen ein Bild im Bild oder einen screen im screen, der die Vermitteltheit und Arrangiertheit des Dargestellten überhaupt akzentuiert. Das Musical-Genre, dies ist abschließend zu betonen, steht aber nicht für die schiere Derealisierung und damit Entsubstantialisierung des Dargestellten, also letztlich für ein unernstes Spiel. In seiner ostentativen Artifizialität lässt es sich in semiotischer Hinsicht vielmehr mit Michel Chion geradezu als eine »art réaliste«17 lesen, ist 17 M. Chion: La comédie musicale, S. 25.
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Overstanding The Sound of Music es doch weit weniger als andere, dem Realismus verschriebene Genres gezwungen, die von ihm angewandten Ausdrucksmittel zu kaschieren. Das Musical drängt seinen discours vielmehr dem Zuschauer auf, und dieser kann wählen, ihn mit Wohlgefallen zu übersehen oder die zeichenhafte Inszenierung zum Anlass für eine Überfragung, ein overstanding des Films zu nehmen.
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Die Ikonographie des Exils in Andrej Tarkowskijs Nostalghia GEORGIANA BANITA »Das Bild – das ist ein Eindruck von der Wahrheit, die uns der Herr gestattete mit unseren blinden Augen zu sehen.« (A. Tarkowskij)
»Die Kunst ist äußerst eifersüchtig, nur in der Heimat ist sie aufzusuchen.« So Tonino Guerra, (zusammen mit Tarkowskij) Co-Autor des Drehbuchs für Nostalghia (1983), den ersten Film, der es wagt, die Kunst des russischen Regisseurs selbst dieser Eifersuchtsprobe zu unterziehen. Jede Diskussion dieses Films droht auf Barrieren unterschiedlichster Art zu stoßen, die Tarkowskij als Interpret und implizit als Übersetzer seines Werkes aufgestellt hat. Immer wieder hat er in Gesprächen beteuert, seine Absichten seien nur jemandem verständlich, der mit seinem russischen Hintergrund nicht nur vertraut, sondern organisch verbunden sei, nämlich einem Russen. Abschätzige Kommentare gab er auch in Bezug auf die inflationäre Kommentierungssucht der Filmexegeten ab, die dem Symbolfetischismus eines an der formalistischen Filmtheorie geschulten Blicks unterlagen. Nicht umsonst reagiert er zu Beginn seines Buches Die versiegelte Zeit mit ausgesprochen aggressiver Skepsis auf eine »kalte«, rational-analytisch verfahrende Filmkritik, der das Pathos subjektiver, letztendlich nicht zu dechiffrierender Erlebnisse entgegengehalten wird. Nicht die »Logik des Subjekts« durchzieht seine Filme, schreibt Tarkowskij, sondern eine »subjektive Logik«, die durch einen subkutanen biographischen Bezug nicht nur die Gedankengänge des Regisseurs in den Film einschreibt, sondern auch den Zuschauer in ein komplexes Spiel der Identifikation verwickelt. Daher mag es nicht allzu überraschend sein, dass sich in den Kommentaren zu diesem Film Formulierungen finden, in denen persönliche Betroffenheit mitschwingt. In diesem Sinne will der vorliegende Beitrag auch keine systematisch geschlossene Analyse des Films liefern. Er zielt dagegen auf eine Darstellung der weniger bekannten religiösen Intentionen des 107
Georgiana Banita Films Nostalghia, die nicht zuletzt auf das Konto der religiösen Offenbarung gehen, die dem Regisseur durch seinen Aufenthalt in Italien zuteil wurde. Dabei wird im Folgenden auch nicht vor Rückgriffen auf Positionen und Stichwörter der russisch-orthodoxen Tradition gescheut. Man ist von Anbeginn dieses Films in der typischen TarkowskijWelt gefangen, die seine Verwurzelung in der russischen Kultur, Tradition und Geisteswelt nicht leugnen kann. Durch das – von Tarkowskij auferlegte – Rezeptionsverbot, das den Film nur dem initiierten Zuschauer zugänglich macht, verschreibt sich dieser auch in seinem Selbstverständnis geradezu programmatisch russische Regisseur einer hoffnungs- und kompromisslosen Dialektik, die zuerst auf der sprachlichen Rezeptionsebene zum Ausdruck kommt: Nostalghia mutet wie ein episches Poem an, das in einer fremden Sprache verfasst wurde. Dies wäre keineswegs ein Einzelfall der Filmgeschichte, wie Kurosawas Verfilmung von Dostojewskis Roman Der Idiot (Hakuchi, 1951) hinlänglich belegt. Dass Nostalghia manchmal einen konfusen Eindruck vermittelt, liegt jedoch nicht an einer kulturell bedingten Adaption. Die ans Halluzinatorische grenzende Welt des Films markiert einen Liminalraum, dessen Unbestimmtheit die gesamte Dramaturgie des Films trägt. Von einer spannungsvollen Geschichte im Sinne von Plot kann hier kaum die Rede sein, der Film behandelt eine Thematik, die sich aus den getrennten Bereichen ein und desselben Kontinuums ergeben. Ein sowjetischer Dichter reist nach Italien, um dort die Biographie eines emigrierten russischen Musikers zu erforschen, der hier vor 200 Jahren gelebt hat. Damit ist die Thematik des Exils und der verlorenen Heimat durch das mise en abyme in doppelter Weise gegeben. Nostalghia ist ein Film im Exil und des Exils, eine Doppelbelichtung von Ferne und Nähe, Erinnerung und Erfahrung. Viele Kritiker dieses Films haben es sich mit dem zentralen Problem des Exils etwas zu leicht gemacht. Sie haben sich darauf beschränkt, die Problematik der Ost-West-Spaltung zu erfassen, und die künstlerischen Ansprüche des Regisseurs in die Kritik an der in die Katastrophe steuernden westlichen Zivilisation und die Verklärung einer phantasmagorischen Heimat verlagert. So erschient Tarkowskij in vielen Augen als ein patriotischer Utopist – dass Nostalghia ein Lob Russlands ist, lässt sich nicht nur den Aussagen des Autors entnehmen –, der letztendlich in einer Sehnsucht nach dem Nichts verfangen bleibt. Macht man sich jedoch von der Auffassung frei, die geographische Substanz des Films bestimme in großem Maße auch seine Thematik, so muss die Auseinandersetzung Tarkowskijs mit dem abstrakten Konzept des Exils komplexer ausfallen. Die Eigenartigkeit des Titels fasst Tarkowskij knapp zusammen:
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Die Ikonographie des Exils Ich wollte hier von der russischen Form von Nostalgie erzählen, von jenem für unsere Nation so spezifischen Seelenzustand, der in uns Russen aufkommt, wenn wir weit weg von der Heimat sind. […] Ich wollte von der schicksalhaften Bindung der Russen an ihre nationalen Wurzeln, ihre Vergangenheit und Kultur, an Heimaterde, Freunde und Verwandte sprechen, über jene tiefe Bindung, von der sie ihr ganzes Leben lang nicht loskommen, gleich, wohin sie das Schicksal verschlägt.1
Das ›h‹, das der Titel dem italienischen »nostalgia« einpasst, entspricht also den schwarzweißen oder sepiafarbenen Rückblenden, Evokationen und Phantasmagorien, die Tarkowskij zwischen die farbigen Passagen der italienischen Gegenwartsreise schneidet. Die kalligraphische Auseinandersetzung der zwei Begriffe als Vorwegnahme einer thematischen Debatte zu deuten, wäre aber irreführend: Seine ursprüngliche Absicht, die Annäherung der beiden Kulturen zum Thema zu machen, hat Tarkowskij wieder aufgegeben. In einem italienischen Interview hat er sogar ganz brüsk bezweifelt, dass Menschen verschiedener nationaler Eigenheiten, die er für unverrückbar hält, sich gegenseitig verständigen könnten. Unbestreitbar ist, dass die Nostalgie keineswegs, in der Formulierung Tarkowskijs, einen Gedächtnisverlust darstellt, genauso wie das reale Dilemma dieser angeblich pathologischen Erscheinung nicht die Unmöglichkeit der Nähe, sondern eine gewisse Unvollständigkeit derselben ist, die gleichzeitig den Frust und den Reiz solcher Beziehungen zwischen Menschen ausmacht, die sich gegenseitig nie wirklich unter die Haut kriechen können. Überraschend in diesem Kontext ist auch das zertrümmerte, anti-romantische Bild Italiens, das hier als Hintergrund dient: »Ich machte einen Film über einen Russen, der sich in Italien auf einer langen Forschungsreise befindet, über seinen Eindrücke von diesem Land. Allerdings hatte ich dabei keinesfalls vor, auf der Filmleinwand ein übriges Mal die Postkarten-Schönheit eines bereits tausendfach bekannten touristischen Italiens zu zeigen.«2 Das dämmrige, vernebelte Italien ist nach außen projiziertes, seelisches Interieur. Die aufgesuchten Orte – die Kapelle mit dem Marienbildnis Piero della Francescas, das mittelalterliche Schwefelbad Bagni Vignoni, die Kirche, welche von dem Wasser überschwemmt ist, das einer Quelle inmitten des Kirchenraums entspringt, die Ruinen einer gewaltigen Abtei, schließlich Rom, der Blick auf die Kuppel von St. Peter und die Reiterstatue Marc Aurels am Kapitolplatz, all dies wird in langsamen Parallelfahrten dargestellt. Was wir auch sehen, es kommt immer als Stimmung Russland heraus. Die blassen Farben 1 2
Andrej Tarkowskij: Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, Ästhetik und Poetik des Films, München 2000, S. 206. Ebd., S. 206.
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Georgiana Banita Italiens, weggeschwemmt hier von rauchigem Nebel und Regenfluten, die in die Häuser einbrechen, weichen stark ab vom tradierten Bild des Landes, wo »die Zitronen blühen«, das sich spätestens seit Goethe eingebürgert hat. Die düsteren, in einem surrealistischen Licht gebadeten Säulen erinnern eher an die Carceri des Italieners Piranesi. In ihrem Essay Le Cerveau noir de Piranesi hebt Marguerite Yourcenar gerade seine Fähigkeit hervor, die italienischen Blicke ins Traumhafte und Irrationale umzuwandeln, in eine phantasmagorische, übermenschliche Architektur.3 Auch die meditative Kamera Giuseppe Lancis fängt Bilder der Leere und Sinnlosigkeit ein (riesige Regentropfen, die von Flaschen aufgefangen werden), durch die lauernde menschliche Figuren schleichen, langsam und verbunden nur durch die Aneinanderreihung der zeitlichen und räumlichen Einheiten des Films. Gortschakow, dessen Protagonist, erscheint fast immer in geschlossenen, nur selten durch einen labyrinthischen Freiblick gelüfteten Räumen, die denselben klaustrophobischen Eindruck machen wie die Carceri, wobei die erstickende, käfigartige Verschlossenheit der adoptierten Heimat direkt angesprochen wird in dem Gedicht, das Guerra für Tarkowskij schreibt und – sogar zweimal – in einer virtuos inszenierten Sequenz des Dokumentarfilms Tempo di viaggio vorträgt: Ich weiß nicht, was ein Haus ist. Ist es ein Mantel, oder ein Schirm, falls es regnet? Ich habe es angefüllt mit Flaschen, Lumpen, Holzenten, Vorhängen, Fächern, es scheint, ich möchte es nie verlassen. Dann ist es ein Käfig, der jeden einsperrt, der daran vorbeiläuft. Sogar einen Vogel wie dich, schmutzig vom Schnee. Doch was wir uns erzählt haben ist so schwerelos, daß es nicht festgehalten werden kann.
In ihrem 2001 erschienenen Buch The Future of Nostalgia schreibt die in den USA lebende russische Emigrantin Svetlana Boym: »Ein filmisches Bild von Nostalgie ist eine doppelte Aufnahme oder die Überblendung zweier Bilder – von Heimat und Ferne, Vergangenheit und Gegenwart, Traum und Alltag. In dem Moment, wo wir sie in ein einziges Bild zu zwingen versuchen, zerbricht der Rahmen, zerbricht die Oberfläche.«4 Zwischen diesen zwei Polen changiert die Sehnsucht des herzkranken, in sich verschlossenen russischen Dichters Gortschakow, der sich auf eine Reihe schizophrener Pendelbewegungen begibt. Eine durchgängige Polyvalenz kommt dem 3 4
Vgl. Marguerite Yourcenar: Sous bénéfice d’inventaire, Paris 1962. Svetlana Boym: The Future of Nostalgia, New York 2001, S. xiii.
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Die Ikonographie des Exils eindimensionalen Bewusstsein immer wieder in die Quere. Räume tun sich auf, wobei der eine im anderen enthalten ist oder auf ihn hinleitet, durch langsame, unendlich lange Bewegungen und Fahrten der Kamera. Die letzte Szene: Russland in Italien5
In der Schlussvision – eine niedrige russische Datscha inmitten des Hauptschiffs der Abteikirche von San Galgano – verschmilzt alles, was davor immer wieder einander überlappte: das abweisende, verfallene Fremde und das ferne Erinnerungsbild der verlorenen Heimat. Der Dreh- und Angelpunkt dieses Oszillierens ist spezifisch religiöser und ikonographischer Art. »Weder ausschließlich ästhetisch noch rein geistig, ist die Schönheit der Ikone eher innerlicher Natur und schöpft ihre Quelle aus dem Prototyp. Es versteht sich von selbst, dass diese Schönheit rein ästhetisch nicht erfassbar ist, denn die Entdeckung der tiefen Essenz einer Ikone erfordert das innere Licht dessen, der sie betrachtet.« Dass diese Worte Michel Quenots in Bezug auf die Ikone auch auf Tarkowskijs Filmkunst in Nostalghia anwendbar sind, werde ich im Folgenden begründen. Ironischerweise sind sowohl der Film als auch die theoretischen Ansätze über die liturgische Ikonographie zu Zeiten entstanden, da die Darstellung des Heiligen auf ikonoklastischen Widerstand stieß, nämlich nach der russischen Revolution 1917 bzw. in den kommunistischen achtziger Jahren. Obwohl diese Hindernisse schon längst aus dem Weg sind, blieben bisher jedoch theologische/ikonographische Auslegungen des filmischen Bildes bei Tarkowskij aus. In den frühen zwanziger Jahren verfasste der russische Naturwissenschaftler, Philosoph und Priester Pavel Florenskij seine 5
Bildquelle: Nostalghia (A. Tarkowskij), DVD, Fox Lorber, 1998.
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Georgiana Banita damals unveröffentlichten Betrachtungen zur Kunst der Ikonenmalerei und verteidigte sie gegen jede Idee der bloß abbildlichen Darstellung. Laut Florenskij ist die Ikone nicht einmal ein Bild, sondern vielmehr ein Fenster, durch das wir Gott selbst erblicken können. Der Maler wendet seine ganze Kunst an, um einen Vorhang zu öffnen und die Vision zu ermöglichen. Die Ikone wird mit Licht gemalt, und Licht meint keine Form der Beleuchtung und nicht das Eigenleuchten der Dinge: Das Licht begründet überhaupt erst die Dinge, es ist ihre Ursache. Die Ikone ist der Ort, wo das Antlitz der Gottheit, das Urlicht hervortritt; damit bildet sie die Grenze zwischen sichtbarer und unsichtbarer Welt. Schaffen ist hier ein kunstvolles Enthüllen. Es ist ein Ausdruck von Überwältigtsein und Demut, wenn diese Auffassung ihren Schluss in einem ästhetischen Gottesbeweis findet: »Es gibt die Dreifaltigkeit Rublevs, folglich gibt es Gott«, schreibt Florenskij.6 Tarkowskij selber erwähnt Florenskij und seine Theorie, dass die Ikone ohne die Regeln des malerischen Realismus auskommt.7 Anstelle des homogenen Bildraums verwirklicht sie eine »umgekehrte Perspektive«, die die Ich-Zentrierung des Künstlers und des Betrachters aufhebt. Sie gibt nichts real Vorhandenes wieder, sie verweist oder imitiert nicht, vielmehr überbrückt sie die Differenz zwischen materiellem Zeichen und abwesendem Bezeichnetem durch die Zeichen selbst, die die göttliche Gegenwart des Dargestellten zur Wirklichkeit macht. Auch wenn Tarkowskijs Erwähnung dieser Theorien keineswegs ausführlich oder gar einleuchtend ist, fällt der Einfluss Florenskijs auf sein filmisches Werk viel breiter aus als allgemein angenommen. Auch die Bilder Tarkowskijs unterliegen nicht einer abbildlichen oder bedeutungstragenden Ästhetik. Dem Begriff des Symbols gegenüber zeigt sich Tarkowskij sehr skeptisch.8 Er wendet sich gegen die »intellektuelle Kinematographie der Begriffe«, die er (vor allem in Bezug auf Eisenstein) als abstraktes, kopflastiges Experimentieren verunglimpft. Ein künstlerisches Bild symbolisiert nichts, es drückt etwas aus. Dieses Ausdrücken 6
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Botho Strauß: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt, München 1999, S. 43. Vgl. auch Pavel Florenskij: Die Ikonostase. Urbild und Grenzerlebnis im revolutionären Rußland, Stuttgart 1990. A. Tarkowskij: Die versiegelte Zeit, S. 88. »In der letzten Zeit hatte ich viele Gelegenheiten, mit meinen Zuschauern zu sprechen. Dabei bemerkte ich immer wieder ihre Skepsis gegenüber meinen Beteuerungen, daß es in meinen Filmen keinerlei Symbole und Metaphern gibt. Besonders häufig, ja geradezu leidenschaftlich werde ich beispielsweise nach der Bedeutung des Regens gefragt. Warum der in jedem Film vorkomme. Und weshalb hier immer wieder Wind, Feuer und Wasser auftauchen. Derlei Fragen bringen mich regelrecht in Verwirrung.« (Ebd., S. 214)
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Die Ikonographie des Exils ist, in Anlehnung an eine zugespitzte Formulierung Heideggers, ein Nennen, eine Verbuchstäblichung der Gottheit. Das Spiel von Licht und Schatten, das die Welt des Films überhaupt erzeugt, hat seine eigene Wahrheit und diese wiederum ihr eigenes Maß. Wie die Theologie der Ikone hat auch Nostalghia sich mit der Frage auseinander zu setzen, wie das Unvorstellbare, Nicht-Darstellbare, das sich jeder Wesensbestimmung entzieht – die Präsenz des Gottes bzw. die Erinnerung und das Bewusstsein des Verlustes –, zu beschreiben ist. Das liturgische, sakramentale Wesen der Ikone wird bestimmt durch den Übergang des Unsichtbaren ins Sichtbare und umgekehrt. Laut Tarkowskij kann auch von einer Parallele zwischen dem Eindruck, den ein spirituell empfänglicher Mensch von einem Kunstwerk erhält, und einer religiösen Erfahrung gesprochen werden: »Die Kunst wirkt vor allem auf die Seele des Menschen und formt seine geistige Struktur«, schreibt er in Die versiegelte Zeit. Die Relevanz der Ikone als Pendant zum filmischen Bild besteht darin, dass sie eine antinomische Form und ihr Zentrum in einem Drama hat, das sich zwischen absolutem Realismus und absoluter Undurchschaubarkeit abspielt. Wie die Ikone unterwirft sich der Film nicht diesem Entweder-Oder, sondern schöpft ständig ihre beseelende Intention aus seinem antinomischen Wesen, das nichts anderes ist als eine Form der Nostalgie. Wie der Ikonenmaler imitiert Tarkowskij nicht, er stellt nicht dar, sondern nimmt nur den Schleier weg, reißt die Trennmauern nieder und bewirkt, dass die sichtbare und unsichtbare Welt miteinander kommunizieren, vor allem in der Schlussvision des Films. Durch eine langsame Rückfahrt der Kamera enthüllt sich das Bild in seinen einzelnen Schichten: Die Wasserfläche ist Teil einer Landschaft, die wiederum als Einlagerung eines Traummotives vor dem Hintergrund des zerstörten Kirchenschiffs erkennbar wird. Alles wird von Schnee zugedeckt, der wie ein »nichtbrennbares Salz der Gedanken«, um mit Marina Zwetajewa zu sprechen, die Spannung der zwei Ebenen aufrechterhält und die ominöse Bemerkung Andrej Rublevs vergegenwärtigt: »Es gibt nichts Schrecklicheres als herabfallenden Schnee in einer Kirche.« Florenskij schreibt vom evokativen Wert der Ikone. Das Geheimnis wird aber nicht bloß evoziert, es manifestiert sich in ihr. Die Antinomie der Ikone besteht darin, dass sie das Unsichtbare vorlegt, nicht auslegt, sie interpretiert es nicht. Sie hebt es nicht auf dialektische Weise wieder auf, sie versucht nicht, es diskursiv zu bestimmen. Bei Tarkowskij tendieren Erinnerung und Gegenwart nie dazu, sich gegenseitig aufzuheben. Die Schlusseinstellung, wo inmitten der italienischen Kathedrale ein russisches Bauernhaus auftaucht, ist ...
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Georgiana Banita ein Modell von Gortschakows innerem Zustand, von seiner Zerrissenheit, die ihn nicht mehr wie bisher weiterleben läßt. Wenn man so will, könnte man natürlich auch das Gegenteil behaupten und davon sprechen, daß dies das Bild einer neuen Einheit ist, die die Hügel der Toscana und das russische Dorf zu einem organischen, untrennbaren Ganzen zusammenschließt, das bei einer Rückkehr nach Rußland von der Realität wieder auseinandergeschlagen werden würde.9
Wie der Gegensatz zwischen Gold und Farbe in der Ikonenmalerei – die Ausleuchtung der entsprechenden Szenen in Nostalghia drängt geradezu den Vergleich auf – bleibt die Diskrepanz ständig erhalten. Laut Florenskij gehören Gold und Farbe verschiedenen Seinsbereichen an, das eine ist reines Licht, ohne jede materielle Trübung, ohne Licht zu reflektieren. Die anderen sind nur Sehnsucht, Begehren, Evokation des Lichts. Zwischen Gold und Farbe, behauptet Florenskij, muss die richtige Distanz gewahrt bleiben. Gerade aus dieser Distanz ergibt sich ein Leitmotiv des Films Nostalghia, nämlich der Rückweg. Die Distanz zwischen dem illo tempore Russlands und der italienischen Gegenwart erstreckt sich auch zwischen den Rändern des offenen, ausgetrockneten Thermalbads. Gortschakow erfüllt den letzten Wunsch des italienischen Idioten, wenn er dreimal (und in einer einzigen Einstellung) den Versuch unternimmt, eine brennende Kerze von einem Ende des geleerten Beckens eines Schwefelbades ans andere zu tragen:
Zweimal löscht der Wind die Kerze aus, immer wieder beginnt er von neuem und berührt dabei jedesmal den Stein, der am Anfang seines Weges steht. Im Windschutz des Mantels, den er während
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Ebd., S. 216.
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Die Ikonographie des Exils des ganzen Films kein einziges Mal auszieht, rettet er die Flamme und stellt die brennende Kerze auf jenem Stein ab, der das Ende dieses Aktes der Selbstopferung und auch der Schluss seines Lebens ist. Heimat und Fremde implizieren einander, stehen aber in einem prinzipiell unruhigen Wechselverhältnis. Gerade durch diese innere Unruhe, die auch der Ikone eigen ist, können das Bild und die Dramaturgie dieser Sequenz noch etwas offenbaren, weil ihr Gleichgewicht für immer zerbrochen scheint – auch wenn die Schlussvision, in ihrer harmonisierenden Funktion, diese Unvereinbarkeit wieder auflöst. Aufzugreifen wäre in diesem Kontext auch eine fundamentale Kategorie, in der Florenskij die Grenze zwischen materieller und geistiger Wirklichkeit lokalisiert, nämlich der Traum. Der Traum ist der Grenzort zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, laut Florenskij ist er sogar der »Hüter der Schwelle«. Auch wenn seine Bilder, einzeln betrachtet, aus der sichtbaren Realität genommen scheinen, unterscheidet sich ihre Zeit von dieser. Die Traumzeit sprengt die Fesseln der sichtbaren Dynamik, befreit uns von der Schwerkraft der sequentiellen Zeit, indem sie verborgene Möglichkeiten entfaltet. Was Gortschakows Träume und Visionen zeigen, ist eine unerklärbare, aber unabdingbare Motorik, wobei die Entropie dieser stehenden Augenblicke auf alle anderen abzufärben scheint. Tarkowskij gelingt, was Florenskij von der wahren Ikone fordert: ein Bild zu sein, das frei ist von jeder assoziativen Bildung, von jeder psychologischen Resonanz – die Affirmation einer metaphysischen Realität. Es mangelt in dem Film auch nicht an Ikonenbildern, zumal Italien für Tarkowskij vor allem ein Land der Malerei ist. Spätestens seit seinem autobiographischen Film Zerkalo (Der Spiegel, 1975) weiß man, dass er sich als Kind gerade an Reproduktionen von Leonardo ergötzt hat, die manchmal die üppigen Locken Eugenias, der Gefährtin Gortscharows, in Erinnerung rufen. Die Anfangssequenz in Nostalghia steht unter dem Zeichen der Madonna del Parto von Piero della Francesca. Auch in andere Filme Tarkowskijs werden Gemälde in Form eines visuellen Zitats aufgenommen: In Ivanovo Detstvo (Iwans Kindheit, 1962) ist es Albrecht Dürers Apokalypse, in Andrey Rublyov (1969) sind es die Ikonen von Rublev, in Solyaris (1972) sind es Rembrandts Rückkehr des verlorenen Sohnes, die Meister der italienischen Renaissance und die Gemälde von Breughel, in Stalker (1979) ist es Johannes der Täufer vom Genfer Altar der Brüder van Eyck, in Offret (Das Opfer, 1986) sind es Die Anbetung der Könige von Leonardo und die russischen Ikonen. Vor allem in Nostalghia gibt es sogar ganze Passagen, die eine Art lebendiger Malerei darstellen. Der Film entfaltet sich so schleppend, dass viele seiner Szenen die Eigenart von Standphotos haben. Solche Bilder, wie z.B. diejenigen von Gortschakows Zim-
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Georgiana Banita mer, erfordern auch eine anders geartete Aufmerksamkeit: Das Bild kann innerhalb eines Augenblicks nicht vollständig wahrgenommen werden, weswegen Tarkowskij mehr Zeit einräumt für die Wanderung des Blicks auf der Bildfläche, wobei der Zuschauer die aufgebaute anschauliche Spannung nachvollziehen kann. Keine Perspektive wird dem Betrachter aufgestülpt, keine abrupte Kamerabewegung stört die zeitliche Fokussierung auf die räumlich gefassten Elemente. Auch Piero della Francescas berühmtes Fresko der schwangeren Jungfrau Maria ist für einige Momente zu bewundern. Eugenia kommt alleine in die Kapelle – Gortschakow bleibt beim Auto, wo er still über das Elend der italienischen Schönheit vor sich hin grübelt, nicht anders als der Regisseur selbst, der mehrere Drehorte für den Film als »zu schön« abgewiesen hatte. Eugenia beobachtet, wie eine Frauenschar der Madonna – hier eine hohe Marienstatue – ein Kerzenopfer darbringt, um von der Muttergottes die Gnade der Mutterschaft zu erflehen. Die Szene endet damit, dass ein Schwarm Vögel dem Kleid Marias entflattert, worauf mehrere Augenblicke lang Pieros Madonna groß auf der Leinwand erscheint. Es kommt auch nicht von ungefähr, dass Tarkowskij dieses Bild der Jungfrau Maria durch sein eigenes Bild der schwangeren Ehefrau verdoppelt und schließlich den Film seiner Mutter widmet. In seiner Vorstellung sind die Gestalt der Mutter bzw. die Idee der Mutterschaft und die Nostalgie nach dem Heimatland aufs engste verbunden. Schwangerschaft als abstrakter Zustand weist auch auf eine Schwellung der Abwesenheit hin, die Abwesenheit der ersehnten Heimat und die der sexuellen Erfüllung. Gleichzeitig erinnert dieses Bild an die These Tarkowskijs, dass der schöpferische Akt als Geburt zu verstehen ist, wobei Gott – genauso wie bei der Jungfrau Maria – als Quelle der Eingebung fungiert. Über diese theoretischen Bemerkungen hinaus lässt sich die Technik der Ikonenmalerei ganz genau an einzelnen Szenen des Films beobachten. Bekanntlich bezeichnet die Ikonographie die Fixierung eines Bildes, das Kino dagegen die Fixierung einer Bewegung. Was das filmische Bild Tarkowskijs und die Ikone jedoch teilen, ist eine doppelte Einsetzung von mise en scène und Montage. Sowohl in der Ikonenmalerei als auch in Nostalghia erscheinen ikonische Figuren suspendiert, zahlreiche der Innenraumelemente und -ereignisse werden nach außen transportiert, die Beleuchtung der Tages- und Nachtzeit wird selten der Wirklichkeit abgeschaut. Mehrere orthodoxe Theologen haben die emotionale Ebene der Betrachterperspektive beim Anblick eines ikonischen Bildes hervorgehoben. Das Verstehen eines künstlerischen Bildes, führt auch Tarkowskij aus, bedeutet die Rezeption des Kunstschönen auf emotionaler, zuweilen sogar auf einer »über«-emotionalen Basis. Dass Frauen eine stärkere Empfänglichkeit aufweisen im Umgang
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Die Ikonographie des Exils mit dem ikonischen Bild ist ein theologischer Gemeinplatz, der auch in Nostalghia direkt angesprochen wird, als Eugenia den Messner fragt, wie die stärkere Gläubigkeit der Frauen zu erklären sei. Die Antwort des Messners ist leider nichts anderes als eine lakonische Zusammenfassung der Ideen Tarkowskijs, die er in mehreren Interviews (unter anderem mit einer feministisch veranlagten Journalistin) etwas schroff und kriegerisch verteidigt hat. Die Parallele lässt sich noch weiter führen. Die orthodoxe Ikonenmalerei setzt nicht nur eine gründliche Disziplinierung des Künstlers voraus, sie besteht auf einer Schulung des Blickes, indem sie den Betrachter einer subliminalen Zucht unterzieht, die die Bedeutung des Bildes in ihrer ganzen Entfaltung zugänglich machen soll. Viele Sequenzen in Nostalghia scheinen ebenfalls dazu zu dienen, den Blick auf die letzte Vision stufenartig einzustellen, z.B. in der ersten integrierten Überlappung Russlands und Italiens. So sieht man auf dem Boden eines verwahrlosten Zimmers nicht die Holzbalken, sondern Erde und Wasser, kleine Regenteiche, wie sie sich dem Betrachter seit seiner Kindheit eingeprägt haben. Es sind keine Objekte mehr, sondern Erinnerungsfetzen, die der Gegenwart einverleibt sind und eine stärkere Wirkung haben durch den (auf künstliche Art und Weise) inszenierten Kontrast. Gerade diese Kontrastierung wird zum Grundprinzip der Schlussvision, die aber auch auf andere Weise vorweggenommen wird. Die Figuren werden mehrmals in andere Kontexte integriert, ihre Rolle wird angedeutet, andere Bilder wie z.B. die Trinitätsfigur der Säulen, die sich in der Wasserfläche widerspiegeln, werden antizipiert durch die rekurrierende Dreifaltigkeit als Leitmotiv, vor allem in Andrey Rublyov. Wie Heiligenfiguren werden die Charaktere mit bestimmten, wiedererkennbaren Attributen in Verbindung gebracht (Gortschakow mit seinem schwarzen Hund, Maria mit dem alten Bauernhaus), so dass die Dramaturgie des Films nicht nur zwischen den geographischen Topoi aufgespalten ist, sondern mikro-dramaturgische Monopole der Hauptfiguren entstehen lässt, die sogar musikalisch erkennbar sind. In fast jeder Sequenz lässt sich eine ikonographische Motivik, eine Ritualität erkennen. Es haftet den Traum- und Übergangssequenzen, wie auch den repetitiv-belanglosen Ticks Gortschakows, eine leerlaufende Ritualität an, die es nicht vermag, die Vergangenheit zu beschwören, sondern nur die Überflutung durch Abwesenheit und Sehnsucht zu verabsolutieren. Gortschakow legt sich hin, steht wieder auf, zündet ein Feuerzeug immer wieder an, schaltet das Licht an und aus, betrachtet sich im Spiegel, klimpert mit seinen Schlüsseln, geht ziellos auf und ab. Besonders zutreffend erscheint daher die These Susan Stewarts, dass die Nostalgie diejenige Form von Wiederholung ist, die den Mangel an Authentizität aller Wiederholung betrauert, und selbst die identitätsstiftenden
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Georgiana Banita Fähigkeiten der Wiederholung leugnet.10 Auch der Ton greift immer wieder dieselben Geräusche auf und bohrt sich dabei, auch buchstäblich, einen Weg in die illusorische Welt: Glocken, das Rauschen, Plätschern und Tropfen von Regen, in den Musik von Verdi, Beethoven, Debussy und Wagner tröpfelt, das Klingeln eines fernen Telefons, der Haartrockner Eugenias. Immer bellt ein Hund, immer wieder ertönt das ferne Geräusch einer Kreissäge. Fast rituell und sofort wiedererkennbar ist auch Tarkowskijs Kamerablick. Das filmische Pendant zur umgekehrten Perspektive, die in einer Ikone solche räumlichen Ebenen eröffnet, die nur aus unterschiedlichen Sichtpunkten zu beobachten sind, ist Tarkowskijs Tendenz zu dem, was man als undichte Räumlichkeit bezeichnen könnte. Durch Spiegelperspektiven, Tür- und Fensteröffnungen scheint der Raum in einer langsamen Bewegung auszulaufen. Auch durch langsame Kamerafahrten werden verborgene Ecken aufgedeckt, vor allem mittels unmerklicher und ungewöhnlich zahlreicher Lichtveränderungen. So ist der Zuschauer während der fast unerträglich langen Einstellungen dazu verführt, verschiedene Perspektiven einzunehmen, um das Bild wie eine breite Landschaft optisch zu durchwandern. Auch die asketische Ausstattung und die spärlichen Requisiten erinnern an die Ikonenkunst. Die imaginäre Dimension des Films sowie die Darstellung der realen Orte ignorieren das gegenständliche Detail, obwohl dies nicht als anti-naturalistisch zu verstehen ist. Andere, meist unsichtbare Fasern der Wirklichkeit – Flaschenfarben, Wandtexturen – oder unerklärbare Gegebenheiten – der Kamm in der Bibel, das von dem Hund umgeworfene Glas (das insgesamt dreimal auftaucht) – werden hier zu Requisiten, die die Kamera saumselig beobachtet, ohne aus ihrer Präsenz eine Symbolik oder gar dramatische Verwendung herauszuarbeiten. Wie Ikonenbilder beschränken sich die russischen Traumsequenzen auf einige primitive Linien, die Tarkowskij ursprünglich auf einer weißen Mauer skizziert hatte und die dem Betrachter genügend Spielraum und Perspektivenauswahl gewähren. Die Gestaltung der Traumszenen erinnert an die hypnotische Ausstrahlung einer Ikonenpose. Die Begegnung zwischen Maria und Eugenia wird nicht nur als versöhnliche Umarmung inszeniert, Eugenia blickt sogar mit geneigtem Kopf in die Kamera. Die Figuren, die weit voneinander entfernt um die russische Holzhütte kreisen, bleiben auch wie in einem daguerrotypischen Moment erstarrt, nachdem sie ganz bedächtig ihre Pose eingenommen haben, als besitze sie eine besondere Bedeutung.
10 Vgl. Susan Stewart: On Longing: Narratives of the Miniature, the Gigantic, the Souvenir, Durham 1993.
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Die Ikonographie des Exils Tarkowskijs Bilder bedienen sich derselben Methoden wie die byzantinische Ikonenkunst, um die Unterschiede zwischen den Figuren zu markieren. Vor allem Farben, z.B. im Maria-EugeniaKontrast, aber auch die Körpergröße heben die zwei Frauen und ihre metaphorischen Bedeutungsinhalte voneinander ab. Der Farbunterschied wird sogar von Gortschakow direkt angesprochen, als er die Madonna der Niederkunft mit seiner Ehefrau Maria vergleicht. An den Russlandbildern kann man auch das Rublevsche Verfahren studieren, welches die russischen Ikonenmaler als Dunsthauch bezeichneten und das Tarkowskij auf den Film angewendet hat. Rublev milderte die Unmittelbarkeit der Farbe, indem er eine graue Lasur darüberlegte. Bei Tarkowskij hat das zur Folge, dass der Landschaft, sei sie der Erinnerung oder der Phantasie zugehörig, ihre ursprüngliche Schärfe genommen wird, was mit den fließenden Grenzen der Dimensionen durchaus im Einklang steht. Durch die graue Lasur erhält die Fläche eine gewisse Tiefe, ohne dass der Regisseur ein Sammelsurium filmischer Kunstgriffe angewendet hätte, von denen er übrigens in keinem anderen Film Gebrauch macht, nicht einmal in den für moderne Verhältnisse primitiv anmutenden Traumszenen Iwans (in Iwans Kindheit). Die Figuren Tarkowskijs verkörpern natürlich keine heiligen Prototypen, was einen grundsätzlichen Unterschied zur Ikone ausmacht, die bekanntlich eine Wiedergabe biblischen Geschehens ist. In der orthodoxen Tradition werde ich hier, in der Formulierung Paul Evdokimovs, die Ikone als Bild der Nostalgie nach Gott auffassen, die sich als Mysterium in der Stimmung des Films durchaus wiederfindet.11 Auch diese gegen das Kontemplative und nicht gegen das Dogmatische geneigte Einstellung untermauert den Dualismus des Films, der sich letztendlich innerhalb zweier Konfessionsräume bewegt. Um die Formulierung eines anderen Exil-Dichters, Paul Celans, zu paraphrasieren: erst abtrünnig ist Tarkowskij wieder treu, d.h. erst fern der Heimat und im Banne einer italienischen katholischen Bewegung knüpft er wieder an die Orthodoxie an, die ihm in seinem – aufgrund der dortigen kommunistischen Verhältnisse an eine ikonoklastische Verschwörung erinnernden – Heimatland allerdings vorenthalten wird. Anders als die Ikone erfüllt der Film Tarkowskijs keine liturgische Funktion, zumindest nicht im herkömmlichen Sinne. Beachtet man jedoch die durchgängige Selbstinszenierung des Regisseurs in seinen Filmen und seine Beteuerungen, dass der Zustand jener ausweglosen Trauer, die Nostalghia durchzieht, zum Stigma seines eigenen Lebens geworden sei,12 wirkt der Tod Gortschakows als 11 Vgl. Paul Evdokimov: L’Art de l’icône. Théologie de la beauté, Paris 1970. 12 »Wie hätte ich also während der Nostalghia-Arbeiten auf die Idee kommen sollen, der Zustand niederdrückend-auswegsloser Trauer, der diesen Film
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Georgiana Banita Vorahnung eines zumindest im russischen Kulturraum als typisch geltenden Schicksals eines Regisseurs, der in Europa kultisch rezipiert wird. Für einen wahrhaftigen Ikonenmaler des modernen Kinos bezeugt Tarkowskij manchmal auch zu viel Humor (obwohl manche griechischen Ikonen auch etwas Unbeschwertes an sich haben) und eine Vorliebe für die Kontingenz. Es sei hier nur auf die e-adesso-musica-Sequenz hingewiesen, die durch ihren parodistischen Eingriff den ganzen Ernst der Selbstverbrennung des Idioten Domenico wieder aufhebt. Für einen Künstler, der »die Freude als grundlegendes Missverständnis einer jeweiligen Situation« einschätzt, scheint dieser bedrückende Pessimismus geradezu passend. Bei aller Ambivalenz der letzten Vision, die zwischen harmonischer Vereinigung und gekünstelter Paarung changiert, bleibt unbestreitbar, dass der Tod Gortschakows den einzigen Ausweg aus dem Exil darstellt, noch mehr, er ist sogar eine genaue Beschreibung des Emigrantenzustands, wie ihn Tarkowskij 1984 in einem Interview begreift: Auf die Frage eines Journalisten, ob er denn politisches Asyl in Italien in Erwägung ziehe, erwidert Tarkowskij auf gewöhnlich lakonische Art: »Ich erzähle eine tragische Geschichte. Sie können doch keine bürokratischen Fragen stellen. Welches Land? Das weiß ich nicht. Als würden Sie mich fragen, auf welchem Friedhof ich meine Kinder begraben will.«13 Er selbst wurde schließlich in Frankreich bestattet. Das Rätsel um die Darstellbarkeit seiner Nostalgie wurde allerdings, wie das von Tōru Takemitsu im Andenken an den Regisseur komponierte Stück belegt, noch nicht gelöst.14 In der Ikonenmalerei handelt es sich um die Frage: Ist Christus darstellbar? Inwiefern die Nostalgie, diese allumfassende Sehnsucht, visuell verständlich wird, ist auch die Frage, die am Ende des Films noch im Raum steht.
durchzieht, könnte das Los meines eigenen Lebens werden? Wie hätte es mir in den Sinn kommen können, daß ich nunmehr selbst bis ans Ende meiner Tage an dieser schweren Krankheit leiden soll?« (A. Tarkowskij: Die versiegelte Zeit, S. 206) 13 Alberto Crespi: Tempo di viaggio: Interview with Tonino Guerra, RAI 1995: 2. 14 Toru Takemitsu: Nostalgia: In Memory of Andrej Tarkovskij, for violin and string orchestra, Mainz u.a. 1998.
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Laughing back at the colonizer? Religiöse Transgression und groteske Gewalt in Jim Jarmuschs Dead Man. ROGER LÜDEKE
Ob zu Boot, zu Pferd, zu Fuß, im Auto oder im Flugzeug – die Figuren in Jim Jarmuschs Filmen sind unterwegs. Stranger than Paradise (Stranger than Paradise, 1984), der Film, mit dem Jarmusch im Jahr 1984 berühmt wurde, schildert, wie die Ungarin Eva bei ihrem New Yorker Cousin Willie Unterschlupf findet und wie sich dann nach und nach ihre Version des amerikanischen Traums verwirklicht; Mystery Train (Mystery Train) von 1989 beschreibt die Reise eines japanischen Pärchens von Yokohama nach Memphis, Tennessee, auf der Suche nach Spuren ihres Idols Elvis Presley. Im thematischen Bezugsrahmen von Auswanderung, Reise und Fremde bildet die Beschäftigung mit den Filmen von Jim Jarmusch eine besondere Herausforderung, können die genannten Themen doch ohne weiteres als Leitmotive seiner filmischen Arbeit gelten. Schon aus solch knappen Inhaltsskizzen wird jedoch deutlich, dass das Unterwegssein in der Fremde für Jarmusch auch jenseits des bloß Inhaltlichen eine wesentliche Strukturfunktion erfüllt. Zwar greift Jarmusch immer wieder auf ganz verschiedene Genrevorgaben zurück, auf den Samurai-Film in Ghost Dog: The Way of the Samurai (Ghost Dog – Der Weg des Samurai, 1999), in Down by Law (Down by Law – Alles im Griff, 1986) auf den Gefängnisausbruch im Stil von Escape from Alcatraz (Flucht von Alcatraz, Don Siegel, 1979) oder wie jüngst in Broken Flowers (Broken Flowers, 2005) auch auf die Detective Story. Was diese verschiedenen Plot-Modelle jedoch miteinander verbindet, ist dass sie vor allen anderen Subgenres den Gesetzen des road movie gehorchen. Das Grundschema des road movie stellt zugleich das größte Strukturproblem von Jarmuschs Filmen dar: ihre Tendenz zur unverbundenen Reihung, zur Serialität, zum Episodischen. Diese Darstellungstendenz muss nicht so sichtbar werden wie in Night on Earth (Night on Earth, 1991), das unter ein und demselben Titel eine 121
Roger Lüdeke Reihe von fünf handlungslogisch nicht weiter verknüpften nächtlichen Taxifahrten vereinigt. Die Nähe zum Episodischen kann auch latenter bleiben. Zwar scheint allein die Reise von Jarmuschs unbehausten Protagonisten eine lineare Struktur vorzugeben, den Weg von A nach B, aber schnell werden diese Reisen zu lang und zu verworren und entwickeln eine Eigendynamik, der Spannungsbogen löst sich – und nach und nach wird der Weg selbst zum Ziel. All dies bildet natürlich alles andere als ein Werturteil: Die Handlung, die nach Aristoteles bekannter Definition ›als ein Ganzes Anfang, Mitte und Ende besitzt‹, ist schon lange keine ästhetische Norm mehr. Sie gilt für die Tragödie nicht mehr, und erst recht nicht für die Komödie, ist diese doch wesentlich dadurch gekennzeichnet, dass darin eine lineare Rahmenhandlung durch eine Reihe von sich episodisch wiederholenden komischen Fehlhandlungen überlagert wird.1 Tatsächlich sind Jarmuschs Filme über weite Strecken durch solche komödienhaften Strukturen geprägt. Diese Verbindung von linearer Reisehandlung nach den Gesetzen des road movie mit einer Reihe von komisch scheiternden Handlungen nach den Gesetzen der Komödie gilt gerade auch für den Film, der im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen soll. In einem ersten Teil möchte ich mich mit Jarmuschs Film als road movie beschäftigen. Hier werde ich zeigen, wie die Reisestruktur von Dead Man die Grundlage bildet für eine religiös geprägte Erlösungshandlung, die von Jarmusch auf emphatische Weise für ein Projekt der interkulturellen Versöhnung verwendet wird: als Ausgangspunkt nämlich, von dem aus das geschichtlich bestimmte Konfliktverhältnis zwischen englischen Besatzern und indianischen Ureinwohnern Amerikas einer entscheidenden kritischen Revision unterzogen wird. In diesem Zusammenhang erklärt sich nicht zuletzt auch die Funktion, die Jarmuschs auffällige Reverenz an den englischen Dichter William Blake erfüllt, dem der Held von Dead Man seinen Namen verdankt. Der zweite Abschnitt ist den komischen Aspekten von Dead Man gewidmet. Wie nicht anders zu erwarten, ist das Verhältnis zwischen der grotesken Komik von Jarmuschs Film und seiner religiös geprägten Rahmenhandlung alles andere als unproblematisch. Worin das Dilemma genau besteht und wie der Film zu seiner Lösung ein spezifisches Modell der Transgression in der Tradition radikalreligiöser Ästhetiken entwirft, hoffe ich am Ende dieses Versuchs zumindest skizzenhaft beantwortet zu haben.
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Vgl. Rainer Warning: »Elemente einer Pragmasemiotik der Komödie«, in: Wolfgang Preisendanz/Rainer Warning (Hg.): Das Komische, München, 1976, S. 279-333, dem sich die Konzeption meiner Überlegungen zum Komischen in Jarmuschs Dead Man wesentlich verdankt.
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Laughing back at the colonizer?
1. DEAD MAN: ›ROAD MOVIE‹ UND RELIGIÖSE ERLÖSUNGSHANDLUNG Die erste Reiseetappe von Dead Man wird in der Eisenbahn zurückgelegt. Sie führt den von Johnny Depp gespielten Buchhalter Bill Blake von seiner Heimatstadt, dem in Pennsylvania am Lake Erie gelegenen Cleveland, bis in den Grenzbereich der nordkalifornischen Frontier: bis zur Endstation in einen Ort namens Machine. Der fiktive Name des Orts verdankt sich auch der Tatsache, dass er die Metal Works von John Dickinson beherbergt, in denen der junge Accountant aus Cleveland seinen beruflichen Neuanfang sucht. Auf der Figurenebene ist diese erste Bewegungsphase von Cleveland nach Machine als Lösung aus soziofamiliären Bindungen gekennzeichnet: Wie man bereits im ersten Dialog erfährt, lässt der Protagonist seine Verlobte und seine toten Eltern in Cleveland zurück. Zu Beginn der Zugfahrt liest der Buchhalter noch in einem Journal über Bienenvölker, seit Mandevilles böser Fabel der Inbegriff frühkapitalistischer Ordnungsmodelle. Etwas später sieht man den Helden beim wohl kultiviertesten Spiel des bürgerlich sanktionierten Ennuis, er legt Patiencen. Gegen Ende der Reise beginnt sich dies zu ändern. Verschreckt durch die Gewehrschüsse seiner Mitreisenden, die den fahrenden Zug zur Bisonjagd aus offenem Fenster nutzen, schaut er ängstlich zuckend ins Leere. Hier deutet sich bereits an, inwieweit die Reise in den Wilden Westen der Pionierzeit den Übergang von Zivilisation in Barbarei bedeutet, von Bürgerlich-Gesittetem zu Kreatürlich-Animalischem, von städtischem Lebensraum in eine ländliche Todeszone. Tatsächlich herrscht in Machine vorgesellschaftliche Willkürherrschaft und Lynchjustiz. Für den Helden wie für den Zuschauer bestätigt sich dort all das, was schon der Heizer des Zuges, eine Art Charonsfigur, in wenigen Worten ankündigt, als er seinen Fahrgast danach befragt, »why you’ve come all the way out here, all the way out here to hell. […] You are as likely to find your own grave.« Machine ist ein Ort des Chaos, ein Ort der Rechtlosigkeit und der Verfallenheit von alttestamentarischen Ausmaßen. Der erste Gang durch die Hauptstraße von Machine führt den Helden entlang an Särgen, Tierschädeln, Geweihen, abgezogenen Fellen, vorbei an einem wild urinierenden Pferd und vorbei an einem Pärchen, das in einer Häusernische und dennoch gut sichtbar für die Passanten der Fellatio frönt. Der Herrscher über diesen Moloch ist John Dickinson: der Inhaber von Metal Works. Dickinsons Büro ist ein Raum, in dem sich die Grenze zwischen Natur und Kultur, zwischen Industriegesellschaft und tribaler Jagdgemeinschaft, zwischen archaischem Mythos und frühkapitalistischer Rationalität verwischt. Der Buchhalter aus Cleveland benötigt nur wenige Minuten auf dem Firmengelände, um zu wissen, dass er den langen Weg umsonst
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Roger Lüdeke gemacht hat. Der Posten ist längst vergeben. Zigarre im Mund, Gewehr im Anschlag verjagt der vermeintliche Boss den schüchternen Job-Anwärter einigermaßen kurz angebunden aus seinem Reich. So wie Ghost Dog auch ein Samurai-Film ist, so wie Broken Flowers nicht nur road movie, sondern auch detective story, so ist Dead Man auch ein Western. Der Rest des Films, und das sind immerhin ca. zwei Drittel der knapp 2 Stunden, erfüllt die strengen Vorgaben des Genres, in diesem Fall die klassische Verfolgung durch die Einöde. Warum und wie der Held Machine verlassen muss, soll nicht verraten werden. Es hat natürlich etwas mit einer Frau zu tun, ihr Name ist Thel. Wegen ihr muss der Held verletzt weiterreiten. Der Schuss, der ihn ereilt, trifft sein Herz. Die daraufhin eingeleitete Verfolgung wird mit dem wohl klassischsten Sprechakt des Genres eröffnet. Wer ihn spricht ist kein geringerer als Robert Mitchum, der den Gebildeten unter den Verächtern des Westerns z.B. aus Howard Hawks’ El Dorado (El Dorado, 1966) bekannt sein dürfte: »This bastard couldn’t be got too far yet. […] I want him brought here alive or dead don’t matter – though I reckon dead would be easier. [...] Boys, the hunt is on.« Mit klassischer imitatio des Genres hingegen nicht mehr zu verrechnen ist, dass der bereits stark lädierte Buchhalter von einem Indianer notversorgt wird und dass dieser Indianer ihn fortan auf seiner Flucht vor den Verfolgern begleiten wird. Tatsächlich hat die Western-untypische Figurenkonstellation im letzten und längsten Teil von Dead Man nachhaltige Folgen: Durch sein Bündnis mit dem Indianer, der den kommentarwürdigen Namen Nobody trägt, gelangt der Buchhalter aus Cleveland jenseits die Frontier und damit in genuin indianisches Gebiet. Der infernalische Ordnungsraum des frühindustriellen und kolonialen Amerikas scheint verlassen. Zunächst herrscht die Ordnung des Waldes, der Flüsse, des Himmels und der Meere. Wir befinden uns im Geltungsbereich der natives oder dem, was sich der interkulturell geschulte Zuschauer darunter gerne vorstellen möchte. Für den Indianer ist der schussverletzte Buchhalter nicht nur ein »stupid fucking white man«, sondern vor allem anderen ein dead Man. Und dies in zweierlei Hinsicht: Zum einen weil er mit dem geschulten Blick eines wohl auch medizinmännisch Grundausgebildeten erkennt, dass für Leib und Leben seines Patienten keine Rettung mehr besteht. Seine einzige Aufgabe sieht er folglich darin, seinen lädierten Weggenossen zum Pazifik zu bringen, um ihn dort in ein stabiles Kanu zu setzen und in die Fluten zu stoßen: »I will take you to the bridge made of waters. To the mirror. Then you will be taken up to the next level of the world. To the place where Wil-
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Laughing back at the colonizer? liam Blake is from. Where his spirit belongs. I must make sure that you pass back through the mirror. The place where the sea meets the sky.« Auch in einer weiteren Hinsicht ist dieser William Blake aus Cleveland ein dead man. Für den Indianer nämlich ist er eine Reinkarnation des romantischen Dichters gleichen Namens. Als der Indianer die Wunde von Blake verarztet hat – die Kugel, jedem Westernkenner ein geläufiger Sachverhalt, steckt fest –, fragt der Indianer seinen Patienten nach dessen Namen. Als er diesen gehört hat, springt er auf und schreit: »You were a poet, and a painter. And now you are a killer of white men.« Sein Gegenüber weiß nicht, wovon er spricht, er kennt den Dichtermaler nicht. Um seine Worte zu bekräftigen, zitiert Nobody einige Verse aus einem frühen Gedicht von Blake, den Auguries of Innocence.2 Aber auch das hilft nichts: William Blake hat von William Blake noch nie gehört: Every Night & every Morn Some to Misery are Born Every Morn & every Night Some are Born to sweet delight Some are Born to sweet delight Some are Born to Endless Night.
Einmal auf diese Spur gelenkt, sucht man weitere Zitate aus Blakes Werk, und man findet sie. Einem missionarischen Händler, der in dem Indianer den leibhaften Teufel sieht, begegnet Nobody mit einer Passage aus Blakes The Everlasting Gospel: »The visions of Christ that thou doest see is my vision’s greatest enemy.« 3 Zahlreiche Aphorismen, die Nobody zum Besten gibt, klingen dagegen so authentisch indianisch, dass man sie kaum im Blakeschen Oeuvre verorten würde. So etwa das folgende Sprichwort der Hölle aus Blakes Marriage of Heaven and Hell: »The eagle never lost so much time, as when he submitted to learn of the crow.«4 Schließlich ist auch der Name der Frau, wegen der unser Held in Bedrängnis gerät, eine klare Refererenz an den poet painter: Denn Thel Russel verdankt ihren Namen einem kurzen Versepos von Blake, das im Jahr der Französischen Revolution entstand: The Book of Thel. Die Frage, die sich nun stellt, ist in zwei Worten rasch zu formulieren: Why Blake? Was für eine Funktion erfüllt dieser intermediale
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William Blake: »Auguries of Innocence«, in: The Complete Poetry and Prose, hg. v. David Erdmann, New York 1988/2001, S. 492. William Blake: »The Everlasting Gospel«, in: The Complete Poetry and Prose, hg. v. David Erdmann, New York 1988/2001, S. 524. William Blake: »Marriage of Heaven and Hell«, in: The Complete Poetry and Prose, hg. v. David Erdmann, New York 1988/2001, S. 37.
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Roger Lüdeke und interauktoriale Verweis vom Film auf das mit diesem Autorennamen verbundene literarische und bildnerische Werk? Wie der von ihm hassgeliebte John Milton ist auch die politisch motivierte Dichtung William Blakes zutiefst religiös geprägt: Dementsprechend arbeiten seine Werke mit der semantischen Leitdifferenz zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen innerweltlichem tempus und außerweltlicher eternitas, zwischen Immanenz und Transzendenz. Seine Texte zielen auf den Nachweis einer übersinnlichen Einheit, die jenseits innerweltlicher Unterschiede gelegen ist. Dem Blakeschen Programm einer poetry of vision zufolge entpuppt sich das, was irdischer Erfahrung und Wahrnehmung als Differentes erscheint, als Teil einer grundlegenderen göttlichen Einheit. Bündig formuliert wird dies in einer Passage aus Blakes The Marriage of Heaven and Hell, die übrigens auch in den Paratext von Dead Man Eingang gefunden hat, in das Musikvideo, das dem von Neil Young komponierten und gespielten Titelsong von Dead Man gewidmet ist. Dort ist die folgende berühmte Passage aus Marriage zitiert, in der Blake sein ästhetisches Programm wie folgt resümiert: The ancient tradition that the world will be consumed in fire at the end of six thousand years is true. as I have heard from Hell./For the cherub with his flaming sword is hereby commanded to leave his guard at the tree of life, and when he does, the whole creation will be consumed, and appear infinite. and holy whereas it now appears finite & corrupt.5
Titel wie The Marriage of Heaven and Hell oder der bereits zitierte Passus aus The Everlasting Gospel, der auf »my vision of Christ«, also auf einer radikal eigenständigen Aneignung der biblischen Botschaft besteht, machen bereits deutlich, dass Blakes Religiosität deutlich außerhalb des Geltungsbereichs der gesellschaftlich institutionalisierten und staatlich sanktionierten Kirche gelegen ist. Zwar wurde immer wieder der Versuch unternommen, Blake als typischen Dissenter zu charakterisieren, als Vertreter jener religiösen Gegenströmungen zur Anglikanischen Staatskirche, wie sie die englische Geschichte und Kirchengeschichte insbesondere im 18. Jahrhundert prägen. Aber obwohl sich manche von Blakes Positionen mit denen der Methodisten, Deisten, Muggletonians, Baptisten oder anderer Gruppierungen decken, scheint es insgesamt sinnvoller, den Zusammenhang seiner religiösen Auffassungen und Neudeutungen als Ausprägung einer radikalen Privatreligion zu begreifen. Einer Privatreligion, die es Blake etwa in seinem Book of Urizen von 1794 erlaubt, eine ganz eigene Version der Schöpfungsgeschichte und Genealogie von Gesetz und Recht vorzulegen, die mit der offiziellen Version von Genesis und Sündenfall wie auch der 5
W. Blake: The Marriage of Heaven and Hell, S. 39.
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Laughing back at the colonizer? exegetischen Tradition in selbstbewusste und kreative Konkurrenz tritt. Ein gutes Beispiel für die narrative Grundstruktur von Blakes religiöser Dichtung bietet das Versepos, der die Geliebte von Blakes Namensvetter in Dead Man ihren Namen verdankt: The Book of Thel aus dem Jahre 1789. Darin wird geschildert, wie Thel sich aus der Gruppe ihrer Schwestern löst und von einer unschuldig-vegetativen Existenz zur Erfahrung ihrer irdischen Vergänglichkeit gelangt: Jenseits der hierdurch gesetzten Grenze zwischen Leben und Tod, zwischen Werden und Vergehen öffnet der Text jedoch ein weiteres semantisches Feld. Dort wird der irdische Wechsel von Leben und Tod im Geltungsbereich eines ewigen Lebens überboten und stillgestellt: Das lernt Thel von der Wolke, die ihr auf ihrer Wanderung begegnet und ihr sagt: »O maid I tell thee, when I pass away, it is to tenfold life, to love, to peace, and raptures holy.«6 »Did you kill the white man who killed you?«, fragt Nobody seinen Weggenossen, und dieser antwortet: »I’m not dead. Am I?« Tatsächlich ist auch der indianische Ordnungsraum in Dead Man, in den der Protagonist nach seinen negativen Erfahrungen im höllischen Machine eintritt, ein solch religiös geprägter Schwellenraum im Übergang von Diesseits zu Jenseits. Mit seinem Auszug aus Machine verlässt auch der filmische Blake wie die Protagonistin aus Blakes Book of Thel den Zustand der menschlichen Gefallenheit und des infernalischen Chaos, um zunächst in einen paradiesischen Zustand rekonstituierter Unschuld einzutreten. Der von dem Indianer Nobody vertretene Ordnungsraum ist ein Raum mystisch und animistisch geprägter Spiritualität. Das wird schon bei der ersten Begegnung zwischen Blake und Nobody deutlich, wo Nobody erklärt, dass er seinen Auftrag, für Blake zu sorgen, der Botschaft der ›sprechenden Steine des Feuers‹ entnommen hat. Auch Nobodys Glaube an Blakes Reinkarnation entspricht im weitesten Sinne der indianischen Vorstellung von der Präexistenz der Seele und ihrer Metamorphose in verschiedenen Körpern, die nicht zuletzt die Grundlage des indianischen Ahnenkults bildet. Selbst dass Blake auf seiner langen Reise irgendwann einmal ganz profane Hungergefühle empfindet, ist in diesem religiösen Schwellenraum kein wirkliches Problem. In den Worten Nobodys: »The quest for vision is a great blessing, William Blake. To do so one must go without food and without water. All the sacred spirits recognize those who fast. It’s good to prepare for a journey this way.« Ziel der Pilgerschaft von Nobody und Blake ist eine Siedlung von Makah-Indianern, ein Stamm, der an der Küste des Nordpazifiks
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William Blake: »The Book of Thel«, in: The Complete Poetry and Prose, hg. v. David Erdmann, New York 1988/2001, S. 5.
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Roger Lüdeke heimisch war. Dort vollendet sich Nobodys visionäre Mission: In ein von den Makah angefertigtes Spezial-Kanu wird Blake gelegt und in die Fluten gestoßen. Hier bestätigt sich der indianische Ordnungsraum weit jenseits der Frontier auch in filmästhetischer Hinsicht als religiös geprägter Schwellenraum der Entdifferenzierung, als Raum kosmisch gehaltener Ununterschiedenheit: Unmittelbar vor dem Abspann versinken Himmel und Wasser in ein monochromes Grau.7 Sub specie aeternitatis lösen sich die weltlichen Differenzen und Gegensätze auf, sie werden transzendiert durch das, was Niklas Luhmann einmal den »gestaltlosen, formlosen Letztsinn«8 des Religiösen genannt hat:
Es lohnt sich, diese Lesart der Reisehandlung von Dead Man als religiöse Erlösungshandlung noch etwas weiter zu verfolgen. Dann nämlich zeigt sich, dass die Struktur dieses semantischen Schwellenraums, der im Diesseits bereits so nachdrücklich ein Jenseits innerweltlicher Differenzen suggeriert, auch als Ort einer kulturellen Versöhnung fungiert. Unter dem Blickwinkel der Ewigkeit nämlich finden auch Herrscher und Beherrschte, Kolonisatoren und Kolonisierte sowie nicht zuletzt christlicher und außerchristlicher Herrschaftsraum zueinander. In Dead Man bestätigt sich diese Annäherung der kulturell geschiedenen Geltungsbereiche zunächst unter negativen Vorzeichen: Schon in den ersten Dialogen zwischen Nobody und Blake zeigt sich nämlich, dass nicht nur der koloniale, sondern auch der indianische Ordnungsraum durch soziale Gewalt und Ausgrenzung gekennzeichnet ist. Das paradiesische Bild des animistischen Naturraums beginnt zu bröckeln, wenn Nobody sei7 8
Quelle für die in diesen Beitrag aufgenommenen Bildzitate ist: Dead Man (J. Jarmusch), DVD, Kinowelt Home Entertainment, 2005. Niklas Luhmann: Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt/Main 2000.
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Laughing back at the colonizer? nem Begleiter erklärt: »My blood is mixed. My mother was Ungumpe Piccana, my father is Absolucca. This mixture was not respected. [...] They ridiculed me, my own people. And I was left to wander the earth alone«. So ist auch nicht überraschend, dass der Gang durch die Makah-Siedlung am Ende des Films nahezu spiegelbildlich an Blakes ersten Gang durch Machine zu Beginn des Films anschließt. Mütter mit kranken Kindern, Knochenhaufen, Leichendecken und Totenköpfe machen deutlich, dass die Unterschiede zwischen Frontier und indianischem Gebiet sich zuletzt einebnen. Sie sind beide innerweltliche Ausprägungen lebensweltlicher Gewalt, die erst in der am Ende des Films eröffneten Perspektive eines transzendenten Letzthorizonts überwindbar wird. Während dies noch eine negative Form der interkulturellen Annäherung bildet, die beide Kulturbereiche unter dem Aspekt ihrer irdischen Verfallenheit auf eine Ebene stellt, gibt es durchaus auch positive Ausprägungen der von Dead Man in Aussicht gestellten Versöhnung. Besonders charakteristisch hierfür ist, wie sich am Ende von Jarmuschs Film die ikonographischen Codes der christlichen und der indianischen Kultur zunehmend zu überlagern beginnen: Insbesondere die letzte Etappe der Reise ist gesäumt von einer Fülle von ikonographischen Referenzen, in der sich die Vision kultureller Einheit auch auf der Ebene der mise en scène verwirklicht. Eine Einstellung zeigt in deutlichem Bezug auf Psalm 42 einen Hirsch am Rande eines Flusses: »As the hart panteth after the water brooks, so panteth my soul after thee, O God.«
Die tradierte Lesart, nach der der Hirsch unter großem Durst leidet, weil er Schlangen vertilgt, führte seit den Kirchenvätern zu der typologischen Deutung des Hirsches als Christus-Motiv, das veran129
Roger Lüdeke schaulicht, wie der Heiland die große Schlange des Teufels mit himmlischen Wasser tötet. Ein Beispiel für die bildliche Umsetzung des Hirsches als Überwältiger der Schlange findet sich etwa im Hintergrund von Dürers Adam und Eva (Sündenfall) (1504, Museum of Fine Arts, Boston, Mass.).
Natürlich ist diese ikonographische Assoziation auf den ersten Blick nicht zwingend. In Dead Man wird sie aber zusätzlich dadurch motiviert, dass man in der Einstellung zuvor in einer Nahaufnahme die blutüberstömte Hand von Blake sieht, was wiederum auf die Kreuzigungs-Ikonographie anspielt. Auffällig ist jedoch, dass die Wahrnehmung des Hirschs am Wasserrand perspektivisch Nobody zugeordnet ist, und unmittelbar danach sehen wir, wie Nobody auf das schaut, was der Mitteleuropäer gerne als Totempfahl bezeichnet, der in Wirklichkeit aber ein indianischer Wappenpfahl ist, der nicht das Totemtier, sondern das Wappentier eines indianischen Familienstamms abbildet. Dies hat zur Folge, dass die Serie von Tier-Motiven, dem Hirsch geht z.B. eine Einstellung, die ein Pferd zeigt, voraus, genauso gut auch im indianischen Geltungsbereich verortet werden kann. Schließlich sehen wir etwas früher schon den reichlich lädierten Blake in Aufsicht neben einem toten Rehkitz auf dem Waldboden liegen. Am Hals des Rehs sehen wir eine frische Einschusswunde. Abgesehen vom allgemeinen Zeichen des Wundmals, bildet dies natürlich keinen gesicherten Verweis auf die fünfte Wun-
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Laughing back at the colonizer? de Christi, die sich bekanntlich an anderer Körperstelle befindet. Aber das ändert nichts. Denn was alle diese Fälle miteinander verbindet, ist dass sie eine allgemeine ikonographische Systemreferenz etablieren, eine Systemreferenz jedoch, in der christlicher und indianischer Geltungsbereich des Religiösen, indianische Wappen- oder Totemtiere und christliche Tiersymbolik miteinander auch bildlich vereinbar erscheinen. Vor dem Hintergrund eines nicht näher bestimmten kultur- und geschichtsübergreifenden Transzendenzversprechens wird so erneut die Vision einer interkulturellen Versöhnung sub specie aeternitatis entworfen. Aus diesen Beobachtungen erklärt sich auch, welche Funktion der Dichter William Blake und sein Werk in Jarmuschs Film erfüllt. Tatsächlich fungiert der historische Blake als Mittler der hier entworfenen kulturellen Versöhnung: als englischer Vertreter einer christlich geprägten aber gleichwohl überzeitlichen Spiritualität, die nicht an staatlich sanktionierte oder gesellschaftlich institutionalisierte Formen des Religiösen gebunden ist. So verkörpert der historische Blake sozusagen die gute ›allgemein menschliche‹ Seite der englischen Kolonisatoren, indem er eine überkulturelle Form des Jenseitsbewusstseins und des Jenseitsbedarfs repräsentiert, die über nationale und historische Unterschiede hinaus ihre gesellschaftspolitische Wirksamkeit entfalten kann. Der historische Blake markiert Grundlage und Notwendigkeit einer Versöhnung der Kulturen. In Parenthese sei angemerkt, dass dies auch der Anlass wäre, um auf die amerikanische Blake-Rezeption im 20. Jahrhundert zu sprechen zu kommen, in der auch Jarmusch ganz deutlich steht: William Burroughs und andere Beatniks der 40er bis 60er Jahre haben Blake sowohl wegen der sprachlichen Radikalität wie auch aufgrund der esoterisch-spirituellen Dimension seiner Dichtungen für sich neu entdeckt. Dasselbe gilt für die Rockgruppe The Doors, die ihren Namen den »Doors of Perception« verdankt, die Blake in Marriage of Heaven and Hell einer reinigenden Erweiterung unterziehen will, um dem Menschen eine Wahrnehmung des ›infinite‹ und des ›holy‹ zu ermöglichen.9 Auch dass die bereits zitierten Verse aus Blakes »Auguries of Innocence« in einem Song der Doors auftauchen, passt in dieses Bild. Aber auch wenn dieser kulturgeschichtliche Rezeptionskontext die bisherige Betrachtung zu stützen scheint – wer Jarmuschs Filme oder Dead Man kennt, wird sich gerade angesichts dieses populärkulturell geprägten Rezeptionskontexts über die bisherige Rekonstruktion doch etwas gewundert haben, passt sie in ihrer religiösen Beschaulichkeit doch so gar nicht zur offiziellen Autor9
Christoph Bode: »Schreiendes Baby! Grausamer Mann! William Blake, entwickelt (Anglistische Perspektiven)«, in: Anglistik. Mitteilungen des Deutschen Anglistenverbands, 15/11, 2004, S. 119-135.
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Roger Lüdeke Imago des Kultregisseurs, zu Jarmuschs exorbitantem CoolnessFaktor, seiner fantastischen Street Credibility. Dementsprechend widmet sich der zweite Abschnitt meiner Überlegung einer ganz anderen Wirkungsebene: der grotesken Komik von Dead Man, die den imaginären Bedürfnissen der Pop-Ästhetik weitaus eher zu entsprechen scheint. Zur Verdeutlichung dient mir eine kurze Szene aus Dead Man, in der Jarmusch nun tatsächlich ein ganz anderes, für sein ästhetisches Programm womöglich repräsentativeres, Register anschlägt.
2. DAS KOMISCHE IN DEAD MAN Nobody und sein Begleiter beobachten aus erhöhter Position ein merkwürdiges Dreigespann von Bisamrattenjägern. Es besteht aus dem von Billy Bob Thornton gespielten Big George Drakoulious und Benmont Tench, gespielt von Jared Harris. Zweifellos die beste Rolle hat Iggy Pop abbekommen. Iggy Pop, in wilderen Zeiten der heroinselige beste Kumpel von David Bowie, spielt in Jarmuschs Film die Sally. Sally hat den weiblichen Part in der Männergemeinschaft der Beutelrattenjäger übernommen: Dass ausgerechnet Iggy Pop, dem man gerne nachsagt, dass er »schon Punkrocker [war], als der Irokesenschnitt noch [gar] nicht erfunden war«10, die Rolle von Sally spielt, trägt einiges zur grotesken Wirkung dieses cross dressings bei. Iggy Pop hat ein Häubchen auf und kocht am Lagerfeuer Bohneneintopf für seine Kameraden. Bevor es Essen gibt, hört man zunächst im Off, wie er seinen Weggenossen die Geschichte vom Goldlöckchen und den drei Bären zum Besten gibt, eine im amerikanischen Sprachraum sehr beliebte Kindergeschichte, die allerdings – ein kleiner Anachronismus des Films – erst 1920 erschien. Ein kleines blondes Mädchen gerät in ein Haus, das normalerweise von drei Bären bewohnt wird, die aber auf Achse sind. Das Mädchen ist hungrig, es isst etwas von dem Grießbrei der Bären, sitzt auf ihren Stühlen und schläft in ihren Betten. Die Bären kommen nach Hause, finden das Mädchen und alle befreunden sich. So die gängige Version. Sally wandelt die Geschichte nur leicht ab: MamaBear und Papa-Bear skalpieren Goldlöckchen nach ihrer Rückkehr und machen aus dem blonden Haar des Mädchens ein Pullover für Baby Bear. Die Märchenstunde geht weiter mit einer anschaulichen Episode aus der Geschichte der Christenverfolgung: Sally erzählt, wie Nero ausgewählte Christen zur Belustigung seiner Abendgesellschaft mit Knoblauch eingerieben und gewürzt, sie in Säcke ein-
10 Iggy Pop: »Ich habe einen Traum. Aufgezeichnet von Jörg Böckem«, in: Die Zeit, 1999 (http://www.zeit.de/archiv/1999/44/199944.traum_iggy_pop. xml vom 6. Juli 2006).
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Laughing back at the colonizer? genäht und dann den Hunden zum Fraß vorgesetzt hat. Nach diesem hypodiegetischen Exkurs gibt’s auch auf diegetischer Ebene erstmal Abendessen: Bohnen mit Beutelrattenfleisch. Wie es sich gehört, spricht Sally auf Big Georges Bitte das obligate Tischgebet: »This day will the LORD deliver thee into mine hand; and I will smite thee, and take thine head from thee; and I will give the carcases of the host of the Philistines this day unto the fowls of the air, and to the wild beasts of the earth. Amen.« Der Passus stammt aus dem 17. Kapitel des ersten Buch Samuel, in dem David dem Goliath, kurz bevor er ihn mit der Schleuder erledigt, sein erwartbares Schicksal schildert: »What’s a philistine?«, fragt Big George seine Sally, und Sally antwortet: »Well, it’s just a real dirty person.« Als Blake auftaucht, wird er von den Trappern genau taxiert: Seine ganze Existenz wird auf weitere Verwertbarkeit untersucht: Hut, Brille, Schuhe, Anzug, ja selbst seine Haare scheinen eine vielversprechende Beute. Schließlich geraten Big George und Benmont in Streit darüber, wer sie haben darf. »You had the last philistine. This one’s mine.« Big George will Blake daraufhin mit den Worten erschießen: »If I don’t get you, I guess, Nobody will get you.« In letzter Minute erfüllt sich das hier angelegte Wortspiel, und der Indianer Nobody klärt die Lage, indem er Big George von hinten die Kehle durchschneidet. Blake erschießt Benmont. Nobody gibt Sally den Rest. Zum Auftakt dieser Szene hatte Nobody seinem Weggenossen angekündigt, dass es sich um einen Test handle: »It’s a test.« Nun weiß der Zuschauer, was damit gemeint sein könnte. Denn ein Test ist diese Szene in der Tat, da sie gleichsam die negative Probe aufs Exempel der Möglichkeit kultureller Versöhnung bildet, die der Film im Rahmen seiner Haupthandlung so nachdrücklich in Aussicht stellt. Tatsächlich handeln nämlich alle Intertexte, auf die hier in knapp zehn Minuten Filmzeit angespielt wird, von einem einzigen Thema: Kindermärchen, Altes Testament, Odyssee und die Geschichte der Christenverfolgung haben ein Strukturmerkmal gemeinsam. Sie handeln von der gewaltsamen Ausgrenzung des kulturell Fremden: Die Episode aus den jahrhundertelangen Kämpfen der Philister mit den Israeliten um die Besiedlung des heutigen Südens von Israel, Odysseus’ listiges Spiel mit seinem Namen, durch das er den Polyphem besiegt, und auch die Christenverfolgung Neros variieren einen einzigen grand récit, der von der gewalthaften Lösung kultureller Differenz erzählt. Nicht zuletzt auf diegetischer Ebene der vorliegenden Szene wird dieses Handlungsschema auf geradezu archetypische Weise vorgeführt: Ein Fremder dringt in einen bestehende community ein, und dafür droht ihm nichts Geringeres als der Tod.
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Roger Lüdeke Die zentrale Wirkungsdimension dieser Episode darf hierbei jedoch nicht ausgeblendet werden. Das Gezeigte ist in der Tat einigermaßen komisch, grotesk. Die Szene bietet den Anlass zu wenn auch eher verhaltenem als befreitem, eher ersticktem als enthemmtem Lachen.11 Worüber aber wird gelacht und weshalb? Die erste Frage scheint relativ leicht zu beantworten: Gegenstand der Komik sind die Figuren der Trapper. Sie erscheinen als komische Figuren. Es handelt sich hier im Wesentlichen um das, was man seit Bergson als Charakterkomik bezeichnet.12 Die zweite Frage, worin diese Komik ihren Anlass findet, lässt sich ebenfalls leicht beantworten. Zunächst ist hierbei die klassische dupeur dupée-Struktur zu berücksichtigen. Die vermeintlich ›harten Jungs‹ glauben den unsicher wirkenden Blake in ihrer Gewalt und werden schließlich selbst überlistet. So bildet die Episode den Anlass zu einem recht schadenfrohen Lachen. Daneben wirken Verfahren, die man im Sinne von Michail Bachtins Untersuchung zur karnevalistischen Populärkultur als komische Mésalliance bezeichnen könnte.13 Kulturell und geschichtlich Fernstes wird hier durcheinander gewürfelt: Altes Testament trifft auf Kindererzählung, Popmusik auf Christenverfolgung. Dadurch scheinen sich auch prominente Funktionstheorien des Komischen zu bestätigen, demgemäß Lachen die Reaktion auf eine »Gegensinnigkeit« ist, die, wie Helmut Plessner schreibt, »gleichwohl als Einheit sich vorstellt und hingenommen werden will«14 und – im Sinne Joachim Ritters – in dieser Eingrenzung des kulturell Ausgegrenzten die Kontingenz, das Auch-andersmöglich-Sein gesellschaftlicher Normativität markiert. 15 Festzuhalten ist jedoch, dass solche Mésalliancen von Hohem und Niedrigem, Wertvollem und Nichtigem, Häuslich-Geschütztem und PerversBedrohlichem, von historisch und kulturell Verschiedenem hier durchgehend auf die Erfordernisse der Charakterkomik bezogen bleiben. Denn die Einheit dieser Gegensinnigkeiten wird ja erst durch die Trapper gestiftet. Erst aus ihrer monomanen Perspektive entpuppen sich alle genannten Bezugsfolien als je neuer Anlass für 11 Zum Begriff des erstickten Lachens vgl. Wolfgang Iser: Die Artistik des Mißlingens. Ersticktes Lachen im Theater Becketts, Heidelberg 1979. 12 Vgl. Henri Bergson: Das Lachen. Ein Essay über die Bedeutung des Komischen, Übers.v. Roswitha Plancherel-Walter, Darmstadt 1901/988. 13 Vgl. Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Übers.v. Gabriele Leupold, Frankfurt/Main 1965/1988. 14 Helmuth Plessner: Lachen und Weinen. Eine Untersuchung nach den Grenzen menschlichen Verhaltens, Bern 1941/1961, S. 111. Vgl. R. Warning: Elemente einer Pragmasemiotik der Komödie. 15 Vgl. Joachim Ritter: »Über das Lachen«, in: Subjektivität, Frankfurt/Main 1940/1974, S. 62-69. Vgl. R. Warning: Elemente einer Pragmasemiotik der Komödie, S. 325ff.
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Laughing back at the colonizer? übelste Gewaltphantasien und Gewalthandlungen. Und genau in dieser übersteigerten Fixierung auf Gewalt liegt die Komik dieser Figuren begründet. Dies könnte also den Anlass für eine eher unproblematische Lesart der komischen Episoden in Jarmuschs Film eröffnen. Man könnte nämlich vermuten, dass hier im Sinne Bergsons ganz einfach die sozial und kulturell unbeweglichen Figuren der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Die übertriebene Gewaltbereitschaft der Trapper und ihre interkulturelle Unflexibilität würden hier also im Sinne eines gesellschaftlich inakzeptablen Verhaltens verlacht, relativiert und dadurch korrigiert. Zwar droht die fixe Idee sozialer Gewalt das umfassende Projekt der kulturellen Versöhnung zu unterlaufen, aber gerade dadurch dass diese Fixierung auf Gewalt immer wieder, nicht nur in dieser Episode, im komischen Scheitern, als komische Fehlhandlung vorgeführt wird, ist die damit einhergehende Bedrohung doch zugleich wieder aufgehoben und damit die normative Gültigkeit der religiösen Versöhnungshandlung bestätigt. Dem entspräche ferner, dass die komischen Episoden in Dead Man in großer Mehrzahl die Kolonisatoren zum Gegenstand haben. Zwar ist auch Nobody allein durch seine Physiognomie eine latent komische Figur, und gleiches gilt für Johnny Depp, dessen Anzug von Robert Mitchum auch mal als »clown’s suit« bezeichnet wird. Durch die zentrale Rolle, die Nobody und Blake im Rahmen der übergreifenden Erlösungshandlung spielen, wird ihr komisches Potential jedoch massiv eingeschränkt. Ab und an erzeugen Nobody und sein neuer Freund vielleicht ein sanftes Lächeln, mit der drastisch-grotesken Komik der anderen Episoden, die ihren Verfolgern gewidmet sind, lässt sich dies jedoch in keiner Weise vergleichen. Einer der Killer etwa, die den Protagonisten und seinen indianischen Helfer auf Anweisung von Dickinson verfolgen, leidet unter massiver Logorrhoe. Mit offenem Hosenlatz und nicht endenden Wortkaskaden klaut er seinen mitreisenden Killerkollegen den letzten Nerv. Zur Strafe wird er von einem seiner Mitreisenden schließlich geschlachtet und aufgegessen. Der Menschenfresser wiederum leidet nicht erst nach seinem Schmaus unter Zahnweh und kühlt sich doof glotzend die Backe – kurz, die Killer werden ebenso der Lächerlichkeit preisgegeben wie schon das Trapper-Trio. Immer wieder werden ihre unangemessene Gewaltbereitschaft und ihre Unfähigkeit zur spirituell-ganzheitlichen Betrachtung komisch bloßgestellt. In dieser Lesart also würden die komischen Episoden die positive Norm der Rahmenhandlung bestätigen, die sich am Ende durchsetzt. Die Trapper und Killer, die Figuren aus dem Geltungsbereich der Frontier wären so gesehen typisch komische Charaktere, die aus ihren Fehlhandlungen nichts lernen und am Ende auch scheitern.
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Roger Lüdeke Zudem wäre Dead Man damit ein repräsentatives Beispiel für eine Form der Komik, die sich gerade im Zusammenhang der postkolonialen Ästhetik immer wieder findet. Sie ermöglicht ein Verlachen der kolonialen Herrscher, ein »laughing back at the colonizer«, wie dies in der einschlägigen Literatur in Anlehnung an den Gründungstext der postcolonial studies von Ashcroft, Griffiths und Tiffin heißt. 16 Laughing back wäre dementsprechend eine Form dessen, wie The Empire writes back, mit dem Ziel, die Hegemonialmacht der Kolonisatoren zu profanieren und sich in der komischen Subversion geschichtlich und kulturell überkommener Wert- und Sinnpositionen einen Freiraum der eigenen Identitätsbildung zu erspielen. Nun gibt es aber offensichtlich auch eine andere Betrachtungsweise des Films, die stärker den Konflikt zwischen komischen Handlungen und religiöser Rahmenhandlung betont. Wie gesehen, bildet den Lachanlass in den komischen Episoden zumeist ein grotesk übersteigertes Gewaltverhalten. Aus dieser Negativität des Lachanlasses folgt jedoch, dass man sich als Zuschauer nicht völlig unbefangen der positiven Erfahrung des Lachens hingeben kann.
3. KOMISCHE ÜBERSCHREITUNG ALS RELIGIÖSE TRANSGRESSION Bei der Trapper-Szene erstarrt das Lachen des Betrachters nicht zufällig in dem Moment, in dem Nobody und Blake mit den Trappern kurzen Prozess machen. Das Verlachen der Trapper auf Seiten der Zuschauer korrespondiert auf der Handlungsebene mit deren Tötung. Hier zeigt sich ein latent aggressiver Aspekt des Komischen, der sich ausgehend von Freuds Witztheorie leicht weiter ausführen ließe. In seiner letalen Ausprägung widerspricht das komische Scheitern der Figuren aber ganz deutlich einer der wichtigsten Strukturbedingungen der Komödie: der ›komischen Enthebbarkeit‹17 der gezeigten Fehlhandlungen. Nicht umsonst gestaltet die klassische Komödie noch das endgültige Scheitern der komischen Charaktere in der Regel so, dass eine Reintegration der Gescheiterten weiterhin möglich bleibt (die Gültigkeit dieser Norm bestätigt etwa ein Blick in die lange Diskussion um das Ende von Shakespeares Merchant of Venice). Auch wenn der komische Alte der klassischen Komödie immer wieder die Liebespläne der Jungen zu durchkreu16 Bill Ashcroft/Gareth Griffiths/Helen Tifffin: The Empire writes back. Theory and Practice in Postcolonial Literatures, London, New York 1989. Vgl. Susanne Reichl /Mark Stein: Cheeky Fictions. Laughter and the Postcolonial (Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft 91), Amsterdam, New York 2005. 17 Karlheinz Stierle: »Komik der Handlung, der Sprachhandlung, der Komödie«, in: Wolfgang Preisendanz/Rainer Warning (Hg.): Das Komische, München 1976, S. 237-268.
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Laughing back at the colonizer? zen versucht und genau an diesem Vorhaben zuletzt komisch scheitert, darf er doch, in den meisten Komödien zumindest, an der abschließenden Hochzeit teilnehmen und wird so in die Lachgemeinschaft reintegriert. Aristoteles’ Poetik definiert das Lächerliche als Verletzung von normativ Erwartbarem, sofern diese Verletzung »nicht schmerzt«.18 In Dead Man droht nicht nur die Verletzung der Norm zu schmerzen, sondern auch ihre lachende Korrektur. Das schadenfrohe Verlachen der Trapper vollzieht hier einen analogen Akt der sozialen Aggression und Ausgrenzung, der in seiner grotesken Übersteigerung und monomanen Fixierung zunächst lediglich den Gegenstand des Lachens zu bilden schien. Lachen und Belachtes erweisen sich hier in einer geradezu unheimlichen Verbundenheit, und genau dies scheint, neben der Negativität der Lachanlässe, ein wesentlicher Grund dafür, dass Dead Man in den meisten Fällen ein nur ersticktes Lachen erzeugt, das einem schnell im Halse stecken bleibt. Tatsächlich aber wird gelacht, und die Frage ist angesichts des geschilderten Skandalons – warum? Um ein gänzliches Erstarren unseres Lachens zu verhindern, bedient sich Jarmusch eines altbewährten Verfahrens der Komödie. Die Möglichkeit stärkerer Gefühle seitens der Zuschauer schaltet er dadurch aus, dass er das Dargestellte durch die Betonung der Darstellungsverfahren immer wieder in Distanz rückt.19 Dadurch dass er immer wieder die Illusion des Dargestellten durchbricht, erzeugt er jene insensibilité und Indifferenz, jene anesthésie momentanée du coeur, die auch Bergson als für das Komische notwendige Grundstimmung beschrieben hat. In der Trapper-Szene geschieht dies etwa dadurch, dass in dem Moment, in dem Nobody Big George von hinten die Kehle durchschneidet, mit heftigem Blitz und Donner ein Gewitter losbricht, was die konventionalisierten Verfahren filmischer Gewaltdarstellung ins Bewusstsein ruft. Auch die crossgedresste Besetzung mit dem Punkstar wirkt in anachronistischer Weise illusionsstörend, auch sie macht uns die Gemachtheit des Gezeigten bewusst. Gleiches gilt für Sallies Begleiter, deren Namen das Zielpublikum von Jarmuschs Filmen ebenfalls leicht als Verweis auf die zeitgenössische Musikkultur dechiffrieren kann: Der Namen von Big George ist eine deutliche Anspielung auf den Produzenten der Gruppe Jayhawks, Tench ist ein Hinweis auf ein Mitglied der Band Tom Petty and the Heartbreakers – all diese Verfahren stützen die komische Kommunikationssituation, weil sie den Zuschauer emotional entlasten und es ihm dadurch ermöglichen,
18 Vgl. R. Warning: Elemente einer Pragmasemiotik der Komödie, S. 303. 19 Zu Verfremdung und Fiktionsironie der Komödie vgl. ebd., S. 311ff.
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Roger Lüdeke auch dort lachend zu reagieren, wo ihm bei realistischerer Darstellung einfach die Haare zu Berge stehen müssten. Diese fiktionsironische Bloßlegung der filmischen Verfahren geht schließlich so weit, dass man zumindest lächelnd noch akzeptiert, dass auch Blake selbst – und zwar ganz gegen die Anforderungen seines spirituellen Erlösungsweges – zunehmend in den Gewaltkreislauf eintritt, den die Rahmenhandlung doch eigentlich zu überwinden strebt. Kurz bevor Blake zwei Marschalls kaltmacht, wird er von dem einen gefragt: »Are you William Blake?«, und während Blake den Abzug zieht, antwortet er: »Yes I am. Do you know my poetry?« Auch hier ermöglichen Verfahren der Illusionsbrechung, das an sich furchtbar Traurige in komischer Weise zu entheben. Die beiden Glatzköpfe der Marschalls, die Blake erschießt, sind maskentechnisch so schlecht gemacht, dass man schon auf den ersten Blick die Kleberänder sieht. Als die Killer, die Blake dicht auf den Fersen folgen, die toten Marschalls sehen, sagt der Menschenfresser: »Looks like a goddamn religious icon!«, und dann zertritt er mit seinem Fuß den Kopf der Leiche. Aber auch hier sieht der in special effects geschulte Kinobesucher auf den ersten Blick, wie schlecht die Attrappe des Kopfes gemacht ist. Trotzdem hat der Killer recht: Der Kopf des Marschalls sieht in Nahaufnahme tatsächlich aus wie eine christliche Heiligendarstellung. Der Kopf liegt umkränzt von den Hölzern und Zweigen einer indianischen Feuerstelle, die hier die Funktion des Nimbus übernimmt:
Die fiktionsironischen Entlastungsstrategien, die es erlauben, noch diese Szene in ihren grotesken Qualitäten zu goutieren, haben aber auch eine Kehrseite, die sich gerade in dieser Sequenz ganz deutlich zeigt. Tatsächlich nämlich drohen die illusionsdurchbrechenden Verfahren auch die Glaubwürdigkeit der religiösen Versöhnungs-
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Laughing back at the colonizer? handlung zu unterlaufen. Die Rahmenhandlung bleibt von den Darstellungsstrategien, die die komische Enthebbarkeit der grotesken Gewalthandlungen garantiert, nicht unbetroffen. Die religiöse Handlung wird dadurch vielmehr selbst dem Verdacht der bloßen Gemachtheit ausgesetzt, sie droht zum Teil eines unverbindlichen filmischen Spiels zu werden: ein handlungstechnischer Trick und geschickter Vorwand, der es Jarmusch auf raffinierte Weise ermöglicht, eine Serie von grotesk-entgrenzten Gewalthandlungen zu inszenieren, die es dem Zielpublikum erlaubt, seine gesellschaftlichen Gewaltphantasien auszuleben, ohne weitere Konsequenzen befürchten zu müssen. Diese Spannung zwischen religiös geprägtem Erlösungsversprechen der Rahmenhandlung und komisch affirmierter Inszenierung sozialer Aggression auf der Ebene der komischen Handlungen lässt sich, wie ich denke, nicht stillstellen. Ihr Auseinandertreten bildet den zentralen und nicht wirklich lösbaren Widerspruch von Jarmuschs Dead Man. Die Frage ist jedoch, wie man mit diesem Widerspruch interpretatorisch umgeht. Einerseits könnte man ihn in der bereits angedeuteten Weise als ästhetische und moralische Inkonsequenz verstehen, die den Konzessionen geschuldet sein mag, die der Kultregisseur an sein Zielpublikum und seine wichtigste Finanzquelle macht. Andererseits könnte dieser Widerspruch aber auch einen ästhetischen Mehrwert bergen, der die Faszination dieses Films womöglich auch jenseits massenmedial sanktionierter Triebabfuhr erklärt. Mit einer verkürzten These zur zweiten Interpretationsmöglichkeit möchte ich nun endlich schließen. Offensichtlich ist der Zuschauer von Dead Man deswegen so irritiert, weil er dauernd zwischen zwei Rezeptionsebenen wechseln muss: Von der Ebene der religiösen Rahmenhandlung aus betrachtet, sind die grotesken Gewalthandlungen komisch nicht enthebbar. Im Gegenteil: Unter dem Aspekt des religiösen Versöhnungsversprechens erscheinen sie als Überschreitung, als Verstoß genau gegen jene Norm, deren Gültigkeit durch die in Aussicht gestellte Einheit der Kulturen gerade bestätigt wird. Dieser religiöse Rezeptionsmodus lässt sich in Dead Man aber nicht durchhalten. Dagegen steht die Komik der grotesken Episoden. In dem Moment aber, in dem der Zuschauer seinem Lachen darüber nachgibt, hat er schon die Ebene gewechselt. Von der komischen Ebene der grotesken Gewalthandlungen aus betrachtet, verliert nun die religiöse Rahmenhandlung ihre transzendente Qualität. Denn um die grotesken Gewalthandlungen in ihrer inhärenten Komik überhaupt zu realisieren, muss der Zuschauer auch die transzendente Ebene der Rahmenhandlung in ihrem ästhetischen Konstruktcharakter aktualisieren: damit aber wird diese zum Teil des filmischen Scheins und verliert ihren lebensweltlichen Geltungsanspruch. Der normative Bezugs-
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Roger Lüdeke rahmen, der es allererst erlaubt, die grotesken Gewalthandlungen auf ethisch verbindliche Weise als Fehlhandlungen einzuschätzen, kollabiert im Bezugsrahmen eines allgemeinen ästhetischen Spiels. Das außerweltliche Versprechen einer kultur- und geschichtsübergreifenden Spiritualität wird ersetzt durch das innerweltliche Grundprinzip unhintergehbarer Gewalt, die man im Modus ästhetischer Wahrnehmung auch noch lachend zu akzeptieren bereit ist. Aber auch diese Rezeptionshaltung setzt sich nicht endgültig durch. In dem Moment, in dem sein Lachen wieder erstarrt, ist der Zuschauer erneut auf die Ebene der religiösen Rahmenhandlung zurückversetzt, die ihm nun wieder den existenziellen, ethischen und spirituellen Einsatz ins Gedächtnis ruft, der durch die grotesken Fehlhandlungen so radikal aufs Spiel gesetzt wird.
Auf diese Weise kommt es bei der Betrachtung von Dead Man zu einer oszillierenden Bewegung wechselseitiger Überschreitung: In der Bewegung vom Religiösen zum Komischen verliert die Rahmenhandlung ihre transzendente Qualität, sie wird ästhetisch profaniert. In der Bewegung vom Komischen zum Religiösen wiederum verlieren die grotesken Gewalthandlungen ihre komische Qualität, sie werden religiös transzendiert. Sie werden in einen übergeordneten Bezugsrahmen lebensweltlichen Ernstes eingelassen, dessen Geltungsanspruch lachend jedoch immer wieder zerbrochen wird. Damit ist die Überschreitungsstruktur von Dead Man so beschaffen, dass sie immer wieder eine Grenze durchbricht, aber, indem sie dies tut, zugleich den Bezugsrahmen zerstört, von dem aus die Überschreitung dieser Grenze als solche überhaupt wahrgenommen werden kann. In seiner bekannten »Préface à la transgression« formuliert Foucault diese Struktur wie folgt: »la transgression franchit et ne cesse de recommencer à franchir une ligne qui, derrière elle, aussitôt se referme en une vague de peu de mémoire, reculant ainsi à nouveau jusqu’à l’horizon de l’infranchissable«20 [die Überschreitung durchkreuzt immer wieder eine Linie, die sich alsbald in einer gedächtnis-
20 Michel Foucault: »Préface à la transgression«, in: ders.: Dits et écrits, 1, hg. v. Daniel Defert, Paris 1963/1994, S. 233-250, hier S. 237.
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Laughing back at the colonizer? losen Woge wieder schließt, um von neuem an den Horizont des Unüberschreitbaren zurückzuweichen]. Vielleicht realisieren die grotesken Gewalthandlungen in Dead Man also das, was Foucault in seiner Vorrede auch als gegenstandslose Entheiligung, als »profanation sans objet«, beschreibt: »une profanation sans objet, une profanation vide et repliée sur soi, dont les instruments ne s’adressent à rien d’autre qu’à eux-mêmes«21 [eine leere und in sich selbst gefangene Entheiligung, deren Werkzeuge sich nur gegen sich selbst wenden]. Im Wechselspiel mit der religiösen Rahmenhandlung würden die profanierenden Überschreitungsrituale in Dead Man also in letzter Instanz zwar verhindern, ›das Heilige in seinem unmittelbaren Inhalt‹ zu vergegenwärtigen, »de trouver le sacré dans son contenu immédiat«, sie würden aber gleichwohl ermöglichen, dieses Heilige als Bezugspunkt politischer und kultureller Praxis »als Leerform«, »dans sa forme vide«,22 als Horizont des Unüberschreitbaren, zu erfahren. Foucaults »Préface« von 1963 bildet bekanntlich den Nachruf auf den ein Jahr zuvor verstorbenen Georges Bataille. Der Titel des Nachrufs spielt auf das zentrale Kapitel von L’érotisme (1957) an: »La transgression«. Es würde sich lohnen, in dieser Richtung weiter zu fragen, denn gerade Batailles literarische Werke, die Histoire de l’oeil (1935/1957) oder L’Abbé C. (1950), lassen sich in ihrer ebenso religiös motivierten Gewaltästhetik mit Dead Man durchaus vergleichen. Dies könnte zudem einen erneuten Brückenschlag zurück zu William Blake bilden, den Bataille in seiner berühmten EssaySammlung zur Literatur und dem Bösen (1957), neben den BrontëSchwestern, neben Baudelaire, oder Jean Genet, zu seinem ersten Hausgott kürt. Die postkoloniale Filmästhetik von Jim Jarmuschs Dead Man scheint sich also weniger im ad nauseam bemühten Begriffsrahmen von ›Postmoderne‹ zu klären. Kunst- und literaturgeschichtlich angemessen zu beschreiben ist sie vielmehr als später Ausläufer einer ebenso politisch wie religiös geprägten Ästhetik der Überschreitung, die ihre ersten Anfänge in der europäischen Romantik findet und sich über Künstler und Autoren wie die BrontëSchwestern, Delacroix, Goya, Poe, Lautréamont, Baudelaire, Bataille, Genet bis in die unmittelbare Gegenwart und – wohl nicht zufällig – in den Wirkungsbereich der populärkulturellen Massenmedien erstreckt.
21 M. Foucault: Préface à la transgression, S. 234. 22 Ebd., S. 234.
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Daheim in der Fremde? Zur Inszenierung der »Heimat« im Hindifilm Aa ab laut chalen. IRA SARMA
Die Fremde übt schon lange einen besonderen Reiz auf den populären Hindifilm aus. Spätestens seit Raj Kapoors Sangam (Vereinigung, 1964), in dem der Regisseur seine Hauptdarsteller auf der Hochzeitsreise durch Europa schickt, wird im Hindifilm gerne in die Ferne gereist. Im Jahre 1995, als die Schweizer Alpen als Kulisse für Lieder, die von Liebe oder Trennungsschmerz künden, längst zum klischeehaften Topos geworden sind, kommt mit Dilwale Dulhania Le Jayenge1 (Der Beherzte bekommt die Braut, Aditya Chopra) ein weiterer Film in die indischen Kinos, der seinen Helden Raj (Shah Rukh Khan) und dessen Angebetete Simran (Kajol) durch den exotischen Westen reisen lässt. Ein wesentlicher Unterschied zu früheren Filmen besteht jedoch darin, dass Ausgangs- und Endpunkt der Reise – und damit der Lebensmittelpunkt der Protagonisten – in London liegen. Frankreich und die Schweiz rücken in unmittelbare Nachbarschaft, sie werden auf einer Art Grand Tour mit dem Interrail-Ticket bereist, bevor die Handlung im zweiten Teil des Films zurück nach Indien verlegt wird. DDLJ läuft in Indien fünf Jahre lang ununterbrochen vor ausverkauften Häusern und entwickelt sich zu einem der größten Kassenschlager der indischen Filmgeschichte.2 Unter Chopras Regie wird der Westen von der reinen Kulisse zum Handlungsraum, die Schweiz vom Ort der Träume zum Ort des Geschehens. Als zentralen Charakter für den neuen Handlungsraum führt Chopra den »Auslandsinder« ein und begründet damit eine filmische Gattung: den NRI-Film. Im Zentrum dieser Filme stehen indische Emigranten
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Im Folgenden DDLJ. Vgl. Anupama Chopra: Dilwale Dulhania Le Jayenge, London. 2002. S. 8.
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Ira Sarma – so genannte »Non-Resident Indians« oder NRIs3 – die dem Zuschauer als Herren über unermessliche Reichtümer und Bewohner gigantischer Villenkomplexe präsentiert werden. Sie scheinen den Westen – meist England oder die USA – als die Welt der unbegrenzten Möglichkeiten zu preisen. Dennoch ist die zentrale Botschaft des NRI-Films der 90er Jahre, dass des Inders Heimat Indien ist – und auch in der Emigration immer bleiben wird. Das Verhältnis der Protagonisten zu ihrer Heimatnation zeichnet sich durch eine spezielle Art der Verbundenheit aus, eine Art unanfechtbaren nostalgischen Zugehörigkeitsgefühls – eine Empfindung, die sich nicht nur für die Protagonisten Bollywoods geziemt, sondern nach dem Willen offizieller indischer Seite auch die Beziehung der »echten« Emigranten zu ihrem Herkunftsland charakterisieren soll. Dies kommt deutlich im Begriff »NonResident Indian« zum Ausdruck: die Nation lässt ihre Emigranten nicht los, sondern bindet sie terminologisch an sich. Das Domizil der NRIs in einer außerindischen Peripherie kann nur ein vorübergehendes sein, das Leben in der Fremde muss Durchgangsstation bleiben, es darf die eigene nationale »indische« Identität nicht berühren. In der Diktion Bollywoods hat »Indisch-Sein« zwei Dimensionen: erstens eine politisch-territoriale – »indisch« ist, was seinen Ursprung in »Indien« hat, dem Staat in seinen derzeitigen politischen Grenzen auf dem südasiatischen Subkontinent; Indien steht in dieser Bedeutung auch für das topographisch bestimmbare »Land«, den »Boden«, in dem man wurzelt. Zum zweiten bezeichnet der Begriff eine imaginierte Idealvorstellung von einer allgemeinen »indischen« Kultur, mit der sich die Protagonisten identifizieren können. Da Indien für den Emigranten als physischer und psychischer Dreh- und Angelpunkt des eigenen Lebens nicht präsent ist, ist es wünschenswert, so suggerieren die Filme, sich in der Fremde eine möglichst exakte Nachbildung dieser einzig wahren Heimat zu schaffen und zwar sowohl räumlich (z.B. durch symbolische Abschottung vom fremden Raum der Gastgesellschaft) als auch ideell (z.B. durch Anerkennung des »guten« eigenen Wertekanons und Ablehnung des »bösen« fremden). Eine erste Welle von Filmen, die sich der Figur des Emigranten annehmen, entstand bereits in den 1970er Jahren. Filme wie Purab aur Paschim (Ost und West, Manoj Kumar, 1970), Hare Rama Hare Krishna (Dev Anand, 1971) oder Des Pardes (Heimat und Fremde, Dev Anand, 1978) zeigen die Gefahren, die mit dem Versuch verbunden sind, in der Emigration die Klippen der fremden Kultur zu umschiffen. Dabei kommt die Grundhaltung, die das filmische Ge-
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»Non-Resident-Indian« ist die offizielle juristische Bezeichnung für Personen indischer Herkunft, die außerhalb Indiens leben.
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Daheim in der Fremde? schehen bestimmt, bereits in der Wahl der Titel zum Ausdruck: Ost und West, Heimat und Fremde stehen einander gleichsam unvereinbar gegenüber. In Purab aur Paschim wird das Bild von einer moralisch und sittlich zutiefst verdorbenen westlichen Gesellschaft entworfen, der sich die betroffenen Emigrantenfamilien – tatkräftig unterstützt vom Protagonisten Bharat (»Indien«) – nur durch eine Rückkehr in die indische Heimat entziehen können. Des Pardes hingegen zeichnet ein durchaus vielschichtiges Bild vom Zusammentreffen der Kulturen. Die Paradigmen Gut-Böse und Ost-West sind hier nicht deckungsgleich, der Akt der Auswanderung, der im Zentrum des Filmes steht, wird als ein Aufbruch in eine prospektiv goldene Zukunft in einer durchaus lebendigen und reizvollen Fremde gezeigt. Anders als späteren Filmen zum Thema Emigration wird dem Zuschauer in den Filmen der 70er Jahre allerdings keine festgefügte »Gemeinschaft« mit kulturspezifischen Charakteristika präsentiert. Während die frühen Filme zwar mögliche Gefahren aufzeigen aber letztlich durchaus unterschiedliche »Lösungen« zulassen (z.B. sowohl eine »echte«, weil physische Heimkehr in das Heimatland als auch eine »gelungene« Einwanderung in das Gastland), so liegt das Heil in den NRI-Filmen der späten 1990er Jahre4 ausschließlich in der »Rückkehr«. Neu ist, dass es sich nicht notwendigerweise um die physische Rückreise in das Heimatland handeln muss, sondern dass es sich auch um eine ideell-moralische Rückkehr in die eigene Kultur und deren Wertekanon handeln kann. Die Filme der 90er Jahre knüpfen diegetisch an einige Emigrationsfilme der ersten Generation an, indem sie beschreiben, wie sich die Lebenssituation der Emigranten nach zwanzig Jahren in der westlichen Welt darstellt. Es ist nun die zweite Generation, die Generation der Kinder, die – inzwischen zu (heiratsfähigen) Jugendlichen herangewachsen – die Handlung bestimmt. Dennoch behalten sich die Filme vor, die moralische Instanz bei der Elterngeneration zu belassen, die ungeachtet der Vorzüge eines angenehmen und oft luxuriösen Lebens im »goldenen Westen« mit drohender Geste vor Verlust von Tradition und Werten warnt. In einer Art Doppelperspektive werden dem Zuschauer scheinbar widerstreitende Blickwinkel auf das Leben in der Fremde geboten, die in der Konfliktlösung wieder zu einem einzigen Blickpunkt vereint werden, indem die Kinder, ähnlich wie in Purab aur Paschim, zu guter Letzt in den Schoß der indischen Familie zurückgeholt werden – sei es räumlich oder ideell. Der Titel des Filmes
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Hier sind neben DDLJ z.B. die folgenden Filme zu nennen: Pardes (Die Fremde, Subhash Ghai, 1999), Taal (Rhythmus, Subhash Ghai, 1999), Kabhi khushi kabhi gham / K3G (Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt, Karan Johar, 2001).
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Ira Sarma Aa ab laut chalen5 – Komm, wir gehen zurück – (Rishi Kapoor, 1999) erhebt schließlich diese alles bestimmende Grundidee des NRI-Filmes der 90er Jahre zum Motto. Erst in einer dritten Generation von Emigrationsfilmen zu Beginn des neuen Jahrtausends gesteht Bollywood seinen Protagonisten zu, sich innerhalb der fremden Kultur eine Heimat zu schaffen, deren unmittelbarer Bezugspunkt nicht mehr die Heimatnation Indien ist, sondern das Leben in der »Fremde«. In Filmen wie Kal hoo na ho (Egal ob es ein Morgen gibt, Nikhil Advani, 2003) wird eine »Rückkehr« – sei es in den Schoß der Familie oder in den Schoß der Nation – nicht mehr thematisiert. Die Filme befassen sich mit der Lebenssituation im Gastland, ohne auf eine direkte Gegenüberstellung von indischer und westlicher Lebensweise zu setzen. Ein Höhepunkt dieser Darstellungsweise wird in dem Film Kabhi alvida na kahna (Sag niemals Lebewohl, Karan Johar, 2006) erreicht, in dem die Protagonisten erst nach einer Scheidung von ihren jeweiligen Ehepartnern zusammenfinden – eine Lösung, die im Kontext des moralischen Universums des traditionellen Bollywoodfilms undenkbar ist. AALC, der Film, der im Zentrum der folgenden Untersuchung steht, gehört in die Kategorie der 90er Jahre. Nicht nur der Titel, auch Bildsprache, Handlung und Dialog bringen das »Prinzip NRIFilm« auf das Anschaulichste zum Ausdruck. Die Inszenierung der »Heimat« in ihrer territorialen und ideellen, aber auch in einer dritten, zeitlichen Dimension spielt hier eine zentrale Rolle. Die Darstellung der unterschiedlichen Spielarten von Heimat steht dabei in ständiger Wechselwirkung mit der tatsächlichen Situation in der indischen Diaspora. Bollywood spiegelt die Diaspora, die sich wiederum im Film gespiegelt sieht und sich in ihrem Selbstverständnis an diesem Bild orientiert. Um zu verstehen, wie es zu diesen Prozessen kommt, und um nachvollziehen zu können, warum und auf welche Weise sie Niederschlag in AALC finden, ist es notwendig, einen Blick auf das Verhältnis von indischer Diaspora und Bollywoodfilmen zu werfen.
DIE DIASPORA Die offizielle Webseite der indischen Regierung zur »indischen Diaspora«, auf der Informationen für NRIs bereitgestellt werden, beginnt mit der folgenden Erklärung: »The Indian Diaspora is a generic term to describe the people who migrated from territories that are currently within the borders of the Republic of India. It also
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Im Folgenden AALC.
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Daheim in der Fremde? refers to their descendants.«6 Als »indisch« wird hier zunächst nur das definiert, was sich innerhalb der derzeitigen politischen Grenzen der Republik befindet. Dennoch offenbart sich in diesen Zeilen eine problematische Terminologie, die sich wie ein roter Faden durch den Diskurs zum Thema zieht, nämlich die der Subsumierung aller Migranten südasiatischer Herkunft unter dem singularischen Begriff »indische Diaspora«, der sich damit zum übergreifenden Gattungsbegriff aufschwingt. Eine differenzierte Sicht auf die äußerst heterogene Gemeinde wird in dem Moment verstellt, in dem sich »indisch« nicht mehr ausschließlich auf das politisch begrenzte Territorium bezieht, sondern auch eine soziokulturelle Homogenität suggeriert – eine Herangehensweise, deren Bedeutung weit über das rein Terminologische hinausgeht, da sie sich als prägend für das Selbstbild der Diaspora erweist. Wir werden sehen, dass diese Herangehensweise nicht nur für den Diskurs, sondern auch für die Sichtweise Bollywoods charakteristisch ist. Die Annahme einer soziokulturellen Homogenität der »indischen« Diaspora erweist sich vor dem Hintergrund der Heterogenität der Heimatnation und der Heterogenität der Emigrationsgeschichte als unzulässig.7 Die »indische Diaspora« hat sich über einen Zeitraum von über 150 Jahren herausgebildet und ist weltweit über mehr als 15 verschiedene Länder8 verteilt. Hindus, Sikhs, Muslime, Parsen, Buddhisten, Jainas und Christen aus unterschiedlichen südasiatischen Regionen9 mit unterschiedlichen Sprachen, die meist in unterschiedlichen Schriften geschrieben werden, sind zu unterschiedlichen Zeiten auf unterschiedliche Weise in diese Länder gekommen: als Zwangsarbeiter, Studenten, gut ausgebildete Fachleute – oder auch nur, um wirtschaftlichen Wohlstand zu erlangen. Für Indien werden in der Regel zwei große Emigrationswellen als besonders wichtig herausgestellt: die erste, die sich ungefähr ab Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte, umfasste Arbeiter, die nach Abschaffung der Sklaverei in Kolonien wie Trinidad, Guyana, Fidschi oder Südafrika gebracht wurden, um dort auf den Plantagen die Arbeit zu übernehmen. Mishra nennt diese Gruppe »die alte 6 7
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http://indiandiaspora.nic.in/ vom 25. Juni 2006. Vgl. Shampa Biswas: »Globalization and the Nation Beyond: The IndianAmerican Diaspora and the Rethinking of Territory, Citizenship and Democracy«, in: New Political Science, 27/1, März 2005, S. 43-67, hier S. 49. Zu den wichtigsten zählen: Fidschiinseln, Mauritius, Guyana, Trinidad, Surinam, Malaysia, Südafrika, Sri Lanka, Kenia (vertrieben), Großbritannien, Niederlande, Naher Osten, USA, Kanada, Australien, Uganda (vertrieben). Hier muss berücksichtigt werden, dass z.T. auch Emigranten aus dem heutigen Pakistan und Bangladesh als Teil der »indischen« Diaspora verstanden werden, die vor 1947 auswanderten, als die Republik Indien in ihren heutigen nationalen Grenzen noch nicht existierte.
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Ira Sarma indische Diaspora« (»the old Indian Diaspora of classical capital«).10 Eine zweite bedeutende Emigrationswelle fand ab 1965 in die USA statt, nachdem dort die Einwanderungsgesetze geändert worden waren. Es waren nun in erster Linie gut ausgebildete Fachleute (v.a. Ingenieure, Ärzte und Unternehmer), die als Wirtschaftsmigranten in den Westen gingen – laut Mishra »die neue Diaspora« (»the diaspora of late capital«).11 Wenn im Kontext des Bollywoodfilms von »NRIs« gesprochen wird, so sind es stets Migranten dieser zweiten Gruppe, auf die Bezug genommen wird.12 Dass die »indische Diaspora« trotz ihrer aus dieser Situation resultierenden regionalen, religiösen und linguistischen Diversifikation häufig als eine weitgehend homogene Gruppe präsentiert wird, liegt sowohl in der Selbst- als auch in Fremdwahrnehmung begründet. In ihrer Selbstwahrnehmung orientieren sich die Migranten an einer Heimat, die als eine Nation mit national-typischen Charakteristika wahrgenommen wird. Dabei wird die in der Heimatnation entwickelte Vorstellung von der Existenz eines essentiellen »Indisch«Seins übernommen, das im nationalistischen Diskurs als primordial angesehen wird. Diese Vorstellung stellt einen Kernpunkt der Konstruktion einer pan-indischen nationalen Identität dar – einer Identität, deren proklamierte Einheitlichkeit als »erfunden« (Hobsbawm) bzw. »imaginiert« (Anderson) verstanden werden muss. Die Diaspora reproduziert die Idee von der imaginierten national-»indischen« Kultur und setzt – in der Fremde – noch stärkere Akzente auf einende Gemeinsamkeiten als dies in der Heimatnation selbst der Fall ist. Potentiell trennende Merkmale werden oftmals bewusst ausgeblendet. Zu dem Wunsch, sich in der Fremde eine »indische« Gemeinschaft nach dem Muster der imaginierten Heimatnation zu erschaffen, gesellen sich Bestrebungen, dem Bild zu entsprechen, das sich die Gastgesellschaft von der »indischen Diaspora« macht.13 Zu Be-
10 Vgl. Vijay Mishra: Bollywood Cinema. Temples of Desire, New York u.a. 2002, S. 235f. 11 Vgl. Aswin Punathambekar: »Bollywood in the Indian-American Diaspora. Mediating a Transitive Logic of Cultural Citizenship«, in: International Journal of Cultural Studies, 8/2, 2005, S. 151-173, hier S. 154f. 12 Ravindar K. Jain legt dar, dass eine strikte Trennung dieser Emigrationswellen historisch gesehen problematisch ist, da alle Mitglieder der Diaspora denselben zeitgenössischen Strömungen der Postkolonialität, Globalisierung und Transnationalität ausgesetzt sind. Vgl. Ravindar K. Jain: »Indian Diaspora, Globalisation and Mulitculturalism: A Cultural Analysis«, in: Contributions to Indian Sociology, 32/2, 1998, S. 337-360, hier S. 340. 13 Im Folgenden soll vor allem auf Nordamerika Bezug genommen werden, da die USA neben England zu den Ländern zählen, die für den NRI-Film die größte Rolle spielen.
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Daheim in der Fremde? ginn des zweiten Jahrtausends lebt die größte Gruppe von Auslandsindern – ca. 1,6 Millionen14 – in den USA, insbesondere in Kalifornien und New York. Die indische Gemeinde wird hier als so genannte »Vorzeigeminorität« (»model minority«) wahrgenommen, da indische Familien in den USA nicht nur über ein überdurchschnittliches mittleres Jahreseinkommen verfügen, sondern anderen Minoritäten sowie »weißen« Amerikanern im Durchschnitt auch in Bezug auf Bildungsgrad und ausgeübten Beruf überlegen sind.15 Dennoch gehören auch das Motel oder die Dunkin-Donat-Filiale zu den stereotypen Beschäftigungsbereichen von Südasiaten in Nordamerika – vergleichbar dem sprichwörtlichen »corner shop« oder der Tankstelle in Großbritannien. Die Vorstellung von der »model minority« ist daher, laut Biswas, insofern problematisch, als sie dazu führt, dass viele indische Einwanderer bei dem Versuch, diese Vorzeigerolle auszufüllen, in einer Art »historischer Amnesie« ihre eigene soziokulturelle Herkunft – so z.B. ihre Zugehörigkeit zur Arbeiterschicht – ausblenden und sich zudem von denjenigen Mitglieder der Gemeinschaft distanzieren, die in wenig repräsentativen Berufssparten arbeiten.16 Vorzeigbar ist, wer wirtschaftlichen Erfolg hat – ein Muster, das auch für Bollywoods Vision von den NRIs bestimmend ist.17 14 Angaben lt. US Census 2000 für die Gruppe »Asian Indian« (Pakistanis sind extra aufgeführt); vgl. Terence J. Reeves/Claudette E. Bennett (Hg.): We the People: Asians in the United States. Census 2000 Special Reports, U.S. Census Bureau. Dezember 2004, http://www.census.gov/prod/2004pubs/ censr-17.pdf vom 6. Januar 2007. 15 Das mittlere Jahreseinkommen einer indischen Familie liegt 1999 bei ca. 70.700,- US Dollar (zum Vergleich: Gesamtbevölkerung = 42.000,- (2000), andere asiatische Minoritäten = ca. 32–65.000,-; lediglich die japanischen Immigranten liegen mit 70.800,- US Dollar etwas höher); einen Universitätsabschluss (Bachelor oder höher) haben circa 64 % der NRIs, gefolgt von den Pakistanis mit 54,3 % (zum Vergleich: Gesamtbevölkerung = 24,4 %, andere asiatische Minoritäten: 7,5–48,1 %); in hochqualifizierten Berufen (»management, professional and related occupations«) arbeiten ca. 60 % der NRIs und 43,5 % der Pakistanis (zum Vergleich: Gesamtbevölkerung = 33,6 %, andere asiatische Minoritäten: 13,4 – 52,3 %). Vgl. ebd. Angaben zur Gesamtbevölkerung lt. Zensus 2000: Census 2000 Briefs, http://www. census.gov/prod/cen2000/index.html vom 6. Januar 2007. 16 Vgl. S. Biswas: Globalization, S. 53. 17 So kommentiert ein Journalist der Times of India den eingangs genannten Film Kabhi alvida na kahna (2006) mit folgenden Worten: »KANK is swank beyond belief. Its principals live in suburban mansions or sprawling apartments in midtown Manhattan, drive expensive cars, and seem to do no work. So unlike many poor wretches I know who toil 16 hours a day in 711s, gas stations, and liquor stores.« (Chidanand Rajghatta: »Kabhi Buss Mat Kehna«, in: The Times of India. Online edition, 20. August 2006, http:
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Ira Sarma Hinzu kommt, dass die Position der Immigranten in der amerikanischen Gesellschaft problematisch geblieben ist: in einem Umfeld, das Minoritäten entlang einer rassischen Achse von Schwarz und Weiß ansiedelt, versuchen Immigranten südasiatischer Herkunft, sich als Gemeinschaft einen Platz zu schaffen, indem sie sich bewusst von anderen Minoritäten abgrenzen und ihren wirtschaftlichen Erfolg der eigenen überlegenen »Kultur« zuschreiben,18 eine Idee, die von den oben beschriebenen Vorstellungen von einer gemeinsamen national-»indischen« Kultur gespeist wird. Das Bedürfnis nach Abgrenzung und das damit einhergehende Bemühen, der undifferenzierten Außensicht der Gastgesellschaft gerecht zu werden, bestärken die Diaspora in dem Versuch, sich eine einheitlich »indische« Identität zu erschaffen und in der Konsequenz die beträchtlichen soziokulturellen Unterschiede innerhalb der Gemeinschaft zu ignorieren bzw. in der Außendarstellung zu nivellieren oder gar zu tilgen.19 Beide Faktoren – das Bestreben, sich selbst als Teil der Heimatnation zu inszenieren, und der Versuch, in der Abgrenzung nach außen dem positiv belegten Fremdbild zu entsprechen – tragen also dazu bei, dass die Diaspora sich eine pan-indische Identität schafft, deren Grundlage insbesondere Essen,20 Religion,21 Heiratsverhalten
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//timesofindia.indiatimes.com/OPINION/Columnists/Chidanand_Rajghatta/ INDIASPORA/Kabhi_Buss_Mat_Kehna/articleshow/1908520.cms vom 2. Januar 2007. Vgl. S. Biswas: Globalization, S. 53f. Vgl. ebd., S. 50. Vgl. Ruediger Kunow: »Eating Indian(s): Food, Representation, and the Indian Diaspora in the United States«, in: Tobias Döring/Markus Heide/Susanne Mühleisen (Hg.): Eating Culture. The Poetics and Politics of Food, Heidelberg 2003. S. 151-175. Hier muss beachtet werden, dass die Diaspora sich in der Regel mit einer Hindu-Identität präsentiert und Angehörige anderer Religionsgruppen, insbesondere indische Muslime, marginalisiert. »Indische« Kultur wird mit »Hindu«-Kultur gleichgesetzt – eine Gesinnung, die das Erstarken der hindu-nationalistischen Ideologie im Indien der 1990er Jahre widerspiegelt. Der Hinduismus, der in der Diaspora praktiziert wird, ist jedoch viel statischer, einheitlicher und erstarrter als in Indien. Vgl. S. Biswas: Globalization, S. 50f. und Sheena Malhotra/Tavishi Alagh: »Dreaming the Nation. Domestic Dramas in Hindi Films Post-1990«, in: South Asian Popular Culture, 2/1, April 2004, S. 19-37, hier S. 21-25. Indem der Hinduismus als der Inbegriff indischer Religionen angesehen wird, reproduziert der nationale Diskurs den kolonial-orientalistischen Ansatz. Vgl. Vinay Lal: »The Impossibility of the Outsider in the Modern Hindi Film«, in: Ashis Nandy (Hg.): The Secret Politics of Our Desires. Innocence, Culpability and Indian Popular Cinema, Neu Delhi, 2002, S. 240.
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Daheim in der Fremde? (arrangierte Ehen) und nicht zuletzt Bollywoodfilme bilden.22 Diesen identitätsstiftenden Mitteln ist zunächst gemeinsam, dass sie die Interaktion innerhalb der Gemeinde fördern und so das Gemeinschaftsgefühl stärken. Gemeinsames Essen, Teilnahme an religiösen Festen, Ritualen und Hochzeiten sowie Besuche von Filmvorführungen gestatten die Zusammenkunft in einem »exklusiven«, d.h. die Gastnation weitgehend ausschließenden Rahmen und halten gleichzeitig einen unerschöpflichen Symbolvorrat für die Teilnehmer bereit. In seinem Aufsatz »Bollywood in the Indian-American Diaspora« beschreibt Aswin Punathambekar die Vorführung von Bollywoodfilmen in den USA zwischen den späten 1960er und frühen 80er Jahren: Screenings were usually held in university halls rented for a few hours during the weekend […]. These weekend screenings, with an intermission that lasted 30-45 minutes, were an occasion apart from religious festivals, for people to wear traditional clothes, speak in Hindi or other regional languages and participate in a ritual that was reminiscent of ›home‹.23
Durch solche Vorführungen, so Punathambekar, wird in den 70er und 80er Jahren ein dezidiert indischer Bereich geschaffen, ein semi-öffentlicher soziokultureller Raum, der sich vom öffentlichen Raum der Gastgesellschaft abgrenzt.24 Durch das gemeinsame ritualisierte Erinnern an die Heimat innerhalb dieses mit nationalen Symbolen gefüllten Rahmens versichert man sich seiner Identität, die durch die Interaktion mit »Gleichgesinnten« gespiegelt und bestätigt wird. Die dieser Identität innewohnenden Brüche scheinen angesichts der noch massiveren Unterschiede zwischen dem Eigenen (»Indischen«) und dem Fremden (hier: »US-Amerikanischen«) unerheblich.25 Wer sich vor der Emigration z.B. als »Bengalischer Moslem«, »Gujarati Hindu« oder »Punjabi Sikh« gesehen hat, wird im soziokulturellen Raum der Diaspora zum »Inder« – eine Kategorie, die Bollywood auf effektive Weise zu konstruieren und zu verstärken weiß. In den 1980er und 90er Jahren verändert sich das Verhalten in Bezug auf den Konsum von Bollywoodfilmen durch das Aufkommen
22 Vgl. S. Biswas: Globalization, S. 51. Mishra nennt als einen weiteren identitätsstiftenden Faktor das Festhalten an Tradition, Kontinuität und familiären Strukturen. Vgl. V. Mishra: Bollywood Cinema, S. 236f. 23 A. Punathambekar: Bollywood, S. 154. 24 Ebd. Die Inanspruchnahme eines solchen »indischen« Raumes muss dabei zum Teil auch als eine Antwort auf Rassismus und Fremdenfeindlichkeit gesehen werden, die die Immigranten in der amerikanischen Gesellschaft erfahren. Vgl. S. Biswas: Globalization, S. 52. 25 Vgl. auch: S. Malhotra/T. Alagh: Dreaming the Nation, S. 25.
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Ira Sarma der Videokassette und die Verbreitung des Satellitenfernsehens – die »Vorführung« von Filmen wird aus dem semi-öffentlichen in den privaten, häuslichen Bereich verlegt. Dass der populäre Hindifilm für die Diaspora trotzdem nicht an Bedeutung verliert, liegt daran, dass er auf einer weiteren Ebene identitätsstiftend wirkt, nämlich auf der des Inhalts. Mishra erklärt: In the diasporic production and reproduction of ›India‹ one of the key translatable signs […] is Bombay (Bollywood) Cinema which (as shown in cinema halls and viewed at home on videos and on cable TV […]) has been crucial in bringing the ›homeland‹ into the diaspora as well as creating a culture of imaginary solidarity across the heterogeneous linguistic and national groups that make up the South Asian (Indian) diaspora.26
Hindifilme stellen für die Zuschauer eine Verbindung zur Heimat dar – einer Heimat, die mit zunehmendem zeitlichem Abstand immer stärker in der Art imaginiert wird, wie sie in den Filmen dargestellt wird. Die Filme tragen dadurch in hohem Maße dazu bei, Erinnerungen an und Vorstellungen von dieser Heimat zu (ver-) formen. So beschreibt z.B. ein Informant Punathambekars seine Gründe, sich Hindifilme anzusehen, mit den Worten: »[Y]ou see crowded streets, keeps you in touch with the way of life in India«, und eine zweite Informantin ergänzt: »It doesn’t matter what the story is like, I like to see the dresses, the salwar designs, everyday life, even if it seems like a fantasy, you know«. Bollywood liefert die Blaupause für die Imagination der nationalen Kultur der Heimat. Mishra verweist in diesem Zusammenhang auf die bemerkenswerte Ähnlichkeit zwischen der von Anderson beschriebenen Art, in der das Lesen einer Tageszeitung ein Gefühl der nationalen Zugehörigkeit bewirkt, und der Art, in der der Konsum von Bollywoodfilmen eine »indische Diaspora« mit einem gemeinsamen kulturellen Idiom hervorbringt.27 Hindifilme stellen, wie aus den Aussagen der beiden Informanten Punathambekars hervorgeht, für die Diaspora eine audio-visuelle Verbindung zur Heimat dar. Sie transportieren die indische Heimat – oder das, was Bollywood als »indisch« verkauft – direkt ins Wohnzimmer. Das von Bollywood entworfene Bild des prototypischen Indiens wird so zur Richtschnur für den Lebensentwurf in der Diaspora. Nach diesen visuellen und moralischen Maßstäben orientiert man sich, diesen »Bildern« eifert man nach. Das Bollywoodkino stellt, laut Mishra, einen kulturellen Eingriff dar, der dazu beiträgt, die Heterogenität der Diaspora zu retuschieren.28 26 V. Mishra: Bollywood Cinema, S. 237. 27 Vgl. ebd., S. 238. 28 Vgl. ebd.
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Daheim in der Fremde?
DIE DIASPORA IM HINDIFILM In den 90er Jahren sehen die Emigranten29 sich jedoch plötzlich selbst im Fokus des Bollywoodfilms. Haben Hindifilme bis dato der Diaspora ein Bild von Indien vermittelt, mit dem sie sich identifiziert, so gesellt sich diesem Entwurf von der Heimatnation nun die filmische Fiktion der Diaspora selbst zu: Filme wie DDLJ, AALC oder Kabhi khushi kabhi gam halten der Emigrantengemeinde den Spiegel vor. Die Ursachen für diese Entwicklung liegen im radikalen wirtschaftlichen und sozio-politischen Wandel, den Indien zu dieser Zeit erfährt. Das unabhängige Indien war über einen Zeitraum von mehr als 40 Jahren einer Zentralplanwirtschaft unterworfen. Dies ändert sich Anfang der 90er Jahre, als weitreichende ökonomische Reformen durchgeführt werden. Durch eine Politik der Liberalisierung sollen nicht nur multinationale Konzernen in das Land geholt werden, sondern man versucht auch, wohlhabende NRIs mit Devisen in der Tasche zurück ins Land zu locken, damit sie dort etwas von dem in der Fremde erwirtschafteten Vermögen investieren. Auf diesbezüglichen Regierungswebseiten und in Berichten von für die Diaspora zuständigen Kommissionen wird wiederholt auf die enge Beziehung der NRIs zu ihren indischen Wurzeln und der Heimatnation hingewiesen: The Diaspora is very special to India. Residing in distant lands, its members have succeeded spectacularly in their chosen professions by dint of their single-minded dedication and hard work. What is more, they have retained their emotional, cultural and spiritual links with the country of their origin. This strikes a reciprocal chord in the hearts of people [sic] of India. It is to nurture this symbiotic relationship to mutual advantage that the Government of India, following the express directions of the Prime Minister, had established a High Level Committee […] with the mandate to make an in-depth study of the problems and difficulties, the hopes and expectations of the overseas Indian communities.30
Auf administrativer Ebene soll die Rückkehr der Emigranten oder zumindest ihres Kapitals ins Land erleichtert werden, indem für die NRIs 2002 die doppelte Staatsbürgerschaft bzw. der Status des PIO (»person of Indian origin«) eingeführt wird, um so einem »langgehegten Wunsch der indischen Diaspora« entgegenzukommen und ihren Mitgliedern zu ermöglichen, zur »gesellschaftlichen Entwicklung«
29 Da die NRIs aus Sicht Bollywoods stets »Emigranten« bleiben, soll im Folgenden auf die Unterscheidung zwischen Emigrant und Immigrant verzichtet werden, um einen Perspektivwechsel zu vermeiden. 30 http://indiandiaspora.nic.in/ vom 6. Januar 2007.
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Ira Sarma Indiens beizutragen.31 Wer einen PIO-Status erwirbt, ist von der Visumspflicht befreit und u.a. berechtigt, Immobilien und Grundbesitz zu erwerben, indische Schulen oder Universitäten zu besuchen und verschiedene staatlich geförderte Maßnahmen in Anspruch zu nehmen. Neben einem Entgegenkommen auf administrativer Ebene soll für die NRIs allerdings auch ein emotionaler Anreiz geschaffen werden, sich wieder verstärkt ihrer Heimatnation zuzuwenden. Bollywoodfilme, die zu den identitätsbildenden Faktoren in der indischen Diaspora gehören, stellen hier ein wirksames Mittel dar. Die Bombayer Filmindustrie, die traditionell eine moralisch konservative, dem indischen Nationalgedanken verpflichtete Haltung einnimmt, lässt sich nur allzu gerne vor den politischen Karren spannen.32 Gleich einer Eigenblutbehandlung wird das Bild von der Diaspora in den Filmstudios Bombays mit einem den nationalen Interessen förderlichen Bild- und Wertekanon angereichert und zurück in die Diaspora transportiert. Mishra erklärt bezüglich des NRI-Films: »The ideology in question then is not one that examines social ruptures […] but one that reworks a number of diasporic fantasies. When these fantasies are reconfigured by the homeland as the ›real‹ of diasporic lives, they have the curious role of actually becoming ›truths‹ to which the diaspora aspires.«33 Solche reimportierten »Wahrheiten« erstrecken sich in den Filmen der 90er Jahre von der imaginierten homogen-indischen Hindu-Identität der südasiatischen Emigranten über die Darstellung des phantastisch anmutenden Reichtums der NRIs, der Konstruktion einer »patriarchalischen Agenda«34, dem Motiv der wünschenswerten Rückkehr in den Schoß der »indischen« Traditionen bis hin zur plakativen Gegenüberstellung von Heimat und Fremde, die bereits in den Filmen der 1970er Jahre eine Rolle spielte. Mit der dichotomen Gegenüberstellung bedient sich Bollywood eines altgedienten Schemas: das
31 Vgl. http://indiandiaspora.nic.in/DUALCITIZENSHIP.htm vom 6. Januar 2007. 32 Jyotika Virdi stellt fest: »At the heart of all Hindi films lies the ›fictional nation‹. Serious tensions that threaten to fracture the nation are obsessively manifested in film as moral conflicts or ethical dilemmas. Resolution of these dilemmas is the central goal of the ›national fiction,‹ the Hindi film.« Jyotika Virdi: The Cinematic ImagiNation. Indian Popular Films as Social History, Neu Delhi 2003. S. 32. 33 V. Mishra: Bollywood Cinema, S. 250. 34 Vgl. S. Malhotra/T. Alagh: Dreaming the Nation, S. 28f.: »The patriarchal agenda is furthered with misguided but benevolent fathers, reinforcing marriage as the foundational institution of society, maintaining traditional and sexist family values and abnegating individual identity for collectivity in favour of enlightened self-interest.«
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Daheim in der Fremde? populäre Hindikino stellt seit seinen Anfängen eine wichtige Plattform für die Auslotung dichotomer Vorstellungswelten dar, von denen »Tradition und Moderne« eine der wichtigsten ist.35 Der für die Moderne stehende Westen wird dabei gerne als exotische Parallel- oder Gegenwelt zum »traditionsverhafteten« Osten der Orientalisten inszeniert: moralische Dekadenz – symbolisiert durch Trinken, Rauchen, Spielen und ungezügelte Sexualität – sowie materieller Luxus sind dabei gleichermaßen verlockend wie unheimlich. Konflikte, die sich aus dem Aufeinanderprallen dieser Welten ergeben, müssen dabei im Bollywoodfilm immer innerhalb der Parameter einer idealen moralischen Welt gelöst werden, und zwar ohne dass die Ordnung langfristig gestört bleibt36 – einer Welt, wie sie im NRIFilm nur innerhalb eines Bereichs existieren kann, der als »Heimat« konnotiert ist. Die Parameter dieser idealen moralischen Welt, die wir in den »Standard-Melodramen« Bollywoods finden, können folgendermaßen zusammengefasst werden:37 IDEALE MORALISCHE WELT
GEGENWELT
gut
böse
moralisch
unmoralisch
traditionell
nicht-traditionell (modern/westlich)
Respekt gegenüber Eltern
Respektlosigkeit gegenüber Eltern
intakte Familienstrukturen
zerbrochene Familienstrukturen
kontrollierte Sexualität
unkontrollierte Sexualität
Vertrauen
Verrat
Altruismus/Mit-Gefühl (Herz, dil)
Egoismus/Individualismus
Religion, Schicksal Anerkennung der eigenen (indischen) Kultur
Konsum, Geld Ablehnung der eigenen (indischen) Kultur
Diese Parameter bestimmen in wechselnder Zusammenstellung auch das moralische Universum der NRI-Filme. Dabei findet die Auslotung dieses Universums und der kulturellen Identität in der Fremde auf verschiedenen Ebenen statt, wie z.B. im Dialog, in der Figurendarstellung, in der Raumdarstellung, in der Darstellung und Kontextualisierung der (westlichen) Stadt oder eben in der Inszenierung jener »Heimat«, die für die Lösung des Konfliktes unabdingbar 35 Vgl. Rosie Thomas: »Melodrama and the Negotiation of Morality in Mainstream Hindi Film«, in: Carol A. Breckenridge (Hg.): Consuming Modernity. Public Culture in a South Asian World, Minneapolis u.a. 1995, S. 157-182, hier S. 158. 36 Vgl. ebd., S. 159. 37 Vgl. ebd.
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Ira Sarma ist. Auf all diesen Ebenen werden Parallelwelten vorgestellt, die je nach Film als strikte Gegensätze oder (seltener) als mögliche Alternativen gezeigt werden. Dabei greift der NRI-Film mit der Gegenüberstellung von eigener und fremder Kultur auf ein der Emigrationssituation inhärentes Schema zurück. Das Schicksal des Migranten, sich mit zwei Nationen auseinander setzen zu müssen – der Heimat und dem Gastland –, drückt sich anschaulich in der sogenannten »hyphenated identity« oder »Bindestrich-Identität« aus: die Mitglieder der indischen Diaspora in den USA werden auch als »indo-amerikanisch« (»IndianAmerican«) bezeichnet. In der Emigration muss beiden Identitäten Rechnung getragen werden. Dies geschieht, indem ihnen verschiedene Bereiche zugewiesen werden, die im Hindifilm mit seiner Vorliebe für Dichotomien überdeutlich inszeniert werden: das »Indische« entspricht dem »sicheren« privaten Raum, der den kulturellen Bereich umfasst; hier sind die bereits genannten identitätsstiftenden Handlungen wie Essen, Religion und Heirat angesiedelt sowie die imaginierten »indischen« Traditionen und Werte der idealen moralischen Welt. Dem gegenüber steht der »feindliche« öffentliche amerikanische Raum, der als moderne, okzidentalistisch stereotypisierte Gegenwelt wahrgenommen wird; diesem Bereich gehören neben den genannten Parametern u.a. wirtschaftlicher Erfolg, Mobilität, Professionalität, Wissenschaft und Technologie an. Im NRIFilm der 90er Jahre werden diese Bereiche als unvereinbar dargestellt, als zwei Welten, zwischen denen man – physisch und psychisch – zu pendeln gezwungen ist. Erst der NRI-Film des neuen Jahrtausends erlaubt es den »ABCDs«,38 zu »happy hybrids«39 zu werden – zu Immigranten, die in der Kultur des Gastlandes ihren Platz, in der Fremde eine Heimat gefunden haben, ohne sich dem Dilemma ausgesetzt zu sehen, sich zwischen den Kulturen entscheiden zu müssen. Filme wie DDLJ, AALC oder Pardes bedienen das dichotome Schema unter anderem, indem sie verschiedene Spielarten von Heimat inszenieren, die in unterschiedlicher Beziehung zur Gegenwelt »Fremde« stehen. Dabei können drei Arten von »Heimat« in beliebiger Kombination auftreten und so je nach Film unterschiedliche Betonung erfahren: neben »Nostalgia« und »Utopia«, den beiden Seiten der Medaille »Heimatnation Indien«, konzentriert sich der NRI38 ABCD = American Born Confused Desi (Desi = einheimisch-»indisch«, zum (Heimat-)Land gehörend); dementsprechend: BBCD = Britisch Born Confused Desi, und CBCD = Canadian Born Confused Desi. 39 Vgl. Vaishnavi C. Sekhar: »Indian abroad: At home in the world«, in: The Times of India. Online edition, 8. Januar 2005, http://timesofindia.indiatimes.com/NEWS/India/Indian_abroad_At_home_in_the_world/articleshow/msid-984915,curpg-1.cms vom 30. Dezember 2006.
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Daheim in der Fremde? Film vor allem auf die Gestaltung der Heimat in der Fremde als Heterotopie – nach foucaultschen Verständnis eine in der Gegenwart realisierte Utopie, in der alle sie umgebenden realen Räume zugleich repräsentiert, angefochten und umgestaltet sind.40 Im Folgenden soll die für den NRI-Film charakteristische Inszenierung von Heimat am Beispiel des Filmes Aa ab laut chalen dargestellt werden. AALC ist ein in mancherlei Hinsicht untypischer NRIFilm: die Diaspora wird als vielschichtig präsentiert, da nicht nur Emigranten verschiedener Religionen und explizit unterschiedlicher nationaler Herkunft (Pakistan und Indien), sondern auch Angehörige verschiedener Schichten gezeigt werden.41 Zudem wird nicht ausschließlich die Fremde als die Macht des Bösen gesehen, sondern auch das unkontrollierte Streben nach Reichtum angeprangert. »Geld macht einsam« ist die Devise – ein Kritikpunkt, der in anderen NRI-Filmen nicht angesprochen wird. Dennoch kommen in AALC die grundlegenden Prinzipien des Heimatentwurfes auf der narrativen und visuellen Ebene besonders deutlich zum Ausdruck. AALC erzählt folgende Geschichte:
AA AB LAUT CHALEN – KOMM, WIR GEHEN ZURÜCK Nach vergeblichen Bemühungen, eine seinem BA-Abschluss entsprechende qualifizierte Arbeit zu finden, entscheidet sich Rohan (Akshaye Khanna), seine Heimatstadt Delhi zu verlassen, um in den USA sein Glück zu suchen. Er wird zu diesem Schritt von Ranjit, dem Sohn einer Nachbarsfamilie, ermutigt, der bereits in New York lebt und dort scheinbar zu Erfolg gekommen ist. Rohan tritt damit in die Fußstapfen seines Vaters, der die Familie vor vielen Jahren aus denselben Gründen verließ, kurz nach seinem Aufbruch jedoch Opfer eines Autounfalls wurde. Bei der Ankunft in New York erfährt Rohan die erste Desillusionierung, als Ranjit, der, wie sich herausstellt, ein zwielichtiges Motel führt, ihm die Tür weist, statt ihm Starthilfe zu geben. Rohan lernt jedoch zwei südasiatische Taxifahrer (einen pakistanischen Muslim namens Sardar und einen indischen Sikh namens Iqbal) kennen, die ihn bei sich aufnehmen und ihn in die südasiatische Gemeinde einführen, die sich fortan gleich einer »Familie« um sein Wohlergehen kümmert. Mangels anderer Möglichkeiten beginnt Rohan zunächst, Taxi zu fahren, um über die Runden zu kommen. 40 Vgl. Michel Foucault: »Andere Räume«, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990, S. 39. 41 Malhotra und Alagh sehen dies als möglichen Grund für den mangelnden Erfolg des Films in den Kinos. Vgl. S. Malhotra/T. Alagh: Dreaming the Nation, S. 27.
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Ira Sarma Auf einer seiner Fahrten trifft er auf Puja (Aishwarya Rai), die vor ähnlichen Schwierigkeiten steht wie er: sie ist von ihrem Bruder und dessen Frau, die beide in New York leben, »verraten und verkauft« worden und will nun Geld verdienen, um nach Indien zurückkehren zu können. Durch Rohans Hilfe wird auch Puja in die »Familie« aufgenommen. Gemeinsam schlagen sie sich mit allerlei unqualifizierten Jobs durch. Als Rohan erfährt, dass er nur über eine Green Card eine Arbeitserlaubnis bekommen kann, entschließt er sich, auf einer Party nach einer Inderin mit amerikanischer Staatsbürgerschaft Ausschau zu halten, die er heiraten kann. Er trifft auf die reiche Loveleen, eine Inderin der zweiten Generation, in die er sich Hals über Kopf verliebt. Geblendet durch Loveleens Welt des Luxus und der Partys, wendet sich Rohan von seinen Freunden ab. Loveleen stellt sich jedoch schnell als verwestlichtes »Luder« heraus: sie hat ihre indischen Wurzeln vergessen, ist zu einem Geschöpf der Gegenwelt geworden und führt ein durch und durch »lasterhaftes« Leben. Rohan wird sich seines Irrtums bewusst und merkt, dass es eigentlich Puja42 ist, die er liebt. Bei dem Versuch, sie zurückzugewinnen, trifft Rohan schließlich auf seinen zu Wohlstand gekommenen Vater, der entgegen allen Erwartungen doch noch lebt. Nachdem auch des Vaters zweiter, in den USA aufgewachsener Sohn, der auf Abwege geraten war, auf den Pfad der indischen Tugend gebracht worden ist, kehren alle zusammen glücklich vereint nach Indien zurück. Handlung und Titel machen AALCs Anliegen, die Diaspora »heim« zu holen, nur allzu deutlich. Der Film folgt in der Konstruktion der Fabel der Logik des Konzeptes des »Non-Resident Indian« – der heterotope Zustand in der Fremde wird als ein Übergangsstadium zwischen einer nostalgisch verklärten Vergangenheit (»Nostalgia«) und einer utopisch überhöhten Zukunft (»Utopia«) inszeniert.
NOSTALGIA Nostalgia ist die Heimat der Vergangenheit, aus der man gekommen ist: Indien, die Nation, das »Zentrum«, auf das man aus der Peripherie wehmütig zurückblickt und das im NRI-Film, mit Rückgriff auf Versatzstücke des nationalistischen Diskurses, als eine Vision vom goldenen Zeitalter inszeniert wird, in dem das Dasein noch segensreich und das Leben noch bunt war, in dem die Wiesen noch geblüht und die Menschen noch gesungen haben. So wird Delhi in der Eingangsszene von AALC als Ort farbenfrohen, beschwingten Fei-
42 »Puja« bedeutet »Gebet«; in Pardes trägt die moralisch untadelige, sittsame, ihrer Tradition verhaftete junge Frau den symbolträchtigen Namen »Ganga« (Ganges).
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Daheim in der Fremde? erns gezeigt, als ein soziokultureller Raum, in den sich die Emigranten, denen wir kurz darauf in den USA begegnen, zurücksehnen werden. Die 13-Millionen-Metropole Delhi erhält einen fast dörflichen Charakter, wenn wir Menschen sehen, die auf einem Platz aus gestampftem Lehm ausgelassen miteinander Holi feiern – das Frühlingsfest, das nach außen hin v.a. dadurch charakterisiert ist, dass man sich gegenseitig mit bunten Farben bespritzt oder bewirft.43
Die Inszenierung der hinduistischen Holi-Feier ist ein Standardmotiv Bollywoods, wenn es darum geht, reibungslos funktionierende soziale Interaktion in einer heilen Welt zu zeigen. Die Wahrnehmung dieser heilen Welt als eine farbenfrohe, die jedoch der Vergangenheit angehört, spiegelt sich in AALC auch auf einer zweiten Ebene. Beim Holi-Feiern sieht Rohan seine in einen weißen Witwensari gekleidete Mutter und bittet Gott: »Bhagvan, ich kann die Farbe der Kleider meiner Mutter nicht ändern, aber gib mir die Kraft, auf dem Gesicht meiner Mutter die Farben des Glücks ausbreiten zu können.«44 Auch das farben-frohe Eheleben gehört hier einer Vergangenheit an, die vor der Emigration des Vaters liegt. Besonders deutlich wird die Wahrnehmung von Nostalgia als einer farbenfrohen heilen Welt in der Eingangsszene von DDLJ. Den Bildern des grauen regennassen Trafalgar Square, die die Gegenwart des Protagonisten Baldev Singh (Amrish Puri) darstellen, wird Baldevs innere Vision von der Heimat, die er verlassen hat, entgegengesetzt: die geradezu bukolische blühende Landschaft des Panjab, die von tanzenden und singenden Mädchen bevölkert ist. 43 Quelle für die in den Beitrag aufgenommenen Bildzitate ist: Aa ab laut chalen (R. Kapoor), DVD, Asian Video Movies Wholesalers Inc., 1999. 44 Als Rohan mit seinem Vater, seinem Stiefbruder und Puja zusammen nach Hause zurückkehrt, trägt seine Mutter einen leuchtend gelben SalwarKamiz.
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Ira Sarma Interessanterweise steht die Bollywood-Inszenierung der vergangenen Heimat über die Farbigkeit in direktem Gegensatz zur Wahrnehmung des Exilanten Salman Rushdie, der in seinem Essay Imaginary Homelands beschreibt, wie sich ihm die Erinnerung an seine Heimat Bombay in den Farben verblasster Schwarzweißfotos präsentiert: I went to visit the house in the photograph and stood outside it […]. I was overwhelmed. The photograph had naturally been taken in black and white; and my memory, feeding on such images as this, had begun to see my childhood in the same way, monochromatically. The colours of my history had seeped out of my mind’s eye. Now my other two eyes were assaulted by colours. […] [T]hat was when my novel Midnight’s Children was really born; when I realized how much I wanted to restore the past to myself; not in the faded greys of old family-album snapshots, but whole, in CinemaScope and glorious Technicolour.45
In Filmen wie AALC oder DDLJ ist Nostalgia – die zurückgelassene Heimat, der Ort der Familie – eben dieses farbenfrohe Zentrum, inszeniert in all der Pracht von Cinemascope und Technicolor. Die Fremde hingegen, in der man sich aufhält, ist die graue Peripherie, der Ort der Einsamkeit.46 »Es ist meine Gegenwart, die mir fremd ist«, erklärt Rushdie, »und die Vergangenheit ist die Heimat, auch wenn es sich um eine verlorene Heimat in einer Stadt handelt, die sich in den Nebeln der Zeiten verloren hat.«47 Nostalgia – die verlorene Heimat – spielt vor allem eine Rolle für die erste Generation von Emigranten, eben diejenigen, die sich zurückerinnern können. Diese Erinnerung ist im NRI-Film eine ausgesprochen sinnliche Erfahrung. Anders als Rushdie erinnert sich der Emigrant in Bollywood in Farbe. Neben der visuellen Ebene spielen der Geschmack (Essen) und das Hören (Musik, Sprache) eine Rolle, wenn es darum geht, sich sein Nostalgia zu schaffen, vor allem aber auch der Geruch: als Baldev Singh in DDLJ einen Brief aus Indien bekommt, riecht er daran und ruft beglückt aus: »Das ist der Duft des Panjab!« In Pardes stattet das Familienoberhaupt nach 35 Jahren seiner Heimat einen Besuch ab, um dort eine gute indische Braut für seinen missratenen verwestlichten Sohn zu finden; bei der Fahrt durch die Landschaft schwärmt er: »Ach, der Duft der indischen Erde (»hindusthani mitthi ki khushbu«) ist etwas ganz Besonderes!« Mit der Hei-
45 Salman Rushdie: »Imaginary Homelands«, in: ders.: Imaginary Homelands. Essays and Criticism 1981-1991, London 1992, S. 9f. 46 Vgl. den Kommentar des Informanten A. Punathambekars, der anmerkt, er freue sich, in Bollywood-Filmen »Straßen voller Menschen« (»crowded streets«) zu sehen. 47 Vgl. S. Rushdie: Imaginary Homelands, S. 9.
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Daheim in der Fremde? mat lässt man die Erde zurück – den Migranten widerfährt im wahrsten Sinne des Wortes eine »De-Territorialisierung«. Es ist die Zukunftsvision von dieser verlorenen Heimat, die sich die Emigranten in den NRI-Filmen zu finden anschicken – im allgemeinen vermittels ihrer Kinder, die als Verkörperungen der (eigenen) Zukunft ausgeschickt werden, sich das verlorene Territorium und die verlorene Vergangenheit wieder anzueignen und der Vorstellung von einer idealen Heimat in der Zukunft Leben einzuhauchen.
UTOPIA: NOSTALGIA DER ZUKUNFT Utopia ist das »Land, das nirgends ist«. Michel Foucault beschreibt Utopia als einen unwirklichen, virtuellen Ort, der entweder die Kehrseite der realen gesellschaftlichen Verhältnisse darstellt oder deren Perfektionierung.48 Ein solcher Ort, sagt Foucault, liege außerhalb allen Raumes. So ist Utopia im NRI-Film auch zunächst die imaginierte Heimat, die sich, getreu dem Prinzip der Utopie, in den Köpfen der Emigranten befindet. Die Protagonisten leben in der Fremde, sie kultivieren dort eine nostalgisch-verklärte Vorstellung von der Vergangenheit, die es, um der als ungenügend empfundenen Gegenwart zu entfliehen, räumlich und ideell in der Zukunft zu reproduzieren gilt: Utopia ist die in die Zukunft projizierte Version von Nostalgia – der für immer verlorenen Heimat. Auch Rushdie äußert sich in diesem Sinne: [E]xiles or emigrants or expatriates, are haunted by some sense of loss, some urge to reclaim, to look back, even at the risk of being mutated into pillars of salt. But if we do look back, we must also do so in the knowledge – which gives rise to profound uncertainties – that our physical alienation from India almost inevitably means that we will not be capable of reclaiming precisely the thing that was lost; that we will, in short, create fictions, not actual cities or villages, but invisible ones, imaginary homelands, Indias of the mind.49
Doch während das Leben in Utopia für Exilanten wie Rushdie eben dies bleibt: utopisch, ist es den Emigranten in der Interpretation Bollywoods sehr wohl möglich, bei der Rückkehr nach Indien genau das wiederzufinden, was sie zunächst verloren glaubten und sich in ihrer Vorstellungswelt neu erschufen. In dem Bestreben, die NRIs zurück in die Heimat zu holen, wird das extradiegetisch Unmögliche im Hindifilm möglich gemacht: die Eroberung Utopias und damit die Rückeroberung der Heimat. Einen an Plakativität kaum zu überbietenden Höhepunkt in der Darstellung der Rückeroberung 48 Vgl. M. Foucault: Andere Räume, S. 39. 49 S. Rushdie: Imaginary Homelands, S. 10.
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Ira Sarma der Heimat bietet der Film Swades (Vaterland, wrtl. »Eigenes Land«, Ashutosh Gowariker, 2004): der Auslandsinder Mohan (Shah Rukh Khan), ein äußerst erfolgreicher Ingenieur, der in New York für die NASA arbeitet, befindet sich zu Besuch in Indien. Bei seiner Abreise wird ihm von einer »echten« – fast möchte man sagen »indigenen« – jungen indischen Frau eine kleine Kiste mit den Worten überreicht: »All dies ist die Essenz unseres Landes, […] unserer Traditionen.«
Die Kiste enthält eine »bunte« Mischung aus Blumen, Gewürzen, Farbpuder, Reis, Saatgut(?) und »Pflanzen von unseren Feldern« und bietet Mohan damit buchstäblich die Möglichkeit der »ReTerritorialisierung«, der Wiederaneignung des Mutterlandes und dessen, was sein Boden hervorbringt. Nostalgia, so wird hier noch einmal deutlich gemacht, ist der Bereich des Sinnlichen, Emotionalen. Mohan entscheidet sich dann letztlich, seine Stellung in den USA aufzugeben und in das Dorf zurückzukehren. Auch in AALC werden Nostalgia und Utopia wieder vereint: Rohans Vater wird nach über zwanzigjähriger Abwesenheit von seiner Frau in Delhi mit offenen Armen empfangen, als habe es diese Zeit der Trennung nie gegeben. Was für ihn bei seinem ersten Telefongespräch mit seiner Frau nach all den Jahren noch ein Sehnen nach der Rückeroberung Nostalgias ist, wird kurz darauf zur Eroberung Utopias.50 »Re-Territorialisierung« allein stellt jedoch noch keine geglückte Eroberung dar. Utopia ist mehr als das Heimatland: sich seiner zu bemächtigen bedeutet, sich der ideellen Dimension zu bemächtigen und das in Nostalgia gültige Wertesystem zu (re-)installieren. Die Reise nach Utopia ist die Reise in die ideale moralische Welt: obwohl es ein durchaus typisches Handlungsmuster des NRI-Films ist, dass ein Großteil des filmischen Geschehens in Indien angesiedelt 50 Was jedoch für die Protagonisten Realität wird, bleibt für die Zuschauer in den Kinosesseln in New York oder London Utopie – eine Zelluloidversion der Idee von einer als Ideal imaginierten Heimat.
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Daheim in der Fremde? ist, wo dem Emigranten (sowie dem Zuschauer) das ideale Leben vor Augen geführt wird, ist Utopia erst erobert, wenn die Abtrünnigen Abbitte geleistet haben oder die Kinder bekehrt worden sind. AALC, wo Delhi nur der Ort der Rahmenhandlung ist, scheint hier wiederum eine Ausnahme zu sein. Dennoch sind Nostalgia und Utopia im Film allgegenwärtig: als sinnliche und ideelle Versionen der Heimatnation dienen sie den Protagonisten als Reservoir für den Entwurf des Lebens in der Fremde. Sie stellen einen reichhaltigen Vorrat an Bildern, Werten und Traditionen zur Verfügung, der die Grundlage für die Erschaffung der Heimat-Heterotopie in der Gegenwart bildet.
HETEROTOPIA »What are the consequences, both spiritual and practical, of refusing to make any concessions to Western ideas and practices? What are the consequences of embracing those ideas and practices and turning away from the ones that came here with us? […] How are we to live in the world?«51 Bollywoods Antwort auf diese Frage fällt eindeutig aus: in AALC – stellvertretend für den NRI-Film der 90er Jahre – ist es nur möglich, in der Fremde eine angemessene Heimat zu finden, wenn man sich nach Heterotopia zurückzieht, den inneren Bereich, der anderen Regeln folgt als die Gastgesellschaft. Nach Michel Foucault ist die Heterotopie ein Ort in einer Gesellschaft, der sein eigenes internes Ordnungsprinzip gegen eine angenommene Unordnung im Realraum außerhalb dieser Heterotopie wendet. Die Heterotopie bildet ein verkleinertes Abbild der oder Gegenbild zur Gesellschaft. Sie ist die Negation des Raumes, in dem wir uns gewöhnlich bewegen. Bollywoods Heterotopia ist ein verkleinertes Abbild der imaginierten idealisierten Heimatnation, es ist die Heimat der Gegenwart, die man sich in der Fremde in Gestalt einer Mikronation als Bollwerk gegen die feindliche Umwelt erschafft. Die Heterotopie, so argumentiert Foucault, setze dem Raum der Gastgesellschaft, der »ungeordnet, mißraten und wirr« sei, einen Raum entgegen, der im selben Maße »vollkommen, sorgfältig und wohlgeordnet« sei: Bollywoods ideale moralische Welt.52 Es nimmt daher kaum Wunder, dass sich AALC ausdrücklich für eine doppelte Emigration ausspricht: der Auswanderung aus Indien in den Westen – so sie denn unvermeidlich ist – muss diejenige von der westlichen Gesellschaft in die indische Exklave, das »Ghet51 S. Rushdie: Imaginary Homelands, S. 18. 52 M. Foucault: Andere Räume, S. 45. Foucault nennt diese Art der Heterotopie »Kompensationsheterotopie«. Beispiele für solche und andere Arten der Heterotopie sind, laut Foucault, z.B. Erholungsheime, psychiatrische Kliniken, Gefängnisse, Friedhöfe, Museen, Bibliotheken oder auch Kolonien.
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Ira Sarma to« – die Heterotopie – folgen. Nur so sind die eigene Kultur und das eigene Überleben gesichert. Nur hier, in der reproduzierten Miniaturausgabe der Heimatnation, ist Miteinander möglich. Hierher kehrt man nach Ausflügen in die Fremde »jenseits der sieben Weltmeere« über die Brooklyn-Bridge zurück und findet eben jene edle Gesinnung und jenen Zusammenhalt, den die »abtrünnigen« indischen Familien nicht mehr gewähren können. Die Heimat-Heterotopie von Bollywoods NRIs ist somit der materiell und ideell domestizierte fremde Raum. AALC stellt deutlich heraus, welche Mittel der Domestizierung zur Verfügung stehen. Auf der Ebene der Außendarstellung kann man sich den Raum durch »Etikettierung« zunächst terminologisch aneignen: der Ort, an den sich die indische Diaspora in AALC zurückzieht, präsentiert sich nach außen als »India Square«, das indische Restaurant, das wir auch in anderen Einstellungen wiederholt im Hintergrund sehen, trägt den Namen »Khusbu« (Duft) – eine deutliche Reminiszenz an Nostalgia.
Die Zurschaustellung der indischen Flagge, eines elementaren Symbols der Nation, verleiht der Vision vom indischen Mikrokosmos schließlich eine politische Dimension. Gleichzeitig wird hier an das Nationalgefühl appelliert – an das von offizieller indischer Seite heraufbeschworene Gefühl der »emotionalen, kulturellen und spirituellen Bindung an das Herkunftsland«.53 Eine materielle Aneignung der Fremde findet ferner durch die Darstellung religiöser Symbole statt: in AALC ist es u.a. der Hindutempel, der sich als durch und durch »indischer« Raum präsentiert; in anderen NRI-Filmen finden sich hinduistische religiöse Symbole, die den sie umgebenden Raum als »Heimat« kennzeichnen, auch an Orten, die nicht speziell für religiöse Zwecke genutzt werden, so z.B. die Hausaltäre in DDLJ
53 http://indiandiaspora.nic.in
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Daheim in der Fremde? oder K3G. Dabei gilt oft: je größer der Altar, desto präsenter die Heimat.
Neben diesen gegenständlichen Attributen sind es jedoch vor allem die anwesenden Personen und die von ihnen ausgeführten Handlungen, die einen Raum der Heterotopie oder aber der Realwelt zuordnen. So kann eine ideelle Domestizierung des fremden Raumes leicht durch »Umwidmung« stattfinden: die kolossale, festungsartige Villa von Rohans Vater wandelt sich vom unbelebten, abweisenden, »fremden« Raum zur Heterotopie, als Puja dort einzieht und sich um ihn kümmert. Ihr anteilnehmendes Verhalten unterscheidet sich deutlich von demjenigen, das als für die Gastgesellschaft typisch angesehen wird: fürsorglich gebietet sie ihm, seine schlechten amerikanischen Gewohnheiten, Alkohol zu trinken und zu rauchen, aufzugeben; sie serviert ihm sein indisches Essen mit »typischen« Gesten, indem sie ihm z.B. mit der Hand einen Chapatti auf den Teller legt; schließlich bringt sie ihn dazu, traditionelle Kleidung (»Dhoti-Kurta«) zu tragen, weil sie in seinem Haus eine »Puja«, d.h. eine hinduistische religiöse Zeremonie durchführen lassen möchte. Die Inszenierung dieser als pan-indisch imaginierten Tradition macht die ideelle Aneignung des fremden Raumes möglich – das Haus wird zum Heim.54 54 In die Kategorie der domestizierenden, imaginierten pan-indischen Traditionen in AALC gehören u.a. auch eine Rakhi-Zeremonie, die Puja mit Sardar und Iqbal, den beiden Taxifahrern, die Rohan beherbergen, durchführt (eine hinduistische Zeremonie, bei der eine Schwester am Vollmondtag des Monats Shravan ihrem Bruder ein Band als Amulett um das rechte Handgelenk bindet), sowie die Sammlung von zerborstenen Fernsehern in Sardars und Iqbals Wohnzimmer, die auf die traditionelle und deshalb geradezu »liebevoll kultivierte« Feindschaft zwischen Indien und Pakistan in Bezug auf das Kricketspiel verweisen.
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Ira Sarma Heterotopie und Realwelt sind also geographisch nicht unbedingt voneinander unterschieden. Foucault spricht von einer Vielheit von miteinander konkurrierenden Räumen oder »Plazierungen« an einem einzigen geographischen Ort.55 Es ist die Interpretation durch die Anwesenden, die ein und denselben Raum wahlweise zur Heterotopie oder zu einem Teil der Realgesellschaft macht. Die Orte der Heterotopie sind somit veränderlich. Sie hängen von der Deutung, aber auch vom Verhalten der Mitglieder ab und sind nicht ohne weiteres zugänglich. Heterotopien bestehen vielmehr, so Foucault, aus einem System von Öffnungen und Schließungen.56 Es herrschen Regeln, die befolgt werden müssen. Werden diese Regeln gebrochen, ist die Heterotopie in ihrer Existenz bedroht – ein gewichtiger Grund für den NRI-Film der 90er Jahre, Regelbrecher zu verstoßen. In der Heterotopie reproduziert sich der NRI die Heimat in der Fremde. Wer sich eine Heimat außerhalb von Heterotopia einrichtet, riskiert mannigfaltigen Verlust – den der Moral, der Familie, der Religion, der Sprache und letztlich des Namens. So entledigt sich beispielsweise Ranjit nach seiner Metamorphose zum amerikanischen Zuhälter mit den Worten »Amerika verändert die Menschen« jeglichen moralischen Gewissens und lässt seine Eltern, die er aus Indien holt, in seinem als »Motel« getarnten Bordell als Zimmerpersonal schuften. Rohans Vater erleidet nach der Emigration gleich zweimal den Verlust seiner Familie: erstens den der indischen Familie (Rohan und seine Mutter), die ihm gleichsam als göttliche Strafe durch ein Missverständnis genommen wird, nachdem er sich gegen ihren Willen auf den Weg in die USA macht; und zweitens den seines »indo-amerikanischen« Sohnes, der sich ihm unter dem Einfluss der fremden Gesellschaft entfremdet; ebenso verwirkt der Sohn sein Recht auf den Vater, als er im Zorn seine Hand gegen ihn erhebt – eine in der idealen moralischen Welt unerhörte Geste – und der Vater ihm androht, ihn zu verleugnen. Die Religion verliert an Bedeutung für Rohan, der sich in New York gegenüber dem Ratschlag, auf Gott zu vertrauen, skeptisch zeigt: »Gott ist doch in Indien, wie soll er denn nach Amerika kommen?«, und Pujas verwestlichte Schwägerin spricht Hindi mit starkem amerikanischem Akzent. Mit am schwersten jedoch wiegt der Verlust des eigenen Namens, da damit der Verlust des Ichs sowie der »indischen« Identität verbunden ist: »Ranjit Kapoor« nennt sich in seiner New Yorker Inkarnation »Ronny Cooper«:
55 Vgl. Foucault: Andere Räume, S. 42. 56 Vgl. Foucault: Andere Räume. S. 44.
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Daheim in der Fremde? Von »Ranjit Kapoor« zu »Ronny Cooper«
In anderen Filmen wird »Sameer« zu »Sam«, »Sandip« zu »Sandy« und »Padma« zu »Paddy«. Wie schwer eine solche Namensänderung wiegt, zeigt sich auch am Beispiel des Hindupriesters »Jaikishen Patel« aus AALC. Er offenbart sein »Doppelleben«, als er Rohan erklärt: »Jaikishen bin ich nur im Tempel, wenn ich der Gesellschaft diene. Hier bin ich Jack Patel. Officer Jack Patel.« Wie Ranjit-Ronny schlüpft er mit dem Namenswechsel nicht nur in andere Kleidung, sondern auch in eine andere Identität, die anderen Spielregeln folgt. Interessanterweise sieht Patel seinen Polizeidienst nicht als Dienst an der Gesellschaft – »Gesellschaft« bedeutet hier immer nur Gesellschaft der Heterotopie, der Diaspora. Von »Jaikishen« zu »Jack Patel«
Die Kinder der Emigranten, die versuchen, sich in der Fremde eine Heimat zu schaffen, stellen also für die Heterotopie eine doppelte Bedrohung dar: sie gefährden durch den von ihnen (teilweise) angenommenen fremden Verhaltenskodex die ideale moralische Welt, mit der sich die Eltern identifizieren, und bringen die tägliche Begegnung mit dem Fremden, dem »Anderen«, mit nach Hause in das Sakrosanktum. Die Fremdheit der Gesellschaft und des dazugehörigen Realraumes spiegelt sich in der Fremdheit der Kinder, ohne jedoch von den Vätern – den Patriarchen – wirklich als solche er167
Ira Sarma kannt zu werden: als Baldev Singhs Tochter Simran in DDLJ erfährt, dass sie mit einem Mann in Indien verheiratet werden soll, den sie noch nie gesehen hat, läuft sie aufgelöst davon – ihr Vater missinterpretiert dieses Verhalten als sittsame Scham und ist stolz darauf, dass er seinen Kindern gute indische Werte mitgegeben hat; in AALC hofft Rohans Vater naiverweise darauf, seinen entfremdeten Sohn über eine geeignete indisch-traditionelle Schwiegertochter zurückzugewinnen und so der Einsamkeit in seinem Hause Herr zu werden. Hier wird vergeblich versucht, gemäß dem filmischen Motto den Weg zurück zu den Wurzeln bzw. in die Heterotopie zu finden – einen der beiden Wege, die die Logik des Films für diejenigen bereithält, die aus dem privaten »indischen« Raum heraustreten und sich auf die Fremde(n) einlassen. Eine solche »Rückkehr« wird von einem festgelegten Zeichenvorrat begleitet: westlich-freizügige schulterfreie Tops und Miniröcke werden durch den traditionellen Sari bzw. den Salwar-Kamiz ersetzt.
Der oder die Abtrünnige bedient sich (wieder) traditioneller Gesten wie dem respektvollen Berühren der Füße eines Älteren, man sieht sie beim Gebet (»Puja«), und anstößige (westliche) Gewohnheiten wie Trinken und Rauchen werden, ebenso wie die Kleidung, ostentativ abgelegt. Der zweite Weg führt die »Deserteure« direkt in die Verbannung: wer sich wie Loveleen in AALC entscheidet, sich dieser Rückkehr zu verweigern, verliert im moralischen Universum von Bollywoods NRIs seine kulturelle Identität und damit sein Recht, der Gemeinschaft, die sich als Teil der großen imaginierten Gemeinschaft der Nation versteht, weiterhin anzugehören. Der folgende Dialog gibt den Streit zwischen Rohan und Loveleen auf einer Party wieder, der ihrer Trennung vorausgeht: Loveleen: Was ist denn so schlimm an der ganzen Sache? Rohan: Schlimm? Diese Kleidung, Rauchen, Trinken, Respektlosigkeit gegenüber Älteren – findest du das in Ordnung? Ein Mädchen sollte tugendhaft
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Daheim in der Fremde? sein, diese Sitten- und Schamlosigkeit ist nicht Teil unserer Kultur (»culture«). Loveleen: Das hier ist meine Kultur. Was kann ich dafür, wenn es nicht deine ist? Du wusstest von Anfang an, dass ich so bin. Rohan: Ich dachte, ich könnte dich ändern. Aber du kannst dich nicht ändern. Loveleen: Das war dein Fehler. Und nicht ich muss mich ändern, du musst dich ändern. Wenn du mich heiraten willst, musst du dir diese Kultur zu Eigen machen. Rohan: Zwischen deiner Kultur und meiner Kultur liegt ein Unterschied wie Tag und Nacht. Für ein Mädchen wie dich gibt es in meiner Kultur keinen Platz!
In einem Schlussmonolog fasst Rohan die Botschaft des Filmes mit unmissverständlichen Worten zusammen: »Es war nicht dein Fehler, es war meiner, nur meiner. Ich habe meine eigene Kultur (»culture«, »sanskriti«), meine Manieren, einfach alles nur um des Erfolges willen vergessen. Aber ich bin jetzt aufgewacht. Ich werde nicht meine Seele verkaufen, um ein erfolgreicher Mann zu werden.« Wird der Wechsel in die Kultur des Gastlandes vollzogen, so bringt dies die Emigranten aus der Sicht Bollywoods nicht nur um ihre »indische« Identität, sondern auch um ihre Seele. Es ist ein Weg, der aus Heterotopia geradewegs in die Hölle führt. Die Grenzen zwischen Heterotopia und der umgebenden Gastgesellschaft scheinen somit scharf gezogen zu sein. Es handelt sich stets um ein Entweder-Oder, der Prozess einer möglichen Eingliederung in die Gesellschaft und Kultur des Gastlandes spielt keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Die Schnittstelle Diaspora/Außenwelt ist vielmehr eine Quelle unendlicher Probleme. So wird Puja im Realraum außerhalb der Heterotopie wiederholt von amerikanischen Männern belästigt, Rohan und Puja werden auf offener Straße ausgeraubt etc.; auch die Stadt selbst scheint sich mitunter gegen die Emigranten zu wenden, als sich Rohan auf einer seiner Taxifahrten plötzlich einer nahezu undurchdringlichen »Wand« aus Hochhäusern gegenüber sieht.
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Ira Sarma Seine Verwirrung führt zu einer Konfrontation mit der Polizei und zum Verlust seiner (illegalen) Taxilizenz. Nicht nur die Bewohner, auch der öffentliche »amerikanische« Raum selbst bleiben den Emigranten fremd und scheinbar feindlich gesinnt. Besonders deutlich wird diese Perspektive in DDLJ formuliert, in dessen bereits erwähnter Eingangsszene auf dem Trafalgar-Square Baldev Singh, Auswanderer der ersten Generation, die folgenden Worte spricht: Dies ist London, die größte Stadt der Welt. Ich lebe hier seit 22 Jahren. Jeden Morgen gehe ich durch diese Straße, und jeden Morgen fragt die Straße mich nach meinem Namen. Sie fragt: Wer ist Chaudhari Baldev Singh? Woher ist er gekommen? Warum ist er gekommen? – Was soll ich darauf antworten? Auch nachdem ich hier die Hälfte meines Lebens verbracht habe, ist mir dieses Land fremd geblieben und ich ihm. Niemand kennt mich hier. Außer diesen Tauben. Denn sie sind wie ich. Sie haben keine Heimat. Sie lassen sich nieder, wo sie Futter finden, und fliegen davon, wenn sie satt sind. Wann kann ich fortfliegen? Ich weiß es nicht. Ich bin durch die alltäglichen Notwendigkeiten gebunden. Aber irgendwann werde ich sicherlich fortgehen – in mein Land. In meinen Panjab.
Die Entwicklung vom Aus- zum Einwanderer bleibt dem Protagonisten verwehrt. In DDLJ wird die Situation der physischen Emigration für den Migranten aufgrund der unüberwindbaren kulturellen Kluft zwischen eigener und fremder Kultur zum Exil, das ihn letzten Endes in genau die innere Emigration zwingt, vor der Rushdie ausdrücklich warnt: »Of all the many elephant traps lying ahead of us, the largest and most dangerous pitfall would be the adoption of a ghetto mentality. To forget that there is a world beyond the community to which we belong, to confine ourselves within narrowly defined cultural frontiers, would be, I believe to go voluntarily into that form of internal exile which in South Africa is called the ›homeland‹.«57 Bollywoods NRIs kennen neben Heterotopie und Realraum keinen »dritten Raum« der Begegnung, der als neutrales Terrain ein unbelastetes Zusammenkommen der Kulturen zuließe.58 Der Treffpunkt – oder besser: der Punkt des Aufeinandertreffens – liegt immer innerhalb des einen oder anderen Raumes, in dem somit stets die eine oder andere Gruppe fremd und potentiell bedrohlich bleibt. 57 S. Rushdie: Imaginary Homelands, S. 19 58 Klaus Dirscherl definiert den »dritten Raum« als einen neutralen Ort interkultureller Kommunikation, an dem keine der beiden Kulturen Vorrangstellung hat. Im dritten Raum, so Dirscherl, sind Kommunikation und Verständigung das Hauptthema. Hier geht man auf die Bedürfnisse des Fremden ein. Vgl. Klaus Dirscherl: »Der dritte Raum als Konzept der interkulturellen Kommunikation. Theorie und Vorschläge für die Praxis«, in: Jürgen Bolten (Hg.): Interkulturelles Handeln in der Wirtschaft. Positionen, Modelle, Perspektiven, Projekte, Sternenfels 2004, S. 12-24.
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Daheim in der Fremde? Die scharfen Grenzen, die Heterotopie und Außenwelt voneinander trennen, sind jedoch angesichts der möglichen Vielheit von Räumen an einem einzigen geographischen Ort nur bedingt geographisch bestimmbar. Zwar gibt es in AALC und anderen NRI-Filmen genau wie in M.Night Shyamalans The Village oder Eran Riklis’ The Syrian Bride59 erlaubte und verbotene Zonen – einige der Schlüsselorte, die diese Regelverstöße im NRI-Film symbolisieren, sind Disco, Bar oder Casino; diese verbotenen Zonen sind jedoch nicht unbedingt räumlich, sondern, was wichtiger ist, vielmehr moralisch von Heterotopia abgegrenzt. Visuelle Versatzstücke der Unmoral, wie unangemessene Kleidung, Alkohol- oder Zigarettenkonsum bilden nicht verortbare, aber nur allzu sichtbare Grenzen. In den verbotenen Zonen wird geraucht, getrunken, gespielt, geflirtet und randaliert, die Frauen sind stark geschminkt und sehen sogar im traditionellen Sari leichtbekleidet aus. Eine der wichtigsten Grenzen der Heterotopie verläuft daher entlang des weiblichen Körpers.60 Der Körper der Frau ist Maßstab des Übertretens von Verboten: die Landkarte, auf der sich verbotene und erlaubte Zonen abbilden, das Terrain, auf dem die Moral umkämpft wird. Das begehrliche Betrachten, Berühren oder gar das teilweise (gewaltsame) Entkleiden der indischen Frau durch westliche oder abtrünnige indische Männer stellt eine Grenzverletzung von außen dar,61 die Zurschaustellung des weiblichen Körpers eine Grenzverletzung von innen. Wie wir gesehen haben, verspielt Loveleen durch ihre Weigerung, in den Schoß der Heterotopie zurückzukehren, ihr Recht auf Zugehörigkeit zur indischen Nation. Der Film geht jedoch noch einen Schritt weiter, indem er sie wiederholt ihrer »Ganzheit« und damit letztlich ihres Menschseins beraubt: in AALC findet im Zusammenhang mit der anrüchigen Club- und Partywelt eine starke visuelle Fragmentierung des weiblichen Körpers statt. In
59 Vgl. die Beiträge zu diesen Filmen im vorliegenden Band. 60 Die Wahrnehmung der Frau als Verkörperung der Nation ist im indischen Kontext nichts Neues: sowohl im nationalistischen Diskurs während der Kolonialzeit als auch in den Bollywood-Filmen der 1950er und 60er Jahre spielt die Frau als Mother India eine wichtige Rolle. Aber während es die Mutter ist, die die Heimatnation verkörpert, ist es nun die Tochter, die die Heterotopie repräsentiert. 61 Vgl. die Belästigung Pujas durch amerikanische Männer. In Pardes wird der indischen Braut (Ganga), die der Patriarch für seinen verwestlichten Sohn Rajiv vorgesehen hat, auf einer amerikanischen Party von einem Gast der Dupatta (Schal, mit dem Schultern und Brustbereich sowie bei Bedarf auch der Kopf bedeckt werden) fortgenommen, so dass sie sich »nackt« fühlt; die Situation führt zu einer Prügelei, bei der der Held Gangas »Ehre« verteidigt. In einer späteren Szene versucht Gangas Bräutigam Rajiv, sie vor der Hochzeit in einem Hotelzimmer zu vergewaltigen.
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Ira Sarma einer losen Folge von Nahaufnahmen unterschiedlicher Körperregionen (aufgeworfene Lippen, Brust, Hüften, nackte Beine) werden Loveleen und andere Frauen, die dieser Welt angehören, zu reinen Objekten der Begierde.
In einer für Bollywood typischen Darstellungsweise wird dem Zuschauer hier das Anstößige als oberflächlich durchaus begehrenswert präsentiert. Ebenso wird der moderne konsumorientierte Westen trotz aller negativen Konnotationen visuell als glitzernd und aufregend dargeboten, wie z.B. Rohans nächtliche Fahrt im BMWCabrio über den Broadway zeigt. Auch ein Besuch im funkelnden Las Vegas oder der zum Standardrepertoire gehörende Anflug auf die »neue Welt« gehören in diese Kategorie sowie die kolossalen Fronten der Wohnhäuser jener NRI-Familien, die es zu Wohlstand gebracht haben.
Ihnen liegt die Welt buchstäblich zu Füßen, wenn sie aus den Fenstern ihrer Büros auf Wolkenkratzer oder Skyline blicken:
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Daheim in der Fremde?
Bollywood zeigt sich hier, seines moralischen Zeigefingers zum Trotz, als die Traumfabrik, die Einblicke in unerreichbare Welten gewährt. Dass hinter den glänzenden Fassaden ein verdorbenes Inneres lauert, das für die Diaspora eine existentielle Gefahr darstellt, wird dem Zuschauer jedoch unmissverständlich mitgeteilt. Eine weitere immens wichtige ideelle Grenze zwischen Heterotopia und Realraum wird durch das Verhalten der Kinder gegenüber ihren Eltern markiert. Heterotopia – das ideale moralische Universum – wird durch unbedingten Respekt gegenüber der Familie und vor allem den Eltern charakterisiert. Respektlosigkeit führt, wie wir am Beispiel des zweiten Sohnes von Rohans Vater bereits gesehen haben, zur sofortigen Verbannung aus Heterotopia. Ebenso wird in Pardes der verwestlichte Sohn Rajiv zum Ende des Films vom Vater mit den Worten verstoßen, »Verschwinde von hier. Go back to America!«, während die reine Ganga dem Jungen aus Heterotopia als Braut zufällt. In DDLJ verlassen Raj und Simran – Held und Heldin – Indien am Ende des Filmes und kehren nach England »zurück«, eine Entwicklung, die innerhalb der Logik des NRI-Films nur deshalb möglich ist, weil sich Raj zuvor als ein Mensch erweist, der vollständig in der indischen Tradition wurzelt. Seine Liebe zu Simran geheimhaltend, hat Raj durch den gesamten Film hindurch versucht, das Wohlwollen ihres Vaters Baldev Singh zu gewinnen. Dies ist ihm fast gelungen, als Baldev schließlich zufällig von der Liebe zwischen den beiden erfährt und Raj in einer Art »Showdown« zur Rede stellt. In einem Hagel von donnernden Ohrfeigen wirft er ihm Verrat und Vertrauensbruch vor. Als sich Simran dazwischenwirft und Raj fragt, warum er nicht mit ihr fortgelaufen sei, erwidert dieser: Nein, Simran, nein. Wir können nur vor denen fortlaufen, die uns fremd sind. Wenn wir vor denen, die zu uns gehören, fliehen wollten, wohin sollten wir
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Ira Sarma gehen? Dies sind Menschen, die wir ehren müssen,62 sie sind unsere Eltern. Ihr ganzes Leben lang haben sie uns aufgezogen, sich um uns gekümmert, uns all ihre Liebe gegeben. Sie können besser über unser Leben entscheiden, als wir es können. Wir haben nicht das Recht, ihnen Leid zuzufügen, nur damit wir selbst glücklich sind. Dein Vater hat Recht, ich bin ein Lügner und Betrüger. Selbst wenn ich um deinetwillen lüge, so bleibt eine Lüge doch eine Lüge. Dein Vater hat Recht, ich bin deiner nicht würdig. Was macht es schon, dass ich kein Gesicht als deines vor mir sehe. Was macht es schon, dass ich an niemanden denken kann als dich? Dein Vater hat Recht. Ich bin ein Nichtsnutz. Wie konnte ich nur denken, dass ich dich würde heiraten können? Was macht es schon, dass dieser Nichtsnutz dich wie verrückt liebt? Was macht das schon? Liebe ist schließlich nicht alles. Dein Vater hat Recht, Simran, dein Vater hat Recht.
Nur wer sich bedingungslos dem Willen des Familienoberhauptes unterwirft und sein eigenes Glück dem der Gemeinschaft hintanstellt, ist der Gemeinschaft würdig. Nur diese die Regeln Heterotopias treffend zusammenfassenden Worte ermöglichen es Raj und Simran, gemeinsam nach England zurückzukehren. Simrans Familie – und der Zuschauer – können sicher sein, dass das Paar dort ein moralisch unanfechtbares Leben führen wird. Die Grenzen zwischen Heterotopia und Realwelt sind durchlässig, nicht zuletzt, da sie geographisch identisch sein können. Trotz dieser Durchlässigkeit ist es nur wenigen vergönnt, sich in beiden Welten ungefährdet zu bewegen. Zu groß ist der Reiz, der von der verbotenen fremden Welt ausgeht, zu empfindlich das moralische Geflecht, das das Funktionieren der Heterotopie nach den von der Heimatnation vorgegebenen Maßstäben garantiert. Dennoch präsentiert uns AALC einen Grenzgänger: Patel, den Priester und Polizisten, dem es als einzigem möglich ist, die Grenze zwischen den Kulturen immer wieder unbeschadet zu überschreiten. Er wechselt seine Identitäten mit Namen und Kleidung scheinbar mühelos, unterwirft sich mit vermeintlicher Leichtigkeit wahlweise den Gesetzen der Außen- und der Innenwelt, und wird damit zu einer Sonderfigur, zum Wanderer zwischen den Welten, der den Film hindurch immer wieder unvermittelt – aber doch vermittelnd – als deus ex machina auftritt. Patel füllt diese Rolle jedoch vollkommen emotionslos aus, er bleibt eine dozierende Randfigur, die für den Zuschauer kaum Identifikationspotential besitzt. Sein Grenzgängertum basiert auf Maskerade und Verwandlung, er ist beides – Jaikishen und Jack. Die Antwort auf die Frage, ob dieser Grenzgänger angesichts seines beständigen Wechsels zwischen den Welten (s)eine wahre Identität bewahren kann oder ob es zu einer Jekyll-and-Hyde-Lösung kommt, bei der letztlich beide Wesen ausgelöscht werden, bleibt AALC dem Zuschauer schuldig.
62 Wrtl. »hamare buzurg«; entspricht dem englischen »our elders«.
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Natives und Immigrants. Martin Scorseses Gangs of New York HANS-EDWIN FRIEDRICH »I hope people will begin to see that this is how America started. The amount of racism and the amount of hatred that existed. They threw everybody from the boats, living together, expecting them all to get along regardless of religion or race. Naturally there’s going to be friction and there’s going to be an explosion. It was really the first test of immigration and democracy, a struggle that still hasn’t ended.«1
Als Martin Scorsese endgültig mit den Dreharbeiten zu Gangs of New York beginnen konnte, waren sein Interesse an dem Stoff und das Desinteresse der Financiers bereits legendär geworden.2 Das gleichnamige Buch von Herbert Asbury3 aus dem Jahr 1928 war ihm schon seit etwa 1970 als geeignete Grundlage für einen Film erschienen, der eine historische Perspektive auf Leitthemen seines Oeuvres ermöglichen könne. Die Resonanz auf diesen Film war jedoch zwiespältig. An den Kinokassen konnte er die in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllen, obwohl er kein Flop war.4 Die Kritikermeinungen waren gespalten. Einig war man sich darin, dass die schauspielerische Leistung 1
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Martin Scorsese in einem Interview mit Alec Cawthorne, in: http://www. bbc.co.uk/films/2002/12/19/martin_scorsese_gangs_of_new_york_interview vom 12. Juli 2005. Vgl. Thomas Binotto: »Die Schlacht um Five Points. Zur schwierigen Genesis zweier Herzensprojekte«, in: film-dienst 56/3, 2003, S. 11-16; Maximilan Le Cain: »Orphans of the Storm. Martin Scorsese’s Gangs of New York«, in: http://www.senseofcinema.com/contents/03/25/gangs_ of_ny.html vom 12. Juli 2005. Vgl. Herbert Asbury: The Gangs of New York. An Informal History of the Underworld, New York, London 1928. Scorsese hat die Figur des Bill ›The Butcher‹ Cutting aus dem historischen Gangster Bill Poole entwickelt (vgl. S. 90ff.). Vgl. die Rezension von Sachar Krinoj in: http://www.filmstarts.de/kritiken vom 12. Juli 2005.
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Hans-Edwin Friedrich von Daniel Day-Lewis »a tremendous performance«5 sei. Der einzige, der ihm das Wasser hätte reichen können, Liam Neeson, war jedoch nur in der ersten kürzeren Handlungssequenz zu sehen. Die anderen beiden Hauptdarsteller, Leonardo Di Caprio und Cameron Diaz, erhielten gemischte Kritiken. Die tadelnden Stimmen sahen diese beiden als das zentrale Problem des Films;6 die lobenden betonten, DiCaprios schauspielerisches Understatement balanciere perfekt die enorme Präsenz von Day-Lewis aus.7 Weitere Kritikpunkte betrafen die Diskrepanz zwischen der Komplexität der Charaktere und der Linearität der Erzählweise. Gangs of New York sei opulentes Ausstattungskino, setze zu sehr auf visuelle Brillanz. Es versteht sich, dass auch die exzessive Gewalt dieses Films die Kritiker spaltete. Die Handlung beginnt im Jahr 1846, sie zeigt im Kampf der Gangs die Schlacht zwischen den Dead Rabbits und den Natives um die Vorherrschaft in den Five Points, dem historisch ersten Slum New Yorks. Die Schlacht wird von den Natives unter der Führung von Butcher Bill Cutting entschieden, der den Anführer der Gegenseite, Priest Vallon, tötet. 1862 wird Vallons mittlerweile erwachsener Sohn Amsterdam aus der Besserungsanstalt entlassen. Er will seinen Vater an Butcher Bill rächen. Gangs of New York verwendet verschiedene Gattungsschemata.8 Er ist von der Anlage her ein Historienfilm, von der Thematik her ein Actionthriller. Die Geschichte ist eine für einen Western typische Rachegeschichte. Als Vorbild ist C’era una volta il West/Once upon a Time in the West (Sergio Leone, 1968) benannt worden; Erzählform und -rhythmus sind an The Wild Bunch (The Wild Bunch – Sie kannten kein Gesetz, Sam Peckinpah, 1969) angelehnt. Allerdings wird dieses Schema gebrochen; Amsterdam Vallon kommt nicht dazu, seine Rache selbst zu vollziehen, denn Bill kommt ursächlich durch die Kanonade auf New York um.
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James Bernardelli: »Gangs of New York. A Film Review«, in: http://moviereviews.colossus.net/movies/g/gangs_ny.html vom 12. Juli 2005. Vgl. Amy Taubin: »Founding Fathers. Martin Scorsese exercises the demons of a convulsive period in american history«, in: Film Comment 39/1, 2003, S. 24-27; die Rezension von Franz Everschor in: film-dienst 56/3, 2003, S. 26f. Vgl. David Sterritt/Mikita Brottman: »A Master and His Embattled Epic. Martin Scorsese’s Gangs of New York«, in: http://indiewire.com/movies_ 011217gangsofny.html vom 12. Juli 2005. Vgl. dazu Jean-Sébastien Chauvin: »Les contrebandiers de New York. Gangs of New York de Martin Scorsese«, in: Cahiers du Cinéma 575, 2003, S. 18-21; Patrick Brion: Martin Scorsese. Biographie, filmographie illustrée, analyse critique, Paris 2004, S. 478f.
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Natives und Immigrants Ein Hauptthema des Films ist die Entstehung einer Nation von Immigranten: der Unterschied zwischen den Gangs besteht lediglich darin, dass die Natives Kinder und Enkel von Immigranten sind. Gangs of New York ist als ätiologische Erzählung angelegt (I); der Konflikt zwischen den beiden Gangs erscheint an der Oberfläche als Konflikt zwischen Eingesessenen und Immigranten (II). Zu fragen ist nach dem Normgefüge, das die Konflikte strukturiert, nach dem Verhältnis von Macht und Politik (III). Die zentrale Norminstanz jedoch ist die Religion (IV).
I. Die letzte Einstellung weitet den Blick von den erzählten Ereignissen auf das gegenwärtige New York aus und stellt damit eine Kausalität her. Amsterdam Vallon erzählt die Geschichte aus dem Off. Er charakterisiert die Stadt New York in der Zeit während des Bürgerkriegs in Anspielung auf die berühmte Metapher vom Melting Pot:9 New York sei keine Stadt, sondern »more a furnace« [16:08],10 in der die Stadt als sozialer Organismus überhaupt erst geschmiedet werde. Folgerichtig konzentriert sich der Film auf ätiologische Muster und erzählt eine ätiologische Geschichte. Der historische Aspekt der Ätiologie wird in der Anfangssequenz visualisiert, die den Weg der Dead Rabbits aus den Katakomben in die Five Points, einem belebten Platz der Stadt im 19. Jahrhundert, zeigt. Darüber hinaus entfaltet der Film eine anthropologische Ätiologie, die Martin Scorsese in einem Interview betont hat: Ich habe in diesem Film versucht, alles auf die Grundlagen des Lebens zu reduzieren. Auf die primär körperlichen, kreatürlichen Grundlagen des Zusammenlebens. Was brauchten die frühen Einwanderer zuallererst, wenn sie an den New Yorker Quais ankamen? Essen! Wenn man sich erst einmal satt gefressen hat, braucht man ein Obdach. Das ist wie in der Dreigroschenoper: Erst das Fressen, dann die Moral.11
Die ankommenden Einwanderer aus Übersee erscheinen nach der Überfahrt auf ihre Kreatürlichkeit reduziert, um dann in Amerika-
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Vgl. Jean Mottet: »La représentation de New York dans l’oeuvre de Martin Scorsese«, in: Michel Estève (Hg.): Martin Scorsese, Paris, Caen 2003, S. 5482; hier S. 69ff. 10 Nachweise aus dem Film erfolgen nach der DVD-Edition mit Zeitangabe (Splendid-Film, 2003, 2 Disc-Special Edition). 11 Katja Nicodemus: »Zum Kampf gehören Steaks. Ein Gespräch mit Martin Scorsese über seinen neuen Film Gangs of New York, Knackwurst und Gewalt«, in: http://zeus.zeit.de/text2003/08/Scorsese-Interv_ vom 12. Juli 2005.
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Hans-Edwin Friedrich ner verwandelt zu werden. Boss Tweed lässt an der Landestelle im Hafen warme Suppe verteilen; frisch rekrutierte Soldaten fragen als erstes, ob sie nun etwas zu essen bekommen. Zu den zentralen Merkmalen von Butcher Bill gehört, dass er sich als Carnivor in Szene setzt. Die ätiologische Komponente bestimmt auch die archaische Zeichnung der Gangs.12 Die Dead Rabbits tragen blutige Hasenpelze als Stammestotem. Ich wollte einen vorzivilisatorischen Zustand schildern. Der erste Kampf zwischen den Zuwanderern und den »eingeborenen« Amerikanern [...] sollte wie eine archaische Stammesschlacht aussehen. Ein wildes, blutrünstiges Gemetzel, mit Messern, Schwertern, Klauen und Zähnen, in dem sich der Zuschauer zeitlich nicht orientieren kann.13
Die Ausstattung der Kämpfer und ihre Vorbereitungen zum Kampf zeigen das. Die Köpfe der Gangs sind Häuptlinge, die ihre Stellung und ihr Charisma ihrer Kampfkraft verdanken und das archaische Gesetz des Kampfes respektieren, das den oberflächlich anarchisch wirkenden Lebensverhältnissen der Five Points seine Struktur gibt. Die Entscheidung in der Schlacht hängt allein davon ab, welcher Häuptling im Kampf Mann gegen Mann siegt. Priest Vallons Tod bedeutet zugleich das Ende der Schlacht. Bill behandelt den Sieg in der Schlacht als mythische Gründungsurkunde. Die »Battle of Five Points«, der Sieg der Natives über die fremden Einwanderer, ist ein ›Nationalfeiertag‹, dessen Jahrestag als »night for Americans« [1:38] begangen wird. Die Rahmung der Kampfhandlungen erfolgt durch Rituale. Vallon rasiert sich vor dem Kampf, dabei schneidet er sich. Sein Blut – so bestimmt er – soll an der Klinge bleiben. Nach der verlorenen Schlacht ist dieses Messer verschwunden. Amsterdam Vallon erhält es jedoch in dem Moment wieder, wo der Endkampf beginnt. Priest Vallon fordert seinen Sohn zur Rache auf. Der Racheschwur gehört zu einer Rechtssituation, die einem segmentär stratifizierten Gesellschaftstyp zuzuordnen ist. Ein weiteres Ritual ist die Brandmarkung Amsterdams durch Bill. In den Auseinandersetzungen der Gangs werden Entstehung, Wandel und Bedeutung von Ritualen immer wieder erkennbar.
12 Vgl. Rüdiger Suchsland: »Gewalt als Motiv des Lebens. Gespräch mit Martin Scorsese über Gangs of New York«, in: film-dienst 56/3, 2003, S. 16-18; P. Brion: Scorsese, S. 476f. 13 K. Nicodemus: Kampf.
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Natives und Immigrants
II. 1862, so erzählt Amsterdam aus dem Off, erlebt die Stadt eine Einwanderungswelle. In großer Zahl fliehen Iren vor der Hungersnot in Irland. Die Immigranten werden hasserfüllt empfangen. Die Perspektive der xenophoben New Yorker hat aber zwei Gesichter, wie in einem Gespräch zwischen Tweed und Butcher Bill deutlich wird. Tweed: That’s the building of our country right there, Mr. Cutting. [...] Cutting: I don’t see no Americans. I see trespassers. Irish hobs who’d jump for a nickle what a nigger does for a dime and a white man used to get a quarter for. What have they done? Name one thing they’ve contributed. Tweed: Votes. [1:09]
Im Vorspiel wird der Konflikt zwischen Natives und Dead Rabbits als Kampf derer, die in New York geboren sind, gegen die Fremden, die man aus dem Land wegjagen will, inszeniert. Dieser Konflikt zwischen Eingesessenen und Immigranten ist in erster Linie jedoch reine Proklamation. Die ideologische Elementaropposition wird in der Realität immer wieder unterlaufen. Die Dead Rabbits werden in der Exposition nicht durch ethnische Merkmale, sondern durch ihren Glauben markiert. Erst später im Verlauf der Handlung wird deutlich gemacht, dass es sich um irische Einwanderer handelt. Obwohl Bill Cutting als Ziel der Schlacht verkündet hatte, die Fremden aus dem Land jagen zu wollen, geschieht nichts dergleichen. Der rituelle und gerade nicht pragmatische Charakter dieser Worte zeigt sich bald. Die Dead Rabbits sind zwar als Gang verschwunden. Aber die einzelnen Gangmitglieder sind in andere Sozialverbände integriert. Happy Jack ist Constable geworden. Der Friseurladen Monk McGinns liegt an den Five Points optisch abgesetzt auf einer Erhöhung. McGloin gehört sogar zu Bills Entourage. Cutting stellt ihn Tweed mit den Worten »he used to be an Irishman« [18:07] vor. Bill hasst Irland als »excrementitious isle« [43:26]. »God [...] squatted over the side of England and what came out of him was Ireland« [43:08]. Er bezeichnet Amsterdam als irischen Wechselbalg, fügt aber hinzu: »No offence, son« [43:10]. In seiner Umgebung sind zahlreiche Iren als anerkannte und respektierte Gangmitglieder zu finden. Bills Unterscheidung von Natives und Immigrants ist machtpolitisch begründet, nicht aber substantiell gefüllt. Das kann auch gar nicht anders sein, denn das Kind eines Immigranten ist bereits ein »Native«. Amsterdam Vallon weist auch darauf hin, dass er bereits hier geboren sei, Irland gar nicht kenne. Im Gespräch mit Tweed offenbart Bill seine Motive:
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Hans-Edwin Friedrich My father gave his life making this country what it is. Murdered by the British with all of his men on the 25th of July anno domini 1814. One thing I’m not gonna help is befoul his legacy by giving this country over to them whose had no hand a-fightin’ for it. Why? Because they come off the boat crawling, with lice and begging you for soup? [1:10]
Bill definiert einen Native als »man who’s willing to give his life for his country. Like my father done.« [1:56:58] Das Star Spangled Banner wird zunehmend zu seinem Attribut.14 Ein amerikanischer Patriot kann kein unversöhnlicher Feind von Immigranten sein, sobald diese sich zum ›making of this country‹ bekennen. Die Verwandlung von Immigranten in Amerikaner vollzieht sich mit der Ankunft. Sie sind votes, also im System repräsentiert, wie korrupt es auch sei. Sie werden für die Verteidigung des Landes als Soldaten rekrutiert. Die Draft Riots richten sich gegen die Zwangsrekrutierung durch die allgemeine Wehrpflicht; diese macht aber aus Angehörigen einer Söldnerarmee solche einer Volksarmee, die für ihr Land kämpfen. Der historische Handlungshintergrund des Civil War wird erst zugänglich über Dokumente – Inserts von Zeitungsseiten, Flugschriften usw., sie wird darüber hinaus vermittelt über Kommentare einzelner Figuren, am Ende kommt der Krieg in die Stadt. Das Leitthema des Bürgerkriegs ist die Aufhebung der Sklaverei. Der Kampf gegen den Süden ist ein Kampf gegen die Sklaverei für die Gleichberechtigung; de facto bleibt aber Rassismus gerade auch im Norden allgegenwärtig. Aus der Abneigung gegen ›nigger‹ macht niemand ein Hehl. Kaum brechen Unruhen aus, werden Schwarze gelyncht. Dieser Schandfleck bleibt.
III. Dem Titel entsprechend zeigt der Film eine Vielfalt von Gangs als Machtfaktoren, konzentriert sich aber auf den exemplarischen Konflikt der beiden dominierenden. Personales Zentrum der Gangs ist Bill Cutting, der die Five Points eindeutig beherrscht und das Sagen hat. Ideologie, Politik und Machtstreben sind unentwirrbar verquickt: »Everybody owes, everybody pays, because that’s how you stand up against the rising of the tide.« [43:50] Bill sieht sich als Garant von Ordnung im Chaos der Menschenmassen. Während des Bürgerkriegs vollzieht sich ein Prozess der Ausdifferenzierung, an dessen Ende die Macht der Gangs und die Politik – bei aller Korruption im Einzelnen – voneinander getrennt sind. Das Engagement Tweeds für die Wahl McGinns ist nicht nur Opportunismus, sondern auch deutlicher Ausdruck dieses Vorgangs. 14 Vgl. Maria T. Miliora: The Scorsese Psyche on Screen. Roots of Themes and Characters in the Films, Jefferson, NC, London 2004, S. 106ff.
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Natives und Immigrants Bill steigert sich zunehmend in einen Machtrausch hinein; er wandelt sich zu einem Diktator im Cäsarenwahn, der sich reziprok zu seinem aufgrund der sozialhistorischen Entwicklungen schleichenden Machtverlust steigert. Auf der Höhe seiner Macht stellt er sich Amsterdam, dessen Vornamen scherzhaft replizierend, mit den Worten »I am New York« [38:50] vor. Das ist ein sehr ernster Scherz, dessen Kernaussage eine Konstante von Bills Selbstdarstellung ist und sich am Ende zu Hybris steigert. Bill adaptiert ein Bibelwort: »I know your works. You’re neither cold nor hot. So because you are lukewarm I will spit you out of my mouth.« [2:10:05; Hervorhebung vom Verfasser] Die Demokratie ist auch der Sieg der Lauheit gegen Hitze und Kälte, die Zähmung von Macht durch Institutionalisierung. Der Mord am gewählten – oder besser: gezählten – Amtsträger besiegelt seinen Untergang. Bills charismatische Macht beruht auf Gewalt und körperlicher Präsenz. Spektakuläre Inszenierungen wie Feuertrunk und Messerwurfvorführung am Jahrestag der Schlacht symbolisieren seine Herrschaft. Rot ist seine Farbe, sei es der blutverschmierte Metzgerkittel, sei es seine demonstrativ rote Jacke beim Begräbnis McGinns. Bill vertritt das Faustrecht, muss also zugleich der mächtigste Krieger sein. Diese Form der Macht ist davon abhängig, dass die Verhältnisse in den Five Points durch permanenten Kampf bestimmt bleiben. Bill charakterisiert die Five Points entsprechend: »Mulberry Street and Worth, Cross and Orange and Little Water. Each of the Five Points is a finger. When I close my hand it becomes a fist.« [19:44] Optisch sind diese Sätze unterlegt durch eine Karte der Five Points, die als topographisches Zentrum New Yorks inszeniert werden. Bills Herrschaftsform basiert auf personalen Beziehungen – jeder ist durch Aufträge und Arbeitsverhältnisse von ihm abhängig. Er kann Constable Jack mit der Beseitigung Amsterdams beauftragen. Das Gegengewicht zum Machtfaktor Cutting ist der Politiker Tweed, der zu Beginn der Handlung das Bündnis mit Bill gesucht und geschlossen hat. Beide agieren lange gleichberechtigt nebeneinander. »Was mich [...] an der Unterwelt in Gangs of New York interessiert hat, ist die Tatsache, dass die Gangs um 1850 in die sozialen und politischen Kämpfe ihrer Zeit eingebunden waren. Sie unterstützten bestimmte Politiker und verstanden sich auch als Stimmeneintreiber.«15 Dieses Verhältnis von Politiker und Gangster wird in einem ausführlichen Gespräch deutlich, in dem Tweed Bill das Angebot unterbreitet, Wählerstimmen von ihm zu kaufen. Wie drastisch dieses wechselseitige Geschäft ausfällt, zeigt die Sequenz, in der Bill vier Opfer aus seiner Gang für eine öffentliche Hinrichtung zur Demonstration von Recht und Gesetz bereitstellt. 15 K. Nicodemus: Kampf.
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Hans-Edwin Friedrich Doch die Verhältnisse ändern sich: »The earth turns but we don’t feel it move.« [2:00:24]. Bill ist in den Augen Tweeds zwar der große Kämpfer, kann aber nicht ewig kämpfen. Dem entgegnet Bill, er könne kämpfend untergehen. Die anlandenden Immigranten sind »not our future« [1:11]. »Civilisation is crumbling« [1:27]. Bills Untergang ist auf die fehlende Bereitschaft zur Anpassung an veränderte Verhältnisse zurückzuführen. Der Film widerlegt seine Haltung, zollt ihr aber andererseits Respekt. Bill erscheint zunehmend als »relic of the ancient law« [2:08:03] – das Gesetz des Kampfes – angesichts der »new world« [2:08:11], die Tweed vertritt. Die Kernszene von Bills Untergang ist das Attentat, das als Kontrafaktur des Attentats auf Abraham Lincoln inszeniert ist, den Bill als Vertreter der neuen Zeit hasst und dessen Konterfei er als Zielscheibe für Messerwürfe benutzt. Er besucht ein Theater; auf der Bühne ist ein Gegenwartsstück zu sehen, das Lincolns Befreiung der Afroamerikaner mit satirischer Häme kommentiert. Als die Zuschauer zu randalieren beginnen, wird ein Pistolenattentat auf Bill verübt. Im Gegensatz zum Attentat auf Lincoln jedoch misslingt es aufgrund der Geistesgegenwart Amsterdams. Lincolns Politik überlebt die Person; Bills Macht geht mit ihm unter. Da er seine Macht auf einem Feuerwerk der Furcht aufbaut, ist das Attentat ein fundamentales Problem. Die Furcht der anderen vor ihm ist nicht mehr groß genug. Man wagt, ihn anzutasten. Bills Herrschaftsform wird anachronistisch. Dies erkennt als einer der ersten Monk McGinn. In der Einleitungssequenz erscheint er als Söldner, dem für neue Kerben an seinem Knüppel von Priest Vallon Geld zugesagt wird. Er beansprucht nach dem Sieg Bills seinen Lohn, den er sich aus der Brusttasche des toten Vallon nehmen darf. McGinn ist derjenige, der den erwachsenen Amsterdam eindeutig erkennt, aber in Distanz bleibt. Erst später werden die wahren Beweggründe seines Handelns deutlich. Die Kerben sind keine Trophäen, ihre Funktion ist, »to remind me what I owe God when I die« [1:46:28]. Er hatte nicht Geld, sondern Vallons Rasiermesser an sich genommen, um es für dessen Sohn aufzubewahren. Monk steht in Distanz zu den Normen Vallons und Cuttings – Bill schätzt den toten Vallon, weil beide denselben überholten Prinzipien huldigen. Monk wird als katholischer Ire zum Sheriff gewählt. Bill fordert ihn zum Kampf, den Monk verweigert, und erschlägt ihn öffentlich. Damit hat er aber nunmehr einen Amtsträger erschlagen und sich in einen Konflikt mit der demokratischen Ordnung gebracht. Das Begräbnis McGinns ist eine Demonstration der Macht des Staates. Amsterdam hat den Blick für die Zukunft, denn er fordert einen Iren als Sheriff. Er gibt die Vorstellungen seines Vaters auf. Dieser hatte eine Nische gesucht, in dem sein Volk überleben konnte, und die Dead Rabbits als geeignetes Instrument
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Natives und Immigrants gesehen. Amsterdam hingegen wählt den Weg der Partizipation am politischen System, dem er seine Gang unterordnet. Der Konflikt der Gangs und der Bürgerkrieg werden visuell parallelisiert. Die Kriegsentwicklung ist zwar permanent, aber zunächst nur indirekt spürbar. Immer wieder werden Särge von Gefallenen am Hafen gezeigt, ständig werden Freiwillige geworben, schließlich brechen die Draft Riots aus. Zunehmend geschieht, was, so Amsterdam aus dem Off, man niemals geglaubt hätte: dass der Krieg nach New York kommt. Die Armee geht gegen den aufständischen Mob in der Stadt vor. Dieses Vordringen des Krieges drängt die Gangs aus dem Machtzentrum. Am Ende soll die Revancheschlacht zwischen Dead Rabbits und Natives stattfinden; die Kanonade auf New York allerdings bricht sie ab. Bill sucht im Schutz des Schutts den Kampf der Häuptlinge gegen Amsterdam. Er fällt nicht von dessen Hand, sondern durch einen Querschläger. Die Gangs sind entmachtet, abgedrängt in den Untergrund. Sie repräsentieren nicht mehr die Gesellschaft, sondern können höchstens Parallelgesellschaften bilden.16
IV. In einem Interview hat Martin Scorsese ein zentrales Thema seines Films betont: Wenn die Religion dann tatsächlich Einzug hält, ist sie stark genug, um aus den Iren eine kohärente Gruppe zu machen. Es ist ihr Glaube, der sie aneinander bindet. Wenn Liam Neeson am Anfang von Gangs of New York das Kruzifix hochhält, dann entpuppt es sich als Schwert. Jesus wird in diesem Augenblick zum Kriegsgott. Da ist es nur ein kleiner Schritt zu den Kriegsgöttern der keltischen Stämme.17
Integrativer Faktor der jeweiligen Gruppe ist die Religion. Daher ist wichtig, dass die Iren in erster Linie nicht als Nation erkennbar werden, sondern durch ihren Glauben gekennzeichnet sind. Bill feindet sie als Anhänger der »Roman Popery« [7:59] an, deren Oberhäupter der Erzbischof und »their king in a pointy hat what sits on his throne in Rome« [1:10:07] sind. In einem Monolog aus dem Off deutet Amsterdam seine ethnische Herkunft unter religiösen Sinnschemata. Our faith is the weapon most feared by our enemies. For thereby shall we lift our people up against those who would destroy us. Our name is called the
16 Vgl. Mark Nicholls: Scorsese’s Men. Melancholia and the Mob, Melbourne 2004, S. 151. 17 K. Nicodemus: Kampf; vgl. M.T. Miliora: Scorsese Psyche, S. 29ff.
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Hans-Edwin Friedrich Dead Rabbits to remind all of our suffering and is a call to those who suffer still to join our ranks however so far they may have strayed from our common home across the sea – for with great numbers must come great strength and the salvation of our people. [2:01:15]
Priest Vallon ist kein geweihter Priester, weist aber alle einschlägigen Attribute auf. Der Glaube ist für Bill das einzige, was ihn und Vallon voneinander trennt. Die Bedeutung der Religion wird in der Exposition des erwachsenen Amsterdam Vallon deutlich. Die erste Einstellung zeigt ihn vor einem mannshohen Kreuz im Hintergrund links stehend. Das Kreuz ist immer wieder an wesentlichen Stellen als Motiv eingesetzt.18 Amsterdam wird aus der Besserungsanstalt entlassen; seine erste Handlung in Freiheit ist, dass er die Bibel, die ihm mitgegeben wurde, ins Wasser wirft. Er bekennt sich mit dieser Handlung unmissverständlich als Katholik. Das kämpferische Moment des Glaubens repräsentiert das Medaillon von Priest Vallon. Es zeigt den Erzengel Michael, der den Satan aus dem Paradies vertrieben hat. Priest Vallon gibt es vor der Schlacht an seinen Sohn. Der vergräbt es nach dem Tod des Vaters in den Katakomben. Sein erster Weg als Erwachsener führt ihn wieder dorthin, wo er das Medaillon ausgräbt. Es wird ihm von Jenny, die als Taschendiebin arbeitet, gestohlen. Später durchbohrt Butcher Bill es am Jahrestag der Schlacht zur Demonstration seiner Macht mit seinem Messer. An diesem Punkt setzt die Darstellung von Amsterdams Weg als Imitatio Christi ein. Johnny Scirocco, Amsterdams engster Freund, wird zum Judas und verrät ihn an Bill. Im ersten Kampf gegen Bill unterliegt Amsterdam; er wird erniedrigt und blutig geschlagen. Es folgt der descensus, denn Jenny bringt ihn in die Katakomben und pflegt ihn dort wieder gesund. Amsterdam steigt, nunmehr mit einem Stigma gezeichnet, aus den Katakomben in das Tageslicht der Five Points auf. Religion hat aber auch ein integratives Moment. Sie erscheint als inneres Band, das aus den heterogenen Ethnien, aus Reichen und Armen, aus Konfessionen und Glaubensrichtungen Amerika schmiedet. Beim Missionsball heißt es, alle Christen gleich welcher Konfession seien willkommen, besonders die römisch katholischen Freunde aus Irland – so die Ansprache eines Reverend. Den Höhepunkt dieses Themenstrangs zeigt das parallele Syntagma [2:17:34ff.], das die quasi liturgischen Kampfvorbereitungen zeigt. Das einende Band der Religion ist eine Sache, die unterschiedliche Funktionalisierung der Religion zu weltlichen Zwecken eine andere. 18 Vgl. Heinz-Dieter Rusche: »Die Bürde der Tradition«, in: Peter W. Jansen/ Wolfram Schütte (Hg.): Martin Scorsese, München, Wien 1986, S. 7-30, hier S. 16; Patrice Bouin: »Reliquaire cinéphile. Martin Scorsese«, in: Cahiers du Cinema 575, 2003, S. 14-17.
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Natives und Immigrants Das unterscheidet die drei betenden Gruppen: Bill, Amsterdam und die Reichen in 5th Avenue. Die Dominanz der Religion muss ihre Grenze in dem Moment der Schlacht finden, wo sie von der säkularen Macht des Staates gesprengt wird. »The people in America [...] had to [...] insist on the separation of church and state.«19
19 Martin Scorsese, zitiert nach: Jan Christie: »Manhattan asylum«, in: Sight & Sound 13/1, 2003, S. 20-23, hier S. 21.
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Eran Riklis: The Syrian Bride1 ISABELLA SCHWADERER
Der israelische Regisseur Eran Riklis drehte 1999 seinen Dokumentarfilm Borders (Grenzen), für den er in vier Regionen Israels filmte. Hier zeigt er verschiedene kleine Grenzgeschichten über Israelis und Araber, Schmuggler und Soldaten. Eine der Episoden handelt von einer drusischen Braut, deren Hochzeit aufgrund eines bürokratischen Durcheinanders nicht stattfinden kann. Insgesamt habe er damals nur fünf Stunden auf den Golanhöhen verbracht, die Geschichte habe ihn jedoch nicht mehr losgelassen. Zwei Jahre später begann er, seine drusischen Bekannten regelmäßig zu besuchen, um ihre Geschichten anzuhören.2 Das Produkt dieser langen Auseinandersetzung mit der Mentalität der Menschen, die ihre syrische Identität trotz israelischer Herrschaft behalten wollen, ist Eran Riklis’ jüngster Film, The Syrian Bride (Die Syrische Braut, 2004).3 Verpackt in die Geschichte einer Hochzeit voller Hindernisse erzählt dieser Film auf bewegende Art und Weise vom Konflikt der Generationen, dem schwierigen Zusammenleben verschiedener Kulturen und der prekären politischen Lage innerhalb der von Israel besetzten Gebiete. Konzentriert auf einen Tag, den Hochzeitstag von Mouna, einer jungen Frau aus dem von Israel besetzten Teil der Golanhöhen, schildert der international produzierte Film das Leben einer Familie, die unter dem Druck der Verhältnisse zu zerbrechen droht, und zeigt gleichzeitig, wie Grenzen, wie sie die politischen und gesellschaftlichen Zwänge ziehen, durch den Mut einzelner Individuen überwunden werden können. Obwohl das Thema des Films, ein Familienportrait, sehr privat ist, ist der Druck der prekären politischen Lage so groß, dass sie im Hintergrund die Entwicklungen bestimmt. Da der Film diesbezüg1 2 3
Ich danke Maria Oikonomou, Maria Röder und Richard Schwaderer für ihre scharfsinnigen Hinweise. Vgl. Igal Avidan: »Interview mit Eran Riklis«, in: http://www.qantara.de/ webcom/show_article.php/_c-299/_nr-189/i.html vom 16. März 2005. Der Film gewann im Jahr 2004 viele internationale Preise, u.a. bei den Festivals von Bastía, Montreal, Gent, Auxerre und Locarno.
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Isabella Schwaderer lich beim Zuschauer sehr viele Kenntnisse voraussetzt, sollen an dieser Stelle einige Bemerkungen dazu gemacht werden:
GESCHICHTLICHER ABRISS ZUM GOLAN (ARABISCH: AL-DSCHULAN, HEBRÄISCH RAMAT HAGOLAN) 1923 trat England die Region im Tausch gegen Mossul an die Franzosen ab, und mit der Unabhängigkeit Syriens 1946 gingen die Ansprüche von Frankreich auf Syrien über. Die Golanhöhen waren seit dem Abzug der Engländer mehrmals Schauplatz von Kampfhandlungen zwischen Israel und Syrien geworden, und zwar aus zwei Gründen, einmal wegen des Wasserreichtums der Gegend – Israel bezieht einen großen Teil seines Trinkwassers indirekt (über den Jordan und den See Genezareth) von den Golanhöhen –, und zweitens ist die strategische Lage des Gebiets so, dass das Jordantal und seine Siedlungen unmittelbar von einem Angriff von den Golanhöhen bedroht wären. So drangen die Syrer 1948, kurz nach dem Entstehen des Staates Israel, vom Golan aus über den Jordan vor, zogen sich 1949 aber wieder zurück. Im Sechs-Tage-Krieg 1967 eroberte Israel neben dem Gazastreifen und dem Westjordanland auch große Teile des Golan. Die Höhen wurden als Beobachtungsund Frühwarnstationen ausgebaut. Im Yom-Kippur-Krieg 1973 gelang den Syrern ein Überraschungsangriff Richtung Jordantal, der aber in Folge von Nachschubmangel und fehlender Luftunterstützung zum Stehen kam. Israel gelang es in kürzester Zeit, den gesamten Golan zurückzuerobern. Der weitere Vorstoß kam erst an der Hügelkette westlich Sassa in Syrien zum Stehen. Auf Initiative der USA unterzeichneten Syrien und Israel am 31. Mai 1974 in Genf ein Abkommen zu Truppenentflechtung. Es handelt sich dabei jedoch nur um einen Waffenstillstand und nicht um einen Friedensvertrag. Das Abkommen sieht vor, dass Israel sich auf die Positionen zurückzieht, die es bereits 1967 erobert hat. Es legt eine AlphaLine (A-Linie) im Westen, die von den Israelis nicht überschritten werden darf, und eine Bravo-Line (B-Linie) im Osten, die von den Syrern nicht überschritten werden darf, fest. Dazwischen liegt die entmilitarisierte Pufferzone (Area of Separation), die von UNDOF überwacht wird. Die A-Linie verläuft etwa 20 km ostwärts des Jordantales und ist so gezogen, dass die den Raum Kuneitra beherrschenden Höhenzüge in israelischem Besitz bleiben. Westlich Kuneitra wird dieser A-Linie eine durch die A1-Linie begrenzte Zone vorgelagert, die nur von israelischen Militärpersonen ausgespart werden muss. Durch UNDOF werden Stützpunkte innerhalb der Pufferzone und an den Zufahrtsstraßen betrieben. Zwischen den Stützpunkten erfolgt eine rege Patrouillentätigkeit. Beiderseits der Pufferzone befindet sich eine jeweils 25 km breite Zone (Area of
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Eran Riklis: The Syrian Bride Limitation), die in drei Zonen unterteilt ist und in der die Höchstzahl an Soldaten, Waffen und Kampfpanzern festgelegt ist.4 Zivilisten dürfen diesen Bereich nur in Ausnahmefällen betreten, wie beispielsweise anlässlich einer Hochzeit, bei der die Familie die Braut ein Stück begleitet. 1981 wurde der Golan von Israel annektiert, was die UN-Generalversammlung für rechtswidrig erklärte.5 1999 begannen neuerliche Gespräche zwischen Syrien und Israel. Nach dem Tod Hafez alAssads am 17. Juni 2000 übernahm dessen Sohn Bashar zunächst die Funktion des Generalsekretärs der regierenden Baath-Partei, am 25. Juni wurde er durch das Parlament zum Präsidenten gewählt. Die Handlung des Films entwickelt sich vor dem Hintergrund eben dieser Ereignisse. Bis heute steht die israelische Besetzung der Golanhöhen einem Friedensschluss mit Syrien im Weg. Nachdem 1999 Verhandlungen unter dem israelischen Premier Ehud Barak scheiterten, ist eine Einigung in naher Zukunft unwahrscheinlich.6 Die israelische Regierung unter Ariel Scharon kündigte Anfang Januar 2004 sogar an, in neuen Siedlungen weitere 900 Familien auf dem Golan ansiedeln zu wollen. Nicht nur die strategische Bedeutung der Region macht sie zu einem Zankapfel zwischen den beiden Staaten, mindestens ebenso wichtig ist die geradezu sinnliche Begierde nach diesem fruchtbaren und wasserreichen Landstrich, der schon die Kreuzfahrer angelockt hatte.7 Der Film thematisiert dies auch, allerdings eher am Rande. Ein Freund des israelischen Beamten, der für die Ausreise von Mouna sich aus Jerusalem auf den Weg macht, will unbedingt Äpfel aus dem Golan und erinnert ihn mehrmals daran, und der Bruder Mounas in Damaskus wünscht sich als einziges Mitbringsel Kaffee aus der Heimat. Sowohl die israelische als auch die drusisch/syrische Seite hat also einen sehr unmittelbaren, fast schon mythischen Bezug zur heimatlichen Erde. Die Bevölkerung auf den Golanhöhen setzt sich heute aus etwa 17.000 jüdischen Siedlern in 33 Siedlungen und der gleichen Anzahl Drusen in einem kleinen Gebiet im Norden des Golan mit fünf Dörfern zusammen. Dieser vergleichsweise kleinen drusischen Gemeinschaft gehört auch Mounas Familie an. Die besondere sozio4
5 6 7
Vollständiger Text unter: http://www.mfa.gov.il/MFA/Peace+Process/Guide +to+the+Peace+Process/Israel-Syria+Separation+of+Forces+Agreement+-+ 1974.htm vom 6. Januar 2007. Vgl. Resolution des UN-Sicherheitsrates 497 vom 17.12.1981. Zum Stand der Friedensverhandlungen vgl. die ausführlichen Berichte des Israelischen Außenministeriums unter: http://www.mfa.gov.il/MFA. Vgl. Henryk M. Broder: »Grenzgänger der Liebe«, in: Spiegel Online vom 21. März 2005.
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Isabella Schwaderer kulturelle und politische Lage dieser Bevölkerungsgruppe beeinflusst bis heute entscheidend den Alltag ihrer einzelnen Mitglieder. Das Siedlungsgebiet der Drusen ist nicht zusammenhängend. Neben den bereits erwähnten Drusen auf den Golanhöhen gibt es einige weitere drusische Dörfer in Israel; im Libanon leben etwa 400.000 Drusen. Die Entstehung der Religion der Drusen reicht ins Ägypten des elften Jahrhunderts zurück, als die Dynastie der Fatimiden, die sich zur so genannten Ismailiia bzw. Siebener-Schia bekannten, herrschte. 1010 verkündete der ägyptische Sultan alHakim Bi-amr-illah, dass Gott in ihm Fleisch geworden sei. Im Jahre 1021 fand die Herrschaft al-Hakims ihr Ende, da der Kalif nach Vorstellung der Drusen in die Verborgenheit entrückt wurde. Wahrscheinlich wurde er jedoch ermordet. Er soll tausend Jahre nach seinem Verschwinden zurückkehren, um über ein goldenes Zeitalter zu herrschen. Später schufen zwei schiitische Schriftgelehrte, Hamza ibn-Ali und Mohammed al-Darazi, ein religiöstheosophisches System, in dem der Kalif al-Hakim als direkte Inkarnation Gottes bezeichnet wurde. Die Religion der Drusen (die Selbstbezeichnung ist Din-al-Tauhid, Lehre von der Einheit Gottes) wird von Muslimen als Häresie angesehen, da sich dort viele Elemente des Neuplatonismus mit den Lehren der ismailitischen Schia vermischen. Insbesondere die Tatsache, dass die Drusen Mohammed nicht als ihren eigentlichen Propheten anerkennen und auch den Koran nicht als endgültige Offenbarung annehmen, trennt sie von den Muslimen.8 Die Drusen leben also seit jeher in einem geschlossenen sozialen System. Es ist daher kein Zufall, dass Mouna ausgerechnet einen entfernten Verwandten aus Damaskus heiraten soll; der Zersplitterung der drusischen Gemeinschaft in verschiedenen Staaten des Nahen Ostens und darüber hinaus steht ihr enger Zusammenhalt gegenüber, der sich auch in der nach wie vor üblichen Endogamie äußert.9 Der Regisseur erzählt wenige, entscheidende Stunden aus dem Leben einer drusischen Familie. Im Mittelpunkt des Films steht die junge Mouna, eine traurige Braut, die zugleich mit der Hochzeit den letzten gemeinsamen Tag mit ihrer Familie erlebt. Sobald sie die Grenze zwischen Israel und Syrien überschritten haben wird, um ihren Ehemann zu treffen, darf sie nicht wieder zurückkommen. Festlich gekleidet verbringt Mouna den Tag mit Dasitzen, Trauern 8
9
Zu Identität und Geschichte der Drusen, vgl. Anis Obeid: The Druze and their faith in Tawhid, Syracuse 2006, mit Literatur. Zum politischen Kontext in Israel, vgl. Robert B. Betts: The Druze, New Haven u.a. 1988, S. 100107; Mordechai Nisan: Minorities in the Middle East. A History of Struggle and Self-Expression, Jefferson, N.C., u.a. 1991, S. 79-97. Vgl. Marie Dupont: Les Druzes, Turnhout 1994, S. 159.
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Eran Riklis: The Syrian Bride und Warten. Zunächst im Wohnzimmer, dann beim Festessen, zuletzt an der Grenze. Sie ist der ruhende Pol, um den herum ein ereignisreicher Tag seinen Lauf nimmt. Die Stimmung im Dorf ist gereizt; Mounas Vater Hammed nimmt gegen das ausdrückliche Verbot der israelischen Polizei an einer pro-syrischen Demonstration teil. Aufgrund früherer Auseinandersetzungen, die ihn ins Gefängnis gebracht haben, steht er unter Beobachtung. Schlimmer noch, er darf nicht ins Grenzgebiet, wird also an der Hochzeits- und gleichzeitig Abschiedsfeier seiner eigenen Tochter nicht teilnehmen können. Gleichzeitig steht er unter sozialem Druck; die Dorfältesten, die in der Ausnahmesituation der israelischen Besetzung für die Gemeinschaft gleichzeitig religiöse Oberhäupter und weltliche Macht darstellen, verbieten ihm, seinen Sohn Hattem, der eine Russin geheiratet hat, an der Hochzeit teilnehmen zu lassen; bei Zuwiderhandlung droht ihm selbst der gesellschaftliche Ausschluss.10 Auch in der Familie von Mounas geliebter Schwester gibt es Probleme: Amal möchte gegen den Willen ihres Mannes studieren, und ihre Tochter möchte einen jungen Mann heiraten, der als Sohn eines Kollaborateurs von der Gemeinschaft geächtet wird. Trotz der Bemühungen aller Familienmitglieder, wenigstens für diesen einen Tag die Konflikte ruhen zu lassen, droht die Hochzeit zu einer Katastrophe zu werden. Während die Vorbereitungen auf Hochtouren laufen und sich gewissermaßen das ganze Dorf in Mounas Elterhaus versammelt hat, erscheint Hattem in Begleitung seiner Frau und seines kleinen Sohnes und wird von seinem Vater ostentativ nicht wahrgenommen. Die Frauen mokieren sich in der Küche lautstark über die Ausländerin, die schüchtern versucht, bei der Zubereitung des Essens mitzuhelfen; allein die Mutter zeigt ihr etwas Freundlichkeit. Amals Ehemann wird über die Liebesbeziehung seiner Tochter informiert und entdeckt kurz darauf den Zulassungsbescheid seiner Frau für die Universität in Haifa und damit ihre Pläne, sich von ihm unabhängig zu machen. Auch in diesem Fall verhindert nur der feierliche Tag eine Eskalation. Als sich die versammelte Hochzeitsgesellschaft, völlig entnervt, zur israelischsyrischen Grenze begibt, erwartet sie schon die nächste Katastrophe; aufgrund eines neuen Stempels im Pass hat die Braut zwar offiziell das israelische Staatsgebiet verlassen, darf aber nicht nach Syrien einreisen, da sich der diensthabende syrische Offizier auf veraltete Bestimmungen versteift. Beiderseits der Grenze stehen die Familien der Brautleute und warten, während eine Mitarbeiterin des Roten Kreuzes zwischen den Grenzposten hin und her läuft und zu vermitteln versucht. Für diese Situation, die insgesamt etwa die 10 Der Grund für das outcasting ist die Tatsache, dass Hattem eine Christin geheiratet und damit gegen den Brauch der Heirat innerhalb der Glaubensgemeinschaft verstoßen hat, vgl. oben, Anm. 9.
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Isabella Schwaderer zweite Hälfte des Films einnimmt, ändert der Regisseur seine filmischen Ausdruckmittel erheblich. Im ersten Teil reiht er sehr kurze Sequenzen lose aneinander; die Charaktere mit ihren Geschichten und Problemen werden nur andeutungsweise eingeführt, der Ursache-Wirkungs-Zusammenhang einzelner Szenen wird durch schnelle Schnitte zerrissen, und der schnelle Wechsel von Handlungsräumen und Akteuren zersplittert die Erzählung in kleinste Mosaikfragente, die erst aus einer gewissen Entfernung betrachtet einen kohärenten Sinn ergeben. So springt die Erzählung zu Beginn zwischen der Braut in ihrem Elternhaus, ihren Brüdern, die buchstäblich aus allen Himmelsrichtungen zur Hochzeit anreisen, ihrem zukünftigen Gatten, der sich aus Damaskus zur Grenze aufmacht, und dem israelischen Beamten, der für diese außerordentliche Prozedur aus Jerusalem kommen muss, ununterbrochen hin und her. Andererseits gewinnt die Handlung dadurch auch erheblich an Dynamik und Humor, und es ergeben sich auch scheinbar zufällige Querverbindungen zwischen einzelnen Ereignissen und Personen, die echte oder symbolische Beziehungen der Figuren untereinander sichtbar werden lassen. So dehnt sich etwa die Episode, in der eine Mitarbeiterin des Roten Kreuzes ihrer Kollegin ihre Theorie erklärt, nach der sich Männer anhand der Form ihrer Schneidezähne in Typen von Liebhabern einteilen lassen, über mehrere Szenen aus, bis sie in einer unerwarteten Pointe endet, ebenso wie der oben bereits erwähnte Kauf der Äpfel. Als beide Familien an den beiden Seiten der Grenze warten, kommt der ganze Trubel zum Stillstand. Von diesem Moment an decken sich die Erzählzeit, die Zeit, die für den Zuschauer tatsächlich verrinnt, und die erzählte Zeit fast vollständig. Qualvoll ziehen sich die Minuten dahin, jeder Vermittlungsversuch ist zwecklos, Sturheit auf beiden Seiten, die Verantwortlichen, die unerreichbar sind, und ein schmaler Streifen militärisches Sperrgebiet trennen das Brautpaar, wie es scheint, bevor sie die Chance haben, einander kennen zu lernen. Erst in dieser scheinbar auswegslosen Situation, gepeinigt von sengender Hitze, erhalten einige der zuvor skizzierten Familienkonflikte eine neue Wendung: Hattem und sein Sohn werden von seinem Vater angenommen, und Mouna erklärt ihrem hilflosen Ehemann, dass sie von nun an ihren eigenen Weg beschreiten wird. Der Film endet mit dem Aufbruch beider Schwestern in entgegengesetzte Richtungen, aber jede in ihre neue Zukunft. Trotz aller Konflikte ist The Syrian Bride kein trauriger Film. Mit seiner leichten und humorvollen Darstellung des Alltagslebens unter sehr schwierigen Bedingungen zeigt Eran Riklis die Energie und Warmherzigkeit, mit der die Familienmitglieder, vor allem die Frauen, ihr kompliziertes Schicksal zu meistern versuchen. Er zeigt uns
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Eran Riklis: The Syrian Bride echte Zuneigung, Erfindungsreichtum und Beharrlichkeit, durch die es dem Einzelnen doch gelingen kann, inmitten von Hoffnungslosigkeit und den übermächtigen Zwängen, die eine streng konservative und patriarchalische Gesellschaftsordnung ausübt, einen Teil seines Selbst auszuleben und neu zu erfinden. Riklis selbst nennt die fragile emotionale Mischung seines Films in Anlehnung an einen Roman des palästinensischen Schriftstellers Emile Habibi »Pessoptimismus« – ein Gefühl auf dem schmalen Grat zwischen Optimismus und Pessimismus, das hilft, den Nahen Osten zu überleben.11 Wie eingangs erwähnt, ist dieser Film in Auseinandersetzung mit Grenzerfahrungen verschiedenster Art entstanden und konzentriert sich nun auf die Situation von Menschen, die ihr Leben in einer ganz besonderen geopolitischen Lage meistern müssen. Das zentrale Handlungselement des Films ist konsequenterweise die Erfahrung von Grenzen und deren Überwindung. Dabei haben Grenzen eine zweifache Funktion: Sie können ›eingrenzen‹, also Herrschaftsbereiche eines Kollektivs mit seiner Tradition und Ideologie markieren und bewahren, sie können aber auch ›ausgrenzen‹, also die Kommunikation behindern und dem Einzelnen den eigenen Weg verwehren. Die Handlung des Films konkretisiert also eine größere, abstrakte Thematik: Einerseits die der problematischen, mehrschichtigen Identität der Religionsgemeinschaft der Drusen, jener imagined community, die die Voraussetzung für die Bildung einer Nation ist.12 Die Drusen auf dem Golan sind von realen Loyalitätszwängen von zwei Seiten (Israel, Syrien) bedroht und stehen unter starkem Druck. Andererseits erheben auch die einzelnen Figuren Ansprüche auf die Realisierung ihrer persönlichen Lebensentwürfe und wollen sich den Zwängen des Kollektivs nicht beugen. In The Syrian Bride erscheint somit ein ganz besonderer Fall von Exil; anders als in den meisten Fällen, ist es zunächst nicht das Individuum, das zu neuen Ufern aufbricht und infolgedessen die wunderbaren und schrecklichen Erfahrungen der Fremde meist ganz alleine bewältigen muss. Die drusische Gemeinschaft der Kleinstadt Magd-as-Shams erfährt ein kollektives Exil, einmal wegen ihrer 11 Vgl. Christoph Gröner: »Interview mit Eran Riklis«, in: cult, 2/05, http:// www.cult-zeitung.de/texte/film/riklis.htm vom 6. Januar 2007. 12 Vgl. Benedict Anderson: Imagined communities: reflections on the origin and spread of nationalism, London 2002, S. 6f.: »Regardless of the actual inequality and exploitation that may prevail in each, the nation is always conceived as a deep, horizontal comradeship. Ultimately it is this fraternity that makes it possible, over the past two centuries, for so many millions of people, not so much to kill, as willingly to die for such limited imaginings.« Vgl. dagegen M. Nisan: Minorities, S. 97: »The overall character of the Druze minority rests upon instinctive brotherhood more than political nationhood.« (Hervorhebungen I.S.)
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Isabella Schwaderer Religionszugehörigkeit, die von den Muslimen nicht als orthodox angesehen wird, und natürlich durch die Tatsache der militärischen Besetzung des Golans durch Israel, wodurch alle syrischen Bewohner dieser Gegend sich de facto im »Ausland« befinden, paradoxerweise ohne jemals ihren Geburtsort verlassen zu haben.13 Damit ergibt sich für die einzelnen Figuren zwangsläufig die Frage nach der kulturellen Identität, die nicht einfach zu bewältigen ist; der Film bietet, ganz nebenbei, eine Reihe individueller Lösungen an. Vordergründig wird der Mikrokosmos von Magd-as-Shams von einem Gremium älterer Herren regiert, die sich schon durch das Tragen ihrer traditionellen Stammestracht, die auch religiöse Symbolik besitzt,14 zu einem eher rückwärtsgewandten und patriarchalisch strukturierten System bekennen. Sie vertreten im Normalfall die Interessen der Gemeinschaft nach außen und tragen durch eine jahrhundertealte Tradition kollektiver Entscheidungsfindung die Verantwortung für den sozialen Frieden.15 Durch dieses subtile, aber im Rahmen des Möglichen durchaus effiziente System aus checks and balances zwischen Konfliktparteien werden offene Auseinandersetzungen vermieden und es wird im Kreis von einander gleichgestellten Angehörigen der Gemeinschaft gewöhnlich nach einem für alle Seiten akzeptierbaren Kompromiss gesucht. Im Film sehen wir von diesem Aspekt allerdings wenig, er ist nur ansatzweise sichtbar in der sehr stark von gesellschaftlichen Ritualen gestalteten Begegnung von Vater Hammed mit der Delegation der Stammesvertreter, die ein an sich wegen seiner patriotischen Gesinnung sehr hoch geachtetes Mitglied zu einem regelkonformen Verhalten 13 Der Begriff »Exil« ist zutreffend, sofern man von der Situation der Drusen als Angehörige der syrischen Nation ausgeht. Syrer zu sein ist, wie bereits bemerkt, ein wichtiger Bestandteil des Selbstverständnisses der Drusen im Golan. Betrachtet man jedoch die Drusen als eine übernationale Gemeinschaft, die sich in erster Linie über ihre religiöse Zugehörigkeit definiert – auch dafür gibt es viele Anzeichen, beispielsweise das strenge Festhalten an der Endogamie –, ist die Bezeichnung »Diaspora« zutreffender. Ihre Stellung wäre dann vergleichbar mit derjenigen der Kurden oder der Palästinenser als Nationen ohne eigenen Staat, mit derjenigen der Juden vor der Gründung Israels oder der Armenier vor der Staatsgründung und zur Zeit der Sowjetunion. Zu Begriff und Klassifikation von »Diaspora« vgl. Robin Cohen: Global Diasporas. An Introduction, London 1997. 14 Typisch ist der weiße Turban, den die Mitglieder der Delegation zu ihrer schlichten schwarzen Kleidung tragen. Er zeichnet sie als Weise (uqqal) aus, im Gegensatz zur Mehrheit der Bevölkerung (Unwissende, juhhal). Sie genießen dadurch besonderen Respekt: »The conciliatory role of the uqqal was often a substitute for recourse to the law courts for the adjustment of conflicting claims« (Nejla. M. Abu-Izzeddin: The Druzes. A new study of their history, faith and society, Leiden, u.a. 1993, S. 224). 15 Zur sozialen Struktur der drusischen Gemeinschaft, vgl. ebd., S. 221-227.
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Eran Riklis: The Syrian Bride anhält. Diese Reglementierungen, über deren Einhaltung die Stammesältesten wachen, entstammen einem sozialen Kontext, der schon längst nicht mehr existiert, denn die Bewohner von Magd-asShams sind Bewohner eines modernen und westlich orientierten Israels. Man kann auch davon ausgehen, dass im von der zumindest in ihren Anfängen stark sozialistisch geprägten Baath-Partei regierten Syrien die Macht der alten Strukturen nicht mehr mit derselben Ausschließlichkeit funktioniert wie in einer Stadt, die nunmehr seit fast vierzig Jahren von allen gesellschaftlichen Entwicklungen vom Mutterland abgeschnitten ist. So beobachten wir auch hier das Phänomen des extremen Konservativismus von Gemeinden in der Diaspora, die dem Assimilationsdruck ihrer Umgebung etwas entgegensetzen müssen. Im Falle der Drusen des Golans ist dies besonders heikel. Während die Drusen, die auf israelischem Staatsgebiet leben, dem israelischen Staat gegenüber grundsätzlich loyal eingestellt sind, ist die Haltung der GolanDrusen ausgesprochen pro-syrisch.16 Für den Fall, dass es jemals zu einer Wiedereingliederung in syrisches Staatsgebiet kommen sollte, steht für eine religiöse Minderheit, der im Zweifelsfall immer mangelnde Loyalität vorgeworfen werden kann, sehr viel auf dem Spiel.17 Daher wird das »Syrer-Sein« so auffällig oft zelebriert, sei es durch die Teilnahme an pro-syrischen Demonstrationen oder überdeutlich durch die unzähligen Porträts des Präsidenten Hafez alAssad oder seines Sohnes Bashar im öffentlichen wie im privaten Bereich. Dennoch wird diese Form der Reglementierung, die zugunsten des gesellschaftlichen Konsenses dem Individuum keinen Raum für freie Entfaltung lässt, nicht von allen widerstandslos hingenommen. Zumal in der jüngeren Generation mehrt sich das Bedürfnis nach einem Leben in Freiheit und Selbstbestimmung. In Mounas Familie sehen wir verschiedene Reaktionen auf den als unerträglich empfundenen Druck. Bezeichnenderweise haben sich alle Söhne diesem Druck auf die einzig mögliche Weise entzogen: sie haben aus der wirtschaftlichen Misere und der gesellschaftlichen Bevormundung den Weg ins Ausland und damit ins freiwillige Exil gewählt, jeder 16 Sie dürfen sogar, ebenso wie die christlichen Palästinenser, den israelischen Militärdienst absolvieren, was den muslimischen Palästinensern, die auf israelischem Staatsgebiet leben, nicht gestattet ist; vgl. M. Nisan: Minorities, S. 96. Die Ableistung des Militärdienstes erleichtert den Zugang zu Studium und Arbeitsmarkt. 17 Wie schon im ersten Arabisch-Israelischen Krieg 1948-49; vgl. R. Betts: The Druze, S. 93. Daher haben es die Drusen des Golan abgelehnt, die israelische Staatsangehörigkeit anzunehmen, was ihnen im Vergleich zu den staatenlosen Palästinensern der besetzten Gebiete erhebliche Vorteile gewährt hätte; vgl. M. Nisan: Minorities, S. 96 und Anm. 36.
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Isabella Schwaderer auf eine andere Art: ein Bruder lebt in Italien, wo er ein etwas undurchsichtiges Import-Export-Unternehmen leitet, einer lebt seit vielen Jahren in Russland und hat dort eine eigene Familie, und ein jüngerer studiert in Damaskus. Keiner von ihnen hat die Absicht oder eine reelle Chance, wieder in die Heimatstadt zurückzukehren. Für die Frauen gestaltet sich der Kampf um ein eigenes Leben wesentlich schwieriger, da es nicht üblich ist, dass sie ihr Elternhaus zu einem anderen Zweck verlassen als zur Hochzeit, was sie wiederum in einen neuen Familienverband integriert. Bei ihnen hängt viel von ihrer eigenen Charakterstärke ab, ob sie, wie Mouna, sich passiv den Regeln fügen oder aber wie ihre Schwester Amal einen harten täglichen Kleinkrieg führen, der vom Tragen von Jeans bis hin zur Durchsetzung ihres Studiums reichen kann. Alles in allem sind sie es jedoch, die Frauen, die durch pragmatische Lösungen kleine private Freiräume in einer stark kollektivistisch geprägten Gesellschaft schaffen und durch ihre Beharrlichkeit den Boden ebnen für die Graswurzelrevolution der nächsten Generation.18 So sehen wir, wie Hattems russische Ehefrau von seiner Mutter, gegen die erklärte Absicht ihres Ehemannes, mit ungekünstelter Herzlichkeit in die Familie aufgenommen wird und wie Amal darum kämpft, dass ihre Tochter einmal den Mann heiraten soll, den sie sich wünscht. Dieses von vielen sichtbaren und unsichtbaren Grenzen bestimmte Leben stellt sehr hohe Anforderungen an den einzelnen, sich entweder mit ihnen zu arrangieren oder einen Weg zu finden, sie zu überwinden. Mit diesem Aspekt der Überwindung von Grenzen wird auch die enorme Schwierigkeit von Kommunikation bis hinein in die Familie thematisiert. Da bei räumlicher Trennung eine unmittelbare Kommunikation nicht möglich ist, kommen dabei alle nur erdenklichen Medien zum Einsatz. Hier eine unvollständige Liste der Beziehungen, die mit Hilfe eines Mediums geknüpft oder aufrechterhalten werden: Da die Familien des Brautpaares die Hochzeit nicht gemeinsam feiern können, wird die Feier in Magd-asShams komplett auf Video aufgezeichnet. Schon ganz zu Beginn nutzt Amal dieses Medium, um der Familie ihres Schwagers etwas mitzuteilen, was ihr sehr am Herzen liegt. Das Brautpaar kennt sich vor der Hochzeit nicht persönlich; der Bräutigam Tallel hat nur Mounas Foto, und Mouna kennt ihren zukünftigen Mann nur aus dem Fernsehen. In ihren Zweifeln identifiziert sie ihn mit seiner Rolle als tyrannischem Macho, die er in einer daily soap spielt – in der einzigen surrealen Szene des Films schilt er sie direkt vom Bildschirm aus. Sein Foto auf ihrem Kettenanhänger beschwört eine 18 Ähnlich beurteilt das auch die Filmkritik von Paul Zander: »Nationalität: unbestimmt. Grenzüberschreitungen im Grenzgebiet: ›Die syrische Braut‹«, in: Berliner Morgenpost, 17. März 2005.
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Eran Riklis: The Syrian Bride Nähe, die es noch nicht gegeben hat. Die Briefe, die Amal und ihr Bruder Hattem einander acht Jahre lang geschrieben haben, sind die einzige Verbindung, die Hattem zu seiner Familie geblieben ist;19 das Telefon spielt bei den verschiedenen Behörden eine wichtige Rolle, auch Mobiltelefone tauchen auf, bei Mounas Bruder mit der zusätzlichen Konnotation eines Statussymbols und konkreter beim israelischen Beamten, der damit die Nähe seines Sohnes sucht, um den er sich sorgt, da er in Nablus im Westjordanland stationiert ist, einem der hot spots der israelisch-palästinensischen Auseinandersetzungen. Besonders eindrucksvoll ist natürlich der Einsatz von Megaphonen, mit denen die geteilten Familien diesseits und jenseits der Grenze einander die wichtigsten Nachrichten wie Hochzeiten und Todesfälle übermitteln, um ein Minimum an Zusammenhalt zu bewahren.20 Doch auch die Kommunikation über die Medien ist trügerisch und suggeriert die Möglichkeit einer Verständigung, die außerhalb der Familie letzen Endes meist nicht möglich ist. So sind gerade die Regenten Hafez al-Assad und der Sohn Bashar al-Assad durch Photos in der Stadt, aber auch innerhalb der Häuser omnipräsent; die politische Tradition räumt ihnen den Platz des »Landesvaters« ein, was eine sehr direkte Beziehung von Untertan und Staatsoberhaupt suggeriert; in Wirklichkeit ist es nicht so, denn im Falle einer echten Notlage, als bürokratisches Durcheinander auf beiden Seiten die Hochzeit beinahe platzen lässt, sind die staatlichen Organe auf beiden Seiten (anonym bei den Israelis und personalisiert bei den Syrern) gleichermaßen unerreichbar; der Telefonhörer wird nicht abgehoben, und die Stühle sind leer. Vollkommen absurd erscheint auch die Rolle der Vereinten Nationen und ihrer Schutztruppen; hier wird die unverhohlene Kritik des Regisseurs an der internationalen Organisation sehr deutlich, die außer Anteilnahme und freundlicher Vermittlung nicht das Geringste zur Lösung der aktuellen politischen Probleme beitragen kann. Jedoch gibt es in The Syrian Bride keineswegs nur gescheiterte Kommunikationsversuche. Ein Beispiel für die wortlose – und viel19 Hattem gesteht Amal, ihre Briefe hätten ihm geholfen, »in Russland zu überleben«; somit erhält er seine Identität durch den Kontakt mit seiner Schwester in einem anderen Teil der Welt. Vgl. dazu Hamid Naficy: An Accented Cinema. Exilic and Diasporic Filmmaking, Princeton u.a. 2001, S. 132: »For many exiles and émigrés, identity is no longer based solely on territorial belonging or on place of residence; it is also based on maintaining a transnational web of group affiliation by means of the epistolary media.« 20 Der militärische Sperrbezirk darf von Zivilisten nur an bestimmten Feiertagen betreten werden, so dass die Gespräche sich zwangsläufig auf die wichtigsten Nachrichten beschränken müssen.
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Isabella Schwaderer leicht gerade deswegen erfolgreiche – Kommunikation ist eine Szene, in der Hattems Sohn durch Blicke und ein Lächeln seinem Großvater zu verstehen gibt, dass er eine Banane essen möchte, und dadurch den Widerstand seines Großvaters gegenüber der Familie seines »verlorenen Sohnes« ein wenig mildert. Eine Auseinandersetzung mit psychischen und gesellschaftlichen Grenzen enthält natürlich auch den Versuch ihrer Überwindung. Wie bereits angedeutet ist es die Mutter, die sich bewusst über gesellschaftliche Schranken hinwegsetzt und Sohn und Schwiegertochter gegen den expliziten Willen ihres Mannes aufnimmt. Hier wäre allerdings zu überlegen, inwieweit sie dadurch wirklich aus ihrer gesellschaftlichen Rolle fällt und ob sie als Mutter nicht ohnehin das gesellschaftlich sanktionierte Recht, wenn nicht gar die Pflicht hat, die Familie jenseits aller Vorstellungen von Moral zusammenzuhalten. Es ist in erster Linie Amal, die mit ihrem entschiedenen Auftreten viele Beschränkungen kurzerhand ignoriert und damit überraschend großen Erfolg hat. So provoziert sie tagtäglich ihren Ehemann mit ihrem emanzipierten Verhalten. Anders als etwa ihre Mutter, die das Geschehen ganz aus dem Hintergrund manipuliert, setzt Amal durch ihre kompromisslose Position auch ihre Ehe aufs Spiel. Einen ganz besonderen Fall eines Grenzgängers stellt eine Figur dar, die bis jetzt kaum erwähnt wurde: Der Fotograf, der die ganze Inszenierung der Hochzeit von Anfang an begleitet und aufzeichnet, ist in vielerlei Hinsicht nicht festgelegt und genießt so eine Art Narrenfreiheit, die es ihm ermöglicht, zahlreiche Situationen anders zu handhaben als die anderen Männer. Auffällig ist zunächst, dass sein Verhalten nicht der strengen mediterranen Genderkodierung entspricht, nach der sich Männlichkeit auch in aggressivem Verhalten manifestiert. Er ist dick und erzählt einmal, dass er wohl deswegen nicht verheiratet sei. Nicht verheiratet zu sein bedeute für ihn jedoch auch, dass er »so einiges in sich hineinfresse«, anders also als die anderen Männer, die ihren Ärger externalisieren.21 Sein Beruf als Fotograf ermöglicht es ihm, ähnlich wie dem Frisör, in die intimen Bereiche der Schönheitspflege einzudringen, die gewöhnlich den Frauen vorbehalten sind. So ist er die einzige Figur, die sich aktiv zwischen den zwei Welten von Frauen und Männern hin und her bewegt, sowohl emotional als auch praktisch. Und vielleicht nicht zuletzt deswegen ist er der einzige, der Mounas Bedenken hinsichtlich der Hochzeit versteht. Aber auch in anderer Hinsicht gel21 Beispielsweise reagiert Amals Ehemann auf die Nachricht, dass seine Tochter sich mit ihrem Freund getroffen habe, indem er sie zu Hause einsperrt. Dadurch kann er sie zwar nicht zwingen, den Freund aufzugeben, muss sich aber nicht vorwerfen lassen, er habe tatenlos zugesehen.
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Eran Riklis: The Syrian Bride ten für ihn die sonst sehr strikten Grenzen nicht: er arbeitet für Araber und Israelis in gleicher Weise. Wir erfahren nebenbei, wie er einen Termin für das Filmen einer Bar-Mizwa absagt, weil er mit der »syrischen Braut« noch nicht fertig sei. An diesem Beispiel ist auch die Relativität von Grenzen ablesbar; wer außerhalb eines Systems steht, kann jederzeit von einer Seite auf die andere wechseln. So sehen wir, wie viele Blauhelmsoldaten die Grenze zwischen Israel und Syrien ungehindert passieren, während die beiden Hochzeitsgesellschaften hilflos neben den Schlagbäumen sitzen. Andererseits verliert der Außenseiter jegliche Möglichkeit, auf das Geschehen einzuwirken; er kann – wie der Hochzeitsfilmer oder die UN-Soldaten – zwar zusehen, kommentieren und werten, jedoch kann er letztlich nicht innerhalb der Systeme agieren noch irgend jemandem, der darin gefangen ist, beistehen. In dieser von zahllosen Grenzen durchzogenen Welt kommt dem »Raum dazwischen« eine besondere Bedeutung zu. In der Handlungsstruktur des Films ist es gerade der Aufenthalt im Niemandsland des Grenzstreifens, der alle scheinbar unlösbaren Konflikte innerhalb der Familie zu einer zumindest vorläufigen Auflösung führt. Hattem beweist Geistesgegenwart und rettet seinen Vater vor der drohenden Verhaftung durch die israelische Polizei, und seine Ehefrau verschafft sich Respekt, als ihre Fähigkeiten als Ärztin gefragt sind. Fern von den engen Regeln der Gemeinschaft in Magdas-Shams kann der verlorene Sohn in seine Familie zurückkehren. Amals Ehemann Amin kann in seiner hilflosen Lage nicht anders, als die Entscheidung seiner Frau anzunehmen. Und nicht zuletzt fasst Mouna, abseits von ihrer Familie unter der sengenden Hitze ihren Entschluss, die Grenze zu überqueren, aus eigener Kraft.22 22 In der Terminologie von Michel Foucault ist der Grenzstreifen zwischen Israel und Syrien eine Heterotopie; diese sind »des lieux réels, des lieux effectifs, des lieux qui ont dessinés dans l'institution même de la société, et [...] dans lesquelles les emplacements réels, tous les autres emplacements réels que l'on peut trouver à l'intérieur de la culture sont à la fois représentés, contestés et inversés, des sortes de lieux qui sont hors de tous les lieux, bien que pourtant ils soient effectivement localisables« (Michel Foucault: »Dits et écrits 1984, Des espaces autres (conférence au Cercle d'études architecturales, 14 mars 1967)«, in: Architecture, Mouvement, Continuité, 5, Oktober 1984, S. 46-49, hier S. 47. In diesem anderen Raum wird möglich, was im Raum des Alltags nicht möglich ist, insbesondere der Übergang von einer Identität in eine andere, wie es bei Mouna der Fall ist: »Il y a une certaine forme d'hétérotopies que j'appellerais hétérotopies de crise, c'est-à-dire qu'il y a des lieux privilégiés, ou sacrés, ou interdits, réservés aux individus qui se trouvent, par rapport à la société, et au
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Isabella Schwaderer Kehren wir nochmals zurück zu den beiden Hauptpersonen des Films, zu Mouna und Amal. Für die beiden ungleichen Schwestern, die eine passiv und die andere konfliktbereit, entscheidet sich an diesem Tag ihr weiteres Schicksal. Mouna wird nach Syrien gehen und ihre Familie niemals wiedersehen. Mit dem Überschreiten der Grenze beginnt für sie mehr als eine nur physische oder psychische Reise, sie wird von nun an ihr Leben als Ehefrau beginnen. Dadurch verändern sich nicht nur ihr Familienstand und ihr gesellschaftlicher Status. Sie wird – buchstäblich – eine völlig neue Identität in Form eines neuen Ausweises mit neuer (jetzt syrischer) Staatsangehörigkeit erhalten.23 Auch Amal geht mit der Entscheidung für ein Studium einen ersten Schritt ihres Lebens allein, ohne ihren Ehemann. Für beide beginnt an diesem Tag ein neues Leben. Eine Auswanderung, ein Exil, so möchte uns der Film nahelegen, bedeutet nicht unbedingt, die Heimat verlassen zu müssen und ins Ausland zu gehen. Es bedeutet auch nicht unbedingt, alles verlieren zu müssen, was man bisher gehabt hat. Ein Aufbruch zu neuen Ufern ist möglich, auch ohne sämtliche Brücken hinter sich abzubrechen. Amal wird in ihrem zukünftigen Beruf mehr Entfaltungsmöglichkeiten haben als bisher, aber sie wird ihre Familie und ihren Mann deswegen wahrscheinlich nicht verlassen müssen. Vielleicht bringt die Zukunft auch für ihre Tochter und deren Freund eine neue Möglichkeit. Viel wird davon abhängen, wie Amal die Frage nach ihrer eigenen Identität löst. So beginnt und endet The Syrian Bride jeweils mit einer Nahaufnahme von Amals Gesicht, die die zweite Hauptfigur des Films ist. Im Gegensatz zu Mouna treibt sie die Handlung voran, indem sie Probleme direkt und ohne viel Diplomatie in Angriff nimmt. Damit scheint also ein eher optimistischer Schlussakzent gesetzt; auf der Handlungsebene tritt die Problematik des Individuums in den Vordergrund, das sich eine neue Identität konstruieren muss, sicher jenseits der überlieferten Angebote oder Zwänge, als die sich die kollektiven Identitäten präsentieren. milieu humain à l'intérieur duquel ils vivent, en état de crise.« (ebd., Hervorhebung I.S.) 23 Naficy bezeichnet diese »journeys of identitiy« als ein charakteristisches Merkmal des »accented cinema«, vgl. H. Naficy: Accented cinema, S. 237. An dieser Stelle sei bemerkt, dass die Syrische Braut viele der Charakteristika besitzt, die Naficy für das »accented cinema« herausgearbeitet hat, wenn auch der Regisseur nicht über die Exilerfahrung seiner eigenen Volksgruppe berichtet. Neben den Themen wie Reise, Grenzerfahrung und (verhinderter) Kommunikation passt auch die Tatsache ins Bild, dass der Film mehrsprachig (syrisches Arabisch, Ivrit, Englich, Französisch und Russisch) und international produziert ist (Eran Riklis Productions Ltd., Tel Aviv, Neue Impuls Film, Hamburg/Köln und MACT Productions, Paris).
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Eran Riklis: The Syrian Bride In diesem Sinne ist Riklis’ Film sicherlich mehr eine Bestandsaufnahme der allgemeinen Stimmung der Bewohner von Magd-asShams als ein dramatisches Werk. So werden keine ausgearbeiteten Charaktere gezeigt, sondern verschiedene Typen, fast schon Klischees, die innerhalb des Familienverbandes interagieren; die Figuren der Israelis und der Internationalen Schutztruppen sind noch schematischer dargestellt. Diese besondere Befindlichkeit einer unbekannten Volksgruppe der Welt zugänglich zu machen ist sicherlich schon Verdienst genug für den Regisseur, und so mag man gelegentliche Schwächen der Erzählung in einem ansonsten sehr stringent gehaltenen Film nicht allzu schwer gewichten. Die paradoxe Realität der Lebenssituation der drusischen Bewohner des Golan mit ihrem ständigen Oszillieren zwischen Grenzen von Staaten, Religionen, Generationen und Geschlechtern nimmt die Filmmusik von Cyril Morin kongenial auf. Seine Kompositionen verbinden traditionelle mediterrane Instrumente und Volkslieder mit Bhangra-Rhythmen und modernen Pop-Arrangements.24
24 Preise für die Filmmusik u.a. in Auxerre und Cannes, 2004.
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Taktische bricolage in der Transitlounge. Steven Spielbergs The Terminal JÖRN GLASENAPP
1. NOLANDS BRICOLAGE Spätestens als der kurz zuvor mit dem Flugzeug abgestürzte Protagonist aus Robert Zemeckis’ Cast Away (2000) den Gipfel des in der Nähe seines improvisierten Schlaflagers gelegenen Berges erklommen hat und erkennen muss, dass er sich auf einer kleinen Insel befindet und ihn weit und breit nur Meer umgibt, ist dem Zuschauer zweierlei klar: zum einen, dass der Name des von Tom Hanks gespielten Helden, Chuck Noland (»no land«, »kein Land in Sicht«) nicht eben subtil ausgewählt wurde, zum anderen, dass er es offensichtlich mit einem kinematographischen Robinson CrusoeUpdate zu tun hat.1 Letzteres weckt natürlich Erwartungen bzw. wirft Fragen auf, die sich dem Zuschauer aufgrund seiner zumindest rudimentären Kenntnis des Defoeschen Romanstoffes aufdrängen. Wird sich Noland, der neue Crusoe, wie sein Vorgänger in der existentiellen Not bewähren? Wird er wie dieser einen Freund, einen Friday, finden? Wird auch er seine Insel wieder verlassen können? Ohne an dieser Stelle näher ins Detail gehen zu können, sei gesagt, dass alle drei Fragen am Ende mit einem klaren ›Ja‹ beantwortet werden dürfen. Dass Crusoe sein Inseldasein keineswegs völlig mittellos antreten muss, ist hinlänglich bekannt. Schließlich gelingt es dem von Defoe als »Symbol menschlicher Tatkraft«2 entworfenen Helden, eine Vielzahl von Gegenständen aus dem unweit des Strandes an ein Riff 1
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Eine lesenswerte Einführung zum ›Recycling‹ klassischer durch populärkulturelle Texte bietet Richard Keller Simon: Trash Culture: Popular Culture and the Great Tradition, Berkeley 1999. Vgl. zudem aber auch Elisabeth Bronfen: Liebestod und Femme fatale: Der Austausch sozialer Energien zwischen Oper, Literatur und Film, Frankfurt/Main 2004. Kurt Otten: Der englische Roman vom 16. zum 19. Jahrhundert, Berlin 1971, S. 55.
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Jörn Glasenapp angetriebenen Schiffswrack zu bergen und an Land zu bringen, was ihm die ›Gefangenschaft‹ auf der Insel enorm erleichtern wird. Vergleichbares lässt sich nun von Zemeckis’ Held sagen. Auch er startet nicht ›nackt‹, steht ihm doch der Inhalt einiger an Land gespülter Pakete zur Verfügung, die die abgestürzte Maschine beförderte. Während sich allerdings die Verwendbarkeit von Säge, Hammer, Nägeln, Schusswaffen und Munition dem Defoeschen Helden und mit ihm dem Leser sogleich erschließen, präsentieren sich die vor allem dem Freizeitbereich zuzuschlagenden Dinge, die Noland an die Hand gegeben werden – ein Tüllkleid, Schlittschuhe, zahlreiche Videokassetten und ein Volleyball – auf den ersten Blick als weitgehend wertlos, um das (Über-)Leben auf einer einsamen Insel zu erleichtern. Keine Frage: Der nutzbringende Einsatz des heterogenen Strandgutes erfordert Phantasie, das Talent des von Claude Lévi-Strauss beschriebenen Bastlers bzw. bricoleur ist gefragt. Dieser, so heißt es in der viel zitierten Passage aus Das wilde Denken, ist in der Lage, eine große Anzahl verschiedenartigster Arbeiten auszuführen; doch im Unterschied zum Ingenieur macht er seine Arbeiten nicht davon abhängig, ob ihm die Rohstoffe oder Werkzeuge erreichbar sind, die je nach Projekt geplant und beschafft werden müßten: die Welt seiner Mittel ist begrenzt, und die Regel seines Spiels besteht immer darin, jederzeit mit dem, was ihm zur Hand ist, auszukommen.3
Völlig zu Recht weist Lévi-Strauss den Schritt, der stets am Anfang einer bricolage steht, als einen retrospektiven aus, denn der Bastler muß auf eine bereits konstituierte Gesamtheit von Werkzeugen und Materialien zurückgreifen; eine Bestandsaufnahme machen oder eine schon vorhandene umarbeiten; schließlich und vor allem muß er mit dieser Gesamtheit in eine Art Dialog treten, um die möglichen Antworten zu ermitteln, die sie auf das gestellte Problem zu geben vermag. Alle diese heterogenen Gegenstände, die seinen Schatz bilden, befragt er, um herauszubekommen, was jeder von ihnen ›bedeuten‹ könnte.4
Das »Problem«, vor das sich Noland zuvorderst gestellt sieht, ist klar zu benennen: Es betrifft das eigene Überleben auf der Insel. Dieses Problem wiederum lässt den Helden, der Crusoe an Initiative, Energie und Einfallsreichtum in nichts nachsteht, ›Bedeutungen‹, man könnte auch sagen: Verwendungsweisen seines »Schatzes«, der angespülten Gegenstände, erkennen, die deren Produzenten zweifellos nicht im Blick gehabt haben und die auch den Zuschauer mehr
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Claude Lévi-Strauss: Das wilde Denken, Frankfurt/Main 1968, S. 30. Ebd., S. 31.
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Taktische bricolage in der Transitlounge oder minder überraschen. So dient Noland der Tüllstoff als Netz zum Fischen, während die Videobänder als Stricke Verwendung finden und die Kufen der Schlittschuhe wahlweise als Spiegel, Messer, Axt oder aber dentalmedizinisches Instrument zum Einsatz kommen. Die größte ›Transformation‹ allerdings erlebt der Volleyball: Vom Helden mit einem Gesicht versehen, wird er in spektakulärer Weise anthropomorphisiert; ja, er rückt zum engen Gefährten Nolands, zu dessen Friday, auf, was zur Folge hat, dass Cast Away mit einem Mal Züge eines, wenn auch freilich etwas anderen, buddy movie trägt. Während Crusoes Aufenthalt fernab der Zivilisation über achtundzwanzig Jahre dauert, muss Noland ›nur‹ vier Jahre auf der Insel ausharren. Dennoch reicht ihm die Zeit völlig, sich den eng gefassten fremden Ort weitgehend anzueignen. Raumtheoretisch ausgedrückt, gelingt es ihm also, die entscheidenden Raumkompetenzen zu entwickeln – in seinem Fall jene Kompetenzen, die ihn dazu in die Lage versetzen, all das, was sein ›Gefängnis‹ an lebensnotwendigen Ressourcen für ihn bereithält – insbesondere natürlich eine wettergeschützte Schlafstätte sowie Speisen in Form von Früchten und Fischen –, zu nutzen. Konnte eben dies, und zwar in noch erheblich stärkerem Maße, bereits von Defoes Helden behauptet werden, welcher sich als einer der ganz großen Exilanten der Weltliteratur von Anfang an rastlos darum bemüht zeigt, auf der Insel die gewohnte zivilisierte Umgebung, die er verließ, zu reproduzieren, so darf Ähnliches auch für Viktor Navorski gelten, den nun zur Diskussion stehenden, ebenfalls von Tom Hanks gespielten Protagonisten aus Steven Spielbergs romantischer Exilkomödie The Terminal (2004), der auf dem New Yorker John-F.-Kennedy-Flughafen ›strandet‹. Dass es sich bei Navorski um einen nahen Verwandten Nolands und Crusoes handelt, ist nur allzu offensichtlich und wurde entsprechend von der Kritik vielfach vermerkt. »Part genius and part idiot, at once the hero and victim of globalism, Viktor inhabits the airport the way Robinson Crusoe (or Hanks’s character in Cast Away) did his desert island«,5 hieß es in Village Voice. Washington Post, Christian Science Monitor und San Francisco Chronicle sprachen von einem »high-tech Cast Away«,6 einem »retread of Robert
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J. Hoberman: »Tom Delay«, in: Village Voice, 14.6.2004 (http://www.villagevoice.com/film/0424,hoberman1,54302,20.html vom 12. Dezember 2006). Stephen Hunter: »Terminal Stuck at the Gate«, in: Washington Post, 18.6. 2004 (http://www.washingtonpost.com/wp-dyn/articles/A51027-2004Jun 17.html vom 12. Dezember 2006).
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Jörn Glasenapp Zemeckis’s more interesting Cast Away«7 bzw. »a less somber, less unintentionally ridiculous and more visually stimulating version of Robert Zemeckis’ Cast Away, with Hanks once again figuring out how to eat, where to sleep and how to amuse himself in an inhospitable environment. «8 War es in Cast Away und Robinson Crusoe die einsame Insel, so ist es in The Terminal der höchst belebte Flughafen, der zu einer Art Spielfeld wird, auf dem der Held seine Fähigkeiten in Sachen bricolage unter Beweis zu stellen hat. Allerdings handelt es sich in diesem Fall – ein Aspekt, der Spielbergs Film denn doch ganz erheblich von seinen beiden Vorgängern unterscheidet – um eine bricolage, die das Attribut ›taktisch‹ verdient, und zwar im Sinne des Historikers, Religionswissenschaftlers und Kulturtheoretikers Michel de Certeau. Dieser bemüht sich in seiner 1980 erschienenen Studie Kunst des Handelns um die Nobilitierung der ›Künste des Alltags‹ und hier speziell des Konsums, wobei es ihm darum geht, jene Auffassungen vom Konsumenten zu entkräften, die diesen Konformität, Passivität und Uniformität unterstellen. Entsprechend profiliert der Franzose das ebenso kreative wie produktiv-subversive Moment der von ihm als eminent politisch begriffenen Konsumpraktiken, die zwar stets im Raum der herrschenden Ordnung stattfinden, von dieser allerdings nie vollständig kontrolliert werden können. »Was machen die fünfhunderttausend Käufer von Gesundheitsmagazinen, die Kunden eines Supermarktes, die Benutzer des städtischen Raumes und die Konsumenten von Zeitungsartikeln mit dem, was sie ›absorbieren‹, erhalten und bezahlen? Was machen sie damit?«,9 fragt de Certeau, der unter implizitem Rekurs auf Lévi-Strauss’ bricolageKonzept von der »Kunst des Gebrauchs«10 spricht und letzteren als eine Form von sekundärer Produktion begreift. Da diese zuweilen hochindividuelle, vor allem aber anti-hegemoniale Wege geht, macht sich de Certeau für eine »kriegswissenschaftliche Analyse der Kultur«11 stark und schlägt als Analyseinstrumentarium das Begriffspaar Strategie/Taktik vor, wobei er mit Strategie »die Berechnung (oder Manipulation) von Kräfteverhältnissen« bezeichnet, »die in dem Moment möglich wird, wenn ein mit Willen und Macht versehenes 7
David Sterritt: »Terminal Is Interminable«, in: Christian Science Monitor, 18.6.2004 (http://www.csmonitor.com/2004/0618/p14s02-almo.html vom 12. Dezember 2006). 8 Mick LaSalle: »Being Stuck at An Airport Is Actually Enjoyable, Thanks to Hanks, Spielberg«, in: San Francisco Chronicle, 18.6.2004 (http://www. sfgate.com/cgi-bin/article.cgi?f=/c/a/2004/06/18/DDGKE779LG1.DTL vom 12. Dezember 2006). 9 Michel de Certeau: Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 80. 10 Ebd., S. 81. 11 Ebd., S. 20.
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Taktische bricolage in der Transitlounge Subjekt (ein Unternehmen, eine Armee, eine Stadt oder eine wissenschaftliche Institution) ausmachbar ist.« Ist die Strategie nicht denkbar ohne einen »Ort [...], der als etwas Eigenes beschrieben werden kann«,12 so ist die Taktik »durch das Fehlen von etwas Eigenem bestimmt«, das heißt, ihr steht »nur der Ort des Anderen« zur Verfügung. Folglich »muß [sie] mit dem Terrain fertigwerden, das ihr so vorgegeben wird, wie es das Gesetz einer fremden Gewalt organisiert.« Als »eine Bewegung ›innerhalb des Sichtfeldes des Feindes‹«, fährt de Certeau fort, »muß [sie] wachsam die Lücken nutzen, die sich in besonderen Situationen der Überwachung durch die Macht der Eigentümer auftun. Sie wildert darin und sorgt für Überraschungen. Sie kann dort auftreten, wo man sie nicht erwartet. Sie ist die List selber.«13 Das Gesagte in Rechnung gestellt, ist es leicht einzusehen, dass die Überlegungen, die de Certeau in Kunst des Handelns vorlegt, vor allem von den zahlreichen Vertretern der Cultural Studies aufgegriffen wurden, die sein agonales Kulturverständnis voll und ganz teilen, indem sie Kultur, so Rainer Winter zusammenfassend, als »ein umkämpftes Terrain« begreifen, »auf dem verschiedene miteinander konkurrierende soziale Gruppen um die Durchsetzung ihrer Ansprüche, Interessen und Ideologien kämpfen.«14 Zudem akzentuieren sie wie der Franzose das ebenso ermächtigende wie subversive Potential alltäglicher Praktiken, wobei sie sich – auch dies ein Aspekt, der für de Certeau gilt – bevorzugt mit Sub- und Gegenkulturen sowie Minderheiten bzw. deren Widerstandsformen und Widerspenstigkeiten befassen.15 In besonderem Maße ist hier natürlich an John Fiske zu denken, der in seiner 1989 veröffentlichten Monographie Lesarten des Populären mit einem Kapitel aufwartet, das im hier zur Diskussion stehenden Zusammenhang eine spezielle Relevanz besitzt. Und zwar widmet er sich in diesem der Institution Shoppingmall, die er dem Leser in bester de Certeauscher Manier als »Gelände eines Guerillakrieges«16 nahe zu bringen sucht, als Ort also, in dem die Interessen der ökonomisch und ideologisch Herrschenden mit denen der Subordinierten konfligieren, wobei sich letztere dadurch ermächtigen, dass sie sich, ›wildernd‹ bzw. ›taktisch‹ operierend, das mannigfaltige Angebot des Einkaufszentrums 12 Ebd., S. 87. 13 Ebd., S. 89. 14 Rainer Winter: Die Kunst des Eigensinns: Cultural Studies als Kritik der Macht, Weilerswist 2001, S. 14. 15 Zur kaum zu überschätzenden Bedeutung de Certeaus für die Cultural Studies vgl. ebd., S. 197-203, pass., darüber hinaus aber auch Andreas Hepp: Cultural Studies und Medienanalyse. Eine Einführung, Opladen 1999, S. 6970, pass. 16 John Fiske: Lesarten des Populären, Wien 2000, S. 27.
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Jörn Glasenapp oppositionell aneignen. Fiske weist in diesem Zusammenhang etwa auf die zahlreichen Jugendlichen hin, die unter anderem aus dem so genannten ›proletarischen Shoppen‹, dem Schaufensterbummeln ohne Kaufabsicht, oder aber dem bewussten Provozieren der ›eigentlichen‹ Konsumenten Lust gewinnen, die es demnach verstehen, die offizielle ›Gebrauchsweise‹ des fremden Raums zu unterlaufen, das heißt die »Regeln des Systems auszunutzen und dieses zu ihrem Vorteil zu verwenden.«17 Es fällt nicht eben schwer zu erkennen, dass sich Fiskes und de Certeaus Überlegungen auf das Insel-Setting von Cast Away und Robinson Crusoe nicht applizieren lassen, fehlt hier doch schlicht das, was als ein zu unterlaufendes Herrschaftsinteresse sinnvoll beschreibbar wäre. Um so problemloser erweisen sie sich hingegen auf die Flughafenwelt übertragbar, die Spielberg in seinem »Film über Amerika und seine Immigranten«,18 wie er The Terminal in einem Interview mit der Zeit nannte, entwirft – eine Welt, die ebenfalls als »Gelände eines Guerillakrieges« beschrieben werden könnte, in welchem die strategisch vorgehenden Vertreter der Herrschaft, personifiziert im nominierten Sicherheitschef Frank Dixon (brillant gespielt von Stanley Tucci), den auf Taktiken angewiesenen Vertretern der Subordination, Navorski sowie den bald schon mit ihm befreundeten niedrigen Flughafenangestellten Enrique Cruz, Gupta Rajan und Joe Mulroy, gegenüberstehen. Begreifen wir den Handlungsverlauf von The Terminal im Folgenden also unter anderem auch als Kriegsverlauf, wobei wir eines im Kopf behalten sollten, nämlich, dass der Flughafen in der Tat einen, wie Dixon Navorski an einer Stelle erklärt, »tricky place« darstellt: einen komplizierten Ort, der auch von Dixon selbst keineswegs zur Gänze kontrolliert werden kann, so dass sich für das Talent des »tricky«, also verschlagen und raffiniert agierenden Taktikers, kurz: des Tricksters mannigfaltige Möglichkeiten ergeben, im fremden Raum auf seine Kosten zu kommen.
2. NAVORSKIS TAKTISCHE BRICOLAGE Protagonist und Antagonist von The Terminal treffen ziemlich schnell, das heißt bereits nach ca. fünf Filmminuten, aufeinander, und zwar im Büro von Dixon. Hinter dessen Schreibtischstuhl prangt ein Poster an der Wand. Eine Waldstraße ist darauf zu sehen, zudem die Worte »Success«, die den Sicherheitsbeamten so-
17 Ebd., S. 30. 18 Steven Spielberg [im Interview mit Katja Nicodemus]: »Kino ist meine Teufelsaustreibung«, in: Die Zeit, 26.8.2004 (http://www.zeit.de/2004/36/ InterviewSpielberg vom 12. Dezember 2006).
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Taktische bricolage in der Transitlounge gleich als Karrieristen ausweisen – eine Charakterisierung, die der weitere Handlungsverlauf voll und ganz bestätigen wird. Auch dass Dixon begeisterter Hochseeangler ist, wird dem Zuschauer kaum entgehen; schließlich hängt über und neben dem Poster eine ganze Reihe präparierter Fische. Wir erinnern uns: »Stand by, he’s fishing«, hatte Thurman, Dixons direkter Untergebener, kurz zuvor gesagt, als sich sein Chef den Überwachungsmonitoren näherte, um eine Gruppe Chinesen in der Halle genauer unter die Lupe zu nehmen. Entsprechend fällt es uns leicht, die Bildlichkeit, um die es Spielberg geht, zu entschlüsseln: Dixon, der später selbst verbal mit Fischfangmetaphern operieren wird, wirft in seinem Gewässer, dem Flughafen, die Angel aus, um dafür zu sorgen, dass nichts und niemand illegal durch das Netz der Einreisebestimmungen rutscht.19 In letzterem hoffnungslos verheddert hat sich der aus dem fiktiven Krakozhia stammende Navorski, dessen Papiere, während er im Flugzeug nach New York saß, aufgrund eines Militärputsches in seinem Heimatland, ungültig geworden sind. Aus diesem Grund glaubt Dixon, ihm weder die Rückreise nach Krakozhia noch die Einreise in die USA gestatten zu können. »Currently, you are a citizen of nowhere«, so der lapidare Befund des hoffnungslos bürokratischen Sicherheitsbeamten, der den des Englischen nicht mächtigen Osteuropäer kurzerhand in die internationale Transitlounge abschiebt, wo er bis zur Klärung seines Falles zu warten habe. Navorskis Luftschiffbruch ist somit perfekt. Der Held wird zum Transitgefangenen. Zudem ist eines der Leitmotive des Filmes, das Warten, eingeführt. Freilich weiß der Zuschauer zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass auch Dixon zu den Wartenden gehört. Und zwar harrt er, und dies bereits seit Jahren, seiner Beförderung zum obersten Sicherheitschef, die ihm am nächsten Morgen von seinem Vorgesetzten in Aussicht gestellt wird. Er müsse nur noch die Probezeit überstehen, dann gehöre der Job ihm. Es versteht sich von selbst, dass Dixon unter diesen verschärften Bedingungen – er, dessen Aufgabe es ist, andere zu beobachten, sieht sich nun selbst unter Beobachtung gestellt – keinen Ärger gebrauchen kann, der mit dem ›Fall Navorski‹ ins Haus zu stehen droht. Entsprechend wird der Sicherheitsbeamte im Folgenden zahlreiche Versuche unternehmen, den Mann aus Krakozhia loszuwerden und ihn zum Problem einer anderen Einreisebehörde werden zu lassen – Versuche, die allesamt zum Scheitern verurteilt sind. Denn Navorski, dessen Figur sich im Verlauf der zuweilen recht turbulenten Handlung als ganz und gar
19 Dass er hierbei ein sicheres Gespür hat, wird mehrfach und auch im Fall der Chinesen bestätigt.
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Jörn Glasenapp statisch herausstellen wird,20 hält sich stur an das, was man anfangs von ihm verlangte: zu warten. Dies bedeutet, dass sich der Held, ob er will oder nicht, mit der ihm aufgezwungenen Umgebung anzufreunden hat, und so beginnt für den Zuschauer die mutatis mutandis bereits aus Cast Away bekannte, erneut sehr amüsante Raumaneignungsphase, in der der Protagonist wie Noland jene Kompetenzen erwirbt, die er benötigt, um seine Existenz an dem ihm fremden Ort zu sichern, das heißt in Navorskis Fall die Durchgangsstation Flughafen zur neuen Heimat auf Abruf zu machen. Wie in Zemeckis Film tritt hierbei recht schnell das bricolage-Talent des Helden zu Tage, etwa wenn dieser bereits in der ersten Nacht in einem abgelegenen, zur Renovierung vorgesehenen Teil des Terminalareals mithilfe seines Taschenmessers zwei Stuhlreihen zu einem halbwegs bequemen Bett-Ersatz zusammenschraubt und im Anschluss daran auch noch die Sicherungen sowohl der Deckenbeleuchtung als auch der Raumbeschallung herauszieht, um zumindest einigermaßen ungestört schlafen zu können. Sinnigerweise, da auf Navorskis Situation gut applizierbar, wurde unter anderem »Strangers in the Night« gespielt, jener Song also, der in der Interpretation von Frank Sinatra zum Welthit avancierte. Sinatra war es nun aber bekanntlich auch, der den New York-Song überhaupt, »New York, New York«, sang, auf welchen Spielberg hier ebenfalls subtil anspielt. »Start spreading the news, I’m leaving today. I want to be a part of it – New York, New York«, formuliert dort das lyrische Ich seinen sehnlichsten Wunsch, dessen Erfüllung Navorski verweigert wird. Anstatt Teil der Metropole zu werden avanciert er zum festen personalen Bestandteil des Flughafens. Als ein solcher durchquert der Held am nächsten Morgen, im Bademantel gekleidet, die Transitlounge und nimmt in einer der öffentlichen Toiletten eine ›Dusche‹ am Waschbecken. Versucht er zunächst noch, seinen Hunger mit aus Crackern, Senf und Ketchup bestehenden ›Improvisations-Hamburgern‹ zu stillen, so kann er sich schon bald durch das Pfand, welches er durch das Einsammeln verstreuter Gepäckwagen verdient, den ›Luxus‹ von ›echtem‹ Fast Food gönnen. Kurz vor dem Schlafengehen beginnt er zu guter Letzt auch noch mit dem Sprachunterricht, indem er den Wortlaut 20 Bekanntlich erzählt das klassische Hollywoodkino stets von Veränderung, wobei zwei – oftmals freilich nicht trennscharf voneinander zu unterscheidende – Arten derselben dominieren: die der Hauptfigur auf der einen, die ihrer Umgebung auf der anderen Seite (vgl. hierzu Michaela Krützen: Dramaturgie des Films: Wie Hollywood erzählt, Frankfurt/Main 2004, S. 8789). Wie unschwer zu erkennen ist, geht es in The Terminal um die zweite Variante, genauer: um die durch den statisch bleibenden Protagonisten katalysierte Umgebungsveränderung.
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Taktische bricolage in der Transitlounge eines englischen mit dem eines slawisch sprachigen New YorkReiseführers abgleicht. Dass wir ihn dabei erleben, wie er gerade das Wort »Friends« lernt, ist natürlich kein Zufall, immerhin liegt ein Hauptakzent der Handlung auf dem Vermögen des grundsympathischen Navorskis, in der Transitwelt des Flughafens rasch Freunde zu finden. Neben der unglücklich verliebten Stewardess Amelia Warren (gespielt von Catherine Zeta-Jones),21 der der Protagonist in charmant-unbeholfener Manier vergeblich den Hof macht, sind hier insbesondere die oben bereits erwähnten Flughafenangestellten Enrique Cruz, Gupta Rajan und Joe Mulroy zu nennen, die nicht nur allesamt im untersten Angestelltenbereich arbeiten und einer ethnischen Minorität angehören – der Caterer Enrique ist Hispano-Amerikaner, der Fußbodenputzer Gupta ein exilierter Inder und der Gepäckauslader Joe Afro-Amerikaner –, sondern die zudem jeder für sich unterschiedliche, wie es Fiske nennt, »Praktiken des Auskommens«22 pflegen bzw. Taktiken entwickelt haben, von dem System, das ihnen aufgezwungen ist und sie subordiniert, widerständigen Gebrauch zu machen. Während Joe zu abendlichen Pokerrunden einlädt, in denen um nicht abgeholte Gepäckstücke gespielt wird, und Enrique sich nach Belieben bei der Bordverpflegung der Airlines bedient, freut sich Gupta über jeden Reisenden, der auf dem von ihm frisch gewischten und damit spiegelglatten Boden ausrutscht. »This is the only fun I have«, erklärt der Inder, und es fällt uns schwer, über diese Worte, in denen die Verzweiflung ebenso wie die aufgestauten Aggressionen des kleinen Mannes zum Ausdruck kommen, zu lachen. Dagegen bildet die Szene, in der Gupta zusammen mit Enrique und Joe das schräge Personal jenes Fake-Restaurants mimt, in welches Navorksi Amelia einlädt, sicherlich einen der komischen Höhepunkte des Filmes. Keine Frage: Es ist eine Solidargemeinschaft der Underdogs, in die Navorski aufgenommen wird. Dies freilich hindert ihn nicht daran, aufgrund seiner unermüdlichen Energie und seines nicht zu erschütternden Trotzdem-Optimismus, die er mit Hanks’ berühmtesten, ebenfalls völlig statisch angelegten Filmfigur, Forrest Gump, gemein hat, in den eng gesteckten Grenzen des Flughafenareals einen rasanten beruflichen Aufstieg hinzulegen – einen Aufstieg, der ironischerweise gerade ihn, den Fremden, dem an der Schwelle zu New York die Einreise in die Vereinigten Staaten verweigert wird, das Basisnarrativ des amerikanischen Traumes, den auf die Formel »from rags to riches« reduzierten Tellerwäschermythos, in geradezu 21 Kurz erwähnt sei, dass auch Amelia zu den Wartenden im Film gehört: Und zwar wartet sie darauf, dass sich ihr Liebhaber, mit dem sie zusammenleben möchte, endlich von seiner Frau trennt. 22 J. Fiske: Lesarten des Populären, S. 45.
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Jörn Glasenapp archetypischer Manier verkörpern lässt. Als unter der Hand bezahltes Mitglied einer Renovierungskolonne verdient er schließlich neunzehn Dollar die Stunde – sehr zum Ärger seines schlechter verdienenden ›Gegenspielers‹ Dixon, der, ebenso wie seine Mitarbeiter auch, Navorskis von zahllosen Überwachungskameras aufgezeichnete ›Karriere‹ am Bildschirm verfolgt. De Certeaus Rede vom taktischen Agieren »innerhalb des Sichtfeldes des Feindes« ist hier also ganz und gar wörtlich zu nehmen. Zugleich wird man kaum die Parallelen übersehen können, die The Terminal zu einer wenige Jahre zuvor entstandenen Hollywood-Produktion unterhält, in welcher es ebenfalls um das abgefilmte Leben eines in einer gefängnisartigen Umgebung festgehaltenen Helden geht: Peter Weirs The Truman Show von 1998, dessen Drehbuch von Andrew Niccol stammt, der auch für die Storyline von Spielbergs Flughafenkomödie mitverantwortlich zeichnete. Deren thematischer Schwerpunkt hat sich gegenüber dem des Weirschen Film allerdings erheblich verlagert. Schließlich handelt es sich bei dem von Jim Carrey gespielten Truman um ein Opfer der zusehends irrwitziger werdenden Auswüchse des Mediensystems, dessen Macht und Einfluss in The Terminal so gut wie keine Rolle spielt; und dies, obgleich Navorskis Schicksal als im höchsten Maße medial verwertbar zu beschreiben ist, sich medienkritische oder -satirische Momente demnach problemlos in die Geschichte hätten einflechten lassen. Warum in The Terminal hierauf verzichtet wurde, ist indes leicht zu vermuten. Offensichtlich wollte man es vermeiden, durch die Aufnahme eines satirischen ›Nebenschauplatzes‹ den durch die nur mäßig geglückte Liebeshandlung ohnehin schon arg geminderten Impact der zentralen satirischen Momente des Filmes noch weiter zu verringern. Diese nun zielten eindeutig auf eine – wenn auch freilich sehr moderat vorgetragene – Kritik an den nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 so sehr verschärften amerikanischen Einreisebestimmungen ab, in denen sich die neue Furcht der Vereinigten Staaten vor dem Draußen spiegelte. Daher war es keineswegs völlig aus der Luft gegriffen, dass der Dallas Observer Spielbergs Film nicht nur als »fable [...] [a]bout remaining human in a climate of fear and suspicion« apostrophierte, sondern zudem noch zur »first post-9-11 comedy«23 erklärte, welche keinen Zweifel daran lasse, dass die beiden Drehbuchschreiber sowohl die paranoiden Alpträume Franz Kafkas als auch den Patriot Act gelesen hatten. Ähnlich argumentierte auch der Philadelphia Inquirer, der von »a warm and glowy fable designed to staunch the tide of xenophobia
23 Bill Gallo: »Playing on Fear«, in: Dallas Observer, 17.6.2004 (http://www. dallasobserver.com/issues/2004-06-17/film3.html vom 12. Dezember 2006).
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Taktische bricolage in der Transitlounge sweeping the land«24 sprach. Und folgt man, um nun auch einmal das deutsche Feuilleton zu Wort kommen zu lassen, der Zeit, so »[wuselt] Navorski, der knuffige Naive, [...] gegen ein System, das sich [...] mit Paranoia vor Terrorangriffen verbarrikadiert und im Wahn um Wehrhaftigkeit seine ureigensten Prinzipien von Freiheit und individuellem Glücksversprechen verrät.«25 An letzteres erinnert uns Spielberg im Laufe der Handlung immer wieder, wobei er zuweilen auf eine einigermaßen schwerfällige Symbolik zurückgreift, etwa wenn er die Decke, welche auf Navorskis improvisiertem Bett liegt, prominent ins Bild rückt und wir auf ihr die Freiheitsstatue erkennen.
3. »I AM GOING HOME!« »The war is over.« Mit diesen Worten wird Navorski eines Morgens von seinen Freunden geweckt. Die Lage in Krakozhia hat sich entspannt, und der Protagonist kann seine Rückreise nach Hause antreten. Der jedoch besteht darauf, für einen Tag nach New York zu fahren, was Dixon zu verhindern sucht – vergebens: Nach einigem Hin und Her muss der mittlerweile beförderte Sicherheitschef zähneknirschend mit ansehen, wie Navorski schließlich ein Taxi in Richtung Manhattan besteigt. Der Held, der nicht zufällig den Vornamen Viktor trägt, hat den ›Krieg‹ mit Dixon folglich gewonnen. Zudem kann er ein Versprechen einlösen, das er seinem Vater kurz vor dessen Tod gab, und das darin bestand, die bis auf einen Namenszug komplette väterliche Jazz-Autogramm-Sammlung durch einen Besuch im Hotel Ramadan Inn, wo der Saxophonist Benny Golson spielt, zu vervollständigen.26 Es war dieses Versprechen, welches den Grund für die Reise von Navorski bildete, der, wie der Film immer wieder zeigt, die Liebe zum Jazz mit seinem Vater offensichtlich teilt. Dies passt natürlich bestens zum Improvisationsgenie
24 Steven Rea: »Feel-Good Airport Tale Fails to Take off«, in: Philadelphia Inquirer, 18.6.2004 (http://ae.philly.com/entertainment/ui/philly/movie. html?id=144349&reviewId=15340 vom 12. Dezember 2006). 25 Birgit Glombitza: »Warten, essen, fleißig sein«, in: Die Zeit, 7.10.2004 (http://www.zeit.de/2004/42/Terminal vom 12. Dezember 2006). 26 1958, so erfahren wir, hatte Navorski senior in einer ungarischen Zeitung eine Aufnahme von 57 amerikanischen Jazzgrößen gesehen (es handelt sich um Art Kanes berühmtes, ebenfalls 1958 entstandenes Foto »A Great Day in Harlem«) und letztere anschließend per Brief um ein Autogramm gebeten. Als der Jazzfan vierzig Jahre später schließlich starb – zweifellos ist er es, der in Spielbergs Film am längsten zu warten hat –, waren alle bis auf einen dieser Bitte nachgekommen. Angemerkt sei, dass das Versprechen, das der Protagonist seinem Vater gab, die einzige nennenswerte Information über Navorskis Vergangenheit darstellt.
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Jörn Glasenapp Viktors. Schließlich handelt es sich beim Jazz um die Improvisationsmusik überhaupt. Ohne das seinem Vater gegebene, letztlich als klassischer MacGuffin zu bezeichnende Versprechen hätte es den Protagonisten, so scheint es zumindest, kaum in das Land der Freiheit geführt, das ihn ein Dreivierteljahr um eben diese brachte. »I am going home!«, lautet die Antwort, die er nach Erhalt des Autogramms dem nach dem Ziel fragenden Taxifahrer gibt – eine Antwort, der man eine gewisse Zweideutigkeit nicht wird absprechen können. Immerhin wird sich das Taxi, daran besteht kein Zweifel, zum Flughafen in Bewegung setzen, jenen Ort also, der Navorski notgedrungen zum Interims-Home wurde. Und da er dieses illegal verließ – das von Amelias Geliebten organisierte Not-Visum hätte von Dixon unterschrieben werden müssen –, ist es durchaus denkbar, dass der Sicherheitsbeamte, zumal er möglicherweise revanchewillig ist, erneut dafür sorgt, dass dem Helden der baldige Rückflug nach Krakozhia verwehrt wird und ihr ›Krieg‹ bzw. ihr Spiel von Strategie und Taktik in die zweite Runde geht.
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The institution of the dear love of comrades. Zur Wiederaufführung amerikanischer Soziotopologie in M. Night Shyamalans The Village ULRICH MEURER »… and this is what our America means, and is doing – may I not say, has done?« (Walt Whitman, Democratic Vistas)
Über einen Zeitraum von 37 Jahren, zwischen 1855 und 1892, erscheinen sieben immer wieder überarbeitete und stets umfangreichere Fassungen der Gedichtsammlung Leaves of Grass, mit der Walt Whitman den Vereinigten Staaten, die sich von einem dubiosen und im Ausland manches Mal belächelten politischen Experiment zu einer industrialisierten Weltmacht entwickeln, auf dreifache Weise ihr poetisches Zeugnis ausstellt: Zunächst verketten seine visionären demokratischen Kataloge, »such join’d unended links, each hook’d to the next«,1 unablässig disparate Elemente – dies (mit Gilles Deleuze) die Augabe aller amerikanischen Literatur, da auch das Land aus föderierten Staaten und diversen Immigrantenvölkern besteht, da es eine Nation ist, »die von Nationen wimmelt«2 und seinerseits unablässig Verbindungen in der Geographie, in der Gesellschaft und Politik herstellt. Weiterhin scheint diese Beiordnung und Versammlung von Isolaten formal in den zahllosen Asyndeta und im parataktischen Stil der Leaves of Grass auf. Und schließlich tragen nicht nur die Gedichte selbst, sondern ebenso die mannigfaltigen Entstehungsphasen des gesamten Bandes diesem
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Walt Whitman: »Salut au Monde!«, in: Leaves of Grass, München 1987, S. 109-118, hier S. 110. Gilles Deleuze: »Whitman«, in: ders.: Kritik und Klinik, Frankfurt/Main 2000, S. 78-84, hier S. 79.
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Ulrich Meurer Gegenstand Rechnung; die Textgenese, das Anwachsen und Wuchern über beinahe vier Jahrzehnte, stellt mit der Zeit »Relationen her, die immer zahlreicher und immer feiner werden« und sich solchermaßen dem Motor amerikanischer Natur und Geschichte anverwandeln.3 Auf diese Weise modelliert das Werk ein Selbstverständnis des Landes als Vollversammlung der Dinge und Völker, als ein unbegrenzt fortsetzbares Patchwork. Wie hier die Texte, so verteilen sich dort die Menschen, finden zueinander (und zu einer Nation), nicht jedoch aufgrund überkommener Formen und Institutionen, die eine Struktur oktroyierten. Vielmehr ist es laut Whitman eine sozialutopische »Liebe«, es sind die selbstgeschaffenen Bindungen des Mitfühlens und die »Sympathien«, die der Gemeinschaft die nötige Adhäsion verleihen: I hear it was charged against me that I sought to destroy institutions, But really I am neither for nor against institutions … Only I will establish in the Mannahatta and in every city of these [States inland and seaboard, And in the fields and woods […] The institution of the dear love of comrades.4
Diese programmatische Erklärung Whitmans fasst anhand der Opposition zweier zentraler Begriffe in nuce eine historische Dialektik, welche die Kristallisation der Vereinigten Staaten im 18. und 19. Jahrhundert anleitet und – so meine These – durch den Spielfilm The Village (M. Night Shyamalan, 2004) ihre Wiederaufführung erlebt, indem er jenen politischen Kristallisationsprozess inhaltlich und formal noch einmal in Szene setzt, darüber hinaus allerdings die ideologischen Implikationen eines solchen nostalgischen reenactment, wie es gewöhnlich dem Historienfilm eigen ist, auch auf der Handlungsebene reflektiert. Zunächst nennt Whitman die Institution, eine auf Dauer angelegte Einrichtung, die senkrecht in die Verteilung der Individuen »hinein gestellt« ist und ihrer Regelung, Homogenisierung und Begrenzung dient. Sie ist ein von der Alten Welt hervorgebrachtes und etabliertes Artefakt, das sich allgemein im hierarchischen, besonders aber im dynastischen Prinzip und seinem Verwaltungsapparat manifestiert. Insofern ist sie in ihren synchronen und diachronen Aspekten, in ihren räumlichen Fortsetzungen wie auch in ihrer zeitlichen Tradierung, nicht zuletzt der Kategorie der Abstammung
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G. Deleuze: Whitman, S. 82. Walt Whitman: »I Hear It Was Charged against Me«, in: Leaves of Grass, München 1987, S. 104.
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The institution of the dear love of comrades verwandt – die »Königsfamilie« als erste aller Institutionen5 – und beruht auf der Linie, die sich zwar verzweigen mag, der Vielfalt, Verstreuung oder Versammlung in der Fläche jedoch entgegensteht. Alles in ihr lässt sich wie in einem Baumdiagramm auf ein Einzelnes, auf die Eins zurückführen.6 Und gleichsam als blinder Passagier versucht die Institution auf der Mayflower nach Amerika zu gelangen, um sich dort in der scheinbar noch ordnungsbedürftigen horizontalen Gemeinschaft einzurichten. Als ihre Antithese führt der Text die allseitige Liebe unter Kameraden an (»das große Wort Whitmans zur Bezeichnung der höchsten Beziehung zwischen Menschen«7). Sie ist das Ideal des demokratischen Amerika, das einen Unabhängigkeitskampf ausficht, der es von der europäischen Abkunft und von seinem Ahnen – vom Prinzip des Genealogischen – befreien soll. Liebe und Kameradschaft erscheinen so als Gegenentwurf zum Familialen; die Gleichgesinnung der Amerikaner macht sich zur Aufgabe, die institutionalisierte Blutsverwandtschaft der Europäer als politisches Konzept zu ersetzen: »Amerikaner ist der, der sich von der englischen Vaterfunktion freigemacht hat«, die Berufung der Vereinigten Staaten liegt nicht darin, »eine Nation, eine Familie, eine Erbschaft, einen Vater wiederherzustellen; sie besteht vor allem in der Bildung eines Universums, einer Gesellschaft von Brüdern, einer Föderation der Menschen und der Güter«.8 Allerdings lässt sich Whitmans abschließende Wendung der »institution of the dear love of comrades« auf zweierlei – und auf zwiespältige – Weise lesen, einerseits als Ausdruck einer gelungenen Synthese, in welcher die Institution ihren Geist aufgibt und in demjenigen der Liebe aufgeht, während diese die Kraft zur Erfindung einer Gesellschaft erhält. Andererseits aber mögen in der prekären Formel von der »Institution der Liebe« die Beschränkungen familialhierarchischer Ordnung als insgeheim eingeschleppter und unvermeidlicher Infekt innerhalb der idealen amerikanischen Gemeinschaft verstanden werden, in der sie sich unbemerkt eingenistet 5
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Auch die Literatur der Alten Welt erwächst Whitman zufolge jenen dynastischen Institutionen, von denen sich die amerikanische Dichtung zu befreien habe: »The models of our literature, as we get it from other lands, ultramarine, have had their birth in courts, and bask’d and grown in castle sunshine; all smells of princes’ favors.« (Walt Whitman: »Democratic Vistas«, in: ders: Complete Poetry and Collected Prose, New York 1982, S. 929-994, hier S. 955.) Zum Prinzip des Baums und der Genealogie im Denken wie auch in der Politik, vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II, Berlin 1992, S. 14. G. Deleuze: Whitman, S. 83. Gilles Deleuze: Bartleby oder die Formel, Berlin 1994, S. 48.
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Ulrich Meurer haben, fortbestehen und selbst die Liebe unter Kameraden zuletzt ergreifen und denaturieren (dies eine Lektüre, die dem Autor in seiner politischen Euphorie zugleich augurische Skepsis unterstellt und im Subtext des Gedichts etwas wie verborgenes Unbehagen diagnostiziert).9 Jene zweite Lektüre aber, die, entgegen einer bloß optimistischen Kraft in den Zeilen Whitmans, die Gemeinschaft schließlich der Institutionalisierung anheim fallen sieht, kann – wie man sehen wird – Shyamalans Film The Village schließlich zum Reflektor des lyrischen Texts machen. Zunächst scheint jenes Village, ein neuenglisches Dorf im ausgehenden 19. Jahrhundert, nach der Blaupause entworfen, die Deleuze (nicht zuletzt anhand von Whitman) für die frühe amerikanische Gesellschaft erstellt. Es bildet eine Mikrographie des egalitären Eigenanspruchs der postrevolutionären Vereinigten Staaten, indem die Gemeinschaft im Wald von Covington, von den Dorfältesten bis zu den Schulkindern, auf einen weitgehend hierarchielosen, »heilen« Austausch von Naturalien, Leistung und Gut ausgelegt ist – selbst Geldwirtschaft ist in diesem vielfältig geknüpften Beziehungsgewebe nicht bekannt10 –, und indem grundsätzlich der gemeinschaftliche Gedanke die Idee und weniger die Ideologie der Siedlung ausmacht. Dieser Gedanke setzt sich zuweilen bis in die Bildkomposition und 9
Hier setzt D.H. Lawrence an, wenn er gerade im Begriff der Liebe die Errichtung des alten Regimes der Einheit und die Suspendierung der demokratischen Utopie Whitmans angelegt sieht (was diesem selbst jedoch entgehe). Während noch die »Sympathie« den gesunden Abstand zwischen den Individuen nicht aufgebe, bewirke die »Liebe« die Implosion des amerikanischen Universums in der Eins und im Ego: »Meeting all the other wayfarers along the road. And how? How meet them, and how pass? With sympathy, says Whitman. Sympathy. He does not say love. He says sympathy. Feeling with. Feel with them as they feel with themselves. Catching the vibration of their soul and flesh as we pass. […] He didn’t follow his sympathy. Try as he might, he kept on automatically interpreting it as Love, as Charity. Merging!« (D.H. Lawrence: »Whitman«, in: Harold Bloom (Hg.): Bloom’s Modern Critical Views: Walt Whitman, New York 2006, S. 1326, hier S. 22 f.). 10 Wie auch dies – die deutlich kapitalismuskritische Komponente der im Film gezeichneten Gesellschaft – neuerlich auf Whitman zurückzuweisen vermag, zeigt nicht zuletzt dessen Beurteilung durch die linke (und die sozialistische) Literaturwissenschaft. W. Grünzweig etwa weist darauf hin, dass Leaves of Grass von der linken Kritik zuweilen als »lyrical correlative to Karl Marx’ Communist Manifesto« gelesen wurden, »published merely seven years before the first edition of Leaves and calling for the ›Working Men of all countries, [to] unite‹«. (Walter Grünzweig: »Imperialism«, in: Donald D. Kummings (Hg.): A Companion to Walt Whitman, Oxford u.a. 2006, S. 151163, hier S. 151).
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The institution of the dear love of comrades Montage des Films fort: Besonders dessen erster Teil weist eine unübersehbar hohe Zahl von Totalen auf, in denen meist Gruppen den Kader füllen; immer ist eine Figur von anderen umgeben und an sie angeschlossen – bei der Bestattungszeremonie auf einer offenen Weide zu Beginn des Films, bei der darauf folgenden Trauerversammlung unter freiem Himmel vor der Kirche, beim späteren Hochzeitsfest und den Ratsversammlungen (es zeigt sich an derlei Handlungselementen, dass was hier im weiteren Sinne doch auch Institution ist – die sakramentale Feier ebenso wie die politische Zusammenkunft – anfangs noch in die Kameradschaft eingeht, statt ihr entgegenzuwirken, oder aus ihren Komposita selbst erwächst).11 Die Bewohner von Covington: eine Kette aus Individuen12
Zwar steht im vorfilmischen Raum bei diesen Versammlungen die Reihe der Ältesten und Gründerväter des Dorfs manches Mal dem Block der übrigen Bewohner gegenüber. Doch stets vermeidet es die Kamera, solche potentiellen Herrschaftsfronten auch frontal aufeinander treffen zu lassen. Stattdessen werden durch die Positionie-
11 Daher kann Deleuze das demokratische Prinzip in Abgrenzung zum tyrannischen grundsätzlich als Regime einer Vielzahl einander beigeordneter Institutionen (oder »positiver Handlungsmodelle«) definieren, deren Stratum die Gesellschaft vor der direkten Einwirkung der – relativ wenigen – Gesetze beschirmt (vgl. Gilles Deleuze: »Instincts et institutions«, in: ders.: L'île déserte et d'autres textes, Paris 1974. S. 24-27). Ebenso klärt sich durch die Möglichkeit dieser »guten Spielart« des Institutionellen Whitmans grundsätzliche Indifferenz ihr gegenüber – »Really I am neither for nor against institutions …« 12 Quelle aller Bildzitate dieses Beitrags: The Village (M.N. Shyamalan), DVD, Buena Vista Home Entertainment, 2005.
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Ulrich Meurer rung des Aufnahmeapparats die Vorsteher wie auch die Mitglieder der Gemeinde zu Serien, die vom Vordergrund in die Bildtiefe gestaffelt sind:
Ein solches Bild leistet eher eine Kombination der Elemente als ihre Sonderung oder gar ununterscheidbare Vereinigung. Die Gruppe bildet »nicht ein Hirn, sondern eine Wirbelkette, ein Rückenmark«.13 So wird augenfällig, wie sich in der räumlichen zugleich die (genuin amerikanische) geistige Organisation des Dorfs spiegelt – bis hin zum Transzendentalismus etwa eines Emerson oder Thoreau, dessen Auffassung einer erfahrbaren Prozesshaftigkeit und losen Verkettung sich gegen die Besonderheiten und individuellen Eigenschaften der Menschen wie auch gegen ihre universelle Verschmelzung, gegen das Gehirn oder den väterlichen Geist abendländischer Philosophie wendet und den Pragmatismus ankündigt, der die herrschenden Konzepte des Denkens durch eine neue Welt ersetzt, die immer erst zu machen ist.14 In vieler Hinsicht begegnet man in The Village solchen »Soziotopologien«, die ein Denken (wie etwa den Pragmatismus), ein gesell13 G. Deleuze: Bartleby, S. 51. 14 Vgl. G. Deleuze: Bartleby, S. 50 ff. In diesem Zusammenhang fällt auf, wie Deleuze die Neuheit des philosophischen Pragmatismus, auf den er in seinen Ausführungen zu Melville und auch Whitman zu sprechen kommt, mit Hilfe eines »kinematographischen« Vokabulars charakterisiert: Der Pragmatismus entwickle eine neue Perspektive, den Perspektivismus als Archipel, der das Panoramieren und das Traveling konjugiere (siehe ebd., S. 54 f.). Insofern liefert The Village ein gleichsam »pragmatisches« Bild, wenn der Film durch seine perspektivische Konstruktion hier die Zusammenschau der Totale (die Verschmelzung) wie auch der Kamerafahrt (die Sonderung) meidet.
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The institution of the dear love of comrades schaftspolitisches Modell (wie Whitmans »vaterlose« Demokratie) oder auch die historischen Stadien seiner Entwicklung (die Landnahme der Pilgerväter, der Unabhängigkeitskrieg) auf die Rauminszenierung übertragen und so die gleichsam angereicherte Version eines Bachtinschen Chronotops darstellen: Zum einen ist der Raum – das Dorf, der umgebende Wald, das Verhältnis der Örtlichkeiten und Figuren zueinander – aufgeladen mit Vergangenheit und Geschichte (auch mit Plot), löst zusehends alle Temporalität in seiner spatialen Ordnung und inkorporiert derart den Verlauf der Zeit. Zum anderen aber speichert dieser Raum in seinen »tausend Honigwaben« nicht nur »verdichtete Zeit«,15 sondern vermag darüber hinaus mit ihr assoziierte philosophische und politische Konzepte zu verkörpern. So ist es zunächst die »Liebe unter Kameraden«, die hier allenthalben mit einer bestimmten Behandlung des Spatiums und der Figuren durch den Film in eins fällt, und zugleich gibt sich der filmische Raum in einem weiteren seiner Aspekte, geben sich seine Zonen und Grenzen als Abbild und Neuauflage der Raumverhältnisse zu erkennen, wie sie eine noch unfertige Nation und in besonderem Maße die historische Imagination und Organisation Amerikas während seiner Besiedelung prägen. Mehr noch: gerade angesichts seines »Mangels« an Vergangenheit scheint der Raum in der Erfahrungswelt Amerikas die Chronologie immer schon zu kompensieren, den Hunger nach Geschichte zu stillen16 und damit die Strategie des Films bereits vorzuzeichnen. Insofern tritt das Land selbst von Beginn an als prototypischer Chronotopos auf; fortwährend transponiert es die Zeit in seine Räume, in die nach Westen sich öffnenden Ebenen, in den wandernden Horizont, in Ackerland und Wildnis sowie – von Coopers ur-ozeanischen Sedimentdepots des Mittleren Westens17 bis zu den siderischen Wüsten Baudrillards18 – in die Tiefe der Felsformationen und ihre geologischen Strata. Seit die ersten Pilger den unbekannten Kontinent betreten haben, stellt die Vorstellungskraft jedoch vor allem eines dieser vielfältigen Raumkonzepte in den Vordergrund, dasjenige nämlich einer Scheidung des Landes, das in gewissem Sinne noch dem Werden unterliegt und sich nur zögerlich auf das abgeschlossene Sein eines Staates vorbereitet, in einen sicheren und gezähm15 Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, Frankfurt/Main 1987, S. 35. 16 Vgl: Zofia Kolbuszewska: »Introduction. Time, Space and Chronotope in Culture, American Literature and Literary Criticism«, in: dies. (Hg.): The Poetics of Chronotope in the Novels of Thomas Pynchon, Lublin 2000, S. 735, hier S. 9. 17 Vgl. James Fenimore Cooper: »The Prairie«, in: George McMichael (Hg.): Anthology of American Literature. Colonial through Romantic, Bd. 1, New York 1985, S. 636. 18 Vgl. Jean Baudrillard: Amérique, Paris 1986.
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Ulrich Meurer ten Kulturbereich und ein ursprüngliches, undomestiziertes Terrain, das seiner zunehmenden Verfestigung und Bestimmung noch zuzuführen ist: »Not only was the new continent vast but it was also alien. [The Puritans’] settlements were islands of order in a hostile nature. And hence the juxtaposition of the familiar place where life was organized on religious lines, with hostile wilderness, which is the domain of evil forces.«19 Zwar bleibt die Grenze zwischen beiden Sphären, zwischen Bekanntem und Unbekanntem, Zivilisation und Wildnis im Zuge der fortschreitenden Landnahme immer verschiebbar, die Einwanderer gewinnen unaufhörlich neues Gebiet hinzu, so dass sich die Raumverhältnisse stetig ändern und das Spatium dadurch zu destabilisieren scheinen. Aber indem die eine Seite dem Hergebrachten gehört und die andere unverrückbar dem Fremden, indem so dem Raum eine Art Rippe oder Falz wächst, der ihn wie ein Endoskelett stützt, bedeutet die Frontier zugleich doch Festschreibung und Stabilisierung – dies in geographisch-physischer wie auch in ideologisch-symbolischer Hinsicht, da die puritanische Gesellschaft das Land mit seinen kargen Ernten, den feindseligen Naturelementen und den Wilden, die in den dunklen Wäldern lauern, gleichzeitig als Ausgeburt des Bösen und als gottverlassene Einöde betrachtet, gegen deren Unbilden die Gruppe und der Einzelne mit den Waffen des Glaubens zu Felde ziehen muss.20 Es ist offensichtlich, dass The Village auch für diese Auseinandersetzung einer Gemeinschaft mit der Natur und dem Anderen, die in einer strengen Linie resultiert, sowie für das daraus erwachsende stete Gefühl der Bedrohung eine Chiffre entwickelt – den bewachten Sicherheitsstreifen.
19 Z. Kolbuszewska: Introduction, S. 9. 20 Vgl. Brian Jarvis: Postmodern Cartographies, London 1998, S. 2.
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The institution of the dear love of comrades Er ist durch Feldmarkierungen und Aussichtstürme kontrolliert, auf dessen anderer Seite die Unaussprechlichen hausen, halb mythische Kreaturen, denen wohl nicht zufällig die »böse Farbe« Rot zugeordnet ist. Die von Fackeln und Posten besetzte Grenze zwischen Siedlung und Wald, die die Gemeinde vor den Unaussprechlichen schützen soll, lässt sich demnach als eben diejenige zwischen einem zivilisierten und einem ungeordneten Raum lesen, als Frontier, die hier als konkrete Front im Kampf mit dem Unbekannten definiert ist.21 Bisher also ließe sich Shyamalans Film als Re-Präsentation zum einen der kameradschaftlich in ihren Gliedern verknüpften amerikanischen Idealgesellschaft und zum anderen eines Stadiums im Entstehungsprozess der Nation interpretieren, als Abbild eines gleichsam relationalen, der Veränderung entspringenden Landes und seines Selbstverständnisses, das sich zunächst einer (europäischen) Vergangenheit entledigt, um die Liebe als Verhältnis unter den Menschen zu verwirklichen, die in einer noch undomestizierten Natur siedeln … während sich in ihrer Mitte bereits die Symptome einer tiefen Paranoia gegenüber dem Regellosen zeigen. Wenn vielleicht schon Whitmans Gedicht unterschwellig darauf hinweist, dass in der dear love ein Keim verborgen liegen könnte, der die Ausbildung der institutions begünstigen oder gar begründen und dem hierarchiefreien Raum am Ende wieder deren Regelwerk und Begrenzungen aufdrängen mag, so folgt ihm auch darin der Film und formuliert dieselbe Dialektik: The Village stellt die These eines utopischen Gemeinwesens auf, die jedoch – wie man sehen wird, wie man am Dorfgesetz und an der Wachablösung jetzt schon sieht – ihre Antithese in den Stabilisierungsverfahren der Institution findet. Letztendlich erweisen sich damit die beiden Prinzipien als bestenfalls rhetorisch miteinander vereinbar, als Oxymoron aus zwei Begriffen, deren Differenz so groß ist, dass sie tatsächlich ein contrarium bilden. Die Institution – das Werkzeug, besser: der Apparat eines Herrschaftsdiskurses – ist das, was sich der ebenen Erstreckung einer kameradschaftlichen Gesellschaft entgegenstellt und sie schließlich erstarren lässt; die anfänglich so optimistisch betriebene Deterritorialisierung der Politik und des Raums hat die Territorialisierung stets in sich getragen. Und nachdem Walt Whitmans Democratic Vistas die Bedrohung durch organisierte Segregation benannt haben – »Of all dangers to a nation […] their can be no greater one than having certain portions of the people set off from the rest by a line drawn«22 –, legen seine Leaves of Grass die 21 Vgl. hierzu auch Ulrich Meurer: Topographien. Raumkonzepte in Literatur und Film der Postmoderne, München 2007, S. 40 f. 22 W. Whitman: Democratic Vistas, S. 949.
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Ulrich Meurer Gefahr einer neuerlichen Petrifizierung der Gemeinschaft offen, wenn von ihrem lockeren Liebes-Verbund die alten Institutionen wieder Besitz ergreifen. Während er zuerst die Enge der über Jahrhunderte wirksamen Staatsformen Europas im revolutionären Aufbruch Amerikas überwunden sieht, während das väterliche Gesetz vom brüderlichen Einverständnis abgelöst worden sei, heißt es an späterer Stelle: Is the house shut? Is the master away? Nevertheless, be ready, be not weary of watching, He will soon return, his messengers come anon.23
Und tatsächlich nimmt der Meister bald seinen angestammten Platz ein, so dass die lose Gemeinschaft gerinnt und im schleichenden Wandel politischer Paradigmen entsteht, was Gilles Deleuze das »magnetische amerikanische Gefängnis«24 Benjamin Franklins nennt. Folgerichtig finden in The Village nun nicht nur die Gefahr des Unbekannten oder die Gemeinschaft der »Kameraden«, der Migranten, Siedler und Pioniere ihr Bild, die sich der Eroberung einer terra incognita widmen. Zugleich gerät der Film zum Abbild einer Gemeinschaft, die sich – gerade erst gereinigt vom Prinzip der Einigung und des Ich, vom Merging und Myself25 – jäh von der despotischen Vergangenheit eingeholt sieht: durch die Demarkation und schließlich durch den »Meister«, dem man in Gestalt des Patriarchen Edward Walker (William Hurt) nun doch wieder begegnet, einem Monomanen, der – so einfühlsam, gerecht und liebevoll er auch gezeichnet sein mag – dennoch ein phantasmagorisches Regime der Bindungen und Restriktionen errichtet. Die Unaussprechlichen, so stellt sich heraus, sind seine Erfindung, um in Anwendung einer altbekannten Strategie die Bedrohung von außen behaupten zu können, die ihrerseits die innere Ordnung der Mikrogesellschaft von Covington garantieren soll, ganz wie seine rigide Begrenzung des Territoriums dieser kollektiv-psychologischen eine manifeste topologische Schranke beiordnet. Nicht nur Ratsmitglied, sondern zugleich Dorflehrer der Gemeinde, trägt er durch seine Lektionen dafür Sorge, dass beides bereits im Weltverständnis der Schulkinder zusammenfällt: »Those We Don’t Speak Of have not breached our borders for many years. We do not go into their woods. They do not come into our valley.« Und mit gehörigem logistischem Aufwand, einem reichen Fundus an Requisiten – etwa den 23 Walt Whitman: »Europe, The 72d and 73d Years of These States«, in: ders.: Leaves of Grass, S. 216 f., hier S. 217. 24 G. Deleuze: Bartleby, S. 57. 25 Vgl. D.H. Lawrence: Whitman, S. 26.
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The institution of the dear love of comrades gehäuteten Kadavern von Nagetieren oder knochenbehangenen Kostümen – und ausgeprägtem Gespür für den rechten (Krisen-)Moment inszeniert Walker die angeblichen Übergriffe des Fremden auf das Dorf, schürt die abergläubische Furcht der Gemeinde vor dem archaischen Waldvolk26 und degradiert damit wie ein wahnsinniger Vater seine Kinder zu hypochondrischen und an falscher Unschuld erkrankten Untertanen. So offenbart er sich als Herr und Hüter eines undurchschaubaren Gesetzes, das darüber hinaus nur vordergründig einem praktischen Vernunftgedanken entspringt, in Wahrheit jedoch nicht mehr als eine dünne Decke ist, unter der die eigene Obsession gedeiht. In seinem Delirium bedient er sich scheinbar der (politischen) Ratio, macht sie jedoch, wie es die Eigenart des Monomanen ist, sogleich seinen souveränen und nur wenig vernünftigen Zwecken dienstbar.27 »You should not have made decisions without us«, wirft ihm deshalb der Rat der Ältesten vor, als Walker beschließt, eigenmächtig die Vereinbarung zu brechen, auf der das Dorfleben basiert, und seine blinde Tochter Ivy (Bryce Dallas Howard) als Thronfolgerin – das Prinzip der Abstammung erlebt hier seine Restitution – in die trügerischen Grundlagen der Gemeinschaft einzuweihen. Er antwortet auf die Anschuldigung nicht mehr als Glied einer Wirbelkette oder eines Rückenmarks, sondern als Individuum, das sich des überwundenen Denkens bedient und alle Entscheidungsgewalt allein aus der eigenen Innerlichkeit schöpft: »I’m guilty ... I made a decision of the heart.« Ob nun ein guter und sorgender Vater (als welchen der Film ihn bis zuletzt zu zeichnen sucht) oder ein böser – seine Erwiderung misst den ganzen weiten Abstand aus zwischen der Idee der Liebe unter Kameraden und dem neu erwachten alten Regiment des Ich. Der Vater aber kommt niemals allein; er bringt immer seine Beschränkungen mit, die sich jetzt nicht lediglich in der Außengrenze des Territoriums manifestieren, sondern ebenso das Territorium selbst zu durchtrennen und zu kerben beginnen. Auch hierin erweist sich The Village zusehends als das Bild eines »modernen« 26 Ein klarer und geschickt manipulatorischer Rekurs auf das kulturelle Gedächtnis der Emigranten-Gemeinschaft, der eben deshalb besondere Wirkung zeitigt, ist dabei die nächtliche Markierung einzelner Haustüren mit roter Farbe. Als Umkehrung der alttestamentarischen Erzählung (Exodus 12, 3ff.), in der die Israeliten in Ägypten durch das Bestreichen ihrer Türpfosten und Schwellen mit dem Blut eines Opferlamms kurz vor ihrem Auszug der zehnten Plage entgehen, ist es hier die von Edward Walker initiierte Zeichnung der Häuser, die deren Bewohner der Rache der Unaussprechlichen auszuliefern scheint ... 27 Vgl. Deleuze’ Charakterisierung des »Monomanen«, eines der Typen der Melvilleschen (und aller amerikanischen) Literatur, dem der »Hypochonder« und der »Prophet« zur Seite gestellt sind: G. Deleuze: Bartleby, S. 41.
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Ulrich Meurer Staates, dessen zuerst ungegliedertes Spatium durch funktionale Barrieren in Zonen der Besitzverteilung, der Identität, des Rituellen und Alltäglichen aufgeteilt ist. Die Demarkationslinie zwischen dem Herrschaftsbereich der Dorfes und dem der Unaussprechlichen schafft dabei lediglich die Hülle, innerhalb deren ein immer feineres Gliederungsraster ausgespannt werden kann, das zeigt, wie am Ende der Migrationsbewegung und der verschiebbaren Frontier die Sesshaftigkeit wartet. Die Außengrenze versieht den Raum mit einer ersten, seminalen Kerbe, die zwei Hoheitsgebiete voneinander scheidet, welche nunmehr durch klassische Außenpolitik (die rituelle Schenkung eines Schlachttiers an die Unaussprechlichen) miteinander kommunizieren. Und wie schon dort, unterbindet der Raum den freien Kontakt auch in seinem Inneren, stellt erlaubte Zugänge, abgezählte Distanzen und verbotene Bezirke her: Neben dem unübersehbaren gelben Strich, der die Landschaft entzweischneidet, ist da die Scheune, die nicht betreten werden darf, da dort die Ausstattung für Edward Walkers politisches Schauertheater lagert; das stille und leere Zimmer, ein Kerker, in den zur Bestrafung gewöhnlich der »Verrückte« Noah (Adrian Brody) eingeschlossen wird; der Ruhefelsen am Rande der Siedlung, ein Initiationsraum, den die Liebespaare aufsuchen; der Friedhof als peripherer Abweichungsraum; der fackelgesäumte Pfad, der vom Hochzeitszelt zu den Häusern führt und den nach der nächtlichen Feier niemand zu verlassen wagt. Allenthalben entstehen Raumteile, denen meist eine unmissverständliche Funktion zugewiesen ist, »wirksame Orte«, die »in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet« sind und ihre eigenen kodierten Elemente, Markierungen und Klassifizierungen bereit halten – ein System aus Topoi und Heterotopoi.28 All dies hinterlässt einen Raum, der geregelt und »institutionalisiert« ist und die Verwandlung des Landes in ein Staatsgebiet nachvollzieht.29 Wiederum übersetzt The Village diese Einrichtung von Wegen, Zellen und Arealen in die Bildgestaltung. Während zuvor das Panorama, die Außenaufnahme, das Gruppenbild die Öffnung des Raums betrieben und fortwährend – als Analogon der Kamerad28 Zur Definition und Klassifizierung solcher Heterotopien siehe u.a. Michel Foucault: »Andere Räume«, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1993, S. 34-46. 29 Denn es ist »das vitale Interesse des Staates«, so Deleuze und Guattari, »nicht nur das Nomadentum zu besiegen, sondern auch die Migration zu kontrollieren und ganz allgemein einen Rechtsbereich gegenüber einem ›Außen‹ geltend zu machen [...]. Überdies sind noch feste Wege mit genau definierten Richtungen notwendig, die die Geschwindigkeit begrenzen [und] den Verkehr regeln.« (G. Deleuze/F. Guattari: Tausend Plateaus, S. 532).
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The institution of the dear love of comrades schaft, des »new cohering principle in the world«30 – Anschlüsse hergestellt haben, um die Bildfiguren in einer scheinbar endlosen Kombination über ihre Grenzen und diejenigen des Kaders hinauszuführen, treten nun zusehends Schließungen und Sonderungen auf. Das Innen gewinnt an Gewicht, die nächtliche, kerzenbeleuchtete Kammer und der beengte Korridor (nicht zuletzt auch die hölzernen Schatullen, in denen die Ratsmitglieder alle dunklen Erinnerungsstücke an ihre Vergangenheit aufbewahren, so dass nach der mühevollen Emigration in die »neue Welt« wie aus dem Latenzgedächtnis nun die Traumata daraus aufsteigen und die ganze hoffnungsvolle Gemeinschaft heimsuchen können). Jene modalen Räume im Bild reflektiert seinerseits der Bildraum durch die Verstellung der Fluchtlinien und Einschränkung des Sichtfelds: Überall sind nun Türen zu sehen, deren Rahmen denjenigen des Filmbilds verdoppeln, es zu seinem Zentrum gravitieren lassen und das hors champ abstoßen; oftmals parzellieren Fensterkreuze den Darstellungsraum, der dadurch zu verflachen beginnt und sich bestenfalls auf einen schmalen Treppenaufgang noch öffnen mag; durch die tiefe Positionierung der Kamera nehmen die niedrigen Decken von Zimmern und Kellerräumen zuweilen einen Großteil des Kaders ein, ganz wie immer häufiger Wandteile den Blick beschränken. Derweil lässt die Ausleuchtung alle Flächen und Konturen im Zwielicht versinken. Was bleibt, sind gleichsam irrlichternde Flecken und ein weiter dunkler Bildgrund, in dem die Figuren teilweise zu versinken drohen – dies zwar kein Verfahren, das die nun etablierte Struktur von Grenzen und Teilungen innerhalb eines klaren visuellen Feldes umsetzte, dennoch freilich eine Beschränkung in den Orientierungen des Raums, der den sicheren und lichten Zonen die angstvollen und lichtlosen Winkel gegenüberstellt, Grenzen einführt und im Sicht- und Unsichtbaren den Raum der allgemeinen Verfügbarkeit entzieht.
30 D.H. Lawrence: Whitman, S. 19.
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Ulrich Meurer Nachdem The Village also zuerst – etwa durch die Kombination von Elementen in der Bildfläche – die Egalität, Kontinuität und Materialität als Gegensätze spiritualistischer Ideen sowie politischer Herrschaftsmodelle und damit das »demokratische Universum« eines Walt Whitman mit seiner »bias for open process-oriented systems over closed, rigidly ordered and hierarchical systems« ins Werk stellt,31 nachdem darüber hinaus die Topologie des Films die frühe Geschichte amerikanischer Besiedelung in einer Neuauflage der Frontier zwischen heterogener Wildnis und homogenem Kulturraum nachzeichnet, gibt sich Covington nun als die Wiederholung und Wiederaufführung auch der darauf folgenden Phasen in der Formation Amerikas zu erkennen: Sowohl der Film selbst als auch die in ihm vorgestellte Gemeinschaft träumen vom Werden, von einem Bild ebenso wie von einer Gruppe – »masterless men in a structureless society«32 –, die auf dem Zusammenschluss des Disparaten beruhen, bis die Teile dieser formal-ästhetischen und inhaltlichpolitischen Verkettungen zusehends eine homogene Struktur etablieren. Es beginnt in Ermangelung physischer und geistiger Bewegungsräume die Sedimentierung und Verfestigung; die Gemeinschaft und ihre Topoi verfallen einem System der Sonderungen, das nunmehr alles unterscheidet, segmentiert und gleiche Abstände einführt. An dieser Stelle spätestens wird deutlich, dass die Vielzahl von Facetten US-amerikanischer »Gestimmtheit« und Geschichte, die sämtlich in den Film Aufnahme finden, nicht auf das re-enactment eines einzelnen prägenden Moments zielen können, der das Selbstverständnis der Neuen Welt anleiten würde. Vielmehr scheint The Village ganz unterschiedliche solcher Momente zu verdichten und zu verarbeiten – von der Gründung der Kolonie Massachusetts durch die Pilgerväter und dem Beginn der Siedlungsbewegung im siebzehnten über den politischen wie kulturellen Unabhängigkeitskampf im achtzehnten bis zur Beendigung der Sezession und der Stärkung der Einheitsregierung im neunzehnten Jahrhundert –, um im Mikrokosmos der Dorfanlage und -gemeinschaft all diese historischen Stadien und ihre topologischen Aspekte (Verteilung, Teilung, Einheit, Einteilung) chronotopisch zusammenzufassen. Entgegen den Gepflogenheiten des Historienfilms, der sich der Darstellung eines bedeutsamen geschichtlichen Augenblicks, einer Epochendominante oder einer krisenhaften Umbruchphase verschreibt, erzeugt die Versuchsanordnung Covington ein Zugleich, das jenseits geschichtlicher Diachronie die Staatwerdung als »Conditio« zu 31 Vgl. die Beschreibung der »demokratischen Erfahrung« Whitmans in: Stephen John Mack: »A Theory of Organic Democracy«, in: Donald D. Kummings (Hg.): A Companion to Walt Whitman, S. 136-150, hier S. 139. 32 Ebd., 137.
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The institution of the dear love of comrades beschreiben sucht.33 (Die letzte Wendung, die Shyamalans Film vollzieht – und von der noch zu sprechen sein wird –, treibt diese Alligation der Zeitebenen schließlich auf die Spitze.) Zunächst aber reiht sich noch ein weiteres Moment in die historische Serie des Films ein: Bereits in einer der ersten Einstellungen setzt The Village eine Zeitmarke, indem hinter August Nicholson (Brendan Gleeson), einem der Dorfältesten, der auf dem Friedhof am Rand der ausgehobenen Grube um seinen kurz zuvor verstorbenen Sohn trauert, für einen Augenblick dessen Grabstein und darin eingemeißelt sein Todesjahr zu sehen ist – 1897. Diese Jahreszahl ist mehr als bloße Datumsangabe, da – nachdem die love of comrades längst schon in der institution aufgegangen ist – spätestens die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eine weitere Wende in der soziotopologischen Orientierung der Vereinigten Staaten bezeichnet. Zu jener Zeit kommt alle Entdeckungs- und Siedlungsbewegung an der Pazifikküste notwendig zum Erliegen, woraus für die nun nicht mehr ganz junge Nation, vor allem weil sie sich (vielleicht bis heute) gerade über diese Bewegung, über den Raum und die Mobilität zu definieren versucht, ein Dilemma erwächst. Das Glatte und Unbestimmte ist von der Parzellierung, Einfriedung und Besitzstruktur abgelöst, das Gesichtslose ist kartographiert, das Geschichtslose historisiert – nun tritt neben das überkommene Verständnis des Landes als zu gewinnender Naturraum die neue Urbanität. Diese Verschiebung von der Nation der großen Ebenen 33 Von den frühen Historienfilmen, wie La Mort du duc de Guise (auch: L’Assassinat du duc de Guise, Charles Le Bargy/André Calmettes, 1908), die sich schon aufgrund ihrer geringen Spieldauer auf die Darstellung eines kurzen geschichtlichen Ereignisses beschränken, bis zum zeitgenössischen Kino, das sich oftmals mit einem Epochenende oder einer Zeitenwende auseinander setzt (siehe hierzu etwa den Beitrag zu Martin Scorseses The Gangs of New York in diesem Band), mögen die genannten Aspekte des herkömmlichen Geschichtsfilms unter Umständen als Entwicklungsstufen in der Geschichte des Genres gelesen werden. Die an The Village vorgeführte besondere Strategie synchroner Zusammenschau eines historischen wie auch geistigen Prozesses in zeitlicher und räumlicher Einheit folgt hingegen kaum einer etablierten filmischen Tradition; währenddessen findet sie exemplarisch Anwendung in der Literatur, deren Verfahren Michail Bachtin dann als Kondensation der – biographischen oder auch historischen – Zeit in bestimmten Raumteilen beschreibt, in denen auch abstrakte Elemente wie philosophische oder soziologische Verallgemeinerungen verkörpert sein können (vgl. Z. Kolbuszewska: Introduction, S. 24). Als beispielhaft für ein solches Vorgehen ließen sich u.a. die Romane Thomas Pynchons anführen: »It must be emphasized, that space is understood here as an inseperable element of the spatio-temporal complex. The exploration of space thus involves, as a matter of fact, the inclusion of time as the other member of this spatio-temporal unity« (Ebd., 7f.).
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Ulrich Meurer zu derjenigen der wachsenden Städte bringt eine letzte alternative Projektionsfläche amerikanischer Identität hervor. Die Stadt entsteht, während sich die Grenze zur Wildnis offiziell schließt und verschwindet; das Symbol dieses Augenblicks, so Malcolm Bradbury, liefert die 1893 in Chicago veranstaltete World’s Columbian Exposition: »Two great American motions met here: the westering motion to the frontier, and the urbanizing motion toward the modern metropolis.«34 Lässt sich aber dieser von Bradbury identifizierte Moment als Krankheitssymptom verstehen, als Angstblüte eines vergehenden Konzepts von Räumlichkeit, da die Stadt eben dem Verlust des Spatiums zu entspringen scheint,35 so hat sich die zwiespältige Sicht auf die Metropole als Ort der Dekadenz doch lange zuvor angekündigt. Besonders an der Ostküste weicht die Fortschrittsbegeisterung angesichts der wachsenden Städte recht früh schon einer Ernüchterung, die der urbanen Vermassung rasch das – verlorene – Land, diesmal in Form der pastoralen Idylle, gegenüberstellt. Nichts anderes tun die Einwohner von Covington, wenn sie demselben Diskurs anhängen, wie er zwei Jahrzehnte vor dem amerikanischen Bürgerkrieg eine Wucherung experimenteller Kommunen und sozialistischer Gemeinschaften hervorgerufen hat, die sich den sozialen Missständen der Zeit zu entziehen und ihnen den eigenen ländlichen Utopos entgegenzustellen versuchen. Das Village, gegründet von den Angehörigen des Ältestenrats, die sämtlich New York den Rücken gekehrt haben, stellt eben einen solchen Gegenentwurf dar. Keiner unter den Gründervätern, so Edward Walker, »has not lost someone irreplacable, […] has not felt loss so deeply that they question the very merit of living at all.« In der Siedlung dagegen manifestiert sich die (letzten Endes notwendig scheiternde) Hoffnung, dem in der Stadt allgegenwärtigen Verbrechen und Tod, der gesellschaftlichen wie auch individuellen Krankheit entkommen zu können. So sind »the towns« ein im Film häufig genanntes Emblem für die Schließung aller Aussicht und Zukunft, die sich nur in einer gänzlich anderen und idealen Sphäre wiederherstellen lassen;36 sie 34 Malcolm Bradbury: The Modern American Novel, Oxford 1992, S. 2. 35 Vgl. hierzu auch Z. Kolbuszewska: Introduction, S. 10: »In modern times it is the city with its specific organization of space that becomes the dominant motif in American imagination.« Mit ihr verändere sich die Perzeption des physischen Raums, der einer dramatischen Schrumpfung unterliege. 36 In diesem Zusammenhang scheint erwähnenswert, dass sich, getreu den Anforderungen des »Method acting«, die Hauptdarsteller des Films vor Beginn der Dreharbeiten für drei Wochen auf der so genannten Colonial Pennsylvania Plantation, die sich als »18th Century Living History Museum« versteht, in das Handwerks- und Landwirtschaftswesen des 18. und 19. Jahrhunderts eingelebt haben. Dieser Farm- und zugleich Museumsauf-
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The institution of the dear love of comrades bezeichnen das (ebenso dem sprachlichen Tabu unterliegende)37 prinzipiell Böse jenseits noch des Territoriums der Unaussprechlichen, das seinerseits als künstlich geschaffene Phantasmagorie nur den Durchgang verwehren und die Städte in unerreichbare Ferne rücken soll. Zugespitzt wiederholt also auch diese vom Kritischen ins Phobische umschlagende Abwehrhaltung gegenüber der modernen Stadtkultur in The Village eine signifikante Periode amerikanischer Sozialgeschichte: Während nicht erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die verarmte Landbevölkerung in die Städte strömt und dort gemeinsam mit den europäischen Immigranten eine urbane Unterschicht bildet, während die Industrialisierung nicht nur Fabriken, sondern in gleichem Maße Verelendung und – so kritische Zeitgenossen – Kriminalität sowie moralischen Verfall hervorbringt, entstehen landesweit autarke Farm- und Dorfgemeinschaften nach immer neuen Entwürfen zwischenmenschlicher und ökonomischer Harmonie. So beruht etwa Nathaniel Hawthornes Roman The Blithedale Romance (1852) auf seinen zehn Jahre zuvor gemachten Erfahrungen in einer jener landwirtschaftlichen Kommunen, der Brook Farm, eingerichtet nach den Lehren des französischen Sozialreformers Charles Fourier – ganz wie Shyamalans Village ein von einigen Stadtbürgern ins Leben gerufenes Biotop des gesellschaftlichen Glücks in den Wäldern Neuenglands und ebenso ein zum Scheitern verurteiltes Experiment, wie auch Hawthornes Erzähler zu bestätigen weiß: Jede Vision »worth the having [...] is certain never to be consummated otherwise than by a failure«.38 Es ist jedoch nicht lediglich eine Strategie des Films, solchermaßen thematisch wie in der Bildgestaltung Vergangenheitsschichten in der Gegenwart seines Handlungsraums anzusiedeln und damit einen historischen Prozess in einem Zeit-Punkt (»1897«) zu versammeln und zu wiederholen. Ebenso – und dabei entsteht zwischen den diversen diegetischen Ebenen eine komplexe Verweisrelation – erfährt der Zuschauer schließlich, dass es sich bei The Village tatsächlich nicht um ein »period piece«, sondern im wahrsten Sinne des Wortes um einen »Kostümfilm« handelt: Tatsächlich spielt er nicht im späten neunzehnten, vielmehr im frühen einundzwanzigsten Jahrhundert, in dem sich eine Gruppe traumatisierter enthalt ist nicht nur Wiederholung des Vergangenen in der realen (vorfilmischen) Gegenwart, sondern wirkt ebenso wie eine Verdoppelung und Wiederholung des Filmsujets selbst ... 37 Alice Hunt (Sigourney Weaver) erwidert auf die Fragen ihres Sohnes Lucius (Joaquin Phoenix): »We shall speak of the town, just this once, and we shall never speak of it again.« 38 Nathaniel Hawthorne: The Blithedale Romance, New York 1983, S. 10 f.
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Ulrich Meurer Städter in ein Naturschutzgebiet, das »Walker Wildlife Preserve«, zurückgezogen hat, um dort für sich und die Nachkommen mit den Mitteln eines lückenlosen und lebenslangen Fiktionsangebots aus grobem Wollstoff, Feuerholz, Handarbeit und gütiger Einfalt eine verlorene heile Welt wieder zu errichten. Dies geschieht mit solcher Überzeugungskraft, dass nicht nur der Zuschauer im Kinosaal, sondern auch der größte Teil der Dorfgemeinschaft39 allen Unglauben suspendiert und die Jahresangabe 1897 für bare Münze nimmt. Demnach gibt sich wie der Filmraum unversehens auch der Raum im Film als Ergebnis einer groß angelegten Geschichtsinszenierung und damit als gleichsam ausufernde mise en abyme zu erkennen, die ihrerseits die topologischen und sozialen Bedingungen amerikanischer Siedlervergangenheit in einem nostalgischen reenactment neu erstehen lässt. Darf man The Village als filmische Wiederholung einer historischen Soziotopologie verstehen, so wiederholt sich diese Wiederholung innerhalb seiner Diegese, indem diese den Blick verdoppelt, den der Film auf die Geschichte der Vereinigten Staaten wirft. Daher nimmt es nicht Wunder, wenn der Artifex Edward Walker (in einer akustischen Rückblende) den ehrgeizigen Plan zum ersten Mal seinen Genossen darlegt und sich dabei als Fachmann für das Vergangene vorstellt: »I am a professor. I teach American history at the University of Pennsylvania. I have an idea that I would like to talk to you about …« Während Walkers Worte aus dem Off zu hören sind, wie es einem Weltschöpfer geziemt, holt er aus dem hölzernen Kasten, der die Dokumente und Erinnerungsstücke an sein Leben vor der Emigration enthält, eine Photographie hervor, die ihn inmitten seiner New Yorker Bekannten (den übrigen Mitgliedern des Ältestenrates) zeigt. Langsam nähert sich der Blick dem Foto, bis dessen weißer Rand aus dem Bildkader fällt und es dadurch nicht mehr von der filmischen Gegenwart zu unterscheiden ist.
39 Abgesehen von den Ältesten, die notwendig in den Theater-Charakter des Dorfes eingeweiht sind, scheinen unter allen Einwohnern von Covington nur zwei dem großen Illusionskomplex in gewissem Maße entzogen: Der junge Lucius Hunt erahnt zumindest die machtvolle Doppelstruktur der Gemeinde, wenn er gegenüber seiner Mutter erklärt: »There are secrets in every corner of this village.« Daneben ist es der »Idiot« Noah Percy, der wohl als einziger um den Täuschungsapparat weiß – er wechselt regelmäßig in die verbotene Zone des Waldes, hat dort die windbetriebene Effektund Geräuschmaschinerie entdeckt, ebenso unter den Dielen seines Elternhauses eines der Kostüme der Unaussprechlichen –, allerdings fehlt ihm jede Einsicht in dessen prekären politischen Zweck. Er macht wie ein Kind sein Wissen lediglich zum Terrain seines privaten spielerischen Wahns.
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The institution of the dear love of comrades Das »virtuelle« Vergangenheitsbild im »aktuellen« Gegenwartsbild
Zweierlei fällt dabei ins Auge: Indem hier das »virtuelle« Bild des Imperfekt mit dem »aktuellen« des Präsens kongruent wird und sich beide decken – fast wie es Gilles Deleuze anhand eines Spiegelbilds erläutert, das als solches auf der Leinwand nicht identifizierbar ist, wenn sein Rahmen außerhalb des Kaders liegt –, wird zum einen die Differenz zwischen ihren Zeitebenen getilgt; neuerlich findet so (jenseits der herkömmlichen Analepse oder dem individuellen Mnemozeichen) eine Sammlung von Vergangenheit und Gegenwart in einem einzigen Raum statt, so dass eine Spielart des Chronozeichens, ein direktes Bild der vom Verlauf und vom Intervall gereinigten Zeit in Form eines Kristalls entsteht. Shyamalans mediales Verfahren, die »konstitutive Verdoppelung in vorübergehende Gegenwart und sich bewahrende Vergangenheit [und] die Koexistenz aller Vergangenheitsschichten mit der topologischen Transformation dieser Schichten«,40 zielt an dieser Stelle auf die Repräsentation des Filmsujets in der Form des Bildes. In beiden Fällen geht es darum, eine sukzessive Geschichte, deren Phasen für gewöhnlich aufeinander folgen, an einem Ort aufzuheben, der sie alle in seiner Synchronie aufnimmt – in der des Dorfes von Covington beziehungsweise in derjenigen der filmischen Einstellung. Wie die Siedlung in ihrer Topologie amerikanische Historie konzentriert und wiederholt, so synthetisiert gleichermaßen das Ineinander von Vergangenheits- und Gegenwartsbild die Zeit und schreibt sie dem Raum ununterscheidbar ein. Zum anderen drängt jener Augenblick, in dem der Zuschauer zweifelsfrei erfährt, dass der Film ihn bisher manipuliert und bewusst in eine von der wirklichen Handlung abweichende Zeit versetzt hat, unvermeidlich der Reflexion über die medialen Bedingungen dieser Manipulation entgegen. Während sich The Village bis zu diesem späten Wendepunkt beinahe ausschließlich der Mittel des Illusionskinos bedient hat, das sich der ungebrochenen Fiktion unterstellt und jedem allzu aufdringlichen Verweis auf die Konstruktion des Sichtbaren durch einen technischen Apparat aus dem Wege geht, erscheint hier unvermittelt ein Bild, das
40 Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino II, Frankfurt/Main 1991, S. 350.
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Ulrich Meurer ganz das Gegenteil bewerkstelligt: Der Einsatz der Off-Stimme, so dass Ton und Bild auseinander treten, die Verwendung der ZoomLinse, die die Kamerafahrt in die Bildtiefe gleichsam optisch simuliert, die Photographie, die als Fremdmedium und zugleich als Komponente der Kinematographie den Kader füllt und so auf die Differenz wie auf die genetische Verwandtschaft zwischen virtueller und aktueller Darstellung hinweist, die zudem als Bildgegenstand die Tiefe des vorfilmischen Raums lediglich vortäuscht und daher (gerade indem ihr dies gelingt) an die Flächigkeit auch der Leinwand zu erinnern vermag – all dies bricht für einen Moment mit den vom Film etablierten narrativen Regeln und rückt die Form als eine bewusste Handhabung und Schichtung medialer Wahrnehmungselemente in den Vordergrund. Damit wird jene Einstellung nicht nur, analog zu Covington, als Verschränkung diverser Zeitschnitte lesbar, sondern ebenso als Engführung der trügerischen Inszeniertheit der Dorfgemeinschaft und derjenigen des Films selbst. Es sind, so ließe sich sagen, Edward Walker und M. Night Shyamalan, die in diesem Bild, dem der fiktionale Status ihres jeweiligen Werks eingebildet ist, in eins fallen. (Und sofern man nicht von einer bedenklichen politischen Haltung des Regisseurs überzeugt sein möchte, der in Krisenzeiten einer Entmündigung der Gesellschaft durch ihre Führungskaste das Wort redet, mag in dieser nur kurz aufscheinenden Identifikation des Films als Medium mit seinem Sujet auch begründet sein, weshalb The Village in durchweg apologetischem Duktus für die Täuschungsmanöver Walkers Sympathie zu wecken versucht. Denn ist sein Regime der Unwirklichkeit, so scheint der Film – paradoxerweise gerade in der Offenlegung seiner eigenen medialen Bestandteile – hier zu fragen, etwas anderes als die Verführungskunst und Despotie des Kinos selbst?) Mit dem darauf folgenden Umschnitt ist jedoch der vermeintlich kritische Blick auf das Medium als Reservoir für die Ausbildung allerlei suggestiv beeinflussender Erzählformen vergessen. Immer noch ist da das Dorf, das in seinen nunmehr klar ausgewiesenen Zeit- und Machtverhältnissen, in der Parzellierung in freie und verbotene Räume, in der Institutionalisierung eines lenkenden Willens sowie in der bereits angebahnten Einsetzung der nächsten dynastischen Generation sein ursprüngliches Ideal der dear love of comrades und den heterogenen Raum aufgegeben hat. Und wenn dieser Prozess – der Verlust der Föderation und »Sympathie« – bereits in jenem eingangs angeführten Oxymoron Whitmans von der institution of love angelegt sein, wenn die dichterische Wendung schon den Keim einer Überwältigung der Liebe durch die Institution in sich tragen sollte, so schließt am Ende auch der Film auf ähnliche Weise zwei widersprüchliche Begriffe in einer metastabilen
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The institution of the dear love of comrades Aussage zusammen: Edward Walker rechtfertigt die von ihm ergriffenen Schutzmaßnahmen mit dem Wert, dem sie dienen sollen – »If we did not make this decision we could never again call ourselves innocent. And that, in the end, is what we have protected here: Innocence! That I am not ready to give up.« Wie schon die institution of love bildet nun offenbar die protection of innocence eine Formel, deren Konzeptpaarung eher Gegensätzliches vereint, dessen Pole einander aufzuheben drohen. Wie die Liebe als politisches Modell – als freie Anziehung mitfühlender Elemente – durch ihre Institutionalisierung und Homogenisierung eben ihre Eigenart aufgeben muss und zu etwas anderem wird, verwirkt das Dorf die Unschuld gerade durch die Angst um ihren Verlust und die manisch in Gang gesetzten Protektionsmechanismen. Indem also die dear love of comrades von Beginn an mit der institution infiziert scheint, indem die Bewahrer der Unschuld die Unschuld verwerfen und der deterritorialisierte Raum schon immer seine Territorialisierung vorbereitet hat, erzählt The Village die Geschichte einer genetisch bedingten Krankheit und ihrer notwendig fehlschlagenden Therapie: Aus der universellen Immigration, die Amerika entstehen lässt, geht keine relationale und hierarchielose Gemeinschaft hervor; bereits der Unabhängigkeitskrieg, so Deleuze, läutet die Totenglocke, Geburt einer Nation, Restauration des Nationalstaates, und die monströsen Väter kehren im Galopp zurück, während die vaterlosen Söhne erneut zu sterben beginnen. [...] Schon recht früh diagnostizierten Lawrence, Melville und Thoreau die amerikanische Krankheit, den neuen Zement, der die Mauer wiederherstellt.41
Umso mehr noch ist das Dorf von Covington, das die Wildnis und das Ringen um eine neue Gesellschaft nur mehr vortäuscht (und darin dem Illusionismus des Filmischen eng verwandt scheint), das Bild dieses Prozesses, als ebenfalls Amerika lediglich das re-enactment bleibt, die beharrliche Wiederaufführung eines verlorenen Zustands. The Village veranschaulicht exemplarisch das Diktum von der Nation, die keine Fortschritte macht, sondern unausgesetzt ihre Geburtsstunde wiederholt;42 die kleine Gemeinde im Wald hat sich gewaltsam in einen Zustand vermeintlicher Unschuld zurückversetzt, sie gewinnt ihr Ideal – nun vielmehr ihre Ideologie – aus der Rückschau auf einen Moment, in dem die Entdeckung und Besiedelung des Raums noch nicht Eintritt in das ewig Gleiche bedeutete, sondern die Einwanderung in ein ideales Anderes. 41 G. Deleuze: Bartleby, S. 56 f. 42 Vgl. Paul Auster/Gérard de Cortanze: Die Einsamkeit des Labyrinths, Reinbek 1999, S. 44.
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Ulrich Meurer Aber da sind noch der verrückte Noah und das blinde Mädchen Ivy, beide auf ihre Weise defizitäre Figuren, deren Mangel ihnen allerdings gestattet, sich den fest gefügten Topoi zumindest vorübergehend zu entziehen, Bewegung zu schaffen und die Grenze zu überschreiten: Noah zunächst ist derjenige, der der Ratio des Raums sein richtungsloses Spiel entgegensetzt. Er sammelt Beeren im Unterholz des Waldes, steigt durch das Fenster, wenn die Tür seiner Kammer verschlossen ist, verkleidet sich als Monstrum, nicht um dem Szenario der Ältesten zu genügen, sondern um seine eigene kindliche Macht zu begründen; er steht sogar außerhalb der Kategorien von Schuld und Unschuld, die das Leben in Covington anleiten, wenn er mit bestenfalls instinktivem Wissen um die Bedeutung seiner Tat und deshalb »schuldlos« Lucius Hunt niedersticht, den vermeintlichen Rivalen in Liebesdingen und gesetzlichen Erben der Autorität im Dorf, und damit die Suche nach Medikamenten jenseits der verbotenen Zone erst auslöst. Noah markiert eine dynamische Leerstelle im System der Gemeinde, er ist – auf doppelte Weise ver-rückt – ein Unsinn, der unaufhörlich wandert und damit zum einen unwillkürlich die Verhältnisse in der Dorfstruktur immer neu sortiert (wer liebt wen, wer erkrankt und wer heilt, wer übt Macht über wen, wer straft …), zum anderen als beinahe einziges Element vom streng zeichenhaften Bereich der Gemeinschaft in den zutiefst »realen« Bereich des Waldes überzuwechseln vermag. Am Ende jedoch stürzt Noah im Kostüm der Unaussprechlichen in ein Erdloch, verliert all seine Bewegung und stirbt als ein nunmehr statisch in den Bildrahmen drapiertes bizarres Stillleben aus Knochen, Laub und Federn.
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The institution of the dear love of comrades Zuerst noch ein überaus vitaler »Hypochonder«, der von der Vernunft des Monomanen Walker ausgeschlossen ist (ohne dass sich freilich entscheiden ließe, ob er sich nicht selbst von ihr ausschließt, um zu erreichen, was sie ihm nicht geben kann: das Unentscheidbare, das Unbeschreibliche),43 kann ihn sich diese Vernunft jetzt einverleiben. Nicht mehr flüchtig und in der Grube endlich zum Stillstand gekommen, wird Noah unwillentlich zum Erfüllungsgehilfen des Systems – der nunmehr vollends erstarrten Struktur, die ihr mobiles Element eingebüßt hat –, indem sein Tod den Unaussprechlichen angelastet und dadurch die Glaubwürdigkeit des Imaginären untermauert werden kann: »We will tell the others he was killed by the creatures. [He] has made our stories real. Noah has given us a chance to continue this place.« Vom fugeur, der unkontrolliert in den Bezirken ein- und auswandert, verwandelt er sich in eine einfache Aussage in der Zeichenwelt des Dorfes, die die bestehenden Scheidungen festzuschreiben hilft und eine Seite unwiderruflich von der anderen trennt. Ivy Walker hingegen missachtet nicht die bestehenden Markierungen und Demarkierungen, sondern begibt sich in den Wald, um durch die bewusste Grenzüberschreitung die Gemeinschaft zu retten und ihrem Ideal eine Zukunft zu gewähren. Grundsätzlich zwar gehört sie der Sphäre der versteinerten Vernunft und Gesetzgeberschaft ihres Vaters an. Als Antwort auf die Absicht ihres Verlobten, das Dorf zu verlassen und den Wald zu durchqueren, spricht sie in seinem Sinne Recht: »I think it is noble, but I do not think it is right«. Doch von Beginn an drückt sich in ihr auch ein anderes Potential ab, das sie aus der Ordnung von Covington heraushebt. Denn eben inmitten ihres Scheiterns kurbelt die amerikanische Revolution auch weiterhin ihre Fragmente wieder an, fährt fort, stets etwas auf der Horizontlinie in die Flucht zu schlagen, […] die Mauer zu durchstoßen zu versuchen, das Experiment wiederaufzunehmen, in diesem Unternehmen eine Brüderlichkeit, in diesem Werden eine Schwester zu finden.44
Das belegt besonders Ivys Raum: Alle übrigen Figuren sind in den Rahmen des Dorfes gespannt und seiner Geometrie unterworfen, ihr Blick vermisst die Distanzen, orientiert sich an Linien und Wegen. Ivy aber folgt blind den Mannigfaltigkeiten ihrer diffusen Wahrnehmung; die Personen in ihrer Umgebung erscheinen ihr nicht als scharfe Kontur, sondern als farbiger Nimbus, die Gesichter sind ihr Klang. Sie verfügt über eine nomadische Wahrnehmung, die keine mittleren Entfernungen kennt, keine Perspektive und keine Formen. Während der vor allem visuelle Raum der Sesshaftigkeit um sie her 43 Vgl. G. Deleuze: Bartleby, S. 41. 44 G. Deleuze: Bartleby, S. 59.
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Ulrich Meurer durch Zäune, Einfriedungen und Wege gekerbt wird, bewegt sie sich in einer Topologie, »die nicht auf Punkten oder Objekten beruht, sondern auf [...] einem Zusammenwirken von Verhältnissen«. Als sie schließlich das bekannte Territorium verlässt und das des Fremden betritt, ist sie geleitet vom Wind, dem Geräusch des Flusses (»Follow the sounds of the stream«), dem Knarren der Baumkronen, von Zweigen, die sie streifen, den taktilen Eigenschaften der Sträucher, des Wassers und der Erde, »eher ein ›haptischer‹ und klanglicher als ein visueller Raum«.45 Ivy Walker ertastet den heterogenen Raum
Selbst das Filmbild gewinnt an nomadischer Unbestimmtheit, wenn es ihr durch den Wald folgt. Die wenigen Panoramen sind verstellt; immer ein Gewirr von Baumstämmen, ein Filz von knotigen Ästen oder Regendunst, die nicht weit sehen lassen. Viel öfter hingegen die Großaufnahme, nur ein Stück Rinde, ein Haufen gelber Blätter oder der flackernde Spiegel einer Pfütze. Das ist kaum mehr eine Landschaft, sondern ein Ensemble aus absoluter Nähe und rauen Texturen. Im wörtlichen Sinne bildet es einen weiteren utopischen Raum, einen Unraum ohne Orte, Anhaltspunkte und ausgetretene Pfade, zugleich einen herrschaftslosen Raum, der sich nur widerwillig – in einer ungerichteten Bewegung und im mühevollen Vorantasten – von Ivy erobern lässt, so dass er – neben der Gefahr – auch die Hoffnung auf das Schrankenlose und wesenhaft Ungewisse enthält. Am Ende jedoch widerfährt dieser Wildnis dasselbe Schicksal wie den Gebieten um die historische Frontier, die als Soziotopologie einen wichtigen Identitätsraum Amerikas und nichtsdestoweniger 45 G. Deleuze/F. Guattari: Tausend Plateaus, S. 526.
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The institution of the dear love of comrades dessen überlebte Geschichte darstellen: sie wird überwunden und damit zur Vergangenheit, indem Ivy Walker, die Nachfolgerin ihres Vaters, nach glücklich erfüllter Mission in das Dorf, in die Grenzen und in das Gesetz zurückkehrt. Ivy unterstellt sich nicht nur neuerlich der Institution, wie sie es bisher getan hat, sie wird sie darüber hinaus selbst zu regeln und zu erhalten beginnen. Sie übernimmt ihre prädestinierte Position innerhalb der Generationslinie und lässt damit die Abstammung, das »Eins-Zwei« und den Vater wiederauferstehen. Hierin erweist sich Shyamalans Film als entweder zutiefst resigniert, nachdem er die politischen Landschaften eines vergangenen und gegenwärtigen Amerika kartographiert und schließlich nichts Neues gefunden hat, oder aber – wie bereits angedeutet – als zutiefst reaktionär, indem er nicht nur die Institutionalisierung der Gemeinschaft, sondern gleichfalls die Ideologisierung und Inszenierung zur Notwendigkeit und zur Voraussetzung innerer Stabilität erklärt.46 In jedem Fall lautet der letzte Satz Ivys, den sie im Kreis der Ältesten spricht: »I am back.« Er benennt einen Status quo und erklärt jedes Experiment für beendet.
46 The Village kommt ein Jahr nach Colin Powells Präsentation von Geheimdienstmaterial über angebliche irakische Massenvernichtungswaffen vor dem UN-Sicherheitsrat in die Kinos …
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PERSONEN- UND FILMTITELREGISTER Aa ab laut chalen (AALC, Komm, wir gehen zurück) 31, 146, 153, 156-160, 162-165, 167f., 171, 174 Adorno, Theodor W. 79 Advani, Nikhil 146 Al-Assad, Hafez 189, 195, 197 Alexopoulos, Jannis 72 America, America 19, 28, 68, 74, 76f., 80f., 84 Anand, Dev 144 Andrews, Julie 87, 91, 93, 97 Andrey Rublyov (Andrej Rubljow) 115, 117 Aristoteles 122, 137 Asbury, Herbert 175 Assassinat du duc de Guise, L’, siehe: Mort du duc de Guise Bachtin, Michail 134, 221, 229 Barak, Ehud 189 Bataille, Georges 141 Baudelaire, Charles 141 Baudrillard, Jean 221 Beethoven, Ludwig van 118 Benjamin, Walter 13 Bergson, Henri 17, 81, 134f. 137 Berlin, Irving 88 Bielefeld, Ulrich 14, 16 Biro, Lajos 36, 42 Birth of a Nation, The (Die Geburt einer Nation) 49f., 63 Blake, William 30, 122, 125ff., 131, 141 Booth, John Wilkes 49, 59
Booth, Wayne 100 Borders (Grenzen) 32, 187 Bowie, David 132 Boym, Svetlana 110 Bradbury, Kitty 19 Bradbury, Malcolm 230 Brecht, Bertolt 52 Breughel, Pieter 115 Brody, Adrian 226 Broken Flowers 121, 124 Bronfen, Elisabeth 11, 69ff., 203 Brontë, Charlotte, Emily u. Anne 141 Burroughs, William 131 Calmettes, André 229 Carrey, Jim 212 Cast Away (Verschollen) 203, 205f., 208, 210 Celan, Paul 119 C’era una volta il West, siehe: Once upon a Time in the West Certeau, Michel de 33, 206ff., 212 Chaplin, Charles 19-22, 24ff., 39 Chion, Michel 29, 88, 104 Chopra, Aditya 143 Citizen Kane 88 Coltrane, John 88 Cooper, James Fenimore 221 Coppola, Francis Ford 87 Culler, Jonathan 99f.
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Register Damianos, Alexis 26 Dante Alighieri 78 Day-Lewis, Daniel 176 Dead Man 30f., 122-132, 135ff., 139ff. Debussy, Claude 118 Defoe, Daniel 73, 203ff. Delacroix, Eugène 141 Deleuze, Gilles (u. Félix Guattari) 11f., 17f., 20, 23f., 29, 68, 80ff., 84f., 215-220, 224ff., 233, 235, 237f. Depp, Johnny 123, 135 Des Pardes (Heimat und Fremde) 144f. Diaz, Cameron 176 Dilwale Dulhania Le Jayenge (Der Beherzte bekommt die Braut) 143 Di Caprio, Leonardo 176 Dostojewski, Fjodor M. 108 Down by Law 121 Dürer, Albrecht 115, 130 Edison, Thomas 13 El Dorado 124 Emerson, Ralph Waldo 220 Escape from Alcatraz (Flucht von Alcatraz) 121 Eyck, Jan u. Hubert van 115 Fiske, John 33, 207f., 211 Fleming, Victor 29, 87 Florenskij, Pavel 111-115 Flusser, Vilém 25f. Ford, Henry 13 Foucault, Michel 13f., 31, 140f., 157, 161, 163, 166, 199, 226 Fourier, Charles 231 Franklin, Benjamin 224 Freud, Sigmund 136
Gatling, Richard 60f. Genet, Jean 141 Ghai, Subhash 145 Ghost Dog (Ghost Dog – Der Weg des Samurai) 121, 124 Gill, David 22 Gleeson, Brendan 229 Godfather, The (Der Pate) 87 Goethe, Johann Wolfgang von 110 Golson, Benny 213 Gone with the Wind (Vom Winde verweht) 29, 87 Gowariker, Ashutosh 162 Goya, Francisco de 141 Griffith, David Wark 49f., 63 Guattari, Félix, siehe: Deleuze, Gilles Guerra, Tonino 107, 110, 120 Habibi, Emile 32, 193 Hakuchi (Der Idiot) 108 Hammerstein, Oscar 88 Hanks, Tom 33, 203, 205f., 211 Hare Rama Hare Krishna 144 Harris, Jared 132 Haunting, The (Bis das Blut gefriert) 98 Hawks, Howard 124 Hawthorne, Nathaniel 231 Heidegger, Martin 12, 113 Hobsbawm, Eric 148 Howard, Bryce Dallas 225 Hurt, William 224 Immigrant, The 19, 21ff., 25 Ivanovo Detstvo (Iwans Kindheit) 115, 119 Jannings, Emil 40, 59 Jarmusch, Jim 30, 121f., 128f., 131f., 135, 137, 139, 141 Johar, Karan 145f.
Gangs of New York 31f., 175178, 181, 183, 229
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Register Kafka, Franz 212 Kabhi alvida na kahna (Sag niemals Lebewohl) 146, 149 Kabhi khushi kabhi gham / K3G (Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt) 145, 153, 165 Kal hoo na ho (Egal ob es ein Morgen gibt) 146 Kapoor, Raj 143 Kapoor, Rishi 146, 159 Kauffmann, Stanley 87 Kazan, Elia 19, 28f., 68, 74-77, 80, 83ff. Khan, Shah Rukh 143, 162 Kirchschläger, Rudolf 101 Kittler, Friedrich 15 Kristeva, Julia 25f. Kumar, Manoj 144 Kurosawa, Akira 108
Modern Times (Moderne Zeiten) 39 Mort du duc de Guise, La 229 Münsterberg, Hugo 41, 48f. Muybridge, Eadweard 95 Mystery Train 121
Last Command, The (Der letzte Befehl) 28, 35-38, 40-43, 46, 49f., 58, 62, 65 Lautréamont, Comte de 141 Lawrence, D.H. 218, 235 Le Bargy, Charles 229 Leonardo da Vinci 115 Leone, Sergio 176 Levin, Harry 11 Lévi-Strauss, Claude 33, 204, 206 Lincoln, Abraham 49f., 52, 62, 182 Lubitsch, Ernst 35, 87, 102 Luhmann, Niklas 51, 128 Lukácz, Georg 12 Lumière, Auguste u. Louis 10, 17
Paech, Joachim 17 Pardes (Fremde) 145, 156, 158, 160, 171, 173 Peckinpah, Sam 176 Phoenix, Joaquin 231 Piero della Francesca 109, 115f. Piranesi, Giovanni Battista 110 Poe, Edgar Allan 23, 141 Pop, Iggy 132 Porter, Cole 88 Powell, Colin 239 Powell, William 40, 59 Presley, Elvis 121 Purab aur Paschim (Ost und West) 144f. Purviance, Edna 19 Pynchon, Thomas 229
Nabokov, Vladimir 11 Neeson, Liam 176, 183 Niccol, Andrew 212 Night on Earth 121 Nostalghia 29f., 107f., 111, 113117, 119 Offret (Das Opfer) 115 Once upon a Time in the West (Spiel mir das Lied vom Tod) 176 Ovid 11, 97
Quenot, Michel 111 Mandeville, Bernard 123 Marey, Etienne-Jules 60f. Marx, Karl 218 Melville, Herman 220, 225, 235 Milton, John 126 Mitchum, Robert 124, 135
Reagan, Ronald 101 Reitz, Edgar 15f., 18 Rembrandt van Rijn 115 Richardson, Samuel 73
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Register Riklis, Eran 32, 171, 187, 192f., 200f. Rodgers, Richard 88 Royoux, Jean-Christophe 18 Rublev, Andrej 112f., 115, 119 Rushdie, Salman 160f., 170 Sangam (Vereinigung) 143 Scorsese, Martin 31, 175, 177, 183, 185, 229 Shakespeare, William 136 Shoulder Arms 24 Shyamalan, M. Night 12, 33, 171, 216, 218f., 223, 229, 231, 233f., 239 Siegel, Don 121 Simmel, Georg 25 Sloterdijk, Peter 25 Solyaris (Solaris) 115 Sound of Music, The (Meine Lieder, meine Träume) 29, 8793, 96, 98-103 Spielberg, Steven 32f., 205f., 208ff., 212f. Stranger than Paradise 121 Stalker 115 Sternberg, Josef von 28, 35ff., 40-43, 59f., 62f., 65 Swades (Vaterland) 162 Syrian Bride, The (Die Syrische Braut) 32, 171, 187, 192f., 197, 200
Totheroh, H. Rollie 21 Tucci, Stanley 208 Valtinos, Thanasis 19, 28, 68, 70-75, 78, 80, 83 Verdi, Giuseppe 118 Village, The (Das Dorf) 12, 33, 171, 216, 218ff., 222-226, 228-235, 239 Virilio, Paul 24, 60 Wagner, Richard 118 Weaver, Sigourney 231 Weir, Peter 212 Welles, Orson 88 West Side Story 88, 90 Whitman, Walt 33, 215-221, 223, 228, 234 Wild Bunch, The (Sie kannten kein Gesetz) 176 Wise, Robert 87-90, 92, 94, 98 Young, Neil 126 Yourcenar, Marguerite 110 Zemeckis, Robert 203f., 206, 210 Zerkalo (Der Spiegel) 115 Zeta-Zones, Catherine 211
Taal (Rhythmus) 145 Takemitsu, Toru 120 Tarkowskij, Andrej 29f., 107113, 115-120 Tempo di viaggio 110 Terminal, The 32, 205f., 208, 210, 212 The Doors 131 Thoreau, Henry David 220, 235 Thornton, Billy Bob 132 To be or not to be (Sein oder Nichtsein) 101
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AUTORINNEN UND AUTOREN Georgiana Banita (M.A.) lehrt am Fachbereich Literaturwissenschaft, Lehrstuhl für Amerikanistik, der Universität Konstanz. Heinz Drügh (Prof. Dr.) ist Professor für Literaturgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts und Ästhetik am Institut für Neuere deutsche Literatur der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Hans-Edwin Friedrich (Prof. Dr.) ist Professor am Institut für Neuere deutsche Literatur und Medien der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Jörn Glasenapp (PD Dr. habil.) ist Akademischer Oberrat am Institut für Medienwissenschaften der Universität Paderborn. Roger Lüdeke (Prof. Dr.) lehrt als Professor für Moderne englische Literatur am Anglistischen Institut der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Volker Mergenthaler (Prof. Dr.) ist Professor am Institut für Neuere deutsche Literatur der Philipps-Universität Marburg. Ulrich Meurer (Dr. phil.) ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft am Institut für Klassische Philologie und Komparatistik der Universität Leipzig. Maria Oikonomou (Dr. phil.) arbeitet als Wissenschaftliche Assistentin in der Abteilung für Neogräzistik des Instituts für Byzantinistik und Neogräzistik der Universität Wien. Ira Sarma (Dr. phil.) ist als Dozentin am Institut für Indologie und Zentralasienwissenschaften der Universität Leipzig tätig. Isabella Schwaderer (M.A.) promoviert am Institut für Religionswissenschaften der Universität Erfurt.
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Katrin Oltmann Remake | Premake Hollywoods romantische Komödien und ihre Gender-Diskurse, 1930-1960 2008, 356 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-700-4
Sebastian Richter Digitaler Realismus Zwischen Computeranimation und Live-Action. Die neue Bildästhetik in Spielfilmen 2008, 230 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-943-5
Nadja Sennewald Alien Gender Die Inszenierung von Geschlecht in Science-Fiction-Serien 2007, 314 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-805-6
Catherine Shelton Unheimliche Inskriptionen Eine Studie zu Körperbildern im postklassischen Horrorfilm 2008, 384 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-89942-833-9
Sandra Strigl Traumreisende Eine narratologische Studie der Filme von Ingmar Bergman, André Téchiné und Julio Medem 2007, 236 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-659-5
Thomas Weber Medialität als Grenzerfahrung Futurische Medien im Kino der 80er und 90er Jahre 2008, 374 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-89942-823-0
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
2009-03-09 11-47-58 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 02c1204497853168|(S.
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ZfK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften
Michael C. Frank, Bettina Gockel, Thomas Hauschild, Dorothee Kimmich, Kirsten Mahlke (Hg.)
Räume Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2008 Dezember 2008, 160 Seiten, kart., 8,50 , ISBN 978-3-89942-960-2 ISSN 9783-9331
ZFK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent: Neben innovativen und qualitativ hochwertigen Ansätzen besonders jüngerer Forscher und Forscherinnen steht eine Masse oberflächlicher Antragsprosa und zeitgeistiger Wissensproduktion – zugleich ist das Werk einer ganzen Generation interdisziplinärer Pioniere noch wenig erschlossen. In dieser Situation soll die Zeitschrift für Kulturwissenschaften eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über Kultur und die Kulturwissenschaften bieten. Die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur, historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus kann so mit klugen interdisziplinären Forschungsansätzen fruchtbar über die Rolle von Geschichte und Gedächtnis, von Erneuerung und Verstetigung, von Selbststeuerung und ökonomischer Umwälzung im Bereich der Kulturproduktion und der naturwissenschaftlichen Produktion von Wissen diskutiert werden. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften lässt gerade auch jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zu Wort kommen, die aktuelle fächerübergreifende Ansätze entwickeln.
Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen die Ausgaben Fremde Dinge (1/2007), Filmwissenschaft als Kulturwissenschaft (2/2007), Kreativität. Eine Rückrufaktion (1/2008) und Räume (2/2008) vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected] www.transcript-verlag.de
2008-05-27 12-26-20 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02a8179786122216|(S.
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