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German Pages 198 Year 2019
Christel Baltes-Löhr, Beate Petra Kory, Gabriela Şandor (Hg.) Auswanderung und Identität
Lettre
Christel Baltes-Löhr (Prof. Dr.) lehrt und forscht seit 2003 an der Universität Luxemburg zu den Schwerpunkten Pluralität, Kontinuum, Geschlecht und Migration und war von 2004-2016 universitäre Genderbeauftragte. Sie leitet dort die interdisziplinäre Gender-Expert-Group, war von 2004 bis September 2018 als Gender-Expertin für Luxemburg in der »EU-Helsinki Group on Gender in Research und Innovation« tätig und ebenfalls bis September 2018 für Luxemburg Mitglied im Experts’ Forum des European Institute for Gender Equality (EIGE). Von 2008 bis 2015 war sie mit dem Aufbau und der Koordination der luxemburgischen nationalen Kontaktstelle im europäischen Migrationsnetzwerk (EMN NCP LU) befasst. Sie forscht zu Fragen der Trans- und Intergeschlechtlichkeit. Beate Petra Kory (Dr. phil.) ist Lektorin für Neuere deutsche Literatur an der Westuniversität Temeswar/Timişoara mit den Forschungsschwerpunkten Deutschsprachige Literatur des 20. Jahrhunderts, Literatur und Psychoanalyse, Deutsche Literatur im rumänischen Sprachraum. Gabriela Şandor (Dr. phil. M.A.) ist seit 2003 wissenschaftliche Assistentin für Neuere deutsche Literatur und Deutsch als Fremdsprache an der West-Universität Temeswar/Timişoara mit den Forschungsschwerpunkten: Neuere deutsche Literatur, deutschsprachige Lyrik, deutsche Literatur im rumänischen Sprachraum, literarische Übersetzung.
Christel Baltes-Löhr, Beate Petra Kory, Gabriela Şandor (Hg.)
Auswanderung und Identität Erfahrungen von Exil, Flucht und Migration in der deutschsprachigen Literatur
Im Oktober 2016 hat der Germanistik-Lehrstuhl an der West-Universität Temeswar sein 60. Jubiläum im Rahmen einer internationalen Tagung gefeiert. Vorliegender Band enthält ausgewählte Arbeiten der Sektion: Literatur – Erinnerung – Identität: Grenzerfahrungen im Hinblick auf Emigration, Exil und Migration in Literatur und Film.
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Inhalt
Vorwort der Herausgeberinnen
Christel Baltes-Löhr, Beate Petra Kory, Gabriela Șandor | 7 Geschlecht, Wanderungen, Erinnerungen, Identitätskonstruktionen – ausgeleuchtet mit der Figur des Kontinuums
Christel Baltes-Löhr | 11 Vergangenheitsbewältigung und Identitätskonstruktion im Roman von Saša Stanišić Wie der Soldat das Grammofon repariert
Svetlana Arnaudova | 39 Die Konstruktivität der Erinnerung bei W.G. Sebald
Filomena Viana Guarda | 55 Old chap und American boy Identität und Akkulturation in Joseph Roths Hiob
László V. Szabó | 69 Erteilt der Okzident dem Orient eine Ohrfeige? Abbas Khiders Roman Ohrfeige
Amir Blažević | 85
Im Dickicht der deutschen Asylbürokratie Jenny Erpenbecks Gehen, ging, gegangen (2015) und Abbas Khiders Ohrfeige (2016) im Vergleich
Beate Petra Kory | 107 Subjektivation und Identitätsformung im Prozess des Gehens Gedankliche Wege von Thomas Bernhard und Jenny Erpenbeck
Erika Verešová | 131
Autor, Text und Kontext in Thomas Manns Roman Joseph und seine Brüder
Delia Eşian | 149 Warum ging Friedrich Schlegel nach Wien? Das Narrativ einer schöpferischen Enttäuschung
Cornelia Eşianu | 161 Die Haupt- und Nebenfiguren in den Werken von Osman Engin
Yüksel Gürsoy | 183 Autorinnen und Autoren | 193
Vorwort der Herausgeberinnen
Der vorliegende Sammelband vereinigt die Arbeiten der Sektion Literatur – Erinnerung – Identität: Grenzerfahrungen im Hinblick auf Emigration, Exil und Migration in Literatur und Film, die an der West-Universität Temeswar/Timișoara anlässlich des 60-jährigen Jubiläums der Temeswarer Germanistik im Rahmen einer internationalen Tagung zwischen dem 20. – 22. Oktober 2016 stattgefunden hat. Mit Fokus auf Erinnerung und Identität beleuchten die Beiträge des vorliegenden Bandes vielfältige Facetten von Migration und Exil in der deutschsprachigen Literatur. Die Mehrheit der Untersuchungen widmet sich zeitgenössischen, heute in Deutschland lebenden Autoren mit Migrationserfahrung: den aus Bosnien und Herzegowina stammenden Saša Stanišić, den in Bagdad geborenen Abbas Khider und den deutsch-türkischen Schriftsteller Osman Engin. Diesen gegenüber steht die heute so aktuelle Problematik der Flucht und Migration im Roman Gehen, ging, gegangen von Jenny Erpenbeck. Zwei Beiträge des Bandes wenden sich bedeutenden Werken der Exilliteratur, Joseph Roths Roman Hiob und Thomas Manns Romantetralogie Joseph und seine Brüder, zu. Den Band eröffnet die Untersuchung von Christel Baltes-Löhr, welche die theoretische Figur des Kontinuums auf Geschlecht, Migration, Heimat und Erinnerung anwendet und damit gleichzeitig auch in die Thematik der folgenden Beiträge einführt. Nach der Erläuterung der Figur des Kontinuums werden deren vier Dimensionen physisch, psychisch, sozial und sexuell in einem ersten Schritt auf die Problematik der Migration bezogen und anschließend für die Konzepte Heimat und Erinnerung nutzbar gemacht. Schließlich wird die Anwendbarkeit der Figur des Kontinuums auf literarische Texte vorgeführt, wobei insbesondere die Veröffentlichung von Gabriele Kreis aus dem Jahr 1984 mit dem Titel Frauen im Exil. Dichtung und Wirklichkeit in den Blickpunkt der Betrachtung gerät.
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Der Beitrag Svetlana Arnaudovas widmet sich dem Thema der Erinnerung an den Bosnienkrieg 1992-1995 im preisgekrönten Roman von Saša Stanišić Wie der Soldat das Grammofon repariert und fragt nach den Mitteln, mit welchen Sprache und Literatur die traumatischen Erfahrungen von Krieg, Flucht und Vertreibung rekonstruieren und bewältigen können. Filomena Viana Guarda weist anhand von Sebalds Erzählband Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen (1992) und des Romans Austerlitz (1999) nach, wie der Erinnerungs- und Identitätsverlust mit Hilfe verschiedener Erzählstrategien und unterschiedlicher Gedächtnismedien aufgearbeitet wird. Dabei stellt sie die Figur des sebaldschen Erzählers und das Verfahren des ›unzuverlässigen Erzählens‹ in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung. Mit Identitätskonstrukten und Akkulturationsprozessen in einem der bekanntesten Romane der deutschsprachigen Exilliteratur, Joseph Roths Hiob, setzt sich László V. Szabó in seiner Untersuchung auseinander. Der Verfasser deutet das Hiob-Motiv zum einen als eine identitätsstiftende Textkonstituente, zum anderen als Bindeglied zwischen den beiden im Roman geschilderten Kulturräumen, Russland bzw. Amerika. ›Kulturraum‹ wird dabei gebraucht als eine Erweiterung von Juri Lotmans Begriff des semiotischen Raums um kulturelle Inhalte. In seinem Beitrag unter dem Titel Erteilt der Okzident dem Orient eine Ohrfeige stellt Amir Blažević zu Beginn den Migrationsprozess in den weiteren Kontext der Menschheitsgeschichte und geht im Anschluss daran der Frage nach, ob das Christentum und der Islam neben- bzw. miteinander existieren können. Vor allem die Migrantenliteratur, für welche der Roman Ohrfeige des in Bagdad geborenen Schriftstellers Abbas Khiders steht, dient dem Verfasser als Beispiel für die Vermittlerrolle, welche die Kunst bei der Aufhebung der Grenzlinien zwischen dem Westen und dem Osten einnehmen müsste. Den gleichen Roman stellt auch Beate Petra Kory in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung, wobei sie aber die Perspektive des Migranten auf die vielfältigen Probleme der Asylbewerber in Deutschland durch die Sicht einer deutschen Schriftstellerin auf die Thematik der Flucht und Migration erweitert. Daher geht es in Korys Beitrag um Ähnlichkeiten und Unterschiede in den Romanen Jenny Erpenbecks Gehen, ging, gegangen und Abbas Khiders Ohrfeige. Im folgenden Beitrag von Erika Verešová wird der Prozess des Gehens in Jenny Erpenbecks Roman Gehen, ging, gegangen im Vergleich mit Thomas Bernhards Roman Gehen untersucht. Dabei bezieht Erika Verešová Aspekte der Theorie der Subjektivation und Identitätsbildung der US-amerikanischen Philosophin Judith Butler als psychologische Grundlage in ihre Analyse ein. Einem der umfangreichsten Werke Thomas Manns, das 1943 im kalifornischen Exil abgeschlossen wurde, der Romantetralogie Joseph und seine Brüder,
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widmet sich Delia Eșian, wobei sie die enge Verflechtung von Autor, Text und Kontext in den Mittelpunkt ihrer Analyse rückt. Die Erfahrung des Ausgegrenztseins, vermittelt durch Migration und Exil, wird ebenfalls in der Arbeit von Cornelia Eșianu erörtert, wenn sie, ausgehend von drei Modellen der Fremdheitserfahrung des Literaturwissenschaftlers Horst Turk, die Umzugsgründe eines der prominentesten Vertreter der Jenaer Frühromantik, Friedrich Schlegel, in seiner zweiten Lebenshälfte nach Wien ausleuchtet. Der letzte Beitrag des Bandes stellt nach einem kurzen Aufriss der türkischen Migrantenliteratur das Werk des zur zweiten Generation der türkischen Auswanderer gehörenden Schriftstellers Osman Engin vor. Dabei fokussiert Yüksel Gürsoy auf die Haupt- und Nebenfiguren in Engins Werk, die vornehmlich dazu dienen, die negativen Aspekte des deutsch-türkischen Alltags satirisch anzuprangern. Somit bietet der Sammelband aus einer interdisziplinären Perspektive mit neuen Forschungsansätzen Erkenntnisse, die sowohl innovative Einblicke in das literarische Schaffen von Migrierenden erlauben als auch prominente Werke zu Themen von Migration, Flucht und Asyl neu betrachten. Als Herausgeberinnen bedanken wir uns bei allen in diesem Sammelband vertretenen Autorinnen und Autoren und wünschen allen Lesenden eine bereichernde Reise durch die Beiträge. Christel Baltes-Löhr, Beate Petra Kory, Gabriela Șandor
Geschlecht, Wanderungen, Erinnerungen, Identitätskonstruktionen – ausgeleuchtet mit der Figur des Kontinuums Christel Baltes-Löhr
Abstract: Ausgehend von der Figur des Kontinuums mit den Dimensionen der Körperlichkeit, der Psyche, des (sozialen) Verhaltens und des (erotischen) Begehrens geht es in dem Beitrag in einem ersten Schritt darum, die Figur des Kontinuums zu erläutern und auf Geschlecht, Migration, Heimat und Erinnerungen anzuwenden. In einem weiteren Schritt wird der Konnex zwischen Erinnerungen und Identitätskonstruktionen diskutiert, um dann literarische und reale Begegnungen vorzustellen und die Anwendbarkeit der Figur des Kontinuums auf literarische Textformen zu illustrieren. Schlüsselwörter: Kontinuum, Geschlecht, Wanderung, Erinnerung, Identität.
DIE FIGUR DES KONTINUUMS Bevor die Wirkmächtigkeit der Figur des Kontinuums für Migration, Heimat und Erinnerungen erläutert wird, soll diese Figur in Bezug auf ›Geschlecht‹ kurz skizziert werden. Geschlecht als Kontinuum Entstanden ist diese Denkfigur im Jahr 20141 in der Auseinandersetzung mit der Frage, Trans- und Intergeschlecht nicht als ›drittes‹ oder ›anderes‹ oder ›hybri-
1
Baltes-Löhr, Christel: »Immer wieder Geschlecht – immer wieder anders. Versuch einer Begriffserklärung«, in: Erik Schneider/Christel Baltes-Löhr (Hg.): Normierte
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des‹ Geschlecht aufzufassen, sondern als gleichwertig gegenüber den bislang oftmals binär verfassten Geschlechterkonfigurationen ›Weiblichkeit‹ und ›Männlichkeit‹. Mit der Figur des Kontinuums kann Geschlecht somit aus dieser binären Verortung gelöst werden. Allgemeiner gesprochen löst die Figur des Kontinuums die Figur des Dritten, des Binären, der Binarität ab, was sich nicht nur für Geschlecht, sondern auch für Migration und Erinnerungen zeigen lässt. Eröffnet das Konzept ›Geschlecht als Kontinuum‹ ein Verständnis von einem gleichberechtigten Verhältnis aller Geschlechter, ›weiblich‹, ›männlich‹, ›inter-‹ und ›transgeschlechtlich‹ zueinander, dann kann so im Grunde genommen jedes Geschlecht als erstes Geschlecht aufgefasst werden. Trans- und Intergeschlechtlichkeit werden nicht mehr als zwischen den beiden sogenannten Hauptpolen ›Weiblichkeit‹ und ›Männlichkeit‹ verortet betrachtet, sondern als auf einem Kontinuum angesiedelt. Diese über die bislang geltende Bipolarität hinausgehende Situierung von allen bislang bekannten sowie allen unbekannten Geschlechtern wird mit dem Begriff ›Polypolarität‹ gefasst. D.h., dass je nach biographischer Situation jedes der Geschlechter als Pol für ein Individuum gelten kann und dass gesellschaftlich betrachtet unterschiedlichen Geschlechterpolen je nach herrschenden Diskursen unterschiedliche Wirkmächtigkeiten zukommen können. Geschlecht als Kontinuum heißt weiter, dass die Unterschiede zwischen allen Geschlechtern fließend sind, dass sich außerdem die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht für einen Menschen im Laufe seines jeweiligen Lebens verändern kann und dass darüber hinaus das, was gesellschaftlich unter Geschlecht verstanden wird, im Laufe der Epochen und je nach kulturellem Kontext variieren kann. Innerhalb des Konzeptes ›Geschlecht als Kontinuum‹ werden die vier Dimensionen physisch, psychisch, sozial und sexuell unterschieden und gleichzeitig zusammengedacht. Mit der physischen Dimension ist das körperliche, biolo-
Kinder. Effekte der Geschlechternormativität auf Kindheit und Adoleszenz, Bielefeld: transcript 32018, S. 17-40; Baltes-Löhr, Christel: »Die Figur des Kontinuums am Beispiel von Geschlecht und Migration. Ein Erklärungsansatz für Pluralitäten als Existenzmuster?«, in: Raluca Rădulescu/Christel Baltes-Löhr (Hg.), Pluralität als Existenzmuster. Interdisziplinäre Perspektiven auf die deutschsprachige Migrationsliteratur, Bielefeld: transcript 2016, S. 9-29; Baltes-Löhr, Christel: Geschlecht als Kontinuum. Zur Pluralität gelebter Realitäten, Bielefeld: transcript 2019, im Erscheinen; Baltes-Löhr, Christel: »What Are We Speaking About When We Speak About Gender? Gender as a Continuum«, in: Cultural and Religious Studies, Vol 6, Number 1, January 2018; New York: David Publishing, DOI:10.17265/2328-2177/2018.01.001, S. 132.
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gische Geschlecht (oftmals bezeichnet als ›Sex‹), mit der psychischen Dimension das gefühlte Geschlecht (oftmals bezeichnet als ›Geschlechtsidentität‹), mit der sozialen Dimension das soziale Geschlecht (oftmals bezeichnet als ›Gender‹, als ›geschlechterbezogenes Verhalten‹) und mit der sexuellen Dimension das sexuelle Geschlecht (oftmals bezeichnet als ›sexuelles Begehren‹, als ›sexuelle Orientierung‹) gemeint. Alle diese Dimensionen gelten als in sich und in ihrem Verhältnis zueinander als nicht eindeutig voneinander zu trennen. Es ist von einer horizontalen Ausprägung des Kontinuums zu sprechen, wenn die Variationen auf jeweils einer der vier Dimensionen in den Blick genommen werden. Hiervon ist die vertikale Ausprägung des Kontinuums zu unterscheiden, die die Variationen zwischen den einzelnen Dimensionen meint. So sind die Übergänge in der körperlichen, gefühlten, sozialen und sexuellen Dimension jeweils als porös und durchlässig zu verstehen. Das kann konkret heißen, dass nicht alle Frauen mit einer Vagina auch ein breites Becken, schmale Schultern und/oder Eierstöcke haben müssen, ebenso wie sogenannte Männer mit einem Penis nicht alle eine flache Brust und ein schmales Becken haben. Auch das gefühlte Geschlecht kann sich für einzelne Menschen sehr unterschiedlich zeigen und sich im Laufe eines Lebens immer wieder verändern, so dass Menschen sich nicht in jeder Situation gleichermaßen und immer als weiblich, männlich, transbzw. intergeschlechtlich fühlen. Nicht alle Frauen, Männer, trans- bzw. intergeschlechtliche Personen zeigen gleiches, sozusagen homogenes Verhalten mit anderen, der gleichen Geschlechtergruppe zugehörenden Menschen. Auch sexuelles Begehren, sexuelle Orientierungen, sexuelle Praktiken gehen über Heterosexualität zwischen Frauen und Männern hinaus. Manifest sind monosexuelle, asexuelle, bisexuelle, homosexuelle, pansexuelle Begehrensstrukturen und -praktiken, die sich nicht aus der Zugehörigkeit zu einem Geschlecht bzw. zu einer Geschlechtergruppe ableiten lassen. Dies möge an dieser Stelle genügen, um das Kontinuum in seiner horizontalen Ausprägung in aller gebotenen Kürze zu beschreiben. Die vertikale Ausprägung von ›Geschlecht als Kontinuum‹ meint, dass die vier Dimensionen nicht als in einem eindeutigen Verhältnis zueinander stehend zu betrachten sind, wie die immer noch vorherrschenden Vorstellungen stereotypisierter Weiblichkeit und Männlichkeit glauben machen wollen. So ist vielfach immer wieder und immer noch die Rede von einem/einer ›richtigen‹ Mädchen/Frau und einem ›richtigen‹ Jungen/Mann. Vertikale Ausprägung von ›Geschlecht als Kontinuum‹ heißt dann konkreter, dass sich beispielsweise für einen einzelnen Menschen seine Positionierung auf den vier Dimensionen sozusagen verschieben und ein Mensch zu einem bestimmten Zeitpunkt seines Lebens ein geschlechterbezogenes Verhalten zeigen kann, das den Vorstellungen von einem
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›richtigen‹ Mädchen durchaus entspricht, biologisch jedoch männliche Geschlechtsmerkmale zeigt, sich als Mädchen fühlt und erste erotische Beziehungen zu einem Jungen aufnehmen möchte, der biomorphologisch und auch chromosomal männlich ist, innenliegende Hodensäcke hat, sich erotisch zu anderen Jungen hingezogen fühlt.2 An dieser Stelle wird die Komplexität der Möglichkeiten der geschlechtlichen Zuordnungen und der denkbaren Geschlechterverhältnisse überdeutlich, vor allem, wenn auch noch in Betracht gezogen wird, dass sich diese Positionierungen durchaus im Laufe des Lebens mehr oder weniger grundlegend verändern bzw. verschieben können. Dies alles gilt sowohl für die Ergebnisse von Prozessen der Fremd- als auch der Selbstzuschreibung von Geschlecht. D.h., dass das, was als ein bestimmtes Geschlecht z.B. gesellschaftlich konnotiert wird, variieren kann und das heißt ebenso, dass das, was als Selbstzuschreibung als ›weiblich‹, ›männlich‹, ›trans‹- oder ›intergeschlechtlich‹ verstanden wird, sehr unterschiedliche Ausprägungen haben kann. Das Konzept ›Geschlecht als Kontinuum‹ eröffnet somit Raum zur Erfassung tatsächlich gelebter und existierender Vielfalten und Komplexitäten von Geschlechterformen, Raum für Veränderungen und Bewegungen zwischen den Geschlechtern sowie Raum für die Vielfalt von Gründen, zu einem Geschlecht dazugehören zu wollen oder nicht. ›Geschlecht als Kontinuum‹ kann somit das »Durchbrechen bislang oftmals einengender Geschlechterkategorien«3 ermöglichen oder gar auf deren Auflösung hinweisen. Wie sich das in der Realität gestalten könnte, zeigt der Bericht über die Heirat des 90-jährigen früheren US-Senators von Pennsylvania, Harris Wofford, der am 30. April 2016 seinen 50 Jahre jüngeren Lebensgefährten, Matthew Charlton, heiratet und dazu sagt: »Zu oft versucht unsere Gesellschaft, Menschen zu labeln – hetero, schwul oder dazwischen. Ich gebe mir keine Kategorie, die darauf basiert, welches Geschlecht jene haben, die ich liebe.«4
2
Eindrücklich hierzu: der Film von Alain Berliner »Ma vie en rose« aus dem Jahre 1997, Belgien; vgl. auch: Heide, Anett: »Intersexualität: Hallo, ich bin die dritte Option«, in: Zeit online vom 24.01.2018, http://www.zeit.de/zeit-magazin/leben/201801/intersexualitaet-geschlecht-intergeschlechtlichkeit-identitaet, zuletzt abgerufen am 27.01.2018.
3
Achutegui, Ainhoa: »Jeder Tag Weltfrauentag«, in: Luxemburger Wort vom
4
Trierischer Volksfreund: »Liebe ist weder hetero- noch homosexuell«, 26.04.2016,
8.03.2014, S. 3. S. 28.
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Wofford war mit seiner Frau Clare von 1948 bis zu deren Tod im Jahre 1996 nach eigener Darstellung glücklich verheiratet und ist mit Clare Vater dreier Kinder. Die Verheiratung und die Kommentierung im Jahr 2016 stellt eine Nachricht dar, die von den USA den Weg bis in den »Trierischen Volksfreund«, die Tageszeitung einer 100.000 Menschen zählenden Stadt in Rheinland-Pfalz, Deutschland, gefunden hat.5 Geschlecht, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lange als die Strukturkategorie menschlicher Lebensformen proklamiert,6 scheint auf einer gesellschaftlichen und auch individuellen Ebene zunehmend mit allen tatsächlich existierenden Variationen und in aller Vielfältigkeit ins Auge gefasst zu werden, so dass sich die Frage aufdrängt, inwieweit sich diese Kategorie mit ihren scheinbar klaren Konnotationen in einem Verschiebungs- oder gar in einem Auflösungsprozess befindet. Solche Prozesse lassen sich auch für die Kategorie ›Migration‹ diskutieren, wie im folgenden Abschnitt gezeigt wird. Migration als Kontinuum Bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts galt in der Migrationstheorie und -forschung weithin folgende dualistische Perspektive: 7 Sesshaftigkeit wurde konnotiert mit Ankunftsland, Zentrum, Innen, entspannter gesellschaftlicher Situation, Bekanntheit, Dazugehörigkeit, Integration, Nicht-Migrant_in-Sein, Wir und Einwanderung. Auf der Gegenseite stand Migration in Verbindung mit Herkunftsland, Peripherie, Außen, angespannter gesellschaftlicher Situation, Fremdheit, Ausgeschlossen-Sein, Segregation, Migrant_in-Sein, Anderen und Auswanderung. Den sogenannten Einheimischen und den sogenannten Einwandernden wurden bestimmte Zugehörigkeiten, Verhaltensweisen, Eigenschaften und Begehren zugeschrieben. Migration lässt sich jedoch auch breiter fassen, und zwar als eine Form ständiger Bewegungen, Kontakte, Begegnungen, die Effekte auf das Fühlen, Denken und Handeln von migrierenden wie auch von nicht-migrierenden Menschen
5
Wofford, Harris: »Finding Love Again. This Time With a Man«, in: New York Times vom 23.04.2016, online unter http://www.nytimes.com/2016/04/24/opinion/sunday/ findinglove-again-this-time-with-a-man.html?_r=0, zuletzt abgerufen am 14.06.2017.
6
Vgl. Maihofer, Andrea: Geschlecht als Existenzweise. Frankfurt a. Main: Ulrike Helmer 1995, Becker-Schmidt, Regina: »Geschlechterdifferenz – Geschlechterverhältnis: soziale Dimensionen des Begriffs ›Geschlecht‹«, in: Zeitschrift für Frauenforschung 1/2 (1993), S. 37-46.
7
Vgl. Baltes-Löhr, Christel: Migration und Identität. Portugiesische Frauen in Luxemburg, Frankfurt a. Main/London: IKO 2006.
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haben, sowie Effekte auf die jeweiligen Repräsentationssysteme gesellschaftlicher Ordnungen ausüben.8 Die vier Dimensionen des Kontinuums bedeuten für Migration auf der physischen Dimension die Frage nach den Migrationsformen, auf der psychischen Dimension die Frage nach migrantischen Identitäten, auf der sozialen Dimension geht es um Selbst- und Fremdzuschreibungen sowie das Verhalten von Migrierenden und auf der sexuellen Dimension, hier eher relevant als die Dimension des Begehrens, stehen Migrationsziele sowie Gründe und Entscheidungen für Wanderungsbewegungen im Fokus. Auf der physischen Dimension können Migrationen hinsichtlich der zurückgelegten Entfernung zwischen interkontinental, international, innerstaatlich, regional und städtisch unterschieden werden und zu unterschiedlichen Vorstellungen bzgl. konkreter Migrationsformen führen. Migrationsbewegungen können von A nach B nach C etc. erfolgen, als Bewegungen von z.B. Pendler_innen oder zirkulierenden, temporären Migrant_innen und nicht zuletzt als Reise- und Entdeckungsbewegungen, aber auch als Flucht. Einwanderung, Auswanderung, Re-migrationen können als Ein-Weg-, Zwei-Weg-, Drei-Weg-, als Mehrfachmigrationen beschrieben werden. Plurilokale Sternmigrationen, plurilokale Migrationen mit und ohne Zentrum einer möglicherweise mehrfachen Rückkehr oder auch mit mehreren Zentren können dann als polypolare Migrationen aufgefasst werden. Die psychische Dimension von Migration als Kontinuum bezieht sich vor allem auf die Bezeichnungs- bzw. Zuschreibungspraxis, wer als Migrant_in gilt, wer sich selbst als Migrant_in benennt oder sich als solche_r empfindet. Neigen nach Glick Schiller »Migranten immer mehr dazu, Netzwerke, Aktivitäten und Lebensmuster zu schaffen, die sowohl die Gast- als auch ihre Heimatgesellschaften umfassen«,9 dann bleibt zu betonen, dass Migrant_innen durchaus auch zu mehr als zu zwei Kulturen dazugehören können. Kulturen, z.B. der Herkunftsund Ankunftsländer, sind dabei nicht länger als in sich homogene Einheiten zu betrachten. Vielmehr ist in Herkunfts- sowie in Ankunftsländern von heterogenen, mehrdimensionalen kulturellen Settings auszugehen, die sich z.B. nach ökonomischem Status, Alter, körperlicher Verfasstheit, Geschlecht, sozialräumlicher Umgebung, politischen und religiösen Überzeugungen und Bildungsstatus
8
Ebd., S. 81f.
9
Glick Schiller, Nina/Basch, Linda/Blanc-Szanton, Cristina/Kimmich, Dorothee/Schahadat, Schamma (Hg.): Kulturen in Bewegung: Beiträge zur Theorie und Praxis der Transkulturalität, Bielefeld: transcript 2012, S. 14.
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bündeln lassen.10 So können auf einer vertikalen Achse gedacht, beispielsweise in einem Nationalstaat kulturelle Settings je nach Bildungsstatus stark variieren und sich auf einer horizontalen Achse, z.B. zwischen der Bildungselite eines Nationalstaates und derjenigen eines anderen Nationalstaates, mehr Ähnlichkeiten als Differenzen zeigen. Sind große Denker wie z.B. Immanuel Kant und Literaten wie Diderot 11 Zeit ihres Lebens eher als räumlich ›immobil‹ zu bezeichnen, dann stellt sich an dieser Stelle z.B. die Frage nach dem Konnex zwischen Urbanität – Mobilität – Kreativität – Lebensqualität neu. Kann nicht gerade die Abgeschiedenheit der sogenannten Provinz von der Hektik in den Metropolen, von der Mobilität und den sich immer schneller konfigurierenden und sich weiter verschiebenden Netzwerken zu einer sich potentiell immer verbessernden Lebensqualität und für den Bereich der Wissenschaften zu innovativen Erkenntnissen führen? So meint Gumbrecht, Universität Stanford: »Das genau brauchen sie, sagen die sehr jungen Studenten, welche mit ihrem ProgrammSchreiben die Effizienz künstlicher Intelligenz vorantreiben: jene Ruhe, jenes Vertrauen und jene Gelassenheit, die es ihren Intuitionen erlauben, den erlernten Methoden und der eigenen rationalen Kontrolle immer einen kreativen Schritt voraus zu sein.«12
Dennoch gibt es immer mehr Menschen, die nicht lebenslang an dem Ort ihrer Geburt verweilen, als Grenzgänger_innen und Pendler_innen ihr Leben fristen oder auch mehrere Wohnsitze gleichzeitig haben, was als Polyhome-Praxis bezeichnet werden kann. Entscheidend scheint dann jedoch zu sein, dass es für
10 Gudrun-Axeli Knapp mit Bezug auf die US-Amerikanerin Kimberlé Crenshaw, die basierend auf Analysen von Gerichtsprozessen auf die Bedeutung von ›race‹ und ›class‹ neben der Kategorie ›Gender‹ hingewiesen hatte (Crenshaw, Kimberlé: »Mapping the Margins: Intersectionality, Identity Politics, and Violence against Women of Color«, in: Stanford Law Review, Jg. 43, H. 6 (1991), S. 1241-1299; Knapp, GudrunAxeli: »›Intersectionality‹ – ein neues Paradigma feministischer Theorie? Zur transatlantischen Reise von ›Race, Class, Gender‹«, in: Feministische Studien H. 1 (2005), S. 68-81). 11 Zitelmann, Arnulf: Nur dass ich ein Mensch sei: die Lebensgeschichte des Immanuel Kant, Weinheim/Basel: Beltz & Gelberg 2009, S. 51-64 und S. 112. Auf den Mobilitätsradius Diderots hat Hans Ulrich Gumbrecht in seiner Vorlesung Lecture on Diderot’s Rameau’s Nephew am 6. Juni 2017 an der Universität Luxemburg hingewiesen. 12 Gumbrecht, Hans Ulrich: »Suburbia! Die Metropolen versprechen Freiheit – aber die Kreativzonen liegen heute am Stadtrand«, in: Neue Züricher Zeitung (NZZ) vom 7. Juli 2017, S. 19.
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den einzelnen Menschen möglich und selbstverständlich ist, sich an dem jeweiligen Ort immer wieder zuhause, beheimatet fühlen zu können. Mit der sozialen Dimension von Migration als Kontinuum geht es um das vermeintlich spezifische Verhalten von Migrant_innen. Welche Eigenschaften, welche Verhaltenskonfigurationen werden Migrant_innen zugeschrieben, welche schreiben sie sich selbst zu? Welche gesellschaftlichen, sozialen Aspekte werden mit Migration, mit migrantischen Existenzformen verknüpft? Wird Migration als Bereicherung oder eher als Bedrohung empfunden? Inwieweit wird Migration mit Fremdheit und Andersheit verbunden? Welche Bedeutung haben Integration, soziale Kohäsion, Ausgrenzung und Stigmatisierung, wenn es um Migrationsbewegungen geht? Wird Migration als außergewöhnliche Notwendigkeit, als außergewöhnliches Phänomen betrachtet oder aber, ebenso wie Sesshaftigkeit, als Normalität menschlicher Existenz? Auf der vierten Dimension des Kontinuums, der Dimension des Begehrens, geht es bei Migration als Kontinuum nicht um sexuelles Begehren, sondern um die Wahl der Migrationsziele und -gründe. Welche Rollen spielen hier Abenteuerlust, Wunsch nach Verbesserung der ökonomischen Lebenssituation, Studienabsichten und Ausbildung in einem anderen Land, Liebe und Partnerschaft bis hin zu Flucht vor Krieg, Verfolgung, Armut und vor als bedrohlich erlebten Naturereignissen? Für alle vier Dimensionen von Migration als Kontinuum gilt, dass sie nicht eindeutig voneinander zu unterscheiden sind. Sie gelten als sozial konstruiert, was jedoch nicht heißt, Migration sei beliebig. Es bleibt in gesellschaftlichen Ordnungen die Definitionsmacht zu berücksichtigen, die in mehr oder weniger demokratisch angelegten Strukturen darüber entscheiden kann, was z.B. als Migration gilt und wie folgende Fragen gesellschaftlich, in sozialen Gruppen und individuell beantwortet werden: Wer gilt wann als Migrant_in? Ab wann als sesshaft? Was ist mit denjenigen, die zwischen mehreren Wohnsitzen pendeln? Welche Verhaltensweisen werden als migrantisch bezeichnet, welche Migrationsgründe und -ziele werden anerkannt? Auf und zwischen den einzelnen Dimensionen lassen sich Verschiebungen feststellen und man kann zu dem Schluss kommen, dass es den Migrierenden nicht gibt. So konstruieren sich beispielsweise Migrationssituationen für Kinder und junge Menschen deutlich anders als für Erwachsene oder alte Menschen, was als Variabilität von Migration auf einer biographischen Lebensspanne verstanden werden kann. Auch zeithistorisch ist Migration variabel, da in unterschiedlichen zeithistorischen Epochen jeweils unterschiedliche Vorstellungen über das, was als Migration gilt, virulent sind. Und nicht zuletzt werden je nach
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kulturellen Kontexten bestimmte Bewegungs-/Wanderungsformen als Migration bezeichnet und anerkannt – oder eben auch nicht. In Bezug auf die Polypolarität von Migration als Kontinuum lässt sich sagen, dass Migration und Nicht-Migration nicht unbedingt immer klar voneinander zu unterscheiden sind. So ist die Frage, wann Migrationsprozesse als abgeschlossen gelten, nicht eindeutig zu beantworten, was z.B. vor allem bei zirkulären Migrationen erkennbar wird. Wann hört ein_e Migrant_in auf, ein_e Migrant_in zu sein? Wird er_sie bei Grenzüberschreitung vom Emigrant_in zur_m Immigrant_in, dann stellt sich die Frage, wann ein Mensch, der z.B. in einer Ankunftsgesellschaft verbleibt, nicht mehr als Migrant_in bezeichnet wird. Durch die Vorstellung der Migration der ersten, zweiten, dritten und weiteren Generationen findet möglicherweise eine Perpetuierung der Zuschreibung migrantischer Identitäten statt, wenn noch in der vierten Generation Menschen auf ihren sogenannten Migrationshintergrund zurückverwiesen werden. Tatsächlich lässt sich eine zunehmende Vielfalt von Zugehörigkeiten feststellen, wenn ein Kind mit z.B. vier Großeltern, die polnischer, deutscher, spanischer und luxemburgischer Herkunft sind, mit seinen Eltern in Luxemburg aufwächst und sich als Luxemburger_in definiert. Die Frage nach der Zugehörigkeit zur wievielten Migrantengeneration wird schwierig zu beantworten sein. Hat dieses Kind dann als ein Kind mit sogenanntem Migrationshintergrund zu gelten? Und wem dient eine solche Bezeichnung? Es lässt sich somit eine Vielfalt von Migrationsformen bzw. Wanderungsbewegungen und von Migrationsgründen ebenso feststellen wie eine Vielfalt von Zugehörigkeitsformen und Zuschreibungen zu einer z.B. ethnischen Gruppe. Ebenso wenig wie wir von der Frau, dem Mann, dem intergeschlechtlichen oder dem transgeschlechtlichen Menschen sprechen können, ist auch nicht mehr von dem oder der Migrant_in, dem Zugehörigkeitsgefühl, dem Wanderungsgrund und/oder dem migrantischen Verhalten auszugehen. Heimaten und Erinnerungen als Kontinuum So wie für Geschlecht und Migration ließen sich nun Heimaten und Erinnerungen anhand der Figur des Kontinuums durchdeklinieren, um dann auch hier zu dem Schluss zu kommen, dass Heimat und Heimaten auf der physischen Dimensionen der Materialität (wird Heimat auf einen bestimmten Ort bezogen?), der psychischen Dimension (wie fühlt sich Heimat an?), der sozialen Dimension (welche Verhaltensweisen werden mit Heimat in Verbindung gebracht?) und der Dimension des Begehrens (welche Heimat ist erstrebenswert – oder eben nicht?) für einzelne Menschen oder Menschengruppen eine enorme Bandbreite und Variabilität aufweisen. Auch hier sind für die einzelnen Dimensionen (horizonta-
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le Ausprägung des Kontinuums) sowie zwischen den einzelnen Dimensionen (vertikale Ausprägung des Kontinuums) zahlreiche Variationen und Verschiebungen nachzuzeichnen. Ein ähnlicher Schluss gilt für Erinnerungen: worauf beziehen sich Erinnerungen hinsichtlich der physischen, materiellen, stofflichen Ebene? Welche Gefühle sind mit Erinnerungen verbunden, welche Verhaltensweisen werden mit Erinnerungen konnotiert und welches Begehren steckt in Erinnerungen und/oder wird durch sie evoziert? Auch hier ist eine schier unendlich anmutende Variabilität zu vermuten, wie nun anhand ausgewählter Texte aus der deutschsprachigen Exilliteratur exemplarisch nachgezeichnet werden soll. Wenn es die Heimat, die Zugehörigkeit, das Geschlecht, die Identität nicht in einer homogenen Ausprägung gibt, dann ist die Frage umso spannender, wie Heimat, Zugehörigkeit, Geschlechterkonfigurationen und Identität tatsächlich konstruiert werden.
STAAT – NATION – TERRITORIUM – IDENTITÄT 13 In Bezug Migration soll nun in einem ersten Schritt folgender Frage nachgegangen werden: Wie finden die Aushandlungen von Zugehörigkeiten migrierender oder flüchtender Menschen statt und welche Rolle spielen dabei u.a. Nationen? Immer noch wirkt nationale Zugehörigkeit als Regulator für den Ort des legalen, auch legitimen Aufenthaltes. Mensch-Sein allein reicht dann scheinbar nicht (mehr) aus, um irgendwo aufhältig sein zu dürfen. Gehen nationale Zugehörigkeiten oft einher mit der Bestimmung von Zuhause, Heimaten und auch ethnischen Zugehörigkeiten, dann wird aus einer soziologischen, politischen Perspektive betrachtet immer augenfälliger, dass sich die vermeintliche Deckungsgleichheit von nationaler und ethnischer Zugehörigkeit immer mehr verschiebt oder besser gesagt: auseinanderläuft. Das Gewebe des nationalen Tuches wird dünner, ausgefranster, poröser. Dies wird nicht zuletzt auch durch politische Ermöglichungen von doppelten oder mehrfachen Staatsangehörigkeiten, aber auch durch diejenigen Menschen in Frage gestellt, die ohne nationale Zugehörigkeit leben, sogenannte Staatenlose. Vielleicht liegt hier auch einer der Gründe für das aktuelle Erstarken extrem national konservativer Kräfte in einigen westeuropäischen Ländern – politische Kräfte, die sich die Vereindeutigung 13 In Anlehnung an »Dreieinigkeit von Staat-Nation-Territorium« (Giorgio Agamben: Jenseits der Menschenrechte) hier zitiert nach Schmitt, Eleonore: »Europa jenseits der Nationalstaaten«, in: Doerte Bischoff/Miriam N. Reinhard/Claudia Röser/Sebastian Schirrmeister (Hg.), Exil Lektüren. Studien zu Literatur und Theorie, Berlin: Neofelis 2014, S. 80-91, hier S. 84.
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des Zusammenhangs von Nation und Heimat auf bedrohlich wehende Fahnen geschrieben haben. Fremde, Andere, von woanders Herkommende werden in solchen Kontexten nicht in ihrem Mensch-Sein betrachtet, sondern als Angriff auf vermeintlich homogene, national verfasste Gemeinschaften mit scheinbar eindeutigen und klar zu bestimmenden Kulturen. Wehende Fahnen, martialisch vorgetragene, enorm simplifizierende Slogans, welche in Deutschland seit der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts einhergehen mit der Entwertung von Menschenrechten, v.a. auch der Unantastbarkeit der Menschenwürde, wenn diese gar verlächerlicht wird. Bislang scheinbar Unsägliches wird zunehmend sagbarer, Inhalte verschwinden hinter Effekthascherei, Gegenstandsbezüge werden zugunsten von Machtinszenierungen verdrängt, die Kongruenz zwischen gesprochenem Wort und tatsächlichem Tun nimmt ab, politische Intrigen werden als zum Spiel dazugehörend normalisiert, Korruption achselzuckend abgetan, was alles in allem als Aushöhlung des Politischen selbst markiert werden kann, was dann möglicherweise auch erklärt, warum in der politischen Arena Personen wie Donald Trump als US-amerikanischer Präsident auftauchen und wirkmächtig werden können und gefälschte Fakten zum Alltag dazuzugehören scheinen.
LITERARISCHE UND REALE BEGEGNUNGEN Wie wird nun in literarischen Texten die »Dreieinigkeit von Staat-NationTerritorium« verhandelt?14 Franz Werfel lässt gegen Ende seines Textes Der Staatenlose Selbigen fragen: »Bin ich ein Ausnahmefall? Bin ich ein Mensch?« und es ist Eleonore Schmitt in ihrer Argumentation zumindest insoweit zu folgen, dass der Staatenlose »nur ex negativo beschrieben«15 wird: ohne Pass, ohne Identität, ohne Legitimität, ohne Zugehörigkeit, ohne Zuständigkeit, ohne Handlungsfähigkeit, nicht geboren, sondern in die Welt geworfen seiend, keine Heirat ist möglich; als ›zu Hause‹ bleibt dem Staatenlosen nur Gott, der ja sozusagen für alle da ist, eine Textpassage, die jedoch auf das von Katharina Hänßler 16 in Bezug auf Heine beschriebene stilistische Mittel der Ironie verweist. Hänßler fasst Ironie »als Form der uneigentlichen Rede […], die das Gegenteil des Gesagten im Gesagten selbst enthält«,17 was Hänßler an den beiden Gedichten von 14 Ebd. 15 Ebd., S. 81. 16 Hänßler, Katharina: »Exil und Ironie. Poetologische Verhandlungen von Heimatkonzepten in ausgewählten Gedichten Heinrich Heines«, in: D. Bischoff/M.N. Reinhard/C. Röser/S. Schirrmeister (Hg.), Exil Lektüren, S. 12-25. 17 Ebd., S. 14.
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Heinrich Heine Jetzt wohin?, veröffentlicht 1851, und Anno 1829 exemplifiziert. So kann auch in dem Text von Franz Werfel Der Staatenlose die Zuflucht zur göttlichen Instanz als ironisierender Ausdruck einer letztendlich verzweifelten Perspektivlosigkeit gelesen werden. Dies fügt sich auch in eine weitere Textpassage bei Franz Werfel ein, wenn der Staatenlose Schottersteinen eine Zuständigkeit zuschreibt, sich selbst jedoch als »ein[en] Findling der ganzen Erde« beschreibt. Hier scheint die Einsamkeit des Staatenlosen nahezu übermächtig auf, ist doch ein Findling als einzeln liegender, sehr großer Stein zu betrachten, der während der Eiszeiten durch Gletscher transportiert und an seinem heutigen Standort abgelegt wurde.18 Überdeutlich wird an dieser Stelle, dass die Tatsache, ein Mensch zu sein, kein Bleiberecht, kein Aufenthaltsrecht garantiert. Wie von eiskalt anmutenden, gewaltigen Eisblöcken geschoben, getrieben, sucht der Staatenlose, dessen »Vaterhaus eine Bahnstation«19 ist, seinen Ort, bescheidener noch: einen Ort, oftmals auch sich selbst. Mit Blick auf die Figur des Kontinuums lässt sich sagen, dass am Beispiel der Staatenlosigkeit der Konnex zwischen der physischen, psychischen und sozialen Dimension sowie der Dimension des Begehrens eine Identität konstituiert, die sich im vermeintlichen ›Nirgendwo‹ befindet, keinen Heimatort hat, keinerlei Gefühl der Dazugehörigkeit, keinen Codex für angemessenes bzw. unangemessenes soziales Verhalten, keine Begehrensstruktur, die sich auf einen Gegenstand außerhalb des eigenen Selbst richten kann. Wie nun Exil und Flucht sich auf die Identitätsbildung von Menschen auswirken können, lässt sich sehr deutlich an dem Essay von Hannah Arendt aus dem Jahr 1943 We refugees nachzeichnen. Hannah Arendt, als Jüdin 1933 aus Deutschland geflohen und 1937 zur Staatenlosen erklärt, erzählt in We refugees die Geschichte von Mr. Cohn, der sich als Jude in Deutschland mit Deutschland sehr stark identifiziert, dann 1933, nach seiner Flucht nach Prag, als tschechischer Patriot beschrieben wird, nach abermaliger Flucht 1937 in Wien ankommend, auch hier wiederum starke patriotische, diesmal österreichische Haltungen entwickelt und sich schlussendlich mit Frankreich, man könnte fast sagen: überidentifiziert. So sehr Mr. Cohn es auch möchte, er wird nicht zum Deutschen, Tschechen, Österreicher oder Franzosen. Hier liegt der Schluss nahe, dass sogenannte Migrierende oder Exilierte sich möglicherweise ›integrierter‹ verhalten als sogenannte Einheimische – und dennoch keine Integration erreichen, keine Heimat finden. Auch ließe sich in Bezug auf Mr. Cohn schließen: Seine Identität
18 https://de.wikipedia.org/wiki/Findling, zuletzt abgerufen am 14.06.2017. 19 E. Schmitt: Europa jenseits der Nationalstaaten, S. 80.
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ist es, keine zu haben oder wie Eleonore Schmitt mit Bezug auf den Essay von Hannah Arendt meint: »je mehr der Flüchtling versuche, einer von den anderen zu sein, desto offenkundiger werde seine Fremdheit«.20 Mit der Figur des Kontinuums gesprochen kann die Anwesenheit an einem physischen Ort als nicht ausreichend für eine Identitätsbildung betrachtet werden; auf der psychischen Dimension reicht das Gefühl, ›etwas‹ zu sein, sich selbst als zugehörig zu fühlen, nicht dafür aus, eine Identität zu konstruieren, die bei anderen Anerkennung findet; dies auch dann nicht, wenn auf der Dimension des sozialen Verhaltens Übereindeutiges, meist verbunden mit stereotypisierenden Zuschreibungen, gezeigt wird und das Begehren der Wandernden sich stark danach richtet, Aufnahme, Anerkennung und Akzeptanz zu finden. Das Begehren, etwas zu sein, eindeutig etwas zu sein, bleibt schier unerfüllbar. Wird Exil und Migration in literarischen Texten häufig mit der Frage der Identität verbunden, dann steht der Begriff ›Heimat‹ oftmals ebenfalls an prominenter Stelle. Caroline Schwarz untersucht die Heimatkonzepte anhand zweier Romane: Sowohl in dem von Jenny Aloni 1961 veröffentlichten Roman Zypressen zerbrechen nicht als auch in Hilde Domins Das zweite Paradies aus dem Jahre 1986 treffen wir jeweils auf Protagonistinnen mit sogenannter Exilerfahrung. Konstruiert Helga, später Hagar genannt, nach ihrer Flucht von Deutschland nach Palästina aufeinanderfolgende, ineinander und miteinander verwobene Heimaten, die ebenso wenig wie »Kapitel nie zu Ende gehen« können, sondern vielmehr immer nur einen neuen Anfang darstellen, in dem dann das »Alte«, alle jemals gemachten Erfahrungen, das »Mitgebrachte«, nicht verloren gehen können,21 dann kann dies geradezu als ein Paradebeispiel für das Ineinanderverwoben-Sein, das sich wechselseitig Bedingende von Heimaten gelesen werden. Die Protagonistin wählt, oder besser gesagt, konstruiert sich auf diese Weise sukzessive ihre Heimaten, die dann auch einen identitätsstiftenden Effekt auf die Protagonistin selbst haben und vor allem eines bewirken, dass Hagar, ebenso wie die Zypresse, die in ihrer zähen Widerständigkeit illuster beschrieben wird, sich zwar von wütenden Stürmen biegen lässt, jedoch nicht an ihnen zerbricht. Hier konstruiert sich eine Identität aus der Verwobenheit der sich, durch die Flucht bedingten, verändernden Verortung auf der physischen Dimension, der gefühlten Kontinuität des Mitgebrachten im Neuen, was auch für die soziale Dimension des Verhaltens als wirkmächtig erkennbar wird und dem deutlichen Begehren,
20 Ebd., S. 83. 21 Schwarz, Caroline: »Zwischen Selbstverständnis und Selbstbestimmung. Konstruierte Heimat bei Jenny Aloni und Hilde Domin«, in: D. Bischoff/M.N. Reinhard/C. Röser/ S. Schirrmeister (Hg.), Exil Lektüren, S. 32-41, hier S. 36.
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sich, allen Stürmen zum Trotz, nicht brechen zu lassen. Auch hier bleibt dem Individuum vor allem eines, die eigene Subjekthaftigkeit im Kontext des mehr oder weniger Willkommenseins. Anders bei Hilde Domin. Sie entwirft in dem Roman Das zweite Paradies zwei kontrastierende Heimatkonzepte, die sie an der Figur der namenlosen Protagonistin mit Exilerfahrung und Rückkehr in das Heimatland entwickelt. Das ›erste Paradies‹, die erste Heimat, hat man ›einfach so‹ und erkennt sie erst als solche, wenn man sie verloren hat. Das neue Heimatkonzept, das zweite Paradies, bleibt unvollkommen und kann nicht mehr die von Domin als ›natürlich‹ aufgefasste Sicherheit der ersten paradiesischen Heimat neu erstehen lassen. Das zweite Paradies bleibt unweigerlich fremd, hat doch, so ließe sich schließen, der Verlust des Paradieses, der Blick von außen, das Innen unwiederbringlich verändert, was in dem Roman auch noch um eine erotische Begehrensperspektive erweitert wird, wenn Domin Heimaten, Paradiese mit der Liebe der Protagonistin, einmal zum Ehemann und einmal zum Geliebten verknüpft, was eine augenfällige Bezugnahme zu dem biblischen Sündenfall im Paradies beinhaltet. Mit Blick auf die Figur des Kontinuums wird deutlich, dass hier Heimat mit der physischen Dimension, der Stofflichkeit, der Materialität, dem Ort, der für Domin tatsächlich einzig möglichen paradiesischen Zugehörigkeit in Verbindung gebracht wird. Auf der Dimension des Psychischen, der Gefühle, bleiben somit zweite Paradiese notgedrungen immer fremd. Vor allem die Verknüpfung der Heimaten, der Paradiese, mit der Dimension des erotischen Begehrens zum legitimen Ehemann und dem heimlich Geliebten wirft unweigerlich einen Schatten auf die Möglichkeit, zu mehr als einem – Ort – zugehörig sein zu können bzw. zu dürfen. Abschließend soll die Figur des Kontinuums anhand der Veröffentlichung von Gabriele Kreis aus dem Jahr 1984 mit dem Titel Frauen im Exil. Dichtung und Wirklichkeit22 diskutiert werden. Gabriele Kreis kontrastiert in ihrer Arbeit, die zwischen Dokumentation und Essay schwankt, drei Kapitel: a) Dichtung I, b) Wirklichkeit. Gespräche mit Emigrantinnen und c) Dichtung II. Im ersten Kapitel, »Dichtung I«, begegnen wir vier Frauenfiguren in von Männern verfassten Exilromanen, die Kreis im zweiten Kapitel »Wirklichkeit. Gespräche mit Emigrantinnen« mit autobiographischen Erzählungen von 28 exilierten Frauen in Bezug setzt. Zwischen 1979 und 1984 hat die Autorin die ehemals exilierten Frauen zu ihren jeweiligen Exilerfahrungen ein- oder auch mehrfach interviewt.
22 Kreis, Gabriele: Frauen im Exil. Dichtung und Wirklichkeit, Düsseldorf: Claassen 1984. Der Konnex zu Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit von Johann Wolfgang v. Goethe (erstveröffentlicht 1833) ist augenfällig.
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Im dritten und letzten Kapitel »Dichtung II« finden sich neben der Biographie und dem Werk Anna Seghers am Beispiel des Romans »Transit« Leben und Werk der beiden Interviewten, Adrienne Thomas und Irmgard Keun, die beide noch vor dem Erscheinen des Buches Frauen im Exil. Dichtung und Wirklichkeit verstorben sind. Inhalte, Struktur und Aufbau des Buches selbst erschließen sich erst auf den zweiten oder gar dritten Blick. Alles erscheint erst einmal eher unübersichtlich, fehlen doch Inhaltsangabe sowie ein einleitendes Kapitel, was dem Lesenden den Weg durch das Buch erleichtern könnte. Die Suche, der Versuch, sich im Text zu orientieren, sich auf den Text einzulassen, kann den Eindruck erwecken, dass ein solches Navigieren durch den Text eine minimale Assoziation zu dem Verloren-Sein im Exil geradezu aufkommen lassen soll. In den Seiten der Frauen im Exil kann man sich schnell orientierungslos fühlen und es ist erforderlich, sich als Leser_in immer wieder bewusst zu machen und bewusst zu halten, wo man sich gerade befindet, wer gerade spricht, ob man sich in der Dichtung oder der Wirklichkeit bewegt. Das Buch selbst bietet an vielen Stellen nicht »einfach so« eine Wohlfühlheimat an, ein wohliges Ab- oder Eintauchen ist schwer möglich. Man muss als Leser_in immer ein wenig auf der Hut, immer achtsam sein, vor- und zurückblättern, sich immer wieder neu justieren und verorten. So ist das Fazit, das Walter Hinck in seiner am 27.11.1984 in der FAZ erschienenen Rezension anbietet, dass nämlich die Arbeit von Gabriele Kreis einem »wissenschaftliche[n] Interesse« wenig entgegen kommt, in Frage zu stellen. Auch kann dem Rezensenten nicht unbedingt gefolgt werden, wenn er – aus einer bestimmten Perspektive, möglicherweise der des Wunsches nach Eindeutigkeit – Stil und Methode der Arbeit von Gabriele Kreis gar als ungenügend bewertet. Das Leseerlebnis kann durch die ›Unordnung‹ jedoch geradezu als intensiviert und durch das ständige Suchen und Finden und Sortieren sogar als gesteigert empfunden werden. Die in dieser Form innovative Anlage des Buches geht auch einher mit einem weiteren innovativen Aspekt: Frauen im Exil gibt einen ersten Überblick und Einblick in eine bis zum Erscheinen des Buches im Jahr 1984 vernachlässigte Dimension im Kontext der Exilliteratur, nämlich die Betrachtung von Frauen, auch in ihren Verbindungen zu mehr oder weniger berühmten exilierten Männern. Darüber hinaus bietet Kreis eine Analyse von Frauenfiguren in von Männern verfassten Exilromanen oder anderen literarischen Texten und nicht zuletzt und vor allem auch einen Einblick in das Leben und Wirken, auch das literarische Schaffen, der exilierten Frauen selbst. In dem Kapitel »Dichtung I« begegnen wir Anna Trautwein und Ilse Benjamin, die beiden von Lion Feuchtwanger in seinem 1940 publizierten Roman Exil entworfenen Frauenfiguren, sowie Susanna Rotteck, die von Bruno Frank in Der Reisepass, erschienen 1937, eine Rolle spielt und Marion von Kammer in Klaus
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Manns Werk Der Vulkan. Roman unter Emigranten, erschienen 1939. Gabriele Kreis fasst zusammen: »Abgesehen von Marion sind alle Frauen Nebenfiguren in diesen Romanen, Frauen an ›seiner Seite‹, dem Manne zugetan, ihm bisweilen untergeordnet, zum Auf- und Untergang mit ihm bestimmt. Ein Schicksal, das sie mit den meisten Frauengestalten in von Männern verfassten Exilromanen teilen. In ihrem Frauenbild gleichen sich bürgerlich23
liberale, linksintellektuelle und konservative Autoren.«
Und weiter meint Gabriele Kreis zu den realen Erfahrungen von Exilfrauen: »Ihn unterstützend, haben sie teil an seiner Größe. Er steht im Mittelpunkt ihres Lebens, wie er auch im Mittelpunkt der Romane steht. Sie ist eine Randerscheinung, helfende 24
Hand oder hindernde. Nur eine Frau.«
Allerdings kann, wie weiter unten noch etwas ausführlicher dargestellt wird, die ›normal‹ scheinende, traditionelle Geschlechterordnung in Exilprozessen auch stark verschoben werden. Mit den von Gabriele Kreis mit den 28 Frauen geführten Interviews wird deutlich, dass die Exilsituation für Paarbeziehungen als Belastung erlebt werden kann, dass die traditionelle Ordnung auf dem Kopf steht, was die beiden in einer Paarbeziehung lebenden Menschen stärker aneinander binden oder aber auch trennen kann. Wie Ruth Fabian, eine der Interviewten, sagt, wurden solche Trennungen oft »vernünftig vollzogen. Meist, wenn das Schlimmste überstanden war, nach Kriegsende; wenn es den äußeren Anlass für das Zusammenbleiben nicht mehr gab.«25 Im Roman Exil von Lion Feuchtwanger kommt Anna Trautwein der scheinbar unumgänglich gewordenen Trennung von ihrem Mann durch ihren Freitod zuvor26 und Gabriele Kreis schließt, dass Feuchtwanger so die alte, bekannte, auch stabilisierende Ordnung, wohl nicht zuletzt angesichts all der durch die Exilsituation evozierten Veränderungen wieder herstellt.27 Traditionelle Verhältnisse werden zum Refugium in unsicheren Zeiten, so wie es auch für literarische Frauenfiguren bei Bruno Frank, Gustav Regler, Oskar Maria Graf, Erich Maria Remarque, Fritz Erpenbeck, Hans Habe zu vermuten ist.28 Auch bei ihnen sind es
23 Ebd., S. 23. 24 Ebd., S. 25. 25 Ebd., S. 188. 26 Ebd. 27 Ebd. 28 Ebd., S. 189.
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»versiegende, versagende, verströmende Frauen, große Liebende und kleine Heldinnen. Aber keine stand im Mittelpunkt dieser Romane. Der war dem Mann und seiner Idee vorbehalten. Die Frauen lebten darauf zu – als Helferin, Kameradin, Mutter, Kind, Bewunderin, Verführerin … ›typisch Frau‹ eben … oder männliche Projektion? Eher wohl 29
das letztere.«
So vermutet Gabriele Kreis schon am Anfang ihres Buches: »Die kämpfende, die unabhängige Frau, politisch informiert und engagiert, ist selten. Noch seltener ist, daß sie die Heldin der Handlung ist.«30 Eine Ausnahme stellt hier jedoch, wie schon kurz erwähnt, Marion von Kammer in Der Vulkan. Roman unter Emigranten von Klaus Mann dar. »Schön und klug und sehr selbständig, mutet sie [Marion von Kammer] beinahe fremd an in der Reihe der durch ihre Beziehung zu Männern definierten Frauen.«31 Kreis führt diese ungewöhnliche Gestaltung der Frauenfigur auf die homosexuelle Orientierung des Autors Klaus Mann zurück, die ihn in den Augen von Gabriele Kreis frei macht »von der gelebten Erfahrung der traditionellen Frau-Mann-Beziehung, in der Stärke und Schwäche ihren vermeintlich festen Platz haben.«32 Hier wird die Anwendbarkeit der Dimensionen der Figur des Kontinuums auf das Verhältnis Autor – Werk – Geschlechterkonnotationen augenfällig: Scheinbar erlaubt eine nicht heteronormative sexuelle Orientierung (Dimension des Begehrens) den Autoren, Figuren zu schaffen, also so zu agieren (Dimension des Verhaltens, Tuns, Agierens, Kreierens), dass die traditionelle binäre Matrix umgekehrt und dem traditionellen Frauenbild nicht mehr entsprochen wird (Dimension der Psyche und des Zuschreibens von Zugehörigkeiten). Allerdings bleibt festzuhalten, dass die binäre Verfassung der Geschlechterordnung mit diesem Setting von Klaus Mann nicht in Frage gestellt oder gar überschritten wird. Allerdings erfährt das traditionelle Frauenbild durch die im Exil gelebten Realitäten Risse. So lässt Irmgard Keun in ihrem Exilroman Mitternacht die Protagonistin sprechen »Ich muss mich schwächer zeigen, als ich bin, damit er sich stark fühlen und mich lieben kann«.33 Und Elsbeth Weichmann, die Ehefrau von Herbert Weichmann, dem späteren Hamburger Bürgermeister, erzählt im Interview, dass es wohl viele Frauen gab, die sich für den Mann an ihrer Seite
29 Ebd. 30 Ebd., S. 25. 31 Ebd. 32 Ebd. 33 Ebd., S. 51.
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selbst aufgegeben haben. Allerdings sagt Elsbeth Weichmann auch, dass »doch die Mehrzahl der Frauen ihr Schicksal – und den Mann – gemeistert« hat.34 So waren die Interviewpartnerinnen von Gabriele Kreis alle durchweg stolz darauf, dass sie die sich im Exil manifestierenden Widerstände mehr oder weniger gut überwunden haben: »Die meisten Frauen begegneten den Herausforderungen des Exils mit Mut und Stärke, mit Zuversicht und Überlebenskraft. Sie stellten sich der Realität und waren anpassungsfähig.«35 Viele der Frauen nahmen Beschäftigungen oftmals weit unterhalb ihres Qualifikationsniveaus an,36 wechselten häufig die Anstellung. Journalistinnen wurden Friseurinnen, Architektinnen und Juristinnen Serviererinnen oder auch Reißverschlussreparateurin, Philologinnen wurden zu Krankenpflegerinnen, Schauspielerinnen zu Zahnarzthelferinnen und Ökonominnen zu Pelztiernäherinnen. Es könnte Gegenstand eines eigenen Projektes sein, sich allein diesem Aspekt der Dynamik beruflicher Tätigkeiten im Exil zu widmen. Wie Gabriele Kreis wiedergibt, wurden einige der von ihr interviewten Frauen im Exil erstmalig in sogenannten »Brotberufen«37 tätig oder wurden zu Hausfrauen, um ihren Männern den für sie selbst wie selbstverständlich akzeptierten sozio-ökonomischen Abstieg zu ersparen, wie am Beispiel von Karola und Ernst Bloch nachzuzeichnen ist: »Sie [Karola Bloch] hätte es nie zugelassen, dass ein so überragender Denker wie Bloch anderes tut als denken«.38 Die diplomierte Architektin arbeitet als Kellnerin, dann als Versicherungsagentin und kann später eine Beschäftigung in ihrem Ausbildungsberuf finden. Die Betreuung des bei der Einreise in die USA im Jahr 1939 sechs Monate alten Kindes übernimmt Ernst Bloch, der zuhause arbeitet. Karola Bloch weiß den Sohn bei ihrem Ehemann in guten Händen, so dass hier eine der Situation geschuldete Umkehrung des traditionellen Geschlechterverhältnisses bzgl. der Frage der Kinderbetreuung stattfindet. Was aus der Perspektive von Karola Bloch die Lebensqualität viel erheblicher einschränkt als die von ihr realisierten beruflichen Anpassungsleistungen oder die Rollenumkehrung hinsichtlich der Kinderbetreuung, ist jedoch die sehr beengte Wohnsituation. Hier lässt sich wiederum ein Bezug zu der Figur des Kontinuums herstellen, insofern das soziale Verhalten, die dritte Dimension des Kontinuums, aus der traditionellen Rollenzuweisung in Bezug auf Kinderbetreu-
34 Ebd., S. 57. 35 Ebd. 36 Ebd., S. 81. 37 Ebd., S. 70. 38 Ebd., S. 170.
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ung und Berufstätigkeit zwar umgekehrt wird, jedoch einer binären Ordnung verhaftet bleibt. Besteht eine traditionelle Vorstellung in Bezug auf Migration und auch auf Flucht darin, dass Frauen eher mit den Männern mitwandern, ihnen nachwandern oder zuhause auf seine Rückkehr warten, dann betitelt Louise Brettel 1986 ihre soziologische Arbeit zu Frauen in der Migration mit Men who migrate, women who wait.39 Ist dieser Satz für viele Migrantinnen nicht zutreffend, wie Anfang der 2000er Jahre in einer empirischen Studie für in Luxemburg lebende portugiesische Frauen nachgewiesen werden konnte,40 dann spiegelt sich in dieser Annahme eher die Forschungsperspektive von Louise Brettel, die Frauen auch noch bis in die späten 1990er Jahre einfach kaum in den Blick nahm und wenn, dann eher als »Anhängsel des Mannes«.41 Deshalb spricht es ebenfalls für den innovativen Ansatz der Arbeit von Gabriele Kreis, dass sie in ihrer Veröffentlichung denjenigen Frauen, die ohne Partner, wie es dann oft heißt: allein auf der Flucht sind, Raum gibt. Allerdings ist an dieser Stelle zu betonen, dass der Konnex »Frau ohne Mann = Frau ist allein« wiederum die traditionelle binäre dichotome Geschlechterordnung evoziert, wie er auch in dem bekannten Spruch der Frauenbewegung »Eine Frau ohne Mann ist wie ein Fisch ohne Fahrrad«42 evoziert und konterkariert wird. Von den 28 von Gabriele Kreis interviewten Frauen waren drei nicht als Begleiterinnen ihrer Partner auf der Flucht. Dies sind Elisabeth Freundlich, Ruth Liepmann und Hertha Haas. Elisabeth Freundlich sagt über sich selbst: »Ich bin überhaupt erst im Exil zu meiner eigentlichen Person geworden. Diese Jahre waren für mich entscheidend. Man ist natürlich herausgerissen aus seiner Laufbahn […]. Aber das, was man stattdessen erlebt, war prägender. Seither fühle ich mich als Antifa43
schistin.«
39 Brettel, Caroline B.: Men who migrate, women who wait. Population and history in a Portuguese parish, Princeton: University Press 1986. 40 Vgl. C. Baltes-Löhr: Migration und Identität. 41 Vgl. beispielsweise: Nieto, Zoraida: »Keine Frau soll mehr das Anhängsel des Mannes beim Asylverfahren sein!«, in: Die bunte Zeitung, Wien 2002. 42 Zu dem Spruch der Frauenbewegung während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und seinen literarischen Bezügen vgl: Dunkel, Elizabeth: »Der Fisch ohne Fahrrad« München: Droemer Knaur 1990; http://www.single-generation.de/usa/elizabeth_ dun kel.htm, zuletzt abgerufen am 28.01.2018. 43 G. Kreis: Frauen im Exil, S. 72f.
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Elisabeth Freundlich kehrt nach dem Zweiten Weltkrieg für sie wie selbstverständlich nach Deutschland zurück und antwortet auf die Frage: »Sind Sie gern zurückgekommen?« Folgendes: »Ich hab’ mir nie etwas anderes vorgestellt. Aber ich muss bekennen, wenn ich gewusst hätte, wie schwierig es werden wird durch den kalten Krieg, die Ablehnung und all das […]. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich den Mut nicht aufgebracht. Aber rückblickend bin ich froh, dass ich es getan habe, denn ich bin die geblieben, als die ich angetreten bin: 44
eine politisch bewusste, aber unabhängige Schriftstellerin.«
Hier tritt der identitätsstiftende Effekt von Flucht und Exil besonders deutlich hervor. Wie Elisabeth Freundlich selbst erzählt, ist sie ohne die Notwendigkeit alltäglicher Versorgungsleistungen, wie z.B. Brötchen kaufen, aufgewachsen und erlebt auf der Flucht und im Exil in Frankreich und in den USA eine neue Alltäglichkeit, die zu ihrer Politisierung ebenso beiträgt wie zu ihrer Entwicklung als eigenständige, aktive, tätige Frau. Obwohl aus einem »bequemen« Alltag geworfen, bricht sie nicht mit ihrer beruflichen Vergangenheit.45 Als promovierte Theaterwissenschaftlerin bringt sie in Frankreich ihr Wissen in die antifaschistische Kulturorganisation »Ligue de l’Autriche Vivante« ein, versorgt Kollegen mir Sendemanuskripten, illegal, ist dann in den USA mit Vorlesungen von College zu College unterwegs, bearbeitet im Metropolitan Museum of Modern Art Kataloge, langweilt sich, fängt wieder an zu schreiben und gibt quasi nebenbei die Literaturbeilage der »Austrian American Tribune« heraus. Sie ist lebendig, sie erstarrt nicht im Exil, sie bleibt in Bewegung, bewegt und damit bewegend. Ruth Liepmann,46 eine promovierte Juristin, schildert eindrücklich, wie sie im Verlauf ihres Exils Hilfe und Unterstützung von anderen Menschen erhält und wie sie dann aus einer zumindest für eine Zeitlang gesicherten Position anderen Menschen auf deren Fluchtwegen helfen kann, bis sie selbst verraten wird und untertauchen muss. Aufgrund antifaschistischer Aktivitäten wird sie bei ihrer Ankunft in den Niederlanden steckbrieflich gesucht, heiratet in Amsterdam einen Schweizer und wird so zur Schweizer Bürgerin Ruth Stock. Sie arbeitet in der privaten Kanzlei des Schweizer Konsuls in Amsterdam – auch nach 1940. In das Schweizer Konsulat kommen viele Flüchtende, Ruth Liepmann bezeichnet diesen Ort als »Oase«.47 Mit Unterstützung des Schweizer Konsuls
44 Ebd., S.73. 45 Ebd., S. 71. 46 Ebd., S. 76. 47 Ebd., S. 78.
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verlegt Ruth Liepmann die Herkünfte von Flüchtenden nach England oder Amerika, damit diese so unter die »Schutzmachtbefugnisse« der Schweiz fallen. Auch sie selbst erhält einen insofern gefälschten Schweizer Pass, in dem ihr Mädchenname, unter dem sie von den Deutschen gesucht wird, fehlt. Als der die Fluchthilfe aktiv unterstützende Konsul unerwartet stirbt, wird er von einem wie Ruth Liepmann ihn beschreibt, »biedere[n] mittlere[n] Beamten ersetzt […], der für zivile Zeiten wahrscheinlich geeignet gewesen wäre. Für diese Kriegszeiten war er völlig ungeeignet. Er hatte eine Todesangst, dass durch diese Geschichte mit mir die Schweiz in den Krieg geraten könnte oder sonst was Fürchterliches. […] völlig unproportional«,
48
so die Erinnerung Ruth Liepmanns. Der biedere Beamte, könnte man auch sagen: der Biedermann, zeigt Ruth Liepmann mehrfach an und zwar solange, bis ihre Herkunft manifest wird und sie untertauchen muss. Interessant für diesen Beitrag ist jedoch vor allem eine Passage aus ihren Erinnerungen, in denen sie erzählt, wie es dazu kam, dass sie für die unter schweizerischem Schutz stehenden Flüchtenden mit deutschen Behörden verhandelt hat. Sie erinnert: »Gemerkt haben die nie etwas, obwohl ich doch jüdisch aussehe. Aber ich habe mich wohl nie so benommen, wie Nazis es von Juden erwarteten, und außerdem nie den gelben Stern getragen.«49 An dieser Stelle wird der Zusammenhang zu der Figur des Kontinuums gleich in mehrfacher Hinsicht augenfällig. Was Menschen jüdischen Glaubens auf der Ebene des Verhaltens von Vertretern der nationalsozialistischen Terrorherrschaft zugeschrieben worden ist, ist in den von Ruth Liepmann erinnerten Situationen von ihr nicht ›erfüllt‹ worden. Und obwohl sie von sich selbst sagt, dass ihr Aussehen sie eher mit Menschen jüdischen Glaubens hätte in Verbindung bringen können, wird das von den herrschenden Besatzern nicht ›gesehen‹; ihre Zuordnung als Schweizer Bürgerin ist in dieser Situation wirkmächtiger als ihr Aussehen. Bemerkenswert ist auch ihre Äußerung, sie habe den sogenannten ›gelben Stern‹ nie getragen, womit sie sich der Zuschreibung und der Signifizierung dieser Zuschreibung erfolgreich widersetzt bzw. entzieht; zum Verhängnis wird ihr dann Angst und Verrat, der fehlende Mut des Schweizer Vizekonsuls. Von Mut und einem möglichst souveränen Umgang mit Angst erzählen auch die biographischen Erinnerungen von Hertha Haas, auf die abschließend eingegangen werden soll. Hertha Haas flieht als promovierte Philologin nach Italien und England, erlebt dort, wie so viele andere auch, auf beruflicher Ebene einen
48 Ebd., S. 79. 49 Ebd., S. 78.
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sozialen Abstieg, lässt sich jedoch nicht demoralisieren.50 Je länger die Emigration andauert, desto deutlicher wird ihr Gefühl: ich schaffe es, desto couragierter wird sie. Mit ihrer, wie Gabriele Kreis meint, ausgeprägten Fähigkeit zur unsentimentalen und realistischen Einschätzung fremder, bislang unbekannter Situationen verknüpft mit den eigenen Fähigkeiten und zusammen mit ihrer ungewöhnlich stark ausgeprägten Zivilcourage erinnert sie sich an folgende Begebenheit, die sie als »Misslungene Internierung« überschreibt: »1941, nach dem französischen Zusammenbruch, hat das Land gepanikt. Alle Engländer dachten, es gäbe eine deutsche Invasion. Das hieß für die Fremden: Internierung. Ich arbeitete damals bei einer englischen Familie. Eines Tages bekam ich einen Brief, ich solle mich in der Polizeizentrale einfinden. Es hatte nämlich irgend jemand die Idee ge51
habt, aus den Emigranten aus feindlichen Ländern feindliche Emigranten zu machen.«
An dieser Stelle wird deutlich, wie sich die Zuschreibungen der Identitäten von Migrierenden je nach politischer Konstellation verschieben und einen unverkennbaren Einfluss auf das Verhalten der Migrierenden haben. Ihre Befragung beschreibt Hertha Haas so: Der Vorsitzende des Ausschusses der Anhörung fragt: »Sie sind also… – Ich: Ja. – Er: Sie kamen von Italien hierher? – Ich: Ja. – Er: Sie haben als Gesellschafterin gearbeitet? (So war meine Krankenschwesterstelle deklariert, weil ich nur ein ›domestic permit‹ hatte.) – Ich: Ja. Und ich dachte die ganze Zeit: Was für ein Narr das ist! – Er: Warum haben Sie die Stelle aufgegeben? – Ich: Weil die Dame gestorben ist. – Er: Nun, das ist doch kein Grund, die Stelle aufzugeben. – Ich: Hätte ich mich mit ihr lebendig begraben lassen sollen? Hinter mir Gelächter. – Er: Nein, das dachte ich nicht … Dann haben Sie in einer Nervenheilanstalt gearbeitet. Wie war die Arbeit dort? – Ich: Sehr anstrengend. – Er: Sind Sie mit den Patientinnen gut ausgekommen? – Ich: Ausgezeichnet. – Er: Und mit dem Personal? – Ich: Ebenfalls. – Er: Do you think Hitler is mad? – Ich: Ja. – Er: Hätten Sie ihn pflegen können? – Ich: Nein, Sir! – Er: Warum nicht? – Ich: Weil mir der Geduldsfaden sehr bald gerissen wäre. Großes Gelächter. – Er: Ja, Miss Doctor, was würden Sie tun, wenn es eine Invasion gäbe? – Ich: Ich glaube nicht, daß es eine Invasion gibt. Aber wenn es eine gibt, dann werde ich tun, was die Regierung anordnet. Nämlich da bleiben, wo ich bin. – Er: Ja, aber wenn Sie zum Beispiel einem deutschen Soldaten begegnen, der Sie nach dem Weg fragt? – Ich: Dann würde ich so tun, als wenn ich im Leben noch kein Wort Deutsch gehört hätte. – Er: Der Soldat würde aber bestimmt Ihren deutschen Akzent merken! – Ich: O nein! Wenn ich den Mund nicht aufmache, hört er ihn nicht. – Er: Was würden Sie machen, wenn Sie der Soldat mit einem 50 Ebd., S. 73. 51 Ebd., S.73f.
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Revolver bedroht? – Ich dachte: Blöder Kerl. Der würde mich doch totschießen. Sagte aber: Ich würde versuchen, ihm den Revolver aus der Hand zu schlagen! – Er: Und was täten Sie, wenn er mit gezücktem Bajonett auf Sie zukäme? – Nun, habe ich gesagt, dann würde er mich durchbohren, und das wäre das Ende der Geschichte! Gelächter. Es war wie ein Bühnenabgang. Und ich wurde nicht interniert. Ich kam nach Hause und habe alles erzählt. Da hat der Mann gesagt: Nurse, Sie verstehen einfach unsere Mentalität nicht. Sie wissen gar nicht, was der Mann wollte. Er wollte sehen, ob Sie Angst haben. Denn Angst macht Menschen 52
erpressbar.«
Und Gabriele Kreis deutet diese Erinnerung der Emigrantin so: »Richtig. Und falsch – weil zu pauschal. Besser müßte es heißen: Blinde Angst macht erpressbar. Die andere, die ›sehende‹ Angst, die entsteht angesichts realer Bedrohungen, 53
schärft die Sinne und läßt nach Auswegen Ausschau halten.«
Somit ist auch Angst nicht eindeutig zu bewerten, sondern vielmehr ein schillerndes Gefühl, das auch als auf einem Kontinuum angesiedelt betrachtet werden kann.
AUSBLICK Mit diesem Beitrag sollte zum einen ein Einblick in die Figur des Kontinuums eröffnet und zum anderen die mögliche Anwendbarkeit dieser Figur auf literaturwissenschaftliche Analysen exemplarisch aufgezeigt werden. Die vier Dimensionen der Figur des Kontinuums, die körperliche, gefühlte, soziale und die Dimension des Begehrens lassen sich nachzeichnen, wenn es um geschlechtliche Zugehörigkeiten geht, um migrantische Identitäten, um Heimaten und Erinnerungen – und nicht zuletzt auch um Angst. Gabriele Kreis konnotiert dieses Verhalten u.a. auch mit dem Begriff »Frechheit«54 und hier lässt sich nun eine Brücke schlagen zu dem 2009 erschienenen Roman von Robert Cohen Exil der frechen Frauen.55 Zeitlich situiert ist dieser Roman in die Zeit vor und während des zweiten Weltkrieges und wir begegnen hier Maria Osten, Ruth Rewald und Olga Benario, historische Figuren, die alle drei Terrorregimen zum Opfer gefallen sind. Maria Osten, überzeugte 52 Ebd., S. 74ff. 53 Ebd., S. 76. 54 Ebd., S. 73. 55 Cohen, Robert: Exil der frechen Frauen, Berlin: Rotbuch 2009.
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Kommunistin, kann dem stalinistischen Terror in den frühen 1940er Jahren nicht entkommen. Ruth Rewald und Olga Benario, die durch ihr Exil dem Antisemitismus und Antikommunismus Nazideutschlands vorerst entrinnen konnten, fallen schließlich der Shoa zum Opfer. Die drei Hauptpersonen Olga Benario, Ruth Rewald und Maria Osten stellen sich unabhängig voneinander die Frage, ob man sich an sie erinnern wird oder wie künftige Generationen ihr Handeln bewerten werden. Cohen motiviert seinen Roman mit dem Anliegen, dass es ihm um ein Verstehen der drei Protagonistinnen geht und nicht darum, von einem heutigen Standpunkt aus ihre politischen Ansichten zu kritisieren und möglicherweise gar als politische Verblendungen aus den Angeln zu heben. Alle drei Frauen verbindet, dass sie Stalin und der UdSSR ideologisch die Treue gehalten haben. Der Autor kann hierfür Verständnis aufbringen, wenn er in einem Interview zu seinem Roman die Position vertritt, dass es ja sonst niemanden gab, an den man sich angesichts des wütenden Faschismus hätte halten können. 56 Ein, wie weiter oben in der Diskussion um Franz Werfels Text Der Staatenlose, aufgezeigter Fluchtpunkt zu einer göttlichen Instanz57 lässt sich hier nicht finden. Der stalinistische Terror wird Im Exil der frechen Frauen ›übersehen‹, die Protagonistinnen wollen oder können ihn einfach nicht wahrhaben, was umso erschütternder wirken kann, wenn die historischen Realitäten aus der heutigen Zeit mit einem wissenden Blick ausgeleuchtet werden. Neben dieser politischen und ideologischen Ebene geht es in dem Roman aber auch um das Geschlechterverhältnis, wenn, wie ein Rezensent sagt, Einblicke gewährt werden »in die Diskussionen um Kunst und Literatur, in die Gedankenwelt linker Kulturschaffender zu jener Zeit, in die Wahrnehmung der kapitalistischen Wirklichkeit und die Unterschiedlichkeit der Konsequenzen, die engagierte Künstlerinnen und Künstler aus ihr 58
zogen.«
Das Geschlechterverhältnis wird thematisiert, wenn gezeigt wird, wie schöpferisch tätige Frauen sich gegen ihre männlichen Genossen behaupten mussten, was vor allem auf Ruth Rewald und Maria Osten zutrifft, zwei der drei romanes-
56 Redaktion der Zeitschrift DAA (Direkte Aktion) (3. August 2012): Die Widersprüche sind die Hoffnung. Der Roman »Exil der frechen Frauen« erzählt von linker Kultur vor und während des Zweiten Weltkrieges sowie von der Geschichte dreier ihrer Protagonistinnen – und dieser Artikel erzählt von einem Gespräch mit dem Autor Robert Cohen. https://direkteaktion.org/212-widerspruche-sind-die-hoffnung/, zuletzt abgerufen am 28.01.2018. 57 Vgl. Fußnoten 13-17 in diesem Beitrag. 58 Vgl. Fußnote 56 in diesem Beitrag.
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ken Hauptpersonen, die Schriftstellerinnen sind. Deutlich wird, wie unterschiedlich Geschlechterzuschreibungen verhandelt werden, was mit der Figur des Kontinuums noch genauer auszuwerten wäre, wie z.B. auch das Werk von Mahnaz Afkhami Leben im Exil. Frauen aus aller Welt59 oder die literarische Reportage von Navid Kermani Einbruch der Wirklichkeit. Auf dem Flüchtlingstreck durch Europa.60
LITERATUR Achutegui, Ainhoa: »Jeder Tag Weltfrauentag«, in: Luxemburger Wort vom 8.3.2014, S. 3. Afkhami, Mahnaz: Leben im Exil. Frauen aus aller Welt, Stuttgart: Klett 1996. Baltes-Löhr, Christel: Migration und Identität. Portugiesische Frauen in Luxemburg, Frankfurt a. Main/London: IKO 2006. Baltes-Löhr, Christel: »Immer wieder Geschlecht – immer wieder anders. Versuch einer Begriffserklärung«, in: Erik Schneider/Christel Baltes-Löhr (Hg.), Normierte Kinder. Effekte der Geschlechternormativität auf Kindheit und Adoleszenz, Bielefeld: transcript 32018, S. 17-40. Baltes-Löhr, Christel: »Die Figur des Kontinuums am Beispiel von Geschlecht und Migration. Ein Erklärungsansatz für Pluralitäten als Existenzmuster?«, in: Raluca Rădulescu/Christel Baltes-Löhr (Hg.), Pluralität als Existenzmuster. Interdisziplinäre Perspektiven auf die deutschsprachige Migrationsliteratur, Bielefeld: transcript 2016, S. 9-29. Baltes-Löhr, Christel: »What Are We Speaking About When We Speak About Gender? Gender as a Continuum«, in: Cultural and Religious Studies, Vol 6, Number 1, January 2018; New York: David Publishing, DOI:10.17265/2328 2177/2018.01.001, S. 1-32. Baltes-Löhr, Christel: Geschlecht als Kontinuum. Zur Pluralität gelebter Realitäten, Bielefeld: transcript 2019, im Erscheinen. Becker-Schmidt, Regina: »Geschlechterdifferenz – Geschlechterverhältnis: soziale Dimensionen des Begriffs ›Geschlecht‹«, in: Zeitschrift für Frauenforschung 1/2 (1993), S. 37-46. Bischoff, Doerte/Reinhard, Miriam N./Röser, Claudia/Schirrmeister, Sebastian (Hg.): Exil Lektüren. Studien zu Literatur und Theorie, Berlin: Neofelis 2014. 59 Afkhami, Mahnaz: Leben im Exil. Frauen aus aller Welt, Stuttgart: Klett 1996. 60 Kermani, Navid: Einbruch der Wirklichkeit. Auf dem Flüchtlingstreck durch Europa, München: C.H.Beck 2016.
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Brettel, Caroline B.: Men who migrate, women who wait. Population and history in a Portuguese parish, Princeton: University Press 1986. Cohen, Robert: Exil der frechen Frauen, Berlin: Rotbuch 2009. Crenshaw, Kimberlé: »Mapping the Margins: Intersectionality, Identity Politics, and Violence against Women of Color«, in: Stanford Law Review, Jg. 43, H. 6 (1991), S. 1241-1299. Gumbrecht, Hans Ulrich: »Suburbia! Die Metropolen versprechen Freiheit – aber die Kreativzonen liegen heute am Stadtrand«, in: Neue Züricher Zeitung (NZZ) vom 7. Juli 2017, S. 19. Hänßler, Katharina: »Exil und Ironie. Poetologische Verhandlungen von Heimatkonzepten in ausgewählten Gedichten Heinrich Heines«, in: Doerte Bischoff/Miriam N. Reinhard/Claudia Röser/Sebastian Schirrmeister (Hg.), Exil Lektüren. Studien zu Literatur und Theorie, Berlin: Neofelis 2014, S. 12-25. Heide, Anett: »Intersexualität: Hallo, ich bin die dritte Option«, in: Zeit online vom 24.01.2018, http://www.zeit.de/zeit-magazin/leben/2018-01/intersexu alitaet-geschlecht-intergeschlechtlichkeit-identitaet, zuletzt abgerufen am 27.01.2018. Kermani, Navid: Einbruch der Wirklichkeit. Auf dem Flüchtlingstreck durch Europa, München: C.H.Beck 2016. Kimmich, Dorothee/Schahadat, Schamma (Hg.): Kulturen in Bewegung: Beiträge zur Theorie und Praxis der Transkulturalität, Bielefeld: transcript 2012. Knapp, Gudrun-Axeli: »›Intersectionality‹ – ein neues Paradigma feministischer Theorie? Zur transatlantischen Reise von ›Race, Class, Gender‹«, in: Feministische Studien H. 1 (2005), S. 68-81. Kreis, Gabriele: Frauen im Exil. Dichtung und Wirklichkeit, Düsseldorf: claassen 1984. Maihofer, Andrea: Geschlecht als Existenzweise, Frankfurt a. Main: Ulrike Helmer 1995. Nieto, Zoraida: »Keine Frau soll mehr das Anhängsel des Mannes beim Asylverfahren sein! «, in: Die bunte Zeitung, Wien 2002. Schmitt, Eleonore: »Europa jenseits der Nationalstaaten«, in: Doerte Bischoff/ Miriam N. Reinhard/Claudia Röser/Sebastian Schirrmeister (Hg.), Exil Lektüren. Studien zu Literatur und Theorie, Berlin: Neofelis 2014, S. 80-91. Schwarz, Caroline: »Zwischen Selbstverständnis und Selbstbestimmung. Konstruierte Heimat bei Jenny Aloni und Hilde Domin«, in: Doerte Bischoff/ Miriam N. Reinhard/Claudia Röser/Sebastian Schirrmeister (Hg.), Exil Lektüren. Studien zu Literatur und Theorie, Berlin: Neofelis 2014, S. 32-41.
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Vergangenheitsbewältigung und Identitätskonstruktion im Roman von Saša Stanišić Wie der Soldat das Grammofon repariert Svetlana Arnaudova
Abstract: Der Beitrag beschäftigt sich mit der Rolle der verschiedenen Medien der Erinnerung – Schrift, Bild und mündliches Erzählen – im preisgekrönten Roman Wie der Soldat das Grammofon repariert von Saša Stanišić. Dem multiperspektivischen Erzählen kommt dabei eine besondere Funktion bei der Bewältigung von traumatischen Erfahrungen zu. Dem Geflüchteten gelingt es, die tiefen Brüche in seiner Biografie durch Erzählen zu überwinden und das Erinnerte vom kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis zu überführen. Globale und lokale Diskursfelder wie Territorialität, Nationalismus und Transnationalität werden auf der Folie des Bosnienkriegs 1992-1995 und der in Deutschland gelungenen Integration des Emigranten neu verhandelt. Schlüsselwörter: Erinnerung, Trauma, individuelles und kollektives Gedächtnis, Identität, Vielstimmigkeit.
Die großen Themen im Roman Wie der Soldat das Grammofon repariert von S. Stanišić sind die Erinnerung an den Bosnienkrieg 1992-1995 und das Vermögen von Sprache und Literatur, Vergangenheit zu rekonstruieren und zu bewältigen. Der Roman fragt auch danach, wie sich diese Rekonstruktion verifizieren lässt, wie stark das Verhältnis von Geschichte und Narration ist und wie Traumata durch das Erzählen darüber überwunden werden können. In den letzten zwei Jahrzehnten widmen sich Kultur- und Literaturwissenschaft sehr intensiv dem Verhältnis zwischen Erinnerung und ihrer literarischen Repräsentation, was wiederum die Tatsache erklärt, dass das Thema Gedächtnis in Kunst und Litera-
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tur heutzutage Hochkonjunktur hat. Fiktionale und autobiografische Romane, Skulptur, bildende Kunst und journalistische Recherchen befassen sich kontinuierlich mit Themen wie der Brüchigkeit und Unzuverlässigkeit der Erinnerung, mit den ideologischen Vereinnahmungen des öffentlichen Gedenkens und mit der Literatur als einem möglichen und notwendigen Korrektiv der Erinnerung in Geschichte, Psychologie und Soziologie. Trotz der unterschiedlichen terminologischen Bestimmungen herrscht Einigkeit darüber, dass zwei Wesenszüge der Erinnerung der Gegenwartsbezug und ihre Konstruktion aus der Perspektive der Gegenwart sind: »Erinnerungen sind keine objektiven Abbilder vergangener Wahrnehmungen, geschweige denn einer vergangenen Realität. Es sind subjektive, hochgradig selektive und von der Abrufsituation abhängige Rekonstruktionen. Erinnern ist eine sich in der Gegenwart vollziehende Operation des Zusammenstellens (re-member) verfügbarer Daten. Vergangenheitsversionen ändern sich mit jedem Abruf, gemäß den veränderten Gegenwarten. […] Individuelle und kollektive Erinnerung ist zwar nie ein Spiegel der Vergangenheit, wohl aber ein aussagekräftiges Indiz für die Bedürfnisse und Belange der Erinnerungen in 1
der Gegenwart.«
Der Literatur kommt dabei eine wichtige Rolle zu: Als ein besonderer gesellschaftlicher Diskurs und als eine Darstellungsform der individuellen Erinnerung kann sie durch unterschiedliche, oft widersprüchliche Narrationen Erinnerungen aufzeichnen oder in Frage stellen und als ein Medium des individuellen und kommunikativen Gedächtnisses agieren, das später ins kollektive Gedächtnis überführt werden kann. Literatur weist auch spezifische, nur ihr eigene Merkmale bei der Vermittlung von Inhalten des individuellen und kollektiven Gedächtnisses auf. So spricht Ansgar Nünning von ihren fiktionalen Privilegien, durch die kulturelle Wahrnehmungsweisen in der Fiktion neu strukturiert werden.2 Literarische Werke sind auch vielstimmige Medien, die verschiedene Redeweisen und Diskurse zusammenführen und sich einer eindeutigen Auslegung der inszenierten Vergangenheitsbewältigung entziehen. Vor allem der Literatur sind komplexe und ambivalente Vergangenheitsdarstellungen vorbehalten, deren Mehrschichtigkeit und Widersprüchlichkeit durch die Verwendung von Symbolik und Metaphorik weiter verstärkt werden.
1
Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung,
2
Vgl. Nünning, Ansgar: Von historischer Fiktion zu historiografischer Metafiktion,
Stuttgart/Weimar: Metzler 2005, S. 7. Trier: WVT 1995.
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Der vorliegende Aufsatz erkundet daher das Verhältnis von Sprache und Referenzialität bei der Darstellung von traumatischen Erfahrungen von Krieg, Flucht und Vertreibung sowie die Funktion der verschiedenen Medien – Schrift, Bild und mündliches Erzählen – der Erinnerung an katastrophische Erlebnisse. Untersucht wird auch die Rolle des multiperspektivischen Erzählens bei der Bewältigung von traumatischen Erfahrungen. Der Ich-Erzähler versucht, die tiefen Brüche in seiner Biografie durch Erinnerung und durch das Erzählen darüber zu überwinden, wobei dem Wechsel und der Vielstimmigkeit der Erzählinstanzen eine besondere Rolle zukommt. Schon am Anfang des Romans wird das Verhältnis zwischen Sprache und Referenzialität thematisiert. Die Reflexion über das Erzählen ist im Roman die Grundlage, auf der Erinnerungen abgerufen und Schlussfolgerungen über Vergangenheit und Gegenwart, über Ereignisse und Personen gezogen werden. Gleich der Beginn der Erzählung verweist auf die Äquivalenz zwischen Leben und Erzählen: Wenn man über Personen und Ereignisse erzählt, bleiben sie lebendig; das Schweigen darüber verurteilt sie zum Tode: »Weniger am Leben als Opa Rafik kann kein Toter sein«,3 sagt der Ich-Erzähler über seinen verstorbenen Großvater, an den man sich ungern erinnert und von dem keiner redet. Schon das Sprachspiel in dieser kurzen und ambivalenten Aussage verrät einiges über den Erzähler, der sich im ersten Teil des Romans an Orte, Feste und Rituale erinnert, die in Višegrad und in einer glücklichen Kindheit verwurzelt sind: Er ist fest davon überzeugt, dass Sprechen und Erzählen für das Leben stehen und dass Schweigen über Personen diese gewissermaßen zum Tode verurteilt. Das Erzählen hat gleich am Anfang des Romans einen symbolhaften Charakter: Die Fähigkeit, über ein Ereignis erzählen zu können, verwandelt sich allmählich in die Fähigkeit, dieses Ereignis ins kommunikative und kollektive Gedächtnis zu überführen. Das Problem der Kongruenz zwischen Wahrheit und der sprachlichen Referenz darauf, sowie zwischen Erinnerung und Rekonstruktion des Erinnerten wird im Roman immer wieder verhandelt. In der ersten Hälfte des Romans wird dieses Dilemma durch die Perspektive des unentstellten Kinderblicks in einer humorvollen Form thematisiert: Der Serbokroatisch-Lehrer Herr Fazlagić sieht sich gezwungen, den geborenen Erzähler Aleksandar zu warnen:
3
Stanišić, Saša: Wie der Soldat das Grammofon repariert, München: Luchterhand 2006, S. 18. Fortan zitiert unter dem Kurztitel Soldat.
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»Du hast dieses Jahr bei allen Aufsätzen das Thema verfehlt – zügle gefälligst deine Fantasie! […] Und für die direkte Rede, sagt er […] gibt es Anführungszeichen, das weißt du, das brauche ich dir nicht jedes Mal zu erklären.«
4
Was sich hier wie die Mahnung eines Lehrers an den Schüler anhört, markiert die Rolle der Anführungsstriche im ganzen Roman, die mit dem Wechsel der Fokussierung immer wichtiger wird. Am Anfang der Erzählung ist der Unterschied zwischen erlebendem und erzählendem Ich nicht so markant, weil der Erzähler über idyllische friedliche Zeiten berichtet und verschiedene Bilder von harmonischen Familien- und Nachbarschaftsbeziehungen schildert. Als nach Ausbruch des Krieges die serbisch-muslimische Familie zwischen die Fronten gerät und sich auf die Flucht begibt, bedeutet der Perspektivenwechsel immer eine gravierende Zäsur: Einmal ist der Ich-Erzähler Aleksandar, ein anderes Mal berichtet Zoran, die kühle, realistische Erzählinstanz im Roman, aus der IchPerspektive von den Schrecken des Krieges, ein drittes Mal ist diese Ich-Instanz die erschrockene kleine Asija, die stumme Nena Fatima oder der Serbe Radovan Bunda, der von der Ermordung eines ganzen Dorfes erzählt. Bei diesen einschneidenden Zäsuren fehlen die Anführungszeichen. Umso mehr fällt ihr korrekter Einsatz in »Als alles gut war von Aleksandar Kršmanović – Mit einem Vorwort von Oma Katarina und einem Aufsatz für Herrn Fazlagić« auf, welches eine Art Binnenerzählung im zweiten Buch des Romans darstellt. Dies markiert die große Zäsur zwischen der Erzählung vom Krieg und von der Rückkehr nach Višegrad nach zehn Jahren, wo Aleksandar recherchiert, ob alles wahr ist, woran er sich erinnert. In dieser Zäsur wird das korrekte Einsetzen der Anführungszeichen, die Gespräche über Belangloses veranschaulichen und so die Kriegsschrecken umso mehr betonen, ad absurdum geführt: »Das sind keine wirklichen Probleme, Sohn.« »Das ist auch kein wirkliches Gespräch, Vater.« »Grüß mir Herrn Fazlagic.« »Mach ich.« »Das Thema hast du trotzdem verfehlt.« »Aber formal habe ich alles richtig gemacht.«
5
Das Motiv der fehlenden Anführungsstriche wird bereits zu Beginn des Romans als ein symbolischer transitorischer Platz ausgewiesen, tritt immer wieder auf und gewinnt durch die literarische Redundanz im Roman eine besondere symbolische Bedeutung: Die fehlenden Anführungszeichen stehen für die verschwom4
Ebd., S. 84.
5
Ebd., S. 173.
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mene Grenze zwischen dem Sagbaren und nicht Sagbaren, zwischen dem Gedachten und Ausgesprochenen, zwischen dem Wahren und Gelogenen: »Weil jeder alles sagen und denken und nicht sagen darf, und wie sollen Anführungsstriche für nicht gesagtes Denken aussehen, oder für gelogenes Sagen, oder für Denken, das gar nicht wichtig genug ist, um gesagt zu werden, oder für das wichtige Gesagte, das nicht 6
gehört wurde?«
Die Ereignisse bestimmen direkt die Art der Erzählung, nach Boris Previsić bekommt die Erzählfunktion im letzten Teil des Romans, wo Ereignisse nach einem Abstand von zehn Jahren neu erinnert und bewertet werden, eine neue Qualität: »Nicht nur rücken erlebendes und erzählendes Ich rein zeitlich näher zusammen, sondern erst hier wird durch den Kunstgriff offensichtlich, dass hinter dem erzählenden Ich des ersten Teils des Romans nicht einfach ein Kind steht – sondern eine weitere Vermittlungsinstanz, die sich bisher nur versteckt hielt: der im Jahre 2002, also zehn Jahre nach der Flucht aus Višegrad, zurückgekehrte Aleksandar. Die Ich-Erzählinstanzen wechseln nicht nur von Person zu Person, sondern entpuppen erst während des Romans in der ersten Hauptperson die verschiedenen zeitlichen Schichten.«
7
Previšić betont, dass der Roman von Stanišić von anderen Vorlagen ausgeht,8 in denen die Authentizität zwischen Autor und Ich-Erzähler »explizit übergangen wird«.9 Diese auffällige Trennung zwischen Autor und Erzählinstanz sowie die Multiperspektivität des Erzählens aus dem Blickwinkel mehrerer Ich-Erzählerfiguren unterscheiden den Roman von anderen literarischen Werken, die sich mit den jugoslawischen Kriegen befassen,10 und betonen auch durch die Polyphonie der Erzählerstimmen einen anderen Anspruch der Literatur: »Das Ich hat nicht 6
Ebd., S. 87.
7
Previšić, Boris: »Eine Frage der Perspektive: Der Balkankrieg in der deutschen Literatur«, in: Evi Zemanek/Susanne Krones (Hg.), Literatur der Jahrtausendwende. Themen, Schreibverfahren und Buchmarkt um 2000, Bielefeld: transcript 2008, S. 95-106, hier S. 105.
8
Ebd.: Previsić erwähnt als Beispiel die Geschichte einer im Krieg vergewaltigten Frau im Roman Als gäbe es mich nicht (1999) von Slavenka Drakulić und den Tagebuchroman Logiergäste (1995) von Nenad Velicković.
9
Ebd., S. 105.
10 Previšić bezieht sich auf Juli Zehs Die Stille ist ein Geräusch. Eine Fahrt durch Bosnien (2002) und auf Peter Handkes Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien (1996).
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nur (oder weniger) für Authentizität einzustehen, sondern verbürgt vielmehr für ein kollektives Gedächtnis, so schwierig dieser Begriff kulturell auch zu fassen ist.«11 Das ›Verbürgen‹ für das kollektive Gedächtnis, das Aufbewahren von Erinnerung, nimmt im Roman die unterschiedlichsten Formen an: mündliches Erzählen, Aufschreiben von Geschichten, Telefongespräche, Internetrecherchen. Als Medium des Gedächtnisses fungieren Briefe, Bilder, symbolische Orte und Figuren, die Erinnerung an Bücher, das Rauschen eines Flusses. Dem IchErzähler Aleksandar ist die schwere Last und die Verantwortung für das Erzählen bewusst, deswegen versucht er, diese Last loszuwerden: »[…] ich wollte versprechen, das Erinnern in den nächsten zehn Jahren einzustellen, aber Oma Katharina war gegen das Vergessen.«12 Diese Verantwortung ist noch größer im zweiten Teil des Romans, in dem der Erzähler nach Überlebenden und Vermissten in Višegrad sucht und sich verpflichtet fühlt, seine »Erinnerung mit dem Jetzt zu vergleichen.«13 Diese Bemühung um die Objektivität der Erinnerung wird wütend von Zoran unterbrochen, der bisher scheinbar nüchternen und emotionslosen Erzählinstanz im Roman: »Ich erzähl dir mal was für den Vergleich!«14 Darauf folgt der auffällig kurze Bericht über Čika Sead, der aufgespießt wurde und jener über Čika Hasan, der zweiundachtzig Leichen auf Befehl in die Drina werfen musste und danach selbst in die Fluten sprang. Da der Leser einen großen Teil der Kriegsgeschichte schon aus dem ersten Teil des Romans kennt, ermöglicht die wiederholte Erzählung verschiedener Kriegsbilder den kritischen Blick aus einer ganz anderen, distanzierten Perspektive. Erst im Nachhinein werden Sachverhalte und Verhaltensweisen eindeutiger und verständlicher für den Leser. Eine der großen Leistungen des Romans besteht darin, dass keine der erzählenden Instanzen direkte politische Urteile über das Geschehene fällt. Durch das multiperspektivische Erzählen kommen Opfer und Täter gleichzeitig zur Sprache, das menschliche Handeln im Krieg, das Leiden der Opfer, der Mangel an Schuldgefühlen der Täter finden eine angemessene ästhetische Repräsentation – alles wird von verschiedenen Erzählern aus verschiedenen Perspektiven erzählt, die sich ständig ergänzen, widersprechen oder verschieben. Diese Strategie des Verzichts auf ein direktes Urteil macht sich schon im ersten Teil des Romans bemerkbar, wobei die Subversion und die Kritik an der manipulativen Kriegsberichterstattung durch den Kinderblick spielerisch getarnt werden und doch deutlich zum Aus-
11 Ebd., S. 105-106. 12 S. Stanišić: Soldat, S. 131. 13 Ebd., S. 277. 14 Ebd.
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druck kommen. In einem Brief, den das Kind Aleksandar auf der Flucht aus Belgrad schreibt, heißt es: »Višegrad kam gleich im Fernsehen, hier sind diejenigen die Aggressoren, die in unserem Fernsehen die Verteidiger waren, und die Stadt ist nicht gefallen, sondern befreit worden.«15 So verwandelt sich die Erzählung von Aleksandar Kršmanović in eine widerspenstige Instanz, die den Machtdiskursen trotzt und der Bestimmung dessen, was »wahr« ist oder sein sollte. Das Wissen und Berichten von Ereignissen und Befindlichkeiten im Roman entsprechen gerade in dieser Widerspenstigkeit gegenüber offiziellen Erwartungen und institutionalisiertem Wissen den poststrukturalistischen Konzepten vom Archiv als »Gedächtnis der Herrschaft und der Macht.«16 Diese Vorstellung von einer alternativen Geschichtsschreibung wird zuerst in Foucaults Archäologie des Wissens dargelegt, in welcher der französische Philosoph anstelle der hermeneutischen Auslegung von Ereignissen und Aussagen und der Kontinuitätsvorstellungen von Tradition und Entwicklung die Begriffe des Bruchs, der Diskontinuität und der Grenze in die wissenschaftliche Geschichtsanalyse einführt. Dies hängt mit seinem Verständnis von Diskursen zusammen, die nicht nur Dinge und Prozesse bezeichnen, sondern auch der Errichtung von Grenzen des Sagbaren und der Erforschung der Machtwirkungen des Gesagten dienen. Die Verfassung der Erzählinstanzen im Roman korrespondiert also mit Foucaults Vorstellung vom Archiv im metaphorischen Sinne – dieses Archiv versteht man nicht als eine materielle und institutionelle Sammlung und Aufbewahrung von Tatsachen und Ereignissen, sondern vielmehr als etwas, »was gesagt werden kann.«17 »Mit diesem Ausdruck meine ich nicht die Summe aller Texte, die eine Kultur als Dokumente ihrer eigenen Vergangenheit oder als Zeugnis ihrer beibehaltenen Identität bewahrt hat; ich verstehe darunter auch nicht die Einrichtungen, die in einer gegebenen Gesellschaft gestatten, die Diskurse zu registrieren oder zu konservieren, die man im Gedächtnis und zur freien Verfügung behalten will. […] Das Archiv ist zunächst das Gesetz dessen, was gesagt werden kann, das System, das das Erscheinen der Aussagen als einzelner Ereignisse beherrscht. Aber das Archiv ist auch das, was bewirkt, daß all diese gesagten Dinge sich nicht bis ins Unendliche in einer amorphen Vielzahl anhäufen.«
18
15 Ebd., S. 132. 16 A. Erll, Kollektives Gedächtnis, S. 49. 17 Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt a. Main: Suhrkamp, 1973, S. 187. 18 Ebd.
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Stanišićs Roman wendet sich im Sinne Foucaults gegen Stereotype des öffentlichen Sprechens (der öffentlichen Diskurse) von den jugoslawischen Kriegen der 1990er Jahre und gegen die politischen Vereinnahmungen der literarischen Inszenierung von Erinnerung und Gedächtnis. Die Multiplizierung der Erzählinstanzen im literarischen Text entspricht der Multiplizierung der verschiedenen Darstellungsformen des Gedächtnisses, die durch ihre »fiktionalen Privilegien« festgefahrene Klischees vermeiden und viele unerwartete Aspekte des individuellen Erinnerns zur Anschauung bringen. So machen sich die Ursachen des Bosnienkrieges schon während der Beschreibung der idyllischen, friedlichen Zeiten bemerkbar. Der aus einer serbisch-muslimischen Mischehe stammende Aleksandar beschreibt scheinbar unbeteiligt die in den Köpfen der Schulkinder vorherrschenden Denkstereotype: »Ich bin ein Gemisch. Ich bin ein Halbhalb. Ich bin Jugoslawe – ich zerfalle also. Es gab den Schulhof, der sich wunderte, wie ich so etwas Ungenaues sein konnte, es gab Diskus19
sionen, wessen Blut im Körper stärker ist, das männliche oder das weibliche […].«
Und in einer Schlüsselszene des Romans heißt es: »Die Ohrfeige gibt es, weil der morgige Soldat sagt: […] wir dürfen uns nicht alles gefallen lassen, es ist an der Zeit, dass wir den Ustaschas und den Mudschahedin die Stirn bieten, es gibt dafür die Ohrfeige, es gibt verstohlene Blicke zu meiner Mutter und zu meiner Nena Fatima.«
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An derartigen Beispielen wird die sinnstiftende Unterscheidung zwischen erlebendem und erzählendem Ich deutlich, die auf der Vorstellung von einer Differenz zwischen pränarrativer Erfahrung und rekonstruierender Erinnerung beruht, die die Vergangenheit durch Narration überformt. Die erzählte Erinnerung ist auch rückwirkend sinnstiftend: Geschichten, die am Anfang des Romans als Abweichungen vom Haupthandlungsstrang und bloß als Ergebnis der Fabulierlust von Aleksandar betrachtet werden, entfalten erst im Nachhinein ihre volle Bedeutung. Eine dieser Erzählungen ist die des italienischen Ingenieurs Francesco, der zu Beginn von allen bewundert und gemocht wird, der später aber grausam ausgegrenzt und von der auf den ersten Blick sehr toleranten Gesellschaft in Višegrad verstoßen wird, weil jemand das Gerücht verbreitet, er sei homosexuell. In der erzählten Erinnerung wird ein dominantes Männlichkeitsbild aufgedeckt, in dem sich Ethnizität mit einer gefährlichen Vorstellung des Selbst verbindet – serbische Männer sind stark und heterosexuell. Erst nach dem Lesen des 19 S. Stanišić: Soldat, S. 53. 20 Ebd., S. 52
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gesamten Romans erschließt sich diese Erinnerung in ihrer vollen Dimension – die Verflechtung zwischen dominanten Vorstellungen über Ethnie und Geschlecht ist die Ursache für den Krieg und für unerhörte Verbrechen und Grausamkeiten. Der Roman zeigt auch, dass literarische Inszenierungen von Gedächtnis in einem dynamischen Verhältnis zu gesellschaftlichen Erinnerungskonzepten stehen, auf sie einwirken und sich mit diesen wandeln können. Stanišićs Roman ist eines der wenigen literarischen Werke über die jugoslawischen Kriege, in dem keine einseitigen Urteile gefällt werden und in dem das Leid sowohl der muslimischen als auch der serbischen Bevölkerung gezeigt wird. Die Erinnerung an die Grausamkeiten der serbischen Armee ist die Ursache der quälenden Gewissensbisse und der Entfremdung, die Aleksandars Freund Zoran gegenüber der Gegenwart und seiner früher geliebten Stadt Višegrad spürt: »Andere werden gleich auf der Brücke getötet, und am nächsten Morgen knien die Frauen dort und schrubben das Blut ab. […] ich hasse Lastwagen voller Mädchen und Frauen, die zum Vilina Vlas und zum Bikavac fahren, ich hasse brennende Häuser und brennende Fenster, durch die brennende Menschen vor die Gewehre springen.«
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Neben den vielen Szenen der Vertreibung und Ermordung von muslimischen Freunden und Nachbarn und der sexuellen Nötigung muslimischer Frauen erinnert eine eindrucksvolle Erzählung auch an das serbische Leid: Der Serbe Radovan Bunda spricht von der Ermordung aller serbischen Bewohner in seinem Heimatdorf: »Einen sichereren Ort als sein altes Dorf habe er sich nicht vorstellen können […] sagt er: mein Dorf war aber kein Dorf mehr, weil für Dörfer brauchst du Menschen. Ich bin von Tür zu Tür gegangen, alle Schlösser waren aufgebrochen, und in den Schlafzimmern schliefen sie nicht, in den Schlafzimmern lagen sie tot. In Betten, auf roten Kissen. Alle Serben, und wir waren, bis auf ein Haus, alle Serben. Es war das Haus vom guten Mehmed, ich habe geklopft, er hat aufgemacht, er hat gesagt: mein Radovan. Er hat mir seine Hände gezeigt und mich wie einen Bruder umarmt.«
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An der Art und Weise, wie über Vergangenheit berichtet wird, lässt sich ablesen, wie man mit dem Erinnerten fertig wird und es wird die Frage aufgeworfen, ob man imstande ist, traumatische Erlebnisse zu überwinden. Zoran ist wütend über das Geschehene und verfällt in eine erschreckende Schweigsamkeit, die nur ab und zu durch bittere und kritische Bemerkungen unterbrochen wird:
21 Ebd., S. 145. 22 Ebd., S. 272.
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»Weil der scheiß Schnee nichts, nichts, nichts verdeckt, wir aber unsere Augen so gekonnt verdecken, als hätten wir nur das gelernt in all den Jahren der Nachbarschaft und der Brüderlichkeit und der Einheit. Ich hasse es, dass alle alles verurteilen, dass alle auch im Hass die Guten sind, dass ich der Gute bin.«
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Die geschickte Vermischung von Benennen und Verschweigen, die feinfühlige Schilderung von Rechtfertigung und Reue wirft die Frage der Schuld in ihrer Kompliziertheit auf. Durch die Mehrschichtigkeit der sprachlichen Aussage macht der Erzähler auf Probleme aufmerksam, über die keine endgültigen Wahrheiten ausgesprochen werden. Im Schweigen und Erzählen manifestieren sich auch die verschiedenen Herangehensweisen der Vergangenheitsbewältigung. Zorans Verzicht auf das Erzählen drückt seinen Protest gegen die Verstrickung in Schuld und Verbrechen aus, Aleksandars Bemühung um die Wahrheit findet eine andere ästhetische Repräsentation: Er erzählt, schreibt, malt, stellt Listen der Vermissten auf, spricht mit den Überlebenden. Das Sprechen über den Krieg ist seine Art, das Trauma des Schrecklichen zu überwinden. Andererseits stellt es für ihn eine Möglichkeit dar, seine Erinnerung und seine Geschichte über die Vergangenheit zu rekonstruieren. Dieser Zusammenhang zwischen Erlebtem und Erzähltem erinnert z.T. an die psychoanalytischen Zugänge zum Geschichtsbewusstsein im Bereich der US-amerikanischen Holocaust-Forschung,24 die in der deutschen Kultur- und Literaturwissenschaft produktiv rezipiert worden sind. Dominick LaCapra stellt die Verflechtung von Trauma und Narration ins Zentrum seiner Traumatheorie. Er unterscheidet zwei aufeinanderfolgende Mechanismen der Traumaüberwindung, die sich auf die Fähigkeit beziehen, in einem posttraumatischen Zustand zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu unterscheiden. Er spricht von dem Zusammenhang zwischen »acting out« und »working through«: Während des »acting out« erinnert man sich an Szenen der Vergangenheit und unterliegt einem Wiederholungszwang von traumatischen Erlebnissen im Freudʼschen Sinne. In der Phase der Überwindung des Traumas (»working through«) distanziert man sich von der Vergangenheit und ist bereit, sie kritisch aufzuarbeiten. Diese zwei Mechanismen der Vergangenheitsbewältigung finden einen Ausdruck in der Erzählweise in Stanišićs Roman, in welchem der Erzähler ständig auf der Suche nach dem ›Wahren‹ ist, doch nie sicher sein kann, ob es tatsächlich existiert oder nur das Ergebnis seiner Imagination ist. Die Wahrheitssuche und gleichzeitig die Zweifel, ob eine objektive Rekonstruktion der Vergangenheit 23 Ebd., S. 145. 24 Vgl. dazu: LaCapra, Dominick: Writing History, Writing Trauma, Baltimore: Johns Hopkins University Press 2001.
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überhaupt möglich ist, finden in der Gestalt des bosnischen Mädchens Asija eine eindrucksvolle literarische Repräsentation. Der Erzähler erlebt mit Asija die Belagerung von Višegrad, nach der Flucht aus der Stadt schreibt er ihr viele Briefe und zehn Jahre nach dem Krieg versucht er vergeblich, sie zu finden. In seiner Ausweglosigkeit gibt der Erzähler zu, dass er nicht mehr weiß, ob es Asija gibt oder ob er sie erfunden hat. An vielen Stellen im Roman wird dieser Prozess der Wahrheitsfindung und der Vergangenheitsrekonstruktion sowohl durch die Sprache als auch mit Hilfe anderer Medien plastisch vorgeführt. Eine symbolische Bedeutung erhält das Motiv des ›Unfertigen‹, des nicht zu Ende Gesagten und nicht zu Ende Geschriebenen, das den ganzen Roman durchzieht: »Ich bin ein Chefgenosse des Unfertigen.«25 Am Ende wird dieses Motiv umgekehrt: Das Unfertige überwältigt und beherrscht den Erzähler. Diese Transformation findet einen ästhetischen Ausdruck in der symbolischen Bedeutung der unfertigen Bilder, die Aleksandar während des Krieges hinter dem Schrank seiner Oma Katharina versteckt und die er bei seinen Recherchen nach zehn Jahren zu Ende malt. So wird der Prozess der Wahrheitssuche auch durch die zu Ende gemalten Bilder veranschaulicht. Doch der Erzähler zweifelt immer wieder an der Beziehung zwischen Sprache und Referenzialität und sieht sich am Ende des Romans gezwungen, mit dem Erzählen aufzuhören. Dominick LaCapra beschreibt dieses Dilemma anhand eines Zitats des Historikers Frank Ankersmit: »Saying true things about the past is easy – anybody can do that – but saying right things about the past is difficult.«26 Sehr aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch der Bezug zu Cathy Caruths Überlegungen zum Trauma: Caruth stellt einerseits die Unmöglichkeit des traumatischen Erinnerns fest, sich in »narrative memory« zu verwandeln, und betont andererseits die unumgängliche Versprachlichung des Traumas. So plädiert sie für die Verbalisierung von traumatischer Erfahrung, da durch das Erzählen »unverfügbare […] Erinnerungen« präsent werden können: »the transformation of the trauma into a narrative memory that allows the story to be verbalized and communicated, to be integrated into one’s own, and other’s knowledge of the past, may lose both the precision and the force that characterizes traumatic recall.«
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25 S. Stanišić: Soldat, S. 23. 26 D. LaCapra: Writing History, S. 10. 27 Caruth, Cathy: Recapturing the Past: Introduction, in: Dies. (Hg.), Trauma. Explorations in Memory, Baltimore/London: The Johns Hopkins University Press 1995, S. 151-157, hier S. 153.
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Caruth vertritt überdies die Meinung, jedes Trauma sei Geschichte.28 Manchmal seien traumatische Erlebnisse so erschütternd, dass sie den Rahmen des historischen Diskurses sprengen und nur in der individuellen Erinnerung angemessen repräsentiert werden können. Nur in der unkontrollierbaren Wiederkehr des verdrängten Traumas werden die Ausmaße des Schreckens deutlich. Trauma und Repräsentation sind daher wichtige Themen einer kritisch ausgerichteten Forschung zur Erinnerungsgeschichte des Holocaust geworden.29 Mit Recht vermerkt Sigrid Weigel, dass die Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus und an die Shoah in deren Nachgeschichte »eher zunehmen.«30 In ihrer Untersuchung betont sie gleich zu Beginn die Tatsache, dass das Bezugsfeld der Traumaforschung in der Zwischenzeit sehr vielfältig geworden ist, »vor allem durch die Vertreibungen und die ethnischen Kriege der jüngsten Zeit.«31 Im Roman von Stanišić wird gerade diese Kontinuität im Reden über Krieg und Vertreibung und der Bezug zwischen Holocaust und ethnischen Kriegen auf einer literarischen Ebene thematisiert. Als eine Art Zäsur in der Erzählung über Krieg und Vertreibung steht das Kapitel über den Holocaust, das nur durch drei Punkte betitelt ist – ein Symbol für die Unmöglichkeit der Sprache, Ereignisse wie die Ermordung der jüdischen Bevölkerung adäquat zu repräsentieren. Der Erzähler zieht indirekt eine Parallele zwischen dem Trauma der Jugoslawienkriege und dem Holocaust. Nichts wird kommentiert, die Wiederholbarkeit der Geschichte und des Schreckens drängt sich durch die Art und Weise der erlebten Rede des Rabbi Abraham umso mehr auf:
28 Caruth, Cathy: Unclaimed Experience, Trauma, Narrative, and History, Baltimore: Johns Hopkins University Press 1996. 29 Vgl. Weigel, Sigrid: »Télescopage im Unbewußten. Zum Verhältnis von Trauma, Geschichtsbegriff und Literatur«, in: Elisabeth Bronfen/Birgit R. Erdle/Sigrid Weigel (Hg.), Trauma: zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster, Köln: Böhlau Verlag 1999, S. 51-76. 30 Ebd., S. 51. 31 Ebd. Die universalisierende These von Caruth, dass jedes Trauma Geschichte sei, wird von Sigrid Weigel kritisch ins Visier genommen. Weigel setzt sich mit dem Paradigma des »Undarstellbaren« und des »Unaussprechlichen« nach Ausschwitz auseinander und meint, durch dieses Paradigma laufe man Gefahr, »die unablässige Rede über den Holocaust« (ebd., S. 71) aus dem Blick zu verlieren.
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»es zerreißt mir … es zerreißt mich … Waffen … prügeln … schelten … fauchen … fluchen … wie damals […] ein Land der Schläger … nie ruht es sich aus […] nichts habe ich gerettet … nichts … so sind die Kriege …«
32
Die traumatische Erschütterung raubte dem Rabbi die Erinnerung und das Vermögen, zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu unterscheiden, daher verschmelzen sie in seinem Bewusstsein.33 Das Ende des Schreckens ist nur durch ein Beenden des Erzählens darüber möglich: »Der Dreipunktemann erzählte uns, dass man sein Zuhause und seine Synagoge und seine Erinnerung daran, wie man Sätze beendet, geplündert hat.«34 Hiervon berichtet der Rabbi 50 Jahre später anderen Verfolgten und Vertriebenen, wodurch im Roman das Thema des transgenerationellen Gedächtnisses und der transgenerationellen Weitergabe von Traumata angesprochen wird. Gleichzeitig thematisiert der Roman die Möglichkeit der Verarbeitung durch Narration einerseits und das Versagen der Sprache in Momenten katastrophischer Erfahrungen andererseits: »Was geschehen wird, ist so unwahrscheinlich, dass keine Unwahrscheinlichkeit übrig bleibt, um darüber eine erfundene Geschichte zu erzählen.«35 Auf den Holocaust wird auch an anderen Stellen im Roman verwiesen – so wird das transgenerationelle Gedächtnis etwa auch durch einen intertextuellen Bezug präsent. In einem emotionalen Telefongespräch fasst der bis dahin sehr kühl und beherrscht wirkende Zoran die Grauen des Krieges und das Leid der Opfer und Beteiligten beider Seiten zusammen: »Ich hasse die Soldaten. Ich hasse die Volksarmee. Ich hasse die Weißen Adler. Ich hasse die Grünen Barette. Ich hasse den Tod. Ich lese, Aleksandar. Ich lese und liebe das Lesen, der Tod ist ein Meister aus Deutschland, er ist gerade ein Weltmeister aus Bosnien. Ich hasse die Brücke. Ich hasse die Schüsse in der Nacht und die Leichen im Fluss, und ich hasse es, dass man das Wasser nicht hört, wenn der Körper aufschlägt, ich hasse es, dass 36
ich so weit weg bin von allem, von der Macht und von dem Mut.«
Durch den Verweis auf Celans Todesfuge wird nicht nur ein Vergleich zwischen der Shoah und dem Leid der Ermordeten und Vertriebenen in den jugoslawischen Kriegen gezogen, auch ist die Wirkung dieses intertextuellen Bezuges durch die Symbolkraft des Celanʼschen Gedichts viel breiter und assoziativer: 32 S. Stanišić: Soldat, S. 95. 33 Hier ist der psychoanalytische Ansatz von LaCapra für die Traumadeutung besonders geeignet. 34 S. Stanišić: Soldat, S. 96. 35 Ebd., S. 213. 36 Ebd., S. 145.
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Über das Böse wird in verdichteten und gleichzeitig sehr gegenständlichen Bildern berichtet. Der scheinbar sachliche Bericht von Zoran kontrastiert mit den Ausmaßen der Verbrechen, die er so lapidar und nüchtern beschreibt. Renate Lachmann definiert die Intertextualität als das »Gedächtnis des Textes«. 37 Im Roman von Stanišić wird dieses Gedächtnis auch in der Gestalt der Brücke in Višegrad präsent – ein eindeutiger Verweis auf Die Brücke über die Drina von Ivo Andrić, die das jahrhundertelange Leid der Menschen in dieser Balkanregion symbolisiert. Die Gestalt der Drina taucht an mehreren Stellen im Roman auf – einmal ist es der geliebte Fluss, an dem man gern angelt und gern schwimmen geht, ein anderes Mal ist der Fluss Zeuge von unaussprechlichen Verbrechen. Der Fluss rauscht mit zwei Millionen Stimmen und verbindet unzählige Erinnerungen, Menschen und Geschichten. Auf eine besondere Art symbolisiert er auch die Art des Schreibens im Roman – die Polyphonie der Erzählstimmen und das postmoderne Verhältnis zwischen Geschichte und »historiografischem Schreiben«, repräsentiert nicht durch geschlossene, lineare Erzählungen, sondern durch »historiografische Metafiktionen«.38 Der Fluss ist auch »Erinnerungsort« (Pierre Nora)39 und »Erinnerungsfigur« (Jan Assmann),40 ein Topos, in dem sich die Bedeutung der Vergangenheit verdichtet. Im Roman von Stanišić wird die Drina auch zum Topos eines getrennten Erinnerns, das den tiefen Riss in der bosnischen Gesellschaft symbolisiert. Wenn der Ich-Erzähler an die Drina und an seinen geliebten Opa Slavko denkt, erinnert er sich auch an den Friedhof, wo sein Opa begraben liegt und an seinen Onkel Miki, der an diesem heterotopischen Ort die bittere Erkenntnis vom getrennten Erinnern versprachlicht: »[…] es gibt nichts, worauf wir gemeinsam stolz sein würden, Vater, und an nichts sind wir zusammen schuld, als wir das alles sagen, kann niemand mehr wissen, wer gerade wie heftig weint.«41 Dadurch wird dem Erzähler noch einmal bewusst, dass ›wahr‹ und ›richtig‹, Sprache und Referenz nicht identisch sein können. Sein Misstrauen gegenüber der Sprache gipfelt in dem Schlüsselsatz: »Unser Versprechen, immer weiterzuerzählen, breche ich jetzt.« 42
37 A. Erll: Kollektives Gedächtnis, S. 66. 38 Vgl. Lützeler, Paul Michael: Postmoderne und postkoloniale deutschsprachige Literatur, Bielefeld: Aisthesis Verlag 2005. 39 Vgl. Nora, Pierre: Erinnerungsorte Frankreichs, München: C.H. Beck Verlag 2005. 40 Vgl. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München: C.H. Beck Verlag 1992. 41 S. Stanišić: Soldat, S. 310. 42 Ebd., S. 311.
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Die Kontinuität der Erinnerung überlässt Aleksandar der geliebten Drina, in deren Nähe er sich immer aufgehoben und beschützt fühlt. Doch durch das Leben auf der Flucht und durch das Emigrantenschicksal werden dem Fluss auch Erfahrungen des Verlustes und der Entwurzelung zugeschrieben: Die Drina verwandelt sich in eine imaginäre Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Bosnien und Deutschland, zwischen der früheren und der jetzigen Identität des Erzählers: »Es kommt mir vor, als wäre ein Aleksandar in Višegrad und in Veletovo und an der Drina geblieben, und ein anderer Aleksandar lebt in Essen […]. In Višegrad, bei seinen unfertigen Bildern, gibt es einen angefangenen und nicht zu Ende gebrachten Aleksandar. 43
Nicht ich bin mehr Chefgenosse des Unfertigen, das Unfertige ist mein Chefgenosse.«
Durch den Verlust der bosnischen Heimat und der Drina geht ein Stück seiner Identität verloren, was seine Erinnerungen und das Erzählen darüber verändern wird: »Mir fehlt alles, um meine Geschichte als einer von uns zu erzählen: Drinas Mut fehlt mir, die Stimme des Falken, das felsenharte Rückgrat unserer Berge, Walsross’ Unbeirrbarkeit […], die Namen der Bäume.«44 Diese Prozesse des Verlustes und der Integration in der neuen Heimat werden wieder durch die Sprache als ein Medium der Erinnerung zum Ausdruck gebracht. Verwundert stellt Aleksandar fest, dass ihm zum ersten Mal ein Wort im Bosnischen fehlt – das Wort für »Birke«. Andererseits verkündet er stolz, dass er bei einem Sprachspiel in der neuen deutschen Schule »mit Duisburg, Drina, ›Drachenmaul‹, Dragan, Deutschlehrer, Dalmatiner nicht Letzter [wird].«45 Das Ankommen in der deutschen Sprache symbolisiert das Ankommen im anderen Land. Indem Aleksandar die deutsche Sprache lernt und ›sammelt‹, versucht er auch, die schmerzliche Erfahrung zu artikulieren. In der fremden Sprache gelingt ihm das besser, weil dadurch eine Distanz zum Erlebten entsteht: »Ich sammle die deutsche Sprache. Sammeln wiegt die schweren Antworten und die schweren Gedanken auf, die ich habe, wenn ich an Višegrad denke, und die ich ohne Opa Slavko in der Nähe nicht aussprechen kann.« 46
Und langsam denkt Aleksandar daran, auch an der Ruhr angeln zu gehen und die Stadt Essen als seine neue Heimat lieben zu lernen. 43 Ebd., S. 140. 44 Ebd., S. 311. 45 Ebd., S. 140. 46 Ebd.
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So erzählt Stanišić in seinem Roman nicht nur eine bosnisch-jugoslawische Erinnerung, sondern eine moderne europäische Geschichte von Verwurzelung und Entwurzelung, von Entfremdung und Integration, von schmerzhaften Verlusten und von der Hoffnung auf einen glücklichen Neuanfang.
LITERATUR Primärliteratur Stanišić, Saša: Wie der Soldat das Grammofon repariert, München: Luchterhand 2006. Sekundärliteratur Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München: C.H. Beck 1992. Caruth, Cathy: »Recapturing the Past: Introduction«, in: Dies. (Hg.), Trauma. Explorations in Memory, Baltimore/London: The Johns Hopkins University Press 1995, S. 3-12. Caruth, Cathy: Unclaimed Experience, Trauma, Narrative, and History, Baltimore: Johns Hopkins University Press 1996. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart/Weimar: Metzler 2005. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 1973. LaCapra, Dominick: Writing History, Writing Trauma, Baltimore: John Hopkins University Press 2001. Lützeler, Paul Michael: Postmoderne und postkoloniale deutschsprachige Literatur, Bielefeld: Aisthesis 2005. Nora, Pierre: Erinnerungsorte Frankreichs, München: C.H. Beck 2005. Nünning, Ansgar: Von historischer Fiktion zu historiografischer Metafiktion, Trier: WVT 1995. Previšić, Boris: »Eine Frage der Perspektive: Der Balkankrieg in der deutschen Literatur«, in: Evi Zemanek/Susanne Krones (Hg.), Literatur der Jahrtausendwende. Themen, Schreibverfahren und Buchmarkt um 2000, Bielefeld: transcript 2008. Weigel, Sigrid: »Télescopage im Unbewußten. Zum Verhältnis von Trauma, Geschichtsbegriff und Literatur«, in: Elisabeth Bronfen/Birgit R. Erdle/Sigrid Weigel (Hg.), Trauma: zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster, Köln: Böhlau 1999, S. 51-76.
Die Konstruktivität der Erinnerung bei W.G. Sebald Filomena Viana Guarda
Abstract: Anhand des Erzählbandes Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen (1992) und des Romans Austerlitz (1999) wird gezeigt, wie bei Sebald der Erinnerungs- und Identitätsverlust mit Hilfe verschiedener Erzählstrategien und unterschiedlicher Gedächtnismedien aufgearbeitet wird. Im Mittelpunkt des Aufsatzes steht also sein komplexes Spiel mit der Erinnerung und der Spannung zwischen dem Faktischen und der Fiktion. Dabei wird der Leser oft unsicher und ist gezwungen, die Widersprüche innerhalb des Textes selbst aufzulösen. Schlüsselwörter: W.G. Sebald, Unzuverlässigkeit, Geschichte, Erinnerung, Rekonstruktion.
In seiner letzten Rede1 kurz vor seinem Tod sagte Sebald, dass er »im Erhalten einer genauen historischen Perspektive, im geduldigen Gravieren und in der Vernetzung […] anscheinend weit auseinander liegender Dinge« schreibe und behauptete dann an deren Ende: »Es gibt viele Formen des Schreibens; einzig aber in der literarischen geht es, über die Registrierung der Tatsachen und über die Wissenschaft hinaus, um einen Versuch der Restitution.«2 Das heißt also, 1
W.G. Sebald hielt diese Rede am 17. November 2001 anlässlich der Eröffnung des Stuttgarter Literaturhauses und verstarb ungefähr einen Monat später, am 14. Dezember, an den Folgen eines Autounfalls in der Nähe von Norwich (England), in der Gegend, wo der Schriftsteller lebte.
2
Die Rede wurde 2003 mit dem Titel »Ein Versuch der Restitution« nach W.G. Sebalds Tod veröffentlicht und ist Teil des Essaybands Campo Santo (hg. von Sven Meyer, Frankfurt a. Main: Fischer Taschenbuch 2003, S. 240-248, hier S. 243f., 248).
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dass für Sebald die Literatur, genauso wie die Geschichtsschreibung auch, auf die Vergangenheit zurückblickt. Die Literatur jedoch nimmt diesen Rückblick laut Sebald auf eine völlig andere Art vor, um dem Vergangenen Sinn zu verleihen. In einem Gespräch mit Sigrid Löffler im Jahr 1997 hatte der Schriftsteller schon einmal die Gründe dargelegt, die ihn zur Literatur greifen lassen, um geschichtliche Ereignisse zu vermitteln: »Historische Monographien landen in der Fachbibliothek – mit einer Auflage von 1200 Stück. Außerdem: Was die historische Monographie nicht leisten kann, ist, eine Metapher oder Allegorie eines kollektiven Geschichtsverlaufes zu produzieren. Aber erst in der Metaphorisierung wird uns Geschichte empathetisch zugänglich.«
3
Und er fügt noch hinzu: »Das soll aber nicht heißen, daß ich dem Romanhaften das Wort rede. […] Mein Medium ist die Prosa, nicht der Roman.«4 Damit unterstreicht er die Wichtigkeit, die die Dimension des Realen in seiner literarischen Fiktion einnimmt. Vor allem nach seinem unerwarteten Tod im Dezember 2001 wird Sebalds Werk intensiv rezipiert und dabei sind die verschiedensten Themen und Aspekte erforscht worden, die von der Gedächtnisthematik bis zu der Intertextualität und der Intermedialität, von der Problematik des Exils und der Heimat, bis zu den negativen Folgen der Modernität für Mensch und Natur und der Obsession mit dem Holocaust reichen.5 Alle Forscher heben seine enzyklopädischen Kenntnisse der politischen, sozialen und kulturellen Geschichte Europas hervor, alle loben seinen Stil und erwähnen das geschickte Einflechten von verschiedenen Materialien in seinen literarischen Diskurs. In den vier von ihm veröffentlichten Prosawerken – Schwindel, Gefühle (1990), Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen (1992), Die Ringe des Saturn. Eine Englische Wallfahrt (1995) und Austerlitz (2001) – macht Sebald Gebrauch von einem anonymen Ich-Erzähler, der unbestreitbare autobiografische Züge trägt und der ein unermüdlicher Reisender ist, der sich stets Gedanken
Für eine eingehendere Lektüre der vorliegenden Rede siehe Weller, Shane: »Unquiet Prose: W.G. Sebald and the Writing of the Negative«, in: Jeannette Baxter/Valerie Henitiuk/Ben Hutchinson (Hg.), A Literature of Restitution. Critical Essays on W.G. Sebald, Manchester: Manchester University Press 2013, S. 56-73. 3
Löffler, Sigrid: »›Wildes Denken‹. Gespräch mit W.G. Sebald«, in: Franz Loquai,
4
Ebd.
5
Vgl. Richard Sheppard, zit. n. J. Baxter/V. Henitiuk/B. Hutchinson: A Literature of
W.G. Sebald, Eggingen: Edition Isele 1997, S. 135-145, hier S. 137.
Restitution, S. 5.
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über die ›Unheilsgeschichte‹ des 20. Jahrhunderts macht, oder genauer, über ihre Wirkung auf die Biographien, die von ihm erzählt werden.6 In diesem Beitrag möchte ich mich mit der Figur des ›sebaldschen‹ Erzählers auseinandersetzen sowie mit seinen Erzählverfahren in zwei seiner Prosawerke: in Die Ausgewanderten, einem 1992 veröffentlichten Prosaband, der ihm, nach seiner Übersetzung ins Englische, die internationale Anerkennung brachte, 7 und in Austerlitz, einem 2001, also kurz vor seinem Tod, veröffentlichten ›Roman‹, in dem die gleichen narrativen Strategien verfeinert angewandt werden. Die Figur des Erzählers bei Sebald wird zwar in der Forschung im Hinblick auf andere Themen häufig betrachtet. Jedoch bedarf ihre Funktion als wesentliches Mittel des ›unzuverlässigen Erzählens‹ meiner Ansicht nach einer systematischen Analyse, da sie für das Verständnis seiner Prosawerke ausschlaggebend ist: Auf der einen Seite wendet er bestimmte narrative Strategien an, um beim Leser einen ›Realitätseffekt‹ zu erzielen; auf der anderen Seite wird dies so angegangen, dass gleichzeitig Zweifel an der Glaubwürdigkeit aufkommen, wodurch Widersprüchlichkeit und Unruhe entstehen. Dieses Erzählspiel zwischen ›Authentizität‹ und ›Fiktion‹ führt dem Leser die Konstruiertheit der Geschichte und der Erinnerung vor Augen, ebenso wie die Schwierigkeit des Gedächtnisses und die Grenzen der Sprache, wenn man mit dieser die Realität als solche wiedergeben will. In diesen beiden Prosawerken ist der Erzähler als ›erzählendes Ich‹ auf der einen Seite der ›Vermittler‹ zwischen den Protagonisten und dem Leser. Ande-
6
Der sebaldsche Ich-Erzähler ist ein im Dorf ›W‹ geborener Deutscher, der mit seiner Lebensgefährtin ›Clara‹ in Norfolk (England) lebt und im Herbst 1966 sich entschieden hatte, sein Studium in Manchester fortzuführen (siehe z.B. den Beginn der ersten und der letzten Erzählung von Die Ausgewanderten), wobei er später, nämlich im Sommer 1969, in die Schweiz zieht, um dort als Schullehrer zu arbeiten. Der Schriftsteller W.G. Sebald wurde in Wertach im Süden Deutschlands geboren. Er lebte lange Jahre in England, in der Gegend von Norwich, und war mit einer österreichischen Frau, Ute, verheiratet. 1966 ging Sebald als Lektor an die Universität von Manchester und 1968/89 gab in einer Schweizer Schule in St. Gallen Unterricht (vgl. Jaggy, Maya: »Recovered Memories«, in The Guardian vom 22.09.2001, online unter www.theguardian.com/books/2001/sep./22/artsandhumanities.highereducation, zuletzt abgerufen am 31.08.2016). Zu den biographischen Ähnlichkeiten zwischen dem Erzähler in Austerlitz und dem Autor selbst vgl. den Essay von Astrid Oesmann (»Sebald’s Melancholic Method: Writing as Ethical Memory in Austerlitz«, in: Monatshefte 106/3 (2014), S 452-471).
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Die erste Übersetzung in die englische Sprache ist von 1996.
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rerseits offenbart derselbe Erzähler als ›erzähltes Ich‹ Daten seiner eigenen Biographie, insbesondere seiner Reisen und Gemütszustände, und kann so als Vermittler zwischen dem Autor und seinen Protagonisten aufgefasst werden.8 Diese in der Figur des Erzählers enthaltene Duplizität findet sich auch in der Struktur beider Werke, die zwei Textebenen aufweist, welche oft ineinander verflochten sind: Die erste Ebene bildet eine Art Erzählrahmen, in dem der IchErzähler Episoden aus seinem eigenen Leben schildert; auf der zweiten Textebene findet man die Binnenerzählungen, die aus den Lebensgeschichten seiner Protagonisten bestehen. Claudia Öhlschläger erforschte ›narrative und diskursive Rahmenstrukturen‹ bei Sebald und hob deren paradoxale Funktion hervor: »Der Rahmen bleibt dem Gerahmten äußerlich und ist doch an der Konstitution seines Innern beteiligt. Rahmen und Gerahmtes treten auf diese Weise in eine spannungsreiche Beziehung, da sie erstens nicht klar voneinander abzugrenzen sind, und zweitens in ihrer Existenz einander bedingen.«
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Um die Vorgehensweise der Duplizität zu erläutern, betrachten wir also die beiden Texte Sebalds genauer.
I. In Die Ausgewanderten zeigt jede der vier Erzählungen diese doppelte Struktur: Ein anonymer Ich-Erzähler versucht die Lebensgeschichte von vier Figuren zu rekonstruieren, die aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen gezwungen wurden, ein anderes Land aufzusuchen, wo sie es aber nicht schaffen, glücklich 8
Anlässlich eines Gesprächs mit Jaggy erklärt Sebald die Rolle seines Erzählers auf die folgende Art und Weise: »I try to let people talk for themselves, so the narrator is only the one who brings the tale but doesn’t install himself in it. [...] I content myself with the role of the messenger« (M. Jaggy: »Recovered Memories«, in The Guardian, 22.09.2001, online unter www.theguardian.com/books/2001/sep./22/artsandhumani ties.highereducation, zuletzt abgerufen am 31.08.2016). Am Ende eines von Marco Poltronieri geführten Interviews kann man hinsichtlich des Werks Die Ausgewanderten Folgendes lesen: »Ich beschreibe das Leben anderer Leute, die in einem gewissen Verhältnis zu mir standen.[...] Der Erzähler muß die Karten auf den Tisch legen, aber auf möglichst diskrete Art« (Poltronieri, Marco: »Wie kriegen die Deutschen das auf die Reihe? Ein Gespräch mit W.G. Sebald«, in: F. Loquai, W.G. Sebald, S. 139-144, hier S.144).
9
Öhlschläger, Claudia: »Unabschließbare Rahmen. Wege des Erzählens bei W.G. Sebald«, in: Irene Heidelberger-Leonard/Mireille Tabah (Hg.), W.G. Sebald. Intertextualität und Topographie, Berlin: LIT 2008, S. 167-184, hier S. 176.
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zu sein. Dabei greift er auf verschiedene Quellen zurück: seine eigenen Erinnerungen, Gespräche mit Augenzeugen, aber auch auf Dokumente und Fotografien aus den Nachlässen sowie auf den Besuch der Orte, die deren Leben prägten. Diese Quellen werden dann so in die Fiktion eingebunden, dass der Leser nicht zu unterscheiden vermag, was tatsächlich authentisch, und was Fiktion ist. Als Carole Angier ihn fragte, ob seine vier Ausgewanderten tatsächlich existiert haben, antwortete Sebald wie folgt: »Im Wesentlichen ja, mit einigen kleinen Veränderungen«, wobei er daraufhin den Prozess genauer erklärte: »Alles Wichtige entspricht der Wahrheit […] Die Erfindung kommt meist auf der Ebene kleiner Details ins Spiel, um l’éffet du réel zu erzielen«.
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Dieses Erzählspiel mit dem Realen ist auf die Figur des Ich-Erzählers übertragbar, die dem Leser erlaubt, seinen eigenen Schreibprozess zu verfolgen, der geschaffen wurde, um die »Geistesverarmung und Erinnerungslosigkeit der Deutschen«11 zu bekämpfen, wie er selbst gegen Ende seiner vierten Erzählung behauptet. Es ist jedoch zu erwähnen, dass der Erzähler nicht nur durch die Einbindung wundersamer Details und unwahrscheinlicher Zufälle die Aufmerksamkeit des Lesers fesselt – es ist vor allem die Art und Weise, wie das Ganze erzählt wird, die dazu führt. Anhand zweier konkreter Beispiele lässt sich das illustrieren: Gleich in der ersten Erzählung, als der Ich-Erzähler den Grund für sein Interesse an der Figur des Dr. Selwyn zu erklären versucht, sagt er: »Wie ich mich erinnere oder wie ich mir vielleicht jetzt nur einbilde […]«;12 in der letzten Erzählung gebraucht er ähnliche Ausdrücke, wie z.B. »wenn ich mich recht entsinne« oder »wie ich mich jetzt zu erinnern glaube«,13 um sein Interesse für die Biographie des Malers Max Aurach zu begründen. Der Erzähler selbst gibt also explizit zu, nicht zwischen Realität und Fiktion unterscheiden und auch nicht begründen zu können, woher sein Schreibimpuls kommt, wie man aus seinen Überlegungen heraus schließen kann: »Doch haben, wie mir in zunehmendem Maße auffällt, gewisse Dinge so eine Art, wiederzukehren, unverhofft
10 Angier, Carole: »Wer ist W.G. Sebald? Ein Besuch beim Autor der ›Ausgewanderten‹«, in: F. Loquai (Hg.), W.G. Sebald, S. 43-50. Sebald gibt diese Antwort auf die folgende Frage von Carole Angier hinsichtlich der Geschichte von Ambros Adelwarth: »Schrieb Ihr Großonkel wirklich ein Tagebuch?« (ebd., S. 48). 11 Sebald, W.G.: Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen, Frankfurt a. Main: Fischer Taschenbuch 22006, S. 338. 12 Ebd., S. 36. 13 Ebd., S. 234.
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und unvermutet, oft nach einer sehr langen Zeit der Abwesenheit«.14 Und er scheut auch nicht davor zurück, bewusst auf seine eigene Phantasie zurückzugreifen, wie man in der Lebensgeschichte von Paul Bereyter, seinem ehemaligen Grundschullehrer, beobachten kann: »[Ich] sah ihn hingestreckt auf dem Geleis. Er hatte in meiner Vorstellung, die Brille abgenommen und zur Seite in den Schotter gelegt.«15 In der Geschichte von Ambros Adelwarth lässt er sogar seine Tante Fini, die Augenzeugin, die ihm bei der Rekonstruktion des Lebens seines Großonkels beisteht, zugeben, dass »der Erinnerungsverlust durch phantastische Erfindungen ausgeglichen«16 wird. Es ist klar, dass die Einsicht der eigenen Grenzen der Figur des Erzählers einen gewissen Wahrheitsgehalt verleiht, doch andererseits nimmt sie ihm auch Glaubwürdigkeit. Dora Osborne sieht hier einen Konflikt zwischen dem ›Einblick‹, den der Erzähler in die Biographien der Ausgewanderten erreicht, und der Art wie dieser, da er explizit als begrenzt verstanden wird, zu deren ›Verdunkelung‹ beiträgt. Osborne nennt diese Technik ›effacement in exhibition‹ und bezeichnet sie als Resultat der ›Postmemory‹-Sichtweise des Autors.17 In seinen Prosatexten bedient sich Sebald zudem der Zeitgeschichte und der Reflexion, aber auch der dokumentarischen Bildcollage und der Phantasie, wenn die Logik des Diskurses dies verlangt. Und entschlossen, den Erzähler realistisch wirken zu lassen, um beim Leser noch größere Empathie zu erzeugen, gesteht Sebald dem Erzähler sogar ethische Zweifel zu. In der Erzählung von Max Aurach kann man beispielsweise lesen:
14 Ebd., S. 36. 15 Ebd., S. 44. 16 Ebd., S. 149. 17 Osborne behauptet: »Access is given to the emigrants’ pasts only in the act of its limitation, and it is the narrator who self-consciously performs the inscription of these limits which reflect his own restricted knowledge« (Osborne, Dora: »Memoirs of the Blind: W.G. Sebald’s Die Ausgewanderten«, in: J. Baxter/V. Henitiuk/B. Hutchinson (Hg.), A Literature of Restitution, S. 102f.). Es sei dennoch angemerkt, dass Russell J.A. Kilbourn argumentiert, man finde in Sebald keine wahre ›Postmemory‹, so wie diese von Hirsch definiert wird, da der ›sichere‹ Zeuge fehle (vgl. Kilbourn, Russel J.A.: »The Question of Genre in W.G. Sebald’s ›Prose‹ (Towards a Post-Memorial Literature of Restitution)«, in: J. Baxter/V. Henitiuk/B. Hutchinson (Hg.), A Literature of Restitution, S. 260).
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»Es war ein äußerst mühevolles […] Unternehmen, bei dem ich fortwährend geplagt wurde von einem immer nachhaltiger sich bemerkbar machenden und mehr und mehr mich lähmenden Skrupulantismus«.
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Auch die Sorge des Erzählers um die zeitlich und örtlich weiter weg liegenden Geschehnisse, die ihm von Nebenfiguren nahegebracht werden, ist auf explizite und sich wiederholende Art und Weise immer auch im Text selbst zugegen. Durch den Gebrauch von Ausdrücken wie z.B. »sagte er mir«,19 »sagte Dr. Seldwyn«,20 »erzählte mir Mme Landau«21 oder »fuhr die Tante Fini fort«22 verrät der Erzähler, dass sein Bericht sich auf Informationen aus zweiter Hand stützt: Bevor der Erzähler von ihnen erfahren hat, waren die Geschehnisse schon von anderen Personen in anderen Orten und Zeiten verstanden worden. In einem im September 2001 mit der britischen Kulturjournalistin Maya Jaggi geführten Gespräch erklärt Sebald, was er damit bezweckt: »It’s the opposite of suspending disbelief and being swept along by the action […]; it’s to constantly ask, ›What happened to these people, what might they have felt like?‹ You can generate a similar state of mind in the reader by making them uncertain«. 23 Die gewählte Strategie in der Struktur seiner Prosawerke hat dann zum Ziel, den fiktionalen Pakt mit dem Leser zu beenden. Laut Fabienne Liptay und Yvonne Wolf präsentiert sich ein literarischer Text als ›unzuverlässig‹, wenn die durch den Erzähler eingeführte Geschichte
18 Ebd., S. 344. Vgl. Wagner, Hans-Ulrich: »Audioarchäologe auf den Spuren eines archäologischen Erzählers«, in: F. Loquai, W.G. Sebald, S. 198-199. 19 W.G. Sebald: Die Ausgewanderten, S. 20. 20 Ebd., S. 34. 21 Ebd., S. 85. 22 Ebd., S. 135. 23 Übersetzung der Verfasserin: »Es ist das Gegenteil von Unglaubwürdigkeit abzulassen und sich von der Handlung mitziehen zu lassen [...]; man muss sich ständig fragen, ›Was ist mit den Menschen geschehen, wie haben sie sich gefühlt?‹ Man kann einen ähnlichen Geisteszustand beim Leser hervorrufen, indem man ihn verunsichert« (Jaggy, Maya: »Recovered Memories«, in The Guardian vom 22.09.2001, online unter www.theguadian.com/books/2001/sep./22/artsandhumanities.highereducation, zuletzt abgerufen am 31.08.2016).
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»Widersprüche und Brüche aufweist, die nicht auf Fehler des Autors oder auf Selbstironie des Erzählers zurückzuführen sind und Zweifel an dessen Kompetenz oder Glaubwürdigkeit wecken, die sich als Ironisierung des Erzählers durch den Diskurs erklären lassen.«
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Das heißt also, dass die ›erzählerische Unzuverlässigkeit‹ sowohl auf das ungenügende Wissen des Erzählers zurückgeführt werden kann, als auch auf die zweideutige und indirekte Art und Weise, wie er erzählt. Dadurch zwingt er den Leser zu einer aktiven Lektüre und fordert von ihm, über das Gelesene ethisch zu richten, ohne jedoch zu vergessen, wie schwer es ist, Verantwortung für Gewissheiten zu übernehmen.25
II. Auch in Austerlitz lässt sich eine ähnliche Struktur finden: Auf der ersten Textebene erscheint ein Ich-Erzähler, der abermals ein distanzierter Zuhörer einer besonderen Lebensgeschichte ist und der zudem im Hinblick auf sich selbst nur wenig Gewissheiten hat. Obwohl dieser Ich-Erzähler durchaus in der Lage ist, sich mit Klarheit und Genauigkeit über die ihn umgebende physische Welt auszudrücken, schafft er es weder, seinen angespannten Gemütszustand zu erklären, noch die Gründe zu benennen, die ihn zu so häufigen Reisen zwingen, auch wenn der Bericht über diese Erlebnisse erst viele Jahre später passiert und obschon er sich sonst als sehr gebildet herausstellt.26 Mit seinem Protagonisten Jacques Austerlitz, von dem der Erzähler behauptet, er habe ihn zufällig kennen-
24 Einleitung zu dem von den Autorinnen Fabienne Liptay und Yvonne Wolf herausgegebenen Werk mit dem Titel Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film (München: edition text+kritik 2005, S. 12-18, hier S. 13). 25 Diese aktive Rolle des Lesers wurde in den letzten Jahrzehnten sehr intensiv von der Narratologie studiert. Nachdem die von Wayne Booth in den 1960er Jahren etablierte Beziehung zwischen dem Erzähler und dem impliziten Autor (›implied author‹) ins Abseits geraten ist (vgl. Booth, Wayne C.: The Rhetoric of Fiction, Chicago/London: The University of Chicago Press 1969), konzentriert sich die Forschung auf die Beziehung zwischen Text und Leser. Siehe hinsichtlich dieser narratologischen Frage zum Beispiel das von Ansgar Nünning herausgegebene Buch mit dem Titel Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur (Trier: WVT Wissenschaftlicher Verlag 2013). 26 Vgl. Shields, Andrew: »Neun Sätze aus Austerlitz«, in: Akzente: Zeitschrift für Literatur 1 (2003), S. 63-72.
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gelernt,27 gibt es fast keinen Dialog: Der Erzähler beschränkt sich darauf, die Geschichte so zu erzählen, wie er sie gehört hat, ohne Kommentare oder Erklärungen zu ergänzen. Es handelt sich also, wie Andrew Shields es nennt, um eine »Geschichte vom Hörensagen«: Austerlitz erzählt seine Lebensgeschichte mündlich dem Erzähler, der sie festhält, wobei die häufige Einbindung von Diskursen, die explizit anderen Figuren zugeschrieben werden, diese Wirkung des mündlichen Erzählens noch steigert.28 Tatsächlich ist es nicht nur Austerlitz, der dem Erzähler seine Geschichte erzählt: Vorher schon hatte sein tschechisches Kindermädchen Vĕra dem Protagonisten seine Version erzählt wie auch Agáta, die Mutter, oder Maximilian, der Vater, wiederum Vĕra erzählt hatten. Dies führt dazu, dass der Ausdruck »sagte Austerlitz« wiederholt im Text auftaucht, oft auch erweitert durch »so sagte Vĕra, sagte Austerlitz«,29 oder noch länger »Deine Mutter Agáta, so begann sie Vĕra, glaube ich, sagte Austerlitz«,30 um nur zwei Beispiele zu nennen.31 Der mündliche Bericht ist übrigens nicht immer zuverlässig, und das Gedächtnis ist selektiv und weist oft Lücken auf, was auch dieser Text dem Leser in Erinnerung ruft, indem er ihm einen Protagonisten vorstellt, der die Erinnerungen an seine frühe Kindheit in Böhmen komplett verloren hat. Und hier muss noch hinzugefügt werden, dass der mündliche Bericht des Protagonisten an den Erzähler zunächst auf Französisch und dann auf Englisch geschieht, während der Erzähler ihn auf Deutsch niederschreibt, das heißt also, dass die Niederschrift der gehörten Geschichte als übersetzte Vermittlung verstanden werden muss. Und eine Übersetzung ist bekanntlich auch nur eine mögliche Version.32 Durch den Zugriff auf verschiedene Quellen und durch die Tatsache, dass seit dem ersten Treffen zwischen dem Erzähler und dem Protagonisten im Jahre
27 Da die wundersamen Zufälle das gesamte Werk Sebalds durchstreifen, spricht Marcel Atze sogar von einer »Koinzidenzpoetik« (in: F. Loquai, W.G. Sebald, S. 152). 28 A. Shields: »Neun Sätze aus Austerlitz«, S. 67. 29 Sebald, W.G.: Austerlitz, Frankfurt a. Main: Fischer Taschenbuch 22003, S. 244. 30 Ebd., S. 243. 31 Es ist jedoch nicht zu verneinen, dass der Erzähler derjenige ist, der die gesamte, von ihm vernommene Geschichte ›ins Leben ruft‹ und sie dem Leser weitergibt. Das heißt, dass das ›Erinnern‹ nach seinem eigenen Willen geschieht. Dem Leser wird die Geschichte also nur in dem Maße bekannt gegeben, die der Erzähllust des Erzählers entspricht. 32 Vgl. Huyssen, Andreas: »Gray Zones of Remembrance«, in: David E. Wellbery (Hg.), A New History of German Literature, Cambridge/Massachusetts/London: The Belknap Press of Harvard University Press 2004, S. 970-975, hier S. 971.
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1967 und der Niederschrift seiner Lebensgeschichte Jahrzehnte vergangen sind, macht Sebald also seinen Leser auf indirekte Art und Weise sowohl auf die Schwierigkeiten mit dem Gedächtnis und dem Erinnern von traumatischen historischen Ereignissen aufmerksam, als auch auf die Schwierigkeit, diese zu verstehen und zu bewerten. Der Protagonist Austerlitz erscheint demnach als allegorische Figur, die eine historische Vergangenheit verkörpert, welche sich weder vergessen, noch verstehen lässt; er ist gleichzeitig Opfer und Zeuge. 33 Wie auch André Hilary, die Figur des Geschichtslehrers des jungen Austerlitz im Internat in Stower Grange, wohin dieser mit zwölf Jahren geschickt wird, behauptet, ist das Verhältnis des Menschen zur Geschichte »eine Beschäftigung mit immer schon vorgefertigten, in das Innere unserer Köpfe gravierten Bildern, auf die wir andauernd starrten, während die Wahrheit irgendwoanders, in einem von keinem Menschen noch entdeckten Abseits liegt«.
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Es ist genau diese ›versteckte Wahrheit‹, an die sich Sebald mit Hilfe der Fiktion heranzuarbeiten versucht. Dafür scheut er nicht davor zurück, wie schon erwähnt, auch von Dokumenten und Fotografien Gebrauch zu machen, aber er wird sie so manipulieren, dass sie, wie er in einem Interview zugibt, »lebensfähig«35 werden. Die Fotografie z.B. ist eng mit der Realität verbunden, aber die
33 A. Shields: »Neun Sätze aus Austerlitz«, S. 69. Für weitere Details über die Herkunft des Namens Austerlitz, dessen erste Niederschrift aus dem 17. Jahrhundert stammt, vgl. Atze, Marcel/Loquai, Franz (Hg.): Sebald. Lektüren, Eggingen: Edition Isele 2005, S. 203. 34 W.G. Sebald: Austerlitz, S. 109. 35 In dem Interview von Carole Angier mit Sebald steht: »Ich denke, daß die Mehrheit des von mir benutzten faktischen oder persönlichen Materials in der Form, in der es präsentiert wird, durchaus lebensfähig ist« (C. Angier: »Wer ist W.G. Sebald?«, S. 50). Man betrachte folgendes konkrete Beispiel: A. Köhler macht auf ein von Sebald anlässlich seines Besuchs in Theresienstadt gemachtes Bild von sich selbst aufmerksam, auf dem man schwer erkennbar den Schriftsteller in der Auslage eines Trödelladens sieht. In Austerlitz wird dieses Foto dem Protagonisten zugeschrieben (S. 284285) (vgl. Köhler, Andrea: »Verabredungen in der Vergangenheit. Das Archivierungswerk des Schriftstellers W.G. Sebald«, in: Merkur: deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 59/4, S. 343-349, hier S. 349). Es sei in dieser Hinsicht hier auf Susan Sonntag hingewiesen, die zu der Funktion der Fotografie sagt, dass sie »not so much an instrument of memory as an invention of it or a replacement« ist (Sonntag, Susan: On Photography, Harmonndsworth: Penguin 1979, S. 165). Und Kilbourne gebraucht den Begriff ›adaptation‹, wenn er die Art und Weise erwähnt, wie Sebald die
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Fiktion bei Sebald versucht, diese Realität zu untergraben. Betrachten wir ein konkretes Beispiel: In einer interessanten Arbeit über die Rolle der Fotografie in diesem Text Sebalds analysiert Silke Horstkotte detailliert die drei Bilder, die die Schilderung der Episode am Bahnhof der Liverpool Street ergänzen. In Bezug auf das erste Bild hebt sie die große Widersprüchlichkeit zwischen dem, was das Bild zeigt, und dem, was der Text beschreibt, hervor: Der Protagonist erklärt dem Erzähler, wie der Bahnhof damals war, immer voll von Menschen, die aus den Zügen ein- und aussteigen und erwähnt zudem, dass der Bahnhof unterirdisch war und deshalb sehr dunkel. 36 Aber, wenn der Leser nun die dazugehörige Fotografie betrachtet, die den Bahnhof vor dem Umbau Ende der 1980er Jahre zeigt,37 sieht er weder Züge noch Menschen, er sieht nur einen von Licht durchfluteten Raum.38 Auf die Frage Sigrid Löfflers nach der Authentizität der in seinem Werk gebrauchten Bilder antwortet Sebald folgendermaßen: »Beim Großteil der Bilder handelt es sich um authentische Dokumente. Nur hin und wieder hat ein Bild die gegenteilige Funktion – nämlich den Leser zu verunsichern, was die Authentizität des Textes betrifft.«
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Wie gezeigt werden konnte, sind die Diskrepanzen zwischen dem, was diese zwei Texte Sebalds erzählen, der Art und Weise wie es getan wird und dem, was
Quellen seiner Informationen in einem Text einbindet. (R.J.A. Kilbourne: »The Question of Genre«, S. 254). 36 W.G. Sebald: Austerlitz, S. 188-189. 37 Ebd., S. 189. 38 Siehe Horstkotte, Silke: »Fantastic Gaps: Photography Inserted into Narrative in W.G. Sebald’s Austerlitz«, in: Christian Emden/David Midgley (Hg.), Science, Technology and the German Cultural Imagination. Papers from the Conference ›The Fragile Tradition‹, Cambridge 2002, Band 3, Bern u.a.: Peter Lang 2005, S. 269-286. Zur Funktion der Fotografie im Werke Sebalds gibt es unzählige veröffentlichte Studien. Folgende seien hier genannt: Tischel, Alexander: »Aus der Dunkelkammer der Geschichte. Zum Zusammenhang von Photographie und Erinnerung in W. G. Sebalds Austerlitz«, in: Michael Niehaus/Claudia Öhlschläger (Hg.), W. G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei, Berlin: Erich Schmidt 2006, S. 31-45; Shaffer, Elinor: »W.G. Sebald’s Photographic Narrative«, in: Rüdiger Görner (Hg.), The Anatomist of Melancholy. Essays in Memory of W.G. Sebald, München: iudicium 2003, S. 51-62; Crownshaw, Richard: »Reconsidering Postmemory: Photography, the Archiv, and Post-Holocaust Memory in W.G. Sebald’s Austerlitz«, in: Mosaic: A Journal for the Interdisciplinary Sudy of Literature 37/4 (2004), S. 215-236. 39 S. Löffler: »Wildes Denken«, S. 137.
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dabei gezeigt wird Teil einer Erzählstrategie, die den Leser dazu zwingt, sich mit den Widersprüchen innerhalb des Textes auseinanderzusetzen, indem er vor allem die Glaubwürdigkeit der Erzählinstanz in Frage stellt. Jener Instanz eben, die der Orientierung im Leseprozess dienen sollte. Durch die literarische Form der unzuverlässigen Erzählweise wird somit bei Sebald ein Doppelziel erreicht: Auf der Figurenebene wird die Schwierigkeit des historischen Wissens und der Erinnerung thematisiert, und auf der Ebene der erzählerischen Vermittlung werden dann die Mechanismen von deren Konstruktion enthüllt.
LITERATUR Primärliteratur Sebald, W.G.: Austerlitz, Frankfurt a. Main: Fischer Taschenbuch 22003. Sebald, W.G.: Campo Santo, hg. von Sven Meyer, Frankfurt a. Main: Fischer Taschenbuch 2003. Sebald, W.G.: Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen, Frankfurt a. Main: Fischer Taschenbuch 22006. Sekundärliteratur Angier, Carole: »Wer ist W.G. Sebald? Ein Besuch beim Autor der ›Ausgewanderten‹«, in: Franz Loquai (Hg.), W.G. Sebald, Eggingen: Klaus Isele 1997, S. 43-50. Atze, Marcel/Loquai, Franz (Hg.): Sebald. Lektüren, Eggingen: Edition Isele 2005. Baxter, Jeannette/Henitiuk, Valerie/Hutchinson, Ben: »Introduction: ›A quoi bon la literature?‹«, in: Dies. (Hg.), A Literature of Restitution. Critical Essays on W.G. Sebald, Manchester: Manchester University Press 2013, S. 1-12. Booth, Wayne C.: The Rhetorik of Fiction, Chicago: University of Chicago 1969. Horstkotte, Silke: »Fantastic Gaps: Photography Inserted into Narrative in W.G. Sebald’s Austerlitz«, in: Christian Emden/David Midgley (Hg.), Science, Technology and the German Cultural Imagination. Papers from the Conference ›The Fragile Tradition‹, Cambridge 2002, Band 3, Bern: Peter Lang 2005, S. 269-286. Huyssen, Andreas: »Gray Zones of Remembrance«, in: David E. Wellbery (Hg.), A New History of German Literature, Cambridge/Massachusetts/ London: The Belknap Press of Harvard University Press 2004, S. 970-975.
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Jaggy, Maya: »Recovered Memories«, in: The Guardian vom 22.09.2001, online unter www.theguardian.com/books/2001/sep./22/artsandhumanities. highereducation, zuletzt abgerufen am 31.08.2016. Kilbourn, Russell J.A.: »The Question of Genre in W.G. Sebald’s ›Prose‹ (Towards a Post-Memorial Literature of Restitution)«, in: Jeannette Baxter/Valerie Henitiuk/Ben Hutchinson (Hg.), A Literature of Restitution. Critical Essays on W.G. Sebald, Manchester: Manchester University Press 2013, S. 247-264. Köhler, Andrea: »Verabredungen in der Vergangenheit. Das Archivierungswerk des Schriftstellers W.G. Sebald«, in: Merkur: deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 59/4 (2005), S. 343-349. Liptay, Fabienne/Wolf, Yvonne (Hg.): Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film, München: editiontext+kritik 2005. Löffler, Sigrid: »›Wildes Denken‹. Gespräch mit W. G. Sebald«, in: Franz Loquai, W.G. Sebald, Eggingen: Edition Isele 1997, S.135-145. Nünning, Ansgar (Hg.): Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur, Trier: WVT Wissenschaftlicher Verlag 22013. Oesmann, Astrid: »Sebald’s Melancholic Method: Writing as Ethical Memory in Austerlitz«, in: Monatshefte 106/3 (2014), S. 452-471. Öhlschläger, Claudia: »Unabschließbare Rahmen. Wege des Erzählens bei W.G. Sebald«, in: Irene Heidelberger-Leonard/Mireille Tabah (Hg.), W.G. Sebald. Intertextualität und Topographie, Berlin: LIT 2008, S. 167-184. Osborne, Dora: »Memoirs of the Blind: W.G. Sebald’s Die Ausgewanderten«, in: Jeannette Baxter/Valerie Henitiuk/Ben Hutchinson (Hg.), A Literature of Restitution. Critical Essays on W.G. Sebald, Manchester: Manchester University Press 2013, S. 94-110. Poltronieri, Marco: »Wie kriegen die Deutschen das auf die Reihe? Ein Gespräch mit W.G. Sebald«, in: Franz Loquai (Hg.), W.G. Sebald, Eggingen: Edition Isele 1997, S. 139-144. Sheppard, Richard: »Woods, Trees, and the Spaces in Between: A Report on work published on W.G. Sebald 2005-2008«, in: Journal of European Studies 39.1 (2009), S. 79-128. Shields, Andrew: »Neun Sätze aus Austerlitz«, in: Akzente: Zeitschrift für Literatur 1 (2003), S. 63-72. Sonntag, Susan: On Photography, Harmonndsworth: Penguin 1979. Viana Guarda, Filomena: »Memória, História e Ficção: A complexa construção da recordação em W.G. Sebald«, in: Filomena Viana Guarda/Luísa Afonso
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Soares (Hg.), Discursos da Memória: espaço, tempo e identidade, Lisboa: Centro de Estudos Alemães e Europeus e Edições Colibri 2008, S. 57-76. Wagner, Hans-Ulrich: »Audioarchäologe auf den Spuren eines archäologischen Erzählers«, in: Franz Loquai, W.G. Sebald, Eggingen: Edition Isele 1997, S. 198-207. Weller, Shane: »Unquiet Prose: W.G. Sebald and the Writing of the Negative«, in: Jeannette Baxter/Valerie Henitiuk/Ben Hutchinson (Hg.), A Literature of Restitution. Critical Essays on W.G. Sebald, Manchester: Manchester University Press 2013, S. 56-73.
Old chap und American boy Identität und Akkulturation in Joseph Roths Hiob László V. Szabó
Abstract: Der Beitrag fragt nach Identitätskonstrukten und Akkulturationsprozessen in einem der bekanntesten Romane der deutschsprachigen Exilliteratur, Joseph Roths Hiob. Das Hiob-Motiv wird zum einen als eine identitätsstiftende Textkonstituente gedeutet, zum anderen als Bindeglied zwischen den beiden im Roman geschilderten Kulturräumen (Russland bzw. Amerika). ›Kulturraum‹ wird dabei gebraucht als eine Erweiterung von Juri Lotmans Begriff des semiotischen Raums um kulturelle Inhalte. Der Kulturraum ›Zuchnow‹ wird seinerseits in einen Mikroraum jüdischen Familienlebens bzw. in einen Makroraum Osteuropa um 1900 differenziert, anschließend werden beide in semantischer Opposition zum Kulturraum ›Amerika‹ behandelt und mit Fragen nach den Möglichkeiten und Grenzen der Akkulturation ergänzt. Schließlich wird dem Kulturraum der Begriff eines (fiktionalen) Sprachraumes subsumiert, indem Sprachmischphänomene als Illustrationen eines individuell variierenden Akkulturationsprozesses betrachtet werden. Schlüsselwörter: Emigration, Identität, Akkulturation, Kulturraum, Sprachraum, Sprachmischung.
Hiob (1930), eines der bekanntesten Werke der klassischen Moderne und (neben dem Radetzkymarsch) einer der berühmtesten Romane des deutsch-jüdischen Schriftstellers Joseph Roth, ist ein eminentes Stück deutschsprachiger Exilliteratur. Der Roman entstand zwar – etwa im Unterschied zu Hermann Brochs Vergil-Roman oder Thomas Manns Doktor Faustus – noch bevor der Autor tatsächlich ins Exil (wenngleich nicht in die USA, wie die Protagonisten des Romans) ging, dennoch lässt er sich ohne Vorbehalte zur genannten literarischen Kategorie zählen. Denn, geht man etwa von der Definition des Handbuchs der deutsch-
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sprachigen Exilliteratur aus, gehören all jene Werke bzw. Texte zur ›Exilliteratur‹, in denen »die Erfahrung des Exils zur Sprache kommt«, ja auch solche, »die das Exil thematisieren, ohne dass die Autorinnen und Autoren selbst im Exil waren.«1 Unter den sechzig, für das Handbuch exemplarisch ausgewählten Werken, die auch »transnationale, transkulturelle und transhistorische Ansätze« der Exilforschung illustrieren sollen, fand Joseph Roths Hiob ebenfalls einen wohlverdienten Platz.2 Darin spielt das Thema Exil bzw. die Emigration einer ostjüdischen Familie aus Russland in die USA am Anfang des 20. Jahrhunderts eine zentrale, wenngleich keine ausschließliche Rolle. Einen solchen langen Migrationsweg hat Joseph Roth selbst allerdings nicht mitgemacht (er emigrierte lediglich nach Frankreich), zur Zeit der Entstehung des Romans erlebte er vielmehr eine tiefe Krise, rang mit der geistigen Erkrankung seiner Frau, ihrer Einweisung in eine Nervenanstalt bzw. in ein Sanatorium bei Wien. Aber das Ausgangsmilieu des Romans, jenes Schtetl3 in Russland, in dem der Toralehrer Mendel Singer und seine Familie ihr armseliges Leben vor der Emigration fristen, ist durchaus vergleichbar mit der Geburtsstadt des Autors, dem galizischen Brody, das damals unweit von der russischen Grenze lag. Das Leben und die Mentalität der osteuropäischen Juden waren Joseph Roth durchaus bekannt, er thematisierte sie mit viel Einfühlungsvermögen auch in der Erzählung Der Leviathan oder im Essay Juden auf Wanderschaft. Der Hiob-Roman ist aber selbst innerhalb seines Œuvres ein hervorragendes Meisterwerk über das Schicksal osteuropäischer Juden, dessen Dramatik durch die Thematisierung einer Emigration in die Vereinigten Staaten am Vorabend des Ersten Weltkriegs – der ebenfalls in die Handlung einspielt – nur noch gesteigert wird. Mit Hiob schloss sich Joseph Roth einer – nicht nur literarischen – Tradition an, die nach einer Neu- oder Umdeutung, bzw. produktiven Anverwandlung des biblischen Hiob-Stoffes bzw. Hiob-Motivs strebte. Verweisen die heute bereits zum Standardwortschatz des Deutschen gehörenden (wenngleich etwas inflationär gebrauchten) Ausdrücke ›Hiobsbotschaft‹ oder ›Hiobsnachricht‹ auf eine Schreckensnachricht, eine bedrückende, schockierende Botschaft, so weiß die literarische Rezeption des Hiob-Stoffes von Heinrich Heine durch Nelly Sachs
1
Bannasch, Bettina/Rochus, Gerhild (Hg.): Handbuch der deutschsprachigen Exilliteratur: Von Heinrich Heine bis Herta Müller, Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2013, Einleitung, XI.
2
Vgl. Susman, Margarete: »Joseph Roths Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes«, in: B. Bannasch/G. Rochus, Handbuch der deutschsprachigen Exilliteratur, S. 541-549.
3
Osteuropäische Siedlung mit hohem jüdischem Bevölkerungsanteil.
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etwa bis Paul Celan eine lange Bearbeitung- und Deutungstradition hinter sich. Die Geschichte des biblischen Hiob lässt sich dabei verstehen als die Bewährungsprobe eines standhaften frommen Menschen, dessen fester Gottesglaube eine Reihe von Schicksalsschlägen zu überstehen hat und der trotz aller Leiden bis zu einem entscheidenden Wendepunkt unerschütterlich in seinem Glauben bleibt. Man hat bereits darauf hingewiesen, dass das biblische Hiob-Buch an sich bestimmte literarische Merkmale wie Rahmengeschichte, Dialog, Steigerung (vom Besitzverlust bis zur lebensbedrohlichen Erkrankung) oder Erzählstil zeigt,4 ja, man hat es aufgrund seiner dramatischen Struktur sogar mit Shakespeares Hamlet oder Goethes Faust verglichen:5 Wohl ist dieser ›literarische‹ Aspekt des Hiob-Buches ein Grund mehr, warum es so inspirierend auf Künstler und Dichter mehrerer Jahrhunderte wirkte. Schwerwiegender als dieser ist aber jene Hiobsfrage von existenzieller sowie religions- und kulturgeschichtlicher Relevanz, die von Heine einmal kurz und bündig wie folgt formuliert wurde: »Aber warum muss der Gerechte soviel leiden auf Erden?«6 Hiobs Geschichte ist eine beunruhigende Glaubens- und Leidensgeschichte mit besonderer Symbolkraft, die in jeder Zeit ihre Fragen an den Leser richtet und existenzielle, glaubensbedingte Antworten erheischt. Dafür, dass Hiobs bzw. Heines Frage ihre Aktualität auch im zwanzigsten Jahrhundert alles andere als verloren hat, lieferte Joseph Roth ein eloquentes Beispiel.
KULTURRAUM ›ZUCHNOW‹ Roth hat seine eigene Hiobsgeschichte erfunden und sie in einen kulturgeschichtlichen Kontext platziert, der sich aus einem osteuropäischen und einem amerikanischen Kulturraum – bzw. semantischen Raum im Sinne Jurij Lotmans – am Anfang des 20. Jahrhunderts zusammensetzt. Der im Roman konturierte osteuropäische Kulturraum, inszeniert in einem kleinen Schtetl mit dem fiktiven 4
Dieterichs, Walter: »Vom unerklärten Leiden. Eine literarische, historische und theologische Einführung in das Hiob-Buch«, in: Hartmut Spieker (Hg.), Hiob: Auseinandersetzungen mit einer biblischen Gestalt, Zürich: Theologischer Verlag 2006, S. 927, insb. S. 14-15.
5
Vgl. Herwig, Henriette: »Was die Welt im Innersten zusammenhält: Faust als neuzeitlicher Hiob?«, in: H. Spieker (Hg.), Hiob, S. 49-65.
6
Zit. nach Bodenmeier, Alfred: »Heines Hiob«, in: Thomas Krüger et al. (Hg.), Das Buch Hiob und seine Interpretationen: Beiträge zum Hiob-Symposium auf dem Monte Verità vom 14.-19. August 2005, Zürich: Theologischer Verlag 2007, S. 411-419, hier S. 412.
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Namen Zuchnow, beschränkt sich größtenteils auf das Leben einer jüdischen Gemeinschaft bzw. einer jüdischen Familie, so dass man bereits deshalb der frappanten Formulierung von Dieterichs nur Recht geben kann: »Das Hiob-Sein wird bei Roth zum Jude-Sein.«7 Diese Art Übertragung der Hiobsgeschichte auf das jüdische Schicksal überhaupt ist wohl keine Übertreibung angesichts der Geschichte des jüdischen Volkes von der babylonischen Gefangenschaft etwa durch das Schicksal der Juden in Osteuropa bis hin zu Auschwitz: Folglich brauchte auch Roth keine besondere Aus- oder Umdeutung des Hiob-Buches, um es im Kontext einer jüdischen Geschichte in Russland um 1900 mit Sinn zu erfüllen. Die Hiobsgeschichte hat in Roths Roman, wie für eine jüdische Selbstbestimmung überhaupt, eine gleichzeitig sinngebende und identitätsstiftende Funktion. Sie bildet einen Deutungsrahmen, der nicht nur den ersten Teil des Romans mit der Lebens- und Milieubeschreibung einer armen jüdischen Familie, sondern auch den ›amerikanischen Teil‹ der Handlung umfasst. Dies umso mehr, als der explizite Hinweis auf den biblischen Hiob und sein Schicksal erst gegen Ende des Romans auftaucht, als Mendel einer definitiven Verzweiflung anheimfällt, während seine Freunde mit Anspielungen auf das Hiob-Buch ihn zu trösten suchen. Hat der Titel ›Hiob‹ eine klare semantisch-interpretative Vorausdeutungsfunktion, so wird die Parallele zwischen dem Schicksal Mendels und des biblischen Hiob im dramatischen Dialog mit seinen Freunden nach dem Verlust seines Sohnes und seiner Frau nur noch bekräftigt. Damit steht er als ein moderner Hiob vor dem Leser, der die Klagen seines biblischen Vorbildes gegen die Ungerechtigkeit Gottes und die Grausamkeit des Schicksals diesmal unter modernen Lebensumständen trotz allen zivilisatorischen Glücksverheißungen hartnäckig, ja ostentativ wiederholt. Gleichwohl stellt es sich heraus, dass das gelobte Land Amerika mit seinem Dollar-Glück nichts am Wesen und an der Tragik des menschlichen Schicksals rühren bzw. nichts gegen die Unausweichlichkeit eines Leidenswegs bewirken kann. Amerika beansprucht zwar, dank seines weltlichen Vermögens und seiner starken – doch nicht omnipotenten – Integrationskraft, den Nimbus eines modernen Kanaans, doch erweist es sich letztendlich als ohnmächtig gegen die individuelle Tragik. Die banale Frage, ob Geld beglücken kann, erhält im Falle Mendel Singers eine eindeutig negative Antwort, während die andere, nämlich was denn sonst einen Menschen glücklich machen könne, den Fragenden in den Bereich der Identität bzw. Zugehörigkeitsprobleme überleitet. Denn kein Geld der Welt, scheint Joseph Roth zu sagen, kann den Verlust
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W. Dieterichs, Vom unerklärten Leiden, in: H. Spieker (Hg.), Hiob, S. 25.
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an sozialen Anhaltspunkten und einem identitätsbestimmenden Zugehörigkeitsgefühl ersetzen. Hiob, der den Untertitel »Roman eines einfachen Menschen« trägt, ist nicht zuletzt ein Roman über das Unglück. Letzteres liegt in bestimmendem Maße begründet in der Geschichte der Juden im russischen Kaiserreich, deren Schicksal sich besonders nach dem Attentat gegen Zar Alexander II. im Jahr 1881 grundsätzlich verschlechterte. Es folgten bald darauf brutale Übergriffe, Pogrome, Plünderungen, Vergewaltigungen, diverse gesetzliche Einschränkungen (die sogenannten Maigesetze) usw., die die Juden teils zu passivem Widerstand, teils zu Radikalisierung (besonders der Jugendlichen) anregten und nicht zuletzt ihre Auswanderung entschieden vorantrieben. Für die administrative Schikane der russischen Bürokratie bringt der Roman selbst ein Beispiel, als der in öffentlichen Angelegenheiten schlechtweg unbewanderte Singer zur Besorgung von Ausreisedokumenten vor einem sogenannten Urjadnik (einer Art Polizeibeamten)8 erscheinen muss: In der kafkaesken Szene russischer Ausprägung wird er zum erbärmlichen Spielobjekt bürokratischer Befehlshaberei. Mit der Auswanderung der Singers schildert Joseph Roth ein Fallbeispiel: Zwischen 1881 und 1914 sind etwa zwei Millionen Juden aus Russland emigriert, viele davon landeten in den USA. Plausibel ist auch die Geschichte des Sohnes Schemarjah, der vor dem zaristischen Militärdienst flüchtet, um später seine Familie aus den USA zu unterstützen bzw. bei der Auswanderung weiterer Familienmitglieder eine entscheidende Hilfe zu leisten, da es zahlreiche ähnliche Fälle im damaligen Russland gegeben haben kann. Die aus Russland bzw. Osteuropa ausgewanderten Juden bildeten die dritte Emigrationswelle in die USA, 9 denen aber trotz materiellen Aufschwungs ein mehr oder weniger manifester Antisemitismus auch dort nicht erspart blieb. Das Heimatland der osteuropäischen Juden wird in Roths Roman in einem Kulturraum mit eigenen Objekt- und Figurenrelationen gleichsam en miniature abgebildet. Zu ihm gehören traditionsgeprägte Denk- und Handlungsweisen von identitätsbestimmendem und -erhaltendem Charakter. Juri Lotman hat bekanntlich eine Semiotik des Raumes in Erzähltexten begründet, den er als die »Ge-
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Zur Bezeichnung ›Urjadnik‹ im Zaren-Russland bzw. im Romankontext vgl. Richter, Matthias: Die Sprache jüdischer Figuren in der deutschen Literatur (1750-1933). Studien zu Form und Fiktion, Göttingen: Wallstein 1995, S. 318.
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Vgl. Glazer, Nathan: American Judaism. Second Edition, Chicago/London: The University of Chicago Press 1988, S. 60-78.
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samtheit homogener Objekte« beschrieb.10 Diese werden aber nicht nur in concreto, lediglich als Gegenständlichkeiten wie ein Haus oder ein Zimmer, sondern vielmehr abstrakt-metaphorisch bzw. als Relationen etwa von Erscheinungen, Zuständen oder Figuren verstanden. Letztere werden ihrerseits nicht in ihrem puren, statischen Vorhandensein im Text, sondern in Bewegungs- und Handlungsräumen, letztendlich im Kontext ihrer (Mikro- oder Makro-)Kulturräume betrachtet.11 Der Mikro-Kulturraum der Familie Singer in der russischen Kleinstadt wird durch tiefverwurzelte Glaubenshandlungen bestimmt; insbesondere sind die Gesten und Reaktionen des Vaters Mendel Singer, der seine Familie durch Unterrichten unterhält, in der altehrwürdigen jüdischen Tradition verankert. Solch ein Familienleben in ärmlichen Verhältnissen war den meisten Juden in Russland um 1900 beschieden, wobei alte Bräuche und Glaubensformeln das harte Leben in Balance zu halten scheinen. Vor allem die Lebensweise und Identität des alten Singer wird durch die (alt-)jüdische Glaubenstradition bedingt, während sich seine Frau und noch mehr seine Kinder einen mehr oder weniger aktiven Widerstand gegen die Überzeugungen und die Handlungsschwäche des Familienoberhauptes leisten. Seine Reaktion selbst bei tiefen Erschütterungen, wie durch die scheinbar unheilbare Krankheit seines kleinsten Sohnes, bleibt diejenige einer – religiös legitimierten – Resignation: »Wer hilft einem armen Lehrer, und womit soll man mir helfen? Welche Hilfe erwartest du von den Menschen, wo Gott uns gestraft hat?«12 Schicksalsschläge als Strafe Gottes zu deuten und anzunehmen gehört zu den ältesten jüdisch-christlichen Glaubensthesen, inspiriert nicht zuletzt vom biblischen Hiob-Buch selbst, vorhanden auch in der Literatur seit dem Mittelalter (so im Armen Heinrich13). Der Grund jedweden Leidens wird dementsprechend auf eine Transzendenz projiziert, die gleichzeitig den Bedarf nach Handlung vermindert oder gar als überflüssig erscheinen lässt:
10 Vgl. Dennerlein, Katrin: Narratologie des Raumes, Berlin: Walter de Gruyter 2009, S. 29. 11 Die Unterscheidung Mikro- vs. Makro-Kulturraum scheint einen Sinn zu haben, wenn man jenen auf einen kleineren (Erzähl-)Raum, etwa, wie hier, den Handlungsraum einer Familie einschränkt, während der Makro-Kulturraum eine größere Kulturregion impliziert. Allerdings schließen sich die zwei Kulturraumformen nicht aus, vielmehr durchdringen und bestimmen sie einander. 12 Roth, Joseph: Hiob. Roman eines einfachen Menschen, Frankfurt a. Main: Fischer 2014, S. 36. 13 Vgl. Aue, Hartmann von: Der arme Heinrich, hg. von Hermann Paul, neu bearbeitet von Kurt Gärtner. Berlin/New York: Walter de Gruyter 172001.
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»Was willst du, Deborah, […] die Armen sind ohnmächtig. Gott wirft ihnen keine goldenen Steine vom Himmel, in der Lotterie gewinnen sie nicht, und ihr Los müssen sie in 14
Ergebenheit ertragen.«
Der Hiob in der Bibel lehnt sich zwar gegen die als göttliche Ungerechtigkeit empfundenen Martern auf, doch wird dies von Mendel Singer erst gegen Ende des Romans, nämlich nach mehreren weiteren Schicksalsschlägen in Amerika, gewagt – im russischen Schtetl zeigt er noch keine Spur einer Empörung. Diese Passivität wird von seiner Frau Deborah immer weniger akzeptiert, die mit seinen biblischen Weisheiten nicht vorliebnehmen kann und selbsthelfende Einzelhandlungen unternimmt (geheimes Sparen eigenen Geldes, Besuch des Rabbis zwecks Heilung von Menuchim, dem Sohn). Mit Frau Deborah tritt eine Frauenfigur in den Vordergrund, der, im Unterschied zur Frau des biblischen Hiob, ein viel größerer Handlungsraum im Roman gewährt wird. Während im Hiob-Buch das Zentralmotiv des Leidens auf Hiob selbst konzentriert wird, scheint Deborah die vollständig Mit-Leidende, wohl sogar – zumindest im ersten Teil des Romans – die am meisten Leidende zu sein. Sehr herzergreifend ist z.B., wie sie im Friedhof dermaßen laut vor Schmerzen schreit, dass ihr Geschrei im ganzen Städtchen gehört wird. Gleichzeitig ist sie im Unterschied zu ihrem Mann eine durchaus entschlossene Figur, der es sogar gelingt, zumindest einen ihrer Söhne vor dem zaristischen Militärdienst zu erretten. Schemarjahs Desertion bzw. seine (illegale) Auswanderung in die USA führen anschließend zum Wendepunkt des Romans, als ihm die Eltern und die Schwester nachreisen. Allerdings müssen der kleine körperlich beeinträchtigte Menuchim und sein Bruder Jonas, der aus eigenem Entschluss dem russischen Militär beitritt und später im ausbrechenden Weltkrieg aus dem Handlungsraum des Romans verschwindet, zurückgelassen werden. Der Mikro-Kulturraum als Handlungs- und Leidensraum der jüdischen Familie Singer ist nur auf den ersten Blick integer und homogen. Religion und Tradition könnten zwar theoretisch ein stabiles Familienleben und eine kohärente, widerstandsfähige Identität stiften, doch wollte Roth offenbar keine unrealistische Familienidylle, sondern vielmehr geschichtlich überprüfbare Identitäts- und Schicksalskrisen mit möglichst einfachen Erzählmitteln darstellen. Die Brüche innerhalb der Familie zeigen sich u.a. in der wachsenden körperlichen Entfremdung zwischen den Eltern, oder in den Eskapaden der Tochter Mirjam, der zum Schrecken der Familie gerade ein verhasster Kosake 15 den Hof macht: »Vor dem 14 J. Roth: Hiob, S. 38. 15 In mehreren Pogromen verfolgten und vernichteten die Kosaken seit dem 17. Jahrhundert die jüdischen Bevölkerungsgruppen.
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Wort ›Kosaken‹, das sie [Mirjam] gesagt hatte, war Deborah erschrocken. Es war, als ob erst der Klang ihr die Furchtbarkeit des Tatbestands bewußtgemacht hätte.«16 Das größte Unglücksereignis erfolgt aber, als sich die Behinderung Menuchims herausstellt. Hinzu kommt die Einberufung zum russischen Militärdienst für die beiden älteren Söhne, was besonders die Mutter zur Verzweiflung bringt. Die Schicksalsschläge erfahren dann, im zweiten Teil des Romans, im Kulturraum Amerika, eine Steigerung, durchaus vergleichbar mit dem Leidensweg des biblischen Hiob. Das Hiob-Schicksal wird von Roth indessen nicht lediglich kulturgeschichtlich motiviert, sondern wird ergänzt mit individuellen Unglücksgeschehen, die der Familie Singer selbst innerhalb der jüdischen Gemeinschaft einen besonderen Unglücksstatus verleihen. Dieser wird gepaart mit einer bitteren Dosis Selbstbeschuldigung – das Unglück ihrer Kinder erklärt Deborah mit dem Beruf ihres Mannes17 – und sogar mit hochmütiger Selbstverachtung: Mirjam nennt ihren kleinen Bruder einen »Idioten« und rät ihrer Mutter, mit ihr allein nach Amerika auszuwandern.18 Damit impliziert das Hiob-Motiv im Roman auch ausgeprägte Spannungsverhältnisse innerhalb der Familie, die ihren Unglückszustand nur noch verstärken. Mit dem Unglück der Singers wird zudem das Glück der Familie Billes kontrastiert, auch wenn ihr Leben manche Parallelen zu jenem der Singers zeigt: Alle Billes-Söhne sind dem russischen Militär entgangen bzw. nach Kalifornien, Hamburg und Paris ausgewandert. Ihr (anscheinendes) Glück macht Mendels Lebensempfindung noch unerträglicher: »Es war Mendel unmöglich, im Angesicht dieser glücklichen Familie mit dem schweren Übergewicht seines großen Unglücks auf dem Rücken dazustehn«.19 Blickt man also über den Mikroraum des Singer-Hauses hinaus, so erscheint das Bild der jüdischen Gemeinschaft etwas nuancierter, auch wenn der Drang nach Emigration, zumindest bei den jüngeren Generationen, omnipräsent war. Doch fokussiert Roth lieber auf eine Familie, bei der auch die ältere Generation von der Emigration betroffen ist, wodurch er das Problem der Integration im Exil noch komplexer bzw. dramatischer darstellen kann.
16 J. Roth: Hiob, S. 67. 17 Ebd., S. 80. 18 Ebd., S.82. 19 Ebd., S. 85.
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KULTURRAUM ›AMERIKA‹ Im zweiten Teil des Romans wird eine Art ›globaler‹ Kulturraum nachgezeichnet, repräsentiert durch die Großstadt New York, an einer Stelle wird noch Atlantic City erwähnt. Dieser steht mit dem Kulturraum ›Zuchnow‹ in Opposition, wird aber von ihm nicht ganz isoliert. Denn das semiotische Feld ›Amerika‹ wird gleichsam vorweggenommen in der Vorstellungswelt der Singers, die ihre Ausreise hoffnungsvoll, doch nicht unbekümmert vorbereiten: »Rußland ist ein trauriges Land, Amerika ist ein freies Land, ein fröhliches Land.«20 In der binären Opposition Russland versus Amerika wird die alte Heimat als ein Unglücksort semantisiert, während das Zielland als ein idealisierter locus amoenus erscheint. Von einer Auswanderungseuphorie keine Spur, zumal sich wegen Menuchim die Gewissensbisse der Eltern steigern, wiewohl Deborah bis zuletzt auf ein wundervolles Heilen ihres Kindes hofft. Die verliebte Tochter Mirjam blickt ihrerseits mit gemischten Gefühlen auf die künftige Heimat, mit einer »vage[n] Vorstellung von der Freiheit der Liebe in Amerika, zwischen den hohen Häusern, die [die Liebenden, Ergänzung L.V.S.] noch besser verbargen als die Kornmähren im Feld«,21 während ihre Liebeleien von ihrem Vater mit Empörung und Ironie betrachtet werden. Amerika erscheint in den Augen von Mirjam als ein Ort, frei von den alten moralischen Einschränkungen, dem religiösen Konservatismus und den stereotypisierten Antagonismen zwischen ethnischen Gruppen, wie zwischen Juden und Kosaken. Ihre Liebe zu einem Kosaken ist immerhin ein Schritt in Richtung kultureller Entgrenzung und Identitätserweiterung, er wird aber von ihrem Vater als ein weiterer Schicksalsschlag hingenommen. Durch das Motiv der Auswanderung öffnet sich im Roman ein zweiter Kulturraum, und zwar ein viel breiterer, als der in Zuchnow. Die beiden Kulturräume werden dabei von einem Zwischenraum – oder einem Chronotopos im Sinne Bachtins22– verbunden, in dem die Ausreise (eine Seereise aus Bremen nach New York) selbst stattfindet. An den zwei Enden dieses Zwischenraumes stehen die dramatisch gefärbten Momente des Abschieds – während Menuchim »Mama, Mama!« lullt, fällt Deborah ohnmächtig nieder – und der Ankunft: Die Singers werden vom Sohn Schemarjah, der nunmehr Sam heißt, mit der befrem20 Ebd., S. 65. 21 Ebd., S. 68. 22 Bachtin verstand Chronotopos als einen »Zusammenhang der in der Literatur künstlerisch erfaßten Zeit-und-Raum-Beziehungen.« (Bachtin, Michail M.: Chronotopos. Hg. von Michael C. Frank u. Kirsten Mahlke. Aus dem Russischen übers. von Michael Dewey, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 2008, S. 7).
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denden Nonchalance eines Amerikaners empfangen. Mit den flapsigen Begrüßungsworten des Sohnes »Halloh, old chap!«,23 der dabei seinem Vater auf die Schultern klopft, tauchen die ersten englischen, genauer: amerikanischen Sprachelemente im Roman auf. Gleichzeitig liefern sie ein deutliches Indiz für eine Identitätskrise, die sich in Mendel Singer gleich bei seiner Ankunft in Amerika ankündigt, doch auf eine scheinbare Doppelidentität seines Sohnes projiziert wird: »Es war zwar Schemarjah, aber es war Sam. […] Der zweite war beinahe Mac.«24 In der Gestalt von Schemarjah-Sam schildert Roth das Phänomen einer erfolgreichen Akkulturation, die an eine völlige, selbst die Identifizierung mit dem amerikanischen Kriegspatriotismus25 einbegreifende Assimilierung grenzt. Roth macht klar, dass die erfolgreiche Integration der (jungen) Juden in der amerikanischen Gesellschaft in hohem Maß vom allgegenwärtigen Mammonismus, also grundsätzlich finanziell, bedingt ist. Bei den Eltern (mithin bei den älteren Juden) ist der Integrationsprozess diffiziler, zumal mit der eintretenden Wirtschaftskrise auch das Geld als Integrationsfaktor Nummer eins deutlich an Boden verliert: »Mit dem Geld kam Deborah auch hier nicht aus. Das Leben verteuerte sich zusehends, vom Sparen konnte sie nicht lassen, das gewohnte Dielenbrett verdeckte bereits achtzehnundeinhalb Dollar, die Karotten verringerten sich, die Eier wurden hohl, die Kartoffeln gefroren, die Suppen wässerig, die Karpfen schmal und die Hechte kurz, die Enten mager, 26
die Gänse hart und die Hühner ein Nichts.«
Der Fall Mendel Singers zeigt gleichzeitig, dass die wirtschaftlichen Bedingungen keine ausschließlichen Integrationsfaktoren sind, da das Alter, eine bestimmte psychische Veranlagung, gepaart mit deren überwindbaren Last des (individuellen wie kulturellen) Gedächtnisses, dem Integrations- und Akkulturationsprozess in die Quere kommen können. Die Bindung an die Heimat, an Erinnerungen
23 J. Roth: Hiob, S. 95. 24 Ebd., S. 94f. 25 Der moralisch durchtränkte Kriegspatriotismus Schemarjahs – im Falle der in Amerika ausgewanderten Juden eine Loyalitätsfrage –, der auch von seiner Schwester und Mutter geteilt wird, erscheint im Roman als ein mehr oder weniger forciertes Identifikationsparadigma: »Amerika ist nicht Rußland. Amerika ist ein Vaterland. Jeder anständige Mensch ist verpflichtet, für das Vaterland in den Krieg zu gehn. Mac ist gegangen, Sam hat nicht bleiben können. […] Der Zar ist was anderes, und Amerika ist etwas anderes!« (ebd., S. 119). 26 Ebd., S. 104.
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und an die (religiöse) Tradition ist bei älteren Generationen trotz erlittener Leiden offenbar stärker als bei den jungen Immigranten, und ist durchaus imstande, die Integration in die Empfangskultur zu bremsen oder gar zu vereiteln. Ältere Menschen erleiden die Emigration häufig als Entwurzelung, die ihnen wie eine Identitätsbedrohung vorkommt. Ihr innerer, zumeist passiver Widerstand gegen die neuen Verhältnisse erscheint dabei in den Augen der Mitwelt als Unvernunft oder widerliche Grille, was den Betroffenen noch mehr isoliert. Auch Mendel Singer bleibt mit seinen Erinnerungen und Träumen allein. Seine Träume, in denen sich »Begebenheiten aus der Heimat und Dinge, von denen er in Amerika nur gehört hatte, Theater, Akrobaten und Tänzerinnen in Gold und Rot, den Präsidenten der Vereinigten Staaten, das Weiße Haus, den Milliardär Vanderbilt«
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mit Erinnerungen an Menuchim vermischen, bilden eine Art Übergangszone zwischen seiner alten, gefährdeten, und der neuen, noch nicht erlangten Identität. Letztere wirkt vielmehr als eine Scheinidentität, voller kritiklos übernommener Stereotype, die Mendel von der Umwelt aufoktroyiert werden: »Er glaubte seinen Kindern aufs Wort, daß Amerika das Land Gottes war, New York die Stadt der Wunder und Englisch die schönste Sprache. Die Amerikaner waren gesund, die Amerikanerinnen schön, der Sport wichtig, die Zeit kostbar, die Armut ein Laster, der Reichtum ein Verdienst, die Tugend der halbe Erfolg, der Glaube an sich selbst ein ganzer, der Tanz hygienisch, Rollschuhlaufen eine Pflicht, Wohltätigkeit eine Kapitalanlage, Anarchismus ein Verbrechen, Streikende die Feinde der Menschheit, Aufwiegler Verbündete des Teufels, moderne Maschinen Segen des Himmels, Edison das größte Genie. Bald werden die Menschen fliegen wie Vögel, schwimmen wie Fische, die Zukunft sehn wie Propheten, im ewigen Frieden leben und in vollkommener Eintracht bis zu den Sternen 28
Wolkenkratzer bauen.«
Der Kulturraum ›Amerika‹, in dem Mendels Akkulturation nur schwer – wenn überhaupt – vorangeht, zeichnet sich ab als die Anhäufung von stereotypisierten Bildern, wie jenen des Erfolges in der Wirtschaft, der Wissenschaft und im Sport, als das ökonomisierte und technifizierte gelobte Land des Reichtums und des Kapitals, der Maschinen und der Wolkenkratzer, das sich jedoch zumindest im sozialen bzw. innenpolitischen Bereich besonders intolerant zeigt gegenüber 27 Ebd., S. 12. Der Dampfschiff- und Eisenbahn-Magnat Cornelius Vanderbilt war einst der reichste Mann Amerikas. Allerdings haben seine Enkel das Vermögen der Familie vergeudet. 28 Ebd., S. 113.
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Armen, Anarchisten oder Streikenden. Man kann bezüglich der Akkulturation immer die Frage nach ihrem Grad stellen, ob sie sich sozusagen nur als dekorativer Vorgang, auf der Ebene automatisierter Wissensaneignung, abspielt, oder aber sich eine tatsächliche Identifikation mit der Sprache, den Werten, Normen und Einstellungen der Empfangskultur vollzieht. Eine Akkulturation in psichologicis bleibt bei Mendel offenbar aus, denn in sein Anpassungsstreben mischen sich Heimweh nach Russland, Todessehnsucht und die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit Menuchim. Als ein entscheidendes Hindernis einer gelungenen Integration und Akkulturation erscheint im Roman die Kette hiobscher Schicksalsschläge, die für Mendel auch in Amerika nicht abreißt. Ihre Intensität und Tragik nimmt sogar zu, als er in raschem Nacheinander drei Familienmitglieder verliert: Jonas gilt in Russland als verschollen, Schemarjah wird im Krieg getötet, Deborah stirbt beim Hören der Todesnachricht ihres Sohnes, Mirjam wird zum hoffnungslosen psychiatrischen Fall. Das Hiob-Motiv verbindet damit die zwei Handlungs- und Kulturräume des Romans, indem es, wie im biblischen Hiob-Buch, eine tragische Steigerung erfährt, bis es schließlich in eine ungehaltene Klage gegen Jehova mündet. Der ›einfache Mensch‹ Joseph Roths scheint zunächst geduldiger, ergebener als sein biblisches Vorbild, doch erreicht schließlich auch sein Leidensweg einen (Wende-)Punkt, wo eine Auflehnung gegen Gottes Willen trotz der mahnenden Worte seiner Freunde (dies wiederum ein biblisches Motiv) unvermeidlich wird. Die Szenen, in denen Mendel mit Gott hadert, scheinen an Gefühlsbetontheit sogar diejenigen der Bibel zu übertreffen, die verbitterten Klagen und Beschuldigungen gegen Gott grenzen hier an eine – kulturell gefärbte – Blasphemie, die in der Bezeichnung Gottes als »grausamer Isprawnik«29 kulminiert: »Nur die Schwachen vernichtet er gerne. Die Schwäche eines Menschen reizt seine Stärke, und der Gehorsam weckt seinen Zorn. Er ist ein großer, grausamer Isprawnik. Befolgst du die Gesetze, so sagt er, du habest sie nur zu deinem Vorteil befolgt. Und verstößt du nur gegen ein einziges Gebot, so verfolgt er dich mit hundert Strafen. Willst du ihn bestechen, so macht er dir einen Prozeß. Und gehst du redlich mit ihm um, so lauert er auf die Bestechung. In ganz Rußland gibt es keinen böseren Isprawnik!«
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29 Lehnwort aus der russischen Verwaltungssprache, bezeichnete im zaristischen Russland einen Polizeichef. Vgl. dazu Richter, Matthias: Die Sprache jüdischer Figuren in der deutschen Literatur (1750-1933). Studien zu Form und Fiktion, Göttingen: Wallstein 1995, S. 319. 30 J. Roth: Hiob, S. 134.
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Das Scheitern der Integration Mendels wird damit perfekt, auch wenn der Erzähler am Ende noch für eine deus ex machina Lösung sorgt: Der unheilbar geglaubte Menuchim erlebt eine wundersame Genesung und trifft als Musiker bei seinem nunmehr einsamen Vater in New York ein. So bleibt Mendel eine unablässig erhoffte, verzweifelte Rückreise in die Heimat, von Schemarjah noch als »unpraktisch«31 abgestempelt, letztendlich erspart. Mit der von Mendel selbst als göttliches Wunder bewerteten Heilung Menuchims hat indessen Joseph Roth den Weg für eine religiöse Deutung seines Romans offen gelassen.
KULTURRAUM UND SPRACHE Abschließend soll hier noch das Bezugsgeflecht Kulturraum und Sprache tangiert werden. Die Sprache ist zweifelsohne eine unverzichtbare Konstituente eines Kulturraumes. Von einer durchgehenden Diglossie kann im Hiob-Roman zwar nicht die Rede sein, dennoch lassen die zwei geschilderten Kulturräume stellenweise Spuren einer Bilingualität erkennen, die die Identitäten der Figuren mitprägen. Tauchen im ersten Romanteil nur spärliche Sprachelemente auf, die den Kulturraum Zuchnow, also den Sprachraum der Juden in Russland andeuten,32 so öffnet sich im Kulturraum Amerika eine relativ breite Palette amerikanischer Sprachelemente, die teils einen gewissen Grad an Sprachmischung bewirken, teils eine Lebens- und Kulturwelt nachzeichnen, mit denen sich die Ausgewanderten bekannt machen müssen. Es sei hier eine längere Passage aus dem Roman wegen ihres besonderen Aufschlussreichtums zitiert: »Ja, er war beinahe heimisch in Amerika! Er wußte bereits, daß old chap auf amerikanisch Vater hieß und old fool Mutter, oder umgekehrt. Er kannte ein paar Geschäftsleute aus der Bowery, mit denen sein Sohn verkehrte, die Essex Street, in der er wohnte, und die Houston Street, in der das Kaufhaus seines Sohnes lag, seines Sohnes Sam. Er wußte, daß Sam bereits ein American boy war, daß man good bye sagte, how do you do und please, wenn man ein feiner Mann war, daß ein Kaufmann von der Grand Street Respekt verlangen konnte und manchmal am River wohnen durfte, an jenem River, nach dem es auch Schemarjah gelüstete. Man hatte ihm gesagt, daß Amerika God’s own country hieß, daß es das Land Gottes war, wie einmal Palästina, und New York eigentlich the wonder city, die Stadt der Wunder, wie einmal Jerusalem. Das Beten dagegen nannte man Service und die Wohltätigkeit ebenso. Sams kleiner Sohn, zur Welt gekommen knapp eine Woche nach 31 Ebd., S. 105. 32 Hierzu könnte man Vokabeln wie Urjadnik (Ordnungsbeamter, Richter), Sidaj (setz dich), Sotnia (Kosakenkompanie) oder Isprawnik (Polizeichef) anführen (vgl. ebd., S. 317-321).
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der Ankunft des Großvaters, heißt nicht anders denn Mac Lincoln und wird in einigen Jahren, husch, geht die Zeit in Amerika, ein College boy. My dear boy nennt den Kleinen heute die Schwiegertochter. […]. All right heißt einverstanden, und statt ja! sagt man yes! Will man einem etwas Gutes wünschen, so wünscht man ihm nicht Glück und Gesundheit, sondern prosperity. In der nächsten Zukunft schon gedenkt Sam, eine neue Wohnung zu mieten, am River, mit einem parlour.«
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Das ›Heimischsein‹ und damit die Akkulturation in New York, das jedoch durch das Adverb »beinahe« relativiert wird, ist hier mit der Aneignung einiger gängiger amerikanischer Sprachformeln sowie einer genauen Topographie als der Abbildung eines Integrationsraumes illustriert. Letzterer wird im Viereck der Straßen Bowery, (East) Houston, Essex und Grand (in Süd-Manhattan) nachgezeichnet, die sich zwischen den ebenfalls angedeuteten zwei Flüssen, Hudson und East River befinden. Angeführt wird auch ein bekannter Beiname der Stadt New York, nämlich the wonder city,34 der aber gerade als eine säkularisierte Antipode des biblischen Jerusalem semiotisiert wird. Die Bezeichnung Amerikas als God’s own country scheint zwar auf den ersten Blick das Aufnahmeland einem religiösen Bedeutungsfeld (angedeutet durch das Toponym Palästina) näher zu bringen, sie behält aber im Kontext einer verweltlichten Konsumkultur mit Geschäftsleuten und Kaufhäusern eine ironische Semantik bei. Der Kontrast zwischen der religiös-traditionellen Ausgangs- bzw. der säkularisiert-ökonomisierten Zielkultur wird durch die Gegenüberstellung von ›Beten‹ und ›Service‹ nur noch verstärkt. Zu den Vokabeln, die den amerikanischen Kultur- bzw. Sprachraum kennzeichnen, gehört der scherzhaft, wenn nicht pejorativ gebrauchte Ausdruck old chap, der diesmal mit seinem weiblichen Pendant old fool auftaucht, während die Bezeichnung American boy ebenso wie der amerikanisierte Name Schermarjahs (Sam) auf einen bereits weitgehend akkulturierten jungen Einwanderer hinweisen. Der amerikanische Alltagssprachgebrauch wird darüber hinaus mit Sprachformeln wie good bye, how do you do, please, College boy, my dear boy, all right, yes, prosperity und parlour illustriert. Diese zeichnen nicht zuletzt einen Sprachraum in doppeltem Sinne nach: Auf der einen Seite ein amerikanisches Sprachmilieu Anfang des 20. Jahrhunderts, dem sich auch jüdische Auswanderer anzupassen hatten, auf der anderen Seite einen fiktionalisierten 33 Ebd., S. 101-102. 34 Die Bezeichnung erschien bereits 1918 im Titel eines Bilderbuches über New York, dann in dem eines weiteren von 1930, dem Erscheinungsjahr des Hiob-Romans. William Parker Chase veröffentlichte 1932 ein etwas futuristisch gefärbtes Buch mit dem Titel New York the Wonder City.
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Sprachkontext, in dem sich die Erzählsprache mit Elementen einer Fremdsprache, namentlich des Amerikanischen, vermengt. Reine Diskurse oder Dialoge auf Englisch bleiben zwar im Roman aus, dennoch lassen sich die einzelnen amerikanischen Vokabeln im Roman als Signifikate einer Identitätsbildung in statu nascendi deuten. Diese geht ihrerseits mit einem Akkulturationsprozess einher, der allerdings bei den einzelnen Mitgliedern der jüdischen Familie sichtliche Differenzen zeigt: Während er sich bei ›Sam‹ im Grunde reibungslos vollzieht, bleibt er bei Mendel Singer trotz sprachlicher Anpassung (zumindest auf der Ebene der Alltagssprache) letztendlich erfolglos. Denn Akkulturation, scheint Joseph Roth zu sagen, liegt nicht einfach nur an der Sprachkompetenz der Migranten, sondern auch am Grad ihrer Adhärenz an die mitgetragenen, erinnerten und anpassungsresistenten Bewusstseinsinhalte 35 und nicht zuletzt an individuellen Erlebnis- und Schicksalsfaktoren. So gesehen ist Roths Roman viel mehr als eine jüdische Geschichte.
LITERATUR Primärliteratur Roth, Joseph: Hiob. Roman eines einfachen Menschen, Frankfurt a. Main: Fischer 2014. Sekundärliteratur Aue, Hartmann von: Der arme Heinrich, hg. von Hermann Paul, neu bearbeitet von Kurt Gärtner. Berlin/New York: Walter de Gruyter 172001. Bachtin, Michail M.: Chronotopos. Hg. von Michael C. Frank u. Kirsten Mahlke. Aus dem Russischen übers. von Michael Dewey, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 2008. Bannasch, Bettina/Rochus, Gerhild (Hg.): Handbuch der deutschsprachigen Exilliteratur: Von Heinrich Heine bis Herta Müller, Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2013. Bodenmeier, Alfred: »Heines Hiob«, in: Thomas Krüger et al. (Hg.), Das Buch Hiob und seine Interpretationen: Beiträge zum Hiob-Symposium auf dem Monte Verità vom 14.-19. August 2005, Zürich: Theologischer Verlag 2007, S. 411-419. Dennerlein, Katrin: Narratologie des Raumes, Berlin: Walter de Gruyter 2009. 35 Um den medizinischen Gehalt des Ausdrucks ›Adhärenz‹ zu vermeiden, könnte man hier von einer Kulturadhärenz sprechen.
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Dieterichs, Walter: »Vom unerklärten Leiden. Eine literarische, historische und theologische Einführung in das Hiob-Buch«, in: Hartmut Spieker (Hg.): Hiob: Auseinandersetzungen mit einer biblischen Gestalt, Zürich: Theologischer Verlag 2006, S. 9-27. Glazer, Nathan: American Judaism. Second Edition, Chicago/London: The University of Chicago Press 1988. Herwig, Henriette: »Was die Welt im Innersten zusammenhält: Faust als neuzeitlicher Hiob?«, in: Hartmut Spieker (Hg.): Hiob: Auseinandersetzungen mit einer biblischen Gestalt, Zürich: Theologischer Verlag 2006, S. 49-65. Richter, Matthias: Die Sprache jüdischer Figuren in der deutschen Literatur (1750-1933). Studien zu Form und Fiktion, Göttingen: Wallstein 1995. Susman, Margarete: »Joseph Roths Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes«, in: Bettina Bannasch/Gerhild Rochus, (Hg.): Handbuch der deutschsprachigen Exilliteratur: Von Heinrich Heine bis Herta Müller, Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2013, S. 541-549.
Erteilt der Okzident dem Orient eine Ohrfeige? Abbas Khiders Roman Ohrfeige Amir Blažević
Abstract: Europa steht im Umbruch und ein deutsch-irakischer Schriftsteller gibt die treffende Diagnose. Mit unverwechselbarer Stimme stellt Abbas Khider das Selbstverständnis einer offenen Gesellschaft in Frage: stimmgewaltig, tieftraurig und voller Witz. Ein Flüchtling betritt die Ausländerbehörde, um ein letztes Mal seine zuständige Sachbearbeiterin aufzusuchen. Er ist wütend und hat nur einen Wunsch: dass ihm endlich jemand zuhört. Als Karim drei Jahre zuvor von der Ladefläche eines Transporters ins Freie springt, glaubt er in Frankreich zu sein. Bis dorthin hat er für seine Flucht aus dem Irak bezahlt. In Wahrheit ist er mitten in der bayerischen Provinz gelandet. Er kämpft sich durch Formulare und Asylunterkünfte bis er plötzlich seinen Widerruf erhält und abgeschoben werden soll. Jetzt steht er wieder ganz am Anfang. Dieser ebenso abgründige wie warmherzige Roman wirft eine der zentralen Fragen unserer Gegenwart auf: Was bedeutet es für einen Menschen, wenn er weder in der Heimat noch in der Fremde leben darf? Kann sich der Mensch in eine neue Umgebung integrieren, und wo liegen die Hindernisse der Integration? Der Kampf um eine neue Identität hat schon längst begonnen. Schlüsselwörter: Orient, Okzident, Flüchtlinge, Stereotype, Staatskritik, Willkommenskultur.
Seit Menschengedenken gab es Migrationsprozesse, sogar schon vorher gab es sie. Dabei sei an die Geschichte von Adam und Eva gedacht, nach der »[…] das Leben auf der Erde [als] ein Exilium und die Erde [als] ein Refugium, besser
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gesagt ein Verbannungsort«1 dargestellt wird. In allen monotheistischen Religionen ist der Mensch jenes Lebewesen, das dichotom aus Seele und Körper besteht, wobei der Körper als vergänglicher Teil fungiert, dem die Existenz auf der Erde zugeordnet ist und der sich nach dem Tode in Nichts auflöst, währenddessen der andere Teil, die Seele, in irgendeiner Form weiterlebt und am Ende ihrer Migration zu ihrem Herrn zurückkehrt. Auch in der Steinzeit sah man sich gezwungen: »als Jäger und Sammler den Jahreszeiten und Nahrungsmittelquellen zu folgen und sich den Naturgewalten anzupassen, [dies] macht mehr als neunundneunzig Prozent der Gat2
tungsgeschichte des homo sapiens aus.«
Das Existieren eines Menschen hing vom Emigrieren ab. Kulturen stießen auf andere Kulturen. Dies führte am Anfang zu materiellem Kulturaustausch, später wurden Philosophien entnommen, Ideen ausgeliehen, neue Kulturansätze geboren. »Zwar neigen Zivilisationen dazu, das vermeintlich überwundene Konträre als häretisch zu verunglimpfen, aber es hinterläßt Spuren im Denken und Gestalten des vermeintlichen Siegers. Das Andere wird selten mit offenen Armen aufgenommen, kultureller Wandel entsteht sowohl aus friedlichen Bewegungen wie auch durch gewaltsame Umbrüche.«
3
Die Gründung politisch definierter, geographisch-räumlich verbundener Einheiten – dabei wird besonders an Reiche, Imperien, Staaten gedacht – führte auch zur Bildung territorialer Grenzziehungen, besonders »mentale[r] Landkarten in Form von religiösen, ethnischen und kulturellen Zugehörigkeiten als Selbst- und Fremdzuschreibungen«.4 Die Entwicklung solcher Formen, unter starkem Einfluss des industriellen Kapitalismus, erreichte ihren Höhepunkt mit der Durchsetzung der Idee von Nationalstaaten und Nationalgesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert. Die räumlichen Grenzen führten zur Bildung von Wänden in Köpfen, zu imaginären Grenzen zwischen den Menschen. Alles Andersartige wurde 1
Keykawussi, Djamschid: »Leben im Exil: Chance oder Krise?«, in: Nasrin Amirsedghi/Thomas Bleicher (Hg.), Literatur der Migration, Mainz: Kinzelbach 1997, S. 100109.
2
3 Pries, Ludger: Internationale Migration, Bielefeld: transcript 2010, S. 5 [Herv. i.O.].
3
Trojanow, Ilija: »Mutmaßungen über die eigene Fremde«, in: Uwe Pörksen/Bernd Busch (Hg.), Eingezogen in die Sprache, angekommen in der Literatur. Positionen des Schreibens in unserem Einwanderungsland, Göttingen: Wallstein 2008, S. 30-34, hier S. 32.
4
L. Pries: Internationale Migration, S. 5.
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als exotisch, fremd betrachtet, wobei »[das] Trennende in der Kulturbegegnung eine Illusion [ist], geschuldet der begrenzten Wahrnehmung des Menschen«.5 Nach den apokalyptischen Ausmaßen des Ersten und Zweiten Weltkrieges dachte man mit der Gründung der EU, dass den Grenzen ein Ende gesetzt worden wäre. Aber die jüngsten Geschehnisse europa- und weltweit haben uns eines Besseren belehrt. Es bestehen nicht nur Grenzen, nein, es werden sogar wieder Drahtzäune im Herzen Europas errichtet. Dies führt dazu, dass wir in unserer Zeit eine höchst paradoxe Entwicklung erleben, in welcher »viele Grenzen in einem noch nie da gewesenen Tempo eingerissen [werden], an Bedeutung verlieren«,6 und dass die Technik die Welt zum globalen Dorf macht. Aber die Grenzen bleiben, die Asylanten bleiben Draußen vor der Tür, wie einst Wolfgang Borcherts Beckmann, dem keiner hilft, weil ihm keiner helfen wollte. »Und auch heute lassen wir sie draußen vor der Tür – auch dann, wenn wir zu helfen meinen mit unserem missionarischen eurozentrischen Weltgewissen und Weltbewußtsein«.7 Die zentrale Frage kreist um das Verhältnis Europas zu dieser Asylanten- und Flüchtlingsproblematik. Wie benimmt sich Europa angesichts dieser Geschehnisse? Setzt es sich aktiv auseinander mit dem Ganzen, oder leidet es womöglich unter Gedächtnisschwund und verdrängt absichtlich die Tatsache, dass selbst die Europäer auch Migranten waren, aber in erster Linie Eroberer und Kolonisten, die die Einheimischen in Südamerika und Afrika zu Sklaven degradierten und sie dort als Fremde betrachteten. Ein Paradoxon par excellence: »Sie kamen als Fremde dorthin und verhielten sich so, als seien die dort heimischen Menschen die Fremden«.8 Dabei vergisst man wohl auch die christliche Botschaft: »Einen Fremden sollst du nicht ausbeuten und ausnutzen, denn ihr selbst seid in Ägypten Fremde«,9 so im Alten Testament. Wovor fürchtet sich Europa und wovor fürchtet sich die europäische Gesellschaft? Vor der Umkehrung des Kolonialismus, davor, dass notleidende und hilfesuchende Menschen aus den
5
I. Trojanow: Mutmaßungen über die eigene Fremde, in: U. Pörksen/B. Busch (Hg.),
6
Antoon, Sinan: »Aus fremden Töpfen. Wie arabische und europäische Dichter sich
Eingezogen in die Sprache, S. 31. gegenseitig wahrgenommen, beeinflusst und inspiriert haben«, in: Kulturaustausch (2009), S. 48-52, hier S. 48. 7
Bleicher, Thomas: »Das Exil der anderen – und die eigene Kultur«, in: N. Amirsedghi/Th. Bleicher (Hg.), Literatur der Migration, S. 74-88, hier S. 82.
8
Dericum, Christa: »Migration und Kultur«, in: N. Amirsedghi/Th. Bleicher (Hg.),
9
Die Bibel. Das Buch Exodus. Kapitel 23,9, https://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/
Literatur der Migration, S. 30-34, hier S. 32 bibel/ex23.html, zuletzt abgerufen am 14.05.2017.
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ehemaligen Kolonien oder aus anderen armen Gegenden der Welt ihnen die Macht streitig machen? Dabei nimmt derzeit der Diskurs um die Rolle des Islam einen besonderen Platz ein, besonders die Frage, ob das Christentum und der Islam in Frieden nebeneinander oder – präziser gesagt – miteinander existieren können? Die Antwort auf diese Frage kann uns unter anderem auch die Menschheitsgeschichte geben, denn sie zeugt von weit mehr positiven als negativen Beispielen. »Viele Europäer glauben bis auf den heutigen Tag, sie besäßen eine Art Copyright auf die Aufklärung. […] Dabei handelt es sich jedoch bestenfalls um Halbwahrheiten. Was der sogenannte Westen gern vergisst, ist die Tatsache, dass viele Jahrhunderte, bevor Hume und Locke, Diderot und Kant ihre Werke schrieben, die islamische Aufklärung in al Andaluz in voller Blüte stand.«
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Viele Europäer vergessen auch wohl gern, dass schon im 10. Jahrhundert in der Stadt Cordoba, welche unter der Herrschaft der Sarazenen stand, eine Universität gegründet wurde und dass dort unter anderem auch die griechischen Klassiker studiert, übersetzt und auf diese Weise vor dem Untergang gerettet wurden. »Viele Schriften griechischer Philosophen und Dramatiker, natur- und geisteswissenschaftliche Abhandlungen konnten nur überleben, weil Gelehrte in den Osten flohen, Wissen und Bücher mitnahmen. […] So kam es, ›dass Aristotelesʼ Werke – mit Ausnahme von zwei seiner Abhandlungen über die Logik – aus dem Abendland verschwanden und uns nur erhalten blieben, weil sie von arabischen Übersetzern gehortet wurden‹. Andere Werke verschwanden vollständig. Sophokles etwa hat wohl mindestens 123 Dramen geschrieben – ganz erhalten sind gerade einmal sieben davon, ebenso wenige von Aischy11
los.«
Währenddessen begannen Verfechter und Verteidiger des Christentums mit etwas, was man heute eher im Osten vorfinden kann als in dem christlichen Abendland, nämlich mit der systematischen Vernichtung von Kulturgütern. Die
10 Enzensberger, Hans Magnus: »Das Licht der Selbsterkenntnis. Warum es keine Anleitung zur Aufklärung geben kann«, in: Kulturaustausch (2009), S. 20-22, hier S. 20. 11 Stöcker, Christian: »Barbarei und Toleranz. Zum Glück gibt’s den Islam«, in: Spiegel online vom 02.10.2016, online unter http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/ abendland-zum-glueck-gibt-s-den-islam-kolumne-a-1114693.html, zuletzt abgerufen am 12.03.2017.
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zentrale Rolle bei der Erhaltung des abendländischen Kulturguts nahm dabei besonders der Philosoph und Arzt Averroës12 ein. »Lange hat Europa an einem Unterlegenheitsgefühl gegenüber der islamischen Welt gelitten. […] Europa konnte sich davon nur befreien, indem es das Bild des Islams entstellte und zugleich den arabischen Umweg verleugnete, auf dem es einen großen Teil seines antiken Erbes empfangen hatte. […] Es gehört zu den aufregendsten neueren Erkenntnissen der westlichen Orientalistik, dass der Anteil des Islams am wesentlichen 13
Selbstverständnis weit größer ist als bisher angenommen.«
Aber wo befindet sich das Europa von heute? Und welche Rolle nimmt die Kunst und insbesondere die Literatur bei der Lösung dieser Migrationsproblematik ein? Man muss gestehen, dass ein Denken in Gegensätzen, Polemiken, allzu oft geleitet von kulturellen und begrifflichen Verengungen, die auf einer Entweder-oder-Logik beruhen, das frühere und heutige Bild Europas prägt. »Die Konsequenz sind vereinfachte Vorstellungen von ›Fortschritt und Niedergang‹, einem ›Kampf der Kulturen‹, ›neuen Kreuzzügen‹, einer ›intellektuellen Invasion‹, dem ›Ende der Geschichte‹, einer ›Westoxifikation‹ oder dem ›Ende Europas‹, die oft apoka14
lyptische Züge tragen.«
Wie kann man diesen Kontext zugunsten eines heitereren ablösen? Nur indem wir uns »an diese Momente der gegenseitigen Beeinflussung erinnern, um zu sehen, dass es mehr Brücken als Gräber gibt. Diese Erinnerungen können in der Zeit der Konfrontation dies wieder zur Vernunft bringen, denn Ideen und kulturelle Güter waren schon immer einfacher zu bewegen als die Menschen«,15 denn der Osten ist ohne den Westen nicht mehr zu denken, umgekehrt auch, zu viel ist der Westen östlich und der Osten westlich geworden.
12 Averroës war ein andalusischer Philosoph und Arzt. Er verfasste eine medizinische Enzyklopädie und fast zu jedem Werk des Aristoteles einen Kommentar. In der christlichen Scholastik des Mittelalters, auf die er großen Einfluss ausübte, wurde er deshalb schlicht als ›der Kommentator‹ bezeichnet, so wie Aristoteles nur ›der Philosoph‹ genannt wurde. 13 Blankenstein, Heidemarie: »Die Ersten ihres Faches«, in: Kulturaustausch (2009), S. 46-48, hier S. 46. 14 Khalil, Georges: »Trennungsgründe. Wie sich der Nahe Osten und Europa über ihrer gemeinsamen Geschichte entzweien«, in: Kulturaustausch (2009), S. 22-24, hier S. 22. 15 S. Antoon: Aus fremden Töpfen, S. 48.
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Die Vermittlerrolle bei der Aufhebung der Grenzlinien sollte, oder besser gesagt, müsste die Kunst, insbesondere die Literatur einnehmen, weil sie den Dialog befördert und Rahmenbedingungen für offene und vertrauensvolle Begegnungen schafft. Aber es scheint, dass selbst die Literatur in einer tiefen Krise steckt und dass die größte Gefahr darin besteht, dass sie »zu einer rein ökonomischen Ware, zu einem politisch-ideologischen Instrument« degradiert wird.16 Deswegen ist es überlebenswichtig, die Stimme der anderen zu hören, ihre Werke zu lesen und zu rezipieren, denn: »Die Kämpfe des Alltags, die Schlachten der Epoche, sie werden in der Kunst gespiegelt, und sie wirken auf die Kunst ein«.17 Einen besonderen Platz in der deutschsprachigen Literatur nimmt daher die Migrantenliteratur ein. Für die Literaturwissenschaft und Germanistik hat das Phänomen der Migration erheblich an Bedeutung gewonnen. Die Literatur von Migranten in Deutschland hatte nie zuvor eine solche öffentliche Aufmerksamkeit und Wirkung wie derzeit. »Gastarbeiterliteratur, Gastliteratur, Migrantenliteratur, Emigrantenliteratur, Literatur der Betroffenen, Brückenliteratur, Ausländerliteratur – der Einfallsreichtum war groß, mit dem die deutsche Literaturkritik in der Vergangenheit eine Literatur umschrieb, die nicht autochthon deutsch war, deren Urheber aus fremden Sprachen und Kulturen sich in der 18
deutschen Literatur zu Wort meldeten.«
Was sofort bemerkbar wird, ist die Trennung zwischen einer Nationalliteratur und einer Literatur der Autoren mit Migrationshintergrund. Saša Stanišić, selbst einer, der gegen solche Grenzziehungen kämpft, warnt vor Schubladen, in denen man versucht, all diese literarischen Werke der Autoren mit Migrationshintergrund einzuordnen. Auf diese Weise droht, dass die Werke zu pauschal beurteilt werden, denn: »Die Formen der Migration und der jeweilige Grad der Integration ausländischer Schriftsteller sind allzu verschieden, als daß sich all dies zu einem Begriff bündeln ließe – von
16 T. Bleicher: Das Exil der anderen – und die eigene Kultur, Bleicher, Thomas: »Das Exil der anderen – und die eigene Kultur«, in: N. Amirsedghi/Th. Bleicher (Hg.), Literatur der Migration, S. 78. 17 I. Trojanow: Mutmaßungen über die eigene Fremde, in: U. Pörksen/B. Busch (Hg.), Eingezogen in die Sprache, S. 32. 18 von Saalfeld, Lerke: »In den Stromschnellen der Sprache«, in: U. Pörksen/B. Busch (Hg.), Eingezogen in die Sprache, S. 25-30, hier S. 25.
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den einzigartigen Lebensläufen und den ganz verschiedenen kulturellen, religiösen oder 19
sozialen Gewohnheiten abgesehen.«
Das Ziel objektiver Kritik muss es sein, über die Biografie des Autors hinauszugelangen und die Themen und ihre literarischen Voraussetzungen (Genre, Stil, Tradition usw.) zu erörtern. »[Objektive Kritik ist] ein Bezugspunkt innerhalb des vertrauten Kontinuums der Literatur. […] Sie ist keine Insel im Meer einer Nationalliteratur, sondern ein Teil des Ozeans«.20 Die Literatur der deutschsprachigen Autoren mit Migrationshintergrund beweist, dass die Welt auch im dritten Jahrtausend erzählbar bleibt und dass sie erzählt werden will. »Schriftsteller ausländischer Herkunft verfügen über den Hintergrund eines Kulturraums […] [sie] erweitern den Horizont unserer Vorstellungswelt und Gestaltungsformen.«21 Schriftsteller wie Elias Canetti oder Paul Celan sind ein gutes Beispiel dafür, dass die Literatur ständig bereichert werden kann. »Aus welcher Sprache auch immer, aus welcher Kultur auch immer – ob in Europa oder weit über den Globus verstreut , Schriftstellerinnen und Schriftsteller fremder Zunge, die sich in die deutsche Literatur hineingeschrieben und – gedacht haben, tragen keinen etikettenhaften, sofort erkennbaren Prägestempel, sie öffnen originelle Horizonte und intime 22
Einblicke in allen Welten dieser Erde.«
So auch der deutsch-irakische Schriftsteller Abbas Khider, der mit seinem jüngsten Roman Ohrfeige das Buch der Stunde geschrieben hat. Der Roman, der sich mit der Thematik der Migration auseinandersetzt, schildert verschiedene Emigrantenschicksale innerhalb der deutschen Gesellschaft. »Über das Glück und die Zufälle, die darüber entscheiden, ob ein Ausländer in Deutschland bleiben darf oder abgeschoben wird, hat Khider sein neuestes Buch geschrieben, vier 23
Jahre lang. Die Aktualität des Themas hat ihn jetzt eingeholt.«
19 Stanišić, Saša: »Wie ihr uns seht. Über drei Myten vom Schreiben«, in: U. Pörksen/B. Busch (Hg.), Eingezogen in die Sprache, S. 104-110, hier S. 105. 20 Ebd., S. 106f. 21 Pörksen, Uwe: »Eingewandert in die Sprache – angekommen in der Literatur«, in: U. Pörksen/B. Busch (Hg.), Eingezogen in die Sprache, S. 5-10, hier S. 7. 22 L. von Saalfeld: In den Stromschnellen der Sprache, in: U. Pörksen/B. Busch (Hg.), Eingezogen in die Sprache, S. 29. 23 Heinrich, Kaspar: »Flüchtlingsroman von Abbas Khider. Man wird ja wohl noch durchdrehen dürfen«, in: Spiegel online vom 02.02.2016, online unter http://www.spie
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Dabei will Khider, seinen eigenen Worten zufolge, keine Mustermigranten zeigen, sondern eher die auftretenden Schwierigkeiten in der kafkaesken Welt der deutschen Bürokratie. Themen wie Vertreibung, Flucht, Heimatlosigkeit, Außenseitertum und der Kampf um Individualität in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Systemen, egal ob in Bayreuth oder Niederhofen, werden hier angeschnitten. Khiders Figuren sind Entwurzelte, Träumer und Beobachter, Einzelgänger, Poeten ohne Werk, die in den Wahnsinn abgleiten wie Karims Freund Rafid oder der Fanatiker Ali, Romantiker in aussichtsloser Lage und Spielbälle eines Schicksals, das überwiegend in einfachen Worten erzählt wird, aber weitaus komplexer ist, als man auf den ersten Blick meinen könnte. »Khider erzählt von den Träumen der jungen Männer, von ihren Sehnsüchten, ihrer Wut und ihrer Verzweiflung. Er beschreibt drastisch die bedrückende, zwischen Apathie und Aggression schwankende Atmosphäre in den Wohnheimen, in denen Männer aus den unterschiedlichsten Weltgegenden miteinander auskommen müssen: Albaner, Serben, 24
Somalier, Iraner, Kurden, Iraker. Kleinkriminalität und Gewalt sind häufig.«
Der Roman ist ausschließlich aus der Perspektive Karim Menseys, des IchErzählers,25 geschrieben. Es ist die Wutrede eines Menschen, der auf der Suche nach einem besseren Leben nach Europa gekommen ist, sich dort verliert und in eine Identitätskrise stürzt. Durch puren Zufall kommt er in Dachau an, obwohl sein Reiseziel Paris war. In Deutschland scheitert er am Ausgeschlossensein, der Gleichgültigkeit und einer undurchsichtigen, absurden Bürokratie. Abbas Khider schildert brillant die Entwicklung des Fremdseins in Deutschland. Von der Form her handelt es sich um eine Rahmenerzählung. »Die mehrfachen Binnenerzählungen in diesem Buch basieren auf drei unterschiedlichen Sprachebenen. Zum einen nutzt Abbas Khider, wenn Karim über seine eigene Person spricht, die sachliche Kommunikationsweise und bedient sich dem korrekten Deutsch. gel.de/kultur/literatur/ohrfeige-autor-abbas-khider-bloss-nicht-der-musterimmigrantsein-a-1074666.html, zuletzt abgerufen am 12.03.2017. 24 Spiegel, Hubert: »Abbas Khiders Roman ›Ohrfeige‹. Das Land, wo Hass und Honig fließen«, in: Frankfurter Allgemeine vom 11.02.2016, online unter http://www.faz.net/ aktuell/feuilleton/buecher/abbas-khiders-roman-ohrfeige-ueber-einen-fluechtling-ausirak-14050413.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2,
zuletzt
abgerufen
am
12.03.2017. 25 Die Geschichte könnte ebenso gut in der unmittelbaren Gegenwart spielen, sie könnte die eines jungen Syrers sein, der sein letztes Geld an eine Bande von Schleusern gezahlt hat, um sein Leben in Sicherheit zu bringen und sein Glück in einer bayrischen Kleinstadt zu finden hofft.
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Doch wenn sich Karim im Drogenrausch befindet, ist sein Sprachstil reich an Metaphern, Poesie und gelegentlich verwirrt. In der dritten Sprachebene wird deutlich, dass wenn Karim über andere Personen spricht, seine Gedanken tiefgründiger werden und der Stil 26
fließender erscheint.«
Die Haupthandlung geschieht vor und nach den Geschehnissen des 11. Septembers 2001 und dauert insgesamt drei Jahre und vier Monate. Der Protagonist, Karim Mensey, Flüchtling aus dem Irak, hängt bei seinem Freund Salim in dessen Münchner Wohnung ab und konsumiert Haschisch. Der Drogeneinfluss führt zu einer Art Tagtraum, einer Rachefantasie: Er stellt sich vor, wie er seine Sachbearbeiterin, eine gewisse Frau Schulz,27 die für seinen Asylantrag in der bayerischen Provinz zuständig ist, an ihren Bürostuhl fesselt, sie knebelt und ihr für all die Schwierigkeiten, die er in seinem Asylverfahren erdulden musste, eine Ohrfeige verpasst.28 Aber vor allem dafür, dass er für sie immer nur eine Nummer war, ein Aktenzeichen ohne Geschichte: »Für sie war ich wohl Asylant 3873 oder so. Nicht mehr wert als die Nummern, die ich ziehen musste, um zu warten.«29 Da Frau Schulz nicht hören will, muss sie fühlen: »Ob Sie wollen oder nicht, wir reden.«30 Solchermaßen entmachtet, muss sich die hartherzige Frau Schulz nun Karims Geschichte anhören. Als ob die deutsche Sprache Distanz zwischen den beiden schaffen würde: »Sie stammt aus einer ganz anderen Welt als ich. Ein Erdling spricht gerade mit einem Marsianer«,31 deswegen sieht sich 26 Speich, Yulia: »Mit spannenden Büchern durch den Leipziger Frühling 2016«, in: Niederlausitz aktuell vom 01.06.2016, online unter http://www.niederlausitz-aktuell. de/nachbarn/item/61304-mit-spannenden-buechern-durch-den-leipziger-fruehling2016.html, zuletzt abgerufen am 12.03.2017. 27 Frau Schulz fungiert als Stellvertreterin des gesamten Westens; in den Augen der meisten Menschen aus dem Osten, besonders der islamischen Welt, gehört Frau Schulz »zu jenen, die darüber entscheiden, auf welche Weise [man] existieren darf oder soll« (A. Khider: Ohrfeige, S. 11). Deshalb auch der rebellische Wunsch, sich wie ein »mythischer Held« zu erheben und »den Olymp [zu] erstürm[en]« (ebd.). Gewisse Parallelen zu Goethes Hymne Prometheus sind erkennbar, in erster Linie der Wunsch, Herr seines eigenen Schicksals zu sein. 28 Dass es sich bei der ganzen Sache nur um eine Illusion handelt, wird anhand der kursiv geschriebenen Teile des Romans sichtbar. Auf diese Weise werden die beiden Ebenen Wirklichkeit und Halluzination deutlich voneinander getrennt, damit der Leser die beiden Ebenen nicht durcheinander bringt. 29 A. Khider: Ohrfeige, S. 12. 30 Ebd., S. 10. 31 Ebd.
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Karim gezwungen, seine Geschichte auf Arabisch zu erzählen: »[…] so kann ich frei reden.«32 Karim muss feststellen, dass hier buchstäblich zwei Welten aufeinanderprallen, die Welt des Abendlands steht jener des Morgenlands gegenüber. Das Unverständnis zwischen zwei Kulturen wird mit dem Mangel an Dialog und Gespräch zugunsten eines Monologs verstärkt, sodass wir auf 220 Seiten nur die Handlung aus Karims Perspektive lesen. Aber es ist nicht die Sprache, die zur Distanz führt, sondern die vorgefundene Kälte und Sachlichkeit des Westens: »Als ich auf den Flur trat, spürte ich mit voller Wucht diese boshafte europäische Eiskälte. Wie ein Ungeheuer fiel sie mich an und biss mir in die Knochen.«33 Obwohl sich dieses Zitat, kontextuell betrachtet, eher auf die winterliche Kälte bezieht, kann man dennoch sagen, dass sie etwas Tiefgründigeres in sich trägt, nämlich die Kälte im Umgang mit den Menschen. »Nachnamen schaffen so eine Distanz zwischen den Menschen«,34 denn meistens kann man die Herkunft des Menschen anhand des Namens oder der Hautfarbe erraten, besonders wenn es sich dabei um Menschen aus dem Osten handelt. Dabei möchte Karim nur eines, nämlich: »[sich] einfach mal mit Ihnen [Frau Schulz] von Mensch zu Mensch in aller Ruhe zu unterhalten«.35 Das Einzige, was Karim will, ist, einen Gesprächspartner zu finden und ihm seine ganze Geschichte, die Geschichte eines Emigranten, zu erzählen. Aber die Kontaktaufnahme mit den Einheimischen ist eher eine Sisyphusarbeit, weil die Gesellschaft nur ein Ohr für die Vergangenheit der Emigranten hat: »Nie macht sich einer mal Gedanken über mein gegenwärtiges Leben«,36 stellt Karim fest. Karim wird mit permanenten Fragen zu seiner Vergangenheit und seiner Einstellung zu der Orientfrage buchstäblich kein Raum gegeben, sich in das System einzugliedern. Auch während des Aufenthalts in Bayreuth versucht Karim, den Kontakt zu den Bayreuthern aufzunehmen, »aber die einzigen regelmäßigen Begegnungen mit Deutschen, die über abschätzige Blicke hinausgingen, waren die mit den Polizeibeamten oder mit dem Wachpersonal im Heim, also mit Menschen, die beruflich dazu gezwungen waren, uns nicht zu ignorieren. Andere, 37
normale Bürger waren wie Fabelwesen aus einem fernen Märchenland für uns.«
32 Ebd. 33 Ebd., S. 62. 34 Ebd., S. 10. 35 Ebd., S. 12f. 36 Ebd., S. 19. 37 Ebd., S. 120f.
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Deswegen bleibt Karim und den anderen Emigranten nur der Weg der Isolation und Einsamkeit übrig. Unterschlupf findet er in der Al-Nurr-Moschee, die Goethemoschee genannt wird. Selbst der Begriff Goethemoschee zeugt von Karims Wunsch der Kontaktaufnahme mit den Deutschen. Auch andere Begriffe, wie z.B. Beirut,38 Kurdenberg39 oder Dönerbudenindex,40 zeugen zu gleicher Zeit auf eine humoristisch-satirische Weise von den Integrationsabsichten der Flüchtlinge, welche sich nach der Meinung Khiders nie hundertprozentig in eine Gesellschaft integrieren dürfen, weil der größte Teil wieder abgeschoben wird. »Jetzt seid ihr Iraker dran, wie einst die Jugoslawen nach dem Balkankrieg. Zuerst lässt man sie herein, nach dem Krieg schickt man sie ins Chaos zurück, ohne einen Gedanken 41
daran zu verschwenden, was aus ihnen wird. Es ist immer dasselbe Drama,«
unterstreicht Frau Mohmadi. So auch Karim, der gerne die deutsche Sprache erlernen würde, aber dem keine reale Gelegenheit dazu gegeben wird, weil es finanziell unmöglich ist und er »ein Jahr lang arbeiten und Steuern zahlen« muss, um sich einen Kurs leisten zu können.42 Das Sich-nicht-leisten-können eines Sprachkurses wird wohl am besten mit der Bemerkung Hewes, Anführer der H-&-M-Bande, unterstrichen: »Dort [im Gefängnis] kann man echt super Deutsch lernen. Hier im Asylantenheim ist man ja nur von euch Dummköpfen umgeben!«43 Unterschlupf findet man auch im Kulturverein Enlil, dort »gibt es alles, was die Iraker in München und wohl in ganz Bayern dringend benötigen: Jobangebote auf dem Schwarzmarkt, Informationen über Asylanträge, Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis, Auskünfte über Rechtsanwälte mit Spezialisierung im Ausländerrecht, Scheinehevermittlungen, Heiratsvermittler zwischen Mädchen aus der Heimat und den 44
Irakern in Deutschland sowie eine Geldtransferstelle.«
Kurzum alles, was überlebenswichtig ist für einen durchschnittlichen Asylbewerber. Es wird dem Alltag der ›normalen Bürger‹ regelrecht eine Parallelwelt
38 So wird in einem Teil des Romans die Stadt Bayreuth bezeichnet. 39 So wird nämlich die Stadt Nürnberg genannt, weil dort viele Kurden wohnhaft sind. 40 »Der Dönerbudenindex besagte, ob viele Türken und andere Ausländer im jeweiligen Ort wohnten, und das wiederum war für uns alle ein wichtiger Anhaltspunkt, wie attraktiv eine Stadt war« (A. Khider: Ohrfeige, S. 136). Berlin steht dabei an erster Stelle. 41 A. Khider: Ohrfeige, S. 35. 42 Ebd., S. 157. 43 Ebd., S. 141. 44 Ebd., S. 22f.
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gegenübergestellt, in welcher man »von Tag zu Tag dämlicher«45 wird und wo der Bürger zum »Burger«,46 zum Lebensmittelprodukt der neuen Konsumgesellschaft avanciert.
DIE GRUNDREGEL IST »NIEMALS DIE WAHRHEIT SAGEN« Schnell lernen die Asylanten in den Heimen, was überlebenswichtig ist, nämlich: Lügen zu erzählen und sich neue Lebensgeschichten auszudenken. Als existenziell stellt sich das Erfinden einer plausibel klingenden Lüge heraus. Khider selbst erwähnt in einem Interview der TAZ: »Alle Asylbewerber nämlich besitzen zwei Lebensläufe: einen für die Akten und einen, über den keiner spricht – weil die Gegenwart genug Probleme bereitet oder die Vergan47
genheit schlicht zu belastend ist.«
Khider diffamiert auf diese Weise alle Flüchtlinge als Lügner, was potenziell gefährlich ist, weil es andererseits wirklich solche Flüchtlinge gibt, die keine Lügen erzählen. Die Protagonisten im Roman lernen schnell, dass die Wahrheit nicht ausreicht, um in Deutschland eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen: »Wenn du für den Rest deines Lebens im Asylantenwohnheim feststecken willst […] dann erzähl ruhig diese Wahrheit […]. Du musst dir eine komplett neue Lebensgeschichte einfallen lassen«.48
45 Ebd., S. 120. 46 Ebd., S. 158. 47 Aydemir, Fatma: »Roman ›Ohrfeige von Abbas Khider‹. Eine Sachbearbeiterin wird gefesselt«, in: taz vom 29.01.2016, online unter http://www.taz.de/!5270464/. 48 A. Khider: Ohrfeige, S. 69. Dass Abbas Khider den politisch verbissenen Ernst ebenso zu vermeiden sucht wie eine prototypische Asylantengeschichte, erklärt sich aus Karim Menseys Grund, aus dem Irak zu fliehen. Karim spricht über Fahnenflucht, obwohl der wahre Grund die ab dem 14. Lebensjahr aufgetretene Gynäkomastie ist. Er ist also ein Mann mit weiblichen Brüsten, »kein Hermaphrodit, sondern, wie er glaubt, der auserwählte Träger eines Erbes, das ihm seine Kinderliebe hinterlassen hat. Hayat war bildschön, taubstumm und wurde in Bagdad von drei Männern entführt, vergewaltigt und getötet, als sie dreizehn Jahre alt war. In dieser allegorischen Figur, die Karim auf all seinen Wegen begleitet, zeigt sich Abbas Khiders dunkle poetische Kraft: Hayat ist das arabische Wort für Leben.« (H. Spiegel: »Das Land, wo Hass und Honig fließen«, online unter http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/abbas-
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Fahnenflucht sei »kein ausreichender Grund […] [, um] Asyl zu erhalten«.49 Auf diese Weise zeigt sich auch die Grundregel der Existenz aller Flüchtlinge in diesem Roman, nämlich »Niemals die Wahrheit sagen!«,50 obwohl »[a]lle Entscheider und Richter wussten, dass die Geschichte so nicht ganz stimmte. Aber alle haben dieses Spiel mitgespielt.«51 Ein Iraker zu sein, wurde populär, denn nur auf diese Weise bekam man eine reale Chance auf eine Aufenthaltserlaubnis: »Alle wissen, dass du momentan als Iraker leichter Asyl bekommst«,52 bestätigt Rafid, der auch Karim empfiehlt, sich seine Lügengeschichte so oft zu erzählen »bis du wirklich glaubst, sie sei wahr«.53 Die Wahrheit sei vor dem deutschen Gesetz unwichtig, »weil sie nicht ins Raster passte oder ich keine Beweise einbringen konnte.«54 Im Heim beraten die Flüchtlinge, welche Geschichte sie dem Richter erzählen sollen, wenn sie endlich ihren Termin haben. Sie versuchen abzuwägen, was dieser Richter hören will, was in seinen Ohren wichtig sein könnte oder einen triftigen Grund abgeben könnte, dableiben zu dürfen. Die Wahrheit? Die viel krassere Geschichte des Schulfreunds von früher? Etwas ganz Anderes? Eine bunte Mischung aus allem? Einfach alles, was als Mittel zum Zweck dienen kann.
STAATSKRITIK, WILLKOMMENSKULTUR Das größte Verdienst, neben den humoristisch-satirischen Teilen dieses Romans, ist sicher auch das Verzichten auf Schwarzweißschilderungen der Protagonisten dieses Romans. In gleichem Maße werden sowohl die Protagonisten aus dem Westen als auch aus dem Osten als Menschen dargestellt, die unter dem großen Einfluss der Umstände und der Gesellschaft stehen und eine Entwicklung im Roman erleben: »Fremde kann den Umständen, den Zufällen, den Vorurteilen
khiders-roman-ohrfeige-ueber-einen-fluechtling-aus-irak-14050413.html?print PagedArticle=true#pageIndex_2), zuletzt abgerufen am 12.03.2017. 49 Ebd., S. 68. 50 Ebd., S. 72. 51 Encke, Julia: »Flüchtlingsroman. Vom Warten wird man immer blöder«, in: Frankfurter Allgemeine vom 30.01.2016, online unter http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/ buecher/fluechtlingsroman-vom-warten-wird-man-immer-bloeder-14030679.html ?printPagedArticle=true#pageIndex_2, zuletzt abgerufen am 12.03.2017. 52 A. Khider: Ohrfeige, S. 73. 53 Ebd., S. 75. 54 Ebd.
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verschuldet sein, doch sie wurzelt nicht per se in einer ontologischen Differenz und darf daher nicht als unüberwindbar gelten«.55 Das, was kritisiert wird, sind die Systeme, die sowohl die Menschen im Frieden als auch im Krieg zerstören. So schafft es Khider, gleichzeitig sowohl den Osten als auch den Westen zu kritisieren. Besonders steht dabei die Polizeibehörde im Rampenlicht, besser gesagt der Polizeirassismus und die Polizeidiskriminierung. Diese Vorwürfe ziehen sich wie ein roter Faden durch das ganze Werk hindurch: »Oft steigen Polizisten dazu, und jedes verdammte Mal, wenn sie einen solchen Zug kontrollieren, fragen sie keinen der schönen blonden Fahrgäste nach ihrem Personalausweis«.56 An einer anderen Stelle im Roman heißt es etwa: »In solchen Gegenden sind die Ordnungshüter unentwegt auf der Pirsch nach schwarzhaarigen, dunkelhäutigen Menschen, egal, ob sie harmlose Studenten oder kriminelle Dealer sind. Vielleicht gibt es da ja einen polizeiinternen Contest. Vielleicht führen sie Ranglisten, wer die meisten Schwarzhaarigen kontrolliert und Flüchtlinge gefasst hat. […] Während meiner Anfangszeit in Niederhofen wurde ich beinahe täglich kontrolliert.«
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Wie gut die Polizei ihre Arbeit macht, beweist auch folgende Tatsache: »[w]enn irgendetwas in der Stadt gestohlen wurde, suchten sie zuerst bei uns danach.«58 Dass es sich bei dem Gesagten nicht nur um kritische Schilderungen der Polizei handelt, sondern dass es Khider bei den Beschreibungen auch um die Objektivität geht, beweisen auch jene Passagen des Romans, die zeigen, dass es wirklich Asylanten gab, die Straftaten begingen: »Einige von uns wurden manchmal beim Stehlen im Supermarkt oder im Rotmain-Center erwischt«,59 was dazu führte, dass sich Karim schämte und »wie ein Straftäter«60 vorkam. Wie schwer es ist, sich in eine ganz neue Gesellschaft zu integrieren, ist auch anhand der Wohnungssuche sichtbar: »Alle, die ich anrief, fragten mich nach meiner Herkunft und beendeten das Gespräch oder drucksten herum«.61
55 I. Trojanow: Mutmaßungen über die eigene Fremde, in: U. Pörksen/B. Busch (Hg.), Eingezogen in die Sprache, S. 30-34, hier S. 31. 56 A. Khider: Ohrfeige, S. 18. 57 Ebd., S. 29. 58 Ebd., S. 143. 59 Ebd., S. 119. 60 Ebd., S. 120. 61 Ebd., S. 176.
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Neben der Polizeibehörde wird auch die deutsche Bürokratie negativ beurteilt. Nach dem 11. September,62 »[nach] diesem verdammten Tag wurde der wichtigste Ausdruck für uns Araber in Deutschland: verdächtig«,63 und nach dem Kriegsende im Irak begann für die Asylanten in Deutschland ein neuer Krieg, nämlich der mit den deutschen Behörden. Die Beschreibungen der Bürokratie kommen auf diese Weise in den gleichen Korb mit den stereotypen Beschreibungen der Deutschen: »Auf dem Sozialamt war ein etwa dreißigjähriger Kerl namens Krämer für mich zuständig […] Er war völlig neutral und emotionslos. Er verrichtete seine Arbeit mit absoluter Genauigkeit, wollte alles haarklein notieren, was ich zu sagen hatte. Er hörte mir genau 64
zu, zeigte jedoch keine Regung. Er verlangte von mir, einige Formulare auszufüllen.«
Zu den am häufigsten erwähnten Stereotypen, wenn man an die Deutschen denkt, gehören gerade die Genauigkeit, Emotionslosigkeit, Präzision, der Papierkram usw., deren sich auch Khider bedient. Aber die deutschen Behörden sind nicht nur Kritikpunkt, sondern auch einer der Verknüpfungspunkte zwischen Deutschland und dem Irak, zwischen Westen und Osten, Okzident und Orient: »Die zahlreichen Paragrafen und Vorschriften, die dieses Land unter sich begraben, wenigstens einigermaßen zu begreifen, wurde zu meiner wichtigsten Aufgabe. […] Den irakischen Behördenapparat habe ich beizeiten hassen gelernt, weil er so chaotisch und 65
bürokratisch ist wie eine göttliche Strafe, die keine Gnade kennt.«
Gerade der Kampf mit der Behörde bringt Karim in die kafkaeske Lage, vergeblich eine nie zu Ende gehende Schlacht mit den bürokratischen Windmühlen zu führen. Der Protagonist muss leider Folgendes feststellen: »Nie macht sich einer mal Gedanken über mein gegenwärtiges Leben. Über die Schwierigkeiten mit der Aufenthaltserlaubnis, die Folter in der Ausländerbehörde, die Schikanen des Bundeskriminalamtes, über die Peinlichkeiten des Bundesnachrichtendiensts oder die
62 Die Konsequenzen des 11. Septembers 2001 waren für die Asylanten folgenschwer: »Die Menschen wurden allem Fremden gegenüber skeptisch und ängstlich. Ost und West, Orient und Okzident, Osama und Bush. […] Der ganze Irrsinn führte dazu, dass einige von uns fanatisch wurden« (A. Khider: Ohrfeige, S. 169). Radikalität erfordert und provoziert häufig neue Radikalität und Extremismus. 63 Ebd., S. 164. 64 Ebd., S. 159. 65 Ebd., S. 75.
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Banalitäten des Verfassungsschutzes. Und warum fällt niemandem die Tatsache des Polizeirassismus auf? Was bedeutet es für mich, wenn ich weder in der Heimat noch in der 66
Fremde leben darf?«
Die tagtägliche Angst, abgeschoben zu werden, die Ungewissheit, wie man sein neues Leben in der Fremde planen und gestalten kann, verfolgt die einzelnen Gestalten durch das gesamte Werk hindurch. Was immer wieder bei Khider fasziniert, ist die scharfe Kritik der West- und der Ost-Gesellschaften, die gewisse Gemeinsamkeiten aufweisen, so z.B., dass Menschen ihre Körper verkaufen, um sich über Wasser zu halten, oder noch schlimmer, dass ihre Körper verkauft werden. So bestehen im Iran »Genuss-Ehen«,67 wenn irakische Mädchen verkauft und für sexuelle Tätigkeiten zur Verfügung gestellt werden, oder »Sklaven-Bereiche in den Palästen der Reichen und Mächtigen«,68 in welchen die Menschen als Ware behandelt werden, egal ob es sich um hübsche Knaben oder Transsexuelle handelt. Andererseits wird auch vom Existieren der Wochenendbesucher in Deutschland gesprochen, die »die wichtigsten Menschen« im Leben der Flüchtlinge und Asylsuchenden werden.69 »Wenn ein Flüchtling dann das Haus verließ, begutachteten sie ihn, als wäre er ein schmackhaftes, saftiges Stück Fleisch in der Auslage des örtlichen Metzgers«.70 In solch einer infernalisch-apokalyptischen Atmosphäre, wo man auf die Wiederauferstehung Jesu oder des Imams Mahdi wartet, kommt es zum Zerfall der uns bekannten Werte. So verwundert auch die Europa- und Deutschlandkritik Khiders ganz und gar nicht. Diese Kritik bekommt auch Züge des Anti-Amerikanismus: »Und die Amerikaner? Sie führen dort [im Irak] ein niemals enden wollendes Duell mit ihren Feinden. […] Alle Politiker der Welt, die außerhalb ihrer Grenzen mal jemanden verprügeln wollen, kommen nun in den Irak. Saudis gegen Iraner, Demokraten gegen Terroristen, Muslime gegen Christen, Türken gegen Kurden, Saddamisten gegen NichtSaddamisten, alle. […] In Deutschland haben wir zurzeit unermessliche Schwierigkeiten […]. Die Behörden jagen uns und behaupten, es gebe keinen Grund mehr für uns, in der Bundesrepublik zu bleiben, die Demokratie habe nun ja durch die Amerikaner unser Land erreicht. […] Für Saddam-Anhänger dagegen ist jetzt alles einfach, die können hier leben. Die Deutschen werfen also uns raus und lassen unsere Faschisten rein. Die Baathisten
66 Ebd., S. 19. 67 Ebd., S. 26. 68 Ebd. 69 Ebd., S. 144. 70 Ebd., S. 145.
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machen es jetzt wie die Nazis nach dem Zweiten Weltkrieg, die mit Gold und Geld nach 71
Argentinien abgehauen sind. Das Argentinien der irakischen Faschisten ist nun Bayern.«
»In einer Diktatur erwartet man ja, dass Menschenleben zerstört werden. Aber in diesem Roman geschieht das innerhalb einer offenen Gesellschaft, einem demokratischen Land. Das wird für einige Leser sicher schmerzhaft sein. Aber Kunst muss manchmal auch wehtun – wenn es denn nötig ist«,72 so Khider. In diesem Roman wird dies an allen Figuren offensichtlich: Karim muss sein Glück in einer weiteren Emigration nach Finnland suchen, Ali wird zum Fanatiker, »[…] die bösen Muslime wurden jetzt tatsächlich böse«,73 Rafid endet in der Psychiatrie, Khaled wird zum Toy-Boy. »Wir sind alle wie die geschmackslosen und billigen Produkte aus dem Ausland, die man bei Aldi und Lidl finden kann. Wir werden mit dem Lastwagen hierhergeschleppt wie Bananen oder Rinder, werden aufgestellt, sortiert, aufgeteilt und billig verkauft. Was übrig bleibt, kommt in den Müll.«
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Karims traurige Bilanz lautet am Ende der Geschichte: »Unser Leben in Deutschland endet jetzt, genau hier, obwohl es nie wirklich angefangen hat. […] Noch immer bin ich kein normaler Mensch, noch immer habe ich die verdammten Brüste. […] Alles, was ich erreicht habe, ist ein gigantisches Nichts. Der Einzige, der sich freut, ist mein Schlepper Abu Salwan.«
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Aber neben der scharfen Kritik dieses Romans stehen auch schöne Bilder der Willkommenskultur, die die pessimistischen Wolken zugunsten optimistischer wegwehen. Auf humoristische Weise zeigt uns Khider, dass das Zusammenleben verschiedener Ethnien und Religionen nicht nur möglich ist, sondern auch die Grundvoraussetzung für eine bessere und heiterere Zukunft sein muss.
71 Ebd., S. 214f. Parallelen kann man auch zwischen dem Zweiten Weltkrieg und dem Irak-Krieg ziehen. Nach beiden Kriegen kam es zu dem Paradoxon, dass man versuchte, sich als Jude oder Iraker auszugeben, um gewisse Vorteile auszuhandeln. 72 F. Aydemir: »Eine Sachbearbeiterin wird gefesselt«, online unter http://www.taz.de /!5270464/. 73 A. Khider: Ohrfeige, S. 169. 74 Ebd., S. 216. 75 Ebd., S. 218.
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»Irgendwann ging Rafid auf die Toilette, und als er zurückkam und wieder im Türrahmen stand, sagte er: ›Christen und Muslime stehen sich tolerant gegenüber – jedenfalls beim Pinkeln.‹ Wir grölten und lachten.«
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Dies offenbart sich auch bei der Zusammenarbeit Christians und Hassans, die das Erbrochene zusammen wegwuschen. Auch Karin Schmitt, »die Frau mit der Kiste«,77 nimmt im Leben der Asylbewerber einen besonderen Platz ein. Dank ihr bekamen die Flüchtlinge ihre Klamotten, und: »Alles, was ich von ihr wusste, war, dass sie uns liebte«.78 Sie opferte sich für die Flüchtlinge auf, als ob sie mit ihnen verwandt wäre. Gerade diese Beispiele zeigen, dass Khider das System an sich kritisiert und nicht die Menschlichkeit in den Fokus seiner Kritik stellt.
FAZIT In seinem Roman Ohrfeige schafft es Abbas Khider, den Nagel auf den Kopf zu treffen, indem er über verschiedene Individuen und ihre Schicksale schreibt. Die Leben dieser Menschen werden, egal ob im Krieg oder im Frieden, schrittweise und systematisch degradiert und zerstört, was zu verschiedenen Arten der Identitätskrisen führt. Die Gestalten befinden sich in einem Zwischenraum, einem Vakuum, da sie weder in der Heimat noch in der Fremde Fuß fassen können. Die innerlichen Brüche werden teilweise auch von äußerlichen Faktoren beeinflusst, konkret im Werk vom Unverständnis zweier Weltreligionen, des Christentums und des Islams. Beide Seiten sehen im Anderen die Ursache der bestehenden Gegenwartskrise, ohne dabei an den Mangel des Dialogs zu denken. »Jede Kultur verdunstet auf die Dauer, wenn sie sich selbst isoliert und auf den freien Gedankenaustausch verzichtet«.79 Anstatt von verschiedenen Kulturen zu sprechen, sollten wir eher versuchen, ein Bild der gemeinsamen Kultur zu unterstreichen. Weder der Orient noch der Okzident dürfen sich einen Neuanfang leisten, sondern sollten eher ihre Bausteine auf dem Fundament der Gemeinsamkeit weiterlegen und auf diese das neue Weltbild prägen. Aber dies auch in die Sphäre der Praxis umzuleiten, bedarf einer ganz neuen Vorgehensweise, nämlich jener des
76 Ebd., S. 99. 77 Ebd., S. 122. 78 Ebd. 79 H.M. Enzensberger: Das Licht der Selbsterkenntnis, S. 21.
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konstruktiven Dialogs. »Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen, sagte einst der große deutsche Philosoph Immanuel Kant«.80 »Das bedeutet, dass es nicht darum gehen kann, fremde Überzeugungen und Theorien ganz einfach zu übernehmen. […] Was man von anderen lernt, kann nur dann Wurzeln schlagen, wenn der Boden dafür taugt. Früchte wird ein solcher Lernprozess nur für den tragen, der sich auf seine Geschichte besinnt und sich an die eigene Tradition, das heißt in diesem Fall an die islamische Aufklärung erinnert, um sie produktiv weiterzuentwickeln. Keine Kultur kann von vorn anfangen, und keine hat es nötig, auf ihre verschütteten Schätze zu verzichten.«
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Es geht gerade um die Horizonterweiterung unserer Vorstellungen und unserer moralischen Prinzipien, auf die die Menschheit nicht verzichten kann, besser gesagt, nicht verzichten darf, und all dies zugunsten des Lichtes der Selbsterkenntnis. Darin stellt dieser Roman auch einen Versuch dar, die Stimme der anderen zu hören, um sich selbst zu erziehen.
LITERATUR Primärliteratur Kant, Immanuel: »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«, in: Erhard Kant (Hg.), Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen, Stuttgart: Reclam 1974, S. 9-11. Khider, Abbas: Ohrfeige, München: Carl Hanser 2016. Sekundärliteratur Antoon, Sinan: »Aus fremden Töpfen. Wie arabische und europäische Dichter sich gegenseitig wahrgenommen, beeinflusst und inspiriert haben«, in: Kulturaustausch (2009), S. 48-52. Aydemir, Fatma: »Roman ›Ohrfeige von Abbas Khider‹. Eine Sachbearbeiterin wird gefesselt«, in: taz vom 29.01.2016, online unter http://www.taz.de/ !5270464/. Blankenstein, Heidemarie: »Die Ersten ihres Faches«, in: Kulturaustausch (2009), S. 46-48. 80 Kant, Immanuel: »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«, in: Erhard Kant (Hg.), Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen, Stuttgart: Reclam 1974, S. 9-11, hier S. 9. 81 Ebd., S. 21.
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Bleicher, Thomas: »Das Exil der anderen – und die eigene Kultur«, in: Nasrin Amirsedghi/Thomas Bleicher (Hg.), Literatur der Migration, Mainz: Kinzelbach 1997, S. 74-88. Dericum, Christa: »Migration und Kultur«, in: Nasrin Amirsedghi/Thomas Bleicher (Hg.), Literatur der Migration, Mainz: Kinzelbach 1997, S. 30-34. Die Bibel. Das Buch Exodus. Kapitel 23,9, https://www.uibk.ac.at/theol/ leseraum/bibel/ex23.html. Encke, Julia: »Flüchtlingsroman. Vom Warten wird man immer blöder«, in: Frankfurter Allgemeine vom 30.01.2016, online unter http://www.faz.net/ aktuell/feuilleton/buecher/fluechtlingsroman-vom-warten-wird-man-immerbloeder-14030679.html? printPagedArticle=true#pageIndex_2. Enzensberger, Hans Magnus: »Das Licht der Selbsterkenntnis. Warum es keine Anleitung zur Aufklärung geben kann«, in: Kulturaustausch, 2009, S. 20-22. Heinrich, Kaspar: »Flüchtlingsroman von Abbas Khider. Man wird ja wohl noch durchdrehen dürfen«, in: Spiegel online vom 02.02.2016, online unter http://www.spiegel.de/kultur/literatur/ohrfeige-autor-abbas-khider-blossnicht-der-musterimmigrant-sein-a-1074666.html. Keykawussi, Djamschid: »Leben im Exil: Chance oder Krise?«, in: Nasrin Amirsedghi/Thomas Bleicher (Hg.), Literatur der Migration, Mainz: Kinzelbach 1997, S. 100-109. Khalil, Georges: »Trennungsgründe. Wie sich der Nahe Osten und Europa über ihrer gemeinsamen Geschichte entzweien«, in: Kulturaustausch (2009), S. 22-24. Pries, Ludger: Internationale Migration, Bielefeld: transcript 32010. Pörksen, Uwe: »Eingewandert in die Sprache – angekommen in der Literatur«, in: Uwe Pörksen/Bernd Busch (Hg.), Eingezogen in die Sprache, angekommen in der Literatur. Positionen des Schreibens in unserem Einwanderungsland, Göttingen: Wallstein 2008, S. 5-10. Saalfeld, Lerke von: »In den Stromschnellen der Sprache«, in: Uwe Pörksen/ Bernd Busch (Hg.), Eingezogen in die Sprache, angekommen in der Literatur. Positionen des Schreibens in unserem Einwanderungsland, Göttingen: Wallstein 2008, S. 25-30. Speich, Yulia: »Mit spannenden Büchern durch den Leipziger Frühling 2016«, in: Niederlausitz aktuell vom 01.06.2016, online unter http://www.nieder lausitz-aktuell.de/nachbarn/item/61304-mit-spannenden-buechern-durch-den -leipziger-fruehling-2016.html. Spiegel, Hubert: »Abbas Khiders Roman ›Ohrfeige‹. Das Land, wo Hass und Honig fließen«, in: Frankfurter Allgemeine vom 11.02.2016, online unter http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/abbas-khiders-roman-ohrfeige-
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ueber-einen-fluechtling-aus-irak-14050413.html?printPagedArticle=true# pageIndex_2. Stanišić, Saša: »Wie ihr uns seht. Über drei Mythen vom Schreiben«, in: Uwe Pörksen/Bernd Busch (Hg.), Eingezogen in die Sprache, angekommen in der Literatur. Positionen des Schreibens in unserem Einwanderungsland, Göttingen: Wallstein 2008, S. 104-110. Stöcker, Christian: »Barbarei und Toleranz. Zum Glück gibt’s den Islam«, in: Spiegel online vom 02.10.2016, online unter http://www.spiegel.de/wissen schaft/mensch/abendland-zum-glueck-gibt-s-den-islam-kolumne-a-1114693. html. Trojanow, Ilija: »Mutmaßungen über die eigene Fremde«, in: Uwe Pörksen/ Bernd Busch (Hg.), Eingezogen in die Sprache, angekommen in der Literatur. Positionen des Schreibens in unserem Einwanderungsland, Göttingen: Wallstein 2008, S. 30-34.
Im Dickicht der deutschen Asylbürokratie Jenny Erpenbecks Gehen, ging, gegangen (2015) und Abbas Khiders Ohrfeige (2016) im Vergleich Beate Petra Kory
Abstract: Mitte des Jahres 2015 und Anfang des Jahres 2016 sind in Deutschland zwei Romane erschienen, die sich beide dem hochaktuellen Thema der Flucht und Migration widmen: Gehen, ging, gegangen der deutschen Schriftstellerin Jenny Erpenbeck und Ohrfeige des in Bagdad geborenen Abbas Khider. Der vorliegende Beitrag nimmt sich vor, Ähnlichkeiten und Unterschiede dieser beiden in der Öffentlichkeit viel diskutierten Romane herauszuarbeiten. Schlüsselwörter: Flucht und Migration, deutsche Asylbürokratie, Asylgründe, Leben im Exil.
1. ZEIT DER HANDLUNG Aufgrund ihres gewählten brisanten Themas wurde beiden Schriftstellern von den Rezensenten bescheinigt, das Buch der Stunde geschrieben zu haben.1 Jedoch ist nur die Handlung von Erpenbecks Roman in der unmittelbaren Vergangenheit situiert. Die Romanhandlung spielt nämlich vom Sommer des Jahres 2014 bis Frühjahr 2015, wobei das Schicksal der afrikanischen Flüchtlinge im 1
Siehe Schmitter, Elke, Der Spiegel vom 05.09.2015 (online unter http://www.spie gel.de/spiegel/print/d-138493614.html, zuletzt abgerufen am 29.01.2017) und Scheck, Denis, ARD druckfrisch vom 21.02.16 (online unter http://www.daserste.de/ information/wissen-kultur/druckfrisch/sendung/abbas-khider-ohrfeige100.html, letzt abgerufen am 29.01.2017).
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Mittelpunkt des Romans steht, die 2012 aus verschiedenen Teilen Deutschlands nach Berlin gereist sind, um auf dem Oranienplatz in Berlin ein Protestcamp zu errichten und eine menschlichere Lösung für sämtliche Flüchtlinge in Europa zu fordern. 2014 kommt es zu einer Einigung zwischen dem Berliner Senat und den Flüchtlingen auf dem Berliner Oranienplatz, so dass diese den Platz freiwillig räumen. In der Folge werden sie auf mehrere Unterkünfte in der Stadt verteilt, bis von den Behörden der Beschluss gefasst wird, dass diejenigen, die in anderen Städten und Ortschaften Deutschlands einen Asylantrag gestellt haben, auch dorthin zurückkehren müssen, denn während des Asylverfahrens ist den Flüchtlingen der Ortswechsel innerhalb Deutschlands verboten. In den Roman geht auch der Protest einiger Flüchtlinge auf dem Dach der Friedrichshainer Asylantenunterkunft ein, die sich gegen die Verweigerung des Berliner Aufenthaltsrechts wehren. Die Zeit der Handlung in Khiders Roman liegt zehn Jahre weiter zurück, obwohl sich auch der irakische Schriftsteller in ihm des brisanten, aktuellen Themas der Flucht und Migration annimmt. Die eigentliche Romanhandlung spielt sich im Jahr 2004 ab, wobei vermerkt wird, dass der Ich-Erzähler zu diesem Zeitpunkt drei Jahre und vier Monate in Deutschland verbracht hat.2 Wichtige geschichtliche Ereignisse, welche die Wahrnehmung der irakischen Flüchtlinge in Deutschland wesentlich verändert haben und welche der Ich-Erzähler Revue passieren lässt, sind die Terroranschläge auf das World Trade Center vom 11. September 2001 und die Befreiung des Iraks von der Diktatur im Frühjahr 2003. Auf die Frage von Peter-Andreas Hassiepen, ob der Roman ein Versuch sei, die aktuellen Erfahrungen von Flüchtlingen begreiflich zu machen, gibt Khider zu bedenken, dass er knapp vier Jahre an diesem Roman gearbeitet habe und eigentlich eine Parallelgesellschaft darstellen wollte, die in der deutschen Literatur oft nur oberflächlich vorkomme und unbekannt sei. Desgleichen habe er sich auch zum Ziel gesetzt, zu zeigen, wie die Menschen, die in dieser Parallelgesellschaft leben, die andere Gesellschaft der Einheimischen sehen und betrachten. Dabei sei ihm das Thema literarisch und historisch ziemlich wichtig gewesen. Die scheinbare Aktualität des Romans führt er darauf zurück, dass sich von 2001 bis jetzt nicht so viel in der Beziehung dieser beiden Gesellschaften geändert habe.3
2
Vgl. Khider, Abbas: Ohrfeige, München: Carl Hanser 2016, S. 39.
3
Abbas Khider im Interview, online unter http://literatourismus.net/2016/02/abbaskhider-im-interview/, zuletzt abgerufen am 29.01.2017.
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2. ZUGANG ZUM THEMA UND ERZÄHLPERSPEKTIVE Nicht nur die Zeit der Handlung wird in den beiden Flüchtlingsromanen verschieden gewählt, sondern auch die Erzählperspektive, die sich auch aus dem unterschiedlichen Zugang der beiden Schriftsteller zum Thema ergibt. In einem Interview mit Cornelia Geißler für die Berliner Zeitung spricht Erpenbeck über das Bootsunglück im Oktober 2013 vor der italienischen Insel Lampedusa, bei dem fast vierhundert Menschen umgekommen sind und das ihre Beschäftigung mit der Flüchtlingsproblematik ausgelöst habe. Sie sei verreist gewesen und habe aus der Ferne die Reaktionen in Deutschland beobachtet: »Da gab es sofort eine vehemente Ablehnung, als hätten die Flüchtlinge die Deutschen durch ihren Tod erpressen wollen«.4 Kurz danach sei sie auf den Oranienplatz zum Protestcamp gegangen und nach dessen Räumung habe sie Gespräche mit den Englisch sprechenden Flüchtlingen in einem Asylbewerberheim begonnen. Dabei bekennt sie, dass diese Gespräche ihren eigenen Alltag verändert haben: »Zu sehen, wie diese Männer den ersten Tag auf Matratzen rumsitzen, weil sie nichts zu tun haben, denn sie dürfen ja nicht arbeiten, wie sie den zweiten Tag da herumsitzen, den dritten, und so weiter und so weiter: Diese Menschen jeden Tag zu sehen, immer nur wartend, das macht etwas mit einem, wenn man sich in diese Wirklichkeit so hineinwirft«.
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Ihre Annäherung an die Flüchtlingsthematik hat auch viel frühere Wurzeln. Ihre Familie ist durch Fluchtgeschichten geprägt: Die Großeltern väterlicherseits sind vor den Nazis in die Sowjetunion emigriert; die Großeltern mütterlicherseits sind zu Kriegsende aus Ostpreußen geflohen. Ihr Interesse an der arabischen Kultur ist auf ihre Mutter, Doris Kilias, zurückzuführen, die als Wissenschaftlerin auf ägyptische und algerische Literatur spezialisiert war und aus dem Arabischen übersetzt hat. Erpenbeck erwähnt auch ihre eigenen Reisen nach Kairo, in den Libanon und nach Syrien.6
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Geißler, Cornelia: »Flüchtlingsroman ›Gehen, ging, gegangen‹ von Jenny Erpenbeck. Den Menschen, die zu uns kommen, ein Gesicht gegeben«, in: Berliner Zeitung vom 09.10.2015, online unter http://www.berliner-zeitung.de/kultur/literatur/fluechtlingsro man--gehen--ging--gegangen--von-jenny-erpenbeck-den-menschen--die-zu-uns-kom men--ein-gesicht-gegeben-23028820, zuletzt abgerufen am 20.12.2016.
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Die Journalistin vermutet, dass der Beschäftigungskreis der Mutter der Schriftstellerin zur Wahl eines emeritierten Professors für Klassische Literatur als handelnde Figur geführt hat. Diese Perspektive macht die vielfältigen Bezüge, die im Roman zwischen den Lebensgeschichten der Flüchtlinge und der Literatur hergestellt werden, plausibel. Erpenbeck begründet ihre Entscheidung für die Männerperspektive aus der Überlegung heraus, dass bei einer Frau »das Interesse an Hilfsbedürftigen immer gleich so etwas Mutter-Theresa-Haftes« habe.7 Dabei sei es ihr auch wichtig gewesen, dass ihr Protagonist die Erfahrung des Umbruchs mit den Flüchtlingen teile. Als emeritierter Professor, der den größeren Teil seines Lebens in der DDR verbracht hat, betont die Schriftstellerin, ist er »wie die Flüchtlinge auf sich selbst zurückgeworfen«.8 So ist nicht nur von Bedeutung, dass Richard sich nur schwer mit der erzwungenen intellektuellen Beschäftigungslosigkeit abfinden kann und deswegen nach neuen Betätigungskreisen sucht, sondern auch die Tatsache, dass ihn die Wende im Jahre 1990 tief geprägt hat und er sich im vereinten Berlin noch immer nur mit dem Navigationsgerät zurechtfindet. Gegen Ende des Interviews mit Cornelia Geißler verweist die Autorin noch ungefragt darauf, dass sie ein Mündel betreue, einen »ziemlich intelligente[n] jungen Mann« aus Gambia, der nächstes Jahr volljährig werde. Er habe eine Duldung erhalten und wenn er eine Ausbildung finde, dürfe er auch in Deutschland arbeiten.9 Diesen Hinweis interpretiert die Journalistin als Beweis dafür, wie tief Erpenbeck selbst von ihrer Recherche für das Buch geprägt worden ist. Das oben erwähnte Interview der Autorin mit Geißler macht deutlich, dass Gehen, ging, gegangen eigentlich ein Roman über die eigene Recherche zur Problematik der afrikanischen Flüchtlinge ist und dass daher die Perspektive der sich in das Thema einlesenden Autorin mit jener des emeritierten Professors der Klassischen Philologie an der Humboldt Universität verschmilzt. Im Unterschied zu Erpenbeck liegt im Falle Khiders der Zugang zum Flüchtlingsthema seines Buches in der eigenen Erfahrung begründet. Der in Bagdad geborene Autor, der wegen politischer Aktivitäten gegen das Regime Saddam Husseins in einem irakischen Gefängnis gefoltert wurde, fand im Jahre 2000 nach Aufenthalten in verschiedenen Ländern wie Jordanien und Libyen schließlich in Deutschland Asyl. Er studierte in München und Potsdam Literatur und
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Philosophie und erhielt nach sieben Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft.10 Ohrfeige ist sein vierter Roman, in den seine Erfahrungen als Asylbewerber in Deutschland eingehen. Obwohl das Schicksal seines Protagonisten Karim Mensey, der gleichzeitig der Ich-Erzähler des Romans ist, Parallelen zum Lebensweg des Autors aufweist, will Khider seine Geschichte nicht autobiografisch verstanden wissen, wie der Journalist Kaspar Heinrich betont. Um solchen Missdeutungen vorzubeugen, behauptet der Autor: »Ich schreibe über reale Personen und wahre Begebenheiten, die ich literarisch verfremde, wenn es notwendig ist«.11 Die literarische Verfremdung der Wirklichkeit, die Neuerfindung bzw. Verwandlung der Lebensgeschichte in Literatur ist darauf zurückzuführen, dass Khider seine traumatische Vergangenheit hinter sich lassen möchte, denn die ständige Beschäftigung damit würde ihn am Weiterleben hindern.12 Khider hebt hervor, dass es ihm für den Roman Ohrfeige wichtig gewesen sei, sich von Rollen zu distanzieren. Er wollte den Roman weder als Asylant noch als Deutscher schreiben, sondern allein als Schriftsteller.13 So ist die Erzählsituation, in welcher sein Protagonist, der irakische Flüchtling Karim Mensey, seine persönliche Geschichte seit seiner Flucht aus Bagdad vor der Beamtin ausbreitet, die er geohrfeigt und an einen Stuhl gefesselt hat, eine rein imaginäre, vom Haschischrauchen hervorgerufene. Karim ist in der Münchener Wohnung seines Freundes Salim untergetaucht, da er keine Aufenthaltserlaubnis mehr hat und hofft, in einer Großstadt weniger aufzufallen als in der kleinen Ortschaft Niederhofen an der Donau. Er wartet hier auf den Lastwagenfahrer, der ihn nach Finnland bringen soll. So verschieden der Zugang der beiden Autoren zum Thema ist, ergibt sich jedoch die gewählte Erzählperspektive in beiden Fällen aus eben diesem persönlichen Zugang. Erpenbeck entwickelt aufgrund ihrer Recherche weitgehend einen Tatsachenroman, der die immer tiefere Implikation ihres Protagonisten aufgrund seines Wissens über das Leben der Flüchtlinge vorführt. Khider schafft in seinem Bemühen, sich von der eigenen Problematik zu entfernen, satirische Fiktion.
10 Vgl. https://www.munzinger.de/search/portrait/Abbas+Khider/0/29269.html, zuletzt abgerufen am 29.12.2016. 11 Heinrich, Kaspar: »Flüchtlingsroman von Abbas Khider. Man wird ja wohl noch durchdrehen dürfen«, in: Spiegel online vom 02.02.2016, online unter http://www.spie gel.de/kultur/literatur/ohrfeige-autor-abbas-khider-bloss-nicht-der-musterimmigrantsein-a-1074666.html, zuletzt abgerufen am 29.12.2016. 12 Vgl. ebd. 13 Ebd.
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3. BANNEN DER AUFMERKSAMKEIT DURCH EINE PROTESTAKTION Beiden Romanen ist gemeinsam, dass die Flüchtlinge durch eine Protestaktion die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Erpenbecks Roman setzt mit der Schilderung der Gleichgültigkeit der Menschen gegenüber anderen, die sich in Gefahr befinden, ein. Der Protagonist des Romans, Richard, wohnt an einem See, den er von seinem Schreibtisch aus sehen kann. Im Juni ist in diesem See ein Mann beim Baden ertrunken, obwohl zwei Ruderboote mit kräftigen, jungen Männern in der Nähe waren. Damit wird die Gleichgültigkeit der Menschen einem Mann in Gefahr gegenüber angesprochen, aber gleichzeitig auch die Angst, sich durch die Implikation selbst zu gefährden: »Zwei Ruderboote seien in der Nähe gewesen, aber keiner von den Insassen habe geglaubt, dass da gerade ein Unglück geschieht. Hätten den Mann winken sehen und es für einen Scherz gehalten. Seien weggerudert sogar, hat er gehört. […] Oder hatten vielleicht doch Angst, dass der Mann sie mit hinunterzieht, wer weiß«.
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So wird der See mit der Leiche zu einem Ort der Bedrohung, der leitmotivisch immer wieder im Roman auftaucht. Gleichgültigkeit gegenüber den Flüchtlingen könnte man auch dem Protagonisten zu Beginn des Romans vorwerfen. Obwohl sich Richard zweimal in der Nähe der zehn hungerstreikenden Männer schwarzer Hautfarbe auf dem Berliner Alexanderplatz vor dem Roten Rathaus befindet, die Arbeit und Bleiberecht in Deutschland fordern, aber nicht gewillt sind, ihre Identität preiszugeben, erfährt er von dem Vorfall erst aus dem Fernsehen, als er sich bei belegten Broten die Abendschau mit Nachrichten aus Stadt und Region ansieht. Er stellt sich die Frage, warum er die Demonstration nicht gesehen hat, obwohl er zweimal über den Alexanderplatz gegangen ist.15 Bald erfährt er aus der Zeitung, die er nun, da er mehr Zeit hat, aufmerksamer liest, über die Flüchtlingstragödie vor der italienischen Insel Lampedusa, von der seit Monaten von Schwarzafrikanern besetzten Schule in Kreuzberg sowie vom Flüchtlingscamp auf dem Oranienplatz, in dem die Flüchtlinge seit einem Jahr leben. Obwohl der Ort ihm Angst einflößt, fährt er mit der S-Bahn zur Kreuzberger Schule, von wo ihn dann der ohrenbetäubende Lärm eines Knallers vertreibt. Er geht auch auf den Oranienplatz, setzt
14 Erpenbeck, Jenny: Gehen, ging, gegangen. Roman, München: Albrecht Knaus 2015, S. 12. 15 Vgl. J. Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen, S. 27.
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sich auf eine Parkbank und hört zwei Stunden zu, was um ihn herum geschieht. Diese beiden Besuche lösen in ihm den Entschluss aus, mit den Flüchtlingen Gespräche zu führen, da er eine Gemeinsamkeit zwischen ihnen und sich erkennt: »Über das sprechen, was Zeit eigentlich ist, kann er wahrscheinlich am besten mit denen, die aus ihr herausgefallen sind. Oder in sie hineingesperrt, wenn man so will.«16 Nachdem aufgrund einer Einigung mit dem Berliner Senat die Flüchtlinge das Protestcamp räumen und auf verschiedene karitative Einrichtungen in der Stadt verteilt werden, beschließt Richard aufgrund eines von ihm zuvor erstellten Fragenkatalogs die Befragung der Flüchtlinge aufzunehmen, da sich das eine, zu einem Altersheim gehörende Gebäude, in seiner Nähe befindet. Dem Leiter des Hauses, dem er sich vorstellen muss, teilt er mit, dass er an einem Forschungsprojekt arbeite. Der Anfangssatz von Khiders Roman beschreibt die Wirkung einer Ohrfeige, die ein irakischer Asylant der Beamtin in der Ausländerbehörde verabreicht, die sich mit seinem Fall beschäftigt hat: »Stumm und starr vor Angst hockt sie in ihrem Drehstuhl, als hätte die Ohrfeige sie betäubt.« 17 Mit einem Packband fesselt er ihre Hände an die Armlehnen, die Fußgelenke an die Stuhlbeine und klebt mit mehreren Streifen ihren Mund zu. Kunstvoll stehen am Anfang des Abschnitts die beiden doppelt hervorgehobenen Wörter – einmal durch die Schreibung mit Großbuchstaben und zweitens durch den Fettdruck – stumm und starr vor Angst. Diese beiden Wörter, welche bis jetzt die Situation des gegenüber den deutschen Behörden zur Stummheit verurteilten Flüchtlings kennzeichneten, der starr vor Angst in die Zukunft blickt, werden nun zu Charakteristika der Befindlichkeit einer deutschen Beamtin, die für diese ausweglose Lage des Flüchtlings verantwortlich ist. Als Zweck der Fesselung nennt der Ich-Erzähler das »Zusammen Reden«, das sich »von Mensch zu Mensch in aller Ruhe unterhalten«,18 wobei sich diese Ausdrücke angesichts des zugeklebten Mundes der Beamtin als ironisch erweisen. Nun soll sie, die keine Zeit und keinen Willen für ihn aufbringen wollte, dem Flüchtling zuhören und seine Lebensgeschichte gegen ihren Willen erfahren, damit er sich seine »Sorgen von der Seele rede[t].«19 Es tut auch nichts zur Sache, dass der Flüchtling das Gespräch mit ihr nicht auf Deutsch führt, sondern auf Arabisch, denn er ist davon überzeugt, dass die Kluft zwischen den beiden Welten, denen sie angehören, viel zu groß ist, um eine Verständigung zu ermöglichen: »Auch wenn Arabisch ihre Muttersprache
16 Ebd., S. 51. 17 A. Khider: Ohrfeige, S. 9. 18 Ebd., S. 12. 19 Ebd., S. 10.
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wäre, würde sie mich nicht verstehen. Sie stammt aus einer ganz anderen Welt als ich. Ein Erdling spricht gerade mit einem Marsianer. Oder umgekehrt.« 20 Erst am Ende des Romans stellt sich heraus, dass diese Anfangsszene nur der Wunschphantasie des Ich-Erzählers entsprungen ist, der sich unter dem Einfluss des Haschischrauchens als mythischer Held, der den Olymp erstürmt, erlebt. 21 Er versucht jedoch nicht Zeus, den obersten olympischen Gott zu stürzen, sondern die Beamtin der Ausländerbehörde in Deutschland, der er seine Abschiebung vorwirft. Sie erscheint ihm als »eine Göttin«, die darüber entscheidet, auf welche Weise er existieren darf oder soll, aber auch als »Naturgewalt, die Macht über andere Menschen hat«,22 wobei mit letzterem Begriff die Unvorhersehbarkeit und Irrationalität all ihrer Entscheidungen angedeutet wird. Die Attribute des mächtigsten griechischen Gottes, Zepter, Adler, Blitzbündel und Helm weichen dem Flachbildschirm, der die Rolle eines Schilds vor dem Gesicht der Beamtin einnimmt, wobei auch Aktenberge den Oberkörper schützen. Die Funktion des Blitze Schleuderns wird durch das Herumfuchteln mit einem spitzen Füller in der Luft ersetzt, das wie »Fliegenerstechen« anmutet. Durch diesen Vergleich wird die Gefährlichkeit dieser Handlung ironisch entschärft. Das Gewicht ihres »übertrieben großen Stempels« vermag es aber, Hoffnungen zu erdrücken. 23
4. DIE FLÜCHTLINGSEXISTENZ Obwohl das Leben der afrikanischen Männer bei Erpenbeck vornehmlich aus der Außenperspektive eines Ostberliners geschildert wird, während Khider die Innenperspektive seines aus Bagdad geflüchteten Ich-Erzählers einsetzt, kommen die meisten Ähnlichkeiten zwischen den beiden Romanen in der Beschreibung der Flüchtlingsexistenz vor. 4.1 Das Umschlagbild Schon die Umschlagbilder beider Romane heben die Besonderheit der Flüchtlingsexistenz im Vergleich mit dem normalen menschlichen Leben hervor. Die schwarze Zeichnung auf dem weißen Schutzumschlag des Romans Gehen, ging, gegangen, die sich dann weiß auf dem schwarzen Buchdeckel darunter wiederholt, stammt von dem Afrikaner Saleh Bacha. Sein Name steht im
20 Ebd. 21 Vgl. ebd., S. 11. 22 Ebd. 23 Ebd.
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Impressum des Buches neben jenen anderer Flüchtlinge, bei denen sich die Autorin für die mit ihr geführten Gespräche bedankt. Cornelia Geißler beschreibt diese Zeichnung folgendermaßen: »Durch einen Kreis verlaufen kreuz und quer Linien wie Fäden, die letzte endet einfach so.«24 Während alle Fäden mit Ausnahme eines einzigen straff gespannt sind und geradlinig von einem Punkt des Ovals zu einem gegenüberliegenden verlaufen, weist ein Faden einen großen Bogen sowie zwei Schlaufen auf und endet noch, bevor er die gegenüberliegende Seite des Ovals erreicht. Dieser Faden steht symbolisch für das Leben der Flüchtlinge, das mit endlosem Warten und Unsicherheit ausgefüllt ist. Der Schutzumschlag des Buches Ohrfeige zeigt eine Schwimmhäute aufweisende Menschenhand. Diese Hand ist Teil der Illustration: Hand. Schwimmhäute an der Menschenhand. Links: Hand einer Afrikanerin, rechts: Hand eines Europäers.25 Auf den ersten Blick steht die Hand mit dem Titel des Buches in Beziehung und meint die Hand, mit welcher die Protestaktion ausgeführt wird. Bei näherer Betrachtung weist die Hand auf die Schwierigkeiten der Existenz des Flüchtlings hin, der sich über Wasser halten muss und deswegen Schwimmhäute entwickelt hat. 4.2 Asylgründe Während in Erpenbecks Roman allen afrikanischen Flüchtlingen der Status von politischen Flüchtlingen zugesprochen werden kann, weil sie durch den Krieg aus ihrem Land vertrieben wurden, geht es Khider darum, auch andere Gründe zu beleuchten, weshalb Menschen ihr Land verlassen. In einem Interview mit Julia Encke für die Frankfurter Allgemeine Zeitung äußert er sich dazu wie folgt: »Die Rede ist immer von Wirtschaftsflüchtlingen und politischen Flüchtlingen. Aber es gibt noch ganz andere Probleme. Es gibt Menschen, die versuchen, in einem anderen Land zu arbeiten, weil zum Beispiel der Sohn im Heimatland krank ist und man die Operation nicht bezahlen kann. Oder man ist verfolgt, nicht politisch, aber aufgrund eines
24 C. Geißler: »Flüchtlingsroman ›Gehen, ging, gegangen‹ von Jenny Erpenbeck. Den Menschen, die zu uns kommen, ein Gesicht gegeben«, in: Berliner Zeitung vom 09.10.2015, online unter http://www.berliner-zeitung.de/kultur/literatur/ fluechtlingsroman--gehen--ging--gegangen--von-jenny-erpenbeck-den-menschen--die-zu-unskommen--ein-gesicht-gegeben-23028820, zuletzt abgerufen am 20.12.2016. 25 Vgl. http://www.quagga-illustrations.de/produkt/h0021914-3/, zuletzt abgerufen am 20.12.2016.
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Familienkonflikts. Es gibt unendlich viele Gründe, warum Menschen ihre Heimat verlassen. Ich wollte eine Geschichte, die vielleicht absurd erscheint, aber dennoch wahr ist«.
26
So ist der »wahre Grund« seiner Flucht aus dem Irak, den Karim nicht gern öffentlich breittreten möchte,27 sein Leiden an der Gynäkomastie. In der Pubertät sind ihm weibliche Brüste gewachsen. Den Ursprung seiner Krankheit liegt nach ihm in der Vergewaltigung und Ermordung seiner ersten Liebe Hayat: »Hayat wollte mich für den Rest meines Lebens begleiten und deswegen schenkte sie mir einen Teil ihres Körpers. Deswegen wurde ich so ein seltsames Wesen.« 28 Er schämt sich ins Schwimmbad zu gehen oder Fußball zu spielen. Als er zum Militärdienst einberufen wird, teilt er seinem Vater den Wunsch mit, im Ausland zu studieren, auf den sein Vater gleich eingeht, weil er nicht auch noch seinen zweiten Sohn verlieren will.29 So ist der wahre Grund seiner Flucht die Hoffnung, sich in Deutschland einer Operation unterziehen zu können, die ihm erlaubt »ein normaler Mann zu werden.«30 Doch diese kostet 6.000 Euro und wird nicht von der Krankenkasse getragen. Symbolisch verkörpert sich in Karims Hoffnung der Anspruch aller Flüchtlinge auf ein normales Leben, in einem Land ohne Diktatur, wo Frieden herrscht. Als Karim von einem seiner Zimmergenossen nach seinen Asylgründen gefragt wird und er »Fahnenflucht«31 angibt, klärt ihn ein anderer Flüchtling namens Rafid darüber auf, dass dies »kein ausreichender Grund« 32 sei, in Deutschland Zuflucht zu suchen. Wenn er nicht für den Rest seines Lebens im Asylantenwohnheim feststecken wolle, müsse er sich »eine komplett neue Lebensgeschichte einfallen lassen«33: »Die Grundregel ist: Niemals die Wahrheit sagen! Sag, dass du mit der Opposition zusammengearbeitet hast. Der Staat sucht dich seit Jahren. Und du kannst nicht mehr dort leben, weil du sonst ins Gefängnis kommen und gefoltert oder sogar hingerichtet würdest.
26 Encke, Julia: »Flüchtlingsroman. Vom Warten wird man immer blöder«, in: Frankfurter Allgemeine vom 30.01.2016, online unter http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/bue cher/fluechtlingsroman-vom-warten-wird-man-immer-bloeder-14030679.html, zuletzt abgerufen am 29.12.2016. 27 A. Khider: Ohrfeige, S. 76. 28 Ebd. S. 87. 29 Vgl. ebd., S. 91. 30 Ebd., S. 93. 31 Ebd., S. 68. 32 Ebd., S. 69. 33 Ebd.
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Das können die eh nicht kontrollieren. […] Die Hauptsache ist, dass du den Richter von zwei Dingen überzeugst. Erstens: dass du nicht in deine Heimat zurückkehren kannst. Und zweitens: dass du bisher in keinem anderen Asylland warst.«
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Auf Karims Entgegnung, dass er zu Hause im Irak nicht einen einzigen wirklichen Regimegegner kennengelernt habe und nun im deutschen Asylantenheim plötzlich von Revolutionären umgeben sei, gibt Rafid die Absurdität der Situation zu, dass man lügen müsse, wenn man »einfach ein ruhiges Leben führen« 35 möchte: »Es ist doch völlig absurd, dass man erst ernsthaft verfolgt und gefoltert werden muss, um ein Recht auf Asyl zu erhalten.«36 Rafid klärt ihn auch darüber auf, dass sich viele Asylanten als Iraker ausgeben, weil sie dadurch, dass die irakische Diktatur gefürchtet ist, mehr Chancen haben, in Deutschland eine Aufenthaltserlaubnis zu erhalten: »Das Lustige daran ist, dass die Bevölkerungszahl des Iraks außerhalb des Iraks immer größer wird.«37 So gibt Karim bei seiner Verhandlung als Asylgrund an, den Präsidenten Saddam Hussein und seine Frau beleidigt zu haben, weswegen ihm bei Rückkehr ins Land die Hinrichtung drohe.38 Auch erzählt er nicht die Wahrheit über die zahlreichen Einzeletappen seiner Reise, sondern gibt an, sich auf der Ladefläche eines einzigen Lkws versteckt zu haben, ohne ein anderes Land betreten zu haben, denn Asyl soll das erste westliche Land gewähren, das der Flüchtling betritt. Während in Khiders Roman sich die Flüchtlinge eine asyltaugliche Geschichte ausdenken müssen, um vor der Asylbehörde eine Chance zu haben, möchten sich Erpenbecks Flüchtlinge nur auf die Wahrheit berufen. So bietet der in Ghana geborene Awad, der später in Libyen aufgewachsen ist, Richard von alleine an, ihm seine Geschichte zu erzählen, mit der Begründung: »wenn jemand irgendwo ankommen wolle, dürfe er nichts verbergen.« 39 Und als Richard dem jungen Tuareg aus der Wüste Nigers den Ratschlag gibt, beim Interview bei der Ausländerbehörde darauf zu bestehen, dass er in seinem Land als Minderheit verfolgt werde, schlägt dieser den gut gemeinten Rat mit der Entgegnung aus: »Wenn ich mein Interview habe, erzähle ich meine Geschichte. […] Ich erzähle
34 Ebd., S. 72. 35 Ebd., S. 73. 36 Ebd. 37 Ebd., S. 74. 38 Vgl. ebd., S. 108. 39 J. Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen, S. 73.
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meine Geschichte, so wie sie war.«40 Dabei gilt das Erzählen der Wahrheit als Bewahrung der eigenen Würde des Emigranten. Das Erzählen der Wahrheit kann jedoch keineswegs die Anerkennung des Asylstatus des Bewerbers sichern und dies ist darauf zurückzuführen, dass die Asylbehörden jeden Fall genau prüfen müssen, weil es auch viele so genannte Asylbetrüger gibt. Dieses undurchdringliche Geflecht zwischen Wahrheit und Lüge zu beleuchten, setzt sich Khider in seinem Roman zum Ziel, wenn er die persönlichen Asylgründe in den Vordergrund treten lässt. Höhepunkt seiner Ironie ist, dass beispielsweise Rafids Asylantrag ein halbes Jahr nach dem 11. September abgelehnt wird, obwohl er »wahrscheinlich der Einzige im Asylantenheim« war, »der wirklich ein politisches Problem in der Heimat gehabt hatte.«41 Er behauptet, sein Fehler sei es gewesen, die Wahrheit erzählt zu haben. Er landet schließlich in der Psychiatrie. Der Ablehnung von Rafids Asylantrag gegenüber steht die Duldung dreier Männer, »zwei[er] Kurden und ein[es] Turkmene[n] aus dem Irak«,42 die im Asylantenheim in Niederhofen an der Donau für Karim zum Albtraum werden. Sie beklauen regelmäßig die Kleiderwarenhandlungen H&M sowie C&A und verkaufen die Ware dann auf der Straße zum halben Preis. Die Polizei stört sie nicht, da sie »von einem mächtigen deutsch-polnischen Gangsterboss unterstützt« werden, »der mit Drogen handelte.«43 Karim wundert es, dass der ständig Straftaten begehende Kurde nicht schon längst in den Nordirak abgeschoben wurde, wo sich die Kurden seit dem Golfkrieg 1991 mit amerikanischer Unterstützung selbst verwalten. Nach dem 11. September 2001 bekommen alle drei eine Aufenthaltserlaubnis, obwohl sie schon seit Jahren auf das Ergebnis ihres Asylantrags gewartet hatten. Karim vermutet, dass sie einen Deal mit dem Staat eingegangen sind und Deutschland Informationen über andere Flüchtlinge weitergegeben haben.44 So beleuchtet Khider in seinem Roman auch die unmittelbare Auswirkung der politischen Ereignisse auf den Erfolg der Asylbewerber. Nach dem 11. September werden alle Araber als »verdächtig«45 abgestempelt und es wird für sie unmöglich einen Job, sei es auch nur in einer Fastfoodküche, zu bekommen. Auch Karim muss zu einer Besprechung bei der Kriminalpolizeiinspektion in Niederhofen erscheinen. Die strengere Kontrolle, die für viele jegliche Hoffnung
40 Ebd., S. 210f. 41 A. Khider: Ohrfeige, S. 204. 42 Ebd., S. 136. 43 Ebd., S. 137. 44 Vgl. ebd., S. 168. 45 Ebd., S. 164.
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verfliegen lässt, wirkt sich negativ auf die Psyche der Asylanten aus. Karim hält fest: »Der ganze Irrsinn führte dazu, dass einige von uns fanatisch wurden. Ja, Frau Schulz, die bösen Muslime wurden jetzt tatsächlich böse.«46 Er berichtet auch von einem Mitbewohner, der sich innerhalb weniger Wochen »von einem herzensguten Menschen zu einem Fundamentalisten« verwandelt hat.47 Die Befreiung des Iraks von der Diktatur Saddam Husseins im Frühjahr 2003 durch die Amerikaner führt zum Widerruf der Asylanträge und zum Entzug der Aufenthaltserlaubnis. Karim berichtet: »Im September begann für uns in Deutschland ein neuer Krieg. Die Behörden feuerten jetzt eine Widerrufrakete nach der anderen auf uns irakische Asylanten«.48 Für den ahnungslosen Leser beschreibt er, wie die Situation im Irak nach dem Sturz der Diktatur aussieht: »Im Irak gibt es zwar keine Diktatur mehr, aber ein heilloses Chaos. Täglich Bombenanschläge, Armeen aus allen Teilen der Welt und die Saddamisten erschießen sich gegenseitig. Terroristen fühlen sich angelockt und mischen mit. Der Irak ist kein Land mehr, sondern die Kampfarena der Weltmächte und Verrückten. Selbst die Iraker wissen bei den meisten Anschlägen und Scharmützeln überhaupt nicht mehr, wer jetzt gerade gegen wen kämpft. Und ehe man sichs versieht, gerät man ins Kreuzfeuer und endet als einer von Zehntausenden von Kollateralschäden. Ich bin gerade dabei meiner Familie zu helfen, das Land zu verlassen – und jetzt soll ich in dieses Minenfeld zurückkehren? Die deutschen Behörden können mich genauso gut hier vor Ort erschießen, dann muss ich wenigstens nicht warten, bis ich beim Einkaufen von einer Bombe zerfetzt werde.«
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Ironischerweise wird Deutschland nun für Saddam-Anhänger ein Zufluchtsland, während die Gegner der Diktatur abgeschoben werden. Dies bringt Karim Rafid gegenüber gelegentlich seines Besuches im Irrenhaus zur Sprache: »In Deutschland haben wir zurzeit unermessliche Schwierigkeiten. Sei froh, dass du hier im Irrenhaus erst einmal in Sicherheit bist, Rafid. Die Behörden jagen uns und behaupten, es gebe keinen Grund mehr für uns, in der Bundesrepublik zu bleiben, die Demokratie habe nun ja durch die Amerikaner unser Land erreicht. Unzählige haben bereits einen Widerruf bekommen. Die Rechtsanwälte verdienen hervorragend an uns. Für SaddamAnhänger dagegen ist jetzt alles ganz einfach, die können hier leben. Die Deutschen werfen uns raus und lassen unsere Faschisten rein.«
46 Ebd., S. 169. 47 Ebd. 48 Ebd., S. 198. 49 Ebd., S. 32. 50 Ebd., S. 214.
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So beleuchtet der aus dem Irak gebürtige Autor in seinem satirischen Roman im Unterschied zu Erpenbeck die ganze Komplexität des Asylproblems, die auch für die deutschen Behörden nicht leicht zu durchblicken ist. 4.3 »Bürokratische Geometrie« Der Begriff der »bürokratische[n] Geometrie«,51 den der Protagonist in Erpenbecks Roman vor einigen Tagen in dem Buch eines Historikers über die Auswirkungen des Kolonialismus gelesen hat, fällt diesem bei seinem zweiten Besuch des Gebäudes ein, in dem die Flüchtlinge untergebracht sind, als ihm vom Sicherheitsdienst erklärt wird, dass er nicht allein ins Gebäude dürfe und auf einen Betreuer warten müsse, der ihn zu den Flüchtlingen begleitet. Richard wundert sich darüber, dass anderthalb Jahre lang auf dem Oranienplatz jeder mit den Flüchtlingen sprechen konnte und in dem Augenblick, da diese eine Vereinbarung mit dem Berliner Senat unterzeichnet haben, der Zutritt zu ihnen überwacht wird. Er stellt eine Parallele zu der Behandlungsweise der Kolonisierten her, die durch Bürokratie erstickt wurden und vermerkt dazu: »Gar nicht der ungeschickteste Weg, sie am politischen Handeln zu hindern.«52 Das ganze Ausmaß an Bürokratie, dem die Flüchtlinge ausgesetzt sind, verdeutlicht die Autorin durch das Gespräch Richards mit dem Anwalt Ithembas. Dieser behauptet gleich am Anfang der Unterredung, man esse in Deutschland Papier,53 wie um das Vorhandensein der riesigen Aktenberge in seinem Büro zu rechtfertigen. Obwohl er mit seinen zweiundsiebzig Jahren längst in Rente sein könnte, setzt er sich dafür ein, dass den Asylbewerbern in Deutschland Gerechtigkeit widerfährt. Richard erinnert er mit seinen dicken Brillengläsern an einen Uhu.54 Der Anwalt, der stolz auf seine Kenntnis des Römischen Rechts ist, trägt einen Bratenrock, »ein museale[s] Kleidungsstück«55 und auf der Hutablage seiner Garderobe liegt ein Zylinder.56 Auch sein Büro trägt die Zeichen längst vergangener Zeiten: Die Holzfenster sind »von der Hitze und Feuchtigkeit der letzten hundert Jahre schon sichtlich mürbe geworden«,57 die Wandfarbe ist vergilbt und der Fußbodenbelag nur aus Linoleum. Das Alter des Anwalts wie auch seines Büros weist auf die Unzeitgemäßheit der Aktenwirtschaft im
51 J. Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen, S. 64. 52 Ebd. 53 Vgl. ebd., S. 301. 54 Ebd., S. 302. 55 Ebd., S. 301. 56 Vgl. ebd., S. 310. 57 Ebd., S. 306.
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21. Jahrhundert hin. Bei Ithemba löst das Betrachten der Aktenberge, die sich im Büro stapeln, Furcht aus, da die Entscheidung über seine zukünftige Existenz in seiner Akte liegt, die der Anwalt studiert: »Richard kann sehen, wie Ithemba angesichts der unzähligen Akten, die im Regal und auf den Tischen abgelegt sind, von Furcht ergriffen ist […]. Hunderte bunter Klebezettel hängen den Akten aus den Mäulern heraus, auf hunderte existenzentscheidende besondere 58
Umstände verweisend.«
Die durch das Betrachten der unzähligen Akten ausgelöste Angst steht in eklatantem Widerspruch zu der kämpferischen Natur des Flüchtlings, der es mit jedem Menschen, der seine Freiheit bedroht hat, aufgenommen hat: »Ithemba, den zu kontrollieren keine Militärstreife an der Grenze zu Libyen sich erlaubt hat, der in glühender Hitze drei Tage zu Fuß durch die steinige Wüste gegangen ist, der am ersten Tag nach seiner Ankunft in Lampedusa gefordert hat, sofort zurückgebracht zu werden nach Libyen, nur leider war das den Italienern nicht möglich, Ithemba, der ein Glasauge hat und 1,90 Meter groß ist, wird von ein paar Buchstaben auf Amtspapier – rechts oben das Brandenburger Tor im Berliner Briefkopf, links unten ein Stempel mit 59
Adler – in Schrecken versetzt.«
Demnach erweist sich Ithemba den Papieren gegenüber als machtlos. Als Richard am Ende der Unterredung sozusagen als letztes Argument für den Flüchtling auf den Paragraphen 23 zu sprechen kommt, demnach »wenn ein Land, eine Regierung, ein Bürgermeister nur wolle, die europäischen Regelungen ausgesetzt werden dürfen und jemand, der um Asyl ansuche, einfach als Mensch akzeptiert werden könne, auch in einem Land, das nach den gesetzlichen Regelungen eigentlich nicht für ihn zuständig sei«,60 beruft sich der Anwalt in seiner Antwort auf die Erklärung des Senats in Zusammenhang mit den Teilnehmern an der Protestbewegung am Oranienplatz, nämlich dass die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß des Paragraphen 23 nicht der Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik diene.61 Richard zieht die Schlussfolgerung, dass die Flüchtlinge, nachdem sie »die Überfahrt über ein wirkliches Meer überlebt haben«, nun in Deutschland »in Flüssen und Meeren aus Akten ertrinken«62 müssen. Im Gegensatz zu der aktuellen Situation der Flüchtlinge lässt die Auto58 Ebd., S. 303. 59 Ebd., S. 330. 60 Ebd., S. 308. 61 Vgl. ebd. 62 Ebd., S. 310.
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rin den Anwalt aus der ethnographischen Schrift Germania des römischen Historikers Tacitus zitieren, in dem dieser die Gastfreundschaft der Germanen lobt. Auch Khiders Protagonist, der den irakischen Behördenapparat beizeiten hassen gelernt hatte, »weil er so chaotisch und bürokratisch ist wie eine göttliche Strafe, die keine Gnade kennt«, muss sich in Deutschland mit den »zahlreichen Paragrafen und Vorschriften, die dieses Land unter sich begraben«,63 auseinandersetzen. Dabei ist es unvermeidlich, dass die deutsche Asylbürokratie Auswirkungen auf seine Psyche zeitigt. Das Leben der Asylbewerber in Deutschland wird wesentlich von dieser Bürokratie bestimmt. Diesem Phänomen widmen sich sowohl Erpenbeck als auch Khider in ihren Romanen. 4.4 Leben im Exil Bei Erpenbeck gewinnt Richard während seiner Gespräche mit den Flüchtlingen Einblick in deren Alltag. Er sieht sie im Heim auch tagsüber in ihren Betten liegen und schlafen und ist »davon erschreckt, dass diese jungen Männer hier plötzlich so alt sein müssen. Warten und Schlafen. Mahlzeiten, solange das Geld dazu reicht, und ansonsten Warten und Schlafen«.64 Auch für Karim beginnt das ewige Warten und damit seine schwierigste Zeit nach dem Stellen des Asylantrags: »Generell habe ich in meinem Leben nie so viel geschimpft wie in der Zeit nach der Verhandlung. Ich hatte schließlich nichts weiter zu tun, als auf das Ergebnis getroffen werden würde, sich monate- oder sogar jahrelang hinziehen konnte, wartete ich jede Woche montags, mittwochs und freitags von acht bis vierzehn Uhr und dienstags und donnerstags von dreizehn bis achtzehn Uhr in meinem Zimmer auf den Hausmeister.«
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Die psychische Belastung durch das unendliche Warten verwandelt die Asylanten in »ein[en] Haufen nervöser Vögel«, die »in einer Art Schockstarre« verharren.66 Es kommt zu Konflikten zwischen den Asylanten im Flüchtlingsheim und auch zu Diebstahl aus dem Supermarkt: »Es war immer viel los bei uns. Trotzdem war es unsäglich langweilig. Wir konnten nichts anderes tun, als zu warten, und wurden von Tag zu Tag dämlicher«.67
63 A. Khider: Ohrfeige, S. 75. 64 J. Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen, S. 65f. 65 A. Khider: Ohrfeige, 114. 66 Ebd., S. 117. 67 Ebd., S. 120.
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Die Entfremdung der Asylanten von sich selbst wird bei Erpenbeck beispielhaft an der Situation des in Ghana geborenen Awad vorgeführt, dessen Vater ermordet wurde. Nach dem Tod seines Vaters entfremdet sich Awad von sich selbst. Der Krieg in Libyen lässt ihn an dem Ort, an dem er gelebt hat, zum Fremden werden: »Der Krieg zerstört alles, sagt Awad: die Familie, die Freunde, den Ort, an dem man gelebt hat, die Arbeit, den Alltag. Wenn man ein Fremder wird, sagt Awad, hat man keine Wahl mehr. Man weiß nicht, wohin. Man weiß nichts mehr. Ich kann mich selbst nicht mehr sehen, das Kind, das ich war. Ich habe kein Bild mehr von mir. Mein Vater ist tot, sagt er. Und ich – ich weiß nicht mehr, wer ich bin.«
68
Die Flüchtlingsexistenz Awads bringt Richard mit Goethes Iphigenie in Verbindung, die als Exilantin auf Tauris auch wie Awad »das Land ihrer Kindheit mit der Seele« sucht.69 So stellt Erpenbeck vielfältige literarische Bezüge zwischen den Lebensgeschichten der Flüchtlinge und der Literatur her, um auf das Allgemeinmenschliche der Fluchterfahrung hinzuweisen, die so alt ist wie die Menschheitsgeschichte selbst. Auch Khiders Protagonist erlebt sich als Wurzelloser. Die dritte kursiv gesetzte Passage des Romans gewährt Einblick in das Seelenleben des IchErzählers, der den Tod seines Bruders Halim, der als Soldat 1991 im Golfkrieg gefallen ist, zu verkraften hat. Auch vermisst der Protagonist seine Eltern, die er in Bagdad zurückgelassen hat. Als Kompensation zu seiner wurzellosen Situation in Deutschland träumt er sich als Baum, der im Boden verwurzelt steht. Auch die veränderte Zeit- und Raumwahrnehmung durch das Haschischrauchen wird thematisiert: »Alles dreht sich. Orte verschwinden, tauchen auf und reisen wieder fort. Ich sitze in einem Zug am Fenster. Ich rase durch den Raum. Ich rase durch die Zeit«.70 Das Rasen durch Zeit und Raum im Haschischtraum stellt eine Analogie zu der Existenz des Flüchtlings her, der dazu verurteilt ist, sein Leben mit dem Reisen von einem Ort zum anderen zu verschwenden. Sowohl Erpenbeck als auch Khider setzen sich mit den Gründen auseinander, welche für die existenzielle Haltlosigkeit des Flüchtlingslebens verantwortlich sind: mit der Dublin II genannten Verordnung und mit der Verweigerung des Arbeitsrechts.
68 J. Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen, S. 80f. 69 Ebd., S. 82f. 70 A. Khider: Ohrfeige, S. 191.
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Nach den Gesprächen mit den Flüchtlingen beschäftigen Richard vor allem zwei Fragen: Warum den Männern das Recht auf Arbeit verweigert werde und warum sie nicht nach ihrer Geschichte gefragt werden, um dementsprechend als Kriegsopfer versorgt zu werden.71 Er setzt sich mit der Dublin II genannten Verordnung auseinander und stellt dabei fest, dass es in ihr gar nicht darum geht, zu klären, ob diese Männer Kriegsopfer sind, sondern »dass dieses Gesetz nur die Zuständigkeit regelt«. Nämlich dürfen die Flüchtlinge nur in dem Land, in dem sie zum ersten Mal europäischen Boden betreten, um Asyl bitten. 72 Dabei kommt er zur Schlussfolgerung, dass diese Verordnung eigentlich gegen die Flüchtlinge gerichtet ist: »Mit Dublin II hat sich jedes europäische Land, das keine Mittelmeerküste besitzt, das Recht erkauft, den Flüchtlingen, die übers Mittelmeer kommen, nicht zuhören zu müssen. Ein sogenannter Asylbetrüger wäre also auch jemand, der eine wahre Geschichte dort erzählt, wo man sie nicht anhören muss, geschweige denn darauf reagieren. Und mit dem neuen Fingerabdruck-System werden, so ist zu lesen, Missverständnisse darüber, wer zu der Gruppe, die man anhören muss, und wer zur anderen Gruppe gehört, bald vollkommen 73
ausgeräumt sein.«
Arbeiten dürfen die Flüchtlinge nur nachdem ihr Asylantrag bewilligt worden ist: »Diejenigen aber die, dieses Gebiet bewohnen, erst seit ungefähr 150 Jahren heißt es Deutschland, verteidigen ihr Revier mit Paragraphen, mit der Wunderwaffe der Zeit hacken sie auf die Ankömmlinge ein, stechen ihnen mit Tagen und Wochen die Augen aus, wälzen die Monate über sie hin, und wenn sie dann noch immer nicht still sind, geben sie ihnen, vielleicht, drei Töpfe in verschiedener Größe, einen Satz Bettwäsche und ein Papier, auf dem Fiktionsbescheinigung
74
75
steht.«
Mit den gleichen Problemen muss sich auch Khiders Protagonist auseinandersetzen. Im überfüllten Münchner Asylantenheim, von wo Karims Fahrt weiter nach Zirndorf geht, gibt ihm ein Schwarzhaariger den Rat, nicht weiterzureisen:
71 Vgl. J. Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen, S. 84. 72 Ebd., S. 84f. 73 Ebd., S. 85 74 Bei der Fiktionsbescheinigung handelt es sich »nur um eine Bestätigung dafür, dass ein Mensch, der noch nicht das Recht besaß, sich Flüchtling zu nennen, vorhanden war« (vgl. J. Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen, S. 104). 75 Ebd., S. 102f.
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»Deine Fingerabdrücke wurden abgenommen und an andere europäische Länder weitergeleitet. Du kannst nirgendwo anders Asyl beantragen. Nur in Deutschland, wo man dich aufgegriffen hat. Deine Reise endet hier. Das ist deine letzte Station in Europa. Gewöhn 76
dich an den Gedanken!«
Alle afrikanischen Flüchtlinge, die in Erpenbecks Roman vorkommen, sind geprägt von dem Krieg, den sie erlebt haben und der ihre Familien auseinandergerissen hat. Viele haben ihre Väter und Kinder verloren. Symptomatisch für alle ist, dass sie von einem Tag auf den anderen von ihrem bisherigen Leben abgeschnitten worden sind, wie dies Raschid in seiner Lebensgeschichte zum Ausdruck bringt: »Wie mit einem Schnitt wurde unser Leben in dieser Nacht einfach von uns abgeschnitten.«77 Später vertraut Raschid, dessen beide Kinder auf der Überfahrt nach Europa ertrunken sind, Richard an, dass ihm nicht einmal die Erinnerung an das schöne Leben mit seiner Familie ein Trost sei, »weil diese Erinnerung nur mit dem Schmerz über den Verlust verbunden sei, und nichts außerdem da sei. Am liebsten würde er die Erinnerung von sich abschneiden hatte Raschid gesagt. Cut. Cut«.78 Da wird Richard erst der wahre Umfang der Tragik des Flüchtlingslebens bewusst: »Ein Leben, in dem eine leere Gegenwart besetzt ist von einer Erinnerung, die man nicht aushält, und dessen Zukunft sich nicht zeigen will, muss sehr anstrengend sein, denkt 79
Richard, denn da ist, […] nirgends ein Ufer.«
Die Flüchtlinge erzählen Richard ihre wahren Geschichten. Erpenbeck stellt dabei immer wieder Parallelen zwischen der Flüchtlingsexistenz der Afrikaner in Deutschland und der Geschichte der Deutschen her, für die die Auswanderung aus dem eigenen Land und das Leben im Exil im Laufe ihrer Geschichte auch nicht fremd geblieben sind.80 Desgleichen enthebt sie die Flüchtlinge jeglicher Schuld an ihrem persönlichen Schicksal und weist auf eine mögliche Änderung der geschichtlichen Umstände hin, welche die Deutschen wieder zur Flucht zwingen könnte.81 Eingedenk dieser Unvorhersehbarkeit der Zeitläufte sollte den Flüchtlingen mehr Verständnis und in erster Linie Menschlichkeit entgegengebracht werden.
76 A. Khider: Ohrfeige, S. 51. 77 J. Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen, S. 114. 78 Ebd., S. 340. 79 Ebd., S. 340f. 80 Vgl. ebd. S. 222. 81 Ebd., S. 120.
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Khiders Protagonist empfindet sich »wie eine unerwünschte Reklame, die immer wieder in Briefkästen geworfen wird, obwohl überall ganz deutlich Aufkleber angebracht sind. STOPP! KEINE WERBUNG BITTE! WIR VERMEIDEN MÜLL!«82 Dieser Vergleich des Protagonisten mit einem unerwünschten Werbeobjekt dient der Hervorhebung der Diskrepanz zwischen der faktischen Positionierung Deutschlands als Einwanderungsland einerseits und der Behandlung der Flüchtlinge andererseits. Karims Vater hat einen Schleppervermittler bezahlt, seinen Sohn bis nach Paris zu fahren. Jedoch wird er nach fünf Wochen mit weiteren drei Leuten in Dachau ausgesetzt. Es ist Anfang Januar 2001 und der Schnee und die winterliche Kälte stehen symbolisch für die Kälte, mit der Deutschland die Asylanten empfängt. Karim wird von zwei Polizisten auf eine Polizeistation gebracht, wo er sich nackt ausziehen muss und untersucht wird. Sie finden die 500 Dollar, die seine Mutter in seinen Gürtel eingenäht hat und geben sie ihm nicht mehr zurück, als Strafe, dass er sich illegal im Land aufgehalten hat. Als er die beiden Polizisten fragt, ob er sich in Paris befinde, bekommt er die Antwort, dass er in Dachau sei. Dazu bemerkt er sarkastisch: »Heute bin ich heilfroh, dass ich bis zu meiner Ankunft in Deutschland noch nie etwas von Dachau gehört hatte. Wenn ich von dem dortigen Konzentrationslager aus der Nazizeit gewusst hätte, dann wäre an jenem Tag bestimmt mein Herz stehen geblieben. Aber auch so kam mir meine Dachauer Gefängniszelle beklemmend vor.«
83
Er ist »sehr eingeschüchtert von der Härte und Kälte«,84 mit der er von den Polizisten behandelt wird. Auch im Bayreuther Asylantenheim leidet er unter der »boshafte[n] europäische[n] Eiseskälte«, von der es heißt: »Wie ein Ungeheuer fiel sie mich an und biss mir in die Knochen«.85 Während Erpenbeck das Zusammenhalten der Afrikaner als Gruppe schildert, wünscht sich Karim Kontakt zu den Einheimischen und beklagt, dass »die einzigen regelmäßigen Begegnungen mit Deutschen, die über abschätzige Blicke hinausgingen«, »die mit den Polizeibeamten oder mit dem Wachpersonal im Heim« waren.86 Er wünscht sich auch Deutsch lernen zu dürfen, jedoch ist dies nur möglich, nachdem er ein Jahr lang gearbeitet und Steuern bezahlt hat. Erst dann kann ihm ein Sprachkurs finanziert werden. 87 Ironischerweise wünschen
82 A. Khider: Ohrfeige, S. 39. 83 Ebd., S. 46. 84 Ebd., S. 49. 85 Ebd., S. 62. 86 Ebd., S. 120. 87 Vgl. ebd., S. 157.
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sich einige Flüchtlinge sogar »für eine kurze Zeit im Gefängnis zu landen, um dort schnell Deutsch zu lernen«.88 Aus der Perspektive des Flüchtlings bietet Khider dem Leser auch Einblick in das Netz unsauberer Geschäfte, das durch die Existenz der Flüchtlingsprobleme selbst entstanden ist. Er lässt seinen Ich-Erzähler behaupten, auf die verschiedenen Dienste der »Vermittler«, »Mafiosi«, »Geldgeilen«, »Schmuggler«, »bestechlichen Polizisten und Beamten« dringender angewiesen zu sein, als auf »alle Mitarbeiter von AMNESTY INTERNATIONAL zusammen«.89 Karim beschreibt die unterschiedlichen Geschäfte, die im so genannten Kulturverein Enlil betrieben werden: »Dort [im Kulturverein Enlil] gibt es alles, was die Iraker in München und wohl in ganz Bayern dringend benötigen: Jobangebote auf dem Schwarzmarkt, Informationen über Asylanträge, Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis, Auskünfte über Rechtsanwälte mit Spezialisierung im Ausländerrecht, Scheinehevermittlungen, Heiratsvermittler zwischen Mädchen aus der Heimat und den Irakern in Deutschland sowie eine Geldtransferstelle.«
90
Diese Vermittler haben es ironischerweise im Unterschied zu vielen ehrlichen Asylbewerbern geschafft, sich in die deutsche Welt einzubürgern: »Die Vermittler sind Unternehmer, die wissen wie man aus dem Sand des Nichts wahres Geld zaubern kann. Sie sprechen Bayerisch, und alle Probleme, die es gibt, haben sie bereits gelöst. Die meisten von ihnen sind mit deutschen Frauen verheiratet. Niemand weiß genau, wie sie die Arbeitskontakte mit den Einheimischen herstellen und aufrecht91
erhalten.«
Er bezeichnet sie als »Blutegel«, da sie von der Situation der Asylanten profitieren, ist sich aber auch dessen bewusst, dass er ohne diese Gauner längst verrückt geworden wäre und nichts erreicht hätte: »Mir würde nicht einmal die Hoffnung bleiben, irgendwann, irgendwo eine neue Heimat zu finden, die ich mir selbst ausgesucht habe. Enlil bietet für alle Irrwege des Exils eine Hintertür«.92
88 Ebd., S. 141. 89 Ebd., S. 28. 90 Ebd., S. 22f. 91 Ebd., S. 23. 92 Ebd., S. 27.
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5. FAZIT Durch die Entwicklung ihres Protagonisten von einem kühl beobachtenden und denkenden Wissenschaftler, der seine Forschungsarbeit aus der Bibliothek weg ins wirkliche Leben hinaus verlegt und Kontakt zu den Menschen einer anderen Kultur aufnimmt, bietet Erpenbeck dem Leser ein Muster für die Art und Weise, wie die so gefährliche Ignoranz und Gleichgültigkeit des Europäers in Richtung einer aktiven und mitmenschlichen Anteilnahme durchbrochen werden kann. Mittels des vorbehaltlosen Zugehens Richards auf die Flüchtlinge, denen er im Laufe seiner Recherche immer mehr Interesse und menschliche Wärme entgegenbringt, soll der Roman die Änderung der Wahrnehmung der Flüchtlinge in der bundesdeutschen Gesellschaft zur Folge haben. Richards wachsendes Interesse an dem Leben der Afrikaner, die ihm ihre persönliche Lebens- und Fluchtgeschichte erzählen, führt schließlich zum Aufbau einer richtigen Beziehung zwischen ihm und den Flüchtlingen, dadurch dass diese nun auch beginnen, sich nach seinem persönlichen Leben zu erkundigen. So ist Erpenbecks Roman getragen von dem Optimismus des an das Gute glaubenden Menschen. Im Unterschied zu diesem Optimismus steht die Realitätsgebundenheit und Desillusioniertheit des Protagonisten bei Khider, die letztendlich auf die persönlichen Erfahrungen des Autors mit der Exilsituation zurückzuführen sind. Der Einblick in das fast unentwirrbare Geflecht von Wahrheit und Lüge, in das sich die Asylbewerber beim Stellen ihrer Anträge verwickeln und das dann im nächsten Schritt die deutsche Asylbehörde entwirren muss, veranlasst Khider dazu, einen satirischen Roman zu schreiben, in welchem er die unterschiedlichen Asylgründe der Bewerber beleuchtet, aber auch die unmittelbaren Auswirkungen der politischen Situation auf die Entscheidungen der Asylbehörde veranschaulicht. Damit setzt er sich im Namen aller Asylbewerber für eine Asylgesetzgebung und eine Behandlung durch die Behörden ein, die nicht nur die Interessen des Staates wahren, sondern auch auf die Bedürfnisse der Flüchtlinge Rücksicht nehmen sollte. Eigen ist jedoch den beiden Romanen das jeweils offene Ende, das auf die Unlösbarkeit des angeschnittenen Problems hindeutet. Gehen, ging, gegangen endet mit der Geburtstagsparty, die Richard in seinem Garten am See mit Hilfe der Afrikaner veranstaltet, denen er zeitweilig eine Unterkunft in seinem Haus eingerichtet hat. Der Roman Ohrfeige schließt vor der Abreise des Protagonisten nach Finnland, wo er hofft, bleiben zu dürfen.
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LITERATUR Primärliteratur Jenny Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen. Roman, München: Albrecht Knaus 2015. Khider, Abbas: Ohrfeige, München: Carl Hanser 2016. Sekundärliteratur – Online-Dokumente Encke, Julia: »Flüchtlingsroman. Vom Warten wird man immer blöder«, in: Frankfurter Allgemeine vom 30.01.2016, online unter http://www.faz.net/ aktuell/feuilleton/buecher/fluechtlingsroman-vom-warten-wird-man-immerbloeder-14030679.html, zuletzt abgerufen am 29.12.2016. Geißler, Cornelia: »Flüchtlingsroman ›Gehen, ging, gegangen‹ von Jenny Erpenbeck. Den Menschen, die zu uns kommen, ein Gesicht gegeben«, in: Berliner Zeitung vom 09.10.2015, online unter http://www.berliner-zeitung.de/ kultur/literatur/fluechtlingsroman--gehen--ging--gegangen--von-jenny-erpen beck-den-menschen--die-zu-uns-kommen--ein-gesicht-gegeben-23028820, zuletzt aufgerufen am 20.12.2016. Heinrich, Kaspar: »Flüchtlingsroman von Abbas Khider. Man wird ja wohl noch durchdrehen dürfen«, in: Spiegel online vom 02.02.2016, online unter http:// www.spiegel.de/kultur/literatur/ohrfeige-autor-abbas-khider-bloss-nicht-dermusterimmigrant-sein-a-1074666.html, zuletzt aufgerufen am 29.12.2016. Scheck, Denis: ARD druckfrisch vom 21.02.16, http://www.daserste.de/ information/wissen-kultur/druckfrisch/sendung/abbas-khider-ohrfeige100.html, zuletzt abgerufen am 29.01.2017. Schmitter, Elke: Der Spiegel vom 05.09.2015, http://www.spiegel.de/spie gel/print/d-138493614.html, zuletzt abgerufen am 29.01.2017. http://literatourismus.net/2016/02/abbas-khider-im-interview/, zuletzt abgerufen am 29.01.2017. https://www.munzinger.de/search/portrait/Abbas+Khider/0/29269.html, zuletzt abgerufen am 29.12.2016.
Subjektivation und Identitätsformung im Prozess des Gehens Gedankliche Wege von Thomas Bernhard und Jenny Erpenbeck Erika Verešová
Abstract: Der Beitrag konzentriert sich auf zwei Werke, die zwar über ähnliche Titel, jedoch über verschiedene Inhaltsstoffe verfügen. In Jenny Erpenbecks Roman Gehen, ging, gegangen handelt es sich um in Berlin lebende afrikanische Flüchtlinge. Es wird untersucht, unter welchen Umständen sich diese Figuren entwickeln, wie sich ihre inneren und äußeren Welten verändern. Die Aspekte von Judith Butlers Theorie der Subjektivation und der Identitätsbildung eignen sich als psychologische Grundlage der Analyse. Thomas Bernhards Figuren in der Erzählung Gehen bilden eine parallele, jedoch auf theoretischer Basis gebaute ›andere‹ Welt zu den Afrikanern. Die vorliegende Arbeit bietet einen Vergleich von Personen, Orten, Situationen, Sprachen und Zeiten. Diese Vergleichsgegenstände weisen in ihrer Verschiedenheit auf universale Gemeinsamkeiten hin, die die Protagonisten auf ihren Lebenswegen begleiten. Schlüsselwörter: Subjekt, Norm, Werden, Gehen.
EINLEITUNG Man könnte sagen, die Identitätskrise der (europäischen) Bevölkerung löste sich während des vergangenen Jahrhunderts überhaupt nicht, – trotz umfangreicher theoretischen Untersuchungen, trotz Demonstrationen auf den Straßen verschiedener Großstädte europaweit, trotz Vernetzungen in populären sozialen Netzwerken
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und trotz Aufhebung von Mauern, Blockaden und Grenzen in dem mittlerweile auch rechtmäßig vereinigten Europa. Auf der einen Seite konnte die Identitätskrise weder von Existenzphilosophen, Psychoanalytikern und Soziologen, noch von hochbegabten Naturwissenschaftlern gelöst werden. Auf der anderen Seite führten die neuesten politischen Strukturen und wirtschaftlichen Tendenzen zu keinem annehmbaren Ergebnis: Die Bemühung, Voraussetzungen für einen innerlich und äußerlich zufriedenen Menschen langfristig zu sichern, ist zu einer aussichtslosen Anstrengung geworden. »The European ideal is about an economic area where all barriers have been removed and the principles of solidarity applied. For some, it is also about coming to terms with social and political barriers. We are suggesting that there are also cultural and psychic barriers, and that these are the most profound obstacle to European unity. The most fundamental challenge is to confront the relation of superior to subaltern identity that is embodied in the construction of Otherness. The question is whether it is possible to create a kind of communication and community that can acknowledge difference (and not simply diversity).«1
Auf den folgenden Seiten gehen wir Fragen der Identität nach, die den Menschen in seinen Handlungen und Beziehungen bestimmen. Gegenüberstellt werden Kulturen, Sprachen, Prozesse und Formen und es wird untersucht, wie diese Phänomene sich auf verschiedenen Textebenen (Raum, Zeit, Dialog) verhalten. Das Thema des vorliegenden Aufsatzes bilden der im Jahr 2015 erschienene Roman Gehen, ging, gegangen von Jenny Erpenbeck sowie Thomas Bernhards Erzählung Gehen aus dem Jahr 1971. Auf den ersten Blick ist die Ähnlichkeit der Titel auffällig – und das war auch bei der Auswahl des primären Materials ein Beweggrund zum Vergleich. Trotz dieser Ähnlichkeit stellen die beiden Bücher zwei verschiedene Ausrichtungen im Prozess des Gehens dar. Das Ziel des vorliegenden Aufsatzes ist jedoch zu zeigen, wie die Flüchtlingsthematik – die heutzutage brennend aktuelle Fragen aufweist – mit der Thematik des Flanierens verbunden werden kann. Die Untersuchungen werden vor einen literaturwissenschaftlich-soziologischen Hintergrund gestellt, dessen Basis die folgende Sekundärliteratur ergab: In erster Linie habe ich mich auf die Studienausgabe von Judith Butlers Psyche der Macht. Subjekt der Unterwerfung aus dem Jahr 2013 bezogen, ferner auf das Handbuch Literatur & Raum, das im Jahr 2015 erschienen ist und ein sehr hilfreiches Instrument literaturwissenschaftlicher Analysen von Raumdiskursen darstellt. Zu dem soziologisch-kulturwissenschaft-
1
Morley, David/Robins, Kevin: Spaces of Identity. Global Media, Electronic Landscapes and Cultural Boundaries, London/New York: Routledge 1995, S. 84.
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lichen Aspekt habe ich die Studienausgabe von David Morley und Kevin Robins mit dem Titel Spaces of Identity. Global Media, Electronic Landscapes and Cultural Boundaries aus dem Jahr 2002 verwendet. Jenny Erpenbecks Werke sind z.T. im Band Wahrheit und Täuschung (2014) behandelt worden. Hier sind die wichtigsten Motive und stilistischen Einzelheiten ihres Schreibens aufzufinden. Rezensionen zu dem Roman Gehen, ging, gegangen fand ich im Spiegel Online und auf der Internetseite www.welt.de. Von den zahlreichen Quellen zu Thomas Bernhards Werk wählte ich die Studiensammlung von Mireille Tabah und Manfred Mittermayer Thomas Bernhard. Persiflage und Subversion (2013) für nähere Analysen aus. Es soll vielleicht noch einmal hervorgehoben werden, dass es sich bei den Untersuchungsgegenständen einmal um einen Roman und einmal um eine Erzählung handelt. Aus methodologischer Hinsicht ist die Frage relevant, ob zwei verschiedene Gattungen miteinander verglichen werden können. In meiner Untersuchung richtet sich der Vergleich jedoch nicht auf strukturelle, sondern auf inhaltliche Aspekte der behandelten Werke. Deswegen ist es möglich, die Gattungstheorie außer Acht zu lassen. Die Methode Vergleich benötigt die zu vergleichenden Elemente (comparata) und einen Hintergrund (tertium comparationis), vor dem der Vergleich geschieht. Die comparata stellen Erpenbecks Roman Gehen, ging, gegangen und Bernhards Erzählung Gehen dar. Das tertium comparationis ist die Idee des Gehens, die nicht nur die zwei primären Werke untereinander, sondern diese mit der Sekundärliteratur verbinden lässt. Auf diese Weise wird die induktive Linearität des Vergleichsprozesses zur Erreichung des Forschungsvorhabens gesichert. Das Forschungsvorhaben diskutiert die Hypothese, inwieweit es in den untersuchten Werken gemeinsame Anhaltspunkte in der Darstellung des Gehens gibt. Die vorliegende Arbeit gliedert sich in die Teile: Abstract, Einleitung, Hauptteil, Auswertung, Schluss. Im Abstract wird das Thema bekannt gemacht und das Forschungsvorhaben skizziert. Im Einleitungsteil werden diese Inhalte weiter spezifiziert und mit einem kurzen Forschungsstand, bzw. methodologischen Ausblick erweitert. Der Hauptteil ist in zwei Unterkapitel aufgeteilt. Im ersten Unterkapitel Butlers Begriffe im Wechselspiel mit den analysierten Werken: Subjektivation, Macht, Norm, Werden beziehe ich mich überwiegend auf die Entstehung des Subjekts und auf die Auswirkungen der Macht im Prozess der Unterwerfung. Es werden Antworten auf die Fragen gesucht, die die Ursache, das Ziel und den Charakter der existentiellen Entwicklung im Prozess des Gehens hinterfragen. Das zweite Unterkapitel Zeit, Raum und Dialog beim Gehen im Verständnis von Mikhail Bakhtins Theorie: Chronotopos, Sujet, Heteroglossia richtet sich auf die Untersuchung von Zeit, Raum und sprachliche (stilisti-
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sche) Einzelheiten in den behandelten Werken. Im Teil Auswertung werden die Analyseergebnisse zusammengefasst. Der Schlussteil bietet die Beantwortung der Hypothese sowie eine abschließende Bilanz der Analyse der beiden Texte von Jenny Erpenbeck Gehen, ging, gegangen und Thomas Bernhards Gehen.
1. BUTLERS BEGRIFFE IM WECHSELSPIEL MIT DEN ANALYSIERTEN WERKEN: SUBJEKTIVATION, MACHT, NORM, WERDEN Die Analyse des Romans Gehen, ging, gegangen und der Erzählung Gehen führte zu drei Fragestellungen. Diese sollten die Bestätigung der oben erwähnten Hypothese erbringen. Die erste Fragestellung heißt: Was erreicht man beim Gehen? Hier beziehe ich mich auf die Aspekte Ziel, Zukunft und Identität. Die zweite Fragestellung lautet: Warum geht man? Es werden hier die Ursache und die Verbindungen zur Vergangenheit behandelt. Die dritte Fragestellung – Was passiert im Prozess des Gehens? – richtet sich auf die Prozesshaftigkeit und auf die Gegenwart aus. Als Hilfsmittel bei den Untersuchungen werden Zitate aus der Sekundärliteratur verwendet, die mit ausgewählten Stellen der Primärliteratur korrespondieren. Zuerst sollen die Begriffe Subjekt, Subjektivation, Unterwerfung und Macht geklärt werden. »›Subjektivation‹ bezeichnet den Prozeß des Unterworfenwerdens durch Macht und zugleich den Prozeß der Subjektwerdung. Ins Leben gerufen wird das Subjekt, sei es mittels Anrufung oder Interpellation im Sinne Althussers oder mittels diskursiver Produktivität im Sinne Foucaults, durch eine ursprüngliche Unterwerfung unter die Macht.«2
Aus diesem Zitat würde ich drei Begriffe auswählen, um sie mit konkreten Beispielen zu belegen. Diese drei Begriffe sind: Subjektivation, Unterwerfung und Macht. Im Roman Gehen, ging, gegangen erscheint die Macht in Form der verschiedenen Institutionen, die gegen die Flüchtlinge oder mit ihnen arbeiten. Solche Institutionen sind z.B. die Flüchtlingshilfswerke, die Katastrophenhelfer, die Mitglieder einer Initiative, der Beamte der Stadtbezirksverwaltung, die Mitarbeiter der Jugendhilfe.3 Indem die Flüchtlinge mit solchen Vertretern des staatlichen Machtapparats in Verbindung stehen (d.h. kommunizieren), begeben sie sich in den Prozess der Unterwerfung. In diesem Sinne kann die Subjektivation 2
Butler, Judith: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a. Main:
3
Vgl. Erpenbeck, Jenny: Gehen, ging, gegangen, München: Knaus 2015, S. 37.
Suhrkamp 2013, S. 8.
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als durch (sprachliche) Kommunikation entstehender Ablauf bezeichnet werden, dessen Ergebnis das sich unterworfene Subjekt ist. Wichtig ist, den Charakter der butlerschen Begriffe anzumerken: Bei Jenny Erpenbeck funktioniert die Subjektivation als Ergebnis eines Prozesses, die Unterwerfung stellt den Prozess selbst dar und die Macht gleicht der Ursache, die den Prozess ausgelöst hatte. »Institutionelle Inszenierungen, wie sie der Staat oder eben die Familie leisten, sind aus seiner [Pierre Legendre] Sicht nichts anderes als vorgezeichnete Orte der Projektion, in der Individuum und Gesellschaft sich erkennen können. Institutionen funktionieren insofern wie ein Schleier oder Schirm, der sich über die nackte Wirklichkeit legt. Ein Schirm, der zugleich Spiegel und Bild ist. Denn die Institution enthüllt und zeigt dem Menschen die Alterität, indem sie ihm den Blick des Anderen wahrnehmbar macht.«4
Bei Thomas Bernhard verhalten sich diese Begriffe anders. Die Subjektivation schlägt in der Erzählung Gehen fehl. Die erwähnten Figuren (Karrer, Oehler) unterliegen zwar der Unterwerfung in dem Prozess des Nach-Denkens, sie entziehen sich jedoch der Macht, die über ihre Subjektivation verfügen könnte. Denn Karrer ist irre geworden und Oehler scheint sich auf dem Weg des Irrewerdens zu befinden. Aus dieser Perspektive ergibt sich bei Bernhard der Begriff Subjektivation nicht als Ergebnis des Unterwerfungsprozesses, denn dieser wird abgebrochen. Als Ergebnis tritt die Irrenanstalt auf die Szene, durch welche gleichzeitig die Macht verkörpert wird. Die Irrenanstalt funktioniert jedoch als Gegenstück für solche normalen Institutionen, die im Text zwar keine explizite Erwähnung finden, die aber das Verrücktwerden Karrers verursacht haben. (Ich meine hier die gesellschaftliche Einrichtung, die Bürokratie, den Staat, die Propaganda und evtl. die Kultur einer Nation.) »Identitäten sind immer das Produkt von Institutionen, d.h. sie werden gebildet und geformt; sie sind, wie das Wort Subjekt ja schon sagt, unterworfen.«5 Weitere Unterscheidungen sollen zwischen Subjekt, Person, Individuum und Ich unternommen werden: »Über ›das Subjekt‹ wird oft gesprochen, als sei es austauschbar mit ›der Person‹ oder ›dem Individuum‹. Die Genealogie des Subjekts als kritischer Kategorie jedoch verweist darauf, daß das Subjekt nicht mit dem Individuum gleichzusetzen, sondern vielmehr als sprachliche Kategorie aufzufassen ist, als Platzhalter, als in Formierung begriffene Struktur. Individuen besetzen die Stelle, den Ort des Subjekts (als welcher ›Ort‹ das Subjekt zugleich entsteht), und verständlich werden sie nur, soweit sie gleichsam zunächst in der 4
Mein, Georg: »Ariadnes Faden«, in: Friedhelm Marx/Julia Schöll (Hg.), Wahrheit und Täuschung. Beiträge zum Werk Jenny Erpenbecks, Göttingen: Wallstein 2014, S. 6778, hier S. 72.
5 Ebd., S. 70.
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Sprache eingeführt werden. Das Subjekt ist die sprachliche Gelegenheit des Individuums, Verständlichkeit zu gewinnen und zu reproduzieren, also die sprachliche Bedingung seiner Existenz und Handlungsfähigkeit. Kein Individuum wird Subjekt, ohne zuvor unterworfen/subjektiviert zu werden oder einen Prozeß der ›Subjektivation‹ (nach dem französischen assujettissement) zu durchlaufen.«6
Das Subjekt ist nach Butler eine sprachliche Kategorie, ein Platzhalter, eine in Formierung begriffene Struktur. Individuen besetzen diese freie Stelle, den Ort des Subjekts »und verständlich werden sie nur, soweit sie gleichsam zunächst in der Sprache eingeführt werden«. Wichtig ist die Aussage, dass kein Individuum Subjekt werden kann, ohne vorheriger Unterwerfung/Subjektivierung. Individuen müssen sich also unter bestimmte Machtverhältnisse setzen (sich einer Macht unterwerfen), um die Handlungsfähigkeit (die allein Subjekten zugeschrieben wird) zu erwerben.7 Erpenbecks Protagonisten können in zwei Gruppen geordnet werden. In der ersten stehen die Figuren, deren Namen im Text gleich erwähnt werden. Hierher gehören z.B. die Figur des emeritierten Professors Richard und sein deutscher Freundeskreis. Die zweite Gruppe bilden die Flüchtlinge, deren Namen zuerst verschwiegen bleiben. Die Flüchtlinge wollen ihre Namen nicht verraten und das ist eine Art Protest von ihnen.8 Später, als sich die Geschichte mehr und mehr entfaltet, werden diese Namen der Reihe nach erwähnt – in dem Moment, als die Flüchtlinge nicht mehr eine drohende Gruppe unverstandener fremder Menschen sind, sondern als konkrete, ansprechbare Persönlichkeiten hervortreten können. Erpenbeck nutzt diese ›sprachliche Gelegenheit‹ sehr treffend, zuerst Subjekte, dann Individuen zu bezeichnen.9 Die Sprache als subjektbildende Kategorie wird bei Erpenbeck an anderen Stellen auch explizit, z.B. in den Szenen, in denen die Flüchtlinge zum Sprachunterricht gehen, um sich neue Lebensverhältnisse schaffen zu können. Es wird hervorgehoben, dass der Spracherwerb zur Erlangung einer neuen Identität geeignet ist. Thomas Bernhards Figuren haben ein widersprüchliches Verhältnis zu der Sprache, denn ihre Aussagen funktionieren wie Zitate. Eine unbenannte Figur hört der Figur Oehler zu, der die Figur Karrer zitiert und so entfaltet sich eine Geschichte, in der die direkte Rede von der indirekten nur schwer zu unterscheiden ist. Die Geschichte
6
J. Butler: Psyche der Macht, S. 15f.
7
Vgl. ebd., S. 15.
8
Vgl. J. Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen, S. 18.
9
Vgl.: »Der Name, so Walter Benjamin in seinen sprachphilosophischen Überlegungen, bildet das ›innerste Wesen der Sprache selbst‹« (Schöll, Julia: »Jenny Erpenbecks Text- und Objektästhetik«, in: F. Marx/J. Schöll, Wahrheit und Täuschung, S. 52).
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wird von Figur zu Figur weitergegeben. Auch diese Tatsache trägt dazu bei, dass die Subjektivation schließlich nicht gelingen kann. Zum Ich-Begriff: »Das ›Ich‹ entsteht unter der Bedingung, daß es seine Formierung in Abhängigkeit, daß es seine eigenen Möglichkeitsbedingungen verleugnet. Indes steht das ›Ich‹ durch ebendiese Verleugnung unter der Drohung seiner Zersetzung: Durch das unbewußte Betreiben seiner eigenen Auflösung in neurotischen Wiederholungen jener Urkonstellationen, die es nicht nur nicht sehen will, sondern auch nicht sehen kann, will es es selbst bleiben. Das bedeutet natürlich, daß es, gebunden an das, was es nicht wissen will, von sich selbst geschieden ist und nie ganz es selbst werden oder bleiben kann.«10
Das Ich entsteht wiederum unter der Bedingung seiner eigenen ›Verleugnung‹. Indem das Ich seine Inhalte bewahren möchte, also einen status quo anstrebt, gehört zu seiner Natur, dass es sich verändert. Immer wieder werden Teile vom Ich abgespalten und diese der Veränderung übergeben. Das Ich muss seine Einheit aufgeben, es kann »nie ganz es selbst werden« oder »es selbst bleiben«. Denn seine ursprüngliche »Urkonstellationen« unterstehen bestimmten »neurotischen Wiederholungen«, die die unbewusste Selbst-Auflösung hervorrufen. Das Ich baut diese »Urkonstellationen« ständig auf und ab. Darin besteht seine ewige Veränderung und Abhängigkeit von dieser Veränderung, die nicht zulässt, sich zu vollenden. Und wenn von einer kollektiven Identität gesprochen werden soll, kann ebenfalls dieses Muster abgebildet werden. Denn die kollektive Identität kann sich ebenfalls nicht vollenden. Unter bestimmten Machverhältnissen (Norm, Subjektivation, Unterwerfung) bilden sich Individuen im Prozess der Subjektivierung. Das Ich dieser Individuen wird nie zu einer abgeschlossenen ganzen Einheit. Es kommt nie zur Stilllegung der Veränderungen innerhalb des Ichs. Ein statisches, abgerundetes Ich ist lediglich ein unerreichbares Ideal. Kollektive Identitäten wiederum sind oft zu nationalen Identitäten gemacht worden, basierend auf Stereotypsierungen. Nationale Identitäten können jedoch möglicherweise von einer globalen Nicht-Identität ersetzt werden, wie Morley und Robins anmerken: »[…] that positive national identities are being replaced by a global nonidentity«.11 Zurück zu Erpenbeck und Bernhard wird die Frage gestellt: Wie kann die Identität (sei sie personal, kollektiv, national oder global) aufgelöst bzw. ausgetauscht werden? Wie läuft dieser Prozess bei den Figuren im Roman und in der
10 J. Butler: Psyche der Macht, S. 14. 11 D. Morley/K. Robins: Spaces of Identity, S. 71.
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Erzählung ab? Meines Erachtens: Durch den Austausch bzw. Auflösung der Machtverhältnisse, die eine Bedingung der Subjektivation darstellen. Dabei gehe ich davon aus, dass die Figuren an eine Macht geknüpft sind, die sie bewegt. Der Macht unterliegen sie unwillkürlich, mit dem unwillkürlichen Ziel, subjektiviert werden zu können. Die Ambivalenz des Sich-Unterwerfens und der Subjektivation erscheint vor allem in den Kommunikations- und Denkvorgängen. Die afrikanischen Flüchtlinge können ihre (auch von den Deutschen anerkannte) Identität ohne die Anerkennung der staatlichen Macht nicht gewinnen. Zuerst entwickeln sie ihre Selbst-Bilder. Dies geschieht in den Gesprächen mit dem Emeritus Richard, dem sich die Flüchtlinge öffnen und dem sie ihre Geschichten erzählen: die Flucht aus Ghana über die Sahara und über Libyen nach Italien und dann nach Deutschland; oder die Kindheitserinnerungen. Alle kleinen Episoden tragen bei den Protagonisten – die sich in Deutschland um Asyl bewerben – dazu bei, die »Urkonstellationen aufzulösen«. Wie versteht sich der Begriff »global non-identity« in diesem Zusammenhang? Er kann vielleicht als Bezeichnung für eine orientierungslose Masse, eine Gruppe von nicht-subjektivierten Individuen, die wegen des Mangels an Macht keine eigene Identität aufbauen können, verstanden werden. Bernhard arbeitet mit zirkelhaft wiederkehrenden Motiven oder Ereignissen. So ist es z.B. mit dem Hosenkauf im rustenschacherschen Laden. Die zitierten Sätze sind eine Art Erinnerung, die im Kopf des Gehenden erscheinen. Schließlich weiß man nicht einmal, wer spricht, wer denkt, wer geht und wer wen zitiert. Die Figuren-Identitäten vermischen sich bis zu dem Grade der SelbstAuflösung. Die ›neurotische Wiederholungen‹ werden aber in Bernhards Erzähltechnik beibehalten. An die Stelle einer aufgelösten Identität tritt eine nächste. Die Subjektbildung ist disruptiv, scheitert immer wieder. Es bleiben nur Erinnerungsfetzen und fragmentarische Episoden zurück. In Bezug auf die zweite Fragestellung »Warum geht man?« kann folgendes zusammengefasst werden: »Wenn sich Formen der reglementierenden Macht zum Teil in der Subjektformierung durchhalten und wenn diese Formierung sich – insbesondere in der Inkorporation von Normen – nach den Erfordernissen der Macht vollzieht, dann muß eine Theorie der Subjektbildung diesen Einverleibungsprozeß erklären, und eine Analyse des Begriffs der Inkorporation muß die psychische Topographie klären, zu der sie führt. Wie wird aus der Unterwerfung des Begehrens ein Begehren der Unterwerfung?«12
12 J. Butler: Psyche der Macht, S. 23.
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Das Individuum unterwirft sich einer Macht, um im Prozess der Subjektivation Subjekt werden zu können. Unterwerfung, Macht und die »Inkorporation von Normen« sind also grundsätzliche Voraussetzungen für jedes Individuum, für jede Subjektwerdung. In diesem Prozess der Subjektbildung muss der »Einverleibungsprozess« (Inkorporation von Normen) erklärt und dadurch die »psychische Topographie« aufgedeckt werden. Die Fragestellung »Warum geht man?« wird erst nach einer solchen psychologischen Analyse der eigenen Topographie zu beantworten sein. Es sollten nämlich die Ursachen und die persönliche Vergangenheit (Erinnerungen) erforscht werden, um einen Sinn des »Begehrens der Unterwerfung« (d.h. der Subjektivation) beschreiben zu können. »In Jenny Erpenbecks Prosa hingegen bekommen wir es mit Genealogien zu tun, die unterbrochen sind; mit vergessener, verneinter oder vervielfältigter Herkunft; mit unklaren Verwandtschaftsverhältnissen; mit Zeitrechnungen, in der die Vergangenheit nicht vergehen will und die Zukunft sich nicht einstellt.«13
Dieses Zitat bezieht sich zwar auf Erpenbecks frühere Texte, ist aber auch für Gehen, ging, gegangen zutreffend. Der Aufarbeitung von Erinnerungen kommt eine maßgebliche Rolle im Roman zu. Die Interaktion mit der neuen Umgebung in Deutschland löst den Vorgang aus, in welchem sich die Flüchtlinge mit ihrer persönlichen Vergangenheit auseinandersetzen. Das lange Warten auf bürokratische Maßnahmen, die soziale Unsicherheit und der Wunsch, ein aktiver Teil der Gesellschaft zu sein, bewegen die Protagonisten zur Aufarbeitung ihrer Erinnerungen. Auf diese Weise befreien sich Plätze in der jeweiligen »psychischen Topographie«, um Normen einverleiben zu können. Soweit dies nicht geschieht und die Probleme ungelöst bleiben, kann die Inkorporation nicht stattfinden, Proteste können entstehen. Die »psychischen Topographien« bei Bernhard sind am besten vielleicht mit den Worten Mireille Tabahs zu beschreiben: »das faustische Streben des Geistesmenschen nach absoluter Erkenntnis universaler Wahrheit«.14 In der Überfülltheit mentaler Gegenden gehen die Protagonisten irre, die Inkorporation gesellschaftlich anerkannter Normen wird von ihnen abgelehnt, weil absolute Werte angestrebt werden.
13 Vedder, Ulrike: »Lebensläufe: Zeit und Genealogie in Jenny Erpenbecks Literatur«, in: F. Marx/J. Schöll, Wahrheit und Täuschung, S. 55-66, hier S. 57. 14 Tabah, Mireille: »Narrentum und Anarchie. Thomas Bernhards subversive Poetik des Lächerlichen«, in: Mireille Tabah/Manfred Mittermayer (Hg.), Thomas Bernhard. Persiflage und Subversion, Würzburg: Königshausen & Neumann 2013, S. 15-26, hier S. 18.
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Die Begriffe ›Norm, Macht, Zwang‹ funktionieren wie folgt: »Soweit Normen als psychische Phänomene fungieren, die das Begehren begrenzen und hervorbringen, lenken sie auch die Subjektbildung und grenzen die Sphäre einer lebbaren Gesellschaftlichkeit ein. Das psychische Fungieren der Norm bietet der regulierenden Macht einen listigeren Weg als der offene Zwang […]. Und doch setzt die Norm als psychische nicht bloß die gesellschaftliche Macht jeweils neu ein, sondern wird auf ganz spezifische Art selbst formativ und verletzlich.«15
Wie oben bereits gesehen, ist die Norm eine von der Gesellschaft anerkannte, zwangslose Form der Regulierung oder ein Mittel der Macht. Das Individuum versucht, sich diese Normen anzueignen (zu ›inkorporieren‹). Ein ungewolltes, doch unverzichtbares ›Begehren der Unterwerfung‹ – unter eine sich in Normen verfeinerte Macht – bewegt die Individuen zum Handeln. Die Frage »Warum geht man?« kann anhand dieses Musters abgebildet werden. Der Weg ist die Herausforderung für die Gehenden, die ihre Ziele unter Berücksichtigung verschiedener Normen und Zwänge verfolgen. Alle Inhalte dieses Ablaufs sind nötig für ein relevantes Ergebnis. Erpenbecks Geschichte bleibt zwar abgeschlossen, jedoch versteht man die aufgestellten Konstellationen: die Flüchtlinge mussten ihre Länder hinter sich lassen, denn die dortigen die Mächte und normativen Zwänge sind lebensgefährlich geworden. Ziel der Flüchtenden ist es, andere Orte mit zum Leben erträglichen Mächten, Zwängen und entsprechenden Normen zu erreichen. Bernhards Figuren zeigen dieses Begehren nicht. Eine Antwort auf die dritte Frage »Was passiert im Prozess des Gehens?« ist aus den folgenden Zeilen zu erschließen: »Das zeitliche Paradox des Subjekts ist so angelegt, daß wir notwendig die Perspektive eines bereits gebildeten Subjekts verlieren müssen, um unser eigenes Werden zu erklären. Dieses ›Werden‹ ist keine einfache oder kontinuierliche Sache, sondern eine ruhelose Praxis der Wiederholung mit all ihren Risiken, etwas, das sein muß, aber nicht abgeschlossen ist und am Horizont des gesellschaftlichen Seins schwankt.«16
Wenn man Subjekte untersucht oder die Entstehung des Subjekts zu erklären versucht, stößt man an den zeitlichen Faktor der Vollendung. Es wird jedoch die Frage gestellt, ob so ein Moment überhaupt erreichbar ist in dem Prozess des Subjektwerdens? Butler behauptet, dass dieser Moment nie eintritt, weil das Werden sich auf der Basis einer unabgeschlossenen Wiederholung entfaltet: »Werden ist keine einfache oder kontinuierliche Sache, sondern eine ruhelose 15 J. Butler: Psyche der Macht, S. 25. 16 Ebd., S. 33f.
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Praxis der Wiederholung«. Der Begriff des Gehens umfasst ebenso einen solchen Prozess. Ferner beinhaltet ›Gehen‹ die Idee der Ortsveränderung. Dementsprechend können die Begriffe Wiederholung, Prozess (Vorgang), Veränderung und Bewegung dem Begriff des Gehens zugeordnet werden. Was passiert im Prozess des Gehens? In Bezug auf den hier untersuchten Roman und die hier untersuchte Erzählung ergibt sich die Antwort, dass im Prozess des Gehens durch Erinnerungen und Wiederaufarbeitung der Kindheit bestimmter Personen ein Sich-Zurück-Versetzen in die Vergangenheit, in einen anderen Zustand, vorgeht. Es handelt sich um eine Abspaltung des gegenwärtigen Ichs, dessen eine Hälfte in der Gegenwart bleibt, dessen andere Hälfte aber in ein vorherig aktuelles Milieu der Vergangenheit zurückversetzt ist. Dieser Zustand ist vor allem für die Romanfiguren bei Jenny Erpenbeck charakteristisch, die ihre persönlichen Geschichten aus Afrika in einer deutschen Gegenwart wiedergeben. Durch diese Geschichten (Erinnerung) verstehen die anderen Protagonisten (und die Leser des Romans ebenso) die afrikanischen Flüchtlinge. Erst durch ihre Erzählungen wird diesen fragwürdigen Einwanderern eine Identität gewährt. Im Prozess des Gehens geht also ihr eigenes Werden vor sich. Sie mussten lange Wege hinter sich lassen, damit sie ein Recht auf ein Werden, auf eine weitere Entwicklungsphase ihrer Subjektivation gewinnen. Ob dieses Recht der ›werdenden Individuen‹ von der aufnehmenden Gesellschaft anerkannt und gestattet wird, ist die andere Seite der selben Münze. Denn die Frage ist nicht nur, ob die ›werdenden Individuen‹ ihre Entwicklung weiterführen, d.h. ob sie in der neuen Gesellschaft existieren dürfen, sondern das Ergebnis solcher Interferenz. Diejenigen, welche sich für ein homogenes Europa einsetzen, werden es schwer haben, solche Prozesse, wie den des Gehens, aufzuhalten. Denn wie bereits gesehen, Gehen ist Werden und Werden ist Wiederholung, unabschließbar: »etwas, das sein muß, aber nicht abgeschlossen ist und am Horizont des gesellschaftlichen Seins schwankt«.17 Bei Bernhard kann man zu einem ähnlichen Resultat gelangen. Die gesamte Erzählung ist eine Selbst-Interpretation – wiedergegeben aus der Perspektive der Figur namens Oehler. Wiedergegeben und immer wieder mit denselben Sätzen dasselbe Geschehen wiederholend. Eine Analepse, wo früheres später erzählt wird. Eine lange Erinnerungskette, mehrmals umgedreht. Oehlers Gehen, neben seinem tatsächlichen Schreiten, bezeichnet einen Denkvorgang – einen Prozess also, der auch hier unabschließbar bleibt. Und da er (Oehler) immer das Mittel des Wiederholens benutzt, so dass eine neue Information trotzdem zugeordnet werden kann, wird das momenthafte Geschehen des Verrücktwerdens seines
17 Ebd.
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Freundes Karrer zu einer fast hundertseitigen Erzählung. Als ob man einen Stein ins Wasser geworfen hätte und die entstehenden konzentrischen Kreise sich schließlich bis ans Ufer verbreiten würden.
2. ZEIT, RAUM UND DIALOG BEIM GEHEN IM VERSTÄNDNIS VON MIKHAIL BAKHTINS THEORIE: CHRONOTOPOS, SUJET, HETEROGLOSSIA Wie sich Zeit und Ort (bzw. Raum) in den beiden Werken verhalten, wird von Mikhail Bakhtins Theorie des Chronotopos abgeleitet. Sein Konzept geht auf Hermann Minkowski zurück. Der sogenannte Minkowski-Raum war ein im Jahr 1907 ausgearbeitetes Modell zu seiner speziellen Relativitätstheorie. »Darin werden die drei herkömmlichen euklidischen Dimensionen um die Zeitdimension ergänzt und zu einem vierdimensionalen Raum zusammengefasst«.18 Über Bakhtins Theorie äußerte sich Minkowski folgendermaßen: »Von Stundʼ an sollen Raum für sich und Zeit für sich völlig zu Schatten herabsinken und nur noch eine Art Union der beiden soll Selbständigkeit bewahren«.19 Bakhtin selbst spricht »von der ›untrennbare(n) Einheit (jedoch nicht Verschmelzung) der Zeitund Raumbestimmungen«, was verdeutlicht, dass er Raum und Zeit zwar in ihrem Zusammenspiel betrachtet, sie anders als Minkowski aber nicht zu bloßen »Schatten herabsinken« lassen will.20 »Im künstlerisch-literarischen Chronotopos verschmelzen räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen. Die Zeit verdichtet sich hierbei, sie zieht sich zusammen und wird auf künstlerische Weise sichtbar; der Raum gewinnt Intensität, er wird in die Bewegung der Zeit, des Sujets, der Geschichte hineingezogen. Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum, und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert.«21
Die Einheit von Zeit und Raum im Roman Gehen, ging, gegangen erscheint z.B. in ihrer gegenseitigen Ergänzung. Die jeweilige Lage (Ort, Raum) der afrikanischen Flüchtlinge wird mit der geistigen Versetzung in die jeweilige Etappe ihres Lebens charakterisiert. Man erzählt seine Kindheitserinnerungen oder den Verlauf der Flucht aus Afrika nach Deutschland. Aus narratologischer Sicht 18 Frank, Michael C.: »Chronotopoi«, in: Jörg Dünne/Andreas Mahler (Hg.), Handbuch Literatur & Raum, Berlin/Boston: De Gruyter 2015, S. 160-170, hier S. 165. 19 Ebd. 20 Ebd. 21 Ebd., S. 160.
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kann eine lineare Erzählweise festgestellt werden – die Geschehnisse in Deutschland folgen nacheinander. Nur die Erinnerungsbilder und privaten Geschichten weisen in die Vergangenheit zurück. So ergeben sich zwei räumliche und zwei temporale Positionen, die sich aufeinander beziehen und sozusagen wechselseitige Referenzpunkte bilden. Bakhtins Theorie beinhaltet auch den Aspekt der Sujetbildung und bezieht sich auf den Vorgang, in dem aus dem Sujet Bilder entstehen. »Unter anderem betont er, dem Chronotopos komme ›erstrangige sujetbildende Bedeutung‹ zu. Das bedeutet, dass die Wahl eines bestimmten Chronotopos den Verlauf der Handlung mitbestimmt, da sie diese in eine gewisse Richtung lenkt«. 22 Hierfür soll ein Beispiel aus Thomas Bernhards Gehen herangezogen werden: »Hätte ich nicht immer wieder den Namen Hollensteiner erwähnt, sagt Oehler, wäre Scherrer gar nicht auf Hollensteiner gekommen«.23 Durch ständige Wiederholung des Namens Hollensteiner entsteht ein neuer Bezug (neue Geschichte, ein neuer Faden) in der Erzählung, die die Geschichte weiterentwickelt und die Leser zu neuen Vorstellungsbildern leitet. »Der Chronotopos ist es, der die Ereignisse des Sujets zu Bildern werden lässt; durch die ›Materialisierung der Zeit im Raum‹ schafft er die Voraussetzung für die szenische Entfaltung der Handlung.«24 Was die Kommunikation (Dialog) und Stilistik bei Erpenbeck und Bernhard angeht, knüpfe ich an Bakhtins Begriff der Heteroglossia (raznorečie) an. »The stylistic uniqueness of the novel as a genre consists precisely in the combination of these subordinated, yet still relatively autonomous, unities (even at times comprised of different languages) into the higher unity of the work as a whole: the style of a novel is to be found in the combination of its styles; the language of a novel is the system of its ›languages‹.«25
Eine präzise narratologische Analyse in Bezug auf Erpenbecks Roman und Bernhards Erzählung wurde nicht durchgeführt. Ich möchte nur diese Aspekte hervorheben, die in Bakhtins Theorie auch hervorgehoben sind. Deswegen wird vor allem auf den Begriff Heteroglossia Bezug genommen, der sich im Feld der Stilistik etabliert hatte.
22 Ebd., S. 168. 23 Bernhard, Thomas: Gehen, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 1971, S. 49. 24 M.C. Frank: »Chronotopoi«, in: J. Dünne/A. Mahler, Handbuch Literatur & Raum, S. 168. 25 Ebd., S. 262.
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»The novel as a whole is a phenomenon multiform in style and variform in speech and voice. In it the investigator is confronted with several heterogeneous stylistic unities, often located on different linguistic levels and subject to different stylistic controls«.26
Bei Erpenbeck kann man von Heteroglossia sprechen, denn bei ihr sind verschiedene stilistische Einheiten vorhanden. Im Roman Gehen, ging, gegangen gibt es Dialoge, Erinnerungen (innere Monologe), auktoriales Erzählen (um mit dem Begriff von Stanzel zu sprechen); homo-, hetero- und autodiegetisches Erzählen mit interner und externer Fokalisierung (mit den Begriffen Genettes ausgedrückt). Bernhards Text enthält auch verschiedene textuelle Ebenen. Er kombiniert die Perspektiven so, dass die Aussagen wechselhaft in direkter und indirekter Form erscheinen. Die »Autorität des monologischen Logozentrismus«27 ist charakteristisch. Die sprachliche Gestaltung des Textes tritt in den Vordergrund, der eigentliche Inhalt ist auf diese sprechende formale Gestaltung angewiesen.
3. AUSWERTUNG Der erste Teil der vorliegenden Analyse konzentrierte sich auf drei Fragestellungen: Was erreicht man beim Gehen? Warum geht man? und Was passiert im Prozess des Gehens? Es lassen sich zu jeder Fragestellung eine vertikale und eine horizontale Achse vorstellen. Die horizontalen Achsen sind mit den Aspekten a) Ziel, Zukunft, Identität; b) Ursache, Vergangenheit; c) Prozess, Gegenwart zu vermerken. Die vertikalen Achsen bilden die butlerschen Begriffe: a) Subjektivation, Unterwerfung, Macht, Ich, Verleugnung, neurotische Wiederholungen, Urkonstellation; b) Macht, Subjektformierung, Inkorporation von Normen, Begehren der Unterwerfung, Norm, Zwang; c) Werden. Gleichzeitig bilden diese Achsen ein Netz für die Werkanalyse von Erpenbecks Roman Gehen, ging, gegangen und Bernhards Erzählung Gehen. Die Untersuchungen haben darauf hingewiesen, dass das Phänomen des Gehens in den beiden Werken verschiedenartig bearbeitet wurde. Die Protagonisten in Erpenbecks Roman weisen eine positive persönliche Entwicklung auf, – sie unterwerfen sich einer Macht und den aktuellen Prozessen, die sie bei ihrer Subjektivation und Identitätsformung nach vorne rücken. Für diese Protagonisten ist
26 Holquist, Michael (Hg.): The Dialogic Imagination. Four Essays by M. M. Bakhtin, Austin: University of Texas Press 2011, S. 261. 27 M. Tabah/M. Mittermayer: Thomas Bernhard. Persiflage und Subversion, S. 8.
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die Frage »Was erreicht man beim Gehen?« relevant, denn sie schreiten, um ein zukünftiges Ziel zu erreichen. Dabei spielt die Sprache als identitätsformendes Mittel eine wichtige Rolle. Sie verbindet das Subjekt mit der Macht und lässt sie aufeinander wirken. Anders ist es in der Erzählung Gehen. Die Protagonisten bleiben in ihren begrenzten Welten haften. Ihre Entwicklung ist eigentlich ein Zerfall. Die Wege führen hier nicht in die Ferne, sondern sie kehren immer wieder an den Ausgangspunkt zurück, – es ist ein nie zu Ende gehender Kreislauf. Dieser Prozess wird sowohl sprachlich (direkte und indirekte Rede, Gedankenstrom), als auch formal (Blocksatz, Text ohne Absätze) in der Erzählung dargestellt. Bernhards Figuren sind nicht imstande, ihre Urkonstellationen aufzulösen, ein Austritt aus dem verzauberten Kreislauf ist einzig durch Verrücktwerden möglich. Viel Denken und viel Gehen führen wohl zu diesem Ergebnis. Diese Protagonisten erreichen also einen negativen Zustand infolge des Gehens: Ihre mentale Gesundheit wird abgebaut und ihre Identität wird in Frage gestellt. Die Ursachen des Gehens führen in die Vergangenheit. Bei der Aufarbeitung der Erinnerungen gelangen die Figuren zu einer Phase der persönlichen Weiterentwicklung (bei Erpenbeck) oder zu einer Rechtfertigung der fehlgeschlagenen Subjektivation (bei Bernhard). Warum geht man, wenn das Gehen durch Normen, Mächte und Zwänge begrenzt und gehindert ist, die die Flüchtlinge umgehen, lösen, akzeptieren sollen? Ein Zusammenwirken dieser Gegebenheiten ermöglicht die persönliche Entwicklung der Individuen bzw. der Identitäten. Die persönliche Entwicklung nimmt in Bernhards Werk eine umgekehrte Richtung. Bernhard sieht die Vorgänge (Gehen, Denken) negativ – seine Protagonisten erliegen im Prozess des Gehens einem psychischen Abbau. Dieser Vorgang entspricht seiner Auffassung, das Leben sei ein »Verschlimmerungsprozess«.28 Die Inkorporation gesellschaftlich anerkannter Normen bleibt hier aus, wird aber zum selbst verschuldeten Zwang (Krankheit, Irrewerden), aus dem man nicht mehr heraustreten kann. Im Prozess des Gehens verwirklichen sich Vorgänge. Bei Erpenbeck ist dieser Vorgang linear zu fassen, bei Bernhard zirkulär. Im Prozess des Gehens sind Bewegungen, Veränderungen inbegriffen. Diese werden immer wiederholt, – so ergibt sich die Reihe unabgeschlossener Ereignisse, die hier einfach als Werden bezeichnet werden kann. Beide Autoren beschäftigen sich mit den Möglichkeiten der Existenz (je nach der sozialen und geographischen Situation ihrer Protagonisten). Das Gehen bei Bernhard ist eine Metapher des Denkens. Für die Entstehung dieser Metapher nutzt er eine besondere Stilistik: paradigmatische und syntagmatische Wiederholungstechnik, Wechsel von indirekter und direkter
28 Bernhard, Thomas: Gehen, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 1971, S. 11.
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Rede, Nutzung verabsolutierender Adjektive.29 In diesem Sinne ist die Sprache bei ihm ein formales Ausdrucksmittel. Erpenbeck wiederum macht die Sprache zu einem wesentlichen und expliziten Inhaltsbegriff. Ihre Protagonisten werden mit Sprachproblemen konfrontiert: wie die Erlernung einer Fremdsprache oder die Kommunikation in einer fremden Umgebung, die mit unbekannten Codes verschlüsselt ist. In der Identitätsformung der afrikanischen Flüchtlinge, aber auch in der Identitätsformung der deutschen Figuren spielt also die Sprache eine bedeutende Rolle und wird Teil ihres Werdens. Eine kurze Zusammenfassung gilt auch den Untersuchungen im Feld der bakhtinschen Begriffe. Die Raum-Zeit-Beziehungen bei Erpenbeck verlaufen auf zwei Ebenen: es gibt Ereignisse auf einer gegenwärtigen Ebene in Deutschland und es gibt Ereignisse in der Vergangenheit in den Heimatländern der Flüchtlinge (bzw. es wird von Ereignissen in Richards Leben berichtet, der sich Erinnerungsbilder aus dem geteilten Berlin vergegenwärtigt). Während der Ortsveränderung in der Erzählung Gehen entstehen Assoziationen, die das Wechselspiel von Raum und Zeit, bzw. die Entstehung der Sujetbilder unterstützen. Obwohl Bakhtins Theorie sich in erster Linie auf das Genre des Romans bezieht, sind Spuren der Heteroglossia auch in der Erzählung Gehen zu finden.
4. SCHLUSS Als Schlussfolgerung dieser Arbeit würde ich in erster Linie die Problematik des Gehens als einen Prozess bezeichnen, in dem die Protagonisten ihrer Identitätssuche nachgehen. Jenny Erpenbeck zielt auf das Drama und auf die Lebenserfahrung afrikanischer Flüchtlinge. Die Flucht als Gehen und Ortsveränderung tritt bei diesen Figuren als Hoffnung auf – eine Hoffnung auf Weiterentwicklung und Vollendung ihrer Subjektivation. Die in sich immer wieder zurückkehrende Erzählweise Thomas Bernhards rückt die Problematik des Gehens in Form abstrahierter Denkvorgänge in den Vordergrund. In seiner Erzählung werden die Identitäten eher abgebaut, zerstört und aufgelöst. Die beiden hier behandelten Werke weisen aktuelle Fragestellungen der menschlichen Existenz und des gesellschaftlichen Zusammenlebens auf. Soweit kann man Entsprechungen und Ähnlichkeiten feststellen, die die Hypothese der vorliegenden Arbeit bestätigen. Die Herangehensweise der Autoren ist jedoch verschieden: Erpenbecks Figuren entfalten sich in einer positiven Richtung und verlieren ihre Perspektive nicht.
29 Wikipedia Eintrag zu Thomas Bernhards Gehen, https://de.wikipedia.org/wiki/Gehen _%28Erz%C3%A4hlung%29 vom 27.04.2017.
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Bernhard lässt seine Figuren mit negativer Lebenseinstellung auftreten, aus der sie keinen Ausweg finden. Die beiden Werke sind gelungene Beispiele für die Darstellung der Herausforderungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens und der Herausforderungen existenzieller Nachdenklichkeit. Die Debatten über diese Herausforderungen werden uns noch lange begleiten, soweit die Polemik des Eigenen und des Fremden ungelöst bleibt.
LITERATUR Bernhard, Thomas: Gehen, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 1971. Butler, Judith: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 2013. Erpenbeck, Jenny: Gehen, ging, gegangen, München: Knaus 2015. Frank, Michael C.: »Chronotopoi«, in: Jörg Dünne/Andreas Mahler (Hg.), Handbuch Literatur & Raum, Berlin/Boston: De Gruyter 2015, S. 160-170. Holquist, Michael (Hg.): The Dialogic Imagination. Four Essays by M.M. Bakhtin, Austin: University of Texas Press 2011. Mein, Georg: »Ariadnes Faden«, in: Friedhelm Marx/Julia Schöll (Hg.), Wahrheit und Täuschung. Beiträge zum Werk Jenny Erpenbecks, Göttingen: Wallstein 2014, S. 67-78. Morley, David/Robins, Kevin: Spaces of Identity. Global Media, Electronic Landscapes and Cultural Boundaries, London/New York: Routledge 1995. Schöll, Julia: »Jenny Erpenbecks Text- und Objektästhetik«, in: Friedhelm Marx/Julia Schöll (Hg.), Wahrheit und Täuschung. Beiträge zum Werk Jenny Erpenbecks, Göttingen: Wallstein 2014, S. 37-53. Tabah, Mireille: »Narrentum und Anarchie. Thomas Bernhards subversive Poetik des Lächerlichen«, in: Mireille Tabah/Manfred Mittermayer (Hg.), Thomas Bernhard. Persiflage und Subversion, Würzburg: Königshausen & Neumann 2013, S. 15-26. Vedder, Ulrike: »Lebensläufe: Zeit und Genealogie in Jenny Erpenbecks Literatur«, in: Friedhelm Marx/Julia Schöll (Hg.), Wahrheit und Täuschung. Beiträge zum Werk Jenny Erpenbecks, Göttingen: Wallstein 2014, S. 55-66. http://www.grin.com/de/e-book/32994/ueber-die-zeit-und-ihre-strukturen-ingehen-von-thomas-bernhard, zuletzt abgerufen am 22.04.2017. http://www.spiegel.de/kultur/literatur/gehen-ging-gegangen-von-jennyerpenbeck-rezension-a-1050518.html, zuletzt abgerufen am 26.04.2017. https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article145830887/Ein-Roman-alsCrashkurs-in-Fluechtlingskunde.html, zuletzt abgerufen am 26.04.2017.
Autor, Text und Kontext in Thomas Manns Roman Joseph und seine Brüder Delia Eşian
Abstract: Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist die enge Verflechtung von Autor, Text und Kontext in Thomas Manns Romantetralogie Joseph und seine Brüder. Literaturwissenschaftlich gesehen ist der Autor der Konstrukteur der textuellen Realität, wobei Literatur als Teil eines umfassenden kulturellen Textes zu verstehen ist. Thomas Mann vergleicht seinen Josephroman mit den Pyramiden und weist auf den Zusammenhang mit der Zeitgeschichte hin, die ihn selbst ereilte. Er unternahm die Niederschrift des Romans in einer Zeit, in der die meisten Deutschen Adolf Hitler und seinem Regime gefolgt waren, und setzte der nationalsozialistischen Ideologie einen humanistisch-religiösen Entwurf entgegen, denn die Hauptquelle des Romans ist die Bibel, die Genesis, Kap. 23-50. Das umfangreichste Romanwerk des Autors wurde 1943 abgeschlossen, im kalifornischen 1
Exil. Dabei ist das Exil »kein Warte-Zustand mehr«, sondern bezieht sich auf »eine 2
3
Auflösung der Nationen« und »auf die Vereinheitlichung der Welt«, , ein Gedanke Goethe’scher Prägung. Schlüsselwörter: Autor, Text, Kontext, Thomas Mann.
Obwohl Roland Barthes bereits 1968 »La mort de l’auteur« verkündete und nach ihm Michel Foucault 1969 die grundsätzliche Frage »Qu’est-ce qu’un auteur?« aufwarf, durch die er die Einheit von Autor und Werk zurückwies, wurden die
1
Brief vom 18.02.1941 an Karl Kerényi, in: Schröter, Klaus: Thomas Mann, Reinbek
2
Ebd.
3
Ebd.
b. Hamburg: Rowohlt 2005, überarbeitete Neuausgabe, S. 143.
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literaturtheoretischen Debatten vom »Tod des Autors« 4 bis hin zur Proklamation seiner »Rückkehr« schon fast zu einem Allgemeinplatz der Fachwissenschaften. In der deutschen Forschung kam der Begriff »Rückkehr des Autors« durch einen 1999 von Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez und Simone Winko herausgegebenen gleichnamigen Band erneut in Umlauf.5 Darin sollte der Autor wieder zum legitimen Untersuchungsgegenstand der Literaturwissenschaft gemacht werden, allein um die »unaufgeklärte Schizophrenie«6 zwischen Literaturtheorie und Praxis der Literaturwissenschaft zu vermeiden. Der literarische Text wird oft als eine spezifische Form der Bewältigung und Verarbeitung der Konflikterfahrungen des Autors definiert. Diese Konflikterfahrungen sind jedoch nicht rein individueller Natur, sondern verbinden sich stets mit historischsozialen Faktoren. Im literarischen Werk sedimentieren sich immer auch allgemeine zeitgeschichtliche Vorgänge, Entwicklungen und Konflikte. Der Literaturbegriff versucht drei Dimensionen des Textes, die Biografie und Persönlichkeitsstruktur des Autors, Geschichte und Gesellschaft, sowie ästhetische Struktur in ihrem dialektischen Beziehungsverhältnis zu erfassen.7 Auch wenn ein literarisches Werk existentielle Traumata seines Autors bearbeitet und zu bewältigen versucht, geschieht dies aber nicht durch Wiederholung und Widerspiegelung des faktisch Erlebten, sondern durch dessen künstlerische Umgestaltung, oder um mit Georg Büchner und Lenz zu sprechen, »in allem Leben, Möglichkeit des Daseins […]«8 zu verlangen. Denn »wir haben dann nicht zu fragen, ob es schön, ob es häßlich ist, das Gefühl, daß, was geschaffen sei, Leben habe, stehe über diesen beiden, und sei das einzige Kriterium in Kunstsachen«. 9 »Das Benutzen der Erlebnisse ist mir immer alles gewesen; das Erfinden aus der Luft war nie meine Sache: ich habe die Welt stets für genialer gehalten als
4
Vgl. Jannidis, Fotis/Lauer, Gerhard/Martinez, Mathias/Winko, Simone (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart: Reclam 2000; Detering, Heinrich (Hg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen. DFG-Symposion 2001, Stuttgart/Weimar: Metzler 2002.
5
Vgl. Jannidis, Fotis/Lauer, Gerhard/Martinez, Mathias/Winko, Simone (Hg.): Rück-
6
Langer, Daniela: Wie man wird, was man schreibt. Sprache, Subjekt und Autobiogra-
7
Mauser, Wolfram: Hugo von Hofmannsthal. Konfliktbewältigung und Werkstruktur.
8
Büchner, Georg: Lenz. Studienausgabe. Hg. von Hubert Gersch, Stuttgart: Reclam
9
Ebd.
kehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen: Reclam 1999. phie bei Nietzsche und Barthes, Paderborn/München: Wilhelm Fink 2005, S. 35. Eine psychosoziologische Interpretation. München: Wilhelm Fink 1977, S. 7. 1984, S. 14.
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mein Genie«10 – Thomas Mann hat dieses Goethe-Zitat schon früh auf sich und den autobiografischen Charakter der eigenen Arbeiten bezogen. Zur Niederschrift des Josephromans wurde er auch durch Goethes autobiografische Schrift Dichtung und Wahrheit angeregt.11 In dem vierten Buch äußert sich Goethe über die biblische Erzählung wie folgt: »Höchst anmutig ist diese natürliche Erzählung, nur erscheint sie zu kurz, und man fühlt sich berufen, sie ins einzelne auszumalen.«12 Bereits für den jungen Leser Goethe erschien der biblische Bericht zu wenig ausführlich. Deshalb schrieb er ein biblisches prosaisch-episches Gedicht über die Geschichte Josephs, in dem er »alle Begebenheiten bis ins kleinste Detail«13 vergegenwärtigte. So versuchte sich ein knabenhafter Goethe am Stoff, dem um das Jahr 1926 ein mehr als 50jähriger Thomas Mann nachzufolgen gedachte. Nicht zufällig heißt es in dessen Selbstkommentaren zu dem Josephroman: »Es ist die biblische Geschichte selbst, die ich real und humoristisch wiedererzählen will.«14 Am 2. Dezember 1936 antwortete Deutschland auf Thomas Manns Bekenntnis zur Emigration mit der 7. Ausbürgerungsliste im »Reichsanzeiger«; der Akt schloss den Verlust der Staatsbürgerschaft und die Beschlagnahme des Besitzes ein. Als kurz darauf die Bonner Universität sich genötigt sah, ihm den Ehrendoktor zu entziehen, antwortete er dem Dekan der Bonner Philosophischen Fakultät, Karl Justus Obenauer, in seinem berühmten offenen Brief. Thomas Mann wurde notgedrungen zum Repräsentanten der Emigration und übernahm damit eine Rolle, die er mit einer prophetischen Geste in dem Bonner Brief einleitete:
10 Zit. nach K. Schröter: Thomas Mann, S. 136. 11 Der eigentliche Anlass für Thomas Mann, sich mit der Josephsgeschichte zu beschäftigen, war eher zufällig. Der Maler Hermann Ebers hat ihn im Winter 1923/1924 um eine Einleitung zu einer Bildermappe über die biblische Josephsgeschichte gebeten. Eine Mittelmeerreise im Jahre 1925 hat ihn dann nach Kairo, Luxor/Theben und Karnak geführt (vgl. David, Philipp: »›In-Spuren-Gehen‹ – Thomas Manns mythischer Roman Joseph und seine Brüder«, in: Maike Schult/Philipp David (Hg.), Wortwelten. Theologische Erkundung der Literatur, Berlin: LIT Verlag 2011, S. 117-142, hier S. 120). 12 Goethe, Johann Wolfgang: »Viertes Buch«, in: Ders., Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hg., mit einem Nachwort und Anmerkungen von Horst Nalewski, Bukarest: Kriterion 1984, Bd. 1, S. 155. 13 Ebd., S. 156. 14 Wysling, Hans (Hg.): Thomas Mann Selbstkommentare: ›Joseph und seine Brüder‹, Frankfurt a. Main: Fischer 1999, S. 21.
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»Der einfache Gedanke daran, wer die Menschen sind, denen die erbärmlich-äußerliche Zufallsmacht gegeben ist, mir mein Deutschtum abzusprechen, reicht hin, diesen Akt in seiner ganzen Lächerlichkeit erscheinen zu lassen […]. Sie haben die unglaubwürdige Kühnheit, sich mit Deutschland zu verwechseln! Wo doch vielleicht der Augenblick nicht fern ist, da dem deutschen Volk das Letzte daran gelegen sein wird, nicht mit ihnen ver15
wechselt zu werden.«
Bereits in den 1917 vollendeten Betrachtungen eines Unpolitischen hieß es ja: »Deutschtum, das ist Kultur, Seele, Freiheit, Kunst und nicht Zivilisation.«16 Hauptarbeit während der ersten zehn Jahre der Emigration war die Vollendung der Josephsgeschichte. An dieser Unternehmung hatte er schon sechs Jahre gearbeitet, als er 1933 Deutschland verließ. Ursprünglich hatte die Geschichte von Joseph und seinen Brüdern nur die erste Novelle eines Triptychons vom Gesamtumfang des Tods in Venedig werden sollen. Sie wuchs jedoch zu vier umfänglichen Bänden von über tausend Seiten heran. »Meine Werke sind Teil meiner Biographie«,17 wird Michel Foucault in den achtziger Jahren behaupten. Im Hinblick auf seinen Text Was ist ein Autor? erscheint diese Aussage Foucaults provokant, da der Topos vom Tod des Autors doch ausgerechnet in der Zurückweisung einer Einheit von Autor und Werk besteht. »Das Werk, das die Aufgabe hatte, unsterblich zu machen, hat das Recht erhalten, zu töten, seinen Autor umzubringen«,18 hieß es noch 1969. Jetzt lässt sich Autorschaft als Ego-Pluralität im Kontext prozessualer Selbsttransformation fassen.19 Bezieht man diesen Gedanken auf den Josephroman, so kann man an ihm auch die Transformation, »die biographischen Brüche des Autors« 20 ablesen, denn der Autor des ersten Bandes stimmt mit der Person des Autors des vierten Bandes nicht mehr überein. Die ersten beiden Romane sind noch vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten in München geschrieben. Sie erschienen in Berlin, Die Geschichten Jaakobs im Oktober 1933, also in dem Jahr, in 15 »Thomas Mann: Der Zauberer«, in: Der Spiegel 52 (1954), S. 32-45, hier S. 40-41. 16 Ebd., S. 37 17 »Wahrheit, Macht, Selbst. Ein Gespräch zwischen Rux Martin und Michel Foucault (25. Oktober 1982)«, in: Michel Foucault/Rux Martin/Luther H. Martin, Technologien des Selbst, Frankfurt a. Main: Fischer 1993, S. 15-23, hier S. 17. 18 Foucault, Michel: »Was ist ein Autor?«, in: G. Lauer/M. Martinez/S. Winko, Texte zur Theorie der Autorschaft, S. 198-229, hier S. 204. 19 Vgl. Thums, Barbara: »Wandernde Autorschaft im Zeichen der Entsagung: Goethes Wanderjahre«, in: H. Detering, Autorschaft, S. 501-520. 20 David, Philipp: »›In-Spuren-Gehen‹ – Thomas Manns mythischer Roman Joseph und seine Brüder«, in: M. Schult/P. David, Wortwelten, S. 117-142, hier S. 121.
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dem Hitler zum deutschen Reichskanzler gewählt wurde, und Der junge Joseph im April 1934; der dritte Band, Joseph in Ägypten, wurde 1936 in Wien veröffentlicht. Gerade an dem vierten Band, Joseph, der Ernährer, der im Dezember 1943 in Stockholm erschienen ist, lässt sich Manns Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte nachweisen. Die Politik des »New Deal«21 des amerikanischen Präsidenten Franklin Delano Roosevelt wird zur zeitgeschichtlichen Hintergrundfolie der dichterischen Sozialutopie des abschließenden Bandes. Als »Flüchtling aus Hitler-Deutschland«22 fand Thomas Mann in Roosevelt »zum erstenmal einen, der alles verstand, alles wußte, alles sah.«23 Seinen »New Deal« fand Thomas Mann »erleuchtet von intuitivem Wissen um die Notwendigkeiten der Zeit, den Willen des Weltgeistes.«24 Der Tod Roosevelts beendete einen Geschichtsabschnitt und zerschlug alle Hoffnungen Manns, die er einst auf die USA gesetzt hatte.25 Bis heute aber wird der Josephroman in den USA besonders geschätzt.26 Literaturwissenschaftlich gesehen ist der Autor der Konstrukteur der textuellen Realität, wobei Literatur als Teil eines umfassenden kulturellen Textes zu verstehen ist. So vergleicht Thomas Mann seinen abgeschlossenen Josephroman mit den Pyramiden und weist auf den Zusammenhang mit der Zeitgeschichte hin, die ihn selbst ereilte.27 Mit anderen Worten beginnt Thomas Mann die Niederschrift des Romans in einer Zeit, in der die meisten Deutschen Adolf Hitler und seinem Regime gefolgt waren, und er setzte der nationalsozialistischen Ideologie einen humanistisch-religiösen Entwurf entgegen, da die Hauptquelle des Romans die Bibel, die Genesis, Kap. 23-50, ist. Jaakob, Lea, Rahel, Joseph, die Brüder, Potiphar, seine Frau Mut-em-enet, der Pharao Amenhotep IV. (Echnatôn) werden im Roman als lebendige, einprägsame Gestalten veranschaulicht. Thomas Mann hat sich zu ihnen und ihrer Welt
21 Der New Deal war eine Reihe von Wirtschafts- und Sozialreformen, die in den Jahren 1933 bis 1938 unter US-Präsident Roosevelt als Antwort auf die Weltwirtschaftskrise durchgesetzt wurden. 22 K. Schröter, Thomas Mann, S. 128. 23 Ebd. 24 Ebd. 25 Vgl. ebd., S. 152. 26 Weiss, Walter: »Jakob und Josef«, in: Heinrich Schmidinger (Hg.), Die Bibel in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, Bd. 2: Personen und Figuren, Mainz: Matthias-Grünewald 22000, S. 108-118, hier S. 112. 27 Ebd.
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auch noch mit einer Reise nach Ägypten und Palästina 1930 Anschauungsmaterial verschafft.28 Im Mittelpunkt des Josephromans steht die Frage nach dem Menschen, der Roman wird eigentlich von den anthropologischen Grundfragen geleitet: »Was ist der Mensch?«29 Welche Stellung kommt ihm im Kosmos zu? Die »Höllenfahrt«30 zu Beginn des Romans geht in die Brunnentiefe der Zeit. Der Abstand zwischen Joseph und seiner Zeit zu unserer Zeit ist jedoch relativ. Am Anfang des Romans hätte auch der Hinweis stehen können: »Dieser Roman spielt in der Gegenwart.«31 Hans Castorp im Zauberberg hat nach sieben Jahren im Davoser Sanatorium gelernt, dass es hier nichts zu lernen gab. Die Zivilisation der Insassen war krank, denn draußen hatte ein Weltkrieg begonnen. Im Gegensatz zu ihm wird Joseph, Sohn des Jaakob und der früh verstorbenen Rahel, erhöht, nachdem er in den verschiedenen Brunnen und Kerkern gelitten hat. Wie der Titel des letzten Bandes mitteilt, wird »Joseph, der Ernährer«, »ein Mann der gesellschaftlichen Verantwortung«,32 ähnlich der sozialen Utopie in Goethes Faust. In einem Brief an den Mythologen Karl Kerényi schreibt Thomas Mann während des Zweiten Weltkriegs aus dem amerikanischen Exil: »Das ›Exil‹ ist etwas ganz anderes geworden, als es früher war; es ist kein Warte-Zustand mehr, auf Heimkehr abgestellt, sondern spielt schon auf eine Auflösung der Nationen an 33
und auf die Vereinheitlichung der Welt.«
28 Ebd. 29 Psalm 8,5: »Was ist der Mensch, daß du seiner gedenkst,/und des Menschen Kind, daß du dich seiner annimmst?«, in: Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers, Berlin/Altenburg: Evangelische Haupt-Bibelgesellschaft
2
1986; und: »Was ist der
Mensch, o Herr, daß Du sein gedenkest?«, in: Mann, Thomas: Joseph und seine Brüder, Berlin: Fischer 1981, S. 919. 30 Die erste Überschrift im Josephroman, bevor die Geschichten Jaakobs beginnen, lautet: »Vorspiel: Höllenfahrt«. Ein Wort wie »Vorspiel« soll gewollt, an das Theater oder an die Musik – in Form einer Ouvertüre – mahnen (vgl. Mayer, Hans: »Thomas Mann und der biblische Joseph«, in: Hans Jürgen Schultz (Hg.), Sie werden lachen – die Bibel. Überraschungen mit dem Buch, Stuttgart: Kreuz-Verlag 1975, S. 191-201, hier S. 195). 31 Ebd. 32 Ebd., S. 197. 33 Brief an K. Kerényi, 18.02.1941, in: K. Schröter, Thomas Mann, S. 143.
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Dieser Gedanke Goethe’scher Prägung erinnert an den Leitspruch der Auswanderer in Wilhelm Meisters Wanderjahren: »Suchet überall zu nützen, überall seid ihr zu Hause«.34 Thomas Manns Bleistiftstriche in seinem Exemplar von Goethes Spätwerk bezeugen, dass er während seiner Emigrationsjahre immer wieder darin gelesen hat.35 Im Jahr 1941 waren die Manns nach Pacific Palisades, nördlich von Los Angeles/Kalifornien zwischen Santa Monica und Malibu, übergesiedelt. Das Wohnhaus, in dem Thomas Mann seine Werke Joseph, der Ernährer, Doktor Faustus und Der Erwählte verfasst hatte, ist noch erhalten. 2016 setzte sich unter anderem Herta Müller im Namen der Gesellschaft für Exilforschung in einer Online-Petition für den Erwerb des Hauses durch die Bundesrepublik Deutschland ein. Dabei solle Thomas Manns Villa »ein Ort der Erinnerung an die ExilGeschichte, ein Ort des intellektuellen, gesellschaftlichen und kulturellen Austauschs werden.«36 Im November 2016 erklärte Außenminister Frank-Walter Steinmeier, dass Deutschland das Anwesen erworben habe,37 und würdigte das Thomas-Mann-Haus als das »Weiße Haus des Exils«.38 Trotz der Bearbeitung des biblischen Stoffes galt und gilt Thomas Mann kaum als religiöser Schriftsteller, der eine traditionelle religiöse Botschaft mit seinem Werk vermitteln will. Das Alte Testament ist bei Thomas Mann »ein Buch voll der schönen, wenngleich bisweilen schrecklichen Geschichten.«39 Er
34 Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Wanderjahre, online unter http://guten berg.spiegel.de/buch/wilhelm-meisters-wanderjahre-3679/56, zuletzt abgerufen am 28.02.2017 35 Vgl. K. Schröter, Thomas Mann, S. 143. 36 »Thomas Manns Villa erhalten! Exil erinnern, demokratische Kultur fördern, Begegnung ermöglichen.«, online unter https://www.openpetion.de/.../thomas-manns-villaerhalten-exil-erinnern-demokratische-kultur-foerdern-begegnung-ermoeglichen,
zu-
letzt abgerufen am 28.02.2017. 37 Die Bundesrepublik Deutschland hat die Thomas-Mann-Villa in Kalifornien für 13 Millionen Euro gekauft. Vgl. Rosenfelder, Andreas: »Achtung, die Thomas-MannWG sucht neue Mieter!«, in: Welt vom 14.02.2017, online unter https://www.welt.de/ kultur/literarischewelt/article162086809/Achtung-die-Thomas-Mann-WG-sucht-neueMieter.html, zuletzt abegrufen am 28.02.2017. 38 »Deutschland kauft Mann-Villa«, in: Sächsische Zeitung vom 18.11.2016, online unter http://www.sz-online.de/nachrichten/kultur/deutschland-kauft-mann-villa-3543 210.html, zuletzt abegrufen am 28.02.2017. 39 H. Mayer: »Thomas Mann und der biblische Joseph«, in: H.J. Schultz, Sie werden lachen – die Bibel, S. 197.
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arbeitet jedoch mit religiösen Zeichen, mit Bildern, Begriffen und Mythen aus der Welt der Religionen und greift in seinem Gesamtwerk immer wieder auf religiöse Traditionen zurück, um diese »zu einem synkretistischen Universum« 40 sprachlich verweben zu können. Damit offenbart sich zeitgemäße Religion für Thomas Mann nur noch im Medium der Kunst und wird darin als Basis der Kultur akzeptiert,41 insofern die Bibel zu einem »Denkmal der Kultur«42 wird. In einem Brief an Karl Kerényi schreibt Thomas Mann, er habe den faschistischen Dunkelmännern den Mythos aus den Händen genommen, um ihn ins Humane »umzufunktionieren«.43 Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, dass diese Aussage mit einer Anspielung auf Hitler in der letzten Szene des Romans zu Tage tritt, in der die Versöhnung Josephs mit seinen Brüdern geschildert wird: »Denn ein Mann, der die Macht braucht, nur weil er sie hat, gegen Recht und Verstand, der ist zum Lachen. Ist er’s aber heute noch nicht, so soll er’s in Zukunft sein, und wir halten es mit dieser.«44 Demzufolge gehört die Zukunft dem Humanen, da Thomas Mann »aus seiner ästhetischen Perspektive die Freiheit und die Verantwortung des Einzelnen«45 bekräftigt und nicht »zu einer ästhetischen Weltflucht«46 aufruft. »Gestern, heute und morgen liegen in [der Sprache] beschlossen. Wenn die Sprache eines Schriftstellers nicht standhält, hält auch, was er sagt, nicht stand.«47 Die Sprache Thomas Manns weist nicht nur eine Nähe zur Sprache Luthers auf. Bedenken sollte man dabei, dass Thomas Mann sein Leben hindurch ein protestantischer Christ geblieben ist. So ist z.B. der erste Satz in den
40 P. David: »›In-Spuren-Gehen‹ – Thomas Manns mythischer Roman Joseph und seine Brüder«, in: M. Schult/P. David, Wortwelten, S. 123. 41 Vgl. ebd., S. 139. 42 Ianoşi, Ion: Thomas Mann, Bucureşti: Editura Trei 2002, S. 118. 43 H. Wysling (Hg.): Thomas Mann Selbstkommentare: ›Joseph und seine Brüder‹, S. 192. 44 Th. Mann, Joseph und seine Brüder, S. 1355. 45 P. David: »›In-Spuren-Gehen‹ – Thomas Manns mythischer Roman Joseph und seine Brüder«, in: M. Schult/P. David, Wortwelten, S. 117-142, hier S. 139. 46 Ebd. 47 Interview mit N. N. (Anfang 1955), in: Ingeborg Bachmann, Wir müssen wahre Sätze finden. Gespräche und Interviews. Hg. Von Christine Koschel und Inge von Weidenbaum, München/Zürich: Piper&Co. 1983, S. 11-14, hier S. 11.
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Buddenbrooks ein Zitat aus Martin Luthers Katechismus.48 Wenn die kleine Serach im Josephroman dem alten Patriarchen Jaakob im Lied beibringen soll, dass Joseph lebt – zumal »Lied und Wahrheit dasselbe sind«,49 so geschieht das mittels einer Lyrik, die an Goethes Westöstlichen Divan und gleichzeitig an eine Bachkantate, die vom Ostermysterium berichtet, erinnert. Dabei wird Joseph »wie Christus«50 und »der Osiris«51, der aus der Grube auferstanden ist, besungen: »Sing es jauchzend, meine Seele, zu den Saiten Goldgetön, – daß nicht hielt den Sohn die Höhle; Herz, er soll dir auferstehn. Lange war er nicht vorhanden, und verödet lag die Flur, doch nun klingt’s: Er ist erstanden. Alter Vater, glaube nur!«
52
LITERATUR Primärliteratur Bachmann, Ingeborg: »Interview mit N. N. (Anfang 1955)«, in: Dies., Wir müssen wahre Sätze finden. Gespräche und Interviews. Hg. von Christine Koschel und Inge von Weidenbaum, München/Zürich: Piper & Co. 1983, S. 1114. Büchner, Georg: Lenz. Studienausgabe. Hg. von Hubert Gersch, Stuttgart: Reclam 1984. Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers, Berlin/Altenburg: Evangelische Haupt-Bibelgesellschaft 21986.
48 Vgl. H. Mayer: »Thomas Mann und der biblische Joseph«, in: H.J. Schultz, Sie werden lachen – die Bibel, S. 191. 49 Th. Mann, Joseph und seine Brüder, S. 1267. 50 Ebd., S. 200. 51 Ebd. Osiris ist der ägyptische Gott des Jenseits, der Wiedergeburt und des Nils (vgl. Chevalier, Jean/Gheerbrant, Alain: Dicţionar de simboluri, Bucureşti: Artemis 1993, Bd. 2, S. 389-390). 52 Th. Mann, Joseph und seine Brüder, S. 1275.
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Foucault, Michel: »Wahrheit, Macht, Selbst. Ein Gespräch zwischen Rux Martin und Michel Foucault (25. Oktober 1982)«, in: Michel Foucault/Rux Martin/Luther H. Martin, Technologien des Selbst, Frankfurt a. Main: Fischer 1993, S. 15-23. Goethe, Johann Wolfgang: »Viertes Buch«, in: Ders., Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hg., mit einem Nachwort und Anmerkungen von Horst Nalewski, Bukarest: Kriterion 1984. Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Wanderjahre, online unter
http://gutenberg.spiegel.de/buch/wilhelm-meisters-wanderjahre-3679/56. Mann, Thomas: Joseph und seine Brüder, Berlin: Fischer 1981. Wysling, Hans (Hg.): Thomas Mann Selbstkommentare: ›Joseph und seine Brüder‹, Frankfurt a. Main: Fischer 1999. Sekundärliteratur Chevalier, Jean/Gheerbrant, Alain: Dicţionar de simboluri, Bucureşti: Artemis 1993. David, Philipp: »›In-Spuren-Gehen‹ – Thomas Manns mythischer Roman Joseph und seine Brüder«, in: Maike Schult/Philipp David (Hg.): Wortwelten. Theologische Erkundung der Literatur, Berlin: LIT Verlag 2011, S. 117-142. Der Spiegel: »Thomas Mann: Der Zauberer«, 52 (1954), S. 32-45. Detering, Heinrich (Hg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen. DFGSymposion 2001, Stuttgart/Weimar: Metzler 2002. Foucault, Michel: »Was ist ein Autor?«, in: Fotis Jannidis/Gerhard Lauer/Matias Martinez/Simone Winko (Hg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart: Reclam 2000, S. 198-229. Ianoşi, Ion: Thomas Mann, Bucureşti: Editura Trei 2002. Jannidis, Fotis/Lauer, Gerhard/Martinez, Matias/Winko, Simone (Hg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen: Reclam 1999. Jannidis, Fotis/Lauer, Gerhard/Martinez, Mathias/Winko, Simone (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart: Reclam 2000. Langer, Daniela: Wie man wird, was man schreibt. Sprache, Subjekt und Autobiographie bei Nietzsche und Barthes, Paderborn/München: Wilhelm Fink 2005. Mauser, Wolfram: Hugo von Hofmannsthal. Konfliktbewältigung und Werkstruktur. Eine psychosoziologische Interpretation, München: Wilhelm Fink 1977.
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Mayer, Hans: »Thomas Mann und der biblische Joseph«, in: Hans Jürgen Schultz (Hg.), Sie werden lachen – die Bibel. Überraschungen mit dem Buch, Stuttgart: Kreuz 1975, S. 191-201. Petition: »Thomas Manns Villa erhalten! Exil erinnern, demokratische Kultur fördern, Begegnung ermöglichen«, 2016, https://www.openpetition.de./.../ thomas-manns-villa-erhalten-exil-erinnern-demokratische-kultur-foerdern-be gegnung-ermoeglichen. Rosenfelder, Andreas: »Achtung, die Thomas-Mann-WG sucht neue Mieter!«, in: Welt vom 14.02.2017, online unter https://www.welt.de/kultur/literari schewelt/article162086809/Achtung-die-Thomas-Mann-WG-sucht-neue-Mie ter.html. Sächische Zeitung: »Deutschland kauft Mann-Villa«, 18.11.2016, http://www. sz-online.de/nachrichten/kultur/deutschland-kauft-mann-villa-3543210.html. Schröter, Klaus: Thomas Mann. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 2005, überarbeitete Neuausgabe. Thums, Barbara: »Wandernde Autorschaft im Zeichen der Entsagung: Goethes Wanderjahre«, in: Heinrich Detering, Autorschaft. Positionen und Revisionen. DFG-Symposion 2001, Stuttgart/Weimar: Metzler 2002, S. 501-520. Weiss, Walter: »Jakob und Josef«, in: Heinrich Schmidinger (Hg.), Die Bibel in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, Bd. 2: Personen und Figuren, Mainz: Matthias-Grünewald 22000, S. 108-118.
Warum ging Friedrich Schlegel nach Wien? Das Narrativ einer schöpferischen Enttäuschung Cornelia Eşianu
Abstract: Der folgende Beitrag versteht sich als Versuch, die Gründe von Friedrich Schlegels Umzug nach Wien im Jahre 1808 vor dem Hintergrund kulturtheoretischer wie anthropologischer Überlegungen zu Fremdheitskonzepten zu erforschen und sie gleichzeitig im Lichte seiner frühen Schriften zu analysieren und zu interpretieren. Es soll ge1
zeigt werden, dass das Fehlen »geistiger Beweglichkeit und Radikalität« (Breuer) beim späten Schlegel und dessen angebliche Selbsttäuschung in seiner späten Phase (Erlingha2
gen) sich problematisieren und diskutieren lassen. Schlüsselwörter: Friedrich Schlegel, Interkulturalität, Wien, »poetischer Staat«, Alienität, Alterisierung des Alienen, Alienisierung des Alteritären, schöpferische Enttäuschung.
1. EINFÜHRUNG Wenn man die These des Unterschieds zwischen dem frühen und dem späten Friedrich Schlegel akzeptiert – eine These, die von einer Reihe von Autoren vertreten wurde –, dann ist logischerweise anzunehmen, dass der späte Schlegel den frühen aufgegeben hat und dass wir Leserinnen und Leser infolgedessen im Grunde, auch wenn sich dies etwas schizophren anhört, mit zwei Schlegels, mit zwei kontrastiven Gesichtern ein und derselben Person, in der Art eines Dr.
1
Lorenz, Dagmar: »Intellektueller mit Bauchlandung? Ein Gespräch über Friedrich Schlegel mit Ulrich Breuer und Armin Erlinghagen«, in: Athenäum 23 (2013), S. 125135.
2
Ebd., S. 135.
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Jekyll und Mr. Hyde, zu tun haben. Diese These scheint nun in der SchlegelForschung erneut Fuß zu fassen. Ihr zufolge wäre der späte Friedrich Schlegel kein wahrer Intellektueller mehr, sondern im besten Fall ein »Intellektueller mit Bauchlandung«,3 wobei die »Bauchlandung«, so Ulrich Breuer, Schlegels Konversion zum Katholizismus sei.4 Ricarda Huch sprach schon Anfang des 20. Jahrhunderts von einem »Verfall« durch die Wendung der Romantik nach dem Süden und dem Katholizismus. So bemerkte sie: »Es war verhängnisvoll, dass Friedrich Schlegel am Scheidewege die Straße nach Wien einschlug«, denn damit hätte die Romantik »die abschüssige Bahn nach Süden betreten«.5 »Litt die Romantik in Berlin an Zuviel Verstand, so litt sie in Wien an Zuviel Sinnlichkeit, dort artete sie in Schöngeisterei aus, hier wurde sie Fleisch und bekam sogar etwas hautgoût.«6 »Vom 18. Jahrhundert bis zu Hofmannsthals dichotomen Schema ›Preuße und Österreicher‹ aus der Zeit des Ersten Weltkriegs steht Österreich«, so Karl Wagner, »für die ›soft skills‹; also für körperliche Lustbarkeiten und intellektuelle Unbedarftheit, für Witz und Gefühl.«7 Schon Felix Müller meinte bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dass die Romantik »ein norddeutsches Produkt« sei und dass »klarer Verstand« 8 sie begründet habe. »Es kam im Süden«, so der Autor, »zu einer Änderung, Erweiterung und Vertiefung der Romantik, kurz zu einer Anpassung an die neue Umwelt. Das bedeutet aber noch lange keinen Verfall.«9 Gegen Huch argumentierend schlussfolgert Müller, dass die Romantik auch im Süden ihre »Glanzzeit« 10 hatte, wobei Müller diesbezüglich speziell an die Jahre 1808 und 1809 und die Zeit von Schlegels »Deutschem Museum«11 denkt. Dennoch ist es nicht zu übersehen, dass Müller die österreichische Romantik vom Katholizismus nicht getrennt lässt.12 Katholizis-
3
Ebd.
4
Ebd.
5
Huch, Ricarda: Ausbreitung und Verfall der Romantik, Leipzig: Haessel 1902, S. 29-
6
Ebd. S. 29.
7
Wagner, Karl: Österreich und die Schweiz – zwei Kulturen? Ein Versuch, in: Harald
30.
Jele/Elmar Lenhart (Hg.), Literatur – Politik – Kritik. Beiträge zur österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts, Göttingen: Wallstein 2014, S. 128-140, hier S. 134. 8
Müller, Felix: Die Romantik in Wien. Unveröffentlichte Dissertation, Wien 1913, S. 198.
9
Ebd.
10 Ebd., S. 199. 11 Ebd. 12 Ebd., S. 6.
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mus assoziiert Schlegel in einem seiner philosophischen Fragmente mit Sentimentalität, den Protestantismus mit Naivität. Die Religion bleibt aber »das revolutionäre Prinzip im Menschen«.13 Ulrich Breuer und Maren Jäger kommen heutzutage im sozialgeschichtlichen Kontext zu dem Ergebnis, dass die Konversion von Dorothea und Friedrich Schlegel zum Katholizismus – Schlegel war nämlich Protestant, er stammte sogar aus einer protestantischen Pfarrersfamilie aus Hannover – »ein entscheidender und notwendiger Akt« war, »um in einer ausweglosen Lage Karrierehindernisse aus dem Weg zu räumen«.14 Die Konversion zeige, dass »jede Form von Romantik – verstanden als eine wesentlich von der Ästhetik geprägte Lebensform – nicht ohne einen institutionellen Rückhalt auskommen kann. Diesen Rückhalt bot in der Zeit um 1808 vor allem der Katholizismus«.15 Mit anderen Worten, Friedrich und Dorothea Schlegels Eintritt in die katholische Kirche war eine vom utilitaristischen Kalkül begleitete Entscheidung, »bewusst und programmatisch« vollzogen, und mit ausschlaggebenden Auswirkungen für Schlegels spätes Schaffen, insofern dadurch »seine Überlegungen zur Philosophie, Politik, Geschichtsauffassung und Ästhetik«16 geprägt wurden. Es waren nicht zuletzt »zentrale Parameter frühromantischen Denkens«, die durch die Konversion eine »radikale Umdeutung und Neuhierarchisierung«17 erfahren haben. Man kann freilich Schlegels Aufenthalt in Wien auch in Verbindung mit seinem Übertritt zum Katholizismus betrachten. Im damaligen katholischen Österreich war ein solcher Status für eine potentielle Anstellung von vornherein nicht wegzudenken.18 Pragmatische Gründe könnten daher Schlegel zu dem Schritt motiviert haben, Wien zum Aufenthaltsort für sich und seine Frau Dorothea
13 KSA 18, Fr. 1376, S. 308. 14 Breuer, Ulrich/Jäger, Maren: »Sozialgeschichtliche Faktoren der Konversion Friedrich und Dorothea Schlegels«, in: Winfried Eckel/Nikolaus Wegmann (Hg.), Figuren der Konversion. Friedrich Schlegels Übertritt zum Katholizismus im Kontext, Paderborn/München/Wien/Zürich: Ferdinand Schöningh 2014, S. 127-147, hier S. 146. 15 Ebd., S. 147. 16 Ebd. 17 Ebd. 18 Erst der Hinweis auf August Wilhelm Schlegels ›katholische Gesinnung‹ veranlasste den Kaiser Franz dazu, dem Gelehrten in einem zweiten Versuch die Erlaubnis zu erteilen, eine Vorlesung zur Literatur in Wien zu halten. Die erste Anfrage wurde mit dem Argument abgewiesen, dass öffentliche Vorlesungen Ausländern nicht erlaubt seien. Vgl. J. Körner, Anm. 238, in: Josef Körner (Hg.), Krisenjahre der Frühromantik. Briefe aus dem Schlegelkreis, Band 3, Bern: Francke 1958, S. 299.
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Schlegel zu machen. Dennoch soll nicht vergessen werden, was Friedrich Schlegel im Februar 1808 seinem in Wien mit Frau von Staël zwecks der Abhaltung von Literaturvorlesungen weilenden Bruder August Wilhelm mitteilt: nämlich, dass Frau von Staël sich irre, wenn sie glaube, dass es ihm »nur um eine Stelle zu thun ist«.19 Außerdem sei er »sehr ängstlich«, dass sie, Frau von Staël, seine Empfehlung in Wien »viel zu aristokratisch und nicht mit der Würde und dem gerechten Stolze der meinem Charakter allein angemessen und in diesem Falle gewiß auch der Klugheit nach das beste ist«20 behandle. Die These vom janusköpfigen Schlegel wird auch von Armin Erlinghagen, einem der Mitbegründer der 2008 in Mainz gestifteten Friedrich-SchlegelGesellschaft, unterstützt. So behauptet er: »Friedrich Schlegel war natürlich immer bemüht, zwischen seiner frühen und seiner späten Phase eine Kontinuität zu konstruieren. Er behauptet, etwa bei der Umarbeitung seiner früheren Schriften für die Ausgabe seiner Sämtlichen Werke, dass er sie so umgearbeitet habe, dass sichtbar geworden sei, dass er immer schon so dachte, wie er jetzt denkt. Ich habe das exemplarisch untersucht: Es ist nicht der Fall. Er täuscht sich selbst. Die späteren und die früheren Schriften sind, theoriegeschichtlich betrachtet, miteinander unvereinbar.«21
In diesem Sinne erhärtet Ulrich Breuer die wieder aufgefrischte These des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts am Ende des Interviews folgendermaßen: »Auch nach der Konversion hat er [Friedrich Schlegel, C.E.] zweifellos Bedeutendes geleistet und es gibt bis heute Anhänger, die insbesondere sein Spätwerk schätzen – aber für einen Intellektuellen fehlt es ihm seither an geistiger Beweglichkeit und Radikalität.«22
Es scheint, dass wir heute als Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler viel zu schnell bereit sind, von Einzelfällen ausgehend allgemeine Schlüsse zu ziehen, und zwar so, als ob sie nicht falsifizierbar wären. Je mehr wir uns von einer literaturhistorischen Zeit entfernen, desto stärker scheinen wir ihr unsere Kategorien und Begrifflichkeiten aufzudrücken, sodass wir aus19 Friedrich Schlegel, Brief vom 24. Februar 1808, in: Josef Körner (Hg.), Krisenjahre der Frühromantik. Briefe aus dem Schlegelkreis, Bd. 1, Brünn/Wien/Leipzig: Rudolf M. Rohrer-Verlag 1936, S. 509-514, hier S. 512. 20 Ebd. 21 D. Lorenz: »Intellektueller mit Bauchlandung? Ein Gespräch über Friedrich Schlegel mit Ulrich Breuer und Armin Erlinghagen«, S. 135. 22 Ebd.
Friedrich Schlegel in Wien | 165
schließlich nur mehr aus der neuen – unserer eigenen – Zeit die alte Zeit zu hören bekommen. Konkret: dass wir z.B. Friedrich Schlegel, als er nach Wien kam, welches er eigentlich für ein »großes Kölln« 23 hielt – und vielleicht war das seine schwerwiegende Täuschung, oder er hat diese sehr wohl erkannt, nur wollte er sie durch sein schöpferisches Dasein transzendieren –, also dass wir ihn literaturwissenschaftlich heute wie einen Not leidenden Asylsuchenden behandeln, der die Stütze der Kirche zum Zweck einer Anstellung am Hofe des Königs benötigte und deshalb um diese auch ersuchte. Zwei wichtige Fragen sind hier zu stellen, deren Beantwortung hilfreich für die im Titel annoncierte Forschungsproblematik ist: 1) Zu welcher Art von Katholizismus – aus unserer heutigen Perspektive gesehen – konvertierten 1808 Friedrich und Dorothea Schlegel in Köln, mehr als sechzig Jahre vor dem ersten Vatikanischen Konzil von 1869/1870? »Das neue Christentum«, heißt es in einem schlegelschen Fragment von 1799 – offensichtlich anlässlich der Rezeption der damals noch nicht publizierten, aber im Jenaer Kreis heftig diskutierten Schrift von Novalis Die Christenheit oder Europa – »muß ohne Umstände das katholische seyn, aber altkatholisch nicht Pabsthum«.24 2) Machte der Aufenthalt Schlegels im konservativen Österreich zu Beginn des 19. Jahrhunderts ihn bereits zu einem konservativen Denker und Schriftsteller?
2. ZUR METHODE Mittels der Anwendung von Modellen kultureller Fremderfahrung auf das Verständnis von Schlegels Wiener Aufenthalt soll gezeigt werden, dass die oben erwähnten Behauptungen – vom Fehlen »geistiger Beweglichkeit und Radikalität« (Breuer) beim späten Schlegel und dessen Selbsttäuschung in seiner späten Phase (Erlinghagen) – sich problematisieren und diskutieren lassen. Bei diesem meinem Versuch habe ich mich von den Überlegungen des inzwischen verstorbenen Literaturwissenschaftlers Horst Turk zur Interkulturalität inspirieren lassen. Turk operiert mit dem Begriff der Interkulturalität unter dem Aspekt der Begegnung und des Dialogs zwischen den Kulturen, wobei Begriff23 Vgl. Friedrich Schlegel, Brief vom 24. Februar 1808, in: Josef Körner (Hg.), Krisenjahre der Frühromantik. Briefe aus dem Schlegelkreis, Bd. 1, S. 509-514, hier S. 511. 24 Vgl. hierzu KSA 18, Fg. 925, S. 398. Zu einer Darstellung der Geschichte der altkatholischen Kirche in Österreich vgl. Halama, Christian: Altkatholiken in Österreich. Geschichte und Bestandnahme, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2004.
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lichkeiten wie »Andersheit« und »Alienität«/Fremdheit als Schlüsselbegriffe einer kulturellen Semantik zu verstehen sind.25 Turks These, deren Erörterung er sich in einem zwar älteren, aber aufschlussreichen Aufsatz widmet, ist, dass mit Bezug auf die europäischen Sprachen, Literaturen und Kulturen seit dem 18. Jahrhundert der Modus einer partiellen, aber unaufhebbaren Fremdheit an die Stelle der totalen, aber aufhebbaren Fremdheit getreten sei.26 Das Untersuchungsfeld ist bei Turk in diesem Fall die Übersetzungsforschung, in der, wie es schon gleich zu Beginn des Aufsatzes heißt, »häufig von der Aneignung oder Einbürgerung des Fremden gesprochen wird, ohne dass deutlich gemacht würde, was unter diesem Fremden zu verstehen«27 sei. Der Autor operiert hier mit dem Begriffspaar alien/fremd einerseits und alteritär andererseits. So drückt alien die fremde Zugehörigkeit aus, ist aber nicht identisch mit externus, ausländisch, einem anderen zugehörig. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Opposition fremd-eigen, wie in der Aneignung des Fremden in der Übersetzungsforschung. Alteritär bezeichnet »den anderen von zweien im Unterschied zum einen ohne markierte differente Zugehörigkeit«.28 So ist der andere als alter ego »ein ego wie ich, nur eben anders, d.h.: dasselbe in einer Varietät«.29 In diesem Kontext sind zwei Prozesse zu berücksichtigen: »die Fremdheit zu alterisieren« einerseits und »die Andersheit zu alienisieren«, die »Alienisierung des Alteritären« andererseits. Hervorzuheben ist ebenfalls Turks Betrachtungsweise von Alterität und Alienität in der historischen Dimension, da er betont, dass »das Problem unserer weltgeschichtlichen Sichtweisen nicht zuletzt gerade darauf beruht, dass jede Umgestaltung des Gedächtnisses nicht nur selbst ein Handeln ist, sondern vor allem auch Fol-
25 Interkulturalität verstehe ich als ein Phänomen der Wechselwirkung zwischen den Kulturen, das permanenten Veränderungen unterworfen ist. In diesem Kontext beziehen sich Kulturen nicht nur auf ethnische und religiöse Aspekte, sondern sie betreffen ebenfalls soziale Dimensionen wie Alter, Geschlecht, Ausbildung, wirtschaftliche, politische und rechtliche Strukturen und Prozesse, die Benachteiligungen bewirken können. Vgl. auch: Hofmann, Michael: Interkulturelle Literaturwissenschaft. Eine Einführung, Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2006. Insbesondere Kap. I. Grundlegung: Modelle und Konzepte, S. 9-69. 26 Turk, Horst: Alienität und Alterität als Schlüsselbegriffe einer Kultursemantik, in: Alois Wierlacher (Hg.), Kulturthema Fremdheit: Leitbegriffe und Problemfelder kulturwissenschaftlicher Fremdheitsforschung, München: Iudicium 1993, S. 173-197. 27 Ebd., S. 173. 28 Ebd., S. 176. 29 Ebd.
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gen für das weitere Handeln zeitigt«.30 So unterscheidet er z.B. das Gedächtnis der Täter von dem Gedächtnis der Opfer und spricht von einer »befremdliche[n] Uminterpretation der Geschichte«31 im Rahmen der jeweils eigenen Geschichte. »Der entscheidende Punkt, der beachtet werden muß«, so Turk, »betrifft die Repräsentation der Außengrenze, da die Entwicklung […] sich nicht in einer fortschreitenden Einbürgerung oder Alterisierung des Alienen [erschöpft], sondern sie umfaßt auch eine beständige Fremdsetzung oder Alienisierung des Alteritären, wobei die Leistungsfähigkeit der kulturellen Systeme auf der gelungenen Doppelbewegung beruht«.32
3. DIE VORSTELLUNG DES FREMDEN ALS ANDERER Bevor Schlegel in Wien im Sommer des Jahres 1808 ankam, empfahl er seinem Bruder in einem kurzen Brief aus Dresden, er möge sich »die Handausgabe der Werke des heil. Cyprian« kaufen und setzt noch überzeugend hinzu: »Es wird Dich nicht gereuen, ihn kennen zu lernen«.33 Als Repräsentant des frühen Christentums gehört Cyprian von Karthago der Alten Kirche an und stammt, historisch gesehen, aus der Zeit vor der Abspaltung der altorientalischen Kirchen und auch vor der Trennung der orthodoxen und der römisch-katholischen Kirche. Ein fortwährendes Interesse bestand für ihn darin, die Einheit der Kirche »als das Werk des Geistes durch die Eintracht der Bischöfe«34 zu erreichen. Friedrich Schlegel beschäftigte sich also zum Zeitpunkt seines Übertritts zum Katholizismus, der bereits Mitte April in Köln erfolgt war, mit altchristlicher Literatur, genauer mit der Patristik. Aber schon viel früher teilte er dem Bruder in Briefen mit, dass er sich während seines Aufenthaltes in Köln mit den Kirchenvätern auseinandersetze. »Die Kirchenväter«, heißt es da, »sind eine Welt von Litteratur (sic) die noch ganz verborgen ist, weil in der letzten Zeit nur stumpfsinnige Lästerer darüber sprachen. Welche Schätze von Schönheit sind allein in den
30 Ebd., S. 193. 31 Ebd. 32 Ebd., S. 175f. 33 Friedrich Schlegel, Brief vom 9. Juni 1808, in: J. Körner (Hg.), Krisenjahre der Frühromantik. Briefe aus dem Schlegelkreis, Bd. 1, S. 550-551, hier S. 551. 34 Vgl. Lexikonartikel »Cyprian von Karthago«, in: Gerhard Krause/Gerhard Müller (Hg.): Theologische Realenzyklopädie, Bd. VIII, Berlin/New York: Walter de Gruyter 1981, S. 246-254, hier S. 248.
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lateinischen?«35 Wäre es unter diesen Voraussetzungen nicht plausibler, Schlegels Konversion zum Katholizismus vielmehr im Lichte dieser intellektuellen Beschäftigung zu verstehen und zu analysieren, als anzunehmen, dass womöglich äußere Gründe – die Suche nach einem institutionellen Rückhalt – für seine Konversion prägend gewesen waren? Aber auch wenn Schlegel diese Art von Zuflucht wirklich gesucht hat, ließe sich fragen, inwiefern diese nicht doch vielmehr im Sinne einer Opposition zur alltäglichen Politik oder zu einer bestimmten Art von Politik vorgenommen wurde,36 hieß es doch in einem seiner Ideenfragmente von 1800: »Nicht in die politische Welt verschleudere du Glauben und Liebe, aber in der göttlichen Welt der Wissenschaft und der Kunst opfre dein Innerstes in den heiligen Feuerstrom ewiger Bildung«.37 Breuer und Jäger sprechen im Falle Schlegels, der kein kritikloser Apologet der katholischen Kirche geblieben ist, von einem Religionswechsel, während Schlegel selbst, wenn auch in einem literarisch-philosophischen Fragment, im Gegensatz dazu meint: »Katholisch werden heißt nicht Religion verändern, sondern überhaupt nur, sie anerkennen«.38 Im Grunde ist dieser Spruch von der Anerkennung der
35 Friedrich Schlegel, Brief vom 1. Dezember 1807, in: J. Körner (Hg.), Krisenjahre der Frühromantik. Briefe aus dem Schlegelkreis, Bd. 1, S. 479-482, hier S. 482. 36 Zur Verbindung von Religion und Politik in der Romantik vgl. R. Huch: Ausbreitung und Verfall der Romantik, Kapitel: Romantische Politik, S. 306-332. Huch schreibt hier über die Romantiker, dass man es ihnen nicht vorwerfen kann, dass sie es nicht voraussahen, dass »die eigentlichen Politikmacher und Gewalthaber sich das, was sie ehrlich meinten, nur für höchst selbstsüchtige Zwecke zu nutze machen würden.« »In ihren Augen«, so Huch, »war ›Recht thun und Gerechtigkeit üben die einzig wahre Politik‹, der Staat eine Pflanzschule der Humanität, weder dazu da, um auf der einen Seite Freiheit, noch um auf der anderen Macht zu gewährleisten, Ansichten, die denen der Fürsten und Minister ganz und gar nicht entsprachen und von denen sie sich nur aneigneten, was ihre Reaktionspolitik theoretisch stützen konnte.« (S. 326-327). Vgl. auch Friedrich Schlegel, in: KSA 22, Fg. 212, S. 47: »Der Geist des Christentums in politischer Hinsicht ist eine allgemeine ›aber still und indirekte‹ Opposition gegen den Staat überhaupt.« Vgl. auch KSA 22, Fg. 55, S. 14: »Es giebt noch gar keinen Stützpunkt der Hoffnung, gar nichts Göttliches mehr in der Politik, nichtswofür man sich interessieren könnte –›kein Gottesfunken ist mehr in der ganzen Masse vorhanden.–‹ […]«. 37 KSA 2, Fg. 106, S. 266. 38 Vgl. KSA 19, Fg. 236, S. 230. Vgl. auch KSA 22, Fg. 47, S. 13: »Die Religion selbst ist unveränderlich; aber die Kirche in ihrer Verfassung verändert sich nach dem Zeit-
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Religion dahingehend zu verstehen, dass Schlegel letztlich von einer Form des Christentums zu einer anderen gewechselt ist. Horst Turk unterscheidet drei Typen der Fremderfahrung in und zwischen den Kulturen: das Paradigma der approximativen Annäherung, das Paradigma der aufhebbaren Entfremdung und das Paradigma des unaufhebbaren Schlusses (Turk bringt als Beispiel die jüdische Dichtung im Exil, die es verschmäht, dieses ihr Exil-Sein zu ignorieren). Das Paradigma des Exils impliziert nach ihm die radikalste Staats- und Kulturkritik. Mit welcher Art von Fremderfahrung sieht sich nun Friedrich Schlegel konfrontiert? War er, als er 1808 nach Wien ging, ein Fremder in der Gestalt eines Wandernden, der, wie Georg Simmel sagt, heute kommt und morgen geht, oder aber jemand, der heute kommt und morgen bleibt?39 Die Vorstellung vom Fremden als einem Anderen oder das Alterisieren des Alienen soll durch eine im Medium der Geschichte durchgeführte Reflexion, die gleichzeitig eine Ästhetisierung des Fremden nach sich zieht, gelingen. Auf der Suche nach dem »poetischen Staat« Der junge Friedrich Schlegel war es, der seinem in den Jahren 1791-1795 in Amsterdam weilenden Bruder August Wilhelm in einem Brief beispielsweise davon abrät, nach Amerika zu übersiedeln, mit der Begründung, dass das Schöne in Amerika dem Nützlichen preisgegeben werde. Das Schöne wird dort dem Nützlichen nachgesetzt, belehrte er den Bruder. Waren es vielleicht aber nicht auch solche Überlegungen, die Schlegel den Entschluss zehn Jahre später fassen ließ, nach Wien zu ziehen? Wien war nicht nur die Hauptstadt Österreichs, sondern auch »der Mittelpunkt Deutschlands und oft Europas«.40 Der Historiker Johannes von Müller sagt über die Österreicher, diese seien »eine recht gute Nation, die recht geniesst, gern sieht, wenn andere geniessen, und die ich überhaupt nicht anders wünsche, als sie ist. Sie ist aufgeklärt genug, um glücklich zu sein, und nicht so superfein, dass ihr nirgend wohl wäre.«41
Ob Friedrich Schlegel dieses letztere Attribut des Superfeinen zugeschrieben werden sollte, weil er sich in Wien, der kostspieligen Stadt, nicht immer wohl
bedürfniß; und die Theologie kann und soll ›als Wissenschaft‹ von der Stufe zu Stufe immer fortschreiten.« 39 Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Leipzig: Duncker & Humblot 1908, S. 685. 40 F. Müller: Die Romantik in Wien, S. 1. 41 Zit. nach F. Müller: Die Romantik in Wien, S. 9.
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fühlte und mehrmalig von Missmut gepackt wurde, soll hier dahingestellt bleiben. Schlegels Erwartungen an Wien, die »Wiege alles Guten und Schönen«,42 als Ort seiner zukünftigen Wirkungsstätte waren groß, denn war es nicht er, der noch in seiner Transzendentalphilosophie von 1800-1801verkündete, dass es keine allgemeine Bestimmung des Menschen gibt, dass jeder sein eigenes Ideal hat und nur das Streben nach diesem den Menschen moralisch macht? Ein Leben nur um des Lebens willen ist, so Schlegel, »der eigentliche Quell der Gemeinheit«, wobei alles gemein ist, »was gar nichts hat vom Weltgeiste der Philosophie und der Poesie«.43 Poesie und Philosophie werden für ihn zu einem erforderlichen Teil gelungenen menschlichen Lebens, denn sie sind »Geist und Seele der Menschheit«.44 Um es mit einem Wort von Novalis zu formulieren, Friedrich Schlegel war auf der Suche nach dem »poetische[n] Staat«, denn nur dieser ist »der wahrhafte, vollkommne Staat«.45 Die Erneuerung des Menschen muss aus der Wiederbelebung des »heiligen Sinns« hervorgehen. Erst aus der Regeneration des religiösen Wesens des Menschen wird sich eine grundlegende Veränderung ergeben, betonte schon Novalis. An die Arbeit des Freundes Novalis – Die Christenheit oder Europa – sei hier insofern erinnert, als darin die Grundintention Novalis’ sich nicht darauf richtete, das Bestehende restaurativ zu rechtfertigen oder staatliche und moralische Ordnungen revolutionär umzustürzen, »sondern auf die geistige Erneuerung des Menschen aus den Kräften der Liebe und der Poesie, in der die Zersplitterung der Wissenschaft, die Isolierung der Kunst und die Zerrissenheit des Lebens überwunden und die Mächte des Verstandes, der Phantasie und des Herzens versöhnt sind.«46
42 Vaterländische Blätter für den österreichischen Kaiserstaat, 1813, 4. August, S. 371, in: ANNO, online unter http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=vlb&datum= 18130804 &seite=7& zoom=33. 43 KSA 8, S. 50. 44 KSA 8, S. 51. 45 Novalis: Vermischte Bemerkungen und Blüthenstaub, in: Richard Samuel (Hg.), Novalis, Schriften, Band II: Das philosophische Werk I. Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz: W. Kohlhammer 31981, S. 398-470, hier S. 468. 46 Paschek, Carl: Nachwort, in: Ders. (Hg.), Novalis (Friedrich von Hardenberg): Fragmente und Studien. Die Christenheit oder Europa, Stuttgart: Reclam 1991, S. 135-155, hier S. 155.
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Die Maxime solchen Denkens und Handelns ist: »Sei so gut und poetisch als möglich«.47 Der heilige Sinn bei dem Romantiker Novalis ist eben der Sinn für das Unsichtbare, der das religiöse Organ des Menschen ist, gespeist aus den Kräften des Herzens. Erinnert sei hier daran, dass ein Mircea Eliade48 das Heilige als ein Element in der Struktur des menschlichen Bewusstseins und nicht als eine Stufe in der Entwicklung des Bewusstseins des Menschen sah. »Ein Mensch«, sagte Schlegel in einem seiner Ideen-Fragmente von 1800, ist »ein Endliches ins Unendliche gebildet«.49 Als Schlegel jedenfalls am 23. Juni 1808 in Wien eintraf, hatte er nur eines im Kopf, Recherchen für eine umfangreiche Arbeit über Karl V., den Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, der sich für die Einheit der westlichen katholischen und protestantischen Kirchen eingesetzt hatte, durchzuführen.50 Karl V. war auch der letzte Kaiser, der noch vom Papst gekrönt wurde und der später zugunsten seines Sohnes Philipps II. und seines Bruders zurücktrat, also eine bemerkenswerte historische Persönlichkeit und ein ›Mensch‹.
4. DAS ALIENE DES ALTERITÄREN Hat sich aber Friedrich Schlegel in seinen Erwartungen nicht getäuscht? Welche geistig-politische Kultur fand er als Gelehrter in Wien vor? War sie derart ausgerichtet, dass sie »geistige Beweglichkeit und Radikalität« (Ulrich Breuer)51 ermöglichte? Diese Frage ist mit einem ziemlich klaren »Nein« zu beantworten. Zur Veranschaulichung und Unterstützung sei eine Passage aus der offenen Rede des Kaisers Franz zu zitieren, die er Jahre später 1821 vor den Laibacher Lyzeumsprofessoren hielt, und wo es zu den Stichworten »Gelehrte« und »Forschung« Folgendes zu hören gab:
47 Novalis: Vermischte Bemerkungen und Blüthenstaub, S. 468. 48 Vgl. Eliade, Mircea: »Drumul către centru«, in: Ders.: Drumul către centru, Bucureşti: Univers 1991, S. 128-130. 49 Vgl. KSA 2, Fg. 98, S. 266. 50 Vgl. Friedrich Schlegel, Brief vom 13. Juli 1808, in: J. Körner (Hg.), Krisenjahre der Frühromantik. Briefe aus dem Schlegelkreis, Band 1, S. 568-572, hier S. 570. 51 Vgl. D. Lorenz: »Intellektueller mit Bauchlandung? Ein Gespräch über Friedrich Schlegel mit Ulrich Breuer und Armin Erlinghagen«, S. 135.
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»Ich brauche keine Gelehrten, sondern brave Bürger. Die Jugend zu solchen zu erziehen, liegt Ihnen ob. Wer Mir dient, muß lehren, was Ich befehle. Wer das nicht kann oder mit neuen Ideen kommt, der kann gehen oder Ich werde Ihn entfernen.«52
Der Kaiser, »ein starrer patriarchalischer Autokrat«, wie Srbik ihn nennt,53 sagte an anderer Stelle: »Mit den sogenannten Genies und Gelehrten kommt nichts heraus; sie wollen alles immer besser wissen und halten die Geschäfte auf oder die Alltagsgeschäfte wollen ihnen nicht gefallen. Gesunder Menschenverstand und brav Sitzfleisch, das ist das beste.« 54
Diese Anschauung des Kaisers kennzeichnet das herrschende System, schlussfolgert Franz Mayer in seinem Buch über die Geschichte Österreichs und betont, dass der »Polizeiminister Graf Sedlnitzky, der Burgpfarrer Frint und der kaiserliche Leibarzt und Staatsrat Baron Stifft […] gegen jede freie Regung« 55 waren. Daher haben auch manche Professoren (siehe Bernhard Bolzano, Philosoph und Logiker, 1781-1848) ihre Stelle verloren, wurden frühzeitig pensioniert (siehe Leopold Rembold, 1785-1844, Professor für Rechtsphilosophie an der Universität Wien), oder ihre Werke (siehe Anton Günther, 1783-1863) kamen auf den Index.56 Schlegel ging als Forscher, ja als Gelehrter nach Wien, der seine Dienste, wie viele andere deutsche Intellektuelle auch, zur Verfügung stellen wollte.57 52 Geschichte und Kulturleben Deutschösterreichs von 1792 bis nach dem Weltkrieg. Auf Grundlage der »Geschichte Österreichs« von Franz Martin Mayer, bearbeitet von Hans Pirchegger, Wien und Leipzig: Wilhelm Braumüller, Universitäts-Verlagsbuchhandlung 1937, S. 92. 53 Von Srbik, Heinrich Ritter: Metternich. Der Staatsmann und der Mensch, Bd. 3, München: F. Bruckmann 1954, S. 102. 54 Geschichte und Kulturleben Deutschösterreichs von 1792 bis nach dem Weltkrieg, S. 92. 55 Ebd. 56 Vgl. Geschichte und Kulturleben Deutschösterreichs von 1792 bis nach dem Weltkrieg, S. 93. 57 Erinnert werden soll hier beispielsweise an Friedrich Gentz oder an Adam Müller. Friedrich Gentz war preußischer Kriegsrat in Berlin, bevor er nach Wien übersiedelte. Adam Müller, in Berlin geboren, studierte in Göttingen Theologie, deutsche Literatur, Philosophie und Rechtswissenschaften. Als er 1805 auf Einladung Friedrich von Gentz’ nach Wien kam, wurde er am 30. April katholisch. Felix Müller (Die Romantik in Wien, S. 102) äußert sich zu dieser Konversion folgendermaßen: »Müllers Konversion geschah ohne äusserliche Absichten, ja er hat sogar den blossen Schein der-
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Auch überlegte er, schon im November desselben Jahres mit einer Vorlesung zu beginnen, wofür er allerdings die Erlaubnis des Kaisers benötigte. Sein neuer Freund Hormayr, dessen Geschichte von Tyrol er bereits in Köln gelesen hatte, sollte ihm dabei helfen. »Es ist nicht nur für die äußere Existenz wünschenswerth«, so motiviert er diese seine Entscheidung, »sondern auch der beste Weg, sich schnell grade in diesem Fache zu zeigen und zu empfehlen; besser als es irgend durch ein Werk geschehen kann«.58 Friedrich Schlegel lernte, wenn auch etwas später, in Wien Clemens Maria Hofbauer kennen, der in der römischkatholischen Kirche heute als Heiliger verehrt wird. Seine Reliquien befinden sich in der Wiener Kirche »Maria am Gestade«, der Ordenskirche der Salesianer, denen Hofbauer angehörte. Hofbauer galt aber als Feind der Aufklärung, daher wird er eher der gegnerischen Seite der späteren Altkatholiken zugerechnet.59 Das soll aber jedoch nicht bedeuten, dass Schlegels Beziehung zu ihm eine geistig abhängige war. »Vor einem Vornehmen bücke ich mich, aber mein Geist bückt sich nicht«60, ließ Kant Fontenelle in seiner Kritik der praktischen Vernunft, die Schlegel kannte, sagen. Diese Aspekte der zwischenmenschlichen Beziehungen Schlegels in Wien müssen allerdings von der Forschung meiner Ansicht nach noch viel gründlicher recherchiert werden, sofern das heute aus Quellen aus erster Hand überhaupt noch möglich ist.61 Friedrich Schlegel hat sich in der Anfangszeit in Wien ausschließlich mit Recherchen zu seinem Lieblingsherrscher, Karl V., beschäftigt. So schrieb Friedrich schon zwei Monate nach seiner Ankunft in Wien, wo er täglich das Archiv besuchte, seinem Bruder:
selben vermieden«. Adam Müller war »wahrhaft universal gebildet, ein enthusiastischer Idealist und ein glänzender Redner und Gesellschafter« (ebd.). 58 Friedrich Schlegel, Brief vom 7. Januar 1809, in: J. Körner (Hg.), Krisenjahre der Frühromantik. Briefe aus dem Schlegelkreis, Bd. 2, S. 6-10, hier S. 7. 59 Für diese Hinweise bedanke ich mich bei Thomas Wetschka, Pfarrer in Wien. 60 Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft, in: Ders., Gesammelte Schriften. Akademie-Ausgabe, Bände 1-23, Berlin: 1900ff., hier Band 5, S. 76-77, online unter https://korpora.zim.uni-duisburg-essen.de/kant/verzeichnisse-gesamt.html. 61 Für den Altkatholizismus sind die Verbindungen zu den sog. ›Güntherianern‹ (Wiener Freundeskreis um den Philosophen und Theologen Anton Günther) bedeutsam. Günther, auch ein Freund von Friedrich Schlegel, versuchte die Neuscholastik als alleiniges philosophisches Denksystem innerhalb der römisch-katholischen Kirche zu verhindern, indem er einen rationalen Zugang zu theologischen Fragestellungen und eine fundierte Anthropologie forderte, so Thomas Wetschka. Das Lehrsystem ›Güntheriansmismus‹ wurde von der römisch-katholischen Kirche verurteilt..
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»Von meinen Studien könnte ich Dir genug schreiben, aber Du würdest doch wenig damit zufrieden sein, sobald ich nicht einen fertig abgeschriebnen Act senden kann. Das Lesen der Briefe und handschriftlichen Sachen war mir viel werth, es giebt eine unschätzbare unmittelbare Anschauung; aber ich sehe wohl daß ich mich eigentlich mit dieser begnügen muß, und nicht alles lesen kann, da es gar zu viel ist, und so werde ich denn mit Gottes Hülfe Hand ans Werk legen.«62
Wollte er aber in Wien auch bleiben? Oder wollte er nach Deutschland zurückkehren? »Das Gastrecht bietet«, so Horst Turk, »verglichen mit dem Bürgerrecht, einerseits mehr, andererseits weniger als das Bürgerrecht. Das Gastrecht schützt und beteiligt den Fremden, ohne ihm die ortsüblichen Pflichten aufzuerlegen. Er darf, wie die Fremdwörter in einer Sprache, Fremder bleiben. Mit den Pflichten sind indessen auch seine Rechte eingeschränkt. Sobald es um substantielle Fragen geht, etwa: die Festlegung politischer Identität oder die Sicherung gegen äußere Feinde, hat er kein Mitspracherecht. Außerdem ist der ihm eingeräumte Sonderstatus auf besondere Weise ohne Gewähr. Er bewegt sich in dem vergleichsweise instabilen Feld der Sonderrechte, die für eine Einwirkung wechselnden [sic!] Situationen besonders anfällig sind. So kann über Nacht, durch eine Änderung der externen oder internen Verhältnisse, aus dem Gast der Feind werden.«63
Zuerst schien Schlegel, wie er es sich auch vorgenommen hatte, nach getaner intellektueller Arbeit in Wien eher zurückkehren als bleiben zu wollen, was auch die Entrüstung Dorotheas, seiner Frau, in ihrem Brief an August Wilhelm Schlegel veranlasst haben mag, denn sie schreibt dem Schwager am 10. Oktober 1808 aus Dresden: »So eben erhalte ich einen Brief von Friedrich vom 6ten dieses [sic!]. ›Unterdessen‹ schreibt er ›ist Graf Sickingen zurückgekommen […] es wird auch keine Schwierigkeit finden daß ich eine ganz unbestimmte Aufenthalts Erlaubniß erhalte, was hier doch schon ziemlich schwer hält. etc. Gewiß also gehe ich nicht von Wien eher nicht der erste Theil des Karl vollendet ist, über den es nun mit aller Macht hergeht. Alles andre müssen wir freilich noch dem Lauf der Zeiten anheimstellen! Auch über die Vorlesung sprach ich mit Sickingen und sehr ausführlich. […] Vor künftigen Monat aber kann auch seiner Meinung nach nichts in der Sache geschehen. Erst dann kommt der Kaiser zurück von dem sie unmittelbar abhängt.‹
62 Friedrich Schlegel, Brief vom 26. August 1808, in: J. Körner (Hg.), Krisenjahre der Frühromantik. Briefe aus dem Schlegelkreis, Bd. 1, S. 598-602, hier S. 599. 63 H. Turk: Alienität und Alterität als Schlüsselbegriffe einer Kultursemantik, S. 187.
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So weit nun Friedrich; der ganze Brief ist kurz, trocken und übellaunig, so daß ich nicht wenig Lust hätte es gleichfalls zu seyn. Was meynen Sie von der Stelle daß er gewiß nicht aus Wien gehen wird vor Vollendung des 1 tenTheils? ich habe immer geglaubt daß die Rede davon sey sich in Wien zu fixiren, und nun wird davon gesprochen es zu verlassen! – Liebster Bruder schreiben Sie mir aufrichtig und ausführlich was Sie über diesen Zusammenhang wissen, und was ich doch auch wissen muß. Friedrichs letzte Briefe sind durchaus nicht genügend, und ich finde sie alle übellaunig. Ich habe auch keinen Brief, keine Antwort von Ihnen, aber demungeachtet wende ich mich zutrauensvoll an Ihre brüderliche Liebe.«64
August Wilhelm hatte vermutlich nun allen Grund, sich in Schweigen zu hüllen, denn interessanterweise eröffnete Friedrich nur kurze Zeit davor seinem Bruder die Möglichkeit, zusammen mit ihm eine Wohnung zu beziehen, sollte er sich entscheiden, nach Wien zu kommen. 65 August Wilhelm schrieb bereits Ende September einen Brief an den Kaiser Franz I. von Österreich, der sehr lesenswert ist, nicht zuletzt auch deshalb, weil aus einer Distanz von mehr als 200 Jahren der Text sich auch postmodern – im Modus einer unterschwelligen Ironie, vor allem wegen der verwendeten Superlative und der Adressierungsformeln – lesen ließe. In diesem Brief setzt er sich überzeugend für die intellektuelle Causa seines Bruders – »seine Nachforschungen über die Geschichte des durchlauchtigsten Kaiserhauses zu vollenden«66 – ein. Als Friedrich Schlegel nach Wien kam, war es ihm vor allem wichtig, jenen Aufgaben nachzukommen, die ihn intellektuell in Anspruch nahmen, denn nur ein solches Leben kann als frei bezeichnet werden – das teilte er schon 1800 in 64 Dorothea Schlegel, Brief vom 8. Oktober 1808, in: J. Körner (Hg.), Krisenjahre der Frühromantik. Briefe aus dem Schlegelkreis, Bd. 1, S. 630-632, hier S. 632. 65 Vgl. Friedrich Schlegels Brief an August Wilhelm vom 26. August 1808, in: J. Körner: Krisenjahre der Frühromantik. Briefe aus dem Schlegelkreis, Bd. 1, S. 598-602, hier S. 599: »Hast Du denn ganz vergessen wie wir auch noch 1806-1807 zusammen gelebt? Und in welcher gar nicht günstigen Umgebung. Ist es denn überhaupt noch nöthig uns selbst daran zu erinnern wie ganz eins unser öffentliches Leben, wie groß das Ziel und der Sinn unsrer Freundschaft ist? Daran muß ich aber recht oft denken, wie viel schöner wir hier zusammen leben könnten, als irgendwo sonst. – Wenn ich ganz gewiß wüßte, daß Du kämest, so würde ich in großer Versuchung sein, ein etwas geräumiges Zimmer zu nehmen, wo Du allenfalls dann mit mir wohnen könntest, und wir desto ungestörter zusammen seyn und zusammen arbeiten. – Ich suche jetzt eine Wohnung in der Stadt, und werde wahrscheinlich bald eine finden.« 66 August Wilhelm Schlegel, Brief vom 30. September 1808, in: J. Körner (Hg.), Krisenjahre der Frühromantik. Briefe aus dem Schlegelkreis, Bd. 1, S. 628-629, hier S. 628.
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einem Ideenfragment mit –, das nach den eigenen Prinzipien gestaltet werden kann. So ging es dem philosophischen Schlegel bei der Erörterung des Begriffs ›Leben‹ nicht so sehr darum, die äußeren oder materiellen Aspekte des Lebens zu berücksichtigen. Schlegel selbst führte ja in Wien kein opulentes Leben 67 und war vielmehr um dessen geistige oder innere Dimension bemüht. Damit gemeint ist das ›höhere‹ oder das ›wahre Leben‹, dessen Hauptmerkmal »ein gewisser gesetzlich organisierter Wechsel zwischen Individualität und Universalität«,68 ein »Wechsel von Philosophie und Poesie, von Historie und Rhetorik«69 ist. Es ist dieser Wechsel, der als »die erste Bedingung der sittlichen Gesundheit«70 zu gelten habe. Novalis und die anderen haben erkannt, »daß das Leben der Zukunft ein schöpferisches Leben – oder überhaupt nichts – sein wird. Und daß sich die schöpferische Kraft nicht nur auf Kommendes, sondern auch auf Vergangenes richten muß«.71
5. IM UMGANG MIT DEM FREMDEN Wie ist die Gemeinsamkeit der Verschiedenheit möglich, nämlich dass wir unterschiedlichen kulturellen Systemen angehören und dennoch eine gemeinsame Welt teilen? Gelingt das, indem versucht wird, andere in ihrer Verschiedenheit zu erkennen, zu verstehen und zu akzeptieren? Das heißt, zu verstehen, dass sie uns ähnlich sind, jedoch auf eine andere Art und Weise, und dennoch anders sind als wir? Wie ist diese Spannung letztendlich auszuhalten? War es denn nicht vielmehr so, dass Schlegel sich in eine Art Selbstzensur, in eine Art inneres Exil 1808, nach seiner Ankunft in Wien, einübte und einzuüben hatte, wollte er 67 Vgl. Friedrich Schlegel, Brief vom 16. Januar 1810, in: J. Körner (Hg.), Krisenjahre der Frühromantik. Briefe aus dem Schlegelkreis, Bd. 2, S. 363-365, hier S. 364: »Wir leben sehr einsam und still für uns, die Abende sind wir fast immer zu Hause; und so sind wir […] in unserer abgesonderten Klause recht zufrieden und vergnügt.« Vgl. auch Dorothea Schlegel, Brief vom Ende Oktober 1810, S. 168-169, hier S. 169: »Wir leben diesen Winter recht still und eingezogen; wenigstens ich für meine Person; Friedrich besucht so oft seine Gesundheit es erlaubt, von Zeit zu Zeit die größern Gesellschaften. […] Einige Mahler, aus Paris kommend und ein Deutsches Vaterland suchend, haben sich gleichfalls zu uns gesellt, […]«. 68 KSA 8, S. 49. 69 KSA 18, Fg. Nr. 1308, S. 303. 70 KSA 8, S. 49. 71 Rombach, Heinrich: Leben des Geistes. Ein Buch der Bilder zur Fundamentalgeschichte der Menschheit, Freiburg/Basel/Wien: Herder 1977, S. 299.
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in der großen Stadt leben und nicht in einen Konflikt mit den Institutionen geraten? Könnte es denn sein, dass Schlegel in seiner Wiener Periode nicht das Attribut eines konservativen Schriftstellers verdient, sondern dass er, der Nonkonformist, vielmehr jemand war, der sich bewusst in einen inneren Kampf begab zwischen seiner Berufung und dem Konformismus, dem er sich als Fremder in Metternichs Wien zu fügen hatte: z.B. geduldig auf die Rückkehr des Kaisers zu warten, der ihm die Erlaubnis für die Abhaltung seiner Vorlesungen zu erteilen hatte, nicht als Revolutionär und Friedensstörer aufzufallen, war er doch schon als Autor des Skandal auslösenden Romans Lucinde bekannt geworden, oder aber das Vertrauen von Menschen zu gewinnen, die ihn bei seinen intellektuellen Arbeiten, wie z.B. der Besorgung von schwer zu findenden Büchern, unterstützen konnten, usw. In der Regel verließen enttäuschte Gelehrte Wien, um andere Wirkungsstätten aufzusuchen und zu finden. Erinnert sei beispielsweise an den Fall des Philosophen Carl Leonhard Reinhold, der sich als Aufklärer verstand, aus dem Wiener Kloster St. Michael nach Leipzig floh und sich später zum Protestantismus bekannte.72 Schlegel hingegen hat es nicht getan, und den Weg
72 Ein weiterer ähnlicher Fall war auch jener von Johannes von Müller, »der Vater moderner Geschichtsauffassung in Österreich (und in Deutschland) überhaupt« (F. Müller, Die Romantik in Wien, S. 7). Er war ein Schweizer und hat sich mit der Geschichte der Schweiz auseinandergesetzt und darüber auch viele Bände verfasst. In Wien am Hofe des Kaisers hat er als Hofbibliothekar historische Quellen analysiert und Kataloge verfertigt. Während seines zwölfjährigen Wiener Aufenthaltes soll er 700 derartige Quellen analysiert haben. »Wenn man mich nicht mit Gewalt hinwegdrängt, so werde ich zuverlässig mit grösster Wärme und allem, was in mir ist, diesem Staate dienen«, sagte Johannes von Müller (zit. nach F. Müller, Romantik in Wien, S. 14). Aber schon einige Monate später hat er mit Zensurschwierigkeiten zu kämpfen, die erste Stelle an der Bibliothek wurde ihm vorenthalten, vermutlich wegen seiner Zugehörigkeit zum Protestantismus, und er war dann fest entschlossen, den Staat zu verlassen (vgl. ebd.). Ende Dezember 1803 reiste er nach Berlin, wo er das Angebot erhielt, als geheimer Rat und Mitglied der Akademie in preußische Dienste zu treten. Auch Gottsched kam 1749 nach Wien, wo er versuchte, Fuß zu fassen. Zwar wurde er am Hofe freundlich aufgenommen, doch aus seiner Idee, eine Gründung der Akademie der Wissenschaft durchzusetzen, wurde nichts, denn, wie Müller argumentiert, soll ihm dabei sein Protestantismus hinderlich gewesen sein. Lessing kam 1775 nach Wien. Auch er wurde gut aufgenommen, das Burgtheater brachte ihm zu Ehren seine Emilia Galotti und den von ihm übersetzten Hausvater Diderots. Zwar wurde er als der »grösste dramatische Dichter und Kunstrichter« in den damaligen Medien bezeichnet, dennoch »musste er erfolglos Wien verlassen.« (ebd., S. 5)
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zwischen dem eigenen poetischen Idealismus und dem Konformismus des österreichischen Alltags zu meistern versucht, was nicht zuletzt als ein Experiment der Entschärfung des Fremden verstanden werden könnte. In diesem Kontext könnte beispielsweise auch sein Vorhaben gedeutet werden, in Wien seinen Anspruch auf das Tragen seiner Adelstitel geltend zu machen. So schreibt er an den Bruder August Wilhelm 1810: »Ich habe in Ungarn in Erfahrung gebracht, daß noch viele unsers Nahmens in und um Hermanstadt vorhanden sind, und werde suchen, nähere Erkundigung einzuziehen. Die Erneuerung des Adels könnte auch für mich [von Wert sein] besonders in der Folge, da ich dadurch sogleich von selbst das ungarische Indigenat was sonst so äusserst schwer zu bekommen ist, erhielte, auch um so weniger als Fremder [C.E.] betrachtet werden könnte, bei so altoesterreichischer Abstammung.«73
Schlegel ging nach Wien mit der großen Erwartung, eine von seiner eigenen deutschen Kultur nicht sehr verschiedene – ist doch die Sprache eine gemeinsam geteilte Sprache – anzutreffen. Doch die Wirklichkeit zeigte ihm bald, dass er vielmehr mit zwei unterschiedlichen Kulturkonzepten konfrontiert war. Es ließe sich vor diesem Hintergrund mit Bezug auf Schlegels Aufbruch nach Wien behaupten, dass er in seiner Konfrontation mit der österreichischen Kultur mit einem Alter-Ego, mit einer Andersheit – er hielt Wien, wenn auch nur »in manchem Betracht« für ein großes Köln – rechnete, in Wirklichkeit stieß er jedoch auf eine Fremdheit, auf sozusagen aliene Zustände bei gleichzeitiger Teilung einer sprachlich gemeinsamen Welt. Dorothea Schlegel, die Tochter von Moses Mendelssohn und selbst eine Jüdin, die gemeinsam mit Schlegel zum Katholizismus konvertierte, zeigt sich im Wahrnehmen des Fremden – wenn man ihre Briefe aus der Wiener Periode liest – um einiges vorsichtiger, skeptischer und sarkastischer als ihr jüngerer Ehemann. So heißt es in ihrem Brief vom 8. November 1808 aus Wien an August Wilhelm Schlegel: »Von Genz hat Friedrich dieser Tagen einen überaus schmeichelhaften Brief, voller der wärmsten Versicherungen der Freundschaft und Theilnahme erhalten; er ist entzückt vom Werke über Indien! Sie sind alle entzückt davon, niemand aber reicht ihm thätige Hülfe. Wir wollen nun einmal sehen was die eigentlichen Großen thun werden seine Werke zu befördern!«74
73 Friedrich Schlegel, Brief vom 16. Januar 1810, in: J. Körner (Hg.), Krisenjahre der Frühromantik. Briefe aus dem Schlegelkreis, Bd. 2, S. 100-105, hier S. 102. 74 Friedrich Schlegel, in: J. Körner (Hg.), Krisenjahre der Frühromantik. Briefe aus dem Schlegelkreis, Bd. 1, S. 645-647, hier S. 647.
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Zusammenfassend darf gesagt werden, dass der Grund von Schlegels Reise nach Wien und seines Aufenthaltes in der Wiege alles Guten und Schönen war, eine entsprechende Wirkungsstätte für seine neu entdeckten literarischen Ziele zu finden, die er sobald wie möglich umsetzen wollte. Für Schlegel wurde die Geschichte aus der Perspektive eines Gelehrten75 das Ziel. Die Reflexion darüber entwickelte sich bei ihm in dieser Zeit zu einer Dominante. Davon zeugen seine 1809 sowie 1828 gehaltenen Vorlesungen zur Universalgeschichte bzw. zur Philosophie der Geschichte sowie auch die in Wien 1812 entstandene Geschichte der alten und neuen Literatur. Erst vor dem Hintergrund einer interkulturellen wie einer poetisch-spirituellen Konstellation, der Friedrich Schlegel entstammte, ist sein Aufbruch nach Wien als eine Reise in die »Mitte der Welt« und gleichzeitig als eine Reise zu sich selbst – die Metapher des Weges zum Zentrum findet sich erneut bei Mircea Eliade76 – zu verstehen. Dass er sich jedoch an Ort und Stelle den neuen Umständen anzupassen hatte, wurde ihm erst allmählich klar und hat sich mit der Zeit zu einer schöpferischen Enttäuschung77 entwickelt.
75 Vgl. Eşianu, Cornelia: »Hypostasen der Identität beim jungen Friedrich Schlegel. Eine Untersuchung von Leben und Werk aus identitätstheoretischer Sicht«, in GGR Beiträge zur Germanistik, Bd. 13, Bukarest: Paideia 2004. S. 75: »Der junge Friedrich Schlegel will an dem Ort sein, ›wo ein Gelehrter leben kann‹ und an dem er den Plan seines wissenschaftlichen Lebens durchzuführen vermag. Wichtig sind ihm dabei nicht nur die Beziehungen zu Verlegern und Buchhändlern, sondern auch jene zu den Bibliothekaren. […] In Jena und später in Berlin fand Schlegel die geistige Atmosphäre, Freunde und Zustände, die sein schriftstellerisches Bewusstsein nachhaltig prägten, seine kritischen Arbeiten veranlassten und die Profilierung seiner schriftstellerischen Identität herbeiführten.« 76 Vgl. Eliade, Mircea: »Drumul către centru«, in: Ders.: Drumul către centru, Bucureşti: Univers 1991, S. 128-130. 77 Vgl. Friedrich Schlegel, Brief vom 2. März 1821, in: Josef Körner (Hg.), Krisenjahre der Frühromantik. Briefe aus dem Schlegelkreis, Bd. 2, S. 367: »Meine Lage ist fortdauernd sehr gedrückt – und für wen wäre es nicht, der für die Wahrheit lebt und denkt? – Ich habe fast bedauern müssen, daß ich mich zur Concordia habe aus gewohnter Gutmüthigkeit bereden lassen. – Und die Nation, für welche man eigentlich schreibt, erkennt es nicht, oder merkt es nicht einmal, was und daß man nur ihr Heil will, während man von der anderen Seite, die es besser versteht, wüthend verfolgt wird.«
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LITERATUR Abkürzungsverzeichnis zitierter Textausgaben ANNO = Historische österreichische Zeitungen und Zeitschriften (Digitalisiert, Österreichische Nationalbibliothek). KSA = Schlegel, Friedrich, Kritische Ausgabe seiner Werke, hrsg. v. E. Behler unter Mitwirkung v. J.-J. Anstett & H. Eichner u.a., 35 Bände., Paderborn/München/Wien/Zürich: 1958ff. [noch nicht abgeschlossen]. Primärliteratur Körner, Josef (Hg.), Krisenjahre der Frühromantik. Briefe aus dem Schlegelkreis, Bände 1-3, Brünn/Wien/Leipzig/Bern: Rudolf M. Rohrer /Francke 1936-1958. Samuel, Richard (Hg.), Novalis, Schriften, Band II: Das philosophische Werk I. Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz: W. Kohlhammer 31981, S. 398-470. Schlegel, Friedrich: Kritische Ausgabe seiner Werke, hrsg. v. E. Behler unter Mitwirkung v. J.-J. Anstett & H. Eichner u.a., 35 Bände., Paderborn/München/Wien/Zürich: Ferdinand Schöningh 1958ff. [noch nicht abgeschlossen]. Turk, Horst: »Alienität und Alterität als Schlüsselbegriffe einer Kultursemantik«, in: Alois Wierlacher (Hg.), Kulturthema Fremdheit: Leitbegriffe und Problemfelder kulturwissenschaftlicher Fremdheitsforschung, München: Iudicium 1993, S. 173-197. Sekundärliteratur Breuer, Ulrich/Jäger, Maren: »Sozialgeschichtliche Faktoren der Konversion Friedrich und Dorothea Schlegels«, in: Winfried Eckel/Nikolaus Wegmannn (Hg.), Figuren der Konversion. Friedrich Schlegels Übertritt zum Katholizismus im Kontext, Paderborn/München/Wien/Zürich: Ferdinand Schöningh 2014, 127-147. Eliade, Mircea: »Drumul către centru«, in: Ders., Drumul către centru, Bucureşti: Univers 1991, S. 128-130. Eşianu, Cornelia: »Hypostasen der Identität beim jungen Friedrich Schlegel. Eine Untersuchung von Leben und Werk aus identitätstheoretischer Sicht«, in: GGR Beiträge zur Germanistik, Bd. 13, Bukarest: Paideia 2004. Huch, Ricarda: Ausbreitung und Verfall der Romantik, Leipzig: Haessel 1902. Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft, in: Ders., Gesammelte Schriften. Akademie-Ausgabe, Bde. 1-24, Berlin: 1900ff., S. 1-162, online unter https://korpora.zim.uni-duisburg-essen.de/kant/verzeichnisse-gesamt.html.
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Krause, Gerhard/Müller, Gerhard (Hg.): Theologische Realenzyklopädie, Bd. VIII, Berlin/New York: Walter de Gruyter 1981. Lorenz, Dagmar: »Intellektueller mit Bauchlandung? Ein Gespräch über Friedrich Schlegel mit Ulrich Breuer und Armin Erlinghagen«, in: Athenäum 23 (2013), S. 125-135. Müller, Felix: Die Romantik in Wien. Unveröffentlichte Dissertation, Wien 1913. Paschek, Carl: »Nachwort zu Novalis«, in: Ders. (Hg.), Novalis (Friedrich von Hardenberg): Fragmente und Studien. Die Christenheit oder Europa, Stuttgart: Reclam 1991, S. 135-155. Pirchegger, Hans: Geschichte und Kulturleben Deutschösterreichs von 1972 bis nach dem Weltkrieg. Auf der Grundlage der »Geschichte Österreichs« von Franz Martin Mayer, Wien/Leipzig: Wilhelm Braumüller 1937. Rombach, Heinrich: Leben des Geistes. Ein Buch der Bilder zur Fundamentalgeschichte der Menschheit, Freiburg/Basel/Wien: Herder 1977. Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Leipzig: Duncker & Humblot 1908. Srbik, Heinrich Ritter von: Metternich. Der Staatsmann und der Mensch, 3 Bde., München: F. Bruckmann 1925 (Bd. 1 & Bd. 2), 1954 (Bd. 3). Wagner, Karl: »Österreich und die Schweiz – zwei Kulturen? Ein Versuch«, in: Harald Jele/Elmar Lenhart (Hg.), Literatur – Politik – Kritik. Beiträge zur österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts, Göttingen: Wallstein 2014, S. 128-140. Internetquellen
https://korpora.zim.uni-duisburg-essen.de/kant/verzeichnisse-gesamt.html. http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=vlb&datum=18130804&seite= 7&zoom=33.
Die Haupt- und Nebenfiguren in den Werken von Osman Engin Yüksel Gürsoy
Abstract: Mitte der 1950er Jahre begann eine Migrationsbewegung nach Deutschland und am 30. Oktober 1961 schloss die Bundesrepublik Deutschland ein Anwerbeabkommen mit der Türkei ab. Auf der Basis dieses Abkommens bewarben sich zwischen 1961 und 1973 mehr als zwei Millionen Menschen aus der Türkei um eine Arbeitserlaubnis in Deutschland. Auch Osman Engins Vater ging 1971 als Gastarbeiter nach Deutschland und Osman zog im Jahr 1973 als ein zwölfjähriger Junge seinem Vater nach. Von 1983 bis 2003 hat Osman Engin jeden Monat eine satirische Kurzgeschichte für das Stadtmagazin Bremer verfasst. Viele seiner Satiren wurden in überregionalen Printmedien veröffentlicht. Im Funkhaus Europa präsentiert er seit 2002 seine Kurzgeschichten im Rahmen der wöchentlichen Rubrik Alltag im Osmanischen Reich. Die Hauptfiguren sind immer Osman Engin, seine Frau Emine und fünf Kinder. Er hat eine typische türkische Familie geschaffen. Die Nebenfiguren sind meistens die Nachbarn und Arbeitskollegen. Schlüsselwörter: Osman Engin, Migrantenliteratur, deutsch-türkische Literatur.
TÜRKISCHE MIGRANTENLITERATUR Nachdem die Bundesrepublik Deutschland 1961 mit der Türkei ein Sozialabkommen unterzeichnet hatte, wurden türkische Arbeiter nach Deutschland vermittelt. Heute leben etwa drei Million Türken in Deutschland, sie bilden die größte ethnische und religiöse Minderheit in Deutschland. Die angeworbenen Arbeiter und Arbeiterinnen mussten jung und gesund sein. Sie wurden unter schlechten Bedingungen in Wohnheimen untergebracht. »Man habe Arbeitskräf-
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te bestellt, aber es sind Menschen gekommen«,1 sagte Max Frisch. Diese Menschen aus der Türkei kamen mit dem anatolischen Staub an der Sohle, an ihrem Rücken hatten sie ein kragenloses Hemd, eine anatolische Mütze hatten sie aufgesetzt, in ihrer Hand oder in ihrer Tasche hatten sie eine Gebetskette, in ihren Säcken hatten sie Rakiflaschen, Rosenwasser, weiße Bohnen oder auch Weizengrütze, in den Innentaschen der Jacken hatten sie die Fotos ihrer Frauen, Kinder und Verwandten, die sie sich auf dem Weg nach Deutschland mehrmals anschauten und danach glattgestrichen wieder in die Jacke steckten. Woher sollten sie wissen, dass sie ihre Familie nach einigen Jahren nach Deutschland kommen lassen würden? Manche von den Arbeitern hatten die Saz2 mitgebracht und alles fing mit der Saz an. Die türkischen Arbeiter brachten ihre Kultur und Tradition mit nach Deutschland, was für die Deutschen sehr interessant und exotisch war. Mit der Saz wurden nicht nur Lieder aus der Türkei gesungen. Neue Lieder, die in Deutschland entstanden, wurden auch gesungen und diese wurden mit der Zeit sehr populär. In diesen Liedern wurde viel gejammert, Heimweh, Sehnsucht, Freude, Angst, Fremdheit und Liebe wurden besonders in den Liedern behandelt.3 Natürlich wurden auch Briefe an die Familienangehörigen in der Türkei geschickt. In den Briefen berichteten sie von ihrer Migration. Ihre Erlebnisse, Gedichte und Erfahrungen schrieben sie auch in die Gedichtecken der türkischen Zeitungen und Illustrierten. Außerdem gründeten sie Vereine mit eigenen Mitteilungsblättern. Die neuen Erlebnisse, Erfahrungen, Beobachtungen, Gedichte, Romane, Dramen, Satiren und Erzählungen aus Deutschland wurden niedergelegt. Somit fing die türkische Migrantenliteratur an.4 1980 war ein Wendepunkt in der türkischen Migrantenliteratur. Wegen dem Militärputsch flohen viele Autoren egal ob rechts oder links Anhänger nach Deutschland, weil die meisten Türken im Ausland, d.h. in Deutschland wohnten. Die zweite Generation der türkischen Arbeiter war auch herangewachsen, sie fingen auch an zu schreiben. Durch diese Faktoren gab es sozusagen eine Explo-
1
Ipşiroğlu, Zehra/Mecklenburg, Norbert: »Deutschlandbilder in der Migrantenlitera-
2
Die Saz bezeichnet eine Gruppe von Langhalslauten, die vom Balkan bis Afganistan
tur«, in: Dyialog 2 (1994), S. 136. verbreitet sind und unter anderem in der Musik der Türkei gespielt werden. Es handelt sich sozusagen um eine türkische Gitarre. 3
Vgl. Anhegger, Robert: »Lieder über Gastarbeiter, Lieder von Gastarbeitern«, in:
4
Ebd., S. 102f.
Aesthetik und Kommunikation 44 (1981), S. 83-89.
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sion in der türkischen Migrantenliteratur.5 Das Interesse der deutschen Medien an dieser Migrantenliteratur stieg ständig, es wurden viele Beiträge darüber veröffentlicht. Für die Deutschen zählte nicht das literarische Niveau, vielmehr waren für sie diese Themen interessant. Die türkischen Autoren, die auf Deutsch schrieben, dienten als Brücke zwischen der türkischen und deutschen Literatur und Kultur. Die zweite Generation, die in Deutschland geboren oder im jungen Alter nach Deutschland gekommen war, nahm auch die Feder in die Hand. In der deutschen Sprache fühlten sie sich noch besser als in der türkischen Sprache. Sie verarbeiten meistens die Zerrissenheit und die Identitätsfrage. Sie definieren sich selbst als die zweite Generation, die krank und ohne Heimat ist. Sie sind zwischen zwei Kulturen und stellen sich unaufhörlich die Frage: Wohin gehöre ich eigentlich? Typisch für dieses Problem sind die zitierten Verse von Zafer Şenocak: »Ich trage zwei Welten in mir. Aber keine ist ganz. Sie bluten ständig«. 6 Natürlich werden auch andere Themen wie schulische Chancen, deutschtürkische Beziehungen, Konflikte mit den Eltern, die ihren Traditionen verhaftet sind, und die deutsche Außenwelt, die nicht mit dem Elternhaus übereinstimmt, behandelt. Es ist eine Literatur, die sanft und scharf, aggressiv und einfühlsam ist. Obwohl es viele Probleme gibt, darf man träumen und schwärmen. Die politische und kulturelle Fehlentwicklung beider Länder werden z.B. bei Osman Engin mit einer leichten Ironie kritisiert. Die Freundschaft zu anderen Ausländern ist auch ein anderer wichtiger Schwerpunkt dieser Literatur. Ein häufiges Motiv in der von türkischen Autoren geschriebenen Migrantenliteratur ist die deutsche Tierliebe. Tiere, besonders Hunde, werden besser behandelt als Türken. Die Tierliebe der Deutschen ist größer als die Menschenliebe. Natürlich werden auch aktuelle Themen wie das politische Tagesgeschehen, ob Terror oder Rechtsradikalismus, Ehekonflikte oder Bürokratie aufgegriffen. In der türkischen Migrantenliteratur werden besonders die türkischen sprachlichen und stilistischen Merkmale in die deutsche Literatur eingebettet. Es werden sogar direkte Übertragungen aus dem Türkischen vorgenommen, besonders wenn es sich um die Beschreibung türkischer Atmosphären handelt. Somit wird die deutsche Literatur mit den neuen Metaphern, Begriffen und mit der türkischen Sprechart bereichert. Diese türkischen Einlagen geben der türkischen Migrantenliteratur einen besonderen Reiz und wecken das Interesse der Leser:
5
Vgl. Ateş, Şeref: »Almanya’da Türk Göçmen Edebiyatı«, in: Gündoğan Edebiyat Dergisi 8 (1993), S. 43-47.
6
Şenoçak, Zafer: Türken Deutscher Sprache, München: DTV 1984, S. 39.
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1. 2. 3. 4.
die Formulierung der Gefühle mit Übertonung; die eindrucksvollen Stimmungsbilder; die Bilderfülle und der Adjektivschmuck; die verschlüsselte Metaphorik und der Symbolreichtum.
Mit diesen Symbolen und Faktoren entsteht unter dem Einfluss der zeitgenössischen deutschen Literatur ein eigenständiger Stil der türkischen Migrantenliteratur.7
ÜBER OSMAN ENGIN Osman Engin wurde am 25.09.1960 nördlich von Izmir in Manisa in der Türkei geboren. Sein Vater arbeitete als Buchhalter in einer Kohlenfabrik in Soma. Wegen finanzieller Probleme haben sich seine Eltern scheiden lassen und heirateten danach neue Partner. Engin hat zwei Geschwister mütterlicherseits und drei Geschwister väterlicherseits. Sein Vater und seine Mutter gingen als Gastarbeiter nach Deutschland an die Weser und Osman folgte ihnen als Zwölfjähriger. In Deutschland beendete er die Realschule und das Gymnasium. Danach begann er eine Lehre als Elektromechaniker, aber das war nichts für ihn. Stattdessen hat er an der Hochschule Bremen angefangen, Sozialpädagogik zu studieren. 1989 machte er seinen Hochschulabschluss, seitdem arbeitet er vor allem mit Jugendlichen. Seit 1983 schreibt er satirische Kurzgeschichten aus dem deutschtürkischen Alltagsleben in Zeitschriften und Zeitungen (z.B. Frankfurter Rundschau, Titanic und TAZ). Er wird bundesweit zu Autorenlesungen eingeladen. Diverse Satiren wurden als Theaterstücke aufgeführt und seit 1992 arbeitet er als freier Mitarbeiter für Radio Bremen 2, wo er jeden Mittwochnachmittag eine Hörfunkrubrik Alltag im Osmanischen Tag hat. Mit sieben Jahren fing er an zu schreiben, denn das Schreiben gefiel ihm schon von klein auf. Mit zwölf schrieb er einen Western, mit sechzehn einen Liebesroman, mit siebzehn eine ScienceFiction-Story, die er später alle verwarf. Allmählich entdeckte er eine Begabung für das Satirische und begann Satiren zu schreiben. Seine Werke Osman Alltag (2017) Deutschland allein zu Haus (2013) 1001 Nachtschichten (2010) 7
Tekinay, Alev: »Türkische Literatur in Deutschland«, in: Muttersprache 4 (1989), S. 322-327.
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Lieber Onkel Ömer – Briefe aus Alamanya (2008) Tote essen keinen Döner (2008) Don Osman auf Tour (2007) Getürkte Weihnacht (2006) West-östliches Sofa (2006) Don Osman (2005) GötterRatte (Roman, 2004) Oberkanakengeil (2003) Kanaken-Gandhi (Roman, 2001) Dütschlünd, Dütschlünd übür üllüs (1994) Alles getürkt! (1992) Der Sperrmüll-Efendi (1991) Deutschling (1985)
DIE HAUPT- UND NEBENFIGUREN Die Hauptfigur ist immer nur Osman Engin. Er benutzt seinen eigenen Namen. Das ist eine Technik, die die türkischen Satiriker bevorzugen. Neben Osman spielt seine Frau Emine oder auch Eminanim genannt, die zweitgrößte Rolle. Er hat fünf Kinder. Die Beschreibungen der Figuren sind nicht ausreichend und manchmal gibt es bei den Personalbeschreibungen Paradoxa, welche die Beschreibung unmöglich machen. Er hat eine typische türkische Gastarbeiterfamilie geschaffen: Außer der Familie kommen Nebenfiguren vor, z.B. die Nachbarn: Rüdiger, Fischkopf Oma, Sievers, Peters, Schmidt und Hasan; eine Beamtin bei der Auslandsbehörde: Kottzmeyer-Göbelsberg, Arbeitskollegen: Gruben Eddi, Ratten Uli, Saddam Sigi, Hüseyin und Karl, sowie Freunde: Walter Leckmikowski, Harry, Dünnebier, Tanja, Holger, Nedim, Zafer, Hans, Ahmet und Sevim. Osman Engin Die Osman Engin genannte Figur ist ein 52-jähriger Türke8 und ist am Tag des ersten Schneefalls in einem Bergdorf in Anatolien geboren. Er ist ein Gastarbeiter, lebt seit 30 Jahren in Deutschland auf dem Kanickelweg 7b und arbeitet acht Stunden pro Tag als Schlosser in Halle 4.9 Er hat ein ganz gewöhnliches Leben als Gastarbeiter mit Magengeschwür und panischer Angst vor den deutschen
8
Vgl. Engin, Osman: Dütschlünd Dütschlünd übür üllüs, Berlin: Dietz, 1994, S.74.
9
Vgl. Engin, Osman: Der Spermüll-Efendi, Hamburg: Rowohlt Taschenbuch, 1991, S. 53.
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Behörden. Er ist mit der Türkin Emine seit 33 Jahren verheiratet10 und hat fünf anstrengende Kinder. Er lässt sich scheiden, aber weil seine Frau zum sechsten Mal schwanger ist, heiraten sie wieder. Die drei Töchter heißen: Nermin, Zeynep, Hatice und die zwei Söhne sind Recep und Mehmet. Seine Eltern, die er finanziell unterstützt, wohnen in der Türkei. Aber er selber hat jede Menge Schulden und sucht meistens immer einen Nebenjob. Er fährt einen grasgrünen Ford Transit Model 1963. Sein Hobby ist Angeln. Er hat einen buschigen Türkenschnurrbart und eine Glatze. Die Farbe der Haare, die es kaum gibt: schwarz, Schnurrbartfarbe: schwarz, Augenfarbe: schwarz, Sockenfarbe: schwarz, Zukunft: schwarz, Geburtsdatum: am Tag, an dem sein Vater die schwarze Katze der Nachbarin im Dunkeln plattgefahren hat.11 Emine (Eminanim) Engin Emine Engin, geborene Üstünsürücü, ist eine 49-jährige Türkin. Sie ist sehr intelligent.12 Ihre BH-Größe 140 Z Sonderanfertigung.13 Sie trägt ein Kopftuch. Sie ist das Haupt der Familie. Alle Briefe von den Behörden kommen immer an Frau Eminamin Engin. Sie kocht immer zu Hause und jeden Samstagabend sieht sie mit Osman die Sportschau. Die vier Orgasmen, die sie in den 33 Jahren hatte, sind vorgetäuscht. Recep Engin Recep ist mit 25 Jahren der älteste Sohn Osmans.14 Er arbeitet als Zeitungsausträger. Er ist mit Helga, einer Ostfriesin verheiratet. Nachdem er Helga heiratet, lässt er sich taufen, wird Christ und bekommt den Namen Rudi.15 Mehmet Engin Mehmet ist der zweite Sohn Osmans, er studiert seit fünf Jahren und ist ein politisch aktiver, linksradikaler Kommunist. Ein riesiges Poster mit Hammer und Sichel hängt über seinem Bett. Er ist öfters in Diskotheken, Säuferkneipen und Stripteasebars zu sehen als an der Universität. Er hat lange Haare. 16 Er ist ein 10 Vgl. ebd. 11 Vgl. ebd., S. 23, S. 53, S. 57, S. 61, S. 76, S. 78, S. 118. 12 Vgl. Engin, Osman: Alles Getürkt, Hamburg: Rowohlt Taschenbuchverlag 1992, S. 81. 13 Vgl. O. Engin, Der Sperrmüll-Efendi, S. 53. 14 Vgl. ebd., S. 60; S. 118. 15 Vgl. ebd., S. 118. 16 Vgl. O. Engin, Dütschlünd, Dütschlünd übür üllüs, S. 27.
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Klo-Revolutionär: Alle Bücher liest er auf der Toilette. Er hat das Klopapier in Gorbatschow umbenannt, um Rache zu nehmen. Nermin Engin Nermin ist die älteste Tochter Osmans und hat einen englischen Akzent. 17 Zeynep Engin Zeynep ist 17 Jahre alt und die zweitälteste Tochter Osmans. Sie hat einen Sohn, der vier Jahre alt ist.18 Hatice Engin Hatice ist die jüngste Tochter, sie ist in Deutschland geboren. Ihre Grundnahrungsmittel sind Pommes mit Ketchup, Chips und Schokolade. Sie sieht gern fern und ist sechs Jahre alt.19
FAZIT Osman Engin, der türkischstämmige Bremer, liebt es, die Schwächen im deutsch-türkischen Alltag aufzudecken und zu kritisieren. Er hat für die 1980er Jahre eine typische türkische Gastarbeiterfamilie geschaffen, obwohl er selbst ledig ist. In allen seinen Kurzgeschichten und Romanen benutzt er die Ich-Form. Er erzählt die Geschichten so, als ob er sie selbst erlebt hätte. Seine Figuren, die auftreten, sind vielseitig. In seinen Texten ist alles zu finden, was gerade in Deutschland aktuell ist: Rassismus, Terror, Asylanten, Ausländerfeindlichkeit, deutsche Staatsbürgerschaft, Fußball, Brandanschläge, Bürokratie und Aufrüstung usw. Er kritisiert die negativen Seiten des deutsch-türkischen Alltags mittels seiner Figuren. Er ist ein Idealist und Ethiker, sozusagen ein Lehrer. Der überwiegende Teil der Geschichten besteht aus einfachen Texten und Kurzprosa. Die Sätze sind immer kurz, knapp und es dominieren einfache Handlungsabläufe ohne größere erzähltechnische Komplikationen, nur bisweilen gibt es innere Monologe, Dialoge, Träume, Bewusstseinsströme und Berichte. Er benutzt die alltägliche Sprache. Die Figurenbeschreibung ist für ihn nicht wichtig, es gibt sie ja auch kaum. Um die Geschichten von Osman Engin genau verstehen zu können, muss man die deutsche und türkische Sprache und Kultur kennen, deshalb sind sie manchmal für deutsche Leser unverständlich. Nachdem man die Ge17 Vgl. O. Engin, Der Sperrmüll-Efendi, S. 23. 18 Vgl. O. Engin, Dütschlünd, Dütschlünd übür üllüs, S. 58-59; S. 106. 19 Vgl. O. Engin, Der Sperrmüll-Efendi, S. 76; S. 108.
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schichten von Osman Engin gelesen hat, erinnert man sich an keine Figur. Nur die Themen spielen eine wichtige Rolle, er will mit dem witzigen und ironischen Geschehen die Leser über das Lachen zum Denken bringen.
LITERATUR Primärliteratur Engin, Osman: Deutschling, Berlin: Express-Edition 1985. Engin, Osman: Alle Dackel umsonst gebissen, Berlin: TÜ-DE Kultur GmbH 1989. Engin, Osman: Der Sperrmüll-Efendi, Hamburg: Rowohlt Taschenbuch, 1991. Engin, Osman: Alles Getürkt, Hamburg: Rowohlt Taschenbuch, 1992. Engin, Osman: Dütschlünd, Dütschlünd übür üllüs, Berlin: Dietz 1994. Engin, Osman: Kanaken-Gandhi, Berlin: Elefanten Press 1998. Engin, Osman: Oberkanakengeil, Berlin: Espresso-Verlag 2001. Engin, Osman: GötterRatte, München: DTV 2004. Engin, Osman: Don Osman, München: DTV 2005. Engin, Osman: West-östliches Sofa, München: DTV 2006. Engin, Osman: Getürkte Weihnacht, München: DTV 2006. Engin, Osman: Don Osman auf Tour, München: DTV 2007. Engin, Osman: Tote essen keinen Döner, München: DTV 2008. Engin, Osman: Lieber Onkel Ömer – Briefe aus Alamanya, München: DTV 2008. Engin, Osman: Deutschland allein zu Haus, München: DTV 2013. Sekundärliteratur Anhegger, Robert: »Lieder über Gastarbeiter, Lieder von Gastarbeitern«, in: Aesthetik und Kommunikation 44 (1981), S. 83-89. Ateş, Şeref: »Almanya’da Türk Göçmen Edebiyatı«, in: Gündoğan Edebiyat Dergisi 8 (1993), S. 43-47. Aytaç, Gürsel: »Almanca yazan kadın yazarlarımız«, in: Cumhuriyet Kitap 322, 18.04.1996. Çakır, Mustafa: »Symbiose zweier Kulturen in der deutschsprachigen Migrantenliteratur: Der türkisch-deutsche Lyriker Nevfel A. Cumart«, in: Diyalog 2 (1994), S. 157-166. Ekiz, Tevfik: »Avrupa Türk Edebiyatı ve bir temsilcisi: Emine Sevgi Özdamar«, in: Çankaya Üniversitesi Fen-Edebiyat Fakültesi, Journal of Arts and Sciences 7 (2007), S. 33-47.
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Esselborn, Karl: Über Grenzen, München: DTV 1987. Frederking, Monika: Schreiben gegen Vorurteile, Berlin: Express Edition 1985. Gürsoy, Yüksel: Migrantenliteratur und Osman Engin als zeitgenössischer Satiriker, Magisterarbeit, Selçuk Universität, Konya 1997. Hamm, Horst: Fremdgegangen-Freigeschrieben, Würzburg: Königshausen und Neumann 1988. Ipşiroğlu, Zehra/Mecklenburg, Norbert: »Deutschlandbilder in der Migrantenliteratur«, in: Diyalog 2 (1994), S. 355-373. Kara, Sibel: Migrationsliteratur – eine neue deutsche Literatur?, Heinrich Böll Stiftung, März 2009, online unter: https://heimatkunde.boell.de/sites/default/ files/dossier_migrationsliteratur.pdf. Pazarkaya, Yüksel: »Türkiye-Mutterland, Almanya-Bitterland«, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 56 (1984), S. 985. Scheinhardt, Saliha: Träne für Träne werde ich heimzahlen, Reinbek b. Hamburg: Rororo 1987. Şenocak, Zafer: »Du bist ein Arbeitsknochen«, in: Irmgard Ackermann (Hg.), Türken deutscher Sprache, München: DTV 1984, S. 85-92. Tantow, Lutz: »In den Hinterhöfen der deutschen Sprache. Ein Streifzug durch die deutsche Literatur von Ausländern«, in: Die Zeit vom 06.04.1984, online unter https://www.zeit.de/1984/15/in-den-hinterhoefen-der-deutschen-sprache. Tekinay, Alev: »Türkische Literatur in Deutschland«, In: Muttersprache 4 (1989), S. 322-327. Zengin, Dursun: Alman Edebiyatı, 19. Yüzyıldan günümüze kadar, Ankara: Pelikan Yayıncılık 2011.
Autorinnen und Autoren
Arnaudova, Svetlana, Dr. habil, seit 1994 Literaturwissenschaftlerin am Lehrstuhl für Germanistik und Skandinavistik an der St.-Kliment-Ochridski-Universität Sofia, Bulgarien. Forschungsschwerpunkte: deutschsprachige Literatur des 18.-21. Jahrhunderts (Literatur der Aufklärung und der Romantik, Drama und Dramentheorie von G. E. Lessing, Schaffen Heinrich von Kleists), deutschsprachige Literatur nach 1945, deutsche Gegenwartsliteratur, das Drama in der Schweiz (Friedrich Dürrenmatt), Inszenierung von Erinnerung und Gedächtnis in literarischen Texten, Migrantenliteratur (Yoko Tawada, Emine Sevgi Özdamar, Yade Kara, Vladimir Kaminer, Ilija Trojanow), Literatur im intertextuellen Diskurs, Intertextualität und Transkulturalität. ([email protected]) Baltes-Löhr, Christel, Prof. Dr., forscht und lehrt seit 2003 an der neugegründeten Universität Luxemburg in den Bereichen Geschlechterforschung, Migration und Erziehung; von 2004 bis 2016 Genderbeauftragte der Universität Luxemburg. Bis September 2018 fungierte sie als Gender-Expertin für Luxemburg in der Ständigen Arbeitsgruppe zu Gender in Wissenschaft und Forschung in ERAC (European Research Area Committee) und vertritt Luxemburg in dem European Institute for Gender Equality (EIGE). ([email protected]) Blažević, Amir, M. A., seit 2012 wissenschaftlicher Assistent an der Philologischen Fakultät, Abteilung für Germanistik – Althochdeutsche Literaturgeschichte, der Universität in Banja Luka, Bosnien und Herzegowina. Studentische und wissenschaftliche Hilfskraft bei Dozentin Dr. Ljiljana Aćimović (Literaturwissenschaft) und Prof. Dr. Rada Stanarević (Neuere deutsche Literatur). Forschungsschwerpunkte: Gegenwartsliteratur, Neuere Deutsche Literatur und Althochdeutsche Literatur, Kulturgeschichte. ([email protected])
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Eșian, Delia, Assist. Dr. phil. an der »Alexandru-Ioan Cuza«-Universität Jassy/Iaşi, Rumänien. Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Deutschsprachige Literatur nach 1945, Übersetzungswissenschaft, Deutsch als Fremdsprache. ([email protected]) Eşianu, Cornelia, DDr.in, Dozentin an den Wiener Volkshochschulen; langjährige Mitarbeiterin und Universitätslektorin am Lehrstuhl für Germanistik an der Alexandru-Ioan-Cuza-Universität in Iaşi/Rumänien; Übersetzerin philosophischer Werke ins Rumänische. Forschungsschwerpunkte: Neuere deutsche Literatur, Ästhetik, Praktische Philosophie, Philosophieren mit Kindern. (cornelia. [email protected]) Guarda, Filomena Viana, Prof. Dr., seit 1998 Professor für Neuere deutsche Literatur an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Lissabon und Mitglied des Research Centre for Communication and Culture an der Katholischen Universität Portugals. Forschungsschwerpunkte: Deutschschweizer Literatur des 20. Jahrhunderts, Deutsche Literatur nach der Wende, Erzähltheorie, Gedächtnisforschung. Derzeit befasst sie sich mit dem Thema »Die Wiederkehr des Familienromans« im neuen Jahrtausend. ([email protected]) Gürsoy, Yüksel, Dr., seit 1994 Hochschullehrer an der Universität Selçuk, Konya, Türkei, für Deutsch und Tourismus. Forschungsschwerpunkte: Migrantenliteratur, Romane Herta Müllers. ([email protected]) Kory, Beate Petra, Univ. Lektorin Dr. phil., seit 2002 Lektorin für Neuere Deutsche Literatur an der Westuniversität Temeswar/Timişoara, Rumänien. Forschungsschwerpunkte: Deutschsprachige Literatur des 20. Jahrhunderts, Literatur und Psychoanalyse, Deutsche Literatur im rumänischen Sprachraum. ([email protected]) Șandor, Gabriela, Dr. phil. M.A., wissenschaftliche Assistentin für Neuere deutsche Literatur und Deutsch als Fremdsprache an der West-Universität Temeswar/Timişoara. Forschungsschwerpunkte: Deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts, deutschsprachige Lyrik, deutsche Literatur im rumänischen Sprachraum, literarische Übersetzung. ([email protected]) Szabó, László V., Doz. Dr. habil., Dr. phil., Universitätsdozent für Neuere deutschsprachige Literatur an der Pannonischen Universität Veszprém, Ungarn und an der Universität J. Seyle, Komárno, Slowakei. Forschungsbereiche: Wir-
Autorinnen und Autoren | 195
kungsgeschichte Nietzsches in der deutschsprachigen und ungarischen Literatur, deutsche Literatur des bürgerlichen Realismus, Literatur der Wiener Moderne, interkulturelle Literaturwissenschaft, Komparatistik. ([email protected]) Verešová, Erika, M. A., DDr. an der Universität Istanbul, Türkei, im Fach Deutsche Sprache und Literatur (seit 2012), Forschungsschwerpunkte: vergleichende Literaturwissenschaft, Zeitphilosophie um die Jahrhundertwende, Rilke, Babits, Hâsim, Übersetzungen türkischer Literatur ins Ungarische. (vereseri@ gmail.com)
Literaturwissenschaft Achim Geisenhanslüke
Wolfsmänner Zur Geschichte einer schwierigen Figur 2018, 120 S., kart., Klebebindung 16,99 € (DE), 978-3-8376-4271-1 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4271-5 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4271-1
Sascha Pöhlmann
Stadt und Straße Anfangsorte in der amerikanischen Literatur 2018, 266 S., kart., Klebebindung 29,99 € (DE), 978-3-8376-4402-9 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4402-3
Michael Basseler
An Organon of Life Knowledge Genres and Functions of the Short Story in North America February 2019, 276 p., pb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4642-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4642-3
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Literaturwissenschaft Rebecca Haar
Simulation und virtuelle Welten Theorie, Technik und mediale Darstellung von Virtualität in der Postmoderne Februar 2019, 388 S., kart., Klebebindung 44,99 € (DE), 978-3-8376-4555-2 E-Book: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4555-6
Laura Bieger
Belonging and Narrative A Theory of the American Novel 2018, 182 p., pb., ill. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4600-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4600-3
Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)
Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 9. Jahrgang, 2018, Heft 2: Interkulturelle Mediävistik Januar 2019, 240 S., kart., Klebebindung 12,80 € (DE), 978-3-8376-4458-6 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4458-0
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